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FICHTE-STUDIEN

Fichte-Studien

Beiträge zur Geschichte und Systematik


der Transzendentalphilosophie

Begründet von Klaus Hammacher,


Richard Schottky (†) und Wolfgang Schrader (†)

Band 26

im Auftrage der
Internationalen Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft

herausgegeben von

Marco Ivaldo (Neapel)


Hartmut Traub (Mülheim an der Ruhr)

in Zusammenarbeit mit

Daniel Breazeale (Lexington, Kentucky), Erich Fuchs (München), Helmut


Girndt (Duisburg), Karen Gloy (Luzern), Wolfgang Janke (Wuppertal),
Reinhard Lauth (München), Oswaldo Market (Madrid/Lissabon), Kunihiko
Nagasawa (Kyoto), Faustino Oncina Coves (Valencia), Marek J. Siemek
(Warschau), Thérèse Pentzopoulou-Valalas (Thessaloniki) und Xavier Til-
liette (Paris)
Helmut Girndt / Jacinto Rivera de Rosales (Hrsg.)

Die Wissenschaftslehre von 1807


»Die Königsberger«
von Johann Gottlieb Fichte
Eine kooperative Interpretation

Unter Mitwirkung von Matteo D´Alfonso, Christoph


Asmuth, Helmut Girndt, Reinhard Look, Wilhelm
Metz, Hans Georg v. Manz, Hitoshi Minobe, Ewa No-
wak-Juchasz, Jacinto Rivera de Rosales, Jan Seide und
Karsten Thiel

Amsterdam - New York, NY 2006


Die Fichte-Studien erscheinen in unregelmäßiger Folge. Publikationsspra-
chen sind Deutsch, Englisch und Französisch.

Adressen des Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats und der Herausgeber

Prof. Dr. Marco Ivaldo


Dipartimento Filosofia
Via Prota di Massa
I-80133 Napoli

Dr. Hartmut Traub


Dimbeck 52
D-45470 Mülheim an der Ruhr

Prof. Dr. Helmut Girndt


Institut für Geisteswissenschaften der Universität Duisburg
Gutenbergstraße 63
D-40235 Düsseldorf

Prof. Jacinto Rivera de Rosales


Filosofía. UNED
Senda del Rey 7 (Edificio Humanidades)
E-28040-Madrid

Für den Rezensionsteil der Fichte-Studien zuständig:

PD Dr. Christoph Asmuth


Technische Universität Berlin
Ernst Reuter Platz 7
D-10587 Berlin

Manuskripte werden erbeten an die Adresse von Hartmut Traub.

Typographie und Satz: Holger Ostwald (Duisburg)

ISBN-10: 90-420-2024-5
ISBN-13: 978-90-420-2024-5
ISSN: 0925-0166

The paper on which this book is printed meets the requirements of »ISO
9706:1994, Information and documentation – Paper for documents – Re-
quirements for permanence«.
©Editions Rodopi B.V., Amsterdam-New York, NY 2006
Printed in the Netherlands
Inhalt

Die Wissenschaftslehre von 1807


»Die Königsberger«
von Johann Gottlieb Fichte

Eine kooperative Interpretation

Vorwort des ersten Herausgebers ................................................................................. 1

Vorwort des zweiten Herausgebers .............................................................................. 7

Helmut Girndt (Univ. Duisburg):


Die Wissenschaftslehre 1807
Eine Zusammenfassung ihres Gedankengangs .......................................................... 11

Gaetano Rametta (Univ. Padua):


Einleitende Bemerkungen über die Wissenschaftslehre von 1807 ............................ 33
Inhalt

Prolegomena
Matteo D’Alfonso (München): Seite 115,26-118,18
1. Vorlesung: Bestimmung der Aufgabe der Wissenschaftslehre
(111-115,25).................................................................................................. 65
2. Vorlesung: Skizze der Lösungen der Aufgabe der
Wissenschaftslehre (115,26-118,18) ............................................................. 68

Erster Teil
Sein, Leben oder absolutes Ich (118,19-129,3)
Christoph Asmuth (TU Berlin): Seite 118,19-129,3
3. – 7. Vorlesung: Sein, Leben oder absolutes Ich .................................................. 73

Zweiter Teil
Grundlage des theoretischen Wissens: Sehen als Er-
scheinung des Lebens (129,5-164,3)
Helmut Girndt (Univ Duisburg): Seite 129,5-145,30
8. Vorlesung: Sehen als Äußerungsform des Lebens (129,5-133,9) ................. 79
9. Vorlesung: Das Schema des Schemas (133,10-137,20) ................................ 82
10./11. Vorlesung: Das Verhältnis von Sehen und Leben (138-145,30) .................. 85

Reinhard Look (Univ. Braunschweig): Seite 146-151,32


12./13. Vorlesung: Das Sichtbarmachen des Lebens als schöpferische Praxis ......... 91

Hans Georg von Manz (Bayer. Akademie der Wissenschaften): Seite 152-156,22
14. Vorlesung: Anschauen und Denken und die Fünffachheit als
grundlegende Struktur des Wissens (152-155).............................................. 97
15. Vorlesung: Die synthetische Einheit des Ich (155-156,22) ........................... 99

Wilhelm Metz (Univ. Freiburg): Seite 157, 1-161,5


16./17. Vorlesung: Vom Standpunkt des Lebens zu dem der Transzendental-
philosophie ................................................................................................. 101
Inhalt

Hitoshi Minobe (Meiji-Univ. Tokyo): Seite 161,6-170,29


18. Vorlesung: Vom theoretischen zum praktischen Teil der
Wissenschaftslehre (161,6-164,3) .............................................................. 109

Dritter Teil
Grundlage der Wissenschaft des Praktischen: Der Trieb
als infinites Streben (165-202,21)
Hitoshi Minobe: (Fortsetzung)
19. Vorlesung: Der Trieb (165-168,4) .............................................................. 113
20. Vorlesung: Der ontologische Status des Triebes (169-170,29).................... 115

Ewa Nowak-Juchacz (Univ. Posen): Seite 171-178,9


21. Vorlesung: Der Trieb als Grund des Bildes (171-174,10) ........................... 119
22. Vorlesung: Das Ich als Trieb und der Trieb als Ich (175-178,9).................. 122

Helmut Girndt (Univ. Duisburg): Seite 179-187,24


23. Vorlesung: Der Trieb als Prinzip der Einheit von Einheit und
unendlicher Mannigfaltigkeit (179-183,15) ................................................. 125
24. Vorlesung: Widerspruch im Trieb: Einheit des Triebes und
Unendlichkeit des Treibens (184-187,24) ................................................... 127

Jacinto Rivera de Rosales (Univ. Madrid): Seite 188-192,11


25. Vorlesung: Auflösung des Widerspruchs: Das Vermögen
des Wissens ................................................................................................. 131

Jan Seide (München): Seite 193-198,28


26./27. Vorlesung: Das Vermögen als Möglichkeit des Vollzugs
des Triebes, Erster Teil ............................................................................... 133

Karsten Thiel (Univ. München): Seite 198,29-202,20


27. Vorlesung: Das Vermögen als Möglichkeit des Vollzugs
des Triebes, Zweiter Teil (198,29-200,19) ................................................. 141
28. Vorlesung: Zusammenfassung und offene Probleme (201-202,20) ............ 143

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Inhalt

Rezensionen
Ulrich Schlösser: Das Erfassen des Einleuchtens. Fichtes Wissenschaftslehre von 1804
als Kritik an der Annahme entzogener Voraussetzungen unseres Wissens und als Phi-
losophie des Gewißseins. Philo: Berlin 2001. 186 S.
– Von Christoph Binkelmann (Heidelberg) ............................................................. 147

Petra Lohmann: Der Begriff des Gefühls in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes
(Fichte-Studien-Supplementa Bd. 18). Rodopi: Amsterdam 2004. 212 S.
– Von Benedetta Bisol (München) .......................................................................... 152

Wolfgang Class / Alois K. Soller: Kommentar zu Fichtes Grundlage der gesamten


Wissenschaftslehre (Fichte-Studien-Supplementa Bd. 19). Rodopi: Amsterdam – New
York, NY 2004. XII, 571 S.
– Von Patrick Grüneberg (Berlin)........................................................................... 159

Rainer Adolphi / Jörg Jantzen (Hrsg.): Das antike Denken in der Philosophie Schel-
lings (»Schellingiana« Bd. 11). frommann-holzboog: Stuttgart-Bad Cannstatt 2004.
XXIII, 710 S.
– Von Robert Marszałek (Warschau) ...................................................................... 165

Simone Furlani: L´ultimo Fichte. Il sistema della Dottrina della scienza negli anni
1810-1814 (Der letzte Fichte. Das System der Wissenschaftslehre in den Jahren 1810-
1814). Guerini e Associati: Milano 2004. 280 S.
– Von Alessandro Bertinetto (Udine) ...................................................................... 172

Andrés Quero-Sánchez: Sein als Freiheit. Die idealistische Metaphysik Meister Eck-
harts und Johann Gottlieb Fichtes. (Symposion; 121). Karl Alber: Freiburg / München
2004. 432 S.
– Von Christoph Asmuth (Berlin) ............................................................................ 178

Stefano Bacin: Fichte a Schulpforta (1774-1780). Contesto e materiali (lstituto ltaliano


per gli Studi Filosofici - Fichtiana, Nr. 20). Guerini e Associati: Mailand 2003. 393 S.
– Von Faustino Fabbianelli (Cagliari).................................................................... 184

Tagungsbericht
»Fichte in Rammenau – 1. Fichte-Tag: Die Wissenschaftslehre 1805«, 19. - 21. Mai
2005.
– Von Patrick Grüneberg (Berlin)........................................................................... 191
Vorwort des ersten Herausgebers

Trotz der ihrer Vollendung entgegengehenden Veröffentlichung seiner


nachgelassenen Werke in der Kritischen Gesamtausgabe der Bayerischen
Akademie der Wissenschaften ist das Spätwerk Johann Gottlieb Fichtes in
der philosophischen Diskussion noch weitgehend unerschlossen. An dieser
Situation haben die wenigen in den letzten Jahren erschienenen ver-
dienstvollen Monographien1 über einzelne Werke dieses Nachlasses nicht
viel geändert. Noch fehlt es weitgehend an thematisch an sie anschließen-
de Auseinandersetzungen, Detailinterpretationen, historischen oder kriti-
schen Zuordnungen. Ein flüchtiger Blick auf die in den Fichte Studien er-
schienenen Aufsätze der letzten Jahre bestätigt, daß das mit der kritischen
Gesamtausgabe zugänglich gewordene Opus noch auf seine Erschließung
im Detail und durch eine größere Zahl philosophischer Interessenten war-
tet.

Dem Defizit einer noch ausstehenden intensiveren philosophi-


schen Auseinandersetzung mit dem Spätwerk Fichtes entgegen zu wirken,

1 Wolfgang Janke, Johann Gottliebs Fichtes ›Wissenschaftslehre 1805‹. Darmstadt


1999, Matteo Vincenzo d´Alfonso, Das Absolute und seine Erscheinung. Eine Untersuchung des
systematischen Aufbaus der Fichteschen Wissenschaftslehre 1811, LMU München o. J.; Ales-
sandro Bertinetto L´essenza dell´ empiria, saggio sulla prima ›Logica Transcendentale‹ di J. G.
Fichte (1812), Napoli, o.J.; Gaetano Rametta, Le Strutture speculative della dottrina della
scienza. Il pensiero di J. G. Fichte negli anni 1801 – 1807 , Genova 1995.
2 Vorwort

ist die Aufgabe, die sich die Herausgeber dieses Bandes der Fichte- Stu-
dien gestellt haben. Dabei ist sicher ungewöhnlich, daß an dem Entstehen
dieses Bandes nicht allein zwei Herausgeber mitgewirkt haben, sondern
gleich eine Gruppe von Philosophen, über die zu berichten dem zweiten
Herausgeber der Bandes, Herrn Jacinto Rivera de Rosales, vorbehalten ist.
In dem vorliegenden Band ging es den Autoren und Herausgebern
nicht um eine Inhaltsanalyse, nicht um den Aufweis philosophiehistori-
scher Bezüge innerhalb und außerhalb des Fichteschen Gesamtwerkes,
sondern um das bescheidene Ziel einer ersten Texterschließung. Wenn
sich ein solches Ziel auch nicht von einer Interpretation des Werkes tren-
nen läßt, so ging es doch in erster Linie um nicht mehr als um das schlich-
te Anliegen, vor jeder ggf. textkritischen Analyse und Stellungnahme zu-
nächst einmal einfach nur zu verstehen, worum es dem Autor Fichte in
diesem Werke zu tun war. Es handelt sich also um eine erste Grundlage
für eine ausstehende differenziertere Textinterpretation.
Das in Form einer handschriftlichen Niederschrift vorliegende
Skript der Königsberger Vorlesung war für den Autor selbst bestimmt und
als Textgrundlage seines mündlichen Vortrags niedergeschrieben worden.
Seinem Zweck entsprechend enthält es daher außer zeitbedingten Sprach-
wendungen, sprachlichen Eigentümlichkeiten Fichtes, ungewohnten Ab-
kürzungen und Orthographien und, außer situativ bestimmten, z.T. lang-
atmigen Abschweifungen, vor allem didaktisch bedingte, (wenn auch
manchmal für das Textverständnis sehr hilfreiche) Redundanzen. Diese
Umstände zusammengenommen erschweren das Textverständnis in nicht
unerheblichen Maße. Dazu kommt vor allem die fehlende Unterteilung des
Textes in Kapitel, Überschriften, Abschnitte und Unterabschnitte, und –
im ersten Teil des Scriptes – der Mangel sicherer Abgrenzung der Vorle-
sungsstunden voneinander. Wie bei allen nachgelassenen und nicht zur
Veröffentlichung bestimmten Texten Fichtes erwecken diese Umstände
den Eindruck einer nur schwer zu durchdringenden Textmasse.

Die hier vorgelegte »kooperative Interpretation« will den elementaren


Hindernissen eines ersten Textverständnisses so weit wie möglich und so
weit wie nötig abhelfen und zum eigenen Studium des Fichteschen Textes
einladen. Ausdrücklich will sie eine Hilfestellung für die eigene Bemü-
hung eines direkten Textstudiums bieten, ein Hilfsmittel sein, nicht etwa
das eigene, am Original zu gewinnende Textverständnis ersetzen. Denn
erst auf der Grundlage eines solchen erwächst die Voraussetzung einer für
Vorwort 3

die wissenschaftliche Diskussion fruchtbaren philosophischen, philoso-


phiehistorischen, vergleichenden oder kritischen Auseinandersetzung .
Die vorgelegte »kooperative Interpretation« bietet zunächst eine
sehr knapp gefaßte Übersicht über den Inhalt des Werkes unter dem Titel:
Die Wissenschaftslehre 1807. Zusammenfassung ihres Gedankengangs.
Diese Zusammenfassung beruht auf den darauffolgenden ausführlicheren
Textinterpretationen und geht inhaltlich nicht über sie hinaus. Die Zu-
sammenfassung kann als eine erste Übersicht und Einsicht in die Themen
der WL 1807 und als Skizze ihres Gedankenganges betrachtet werden. Als
solche steht sie durchaus für sich, wenn es darum geht, eine erste Vorstel-
lung von der Königsberger Wissenschaftslehre zu gewinnen. Die Zusam-
menfassung kann aber auch als eine Übersicht über die darauffolgenden
Einzelinterpretationen gelesen werden, entweder als Einführung in sie
oder als deren Resumee. Sie hätte ihnen auch als nachträgliche Zusam-
menfassung folgen können. Und schließlich könnte sie zu gunsten der Ein-
zelinterpretation einfach überlesen werden.
Auf der Grundlage der einander folgenden Interpretationen der Au-
toren dieses Bandes, die sich an Hand der eingefügten Seitenzahlen leicht
identifizieren lassen2, wäre dann das Studium des Fichteschen Textes
selbst zu empfehlen, am besten wohl kapitelweise. Und schließlich könnte
auch zuerst mit dem Studium des Textes selbst begonnen werden, und
dessen eigenes Verständnis dann in einem kritischem Vergleich mit den
hier vorgelegten Interpretationen erprobt werden.

Die vorgelegte Texterschließung bezieht sich also auf drei Ebenen:


1. einer Zusammenfassung der hier vorgelegten Textinterpretationen,
2. einer ausführlichen Interpretationen des Textes und
3. eines Studiums des Fichteschen Textes selbst in Auseinandersetzung
mit den vorgelegten Interpretationen.

Die Idee des Projekts einer als »kooperative Interpretation« bezeichneten


Texterschließung ist keine Erfindung der Herausgeber. Unangesehen des-
sen bestand deren Absicht darin, eine Gruppe junger Wissenschaftler in
einem Projekt zu vereinigen, wie auch in anderen Wissenschaften üblich.
Auf diese Weise sollte gezeigt werden, daß es sehr wohl möglich ist, auch
im Bereich der Philosophie einvernehmlich an einer gemeinsamen Auf-

2 Textgrundlage der Königsberger Wissenschaftslehre ist der Band II, 10 der kriti-
schen Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (GA II, 10), an ihm orien-
tieren sich die angegebenen Seitenzahlen.

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4 Vorwort

gabe zu arbeiten, ohne daß es schon im Ansatz zu unvereinbaren Po-


sitionsbildungen und daraus folgenden Auseinandersetzungen zwischen
den Beteiligten kommt. Durch Konkurrenzdruck auf einem heftig um-
kämpften Markt um Positionen und Prestige sind sie im Gebiet der Phi-
losophie leider die Regel geworden. Trotz der Gemeinschaftlichkeit des
Gesamtprojekts sind die individuellen und selbst zu verantwortenden Bei-
träge der einzelnen Interpreten jedoch klar erkennbar und dementspre-
chend individuell zurechenbar geblieben. Jeder der für jeweils einen Text-
abschnitt Verantwortlichen trägt die Verantwortung für seinen eigenen
Teil an der Gesamtinterpretation. Die Rolle der Herausgeber beschränkte
sich im Wesentlichen darauf, die vorgelegten Beiträge einvernehmlich mit
den jeweiligen Autoren inhaltlich aufeinander abzustimmen. Dieser Ab-
stimmungsprozess war es denn auch, der in Einzelfällen schwierig und
zuweilen recht zeitraubend, aber, wie der späte Erfolg zeigt, nicht un-
möglich war.

Die Verantwortung für das Gesamtprojekt tragen jedoch die Herausgeber.


Und in diesem Zusammenhang bedarf es noch einer Bemerkung zur Glie-
derung des vorgelegten Textes nach Teilen, Kapiteln und Überschriften.
Zweifellos stellen diese Unterteilungen die am weitest gehende Eigen-
mächtigkeit in einer am Projekt einer Minimalinterpretation orientierten
Texterschließung dar. Die Gliederung des Textes und die darin enthal-
tenen Interpretationen dürften daher der problematischste Teil des vor-
liegenden Unternehmens sein. Dennoch waren sie unvermeidlich, wie sich
bei der Zusammenfügung der Einzelinterpretationen zeigte, die sonst in
ihrem Zusammenhang unverständlich geblieben wären. Der sehr wohl
mögliche Vorwurf einer von außen aufgeprägten Ordnung schien mir am
ehesten durch eine Orientierung des vorliegenden Textes an der Einteilung
und Kapitelfolge der ersten Fassung der WL von 1794 abwendbar, die der
Text nahezulegen schien. Mit dieser Annahme handelt sich der unterzei-
chenende Herausgeber allerdings die Beweislast eines Nachweises ein, der
im Rahmen der hier vorliegenden Aufgabe nicht geführt werden konnte.
Es muß daher vorläufig bei einer ungesicherten Interpretationshypothese
bleiben. Würde sich die vorgelegte Gliederung jedoch überzeugend bestä-
tigen lassen, müßte sich das bisherig vorherrschende Bild über das Fichte-
schen Gesamtwerk einem Wandel unterziehen und die Interpretationen
einer nach 1800 geänderten Lehre zurückgewiesen werden. Wie bekannt
hat Fichte der Auffassung einer gewandelten Lehre stets und vehement
widersprochen.
Vorwort 5

Bleibt zu erwähnen, daß die mit der Königsberger Wissenschaftslehre zu-


sammenhängende »Nebenbemerkung zu 1« (GA II, 10, 219-278) in der
hier vorgelegten Texterschließung nicht behandelt wurde. Auf sie einzu-
gehen, wäre über das Projekt hinausgegangen.

Helmut Girndt

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Vorwort des zweiten Herausgebers

Die Wissenschaftslehre von 1807 besteht aus einer Reihe von 28 Vorle-
sungen, die Fichte vom 5. Januar bis 20. oder 23. März 1807 in Königs-
berg gehalten hat. Er war aus Berlin vor der napoleonischen Armee und
»der Verworrenheit der Köpfe«1 entfliehend im November 1806 in der
preußischen Stadt angekommen und hatte am 19. Dezember die königliche
Erlaubnis erhalten, in der Albertina Universität als ordentlicher Professor
zu lehren2. Die Ankündigung seiner Vorlesungen zog zunächst zahlreiche
Studenten, Gelehrte und Interessenten an, die etwas von dem berühmten
Philosophen hören wollten. Aber sei es, weil er ein für Königsberger Ver-
hältnisse ungewöhnliches Honorar verlangte, oder weil er schon in der er-
sten Stunde seine eigene Philosophie höher als die des in Königsberg all-
seits bekannten und beliebten Immanuel Kant pries, oder aber auch bloβ
wegen der schweren Verständlichkeit seines Vortrags, Fichtes Vorlesung
der Wissenschaftslehre endete mit nur ein paar Studenten3. Deswegen las
Fichte im Sommersemester nicht mehr4 und verließ Königsberg im Juni,

1 Brief an seine Frau, vom 26.-27. Oktober 1806, GA III, 6, 8.


2 Siehe Fichte im Gespräch, 4, S. 6-7 und 6, S. 678-679, Stuttgart 1987; auch
Fichtes GA III, 6, 28.
3 Gespräch 4, S. 13.
4 Brief an seine Frau, vom 11. April 1807, GA III, 6, 67. Ich »habe den Winter dem
blinden Volke W.L. gelesen, und könnte auch jezt wieder im tiefste Frieden, lesen nach Herzens-
lust, wenn das Volk es werth wäre« (Brief an J.Ch.A.F. Bernhardi vom 4. Mai 1807, GA III, 6,
91-92).
8 Vorwort

weil sich die Franzosen zu dieser Zeit auch Königsberg näherten. Wäh-
rend er noch im Dezember 1806 seine Frau gebeten hatte, mit dem Sohn
nach Königsberg zu kommen (GA III, 6, 19, 21-22, 49), schrieb er ihr am
20. Februar 1807: »Komme ja nicht hierher, sondern bleibe, wo Du bist;
denn es misfällt mir hier, aus triftigen Gründen, gar sehr; und ich werde
[…] in die alte Lage zurückzukehren suchen, und so zu Euch kommen«5,
denn »für meine Philosophie ist man an den Küsten der Ostsee nicht reif«
(GA III, 6, 96).
Die WL07 nimmt einen besonderen Platz in der sogenannten Ber-
liner Zeit Fichtes ein. Hinter ihr liegen sechs Erarbeitungen der WL von
1801 bis 1805, deren Ergebnisse in die Anweisung zum seligen Leben
mündeten (Ende April 1806 als Buch erschienen) und durch die Fichte sei-
ner neuen Formulierung der WL mächtig und bewuβt geworden war. Ihr
werden die berühmten Reden an die deutsche Nation (ab 13. Dezember
1807) und die fünf letzten Fassungen der WL von 1810 bis 1814 folgen.
Die WL07 bildet sozusagen einen Wendepunkt zwischen diesen zwei
Schaffensperioden der Berliner Zeit. In der WL von 1807, nicht anders als
in den letzten Fassungen der WL, wird der methodische Aufstieg zum Ab-
soluten schon kaum mehr behandelt, und Fichte widmet seine Mühe
hauptsächlich der so genanten »Phänomenologie« oder »Erscheinungsleh-
re«, da es ihm klar geworden war: »Gott ist, absolutes Postulat an Sie [die
Zuhörer]: von welchem einen Beweis zu fordern der absolute Widerspruch
ist« (GA II, 10, 175).

Das Charakterische der WL07 ist ein in der neunzehnten Vorlesung ein-
geführter »Trieb in Gott« als Erklärungsgrund des Wesens und der Exi-
stenz des Wissens (oder Sehens) als einer Lebensform außer Gott. »Set-
zen Sie, [fordert er seine Zuhörer auf], es sey in diesem in sich selber le-
benden Gotte ein Trieb, sich auβer sich selbst darzustellen, wie er ist in
ihm selber; gleichsam, sich auβer der Einheit seines Seyns zu wieder-
holen«! (GA II, 10, 166) Der Trieb, der in Jena das Wesen des endlichen
Ich ausmachte, wird jetzt ins absolute Sein selbst eingefügt, ein Trieb im
Absoluten, der in der WL04-II nur vorbeigehend erwähnt wurde (GA II, 8,
388). Die Liebe Gottes, die in der Anweisung zum seligen Leben Gottes zu
einem zentralen religiösen Thema im Denken Fichtes geworden war, wird
hier, in der WL07, auf metaphysischer Ebene begründet und gezeigt, wie
»jener göttliche Trieb Liebe wird« (GA II, 10, 167).

5 GA III, 6, 50. »Königsberg ist nicht mein Platz« (Brief an K.S.F. von Stein vom
18. April 1807, GA III, 6, 77).
Vorwort 9

Nach den vorliegenden Publikationen zu schließen, war und ist die WL07
von den meisten Fichte Forschern bis heute kaum behandelt worden.
Weitgehende Unkenntnis trifft auch mehr oder weniger alle der durch die
kritische Gesamtausgabe seiner Werke erst in den letzten Jahren bekannt
gewordenen Kollegnachschriften Fichtes. Um der verspäteten philosophi-
schen Auseinandersetzung mit seinem nunmehr zugänglichen Spätwerk
angemessenen Aufschwung zu verleihen, haben sich auf Initiative von
Prof. Girndt eine Reihe jüngerer Philosophen im Jahre 2001 im Inter-Uni-
versity Center of Dubrovnik getroffen, um sich eine Woche lang, von 16.
bis 21 April 2001, intensiv mit der Wissenschaftslehre Fichtes auseinan-
derzusetzen. Insgesamt waren es 15 Professoren, Doktoren, Magister und
Studenten aus sechs Ländern: Deutschland, Kroatien, Italien, Polen, Japan
und Spanien, die an dem internationalen Seminar teilnahmen. Sie übernah-
men es, den philosophischen Gehalt der Vorlesungen Fichtes, Seite für
Seite, gedanklich zu entschlüsseln und in den Arbeitssitzungen ihre Bei-
träge zur Interpretation des Werkes vorzutragen und zur Diskussion zu
stellen.

Auf dieser Grundlage ist die »kooperative Interpretation« entstanden. Die


nunmehr vorliegende Fassung der Gedanken Fichtes hat aber erst lange
nach unserer Abreise von Dubrovnik endgültige Gestalt angenommen und
zwar auf der Grundlage intensiver gedanklicher Auseinandersetzung nicht
nur mit den Gedanken des Philosophen, sondern auch denen der Interpre-
ten und der beiden Herausgeber dieses Bandes. Wir hoffen, daβ unsere
vereinte Mühe einigen Freunden und Interessenten an der Philosophie
Fichtes Hilfestellung und Ermutigung bieten möge, sich mit dem an-
spruchsvollen Nachlaß eines der bedeutendsten Philosophen deutscher
Sprache gedanklich auseinanderzusetzen.

Der besondere Dank beider Herausgeber und aller Teilnehmer gilt unse-
rem Freund und Kollegen Damir Barbarić, Professor an der Universität
Zagreb, der der inzwischen etablierten Studiengruppe Transzendentalphi-
losophie am Inter University Center aufgrund seiner Einladung und Für-
sprache zum Leben verhalf!

Jacinto Rivera de Rosales

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Helmut Girndt

Die Wissenschaftslehre 1807


Eine Zusammenfassung ihres Gedankengangs

Thematische Gliederung der Vorlesung von 1807

Die Königsberger WL von 1807 läßt sich, abgesehen von ihren Prolegomena, in drei
Hauptteile gliedern.
In den Prolegomena (111-118,8) entwickelt Fichte die Voraussetzungen zum
Verständnis seiner Lehre, ihren Begriff, ihren Gegenstand und ihre Methode, die Be-
stimmung der Aufgabe der Wissenschaftslehre und eine Skizze ihrer Ergebnisse.
Der erste Teil entwickelt die unbedingte Voraussetzung allen Wissens, die
Lehre vom absoluten Sein, Leben oder absoluten Ich (118,21-125,14).
Der zweite Teil entfaltet den theoretischen Aspekt des Wissens oder Sehens.
Unter der postulativen Anfangsvoraussetzung, das Leben sehe sich selbst, und mit dem
Konzept des Schemas sowie der Anwendung dieses Konzeptes auf sich selbst im
Schema des Schemas, gelangt Fichte zu dem Ergebnis, daß das Leben Prinzip des Se-
hens ist, es selbst als Prinzip des Sehens jedoch unsichtbar (129,5-164,3).
Thema des dritten Teils ist der praktische Aspekt des Wissens. Sein Ergebnis
besteht darin, daß im Absoluten ein Trieb angenommen werden muß, sich zu äußern.
Die Äußerung besteht in einem nie endenden praktischen Streben. Utopisches Ziel die-
ses Streben ist, die Kluft zwischen absolutem Sein, Leben oder absolutem Ich und der
Erscheinung zu überwinden (165-202,21).
In Anspielung auf Fichtes Veröffentlichungen des Jahres 1794 lassen sich
die Hauptteile der WL 1807 unter folgenden Titeln fassen:
12 Helmut Girndt

0. Prolegomena: Über den Begriff der Wissenschaftslehre (111-118,18)


1. Teil: Absolutes Sein, Leben oder absolutem Ich (118,19-129,5)
2. Teil: Grundlage des theoretischen Wissens: Sehen und sich Sehen als Erscheinung
des Lebens (129,5-164,3)
3. Teil: Grundlage der Wissenschaft des Praktischen: Der Trieb als Äußerung des
Absoluten

Prolegomena
Über den Begriff der Wissenschaftslehre
(111-118,18)

1. Vorlesung
Bestimmung der Aufgabe der Wissenschaftslehre
(111-115,25)

Die einleitenden Vorlesungen (111-118,18), die so genannten »Prolegomena«, ent-


falten die Vorbedingungen zum Verständnis der Wissenschaftslehre. Sie sollen einen
neuen, den transzendentalen Sinn entwickeln. Ziel der Prolegomena ist es, diesen Sinn
durch eine Darstellung des Begriffs der WL zu entfalten.
Der Begriff der Wissenschaftslehre wird in zwei Schritten vermittelt:
1. durch Bestimmung der Aufgabe der Wissenschaftslehre im ersten Schritt (111-
115,25) und 2. durch deren Lösung in der darauf folgenden Vorlesung (115,2-118,18).
Die erste definiert die Lehre in Abgrenzung zu anderen Philosophien unter
sechs Punkten; die zweite Vorlesung ist vorwegnehmende Zusammenfassung ihres
Inhalts.
Die Aufgabe der WL ist, zu Wahrheit und Gewißheit zu kommen. Dazu muß
man sich vom natürlichen Wissen oder Sehen befreien und ein neues Sehen ent-
wickeln. Die Wissenschaftslehre besteht deshalb in einer neuen Kunst zu sehen.
Auch Kant hatte in seiner Kritik des Wissens ein neues Sehen gewollt, doch
seine Kritik nicht vollendet. Ihre Bedeutung besteht nicht in ihren Resultaten, sondern
in der Aufforderung, sich selbst zum Kritiker zu machen.
Die kritische Einstellung ist allerdings notwendig, weil das natürliche Sehen
dem Beobachter sich selbst und seine wahre Gestalt verdeckt. Jeder für sich soll daher
die Kritik seines gewöhnlichen Sehens üben.
Die Blindheit gewöhnlichen Sehens durch ein neues Sehen zu ersetzen, ist
aber nur möglich, wenn das Sehen im Ort seines Entstehens aufgesucht wird.
Beide Weisen, das Wissen oder das Sehen zu sehen, sind als Dogmatismus
und Idealismus einander entgegengesetzt, der Materie als Prinzip des Dogmatismus’
das Licht des Idealismus’. In dieses Licht des Wissens einzudringen und dem Wissen
in seinem Entstehen zuzuschauen, ist die Kunst, die von der Wissenschaftslehre zu
erlernen ist.
Zusammenfassung des Gedankengangs 13

Nach einer Auseinandersetzung mit dem System Spinozas wird zum Schluß
das objektive und das subjektive Selbstverständnis der Wissenschaftslehre charakteri-
siert. Objektiv erstellt sie die Bedingungen der Möglichkeit des Wissens; subjektiv
geht es darum, im Sinne einer Weisheitslehre wahres Wissen in sich selbst hervorzu-
bringen.

2. Vorlesung
Skizze der Lösungen der Aufgabe der Wissenschaftslehre
(115,25-118,18)

Nach Darlegung der Aufgabe der Wissenschaftslehre folgen die Stationen ihrer Lö-
sung unter neun Punkten zusammengefaßt.1

Die fundamentale Schwierigkeit bei der Lösung der Aufgabe der Wissen-
schaftslehre besteht darin, die Einheit zu denken, von der sie auszugehen hat.
Geht man vom Ich als dem Einen aus, so müßte diese Voraussetzung so be-
schränkt werden, daß es nicht als Ich in der Disjunktion das Eine ist, sondern jenseits
der Disjunktion als Ich an sich (= X). Die immanente Zweiheit in der Einheit des Ich,
(d. h. die Ichheit) muß also überstiegen werden, in ihr liegt der eigentliche Grund des
Mißverständnisses der WL.
Bei diesem X kann es sich nur um das lebendige Leben als Leben in sich
selber, d. h. um einen Nichtbegriff handeln, denn das eine Sein läßt sich nur leben und
erleben. Damit haben wir die reine Wahrheit gefunden, den Urquell alles anderen,
(jetzt allerdings noch nicht im Zusammenhang philosophischer Erkenntnis: als Ur-
quell).

Nun entsteht die Frage: woher die Disjunktion? – Zunächst die Disjunktion in mir:
Ich an sich, das noch nicht Ich ist, und Ich als Ich? –
Setze, das Leben sehe sich selbst, so ist klar, daß, da es außer dem Leben
nichts gibt, das Sehen selber das Leben sei. Das Leben in seiner einfachen reinen Ein-
fachheit ohne irgendeinen Zwiespalt ist sehendes Leben, lebendiges Sehen, Leben im
Licht und Licht im Leben, absolute Durchdringung und Aufgehen beider in einander.
In einer solchen Durchdringung sieht sich das Leben allerdings nicht. Im
Hinblick auf die Forderung der Wissenschaftslehre nach Erkenntnis, d.h. Sichtbarma-
chung des Lebens müßte die Durchdringung von Leben und Sehen selbst sichtbar wer-
den. Am Anfang der Wissenschaftslehre steht also die hypothetische Setzung einer
Sonderung, und zwar in Form eines Postulats: »Setze das Leben sehe sich selbst!«
In diesem Sichtbarmachen des Sehens liegen alle Gesetze des Bewußtseins
und seiner Schöpfungen, die zu entwickeln Gegenstand der Wissenschaftslehre ist.
Alles wirkliche Sehen projiziert, schaut hin. Es sieht sich als Sehen, heißt
wieterhin: es schaut sich an als absolut hinsehend ein Objekt, ein Sein. Aus dem Sicht-
barmachen des Sehens läßt sich auch die Polarität von Ich und (ihm gegenüberstehen-

1 »Unter dem bemerkenswerten Motto. Aus der Finsternis absoluten Seins (im
Spinozismus) zum Licht!«

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14 Helmut Girndt

den) Seins in ihrem Entstehen verstehen und erkennen, daß Sehen und Sein nur Er-
zeugnisse der Sichtbarkeit des Lebens sind, Bedingungen seiner Erscheinung.
Was ist es nun, das dieses Sichtbarmachen von Sehen und Sein wirklich
vollzieht? Dasjenige, in welchem Leben und Sehen noch völlig verschmolzen sind.
(Im Vorblick auf späteres deutet Fichte nur kurz an:) Indem sich nun dieses Einssein
als Sehen erblickt, verschwindet ihm im Sehen das Leben, und indem es dasselbe als
Leben erblickt die Klarheit und so weiter ins Unendliche fort. Und so wird es denn
durch den Wechsel mit sich selbst, indem es sich ewig fort sichtbar, d. i. zum Ich
macht, in die Unendlichkeit getrieben.
Und was ist dieses Ich, das noch nicht Ich ist, sondern es erst in seinem Si-
cherblicken wird? Ein ewiges sichtbar Machen des Urlebens, d. h. ein praktisches
Handeln, in welchem Gott erscheint. Und was ist die Welt? – Mittel der Sich-gestal-
tung dieses Handelns, so wie das reine Ich Mittel der Sichtbarkeit.
Fichte schließt also mit der Aufforderung, die Wahrheit des hier Vorgetrage-
nen in sich selbst, im eigenen individuellen Leben, zu entdecken und wiederzufinden.

Erster Teil.
Absolutes Sein, Leben oder absolutes Ich
(118,19-129,5)

3. / 4. /5. 6 / (7). Vorlesung


Absolutes Sein, Leben oder absolutes Ich
(118,21-129,5)

Das Sein als Absolutes zu setzen ist der Grundirrtum der Philosophie. Das Absolute ist
Leben. Diese Bestimmung wiederum ruft das Mißverständnis hervor, den Begriff des
Lebens, nicht das Leben selbst als absolut zu verstehen. Würde jemand fragen: »Le-
ben, was ist das?«, so wäre er noch zu keinem lebendigen Denken gekommen. Denn
das Leben ist kein Etwas, das durch einen Beisatz bestimmt werden könnte. Denken
läßt sich das Leben höchstens als nicht denkbar und als im Denken verschwindend,
was jedoch ebenfalls eine Bestimmung des Lebens durch das Denken ist.
Leben ist im Sinne eines verbum activum zu verstehen, als vivere, esse und
essentia. Das Leben ist, es west, aktiv und virtualiter, und das ist, das verbal verstan-
dene »sein«, ist eben das Leben. Man kann deshalb das Leben nur leben, nicht denken,
es muß dynamisch und aktiv vollzogen werden. Als vom Denken Gedachtes wird es
zu etwas Totem. Der Tod des Lebens durch den Begriff ist dabei kein symmetrisches
Pendant zum Leben, sondern dessen Privation.
Das Absolute der WL ist auch keine Person (Gottes), sondern es ist infinitiv.
In diesem infinitiven Sinne ist es Ich, d.h. unendliches absolutes Ich. Nicht das »Ich
als Ich«. Denn das »Als« charakterisiert das Ich als Ichheit und bleibt formal wie der
Begriff gegenüber der Anschauung. Das, was das »Ich als Ich« in seiner Wurzel ist,
Zusammenfassung des Gedankengangs 15

sein Träger, ist absolutes Ich – ohne »Als«. Zu diesem »als-losen« Ich soll das »Ich als
Ich« erst werden und damit werden, was es ursprünglich ist.2 –
Um diesen Zusammenhang zu verstehen, ist es wichtig, die dogmatischen
Tendenzen der Sprache zu unterlaufen, sie durch überraschende und aufregende Bilder
zu beleben und die Einbildungskraft mit ihrer schöpferischen Potenz ins Spiel zu brin-
gen. Denn Philosophie ist keine auf formales Denken beschränkte Logik, vielmehr le-
bendiges, schöpferisches, lebenserzeugendes Denken.
Jedem dogmatischen Ansatz entgegen ist das Wissen der Wissenschaftslehre
Denken der Einheit in und aus lebendiger Einheit, und die Einsicht in diese Einheit
muß, da sie nicht begrifflich vermittelbar ist, einbrechen wie ein Blitz.
Aus diesem Verständnis des Absoluten als Leben folgt eine Kritik an drei
Richtungen der Philosophie:
1. dem dogmatischen Dualismus von Denken und Sein als irreduziblen Ge-
gebenheiten, dem Empirismus, der das Wissen als Nachbildung einer für sich be-
stehenden Außenwelt versteht
2. dem Spinozismus, der zwar absolute Einheit denkt, jedoch als objekti-
vierte Substanz.
3. der Philosophie Schellings, die außer Spinozas Substanz noch eine reale
für sich bestehende Emanation aus ihr annimmt und sie als reales Losreißen vom Ab-
soluten versteht, wodurch Gott in das von ihm Hervorgebrachte übergeht und sich als
Absolutes verliert.
Dagegen setzt die Wissenschaftslehre auf die immanente Bestimmung eines
absolut bleibenden Absoluten. Und dieses Absolute kann nur als Leben jene Einheit
sein, aus dem die Formen abgeleitet werden, die als transzendentale Bestimmungen
der phänomenalen Wirklichkeit zugrunde liegen. Die Wissenschaftslehre deckt dem-
entsprechend durch bewußtseinsimmanente Ableitung das Leben in seiner Prinzipien-
funktion auf bis hin zu dessen kontingenten Erscheinungen. Die materielle Welt, das
Sein (im Sinne von Seiendem) wird nachrangiges Produkt des Lebens.
Was das Leben außerhalb der Bestimmungen des Sich-sehens ist, d.h. außer-
halb des Wissens, läßt sich nicht beantworten, denn jede Antwort fällt in das Wissen,
das stets das logisch Erste ist. Wissen und Leben schließen einander ein. Die metaphy-
sische Position Schellings, nach der das Bewußtsein aus dem absoluten »hervorquillt«,
wird damit zurückgewiesen. Die transzendentalphilosophische Begründung des Be-
wußtseins durch das Absolute findet im und für das Wissen statt.

2 Ein unübersehbarer Rückverweis auf die »Grundlage der Wissenschaftslehre« von


1794. Dazu Helmut Girndt: »Das ›Ich‹ des ersten Grundsatzes der Grundlage der gesamten
Wissenschaftslehre in der Sicht der Wissenschaftslehre von 1804. Fichte-Studien 10, 1997, S.
319- 334

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16 Helmut Girndt

Zweiter Teil
Grundlage des theoretischen Wissens:
Sehen und sich Sehen als Erscheinung des Lebens
(129,5-164,3)

8. Vorlesung
Das Sehen als Äußerungsform des Lebens.
(129,5-133,9)

Im Folgenden wird entwickelt, daß Wissen als Vollzug des Sehens nicht unmittelbares
Leben ist, sondern nur ein Schema des Lebens. Und daß es sich so verhält, wird erst in
einem Begreifen des Schemas als Schema gegenüber dem Leben als Leben bewußt.
Im Absoluten fallen Leben, Anschauen und Sich-anschauen in eins. Auf die-
se Weise wird das Leben allerdings nicht angeschaut.
Die Wissenschaftslehre geht nun von dem alles weitere begründenden Postulat aus,
das Leben solle sich anschauen als Leben. Und dieses reflektorische »Als« spielt im
Folgenden die entscheidende Rolle.

1. Was heißt: Sich anschauen? – Das Sehen soll etwas projizieren. Was soll
es projizieren? Eine Identität des Sehenden und Gesehenen und diese Identität sei das
[in der Erscheinung eingetretene, d.h.] wirklich gewordene Leben (C). Dabei handelt
es sich um ein Sehen überhaupt, d.h. ein unbestimmtes Sehen – das als solches noch
nicht erkannt und begriffen ist. Zu unterscheiden ist: 1. die Erzeugung des Sehen aus
und von sich 2. Das Erzeugte, das gesehene Leben im Bild oder Schema. Bei dem let-
zen könnten wir, wie Kant, stehen bleiben.
2. Blieben wir dabei stehen, würden wir das ursprüngliche Sehen, die An-
schauung, zum absolut Realen und Letztgrund des Schematismus machen. Aus ihm
könnten wir zwar nach Gesetzen des Sehens, d. i. des Schematisierens, die Welt des
Seins aufbauen. Das wäre aber nur eine vorläufige Ansicht der W.L.. Soll dagegen das
Leben sich als Leben sehen, so muß das Sehen aus sich ein zweites Schema gebären –
und zwar ein Schema von sich selbst, denn nur dann kann es sich verstehen als bloßes
Schema im Unterschied zur absoluten Realität.
3. Das Sehen als Äußerung des Lebens ist nicht absolute Realität, sondern
nur etwas Mögliches, ein absolutes Vermögen, ein Schema aus sich zu erzeugen. Mit
diesem Bezug wird über das Wirkliche zum Möglichen hinausgegangen. Es existiert
also ein (Seh)Vermögen (= B) (aktualisiert durch X), und wenn dieses Vermögen
(durch X) aktualisiert wird, entsteht ein Sehen (C) und aus diesem ein Schema (D).
Daraus ergibt sich, das Sehen ist »nicht Accidenz u. Produkt des Ich, sondern das Ich
Produkt des Sehens« (130,10-12).
4. – Was macht es nun, daß durch den Vollzug des Vermögens (B) ein wirk-
liches Sehen (C) entsteht? – Der Grund für den Vollzug des Vermögens, (als das Ver-
wirklichen eines Möglichen), müßte im Leben liegen als der absoluten Realität. Und
das Vermögen B würde, wenn es vollzogen wird, zu einem wirklich gewordenen Le-
Zusammenfassung des Gedankengangs 17

ben (C) (im Unterschied zum absoluten realen Leben = A). Was also ist »wirklich«? –
Eine gewisse Beschränkung und insofern ein Anhalten und Erlöschen des Lebens (A).

Eine solche Beschränktheit oder Bestimmtheit liegt schon im Vermögen (B) des Se-
hens (und nicht erst in dessen Aktualisierung). Denn das Vermögen zu sehen ist eine
Form und als solche eine Beschränkung des Lebens. Das in diese Form eintretende
Leben ist deshalb ein »erloschenes« Leben.
Da das Vermögen des Sehens (B) nicht schon das Sehen selbst ist, das wirk-
liche Sehen vielmehr Vollziehung (C) dieses Vermögens, ergibt sich die Frage: Was ist
das Sehende? – Es ist A, das absolute Leben, in der Form B und als solches wirklich
lebend. Also: nicht das Leben ist wirklich geworden, (das Leben ist vielmehr absolute
Realität in sich), sondern es ist dasjenige, was im Sehen ist und wirkt.
Wenn wir nun unter anderem uns selbst sehen (D), so wissen wir, daß dieses
»Wir« Resultat des Sehens ist, und wenn wir uns sehen als das Sehende (= C), so wis-
sen wir, daß dies eine weitere Bestimmung des Schemas ist, also Schema des Schemas
(D). Nicht wir sehen uns, sondern das Leben in der Form seiner Äußerung (des Se-
hens) sieht sich hin als Ich und als ein sehendes Ich (D).

Resultat

B ist ein Vermögen, (die Möglichkeit eines Wirklichen). Das aber, was in unserem
wirklichen Wissen lebt, was demselben ungesehen und schlechterdings unsichtbar als
dessen Wurzel zu Grunde liegt, ist das Reale zu diesem Vermögen, das Leben. Dieses
soll durch jenes Schema ersichtlich gemacht werden. Was in der Form des Sehens tat-
sächlich wirkt und ist, ist das Reale A = Leben. Dieses Reale läßt sich gar nicht erken-
nen und begreifen, sondern nur leben. »Gehe hin und lebe, so wird in dir ohne Dein
Zutun das Leben auch erscheinen! «
Alle anderen Systeme außer dem hier vorgetragenen bleiben in einem Sche-
ma befangen. Sie bilden nur Schatten- und Schemen. Der Materialist sieht das Sein,
(das Insgesamt des Seienden, die Welt), als das eigentlich Reale an, die halben Ideali-
sten das Sehen. Das höchste und absolute Schema des Realen aber ist das des Lebens.
Die WL. wird über die schematische Natur der philosophischen Erkenntnis nicht ge-
täuscht. Sie sieht die Realität nicht in irgendeiner Philosophie, sondern im Leben selbst
wirken und so ist die Weisheit, (und nicht die Wissenschaft), ihre Tochter, um derent-
willen allein sie da ist.
Ergänzend sei festgestellt: Das Leben kann gar nicht anders als sich im Se-
hen zu äußern. Könnte es anders, wäre da Willkür. Also, wenn das Leben erscheint, so
muß es als Sehen erscheinen. Nun könnte jemand sagen: »ja wenn! Aber ist es denn
überhaupt notwendig, daß es erscheint? « – Nein, allerdings nicht! – Denn »notwen-
dig« heißt, es gibt einen nötigenden Grund = X, der das Leben treibt. Dann aber wäre
das Leben nicht von sich, aus sich, durch sich – und so wäre nicht das Leben, sondern
X der nötigende Grund. X aber ist bestimmt und als bestimmt nicht identisch mit dem
absoluten Leben. Fragt man aber, ob das Leben erscheine? So läßt sich nur antworten:
Siehe hin! – Es kann nur unmittelbarer erfaßt werden durch Anschauung.

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18 Helmut Girndt

9. Vorlesung
Das Schema des Schemas
(133, 10-137, 20)

1. Zuvor gingen wir davon aus, daß Sehen nur als Schema des Lebens existiert. Daß es
sich in der Tat so verhält, wird allerdings erst in einem Weiteren, d.h. einem Begreifen
des Schemas als Schema gegenüber dem Leben (als dem Ersten) bewußt.

2. Nunmehr gehen wir davon aus, daß das Leben sich anschauen soll als Leben. In der
Anschauung hatte sich das Leben zwar (»an sich oder für uns die Philosophierenden«)
geäußert, sich aber noch nicht (»für sich«) als Leben erkannt. Im unmittelbaren Voll-
zug des Sehens blieb das Sehen sich selbst als Äußerung des Lebens unsichtbar. – Was
darum in der anfänglichen postulativen Voraussetzung – das Leben solle sich als Le-
ben sehen – noch nicht im Spiel ist, ist das »Als«.
Etwas als Schema (Bild) zu erkennen bedeutet, es von dem, was nicht Bild
ist, d.h. dem absolut Realen, zu unterscheiden. Die Unterscheidung von Bild und ab-
gebildeter Realität und die Beziehung beider aufeinander kann allerdings nur inner-
halb des Wissens als einem Bilde oder Schema (des Absoluten) stattfinden. Im Bilde,
und nur im Bilde, werden also Bild (Schema) als Bild vom Leben und das Leben als
Leben (als Nichtbild) unterschieden und aufeinander bezogen. Das Wissen vom Leben
oder der Realität ist also seinerseits schematischer Natur, so wie alles Wissen. Es lie-
fert »[…] nur Schemen und Schatten; daraus keine Realität [erfolgt]« (136, 15-16).

3. Methodische Rückbesinnung zur Verdeutlichung (3.1) und zur Frage: Wie ist ein
Schema des Schemas möglich (3.2)?
3.1. Das Sehen ist in sich selbst ein Schematisieren. Und so ist das weiter be-
stimmte Sehen ein Sehen des Sehens oder ein Schematisieren eines Schemas. Damit
gewinnen wir das Sehen eines qualitativen Etwas, ein bestimmtes Sehen; wohingegen
wir zuvor in C ein Sehen überhaupt hatten, d.h. ein unbestimmtes Sehen. In diesem
bestimmten Schema des Schemas (d. h. im Bewußtwerden des Sehens als Äußerungs-
form des Lebens) liegt implizit das Schema überhaupt. Nachdem wir nun erkannt ha-
ben, daß zum Schema das Schematisieren seiner selbst (als Schema) gehört, bedürfen
wir nun des (Zwischengedankens eines) unbestimmten Schemas nicht mehr, wovon
wir anfänglich ausgingen. Schema ist immer zugleich Schema des Schemas. Das Se-
hen ist also Träger aller Schematizität.
Unmittelbar daran knüpft sich nun die Frage: und was ist das Sehende im
Sehen? – Antwort: Es ist das im Sehen sich äußernde Leben (A), das jetzt als ersehe-
nes Leben (D) im Kontrast zum ersehenen Sehen (ebenfalls D) in die Sicht des Sehens
(C) gelangt ist. Dabei besteht trotz Unterschiedes kein Dualismus zwischen Leben und
Sehen.
3.2. Als abschließende Frage ergibt sich: Wie ist ein solches Schema des
Schemas möglich? Daß es möglich sei, wurde schon beantwortet: unter der Vor-
aussetzung, daß es ein Schema gibt, muß es ein Schema des Schemas geben. Und auf
die Frage, wie ist ein solches Schema des Schemas möglich, ergibt sich die Antwort:
Das Schema entspringt dem Sehen. In der Unmittelbarkeit des An- oder Hin-schauens
bleibt der Prozeß des aus absolutem Leben entspringenden Sehens unsichtbar und so
Zusammenfassung des Gedankengangs 19

das Sehen sich selbst. Damit nun das Schema als bloßes Schema (und im Kontrast
zum Leben) sichtbar werden könne, müßte dieses Sehen seinerseits gesehen und in
seinem Vollzug ergriffen werden. Das könnte nur durch eine besondere Tätigkeit ge-
schehen, allerdings durch keine reale, sondern durch eine ideale Tätigkeit (der Reflexi-
on).
Konkreter und im Vorblick bedeutet das: gibt es eine Einheit in der Mannig-
faltigkeit des Wissens, so muß es eine (ideale) Beziehung der Bilder (Vorstellungen)
zueinander geben. Und die äußere Welt als eine Einheit von Vorstellungen ist ihrer-
seits nur Schema, Bild der inneren Welt und Mittel ihrer Gestaltung. Und diese innere
als eine sittliche Welt wiederum ist nur Schema des ewig unsichtbar bleibenden We-
sens des reinen Lichts und dessen Lebensquelle, der Gottheit. Weiterhin wird sich zei-
gen, daß das Schema des Schemas fünffacher Natur ist in einer Rücksicht und un-
endlich in einer anderen. Mit der Einsicht in diesen Zusammenhang gewinnen wir die
ganze Lehre vom Wissen in einem Blick.

10./11.Vorlesung
Das Verhältnis von Leben und Sehen
(138-145,30)

Bisher gingen wir vom Sehen aus. Der obigen Forderung entsprechend »…das Leben
solle als unsichtbares Prinzip des Sehens, ersehen, oder sichtbar gemacht werden.«
(S. 139) Konzentrieren wir uns von jetzt an darauf, daß es das Leben ist, das sich im
Sehen äußert!
Als erstes stellt sich dabei die Frage: Kann das Leben des Sehens überhaupt
gesehen werden? – Die Antwort kann nur negativ sein: Das Leben geht im Sehen auf
und ist darin verloren. Dem entsprechend kann das Leben nur als Unsichtbares sicht-
bar gemacht werden. Wie und auf welche Weise das an sich unsichtbare Leben den-
noch (mittelbar) sichtbar gemacht und so in ein äußeres Verhältnis der Sichtbarkeit zu
sich selbst gesetzt werden könne, wird im Folgenden deutlich werden.
Am absoluten Leben ist dem Sehen also eine Grenze gesetzt, die es nicht
überwinden kann. Ziel und Aufgabe der Wissenschaftslehre bleibt deshalb, statt des
absoluten Lebens das Sehen oder Wissen als dessen Äußerungsform in seinem Wesen
zu durchzudringen. Aus dieser Durchdringung des Wissens in seinem Wesen ergibt
sich allerdings auch, daß das Wissen nicht unmittelbar erfaßt, sondern nur mittelbar
(nämlich in seinem Verhältnis zu absolutem Leben) sichtbar gemacht werden kann.
Nur auf diese Weise, im Bezug auf absolutes Leben, vermag sich die philosophische
Erkenntnis über die Welt daseiender Schemata erheben.
Alles Erkennen ist Ausdruck eines Verhältnisses, ein mittelbares Erfassen,
ein »Durch«. Und das bedeutet: Erst in der Sicht des Sehens und damit auch der Wis-
senschaftslehre verwandelt sich das an sich unbezügliche absolute Leben in einen er-
möglichenden Grund und ein Begründen. Nur in der Form des Sehens, der Erkenntnis,
setzt sich das allein wahrhaft seiende Leben in ein phänomenales Verhältnis zu sich
selber und erschafft dadurch eine Differenz und eine Beziehung seiner beiden Grund-
modifikationen – als »Leben schlechtweg« und als »sehendes Leben«.

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20 Helmut Girndt

12. Vorlesung
Das Sichtbarmachen des unsichtbaren Lebens in der Aktualität schöpferischer
Praxis.
(146-147,15)

Beginnen wir mit der Feststellung: das Leben als Prinzip des Sehens ist seinerseits un-
sichtbar. In Erscheinung tritt das Leben als das, was in jedem Sehensakt einfach ist
oder lebt. In dieser Grundform des schlichten »Ist« ist das entäußerte Leben völlig un-
bestimmt. Die »Feststellung« in einem thetischen »ist« bringt aber die im Wissensakt
sich äußernde Lebendigkeit des (unsichtbaren) Lebens zum Erliegen und gerät zu ei-
nem Verdecken der Realität, zu einer »Entfremdung«, zu einer »Seinsverborgenheit«.
So ist das Leben zwar präsent in der Form des lebendigen Wissensaktes, aber auf un-
sichtbare Weise. Und was sonst gewußt wird, ist bloß das tote Sein in Form einer the-
tischen Seinssetzung (d.h. in der empirischen Sicht der Dinge).
Wenn überhaupt, dann kann das unsichtbare Leben nur auf andere Weise
entdeckt werden und seine Lebendigkeit gewinnen. Auf der Suche nach jener anderen
Art des Innewerdens des Lebens kontrastieren wir noch einmal Leben und Sehen:
Das Leben ruht in sich selbst; nicht so das Sehen (von Gesehenem), vielmehr
entspringt es dem ursprünglichen Leben. Im Gegensatz zum Leben, das in sich selber
lebt, unterliegt das Sehen (von Gesehenem) als ein nicht Ursprüngliches der Notwen-
digkeit, sich in einem anderen, und das heißt hier: im Leben, zu begründen. Doch um
sich begründen zu können, muß das Sehen seinerseits »gesehen und als Sehen gesehen
werden« (145,28). Auf diese Weise, durch Selbstreflexion des Sehens, wird das an
sich unsichtbare Leben mittelbar sichtbar, allerdings nur als der unsichtbar bleibende
Grund des Sehens (139,16-18). Die Bestimmungen des Lebens als Grund des Sehens
und dessen Unsichtbarkeit gehören dabei nicht dem unbezüglichen, absoluten Leben
selber an. Die an das Leben herangetragene Bestimmung als Grund ist eine dem Wis-
sen entstammende und von ihm an das Leben herangetragene Zuschreibung. –

Was bedeutet dieses unsichtbare Leben nun genauer?


Entscheidend für ein adäquates Verständnis des Lebens ist, seine dem Wis-
sen entspringende Unsichtbarkeit in theoretischer Sicht nicht einfach nur »fest-
zustellen«, sondern dem Lebens-charakter des Lebens zu entsprechen. Die sich der
Erkenntnis entziehende Realität des Lebens kann, statt gedacht, nur gelebt werden, und
zwar in bewußter Form. Das Leben in bewußter Weise zu leben, ist jedoch keine pas-
sive Hingabe an diffuse Erlebnisse, sondern schöpferische Praxis (aus Freiheit). Bei
dieser schöpferischen Praxis geht es darum, das Leben als den unsichtbaren Grund des
Sehens in kreativen Lebensakten sichtbar zu machen, und das heißt konkret, es geht
um »Handeln, und zwar rein, ursprünglich und schöpferisch, […] schlechthin um
sein[er] selbst Willen, und [ein solches Handeln] ist das einzig wahre Reale [in der
Form des Wissens].« (149,7-9). Unter Handeln ist dabei kein äußeres Verändern von
Dingen, sondern jede Art schöpferischer Tätigkeit (poiesis) zu verstehen. Das Schaffen
(aus selbstbewußter Freiheit) ist eine Bestimmung innerhalb der Selbstbestimmung des
Lebens.
Zusammenfassung des Gedankengangs 21

13. Vorlesung
Wiederholende Zusammenfassung
(148-151,32)

14. Vorlesung
Anschauung und Denken und die Fünffachheit als grundlegende Struktur des
Wissens.
(152-154,14)

Wir greifen auf die Erkenntnis zurück, Sehen sei notwendig ein sich Begründen.
(152,5)
Erste Bedingung für ein Begründen des Sehens ist, daß es nicht nur sieht,
sondern daß es zugleich sich sieht. Mit dem Akt des Sehens (als An- oder Hin-
schauen) ist zugleich das Sich-sehen (eines An- oder Hin-geschauten) da. Sehend und
von sich selbst gesehen ist das Sehen etwas Kontingentes, das einer Begründung be-
darf.
Zweite Bedingung für ein Begründen des Sehens ist ein weiterer Akt des Se-
hens, der nicht auf unmittelbarer An- oder Hinschauung, sondern auf mittelbarer Re-
flexion des Wissens auf sich selbst beruht, dem Denken. Und erst aufgrund dieser
zweiten Reflexion (dem Denken) auf die erste (des sich sehenden Sehens) zeigt das
Sehen sich als das, was es ist, und als etwas, das einer Begründung bedarf.
Die Anschauung oder Hinschauung liefert ein unmittelbar Sichtbares bloß
dadurch, daß Sehen eben ist. Das Denken hingegen macht das in dieser Anschauung
unsichtbar Gebliebene mittelbar sichtbar. (Nämlich den Grund des Sehens als sich im
Sehen äußerndes Leben).
Die Anschauung ergibt sich. Das Denken hingegen ist ein neues Schaffen.
Nun ist die Anschauung nur die Bedingung der Möglichkeit des Begründens
im Denken, (als des Vermögens, den Lebensgrund des Sehens sichtbar machen zu
können), noch nicht das aktuale Denken selber. Anschauen und Ermöglichung des
Denkens erfolgen hingegen in demselben Schlage.
Zudem ist die Anschauung nicht ohne ihre Produkte a-b (d. h. als Anschauen
und Angeschautes), noch das Denkvermögen ohne die seinigen: A-B (d.h. Denken und
Gedachtes). Die synthetische Einheit des Anschauungs- und des Denkvermögens bil-
det eine Fünffachheit. Die Elemente dieser Quintruplizität bestehen erstens aus dem
Anschauungsvermögen (1) und seinen Momenten: 1.1 Anschauen und 1.2 Ange-
schautes und zweitens auf dem Denkvermögen (2) und seinen Momenten, 2.1 Denken
und 2.2 Gedachtes. Alle Momente zusammen bilden eine Vierzahl. Zu ihr kommt als
fünftes die alle vier Momente integrierende Einheit des Einen Sehens, aus dem sie sich
entfalten.

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22 Helmut Girndt

Der Grund des Einen Sehens, aus dem heraus sich Anschauen3 und denkende
Reflexion des sich sehenden Sehens entfalten, ist das Leben, das aufgrund eigenen
Vermögens in jenen Grundstrukturen in Erscheinung tritt.

15. Vorlesung
Die synthetische Einheit des Ich
(155-156,22)

Die Selbstbestimmtheit des Lebens im Sehen bringt also zweierlei Schemata hervor: 1.
das Schema, das unmittelbar im Sehen als Hin-sehen objektiven Seins projiziert wird
(das Anschauungsvermögen) und 2. das Schema des hervorbringenden Lebens als
schöpferisches Hervorbringen und Begründen – (das freie Denkvermögen), beide sind
unabtrennbar von einander (156,9–11).
Beide Schemata, das des unmittelbaren An- und Hinschauens und das (aus
freier Reflexion) hervorbringenden Denkens müssen nun ihrerseits aufeinander bezo-
gen und gesehen werden. Die Einheit beider Schemata macht dabei die Ich-Struktur
aus: Ich ist die Identität von (Sich)Anschauendem und (Sich)Denkendem. Das erste
Schema, (durch das die Anschauung hervorgebracht wird), ist das objektive, das zwei-
te (das Prinzip des Denkens) ist das subjektive (156,17); und das lebendige »nothwen-
dige Band beider« (156,18) ist die »synthetischen Einheit der Apperception«
(156,15f.).
Die Entäußerung des Lebens in Anschauung und Selbstanschauung in der
Ich-struktur ist »Urschema des Lebens« (156,19). In diesem Urschema verwandelt sich
»Das Leben […] in eine synthetische Einheit der Anschauung« (157,3f.) und darüber
hinaus in »ein denkendes Ich« (157,4). Dieses Ich ist das Grundprinzip alles weiteren
in der Erscheinung stattfindenden Schematisierens, Prinzip allen objektiven und sub-
jektiven Seins der Welt.4

3 Der Terminus Anschauung (oder auch Hinschauung, resp. Anschauen oder Hin-
schauen oder Sehen oder Schematisieren) hat nicht dieselbe Bedeutung wie in der Philosophie
Kants. Während bei Kant Anschauung ein rezeptives Vermögen in Form des vor-begrifflichen
raum-zeitlichen Neben- und Nacheinanders von sinnlichen Gegebenheiten bedeutet im Unter-
schied zu dem spontanen Vermögen des Denkens, das dem Angeschautem erst begrifflichen Sinn
verleiht, ist bei Fichte der Akt des Sehens (resp. des Sehen des Sehen) ineins Anschauen und
Denken. Selbst die elementarste Wahrnehmung enthält nach Fichte schon neben den reinen An-
schauungsbestimmungen des Vor-, Neben- und Nacheinanders in Raum und Zeit ein Minimum
kategorialer, also gedanklicher Bestimmungen, etwa Sein, Einheit, Substanz, Qualität und Quan-
tität, wie Fichte in seiner Transzendentalen Logik am Beispiel eines Sandhaufens illustriert. Unter
Denken oder Begreifen im Unterschied zum Sehen versteht Fichte die freie Aktivität bewußten
gedanklichen Reflektierens über das im Sehen unmittelbar Gesehene hinaus. Es beginnt, wenn
aus Freiheit nach dem Grund des Gesehenen gefragt wird. Das Denken oder Begreifen ist ein
neues Schaffen (153,28).
4 Dieses Ur-schema des Ich ist, wie in Erinnerung gerufen wird, nicht das absolute
Ich im Sinne absoluten unbezüglichen Seins und Lebens oder Ich des ersten Grundsatzes der
Wissenschaftslehre von 1794 (siehe Anm. 1).
Zusammenfassung des Gedankengangs 23

16./ 17. Vorlesung


Vom existenziellen zum transzendentalen Standpunkt.
(157-164,3)

Das Leben hat sich nun in eine synthetische Einheit des Sehens verwandelt. Völlig
aufgegangen in die Einheit von Anschauen und Denken ist das Leben selbst allerdings
nicht mehr sichtbar, »wie es doch soll« (157,1-5).
Die Aufgabe, die der Wissenschaftslehre gestellt ist, lautet also genauer: das
im Wissen und Sich-selbst-Wissen aufgegangene Leben wieder sichtbar werden zu
lassen, aber nicht nur als unmittelbar anschauendes, auch nicht nur im schöpferischen
Erscheinungsleben, sondern als die verborgene Quelle erscheinenden Daseins über-
haupt, (des anschaulich gebundenen, wie des schöpferisch freien). Das an sich un-
sichtbare Leben auf diese Weise sichtbar werden zu lassen, bedeutet, das Leben vom
transzendentalen Standpunkt aus zu sehen.
Was in gewöhnlicher Sicht der Dinge das wahre Leben und das Schaffende
im Ich verdeckt, ist die Notwendigkeit. Sollte nun das (verdeckte und verwandelte) Le-
ben in philosophischer Erkenntnis wiederhergestellt werden, so könnte dies nur durch
die Freiheit der Reflexion geschehen. Im Zustande unmittelbaren Sehens hat das Da-
sein seinen Grund verloren, deshalb muß es, um zu sich selbst zu kommen, sich be-
gründen. Dieses Sichbegründen ist eine neue Schöpfung des Lebens aus einem wahr-
haft in sich selber lebenden Sehen.
Wie aber soll dieses Sichbegründen vonstatten gehen? Wie soll ein Überstieg
des Wissens über sich selbst gedacht werden (157,11-21), den ein Sichbegründen er-
scheinenden Lebens erforderlich macht? – Nur so, daß das Gesetz des Schematismus,
dem das Leben anheimgefallen ist, seinerseits sichtbar gemacht würde. Die Hülle, die
das Leben umgibt, wird dadurch transparent, daß das Gesetz des Schematismus durch-
schaut wird. Auf diese Weise vermag sich die Erscheinung als Erscheinung (philoso-
phisch) zu durch-schauen und wissentlich zum Leben zurückzukehren.
Eine solches Sichtbarmachen und Sichbegründen des Wissens im Leben ist
Aufgabe der Transzendentalphilosophie. Sie kann nur »durch eine abermalige neue
Schöpferkraft des Denkens« (157,15-16) vollzogen werden. Die Neuheit dieser 'neuen
Schöpferkraft des Denkens liegt in seiner Freiheit: Denn im Unterschied zur Notwen-
digkeit des Schematismus liegt das Sichtbarmachen des Gesetzes des Schematismus
durch philosophische Erklärung nicht im Schematismus (157,17-18).
Hier, in der transzendentalen Reflexion, wird das Leben verwandelt in ein wahrhaftig
neues und anderes Leben, das aus sich eine neue, kreative Sicht der Wirklichkeit er-
schafft.
Allerdings läßt diese mittelbare Rückkehr des Leben zu sich selbst in trans-
zendentaler Erkenntnis die Erscheinung nicht einfach verschwinden, es bleibt bei der
Erscheinung als Äußerung des Lebens – aber sie wird nun zu einer im Denken in sei-
ner Gesetzmäßigkeit durch-blickten.

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24 Helmut Girndt

18. Vorlesung
Vom theoretischen zum praktischen Teil der Wissenschaftslehre
(161,6-164,3)

Der Grundgedanke transzendentalphilosophischen Denkens verweist noch einmal auf


den unlösbaren Zusammenhang zwischen Wissen und Freiheit. Denn die Rückkehr
(ins Leben) durch philosophische Reflexion ist keine Reduktion auf eine abstrakte Ein-
heit, sondern ein Gipfel freier Schöpferkraft in der Erscheinung des Lebens. Und weil
die Freiheit aus dem Leben selbst hervorgeht, bleibt sie ins Unendliche erhalten und ist
selber unendlich. Konkret bedeutet das: Es gibt kein Wissen der WL und auch keine
Selbigkeit des Wissenden ohne Freiheit, die beider Grundlage bildet und die selbst un-
erschöpflich ist.
Wir sind mit dieser gerafften Darstellung am Ende des zweiten Teils der
Wissenschaftslehre von 1807 angelangt, der Lehre von der Grundlage des theoreti-
schen Wissens. Da es im Wissen nicht weiter zu bringen ist als bis zu dieser philoso-
phischen Selbstverständigung des Wissens über sich selbst und sein Verhältnis zum
Leben, besteht die nun folgende Aufgabe darin, die Kluft, die sich zwischen dem abso-
luten in sich geschlossenen Leben des ersten Teils und dem Sehen als Äußerungsform
des Lebens im zweiten Teil der Wissenschaftslehre aufgetan hat, in einem dritten Teil
soweit wie möglich zu überwinden. Dieser (im absoluten Leben selbstverständlich
nicht, sondern nur in und von seiner Erscheinung aus bestehende) H i a t -u s und seine
Überbrückung ist das Thema des Folgenden.

Dritter Teil
Grundlage der Wissenschaft des Praktischen: Der Trieb als infinites
Streben
(165-202,21)

19./20. Vorlesung
Der Trieb und der ontologische Status des Triebes
(165-170,29)

Um ein vertieftes Verständnis des Verhältnisses von Leben und Sehen zu gewinnen,
wird nunmehr, im dritten Teil der Ausführungen, ein neuer Begriff eingeführt, der des
»Triebes«. Dieser dritte Teil der Wissenschaftslehre von 1807 ließe sich analog zur
»Grundlage« von 1794 als Grundlage des praktischen Wissens überschreiben.
Die Annahme eines Triebes ist eine »Hypothesis«, genauer eine erklärende
Letzthypothese, die ihrerseits auf keinen weiteren Annahmen beruht und deren Bewäh-
rung allein in ihrer Erklärungsleistung liegt. Dieser Trieb ist zunächst nur hypothetisch
und nur nach vollendeter Untersuchung als existent anzunehmen.
Zusammenfassung des Gedankengangs 25

Das Problem, das mit der »Trieb«Hypothese gelöst werden soll, besteht dar-
in, daß das Leben als in sich geschlossenes Sein sich nicht auf etwas anderes beziehen
kann. Zum absoluten Leben kann keine Kausalität gehören. Der Theorie des »Triebes«
liegt deshalb der Gedanke einer Kausalität zugrunde, die zugleich keine ist. Dieser
scheinbare Widerspruch wird mit der Idee einer »verhinderten« Kausalität gelöst, d. h.
einem Streben nach Kausalität oder nach Sein, das sein Ziel allerdings niemals er-
reicht. Auf diese Weise soll der Hiatus zwischen absolutem Sein und faktischem Da-
sein, so wie er sich seitens des Da-seins darstellt, überbrückt werden.
Anstelle eines Hervorbringens absoluten Seins, was a limine unmöglich ist,
tritt der Trieb mit seinem bleibenden Streben nach Kausalität, der allerdings nicht wei-
ter gelangt, als ein bloßes Schema oder Bild des Seins zu erzeugen. Der Trieb bewirkt
also tatsächlich etwas, aber nicht Realität, dann hätte er Kausalität, sondern nur ein
Abbild der Realität im Sehen. Und so besteht das Streben des Triebes darin, statt Sein
das ihm am nächsten Kommende hervorzubringen, eben Sehen eines Schemas des
Seins. Der Trieb »in und an Gott«, nicht Gott selbst (als relationslos Absolutes), ist
also der Grund der Welt. Als Trieb Gottes ist er unvergänglich, und das heißt ewig
wirksam. Und so ist der Trieb ein ewiges Erzeugen, (in der Zeitform, die allerdings in
der WL 1807 nicht explizit entwickelt ist, bedeutete ein solches Streben des Triebes
ein Erzeugen, das im Entstehen zugleich schon wieder vergeht, nur um von etwas
Neuem, ebenso Vergänglichen, abgelöst zu werden). Und dennoch ist und bleibt der
Trieb unveränderlich Streben nach einem unerreichbaren Ideal, ein vollkommenes Bild
Gottes zu werden und sichtbar werden zu lassen.

21. Vorlesung
Der Trieb als Grund des Bildes
(171-174,10)

Nun kann es aufgrund des Triebes nicht nur nicht zu keiner Wiederholung absoluten
Seins, sondern noch nicht einmal zu einem vollendeten Bild oder Schema des Seins
kommen. Ein vollendetes Bild des Seins zu erreichen, bedeutete, das Ziel des Triebes
tatsächlich verwirklicht zu haben. Und damit würde der Trieb aufhören Trieb zu sein,
er wäre zu Kausalität geworden, (wenn auch nur im Bereich der Bildhaftigkeit). Eine
vollkommene Offenbarung Gottes kann also nie wirklich werden. Zuvor hieß es: kein
Sein außer Gott, jetzt heißt es: kein vollendetes Bild seines Seins. Allerdings bürgt der
Trieb, Gott nie vollkommen erkennen zu können, auch für die Unendlichkeit der Exis-
tenz des erscheinenden Daseins (in der Zeit).
Wird denn nun in jenem ersten unmittelbaren Ausdrucke des Triebes, d.h. im
Sehen, der Trieb seinerseits sichtbar? Die Antwort ist: Nein. Die unmittelbare Ver-
wirklichung des Triebes im Sehen bleibt unsichtbar.
Mittelbar jedoch könnte der Trieb sichtbar werden und zwar in einem wiete-
ren Sehen, das über die Verwirklichung eines ersten Triebes (Tr1) hinausgehend zu
einem Sehen des Triebes wird (Tr2). Wie zuvor im Sehen, bei dem es zu einem Sehen
des Sehens kam, gewinnen wir an dieser Stelle eine weitere Bestimmung des Triebes
(Tr2) innerhalb des schon bestehenden (Tr1). Der Trieb des Sehens wird so zu einem

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26 Helmut Girndt

Ersehen des Triebes; der Sehtrieb zu einem Sehen seiner selbst. Und auf diese Weise
entsteht ein realer Kern im Bereich der Schemata.
Mit diesem Ersehen des Triebes hat nun der lebendige Trieb wirklich und in
der Tat Kausalität erlangt, (nämlich in Bezug auf sich selbst, als Selbsterfahrung), al-
lerdings nur im Bereich schematischen Daseins, ohne deshalb aufzuhören, weiter nach
dem vollkommenen Bild des Seins zu streben, das nie erreichbar ist.
So ist denn das göttliche Wesen – auf sichtbare und unsichtbare Weise –
ewig fort das Reale in allem Sehen. Die Form des Sehens aber ist die Unendlichkeit.
Könnte sie jemals vollendet werden, würde Gott erscheinen, wie er ist, was unmöglich
ist.

22. Vorlesung
Das Ich als Trieb und der Trieb als Ich
(175 -178,9)

Die Verwirklichung des Triebes erzeugt zunächst keine phänomenale Realität, sondern
ein Sehen und ein im Sehen gesehenes Sein. Nun ist aber das nur hinschauende Ich
dasselbe wie das Ich des Triebes. Deshalb existieren Sehen und Treiben in unmittel-
barer Einheit. Der Trieb ist, wie wir gesehen hatten, zunächst unsichtbar (als Tr1). Da,
wo Anschauung wirklich ist, ist sie es demnach aufgrund der Selbstreflexivität des
Triebes (Tr2) und dem immer über sich Hinausgehen des Triebes (als Fluß der An-
schauungen).
Allerdings bleibt in den einander ablösenden Anschauungen das Ich stets
dasselbe Eine und darüber hinaus bleibt es auch sichtbar als dasselbe Eine, insofern es
bei allen wechselnden Vorstellungen immer dasselbe Ich bleibt. Daraus muß sich die
Frage ergeben: welches ist denn nun das Prinzip der Einheit des Ich, das in der Unend-
lichkeit seines Schematisierens nicht zerfließt, sondern eines bleibt?
Bevor wir diese Frage nach dem Prinzip der sich in der Mannigfaltigkeit
durchhaltenden Einheit des Ich beantworten, sehen wir noch, auf welche Weise sich
das Ich als Trieb oder der Trieb als Ich manifestiert!
1. Im Bereich der Idealität äußert sich der Trieb als Seh-Trieb (Tr1), Gott zu
schauen. Das geschieht zunächst naiv und unbewußt im sinnenhaft schauenden Ich
und in Übereinstimmung mit seinem natürlichen Trieb, dann aber im reflektierenden
Ich, das diesen Trieb zu bewußtem Dasein erhebt.
2. Im Bereich (phänomenaler) Realität hingen äußert sich der Trieb als
Handlungs-Trieb, Gott selbst zu werden, (d.h. eins mit ihm zu werden). Dieser Trieb
(TR 2) wird gefühlt als Liebe. Liebe ist das qualitative Kriterium phänomenaler Reali-
tät und das Prinzip allen Handelns gegenüber dem formalen Prinzip allen Sehens. Erst
im Gefühl (der Liebe) erfahren wir die Realität phänomenalen Daseins. Allerdings
wird nichts Wirkliches jenen Realitäts-Trieb (Tr2) je befriedigen können, denn die nur
im Gefühl erfahrbare Nichtigkeit alles Wirklichen begleitet das Ich in allen seinen
Handlungen. Das Ich erfährt auf diese Weise im Gefühl, worum der Philosoph auf sei-
ne Weise schon wußte: real ist nur das sich selber klar gewordene Leben in Einheit mit
Zusammenfassung des Gedankengangs 27

der göttlichen Liebe. Diesem Ideal gegenüber bleibt es in der Wirklichkeit beim ewi-
gen Streben, nicht anders als in der Grundlage von 1794.5

23. Vorlesung
Der Trieb als Prinzip der Einheit von Einheit und unendlicher Mannigfaltigkeit
(179-183,15)

Die zuvor gestellte Aufgabe bleibt weiterhin dieselbe: Die aus dem Treiben des Trie-
bes (in der Form der Fünffachheit) sich entfaltende Unendlichkeit aus absoluter Ein-
heit abzuleiten. Denn diese Einheit unendlicher Mannigfaltigkeit macht das Wissen
erst möglich. (179)

Dazu bedarf es dreierlei:


1. einer in und durch sich seienden Einheit ohne Wandel: die absolute in sich
geschlossene Realität des unbezüglich göttlichen Seins = Lebens des Absoluten.
2. eines Prinzips der Mannigfaltigkeit, d. i. eine zweite Einheit, welche sich
durch sich selber spaltet. Diese zweite Einheit ist das Wissen (als Prinzip der sich in
ihm entfaltenden synthetischen Einheit des unendlich Mannigfaltigen). Und
3. eines Prinzips des Zusammenhanges der beiden ersten Momente, dem ab-
soluten Leben (als unbezüglicher Einheit) und dem Wissen – der Trieb als ein »bele-
bendes Prinzip«, wie sich zeigen wird.

Gelöst wird die Aufgabe, die synthetische Einheit des Mannigfaltigen des Wissens (2)
mit der absoluten Einheit absoluten Lebens (1) in Beziehung zu setzen, durch die zu
Anfang des dritten Teils der Wissenschaftslehre angenommene Voraussetzung eines
Triebes »an und in« Gott. Dieser Trieb ist es, der im Wissen ein selbständiges Sein
annimmt. Obwohl das mit seinem Sein verschmolzene Wissen sich spaltet und ins Un-
endliche wandelt, bleibt der Trieb als unsichtbares Prinzip des Einen Wissens in allem
Wechsel bestehen. Und so ist denn die Identität des Triebes mit sich selbst in allen
Wandlungen des Wissens das gesuchte dritte synthetische Einheitsprinzip. –Diese
These wird im Folgenden expliziert.

Gefühl und Fühlen. (181,33-183,15) Um zu vertiefter Einsicht in das gesuchte Ver-


mittlungsprinzip der (absoluten) Einheit und der (Einheit von Mannigfaltigkeit) zu ge-
langen, muß der Trieb noch weiter analysiert und bestimmt werden.
Als erstes betrachten wir eine bisher noch nicht gänzlich bedachte Seite des
Triebes. Zufolge seiner Schöpferkraft hat der Trieb nicht nur eine nach außen gerich-
tete, sondern (wie in Kap. 22 ausgeführt) auch eine unmittelbar innere Kausalität, ein
immanentes Sein. Dieses immanente Sein des Strebens ist das Gefühl [d.h. das Vermö-
gen zu fühlen] des Triebes. Ergebnis dieser inneren und unmittelbaren Kausalität [des

5 Dieses dritte Prinzip bildet keine höhere, über das Absolute und das Prinzip der
Mannigfaltigkeit hinausgehende Synthese.

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28 Helmut Girndt

Fühlvermögens], in dem der Trieb (in Bezug auf sich selbst) tatsächliche Kausalität er-
langt, ist das aktuelle Fühlen.
Da nun diese unmittelbare und innere Schöpferkraft (des Gefühlsvermögens)
in einem absoluten Triebe gründet, der nicht aufhören kann zu streben, wiederholt sich
diese Schöpferkraft ins Unendliche und erzeugt ein seinem Gehalte nach unveränderli-
ches immer gleiches Fühlen. So bleibt das Fühlen in der Unendlichkeit des Mannigfal-
tigen dem Inhalt nach stets dasselbe und wird, im Wesen unverändert, im Treiben des
Triebes bloß wiederholt und nach jedem Mal wieder neu gesetzt.

24. Vorlesung
Ein Widerspruch im Trieb: Einheit des Triebes und Unendlichkeit des Treibens.
(184-187,24)

Mit dieser neuen Erkenntnis der Innendimension des Triebes scheint sich ein Wider-
spruch aufzutun. Er lautet:
Der Trieb »an und in« Gott hat ein immanentes Sein, zufolge dessen er zu
einem Vermögen wird, sich selbst zu fühlen. Als solcher ist der Trieb ein ins Unendli-
che Wiederholbares, ein immer erneutes Werden.
Dagegen steht aber: Weil der Trieb »in und an« Gott ist, kann jenes im-
manente Sein des Triebes nicht ewiges Werden, sondern nur ein immer Bleibendes
sein. Denn was »in und an« Gott ist wie der Trieb, ist schlechthin und wird nicht ins
Unendliche fort. Das eine Gefühl wäre demnach nur einmal und einfach und durchaus
nicht ins Unendliche wiederholbar.
Über die Existenz des Triebes herrscht zwar Einigkeit, aber in Beziehung auf
das Wesen des Triebes hat sich nun eine Differenz aufgetan. Ein ständiges Entstehen
und Vergehen des Triebes in alle Unendlichkeit scheint mit dem Charakter der Seins-
einheit des Triebes unvereinbar zu sein.
Damit sind wir bei einem Hauptproblem der Philosophie angelangt: dem
grundsätzlichen Verhältnis von Einheit und Vielheit. Das Problem ist: wie können die
absolute Einheit und Unveränderlichkeit Gottes, (dem der Trieb »an und in« Gott ent-
stammt), und unendliche Veränderlichkeit und Vielheit des Triebes neben einander be-
stehen?

25. Vorlesung
Auflösung des Widerspruchs: Das Vermögen des Wissens.
(188-192,8)

Der aufzulösende Widerspruch lautet:


– Der Trieb ist in Gott und wird nicht: also Sein, nicht Werden.
– Der Trieb kann sich nur durch sich selbst erfassen und nur durch dieses Erfassen
sich halten, aber dann ist er ein sich unendlich wiederholbares Fühlen: also Werden,
nicht Sein.
Zusammenfassung des Gedankengangs 29

Zur Lösung wird ein unerwarteter Weg eingeschlagen, der darin besteht,
nicht direkt auf die Frage nach der Vereinbarkeit von Sein und Werden, (Einheit und
Vielheit), einzugehen, sondern auf die anstehende Frage als Frage. Die höhere Frage
ist: Woher entsteht das Fragen, was ist Prinzip des Fragens und des Zweifels selber,
aus dem sich Vielheit und Unendlichkeit gebiert? Wenn es gelingt, diese höhere Frage
nach dem Ursprung des Fragens zu beantworten, ist auch die aufgezeigte Frage nach
dem Verhältnis von Sein und Werden, Einheit und Vielheit, gelöst.
Reflektieren wir auf den zuvor zurückgelegten Weg: Wir sind uns bewußt,
die Einsicht über den Trieb erst erzeugt zu haben. Gibt es denn, diese Einsicht als
höchste genommen, noch etwas anderes, das der Einsicht in das Wesen des Triebes zu-
grunde läge und das wir bisher nicht bedacht hätten? Die Antwort ist: Ja! Das Allerers-
te und das Ursprünglichste, das erlaubt, eine Erkenntnis über den Trieb zu gewinnen,
ist der Trieb nach Erkenntnis und das in ihm begründete Vermögen des Wissens selbst.
Der Ursprung des Fragens ist also der Trieb und das durch ihn getriebene Wissens-
vermögen. Käme dem Trieb kein Vermögen der Erkenntnis zu, hätten wir nicht ver-
mocht, die Einsicht in den Trieb und seine wissensbegründende Funktion zu gewin-
nen.
Damit ergibt sich: Das Wesen des Triebes ist es, Erkenntnis zu erlangen und
in der Erkenntnis als einem Vermögen ist auch die Einsicht in das Wesen des Triebes
begründet. Der Trieb ist dasjenige, was zur Verwirklichung des Vermögens des Wis-
sens treibt. Und dieses im Trieb begründete Vermögen, insbesondere Gott zu denken
und zu erkennen, ist wiederum ein durch das Sein Gottes ermöglichtes Vermögen.
Dieses Vermögen des Triebes zu (absoluter) Erkenntnis ist nun weder durch
sich noch durch anderes determiniert. Wie jede Erkenntnis folgt auch die Erkenntnis
des Triebes aus dem sich unbegrenzt entfaltenden Vermögen der Freiheit.
Das im und durch den Trieb begründete Wissen ist also dasjenige, das den
aufzulösenden Widerspruch zwischen Sein und Werden, absoluter Einheit und Unver-
änderlichkeit und unendlicher Veränderlichkeit aufzulösen vermag. Die Antwort lautet
umfassender formuliert:
Das in sich geschlossene Absolute kann nicht aus sich heraustreten, aber es
kann in Form des Wissens (als Gotteserkenntnis) sichtbar werden. Sichtbar wird es im
Erkenntnisvermögen. Dieses Vermögen ist als Erkenntnisvermögen immer eins und
dasselbe. Aber die Verwirklichung dieses Vermögens aufgrund des Erkenntnistriebes
ist ins Unendliche möglich, eben darum, weil es ein Vermögen ist und auf diese Weise
ein Werden.

26. und 27. Vorlesung


Das Vermögen (des Wissens) als Möglichkeit des Vollzugs des Triebes
(193-198,28)

Im letzten Abschnitt (193-199) des dritten Teils der WL 1807 ergibt sich als noch ver-
bleibende Aufgabe, ein vermittelndes Prinzip zwischen den bisher auseinander gehal-
tenen Gliedern Trieb einerseits und Vermögen (des Wissens) andererseits aufzufinden.
Würde dieses Vermögen keinerlei Kausalität unterliegen, bliebe es lediglich bei der

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30 Helmut Girndt

Möglichkeit des Vollzugs des Wissens. Damit es zur Verwirklichung des Wissens
kommt, bedarf es des Erkenntnistriebes. Das Vermögen zu wissen wurzelt im Triebe.
Es gilt nun zu sehen, auf welche Weise.
Als Trieb des Absoluten oder als Trieb »in und an Gott« bewirkt der Trieb
die unmittelbare Äußerung in der Erscheinung als Anschauung. In dieser Funktion ist
er ein Trieb zur Realisierung seiner selbst, denn der Trieb steht in einem Selbstverhält-
nis (Tr. 2). Nach der Verwirklichung des Triebes fragend, fanden wir die anschauliche
Welt und mit ihr das Selbstverhältnis des Wissens als Ich.
Der immanente Aspekt des Ich, auf dem Trieb des Absoluten beruhend,
drückt sich im Gefühl der Gewißheit aus, einem Sichfühlen oder Aufsichberuhen un-
mittelbaren Wissens als Anschauung. Dem gegenüber steht der emanente Aspekt des
Ich, selbst nicht das Absolute zu sein, sondern nur dessen Äußerung in der Erschei-
nung. Damit ist klar, daß das Ich, sowohl was seinen immanenten wie seinen emanen-
ten Aspekt ausmacht, nicht von sich selbst her ins Leben treten kann.
Mit der Beschreibung des Ich ist nur verdeutlicht worden, wie der Trieb rea-
lisiert wird und was dabei realisiert wird, doch ist es damit noch nicht zu seiner Ver-
wirklichung gekommen. Dieser Trieb muß also noch vollzogen werden, damit man
sagen kann, die WL sei vollendet. Es muß daher ein lebendiges Prinzip in den Trieb
gesetzt werden, das den Schematismus des Ich erst in Gang setzt; nur durch ein solches
lebendiges Prinzip kann es zur Verwirklichung des Triebes kommen. Das den Trieb
belebende Prinzip ist also das gesuchte Mittelglied, das den letzten Begründungs-
schritt über Trieb und das Vermögen des Wissens hinaus ermöglicht.
Außer dem absoluten Sein und dem Trieb »in und an« Gott wird also noch
etwas Drittes angenommen, um die Wissenschaftslehre zu begründen: ein lebendiges
oder belebendes Prinzip (199,3). Und dieses belebende Prinzip (außer Gott) ist es,
welches das Vermögen des Triebes aktualisiert (199, 9). Als den Trieb belebendes
Prinzip ist es Ausfluß absoluten Lebens, ohne dieses absolute Leben selbst zu sein.
Und als Lebendigkeit des Triebes ist es das Leben des Ich, das wir (nach der Ent-
faltung der schematischen Aspekte) suchten.
Damit ist der letzte wichtige Schritt zur Begründung der Erscheinung getan.
Zur Vollendung der WL wäre dann lediglich noch zu zeigen, auf welche Weise sich
die Eine Erscheinung in eine unendliche Mannigfaltigkeit auffächert – das wäre The-
ma des letzten, des 28. Vortrags, (wie in der WL 1804 auch), der allerdings nicht mehr
vollständig ausgeführt wurde.

28. Vorlesung
Zusammenfassung und offene Fragen
(201-202,20)

Das lebendiges Prinzip als ein eigenes, immanente Lebens des Triebes außer dem
göttlichen Sein haben wir als Schöpferkraft bloßer Schematen kennen gelernt. Es hat
die Form des Ich und als solches ist es emanent in der Anschauung seiner selbst und
immanent in seinem Ausdruck, dem Gefühle.
Zusammenfassung des Gedankengangs 31

Sich in seiner Unmittelbarkeit als Ich anschauend findet sich das lebendige
Prinzip als Prinzip fünffacher Unendlichkeit. Und erst durch die lebendige Selbstan-
schauung des Ich kann in Erscheinung treten, daß das, was Eins ist, ins Unendliche
wiederholt werden kann. Anschaubarkeit ist also der Quell der Unendlichkeit.
Um nun die Einheit in der Unendlichkeit der Anschauungen wiederherzu-
stellen, muß die Einheit des Ich wiederhergestellt werden. Und das geschieht durch das
Vermögen des Denkens. Das Ich wird nämlich im Denken als Prinzip seiner selbst und
seiner Selbstanschauung begriffen. Als ein solches Prinzip der Selbstanschauung muß
es sich als ein Ich erfassen. Und das heißt: Mit dem Gedanken des Ich als Prinzip wird
die Einheit des Ich im Denken wiederhergestellt. Ist die Anschaubarkeit Quell der Un-
endlichkeit, so das Denken das Vermögen der Einheit.
Im Wechsel zwischen dem Hingeben an die Anschauung (in der sie sich der
Unendlichkeit Preis gibt), und dem Denken (als eines Vernichtens jener Selbstan-
schauung und Hingabe an das Gesetz der Einheit), d.h. im Wechsel dieser beiden Re-
flexionsweisen liegt nun die Freiheit des sich selbst bestimmenden Ich als zwischen
Unendlichkeit und Einheit vermittelndes Prinzip.

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Mit diesen Überlegungen endet, thematisch unvollendet, die Wissenschaftslehre von


1807. Ihr Hauptgedankengang läßt sich in Worten der 15. Vorlesung in nuce zusam-
menfassen:
Das in sich lebende Leben tritt aus absoluter Selbstbestimmung aus sich her-
aus, wird ein Sehen und sich Sehen. Denn es kann nicht sehen, ohne sich zu sehen. Ist
aber Gesehenes, so bedarf es eines Grundes. Das Sichtbarmachen dieses Grundes ist
ein Erschaffen aus Freiheit, die ihrerseits sichtbar ist. Die Wissenschaftslehre ist das
Sichtbarmachen dieses Zusammenhangs.

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Gaetano Rametta

Einleitende Bemerkungen über die Wissenschafts-


lehre von 1807

1. Lebenslehre

Im dritten Vortrag der Königsberger Wissenschaftslehre legt Fichte einige


sehr wichtige Überlegungen zum Leben als »Urquell« der Erscheinung
dar.1 Dabei beschäftigt er sich ausdrücklich mit der Beziehung, die zwi-
schen der grammatikalischen, d.h. logisch-linguistischen Bestimmung be-
steht, der man das Leben unterzieht, wenn man es in ein Substantiv um-
wandelt, und der Aufgabe, die der Transzendental-Philosophie zukommt,
wenn sie das Leben auf eine Weise zu interpretieren sucht, die es durch
die Substantivierung des Sprachgebrauchs in seiner Lebendigkeit nicht
vollkommen vernichtet.

1 Um die Orientierung des Lesers zu erleichtern, geben wir hier das Verzeichnis der
von Fichte benutzten Abkürzungen an:
X = das noch nicht als Leben bestimmtes Prinzip oder Absolute;
A – (a-b) : A = das Absolute als Leben und Urquell, hier als Grund der Erscheinung gedacht; a-b
= die Erscheinung als vom Leben begründete Disjunktion zwischen Ich an sich und Ich als Ich,
oder auch zwischen Ich als sehendem Subjekt und (faktischem) Sein als gesehenes Objekt;
A – x: A = das Absolute oder Leben als getrennt von seiner wirklichen Erscheinung, oder in
seiner »reinen« Realität gedacht (= übersinnliche Welt); x = die erscheinende Wirklichkeit (=
sinnliche Welt), deren Bestimmtheit nicht a-priori ableitbar ist; – = das Band beider.
34 Einleitende Bemerkungen

Eine solche Aufgabe kann und darf nicht darin bestehen, der
grammatikalischen Bestimmung zu entfliehen; nicht darin, das Leben in
einen absolut reinen, von Sprache und Begriffen freien Raum hineinzu-
führen. Das Leben zu einem Schweigen zu verurteilen, das unbegrifflich
und sprachlos ist, würde bedeuten, es am leben zu hindern, es von seinem
Erscheinen ausschließen zu wollen. Vielmehr geht es darum, das Leben
auf eine Weise zu bestimmen, die über die grammatisch substantivierende
Bestimmung hinaus geht.
In der WL-07 fragt sich Fichte, wie man das Leben denn wohl
konjugieren könne. Und darüber hinaus: Wenn man davon ausgeht, daß
das Leben weder Substantiv ist noch substantiviert werden kann, also we-
der substantia noch substratus ist, bedeutet das dann, daß der verbale Cha-
rakter, der dem Leben eigen ist, wirklich konjungierbar ist? Das würde
nicht nur bedeuten, ein bevorzugtes Tempus für das Leben anzunehmen,
sondern auch einen Modus oder eine bestimmte Person, denen man den
Vorrang zuschreiben müßte, das Leben selbst darzustellen und auszu-
drücken.
Der Wissenschaftslehre, so klagt Fichte, wird vorgeworfen, die
erste Person zu bevorzugen; woraus sich wiederum der Vorwurf ergibt,
Ausdruck eines spekulativen Solipsismus´ zu sein, dessen unvermeidlicher
Nebeneffekt nichts anderes sein kann, als ein »ungeheurer« Egozentris-
mus. Was sonst könnte der Vorrang bedeuten, den die Wissenschaftslehre
dem Ich zuschreibt? Welche anderen Konsequenzen könnte sie mit sich
bringen, wenn nicht die von Friedrich Heinrich Jacobi dargelegten, die auf
eine Erhöhung der Subjektivität und des subjektiven Bewußtseins als
Schluß- und Ausgangs-punkt der Transzendentalphilosophie hindeuten?

In dem Text, den es hier zu kommentieren gilt, distanziert sich Fichte wie-
derholt von einer solchen Interpretation der Wissenschaftslehre. In ihr
geht es nicht darum, das empirische, natürliche, individuelle Bewußtsein
in den Mittelpunkt zu stellen und zum methodischen Ausgangspunkt der
Philosophie zu machen. Die Kritiker, welche die Bedeutung der Ichheit
und des Selbstbewußtseins auf solche Weise interpretieren, mißverstehen
vollkommen den Sinn des transzendentalen Unterfangens, das sie mit ei-
ner empirisch-faktischen Erörterung verwechseln. Dabei geht es der
Transzendentalphilosophie gerade darum, die Bedingungen der Möglich-
keit der empirisch-faktischen Gegebenheit zu erforschen. Anders ausge-
drückt: Es handelt sich bei den Mißverständnissen der Transzendentalphi-
losophie um die Übertragung einer naturalistischen Geisteshaltung und
Gaetano Rametta 35

ihrer objektivistischen Einstellung auf die transzendentale, um ein Ver-


tauschen dessen, was schon in der Grundlage 1794/95 unterschieden wird:
Zwei klar von einander getrennte Klassen: die sich auf die transzendentale
Konstruktion beziehenden und die dem empirischen Bewußtsein eigenen
Momente.
Fichte geht nicht näher auf diese Problematik ein und beschränkt
sich auf die These Jacobis, den Vorrang der ersten Person denen zuzu-
schreiben, die er als »Kartesianer« bezeichnet (vgl. 6r, 15), also jenen, die
auf der Basis des von Descartes´ cogito eingeleiteten philosophischen Um-
sturzes versucht hatten, die Absolutheit dieses Prinzips noch deutlicher
herauszuarbeiten, als Descartes es getan hatte, ohne sich dabei von der
Vorherrschaft der ersten Person singularis zu befreien, vielmehr im Ge-
genteil, sich immer mehr von ihr dominieren ließen. Wie bekannt, wurde
die Wissenschaftslehre von Jacobi als Höhepunkt dieser eigentlich in
Frankreich entstandenen geistesgeschichtlichen Strömung angesehen, die
in Deutschland von Kant, Reinhold und Fichte aufgenommenen und wei-
terentwickelt wurde.
Was kann man nun, nach Jacobis Auffassung, der einengenden
Vorherrschaft der ersten Person entgegensetzen? Wie kann man dem mit
ihr einhergehenden Anspruch begegnen, der darauf hinausläuft, das Sein
des Weltlichen und des Göttlichen auf menschliche Subjektivität zu redu-
zieren, die sich somit nicht nur als Maß, sondern als Herrin der Wahrheit
darstellt?
Jacobi, so Fichte, möchte statt von der ersten von der dritten Per-
son ausgehen. Sie brächte nicht nur die Möglichkeit mit sich, die Vor-
herrschaft der subjektiven Vernunft zu brechen, die im »Ich« der ersten
Person zum Ausdruck kommt, sondern auch die Andersartigkeit des über
Bewußtsein und Verstand hinausgehenden Urwahren zum Vorschein zu
bringen. Das Sein der Wahrheit wäre somit nicht mehr in die Vernunft
eingeschlossen, sondern würde sich auf das Es des Absoluten und Gött-
lichen beziehen. »Es« würde Ursprünglichkeit und Transzendenz gegen-
über der Endlichkeit der menschlichen Vernunft zum Ausdruck bringen,
die somit als solche erkannt und beurteilt werden könnte. Vielleicht gerade
weil er versucht hatte, der Willkür des Bewußtseins das Wahre zu ent-
locken, wird Jacobi von Fichte als »ein respektabler Denker, der sehr bei-
getragen hat zur beßern Richtung« (6r, 14-15), bezeichnet.
Was nach Fichte schon seit seiner Zeit in Jena für Kant gilt, das
gilt nun, wenn auch in eingeschränkter Weise, für Jacobi: Dieser hatte
zwar eine bestimmte Richtung eingeschlagen, es war ihm aber nicht ge-
lungen, sie bis in die letzte Konsequenz hinein zu verfolgen. Die angege-

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36 Einleitende Bemerkungen

bene Richtung erwies sich aber als richtig, weil sie dahin führte, die Re-
duktion des Wahren auf das empirische Ich, das endliche Bewußtsein und
die subjektive Vernunft zu überwinden. Jacobis Gedankengang drückte
die Notwendigkeit aus, über den Schein, oder, wie Fichte sagen würde,
über die Schemen und Bilder hinauszugehen, die nur an der Oberfläche
der Phänomene auftauchen, um die Wahrheit in ihrer ursprünglichen Ab-
solutheit zu erfassen. Trotz alledem konnte jedoch sein Vorschlag, die
dritte Person gegenüber der ersten zu bevorzugen, nicht überzeugen, um
die Wahrheit als Leben zum Ausdruck zu bringen. Denn was bezeichnet
die dritte Person genau? - »Die dritte ist das getödtete [,] des Lebens u. der
innern Thätigkeit beraubte Seyn« (a.a.O., 16-17).
Denn ist es nicht genau das Sein, das, zum Ausgangspunkt philo-
sophischen Denkens gemacht, als der Grundirrtum (a.a.O., 11) schlechthin
angesehen werden muß? »Grundirrtum« deshalb, weil es sich um das han-
delt, von dem alle theoretischen und praktischen Fehler philosophischen
Denkens stammen; die Wurzel und das Fundament aller unserer Verir-
rungen, das, worauf man alle Irrtümer zurückführen kann (vorausgesetzt,
daß Fehler und das Negative überhaupt eine Wurzel und ein Fundament
haben und nicht nur, wie Fichte meint, etwas sind, das völlig Nichtig ist).
Der radikalen Kritik des Seins-begriffs stellt Fichte sogleich die
Kritik des Substantivs zur Seite, der mit der dogmatischen und nicht-trans-
zendentalen Auffassung des Seins verbunden ist, ja als Synonym dersel-
ben verstanden werden kann - zum Schaden der Wahrheit und des Lebens.
Nicht anders als das philosophische Ausgehen vom Sein wird das »vom
Substantivum Ausgehen« von Fichte als »Grundirrtum« verstanden. Da-
mit auch dieser Irrtum als »Grundirrtum« bezeichnet werden kann, muß er
als einzigartig begriffen werden. Es leuchtet somit ein, daß wir es eigent-
lich mit zwei Bestimmungen desselben zu tun haben, die das eigentliche
Leben, so wie es in Wahrheit ist, verfehlen und vernichten, sowohl der
Ausgangspunkt vom Sein in der dritten Person, (als »Es«), wie der vom
Substantiv.
Aber: Wenn vom Sein im Sinne von »Es«, (der dritten Person),
und vom Substantiv auszugehen nach Fichte den Grundirrtum philosophi-
schen Denkens ausmacht, was bedeutet dann diese Ablehnung positiv?
Was soll denn an deren Stelle treten?
Und wenn das »Es« der dritten Person und die Substantivierung
des Seins etwas unlebendiges, totes, ja lebensfeindliches bedeuten, wie
soll man dann verstehen, daß Fichte vom »Sein« auch affirmativ im Sinne
Gaetano Rametta 37

von »Leben« spricht, um damit das Urwahre oder Gott als »esse in mero
actu« zu kennzeichnen?
Es scheint so, als ob das Sein durch ein Herausragen ausgezeich-
net ist, das ihm die Möglichkeit gibt, sich selbst zu übertreffen. Das Sein,
mit dem der philosophische Grundirrtum beginnt, ist nämlich gleichzeitig
mehr als einfach nur Sein. Aber um mehr als einfach nur Sein zu sein,
muß das Sein notwendigerweise auch anders sein als bloßes Sein, und
somit anders als es selbst.
Offensichtlich ist Fichtes Standpunkt in der Seinsfrage nur dann
konsistent, wenn man annimmt, daß die Wissenschaftslehre die Wahrheit
des Seins auf andere Weise versteht als dies eine bloß theoretische Er-
kenntnis vermag. In der Tat, sie sucht eine ursprünglichere Auffassung
dessen, was das Sein ist, ans Licht zu bringen. Die Wahrheit des Seins, so
wie es von der Transzendentalphilosophie interpretiert wird, ist mehr als
Sein, anderes als Sein, geradezu gegenläufig zum alltäglichen Seinsver-
ständnis; und doch untrennbar von diesem.
Es befreit von seiner dogmatischer Erstarrung, indem es eine tie-
fere Erkenntnisschicht aufdeckt, die auf das Sein als Leben führt. Mit die-
ser Erkenntnis deckt die Wissenschaftslehre die wesentliche Grundlage
ihrer Einsicht auf. Das Leben ist die Wahrheit des Seins, und sie verwirk-
licht sich im lebendigen Sein unterschieden vom (objektivierten) Sein sub-
stantivischen und substantiellen Denkens. Von ihm auszugehen ist der
Grundirrtum aller dogmatischen Systeme, aus dem sie sich alle entwickelt
haben, vor und nach der transzendentalen Revolution, vor und nach Kant
und der Wissenschaftslehre und aus dem sie sich auch in Zukunft ent-
wickeln werden.
In eins mit dieser Einsicht des Seins oder, genauer gesagt, im
Namen seiner Wahrheit verzichtet die Wissenschaftslehre auf Erkenntnis-
ansprüche im Bereich (objektiven) Seins. So finden wir im zweiten Vor-
trag von 1807 die Anmerkung, daß das, was wir im Leben erleben, »das
eigentl. Seyn formaliter« (4v, 25-26) sei, aus dessen Verständnis sich
transzendentale Philosophie entfaltet. Und in diesem Sinne wird in dem
darauf folgenden dritten Vortrag, wie bereits erwähnt, die dritte Person,
also das »ist« der Kopula und der objektiven Erkenntnis kritisiert, weil in
dieser das Sein seines Lebens »beraubt« wird, das ihm rechtmäßig zusteht.
Wenn es nun darum geht, zur »grammatischen Bestimmung« (5v,
4) überzugehen, die dem Leben eigen ist, verwendet Fichte zwar wiede-
rum das »ist« der dritten Person des Verbs sein, löst dieses aber von seiner
Bedeutung als Kopula und reißt es von der objektiven Funktion los, wel-
che die Kopula nicht nur in den vom natürlichen Denken formulierten Ur-

jjj
38 Einleitende Bemerkungen

teilen innehat, sondern auch in den philosophischen Grundsätzen des


Dogmatismus. Das »ist« des lebendigen Lebens entspricht, präzisiert Fich-
te, einem »weset«:

Vita, vivere, esse, essentia. – Das Leben ist[,] weset, aktive, u. vir-
tualiter: u. das ist ist eben als Leben zu denken. Ein verbum acti-
vum, nicht neutrum. – Man kann das Leben eben nur leben (5v, 4-
6r, 5-6).

Zu sagen, daß das Leben »ist«, ist nur dann legitim, wenn dieses »ist« als
»weset«, als »wesen« des Seins verstanden, d.h. als das, was sich im Er-
scheinen entfaltet und als immer neu werdendes Hervorbringen der Phäno-
mene erfahren wird. Wesen drückt somit das Sich-zur-Erscheinung-Brin-
gen des Seins als Leben aus.
Das »weset« des Lebens ist und ist gleichzeitig auch nicht: Es
»ist« in dem Sinn, daß es sich im Erscheinen ins Unendliche fort selbst er-
neuert. Es »ist« aber auch »nicht«, wenn in dieser dritten Person, dem
»es« des »es ist«, ausschließlich das stille und tote Sein der nicht transzen-
dental-philosophischen Einstellung wahrgenommen wird. In diesem Fall
wird das »ist« der dritten Person seinem ursprünglichen Sinn entrissen und
somit anfällig für die Übernahme der Kopula-Funktion im prädikativen
Urteil, innerhalb dessen das Leben notwendigerweise als starr und »ge-
tödtet« (6r, 17), d.h. als Substantiv erscheint.
Darauf bauen nun auch die folgenden genaueren Angaben Fich-
tes: Wenn das Leben »ist« im Sinne von weset, dann heißt das, »aktive, u.
virtualiter« in den Formen bewußten Lebens auf immer neue und schöpfe-
rische Weise in Erscheinung zu treten, oder konkreter, sich als freies Han-
deln zu manifestieren.
Keine Tätigkeit ist verständlich ohne das, was sie erst möglich
macht, und das Vermögen der Tätigkeit wird als unerschöpflich, unbe-
grenzt und offen gegenüber der Unendlichkeit potentieller Entfaltungen
verstanden. Das Gegenteil würde bedeuten, daß sich das Leben prinzipiell
erschöpfen und dem eigenen Wesen gegenüber als Streben nach Selbstver-
wirklichung verschließen könnte. Freiheit würde sich nicht nur als unmög-
lich erweisen, sondern auch einem faktischen Zustand unterworfen, der,
einmal erreicht, sich unüberwindbar durchsetzte. Das wäre das Ende jeder
Schöpfungskraft, und in diesem Fall könnte die dogmatische Lehre der
Unfreiheit tatsächlich ihren Triumph feiern und der Determinismus seine
Herrschaft über das gesamte Sein ausbreiten.
Gaetano Rametta 39

Aber umgekehrt gilt, daß es kein Vermögen ohne Tätigkeit gibt,


d.h. ohne die Fähigkeit, sich selbst auszudrücken und zu realisieren. Wie
wir noch sehen werden, findet sich genau hier, in der freien Tätigkeit, die
auf das Leben bezogene Aufgabe des Ich, und zwar in dem Sinne, daß es
sich als »Medium« des Erscheinens des Absoluten erweist.
Nur im Lichte der vorangegangenen Überlegungen ist es möglich,
den Sinn des Satzes in vollem Umfang zu verstehen, mit dem in der Hand-
schrift von 1807 Fichte die der Wissenschaftslehre eigene »Grammatische
Bestimmung« einleuchtend auf den Punkt gebracht wird.

»Keine Person, sondern Infinitiv« (6r, 23).

Auch die Wissenschaftslehre hat ihre grammatikalische Vorliebe, wie der


Dogmatismus die seine. Das erklärt sich daraus, daß Philosophie sowohl
Vollzug als auch Produkt des Denkens ist. Deshalb geht es Fichte darum,
mittels des Begriffs auszusprechen, was über den Begriff hinausgeht.
Während sich der Dogmatismus auf das »ist« der dritten Person Präsens
im Sinne einer objektivierenden Bestimmung bezieht und somit zum Aus-
druck unbeweglicher Faktizität wird, berücksichtigt Fichte die Verbalform
des »Infinitiv« als geeignet, um das absolute »X« im Sinne von »Leben«
zum Ausdruck zu bringen. Im Infinitiv erscheint »X« im Vollzug seiner
Entfaltung, seines Geschehens oder Werdens, nur der Infinitiv bringt das
Geschehen oder Werden einer sich entfaltenden Tätigkeit angemessen
zum Ausdruck.
Einerseits wird, gerade weil das Leben nicht als Substantiv ver-
standen werden darf, die dem Leben entsprechende grammatikalische Be-
stimmung im Verb selbst aufgedeckt werden. Andererseits ist, gerade weil
dem Leben ein ständig schaffendes Vermögen innewohnt, der Modus des
Verbs derjenige, in dem sich seine Funktion als Ausdruck des un-
persönlichen, einzigen und unendlich werdenden Lebens am besten zeigt:
»Man kann das Leben eben nur leben« (loc. cit.).
Nur der Infinitiv ist im Stande, eine der Wissenschaftslehre ge-
mäße »grammatische Bestimmung« auszudrücken. Hier haben wir den
Ausgangspunkt, von dem aus Fichte essentia und substantia unterscheidet
und als gegensätzlich begreift. »Essentia« wird als substantivierter Aus-
druck der Tätigkeit begriffen, mit der das Leben sein eigenes Sein als un-
endliche Bewegung des sich entfaltenden Erscheinens begreift, d.h. als
wesen. »Substantia« hingegen wird als Reduktion des Lebens auf ein Sub-
stantiv verstanden, das das Leben zu einer unbeweglichen Grundlage ver-

jjj
40 Einleitende Bemerkungen

wandelt und es der objektivierenden Vorherrschaft der prädikativen Be-


stimmung unterwirft.
Der unpersönliche Charakter absoluten Lebens bekräftigt die Un-
haltbarkeit der Interpretationen, die in der Wissenschaftslehre eine aufs
Subjektive konzentrierte Philosophie sehen will, die auf dem Primat des
Ich im Sinne eines persönlichen, individuellen Bewußtseins beruht. Gera-
de deshalb sind die Sätze von Bedeutung, die Fichte an die Aussage
knüpft: »Keine Person, sondern Infinitiv« (loc. cit.). Er schreibt:

»Das Ich ist freilich das absolute; aber nicht als Ich, sondern jen-
seit« (6r, 23-24).

Hier finden wir ein Wort, das an schon zuvor verwendete Aussagen Fich-
tes erinnert, nämlich daß das Ich die absolute Einheit »jenseit« »der Dis-
junktion« bezeichnet und deshalb notwendigerweise »nicht als Ich« (4v,
18-20) verstanden werden kann. Denn mit »als« wird ein Unterschied zum
Ausdruck gebracht. »Ich als Ich« ist das Ich, sofern es sich von anderem
(vom Nicht-ich) unterscheidet. Ich absolute hingegen »nicht als Ich« steht
in keinem Gegensatz. Erst jenseits des »Als« ist das Ich das Absolute. Ich
an sich (im Unterschied zum Ich für sich) ist das Ich unmittelbarer Mani-
festation des Lebens und ursprünglicher Einheit, in der und durch welche
sich die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen offenbart. Und so wird es
möglich, einerseits im Ich das Absolute zu finden, gleichzeitig aber eine
Identifikation des Absoluten mit dem Ich zu vermeiden, indem das Abso-
lute im Ich in Erscheinung tritt. Mit dem Unterschied von Ich an sich und
Ich als Ich, bekräftigt Fichte darüber hinaus, daß das Ich, gerade weil es
das Absolute »ist« »niemals« das Absolute »werden kann« (6r, 24-25).
Diese Überlegungen stehen nicht nur im Gegensatz zu Nietzsches:
»Werde, was du bist!«, sie scheinen darüber hinaus paradox, da sie be-
haupten, es sei unmöglich zu werden, was wir sind. Denn wie könnte das
Ich etwas sein, das nicht mit sich identisch ist?
Der Standpunkt der Wissenschaftslehre klärt sich, wenn wir uns
vor Augen führen, daß das ist, das dem Leben zugehört, ein weset bezeich-
net, ein »sich im Werden entfalten« der essentia. Wenn Fichte also be-
hauptet, das Ich »ist« das Absolute, dann bedeutet das, daß im Ich das Ab-
solute »weset«, oder daß das Leben im Ich und als Ich ein »Bild« von sich
bildet, in dem es sich auf stets frische Weise erscheint und immer wieder
neu erscheint: Und genau deshalb finden wir auch im Ich eine prinzipielle
Unendlichkeit des Lebens.
Gaetano Rametta 41

»Eben weil es niemals als Ich das absolute [...] werden kann, ist es
unendlich.« (6r, 24-25).

Das Ich enthält denn auch tatsächlich eine Art von Jenseitigkeit, die sich
aber in der Immanenz der Erscheinung im Erscheinen des Lebens selbst
hervorbringt. So zeigt das über sich Hinausragen des Werdens im Sein die
Unmöglichkeit, das Werden mittels des Seins abzuschließen. Und das Ich
erscheint gerade als der Ort, durch den das Erscheinen des Lebens sich
immer wieder ins Unendliche hinein ereignet.
Das bedeutet nun nicht, daß das Ich in die »schlechte Unendlich-
keit« einer über alle Begrenzung hinausstrebenden Sehnsucht projiziert
wird und erreichen zu wollen, was ihm prinzipiell entfliehen muß. Es han-
delt sich für das Ich nicht darum, ein »beschädigtes« Leben zu leben, stän-
dig unbefriedigt und im Streit mit sich selbst. Im Gegenteil, das Ich ist
schon im Leben, so wie umgekehrt das Leben durch das Ich erscheint und
»weset«. So kann Fichte schreiben:

[...] sein Träger aber, der Halter[,] die Wurzel in dieser Unend-
lichkeit des Abfließens ist sein Seyn jenseit der Ichheit (a.a.O., 25-
26).

Die Art des Seins, die das Leben im Ich erreicht, sehnt sich nicht nach et-
was Unerreichbarem, das über das Leben selbst hinausginge. Vielmehr er-
scheint das sich Hinaus-lehnen und -gehen über das, was tatsächlich ist,
als einzige Möglichkeit, in der das Leben weset und in der das Sein sich
als Leben vollzieht. Genau im Werden hin zur Unendlichkeit ist das Leben
des Ich schon immer verwirklicht, und es ist genau diese unabgeschlos-
sene und unabschließbare Projektion über sich selbst hinaus und in sich
selbst hinein, in der das Ich seine Verwurzelung im Leben bestätigt findet.
Hieraus erklärt sich auch die Schlußfolgerung Fichtes im oben zi-
tierten Abschnitt: Da und insofern das Leben im Ich »ist« (»weset«), sich
jedoch darin niemals erschöpft, (da das Leben ansonsten die Form der Ich-
heit zerstören würde), »ist es unendlich«, das heißt, ist es in die Form und
in den unbeschränkten Prozeß der Verwirklichung der Freiheit eingetreten.
Das »Seyn« (oder Leben) des Ich ist das, was das Ich unterstützt und trägt,
und das, was das Ich, (und somit auch die Wissenschaftslehre), vor dem
Nihilismus eines endlosen Erkenntnisstrebens schützt, das dazu verdammt
wäre, ins Nichts zu führen, weil es auf nichts beruht. Im Gebrauch der von
Fichte verwendeten Begriffe zeigt sich gerade, daß er versucht, das Ver-
wurzelt-sein des Ich in etwas vom Ich Unabhängigen auszudrücken, und

jjj
42 Einleitende Bemerkungen

zwar von etwas, das nicht willkürliches Produkt seiner Vorstellungspro-


jektionen ist, sondern in dem und von dem das Ich sich selbst gehalten und
getragen fühlt.
Es ist wohl kaum nötig zu betonen, daß die Jenseitigkeit in der
Wissenschaftslehre nicht vom Ich abgetrennt – und somit das »X« des Le-
bens nicht als ein hypostasiertes, transzendentes »Summum Ens« be-
griffen werden darf; vielmehr findet sich das Jenseits des Iches im Ich sel-
ber, und bezeichnet das über sich Hinausragen der Erscheinung in ihrem
Erscheinen. Das X des Lebens manifestiert sich also nicht anderwärts,
sondern in der Form des Ich, das aus diesem Grunde die für die Wissen-
schaftslehre charakteristische ontologische Struktur der Phänomenalität
begründet.

2. Darstellungslehre

Bis zu diesem Punkt haben wir versucht, einen Überblick über Fichtes Le-
benslehre in der WL-07 zu geben. Die Lehre vom Leben im Zusammen-
hang mit seiner Erscheinung wurde bisher aber noch nicht genetisch ent-
wickelt. Darauf weist Fichte in der zweiten Stunde hin, wenn er bemerkt,
daß mit der Bestimmung des »X« als Leben die »Reine Wahrheit [...] der
Urquell alles andern gefunden sei, jedoch noch nicht als Urquell« (4v, 29-
30). Das Leben wurde zwar als Wahrheit des Seins entdeckt; doch sein
genetisches Potential als transzendentaler Ursprung der wirklichen Be-
stimmungen seines Erscheinens im Wissen und für das erkennende Be-
wußtseins noch nicht erwiesen.
Im Zusammenhang der genetischen Entwicklung des Fichteschen
Gedankenganges wird das zunächst unbestimmte »X« des Absoluten nun
zu »A«, mit welcher Bezeichnung das Absolute als Leben und Urquell des
Sehen bezeichnet wird, dem alles Gesehene als projiziertes Sein ( = Er-
scheinendes oder Seiendes) oder Schema entstammt:

a – b (vgl. 4v).

Die vertikale Linie entspricht der soeben angesprochenen Auffassung, daß


mit »Leben« zwar der »Urquell« alles Seienden (d.h. alles Erscheinenden)
Gaetano Rametta 43

bestimmt wurde, das Leben aber noch nicht in seiner Eigenschaft als Ur-
quell in seiner transzendentalen Produktivität und genetischen Funktion
thematisiert wurde. In der Absicht, die einzelnen Bestimmungen des Le-
bens in ihrem genetischen Ursprungs zu entfalten und zu rechtfertigen,
wendet sich Fichte nun dem argumentativ beweisenden und nicht mehr
nur phänomenologisch aufweisenden Charakter seiner Lehre zu. Es geht
also darum, den Blick auf die Dynamik dieser gedanklichen Bewegung zu
lenken, oder, noch besser: Es geht darum, transzendentalphilosophisch zu
rekonstruieren und einzusehen, was der natürlichen Denkweise als voraus-
zusetzende Gegebenheit erscheint und auch vom dogmatischen Denken
nicht anders gedacht werden kann, denn als Gegebenheit.
Um welche Bestimmungen handelt es sich bei diesen Überle-
gungen? Offensichtlich um die in einem disjunktiven Verhältnis stehenden
Momente a – b, mit denen Fichte die Differenz von Ich an sich (a) und Ich
als Ich (b), (vgl. unten, S. 14), bezeichnet. Die Transzendentalphilosophie
muß ihre Aufmerksamkeit als erstes auf die Entstehung dieser Disjunktion
richten und fragt sich auch tatsächlich: »woher entsteht nun die Disjunk-
tion«? (a.a.O., 31). Genau dieser Fragestellung folgt Fichte bei der Ent-
wicklung der Gedankengänge in der WL-07.
Die Wissenschaftslehre kann die Problemstellung ihres ersten An-
fangs allerdings nicht in dem Sinne verstehen oder gar lösen, daß sie sie
als ein Problem innerhalb eines geschlossenen Systems behandelt; fast
muß das Gegenteil angenommen werden, denn es geht ja um den ersten
Anfang der Entfaltung des Systems des Wissens oder der Erscheinung.
Das Problem des Anfangs läßt sich also nicht einfach auf eine begriffliche
Beziehung zweier Termini reduzieren. Die Wissenschaftslehre beginnt
vielmehr mit einer Hypothese, einer Annahme, und darüber hinaus mit ei-
ner Hypothese postulativen Charakters, d.h. mit einem Appell an die Frei-
heit des philosophisch Erkennenden, etwas Bestimmtes anzunehmen. In
der Lehre von 1807 wird das in folgenden Worten ausgedrückt:

»Setze das Leben sehe sich selbst [...] es werde dem Leben ein
Auge eingesezt« (a.a.O., 3 u. 5-6).

Die grundlegende Ansatz, welcher den Ausgangspunkt für alle weiteren


gedanklichen Entfaltungen der Wissenschaftslehre bildet, besteht somit in
der Forderung, etwas Bestimmtes anzunehmen, und zwar, daß das Leben
sich selbst »sieht«. Wenn diese postulative Hypothese eine in sich schlüs-
sige transzendentale Herleitung der Grundstrukturen des Wissens als dem
Gegenstand der Wissenschaftslehre ermöglicht und zuläßt, dann zeigt sich,

jjj
44 Einleitende Bemerkungen

daß sie als gerechtfertigt gelten kann, und daß das Ergebnis der vollende-
ten Ableitung rückwirkend den Punkt bestätigt, von dem man ausgegan-
gen ist. Allerdings muß sich nun die Frage stellen: Warum wurde genau
dieser Ausgangspunkt für die Entwicklung der Wissenschaftslehre ge-
wählt, kein anderer?
Gleich zu Beginn befreit Fichte das transzendentale Studienfeld
von den Fragen nach Gründen. Und tatsächlich gibt er an, daß die Wissen-
schaftslehre »in Absicht der kategorischen Gewißheit ihrer Voraussetzung
an das Leben selber verweise« (a.a.O., 4-5). Dennoch erscheint es ange-
messen, noch einmal nachzufragen: Warum ist ein solcher Verweis »auf
das Leben selber« notwendig, wenn es darum geht, den Beginn des trans-
zendentalen Gedankengangs einzuleiten?
Um dieses »Warum«, das den (hypothetischen) Anfang der Wis-
senschaftslehre betrifft, angemessen verstehen zu können, muß man sich
darüber klar werden, daß weder das Ich noch das (erscheinende) Sein, (al-
so weder das »a« noch das »b« des obigen Schemas: a - b) ursprüngliche
methodische Ausgangspunkte für die Wissenschaftslehre sind, sondern
die unmittelbarsten »Bedingungen der Erscheinung des Lebens« (5r, 27).
Und als solche sind sie beide, - das Ich (a) wie das erscheinende Sein (b)
– sowohl Resultate der projizierenden Kraft des Lebens wie auch Be-
dingungen seiner »Sichtbarkeit« (a.a.O. 25). Denn ohne Sichtbarkeit des
Lebens gibt es kein Sehen; und ohne Sehen keine Erscheinung des Lebens.
Wenn das Leben keine Augen hätte, als Bedingung des Sehens, könnte es
auch nicht gesehen werden oder erscheinen.
Genau dieser Zusammenhang wird von Fichte bestätigt, wenn er
behauptet, daß das Sehen nicht nur Bedingung der Erscheinung des Le-
bens ist, sondern auch mit der Erscheinung selbst übereinstimmt und so-
mit die Art und Weise begründet, in der das Leben erscheint:

»Das Leben kann gar nicht anders erscheinen, und sich äußern,
denn als ein Sehen […] wenn das Leben erscheint, so muß es er-
scheinen als Sehen, u. kann gar nicht anders erscheinen« (11v, 29-
30 u. 34-35).

An diesem Punkt können wir feststellen, daß es uns gelungen ist, auf die
erste Frage zu antworten, warum der (hypothetische) Beginn der Wissen-
schaftslehre in der Forderung besteht, »dem Leben ein Auge einzusetzen«.
Denn ohne Auge könnte sich das Leben nicht erscheinen; während die Ne-
gation der Hypothese nicht nur, was augenfällig da ist, unmöglich machen
würde, sondern auch jede philosophischer Erkenntnis. Die an den Beginn
Gaetano Rametta 45

der Wissenschaftslehre gesetzte Hypothese und Forderung, »setze, das


Leben sehe sich selbst!«, erweist sich also als gerechtfertigt und bestätigt,
weil sonst eine Erklärung dessen, was es zu erklären gilt, (nämlich das
Wissen als Erscheinung des Absoluten und seine transzendentalphiloso-
phische Erkenntnis), gar nicht erst in Gang käme.

Tatsächlich haben wir, indem wir die Antwort auf die erste Frage formu-
lierten, gleichzeitig auch schon die Lösung der zweiten Frage zumindest
angeschnitten, warum die Wissenschaftslehre hinsichtlich der »kategori-
schen Gewißheit« ihrer Voraussetzung auf das Leben verweist. Denn die
sich auf das Sehen beziehende Problematik gründet in einer noch viel ur-
sprünglichere Frage, ob denn das Leben überhaupt erscheint.
Was bisher erklärt wurde, war, daß wenn das Leben erscheint, es
nicht anders kann als sehen: Aber erscheint das Leben denn wirklich? Und
wenn ja, wie verhält sich die Wissenschaftslehre zu dieser Tatsache? Und
darüber hinaus: Falls man auf diese Frage eine Antwort geben könnte,
hieße das etwa, die Erscheinung des Lebens sei erkenntnismäßig ableit-
bar, herleitbar, konstruierbar, ausgehend von etwas, das als Fundament,
als »Grundlage« für die Beantwortung der Frage dienen könnte? Verweist
also die Erscheinung auf etwas noch Ursprünglicheres als sie selbst? Oder
besser, (denn schließlich ist das Ursprüngliche in der Erscheinung das Le-
ben, weil nur es die Fähigkeit hat, zu erscheinen): Ist die Beziehung zwi-
schen dem Erscheinen und seinem Ursprung im Leben faßbar in Termini,
die eine Ableitung (im Sinne einer Forschung nach Ursachen) oder eine
Erklärung (im Sinne einer Suche von Gründen) ermöglichen?
Von den Antworten auf diese Vielzahl von Fragen hängt der Cha-
rakter des zu konstruierenden Systems ab: insbesondere, ob es auf Freiheit
und Autonomie oder auf Abhängigkeit und Zwang beruht, oder, ob es
sich als transzendental-genetisch oder als dogmatisch setzend darstellt.
In Fichtes Antwort auf die Fragen nach dem Erscheinen des Le-
bens finden wir gleichzeitig auch die nach dem Sinn des Rückverweises
auf »das Leben selbst«, den wir in der Wissenschaftslehre als »kategori-
sche Gewißheit« ihrer Voraussetzung wiederfinden. Auf sie bezieht sich
Fichte, wenn er schreibt:

»Ob es [scil. das »Eins« des Lebens, G.R.] erscheine; siehe hin:
kann nur unmittelbar erfaßt werden. Mittelbar es erfassen wollen,
heißt eben: es nicht erfaßen wollen, das Leben – sondern den Tod
wollen, u. aus ihm etwa, so Gott will, ein Leben heraus erkünsteln«
(11v, 6-12r, 7-9).

jjj
46 Einleitende Bemerkungen

Vor allem muß dabei bedacht werden, daß der zu untersuchende Abschnitt
eine Kritik Fichtes am »Begriff« impliziert, das heißt, eine Kritik an dem
Anspruch, theoretisch ableiten zu können, was Prinzip jeder Deduktion ist,
und deshalb, unableitbar, immer schon in ihr impliziert ist. Anders gesagt:
Hier geht es darum, wie Fichte die Beziehung von Begriff und Leben deu-
tet. Die Tatsache, daß das Leben erscheint, kann man weder auf begriff-
lichem Wege begründen, noch auf theoretischer Basis erklären; und um-
gekehrt, gerade weil das Faktum, daß das Leben erscheint, jeder mög-
lichen Deduktion entflieht, ist es nicht reduzierbar auf eine theoretische
Setzung oder »logische Folge«, auf welche es eine jede Theorie zurückzu-
führen scheint.
Das von Fichte erörterte »Sehen« und die mit ihm verbundene
Problematik taucht übrigens auch noch in einem anderen Zusammenhang
auf und auch hier im imperativen Modus des: »Siehe hin!«2. Dabei geht es
allerdings nicht um das »Daß«, also um das Faktum des Erscheinens, son-
dern um das »Wie« oder darum, auf welche Weise sich das Sehens und
seine Erscheinung manifestiert. In beiden Fällen, sowohl im Hinblick auf
das »Daß« als auch im Hinblick auf das »Wie« des Erscheinens des Le-
bens in seinem wirklichen und konkreten Gehalt, geht es dabei um das-
selbe Thema, um die Unmöglichkeit, weder das »Daß«, noch das »Wie«
des Erscheinens auf logische Weise bestimmen zu können.
In beiden Fällen geht es Fichte also um die selbe Idee, daß das Er-
scheinen des Lebens und somit das Leben als Ursprung aller Erscheinung
nicht auf der Ebene theoretischer Reflexion und Erkenntnis erfaßt und
durchdrungen werden kann, sondern, daß der Zugang zum ursprünglichen
Leben im Leben selbst liegt, und das heißt konkreter, im spontanen Le-
bensvollzug als freien, allein aus sich bestimmten Handeln. In der Wissen-
schaftslehre geht es also weder um »Lebensphilosophie« noch um »Exis-
tenzphilosophie«; sondern um eine Ontologie »ethischer« Erfahrung in
einem Sinne, der im Folgenden noch genauer dargestellt werden soll.

Im dreizehnten Vortrag von Königsberg formuliert Fichte diesen Stand-


punkt mit äußerster Klarheit. Bezogen auf die Realität des Lebens heißt es
dort: »Das Reale kann nur gelebt [...] werden« (19v, 5-6); und, als wolle
er einigen zu erwartenden Mißverständnissen vorbeugen, bemüht er sich,
die dem Leben zugesprochene Bedeutung noch genauer auszuformulieren:

2 Vgl. WL-07, 3r 19-21: «Das was erscheint ist das Ewige [...] Wie erscheint es: da
siehe du hin, gieb dich dem Strome des Lebens«.
Gaetano Rametta 47

»ich sage gelebt, [-] nicht etwa nur erlebt im Erfahren – d.i. ge-
than, u. gehandelt« (a.a.O.).

Die »kategorische Gewißheit«, die die Voraussetzung der Wissenschafts-


lehre mit ihrer Forderung, »Setze das Leben sehe sich selbst [...] es werde
dem Leben ein Auge eingesezt« (a.a.O., 3 u. 5-6), auszeichnet, ist die-
selbe, die sich am Schluß der Lehre ergibt: Beginn und Ende tauchen aus
demselben Horizont auf und öffnen sich auch zu diesem hin, einem Hori-
zont, der vom Handeln in seiner ethischen wie ontologischen Dimension
begründet wird. Und dieses Handeln wiederum erscheint im (absoluten)
Sein verwurzelt, impliziert somit auch den bildenden und gestaltenden
Charakter der Freiheit. Denn Freiheit bestimmt das Vermögen zu Handeln
als unerschöpfliche Entfaltung des Wesens im Bereich der Phänomene, als
qualitative Steigerung der Erscheinung in der Immanenz ihres Sich-Er-
scheinens. Die ontologische Dimension des ethischen Elementes repräsen-
tiert deshalb gleichermaßen den Anfang, das Ende und auch dasjenige,
ohne welches keine der Ableitungen der Wissenschaftslehre möglich wä-
ren. Sie ist in diesen Ableitungen impliziert, ohne sich jemals in dem je-
weils Abgeleiteten zu erschöpfen.
Einerseits wird es somit möglich, ganz konkret und in seiner gan-
zen Dringlichkeit zu verstehen, in welchem Sinne Fichte der Vorausset-
zung der Wissenschaftslehre eine »kategorische Gewißheit« zuschreibt.
Andrerseits können wir nun endlich auch zwischen dieser Voraussetzung,
(dem Faktum, daß das Leben erscheint), und dem anfänglichen Postulat
der Wissenschaftslehre, (»dem Leben ein Auge einzusetzen!«) unterschei-
den. Denn dieses Faktum, das auf theoretischem Wege weder ab- noch
hergeleitet werden kann, erweist sich als unabdingbare Voraussetzung je-
der theoretischen Tätigkeit.
Ohne diese hypothetische Setzung und Forderung hingegen,
(»dem Leben ein Auge einzusetzen!«), von der die Wissenschaftslehre ih-
ren Ausgang nimmt, würden wir dem ersten und unleugbaren Faktum,
(dem Faktum, daß das Leben erscheint), widersprechen, weil auf diese
Weise die Bedingungen der Möglichkeit dessen, was tatsächlich erscheint,
negiert würden, (d.h. das Leben im selbstbewußten Handeln als sich ent-
faltendes Wesen).

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48 Einleitende Bemerkungen

3. Weisheitslehre

Nachdem wir festgestellt haben, daß das Leben erscheint, stellt sich nun
konkreter die Frage nach der Art seines Erscheinens; nach dem »Wie«.
Zunächst müssen wir negativ feststellen: Wenn das »Wie« des Erschei-
nens des Lebens theoretisch ableitbar oder im voraus planbar wäre, gliche
unsere Existenz einer Fiktion. Die Bedeutung des »Ex« im Wort »Ex-
istenz« als Ausdruck ursprünglichen Entspringens würde dadurch nicht
nur gemindert, sondern sogar prinzipiell vernichtet. Das Leben würde als
fertig vor-gestellt erscheinen und somit als etwas schon Geschehenes.
Fichte scheint in der Frage: »Wie erscheint es?« (3r, 20) der
Trägheit nachzuspüren, der sich das philosophische Bewußtsein für allzu
lange Zeit hingegeben hatte. Tatsächlich suchte es oft eine vorgefertigte
Antwort, wo dies eigentlich gar nicht möglich war. Darauf gründet die
Antwort Fichtes, die eigentlich keine ist, wenn er sagt:

da siehe du hin [...] A übersinnl. x. sinnliche Welt. Keine von bei-


den zu verlieren, sondern ewig in der bindenden Einheit[,] in dem
Bande beider sich erhalten.
Dies ist die Weißheit [...] (a.a.O., 20-24).

A, hier nun in der Bedeutung übersinnlicher Welt und x, d.h. die sinnliche
Welt, jede für sich, sind nicht die Wahrheit, vielmehr können sie nur dann
als deren Ausdruck gelten, wenn sich die Wahrheit in beiden zugleich
wieder findet. Der Begriff der Erscheinung, der sich auf diese Weise er-
gibt, bezieht das »x« der sinnlichen Welt auf sein genetisches Entspringen
aus »A«, der übersinnlichen. Und weil diese »bindende Einheit« beider
die Art und Weise bezeichnet, in welcher das Leben im Medium bewußten
und freien Handelns in Erscheinung tritt, läßt sich das Wie ihrer Bezie-
hung nicht im voraus bestimmen, und damit auch nicht, was dasjenige sein
wird, das im raum-zeitlichen Werden in Erscheinung tritt.
Der Verweis auf freie Selbstbesinnung, die sich aus der Interpre-
tation des Verhältnisses von A und x ergibt, zeigt zugleich auch die Gren-
ze der Darstellung auf, die von der Philosophie nicht überschritten werden
kann. Denn es handelt sich um die Thematisierung einer lebenspraktischen
Einsicht, die es ermöglicht, sich »im Bande beider« zu halten, in der eige-
nen Existenz und gleichzeitig in deren »Urquell«, der übersinnlichen Welt.
Dieser Einsicht, die das Leben des Ich in seinem ganzen Umfang um-
schließt und verklärt, gibt Fichte den Namen Weisheit. In ihr findet das
Gaetano Rametta 49

Problem der Vereinigung von Philosophie und Leben seine weitestrei-


chende Formulierung, gleichzeitig aber auch seine entscheidende Lösung.
Grundsätzlich ist das Thema der Weisheit von einer (scheinbaren)
Aporie geprägt. Das Verständnis der Wissenschaftslehre impliziert die
Einsicht in die Beziehung der übersinnlichen zur sinnlichen Welt (A – x),
beziehungsweise die »bindende Einheit« beider. Ein durch die Wissen-
schaftslehre vermitteltes Verständnis dieser Beziehung bedeutet aber noch
nicht, daß sich für uns (»uns« verstanden im Sinne einer sozusagen nach-
geborenen Hörerschaft der Wissenschaftslehre) hinsichtlich unseres kon-
kreten »Lebens und Erlebens« irgend etwas ändert. Die Wissenschafts-
lehre könnte einfach nur als eine von vielen philosophischen Theorien be-
griffen werden. Den »Buchstaben« ihrer Aussagen könnte es an jenem
»Geist« fehlen, der allein in der Lage wäre, das Verstandene in seiner le-
bendigen Bedeutung anzunehmen. Doch die »bindende Einheit« nur dem
Buchstaben nach zu verstehen, würde bedeuten, sie ganz und gar nicht er-
faßt zu haben, und somit wieder die Trennung von Philosophie und Leben,
von Phänomen und Absolutem zu beteuern.
Jedenfalls ist es nicht möglich, die »bindende Einheit« auf rein
theoretische Weise zu begreifen, weil das hieße, diese Einheit gerade zu
verfehlen, ja, sie fast schon auf radikale Art zu leugnen. Sie so zu begrei-
fen, würde bedeuten, den Unterschied zwischen »übersinnlicher« Einheit
und »sinnlicher« Mannigfaltigkeit zu hypostasieren und die Wissen-
schaftslehre auf eine abstrakte »Theorie« neben andere zu reduzieren. Das
»Band« beider, der übersinnlichen und der sinnlichen Welt, auf solche
Weise zu betrachten, würde bedeuten, sich in einen fehlerhaften Zirkel zu
begeben, den das Bewußtsein weder beherrscht noch beherrschen kann.
»A« und »x« blieben als voneinander unabhängige Substrate auf eine
Weise entgegengesetzt, die es niemals erlaubte, zwischen beiden schwe-
bend die Einheit beider zu verwirklichen. Es bliebe bei einem bloß theo-
retischen Verhältnis zwischen Grund und Folge, oder Ursache und Wir-
kung, so daß das Ich das Eine verlieren müßte, um das Andere zu gewin-
nen, und umgekehrt. Im Gegensatz zu einem bloß theoretischen Verhältnis
betrifft die bindende Einheit jedoch gleichzeitig Theorie und Praxis unse-
res konkreten Daseins, sodaß es gilt, beide in ihrer vermeintlichen Abso-
lutheit und Getrenntheit zu überwinden.
Wenn dem so ist, dann bedeutet das aber auch, daß sich der An-
spruch der Philosophie auf Objektivität, im Sinne eines sich Loslösens
vom Leben, als widersinnig erweist, ebenso wie der Anspruch, ein Leben
ohne die Weisheit philosophischer Einsicht und geschieden von der über-

jjj
50 Einleitende Bemerkungen

sinnlichen Welt, leben zu können; denn das liefe auf nichts weniger hin-
aus, als auf eine Verleugnung des Ursprungs phänomenalen Daseins.
Umgekehrt wird in der Weisheit der Einsicht das »lebendige
Band« zwischen A und x, der übersinnlichen und der sinnlichen Welt,
nicht einfach nur »gedacht« und auch nicht blindlings nur »erlebt«, denn
das würde bedeuten, es nicht zu leben, sondern zu vermissen und zu ver-
nichten, da beides zusammengehört »in einem Schlag«. Hier, in dieser
Einsicht, erreicht die Problematik der Beziehung von Philosophie und Le-
ben, Theorie und Praxis ihre maximale Verdichtung; aber eben deshalb
löst sich an diesem Punkt auch das durch den Gegensatz von Theorie und
Praxis dominierte Problem, und zwar in der Einsicht der ursprünglichen
Bindung von »A - x«, Fichtes Formel für die grundlegende Einheit von
Übersinnlichem und Sinnlichem, Praxis und Theorie, Leben und Philoso-
phie.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erkennen, daß die
WL-07 ihre philosophische Darstellung als eine systematisch folgende
Selbst-Entwertung der theoretischen »Bilder« und »Schemen« versteht,
mit deren Hilfe sie die Erscheinung des Lebens zu verstehen sucht, durch
welche sie aber auch gleichzeitig das Leben in seiner Ursprünglichkeit
verdeckt.

Hier x. durchdrungen, u. sichtbar gemacht – u. drum, als bloße Er-


scheinung von dem reinen A. abzuziehen. Festgehalten dies: das ist
die W.L. (1v, 23-25); Ein x. Dieses nun zu durchdringen, um es
abzuziehen, war die Aufgabe (2v, 17); Wir bleiben faktisch immer
im Schematismus, denn Wir ist eben der Schematismus selbst:
Diesen Schematismus können wir nun als Schematismus einsehen
[...] u. so ihn abziehen (11r, 1-4).

Die Aufgabe der Philosophie, das Dasein philosophisch zu durchdringen


und die Bedingungen des Erscheinens der übersinnlichen Welt, gedanklich
zu durchdringen und sichtbar zu machen, beruht sowohl auf einem Prozeß
transzendentaler Subtraktionen vom Leben getrennter theoretischer Be-
griffe als auch existentieller Einsicht und Durchdringung unbewußter Pro-
jektionen, in denen das alltägliche Bewußtsein das immer neu werdende
Leben fixiert und »ertötet«. Auf beiden Wegen gewinnen wir die Weisheit
als Vollendung der Philosophie, die im selben Moment, in welchem sie
sich als rein theoretische Darstellung dem Leben entzieht, sich als verklär-
tes »Auge« und praktische Besonnenheit wieder mit ihm vereinigt.
Gaetano Rametta 51

Allein auf diese Weise wird die Tatsache, daß das Absolute er-
scheint, in seiner Genesis »durchdrungen«, nicht aber als positives Resul-
tat eines Beweises aus vorausgesetzten Axiomen abgeleitet. Und gerade,
weil sich die Philosophie auf ihrer Spitze dem absoluten Leben entzieht,
kann sie sich wieder mit ihm vereinigen. Und die Einsicht in die ursprüng-
liche Verbindung von übersinnlichem und sinnlichen Sein (A – x) bedeu-
tet gleichzeitig auch eine Besinnung des Bewußtseins auf sich selbst, die
im Stande ist, das philosophierende Subjekt von Grund auf existentiell zu
verwandeln; und in diesem Sinne bezeichnet Fichte die Weisheit als Aus-
druck der Selbstbesinnung als das höchste Ziel und Ende der Wissen-
schaftslehre:

die W.L. [...] sieht [...] die Realität nicht in irgend einer Philoso-
phie, noch in ihr selber, sondern im Leben, u. so ist ihre Tochter,
um deren willen allein sie da ist, die Weißheit (11v, 20-23).

Durch das theoretische Eindringen in die transzendentalen Möglichkeits-


bedingungen erscheinenden Daseins entdeckt das philosophische Bewußt-
sein, daß es keine bestimmenden Gründe gibt weder für das »Wie« noch
für das »Daß« des Erscheinens des Lebens. Aber eben dadurch erreicht es
die Möglichkeit, sich als ursprünglich frei zu begreifen, offen in Bezug auf
die Vielfalt der eigenen, theoretisch-praktischen Daseins-Möglichkeiten
und ihrer Verwirklichungen. Die Weisheit drückt also ein »sich dem
Strom des Lebens Hingeben« aus, das nichts mit dem fatalistischen carpe
diem stoisch-epikureischen Ursprungs zu tun hat, und noch weniger mit
dem irrationalen Aufruf »gefährlich zu leben«. Im Gegenteil, hier geht es
darum, die Erfahrung des Lebens mit der Verantwortung ethischen Han-
delns zu verbinden.
Der Verweis auf das Leben ist damit eins mit dem Selbstbewußt-
sein der Freiheit dar. Mit Freiheit meint Fichte aber nicht nur die Abwen-
dung von der Beliebigkeit der Willkür, sondern ebenso auch vom kannti-
schen Normativismus; denn freiheitsbestimmtes Handeln bedeutet für ihn
mehr als die bloße Unterordnung der Triebe unter den Grundsatz des kate-
gorischen Imperativs.
Das Bewußtsein der Freiheit, des Frei-Seins des eigenen Handelns
erlangt in der Wissenschaftslehre eine Bedeutung, die sich nicht auf Über-
einstimmung mit dem moralischen Vernunftgesetz reduzieren läßt. Sicher-
lich, freies und moralisches Handeln stimmen überein. Wir können sogar
sagen, daß es sich dabei um nahezu tautologische Bestimmungen handelt,
da Handeln nur da vorliegt, wo es auch Freiheit gibt, und Freiheit nur da,

jjj
52 Einleitende Bemerkungen

wo auch Moral besteht. Aber die Begriffe von Handlung, Gesetz und Mo-
ralität erlangen einen neuen Sinn in Fichtes Denken. Freies Handeln ist
Handeln im Bewußtsein der Verbindung von A und x., der übersinnlichen
und der sinnlichen Welt, wobei es sich innerhalb der Immanenz dieser Im-
plikation bewegt, ohne sich anzumaßen, »A« oder »x« in theoretischer
Abstraktion erkenntnismäßig erschöpfen zu können. Handeln wird auf die-
se Weise nicht mehr durch bloße Ehrfurcht vor dem Gesetz in seiner ab-
strakten Formalität beherrscht, das Gegenteil ist der Fall: Das ethische
Handlung enthält und entwickelt all den Reichtum des Gehalts, der dem
Erscheinen der übersinnlichen Welt eigen ist. So verweist es nicht nur auf
die schöpferische Dimension der Erscheinung in ihrem Erscheinen, son-
dern auch auf die dem Bewußtsein innewohnende Tiefgründigkeit.
Gerade aber weil das lebendige Bewußtsein nicht mit einer theo-
retischen Konstruktion der Verbindung »A - x« identifiziert werden kann,
es sich vielmehr als das Medium begreift, in dem sich die Verbindung
zwischen übersinnlicher und sinnlicher Welt entfaltet und vollzieht, kann
das freie Handeln nicht ohne Spontaneität sein. Und eine solche Sponta-
neität kann weder auf Maximen, konform zum Imperativ, noch auf Zwang
gegenüber der Sinnlichkeit reduziert werden. Vielmehr muß eine solche
Spontaneität das ganze Dasein bewußter Existenz einbeziehen. In anderen
Worten: Ursprüngliches Handelns besteht in einem Bewußtsein, das die
»bindende Einheit« der »übersinnlichen und sinnlichen Welt« in der Tota-
lität ihrer Aspekte verwirklicht, und somit auch sich selbst im Ganzen sei-
nes Seins als handelnd ausdrückt.3

3 Fichtes Freiheitslehre muß innerhalb des Rahmens seiner Theorie der Fünffachheit
verstanden werden. In der WL-07 findet man folgendes Schema: »x = A + F + U + 5« (16.
Stunde, 24 v 10). Fichte meint damit, daß die Erscheinung des Lebens (= x) als Durchdrungenheit
der fünf verschiedenen Ebenen phänomenalen Daseins durch das absolut unteilbare Eins »reinen«
Lebens (= A) verstanden werden muß, durch welche die Freiheit (= F) des Bewußtseins ins
Unendliche fort (= U) das absolute Leben zur Erscheinung bringt. Diese Ebenen werden von
Fichte als Natur, Legalität, höhere Moralität, Religion und Philosophie im Sinne der
Wissenschaftslehre bezeichnet. Von entscheidender Bedeutung ist hier die Differenz zwischen
den Stufen von »Legalität« (2. Stufe) und »höherer Moralität« (3. Stufe), welche letztere Fichtes
Lehre des kreativen Handelns umfaßt. Auf dem Standpunkt der Wissenschaftslehre (5. Stufe) läßt
sich die 3. Stufe der »höheren Moralität« mit der religiösen Einsicht (4. Stufe) verbinden, nach
welcher der Ursprung der Schöpfungskraft des Ich »jenseits« des Ich liegt, d.h. im Übersinnli-
chen. Aus dem jeweils vorherrschenden Gesichtspunkt erscheinen alle übrigen von ihm mitbe-
stimmt, sodaß auch die Natur (1. Stufe) durch transzendentale Einsicht in die höchste Stufe des
Übersinnlichen integriert werden kann (vgl. H. Girndt, Die fünffache Sicht der Natur im Denken
Fichtes, »Fichte-Studien«, Bd. 1 (1990), S. 108-120; und bezüglich der WL-07 vom Verf.,
Quintruplicità e individualità. La costruzione dell’io in WL 1807, »DAIMON. Revista de
Filosofía«, Bd. 9 (1994), S. 114-134).
Gaetano Rametta 53

Handeln läßt sich nicht auf Hervorbringen (poiesis) reduzieren,


wenn man darunter das willkürliche Erstellen künstlicher Erzeugnissen
versteht. In diesem Sinne ist technisches Hervorbringen (poiesis) kein
Handeln (praxis), da hier »x« in keinem Bezug zu »A« steht, und somit
beliebig vom Subjekt gehandhabt werden kann. In diesem Fall würde auch
»A« als Teil von »x« begriffen, und der lebendige Geist würde sich, seine
Einbezogensein in das ursprünglichen Leben ganz und gar vergessend,
seinerseits zum Objekt der »Wissenschaft« machen, wie das Auftauchen
der so genannten »Geisteswissenschaften« bezeugt, (deren Entstehen auf
diese Weise transzendentalphilosophisch erklärt werden kann). Der allsei-
tigen Technisierung von Subjekt und Objekt entspricht tatsächlich nur ein
Minimum, jedenfalls kein Maximum, an ursprünglichem Handeln. Es ist
sogar so, daß, wenn wir den Aussagen der Wissenschaftslehre vertrauen,
die Möglichkeit eines schöpferischen und mit der übersinnlichen Welt in
Einklang stehenden Handelns prinzipiell von einer überwiegend tech-
nisch-wissenschaftlichen Einstellung ausgerottet werden könnte, die sich
von der Bindung der sinnlichen zur übersinnlichen Welt freispricht und
die Wirklichkeit als Erscheinung des Lebens zerstört.
Umgekehrt ist Handeln im eigentlichen Sinne nur möglich, wenn
es sich innerhalb der Beziehung »A - x«, des Übersinnlichen und Sinn-
lichen, bewährt und sich in der Schwebe zwischen beiden hält. Bedeutet
Weisheit denn nicht die »Kunst« (3r, 25), »sich in dem Bande beider zu
erhalten«?

4. Ich-Lehre

Gehen wir also davon aus, daß das Leben erscheint, und daß es, um zu er-
scheinen, sehen muß, dann geht es nun darum, die Aufmerksamkeit auf
die innere Struktur des Sehens selbst zu lenken.
Wie wir bereits beobachtet hatten, gibt es kein Sehen ohne Spal-
tung von Sehendem und Gesehenem, ohne Trennung des Ich (a), das sieht,
und des Objekts, das gesehen wird (b/Sein). Um zu sehen, ist es also nicht
nur notwendig, daß das Sehen, (auch wenn es in Einheit mit dem Leben
verbleibt), in einen Unterschied zum Leben tritt; sondern auch, daß das
Sehen, (obwohl als ein einziges Sehen bestehen bleibend), sich in ein Sub-
jekt, (mit dem Vermögen zu sehen), und ein Objekt (als vom Vermögen
zu sehen Gesehenes) spaltet, das im Vollzug dieses Vermögens gesehen
wird.

jjj
54 Einleitende Bemerkungen

Käme es nicht zu einer solchen Unterscheidung und Beziehung,


würden Leben und Sehen im Zustand ihrer ursprünglichen Vermischung
verbleiben. Das bedeutete, daß nicht nur nichts Bestimmtes und Unter-
scheidbares erlangt würde, das gesehen werden könnte; sondern auch, daß
eine Selbstbesinnung des Subjektes auf sich selbst unmöglich wäre.
Wenn man nun aber davon ausgeht, daß das Ich (a) und das Sein
(b) zwei im Sehen miteinander verbundene Pole sind, dann geht es nun da-
rum, ihren Status vom Standpunkt der Wissenschaftslehre aus zu bestim-
men. Folgende Fragen tauchen dabei auf: Stellen Ich und Sein einfache
faktische Gegebenheiten dar, ursprüngliche Voraussetzungen, die trans-
zendental nicht ableitbar sind? Oder sind sie im Gegenteil genetisch ab-
leitbar?
Fichtes Antwort kennen wir bereits. Ohne Ich und Sein gibt es
kein Sehen, und ohne Sehen kein Erscheinen. Für die Wissenschaftslehre
bedeutet das, daß Ich und Sein (a. und b.) der Ordnung der transzendenta-
len Ableitung nach genau von dem abstammen, dessen faktische Mög-
lichkeitsbedingungen sie sind, das heißt vom Erscheinen des Lebens. Sie
besitzen keine Selbstständigkeit in Bezug auf das Erscheinen des Lebens,
sondern sind einfach wirkliche Bedingungen seiner Möglichkeit.
Im Unterschied zu dogmatischen Systemen bleibt die Wissen-
schaftslehre nicht bei der Faktizität jener Disjunktion stehen, sondern ver-
folgt die transzendentale Genesis der Spaltung auf das Eins des Lebens
zurück. Auf diese Weise verlieren die beiden Pole der Disjunktion den
Charakter eigenständiger Gegebenheiten, die sie ein für alle mal auf der
Ebene des empirischen Seins bestätigen sollten, und werden zu ihrem ur-
sprünglichen Entspringen aus dem Erscheinen des Lebens zurückgeführt,
also genetisch als »blossen Bedingungen, u. Erzeugnisse der Sichtbar-
keit« Gottes zurückverfolgt (5r, 24-25).
Ohne Sehen gibt es kein Erscheinen (des Lebens), keine Sichtbar-
keit des Lebens im Phänomen und durch das Phänomen; das heißt, keine
Möglichkeit der Ein-bildung des A. (der übersinnlichen) in x. (die sinn-
liche Welt), und demnach keine Erscheinung tout court. Andererseits, oh-
ne die Disjunktion Ich – Sein (a – b) gibt es kein Sehen. Die Disjunktion
(a – b) erscheint somit als Produkt der Sichtbarkeit in dem Sinn, daß letz-
tere die (transzendentale) Bewegung bezeichnet, mit der A., sich in die
Disjunktion von Ich und Sein entfaltend, in die Erscheinung begibt. Ich
und Sein, (a – b), beide Produkte des Erscheinens von Leben, tauchen als
faktische Bedingungen dieses Erscheinens auf, deren transzendentale Ge-
nesis die Wissenschaftslehre darlegt. Wir stellen somit fest, daß die Sicht-
Gaetano Rametta 55

barkeit, (im Sinne des sich zum Erscheinen Bringen des Lebens), die fakti-
schen Bedingungen auf transzendentale Weise herstellt (das x. als Dis-
junktion (a – b)), innerhalb derer sie sich schlußendlich selbst realisiert. Es
ist deshalb wichtig, den jeweils verschiedenen theoretischen Status zu be-
tonen, der dem Begriff »Bedingung« zukommt, wenn dieser entweder a.
und b. (Ich und Sein) als faktischen Bedingungen zugesprochen wird oder
demjenigen, das sie genetisch »hervorbringt« (Sichtbarkeit also als Ge-
samtheit der Implikation (A. - x.) und oberste Bedingung der Möglichkeit
des faktischen Sehens).
Um zusammenzufassen: Die Disjunktion (a – b) von Ich und Sein
ergibt sich notwendigerweise, angenommen, daß das Leben erscheint, in-
sofern das Leben, in Einheit mit seinem Erscheinen, die Bedingungen her-
stellt, die sein Erscheinen tatsächlich möglich machen, oder, negativ aus-
gedrückt: Ohne welche das Erscheinen tatsächlich nicht möglich und so-
mit nicht tout court wäre.
Wir haben nun aufgezeigt, daß die transzendentale Antwort auf
die Frage, ob das Leben denn erscheinen könne, ohne zu sehen, unbedingt
negativ ausfallen muß (ohne Sehen kein Erscheinen). Jetzt geht es darum
herauszufinden, unter welchen Bedingungen das Sehen steht.
Angenommen also, das Leben sähe sich selbst, welches sind dann
die Bedingungen seines sich selbst Sehens? Da sich das Leben nur selbst
sehen kann, wenn es das Sehen aufspaltet in (a – b), Ich und Sein, ist diese
Disjunktion die faktische Bedingung des Erscheinens des Lebens: Ohne
Disjunktion kein Sehen; ohne Sehen kein Erscheinen. Die Disjunktion von
Ich und Sein wird auf diese Weise in ihrer transzendentalen Notwen-
digkeit genetisch abgeleitet und gleichzeitig von ihrem Charakter als bloße
Tatsache entbunden: Sie geht von einer ursprünglichen Bedingung, die
nicht genetisch zu erfassen ist, zu einem transzendentalen »Erzeugnis« des
Erscheinens des Lebens über, das die (faktischen) Bedingungen der Mög-
lichkeit seines Erscheinens selbst erschafft.
Mit ihrem Vorgehen macht die Wissenschaftslehre nun klar, daß
im Erscheinen notwendigerweise auch das Ich eingeschlossen ist, sodaß
die Bedingungen der Möglichkeit des Erscheinens zu entdecken, gleichzei-
tig bedeutet, auch die Bedingungen der Genesis des Ich zu entdecken. Und
wirklich, nur wenn das Ich in die weiteste Bewegung einbezogen wird, mit
der sich das Absolute zum Erscheinen bringt, ist es tatsächlich möglich, es
in seiner Möglichkeit zu erklären (genauso wie es umgekehrt nur dann
möglich ist, das Ich in seiner Struktur zu entfalten, wenn man seine trans-
zendentale Genesis versteht).

jjj
56 Einleitende Bemerkungen

Da sich aber in der Wissenschaftslehre die Anschauung als unmit-


telbare Realisierung des Vermögens des Sehens zeigt; und da das Ich als
das wirkliche Prinzip ihrer Synthese entdeckt wird, stimmt das zu for-
schende Faktum mit dem Ich überein. Das Ich wird deshalb abgeleitet als
eigentlich unableitbares »Faktum, daß« das Absolute erscheint. Mit Fich-
tes Worten:

»Das Ich ist nicht erschloßen, sondern es ist ein unmittelbares u.


absolutes Faktum der Anschauung…« (32r, 21-22).

Mit Hilfe der Wissenschaftslehre können wir durch den »Satz des Grun-
des« als »Prinzip des Verstandes« die a-priori Bedingungen des Erschei-
nens verstehen. In eins damit verstehen wir auch, daß die genetische Ab-
leitung nicht die Tatsache schaffen kann, daß das Leben erscheint. Somit
ist die transzendentale Genesis des Ich gleichzeitig auch die Demons-
tration seiner Unableitbarkeit, was seine wirkliche Existenz betrifft. Auf
diese Weise begreifen wir durch die Wissenschaftslehre die Unbegreif-
lichkeit des Erscheinens (und somit des Ich), auf vernünftige Weise.
Einmal bei der Disjunktion (a – b) angekommen, hat die Wissen-
schaftslehre die genetische Deduktion der Bedingungen der Erscheinung
vollendet. Mit der Erklärung der Disjunktion als Resultat der »Sichtbar-
keit« wird sie als Tatsache begriffen, über die hinauszugehen nicht mehr
möglich ist.
Die Wissenschaftslehre kann sich jedoch nicht auf diese Ablei-
tung der Unableitbarkeit der Disjunktion (a – b), von Ich und Sein, be-
schränken. Im Gegenteil, gerade weil sich die kategorische Gewißheit ih-
rer Vorraussetzung im Resultat jener Genesis von Ich und Sein bestätigt
sieht, ist es notwendig, daß das Erscheinen die Möglichkeit mit sich
bringt, sich selbst im Licht der Implikation zu sehen, die es an das Prinzip
= A. bindet; oder, anders ausgedrückt: daß es sich nicht nur als Selbstbe-
wußtsein widerspiegeln, sondern als Reflexion auf seine eigene Reflexion
realisieren kann, das heißt, im Gewand der Wissenschaftslehre. Nur so
kann das Leben tatsächlich dahin gelangen, sich selbst vollständig zu se-
hen; nur so kann das Selbstbewußtsein sich selbst erneut mit dem Prinzip
verbinden, aus dem es entspringt; nur so kann schließlich die Wissen-
schaftslehre zu einer Selbstbesinnung auf die eigenen, konstruktiven Vor-
gänge gelangen und die Einheit mit dem Leben wieder herstellen, aus dem
sie entstammt.
Aus alle dem ergibt sich die Notwendigkeit, nicht bei der Dis-
junktion von (a. – b.), Ich und Sein zu verharren, sondern von eben dieser
Gaetano Rametta 57

ausgehend wieder zur Einheit des Prinzips aufzusteigen. Da a. und b. als


faktische Bedingungen des Erscheinens von A. schon abgeleitet worden
sind, muß die Wissenschaftslehre nun auch die Bewegung darstellen, mit
der sich das Bewußtsein wieder mit seinem Prinzip, dem Leben, verbindet.
Um diesem Anspruch auf systematische Vollständigkeit gerecht zu wer-
den, beschäftigt sich Fichte mit der Trennung und dem »Wechsel« von
theoretischem und praktischem Bereich.
Die Hypothese war also diejenige, daß das Leben sich selbst sieht.
Aber was bedeutet denn nun Sich-selbst-sehen?

Es sieht sich, heißt eben; es schaut hin ein Ich (5r, 22-23).

Das »sich«, in dem das Leben sich selbst sieht, kann nichts anderes sein
als ein Subjekt mit der Fähigkeit zu Sehen, da sich das Leben ansonsten
als blind sehen würde, oder, anders ausgedrückt: Das Leben, das sieht,
würde sich selbst als etwas sehen, das nicht sieht, es würde sich also mit
einer Eigenschaft sehen, die im Gegensatz zu der steht, die es der Hypo-
these nach innehat. Das Leben muß sich also, um sich selbst zu sehen, als
Ich sehen, d.h. als Subjekt mit dem Vermögen zu sehen. Das Ich ist also
der Ort, an dem das Leben seiner selbst als sehendes Leben inne wird.
Da das Leben, um sich selbst zu sehen, sich in seiner Eigenschaft
als Ich sehen muß, kann es sich nicht im Vollzug des Sehens sehen. Da-
durch, daß es sich als das sieht, was es zu sehen im Stande ist, trennt es
sich in ein Subjekt, das sieht, und in ein Objekt, das gesehen wird. Wir ha-
ben hier also eine Bewegung, die wir schon zuvor dargestellt hatten, und
die Fichte in folgenden Worten zusammenfaßt:

es sieht sich als sehen; heißt eben; es schaut sich an als absolute
hinsehend ein Objekt, ein Seyn! (a.a.O., 23-24).

So geht das »Sein« als Ergebnis seines projizierenden Charakters aus dem
Sehens hervor. Damit das Leben sich sehen kann, muß es sich notwendi-
gerweise in sehendes Subjekt und gesehenes Objekt auseinanderlegen und
die Aktivität des Sehens auf eine Seite der Disjunktion verlegen, (d.h. auf
die Seite des Ich), der gleichzeitig ein Etwas, das dieses Sehen sieht, ent-
sprechen muß. Das Ich und das Sein erscheinen somit als Bedingungen
sowohl der Verwirklichung des Sehensvermögens des Lebens als auch der
Bestätigung der Hypothese, von der die Wissenschaftslehre ausgeht, und
auf Grund welcher das Leben sich für sich selbst sichtbar macht.

jjj
58 Einleitende Bemerkungen

Auf diese Weise bezeichnet die Wissenschaftslehre 1807 die erste


Bewegung des Ich, die aus der Trennung des Sehens vom Leben ent-
springt, das heißt aus der Unabhängigkeit der theoretischen von der prak-
tischen Tätigkeit. Das Ich spaltet sich als Sehendes von dem ab, das es
sieht. Da das Ich aber definiert wurde als das, was sieht, ist es gleichzeitig
auch jenes Moment der Disjunktion, »in welchem Leben, u. Sehen ver-
schmolzen sind« (a.a.O., 31), das heißt, es ist das Mittel oder das
»Durch«, durch das das Leben ins Erscheinen dringt. Das Ich ist somit vor
allem und an erster Stelle ein Sehen des Lebens. Dennoch, in derselben
Weise, in der das Ich sich selbst als sehend darstellt, projiziert es das Le-
ben als Objekt des Sehens aus sich selbst heraus. Das Leben wird somit
für das sehende Subjekt, ein bloßer Gegenstand des Sehens. Insofern das
Leben so verdinglicht wird, wird es der Mannigfaltigkeit objektivierter
»Dinge« gleichgesetzt, die einer instrumentellen Manipulation von seiten
des »Sehenden«, d.h. des erkennenden Subjekts, zugänglich sind.
Nichtsdestoweniger: Würde das Ich ausschließlich in seiner ob-
jektivierenden Haltung verharren, dann würde es paradoxerweise gerade
diese Haltung unmöglich machen, da letztere das Ich als Einheit von Le-
ben und Sehen vernichten würde. Man könnte sogar sagen, dass eine rein
objektivierende, erkennende Tätigkeit prinzipiell unmöglich ist, weil sie
ihr ursprüngliches Entstehen aus dem Leben selbst negieren und so sich
selbst zerstören würde. Daraus ergibt sich, wie Fichte schreibt:

indem es sich bis in seine Wurzel erblikt als blosses Sehen, in dem
es abgesondert hat, so verschwindet ihm im Sehen das Leben
(a.a.O., 32-33).

In seinem Sehen und Sich-sehen als Sehen ist das Leben somit dürftiger
geworden, da es sich nun nicht mehr in sich selber findet, sondern nur
noch außerhalb seiner selbst, auf objektivierte Weise. Weil aber trotzdem
das Ich die Einheit von Leben und Sehen ist, ruft das Verschwinden des
Lebens im Sehen notwendigerweise eine der vorherigen Bewegung entge-
gengesetzte hervor, also eine Bewegung, die in Richtung der Wiederver-
einigung des Lebens mit dem Sehen geht. Aber weil es sich dabei um ei-
nen Prozeß handelt, der sich einer Ausschließung entgegenstellt, stellt
auch er sich in einseitiger Form dar. Die Wiedervereinigung des Lebens
korrespondiert also der Ausschließung des Lebens vom Sehen: Das Ich,
beobachtet Fichte, »muß leben, u. sucht daßelbe wieder auf, aber sodann
verschwindet ihm die Klarheit« (5r, 34-35).
Gaetano Rametta 59

Konkreter bedeutet das, die Einheit von Leben und Sehen, die für
das Ich grundlegend ist, so zu denken, daß sie sich im Gegensatz des theo-
retischen Bereichs (des Sehens) und des praktischen (des Handelns) als
Einheit darstellt und erhält. Bezogen auf dieses Ziel verwendet Fichte den
Begriff »Wechsel«. Wechsel taucht als der entscheidende Begriff auf, der
das »Wie« der Vereinigung bezeichnet, die sich zwischen dem Ich und
dem Prinzip des Lebens herstellt.
Da das Ich nämlich die Einheit von Leben und Sehen repräsen-
tiert, wendet sich das Ich im Sehen, welches das Leben verschwinden läßt,
notwendigerweise der Suche nach eben diesem Leben zu, welches in die-
ser Einheit ja nicht fehlen darf. Umgekehrt ist es so, daß, weil sich die
Einheit mit dem Leben eben auf Kosten des Sehens realisiert, das Ich im
Leben erneut dazu zurückkehrt, die »Klarheit« zu suchen. Weil sich die
Beziehungen von Leben und Sehen innerhalb eines Wechsels entfalten,
der ihren Gegensatz bewahrt, (also nicht anstrebt, ihn zu überwinden oder
gar zu vernichten), verwirklicht sich die Einheit beider Momente (und so-
mit das Ich selbst) in der immer erneuten Wiederherstellung der Spannung
zwischen den Beziehungsmomenten A – x, (Übersinnlichem und Sinnli-
chem), a – b, (Ich und Sein), Sehen und Leben, (theoretischem und prak-
tischen Dasein). Und umgekehrt: Gerade weil die Einheit sich im Inneren
dieses Gegensatzes darstellt und erhält, nimmt sie die Form des Wechsels
an. Und da dieser Wechsel, in der Realisierung der Einheit, gleichzeitig
auch wieder zu einer Wiederherstellung der Ausschließung und des Ge-
gensatzes führt, kann das Streben des Ich nie ein Ende haben, es ist unend-
lich. Die Unendlichkeit, die das Leben im Erscheinen erreicht, ist daher
eine »vermittelte«, aber nur in dem Sinn, daß sie sich »durch« den nie en-
denden Wechsel realisiert, der sich innerhalb des Ich zwischen theore-
tischer und praktischer Tätigkeit entwickelt.
Diese Eigentümlichkeit der Wiedervereinigung mit dem Prinzip,
die in der abstrakten, (weil theoretischen) Erkenntnis der Wissenschafts-
lehre erreicht wurde, erlaubt es nicht, sie mit der das wirkliche und kon-
krete Bewußtsein konstituierenden Selbstbesinnung und Selbstbestim-
mung gleich zu setzen : Die Wissenschaftslehre schließt sich insofern vom
Leben aus, als sie ihre Einheit mit dem Prinzip = A., von dem sie ausge-
gangen ist, in Form einer theoretischen Erkenntnis, d.h. einer Abstraktion
vom konkreten Leben realisiert. Mit dieser Erkenntnis ist die Philosophie
aber auch in der Lage, sich wieder mit dem Leben zu vereinigen; aber in
einer Weise, die die Wiederherstellung der Einheit des Lebens (A) mit
dem Wissen des Unterschiedes übereinstimmen läßt, der sich zwischen
dem »reinen Leben« des Geistes in der philosophischen Erkenntnis und

jjj
60 Einleitende Bemerkungen

dem wirklichen und individuellen Bewußtsein auftut, durch welches das


Leben in concreto ausgezeichnet ist. Das Wissen von der theoretischen
Unüberwindlichkeit dieses Unterschiedes, einmal Prinzip des praktischen
Handelns des Bewußtseins geworden, drückt die Rückkehr der Wissen-
schaftslehre zum Leben in der Gestalt der Weisheit aus.
Der Abgeschlossenheit, die der epistemologischen Konstruktion
eigen ist, entspricht somit die strukturelle Öffnung, welche die Beziehung
zwischen übersinnlicher und sinnlicher Welt (A. - x.) charakterisiert. Wir
können festhalten, daß, eben weil die Hypothese, (»setze, das Leben sehe
sich selbst!«), von der wir ausgegangen sind, in der Darstellung der Ge-
dankenfolge der Wissenschaftslehre bestätigt wird und diese somit in sich
geschlossen ist, in ihrer Darstellung sich auch eine transzendentale Diffe-
renz bestätigt und somit die Unmöglichkeit einer vollendeten Entspre-
chung der Erscheinung (x.) mit dem, was sich in ihr offenbart (A.).
So gibt es nie eine vollkommene Übereinstimmung zwischen dem
Wissen, das das Ich in Bezug auf sich selbst erlangt und dem Sein, das
vom Ich im Wissen verstanden wird: Es ist unmöglich, eine vollendete
Entsprechung zwischen der Bewegung zu erreichen, mit der das Ich sich
zum Erscheinen hinbegibt, und dem Sein des Lebens, welches das Ich in
seinem Wissen zu verstehen sucht.
Andererseits, wenn sich das Ich in seinem Wissen zu vollkomme-
ner Durchsichtigkeit des Seins entwickeln könnte, würde sich das Leben
in diesem Wissen erschöpfen, und die Bewegung, mit der das Ich sich
selbst versteht, mit der Bewegung übereinstimmen, durch die das Absolute
vollkommene Klarheit über sich selbst erreicht. Auf diese Weise wäre das
Absolute tatsächlich = Ich, das Wissen des Ichs wäre als absolutes Wissen
gleich dem Absoluten tout court. Wir erreichten also eine Erhebung des
Wissens ins Absolute, zusammen mit der Wiederaufnahme des Lebens im
Begriff: Somit würde die Gleichung wieder hergestellt, mit der die Hegel-
sche Philosophie des Geistes von 1805/06 schließt4.
Im Gegensatz zum Ergebnis der Hegelschen Philosophie konkre-
tisiert sich die Spannung zwischen »A«, (dem Übersinnlichen), und »x«,
(dem Sinnlichen), welche die Struktur der Erscheinung durchherrscht, als
Streben des Ich nach völliger Selbst-Durchsichtigkeit des Daseins, die al-
lerdings nur als philosophisches Wissen ihrer prinzipiellen Unmöglichkeit
erreicht werden kann. Die Wissenschaftslehre erscheint (im Unterschied
zur Hegelschen Philosophie) als absolutes Wissen, weil sie das Wissen (in
diesem Sinne unübertrefflich) der absoluten Unausfüllbarkeit des Unter-

4 Vgl. J.S. III, GW, Bd. 8, S. 286.


Gaetano Rametta 61

schiedes zwischen dem Leben und seinem Erscheinen ist. Und deshalb
gilt, daß das Ich immer hin »in die Unendlichkeit getrieben« ist (5r, 1-2).
Andererseits bedeutet das auch, daß das Ich zwar schon fast an-
wesend, aber in gewissem Sinne noch nicht ganz da ist. Das Ich ist Ich nur
dann, wenn es sich als Ich darstellt und begreift, nur dann, wenn es sich
selbst als Ich sieht. Die Wissenschaftslehre versteht somit die Einsicht, die
das Ich von sich selbst hat, als Einsicht der notwendigen (und somit un-
vermeidlichen) Undurchsichtigkeit, welche das Ich in Bezug auf sich
selbst nicht vermeiden kann. Die Unendlichkeit des Wechsels, aus dem
heraus die Undurchsichtigkeit immer wieder aufs Neue entspringt, ist das,
was das Ich zur Klarheit über sich selbst antreibt. Weil aber diese das Ich
als Selbstbewußtsein konstituiert, ist ein Ich ohne Klarheit ein Ich, das ei-
gentlich noch nicht da, sondern immer auf der Suche nach sich selbst ist,
ein Ich also auf dem Weg, Ich zu werden:

Und nun, was ist dieses, in dieser Form der Unendlichkeit betrach-
tete Ich, das noch nicht Ich ist, sondern es erst in seinem Sicher-
blicken wird, jenseit [...]« (5r, 3-4).

Das »Jenseits« im Ich ist aber gleichzeitig auch das, was das Ich dazu an-
treibt, seinen momentanen Status zu überschreiten, um neue »Gestalten«
von sich zu suchen und zu verwirklichen, in denen es sich dann selbst wie-
der anerkennen kann. Hier zeigt sich also die Notwendigkeit, daß sich das
Ich als praktisches Ich verwirklicht. Ohne Handlung gibt es keine Pro-
jektion von »Bildern«, aber ohne projizierende Tätigkeit, das heißt ohne
Objektivierung von sich selbst, ist auch kein Sehen möglich. Deshalb be-
antwortet Fichte die oben zitierte Frage auf folgende Weise:

[...] Ein ewiges sichtbar machen des Urlebens, also eben ein prak-
tisches Handeln, in welchem Gott erscheint (a.a.O., 4-6)5.

5 Für weitere Analysen ueber die WL-07 vgl. vom Verf. Le strutture speculative
della dottrina della scienza. Il pensiero di Fichte negli anni 1801-1807, Genova 1995. Darüber
auch den Aufsatz von M. Ivaldo, Transzendentale Lebenslehre. Zur Königsberger Wissenschafts-
lehre 1807, »Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch«, 22, 1996, S. 167-188. In Bezug auf
die späteren Fassungen der WL, vgl. endlich S. Furlani, L’ultimo Fichte. Il sistema della »Dott-
rina della scienza« negli anni 1810-1814, »Fichtiana«, Milano 2004. Die WL-07 ist auch in der
Reihe »Fichtiana« auf italienische Sprache vom Verf. herausgegeben worden (Milano 1995).
Herrn Prof. Dr. Helmut Girndt möchte ich für eine wesentliche Verbesserung der deutschen
Fassung herzlich danken.

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Prolegomena

Gegenstand und Methode der Wissen-


schaftslehre
(111-118,18)
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Matteo D'Alfonso

111,3-118,18
1. und 2. Vorlesung

1. Vorlesung

Bestimmung der Aufgabe der Wissenschaftslehre (111-115,25)

In den ersten zwei Vorlesungen werden, wie Fichte anfangs der ersten
Vorlesungsstunde erklärt, die so genannten »Prolegomena« dargestellt.
Diese stellen Mittel zur Verfügung, wie man überhaupt in die Wissen-
schaftslehre eintreten kann, und zugleich gelten sie als der Eintrittsschritt
in die Wissenschaftslehre selbst.
Die Prolegomena sollen einen neuen Sinn, und zwar den trans-
zendentalen, schaffen, »dem eine neue Welt aufgehe«. (111,5) Die Wich-
tigkeit dieses neuen Sinnes besteht darin, daß nur durch ihn die Wissen-
schaftslehre verständlich wird. Wie Fichte ausdrücklich erklärt, müssen
nämlich »alle die Uebungen u. Vorbereitungen, die hier [...] vorgenom-
men werden, […] schon mit einem analogen Sinne aufgenommen werden«
(111,5-7). Und diesen transzendentalen Sinn kann man erst dadurch erlan-
gen, daß man schon im Voraus einen allgemeinen Begriff dessen besitzt,
was zu tun ist. Ziel der Prolegomena ist also, diesen neuen Sinn durch die
Darstellung eines allgemeinen Begriffs der Wissenschaftslehre zu vermit-
teln.
Der Begriff der Wissenschaftslehre wird seinerseits in zwei
Schritten mitgeteilt: durch die Definition der Aufgabe der WL und durch
die Aufzählung der Schritte zu ihrer Lösung. Die erste einleitende Vorle-
sung ist in sechs Punkte unterteilt und hat die Definition der Wissen-
66 Matteo D'Alfonso

schaftslehre und ihre Abgrenzung gegenüber den anderen Philosophien im


Allgemeinen und der Kantischen Philosophie im Besonderen zum Inhalt.
Die zweite einleitende Vorlesung bietet in neun Punkten eine Art Zusam-
menfassung der ganzen Wissenschaftslehre in ihren wichtigsten Etappen
und schildert, wie Fichte sagt, »die WL in kurzem Auszuge«.

Der Begriff der Wissenschaftslehre

Die korrekte Definition der Wissenschaftslehre kann man nach Fichte nir-
gendwo anders als in seinen Vorlesungen von ihm selbst erhalten, denn
keiner außer ihm besitze sie und außerdem – wie er bemerkt – würden sei-
ne veröffentlichten Schriften falsch interpretiert.
1.) »Zur Erzeugung eines vorläufigen Begriffs« ist zunächst der
Zweck der Wissenschaftslehre zu erklären, und dieser ist: »Zur Wahrheit
und Gewißheit, über Zweifel u. Ungewißheit hinaus zu kommen« (111,17-
18). Um diesen Zweck zu erlangen, muß man sich zunächst von dem na-
türlichen, gewöhnlichen Sehen oder Wissen befreien, denn gerade dieses
bringe eine Menge Irrtümer mit sich, und ein neues Sehen statt des alten
entwickeln. Die allererste vorläufige Definition der Wissenschaftslehre ist
also, daß sie diese neue »Kunst zu sehen« (111,23) lehrt.
In diesem Sinne ist die WL einerseits mit der Kantischen Kritik
verwandt – denn auch Kant hätte »eine Kritik eben des Sehens und Wis-
sens« gewollt – andererseits ist sie aber auch von dem kantischen Ergebnis
darin unterschieden, »daß diese Kritik nicht vollendet, u. in ihren Resulta-
ten niedergelegt [ist], sondern jeder ewig fort sein eigener Kritiker bleiben
muß« (111,25 -112,2). Die Bedeutung der Philosophie Kants besteht also
nicht in ihren Resultaten, sondern in der Aufforderung, sich selbst zu-
nächst zum Kritiker zu machen.
2. – 3.) Die Übung einer andauernden Kritik ist notwendig, weil
»das natürl. Sehen sich selbst innerlich u. durch sich selbst, dem Beobach-
ter unsichtbar auf eine gewiße Weise machte u. weiter bestimmte, so ver-
dekte es eben hierdurch sich selbst, u. seine wahre reine Gestalt. Es stünde
sich selbst im Wege«. (112, 3-6)
Jeder soll also in erster Person und für sich selbst die Kritik seine
gewöhnlichen Wissensart üben, um nicht unbemerkt in deren Irrtümern
verwickelt zu bleiben. Der Mangel des gewöhnlichen Wissens besteht dar-
in, daß es keine Gewißheit vermittelt kann.
1. und 2. Vorlesung (Prolegomena) 67

Jede mögliche Vorstellung A erscheint nämlich sowohl als A als


auch als nicht A, sobald ihr irgendein Prädikat zugeschrieben wird. Das
ursprüngliche A wird dadurch zu einem A + x, d. h. A plus einem Prädi-
kat, d.h. einem Resultat, das nun freilich nicht mehr gleich A ist, wenn »x
eben sich beimischt« (112,33). Demzufolge wäre A + x eher Nicht-A
gleichzusetzen und »so wird der, der sich bloß beschauet in diesem Zu-
stande seines Seyns, sich bald so, bald so finden, beides mit gleicher Ge-
wißheit, Nothwendigkeit, u. Evidenz, u. so in Zweifel, u. Ungewißheit ge-
rathen« (112,13-15). –
Die Lösung dieses Problems bietet Fichte im folgenden dritten
Punkt. Die Ungewißheit kann dadurch aufgehoben werden, daß die im
gewöhnlichen Sehen ununterscheidbare Verschmolzenheit von A und x
aufgelöst werde, womit x »als bloße Erscheinung von dem reinen A abzu-
ziehen« sei (112,24).
4.) Um das zu erreichen, muß das Sehen, wie Fichte im vierten
Punkt bemerkt, sich sehen können, womit er die schon gegebene Definiti-
on der WL wieder aufnimmt; daß die »W.L. Kunst des Sehens« sei
(113,2). Das »Blindes Tappen« des gewöhnlichen Sehens – blind gerade
darum, weil ihm das a-priorischen Prinzip des Zugeschriebenwerdens von
x zu A vollkommen entgeht – muß von einem »reinen Sehen« ersetzt wer-
den können; dieses reine Sehen sollte sich nicht mehr »eben so u. so be-
stimmt, fertig« (112,27-28) vorfinden, sondern in ihm sollte »es in seinen
GeburtsOrt, u. in [seine] Entstehung« eindringen (112,29-30).
5.) Die zwei unterschiedlichen Hinsichten, die auf der einen oder
anderen Wissensart basieren, setzt Fichte einander unter der Bezeichnung
von Dogmatismus und Idealismus entgegen. Eigentlich sei der Dogmatis-
mus, da er einen unhinterfragbaren Seinszustand annimmt, von dem er das
Wissen abhängig macht, eher mit dem Namen »Materialismus« zu brand-
marken, während bei dem Idealismus sich »das Sehen […] über alles
Seyn, zum Schöpfer des Seyns, dem Sehen selber« erhebt (113,8-10). Statt
der Materie gilt demnach als Prinzip des dem Dogmatismus entgegenge-
setzten Idealismus das Licht, so daß Fichte nun erklärt, daß »in dieses
Licht als ein ewiges Werden, einzudringen, u. diesem Werden eben zuzu-
schauen […] die Kunst [ist], die [die Zuhörer und nun Leser der WL] ler-
nen sollen« (113,21-22).
6.) Dieser Punkt gibt keine systematisch relevanten Bemerkungen
wieder: er ist aber dennoch von Interesse, denn es wird hier eine Ausein-
andersetzung mit dem System des Spinoza angedeutet, deren Fortsetzung
in den nächsten Vorlesungen die Funktion einer Einführung in die WL ha-
ben wird.

jjj
68 Matteo D'Alfonso

Am Ende der ersten Vorlesung wird die Aufgabe der Wissen-


schaftslehre, »ein x zu durchdringen, um es abzuziehen« (114,17), in zwei
Punkten wieder dargestellt, die nun ihr objektives und subjektives Selbst-
verständnis beschreiben.
1) Objektiv gesehen erstellt die Wissenschaftslehre die »Ge-
schichte des Wissens vor seiner Geburt« (115,9). Dieser Terminus »Ge-
schichte« ist offenbar nicht historisch, sondern genetisch, bzw. transzen-
dental-logisch zu verstehen, es handelt sich also um die Rekonstruktion
der Bedingungen der Möglichkeit des Wissens.
2) Subjektiv gesehen geht es darum, in sich selbst ein wahres
Wissen zu schaffen, und die Wissenschaftslehre ist demnach »die Lehre,
das wahre Wissen in sich hervorzubringen« (115,12). Diese Lehre wird
über ihre bloß wissenschaftliche Aufgabe hinaus in die Weisheit führen,
denn die Möglichkeit des Unterscheidens zwischen A und x – d. h. zwi-
schen den übersinnlichen und den sinnlichen Gliedern jeglicher Vorstel-
lung –, hilft anzuerkennen, daß, »keine [der beiden Welten, d. h. weder die
sinnliche, noch die übersinnliche] für sich das rechte, u. wahre [ist], son-
dern nur in […] beiden die Wahrheit [liegt ]« (115,18-19). Demzufolge ist
»keine von beiden zu verlieren, sondern ewig in der bindenden Einheit [,]
in dem Bande beider [zu] erhalten« (115,22-23) – »Dies ist die Weißheit«
(115,24)

2. Vorlesung

Skizze der Lösungen der Aufgabe der Wissenschaftslehre (115,26-118,18)

Auf die Darstellung der Aufgabe der WL folgt in den Prolegomena eine
allgemeine Übersicht über den Weg, auf dem diese zu erledigen ist:
1) Die erste Schwierigkeit besteht darin, die Einheit ernsthaft zu
denken. Denn wenn man »Eins« sagt, muß man dabei zugleich bedenken,
daß man in der Tat eine Zweiheit hat; denn neben der gedachten Einheit
steht auch der sie denkende Gedanke. Die Quelle dieser Zweiheit, so Fich-
te, liege im Ich, das nun, um eine echte Einheit zu bekommen, als erstes
eliminiert werden sollte. Dazu setzt Fichte folgendes hinzu: »Wolltest Du
nun doch bei der ersten Voraussetzung, das Ich sey das Eine, bestehen, so
müsstest du dieselbe nur so beschränken, daß es nicht als Ich, in der Dis-
junktion, […] sondern jenseit derselben, als absolute Eins, es sey. Ich,
1. und 2. Vorlesung (Prolegomena) 69

eben dasselbe was zugleich auch Ich ist, bin als Nicht-Ich. das Eine«
(116,17-21)
Das »eigentliche Misverständnis der WL« bestehe in der falschen
Interpretation der Rolle, die sie dem Ich zuschreibe. Die Frage, was wäre
die gemeinsame Wurzel x von a-b, – d. h. von den scheinbar entgegenge-
setzten Polen Anschauendes und Angeschautes, – beantwortet Fichte mit
dem Begriff des »NichtBegriff[s] = Leben[s], eben de[s] lebendige[n] Le-
ben[s] in sich selbst, u. nicht de[s] Tod[es]« (116,24-25). Denn, wie Fichte
anschließend argumentiert, »im Leben bist du, u. das Leben ist deine ei-
gentl. Wurzel«, während jeder Begriff tot bleibt, und genauso tot gelten
dementsprechend sowohl der Begriff des Seyns als auch der des Ich.
2. – 3.) Wenn nun aber sich faktisch eine Disjunktion ergibt, wie
sie »in Mir: als noch nicht Ich, u. als Ich: u. das leztere auf eine doppelte
Weise« (116,31-117,1) vorkommt, dann kann das nur aus dem Grund sein,
»daß da außer dem Leben manches ist« (117,2).
Unter der Voraussetzung, daß das Leben sich selbst sieht, ist dem
Leben zunächst ein Auge einzusetzen, das in ihm vollkommen aufgeht;
»Leben im Lichte, Licht in das Leben: Absolute Konkretion u. Mischung,
Durchdringung, u. Aufgehen beider in einander« (117,9-10). Diese absolu-
te Durchdringung erlaubt aber kein sich Sehen des Lebens, denn dafür be-
nötigte man gerade das Gegenteil, sprich einen Abstand zwischen dem
Auge und dem Leben selbst.
4. – 5.) Mit dem vierten Punkt kommt man zur echten Beschrei-
bung des Gedankenwegs der Wissenschaftslehre als Kunst des Sehens.
Denn die Idee Fichtes ist: gerade um diesen nötigen Abstand zwischen
Leben und Sehen (bzw. Auge oder Licht) zu bekommen und dabei aber
der vorausgesetzten Einheit des Lebens treu zu bleiben, muß in dieser Dif-
ferenz zunächst das Sehen gesehen werden. Es muß also »sichtbar werden,
als bloßes dadurch von dem Leben zu unterscheidendes Leben«. Unter der
Voraussetzung des zweiten Punktes, daß das Leben sich selbst sieht, muß
diese Sichtbarkeit des Sehens möglich sein. Die Sichtbarmachung des Se-
hens fällt nun mit der Entfaltung aller Gesetze des Bewußtseins zusam-
men. Das Sehen zu sehen, heißt das faktische Funktionieren des Sehver-
mögens zu erklären, und dieses realisiert sich eben im Bewußtsein.
6) Aus dem Begriff des sich Sehens folgen nun eine Reihe wich-
tiger Gleichungen:
»Alles wirkliche Sehen projicirt, schaut hin: Es sieht sich, heißt
eben; es schaut hin ein Ich; es sieht sich als sehen; heißt eben; es schaut
sich an als absolute hinsehend ein Objekt, ein Seyn!« (117,22-24)

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70 Matteo D'Alfonso

Auf diese Weise gewinnt man die Polarität des Ich-Objekts des
Anfangs, nun aber in ihrer Genesis, statt in ihrer bloßen Faktizität. Denn
nun kann man einsehen, daß »dieses Ich und dieses Seyn […] bloße Be-
dingungen und Erzeugnisse der Sichtbarkeit [sind und] nicht selbst Leben,
sondern nur Bedingungen der Erscheinung des Lebens, als Lebens, wie sie
denn auch ausdrüklich vom Leben, als Nichtleben unterschieden werden
sollen, drum unterscheidbar seyn müssen, drum in sich tragen den Tod«
(117,25-29).
Aus der Voraussetzung des sich Sehens des Lebens wurde also
der Anschein des Todes in der Vorstellung deduziert.
7) Vom »objektiven« Standpunkt geht Fichte nun zum »subjekti-
ven« über. Entsprechend seiner Beschreibung vollzieht die Sichtbarkeit
»das höhere[,] in welchem Leben, und Sehen verschmolzen sind«. Gerade
diese Verschmolzenheit, wenn sie sich weiter als Sehen betrachtet und
analysiert, hört auf, sich als Leben zu verstehen, und umgekehrt: in allem,
in dem sie sich nur faktisch als Leben verstehen kann, findet noch keine
Klarheit, Licht, statt und daher soll die Analyse weitergeführt werden: »u.
so ins Unendliche fort und so wird es denn durch den Wechsel mit sich
selbst, indem es ewig fort sich sichtbar, d. i. zum Ich macht, in die Unend-
lichkeit getrieben.« (117,35-118,2)
8) Es wird daher ein Noch-nicht-ich postuliert, das durch das
Sich-sichtbar-machen des Lebens, bzw. des Sehens unendlich zum Ich
gemacht wird: Diesen Prozeß nennt Fichte »ein ewiges sichtbar machen
des Urlebens, also eben ein praktisches Handeln in welchem Gott er-
scheint.« (118,5-7)
9) Der neunte und letzte Punkt der Prolegomena ist der weiteren
und wichtigen Aufforderung gewidmet, das Vorgetragene auf sich selbst
und auf die eigene Selbsterfahrung anzuwenden. Nur in sich selbst kann
man nämlich spüren, ob derjenige, »der diese Worte hört, Antheil an ihnen
habe oder nicht« (118,7). Im ersten Falle »quillt seine Thätigkeit immer-
fort schaffend das Neue«, (118, 10) und daher erweist er sich, sozusagen
in Fleisch und Blut, als Bild Gottes: denn »Das Gepräge des göttlichen ist
die fortdauernde Schöpfung aus nichts«. (118,17-18)
Erster Teil

Sein, Leben oder absolutes Ich


(118,19-129,3)
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Christoph Asmuth

118,19-129,3
3/ 4/ 5/ 6 / (7) Vorlesung

3. – 7. Vorlesung

Sein, Leben oder absolutes Ich (118,19-129,3)

Fichte kritisiert: Das Sein als Absolutes gesetzt, ist der Grundirrtum der
Philosophie. Er fordert, das Absolute als Leben zu bestimmen, wobei –
Fichte zufolge – allerdings die Gefahr besteht, daß das Leben selbst wie-
der nur als repräsentierender Begriff genommen wird, nicht als das leben-
dige Leben, sondern als totes Scheinleben. Fichte kommt es darauf an, das
Auge frei zu machen, d. h. die verstellenden Bestimmungen vom Leben
fernzuhalten. Diese bestehen beispielsweise darin, das Leben für ein »Et-
was« zu halten, für eine statische Substanz, dem nachträglich irgendwel-
che Bestimmungen zukommen. Fichte kritisiert damit eine an Aristoteles
orientierte Metaphysik und vor allem deren Anwendbarkeit im Bereich
des Absoluten. Ihr Fehler besteht nach Fichte darin: Wird das Leben als
das Absolute gedacht, schreibt sich das Denken selbst Absolutheit zu,
spricht sie es dem Absoluten zugleich ab. Auf diese Weise läßt sich das
Leben nach Fichte nicht konsistent denken. Es ist für ihn aber unverzicht-
bar, daß das Leben als das Absolute und als absolutes Prinzip der Philoso-
phie gedacht wird. Es ergibt sich für Fichte die paradoxe Situation: Das
Leben läßt sich nicht denken, läßt sich aber zugleich auch nicht überhaupt
nicht denken. Fichtes Folgerung: Das Leben kann nur gedacht werden als
nicht denkbar, woraus aber eine Bestimmung des Nicht-Denkbaren durch
das Denken resultiert.
74 Christoph Asmuth

Fichte fordert: Das Leben muß dynamisch und aktiv aufgefaßt


werden. Er zieht deshalb infinite Verbformen (vivere, esse) als Bezeich-
nungen für das Absolute den statischen Substantiven vor. Der Tod ist
nicht das symmetrische Pendant des Lebens, sondern dessen Privation.
Leben und Tod bilden keinen Prinzipiendualismus. Ferner: Das Absolute
der Wissenschaftslehre ist keine Person (keine göttliche Person, kein
grammatikalisches Genus), sondern Infinitiv. In diesem Sinne ist es nach
Fichte Ich, allerdings nicht das Ich einer Person, sondern unendliches ab-
solutes Ich. Damit ist das Ich nicht als Ich angesprochen. Das charakteri-
sierende Als muß – so Fichte – vom Ich ferngehalten werden; es charakte-
risiert nämlich das Ich als Ichheit und bleibt damit bloß formal wie der
Begriff gegenüber der Anschauung. Das, was das Ich als Ich in seiner
Wurzel ist, sein »Träger« (die nicht aristotelisch gefaßte Substanz), ist das
Ich ohne Als. Zu diesem Ich soll das Ich als Ich nach Fichte erst werden,
womit es also das erst werden soll, was es ursprünglich ist: – ein Rück-
verweis auf die zentralen Überlegungen der Grundlage der gesamten Wis-
senschaftslehre.
Fichte schließt einige Reflexionen zur sprachlichen Form seines
Vortrags der Wissenschaftslehre an: Es ist wichtig, so formuliert er expli-
zit, die dogmatischen Tendenzen der Sprache zu unterwandern, Tenden-
zen, die – so folgert Fichte – den lebendigen Gedanken in einen trockenen
Katechismus verwandeln, der sich z. B. auswendig zu lernender Definitio-
nen bedient. Es muß nach Fichte der Versuch unternommen werden, die
durch den philosophischen Sprachgebrauch verschlissene Begrifflichkeit
durch überraschende und aufregende Bilder zu beleben und die Einbil-
dungskraft mit ihrer schöpferischen Potenz ins Spiel zu bringen. Philoso-
phie, so Fichte, ist keine Logik. Diese ist nach Fichte auf formale Philoso-
phie beschränkt und erfordert einseitig disjungierendes Denken. Dagegen
Fichtes eigene Forderung: Philosophie ist lebendiges Denken, schöpferi-
sches, Leben erzeugendes Denken, Denken in der Einheit und Denken der
Einheit. Fichte plädiert daher für ein Konzept der Philosophiedidaktik,
derzufolge Philosophieren nicht sukzessive zu erlernen ist, sondern
schlagartig einbrechen muß: – wie ein Blitz.
Aus diesem Grund kritisiert die Wissenschaftslehre jeden naiven
Realismus, der das Wissen als eine Nachbildung der Dingwelt charak-
terisiert, als Repräsentation einer Außenwelt, die unabhängig vom Wissen
für sich besteht. Diese Nachträglichkeit des Wissens widerspricht – so
Fichtes Überlegung – dem lebendigmachenden Denken, das seine Gegen-
stände hervorbringt und ihnen nicht hinterherläuft. Der Vollzug der Wis-

gzgutgtg
3. bis 7. Vorlesung (Erster Teil) 75

senschaftslehre kann nur in der Unmittelbarkeit geschehen, indem der


Vollziehende selbst dieses lebendige Denken wird.

Im folgenden kritisiert Fichte drei Richtungen der Philosophie:


1. den dogmatischen Dualismus, der von Denken und Sein als irr-
reduziblen Gegebenheiten ausgeht, beide aber im Erkenntnisprozeß auf
unerklärliche Weise zusammentreten läßt, dabei aber letztlich Empirismus
bleibt;
2. den Spinozismus, der zwar die vorausgesetzte Einheit denkt,
jedoch als Substanz;
3. die Philosophie Schellings, die sich – nach Fichtes Auffassung
– auf Spinoza bezieht, aber zusätzlich eine reale, für sich selbst bestehende
Emanation aus der absoluten Substanz setzt. Fichte charakterisiert diese
Emanation Schellings als eine reale Losreißung vom Absoluten, wodurch
– dies ist Fichtes Folgerung – Gott in sein Hervorgebrachtes übergeht und
damit sich selbst als das Absolute verliert – ein in Fichtes Augen wider-
sinniges Unterfangen.

In Abgrenzung gegen diese drei Formen des Philosophierens formuliert


Fichte die Aufgabe der Wissenschaftslehre: Sie setzt auf die immanente
Bestimmung eines absolut bleibenden Absoluten. Dadurch kann die Wis-
senschaftslehre explizieren, daß nur das Leben jene Einheit in der Mannig-
faltigkeit sein kann. Aus der Einheit können jene unendlichen Formen und
Gestaltungen abgeleitet werden, die als transzendentale Bestimmungen
unserer phänomenalen Wirklichkeit zugrunde liegen. Die Wissenschafts-
lehre deckt das Leben in seiner Prinzipienfunktion auf und bestimmt es
durch weitere bewußtseinsimmanente Ableitung bis hin zu seinen kontin-
genten Erscheinungen. Fichte betont: Die Erscheinung kann keine eigen-
ständige Existenz beanspruchen. Insbesondere die materielle Welt ist nur
ein nachrangiges Produkt der transzendentalen Genese. Schon in der sitt-
lichen Welt ist der Schein einer Unmittelbarkeit des Materiellen ver-
schwunden.
Fichtes rhetorische Frage: Was ist das Leben außerhalb der Be-
stimmung als Sich-Sehen?, läßt sich nicht außerhalb des Wissens beant-
worten, denn das Wissen ist stets das logisch Erste. Was das Leben, das
zwar als Prinzip des Wissens firmiert, außerhalb des Wissens sei, ist eine
unsinnige Frage, denn selbst diese Frage, setzt das Wissen voraus: eine
transzendentalphilosophische Grundposition. Wissen und Leben haben
nach Fichte ein immanentes, inkludentes Verhältnis, sie lassen sich ge-
danklich nicht voneinander trennen. Daher korrigiert Fichte die metaphy-

zttgtgtgtgzu
76 Christoph Asmuth

sische Position, nach der das Bewußtsein aus dem Absoluten ›hervor-
quillt‹ (Schelling), in die transzendentalphilosophische, nach der die Be-
gründung des Bewußtseins durch das Absolute selbst nur und aus-
schließlich ›im‹ Wissen und für das Wissen statthaben kann.

gzgutgtg
Zweiter Teil

Grundlage des theoretischen Wissens:


Sehen und sich Sehen als Erscheinung
des Lebens
(129,5-164,3)

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Helmut Girndt

129,5-145,30
8. bis 11. Vorlesung

8. Vorlesung1

Das Sehen als Äußerungsform des Lebens 2 (129,5-133,9)

(I.) Leben und Anschauen fallen in Eins und das sich im Anschauen äu-
ßernde Leben wird im Akt des Anschauens seinerseits nicht angeschaut.
Das Leben aber soll sich anschauen und zwar als Leben. (Also nicht un-
mittelbar). Dieses Als, die Form der Reflexion, spielt im Folgenden eine
Hauptrolle.

1 Auf den Seiten (125,15 – 129,3) rechtfertigt Fichte sein Verhalten in einem Streit
mit seinen Hörern, auf den als nicht zur Sache gehörig hier nicht eingegangen wird. Seine Recht-
fertigung bestand darin, daß er, Spinoza und Kant kritisierend, in seinen Vorträgen inhaltlich über
beide hinausgehend eine ganz neue Philosophie vorträgt. Deshalb sei eine Vorauszahlung des stu-
dentischen Honorars angemessen.
2 Zur Übersicht der in den folgenden Vorlesungen eingeführten Zeichen: Die hypo-
thetische Setzung, von der Fichte ausgeht, »Setzet, das Leben solle als unsichtbares Prinzip des
Sehens, ersehen, oder sichtbar gemacht werden.« S. 139 enthält mehrere unterscheidbare Momen-
te, die Fichte durch alphabetische Zeichen kenntlich macht: A Das Leben. Es ist Prinzip des Se-
hens oder das eigentlich Reale im Sehen. B Das Vermögen (des Lebens), ein Schema oder Sehen
(C) aus sich (in seiner Vollziehung) zu erzeugen. Das Sehende ist A in der Form B. C Das Sehen,
Schauen, An- oder Hinschauen oder Schematisieren als tatsächliche Äußerung des Lebens. D Das
im Sehen Ersehene. Das Sich-sehen des Sehens, Schema des Schematisierens: = Denken. E Das
Sichtbarmachen des ganzen Zusammenhanges: A bis E durch die Wissenschaftslehre („Schema
des Schemas des Schemas« 135,6), in der das Leben, das unsichtbare Prinzip des Sehens als
Grund der Erscheinung erkennbar wird. X Der Trieb als dasjenige, was das Vermögen des Sehens
= B vollzieht oder aktualisiert. („In diesem Vermögen soll ein primum movens der Vollziehung
seiner selbst gedacht werden: der Trieb«(S 194)

ddddd
80 Helmut Girndt

Was heißt »sich anschauen«? – Das Sehen oder Hinschauen als


Äußerung des Lebens soll ein Bild oder ein Schema des Lebens hinschau-
en, projizieren, genauer: eine Identität von Sehendem (a) und Gesehenen
(b).

Dabei ist zu unterscheiden:


1. die Erzeugung des Sehens (oder Schematisierens) aus und von
sich und
2. das Erzeugte, d.h. das Bild (oder Schema) des Lebens, in un-
mittelbarer Anschauung; die als solche noch kein Erkennen des Lebens als
Leben ist.

II. Blieben wir dabei stehen, würden wir das ursprüngliche Sehen, das An-
oder Hinschauen als solches zum Letztgrund des Schematismus und damit
zum absolut Realen machen. Aus diesem Sehen oder Anschauen können
wir nach Gesetzen des Sehens zwar die Welt des Seins (des Seienden)
aufbauen, aber das wäre nur eine (vorläufige) Ansicht der W.L.3
Soll dagegen das Leben sich als Leben sehen, so muß das Sehen
aus sich heraus ein zweites Schema gebären und zwar von sich selbst,
denn nur dann kann es sich verstehen als bloβes Schema im Unterschied
zur absoluten Realität.

III. Das Sehen als Äußerung des Lebens ist nicht absolute Realität, son-
dern nur etwas Mögliches, ein absolutes Vermögen, ein Schema aus sich
zu erzeugen. Mit diesem Bezug auf ein Vermögen sind wir über das abso-
lut Wirkliche zum Möglichen hinausgegangen. Es existiert also ein
(Seh)Vermögen (B) (aktualisiert durch X), und wenn dieses Vermögen
aktualisiert wird, entsteht ein Sehen (C) (und aus diesem ein Schema als
dessen Erzeugnis). Daraus ergibt sich, das Sehen ist »nicht Accidens u.
Produkt des Ich, sondern [das Sehen ist dem Ich vorgängig und] das Ich
Produkt des Sehens [und zwar] das erste, u. GrundSchema« (130,10-12).

IV. – Was macht es denn nun, daß durch den Vollzug des Vermögens (B)
ein wirkliches Sehen entsteht? – Der Grund für den Vollzug des Vermö-
gens, (das Verwirklichen jener Möglichkeit), müßte im Leben liegen als
der absoluten Realität. Und das Vermögen B würde, wenn es vollzogen
wird, zu einem wirklich gewordenen Leben (C) (im Unterschied zum ab-

3 dazu siehe 10. Vorl. 138,5: »Bisher sehen das erste…dabei kann es nicht bleiben!

gzgutgtg
8. bis 11. Vorlesung (Zweiter Teil) 81

soluten realen Leben = A). Was heißt also »wirklich«? Eine gewisse Be-
schränktheit und insofern ein Anhalten und Erlöschen des Lebens.

Eine solche Beschränktheit oder Bestimmtheit liegt schon im Vermögen


des Sehens (und nicht erst in seiner Aktualisierung). Das Vermögen zu se-
hen = gleich Form, ist eine Beschränkung des Lebens. Das in ein Vermö-
gen, d.h. in eine Form, eintretende Leben ist deshalb ein »erloschenes«
Leben. Es kann allerdings »gerettet« werden durch sein Aufsteigen aus der
Form zu sich, zu A, dem eigentlichen, realen Leben, (wie die WL zeigen
wird).
Das Vermögen des Sehens, B, ist nicht schon das Sehen selbst.
Das wirkliche Sehen ist vielmehr die Vollziehung (C) dieses Vermögens
aufgrund einer Tätigkeit aktualisiert. Was aber ist das Sehende? Es ist A,
das absolute Leben, in der Form B und als solches wirklich lebend. Also:
nicht das Leben ist wirklich geworden, (das Leben ist vielmehr absolute
Realität), sondern es ist dasjenige, was wirkt im Sehen.
Wenn wir nun unter anderem uns selbst sehen (D), so wissen wir,
daß dieses »Wir«, Resultat des Sehens ist, und wenn wir uns sehen als das
Sehende (= C), so wissen wir, daß dies eine weitere Bestimmung des
Schema, also Schema des Schema (D) selber ist. Nicht wir sehen uns, son-
dern das Leben in der Form seiner Äußerung (des Sehens) sieht sich hin
als Ich und als ein sehendes Ich (D).

Resultat

B ist ein Vermögen, (die Möglichkeit eines Wirklichen). Das aber, was in
unserem wirklichen Wissen lebt, was demselben ungesehen und schlech-
terdings unsichtbar als dessen Wurzel zu Grunde liegt, ist das Reale zu
diesem Vermögen, das Leben, welches eben durch dieses Schema ersicht-
lich gemacht werden soll. Was in der Form des Sehens tatsächlich wirkt
und ist, ist das Reale A = Leben. Dieses Reale läßt sich gar nicht erkennen
und begreifen, sondern nur leben.« Gehe hin und lebe, so wird in dir ohne
Dein Zutun das Leben auch erscheinen!«
Alle anderen Systeme bleiben in einem Schema befangen, was sie
für die »Sache« ansehen. Sie sind jedoch nur Schatten- und Schemen- Phi-
losophien. Der Materialist sieht das Sein (das Insgesamt des Seienden, die
Welt), als das eigentlich Reale an, die halben Idealisten das Sehen. Das
höchste und absolute Schema des Realen aber ist das des Lebens, über das
auch die WL nicht hinaus kann. Doch die WL. wird über dessen schemati-
sche Natur nicht getäuscht. Sie sieht die Realität nicht in irgendeiner Phi-

zttgtgtgtgzu
82 Helmut Girndt

losophie, sondern im Leben selbst wirken und so ist die Weisheit, (und
nicht die Wissenschaft), ihre Tochter, um derentwillen allein sie da ist.
Ergänzend, um Mißverständnisse zu verhüten, sei festgestellt: Das
Leben kann gar nicht anders erscheinen und sich äußern, denn als Sehen.
Könnte es anders, wäre da Willkür. Also, wenn das Leben erscheint, so
muß es erscheinen als Sehen und kann gar nicht anders erscheinen. Nun
könnte jemand sagen: »ja wenn! Aber ist es denn überhaupt notwendig,
daß es erscheint?« Nein, allerdings nicht! – Denn »notwendig« heißt, es
gibt einen nötigenden Grund = X, der das Leben treibt in dem Vermögen
und der Form B. Dann aber wäre das Leben nicht von sich, aus sich durch
sich – also nicht das Leben, sondern X, der nötigende Grund, dieser müßte
dann das rechte Leben sein: X aber ist bestimmt und als bestimmt nicht
identisch mit dem absoluten Leben. Fragt man aber, ob das Leben erschei-
ne? So läßt sich nur antworten: Siehe hin – es kann nur unmittelbarer er-
faßt werden, durch Anschauung. Mittelbar (durch Begriffe) das Leben er-
fassen zu wollen, heißt: es nicht erfassen zu wollen, sondern den Tod.

9. Vorlesung

Das Schema des Schemas (133,10-137,20)

1. In Folgenden soll der Gedanke entwickelt werden, daß C, (der Vollzug


des Sehens), nicht unmittelbar Leben ist, sondern nur als Schema des Le-
bens existiert. Und daß es sich so verhält, wird erst in einem Dritten, d.h.
in einem Begreifen oder Verstehen des Schemas als Schema (D) gegen-
über dem Leben (als dem erstem) bewußt.

2. Wir gehen davon aus, daß das Leben sich anschauen soll als Leben.
Daß aufgrund dieser Forderung ein Schema oder eine Anschauung des
Lebens erscheint, ist schon gezeigt worden. Aber in dieser Anschauung
hat sich das Leben zwar (»an sich oder für uns«) geäußert, sich aber noch
nicht („für sich«) als Leben erkannt. Das Leben äußerte sich zwar im Akt
des Schematisierens (des An– oder Hinschauen), aber im unmittelbaren
Vollzug des Sehens blieb das Sehen selbst als Äußerung des Lebens un-
sichtbar. – Was darum in der Voraussetzung – das Leben solle sich als
Leben sehen – noch nicht erschöpft ist das »Als«. Es ist noch nicht im
Spiel.

gzgutgtg
8. bis 11. Vorlesung (Zweiter Teil) 83

Wie könnte dieses Defizit behoben werden und das Leben (für
sich) sichtbar werden? Nur dadurch, daß das Schema (Bild) als Schema
erkannt und verstanden würde. Etwas als Schema oder Bild erkennen be-
deutet, es von dem, was nicht Bild ist, d.h. dem absolut Realen, zu unter-
scheiden. Die Unterscheidung von Bild und Realität und die Beziehung
beider aufeinander kann ihrerseits aber nur innerhalb eines Bildes (D)
stattfinden. Im Bilde also werden das Bild (Schema) als Bild vom Leben
als absolute Realität unterschieden und nur im Bild (D) werden beide auf-
einander bezogen. Das Wissen von der Realität ist also schematischen Na-
tur, Wissen »liefert nur Schemen und Schatten; daraus keine Realität [er-
folgt]« (136, 15-16). Aller Irrtum entstammt daher dem Umstand, daß man
dem im Wissen (im Bild oder Schema) Erkannten eigene Realität verleiht,
und so im Schema befangen bleibt, so als wäre das in ihm Abgebildete
(angeschaute) die Realität selbst.

3. Methodische Rückbesinnung zur Verdeutlichung des (neuen) Gedan-


kens (3.1) und zur Frage: Wie ist ein Schema des Schemas möglich (3.2)?

Ad 3. 1 Rückbesinnung auf das Sehen des Sehens. Das Sehen ist in sich
selbst ein Schematisieren. Und so ist das weiter bestimmte Sehen ein Se-
hen des Sehens oder ein Schema des Schemas. Damit gewinnen wir das
Sehen eines qualitativen Etwas, (D) wohingegen wir zuvor in C ein Sehen
überhaupt hatten, d.h. ein unbestimmtes Sehen. Nunmehr ist das Sehen als
Sehen von etwas ein bestimmtes Sehen.
3.1.1 In diesem bestimmten Schema des Schemas (d.h. im Be-
wußtwerden des Sehens als Äußerungsform des Lebens) (D) liegt implizit
das Schema überhaupt. Vom ihm als einem unbestimmten Sehen über-
haupt waren wir zunächst ausgegangen. Nachdem wir nun erkannt haben,
daß zum Schema das Schematisieren seiner selbst (als Schema) gehört,
bedürfen wir nun keines unbestimmten Schemas mehr, oder keines Sehens
überhaupt, wie anfänglich angenommen.
3.1.2 Denn das eigentlich Tragende in diesem Schema des Sche-
mas ist das Sehen selbst; also wenn dieses gesetzt oder aufgehoben ist, so
auch jenes: es gibt nur die Welt des Sehens. Und was ist das Sehende im
Sehen überhaupt? Es ist das Leben (A), das jetzt als ersehendes Leben (D)
im Kontrast zum ersehenen Sehen (ebenfalls D) oder als weiterer Bestim-
mung des Sehens (C ) in die Sicht gekommen ist. Dabei besteht kein Dua-
lismus zwischen Leben und Sehen. Und damit auch keine Gefahr der
Verwandlung der W.L. in einen Nihilismus, deren Sicht nichts Wirkliches
entspricht.

zttgtgtgtgzu
84 Helmut Girndt

3.1.3 Wir haben jetzt das Schema des Schema als notwendig ein-
gesehen, es gesetzt und beschrieben. Was sind denn nun wir, die Philoso-
phen oder die WL, indessen gewesen, und worin ist unser Leben aufge-
gangen? – Unser Leben bestand in einem Schema vom Schema des Sche-
mas.
Da nun in allem Sehen das Leben das Sehende ist, vermöchten wird jenes
gar nicht zu sein, wenn nicht das Leben selbst in diese Form (der WL) ein-
träte. – Wie das möglich ist, kann allerdings erst dann erklärt werden,
wenn die WL sich selbst erklärt, d.h. ihr eigenes Schema schematisiert.
Hier sind wir die WL selber und unser freies Leben in ihr aufgegangen.

Ad 3.2 Wie ist ein solches Schema des Schemas möglich? Diese Frage ist
doppelsinnig.
Entweder
3.2.1 sie enthält die Frage: Ist es überhaupt möglich? Und darauf
erhalten wir die Antwort: unter der Voraussetzung, daß es ein Schema
gibt, muß ein solches Schema des Schemas sein; es ist darum notwendi-
gerweise wirklich und möglich zugleich; oder
3.2.2 die Frage, wie ist ein solches Schema des Schemas möglich,
enthält die weitere: wie, auf welche Weise, ist es möglich?

Das Schema entspringt dem Sehen. Sehen ist das Vollziehen des absoluten
Vermögens zu sehen, in dem das absoluten Leben sich äußert, und sowie
es zu diesem Vollzug kommt, ist das Sehen da. In der Unmittelbarkeit des
Anschauens bleibt dieser Prozeß allerdings unsichtbar und so das Sehen
sich selbst. Damit nun das Schema als bloßes Schema sichtbar werden
könne, müßte dieses Sehen seinerseits gesehen und in seinem Vollzug er-
griffen werden. Das könnte nur durch eine besondere Tätigkeit geschehen.
Allerdings durch keine reale, sondern durch eine ideale, durch die Tätig-
keit des Denkens (oder gedanklichen Reflektierens).
Um die Bedeutung dieser Überlegung ganz zu verstehen, bedarf
es einer Bemerkung!
Gibt es Mannigfaltigkeit im Wissen und in derselben Einheit, so
muß es eine feste Beziehung der Bilder zueinander geben und damit auch
eine Beziehung der Bilder von Bildern, oder Vorstellungen von Vorstel-
lungen. Z.B. die äußere wirkliche Welt ist nur Schema, Bild der inneren
sittlichen Welt und Mittel ihrer Gestaltung. Diese sittliche Welt wiederum
ist nur Schema des inneren und unmittelbar ewig unsichtbar bleibenden
Wesens des einen Lichts und dessen Lebensquelle, der Gottheit. Weiterhin

gzgutgtg
8. bis 11. Vorlesung (Zweiter Teil) 85

wird sich zeigen, daß das Schema des Schemas fünffacher Natur ist in ei-
ner Rücksicht und unendlich in einer anderen. Beides, Fünffachheit als
Unendlichkeit, sollen dabei in einem Gedanken vereint begriffen werden.
Mit der Einsicht in diesen Zusammenhang gewinnen Sie die ganze WL in
einem Blick.

10./11. Vorlesung

Das Verhältnis von Leben und Sehen (138-144)

Von jetzt an konzentrieren wir uns darauf, daß es das Leben ist, das sich
im Sehen äußert.
Denn bisher war es das Sehen (Wissen), von dem wir ausgingen
und Sehen an sich bestand im Erzeugen bloßer Schemen. Wir wollen aber
über bloße Schemen hinaus zur Realität.
Im Blick auf die leitende Voraussetzung, daß das eigentlich Se-
hende im Sehen das Leben ist, stellt sich die Frage der folgenden Untersu-
chung: Kann das Leben in seinem unmittelbaren Prinzipsein des Sehens
selbst gesehen werden, sich auf der Tat ergreifen? – Die Antwort kann nur
negativ sein, denn im Bereich des Wissens bleibt es bei bloßen Schemen.
Ist das Leben das Sehende oder Prinzip des Sehens, so geht sein Prin-
zipsein im Sehen auf und ist darin verloren. Das Leben als unmittelbares
Prinzip des Sehens ist schlechthin unsichtbar.
So ist dem Sehen eine Grenze gesetzt, die es nicht überwinden
kann. Für uns kommt es deshalb darauf an, das Sehen in seinem Wesen zu
durchzudringen und uns so über die Welt daseiender Schemata zur wahren
Welt zu erheben. Darin, in der Einsicht in das Wesen des Sehens oder
Wissens, besteht das Geschäft der WL. Die jetzige Reflexion über die
Grenzen des Wissens ist daher eine auch Reflexion der Wissenschaftslehre
über sich selbst, ein sich selbst Verstehen derselben. Dabei handelt es sich
allerdings um einen methodischen Vorgriff. Denn an dieser Stelle sind und
leben wir noch die WL, und sollen noch nicht über sie hinaus zu einer Me-
tareflexion

Wir erinnern noch einmal an den Ausgangssatz:

»Setzet, das Leben solle als unsichtbares Prinzip des Sehens, erse-
hen, oder sichtbar gemacht werden!«

zttgtgtgtgzu
86 Helmut Girndt

Wie ist das möglich (139)? – Die methodische Forderung enthält eine
These, die ihre Erfüllung auszuschließen scheint. Einerseits heißt es, das
Leben ist unsichtbar, andererseits, das Leben solle sichtbar gemacht wer-
den. Genauer lautet die Forderung jedoch, daß das Leben als unsichtbares
Prinzip des Sehens sichtbar gemacht werden solle. Damit ist ausgeschlos-
sen, daß das Leben in der Form der Unmittelbarkeit des Sehens, in der
Anschauung, sichtbar gemacht werden solle. Es kann gar nicht im Sehen
überhaupt, d.h. in der Unmittelbarkeit des Anschauens, sichtbar gemacht
werden, denn es soll sichtbar werden »als« etwas. Etwas als etwas sichtbar
zu machen ist eine Forderung an das Denken. Denn nur das Denken kann
etwas als etwas zu sehen geben. Zudem lautet die methodische Forderung
nicht, das Leben schlechthin solle sichtbar gemacht werden, sondern das
Leben als etwas Unsichtbares und als Prinzip solle sichtbar werden. Un-
sichtbarkeit wie Prinzipsein sind aber keine Angelegenheit unmittelbaren
Ersehens, sondern vermittelndes Denkens. Zur Unmittelbarkeit des An-
schauens bleibt nur die Alternative der Mittelbarkeit des Denken: das Le-
ben soll also, statt unmittelbar, in der Form der Mittelbarkeit des Denkens
sichtbar gemacht werden.

Aus diesem Ergebnis folgen sechs weitere Thesen (140-144)


1. Alles wirkliche Sehen (Schematisieren) ist Ausdruck eines
Verhältnisses. Das Sehen erzeugt aus sich selbst ein Verhältnis und es ist
das Verhältnis selber. Das heiβt, das Sehen, (das wir an dieser Stelle als
Denken verstehen dürfen), ist ein mittelbares Erfassen, ein Durch, weil
dasjenige, was allein ersehen werden kann, in allem Ersehen nur mittelbar,
keineswegs unmittelbar gesehen werden kann. Im Sehen verwandelt sich
das Leben, das keiner Begründung bedarf, in ein Begründen seiner selbst
als Sehen und zwar deshalb, weil es im Wissen seinen eigenen immanen-
ten Grund als für das Wissen im Dunkeln liegend verloren hat (S.140).
2. Das absolute Verhältnis, und so der Inhalt des Ersehens, (das
Ersehene), ist das Verhältnis des Lebens zum Sehen. Das sich als Sehen
äußernde Leben setzt sich also in ein Verhältnis zu sich selber, dadurch
daß es Sehen wird, und zwar in die beiden allein möglichen Grund-
modifikationen: als Leben schlechtweg und als sehendes Leben. Auf diese
Weise erhalten wir die zwei Modifikationen des Einen allein wahrhaft
Seienden. Alle anderen Arten der Verhältnisse sind nur weitere Modifika-
tionen des Sehens, und damit mittelbar wiederum Modifikationen des Le-
bens.

gzgutgtg
8. bis 11. Vorlesung (Zweiter Teil) 87

3. Weil das Sehen nur ein Verhältnis ausdrücken kann, wird es


notwendigerweise ein bloßes Schematisieren. Aus dem Durch folgt das
Als und nicht umgekehrt.
4. Das Leben ist in C, dem wirklichen Sehen, gleichsam außer
sich selbst, d.h. außer seinem Zustande als bloßes Leben (vivere), und
kehrt, indem es sich (in D) als Prinzip des Sehens erfaßt, wieder zu sich
zurück; allerdings nicht wahrhaft, unter welcher Voraussetzung das Sehen
wegfiele, sondern in der bleibenden Form der Entäußerung, d.h. der Mit-
telbarkeit und der Schematizität.
5. Erst in C, im tatsächlichen Sehen des Lebens, also dann, wenn
es zur Erscheinung kommt, im Bilde, wird dieses Leben zum Prinzip, da-
gegen es in sich, in A, als absolute Realität, nicht einmal Prinzip ist, son-
dern nur so ausgesagt und gesetzt wird. Indem es aber in C als Prinzip ge-
sehen wird, tritt es unmittelbar zurück ins dunkle, völlig verwandelt in
(bloße) Anschauung. Und in der Unmittelbarkeit dieser Anschauung er-
scheint es als selbstständig, in sich vollendet, absolut und real. Da das Le-
ben als Absolutes auf diese Weise im Hintergrund unmittelbaren An-
schauens bleibt, kann es allerdings auch als Absolutes thematisiert und
dadurch wieder sichtbar gemacht werden. Allerdings ist es nur die WL,
die bis zum Leben überhaupt vordringt.
6. Das Leben in seiner Form des Sehens sucht sich zu begründen.
Muß es sich begründen? – Ja, wenn es sich einmal sieht, so muß es sich
begründen – denn das Sehen könnte ja auch nicht sein. Es ist diese Kon-
tingenz des Sehens, die es nötigt, einen Grund zu suchen. Und der kann
nur in dem liegen, was nicht nicht sein kann, im Leben.
Im Sehen selbst liegt die Maxime des Erklärens; dabei handelt es
sich gleichsam um ein immanentes Durch, zufolge dessen das wirkliche
Durch, (d.h. das wirkliche Begründen und Erklären) erfolgt, während das
Leben selbst in seiner Selbstidentität davon nicht berührt wird. »Zwischen
diesen seinen zwei möglichen Modifikationen schwebte nun das Sehen
und drückt so eben aus das einzig mögliche Verhältnis des Lebens zu sich
selber«. (144,15-17)
144.18: Wir sind mit der Darlegung der sechs Punkte zwar weiter ge-
kommen, aber noch nicht in die ganze Tiefe gelangt. »Identität in der
Zweiheit ist die Grundform des Sehen, oder des Lebens, inwiefern es Se-
hen wird.« (144,23). Aus dieser Grundform des Lebens, sofern des Sehen
wird, entstammt das Erklären, aus ihm das Durch, aus ihm die Mittelbar-
keit, aus ihm die Scheidung.

zttgtgtgtgzu
88 Helmut Girndt

So ergibt sich die Aufgabe, das Leben im Sehen aufzusuchen, als


das Eine und Dauernde im Wandel der Gestalten des Sehen, denn hier ha-
ben wir das Leben in der Gestalt des im Sehen bleibenden Leben.

Wie bleibt das Leben im Sehen? Es bleibt als das, was schlechtweg und
ohne Sichbestimmung in jedem Sehensakt einfach ist. Denn das Leben,
das da sieht, das Prinzip, bleibt ewig unsichtbar. Alles Sichtbare ist Wei-
terbestimmtes, jedes etwas ist durch seinen Gegensatz aufgrund der Mit-
telbarkeit des Setzens, bestimmt, also Schema und nur Schema. Nur sche-
matisch kann das Leben sich als Gesehenes im Sehen fassen: Dabei ver-
wandelt sich das Leben zunächst in ein sich selbst Schematisieren, und zu-
folge dessen in ein Schema.
Sein im ursprünglichen und unbedingten Sinne des Wortes ist Le-
ben (vivere). Mit dem Ausdruck »ist« oder »Sein« verbinden wir aller-
dings zumeist eine stehende und feste Gestalt (vita). Der Grund dieser Fi-
xierung des Lebendigen ist das Schematisieren oder Hin- oder An-
schauens. In ihm tritt das Leben in die Form des Bedingtseins ein, wird
festgestellt und ist damit erloschen. Hingegen bleibt das Leben, das da
sieht, das Prinzip, seinerseits unsichtbar.
In dieser Verdeckung lebendiger Realität durch das Gesehene
liegt ein gewisser Grund der Erlesenheit des Lebens: es ist präsent in der
Anschauung, aber unsichtbar: und das was unmittelbar anschaubar er-
scheint, ist nur seine Hülle, mit deren Durchdringung die Realität erst
sichtbar wird, allerdings vielleicht wieder nur in Form einer anderen Hül-
le.
Das Leben als absolutes Insichsein bedarf keines Begründens.
Doch das Leben in seiner einzig möglichen Modifikation, die notwendig
ein Sehen ist, muß sich begründen, denn im Sehen hat es sich verloren.
Darin liegt ein doppelter Sinn: Teils, daß es das Leben selbst sei, das da
begründe; i. e. das begründende Leben; teils, daß dasselbe Leben auch
dasjenige sei, das da begründet werde. i. e. das begründete Leben.
In welcher seiner beiden möglichen Gestalten ist das Leben 1. das
Begründete und in welcher 2. das Begründende?
1. Offenbar nicht in der Gestalt des Lebens schlechtweg, denn in
dieser ruht es in sich selbst, sondern in der Gestalt des Sehens ist das Le-
ben das Begründete. In dieser Rücksicht ist es ja auch das Zufällige, wel-
ches auch nicht sein könnte, wodurch ganz allein die Begründung notwen-
dig wird.

gzgutgtg
8. bis 11. Vorlesung (Zweiter Teil) 89

2. In welcher Form, in welchem Medium begründet es sich nun


neu? Antwort: im Sehen! Also das Begründende und begründet Werdende
müßte eintreten in die Form des Sehens. D.h.: Das Sehen selbst müßte ge-
sehen und als Sehen gesehen werden, damit es zu einer Begründung
kommen kann. In der Grundform des (unbedingten) »Ist« hingegen bleibt
das Leben ohne jede Selbstbestimmung. Ein weiter bestimmtes »Ist« kann
nur im Schema gefaßt werden. In der feststehenden Anschauung ist das
Leben aber erloschen. (In der Anschauung liegt also eine Verdeckung der
Realität, eine »Seinsverborgenheit« in der Terminologie Heideggers; oder:
in der Sichtbarkeit des Seienden verbirgt sich das Seins des Seienden).

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Reinhard Look

146,1-151,32
12. und 13. Vorlesung

12./13. Vorlesung

Das Sichtbarmachen des Lebens als schöpferische Praxis (146,1-151,32)

I. Meinem Beitrag möchte ich durch drei Thesen einen etwas allgemeine-
ren Rahmen geben. 1. Fichte begreift das Wissen, das Ich oder die auto-
nome Subjektivität nicht als eine »Säkularisierung«, sondern als eine Ma-
nifestation Gottes. 2. Er kennzeichnet die Reflexion, das Innere der Sub-
jektivität, nicht als ein auf sich selbst zurückgewendetes Vorstellen eines
individuellen Subjekts, sondern als eine Zurückwendung auf ihren Grund
in Gott als Absolutes. Sich-Manifestieren und Sich-Zurückwenden sind
dabei als immanentes Geschehen zu denken. 3. Mutatis mutandis und mit
aller Vorsicht gesagt, gilt diese – in einem ›theologischen‹ Sinn – geistige
Bestimmung von Subjektivität und Reflexion nicht nur für Fichte, sondern
für die Mehrheit der neuzeitlichen Philosophien insgesamt.

II. Im Mittelpunkt der folgenden Textpassage steht das Sehen des Sehens
oder das reflektierte Sehen. Diese Thematik schließt sich folgendermaßen
an den bisherigen Gedankengang an: Die Realität des Sehens oder Wis-
sens, so lautet die prinzipielle Einsicht Fichtes, beruht im absoluten Leben,
und umgekehrt erweist sich das Wissen als diejenige Form, in der das Le-
ben sich erscheint. Aufgabe der WL ist es im Grunde allein, dieses Grund-
verhältnis der Manifestation des absoluten Lebens im Wissen auf seine
notwendigen Bestimmungen hin zu durchdenken.

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92 Reinhard Look

Soll also das an sich unsichtbare Leben als Prinzip des Sehens ge-
dacht werden, dann müßte es »Princip eines solchen Sehens [sein], in wel-
chem es selber, als unmittelbar unsichtbares Princip des Sehens überhaupt,
ersehen würde.« (139,16-18) Das Sehen als solches unterliegt, weil es aus
der Freiheit des Lebens entspringt, der Zufälligkeit und daher der Not-
wendigkeit, sich allererst zu begründen. Um sich begründen zu können,
müßte das Sehen »gesehen, und als Sehen gesehen werden« (145,28).
Fichtes Grundgedanke des absoluten Verhältnisses von Leben und Sehen
zieht sich also in folgende Einsicht zusammen: Das Leben manifestiert
sich nur dann im Sehen, wenn das Sehen nicht allein weltschöpferische
Tätigkeit ist, sondern sich in dieser Tätigkeit reflektiert. Denn nur durch
diese Reflexivität ist es der Realität seines Grundes, (resp. seines schema-
tisierenden Charakters) eingedenk, und nur so wird im Sehen zugleich das
unsichtbare Prinzip des Sehens gesehen. Unableitbar ist, daß das Leben
sich manifestiert. Wenn es sich aber manifestiert, dann notwendig im Se-
hen oder Wissen. Denn allein die Reflexivität des Wissens ermöglicht, daß
das Leben in seiner Manifestation sich nicht von sich selbst trennt, son-
dern sich auf sich bezieht. Jede andere denkbare Äußerungsform des Le-
bens wäre keine Manifestation; denn zur Manifestation wird die Äußerung
nur, wenn sie sich als Manifestation erkennt.

III. Was heißt nun, fragt unsere Textpassage: das Sehen selbst wird gese-
hen? Fichtes Antwort lautet: das Sehen oder das Schema und das Sehen
des Sehens oder das Schema des Schemas sind vollkommen unabtrennbar
von einander, sie vollziehen sich »durchaus in einem Schlage« (146,11-
12). Die Begründung dieser Hauptthese unseres Abschnitts läßt sich wie
folgt rekonstruieren: 1. Wenn das absolute Leben sich bestimmt, d.h. er-
scheint, dann wird es notwendig ein Sehen. 2. Wenn es ein Sehen wird,
dann muß sich dieses Sehen um seiner Realität willen begründen. Fichte
hebt hervor, daß dieser Grund nicht als ein An-sich aufgefaßt werden
kann. Soll er das Prinzip des Wissens darstellen, dann muß er auch für das
Wissen sein. Der Grund liegt »im Wißen selber: = das Wißen begründet
sich: es ist in seinem Wesen ein sichbegründen.« (151,5-6) 3. Wenn das
Wissen sich begründet, dann muß es sich selbst wissen oder das Sehen
sich selbst sehen. Sehen und Sehen des Sehens verweisen also wechselsei-
tig aufeinander und sind voneinander unabtrennbar, und so kann das Le-
ben »sich selbst keinen Augenblick verlieren« (146,9). Die Manifestation
des Lebens im Sehen kann nur gedacht werden, wenn das Sehen sich
schlechthin reflektiert und sich dadurch im Leben begründet. Fichte sagt:

gzgutgtg
12./13. Vorlesung (Zweiter Teil) 93

»beides, oder vielmehr die lebendige Quelle dieser beiden, ist die Be-
stimmung, in welche das Leben, zum Sehen werdend, nothwendig eintritt«
(146,12-13). Manifestiert sich also das Leben im Sehen, dann vollzieht
sich dies im untrennbaren Zugleich des Sehens (von etwas) und dem Sich-
sehen dieses Sehens. Diese Einheit von und Gegenstands- und Selbst-
beziehung macht den konkreten Begriff von Vernunft aus.
In die traditionelle philosophische Sprache rückübersetzt, bedeu-
tet dies: Denken und Anschauung (Selbstbewuβtsein und unmittelbares
Bewuβtsein) sind voneinander untrennbar. Die lebendig-produktive An-
schauung macht sichtbar, sie konstituiert das Gesehene. Das Denken da-
gegen bringt das Mannigfaltige der Anschauung zur Einheit, es macht, daß
sich die Anschauung nicht im Angeschauten (in der Erscheinung) verliert.
Erst diese »Identität in der Zweiheit« (144,23) macht das Sehen zum Se-
hen. Dagegen wären weder das Denken noch die Anschauung für sich le-
bendig; die Anschauung nicht, weil sie die Erscheinung, in die sie sich
verliert, für das Reale halten müßte; das Denken oder die bloße Reflexion
nicht, weil sie keinen Gegenstand hätte und unschöpferisch in sich selbst
kreiste. Fichte deutet an, daß diese jetzt entwickelte produktiv-reflexive
Einheit, die »Identität des sehenden Sehens, u. des gesehenen Sehens«
(147,13), implizit die Grundform des Ich, »noch ohne expressum ego«
(147,14), darstellt.

IV. Das schöpferische Prinzip des Fichteschen Denkens erfordert metho-


disch, keine Bestimmung als gegebene Faktizität zuzulassen, sondern alle
Bestimmungen aus einem absoluten Einheitspunkt genetisch zu entwik-
keln. In der anschließenden Wiederholung geht es deshalb darum, an die
Grundkonzeption der WL 1807 zu erinnern und sie von ihrem Einheits-
punkt her erneut zu entwickeln.
1. Einem allgemeinen Konsens zufolge, dem sich auch Fichte an-
schließt, ist das Wissen nicht absolut selbstständig, sondern eines Grundes
bedürftig.
2. Was Fichte jedoch bestreitet, ist, daß dieser Grund als Sein
(»Ding an sich«) zu denken ist. Wissen von etwas ist notwendig ein sich
wissendes Wissen; ohne dieses Sichwissen käme die für das Wissen kon-
stitutive Unterscheidung des Wissens vom Gegenstand nicht zustande.
Dieses Sichwissen kann allein durch eine reine selbstbezügliche Sponta-
neität zustande kommen. Weil alles gegenständliche Wissen durch die
Spontaneität des Selbstbewußtsein, (die transzendentale Apperzeption bei
Kant), begründet wird, schließt Fichte aus, daß ein vorausgesetztes Sein
jemals ins Wissen aufgenommen werden könnte. Vielmehr muß es umge-

zttgtgtgtgzu
94 Reinhard Look

kehrt heißen: »das Seyn kann nur seyn im Wissen, Produkt desselben, es
versteht sich wenn ein Wissen ist.« (148,24-25).
3. Den Grund des Wissens denkt Fichte als Leben. Entscheidend
ist nun aber, nicht ein Wort, das Sein, durch ein anderes, das Leben, zu
ersetzen, sondern einen Unterschied im Denken zu machen. Der besteht
hier vor allem darin, das Leben nicht wiederum zu vergegenständlichen,
sondern seinem substratlos-schöpferischen Charakter zu entsprechen. Das
Leben oder das Reale im Wissen, sagt Fichte, kann nur gelebt werden, und
damit sind keine diffusen Erlebnisse gemeint, sondern eine schöpferische
Praxis, »zwar auch mit Schematismus vermischt, aber doch ist da ein
Kern« (149,9-10). Sie besteht in einer reinen und selbstzweckhaften
Selbstbestimmung des Handelns, der gemäß die Welt zu formieren ist.
»Das Handeln, und zwar rein, ursprünglich und schöpferisch, nicht zufol-
ge irgend eines Seyns, sondern schlechthin um sein selbst Willen, und
nach sich bestimmend alles Seyn, ist das einzig wahre Reale.« (149,7-9).
Fichte stellt nun (cf. 149) heraus, daß dieses in den Grundzügen
skizzierte Wesen der WL nicht in einer anderen Philosophie, sondern nur
im Johannes-Evangelium eine Entsprechung findet. Diese Andeutung läßt
sich am besten durch die VI. Vorlesung der Anweisung zum seligen Leben
entschlüsseln, und zwar durch Fichtes Auslegung der ersten fünf Verse.
Diese enthalten seiner Auffassung zufolge das absolut Wahre und ewig
Gültige des Johannes-Evangeliums, im Unterschied zu dem, was nur auf
dem historischen Standpunkt Jesu und seiner Apostel notwendig war.
Die Verse 1, 1-3 lauten: »Im Anfang war das Wort, und das Wort
war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbige war im Anfang bei Gott.
Alle Dinge sind durch dasselbige gemacht, und ohne dasselbige ist nichts
gemacht, was gemacht ist.«
Fichte sieht in diesen Versen eine Absage an den Grundirrtum al-
ler falschen Metaphysik und Religionslehre, nämlich an den Schöpfungs-
gedanken. Positiv gewendet, erkennt er in der von Johannes ausgespro-
chenen anfänglichen Identität von Wort und Gott seine eigene Lehre vom
Dasein des absoluten Seins wieder: »Nachdem, ausser Gottes innerem und
in sich verborgenem Seyn, das wir zu denken vermögen, es auch noch
überdies da ist, was wir bloß factisch erfassen können, so ist es nothwen-
dig durch sein inneres und absolutes Wesen da: und sein, nur durch uns
von seinem Seyn unterschiedenes Daseyn, ist an sich und in ihm davon
nicht unterschieden, sondern dieses Daseyn ist ursprünglich, vor aller Zeit
und ohne alle Zeit, bei dem Seyn, unabtrennbar von dem Seyn, und selber
das Seyn« (SW 5, 480, GA I, 9, 119).

gzgutgtg
12./13. Vorlesung (Zweiter Teil) 95

Weiter hebt er heraus, daß Johannes das Dasein eben als Logos,
d.h. als Wort, Vernunft oder Weisheit auffaßt. Das Dasein ist als nicht
bloß eine Äußerung Gottes, sondern seine sich selbst durchsichtige Mani-
festation. Insofern kommt der johanneische Logos mit der Auffassung
Fichtes überein, daß »das unmittelbare Daseyn Gottes nothwendig Be-
wußtseyn, theils seiner selbst, theils Gottes sey« (SW 5, 481, GA I, 9,
119). Schließlich faßt Fichte das Gemachtsein aller Dinge durch den Lo-
gos im Sinne seines produktiv-schöpferischen Wissensbegriffs auf. Mit
dem Wissen und seiner Ichform gleichbedeutend sei, »dass die Welt und
alle Dinge lediglich im Begriffe, in Johannes Worten, und als begriffene,
und bewusste, – als Gottes Sich-Aussprechen seiner selbst, – da sind; und
dass der Begriff, oder das Wort, ganz allein der Schöpfer der Welt über-
haupt [...] sey.« (SW 5, 481, GA I, 9, 119)
Was also 1. das Dasein als Manifestation des absoluten Seins be-
trifft, 2. die Bestimmung des Daseins als Wissen und 3. die Bestimmung
des Wissens als reine Produktivität, sieht Fichte in den ersten drei Versen
des Johannes-Evangeliums gewissermaßen eine faktische Darstellung des-
sen, was die WL genetisch deduziert.
Die Verse 4-5 lauten: »In ihm [dem Wort] war das Leben, und das
Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheinet in der Finster-
nis, und die Finsternis hat's nicht begriffen.«
Das Leben, das im Wort ist, versteht Fichte als den Grund alles
lebendigen Daseins, der aber als Grund unmittelbar verborgen ist. Der
verborgene Grund wird erst im Menschen zum Licht, und zwar durch sei-
ne vernünftige Reflexivität. »In ihm, diesem unmittelbaren göttlichen Da-
seyn, war das Leben, der tiefste Grund alles lebendigen, substanziellen,
ewig aber dem Blicke verborgen bleibenden, Daseyns; und dieses Leben
ward im wirklichen Menschen Licht, bewusste Reflexion« (SW 5, 481,
GA I, 9, 119). Insofern aber die Finsternis dieses in sie scheinende Licht
nicht begriffen hat, kann mit dem Licht nicht das natürliche Reflektieren
als solches gemeint sein. Mit dem johanneischen Licht kommt nur die Re-
flexion überein, die sich als Manifestation Gottes versteht, mit Fichte ge-
sagt: die schöpferische Reflexion, die aus ihrem absoluten Einheitspunkt
die Grundbestimmungen des Wissens und der gewußten Welt ableitet.
In der Entfaltung der Grundbestimmungen des Wissens sieht
Fichte freilich, wie aus der Anspielung auf Johannes in der WL 1807
ebenfalls hervorgeht, einen Unterschied. Johannes habe die Wissensform
nur im Allgemeinen dargestellt, der forschende Verstand dagegen gehe
ebenso ins Besondere – womit Fichte vorausweist auf die spätere Darstel-
lung der Fünffachheit und Unendlichkeit des Wissens.

zttgtgtgtgzu
96 Reinhard Look

V. An unserer Stelle skizziert er die Bestimmtheit des Wissens nur durch


drei Aspekte, die freilich interessant sind, weil sie zumindest implizit die
Möglichkeit der WL selbst beleuchten.
1. Warum manifestiert das Leben sich nicht nur im Wissen, son-
dern »als ein so und so gestaltetes Wißen« (150,1), d.h. nach notwendigen
Gesetzen? Weil sich das Leben, das von sich und aus sich ist, im Wissen
gestaltet, liegt der Grundzug des Wissens in seinem schöpferischen Cha-
rakter; es erzeugt seine Gegenstände. Das Wissen hat aber nur dann Reali-
tät, wenn diese Erzeugung sich nach notwendigen Gesetzen vollzieht; oh-
ne solche Gesetze könnte es sich so oder auch anders vollziehen; aber
dann realisierte sich in ihm nicht das von und aus sich seiende Leben, son-
dern ein Leben, das einer äußeren Bestimmung bedürfte.
2. Warum sollten diese Gesetze erkennbar sein? Weil sie eben
Gesetze des Wissens sind, weil dieses ein wirkliches Wissen nur dann ist,
wenn es sich selbst weiß. Nur in dieser reflexiven Bestimmung des Wis-
sens kann das Manifestationsverhältnis gedacht werden. Daher legt sich
nahe, daß die WL, die ja gerade diese Wissensgesetze aufstellt, der emi-
nente Modus der Manifestation ist.
3. Warum äußert sich das absolute Leben im Wissen? Weil nur
die reflexive Struktur des Wissens ermöglicht, daß das Leben sich in sei-
ner Manifestation selbst anschaut, sich also in seiner Äußerung nicht ver-
liert, sondern auf sich bezieht.

gzgutgtg
Hans Georg von Manz

152,1-156,22
14. und 15. Vorlesung

14. Vorlesung

Anschauen und Denken und die Fünffachheit als grundlegende Struktur


des Wissens (152,1-155)

Nach der 13. Vorlesungsstunde, die eine Zusammenfassung des Bisheri-


gen darstellte, führt die 14. den Argumentationsgang fort. Fichte trägt in
dieser Vorlesung die Argumente thesenartig vor, teilweise als Satz, der
erst später seinen Beweis findet, teilweise als Programm, das es (erst spä-
ter) auszuführen gilt.
Thematisch geht es um eine Deduktion des Verhältnisses von An-
schauung und Denken aus dem Sehen. Fichte geht hier in sieben Schritten
vor: Ausgangspunkt ist der Satz: »Das Sehen ist nothwendig ein sich be-
gründen« (152,5) (1.); von dort führt das Argument zur »Anschauung«
(Punkt 2. und 3.), um dann das Verhältnis von »Anschauung« und »Den-
ken« zu erläutern (Punkte 4. bis 7.).

Im einzelnen:
1. »Das Sehen ist nothwendig ein sich begründen« (152,5). Dieser
Satz ist bereits in der 11. Stunde begründet worden (Resultat: 143,35; vgl.
a. 145,13: »Das Leben, in seiner einzig möglichen Modifikation, die
nothwendig ein Sehen ist, muß sich begründen«). Hier ist der Satz der
Ausgangspunkt für die folgenden Deduktionspunkte.

ddddd
98 Hans Georg von Manz

2. Eine erste Voraussetzung für das »sich begründen« des Sehens


ist, daß es sich selbst sieht: »Um dieses seyn zu können, muß es sich se-
hen, u. zwar als sehen« (152,6). Die Betonung liegt hier auf dem »als«,
d. h. das Sehen muß sich vorfinden als ein bestimmtes; erst in der Be-
stimmtheit zeigt es sich als eines, das einer Begründung bedürftig ist.
3. Zweite, entscheidende Bedingung für das Begründen des Se-
hens ist das Sich-Sehen, die Reflexivität des Sehens. »Also unmittelbar
wie sehen ist, ist sich sehen, als Sehen, Sehen des Sehens. Das Sehen
bringt sich selbst mit« (152, 21f.). (Fichte macht dies deutlich mit der
Formel »a – b«, womit er die unmittelbare Einheit von Sehen (a) und Ge-
sehenem (b) verdeutlichen will.) Dieses unmittelbare Sich-selbst-
Mitbringen des Sehens ist die unmittelbare Anschauung (durch die freie
Selbstbestimmung des Lebens – das zum Sehen wird); die Anschauung
»liefert ein unmittelbar sichtbares« (152,29). Im Gegensatz dazu steht das
Denken, das etwas sichtbar macht, was in der Anschauung unsichtbar ge-
blieben ist.
Insofern ist die Anschauung (faktische) Bedingung der Möglich-
keit für das Denken. Die Anschauung ist eher, nicht im zeitlichen Sinn,
sondern dem Rang nach.
4. Wenn die Anschauung gegeben ist, ist zugleich auch die Mög-
lichkeit des Begründens gegeben.
Fichte führt zur Verdeutlichung der Einheit von Anschauung und
Denken folgendes Schema an:
A–B
×
a – b1

5. »Das Denken ist ein neues Schaffen« (153,28): Die Anschau-


ung ist gegeben (liefert das Gegebene, Faktische), genauer: die Anschau-
ung (das Leben) gibt sich. Das Denken geht über die Faktizität hinaus
durch sein Begründen, d. h. Aufsuchen eines Grundes, der jenseits der

1 Fichte verweist an dieser Stelle ganz allgemein auf das »Grundgesetz« der Penta-
tomie, eine Struktur, die in verschiedenen Ausprägungen immer wieder in seinem System auf-
taucht. Kant, so Fichte, habe drei Kritiken geschrieben, denen drei Welten entsprechen. (Oder
meint Fichte hier doch nur zwei? Oder ist als dritte nicht die »Kritik der Urteilskraft« gemeint,
sondern die »Religion innerhalb der bloßen Vernunft«?) Die »Kritik der reinen Vernunft« ent-
spricht dem Bereich der theoretischen Erkenntnis, der gegenständlichen Welt, die »Kritik der
praktischen Vernunft« dem Bereich der sittlichen Prinzipien. Nach Fichte fehlen (bei Kant), um
auf die Gesamtzahl von fünf Bereichen zu kommen, drei: die reale sittliche Welt (die Welt des
Triebes, des Gefühls als der Bereich, der den Übergang von der sittlichen Idee, den sittlichen
Prinzipien, zur realen Welt darstellt), die religiöse und die wissenschaftliche.

gzgutgtg
14. und 15. Vorlesung (Zweiter Teil) 99

Faktizität liegt; dadurch bringt es ein Neues ins Spiel. Das Überführen des
Angeschauten durch das Denken ins Wissen (also Begreifen) ist ein neuer,
schöpferischer Akt.
6. Der Übergang von a zu b (gekennzeichnet durch »–«) ist die
Anschauung (vielleicht besser zu sagen: das Anschauen), a und b sind die
Anschauung und ihre Produkte (Anschauendes und Angeschautes). a – b
(Anschauung und ihrer Produkte) sind die Bedingung von A – B, wobei
der Übergang von A zu B das Denken darstellt, A und B seine Produkte
(Begreifendes und Begriffenes).
Fichte nennt die synthetische Einheit der Anschauung fünffach.
Wie ist dies zu verstehen? Anschauung (1) und ihre Produkte a – b, (2),
Denken (3) und seine Produkte A – B (4), dazu die (Selbst)Sichtbarkeit
des Denkens (5).
(Vgl. 153, 16–19). (Oder sind die Pole a, b, A, B, und deren Einheit ge-
meint?)

15. Vorlesung

Die synthetische Einheit des Ich (155-156,22)

Thema der 15. Stunde ist zum einen die Deduktion des Denkens als freies
schöpferisches Prinzip aus dem Leben. Anknüpfungspunkt ist die Aussage
aus der 14. Stunde: das Denken bzw. Begreifen ist ein neues Schaffen.
(»Das Denken ist ein neues Schaffen« [153,28]). Zum anderen geht es um
die Einheit von Anschauung und Denken, eine synthetische Einheit, die
wesentlicher Charakter der Ich-struktur ist. Das Ich wird abgeleitet als
»Urschema des Lebens«.
1. Diese »zweite neue Schöpfung« ist Begründen; dieses ist nur
möglich durch »Schöpfung aus Nichts« (155,25), es ist ein Schaffen, ein
schöpferischer Akt, der nur aus Freiheit erfolgen kann. Deshalb ist hier
Freiheit als notwendig anzusetzen; zugleich ist sie bedingt, nämlich da-
durch, daß sich das Leben zum Sehen bestimmt hat – was nicht notwendig
ist.
2. Fichte behauptet nun, daß dieses schöpferische Leben nicht nur
seinem Ergebnis nach zur Anschauung kommt, sondern daß das Prinzip
des schöpferischen Lebens eingesehen werden müsse. Der Grund dafür
liegt darin, daß, wenn einmal das Leben sich zum Sehen bestimmt hat,
diese weitere Bestimmung (das Begründen in Freiheit) notwendig mitge-
geben ist.

zttgtgtgtgzu
100 Hans Georg von Manz

Resultat dieser Überlegung ist: »die lebendige Selbstbestimung


[des Lebens zum Sehen] bringt hervor zweierlei Schemata: dasjenige, was
sie hervorbringt das Sehen als Anschauung]; und das Schema des her-
vorbringenden selbst [das schöpferische Prinzip des Begründens – das
Denken]; beide [sind nämlich] unabtrennbar von einander: [sie sind]
schlechthin [in] ein[em] Schlag« (156,9–11).
Diese Einheit dieser beiden Schemata ist in der Ich-Struktur zu-
sammengefaßt: Identität von (Sich-)Anschauendem und Denkendem ist
das Ich. (Das Ich schaut sich an als Denkendes – transzendentale Apper-
zeption!). Das erste Schema (wodurch die Anschauung hervorgebracht
wird) ist das objektive, das zweite (das des Prinzip des Denkens) ist das
subjektive (156,17); das »nothwendige Band beider« (156,18) Schemata
sind gegeben in der »synthetischen Einheit der Apperception« (156,15f.),
um es in der Kantischen Terminologie auszudrücken.
»Ich, absolut unmittelbare Anschauung; die da seyn muß«
(156,14) ... »Muß unter Bedingung« (156,16). Mit dieser Bedingung ist
(nochmals) angesprochen, daß das Leben sich nicht notwendig entäußern
muß („lebendige Selbstbestimmung« [156,9]); m. a. W., das Daß des er-
sten (objektiven) Schemas läßt sich nicht als notwendiges ableiten. Damit
wahrt Fichte den transzendentalen Standpunkt: Notwendigkeit der Einheit
von objektiver und subjektiver Seite im Ich, aber zugleich behält Fichte
die Unableitbarkeit der Sich-Entäußerung (Sich-Sichtbarmachung) des
Lebens bei.
Dadurch, daß, wenn sich das Leben entäußert (sichtbar macht), es
sich in Anschauung und Selbstanschauung (und in Sich-Begründen) ent-
äußern muß, es sich also in der Ich-Struktur entäußern muß, kann Fichte
das Ich als »Urschema des Lebens« (156,19) bezeichnen. »Das Leben
verwandelt sich in eine synthetische Einheit der Anschauung« (157,3f.),
also in »ein denkendes Ich« (157,4) – so faßt Fichte in der folgenden
Stunde das Ergebnis der 15. Stunde zusammen.

gzgutgtg
Wilhelm Metz

157-161,5
16. und 17. Vorlesung

16. und 17. Vorlesung

Vom Standpunkt des Lebens zu dem der Transzendentalphilosophie (157-


161,5)

Das Hauptthema der 16. Vorlesung ist die Wissenschaftslehre selbst. Es


geht um den Schritt von dem bislang entwickelten Sehen zu demjenigen
Sehen, das in der WL – und nur in ihr – vollzogen wird. Der Text läßt 3
Anläufe erkennen (I. 157,1-30; II. 157,31-159,18; III. 159, 19-161,5). Die-
se drei Anläufe bauen nicht eigentlich aufeinander auf, sondern Fichte
versucht dreimal, sich der Formulierung seiner Einsicht anzunähern. Der
1. Anlauf ist der inhaltlich reichste.

I.

Schon die Weise, wie diese 16. Vorlesung einsetzt – »4.) Gleich die weite-
re Anwendung zeigen« – läßt erkennen, daß Fichte den Gedankengang der
14. und 15. Vorlesung fortsetzt, auch wenn in der 16. Vorlesung ein neuer
Schritt zu machen ist. Fichte faßt den Punkt, bis zu dem wir gekommen
sind, folgendermaßen zusammen:

»Das Leben verwandelt sich in eine synthetische Einheit der An-


schauung, wie wir sie so eben [sprich: in der 14. und 15. Vorle-

ddddd
102 Wilhelm Metz

sung] beschrieben haben; in ihr aufgegangen, und verwandelt.


Dann aber ist es wohl, als ein denkendes Ich, keineswegs aber als
Leben, sichtbar, wie es doch soll« (157).

Dieser Gedanke läßt sich wie folgt visualisieren:

verwandelt sich durch freie


Das Leben ----------------------------------------------------------> in das Sehen
sich Umschaffung

Mit dem Sehen tritt notwendigerweise das Sich-Sehen ein, das sich in eine
synthetische Einheit der Anschauung, in eine Einheit von Anschauen und
Denken entfaltet. In dem folgenden Schema werden diejenigen Momente
unter einander geschrieben, die Fichte in einem notwendigen Zusammen-
hang erblickt:

Leben --------------------> Sehen


Sich-Sehen
A – B <-------------------- in diesem Gefüge,
a –b das durch 4 Buch-
staben wiedergegeben
ist, erblickt Fichte
die Struktur der
Fünffachheit.

Die Aufgabe, die der WL gestellt ist, lautet: das Leben nicht nur als den-
kendes Ich, sondern als Leben sichtbar werden zu lassen, das Leben selbst
zu sehen. Diese neue Weise des Sehens, das als ein Rückblick des sehen-
den Lebens auf sich als Leben charakterisiert werden kann, bezeichnet
Fichte mit dem Buchstaben x.

<---------------- <---------------
Leben ERSCHEINUNG WL
-----------------> --------------->

Die WL erkennt die Erscheinung als Erscheinung; auf diese Weise vermag
sie die Erscheinung zu durch-schauen und zum Leben zurückzukehren.
(vgl. die Trinitätsformel: Vater – Sohn – Geist.)
Die folgende Klammeranmerkung grenzt die WL nach zwei Sei-
ten von einem Wissen ab, das nicht zum Leben selbst durch- und zurück-

gzgutgtg
16. und 17. Vorlesung (Zweiter Teil) 103

zublicken vermag, sondern in der Erscheinung befangen bleibt: Zum einen


erwähnt Fichte den Dogmatismus, die so genannten Seinsphilosophen, die
im objektiven Schema befangen bleiben. Ebenso mangelhaft (und 'kurz-
sichtig') ist der einseitige Idealismus, den das große Publikum, wie Fichte
sagt, mit der WL verwechselt; dieser kommt nicht über das subjektive
Schema, nicht über die Wissens- und Bewußtseinsform hinaus.1
Wie aber soll der Überstieg des Wissens über sich selbst gedacht
werden? Diese Frage beantwortet der 3. und die weiteren Abschnitte (Zei-
len 11-21): Das Gesetz des Schematismus, dem das Leben in der syntheti-
schen Einheit der Anschauung anheimfällt, müßte selbst sichtbar gemacht
und abgezogen werden können.
Was heißt dies? – Das Gesetz des Schematismus bezeichnet ge-
nau dasjenige, was mit dem Sehen notwendig einhergeht. Ganz allgemein
können wir sagen: Das Sehen macht etwas sichtbar, das Leben im Modus
seines Erscheinens, ein Schema und Bild des Lebens, aber nicht das Leben
als Leben. Dadurch verstellt die so gedachte Erscheinung den Einblick in
das Leben, sie umgibt es wie eine Hülle. Diese Hülle aber wird genau
dann und dadurch abgezogen, daß das Gesetz des Schematismus durch-
schaut wird. Dies wiederum kann nur geschehen, wie Fichte hervorhebt,
»durch eine abermalige neue Schöpferkraft des Denkens« (Z. 15f.).
Die Neuheit dieser ›neuen Schöpferkraft des Denkens‹ liegt in
seiner Freiheit: »Jenes [nämlich das Gesetz des Schematismus] muß
seyn«, [wir können hinzufügen: wenn das Leben sich überhaupt in das se-
hende Leben verwandelt hat]; »dieses« aber, [das »dieses« bezieht sich auf
das »dieses« in Zeile 14 und bezeichnet das sichtbar Machen des Gesetzes
des Schematismus, die ›Erklärung‹ unseres eigenen Wesens], »muß nicht
seyn, u. ergibt sich nicht durch das bloße Leben« (Z. 17f.).
Diese Unterscheidung zwischen Notwendigkeit und Freiheit hat
ihre genaue Entsprechung in der Grundlage der gesamten Wissenschafts-
lehre aus dem Jahre 1794/5. Fichte hatte dort von den notwendigen Hand-
lungen des menschlichen Geistes gesprochen, die in der WL in Freiheit
noch einmal gesetzt und dadurch ins Wissen gehoben werden. Siehe vor
allem die folgende Stelle: »Dies ist nun das Geschäft der schaffenden Ein-
bildungskraft, und diese – ist ganz gewiss allen Menschen zu Teil gewor-
den, denn ohne sie hätten dieselben auch nicht eine einzige Vorstellung;
aber bei weitem nicht alle Menschen haben dieselbe in ihrer freien Gewalt,

1 Fichte bezieht sich hier nicht, ebensowenig wie an irgendeiner anderen Stelle
seines Werkes, auf Hegel. Ein Hegel-Bezug wird von den Herausgebern der Fichte-Gesamtausga-
be zwar immer wieder behauptet, konnte aber an keiner einzigen Stelle belegt werden.

zttgtgtgtgzu
104 Wilhelm Metz

um durch sie zweckmäßig zu erschaffen, oder, wenn auch in einer glückli-


chen Minute das verlangte Bild, wie ein Blitzstrahl, vor ihre Seele sich
stellte, dasselbe festzuhalten, es zu untersuchen, und es sich zu jedem be-
liebigen Gebrauche unauslöschlich einzuprägen. Von diesem Vermögen«,
das Geschäft der schaffenden Einbildungskraft aus freien Stücken wieder-
holen zu können, »hängt es ab, ob man mit, oder ohne Geist philoso-
phiert« (GA I, 2, 415).
In den Zeilen 18f. macht Fichte eine weitere Unterscheidung, die
ebenfalls ihr genaues Pendant in der publizierten Wissenschaftslehre hat.
Die Freiheit überhaupt muß sein. Kein Bewußtsein ohne die Möglichkeit
und das Vermögen zur Transzendentalphilosophie; aber ob dieses Vermö-
gen faktisch, d.h. in der Tat auch aktualisiert wird, steht frei. Die transzen-
dentale Reflexion gehört a limite nicht zu den notwendigen Handlungen
des menschlichen Geistes; denn sonst würde in jedem menschlichen Be-
wußtsein die Transzendentalphilosophie vollzogen sein. Aber diese Refle-
xion ist für jedes Bewußtsein notwendigerweise möglich.2
In den Zeilen 22-26 (und dann bis 30) wehrt Fichte eine Vorstel-
lung von der Rückkehr des Lebens in sich selbst ab, um durch den Kon-
trast die wahre Charakteristik des Gesamtverhältnisses zu geben:

»Geschieht nun dies, so ist die Anschauung vollendet in ihrem


ganzen Umkreise« [d.h. ihr ganzes Vermögen ist aktualisiert, ihr
äußerstes Vermögen, sich selbst zu durchschauen in Richtung 'Le-
ben selbst', sich gewissermaßen tätig wegzuschauen, um das Leben
selbst sichtbar werden zu lassen; daher die Einfügung:] »und erlo-
schen«. Die Vollendung der Anschauung ist ihr Erlöschen; das Le-
ben ist zu sich selbst zurückgekehrt. Da konnte es geblieben sein
und kann auch in allewege da bleiben« (Z.24f…)

Wir hätten demnach hier die folgende Struktur, die Fichte zurückweist: A
+ B – B = A. Denn da würde sich die Frage stellen lassen, warum wir
nicht einfach A = A ansetzen sollten. Warum überhaupt die Anschauung,
wenn ihr höchster Vollzug darin besteht, sich wegzuschauen? Warum
bleibt das Leben nicht direkt, ohne diesen Umweg über die Anschauung,
bei sich?
Der weitere Gedankengang zeigt, worin der Fehler einer solchen
Folgerung besteht:

2 Auf die Zeiten 20-21 soll weiter unten eingegangen werden.

gzgutgtg
16. und 17. Vorlesung (Zweiter Teil) 105

»Soll es jedoch nicht da bleiben, und die Anschauung nicht erlö-


schen, so müsste es sich wieder hingeben der Selbstbestimmung
wodurch es Anschauung wird« (Z. 24f.).

Die Rückkehr der Anschauung zum Leben läßt die Erscheinung nicht ein-
fach verschwinden, sondern hält sie – und das ist der springende Punkt –
als die von uns durch-blickte eigens fest.

Die Formel ist nicht: a + b – b, sondern a + b + x


Die Erscheinung umgibt das Leben selbst, gleichsam mit einer
Hülle. Indem die transzendentale Reflexion diese Hülle durchblickt, ver-
schwindet diese nicht, sondern sie ist als die von uns durchblickte. Nur
dadurch, mit der Anweisung zum seligen Leben formuliert, ist nicht nur
das Sein, sondern auch das Dasein, bzw. ist das Sein überhaupt ›da‹.
Was also hier erhalten bleibt (und nicht durch eine falsche Folge-
rung als nichtig vorgestellt werden darf), ist das Prinzipiat, das ins unend-
liche selbst schöpferisch wird. Dieses wird in den Zeilen 27-30 näher cha-
rakterisiert:

»Ein frisches unmittelbares schöpferisches Ich in alle Unendlich-


keit. Also Möglichkeit der Unendlichkeit und Fünffachheit tritt
hinzu zu dem absolutrealen, der einen Schöpferkraft des Schema-
tismus des Lebens. Quelle im unendlich sich erneuernden Ich«.

Kurz: Die von Fichte gedachte Rückkehr (ins Leben) ist nicht die Reduk-
tion auf eine abstrakte Einheit, sondern höchster Punkt der freien Schöp-
ferkraft des Ich, die gerade darin – zuhöchst – erhalten bleibt.3

3 Diesem fichteschen Gedanken ist strukturell vergleichbar die hegelsche Bestim-


mung des Selbstbewußtseins, die er im Resultat des Bewußtseinskapitels seiner Phänomenologie
des Geistes entwickelt: »Ich unterscheide mich von mir selbst, und es ist darin unmittelbar für
mich, daß dies Unterschiedene nicht unterschieden ist« (Suhrkamp-Ausgabe, 3.134f.). M. a. W.,
das Selbstbewußtsein ist weder die bloße abstrakte Einheit noch der bloße Unterschied, sondern
das Ganze einer Bewegung in welchem ein Unterschied gemacht wird, und, weil er keiner ist,
wieder aufgehoben wird. Auch hier könnte der Verstand fragen: Warum den Unterschied
machen? Warum nicht bei der Einheit direkt bleiben? Die Antwort würde lauten, daß dann das
Selbstbewußtsein aufgehoben wäre. Dieses nämlich erfordert, daß das Subjekt sich selbst zum
Objekt wird (einen Unterschied zu machen) und zugleich dieses Objekt mit dem Subjekt ins Eins
zu setzen (den Unterschied aufzuheben). Das Selbstbewußtsein ist dieses Ganze, einen Unter-
schied in der Tat zu machen, und ihn, weil er keiner ist, wieder aufzuheben. – Etwas ganz Analo-
ges führt Fichte hinsichtlich des Verhältnisses des Lebens zu seiner Erscheinung aus. Es soll zum
Leben zurückgekehrt werden, aber nicht als zu einer abstrakten Einheit, die gar keine Erscheinung
mehr hätte.

zttgtgtgtgzu
106 Wilhelm Metz

II.

Im zweiten Anlauf versucht Fichte, denselben Gedankengang vor allem


durch die Verwendung von Formeln klar zu machen:
– Das Leben ist Sehen geworden, was notwendigerweise eine
weitere Modifikation heraufführt. In diesem Zustand (seines Erscheinens)
tritt das Leben nicht rein heraus. Letzteres ist nur durch eine »neu schöpfe-
rische Freiheit des Sehens« möglich (S. 158, Z. 14), welches ein freies
Schema vom notwendigen Schema hervorbringt. Dieser Gedanke erinnert
erneut an die Grundlage von 1794/95: Die notwendigen Handlungen des
menschlichen Geistes werden in Freiheit noch einmal vollzogen und da-
durch genetisch eingesehen.
– Fichtes weiterführende Frage vollzieht die Reflexion auf den so
gedachten Schritt: »Wenn nun das geschähe: was würde erfolgen?« (Z.
18) bzw. was wird in dem o. g. Schema des Schemas gedacht? Die Ant-
wort wird in einer Formel dargelegt x = A + F.
(A steht für das Leben, F für die Freiheit).
– Mit dem »Weiter« in Zeile 26 wird das bereits erörterte Pro-
blem – nämlich ob das Sehen in seinem höchsten Punkt zum Erlöschen
kommt – noch einmal aufgegriffen und wie im ersten Anlauf gelöst: die
Folge a – b – x wird als eine sich stets vollziehende gedacht, und zwar ins
Unendliche. Dadurch erweitert sich die Formel, die in ihrer Erweiterung
dem nächsten Gedankenschritt zugrunde gelegt wird.
– In dem folgenden Zitat wird die Unendlichkeit der Freiheit zu-
gesprochen:

»Nun ist das Leben schlechthin frei Sehen zu seyn: diese Bestim-
mung geht daher ins unendliche. Seine Freiheit, in der ersten Form
Eins bleibend, u. in dieser Einheit, da ja das Gesez dasselbe bleibt,
nur in der selbigen Gestalt zu wiederholend, ist in der letzten Un-
endlich x = A + F + U« (32-35) (U steht für Unendlichkeit).

Den Gedankengang dieser Zeilen interpretiere ich folgendermaßen: Weil


die Freiheit bereits im Leben selbst gedacht wurde (Stichwort: die freie
Sich-Umschaffung des Lebens ins Sehen), bleibt sie ins Unendliche erhal-
ten und ist selber unendlich. Konkret bedeutet das folgendes. Kein Wissen
der WL und auch keine Seligkeit des Wissenden – ohne Freiheit.

gzgutgtg
16. und 17. Vorlesung (Zweiter Teil) 107

– Die noch einmal erweiterte Formel lautet: x = A + F + U + 5.


Weil eine Fünffachheit des ersten Schemas gedacht wurde, ist auch eine
Fünffachheit der Freiheit zu denken, die ja mit dem Schema des Schemas
einhergeht.
Der Satz »Das reale ist nun keines in dieser Gestalt, sondern das
allen Gestaltungen zu Grunde liegende« (S. 59, Z. 6f.) verweist auf die
Identität des Lebens, das in allen seinen Gestaltungen – sowohl in seinem
Verhülltwerden durch das notwendige Schema, wie auch in seinem Wie-
dersichtbarwerden durch das freie Schema des Schemas – immer ein und
dasselbe bleibt. Nur weil wir immer schon 'in' ihm sind, können wir in der
WL zur Erkenntnis seiner hindurchdringen«.4
Die beiden Begriffe »Unendlichkeit« und »Fünffachheit« werden
von Fichte (an dieser Stelle) folgendermaßen zugeordnet: Die Unendlich-
keit des Hingesehenen ist auf der objektiven Seite gegeben, die Fünffach-
heit des Sehens gilt für die subjektive Seite. Hinsichtlich der Unendlich-
keit unterscheidet Fichte, daß das Daß, nicht aber das Was abgeleitet wer-
den kann. Diese Unterscheidung verweist auf die von Fichte gezogene
Grenze dessen, was a priori erkannt werden kann, von dem, was sich einer
apriorischen Ableitung – prinzipiell – entzieht.

III.

Im 3. Anlauf stellt Fichte den in der 16. Vorlesung zu entwickelnden Ge-


dankengang in Gestalt von 5 Sätzen vor, die in verkürzter Form aufgeführt
seien:
1. Leben wird Sehen überhaupt.
2. Weil das Leben hierin seine Basis verloren hat, muß es sich be-
gründen, was eine neue Schöpfung darstellt. Das Leben wird Ich.
3. Das Ich bleibt als schaffendes, in seiner ursprünglichen Produk-
tivität, unsichtbar. Für sich wird es nur als das sehende bzw. erkennende.
Auch dieser Gedanke hat sein genaues Pendant in der Grundlage von
1794/95, insbesondere in der Lehre von der ursprünglichen Produktivität
des Ich, die ins unendliche geht (GA I, 2, 361).

4 Vgl. den berühmten Satz aus der Einleitung in Hegels Phänomenologie des
Geistes: »Sollte das Absolute durch das Werkzeug uns nur überhaupt nähergebracht werden, ohne
etwas an ihm zu verändern, wie etwa durch die Leimrute der Vogel, so würde es wohl, wenn es
nicht an und für sich schon bei uns wäre und sein wollte, dieser List spotten ...« (Suhrkamp-
Ausgabe, Frankfurt 1970f., Bd. 3, S. 69).

zttgtgtgtgzu
108 Wilhelm Metz

»Das Schaffen daher, als der Grund, bleibt verborgen, u. unsicht-


bar; u. es tritt in der Synthesis ein, lediglich das Sehen des Ich, als
sehend das u. das; das objektive Ich tritt nicht ein, als schaffend,
sondern nur als sehend« (S. 160, Z. 26f.).

4. In diesem Zustand, in dem das Schaffende des Ich nicht sichtbar wird,
wird das Schema für die Sache selbst gehalten. Dies wird (auch nach der
Darstellung der publizierten Wissenschaftslehre) von Fichte als der Stand-
punkt des gewöhnlichen, sinnlichen Menschen charakterisiert.
5. Was hier das Leben und des weiteren das Schaffende im Ich
verdeckt, ist die Notwendigkeit. Sollte nun das (verdeckte und verwandel-
te) Leben wiederhergestellt werden, so könnte dies nur durch einen Akt
der Freiheit geschehen. Und dieser Akt der Freiheit ist die transzendentale
Reflexion, die im Jenenser System nicht selten als ein ›sich Losreißen
vom Zwange‹ charakterisiert worden ist.
Dieser letztere Gedanke verweist noch einmal auf den unlösbaren
Zusammenhang zwischen Wissen und Freiheit. Das Wissen, das in der
WL gesucht und gefunden wird, vermag sich schlechthin nur im Element
der Freiheit zu vollziehen. Denn es hat – anders als die notwendigen
Handlungen des menschlichen Geistes – die Freiheit zu seinem ›Geburts-
ort‹.

gzgutgtg
Hitoshi Minobe

161,6-164,3
18. Vorlesung

18. Vorlesung

Vom theoretischen zum praktischen Teil der Wissenschaftslehre (161,6-


164,3)

In den vorigen Vorlesungen haben wir gesehen, daß sich das Leben in Se-
hen verwandelt, und daß das zu Sehen gewordene Leben unter dem Gesetz
des Schematismus steht. In dieser 18. Vorlesung richtet Fichte den Blick
aufs Neue auf das Problem, wie wir zu dieser Einsicht gekommen sind. Er
fragt nämlich, wie wir wissen können, daß der Schematismus, den wir im
Sehen finden, ein Schematismus des Lebens ist, oder, wie wir in dem
Schematismus des Sehens das Leben erblicken können.
Der Schematismus, der dem zu Sehen gewordenen Leben notwen-
dig ist, verdeckt seiner Natur nach das schaffende Leben und verführt uns,
das Schema für die Sache selbst zu halten. »Sollte er wegfallen so müste
diese Nothwendigkeit selber, als Nothwendigkeit, der das Leben eben, wie
es frei zum Sehen wird, frei sich hingibt, eingesehen werden« (161,9-11).
Wie ist dies möglich?
Es ist nach Fichte nur dadurch möglich, dass das sich unmittelbar
bestimmende sehende Leben sich weiter bestimmt. Diese weitere Selbst-
bestimmung ist »ein neues Sehen«, »Attention« oder »Reflexion«, mit
einem Wort: die transzendentale Reflexion.
In der unmittelbaren Bestimmung des Lebens, d. h. im Sehen als
sinnlicher Anschauung geht das Sehen in der Gesetzmäßigkeit auf. Die

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110 Hitoshi Minobe

Gesetzmäßigkeit bleibt unsichtbar. Erst mit der weiteren Selbstbestim-


mung des Lebens, d. h. mit der transzendentalen Reflexion entsteht die
Einsicht der Gesetzmäßigkeit. Da aber in dieser Einsicht selbst wiederum
eine unsichtbar bleibende Gesetzmäßigkeit enthalten ist, muß das Leben
noch weiter reflektieren, um sich völlig durchsichtig zu machen. So geht
die Reflexion fort, bis das Leben zur Einsicht kommt, »daß das Leben mit
Freiheit eingetreten sey in das Gesetz des Sehens« (163,4f.). Auf diese
Weise mit der bis zum Ende durchgegangenen transzendentalen Reflexion
sieht das Leben selbst ein, daß es sich mit Freiheit zu Sehen verwandelt.
Es ist eben solche transzendentale Reflexion, die uns die oben angegebene
Einsicht in den Schematismus des Lebens ermöglicht hat.
Nun entsteht aber hier die Frage: Was erhält die Einheit der un-
mittelbaren Anschauung, wo die Gesetzmäßigkeit unsichtbar bleibt, mit
der Anschauung, die vermittelst der transzendentalen Reflexion durchsich-
tig geworden ist? Die Antwort Fichtes ist: Es ist die »Identität des an-
schauenden, u. des auf seine Anschauung reflektierenden Ich« (162,13f.).
Es ist klar, daß Fichte mit diesem Ich nicht an Person sondern an »das Ei-
ne Ich« denkt, welches er an einem Beispiel erklärt:

»Diese Tafel: sind denn nun Ihrer eigenen Meinung nach so viele
Tafeln, als Personen hier sind. Nein nur soviel Vorstellungen; dies
also das persönliche. Die Tafel selbst denkt das Eine, die Welt an-
schauende, oder richtiger schaffende Ich« (163,19-21).

Es bleibt uns aber noch unklar: »wie ist die Identität des Ich, des absolut
im Sehen sich begründenden schöpferischen Lebens, in der Fünffachheit
u. Unendlichkeit seiner aus einander fallenden Bestimmungen möglich«
(163,9-11)? In folgenden Vorlesungen werden wir sehen, wie Fichte sich
mit diesem Problem auseinandersetzt.

gzgutgtg
Dritter Teil

Grundlage der Wissenschaft des


Praktischen:
Der Trieb als infinites Streben
(165–202,21)

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Hitoshi Minobe

165-170, 29
19. und 20. Vorlesung

19. Vorlesung

Der Trieb (165-168,4)

»Wir sind bisher sorgfältig ausgewichen einer gewißen (in jeder


Stunde angedeuteten) Untersuchung u. Beweißführung, daß die
unmittelbare Sichbestimmung des Lebens nothwendig Sehen sey«
(165,16ff.).

Um dieses notwendige Verhältnis zwischen Leben und Sehen zu klären,


führt Fichte einen neuen Begriff ›Trieb‹ ein. Er schreibt: »setzen Sie, es
sey in diesem in sich selber lebenden Gotte ein Trieb, sich außer sich
selbst darzustellen, wie er ist in ihm selber; gleichsam, sich außer der Ein-
heit seines Seyns zu wiederholen« (166,11ff.). Es ist zwar eine »Hypothe-
sis«, daß in Gott ein Trieb sei, aber sie ist nach Fichte eine solche, die
nicht auf einer weiteren Hypothese beruht, sondern auf einer kategori-
schen Basis. Sie »wird freilich erst durch das Faktum selbst bewährt wer-
den können: durch welches, haben wir eben zu sehen« (166,16f.).
Was Fichte ›Leben‹ nennt, ist das innerliche absolute Sein, außer
dem es kein Sein im eigentlichen Sinne gibt. Zum Leben kann daher keine
Kausalität gehören, die ein Verhältnis eines Seins zu einem anderen Sein
außer demselben bedeutet. Die Ansicht, daß das Leben eine Kausalität ha-

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114 Hitoshi Minobe

be, würde zu einem Dualismus führen, den die Wissenschaftslehre nicht


zuläßt.
Fichte nimmt also in Gott nicht Kausalität sondern einen Trieb
an. Trieb ist nach ihm eine »Kausalität, die nicht Kausalität ist: ein Prin-
cip, das sein Principiat nicht sezt« (166,18f.). Insofern bleibt der Trieb als
Trieb immer Trieb, ohne je zur Kausalität zu gedeihen. Dieser Trieb bleibt
an Gott, u. in ihm selber, er sondert sich nicht von ihm ab. Er gehört zu
Gottes innerem Wesen, ist schlechtweg in ihm, sowie er selber ist.
»Im Triebe daher ist das ganze innere Wesen Gottes, ganz so wie
es ist, erfaßt, und liegt in ihm: indem er ja, wenn der Trieb mehr werden
könnte, als Trieb, u. als Kausalität heraustreten könnte, das ganze göttliche
Wesen, so wie es ist in ihm selber, noch einmal wiederholen würde.«
(167,2ff.). Insofern aber der Trieb, dabei immer nur Trieb bleibend und
nicht in Kausalität übergehend, »auf irgend eine Weise« (167,8) – nämlich
als Trieb – realisiert würde, käme es, statt zu einer (gar nicht möglichen)
Verdoppelung des Seins des göttlichen Wesens zu einer Verwirklichung
desselben in einem Schema und als ein Sehen dieses Schemas, in welches
das göttliche Wesen einträte als den realen Kern des Schematismus.
Dieses Eine Grundschema ist das lebendige (ins Unendliche sche-
matisierende) Ich, das dem göttlichen Triebe ohne hiatus entspringt und
dessen Entstehung wir hier noch nicht einsehen. In ihm wird jener göttli-
che Trieb Liebe, in welchem, nicht sehend, aber liebend, das ganze Göttli-
che Wesen erfaßt wird: »Ein sichtbares, u. sehendes Leben daher, das aus
der Liebe hervorgeht, u. diese zum Prinzip seines Schaffens hat, ist aller-
dings ein Leben, in Gott, u. aus Gott heraus, u. selbst göttliches Leben:
und so können wir Gemeinschaft haben mit ihm.« (167,16ff.)
Mit der Theorie des »Triebes« als einer »verhinderten« absoluten
Kausalität versucht Fichte den hiatus zwischen absolutem Sein und der
Faktizität der Erscheinung als dem vom Sehen Gesehenen zu überbrücken.
Zusammenfassend charakterisiert Fichte die Wissenschaftslehre
im Vergleich zu den anderen Systemen, die Gott eine Kausalität zuschrei-
ben, folgenderweise:

»Alle Systeme ohne Ausnahme nehmen an entweder, daß Gott rea-


liter Grund geworden sey eines Realen, nicht schlechtweg durch
sein Wesen, sondern zufolge eines freien Entschlußes: Schöpfung
– oder daß in ihm selber ein Grund liege, sich zu einem mannigfal-
tigen realen Seyn zu gestalten, (Modifikationen), Spinoza; wo-
durch sie

gzgutgtg
19. bis 20. Vorlesung (Dritter Teil) 115

1.) den Begriff Gottes, entweder mit einer blinden Will-


kür, oder mit einer blinden (außer ihm liegenden) Nothwendigkeit
ihn ausstattend, vernichten.
2.) [darüber hinaus] die Unendlichkeit der Erscheinung,
die doch offenbar ist, verlieren; u. so weder Gott noch seine Er-
scheinung erkennen.
Die W.L. aber weiß, daß Gott durchaus nicht Grund eines
Seyns außer ihm werden könne, sondern sie läßt alles wahrhafte
Seyn ewig in ihm verborgen [sein]. Wohl aber liegt in ihm ein
Trieb, der ewig nur Trieb bleibt, der aber in seiner Erscheinung ein
etwas liefert, das ewig fort geschaffen wird, u. ewig fort sich ver-
nichtet u. in welchem es niemals zu einem wahren Seyn kommt,
sondern das nur einen Augenblick den Schein des Seyns von sich
zu geben vermag, bis der nächste neue Hauch der Liebe es vernich-
tet« (167,20ff.).

Die Lehre Fichtes vom Trieb und Schema steht allerdings unter einem
grundlegenden methodischen Vorbehalt, der an dieser Stelle lediglich in
einem unscheinbaren Absatz, S. 166, zur Sprache kommt.

»In unserem Ersehen zwar fand zwischen der Ersichtlichkeit seines


absoluten Seyns, das wir schlechtweg einsehen, u. seines Triebes,
den wir nicht schlechtweg, sondern nur mittelbar, durch ein später
unten auszumittelndes Faktum einsehen, ein hiatus statt; keines-
wegs aber ist dieser hiatus in dem göttlichen Seyn selber: also daß
das Seyn schlechtweg wäre ohne diesen Trieb, u. er etwa mit Frei-
heit d. h. blinder Willkür sich weiter bestimmte, diesen Trieb an-
zunehmen....«. (166,28ff.)

Das bedeutet: Der Hiatus liegt in unserem Einsehen begründet, nicht im


göttlichen Sein selber; und zwar liegt dieser Hiatus zwischen dem unmit-
telbarem Einsehen des absoluten Seins und dem mittelbaren Einsehen des
absoluten Triebes.

20. Vorlesung

Der ontologische Status des Triebes (169-170,29)

In dieser Vorlesung richtet Fichte seine Aufmerksamkeit auf das Verhält-


nis des Seins des Triebes zum Sein Gottes. Damit versucht er, den Punkt
herauszuarbeiten, an dem das Sehen anhebt. Es ist eben der Punkt, aus
dem die fünffache und zugleich unendliche Spaltung entspringt.

zttgtgtgtgzu
116 Hitoshi Minobe

Wir haben den Trieb zuvor hypothetisch gesetzt. Wenn seine Existenz
aber allein daran hinge, wäre er nicht wahrhaft gedacht. Denn was im ab-
soluten Sein Gottes ist, wie der Trieb, das muß eben wahrhaftig und in der
Tat sein und kann nicht nicht sein. Der Trieb muß deshalb lebendig sein 1.
weil das Absolute ein lebendiges Sein ist und kein totes Sein in es eintre-
ten kann 2. weil er ein Trieb Gottes ist, was etwas in sich Lebendiges,
Treibendes, aus sich, von sich und durch sich anzeigt. (169,14ff)
Der Trieb ist lebendig an und in Gott. Wie verhält es sich nun mit
dem Getriebensein Gottes? Der Trieb geht zwar auf die Darstellung des
ganzen Wesens Gottes, dennoch bleibt er nur Trieb, ohne alle Kausalität.
Deshalb tritt Gottes inneres Wesen auch nicht in das Sein des Triebes ein.
Aus dem Trieb folgt keine Realität. So kann man das Sein des Triebes, das
zu keiner Realität führt, zu Recht nennen ein Sein »außerhalb« des realen
Sein Gottes: – eine Äußerung desselben oder ein Akzidenz Gottes. Es ist
aber ein Akzidens, das »keineswegs etwa mit blinder Willkür, noch auch
durch äußere außer ihm liegende Nothwendigkeit, sondern zufolge der in-
neren ewig verborgen bleibenden Nothwendigkeit seines Wesens«
(169,29ff) ist. Es ist das einzige Akzidens Gottes.
Der Trieb hat aber seinerseits eine »reales, in sich selbst ge-
schloßnes, u. absolutes Sein und Leben« (170,1f), weil das Sein Gottes
ganz von ihm ausgeschlossen ist, und er sich auch selber vom göttlichen
Sein ausschließt und verschließt. Dieses Sein und Leben des Triebes als
solchen ist nach Fichte eben Sehen, Schematisieren oder »sich bewußt
seyn des Triebes« (170,11f). Denn das, was das Leben des Triebes bringt,
d.h. das Getriebene ist nichts als ein bloß Gesehenes, ein Schema oder ein
Bewußtsein, das in sich keine Realität hat. Das Sehen ist also an und in
Gott, insofern es als lebendiger Trieb innerlich göttliches Leben selbst
lebt. Insofern es aber in seinem Ausfluß als Getriebenes ist, ist es im Ver-
hältnis zu sich selbst befangen und somit ist seine Rückkehr zum göttli-
chen Leben ausgeschlossen.
Rückblick: Wie ist nun das Argument für die Existenz des Triebes
und seine Seinsweise geführt worden? Der Trieb ist ein lebendiges Sein,
weil er ein Trieb in Gott ist. Aber weil er bloßer Trieb ohne Kausalität ist,
ist er ohne allen realen Inhalt. Der Trieb bringt nur ein bloßes Bild, Sche-
ma oder Wissen des Seins hervor. Im Trieb ist also das lebendige Sein und
das Bewußtsein oder das Sehen eins und dasselbe.
Das Sehen ist also, unter der Voraussetzung des Triebes in Gott,
notwendig wirklich, denn es ist eine notwendige Bestimmung der Gott-
heit. Daraus geht nicht hervor, daß Gott selbst das Prinzip eines Sehens

gzgutgtg
19. bis 20. Vorlesung (Dritter Teil) 117

sei, was der Voraussetzung widerstreitet. Es ist der Trieb und in Gott, also
sein Akzidenz, welches das Prinzip des Sehens ist. Als Trieb an und in
Gott ist er aber, wenn er ist, ein lebendiges Sein wie das Gottes, das nicht
nicht sein kann.

zttgtgtgtgzu
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Ewa Nowak-Juchacz

171-178,9
21. und 22. Vorlesung

21. Vorlesung

Der Trieb als Grund des Bildes (171-174,10)

Das Leben des Triebes ist ein Sehen seiner selbst und dies ist eine wirkli-
che und wahre Kausalität, die er hat, nicht zufolge dessen, daß er Trieb
ist, sondern daß er wirklich lebendig da ist. Aber in diesem Sehen bleibt er
doch immer Trieb, was er ja absolut ist, und was nicht aufgehoben werden
soll. Und zwar bleibt er es als der Trieb Gottes, sich im Sehen sichtbar zu
machen, sich in ein lebendiges Sehen seiner selbst, so wie er innerlich ist,
zu verwandeln und sich so in seinem inneren Wesen zu offenbaren.
Wir gingen in der vorherigen Stunde von der Annahme eines
Triebes in Gott aus, sich schlechthin im Medium des absoluten Seins zu
wiederholen, so wie er ist, also sich zum zweiten Mal zu setzen. (Dabei
war uns bewußt, daß dieser Trieb ewig Trieb bleiben mußte und nicht zur
Verwirklichung kommen konnte, weil das Sein Gottes einzigartig ist und
nicht wiederholt werden kann). Diese Ansicht entstand, wie wir jetzt se-
hen, allerdings nur dadurch, weil wir den Trieb verblaßt, keineswegs aber
energisch dachten und uns nicht bekümmerten, wie er denn real werden
könnte. – Jetzt haben wir erkannt, daß sich der Trieb tatsächlich verwirkli-
chen kann, allerdings nicht im Sein, sondern nur im Sehen. Demnach be-
steht der Trieb Gottes darin, sich im Medium des Sehens, d. h. in bildlicher
Form der Anschauung Gottes, zu verwirklichen.

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120 Ewa Nowak-Juchacz

Daß wir den Trieb zunächst verblaßt als Trieb nach Sein statt als Trieb
nach einem Sehen des Seins konzipierten, geschah, um auf diese Weise, i.
e. mittelbar, zur Einsicht zu gelangen, daß der Trieb Gottes nur in der
Form des Sehens seines Seins verwirklicht werden konnte. »Trieb 1« nach
Verwirklichung überhaupt führte so zum »Trieb 2« als seine weitere not-
wendige Bestimmung dieser Verwirklichung.
(171,32) So kann der Trieb nur darin bestehen, Gott, statt ihn im
Sein zu wiederholen, im Medium des Triebes sichtbar zu machen. Nun
kann es aber nicht nur nicht zu keiner Wiederholung des realen Seins,
sondern noch nicht einmal zu einer vollendeten Anschauung Gottes kom-
men, denn dann würde der Trieb, Gott zu erkennen, sein Ziel tatsächlich
erreicht haben und als Trieb erlöschen. Der Trieb soll aber Trieb bleiben.
Eine vollkommene Offenbarung Gottes kann also nie wirklich werden.
Gott offenbart sich nur als der nie zu Offenbarende. Könnte er sich voll-
kommen offenbaren, wäre es mit der Erscheinung zu Ende. Zuvor hieß es:
kein reales Sein außer Gott, jetzt heißt es: kein vollendetes Bild realen
Seins außer Gott. Allerdings bürgt sein niemals zu realisierender Trieb,
sich vollkommen zu erkennen, auch für die Unendlichkeit des erscheinen-
den Daseins.
Damit ist der Beweis geführt, daß die Äußerung des Seins not-
wendig Leben und Sehen sei. Allerdings nicht, daß eine solche Äußerung
notwendig sei, sondern nur, daß, wenn diese sei, sie es notwendig sei.
172,6 Wie dieser Trieb, als die einzige unmittelbare Sichäußerung
Gottes nun dennoch mittelbar realisiert und realer Kern in der Erschei-
nung werden möge, ergibt sich durch Reflektion auf die vorher aufgestell-
ten Sätze (172,9):
1. Das wirkliche Dasein des Triebes als Trieb wird unmittelbar
Sehen. Dies ist seine unmittelbare Kausalität.
2. Im Zustande dieses Sehens bleibt der Trieb bloßer Trieb, ohne
alle Kausalität, und zwar Trieb des Sehens, Gott zu erblicken, wie er an
sich ist.
3. Wird denn in dem ersten unmittelbaren Ausdrucke des Triebes
im Sehen dieser Trieb Gott, zu schauen, seinerseits sichtbar? Nein, denn
die unmittelbare Realisation des Triebes überhaupt wird Sehen schlecht-
weg. In diesem ersten unmittelbaren Sehen ist der Trieb selbst unsichtbar.
4. Man nehme nun an, (172,3) daß dieser Trieb ersichtlich und
einleuchtend gemacht und aus seiner Unsichtbarkeit hervorgezogen wer-
den könne, wie wir selbst ihn dermalen ersichtlich gemacht haben, was
freilich späterhin noch ausdrücklich bewiesen werden muß.

gzgutgtg
21. und 22. Vorlesung (Dritter Teil) 121

5. (172,27) Ausgehend von dem Grundsatz, alles Sehen sei Reali-


sierung eines Triebes, folgt daraus: das (bisher noch nicht erwiesene) Er-
sehen jenes Triebes (nach göttlicher Anschauung) muß das Resultat eines
lebendigen Triebes (nach Ersehen jenes Triebes) sein. Dieser hat nun da-
durch, daß er sich selbst erblickt, wirklich und in der Tat Kausalität. Dabei
handelt es sich um eine weitere Bestimmung (Tr2) innerhalb des schon
bestehenden Sehens (Tr1). Ein solcher Trieb ist nun der noch nicht bewie-
senen Voraussetzung nach realiter im Sehen vorhanden.
6. Setzet ihn in der Gestalt eines bloßen Triebes (Tr 1), so ist er
unsichtbare Quelle und Prinzip des unmittelbaren Sehens = S und unser
erster Satz: »das unmittelbare Sehen ist der Trieb nur ausgedrückt in sei-
ner Form als Trieb«, ist jetzt weiter so bestimmt: er sei auch Prinzip der
Realität des Sehen (Trieb 2). Das liefert freilich ein bloßes Schema, das an
sich nichts ist, aber es liegt diesem Schema keineswegs nichts zu Grunde.
7. Das Schema fällt aus, wie es ausfällt, weil dem Trieb (TR 2),
der Trieb (Tr 1) zu Grunde liegt. Das göttliche Wesen tritt in ihn ein, al-
lerdings nicht als absetzend einen Teil seines Wesens, auch nicht im Bilde,
aber im Bilde des Bildes.

Zurückführung auf Bekanntes (173,16)

Sehen ist Sichtbarkeit des bloßen formalen Triebes. Er bleibt in alle Ewig-
keit Trieb, nie aufhörend, also unendlich. S(ehen) = »e«. So jemand hier
steht, was hat er? Die bloße unmittelbare Erscheinung. Was ist er selbst?
Eben das bloße unmittelbare Treiben, wie es sich eben treibt, physisch und
intellektuell, zu leben wie es ihm nun eben wird, sich einfallen zu lassen,
was ihm eben einfällt. Was ist der Grund seines Stehens in diesem Stand-
punkt? Der Trieb und die Liebe zu diesem sich selbst Machen, d. h. der
eigentliche Naturtrieb, natürlich zu sein und zu bleiben. Nun ist in sol-
chem dennoch Realität vorhanden, der Möglichkeit nach, denn die Liebe
ist schlechthin in allem Wissen, und diese Möglichkeit fällt ihm zufolge so
aus, wie sie ihm ausfällt, jedoch ihm unsichtbar und verhüllt. Der Trieb in
seinem Wissen bekommt nur die leere Erscheinung, die Hülle der Realität.
Setzet, er reflektiere, so wird ihm klar werden, warum die Erscheinung so
ist, wie sie ihm erscheint, und reflektiert er bis zu Ende, um als Gott inne-
wohnender Trieb sein Wesen zu offenbaren. Dazu kann es nur durch den
lebendigen Trieb kommen, Gott zu erkennen.
Jetzt ist alles das in ihm – und auch nicht: Es ist in ihm, in sich zu
gehen und sich zu besinnen; und es ist nicht in ihm, d. h. in seinem wirkli-

zttgtgtgtgzu
122 Ewa Nowak-Juchacz

chen Wissen und Denken, deswegen, weil sein Trieb, (der alleinige Quell
des wirklichen Wissens in ihm), nicht auf das Eine, Bleibende und Selbst-
ständige geht. So ist denn das göttliche Wesen – auf sichtbare und un-
sichtbare Weise – ewig fort das Reale in allem Sehen. Die Form des Se-
hens aber ist die Unendlichkeit. Könnte sie jemals vollendet werden, wür-
de Gott erscheinen, wie er ist, was unmöglich ist. Und so ist denn die Un-
endlichkeit die Kluft, die die Erscheinung Gottes, den ewig sichtbar Wer-
denden, von seinem inneren unsichtbaren Wesen trennt.
So ist die Welt aus zwei Momenten gebildet: Gottes innerem We-
sen und der Unendlichkeit. In der Welt sind beide unabtrennlich.

22. Vorlesung

Das Ich als Trieb und der Trieb als Ich (1751-178, 9)

176 Es kommt darauf an, sich in den Mittelpunkt zu versetzen, aus wel-
chem die unendliche Fünffachheit oder die Reflexionsform und der Sche-
matismus des Sehens hervorgeht. Eine andere methodische Hinsicht be-
steht darin, die Beziehung auf die Realität, das innere göttliche Wesen, im
Wissen aufzuzeigen, damit, obgleich das Schema an sich nichts ist, nicht

1 Gott ist das ist ein absolutes Postulat, von welchem einen Beweis zu fordern, ein
absoluter Widerspruch ist. 2. Setzet in ihm einen Trieb, sich zu wiederholen, so ist dieser Trieb
notwendig wirklich. Es ist in ihm durchaus keine Realität, also er kann nur als Wissen realisiert
werden 3. Dabei bleibt er Trieb, wenn auch in diesem Medium des Sehens: Also Trieb Gott zu
sehen, wie er in ihm selbst ist. Voraussetzung: Nur durch das Faktum kontingenten Daseins ist
[der Trieb] zu beweisen, und wir werden zuletzt an ein bloßes Faktum verwiesen werden. Zwei
Fragen: 1. welches wird das Faktum sein und wie wird das Faktum sein müssen, durch welches
die Richtigkeit jener Voraussetzung erwiesen würde? – Diese Frage zu beantworten, war die Ab-
sicht unserer bisherigen Deduktion. Es wird auch die Absicht ihrer heute zu liefernden Fortset-
zung sein. 2. Sie werden, falls Ihnen die faktische Beweisführung verdächtig sein sollte, nicht
ohne Grund fragen: Läßt sich denn nicht wenigstens a priori und aus Begriffen erweisen, dass die-
ser Erweis nur faktisch geführt werden könne? – Allerdings! und ich führe ihn: – Voraussetzung
ist, daß der angegebene Trieb und was daraus folgt, schlechtweg in Gott sei. Es kann daher dieses
alles, wenn es ist, nicht auch nicht sein; denn sein göttliches Sein kann sich nicht von seinem Sein
wieder trennen und losreißen. Und falls wir etwa selber dieses göttliche Sein sein sollten, wir
können uns nicht davon losreißen, welches ja einen Beweis desselben a priori voraussetzen
würde, sondern wir können es eben nur erfassen als unser unmittelbares und faktisches Sein. Wie
wir, in unserer gegenwärtigen Deduktion, uns selbst scheinbar aus der faktischen synthetischen
Einheit loszureißen vermögen, wird ohne Zweifel an der Stelle, wo die WL. sich selber erklärt,
begreiflich gemacht werden müssen. Als höchstwahrscheinlich aber läßt sich schon hier ersehen,
daß wir das Faktum gar nicht in seinem lebendigen Sein, sondern nur nach dem Gesetze ableiten,
nach welchem es zu Stande kommt, und daß wir selbst es sein mögen, die erklärt werden sollen –
allerdings in einer besonderen Gestalt. «

gzgutgtg
21. und 22. Vorlesung (Dritter Teil) 123

der Anschein entsteht, als ob ihm nichts zu Grunde läge, und die WL. sich
in Nihilismus verwandele.

Die Aufgabe ist nun, den Trieb als Trieb sichtbar zu machen (– und damit
das Faktum des Triebes aufzuzeigen).
I. Wie schon gezeigt, ist der Trieb zu sehen wirklich und in der
Tat, d. h. er ist als real zu denken, aber alle Realisierung des Triebes gibt,
da er Trieb bleibt, niemals eine wirkliche aus ihm erzeugte Realität, daher
bleibt der Trieb Sehen.
II. Da der Trieb allein im Sehen realisiert wird und das Sehen der
Trieb ist, sind beide unmittelbar identisch. D. i. Ich, das Sehen und Ich,
der Trieb, bin schlechthin eins zufolge der lebendigen Anschauung, in der
sich der Sehtrieb realisiert.
III. Als unmittelbares und absolutes Faktum ist das Ich nicht er-
schlossen, sondern angeschaut, allerdings nicht als real an sich, sondern
nur als notwendige Form der ursprünglichen Anschauung.
IV. Das Ich kann2 – wenigstens in dieser Anschauung – gesehen
werden als ein Trieb zu sehen (Gott nämlich, wie er selber ist) und er ist
als solcher sichtbar (TR2), wenn auch nicht unmittelbar (TR1). Wenn das
Ich nun so gesehen würde, wie würde es gesehen ? – Als die Anmutung,
Prinzip einer Anschauung Gottes zu werden; es würde erblickt als Prinzip
und zwar als sein sollendes Prinzip einer Anschauung, von der es aller-
dings niemals wirklich Prinzip werden kann, da es in dieser Rücksicht
schlechthin nur Trieb ist.
V. (S.177) Nun aber schaut sich das Ich auch an als wirklich! Und
zwar als Prinzip einer Anschauung von sich, aus sich, durch sich. Also als
Prinzip einer hingeworfenen schematischen Gestalt oder eines objektiven
Seins. In dieser unmittelbaren Schöpfung liefert die Anschauung das Ich,
und nur so wird das Ich durch sie geliefert. Also, wo wirkliche Anschau-
ung besteht, ist unmittelbar neue, drum ewig fort zu wiederholende, un-
endliche Kausalität a b c d e …

Damit entsteht die Frage: bleibt denn das in a b c d e Prinzip seiende Ich
dasselbe eine Prinzip und bleibt es auch sichtbar in dieser Einheit? Und
welches ist das Prinzip der Einheit des in der Unendlichkeit seines Sche-
matisierens nicht verfließenden Ich?

2 (176, 24-26) ȟber dieses kann machen Sie sich hier keine weiteren Gedanken, es
ist gewissermassen schon in der letzten Stunde erklärt worden und wir kommen darauf zurück«

zttgtgtgtgzu
124 Ewa Nowak-Juchacz

Gleich, ob das Ich unendliches Prinzip des unendlichen Schema-


tismus sei, oder ob es als solches nur durch unmittelbare Anschauung vor-
gespiegelt werde (wie das aus unserem obigen Beweis als wahrscheinliche
scheint): in beiden Fällen bleibt das (wirkliche unendliche Prinzip oder
das ein solches nur hinschauende) Ich dasselbe mit dem Ich des Triebes,
und es kann nicht entweder wirken, oder sich als wirkend anschauen ge-
gen sein inneres Wesen. Es schematisiert zufolge seines Seins, und sein
Geschöpf ist das notwendige Produkt seines ungeschaffnen Seins.
Angenommen, (– jenseits des Triebes, Gott zu schauen –) es läge
in dem Einem Ich auch der Trieb, Gott selbst zu werden, (d.h. sich mit ihm
zu vereinigen) und dieser Trieb wäre so realisiert, wie er allein realisiert
werden kann, so würde er sich als Gefühl äußern. Ein solcher Trieb würde
zu einem Handeln, dessen qualitatives Prinzip und Seele die Liebe zu Gott
wäre. Einen solchen Trieb würde nichts Wirkliches befriedigen, weil
nichts Wirkliches seinem Triebe entspricht. In diesem Triebe wäre die
Gottheit umfaßt als das nie zu realisierende, nur unmittelbar zu fühlende
Kriterium der Nichtigkeit alles Wirklichen. Auf diese Weise träte dann die
Realität in der Erscheinung ein, allerdings in verschiedenen Graden und
Stufen. Absolut aber und in der vollkommensten Gestalt träte die Realität
im sich selber klar gewordenen Leben ein.
Das Prinzip der Einheit des Ich hätte zwei Aspekte: 1. Idealiter als
Trieb, Gott zu schauen, 2. realiter als Trieb, sich mit ihm zu vereinigen.
Dieser Aspekt würde als Liebe und als qualitatives Prinzip des Handelns
gefühlt.

gzgutgtg
dddd

Helmut Girndt

179-187, 24
23. und 24. Vorlesung

23. Vorlesung

Der Trieb als Prinzip der Einheit von Einheit und unendlicher Mannigfal-
tigkeit (179,1-183,15)

Unsere Aufgabe bleibt immer noch dieselbe: die Mannigfaltigkeit, die wir
als fünffache Unendlichkeit kennen, aus absoluter Einheit abzuleiten. Sie
macht das Wissen erst möglich.

Dazu bedarf es:


1. einer in und durch sich selbst seienden Einheit ohne Wandel,
die absolut real im göttlichen Wesen gründet und Grundlage des Wissens
ist und aus der, weil sie ohne Wandel ist, nie ein anderes hervorgehen
kann. (A)
2. eines Prinzips der Mannigfaltigkeit, d. i. eine bloß dem Wissen-
schaftslehrer sichtbare zweite Einheit, welche durch sich selber notwendig
sich spalte. Es kommt darauf an, das Einheitsgesetz in Einem zu erblicken,
was das höchste synthetisch-analytische Kunststück der in ihrer Form
vollendeten WL ist.1 (B)
3. eines Prinzip der Einheit und des Zusammenhanges der beiden
ersten Prinzipe, worin sich finde, daß A selbst, jedoch ohne seine Einheit

1 Sie in ihrer vollendeten Form vorzutragen habe ich mir hier vorgenommen, denn,
»wenn es nur auf das Materiale der Einheit ankommt, nicht aber auf vollendete formale Kunst,
kann man auch anders verfahren. (So in meiner gedruckten WL.. Ich wusste es wohl, aber
vermochte es nicht auszuführen.)«

ddddd
126 Helmut Girndt

zu verlieren, eintrete in B und wiederum B, ohne die in ihm liegende abso-


lute Spaltung zu verlieren, A sei. 2

Das Erste gibt die ewig in Gott bleibende Realität seines inneren Wesens.
Das Zweite gibt das Wissen in seinen gesetzmäßigen Produkten. Das
Dritte, wie jene Realität vermittelst eines Mediums in das Wissen eintrete.

Gelöst wird die Aufgabe durch die Voraussetzung eines Triebes in Gott,
sich zu wiederholen, wie er innerlich ist, wobei das selbstständige Sein des
vorausgesetzten Triebes das Wissen ist, das als innere Einheit eins und in
seinem Sein unveränderlich ist.
Jener vorausgesetzte Trieb in Gott ist unwandelbare Einheit; denn
er kann niemals über sich herausgehen (181). Er ist daher das erste absolut
in sich selber Eine und Eins bleibende, ewig unwandelbare Prinzip, das
wir suchten. Er ist ferner Trieb Gottes, d.h. in ihm ist daher Realität erfaßt.
Und so ist denn die Identität des Triebes mit sich selbst in allen Fortschrit-
ten seiner Verwandlung das dritte Prinzip.
Dieser Trieb ist zunächst nur hypothetisch, also nur nach vollen-
deter Untersuchung [als existent anzunehmen]. Das Zweite ist unmittelbar
einleuchtend. Nur das Dritte ist Gegenstand unserer Untersuchung.
Das Fühlen. (182) Ein realer Trieb ist ein Streben, ein lebendiges
Ringen nach Kausalität, zu der es jedoch, weil er Trieb ist, niemals kom-
men kann.
Dieses Streben soll ein in ihm selbst abgeschlossenes immanentes
und selbstständiges Sein haben. Es ist Gefühl.
Dieses immanente Sein hat der Trieb nur zufolge seiner selbst und
seines absoluten Seins im göttlichen Wesen, zufolge seiner selbst, unmit-
telbar in seiner inneren Schöpferkraft. Es wäre ein sich Anhalten und sich
unmittelbar Wiederholen, zu dem sich machend, was er ursprünglich ist.
Nun muß sich diese Schöpferkraft zufolge des Triebes in ihrer
Unmittelbarkeit ins Unendliche wiederholen, was ein mittelbares Fühlen
gibt.
In diesem Fühlen wird der Eine und selber bleibende Trieb ge-
fühlt. So bleibt das Fühlen dem Inhalt nach dasselbe und es wird, im We-
sen unverändert, bloß wiederholt und nach jedem Mal wieder gesetzt.

2 Das Absolute bleibt also in ihm selber und wird nicht mit fortgerissen vom
Wandel. Diese Erkenntnis ist ausschließender Charakter der W.L. sonst wäre sie um nichts besser,
als die vorhergegangenen Systeme, welche zwischen der Einheit und Mannigfaltigkeit ewig im
Sprunge und auf der Flucht stehen. Z.B. Spinozas stehende Modifikationen der Gottheit.

gzgutgtg
23. und 24. Vorlesung (Dritter Teil) 127

Damit haben wir ein Glied gefunden, das Eins ist und unendlich
zugleich: das Fühlen. Und an ein solches Glied wird der geforderte Beweis
der Identität des Einen und des unendlich Mannigfaltigen angeknüpft wer-
den müssen.

(183) Zur Vorbereitung des Folgenden:

Setzet, dieses Fühlen des Triebes solle sich selbst verstehen und deuten, so
könnte es sich in aller Unendlichkeit fort nur also aussprechen: Das ist´s
nicht, was ich anstrebe: so fühle ich mich; das auch nicht, das auch nicht
usw. Es wäre in ihm daher
I. Ein Schema dessen, was es anstrebt, welches Streben ihm durch
das Gefühl gedeutet wird, und in welchem Schema nun durchaus nichts
von dem Inhalt des Strebens läge, sondern bloß ein allgemeines und leeres
Objekt desselben hingesetzt würde.
II. Dieses würde nun in aller Unendlichkeit wiederkehren, in der-
selben Leerheit.
III. Ein Schema dessen, was dem Triebe nicht gemäß befunden
wird, welches nun in aller Unendlichkeit sich ändern dürfte, und eben zu-
folge des niemals zu befriedigenden Triebes diese Schöpfung, die ihre Be-
friedigung versucht, zur Unendlichkeit ausdehnen würde. Hier erst wäre
nun eine wahre Wandelbarkeit in der Unendlichkeit. Auf die Reflexion,
die in ihrer ersten Form Fühlen ist, wäre also zu blicken.

24. Vorlesung

Widerspruch im Trieb: Die Einheit des Triebes und die Unendlichkeit des
Treibens (184-187, 24)

Das immanente Sein des Treibens und Strebens ist das Gefühl des Triebes.
Als Gefühl hätte der Trieb eine unmittelbare und innere Kausalität, die im
Produkte mit ausgedrückt sein müßte. Auf diese Weise entstände ein Füh-
len.

These: Bei dieser inneren Kausalität geht es um eine unmittelbare Kausa-


lität. Und da sie im absoluten Triebe liegt, ist sie notwendig unendlich. Es
handelte sich um ein ins Unendliche zu wiederholendes, seinem Gehalte
nach gleich bleibendes unveränderliches Fühlen.

zttgtgtgtgzu
128 Helmut Girndt

Aus dem folgenden Gegensatz ergibt sich nun, daß zwischen dem
Triebe in seiner absoluten Einheit und Einfachheit und seinem sich Erfas-
sen (Reflexion) ein noch zu ergänzendes Mittelglied übersprungen worden
sein muß.

Antithese: Jenes immanente Sein des Triebes, zufolge dessen er sich


fühlt, haben wir abgeleitet aus dem Sein der Triebes in Gott. Was aber in
Gott ist, ist eben schlechtweg; es wird nicht ins Unendliche fort. Das eine
Gefühl wäre demnach einmal, einfach und schlechtweg und durchaus
nicht ins Unendliche als ein Fühlen wiederholbar. Die obige These wäre
damit widerlegt.
Sie kann aber nicht aufgegeben werden, denn der Trieb kann sich
nur durch sich selber fassen und nur unmittelbar auf der Tat seines Erfas-
sens sich halten. Und wenn ein solches Erfassen in seinem Wesen liegt,
muß es ins Unendliche fortgehen – als ein unendlich wiederholbares Füh-
len. Beide Sätze müssen daher beibehalten und der Widerspruch zwischen
ihnen muß gehoben werden.

Zur Lösung dieses Widerspruchs muß ein vermittelndes Glied gefunden


werden. Gelingt es mit seiner Hilfe den Widerspruch zu lösen, ist bewie-
sen, daß das immanente Dasein des Triebes in einer gewissen Rücksicht
einfach, in einer anderen eine unendliche Mannigfaltigkeit sei.
Zur Lösung des Widerspruchs wird formelhaft von folgenden Set-
zungen ausgegangen (185):
1. Der Trieb hat sich schlechthin in der Gewalt
2. Der Trieb bringt sich schlechthin in die Gewalt.
3. Als den Widerspruch vereinigender These ergibt sich: Der
Trieb hat sich in der Gewalt, als sich darein bringend; und es bringt sich in
die Gewalt als sich darin habend.

Erläuterung:
1. Der vorausgesetzte Trieb hat sich in der Gewalt bedeutet, er ist
reines ruhiges Sehen, Hin- und Anschauung seines eignen Wesens: Das
»sich in der Gewalt Haben« drückt das projizierende Wesen des Triebes
aus.
2. Er hat sich in der Gewalt, als – dieses als drückt die weitere
Bestimmung des Sehens aus, wodurch das Sehen sich selber als Sehendes,
als Prinzip eines Sehens, d.h. als ein Ich faßt. – In dieser Bestimmung hält
es das Gewalthaben selber in seiner Gewalt. Es wird zur Freiheit, durch

gzgutgtg
23. und 24. Vorlesung (Dritter Teil) 129

eine weitere Bestimmung des Sehens, Prinzip eines verschiedenartigen


und gegenseitig sich ausschließenden Sehens zu werden.

Jetzt zu den beiden Wechselsätzen, um die verschiedenen Bestimmungen


der realen Freiheit darin zu erblicken!
a. Der Trieb hat sich in der Gewalt, er sieht und schaut sich an, als
sich in die Gewalt bringend; also eben als unendliches Prinzip seiner
selbst, durch das unmittelbare sich Erfassen.
So hatten wie wir schon in der vorigen Stunde argumentiert und
zu Anfang der heutigen wiederholt.
Jetzt wollen wir das Prinzip unsres eigenen Räsonnements be-
gründen, in welchem Reflektieren auf das Prinzip des eigenen Reflektie-
rens eben die transzendentale Kunst besteht. Denn es ist der Grundsatz
des Denkens, sich selbst aus sich selbst Erklärens.
b. Der Trieb bringt sich in die Gewalt, als sich, schon vor diesem
Bringen, absolute und ursprünglich, darin habend, heißt: er gibt sich eben
der absoluten, sich selbst machenden objektiven Anschauung der unmit-
telbaren Erfahrung hin, unter der Voraussetzung, daß diese wahr und rich-
tig sei, d. i. daß sie sein wahres inneres Wesen im Wissen ausdrücke, oder
in der Gewalt habe.

Eines erforscht das Prinzip des unendlichen Wissens und setzt dasselbe
identisch eben mit diesem erforschenden; dasselbe, das da setzt und er-
forscht, erschafft auch ins Unendliche fort. – Das andere schaut das sich
selbst ins Unendliche entwickelnde Prinzip hin. –
Hier liegt der schon berührte Wendepunkt zwischen den beiden
absoluten Polen des Wissens, dem absoluten Reflektieren und dem absolu-
ten sich Hingeben an die Anschauung.

Im Folgenden geht es uns darum, die innere Verschiedenheit der den bei-
den Weisen des Wissens zu Grunde liegenden unsichtbaren Freiheit zu er-
blicken. Das ist neu und wird uns weiter führen.
Gemeinschaftliche Voraussetzung beider Wissensweisen ist, daß
das unendlich sich fortgestaltende Wissen das Wesen ausdrücke, d. h.
Wahrheit und Realität in sich enthalte.
1. In der einen Ansicht wird vorausgesetzt, daß die Freiheit durch
sich, aus sich, von sich jene unendliche Fortgestaltung des Wissens schaf-
fe. Soll diese nun real sein, so muß die Freiheit nicht als Willkür gedacht,
sondern unter ein Gesetz ihres Schaffens gebracht werden. –Und so fällt
denn in dieser ersten Ansicht die Freiheit, gerade dadurch, daß sie sich als

zttgtgtgtgzu
130 Helmut Girndt

absolut setzt, dem Gesetze anheim, und es entsteht die Ansicht einer Not-
wendigkeit.
2. In der anderen Ansicht der Freiheit dagegen wird vorausge-
setzt, daß das unendlich sich durch sich selbst entwickelnde Sein die Frei-
heit der Anschauung zu ihrem Abbilde bilde; daher man eben nichts wei-
ter zu tun habe, als sich dieser aus sich selbst erfolgenden Gestaltung hin-
zugeben.

Beides ist eine Beweisführung für die Wahrheit des Gesehenen, nur aus
entgegengesetzten Maximen. Da das Wissen an dem Wechsel dieser bei-
den Beweisführungen ins Unendliche, von einem zu dem anderen, fort-
läuft, so dürfte es wohl keinen Stand halten. Das einzig Lehrreiche für uns
wird daher sein zu sehen, welches gemeinsame und fest zu haltende Glied
dem Wissen zu Grunde liegt.
Offenbar muß es die innere Zweifelhaftigkeit und Ungewißheit
sein, die zur Forderung eines Beweises treibt. Wie entsteht nun dieser
Zweifel und was ist er?
An der Wahrheit des Gesehenen wird gezweifelt. Dabei handelt es sich um
ein weiter bestimmtes Sehen: das Sehen überhaupt wird dahingehend an-
gesehen, ob Wahrheit in ihm sei. Auf diese Frage kann nun nur im dunke-
len Wissen die Antwort erfolgen: Ja! – Kommt aber das Wissen zu Ende
und wird sich klar, so erfolgt allemal die Antwort: Nein!
Durch dieses »Nein« wird das Wissen in die Unendlichkeit fortgetrieben.

Ergebnis:
Das Wissen wird durch die bloße Fragen nach der Wahrheit in ei-
nen unendlichen Zweifel an sich selber getrieben. Die Wahrheitsfrage im-
pliziert die Unendlichkeit und die Unendlichkeit die Wahrheitsfrage. – Als
Resultat böte sich an, daß nur im Sehen schlechtweg Wahrheit, im Sehen
des Sehens aber Leerheit sei. Das allerdings ist nicht unsre Meinung. Was
bleibt also übrig? Übrig bleibt, daß das Sehen des Sehens als Fortbestim-
mung des Sehens überhaupt möglich ist und darin mit dem reinen Sehen
zusammenhängt.

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Jacinto Rivera de Rosales

188,1-192,11
25. Vorlesung

25. Vorlesung

Auflösung des Widerspruches: Das Vermögen des Wissens (188-192,11)

Die Realisierung des Triebes (X) in der Erscheinung ist hier das Thema.
Zuerst, der Widerspruch aus den vorigen Vorlesungen:
– Der Trieb ist in Gott, und wird nicht: also Sein, nicht Werden.
– Der Trieb kann nur durch sich selber sich erfassen, und nur
durch dieses Erfassen sich halten, aber dann ist »ein ins unendliche wie-
derholbares unmittelbares Fühlen« (188, 9): also Werden.
Als Lösung sollen wir ein neues Glied in die synthetische Kette
einschieben: das Vermögen (B).
Unsere Voraussetzung war: Es gibt ein Trieb (X) in Gott (A), sich
zu sehen, sich zu äußern, in medio des Sehens sich zu wiederholen, sich
mitzuteilen.
Dieser Trieb wurde Sehen (C), und als Trieb blieb er verborgen.
Nun ist unsere Aufgabe, ihn als Trieb heraustreten zu lassen, den »Trieb
zu sehen« (176, 10): eben als Vermögen (B). Am Anfang unserer Vorle-
sung wird dieser Widerspruch, aber in umgekehrter Ordnung wiederholt:
– Der Trieb soll von sich wissen, dieses Wissen soll er sich selber
wegen der Absolutheit des Seyns des Triebes schaffen, und dieses Selbst-
wissen bringt mit sich eine Wiederholung des Sichfühlen, also Werden.
– Aber aus dem selben Grund, weil der Trieb in Gott ist, kann er
nicht ein ewiges Werden sein, sondern muß er ein Sein »mit Einem Schla-

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132 Jacinto Rivera de Rosales

ge« (188, 13-14) ohne Werden sein. Wir begegnen hier nochmals dem
Problem zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit, der eigentlichen und letz-
ten Aufgabe aller Philosophie (188, 25-26), nämlich wie
– die absolute Einheit und Unveränderlichkeit Gottes,
– und die unendliche Veränderlichkeit im Wissen, nebeneinander
bestehen und wie Mannigfaltigkeit aus der Einheit folgt. Wir sollen dabei
nicht das Eine verlieren, nicht es in die Veränderlichkeit hinabsteigen und
das göttliche Sein selbst in die Erscheinung eintreten lassen, wie es Spino-
za und die heutigen Spinozisten tun. Vielmehr ist zu zeigen, wie seine Er-
scheinung Eins ist, und zugleich Unendlichkeit wird, »das Hauptproblem
der WL« (189,9) bei Hinabsteigen.
Lösung: das Entscheidende enthält der zweite Satz des Wider-
spruches: der Trieb in Gott ist kein Werden, sondern ein Sein; nur darin
»tritt Gott heraus« (191,20). Das Werden müssen wir aber nur innerhalb
einer bestimmten Grenze gelten lassen. Dann kann »der Trieb nur als ste-
hendes u. festes Faktum eintreten« (190,15) für die WL, und zwar als ei-
nes vom innern göttlichen Seyn unterschiedenen Dasein, aber an Gott, in
Gott und so Gottes selber, doch nur mittelbar. Die Wissenschaftslehre ist
denn Realismus, doch nur im Wissen (wie alle idealistischen Behauptun-
gen). Das ungewordene Sein des Triebes ist das Vermögen, diese Einsicht
zu erzeugen, und zwar das absolute Vermögen, Gott einzusehen, die
Denkbarkeit Gottes zufolge des Satzes vom Grunde.
Dieses Vermögen ist das neue Glied in der synthetischen Kette,
das den Widerspruch löst, der Vereinigungspunkt von Unendlichkeit und
Einheit:
– Jenes absolute Dasein (die äußere Existenz) Gottes ist ein Ver-
mögen (einer gewissen Erzeugung), und so tritt Gott in einem nicht wer-
denden Sein heraus, denn das Vermögen ist immer eins und dasselbe.
– Aber die Erzeugung dieses Vermögens ist möglich ins Unendli-
che in seiner Äußerung eben darum, weil es absolutes Vermögen ist; es
bedarf also nichts, um die Einsicht zu vollziehen, aber es kann sich auch
dessen enthalten, und diese Vollziehung vernichten, und wieder eine neue
vollbringen. »Und so ist es Eins, weil das Vermögen [Eins] ist, u. kann
seyn u. werden ins Unendliche in seiner Äußerung fort aus eben dem
Grund, weil es [absolutes] Vermögen ist« (191,16-17). Das Vermögen ist
das absolute Accidens Gottes, und bildet das Ich, wie wir früher schon ge-
sehen hatten. Dieser Trieb ist die Wurzel unseres Daseins (172, 1), »und
das Sehen nicht Accidens und Produkt des Ich, sondern das Ich Produkt
des Sehens« (130, 10-11).

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Jan Seide

193-198,28
26. und 27. Vorlesung

26./27. Vorlesung

Das Vermögen als Möglichkeit des Vollzugs des Triebes, Erster Teil (193-
198,28)

Zusammenfassende Übersicht über das bisher Erreichte. Mit den Vorträ-


gen XXVI. bis XXVIII. schließt die Königsberger WL von 1807 – diese
drei abschließende Vorträge haben daher nicht wenig zu leisten. Einerseits
muß die Arbeit am Absoluten als Grundlage aller Erscheinung zu Ende
geführt und die Einheit als solche ohne jede weitere Qualifizierung ste-
hengelassen werden. Andererseits muß der Übergang zur unendlichen
Aufspaltung dieser Einheit zwar nicht in einer vollständigen Phänomeno-
logie ausgearbeitet, aber doch immerhin in Gang gesetzt werden. Um das,
worum es daher in diesen letzten Vorträgen geht, besser einordnen zu
können, soll deren eigentlicher Analyse nochmals eine grobe Übersicht
über das bis dahin Erreichte vorangestellt werden.
Nach dem bisher Erarbeiteten zeigt sich, daß man die Königs-
berger WL von 1807 in drei Hauptabschnitte unterteilen kann. Im ersten
wurde am inneren Aufbau von Anschauen und Denken gearbeitet, Thema
war also die S t r u k t u r d e r E r s c h e i n u n g. Unter der Anfangs-
voraussetzung, das Leben sehe sich selbst, und mit dem Konzept des
Schema (als die der Erscheinung zugrundeliegende Operation im Wissen)
sowie der Anwendung dieses Konzeptes auf sich selbst im Schema des
Schema (in der sich dann auch dessen Begrenztheit offenbart) gelangte

ddddd
134 Jan Seide

Fichte am Ende dieses ersten Abschnittes zu dem Ergebnis, daß das Leben
Prinzip der Einsicht ist, daß es selbst als Prinzip des Sehens unsichtbar ist
– es ist also Prinzip einer Einsicht über sich selbst.
Da es im Wissen weiter nicht kommen kann als bis zu dieser
Selbstverständigung, bestand die nun folgende Aufgabe darin, die Kluft,
die sich zwischen dem absoluten und dem im Wissen erfahrenen Leben
aufgetan hat, zu verdeutlichen. Dieser H i a t u s war das Thema des zwei-
ten Abschnittes, dessen Ergebnis darin bestand, daß im Absoluten ein
Trieb herrscht, sich zu äußern, wobei dieser Trieb lediglich hypothetisch
gesetzt wird und faktisch auszumitteln ist. Diese nicht mehr hintergehbare
Faktizität ist Ausfluß der Einsicht, daß der Hiatus, also die Kluft zum Ab-
soluten, per definitionem nicht mehr übersprungen werden kann und jeder
Versuch, jenseits dieser Kluft Begründungsversuche zu errichten, als Wi-
derspruch in sich scheitern muß.
Der dritte und letzte Abschnitt dieser WL hat sich daher der Ar-
beit am Absoluten als der G r u n d l a g e a l l e r E r s c h e i n u n g zu
widmen, was allerdings nur noch diesseits der Kluft geleistet werden
kann. Im Zuge der Lösung dieser Aufgabe ergab sich das Vermögen als
Möglichkeit des Vollzugs des Triebes des Absoluten, sich zu äußern. An
diesem Punkt zwischen Trieb und Vermögen setzt nun der XXVI. Vortrag
ein.

Fortführung des Hauptgedankens. Fichte betont gleich zu Beginn dieses


Vortrags ganz deutlich, daß man mit dem obigen Resultat noch immer
nicht am Ziele sei (193,16). Gemäß dem in den späten Wissenschafts-
lehren immer wieder angewendeten genetischen Verfahren muß eine fak-
tisch dastehende Differenz in einem neuen Gedankenschritt über ein ver-
einheitlichendes Prinzip durchleuchtet und damit aufgelöst werden. Nach
dem Stand zu Beginn des XXVI. Vortrags steht man also vor dem Pro-
blem, ein solches Prinzip zwischen den bisher faktisch nebeneinander ste-
henden Gliedern Trieb einerseits und Vermögen andererseits aufzufinden.
Und so formuliert Fichte als nun anstehende Aufgabe, man müsse zwi-
schen die uns jezt bekannten, den vorausgesetzten Trieb, als das erste, u.
das Vermögen, als das vorgebl. Faktum, in welchem er unmittelbar eintre-
ten sollte, noch ein drittes in die Mitte setzen (193,23ff). Zunächst geht es
jedoch darum, Vorüberlegungen anzustellen, wie bzw. wo der neue Schritt
über die Glieder Trieb und Vermögen hinaus überhaupt anzusetzen ist.
Ausgehend vom Vermögen als einem der beiden Glieder ergibt
sich die folgende Problematik. Würde das Vermögen keinerlei Kausalität

gzgutgtg
26. und 27. Vorlesung (Dritter Teil) 135

unterliegen, so bliebe es lediglich bei der schon erwähnten Möglichkeit


des Vollzugs, es käme jedoch nie zur Wirklichkeit (d.h. zur tatsächlichen
Äußerung des Absoluten), die ja ohne ein Bedingungsverhältnis nicht ein-
treten kann. Würde man dem Vermögen daraufhin eine diesbezügliche
Kraft zuweisen, die den Vollzug gewährleistet, hätte das die Konsequenz,
daß neben dem Absoluten ein von ihm unabhängiges movens existierte,
das seine Äußerung in Gang setzt – dieses hätte einen eigenständigen Sta-
tus, käme also einem zweiten Absoluten gleich, was offensichtlich wider-
sprüchlich ist. Da der Vollzug demgegenüber ausschließlich dem Absolu-
ten selbst verpflichtet sein muß, verbleibt nur das andere der beiden Glie-
der, also der Trieb des Absoluten, als Quelle der in Rede stehenden Kraft:
das Vermögen muß aus dem Trieb hervorgehen und nicht umgekehrt.
Fichte drückt das auf die folgende Weise aus: »nemlich, wenn jenes abso-
lute Faktum an Gott ein bloßes reines Vermögen ist, ohne alle Kausalität,
oder Grund einer Kausalität, so bleibt es entweder ewig bei dieser reinen
Möglichkeit, ohne alle Vollziehung; oder sezt man[,] es komme zu dersel-
ben, so bedarf es dazu einer Kraft d.V., die, da sie nicht in Gott gegründet
ist, in welchem ja das bloße Vermögen gegründet ist, aus sich von sich
durch sich selbst ist, also ein eigentliches zweites Absolute [...] Wir müß-
ten daher, zur Füllung der Lüke zeigen, wie aus dem Triebe das Vermögen
[...] hervorgehe« (193,31ff / 194,14ff). Die erste Vorüberlegung zur Ein-
leitung des vereinigenden Schrittes über Trieb und Vermögen hinaus hat
also zum Resultat, daß vom Trieb auszugehen ist, nicht vom Vermögen.
Ruft man sich in Erinnerung, daß es im dritten Abschnitt dieser
WL um die Arbeit an der Grundlage aller Erscheinung geht, ist dement-
sprechend die Umsetzung des Triebes, d.h. sein Zutagetreten in der Reali-
sierung zur Erscheinung, zu untersuchen. In der denkenden Beschäftigung
damit spaltet sich diese Fragestellung sofort in zwei Teilfragen: es geht
darum, was umgesetzt wird und wie es umgesetzt wird. Ursprünglich ein
und dasselbe, zerfällt uns das Problem aufgrund unseres denkenden äußer-
lichen Zugriffs daher in die beiden Facetten Gehalt und Form – eine Fi-
gur, die bei Fichte immer wieder auftaucht. Fichte formuliert den an dieser
Stelle vorliegenden Unterschied »scharf: Zwei Sätze: der Trieb ist r e a -
l i s i e r t ; der T r i e b ist realisiert. Es versteht sich, daß beides in der Sa-
che selbst eins ist, u. daß nur wir, analytisch-synthetisch denkend, beides
zuerst absondern, um es später zu vereinigen« (195,3ff). Die Erörterung
dieser beiden Sätze ist von grundlegender Bedeutung, dementsprechend
nimmt sie den Rest des XXVI. Vortrags in Anspruch.
Betrachtet man zunächst die Form, also die Art und Weise der
Realisierung des Triebes, so geht es um die Frage, wie die Beziehung des

zttgtgtgtgzu
136 Jan Seide

Triebes zur Erscheinung ausgestaltet ist, in welchem Verhältnis beide zu-


einander stehen. Da es sich um einen Trieb des Absoluten handelt, kann es
bei seiner Realisierung nicht um eine – wie auch immer geartete – Qualifi-
zierung des Triebes gehen, sondern lediglich um seine Rolle beim Aus-
drücken des Absoluten in der Erscheinung. Aufgrund dieses Gebunden-
seins an das Absolute erwächst dem Trieb im Zuge seiner Realisierung
kein mit eigenem Inhalt gefülltes, sondern lediglich ein seine Rolle aus-
drückendes Dasein: er bleibt Schema und damit formale Anschauung. Das
Dasein des Triebes, d. h. seine Realisierung in der Erscheinung, besteht
also darin, Anschauung als direkter Ausdruck des Absoluten zu sein. In
Fichtes Worten: »Hier aber ist von der Realisation des Triebes, so wie er
in Gott ist, ohne weitere Bestimmung die Rede, u. in dieser Rüksicht ist in
ihm durchaus kein Seyn, da er nur Trieb ist [...] mithin kann auch in sei-
nem unmittelbaren Ausdruke gar kein bestimmtes Seyn liegen: Sein Aus-
druk ist daher Schema überhaupt des bloßen formalen Seyns [...] Seyn des
Triebes ist nothwendig Anschauung; wiederum Anschauung läßt sich be-
greifen nur als Seyn des Triebes« (195,25ff). Bei dem an dieser Stelle von
Fichte verwendeten Begriff Seyn ist zu beachten, daß damit natürlich nicht
das absolute Sein gemeint ist, sondern das auf der Realisierung basierende
Dasein in der Erscheinung.
Widmet man sich auf der anderen Seite dem Gehalt, also dem
Trieb selbst, der realisiert wird, so steht zur Diskussion, was damit über-
haupt als Erscheinung ins Dasein tritt und hinter der oben konstatierten
formalen Anschauung steht. Wie immer wieder betont, handelt es sich
zwar um einen Trieb des Absoluten. Andererseits bleibt er jedoch immer
Trieb in Bezug auf das Absolute und geht vom Gehalt her nie völlig im
Absoluten auf, sondern bewirkt überhaupt erst dessen Äußerung in der Er-
scheinung. Aufgrund dieser Funktion ist er dann aber auch ein Trieb zur
Realisierung seiner selbst – als Anschauung, wie sie sich oben als forma-
ler Aspekt der Umsetzung ergeben hatte. Der Trieb steht somit in einem
Selbstverhältnis: er ist eine auf sich selbst gerichtete Anschauung, Ich.
Fichte artikuliert das in der folgenden Weise: »Der T r i e b ists, der reali-
sirt ist. – Seine Realisation ist absolute Kausalität in der Welt der Schema-
ten. Doch bleibt er Trieb, u. ewig Trieb in Beziehung auf die wahre Reali-
tät in Gott. Dies alles ist er, wie wir gesagt haben, nur inwiefern er realisirt
in der absolut Einen Anschauung: die hier eine Anschauung seiner eigenen
Realität würde, als unmittelbarer Ausdruk dieser Realität selber [...] also
die Anschauung Ich.« (195,19ff).

gzgutgtg
26. und 27. Vorlesung (Dritter Teil) 137

Die Schwierigkeit bei der Erörterung der Realisierung des Triebes


ist schon zu Beginn erwähnt worden. Was ursprünglich untrennbar mitein-
ander verbunden ist, zerfällt in der Betrachtung zunächst in zwei Teile –
den formalen und den inhaltlichen – , die aber nur in ihrer gegenseitigen
Durchdringung überhaupt verstanden werden können und daher in gewis-
ser Hinsicht wieder vereinigt werden müssen. Genau dieses methodisch
nicht zu umgehende Problem ist es, was die beiden obigen Betrachtungen
darüber, was mit dem Trieb realisiert wird und wie das geschieht, so
schwierig macht, da beide jeweils nur einen – weder in sich geschlossen
diskutierbaren noch auf dem anderen beruhenden – Teil eines reflexiv
nicht mehr greifbaren Selbstverhältnisses ausmachen: »Diese Anschauung
des Ich ist u. bleibt in sich selber Trieb, in ihrem medio, also Trieb des
Anschauuens: weßen? seiner selbst in seinem inneren Wesen, d. i. worauf
der absolut r e a l i s i r t e Trieb gehe, welches, wenn es anschaubar wäre
zugleich [...] Dieses ganze synthetische System nothwendig in einem
Schlage: ist nun das Seyn des Triebes in Gott selbst: und diese Anschau-
ung ist Eins unveränderlich, u. ewig sich gleich« (195,27ff). Wie in allen
anderen Wissenschaftslehren beruht also auch in der Königsberger von
1807 die Erscheinung – hier: die Realisierung des Triebes – auf einem
Selbstverhältnis. Man kann sich nun fragen, ob es noch dasselbe ist wie
z.B. in der Grundlage von 1794; im XXVII. Vortrag gibt Fichte jedenfalls
wichtige Hinweise im Hinblick auf das hier zum Tragen kommende Ich.
Diesem Ich, in dem die Realisierung des Triebes besteht und das
somit die faktische Verfaßtheit des Daseins (der Erscheinung) darstellt,
kommt natürlich kein absolutes Sein mehr zu. Als Ausdruck des Absolu-
ten ist es allerdings ein unhintergehbares Faktum: es kann in Richtung des
Absoluten nicht weiter hinterfragt oder gar beweisartig aus ihm abgeleitet
werden, in seinem Selbstverständnis besteht jedoch die Gewißheit, selbst
dieser Ausdruck zu sein. Diesem immanenten Aspekt (man könnte ihn
auch den Seinsaspekt nennen), auf dem Absoluten zu beruhen, steht der
emanente gegenüber, eben das Absolute selbst doch nicht zu sein, sondern
nur dessen Äußerung in der Erscheinung. Diese Disjunktion zwischen Ich
und Sein (Nicht-Ich) ist rekursiv: sie taucht auch im Ich selbst wieder auf.
Fichte beschreibt diese Zusammenhänge so, daß der Begriff des »Seins
Ausdruk eines noch tiefer verborgenen immanenten Seyns ist, des Seyns
des Triebes, welcher wiederum Ausdruk ist eines Seyns an Gott [..] Das
immanente Seyn des Faktums selber drükt in diesem Hinschauen unmittel-
bar sich aus durch das G e f ü h l der Gewißheit [...] Dieses Seyn muß nun
eben a l s S e y n , in einen Gegensatz zu einem andern, das nicht das Seyn
ist, gebracht werden; eben als emanent, u. objektiv; a u ß e r dem andern.

zttgtgtgtgzu
138 Jan Seide

Welches ist dieses a n d e r e : Das was eben noch da ist, die faktische Rea-
lisation des Triebes, u. zwar [...] außer dem Seyn, u. dieses außer ihm: also
ein unmittelbares Ich, das da nicht ist das Seyn: – . Hauptsache: diese Dis-
junktion zwischen dem Ich und dem Seyn (dem NichtIch) ist schlechthin,
sie ist das absolute Faktum des Daseyns des Triebes selbst« (197,21ff).
Es kann noch ein weiterer Punkt angegeben werden, der ein Licht
auf die Einordnung des Ich zwischen Absolutem und Erscheinung wirft.
Da das Ich die faktische Verfaßtheit der Erscheinung darstellt, ist es zwar
auch Grundprinzip alles in der Erscheinung stattfindenden Schematisie-
rens, wie es aus dem ersten Hauptabschnitt dieser WL bekannt ist. Es ist
jedoch keinesfalls Prinzip der (ersten) Schematisierung des absoluten
Seins, mit der die Äußerung des Absoluten überhaupt einsetzt: selbst Äu-
ßerung des Absoluten, ist auch das Ich Ausfluß dieses ersten Schrittes, der
von ihm selbst nicht geleistet werden kann. In dieser Hinsicht besteht eine
ganz klare Beschränkung des Ich im Hinblick auf das Absolute, die ein
weiteres Licht auf seine nicht mehr hintergehbare Faktizität und die schon
im zweiten Hauptabschnitt konstatierte Kluft zwischen Absolutem und Er-
scheinung wirft: das Ich kann sich seine Grundlage nicht selbst geben. Das
Ich »ist a b s o l u t e s P r i n z i p der Schematen; also als könnend pp.
Bemerken Sie[:] nicht etwa als Prinzip des Schema des Seyns, denn dieses
wird projicirt aus der Einen Anschauung, aus welcher mit demselben
Schlage auch das Ich projicirt wird, u. diese ist schlechthin in Gott, u. wird
dem Ich nicht zugeschrieben [...] sondern als mögliches Prinzip anderer
Schematen schlechthin aus ihm, u. von ihm ins unendliche (198,19ff).
Damit sind alle Vorbereitungen getroffen, um nun den schon zu
Beginn des XXVI. Vortrags angekündigten letzten Schritt über Trieb und
Vermögen hinaus zu tun. Es hatte sich ergeben, daß vom Trieb und nicht
vom Vermögen ausgegangen werden muß. Des weiteren hatten die Über-
legungen zur Realisierung des Triebes das Ich als Grundlage der Er-
scheinung ausgewiesen. Dabei hat sich jedoch gezeigt, daß das Ich zwar
den immanenten wie auch den emanenten Aspekt der Erscheinung als Äu-
ßerung des Absoluten aufweist, aber insofern formal bleibt, als es nicht
selbst ins Leben treten kann: es ist zwar beschrieben worden, wie der Trieb
realisiert wird und was dabei realisiert wird, nur ist es damit noch nicht
zur Verwirklichung gekommen. Diese Verwirklichung selbst muß also
noch vollzogen werden, um sagen zu können, die WL sei vollendet. Daß
es nicht das Absolute selbst sein kann, was in die Disjunktionen, wie sie
der Erscheinung eigen sind, eintritt, ist per definitionem klar und auch
immer wieder hervorgehoben worden. Es muß daher in den Trieb selbst

gzgutgtg
26. und 27. Vorlesung (Dritter Teil) 139

ein lebendiges Prinzip gesetzt werden, das den Schematismus des Ich in
Gang setzt, damit es zur Verwirklichung des Daseins – der Realisierung
des Triebes – kommen kann: das ist das gesuchte Mittelglied, das den letz-
ten Schritt über Trieb und Vermögen hinaus ermöglicht. Fichte beschreibt
diesen letzten Schritt in der folgenden entscheidenden Passage: »Zum ent-
scheidenden Schlage: Ich sage, durch alles bisher gesagte ist der Trieb, als
solcher noch gar nicht realisirt; u. das Faktum, das wir suchen, ist nicht er-
schöpft. Es ist noch gar kein wahrhaftiges Daseyn außer dem göttlichen
Seyn, dergleichen doch der Trieb ausdrückt, wirklich geworden [...]. Also
in allem Ernste: ein l e b e n d i g e s P r i n z i p außer dem göttlichen
Seyn, u. ein eignes immanentes formales Leben, aus sich von sich, müste
in den Trieb gesetzt werden. Dies ist das neue Glied. Die Form dieses Le-
bens aber haben wir soeben kennen gelernt: es ist die der A n -
s c h a u u n g : Kurz: es muß ein solches Prinzip, wie soeben das Ich ange-
schaut wurde, wirklich u. in der That geben: ein P r i n z i p d e s S c h e -
m a t i s m u s , eine absolute Schöpferkraft von bloßen Schematen aus sich
von sich durch sich: u. dies ist erst das Leben des Triebes; das da ist,
w e i l der Trieb in Gott ist: aber nicht Gottes Leben selbst, sondern nur
das Leben des Triebes ist« (198,29 ff). Es mag zunächst widersprüchlich
klingen, wenn nun noch ein weiteres lebendiges Prinzip außer dem göttli-
chen Seyn (199,3) angesetzt wird – wurde doch bisher immer streng darauf
geachtet, daß kein zweites Absolutes in die Argumentation eindringt. Be-
denkt man jedoch, daß das geforderte lebendige Prinzip das »Leben des
Triebes ist; das da ist, weil der Trieb in Gott ist« (199,9), so ist klar, daß
auch dieses Leben Ausfluß des absoluten Lebens ist, allerdings ohne es
selbst zu sein.
Damit ist der letzte große Schritt bei der Arbeit an der Grundlage
der Erscheinung getan. Zur Vollendung der WL ist lediglich noch zu zei-
gen, auf welche Weise sich die erste Disjunktion der Erscheinung in eine
unendliche Mannigfaltigkeit auffächert – das ist Thema des XXVIII. Vor-
trags (wie in der WL 1804 auch). Den XXVII. Vortrag beschließt Fichte
mit Vorüberlegungen zum Grund der Unendlichkeit in der unmittelbaren
Anschauung des Ich als sein Prinzip.

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Karsten Thiel

198, 29-202,20
27. und 28. Vorlesung

27. Vorlesung

Das Vermögen als Möglichkeit des Vollzugs des Triebes, Zweiter Teil
(198,29-200,19)

Fichte setzt nun zum entscheidenden Schlage an, indem er zunächst die
Realisierung des Triebes in Frage stellt. In einem damit, daß die Realisie-
rung des Triebes in Frage steht, sei dann auch das gesuchte Faktum nicht
erschöpft. (198,29f.) Nach allen Ausführungen zur Realisierung des Trie-
bes in der 26. und zu Anfang der 27. Vorlesung dürfte diese Feststellung
erstaunen. Doch ihre Begründung knüpft sogar an eben diese vertiefende
Betrachtung gewissermaßen der Momente dieser Realisierung – ›der Trieb
ist realisiert‹ (197,6-29) einerseits und ›der Trieb ist es, der realisiert ist‹
(197,30-198,28) andererseits – an. Genauer führt sie offenbar sogar das
zweite der beiden Momente, daß es nämlich der Trieb ist, der realisiert
wird, fort, wenn es heißt, daß der Trieb als solcher noch nicht realisiert sei.
Im einzelnen stellt die Begründung der Feststellung, daß der Trieb
noch nicht realisiert sei, nun darauf ab, daß »noch gar kein wahrhaftiges
Daseyn außer dem göttlichen Seyn, dergleichen doch der Trieb ausdrükt,
wirklich geworden« sei (198,31f.). Ohne seinen Ausdruck kann der Trieb
als solcher in der Tat nicht realisiert sein. Daß dem aber auch so ist, bedarf
seinerseits wieder der Begründung. Dazu wirft Fichte nun die Frage auf:
»[I]n der Anschauung, die wir soeben als das höchste hingestellt haben,
was wäre denn in ihr das seyende = anschauende[?]« (198,32-34) Um zu-

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142 Karsten Thiel

nächst die Berechtigung dieser Frage in dem vorliegenden Zusammenhang


einsehen zu können, braucht man sich nur die Anschauungsthematik im
Zusammenhang des Triebes in Erinnerung zu rufen: die Realisierung des
Triebes in rein formaler und leerer Anschauung (195,24-30), die Anschau-
ung als notwendiges Sein des Triebes (195,31-196,5) und schließlich die
absolute Anschauung des Ich aus der Disjunktion zwischen dem Ich und
dem Sein (Nicht-Ich) als dem Faktum des Daseins des Triebes.
Da es nun Fichte zufolge offenbar Gott selbst sein soll, der in der
Anschauung als dem höchsten Punkte in einem das Seiende und An-
schauende sein soll, so müßte er »in der Einheit u.[nd] Untheilbarkeit sei-
nes Wesens eintreten in die Disjunktionen, die wir in dieser Anschauung
nachgewiesen haben, u.[nd] sein inneres reales Daseyn von u.[nd] in sich
selber in ein bloß formales außer sich selbst verwandeln, was sich wider-
spricht.« (198,34-199,2) Sind das Seiende und das Anschauende beide
wesentlich innerhalb der Anschauung, dann liegt ein Widerspruch also of-
fenkundig keineswegs darin, daß Gott unter Wahrung seiner Einheit und
Unteilbarkeit in die Disjunktionen der Anschauung eintreten soll. Ein Wi-
derspruch liegt vielmehr darin, daß er in einem damit sein inneres forma-
les Dasein von sich aus in ein bloß formales Dasein außer sich selbst ver-
wandeln soll. Der Widerspruch ist also keiner von disjunktiver Anschau-
ung und Einheit, sondern ein topologischer. Seine Behebung macht den
entscheidenden Schlag aus.
Diese letzte Feststellung des Widerspruchs als eines topolo-
gischen hilft einzusehen, daß es bei dem nun gesuchten »lebendigen Prin-
cip außer dem göttlichen Seyn« (199,3) um ein Prinzip extra, nicht praeter
dem Sein Gottes gehen muß. Damit ist der entscheidende Schlag bereits
im wesentlichen vollzogen. Denn nun kann dem immer noch lediglich
formalen inneren Sein endlich ein ‚äußerer’ Gehalt an die Seite gestellt
werden; ein neues Prinzip als »absolute Schöpferkraft [...] u.[nd] dies ist
erst das Leben des Triebes.« (meine Herv.) (199,5-10) In der Wiederho-
lung in der anschließenden 28. Vorlesung spricht Fichte in demselben Zu-
sammenhang dann von der Anschauung, die ihr lebendiges Prinzip in sich
selbst habe (201,19f.).
Mit dem Sein, das Prinzip des Seins des Lebens oder des Triebes
sein soll, mit dem alles Wissen erst anfängt, »ohne daß es selber im aller
mindesten dabey sei, oder bleibe« und das wiederum als solches jenseits
allen Wissens liegt, kann nun wohl wiederum allein Gottes Sein gemeint
sein (199,11-13). Damit wäre an dieser Stelle also zugleich auch schon das
Ende allen Wissens erreicht.

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27. und 28. Vorlesung (Dritter Teil) 143

Nun bedarf es noch zweier erläuternder Schritte, teils um den frü-


heren Ausführungen zur Realisierung des Triebes in dieser Vorlesung ge-
recht zu werden. Zum einen geht es Fichte nun darum, das Principium, al-
so nicht wie eben den epistemischen oder idealen, sondern den realen Ur-
sprung des neu erschlossenen Prinzips zu bestimmen; zum andern darum,
die bereits in den früheren Erörterungen zur Realisierung des Triebes fest-
gestellte sogenannte Emanenz des Prinzips selbst zu erweisen. Dies ist
Gegenstand der beiden folgenden Abschnitte (vgl. 199,14-24).
Ferner steht die Frage nach dem Ursprung des neu ermittelten
Prinzips an, insofern es sich ›als Accidens‹ (199,30) als Prinzip seiner
selbst erweisen soll (199,25-29). Schließlich soll die ‚Anschauung seiner
selbst, u.[nd] des göttlichen Seyns, u[nd] dieses alles ist ja Eins«, erklärt
werden (199,30-200,2). Als Prinzip seiner Selbstanschauung soll es
schließlich sich selbst auch als solches, das heißt als Prinzip der faktischen
Selbstanschauung überhaupt anschauen können müssen (200,3-5). Die
faktische Selbstanschauung überhaupt des Prinzips an dieser Stelle gezeigt
zu haben ist ein Anspruch Fichtes, den er in der folgenden Vorlesung, in-
sofern sie allein dieser Frage gilt, wieder zurücknehmen wird.
Der Beschluß der gegenwärtigen Vorlesung ist nur noch program-
matisch angelegt und stellt zwei Leistungen in Aussicht, die nicht mehr –
erst recht nicht in der 27., aber auch in der anschließenden letzten 28. Vor-
lesung – erbracht werden. Einmal geht es um den Wechsel zwischen An-
schauung und Denken in der Selbstanschauung, welche der Ort der bereits
weit früher diskutierten Fünffachheit sein soll. Zum zweiten stellt Fichte
auf das Reale in der Erscheinung ab. Es soll anscheinend nun an dieser
Stelle eingelöst werden, was er schon eingangs der laufenden Vorlesung
angekündigt hatte, daß nämlich nach der Abstraktion des absoluten Sche-
matismus des Nichts Raum und Zeit (197,1f.) erkannt werden sollen.
(200,5-19)

28. Vorlesung

Zusammenfassung und offene Probleme (201-202,20)

Der überwiegende Teil der 28. Vorlesung gilt einer Zusammenfassung der
vorangegangenen Vorlesung. Anstatt aber noch auf die beiden Fragen zu
sprechen zu kommen, die er am Ende der 27. Vorlesung angerissen hat,
problematisiert Fichte erneut die Frage der ›faktischen Selbstanschauung
überhaupt des Prinzips‹. (201,2-28).

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144 Karsten Thiel

Der erste Schritt der vertiefenden Beantwortung dieser Frage ist


in Fichtes eigenen, ungewöhnlich ausführlichen und klaren Worten fol-
gender:

»Wenn das vorausgesezte Princip schlechthin schematisch ist, pro-


jicirend, das Seyn absetzend außer sich selbst, objektivirend, so ist
es daßelbe auch in Beziehung auf sein eigenes Seyn. Es versezt
daßelbe aus sich heraus: u.[nd] stellt es objektiv vor sich hin (...).
[...] Es projicirt [...] sich. Wie denn? als Ich, als schematisches
Princip. Es drükt daher im seyenden Schema gerade das aus, u.[nd]
sezt es ab, was es in lebendigem Schematisiren thut: u.[nd] es ist
daher ein anhalten, u.[nd] fixiren in dem Schema seines unmittel-
baren schematisirenden Lebens selber. Schema des Schematisirens,
doppeltes Schema: Reflexion des Schema: Dies ist unmittelbar al-
les Selbstbewußtseyn, u.[nd] ist es nothwendig.« (201,29-202,8)

Zu Beginn des zweiten Schrittes weist Fichte darauf hin, daß das Prinzip
seinem Wesen nach diese im ersten Schritt beschriebene Beschaffenheit
hat, um sogleich festzustellen, daß es demnach also nicht, wie gesagt, das
»eben so nothwendig nachgewiesene innere, u.[nd] selbstständige Leben«
wäre (202,10f.). Da allerdings sowohl Selbstbewußtsein als auch Leben
Essentialia dieses Prinzips sind, kommt Fichte nicht umhin, beide mit-
einander in Einklang zu bringen (202,11f.). Er muß also einen neuer-
lichen, diesmal essentialistischen Widerspruch auflösen.
Für Fichte gibt es seinen eigenen Worten nach eine offenkundige,
aber nicht unmittelbar einsichtige Antwort zur Behebung dieses essentia-
listischen Widerspruchs: »[D]as schematische Leben müste sich wieder er-
heben zu einem Schema jenes unter 1 nachgewiesenen Gesetzes seines
Wesens« (202,13f.), d. i. das des Schemas des Schemas.
Dieses weitere Schema des Schemas leuchte nach Fichte »als auf
doppelte Art möglich« ein (202,14f.): »[E]ntweder nemlich es schematisirt
jenes Gesez, als Gesez, sagt, daß es Gesez sey, durch welches Schema es
eben als Gesez erstirbt, u.[nd] sein Seyn außer sein Seyn als Gesez fällt,
oder es macht sich selbst zu einem schematisiren nach jenem Gesetze, d. i.
es giebt mit Freiheit, sein an sich freies Schematisiren jenem Gesetze sei-
nes Wesens hin.« (202,15-19).
Leider ist uns Fichte weitere Ausführungen, die seine Antwort zu
verstehen erleichtern könnten, schuldig geblieben.

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Rezensionen

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Rezensionen

Ulrich Schlösser: Das Erfassen des Einleuchtens. Fichtes Wis-


senschaftslehre von 1804 als Kritik an der Annahme entzogener
Voraussetzungen unseres Wissens und als Philosophie des Ge-
wißseins. Philo: Berlin 2001. 186 S.

Der Reiz ist bekanntlich ein schmaler Grat, zu dessen Seiten die Frus-
tration über das Eintreten oder Ausbleiben der Erfüllung klafft. In diesem
Sinne nimmt es nicht wunder, daß für die Fichte-Forschung vor allem die
1804 gehaltene zweite Vortragsreihe von Fichtes Wissenschaftslehre einen
reizvollen Untersuchungsgegenstand darstellt. In keiner anderen Schrift
Fichtes befällt den Leser ein so unbezwingbar scheinender Eindruck, als
habe es Fichte vor lauter skeptischer Fragen an eine mögliche Theorie des
Wissens versäumt, diese vor Kritik gefeite Theorie selbst zu entwerfen.
Und in der Tat besteht in der Forschung bislang kein Einvernehmen da-
rüber, an welchem Punkt in den insgesamt 28 Vorträgen der kritisch-nega-
tive Aufstieg zum wahren Grund des Wissens einer positiv-absteigenden
Darstellung der Wahrheit, mithin ihrer systematischen Entwicklung aus
dem Grund weicht.1

1 Vgl. dazu: J. Widmann : »La structure interne de la W.L. de 1804«. In : Archives


de Philosophie 25 (1962). S. 371-387; M. Guéroult: L`évolution et la structure de la doctrine de
la science chez Fichte. Bd. 2. Hildesheim/Zürich/New York 1982. S. 105-143; Ch. Asmuth:
Begreifen des Unbegreiflichen. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999. S. 193ff.

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148 Rezensionen

Einen beachtenswerten Beitrag zu dieser Diskussion liefert Ulrich


Schlösser mit seiner Berliner Dissertation über die Wissenschaftslehre von
18042. Angenehm fällt dabei sein Bemühen um eine Verlebendigung des
Fichteschen Denkens auf. Zum einen stellt Schlösser Fichtes Ausfüh-
rungen in den Horizont einer philosophischen Problematik, welche nicht
nur von anderen Autoren des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahr-
hunderts behandelt wurde, sondern auch in der heutigen philosophischen
Debatte ihre Brisanz bewahrt. Schon allein deshalb verspricht eine Lektüre
der W.L. von 18042 nicht nur für Fichteexperten ertragreich zu sein. Zum
anderen löst sich Schlösser vom Buchstaben des Fichteschen Textes, um
mittels einer modernen Begrifflichkeit dessen lebendigen Geist freizuset-
zen.
Ausgangspunkt für die autorenübergreifende Problematik ist die
Frage nach dem letzten Grund im wissenden Selbst- und Weltbezug des
menschlichen Subjekts. Nicht allein hinsichtlich der Bestimmung dieses
Grundes, sondern insbesondere in der Beantwortung der Frage, wie dieser
Grund allen Wissens überhaupt im Wissen gegeben sein kann, unterschei-
den sich diejenigen Konzeptionen, welche Schlösser im ersten Hauptteil
(2.) seiner Arbeit behandelt. Gemeinsam ist ihnen trotz unterschiedlicher
Ansätze die Voraussetzung eines letztlich unerkennbaren Grundes des
Wissens oder kurz: das »Voraussetzungstheorem« (12). Die jeweiligen
Konzeptionen finden sich bei Kant, Jacobi und Schelling/Hölderlin; die
Rekonstruktion der »ursprünglichen Einsicht« Fichtes durch Dieter Hen-
rich verweist auf einen weiteren Lösungsansatz in dieser Frage.
Nach dieser Darstellung wendet sich Schlösser dem Werk Fichtes
zu. Er deutet die ersten einundzwanzig Vorträge als eine sich kritisch auf
die zuvor geschilderten Ansätze stützende Argumentation, deren Funktion
es ist, zu einer wissenskonsistenten Auffassung des absoluten Grundes
überzuleiten (3.-5.). Das Vorgehen der Interpretation orientiert sich dabei
an der Abfolge des Originaltextes, ohne diesen jedoch ausführlich zu kom-
mentieren. In den ersten drei Vorträgen der W.L. von 18042 setzt sich
Fichte explizit mit der Philosophie Kants auseinander. Schlösser weist zu
Recht darauf hin, daß diese Beschäftigung durch eine Interessenverschie-
bung motiviert ist: Fichte fragt sich, zu welcher Lösung Kant hinsichtlich
der Bestimmung des höchsten Einheitsgrundes im Selbst- und Weltver-
hältnis des Menschen gelangt. Entgegen des Kantischen Ansatzes einer
nicht zu erkennenden, vielmehr aus der faktischen Dualität von Selbst und
Weltbezug zu postulierenden Einheit qua »Synthesis post factum« ent-
wickelt Fichte die Konzeption einer ursprünglichen Einheit, die zwar das

gzgutgtg
Rezensionen 149

begriffliche Erkennen des Subjekts übersteigt, ihm aber dennoch in Form


einer Intuition präsent ist. Allein mittels dieses Zugangs zum Grund ver-
mag das Subjekt der Grenzen seiner begrifflichen Erkenntnis überhaupt
gewahr zu werden. Mit diesem vorläufigen Ansatz nähert sich Fichte – so
Schlösser – der Konzeption Schellings (und Hölderlins) über das dem pro-
positionalen Denken transzendente Sein an (60).
Doch auch diese Position einer Begriffskritik unterzieht Fichte
einer Revision. Die folgende zweisträngige Argumentationslinie sorgt für
eine radikale Aufwertung des Begriffs (75ff.). Zunächst zeigt Fichte, daß
die Annahme eines allein präreflexiv zu erfassenden Einheitsgrundes dem
begrifflichen Denken entspringt. Das Begreifen begreift sich selbst als
bloße Erscheinung des wahrhaften Seins. Daraufhin folgt die Einsicht, daß
das Begreifen nicht lediglich die andere Seite des intuitiv zu fassenden
Seins verkörpert, sondern vielmehr die Beziehung beider Seiten setzt. Auf
diese Weise avanciert der Begriff qua Beziehung oder »Durcheinander«
zum »wahren Ursprünglichen« (7. Vortrag). Die Absolutsetzung des Seins
bzw. der darauf gehenden Intuition wird durch die Absolutsetzung des
»Urbegriffs« abgelöst. Mit diesen beiden Optionen sind die Pole bezeich-
net, zwischen welchen Schlösser zufolge die weiteren Ausführungen auf
der Suche nach einer konsistenten Konzeption oszillieren. Letztere soll
»zum einen die Beschränktheit, zum anderen aber auch die relative Aner-
kennung des Begreifens erkennbar machen« (92f.). Die Frage nach einem
konsistenten Verhältnis von intuitivem und begrifflichem Wissen offen-
bart Fichtes erkenntnistheoretisches und eben nicht ontologisches Interes-
se (77).
Die ständige Einführung und Revision von möglichen Positionen
endet der argumentativ überzeugenden Meinung Schlössers nach erst im
unmittelbaren Vorfeld des 23. Vortrags. Einer Darstellung von »Fichtes
positiver Konzeption« widmet sich daher das letzte Kapitel seiner Arbeit
(6.), das nicht zuletzt durch einen ausführlichen Kommentar des 23. Vor-
trags hervorragt. Darin formuliert Fichte laut Schlösser den »Gedanken
eines sich in seiner Grundfunktion aufhebenden Grundes« (119). In Über-
einstimmung mit den Vertretern des Voraussetzungstheorems insistiert
Fichte auf einen dem Begreifen verschlossenen Grund, der infolge seiner
Unerkennbarkeit jedoch nicht in seiner Begründungsfunktion eingesehen
werden kann. Als »Zustand von Sein und Leben« identifiziert Fichte die-
sen Grund mit dem intuitiven Wissen, genauer: der Gewißheit. Er ist da-
mit kein dem Wissen transzendentes Sein, sondern vielmehr die Realität
im Wissen, mitunter diejenige Instanz, welche dem Wissen Geltung und
Verbindlichkeit überträgt. Das Sein ist ein Sein des Wissens, d.i. ein Ge-

zttgtgtgtgzu
150 Rezensionen

wißsein (6.3.). Gemäß des Untertitels von Schlössers Schrift vollzieht die
W.L. von 18042 im 23. Vortrag die Kehre von einer »Kritik an der An-
nahme entzogener Voraussetzungen unseres Wissens« zu einer »Philoso-
phie des Gewißseins«. Aus der Tatsache, daß dieser Grund im begriffli-
chen Wissen verstellt und daher nicht als Grund eingesehen werden kann,
folgt nicht nur eine Selbstbeschränkung der Philosophie, sondern ebenso –
gleichsam als Kehrseite – die Freisetzung des sich begrifflich erkennenden
Subjekts. Denn würde dasselbe den Grund als solchen erkennen, wäre es
vollkommen durch ihn bestimmt, mithin nicht frei. Die Implikationen die-
ser Lehre für die praktische Philosophie sind evident (136).
Mit der Gewißheit führt Fichte, wie Schlösser schlüssig darlegt,
einen nicht als Deduktionsgrundlage zu verwendenden Grund ein (165),
aus welchem sich unmittelbar die reine Form von Selbstbewußtsein ergibt.
Danach entwickelt Fichte aus der Gewißheit als derjenigen Instanz, wel-
che die Geltung von Wissen ermöglicht, die Selbstbeziehung der Gewiß-
heit als notwendiges Implikat. So kommt Schlösser zu dem Ergebnis, daß
es sich in der W.L. von 18042 auf Grund der »Vorordnung der Rede von
der Gewissheit gegenüber der von Selbstbewusstsein« (129) eben nicht
um eine Philosophie des Selbstbewußtseins handelt. Die Gewißheit ähnelt
»in ihrem Eintreten weniger dem Selbstbewusstsein als vielmehr dem Zu-
stand von Sein und Leben« (130). Damit entgeht Fichte zudem – so
Schlösser weiter – der Kritik Jacobis an seiner Frühphilosophie.
Zur Darstellung der im eigentlichen Sinne positiven Lehre Fichtes
bedarf es nach Schlösser einer Erklärung, wie die reine Gewißheit die
Wahrheit des begrifflichen Denkens – und auf höherer Ebene ebenso der
Philosophie als propositional verfaßte Lehre über die Gewißheit – zu be-
glaubigen vermag (150). Dem kritischen Aufstieg zur höchsten Gewißheit
muß ein genetischer Abstieg von der Gewißheit zum Begriff derselben fol-
gen. Erst daraus läßt sich die bis zum 23. Vortrag geübte Kritik an anderen
Theorien aus der Perspektive des eigenen Systems vollständig recht-
fertigen. Es muß gleichsam auf der Grundlage der eigenen systematisch
verfaßten Position die Möglichkeit von Fehldeutungen aufgewiesen wer-
den, welche in den Modellen von Kant, Jacobi und Schelling bzw. Hölder-
lin zutage treten (161). Die geforderte Darstellung von Fichtes positiver
Theorie erfolgt jedoch in der W.L. von 18042 laut Schlösser »ohne Recht-
fertigung der Schritte« (148). Ebenso wenig argumentativ und ebenso kurz
wie im Originaltext beschreibt auch Schlösser diesen »neuralgischen«
Punkt (148-152).

gzgutgtg
Rezensionen 151

Dies ist keine Kritik an Schlösser, vielmehr Schlössers Kritik an


Fichte. Denn durch die Absolutsetzung der Gewißheit – ihre Identifikation
mit dem Sein –, welche sich darin ausdrückt, daß der Grund des Wissens
nicht mehr begrifflich als Grund erkannt werden kann, verbietet sich der
Weg einer absteigenden Begründung des Begriffs aus der höchsten Ge-
wißheit. Begriffliches Denken und somit auch die Philosophie ist ver-
stellende Nachkonstruktion der höchsten Gewißheitserfahrung, welche als
solche niemals erkannt werden kann. Die Notwendigkeit im Gewißsein,
d.i. die höchste Geltungskraft des Wissens, läßt sich nicht in die Nach-
konstruktion des Begriffs transportieren; der Begriff bleibt angesichts der
Gewißheit stets mit Kontingenz behaftet (164). Eine derartige Deutung der
W.L. von 18042 gelangt zu dem Punkt, ihr Scheitern angesichts ihres An-
spruchs konstatieren zu müssen. Denn die propositional verfaßte W.L.
überwindet nicht die faktische Kontingenz in einer absoluten Genesis –
wie es doch die eigenen Vorgaben Fichtes vermuten lassen (5. Vortrag).
Schlösser spricht im allerletzten Satz seiner Schrift die Vermu-
tung aus, daß diese »innere Fragilität« der Schrift Fichtes um 1804 in der
transformierten W.L. von 1812 überwunden ist (169). Doch vielleicht liegt
auch darin der Reiz der früheren Schrift – nicht nur als eine philosophi-
sche Abhandlung, sondern als Ausdruck einer prinzipiellen Haltung –, daß
schon die Suche nach einer positiven, d.i. in ihrer Geltung zu recht-
fertigenden Denkweise die positive Lehre ist, welche Fichte zu vermitteln
bemüht ist. Dann aber wäre die Zuweisung von negativ-kritischem und
positivem Ansatz in der W.L. von 18042 anders vorzunehmen, als dies
Schlösser in seiner Interpretation tut. Diese leise Vermutung des Rezen-
senten schmälert indes keineswegs die Leistung Schlössers, der mit sei-
nem Beitrag eine beeindruckende Erleuchtung in einen uns Heutigen im-
mer noch dunklen Text und eine ebenso dunkle Problematik geworfen hat.

Christoph Binkelmann (Heidelberg)

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Petra Lohmann: Der Begriff des Gefühls in der Philosophie Jo-


hann Gottlieb Fichtes (Fichte-Studien-Supplementa Bd.18). Ro-
dopi: Amsterdam 2004. 212 S.

Die vorliegende Arbeit spricht ein Thema an, das unter verschiedenen Per-
spektiven für die aktuelle Fichte-Forschung von erheblichem Belang ist.
Der Wert des Beitrags von Petra Lohmann liegt besonders in dem mono-
graphischen Ansatz, der einen guten Überblick über den Begriff des Ge-
fühls in der Philosophie Fichtes gewährt: Die von der Autorin angebotene
Literaturübersicht zeigt nämlich, wie Einzelaspekte dieses Problemfeldes
bereits ausführlich betrachtet wurden, zugleich aber, daß die bis jetzt auf-
geführten Untersuchungen auf einen bestimmten Zeitabschnitt oder auf
einen bestimmten Aspekt des Themas beschränkt bleiben. Lohmanns An-
spruch besteht darin, neue Aspekte des Fichteschen Gefühlsbegriffs in ih-
rer je eigenen Entwicklung und in ihrer Bezogenheit aufeinander im Kon-
zept der Fichteschen Philosophie von 1780 bis 1801 zu untersuchen und
zugleich die bereits veröffentlichten Einzelstudien durch das Angebot ei-
ner Explikation der zentralen Rolle des Gefühls in Fichtes Philosophie zu
ergänzen und zu erweitern.
Die unter dem Stichwort Selbstobjektivierung des Subjektes zu-
sammengefaßte Theorie des Gefühls wird von Lohmann sowohl im mora-
lischen als auch im erkenntnistheoretischen Bereich untersucht. Die Ana-
lyse konzentriert sich dabei zunächst auf die Darstellung der Grundlegung
der Funktion des Gefühls (Kap. III): Bei der Untersuchung derjenigen
Schriften, die Fichte unmittelbar vor der Grundlage verfaßte, hebt Loh-
mann die Vermittlungsleistung des Gefühls zwischen transzendentaler
Ebene (dem reinen Willen) und empirischer Ebene (dem empirischen Wil-
len) hervor. Nach Lohmann gelingt Fichte die Fundierung in diesen Wer-
ken nicht vollständig. Jedoch sind die Prämissen hier bereits enthalten, die
Fichte in den darauf folgenden Jahre zu einer selbstständigen Konzeption

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Rezensionen 153

des Gefühlsbegriffs führen sollen: Der Auseinandersetzung mit diesen


frühen Texten folgt die Auslegung erkenntnistheoretischer und morali-
scher Aspekte des Gefühlsbegriffs in den Werken der Jenaer Zeit. Die er-
steren diskutiert Lohmann unter besonderer Berücksichtigung der Auf-
fassung des Gefühlsbegriffs, den Fichte in der Grundlage der gesamten
Wissenschaftslehre vorstellt (Kap. IV). Die Exegese seiner moralischen
Implikationen werden anhand des Systems der Sittenlehre präsentiert
(Kap. V). Gemäß der Darstellung der Grundlage wird das Gefühl als Ma-
nifestation eines Zustandes definiert, in dem sich das Subjekt durch ein
ihm scheinbar äußeres Objektives begrenzt fühlt. Dies fällt dann mit der
Selbstobjektivierung des Ich zusammen, indem das Ich sich als Prinzip des
Wissens erkennt und das scheinbar äußere Objektive auf seine eigene
Spontaneität zurückführt. Die Selbstobjektivierung entspricht jedoch nach
Lohmann nicht nur einem erkenntnistheoretischen Prozeß, sondern viel-
mehr der Erfahrung der sittlichen Vervollkommnung: »Der Zustand der
Entzweiung, der für das Ich im Gefühl der Leere ist und der am Anfang
der Deduktion des Sehnens steht, ist im Gefühl der Vollendung überwun-
den. Das Ich ist in diesem Gefühl rein durch sich selbst bestimmt und von
nichts anderem mehr abhängig.« (92) Nach der Grundlage ist also das Ge-
fühl das Kriterium für die Überzeugung von einer bestimmten Pflicht und
wird als Gewissen bezeichnet. Die weitere Analyse widmet Lohmann fol-
gerichtig dem Gewissen, und zwar anhand der Lektüre des Systems der
Sittenlehre: Dadurch gelingt es ihr, das Gewissen von den Gefühlen der
Lust und Unlust zu unterscheiden, die als niedere Gefühle bezeichnet wer-
den: Gewissen besitzt den Status einer unmittelbaren Gewißheit, die von
Ruhe und Befriedigung begleitet wird und ist daher ein intellektuelles Ge-
fühl. Die Wissenschaftslehre nova methodo stellt einen weiteren Schritt
der Entwicklung dieser Konzeption dar, und zwar in Richtung der Über-
windung des Dualismus zwischen intelligibler und empirischer Welt.
Fichtes erneute Besinnung auf das Gefühl als Selbstobjektivierung gründet
sich nun auf dem Selbstgefühl, das in der Wissenschaftslehre nova metho-
do als Grundzustand bestimmt wird, »aus dem sich sämtliche Gefühle, in
denen sich die Selbstobjektivierung des Subjektes manifestiert, entwickeln
lassen.« (145, Kap. VI). Mithin ist die Wissenschaftslehre nova methodo
nach Lohmann der Wendepunkt in der Entwicklung der Lehre vom Gefühl
sowohl im erkenntnistheoretischen als auch im moralischen Sinne, da nun
seine einheitliche Auffassung zum ersten Mal vollständig gewährleistet
wird: es wird deutlich, so schließt Lohmann das VI. Kapitel ab, »daß das
Selbstbewußtsein, das Bewußtsein des alter ego, das Bewußtsein der Ob-
jekte der Erkenntnis und der Pflicht für das Ich im Gefühl des Sollens und

zttgtgtgtgzu
154 Rezensionen

nicht Dürfens ursprünglich zusammenlaufen und daher immer moralisch


besetzt sind« (174).
Untersuchungen über das religiöse Gefühl umrahmen Lohmanns
Darstellung. Im ersten und zweiten Kapitel der Arbeit werden Fichtes phi-
losophische Anfänge thematisiert. Zunächst wird der Stellenwert des Ge-
fühls in den pädagogischen und religiösen Jugendschriften erörtert (Kap. I),
dann werden der deterministisch bestimmte Deismus und Fichtes Rezepti-
on des Kantischen Freiheitsbegriff vorgestellt und als Grundfaktoren der
Entstehung der eigenen Konzeption Fichtes ausgearbeitet (Kap. II). Loh-
mann spannt einen Bogen zwischen den früheren und späteren Schriften
Fichtes, indem sie in den Werken um 1801 Motive wiedererkennt, die in
den Predigten der Jahre 1785 und 1792 bereits zu spüren waren. Nun ist
Fichte aber erst in der Wissenschaftslehre 1801 in der Lage, eine vollstän-
dige philosophische Begründung zu entwickeln, die nicht durch Berufung
auf Positionen anderer geschieht, sondern in der Wissenschaftslehre selbst
fundiert ist. Dabei spielt die Auffassung des Gefühls als Manifestation des
Glaubens an Gott die entscheidende Rolle. Lohmann setzt sich mit der
Wissenschaftslehre 1801 und den populärphilosophischen Schriften dieser
Zeit auseinander und faßt Fichtes Argumentation wie folgt zusammen:
»Nur das Gefühl des Gewissens eröffnet für das Individuum den Zugang
zu Gott. Das Gewissen läßt nur die Vorstellung von Gott als ordo ordi-
nans zu. Religion ist nichts anderes als angewandte Sittenlehre.« (176).
Lohmanns Darstellung kulminiert in der Behauptung: »Im Gefühl des Ge-
wissens als unmittelbares Bewußtsein der vollzogenen Vereinigung seiner
selbst mit der Sphäre der universellen Vernunft empfindet sich der
Mensch als sich und die Welt in und durch Gott existierend.« (195).
Neben der systematischen Untersuchung, die aus einem sehr mi-
nuziösen Kommentar und einer detaillierten Auseinandersetzung mit gut
ausgewählten Textpassagen hervorgeht, bietet Lohmanns Arbeit zahlrei-
che historische Analysen. Was die frühen Schriften anbelangt, wird be-
sonders dem Gefühl im Kontext von Pädagogik und Didaktik eine genaue
Darstellung der Inspirationsquellen Fichtes gewidmet. In bezug zur dama-
ligen zeitgenössischen Diskussion wird Fichtes Position an mehreren Stel-
len kontrastiv mit anderen philosophischen Positionen dargestellt. Die
Kantische Konzeption gilt dabei als besonders wichtiges Element, um den
Charakter und die Originalität von Fichtes Konzeption herauszustellen,
aber auch deren Grenzen und ihre Problematizität. Die historische Rekon-
struktion der Aufnahme Kantischer Motive und Ausgangspunkte in Fich-
tes Überlegungen spielt in dieser Hinsicht eine bedeutende Rolle. Darüber

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Rezensionen 155

hinaus behandelt ein breiter Exkurs Fichtes Auseinandersetzung mit Jaco-


bis Philosophie der Erkenntnis: Nachdem Lohmann die Kritik Fichtes an
Jacobi untersucht hat, prüft sie Jacobis Einwände gegen Fichtes Theorie
und hebt Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Positionen hervor
in der Absicht, von Jacobi stammende Motive in Fichtes Konzeption des
Realitätsbewußtseins zu ermitteln. Das Differenzierungspotential der
Konzeption Fichtes wird durch den Vergleich zu Jacobi deutlich herausge-
stellt. Es handelt sich nach Lohmann jedoch dabei eher um methodische
Unterschiede als um unterschiedliche Resultate, die sich aus verschiede-
nen Ausgangspunkten ergeben hätten. Der realistischen Konzeption des
Realitätsbewußtseins bei Jacobi zufolge »verdankt das Subjekt seine Frei-
heit in Bezug auf die Objekte der Sinnenwelt einzig und allein Gott als
dem Schöpfer endlichen Lebens«. (98). Fichtes transzendentalphilosophi-
sche Konzeption des Realitätsbewußtseins nimmt im Gegensatz zwar »di-
rekten Bezug auf die Jacobische These von der vom Subjekt unmittelbar
geglaubten Realität« (93) und stimmt mit Jacobis Begriff vom Gefühl des
Glaubens überein, doch Fichtes Theorie beinhaltet nicht nur die Unmittel-
barkeit des Glaubens, sondern auch ihre Deduktion: »Die sich im Gefühl
manifestierende unmittelbare Selbstbezüglichkeit des nichtspekulativen
Bewußtseins [...] ist in Fichtes Transzendentalphilosophie ein Produkt ab-
soluter Spontaneität der Reflexion des Subjekts.« (105).
Lohmann arbeitet einerseits eine Kontinuitätsthese heraus. Sie be-
steht in dem Nachweis, daß Fichte sich konstant auf die Bedeutung des
Gefühls berufen hat. Anderseits zeigt die Untersuchung Lohmanns, daß
Genese, Stellenwert und Funktion des Gefühls, deren Modifikationen in
den Werken Fichtes von 1780 bis 1801 erörtert werden, auf die progressi-
ve Entwicklung von Fichtes eigener Position verweisen. Das Gefühl als
Selbstobjektivierung des Subjektes gipfelt demnach, so Lohmann, im
Glauben an Gott. Dies gilt nicht nur als Grund für die Möglichkeit des
Subjektes, etwa seine eigene Verfaßtheit erkenntnistheoretisch zu erfor-
schen und begründen, sondern es spielt darüber hinaus im existentialen
Sinne eine bedeutende Rolle, da es Zugang gewährt zur gesamten Sphäre
der menschlichen Sittlichkeit: »Im Gefühl des Glaubens an Gott, d.h. in
der höchsten Ausprägung des Gefühls, offenbart sich dem Subjekt das Be-
wußtsein, daß es selbst und seine gesamte vernünftige und sinnliche Um-
welt in und durch Gott existieren.« (200).
Das Gefühl als ursprüngliche Selbstbeziehung, durch die das un-
mittelbare Leben sich im Subjekt manifestiert, bezeichnet mithin die Ver-
mittlungsinstanz, deren Fichte sich bedient, um das Verhältnis »zwischen
theoretischer und der praktischer Vernunft, zwischen empirischen und ab-

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156 Rezensionen

soluten Ich, zwischen Sinnenwelt und intellegibler Welt, zwischen sowie


zwischen [sic!] Spekulation und Leben und zwischen populärer und wis-
senschaftlicher Philosophie« zu charakterisieren (197). Es bezeichnet die
Grundkraft des Subjektes und verwirklicht den Grundgedanken der philo-
sophischen Reflexion Fichtes: »die Einheit des Bewußtseins und dessen
Prinzipiierung durch die absolute Freiheit sowie die sittlich-religiöse Ver-
vollkommnung des Menschen«. (198).
In Rahmen der gegenwärtigen Fichte-Forschung leistet Lohmanns
Monographie einen interessanten Beitrag. Zum einen erhellt die Studie
wichtige Aspekte der philosophischen Konzeption Fichtes: Sie begründet
und erweitert die Kritik am bereits überholten Paradigma der Trennung
zwischen Leben und Philosophie bei Fichte um einige Aspekte. Zum an-
deren trägt sie dazu bei, Fichtes Position in Auseinandersetzung mit der
damaligen philosophischen Diskussion zu erörtern. Von besonderer Be-
deutung ist Lohmanns Ausarbeitung der Beziehung Fichtes zu Jacobi: ein
wichtiger Aspekt der heutigen Fichte-Forschung.
Die Entscheidung, einen Begriff ins Zentrum der Analyse zu stel-
len, erlaubt es Lohmann, ein einheitliches Konzept für die sehr textnahe
durchgeführte Analyse zu gewinnen: Durch die Untersuchung von Modi-
fikationen und Variationen der systematischen Bedeutung des Gefühls ge-
lingt es ihr, präzise Stellung zu nehmen zur Bedeutung seiner Gesamtkon-
zept der Philosophie. Obwohl sie methodologische Probleme nicht explizit
erörtert, bietet Petra Lohmann mithin indirekt ein interessantes Beispiel
eines Ansatzes an, der wichtige Hinweise zur Frage der Entwicklung der
Philosophie Fichtes und deren Auslegungsmöglichkeiten gibt.
Auch wenn Lohmann – wie oben erinnert – erkenntnistheoreti-
sche Aspekte des Gefühlsbegriffs nicht unerörtert läßt, ist die moralische
Funktion des Gefühls das wichtigste ausgearbeitete Resultat der Untersu-
chung. Dieses Resultat darf zunächst gewiß im Sinne eines Vorrangs des
Praktischen verstanden werden, wie Lohmann selbst an mehreren Stellen
erinnert. Lohmann zeigt daher die subjektive und intersubjektive Bedeu-
tung des Gefühls für das menschliche Handeln in der Welt. Ausdrücklich
behauptet sie: »Die erkenntnistheoretische Funktion wird der moralischen
Funktion des Gefühls subordiniert«. (200) Die praktische Dimension ent-
hält aber nach Lohmann noch mehr: sie ist in unauflöslichem Zusammen-
hang mit einer religiösen Auffassung des Gefühls zu verstehen und somit,
trotz der genauen Differenzierungen etwa der Jacobischen Position, die
Fichtes transzendentalphilosophischer Ansatz leistet, ohne einen Glauben

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Rezensionen 157

an Gott nicht genügend fundiert. Dem religiösen Gefühl scheinen alle an-
deren Formen des Gefühls subordiniert werden zu können.
Einen nicht geringen Anteil an dieser Wertung hat die Ausblen-
dung von Werken aus der Spätzeit (ab 1801), was durchaus auch fragwür-
dig erscheint, wenn es in diesem Text um einen Gesamtblick auf Fichtes
Konzeption gehen soll – wie es der Titel verspricht. Warum die späten
Texte Fichtes unberücksichtigt bleiben, wird nirgendwo im Text näher be-
gründet. Die Berücksichtigung der populären Schriften mag zu dem Ein-
druck beitragen, daß ihr Interpretationsansatz – auch für die spätere Zeit –
gut belegt ist. Indes bleiben gewichtige Zweifel. Der Bezug auf die popu-
lären Schriften ist trügerisch, denn Lohmann erspart sich weitere Überle-
gungen zur Frage der Vermittlung philosophischer Inhalten in populärer
Formen.
Die Untersuchung späterer Texte hätte gewiß einige Grundzüge
der vorgeschlagenen Interpretation bestätigen können. Andererseits dürfte
dadurch aber die religiös dominierte Auffassung des Gefühls in Lohmanns
Interpretation problematisch werden. Die Frage besteht darin, ob und in-
wiefern aus der Sicht der Spätphilosophie tatsächlich das religiöse Gefühl
bei Fichte als zentral und grundlegend angesehen werden muß. Beispiel-
weise hätte die in den Tatsachen des Bewußtseins ausgearbeitete Theorie
der Wahrnehmung zeigen können, wie Fichtes Konfrontation mit der Kan-
tischen Auffassung eine Konstante seiner philosophischen Untersuchun-
gen bleibt. Der Kantische Begriff der Rezeptivität wird dort auf die unmit-
telbare Selbstbeziehung des Subjektes zu sich selbst zurückgeführt und
unter dem Stichwort »Gefühl« bzw. Selbstgefühl zusammengefaßt. Ver-
schiedene Aspekte der Beziehung des Subjekts zur Welt, das Realitätsbe-
wußtsein, werden in den Berliner Vorlesungen thematisiert. Beispielweise
enthält die Theorie vom »Gesicht« Konnotationen, die Fichte im Rahmen
einer Theorie des Gefühls entwickelt, in denen der Vorrang des Sehens
eine Untersuchung verdienen würde.
Eine solche Untersuchung würde Lohmanns Thesen um einiges
ergänzen, besonders was die Auslegung des Gefühls in Beziehung auf das
System der Sensibilität betrifft, die Lohmann schließlich aufgrund der WL
nova methodo und teilweise der Vorlesungen über Platners Aphorismen
durchführt. Dadurch würde es sich zeigen, daß die von Lohmann schön
skizzierte Entwicklungslinie auch in den Werken nach 1801 weiter zu un-
tersuchen ist. Es besteht ein berechtigter Zweifel, ob und in welchem Sin-
ne das Stichwort »Glauben an Gott« dann noch zutreffend sein kann. Die
Auseinandersetzung mit dem Begriff des Glaubens könnte beispielsweise
in der Sittenlehre 1812 verfolgt werden, und zwar anhand der Unterschei-

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158 Rezensionen

dung des sittlichen Sinns – den Fichte als Gefühl bezeichnet – von der Se-
he. Sehe und Gefühl stehen nach der Sittenlehre 1812 in absolutem Ge-
gensatz: Nur ein zur Klarheit gekommenes Gefühl kann Fichte als »sittli-
chen Glaube« bezeichnen.: »Der sittl. Glaube ist es, wo es zu wahrer ϕ.
kommt, der sich selbst zur Klarheit, u. zum Triebe des sehens wollens,
entwikelt.« (GA IV, 13, 390). Gefühl bedeutet also eine noch nicht zur
Klarheit gekommene Erkenntnis und unterscheidet sich vom Glauben, der
aus einer wissenschaftlich fundierten Position hervorgeht. Die Unmittel-
barkeit des Gefühls ist dabei zugleich mit Dunkelheit und mit der Richtig-
keit einer Intuition verbunden, die Züge der Genialität und Inspiration be-
sitzt. Gerade die Auseinandersetzung mit den Berliner Vorlesungen kön-
nen zeigen, daß erkenntnistheoretische und praktische Dimension gerade
nicht der religiösen untergeordnet werden: vielmehr sucht Fichte die Wur-
zel, die Einheit dieser Momente. Dadurch kann zugleich Nähe und Distanz
Fichtes zur Kantischen Position gezeigt werden, da Fichte genau nach der
Wurzel der menschlichen Vermögen sucht, die Kant als unauffindbar er-
klärt. Das Gefühl spielt dabei eine zentrale Rolle: Als Vermittlungsinstanz
wird es in den späteren Werken in engen Zusammenhang mit der Einbil-
dungskraft, bzw. der Bildungskraft gebracht. Der Vorrang des Praktischen
wird sich beim späten Fichte in einen Vorrang des Ästhetischen verwan-
deln: Er arbeitet einen Begriff der auch gefühlten Freiheit aus, von dem
der Glaube an Gott schließlich der populäre Ausdruck sein wird.
Bedauerlicherweise muß zum Schluß bemerkt werden, daß der
Leser dieses wichtigen Buchs mit einer großen Menge an Rechtschreib-
fehlern konfrontiert wird, was den Lesegenuß leider nicht unerheblich
trübt.

Benedetta Bisol (München)

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Wolfgang Class / Alois K. Soller: Kommentar zu Fichtes Grundlage


der gesamten Wissenschaftslehre (Fichte-Studien-Supplementa Bd.19).
Rodopi: Amsterdam / New York, NY 2004. XII, 571 S.

Mit dem 19. Band der Fichte-Studien-Supplementa legen Wolfgang Class


und Alois K. Soller den ersten Kommentar dieser Art zu Fichtes Grund-
lage der gesamten Wissenschaftslehre (kurz: Grundlage) vor. Auf den 571
Seiten werden der Titel, die Vorrede und die drei Teile der Grundlage
Satz für Satz, wenn nicht gar Wort für Wort, kommentiert. Inbegriffen ist
ein ausführliches Verzeichnis der benutzten Literatur, ein Sachregister
zum Fichte-Text und ein Verzeichnis der zitierten Arbeiten Fichtes.
Die Autoren sehen ihre Arbeit grundsätzlich in dem Spannungs-
feld zwischen dem Selbstdenken, wie es Fichte fordert, und einem textba-
sierten Kommentar. Während Fichte bekanntermaßen immer wieder be-
tont, man dürfe sich nicht nach dem Buchstaben richten, sondern müsse
den Geist des Systems erfassen, stellt sich Class und Soller zufolge in zu-
gespitzter Form die Frage, ob eine textbasierte Annäherung an das Denken
Fichtes nicht schon per se zum Scheitern verurteilt ist. Entgegen einer
möglichen Autoimmunisierung der Fichteschen Texte heben die Autoren
allerdings viererlei hervor: 1. Es ist Fichtes Anspruch »zu argumentieren,
einen durch Logik, Analysen und Synthesen bestimmten Denkweg zu be-
schreiten.« (IX) 2. Gerade die Grundlage als das »wirkungsgeschichtlich
bedeutsamste philosophische Werk Fichtes« (X) bietet diverse Anknüp-
fungspunkte sowohl an die Kantische Transzendentalphilosophie als auch
an andere philosophische Vorgänger. 3. Im fehlenden »Ordnungssinn«
(ebd.) des Textes der Grundlage liegt der Erfordernis eines Kommentars
»eher eine Ergänzungsbedürftigkeit als ein Freibrief zur Geringschätzung
des Buchstabens« (ebd.) zugrunde. 4. Der bisherige Beitrag der einschlä-
gigen Literatur zum Textverständnis ist »vergleichsweise gering.« (ebd.)
Diese sowohl textimmanente als auch historisch-systematische begründete
Konstellation bildet den Hintergrund für den vorliegenden Kommentar,

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160 Rezensionen

der den Text der Grundlage in textkritischer, sprachlicher, sachlicher und


literarischer Hinsicht aufschlüsseln will.

Der Band setzt sich aus Kommentaren zum Titel, zur Vorrede, dem Ersten
(§§1-3), Zweiten (§4) und Dritten (§§5-11) Teil zusammen. Ein Verzeich-
nis zur benutzten Literatur, ein Sachregister zum Fichte-Text und ein Ver-
zeichnis der zitierten Arbeiten Fichtes bilden den Schluß. Im Aufbau fol-
gen die Kommentatoren dem Wortlaut der Grundlage, wobei sowohl zen-
trale Begriffe als auch ganze Textpassagen besprochen werden. Die ein-
zelnen Kommentare zeichnen sich durch eine komplexe Verweisstruktur
aus. Die mehr oder weniger deutlichen Textverweise Fichtes werden ge-
nau bestimmt. Neben dieser formalen Verweisstruktur hinsichtlich des
Fundortes wichtiger Textstellen besteht eine inhaltliche Verweisstruktur,
die es erlaubt, einen Argumentationsgang durch die Grundlage zu verfol-
gen. Detailanalysen werden auf diese Weise hervorragend unterstützt.
Grundsätzlich sind die Autoren bemüht, die Fichtesche Argumen-
tation der Grundlage zu verdeutlichen, wobei unterstützende Belegstellen
aus anderen Schriften Fichtes herangezogen werden. In den Verweisen auf
mögliche Interpretationen schlägt sich eine kritische Haltung zur bisheri-
gen Fichteforschung nieder. Der Interpretationslinie, die – grob gesagt –
das absolute Ich à la Hegel mit dem Selbstbewußtsein identifiziert, wird
eine Absage erteilt. Trotz einer ebenso kritischen Haltung dem Fichte-
schen Text gegenüber hebt der Kommentar die Plausibilität des Fichte-
schen Denkens hervor, die allerdings nur deutlich wird, wenn das sich set-
zende Ich konsequent in einer transzendentalphilosophischen Perspektive
und somit als Möglichkeitsbedingung empirischen Bewußtseins und nicht
als dieses selbst angesehen wird.

Da eine durchgehende Besprechung des Kommentars aufgrund der Aus-


führlichkeit wenig sinnvoll erscheint, werde ich im folgenden Beispiele zu
besonders interessanten Textstellen besprechen.

Im Zusammenhang des direkten bzw. genetischen Beweises der Forderung


nach absoluter Kausalität (GA I, 2, 404-410) entwickelt Fichte im §5 das
Theorem der Öffnung des absoluten Ich. Dazu führt er aus, daß sich das
absolute Ich »für ein anderes Setzen gleichsam offen erhalten [muß.]«
(GA I, 2, 405) In der Formulierung »gleichsam offen erhalten« sehen die
Kommentatoren trotz der metaphorischen Ausdrucksweise das zentrale
»Dilemma« (393) dieses Textabschnittes klar dargestellt, nämlich daß das

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Rezensionen 161

absolute Ich aus sich herausgehen muß, ohne dabei seinen Absolutheits-
charakter einzubüßen. Thematisiert wird die Frage, warum das absolute
Ich aus sich herausgehen sollte, um ȟber sich selbst zu reflektiren, und zu
fordern, daß es in dieser Reflexion als alle Realität erfunden werde.« (GA
I, 2, 408) Obwohl die Kommentatoren an verschiedenen Stellen ausführen,
daß das absolute Ich keineswegs als ein Bewußtsein, sondern als Element
des Setzungsgefüges des zu deduzierenden empirischen Bewußtseins be-
trachtet werden muß1, sprechen sie hier dem absoluten Ich die Unsicher-
heit zu, »ob es alle Realität ist.« (Ebd.) Der Grund zur Reflexion des abso-
luten Ich auf sein eigenes Setzen wird demnach in einem möglichen Ver-
hältnis des absoluten Ich zu sich selbst, in dem es seinen Realitätsgehalt
prüfen muß, gesehen. Wie allerdings die weiteren Ausführungen in Form
von Verweisen auf weitere Textstellen und Kommentare zeigen, kann die
Notwendigkeit eines selbstbezüglichen Setzens allein aus dem Dedukti-
onsziel, dem empirischen Bewußtsein, abgeleitet werden. Es finden sich
vier Verweise:
1. Im Kommentar 408, 292 wird erklärt, daß der Begriff »erfin-
den« in ursprünglicher Bedeutung auch »finden« bedeutet.
2. In 409, 27 wird die Reflexion genauer als eine dem Vollzug des
Ich wesentliche Reflexion im Sinne eines Gesetzes und nicht als eine
»willentlich bewusste oder initiierte Reflexion« (415) bestimmt. Es findet
sich hier ein Verweis auf 408, 28, wo Fichte erläutert, daß das Gesetz zur
Reflexion »in dem absoluten Seyn des Ich begründet« (GA I, 2, 408) ist.
Ein weiterer Verweis führt zum Kommentar zu 419, 1-2. Dort kommt das
Gesetz zur Reflexion én detail zur Anwendung.
3. Weiterhin wird auf 409, 2-3 verwiesen, wo der Begriff der
Öffnung weiter expliziert wird: »Aber es [das absolute Ich; P.G.] muß
auch, wenn es ein Ich seyn soll, sich setzen, als durch sich selbst gesetzt.«
(GA I, 2, 409) Die Kommentatoren sehen hier die These erhärtet, daß
»zum Ich [...] wesentlich Bewusstsein [gehört]« (409), da Fichte mit dem
Setzen-als die Subjekt-Objekt-Relation im Auge habe, die für ein reines
bzw. göttliches Bewußtsein gerade nicht gelte. Neben dem absoluten
Selbstsetzen ist die »Wiederholung« (GA I, 2, 409) dieses Setzens ent-
scheidend, um zum empirischen Bewußtsein zu gelangen, da erst durch
dieselbe die Begrenzung durch den Anstoß für das Ich ermöglicht werde.
Die Notwendigkeit des Anstoßes hinsichtlich einer gelungenen Reflexion

1 Vgl. dazu bspw. S. 401.


2 Als Textgrundlage des Kommentars dient die Fichte-Gesamtausgabe Band I,2.
Unter Angabe der Seitenzahl und der Zeilen verweisen die Autoren auf den Text der Grundlage.

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162 Rezensionen

führt die Kommentatoren zur These der »Defizienz des absoluten Ich im
Sinne des ersten Grundsatzes.« (409) Die entscheidende Rolle des
Anstoßes wird durch einen Verweis auf den Reflexionstrieb in §8
unterstrichen. Im weiteren Verlauf des Kommentars zu 409, 2-3 folgt ein
längeres Zitat aus den Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten
(1794). Dort unterscheidet Fichte ausdrücklich das reine Ich vom sich
selbst bewußten Ich hinsichtlich der Denkbarkeit beider. Als das
»eigentlich Geistige im Menschen« (GA I, 3, 28) ist das reine Ich
unbestimmbar. Das sich selbst bewußte Ich setzt dagegen »ein Etwas
außer dem Ich« (Ebd.) voraus, so daß von einem reinen bzw. absoluten Ich
mit Bewußtsein keine Rede sein kann. Die Bedeutung des wiederholenden
Setzens wird abschließend mit einem Zitat G. Zöllers sehr instruktiv
herausgestellt. Zöller expliziert das wiederholende Setzen nicht als eine
schlichte Duplikation, sondern als ein autoprädikatives Setzen.
4. In 409, 22-25 bestimmt Fichte das absolute Ich des §1 bzw. das
absolute Sichsetzen als »Idee des Ich, die seiner praktischen unendlichen
Forderung nothwendig zu Grunde gelegt werden muß.« (GA I, 2, 409) Die
Kommentatoren zeigen anhand eines längeren Zitats von B. Noll, in
welche Schwierigkeiten man gerät, wenn man die Absolutheit des Ich (§1)
auch für das empirische Ich absolut setzt. Dann resultiert beispielsweise
die Frage, ob »›das Ich überhaupt noch absolutes Ich [ist], wenn es sich als
Idee für das Bewußtsein unerreichbar ist‹«. (414) Entsprechend ihrer
Ankündigung in der Einleitung lassen die Autoren dieses Zitat unkom-
mentiert.

Weiterhin sei exemplarisch auf die Kommentierung der Passagen zur Be-
gründung des Anstoßes zu Beginn des §5 verwiesen.3 Es wird dort die
wichtige Frage untersucht, »ob denn bei Fichte wirklich der Gedanke ei-
nes ›Dinges an sich‹ ›überwunden‹ sei.« (354) Unter Berufung auf ein Ge-
dankenexperiment aus Jacobis David Hume über den Glauben, oder Idea-
lismus und Realismus (1787) und eine Arbeit Sollers wird argumentiert,
daß unterschiedliche Objektwahrnehmungen durchaus nach einem »›in
sich differenzierte[n] Anstoß‹« (356) fragen. Die Sorgfalt der Kommenta-
toren macht diesen kritischen Einwurf allerdings als eine mögliche Inter-
pretation kenntlich, indem diesbezügliche Äußerungen Fichtes angeführt
werden. In der Platner-Vorlesung, aus der eine längere Passage zitiert
wird, macht Fichte deutlich, daß das realistische Moment nicht überbewer-
tet werden darf. Dem Einwurf Sollers würde Fichte wohl mit dem Hinweis

3 Vgl. S. 354ff.

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Rezensionen 163

begegnen, daß er einen »qualitativen Realismus« und einen damit zusam-


menhängenden physischen Einfluß ausschließt. Abschließend verweisen
Class und Soller auf die Nähe zum Konzept der Monade bei Leibniz ver-
wiesen, die darin besteht, daß nichts Fremdartiges in das Ich gelangt.
Als ein hervorragendes Beispiel für die textkritische bzw. sprach-
liche Kommentierung bieten sich die Ausführungen zum Begriff des Set-
zens an. In dem ausführlichen Kommentar zu 259, 3-4 geben die Kom-
mentatoren verschiedene Quellen der Auslegungstradition an. Diese werde
durch einige moderne Interpreten ergänzt, bevor eine Rekonstruktion des
Begriffes des Setzens aus den Schriften Fichtes folgt. Der grundlegenden
Problematik, daß Fichte keine deutliche Definition dieses zentralen Be-
griffes gibt, begegnen die Kommentatoren durch eine ausführliche Analy-
se der Grundlage vorhergehenden und nachfolgenden Schriften. Sie
zeichnen dabei Fichtes Übergang vom Begriff des »Darstellens« zu dem
des »Setzens« nach und legen sich schließlich auf die Bestimmung des
Setzens als ein Produzieren fest.4
Neben der ausführlichen sachlichen Aufarbeitung des Textes ge-
ben die Autoren immer wieder Verweise auf den literarischen Nieder-
schlag des Fichteschen Denkens. Zur literarischen Rezeption des Gedan-
kens eines absoluten Ich werden Passagen aus Hölderlins Der Tod des
Empedokles, Tiecks William Lovell und Jean Pauls Titan angeführt.5

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Autoren das Anliegen eines
ausführlichen Kommentars zur Grundlage ihren Intentionen entsprechend
umgesetzt haben. Einerseits behalten sie durch die vielfachen Verweise
auf Kommentare und Textstellen das Textganze und damit den übergrei-
fenden Gedankengang im Blick, während sie andererseits schwierigen
bzw. fragwürdigen Passagen mit Detailanalysen begegnen. Neben dieser
sehr feingliedrigen Aufschließung der Grundlage selbst wird der Kom-
mentar durch zahlreiche Verweise auf Texte von Fichtes Zeitgenossen und
modernen Interpreten maßgeblich bereichert. Indem die Kommentatoren
mögliche Interpretationen auch als solche kennzeichnen, wird vermieden,
daß der Leser genötigt ist, den Gedankengang Fichtes einseitig zu bewer-
ten. Das Verfahren der Verfasser, kritische Interpretationsmöglichkeiten
aufzuzeigen, ohne diese im Sinne einer Metakritik weiter zu verfolgen,
gibt dem Leser wertvolle Anregungen, ohne die Argumentation Fichtes,
die im Mittelpunkt steht, aus den Augen zu verlieren. Die Forderung an

4 Vgl. S. 69-76.
5 Vgl. S. 129f.

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164 Rezensionen

den Leser besteht somit darin, die aufgeworfenen Fragen selber weiter zu
verfolgen. Allerdings muß demgegenüber angemerkt werden, daß die
Kommentatoren sich dennoch explizit kritisch gegenüber solchen Interpre-
tationen äußern, durch die sie das Gesamtverständnis des Textes in ihrem
Sinne verletzt sehen. Im Ganzen stellt der vorliegende Kommentarband
eine äußerst hilfreiche und gut anwendbare Unterstützung bei der Er-
schließung und Interpretation der Grundlage dar. Gerade die Tatsache,
daß die Grundlage im Ganzen ohne einen Schwerpunkt bspw. auf das
Grundsatzkapitel bearbeitet wurde, kann nicht genügend betont werden.
So bleibt zu hoffen, daß die eher wenig beachteten §§6-11 in Zukunft ein
größeres Interesse auf sich ziehen werden.

Patrick Grüneberg (Berlin)

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Rainer Adolphi / Jörg Jantzen (Hrsg.): Das antike Denken in der


Philosophie Schellings (»Schellingiana« Bd.11). frommann-
holzboog: Stuttgart-Bad Cannstatt 2004. XXIII, 710 S.

Die lang erwartete Textsammlung einer 1995 in Mailand stattgefundenen


Tagung ist endlich erschienen. Der Band enthält 27 Aufsätze, darunter
Texte von so bekannten und für die Schelling-Forschung bedeutenden Au-
toren wie Xavier Tilliette, Rüdiger Bubner, Walter E. Ehrhardt und des
leider inzwischen verstorbenen Francesco Moiso. Man findet darin die
wichtigen Probleme erörtert, die das Verhältnis Schellings zur Antike im
weiteren Sinne betreffen, vor allem aber seine Auseinandersetzungen mit
dem Platonismus, dem Neuplatonismus und dem christlichen (mittelalter-
lichen sowie neuzeitlichen) Erbe Platons; der Anlaß zu diesen Erörterung-
en war die Veröffentlichung (1994) des aus dem Jahr 1794 stammenden
Kommentars des jungen Schelling zum Timaios. Es folgen einige Untersu-
chungen zu den Fragen nach dem Mythos und nach der Mythologie im
Zusammenhang mit den spekulativ-theologischen Auslegungen des Chri-
stentums bei Schelling. Die streng theologische Perspektive spürt man in
zwei weiteren Beiträgen, in zwei weiteren beschäftigt man sich mit dem
Gespräch Bruno, in dem Schelling besonders auf die neuplatonische Ge-
dankenwelt Bezug nimmt. Aristoteles, Augustinus und der antiken Wis-
senschaft – so wie diese Themen das ganze Werk Schellings hindurch
wirksam sind – werden insgesamt vier Mailänder Referate gewidmet. Die
zwei letzten Kategorien bringen einerseits Ausführungen zu den inneren
Spannungen in der Entwicklung Schellingscher Gedanken und anderseits
sehr interessante Überlegungen zum kulturellen Hintergrund des Zeitalters
um die Jahrhundertwende vor 200 Jahren.
Mir erscheint es einleuchtend, daß der Stoff, den es jetzt zu be-
sprechen gilt, auf diese Weise angeordnet ist, um dann im weiteren zu
konkreten Rekonstruktionen überzugehen. Es muß aber hinzugefügt wer-

ddddd
166 Rezensionen

den, daß sich in mehreren Fällen diese typologisch hervorgehobenen Fä-


den glatt durchschneiden oder überkreuzen, was die Kompetenz und Pro-
blemhorizont der Autoren des rezensierten Bandes bezeugen kann.
Die Konstruktion der Welt im Dialog Timaios durch eine Zusam-
mensetzung aus Materie (apeiron) und Form (peras) – was zugleich zu
den quantitativen Unterschieden der Dinge führe – habe zu ihrem Grund
eine Verallgemeinerung von subjektiven Kategorien. Deswegen behält,
laut Schelling, die Lehre Platons von der Materie ihre Aktualität auch im
Zeitalter der subjektivistischen Philosophie; die Schellingsche Konstruk-
tion der Materie nütze die Schwerkraft als das synthetische Element, wel-
ches dem Platonischen apeiron entspreche. (J. Matsuyama)
Es ist darum angebracht zu sagen, daß im Gegensatz zur traditio-
nellen Interpretation der platonischen Ideen als der der vergänglichen Welt
entgegengesetzten Abstrakta, die eine »negative« Auffassung vom Ich als
Ego voraussetze, die originelle Auslegung Schellings – welche von der ju-
gendlichen Timaios-Interpretation ausgehe und in den Erlanger Vorträgen
zur Entfaltung gebracht werde – die Ideen als einen gemeinsamen Boden
von abstrakten wie materiellen Objekten betrachte; um eine so genomme-
ne Idee zu fassen, mußte das kontemplative Paradigma der Erkenntnis-
theorie (intellektuelle Anschauung der Identitätsphilosophie Schellings) in
ein ekstatisches (aus den Erlanger Vorträgen) verwandelt werden, worin
das Ich einen »positiven« Grundzug der Person erhalte, die sich mit der
universellen Grundlage des Seins gleichsetze und dem sich offenbarenden
persönlichen Gott öffne. (Der begeisterte Aufsatz von G. Cusinato)
Jene traditionelle, dualistische Interpretation der platonischen
Ideen als abstrakter Wesenheiten werde von Schelling in seiner Würzbur-
ger Periode (Propädeutik der Philosophie, Bruno) im Fall des Timaios
aufrechterhalten. (Das und weiteres stellt G. Riconda fest im gewissen Ge-
genzug zu anderen Autoren.) Erst in der Weltalter-Periode, also in den
Jahren 1810-15, wurden das monistische Potential des Timaios sowie die
Ansätze, das Böse bei Platon als einen realen Faktor zu betrachten, wahr-
genommen (hier das Böse mit der unendlichen Materie oder apeiron, das
Gute mit der beschränkenden Form oder peras gleichgesetzt).
F. Viganó analysiert den Timaios im Licht der Kantischen Er-
kenntnistheorie, welche die Bestimmtheit unserer Vorstellungen mit dem
Aufnötigen von subjektiven Kategorien auf die Materie derselben erkläre.
Sie versucht, die platonischen Grundkategorien darzulegen wie apeiron
(dem die Materie oder Quantität entsprechen solle), peras (Einheit oder
Qualität) und aitia (Wechselwirkung beider ersten oder Ursache). Über

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Rezensionen 167

Kant hinausgehend betont Viganó den bei Platon aufkommenden Begriff


des »intelligiblen Lebenden« (»dzoon noeteon«) als der universellen Basis
allen Seins, die dank der »intellektuellen Anschauung« zu erlangen sei,
welche in ihren Ansätzen schon im jugendlichen Timaios-Kommentar
sichtbar werde. (Das Verhältnis von Kant zu Platon berührt auch M. Baum
in einem am Rande der Mailänder Debatten liegenden – weil auf Schelling
nicht bezogenen – Aufsatz.)
Daß Schelling über Kant hinausgeht, sieht und anerkennt auch R.
Bubner in einem der scharfsinnigsten und schönsten Aufsätze der ganzen
Sammlung. Er spricht dort von einem platonisch-neuplatonischen Amal-
gam, das der neuen Suche nach dem Geist und der Schönheit zugrunde
liegt. Die Einheit des Subjekts und der Natur, so wie Schelling dieses Ver-
hältnis gesehen habe, müsse den Platonischen Gedanken vom Zusammen-
hang der idealen mit der realen Welt inspiriert haben. In der Schelling-
schen Ion-Auslegung werde die Rolle des Enthusiasmus als einer göttli-
chen Macht hervorgehoben, welche die fundamentalen, die Metaphysik
übertreffenden Strukturen des Mythos zugänglich mache. Der eigentliche
Weg des Philosophierens sei das stetige, begeisterte Vergegenwärtigen des
Absoluten, und keinesfalls eine methodische Begriffsentwicklung wie bei
Hegel; auch das Vordringen bis in die tiefste Wahrheit des Mythos, aber
mit Berücksichtigung der Bedeutung der vernünftigen Konstruktion (die
»negative« oder reinrationale Philosophie also in den Grenzen der »positi-
ven«).
In ihrem weder sprachlich noch sachlich befriedigend bearbeite-
ten, obwohl sehr interessanten Text schreibt C. Bickmann von einer nach
Platon modellierten identitätsphilosophischen Dialektik Schellings, wel-
che dazu diene, die ursprünglich vereinigten, und nur in der Reflexion ge-
trennten Momente wie Geist und Materie wiederzuvereinigen. In seinen
Versuchen nach 1800 scheine Schelling an die Schwelle der Positivität he-
ranzutreten in der erst später zu entwickelnden Gestalt eines praktischen
Fundaments des Handelns (Wille, Freiheit, Seele). Die spätere Lehre
Schellings begründe die Positivität des Individuums in der Faktizität (im
Daß) des Seins, dessen Substrat die Göttlichkeit in ihrer allumfassenden
Realität sei.
Ganz kritisch dagegen verfährt D. Barbarić, der zeigt, daß die
Deutung Platons aus der Philosophischen Einleitung in die Philosophie
der Mythologie... (1854) den platonischen Begriff der »Voraussetzung« zu
Unrecht ontologisch betrachte, im Sinne der eigenen »Potenzen« Schel-
lings. Darüber hinaus spreche Schelling den so genommenen »Vorausset-
zungen« den Wert realer Prinzipien ab, die sich auf etwas vom Denken

zttgtgtgtgzu
168 Rezensionen

Unterschiedenes bezögen. Dieses Manöver, das doch von der tiefgreifen-


den Suche Schellings nach dem ontologischen Fundament bei den antiken
Philosophen zeuge, mache es Schelling unmöglich, die Wirklichkeit Got-
tes bei Platon und Aristoteles anzuerkennen.
Es gibt in unserem Band noch ein paar wertvolle Aufsätze zum
Verhältnis Schelling-Platon, die mehr historisch-philologischen Inhalts
sind. P. Masciarelli zeigt, Tennemann, Bardili und Reinhold seien Auto-
ren, die sich vor Schelling mit den philologischen Fragen der Authentizität
des Dialogs Timaios beschäftigten, aber auch mit den philosophischen
Fragen des pythagoräischen Einflusses auf dieses Werk oder der Rolle des
Pantheismus angesichts der kantisch geprägten Theorie des Erkenntnis-
vermögens; man könne vermuten, daß diese Diskussionen mittelbar die
Gestalt der Schellingschen Interpretation des Timaios aus dem Jahre 1794
beeinflußt haben dürften. M. Franz erforscht den Hintergrund Schelling-
scher Platon-Kenntnisse, die Überlieferung des Platonismus und Neuplato-
nismus während des Tübinger Studiums (Vorlesungen über die Geschichte
der Philosophie, gehalten vom Historiker Christian Friedrich Rößler). Und
schließlich erwägt M. von Perger die von dem platonischen Schön-
heitsideal angeregten Gedanken Hölderlins zur Bedeutung des ästhe-
tischen Sinns in der Bildung der Menschlichkeit.
Im Übergang zu den Erörterungen des zweiten thematischen
Hauptteils der Sammlung, und zwar des den Mythos betreffenden, erlaube
ich mir schon jetzt etwas über die zwei Bruno-Aufsätze zu sagen. Im er-
sten derselben, den S. Otto verfaßt hat, wird man von der Bedeutung die-
ses Dialogs – eines der geheimnisvollsten Texte Schellings, weil er ein
»verschlüsselter« sei, – für den Ausbau seiner »wahren Philosophie« be-
nachrichtigt, besonders wegen der Einführung der Relations- und Modali-
tätskategorien in den Strukturrahmen des Absoluten, die es gegenüber dem
individuellen Sein offen machten. E. Kiss seinerseits behauptet, die Zu-
sammenstellung von Bruno und Plotin – zweier durchaus entgegengesetz-
ter Denker – in diesem Dialog solle die Wichtigkeit unterstreichen, welche
für die Philosophie nicht allein das Nachdenken über die Natur, sondern
auch die intellektuelle Anschauung habe, die Hegel so ambivalent in sei-
ner dem Bruno vorausgehenden Differenzschrift bewertet habe.
Auf dem Boden der »positiven« oder »wahren« Philosophie
Schellings erscheine die Mythologie – so G. F. Frigo – als die Aktivie-
rung der Möglichkeit (oder Potenz), die (vorgeschichtliche) Gegenwart
des einzigen Gottes (unter den Menschen) aufzuheben. An sich aber hätten
Mythen (wofür Mysterien Zeugnis abgelegt hätten) der Vorbereitung kos-

gzgutgtg
Rezensionen 169

mischen sowie natürlichen Grundes der monotheistischen Offenbarung


gedient. Man kann jedoch Frigo keineswegs zustimmen, wenn er den
Schellingschen Begriff der Zeit als qualitativ verschiedene Dimensionen
der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft ansieht. Denn – davon
bin ich überzeugt –: Die sich in der vom Mythos beherrschten Weltge-
schichte entfaltende Freiheit lebt nach Schelling eben in einer organischen
Zeit, deren Dimensionen strikt zueinander gehören. Und so sieht diesen
Begriff auch R. Adolphi, der die Schellingsche Zeit als eine Nachfolge der
einander umgreifenden, totalen Dimensionen betrachtet, worin das Ver-
nünftige innerlich mit dem Irrationalen verwoben sei; im Unterschied zu
den antiken Konzeptionen akzentuiere Schelling die geschichtliche Wich-
tigkeit der Freiheit als des Prinzips allen Geschehens.
Die monotheistische Wahrheit des Christentums, auch das Opfer
Christi, hätte das Ende des Heidentums und des Judentums bestimmt als
der Religionen kosmischer Ordnung (der Natur und des Rechts). Zugleich
hätte damit die positive Erfahrung des Geistes angefangen. Schelling soll-
te diese Sachen am besten in der Urfassung der Philosophie der Offenba-
rung ausgedrückt haben, wo auch die universalistische christliche Idee der
Freiheit als dessen, was »unser und der Gottheit Höchstes« sei, zur Spra-
che komme. Theoretisch bedeute solche Freiheit den endgültigen Schluß
mit einer »kosmischen« Religiosität und gebe der Menschheit das religiös-
praktische Prinzip der authentischen Versöhnung aller in die Hand. (W. E.
Ehrhardt)
Die Beziehungen zwischen Mythos und Ästhetik werden in zwei
weiteren Aufsätzen beschrieben. K. Yamaguchi macht darauf aufmerksam,
daß die der ersten Potenz des Absoluten der positiven Philosophie Schel-
lings (der Person des Gottvaters oder dem, was als solches nicht sein soll-
te) entsprechenden notwendigen mythologischen Inhalte eine unzerstör-
bare geschichtliche Realität seien, welche die Dauerhaftigkeit der Kunst
garantiere. F. Moiso argumentiert, daß in der nachantiken Zeit das klassi-
sche künstlerische und wissenschaftliche Vorbild der symbolischen Ein-
heit des Bildes und des Objekts unzugänglich sei, denn in dieser Epoche
sei der Zusammenhang der unzertrennbaren Momente des mythologischen
Bewußtseins entweder der allegorischen oder der schematischen Deutung
unterworfen. (Die Termini »Symbol«, »Allegorie« und »Schema« der
Schellingschen Philosophie der Kunst gemäß verstanden.)
Lassen wir einen zweiten Zwischenruf zu. Es geht mir um zwei
strenger theologische Betrachtungen von L. Procesi und Ch. Danz. Frau
Procesi bezieht sich auf die Christologie Schellings, so wie diese in seiner
Interpretation des Prologs des Johannesevangeliums verankert ist. Der

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170 Rezensionen

Sinn und Zweck des Opfers Christi sei die Wiederherstellung des göttli-
chen Lebens in uns. Herr Danz seinerseits zeigt, wie Schelling eine »posi-
tive« Idee des trinitarischen Gottes (Absoluten) herausarbeitete mit Bezug
auf Athanasius von Alexandrien, der die substantielle Verschiedenheit von
zwei ersten Gottespersonen zu schwach hervorgehoben hätte, eine Ver-
schiedenheit, die auf die Freiheit (Unableitbarkeit) des Aktes der ewigen
Zeugung des göttlichen Sohnes hinweise.
Der patristische Gedanke kommt eigentlich nur in einem Aufsatz
zur Geltung ebenso wie Aristoteles. Die Verwandtschaft von Schellings
und Augustinus’ Lehre vom Bösen bestehe – so P. L. Oesterreich – in der
Ausnützung des Motivs der Perversion, der Abwendung vom göttlichen
Lichte; der Hauptunterschied, welcher die Bedeutsamkeit der Konzeption
aus der Freiheitsabhandlung für die Gegenwart ausmache, habe sein We-
sen in der Betonung der Wirklichkeit, der Positivität des Bösen bei Schel-
ling. A. Denker, der sich bei dem Herrn Ch. Asmuth für die »Hilfe bei der
Herstellung des deutschen Textes« sehr herzlich bedankt, wiederholt die
Beschreibung der dreifachen Struktur des »positiven« Absoluten, um zu
zeigen, daß die Aristotelische Metaphysik für Schelling der Lösung des
Problems dienen sollte, einen Ausgleich herbeizuführen zwischen dem in
der »positiven« Philosophie herausgehobenen Gott und der in der »negati-
ven« Philosophie herausgehobenen Welt. Doch trotz des positiv-empiri-
schen Ausgangspunkts müßte sich Aristoteles mit der Fassung des Abso-
luten als eines Wesens, und nicht mehr als eines lebendigen Seins begnü-
gen, was letztendlich seine »negative« Einstellung aufweise. Erst das
Christentum könnte eine neue Perspektive des durchaus positiven Denkens
Gottes schaffen.
Den Beziehungen zur antiken Wissenschaft werden zwei Aufsätze
gewidmet. Zum einen der auf italienisch geschriebene Text von X. Tilliet-
te, der sich mit dem pythagoräischen Erbe beim frühen Schelling befaßt,
und zum zweiten das Referat von P. Ziche, der beweist, daß nicht allein
das kantische oder leibnizische, sondern auch das antike Verständnis von
Mathematik einen wesentlichen Einfluß auf die Ausarbeitung der Methode
beim jungen Schelling gehabt habe, das philosophische System zu kon-
struieren – u. a. dank Christoph Friedrich Pfleider, dem Tübinger Lehrer
der Mathematik. Diese Methode beginne mit dem höchsten Grundsatz,
und das ganze Konstruieren vollziehe sich im inneren Sinn, was eine Fol-
ge der neuzeitlichen Verallgemeinerung von Arithmetik sei.
Es sei uns erlaubt, die Darstellung der Textinhalte mit kurzen Be-
merkungen zu den Aufsätzen zu schließen, die sich mit dem kulturellen

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Rezensionen 171

Hintergrund des Zeitalters Schellings beschäftigen. T. Griffero untersucht


die Beziehungen zwischen der Philosophie Schellings und der Theosophie
Oetingers. I. Strohschneider-Kohrs gibt uns eine großzügige, höchst kom-
petente Skizze des kulturell-literarischen Hintergrunds des Zeitalters des
deutschen Idealismus, mit besonderer Berücksichtigung der vieldeutigen
und vielschichtigen Rezeption der Antike. Und M. Boenke, in einem ge-
wissermaßen außenstehenden Kommentar zu den fragwürdigen utopischen
Dimensionen der Spätlehre Schellings, spricht über die Wichtigkeit des
utopischen Potentials derselben in der heutigen Welt, z. B. im Kontext der
von Habermas formulierten Postulate der Öffnung fremden Kulturen ge-
genüber.
Die hier zu besprechende Sammlung weist außer den unzweideu-
tigen Verdiensten auch eine Zahl von Mängeln auf. Haben doch die Her-
ausgeber fast 10 Jahre gebraucht, um die sprachlichen Fehler wegzuräu-
men, statt auf die Hilfe der deutschen Freunde einiger Autoren zu rechnen;
diese Zeitspanne könnte auch der Beseitigung anderer editorischer Un-
vollkommenheiten hilfreich gewesen sein, wie eine relative Unordnung
oder eine gewisse Zufälligkeit in der Anreihung der Texte; es gibt keine
Unterteilung derselben in thematische Gruppen. Die Autoren sind inzwi-
schen 9 Jahre älter geworden, was im Fall der mir bekannten jüngeren
deutschen Philosophen besonders sichtbar ist. Freilich bleiben die gele-
gentlich kontrastierenden Stellungnahmen der einzelnen Beiträge intellek-
tuell anregend, besser aber wäre es, sich ebenfalls um andere, außer Acht
gelassene Probleme der Gegenwart der Antike in der Philosophie Schel-
lings gekümmert zu haben, wie die Wirkung des kabbalistischen Erbes
oder die Richtigkeit der Analogien, welche Schelling zwischen weit von-
einander liegenden mythologischen Figuren entdeckt.

Robert Marszałek (Warschau)

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Simone Furlani: L´ultimo Fichte. Il sistema della Dottrina della


scienza negli anni 1810-1814 (Der letzte Fichte. Das System der
Wissenschaftslehre in den Jahren 1810-1814). Guerini e Asso-
ciati: Milano 2004. 280 S.

Das vorliegende Buch untersucht das System, das Fichte in den Jahren
1810-1814 an der Universität Berlin erarbeitete, unter der Voraussetzung,
dass man kein volles Verständnis von Fichtes Philosophie erlangen kann,
wenn man nicht alle Teile der systematischen Konstruktion bedenkt. Die
Perspektive der Rekonstruktion ist zugleich chronologisch und systema-
tisch: Die Vorlesungen Fichtes werden in ihrer zeitlichen Reihenfolge
verhandelt; aber stets werden die systematischen Verknüpfungen zwischen
den verschieden Vorlesungen aufgezeigt mit der ausdrücklichen Absicht,
den Unterschied zwischen den einleitenden Kursen, den Vorlesungen über
die Wissenschaftslehre und denen der angewandten Philosophie gewidme-
ten Vorträgen zu verstehen.
Der erste Teil ist der »Wissenschaftslehre 1811« gewidmet, deren
Struktur insbesondere in Beziehung auf die Thatsachen des Bewußtseins
1810/1811 untersucht wird. Furlani lenkt seine Aufmerksamkeit auf das
Problem der zwei Zugangsarten zur Transzendentalphilosophie: eine un-
mittelbar aus den Prinzipien (dem Prinzip, der Erscheinung Gottes, die
Voraussetzung der WL) und eine mittelbare, die die Tatsachen als bloße
faktische Phänomene betrifft und nur ein propädeutisches Ziel hat.
Wie können beide Wege nebeneinander bestehen? Die Lösung
Furlanis ist folgende: Die Argumentation am Anfang der WL, mit der
Fichte den absoluten Idealismus (Schelling) und den absoluten Realismus
(Spinoza) zugleich abweist, enthält den Gedankengang der Thatsachen des
Bewußtseins 1810/1811, d.i. den Verlauf der natürlichen Entwicklung des
gewöhnlichen Bewußtseins. Der erste Teil der Thatsachen des Bewußt-
seins 1810/1811 (»in Beziehung auf das theoretische Vermögen«) geht

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Rezensionen 173

ausführlich auf die Zustände des Wissens (äußerer und innerer Sinn, Re-
produktion oder Erinnerungsvermögen) des natürlichen und konkreten
Bewußtseins ein, die auf der Grundbehauptung des absoluten Realismus
gegründet sind. Der zweite Teil (»in Beziehung auf das praktische Ver-
mögen«) hat die Grundannahme des absoluten Idealismus als Vorausset-
zung und beschäftigt sich mit den auf dieser Anschauung begründeten Zu-
ständen. In diesem Sinne ist die Kontinuität zwischen dem vortranszen-
dentalen einleitenden Wissen (Tatsachen des Bewusstseins) und dem
transzendentalen Wissen (Wissenschaftslehre) gewahrt: Aber nur die Wis-
senschaftslehre ist »Philosophia prima«. Diese enthält die transzendentale
Deduktion, die sich durch fünf Schemata entfaltet: – Vermögen, Abzie-
hung Gottes, Reflex, Reflexibilität, Reflex des Reflexes. Jedes Schema ist
durch einen Widerspruch charakterisiert, der auf das vorhergehende Sche-
ma zurückwirkt und zum folgenden forttreibt. In den Schemata spiegelt
sich somit die Dialektik zwischen den Bedingungen der Erscheinung des
Absoluten und den Möglichkeitsbedingungen des Bewußtseins wider, die
zwei Deduktionsweisen – von oben nach unten und von unten nach oben –
eröffnet. Besondere Aufmerksamkeit richtet Furlani auf die Figur der »Re-
flexibilität«, die es erlaubt, die Vermittlung zwischen Absolutheit und Er-
scheinung zu realisieren. Da diese Vermittlung nur von einem »Soll« ge-
leistet wird, ist die Komposition von Unendlichem und Endlichem aber
bloß problematisch.
Die Fünffachheit ist jedoch nicht nur eine Darstellungsstruktur,
sondern auch die Struktur des Bewußtseins, das transzendental legitimiert
ist. Da aber diese Struktur auch im dritten Teil der Thatsachen des Be-
wußtseins auffindbar ist, und zwar in der Manifestation Gottes als Gesetz
für das Bewußtsein in fünf »Grundformen«, die selbst nicht wieder gene-
tisch gerechtfertigte Projektionen der fünf Schemata sind, entsteht das Ri-
siko der Überlagerung der transzendentalen Schemata der WL und der
faktischen projektiven Grundformen der Tatsachen des Bewußtseins.
Denn wenn die transzendentalen Schemata nur Projektionen oder Verab-
solutierungen von psychologischen, bewußtseinsmäßigen faktischen
Strukturen wären, würde die Wissenschaftslehre ihre Absolutheit verlie-
ren.
Dieses Problem zwingt – nach Furlani – Fichte dazu, die folgen-
den Versionen der »Tatsachen« und die Darstellungsform der letzten voll-
ständigen Wissenschaftslehre (1812) zu ändern. Der zweite Teil des Bu-
ches (»Die Struktur der WL 1812«) analysiert die WL 1812 mit Bezug auf
die zwei Vorlesungsreihen über die Transzendentalen Logik. Auch in der
WL 1812 bilden die fünf Schemata die Grundstruktur, aber Fichte fügt ei-

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174 Rezensionen

nen parallelen Standpunkt hinzu. »Schema I« und »Schema II« sind als
»Erscheinung« und »Erscheinung der Erscheinung« abgeleitet, ohne daß
die Deduktion auf die vorherigen Glieder zurückwirkt. Von da aus de-
duziert Fichte in einer »Nebenbetrachtung« eine fünffache Struktur, deren
Produkt oder Projektion die »Erscheinung der Erscheinung der Erschei-
nung« und die der Standpunkt des konkreten Bewußtseins ist. Fichte be-
ginnt dann wieder aus der absoluten Erscheinung zu deduzieren: Die
transzendentale Deduktion entspricht genau derjenigen der WL 1811. In
der letzen Sektion der WL 1812, die der »Reflexibilität« gewidmet ist,
zeigt Fichte wie die transzendentalen Strukturen aus der Konkretheit des
Systems des Bewußtseins entspringen. Absicht Fichtes sei es, das Problem
des Verhältnisses zwischen der konkreten (natürlichen und vor-wissen-
schaftlichen) Dimension (der fünffachen Struktur des Endes der Thatsa-
chen des Bewußtseins 1810/1811) und der transzendentalen Dimension
(der WL) aufzulösen, aber diesmal innerhalb der WL als transzendentaler
Deduktion und als Philosophia prima. Laut Furlani scheitert aber diese
Strategie, weil das schlechthin Faktische – aus der Perspektive der gene-
tischen Deduktion aus der absoluten Voraussetzung als letzte Implikation
der Grunddeduktion – nur ›gefunden‹ werden kann. Auch die erste Vorle-
sung über die transzendentale Logik – deren systematischen Entsprechun-
gen mit der WL ausführlich erörtert werden – würde das Problem nicht lö-
sen: Indem, dem Empirismus entgegen, das Wesen der Empirie als »Bild-
lichkeit der Erscheinung« erklärt wird, wird das empirische faktische Wis-
sen vernachlässigt, und selbst die Logik verwandelt sich in eine Wissen-
schaftslehre.
Der entscheidende Mangel in Fichtes Deduktion wird an einer
Stelle der WL 1812 gefunden, wo der Reflex (III. Schema) folgender-
maßen bestimmt wird: »Kein Bewußtseyn, Bild, usf. ohne Selbstbewußt-
seyn, d. i. Bewußtseyn des ‹formalen› Seyns der Erscheinung« (GA II, 13,
77 (13v). Dies bedeutet – nach Furlani – daß das Faktische aus dem
Grundsehen bzw. aus dem absoluten Wissen kommt, und daß der Paralle-
lismus zwischen beiden verschwindet. Wichtiger sei aber, daß »diese Be-
hauptung auf dieser Ebene der Deduktion nicht gerechtfertig ist« (S. 155),
weil das Bewußtsein nur in der Dimension der Reflexibilität vorkommt,
die als »Rückbeziehung« Selbstbewußtsein und als »Begrenzbarkeit« oder
»Anschaubarkeit« Bewußtsein ist. Der Widerspruch, der die Setzung des
dritten Schemas (Reflex) als transzendentaler Bedingung bewirkt, basiert
auf der Notwendigkeit, den Dualismus zwischen dem Sein Gottes und
dem Sein der absoluten Erscheinung zu vermeiden. Da aber der Reflex die

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Rezensionen 175

transzendentalen Möglichkeitsbedingungen vereint, die die Erscheinung


Gottes impliziert, gibt es keinen Grund für die Setzung der weiteren gene-
tischen Vermittlungsstufen der Reflexibilität. Mit anderen Worten: Es ent-
steht das Risiko, daß das faktische Bewußtsein entweder nicht transzen-
dental abgeleitet werden kann oder im absoluten Wissen verschwindet.
Im dritten Teil (»Das System der Wissenschaftslehre«) wird der
Zusammenhang zwischen der WL und den besonderen Disziplinen des
Wissens (mit ausführlichen Hinweisen auf die Sittenlehre 1812 und auf
die Rechtslehre 1812) untersucht. Der Autor findet auch in der angewand-
ten Philosophie die fünffache Struktur der WL und zeigt die Entsprechung
zu deren Schemata und den begrifflichen Figuren der Sitten- und Rechts-
lehre. Auch in diesem Fall »erweist sich der Übergang vom Sichsetzen des
»Begriffes« als Grund des Triebs (...) zu der Deduktion (...) des natürli-
chen Willens als problematisch« (S. 186). Auf dem Standpunkt der An-
wendung der WL kehrt also das »Problem der Harmonisierung zwischen
Transzendentalem und Empirischem, zwischen Philosophie und Erfah-
rung, die auf dem einleitenden Standpunkt entstanden ist« (S. 197), wie-
der. Furlani schließt daraus: »Die besonderen Disziplinen bilden nicht nur
die von der WL abgeleitete Grundstruktur des Wissens ab, sondern in ih-
nen spiegelt sich dieselbe Schwierigkeiten der WL wider.« (S. 199). Diese
Schwierigkeiten kommen auch in den letzen unvollendeten Darstellungen
der WL (1813 und 1814) und im Diarium vor, welches der Autor als »eine
neue Darstellung der WL« betrachtet. Hier werden Materialien und Argu-
mente benutzt, die auf die Jenaer Vorlesungen hinweisen; nur sei das Ziel
dieser Wiederaufnahme die Erklärung der transzendentalen, nicht der ich-
lich-anthropologischen Dimension.
Im vierten Kapitel (»Die Einheit des Fichteschen Denkens: das
Problem des Transzendentalen Idealismus«) untersucht Furlani den Ur-
sprung der Aporien, die sich in Fichtes Jenaer System, besonders in der
»Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« (1794/95) finden. Absicht
der von Fichte in Berlin vorgenommen Trennung zwischen Selbstbestim-
mung des endlichen Ich und Erscheinung des Absoluten sei es, das Miß-
verständnis zu korrigieren, es handle sich bei der Selbstreflexion des Wis-
sens um eine psychologische Reflexion. Das Ergebnis dieser Operation sei
aber, daß das transzendentale Wissen den Zugriff auf das empirische, end-
liche, psychologische Wissen verliere. Das Problem werde auf dieser Wie-
se sogar vertieft, da die Seiten des Verhältnisses zwischen transzendenta-
lem und empirischem Wissen voneinander entfernt werden. Im Kapitel V
(»Zusammenfassung und Schluß«) schließt Furlani daraus, daß das Den-

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176 Rezensionen

ken Fichtes zwar einheitlich ist, aber dies gelte ebenso für die Probleme
der transzendentalen Perspektive.
Nichtsdestotrotz bleibt das Problem der ungenügenden Vermitt-
lung zwischen dem faktischen und dem transzendentalen Wissen, mit dem
der Autor immer wieder ringt, m.E. nur dann bestehen, wenn die Möglich-
keit der Erscheinung des Absoluten und die Deduktion des Bewußtseins
als von Anfang an getrennt betrachtet werden. Dies ist eben – gegen Furla-
nis Standpunkt, der anscheinend von der Hegelschen Kritik der »schlech-
ten Unendlichkeit« stillschweigen beeinflußt ist – beim späten Fichte nicht
der Fall. Wäre die Struktur der Fünffachheit, der Furlani ein so großes
Gewicht zuschreibt, auch auf dem Niveau der Theorie des Bildes in der II.
»Transzendentalen Logik« untersucht worden, hätte das Problem in einem
anderen Licht erscheinen können. Die Transzendentale Logik, die zwar,
wie Furlani ausdrücklich betont, selbst Wissenschaftslehre ist, denkt über
die Form der Wissenschaftslehre als Lehre der Form des Wissens nach,
und somit erklärt sie die Wechselbestimmung zwischen Faktum und Ge-
nesis bzw. die Bedeutung der Zirkularität zwischen der hypothetischen
Voraussetzung des Prinzips und deren kategorischer Bestätigung im und
für das Bewußtsein. Eine stärkere Betonung der Kreisförmigkeit der WL
als Strategie der genetischen Begründung hätte die Probleme lösen kön-
nen, die sich auf dem Niveau der Deduktion darstellen, insbesondere das
Problem der Vermittlung zwischen dem Transzendentalen und dem Fakti-
schen.
Das Buch ist ein grundlegendes Werk für die Erforschung des
deutschen Idealismus, eine fundamentale Arbeit, der eine herausragende
Stellung insbesondere für die Fichte-Forschung zugeschrieben werden
muß. Zunächst ist dieses Buch das erste, welches das ganze neue Material
von Fichte benutzt, das in der Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie
der Wissenschaft veröffentlicht wurde. Zudem sind die Argumentationen
Furlanis immer stringent und konsequent. Die interne Struktur des Buches
ist solide. Die begriffliche Entwicklung der untersuchten Darstellungen
der WL ist jeweils erklärt und geprüft, auch dank stets zuverlässiger und
aufschlußreicher Bezüge zur Sekundärliteratur. Die Verknüpfungen zwi-
schen den verschiedenen Niveaus des Fichteschen Philosophierens sind
deutlich aufgezeigt und die Schwierigkeiten, die das Zunehmen von ver-
schiedenen Arten von Einführung zur Philosophie (faktische Einführung:
Thatsachen des Bewußtseins; wissenschaftliche Einführung: Transzenden-
tale Logik) mit sich bringt, sowie die Probleme, die das Verhältnis zwi-
schen der Philosophia prima der WL und der angewandten Philosophie

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Rezensionen 177

bereiten, sind eingehend diskutiert. Die Fichte-Forschung wird nicht um-


hin können, auf diesen Text zurückzugreifen, wenn es um einen systemati-
schen Überblick der späten Philosophie Fichtes geht.

Alessandro Bertinetto (Udine)

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Andrés Quero-Sánchez: Sein als Freiheit. Die idealistische Me-


taphysik Meister Eckharts und Johann Gottlieb Fichtes. (Sympo-
sion; 121). Karl Alber: Freiburg / München 2004. 432 S.

Meister Eckhart und Johann Gottlieb Fichte – ein Thema mit Geschichte.
Mit einer problematischen Geschichte. Die Verwicklungen sind prekär.
Und das betrifft beide Denker. Bereits die Entstehung der Eckhart-For-
schung ist überschattet von einer nachromantischen Deutschtümelei. Erst
recht sind Planung und Beginn der Eckhart-Ausgabe in den 30er Jahren
des 20. Jahrhunderts nicht zufällig mit der Blut-und-Boden-Rhetorik der
nationalsozialistischen Propaganda verwoben. Dieses Geflecht von Inter-
essen wissenschaftlicher, psychologischer oder politischer Provenienz
mag in historischer Perspektive auseinander zu dividieren sein: Jedenfalls
entspringen sie einer unschönen Allianz.
Der Philosophie Fichtes erging es nicht anders. Nach dem Sieg
Deutschlands über Frankreich und nach der Reichseinheit unter der Füh-
rung Preußens entlarvte sich Fichte als unfreiwilliger und doch dienstbarer
Prophet. Seine postrevolutionäre Rhetorik machte sich gut in den Jahren
bis zum Ersten Weltkrieg, und die Kriegsbegeisterung des August 1914
blies die Stimme Fichtes durch das Sprachrohr der deutschen Gelehrten
und Gebildeten bis in die Hinterzimmer der wilhelminischen Kleinbürger.
Und auch in den Jahren der Weimarer Republik gehörten die ›Reden an
die deutsche Nation‹ zum klassischen Bildungsschatz des deutschen Pa-
trioten.
Der Auftritt beider Philosophen im Doppelpack machte die Sache
nicht besser. Alfred Rosenberg entwarf in seinem haßerfüllten ›Mythus
des 20. Jahrhunderts‹ eine ideologische Generallinie des Nationalsozialis-
mus, deren Eckpfeiler u.a. Meister Eckhart und Johann Gottlieb Fichte bil-
deten. Ihm folgten einige der bekanntesten Publizisten. Aber auch die phi-
losophische Wissenschaft war von Thema und ideologischem Horizont in-

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Rezensionen 179

fiziert. Insbesondere der sog. Neuidealismus, eine populäre Strömung der


Zwischenkriegszeit, schrieb sich immer wieder das Bekenntnis zu den bei-
den wahrhaft deutschen Denkern auf die Fahnen. Zu den Vertretern dieser
Richtung zählte Hermann Schwarz, dessen Schüler Heinz Finke dem The-
ma eine Dissertation widmete.
Den Autor der vorliegenden Studie interessiert das nicht. Er betritt
sein Arbeitsgebiet zwar nicht ohne die Kenntnis seiner historischen Ge-
nese, aber er schiebt seine häßliche Seite in die Ecke des geschichtlich Ge-
wesenen. Er hält sich die lästigen Schatten seines Themas vom Pelz. Da-
mit hat er Recht, denn die Forschung der letzten 50 Jahre hat mehr als
deutlich gemacht, daß Vereinnahmung und Instrumentalisierung Eckharts
als auch Fichtes auf einer ideologischen Hornhautverkrümmung beruhen.
Erst eine völlig verzerrte, wenn auch auf eigenen Traditionen beruhende
Optik, kann den Zusammenhang beider Gestalten auf Nation, Volk oder
Blut reduzieren.
Mit der Kritik dieser Tradition ist es allerdings nicht getan. Jen-
seits der offenkundigen Feststellung, daß wohl kein vernünftiger Philoso-
phiehistoriker heute auf die Idee käme, sich an der deutschtümelnden Ge-
schichtsforschung der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu be-
dienen, wirft das Thema ›Eckhart und Fichte‹ – wie wohl kaum ein ande-
res – die Frage nach dem tertium comparationis auf. Tatsache ist, daß es
keinen belegbaren Einfluß Eckharts auf Fichte gibt. Und nach dem, was
wir wissen, ist es auch sehr unwahrscheinlich, daß Fichte auch nur ein
Wort Eckharts oder auch nur eine seiner Thesen gekannt hätte. Darüber
hinaus wäre es ihm auch schwer geworden, sie als Beitrag zu einer eigen-
ständigen Philosophie zu werten. Dazu blieb Fichte zeitlebens in dem Ur-
teil befangen, außer Platon, Leibniz, Spinoza, Kant und Fichte habe die
Geschichte der Philosophie nichts Nennenswertes zur Philosophie selbst
beizutragen. Historisch gesehen ist ein Vergleich beider Autoren, ist die
Feststellung, es gäbe in ihren Schriften Vergleichbares, nicht zu treffen. Es
sei denn, man möchte zu anachronistischen Kategorisierungen greifen, in-
dem man etwa Fichte in die Geschichte des Neuplatonismus integriert. Es
können daher ausschließlich systematische Argumente vorgebracht wer-
den, deren Rechtfertigung allerdings eine neuerliche Argumentation er-
forderte. Leider bleibt es statt dessen immer wieder bei Bekenntnissen, z.
B. dadurch daß man einen bestimmten Mystikbegriff inauguriert, und
dann zeigt, daß sich Eckhart und Fichte in derselben Schnittmenge wieder-
finden. Dazu aber müßte die Mystik etwas zeitlos Wahres sein, das kultur-
transzendent zugänglich und erfahrbar ist.

zttgtgtgtgzu
180 Rezensionen

Sanchez-Quero, der Autor der großangelegten Studie, möchte die-


se Klippen und Irrfahrten vermeiden. Seine Untersuchungen bleiben des-
halb philosophisch konkret. In einem ersten Teil geht es ihm um den
Nachweis, daß Eckhart eine idealistische Philosophie vertritt. Unter Idea-
lismus versteht der Autor eine vorwiegend ethische, weniger eine episte-
mologische Grundeinstellung. Die Kategorie Idealismus bildet das argu-
mentative Scharnier der Studie. Idealismus ist der gemeinsame Nenner,
auf den sich Eckhart wie Fichte bringen lassen.
Dazu muß er das Denken Meister Eckharts aus dem Strom des
Thomismus herausnehmen. Daher widmet er einen großen Teil seiner Ar-
gumentation dem historischen Nachweis, wie und inwieweit sich Eckhart
von Thomas abgrenzt bzw. inwieweit er bereits in seinem Ansatz von
Thomas entfernt und einem neuplatonischen Paradigma zu folgen bereit
ist. Eckharts Lehre vom Sein Gottes rekonstruiert der Autor anhand des
zentralen Textes der Pariser Quästionen. Eckhart zeigt hier schon früh,
daß er die Gotteslehre des Thomas von Aquin in einem wesentlichen
Punkt korrigieren will. In Gott sind zwar Sein und Denken identisch. Aber
es gilt: Gott denkt nicht, weil er ist, sondern er ist, weil er denkt. Quero-
Sánchez wertet das als ein idealistisches Argument, da es – bei aller Iden-
tität – einen Vorrang des Denkens vor dem Sein annimmt: Gott als Den-
ken. Das Sein Gottes besteht daher in und durch sein Denken; es konstitu-
iert sich erst durch das Denken. Quero-Sánchez beruft sich dabei auf die
Interpretationen von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch, die bereits in
den 80er Jahren die intellekttheoretischen Grundlagen und Implikationen
des Eckhartschen Philosophierens herausgestellt haben.
Der Autor will zeigen, daß Eckhart ein ›Vorgänger des neuzeitlichen
Idealismus‹ (42) ist. Er besteht auf einer Kontinuität des neuplatonischen Den-
kens und sieht auch die Philosophie Fichtes, ja den neuzeitlichen Idealismus
insgesamt in dieser Tradition. Allerdings opfert er die bei Fichte so augenfäl-
lige Synthese von Epistemologie und Ethik zugunsten einer einseitig prakti-
schen Auffassung des ›Idealismus‹. Quero-Sánchez ist gezwungen die auf
Descartes zurückführende Tradition des neuzeitlichen Denkens aus der zu
Fichte hinführenden Geschichte des Philosophierens zu eliminieren. Das be-
trifft vor allem den Ich-Begriff. So wichtig es ist, den systematischen Unter-
schied zwischen Descartes Cogito und Fichtes Ich herauszustreichen, so we-
nig dürfte es gelingen, Fichtes Ich-Begriff unter Umgehung Descartes auf
Eckhart zurückzubeziehen. Wichtig für den Autor ist indes die ethische Di-
mension des Idealismus, die er in dem emphatischen Bekenntnis beider Auto-
ren zum Sein als Freiheit erkennt.

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Rezensionen 181

Das Sein des konkreten Seienden ist in seiner Unterschiedenheit


von allem anderen konkreten Seienden auch vom göttlichen Sein funda-
mental unterschieden. Diese These Meister Eckharts entwickelt Quero-
Sánchez am Leittext des Opus tripartitum (69), jenem gewaltigen intertex-
tuellen Projekt Eckharts, von dem nur wenige Teile überliefert und wohl
auch nur wenige Teile von Eckhart fertiggestellt worden sind. Von hier
aus erklärt der Autor Eckharts stehende Rede vom Sein, das Gott den
Kreaturen verliehen und nicht zu eigen gegeben hat. Dahinter steht ein
starkes henologisches Moment: das Sein, welches das Sein Gottes und die
Fülle als Freiheit ist, kann nur eines sein.
Von besonderer Bedeutung ist das Sein des Menschen, das Que-
ro-Sánchez charakterisiert, indem er auf die imago-Lehre Eckharts ver-
weist. Abbild zu sein eines anderen, vorgängigen Urbildes, bedeutet zu-
gleich – und darin besteht die Verbindung zum Bereich des Kreatürli-
chen –, kein Sein aus sich selbst zu besitzen. Der Autor versteht die
imago-Lehre Eckharts nicht als eine ethische Anweisung, das Bildsein
Gottes in sich zu verwirklichen, sondern als Aufforderung an den Men-
schen, sich vom Kreatürlichen, vom Dies-und-das-Seienden zu befreien,
um Gott in sich wirken zu lassen (114). Daher werde bei Eckhart nicht
der Mensch zu Gott, sondern Gott im Menschen real: Eine Geburt Got-
tes im Menschen. Voraussetzung dafür ist die Vernichtung des Partiku-
laren. Der Mensch solle auf sein Bestimmt-Sein als Dies-und-das ver-
zichten: Eckharts ethische Forderung nach Gelassenheit, die zugleich
Freiheit impliziert.
An diesen Aufriß der Philosophie Eckharts knüpft der Autor nun
die Religionsphilosophie Fichtes an. Er konzentriert sich dabei besonders
auf Fichtes Anweisung zum seligen Leben, die schon immer als Kandidat
gehandelt wurde, wenn es um einen Bezug zu Eckhart ging. Quero-Sán-
chez kann sich auf die stark Johanneisch gefärbte Sprache Fichtes ver-
lassen. Leben, Liebe, die Einheit mit Gott in der Wurzel, die Vernichtung
des Begriffs vor dem Absoluten, die Negation des Mannigfaltigen zuguns-
ten eines uneinholbaren Einen, letztlich die Schau Gottes durch ein geläu-
tertes reines Denken: – alles dies sind Motive, die für den Autor exempli-
fizieren, daß es Fichte wie Eckhart um einen ethischen Idealismus gehe,
welcher der Sache nach bei beiden Autoren derselbe sei.
Das Buch von Quero-Sánchez ist auf sympathische Weise altmo-
disch. Es ist gelehrt und bietet einen profunden Überblick über die For-
schungsliteratur. Seine These holt weit aus und demonstriert ein an klassi-
schen Positionen geschultes Problembewußtsein. Die damit verbundene
Kontinuitätsthese macht die Sache allerdings auch unverdaulich. So stellt

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182 Rezensionen

der Autor nicht nur Eckhart und Fichte in eine Linie, sondern auch Platon
und Kant. Bei dieser Linie handle es sich um eine platonisch-idealistische;
sie sei ethisch-existentiell (175) und schließe Platon als Transzendental-
philosophen mit ein (191). So sieht sich der Autor genötigt, den Gang der
Untersuchung mehrfach zu unterbrechen, um in langen Exkursen systema-
tische Positionen bei Platon und Aristoteles zu diskutieren. Daraus folgt
eine assoziative Struktur, bei der der Autor sich selbst ins Wort fällt und
zur Ordnung rufen muß: »Doch zurück zu Eckhart.« (156, 178)
Der weitgespannte Bogen nivelliert die historischen und systema-
tischen Differenzen. Überhaupt fragt es sich, ob eine deutliche Charakteri-
sierung der Unterschiede nicht ein sinnvolleres Projekt darstellte. Die Po-
sitionen Eckharts und Fichtes werden hier nur nebeneinandergestellt, und
ihre Gemeinsamkeiten sollen von selbst ins Auge fallen (127f.). Eine
Skepsis gegenüber der eigenen Perspektive, in der die Ähnlichkeiten als
solche aufscheinen, stellt sich nicht ein.
Am Anfang des Buches verrät der Autor, daß seine Arbeit eine
das »Historische ausklammernde Deutung« sei (28). Tatsächlich läßt
sich seine Grundthese eines ethischen Idealismus bei Eckhart und Fichte
nur vertreten, wenn man systematisch argumentiert. Allerdings verzich-
tet der Autor keineswegs auf historische Argumente. Im Gegenteil: Der
Leser wird mit einer Fülle historischen Materials vertraut gemacht. Dazu
gehört nicht zuletzt eine Edition des Avignoneser Gutachten über 28
Eckhart belastende Artikel sowie ein Kapitel über Eckharts Inquisitions-
prozeß. Auch das Fehlen eines Textzeugnisses bei Fichte, mit dem eine
etwaige Lektüre Meister Eckharts belegt werden könnte, versucht der
Autor auf spekulativem Wege zu beseitigen. Er versucht nämlich diese
Lücke durch einen imaginativen historischen Beleg zu schließen, eine
Lücke, die ihn in systematischer Hinsicht gar nicht bedrücken müßte
(265).

Die vorliegende Regensburger Dissertation ist ein heterogenes Buch. Pro-


blemgeschichtliche Grobskizzen und mittelalterhistorische Detailanalysen
wechseln ebenso wie emphatische Bekenntnisse zum Idealismus und hi-
storisch neutrale Beschreibungen. Dem Bekenntnis des Autors folgend,
soll es sich um eine selbst idealistisch verfahrende Interpretation einer
idealistischen Metaphysik handeln. Die angekündigte Metaphysikkritik
bleibt der Autor indes schuldig. Trotzdem läßt sich die Studie mit großem
Gewinn lesen. Dem Autor gelingen starke Durchblicke; er folgt gut be-

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Rezensionen 183

gründeten Leitthesen; seiner Wertung der Philosophie Eckharts und der


Philosophie Fichtes mag der Rezensent ohnehin gern folgen.

Christoph Asmuth (Berlin)

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Stefano Bacin: Fichte a Schulpforta (1774-1780). Contesto e ma-


teriali (lstituto ltaliano per gli Studi Filosofici – Fichtiana, Nr.
20). Guerini e Associati: Mailand 2003. 393 S.1

Fichtes Jahre in Schulpforta – allgemeiner: seine ganze frühe intellektuelle


Ausbildung – sind für die Forschung lange ein dunkler Zeitraum geblie-
ben. Das nach wie vor geltende Bild des ›titanischen Philosophen‹ hat die
Situation insofern sozusagen verschlimmert, als sich damit die These
durchgesetzt hat, der junge Fichte könne nur ein »großer Autodidakt« (um
einen Ausdruck von Max Wundt zu benutzen) gewesen sein.
Bacins Buch versucht nun – und dies ist ihm unseres Erachtens
völlig gelungen –, den zeitgenössischen Kontext des angehenden Philoso-
phen so genau wie möglich zu rekonstruieren, um so jegliche Art historio-
graphischer Hagiographie zu vermeiden. Zu diesem Zweck räumt es mit
all den unbegründeten Theorien und Behauptungen auf, die – mit Blick
auf die späteren Jahre des Philosophen – insofern eine historische Verstel-
lung verursacht haben, als man mittels eines für legitim gehaltenen hyste-
ron proteron die bekannten späteren Jahre auf die früheren projiziert hat.
Die Bacins Buch zugrundeliegende Methode zeigt, dass es illegitim ist,
zeitlich voneinander entfernte Texte nur deswegen einander anzunähern,
weil sie prima facie ähnlich klingende Stellen enthalten. Bacin führt aus,
man dürfe die frühen Ideen und Einflüsse, die in einer Schrift vorkommen,
nur als Basis für die Auslegung späterer und komplexerer Gedanken be-
trachten. Ansonsten liefe man Gefahr, jenen Andeutungen »einen unpro-
portionierten und unnachweisbaren Wert« zuzusprechen. Wenn man bloße
Vermutungen zu vermeiden imstande sei, könne man über jene Ideen er-

1 Aufgrund eines Übertragungsfehlers wurde im Band 25 der Fichte-Studien,


Grundlegung und Kritik. Der Briefwechsel zwischen Schelling und Fichte 1794-1802, die Rezen-
sion von Faustion Fabbianelli mit Teilen eines anderen Textes wiedergegeben. Um diesen Fehler
zu korrigieren, wurde die Rezension noch einmal, jetzt aber in ihrer richtigen Fassung, in diesen
Band aufgenommen.

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Rezensionen 185

folgreich zu den historischen Quellen der Bedeutungskerne vordringen,


die den Keim für die späteren Bearbeitungen bilden (124). Ein Beispiel
dieses methodologischen Verfahrens sei hier erwähnt: Wenn in der Oratio
de recto praeceptorum poeseos et rhethorices usu (1780) von ingenium
die Rede ist, kann man Bacin zufolge nur insofern auf Fichtes Jenaer Vor-
lesungen Über Geist und Buchstabe in der Philosophie hinweisen, als der
in ihnen diskutierte Begriff von Geist die alte Bedeutung von »ingenium«
enthält. Gottscheds Dichtkunst (nach Ansicht des Verfassers Fichte wohl
bekannt) dürfte hier die dazu notwendige, diese Folgerung begrifflich er-
möglichende Brücke darstellen, da in ihr »ingenium« durch »Geist« wie-
dergegeben ist (96, 144).
Das Buch gliedert sich in zwei Teile: im ersten (13-126) wird der
Kontext geschildert, in dem Fichtes Ausbildung in Schulpforta stattgefun-
den hat; im zweiten (127-366) sind all diejenigen Materialien gesammelt,
die für den in Frage stehenden Zeitraum von Bedeutung sind: Fichtes
Brief an den Vater (1775), die Zuschrift Fichtes und anderer Kommilito-
nen an den Rektor von Schulpforta (1780), die sogenannte Valedictionsre-
de (1780), J. A. Ernestis Begleitbrief zum Entwurf der neuen Schulord-
nung (1766), die von Ernesti verfasste Erneuerte Schulordnung für die
Fürsten- und Landschulen (1773) und einige Briefe F. A. Weißhuhns über
Schulpforta (1. Aufl. 1786, 2. Aufl. 1789). Alle Texte des zweiten Teils
wurden von Bacin mit einem umfassenden und präzisen Fußnotenapparat
versehen.
Wie man dieser Liste entnehmen kann, haben wir es mit einer
homogenen Sammlung von Schriften zu tun, unter denen die Erneuerte
Schulordnung sowie Weißhuhns Briefe hervorragen. Beide Texte werfen
nämlich ein deutliches Licht auf das alltägliche Leben von Schulpforta
und geben uns zahlreiche Informationen darüber, was Fichte sicherlich ge-
lesen hat. Was man so erfährt, ist zweifelsohne von großem Interesse für
die Fichte-Forschung, die sich damit bisher praktisch nicht, oder wenn
überhaupt2, dann nur en passant befaßt hat.
Der Verfasser zeigt überzeugend das in den erwähnten Texten
enthaltene hermeneutische Potential und regt auch zu möglichen, für die

2 R. Preul, Reflexion und Gefühl. Die Theologie Fichtes in seiner vorkantischen


Zeit, Berlin 1969; M. Kessler, Kritik aller Offenbarung. Untersuchungen zu einem Forschungs-
programm Johann Gottlieb Fichtes und zur Entstehung und Wirkung seines »Versuchs« von
1792, Mainz 1986; A. G. Wildfeuer, Praktische Vernunft und System. Entwicklungsgeschichtli-
che Untersuchungen zur ursprünglichen Kant-Rezeption Johann Gottlieb Fichtes, Stuttgart-Bad
Cannstatt 1999; A. J. La Vopa, Fichte. The Self and the Calling of Philosophy, 1762-1799, Cam-
bridge 2001

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186 Rezensionen

Rekonstruktion der ganzen philosophischen Reflexion Fichtes bedeuten-


den Schlußfolgerungen an. Hier ein paar Beispiele. Ernestis Schulordnung
bestätigte damals ganz klar die schon konsolidierte Vorrangstellung des
Lateins gegenüber dem Altgriechischen: Dies könne als Grund für die Di-
stanz angeführt werden, die Fichte von Autoren wie Hölderlin, Hegel oder
Schelling trennt, die zum alten Griechenland eine besondere Affinität füh-
len (45). Aufgrund der Briefe Weißhuhns wisse man außerdem, dass eini-
ge jüngere Lehrer Lessings Laokoon in ihren Lektionen über antike Dich-
ter benutzten (88).
Ein Kapitel für sich stellt Fichtes philosophische Lektüre in
Schulpforta dar. Damit wird zunächst die These Max Wundts widerlegt,
der zufolge der Crusius-Schüler Christian Friedrich Pezold den jungen
Fichte zum ersten Mal in philosophische Auseinandersetzungen eingeführt
hätte. Für Bacin sind hingegen Ernestis lnitia doctrinae solidioris (1736)
das Buch, »mit dem die philosophische Bildung Fichtes begann« (53).
Langfristige Auswirkungen dieser Lektüre Fichtes sieht der Verfasser für
die historische Interpretation einiger Thesen, die sich in späteren Werken
unseres Philosophen finden. Die in Fichtes Vorlesungen über Logik und
Metaphysik von 1797 angeführte Unterscheidung zwischen natürlicher
und künstlicher Logik (GA IV, 1, 190-191) weise z. B. ganz klar auf die
gleichnamige Gegenüberstellung hin, die nicht bei Platner vorkomme (wie
man erwarten könnte, da diesen Vorlesungen seine Philosophischen Apho-
rismen zugrunde liegen), sondern eben bei Ernesti (58). Auch Ernestis sich
auf die rhetorische Tradition gründender Begriff von Dialektik, dem zu-
folge letztere keine Logik der wahrscheinlichen Erkenntnis, sondern die
Wissenschaft vom eingehenden Verständnis des Wahren und des Falschen
sowie deren subtile Erklärung darstellt, scheine ein Pendant zu finden in
Fichtes Benutzung dieses Begriffs, der gemäß die Dialektik »die Wissen-
schaft der formalen logischen Funktion, – auch als Kunst mit derselben
umzugehen« (Logik Erlangen, GA II, 9, 80) ist. Ein ähnlicher Versuch,
mehr oder minder direkte begriffliche Beziehungen zwischen Fichtes Tex-
ten und zeitgenössischen, in Schulpforta benutzten Lehrmitteln hervorzu-
heben, bezieht sich auf Christian Fürchtegott Gellert und dessen Morali-
sche Vorlesungen (1770). Die damals sehr bekannte Gegenüberstellung
von Kopf und Herz finde einen Präzedenzfall in Gellerts Buch (66). Ba-
cins Vorschlag ist auch deswegen interessant, weil nach ihm Gellert als
mögliches fehlendes Bindeglied zwischen der klassischen Schulphiloso-
phie und deren Rezeption durch Fichte betrachtet werden könnte: In den
Moralischen Vorlesungen wird nämlich auf die ethischen Abhandlungen

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Rezensionen 187

eines Baumgarten oder eines Crusius hingewiesen, es ist auch von der Be-
stimmung des Menschen Johann Joachim Spaldings die Rede, die sich be-
kannterweise mit einem Thema befaßt, das auch in einer gleichlautenden
Schrift Fichtes behandelt werden wird. Gellerts Vorlesungen, so Bacin,
»berühren viele zentrale Themen und Begriffe der zeitgenössischen phi-
losophischen Kultur [ ...] wie die der Bestimmung des Menschen oder des
Gewissenstriebs, die dann später in Fichtes Reflexion weiterentwickelt
werden« (67).
Die Kontinuität zwischen unserem Philosophen und einigen Auto-
ren der Schulphilosophie wird von Bacin auch in einer zweiten Hinsicht
gezeigt. Man könne nämlich nicht bloß feststellen, dass Fichtes erste Lek-
türe in Schulpforta ein direktes Echo in den späteren Texten findet, son-
dern dass auch Stellen seiner frühen Schriften, die unter deutlichem Ein-
fluß von bekannten Autoren stehen, ihr Gegenstück in den späteren Jahren
erhalten. Dies ist z. B. der Fall der klassischen Theorie der Künste, der zu-
folge das docere, movere et delectare Objekt des Redners ist – eine Lehre,
die von Quintilian über Ernesti und Gottsched bis zur Oratio valedictoria
Fichtes gelangt und die auch später in Schriften wie der Practischen Phi-
losophie und den Vorlesungen Über Geist und Buchstabe in seiner Philo-
sophie nachweisbar ist (142-143).
Max Wundts These, das Verfahren der Wissenschaftslehre sei
»als eine Fortsetzung und Weiterführung der von Fichtes Vorgängern [un-
ter anderem von Christian Wolff] in der Philosophie angebahnten Metho-
de« zu begreifen2, stützt sich nur auf eine mehr oder minder annehmbare
Ähnlichkeit im theoretischen Prozedere (in unserem Fall mathematischer
Art). Bacins Buch hingegen begnügt sich damit, die theoretisch weniger
weit gehende, aber dafür historisch beweisbare Tatsache festzuhalten, daß
der junge Fichte sich mit Wolffs Lehrmittel für Mathematik [sc. mit den
Auszügen aus den Anfangs-Gründen aller Mathematischen Wissenscha-
ften] befassen mußte (48-49).
Das aus dieser Untersuchung resultierende Bild von Fichte kann
auch deswegen als innovativ für die Forschung bewertet werden, weil es
Aspekte in sich enthält, die bisher zu wenig beleuchtet wurden. Viele da-
von tragen dazu bei, die Ausbildung in Schulpforta, allgemeiner: einen
großen Teil der spekulativen Reflexion des Philosophen von Rammenau
als in der damaligen Schulphilosophie verankert zu betrachten. Genauer,
sie erweckt den Eindruck, sehr stark unter dem Einfluß der sogenannten

2 M. Wundt, Fichte-Forschungen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 (Nachdruck der


Ausgabe Stuttgart 1929), S. 285.

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188 Rezensionen

Popularphilosophie zu stehen. Aus diesem Grund scheinen alle Thesen,


die Fichtes gesamtes philosophisches Unternehmen nur oder vorwiegend
unter dem Zeichen des Transzendentalismus interpretieren, historisch und
deswegen auch historiographisch bedenklich. Die durch die Lektüre Kants
motivierte »kopernikanische Wende« fügt sich im Gegenteil in eine theo-
retische Ausbildung ein, die ganz deutlich aufklärerisch ist. Das schon er-
wähnte, so weit wie möglich zu widerlegende Bild des großen Autodidak-
ten wird auch durch solche hermeneutischen Unaufmerksamkeiten ge-
nährt.

Faustino Fabbianelli (Cagliari)

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Tagungsbericht

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Tagungsbericht

»Fichte in Rammenau – 1. Fichte-Tag: Die Wissenschaftslehre


1805«, 19. - 21. Mai 2005

Vom 19. bis 21. Mai 2005 fand im Barockschloß zu Rammenau eine Ta-
gung der Internationalen J. G. Fichte-Gesellschaft und des Istituto Italiano
per gli Studi Filosofici (Neapel) anläßlich des Geburtstages von Johann
Gottlieb Fichte zur Wissenschaftslehre 1805 statt. Am Abend des 19. be-
gann die feierliche Eröffnung im Spiegelsaal mit Klavier und Querflöte.
Nach Grußworten der Leiterin des Schlosses, Frau Roswitha Förster, und
der Bürgermeisterin, Frau Hiltrud Snelinski, eröffnete Prof. Dr. J. Stol-
zenberg die Tagung. Prof. Dr. K. Hammacher hielt einen öffentlichen
Abendvortrag über Die großen Themen in Fichtes Leben und ging dabei
unter anderem auf Fichtes Auffassung von Gott, Glauben und Freiheit ein.
Am Freitagmorgen eröffnete Prof. Dr. Günter Zöller die Reihe der
Hauptvorträge, an die sich jeweils Korreferate anschlossen. Er sprach über
»Einsicht im Glauben« Der dunkle Grund des Wissens in der Wissen-
schaftslehre 1805. Dabei stellte er ausgehend von Aufzeichnungen Fichtes
im Umfeld der WL 05 die Bedeutung des Glaubens für eine mögliche
Vollendung der Wissenschaftslehre heraus. Das Methodenkonzept der
Selbsttranszendenz des Wissens, die im Glauben erreicht wird, stand dabei
im Mittelpunkt. Im anschließenden Korreferat ging Patrick Grüneberg auf
das Ich als den Repräsentanten des Absoluten ein. Als ein Hauptpunkt der

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192 Tagungsbericht

Diskussion wurden anschließend durch Ch. Asmuth zwei Begriffe des Als
hinsichtlich des Differenzmoments der Existenz und des Identitätsmo-
ments im Ich (oder Wir) der WL herausgestellt.
Christoph Binkelmann, M.A., widmete sich der Selbstbezüglich-
keit des Wissens. Unter dem Titel »Die absolute Relation ist das Licht«
Der Relationsbegriff in Fichtes Erlanger Wissenschaftslehre legte er die
Einheit von Identität und Duplizität beziehungsweise die Wechselbestim-
mung von Intelligenz und Intuition im zentralen Begriff des Als dar. In
ihrem Korreferat vertiefte Dr. Katja Crone die begriffliche Gegensatzrela-
tion im Sinne eines Inferentialismus. In der Diskussion wurde durch A.
Bertinetto auf den Unterschied von Logik und Philosophie eingegangen.
H. Traub fragte nach dem Zusammenhang einer formallogischen und ei-
ner transzendental-pragmatischen Urteilstheorie. Weiterhin ging G. Zöller
auf die Strukturunterschiede herkömmlicher Urteile und solcher über das
Absolute ein.
Im dritten Hauptvortrag entwickelte Dr. Hartmut Traub Fichtes
Begriff der Aufklärung in der WL 1805. Ausgehend von Fichtes ambiva-
lentem Verhältnis zum Zeitalter der Aufklärung arbeitete er einen trans-
zendentalen Gebrauch des Begriffes der Aufklärung heraus, der in einer
Darstellung Fichtes als Aufklärer der Aufklärung mündete, indem Fichte
das »Licht« der Aufklärung selbst transzendental reflektiert. Rocco Por-
cheddu zeichnete in seinem Korreferat die Entwicklung von Fichtes These
der absoluten Relationalität als Lösung des Grundwiderspruches der WL
05 nach. Die anschließende Frage von Ch. Asmuth nach einer etwaigen
therapeutischen Funktion der WL wurde in bezug auf die Anweisung zum
seligen Leben bejaht, bezüglich späterer Wissenschaftslehren aber ver-
neint. G. Zöller vermißte in Traubs Interpretation den Zusammenhang von
intellektuell-kognitiver Erhellung und praktischer Vollendung in Fichtes
Aufklärungsbegriff und stellte Fichte als Kulturphilosophen heraus.
Die Reihenfolge umkehrend bereitete Kai Gregor, M.A., mit sei-
nem Korreferat zu einigen materialen Aspekten der Sittenlehre von 1812
den Hauptvortrag von Federico Ferraguto, M.A., vor, wobei das Werden
des Faktums des sittlichen Bewußtseins (das Soll) bei Gregor zentrale Be-
deutung erlangte. Unter dem Titel Die metakritische Funktion der Ist/Soll-
Spaltung in der Wissenschaftslehre von 1805 behandelt Ferraguto das Pro-
blem der Einleitung in die Wissenschaftslehre als den roten Faden von
Fichtes Denken. Die Diskussion eröffnete A. Bertinetto bezüglich der Be-
ziehung von Kritik und Philosophie mit der Frage, ob die Metakritik an
Fichte herangetragen oder immanent sei.

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Tagungsbericht 193

Am Nachmittag sprach zunächst Dr. Gaetano Rametta über Den


Begriff der ›Repräsentation‹ in der WL 1805. Sein Vortrag setzte sich das
Verstehen des Ich als das unmittelbare repraesentans beziehungsweise die
Repräsentation Gottes zum Ziel. Die Diskussion der zentralen Begriffe der
Existenz, des Lichts, des Hiatus und der Repräsentation führte zum Ergeb-
nis der Sich-Projektion Gottes: Im Repräsentanten kommt das unsichtbare
Leben zur Sichtbarkeit, deren einzig mögliche Form die Lichtform ist. Dr.
Ulrich Schlösser zeichnet in seinem Korreferat die wesentlichen Schritte
der Argumentation der durch Rametta behandelten 8.-12. Stunde nach. Ch.
Asmuth wies auf eine Kantische Lesart Fichtes im Sinne einer Zwei-Quel-
len-Theorie hin, die zu Schlössers Problemstellungen führe. Die Rechtfer-
tigung der Problemlage sei Schlösser zufolge auf metaphysische Vorent-
scheidungen (wie zum Beispiel das Sein als Singulum zu veranschlagen)
zurückzuführen, die von Ch. Asmuth eher als Einstieg in die WL 05 ge-
sehen wurden.
Unter dem Titel Fichtes Theorem der Nicht-Folge: Der Anfang
transzendentaler Freiheit thematisierte PD Dr. Christoph Asmuth drei
Thesen bezüglich der Nicht-Folge, die sich als der Kernbegriff der Re-
konstruktion von Fichtes Begriff der Freiheit in der WL 05 darstellt. Er-
stens behandelt das Theorem der Nicht-Folge einen transzendentalen Frei-
heitsbegriff. Zweitens werden vier Formen der Nicht-Folge unterschieden:
Äußere Nicht-Folge, immanente Nicht-Folge, unmittelbare Folge als
Nicht-Folge und indirekte Folge als positive Selbstvernichtung. Drittens
wird in der Nicht-Folge eine Anknüpfung an das Theorem der Wechselbe-
stimmung aus dem §3 der GWL gesehen. Dr. Alessandro Bertinetto ant-
wortet in seinem Korreferat aus dem Blickwinkel der Kategoriendeduktion
und verband die vier explizierten Formen der Nicht-Folge mit den einzel-
nen Gruppen der Kategorien. H. Traub problematisierte anschließend die
Übertragbarkeit des §3 der GWL auf die Nicht-Folge der WL 05, da es in
ersterer Schrift zu einer Aufhebung des Nicht-Ich und in letzterer zu einer
Aufhebung des Ich komme. Ch. Asmuth zufolge gilt es dabei die Perspek-
tive hinsichtlich der Begründung der Realität der Außenwelt zu beachten.
Prof. Dr. Helmut Girndt beschloß den arbeitsreichen Freitag in
einem öffentlichen Abendvortrag zum Thema Das Ich im Licht der Wis-
senschaftslehre 1805. Ausgehend vom Problem des vernünftigen, rationa-
len Denkens entwickelte er in einem ersten Teil einen zentralen Gedan-
kengang Fichtes aus der WL 05. Dabei wendete er sich der Darstellung
der ichhaften Rückbezüglichkeit zu, wie sie letztlich in der Bestimmung
des Als als des inneren Beziehens zum Ausdruck kommt. Im zweiten Teil
würdigte er Fichtes Werk im allgemeinen. Während er dem distanzneh-

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194 Tagungsbericht

menden Denken eine Absage erteilte, erinnerte er an die zentrale Bedeu-


tung des eigenen Nachvollziehens des Fichteschen Denkens.
Zu einer gemeinsamen Textlektüre fanden sich die Teilnehmen-
den am Samstag ein. Aufgrund einer Absage von Prof. Dr. Jean-Chris-
tophe Goddard stellte Benedetta Bisol seinen Vortrag in den Grundzügen
vor und leitete zur Lektüre einiger relevanter Passagen über. Im Mittel-
punkt des Vortrages stand die Frage nach dem Selbstverstehen des Nichts.
Aus dem Text der WL 05 wurden daran anschließend die Passagen am
Ende der 10. Stunde (14r4-14v6) intensiv besprochen. Neben der Klärung
einiger Fragen zum Textverständnis drehte sich die Diskussion vornehm-
lich um die grundsätzliche Frage eines Überganges vom transzendentalen
zum empirischen Subjekt beziehungsweise um die Bedeutung der trans-
zendentalen Analysen und Deduktionen grundlegendster Strukturen des
Bewußtseins für mehr konkrete Felder wie die des Erkennens, des Han-
delns oder der Moral und Sittlichkeit.
Es ist geplant, die Vorträge und Korreferate in ausgearbeiteter
Form in einem Band der Fichte-Studien erscheinen zu lassen. Die Tagung
endete im gemeinsamen Einvernehmen darüber, sich in Rammenau zu
weiteren Fichte-Tagen zu versammeln. Schloß und Gemeinde Rammenau
erwiesen sich nicht zuletzt durch die überwältigende Gastfreundschaft als
überaus angenehmes Umfeld für die philosophische Arbeit. Für das kom-
mende Jahr ist eine Kooperation mit der Spinoza-Gesellschaft zum Thema
Spinoza – Fichte geplant.

Patrick Grüneberg (Berlin)

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