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Fichte-Studien
Band 26
im Auftrage der
Internationalen Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft
herausgegeben von
in Zusammenarbeit mit
ISBN-10: 90-420-2024-5
ISBN-13: 978-90-420-2024-5
ISSN: 0925-0166
The paper on which this book is printed meets the requirements of »ISO
9706:1994, Information and documentation – Paper for documents – Re-
quirements for permanence«.
©Editions Rodopi B.V., Amsterdam-New York, NY 2006
Printed in the Netherlands
Inhalt
Prolegomena
Matteo D’Alfonso (München): Seite 115,26-118,18
1. Vorlesung: Bestimmung der Aufgabe der Wissenschaftslehre
(111-115,25).................................................................................................. 65
2. Vorlesung: Skizze der Lösungen der Aufgabe der
Wissenschaftslehre (115,26-118,18) ............................................................. 68
Erster Teil
Sein, Leben oder absolutes Ich (118,19-129,3)
Christoph Asmuth (TU Berlin): Seite 118,19-129,3
3. – 7. Vorlesung: Sein, Leben oder absolutes Ich .................................................. 73
Zweiter Teil
Grundlage des theoretischen Wissens: Sehen als Er-
scheinung des Lebens (129,5-164,3)
Helmut Girndt (Univ Duisburg): Seite 129,5-145,30
8. Vorlesung: Sehen als Äußerungsform des Lebens (129,5-133,9) ................. 79
9. Vorlesung: Das Schema des Schemas (133,10-137,20) ................................ 82
10./11. Vorlesung: Das Verhältnis von Sehen und Leben (138-145,30) .................. 85
Hans Georg von Manz (Bayer. Akademie der Wissenschaften): Seite 152-156,22
14. Vorlesung: Anschauen und Denken und die Fünffachheit als
grundlegende Struktur des Wissens (152-155).............................................. 97
15. Vorlesung: Die synthetische Einheit des Ich (155-156,22) ........................... 99
Dritter Teil
Grundlage der Wissenschaft des Praktischen: Der Trieb
als infinites Streben (165-202,21)
Hitoshi Minobe: (Fortsetzung)
19. Vorlesung: Der Trieb (165-168,4) .............................................................. 113
20. Vorlesung: Der ontologische Status des Triebes (169-170,29).................... 115
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Inhalt
Rezensionen
Ulrich Schlösser: Das Erfassen des Einleuchtens. Fichtes Wissenschaftslehre von 1804
als Kritik an der Annahme entzogener Voraussetzungen unseres Wissens und als Phi-
losophie des Gewißseins. Philo: Berlin 2001. 186 S.
– Von Christoph Binkelmann (Heidelberg) ............................................................. 147
Petra Lohmann: Der Begriff des Gefühls in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes
(Fichte-Studien-Supplementa Bd. 18). Rodopi: Amsterdam 2004. 212 S.
– Von Benedetta Bisol (München) .......................................................................... 152
Rainer Adolphi / Jörg Jantzen (Hrsg.): Das antike Denken in der Philosophie Schel-
lings (»Schellingiana« Bd. 11). frommann-holzboog: Stuttgart-Bad Cannstatt 2004.
XXIII, 710 S.
– Von Robert Marszałek (Warschau) ...................................................................... 165
Simone Furlani: L´ultimo Fichte. Il sistema della Dottrina della scienza negli anni
1810-1814 (Der letzte Fichte. Das System der Wissenschaftslehre in den Jahren 1810-
1814). Guerini e Associati: Milano 2004. 280 S.
– Von Alessandro Bertinetto (Udine) ...................................................................... 172
Andrés Quero-Sánchez: Sein als Freiheit. Die idealistische Metaphysik Meister Eck-
harts und Johann Gottlieb Fichtes. (Symposion; 121). Karl Alber: Freiburg / München
2004. 432 S.
– Von Christoph Asmuth (Berlin) ............................................................................ 178
Tagungsbericht
»Fichte in Rammenau – 1. Fichte-Tag: Die Wissenschaftslehre 1805«, 19. - 21. Mai
2005.
– Von Patrick Grüneberg (Berlin)........................................................................... 191
Vorwort des ersten Herausgebers
ist die Aufgabe, die sich die Herausgeber dieses Bandes der Fichte- Stu-
dien gestellt haben. Dabei ist sicher ungewöhnlich, daß an dem Entstehen
dieses Bandes nicht allein zwei Herausgeber mitgewirkt haben, sondern
gleich eine Gruppe von Philosophen, über die zu berichten dem zweiten
Herausgeber der Bandes, Herrn Jacinto Rivera de Rosales, vorbehalten ist.
In dem vorliegenden Band ging es den Autoren und Herausgebern
nicht um eine Inhaltsanalyse, nicht um den Aufweis philosophiehistori-
scher Bezüge innerhalb und außerhalb des Fichteschen Gesamtwerkes,
sondern um das bescheidene Ziel einer ersten Texterschließung. Wenn
sich ein solches Ziel auch nicht von einer Interpretation des Werkes tren-
nen läßt, so ging es doch in erster Linie um nicht mehr als um das schlich-
te Anliegen, vor jeder ggf. textkritischen Analyse und Stellungnahme zu-
nächst einmal einfach nur zu verstehen, worum es dem Autor Fichte in
diesem Werke zu tun war. Es handelt sich also um eine erste Grundlage
für eine ausstehende differenziertere Textinterpretation.
Das in Form einer handschriftlichen Niederschrift vorliegende
Skript der Königsberger Vorlesung war für den Autor selbst bestimmt und
als Textgrundlage seines mündlichen Vortrags niedergeschrieben worden.
Seinem Zweck entsprechend enthält es daher außer zeitbedingten Sprach-
wendungen, sprachlichen Eigentümlichkeiten Fichtes, ungewohnten Ab-
kürzungen und Orthographien und, außer situativ bestimmten, z.T. lang-
atmigen Abschweifungen, vor allem didaktisch bedingte, (wenn auch
manchmal für das Textverständnis sehr hilfreiche) Redundanzen. Diese
Umstände zusammengenommen erschweren das Textverständnis in nicht
unerheblichen Maße. Dazu kommt vor allem die fehlende Unterteilung des
Textes in Kapitel, Überschriften, Abschnitte und Unterabschnitte, und –
im ersten Teil des Scriptes – der Mangel sicherer Abgrenzung der Vorle-
sungsstunden voneinander. Wie bei allen nachgelassenen und nicht zur
Veröffentlichung bestimmten Texten Fichtes erwecken diese Umstände
den Eindruck einer nur schwer zu durchdringenden Textmasse.
2 Textgrundlage der Königsberger Wissenschaftslehre ist der Band II, 10 der kriti-
schen Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (GA II, 10), an ihm orien-
tieren sich die angegebenen Seitenzahlen.
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4 Vorwort
Helmut Girndt
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Vorwort des zweiten Herausgebers
Die Wissenschaftslehre von 1807 besteht aus einer Reihe von 28 Vorle-
sungen, die Fichte vom 5. Januar bis 20. oder 23. März 1807 in Königs-
berg gehalten hat. Er war aus Berlin vor der napoleonischen Armee und
»der Verworrenheit der Köpfe«1 entfliehend im November 1806 in der
preußischen Stadt angekommen und hatte am 19. Dezember die königliche
Erlaubnis erhalten, in der Albertina Universität als ordentlicher Professor
zu lehren2. Die Ankündigung seiner Vorlesungen zog zunächst zahlreiche
Studenten, Gelehrte und Interessenten an, die etwas von dem berühmten
Philosophen hören wollten. Aber sei es, weil er ein für Königsberger Ver-
hältnisse ungewöhnliches Honorar verlangte, oder weil er schon in der er-
sten Stunde seine eigene Philosophie höher als die des in Königsberg all-
seits bekannten und beliebten Immanuel Kant pries, oder aber auch bloβ
wegen der schweren Verständlichkeit seines Vortrags, Fichtes Vorlesung
der Wissenschaftslehre endete mit nur ein paar Studenten3. Deswegen las
Fichte im Sommersemester nicht mehr4 und verließ Königsberg im Juni,
weil sich die Franzosen zu dieser Zeit auch Königsberg näherten. Wäh-
rend er noch im Dezember 1806 seine Frau gebeten hatte, mit dem Sohn
nach Königsberg zu kommen (GA III, 6, 19, 21-22, 49), schrieb er ihr am
20. Februar 1807: »Komme ja nicht hierher, sondern bleibe, wo Du bist;
denn es misfällt mir hier, aus triftigen Gründen, gar sehr; und ich werde
[…] in die alte Lage zurückzukehren suchen, und so zu Euch kommen«5,
denn »für meine Philosophie ist man an den Küsten der Ostsee nicht reif«
(GA III, 6, 96).
Die WL07 nimmt einen besonderen Platz in der sogenannten Ber-
liner Zeit Fichtes ein. Hinter ihr liegen sechs Erarbeitungen der WL von
1801 bis 1805, deren Ergebnisse in die Anweisung zum seligen Leben
mündeten (Ende April 1806 als Buch erschienen) und durch die Fichte sei-
ner neuen Formulierung der WL mächtig und bewuβt geworden war. Ihr
werden die berühmten Reden an die deutsche Nation (ab 13. Dezember
1807) und die fünf letzten Fassungen der WL von 1810 bis 1814 folgen.
Die WL07 bildet sozusagen einen Wendepunkt zwischen diesen zwei
Schaffensperioden der Berliner Zeit. In der WL von 1807, nicht anders als
in den letzten Fassungen der WL, wird der methodische Aufstieg zum Ab-
soluten schon kaum mehr behandelt, und Fichte widmet seine Mühe
hauptsächlich der so genanten »Phänomenologie« oder »Erscheinungsleh-
re«, da es ihm klar geworden war: »Gott ist, absolutes Postulat an Sie [die
Zuhörer]: von welchem einen Beweis zu fordern der absolute Widerspruch
ist« (GA II, 10, 175).
Das Charakterische der WL07 ist ein in der neunzehnten Vorlesung ein-
geführter »Trieb in Gott« als Erklärungsgrund des Wesens und der Exi-
stenz des Wissens (oder Sehens) als einer Lebensform außer Gott. »Set-
zen Sie, [fordert er seine Zuhörer auf], es sey in diesem in sich selber le-
benden Gotte ein Trieb, sich auβer sich selbst darzustellen, wie er ist in
ihm selber; gleichsam, sich auβer der Einheit seines Seyns zu wieder-
holen«! (GA II, 10, 166) Der Trieb, der in Jena das Wesen des endlichen
Ich ausmachte, wird jetzt ins absolute Sein selbst eingefügt, ein Trieb im
Absoluten, der in der WL04-II nur vorbeigehend erwähnt wurde (GA II, 8,
388). Die Liebe Gottes, die in der Anweisung zum seligen Leben Gottes zu
einem zentralen religiösen Thema im Denken Fichtes geworden war, wird
hier, in der WL07, auf metaphysischer Ebene begründet und gezeigt, wie
»jener göttliche Trieb Liebe wird« (GA II, 10, 167).
5 GA III, 6, 50. »Königsberg ist nicht mein Platz« (Brief an K.S.F. von Stein vom
18. April 1807, GA III, 6, 77).
Vorwort 9
Nach den vorliegenden Publikationen zu schließen, war und ist die WL07
von den meisten Fichte Forschern bis heute kaum behandelt worden.
Weitgehende Unkenntnis trifft auch mehr oder weniger alle der durch die
kritische Gesamtausgabe seiner Werke erst in den letzten Jahren bekannt
gewordenen Kollegnachschriften Fichtes. Um der verspäteten philosophi-
schen Auseinandersetzung mit seinem nunmehr zugänglichen Spätwerk
angemessenen Aufschwung zu verleihen, haben sich auf Initiative von
Prof. Girndt eine Reihe jüngerer Philosophen im Jahre 2001 im Inter-Uni-
versity Center of Dubrovnik getroffen, um sich eine Woche lang, von 16.
bis 21 April 2001, intensiv mit der Wissenschaftslehre Fichtes auseinan-
derzusetzen. Insgesamt waren es 15 Professoren, Doktoren, Magister und
Studenten aus sechs Ländern: Deutschland, Kroatien, Italien, Polen, Japan
und Spanien, die an dem internationalen Seminar teilnahmen. Sie übernah-
men es, den philosophischen Gehalt der Vorlesungen Fichtes, Seite für
Seite, gedanklich zu entschlüsseln und in den Arbeitssitzungen ihre Bei-
träge zur Interpretation des Werkes vorzutragen und zur Diskussion zu
stellen.
Der besondere Dank beider Herausgeber und aller Teilnehmer gilt unse-
rem Freund und Kollegen Damir Barbarić, Professor an der Universität
Zagreb, der der inzwischen etablierten Studiengruppe Transzendentalphi-
losophie am Inter University Center aufgrund seiner Einladung und Für-
sprache zum Leben verhalf!
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Helmut Girndt
Die Königsberger WL von 1807 läßt sich, abgesehen von ihren Prolegomena, in drei
Hauptteile gliedern.
In den Prolegomena (111-118,8) entwickelt Fichte die Voraussetzungen zum
Verständnis seiner Lehre, ihren Begriff, ihren Gegenstand und ihre Methode, die Be-
stimmung der Aufgabe der Wissenschaftslehre und eine Skizze ihrer Ergebnisse.
Der erste Teil entwickelt die unbedingte Voraussetzung allen Wissens, die
Lehre vom absoluten Sein, Leben oder absoluten Ich (118,21-125,14).
Der zweite Teil entfaltet den theoretischen Aspekt des Wissens oder Sehens.
Unter der postulativen Anfangsvoraussetzung, das Leben sehe sich selbst, und mit dem
Konzept des Schemas sowie der Anwendung dieses Konzeptes auf sich selbst im
Schema des Schemas, gelangt Fichte zu dem Ergebnis, daß das Leben Prinzip des Se-
hens ist, es selbst als Prinzip des Sehens jedoch unsichtbar (129,5-164,3).
Thema des dritten Teils ist der praktische Aspekt des Wissens. Sein Ergebnis
besteht darin, daß im Absoluten ein Trieb angenommen werden muß, sich zu äußern.
Die Äußerung besteht in einem nie endenden praktischen Streben. Utopisches Ziel die-
ses Streben ist, die Kluft zwischen absolutem Sein, Leben oder absolutem Ich und der
Erscheinung zu überwinden (165-202,21).
In Anspielung auf Fichtes Veröffentlichungen des Jahres 1794 lassen sich
die Hauptteile der WL 1807 unter folgenden Titeln fassen:
12 Helmut Girndt
Prolegomena
Über den Begriff der Wissenschaftslehre
(111-118,18)
1. Vorlesung
Bestimmung der Aufgabe der Wissenschaftslehre
(111-115,25)
Nach einer Auseinandersetzung mit dem System Spinozas wird zum Schluß
das objektive und das subjektive Selbstverständnis der Wissenschaftslehre charakteri-
siert. Objektiv erstellt sie die Bedingungen der Möglichkeit des Wissens; subjektiv
geht es darum, im Sinne einer Weisheitslehre wahres Wissen in sich selbst hervorzu-
bringen.
2. Vorlesung
Skizze der Lösungen der Aufgabe der Wissenschaftslehre
(115,25-118,18)
Nach Darlegung der Aufgabe der Wissenschaftslehre folgen die Stationen ihrer Lö-
sung unter neun Punkten zusammengefaßt.1
Die fundamentale Schwierigkeit bei der Lösung der Aufgabe der Wissen-
schaftslehre besteht darin, die Einheit zu denken, von der sie auszugehen hat.
Geht man vom Ich als dem Einen aus, so müßte diese Voraussetzung so be-
schränkt werden, daß es nicht als Ich in der Disjunktion das Eine ist, sondern jenseits
der Disjunktion als Ich an sich (= X). Die immanente Zweiheit in der Einheit des Ich,
(d. h. die Ichheit) muß also überstiegen werden, in ihr liegt der eigentliche Grund des
Mißverständnisses der WL.
Bei diesem X kann es sich nur um das lebendige Leben als Leben in sich
selber, d. h. um einen Nichtbegriff handeln, denn das eine Sein läßt sich nur leben und
erleben. Damit haben wir die reine Wahrheit gefunden, den Urquell alles anderen,
(jetzt allerdings noch nicht im Zusammenhang philosophischer Erkenntnis: als Ur-
quell).
Nun entsteht die Frage: woher die Disjunktion? – Zunächst die Disjunktion in mir:
Ich an sich, das noch nicht Ich ist, und Ich als Ich? –
Setze, das Leben sehe sich selbst, so ist klar, daß, da es außer dem Leben
nichts gibt, das Sehen selber das Leben sei. Das Leben in seiner einfachen reinen Ein-
fachheit ohne irgendeinen Zwiespalt ist sehendes Leben, lebendiges Sehen, Leben im
Licht und Licht im Leben, absolute Durchdringung und Aufgehen beider in einander.
In einer solchen Durchdringung sieht sich das Leben allerdings nicht. Im
Hinblick auf die Forderung der Wissenschaftslehre nach Erkenntnis, d.h. Sichtbarma-
chung des Lebens müßte die Durchdringung von Leben und Sehen selbst sichtbar wer-
den. Am Anfang der Wissenschaftslehre steht also die hypothetische Setzung einer
Sonderung, und zwar in Form eines Postulats: »Setze das Leben sehe sich selbst!«
In diesem Sichtbarmachen des Sehens liegen alle Gesetze des Bewußtseins
und seiner Schöpfungen, die zu entwickeln Gegenstand der Wissenschaftslehre ist.
Alles wirkliche Sehen projiziert, schaut hin. Es sieht sich als Sehen, heißt
wieterhin: es schaut sich an als absolut hinsehend ein Objekt, ein Sein. Aus dem Sicht-
barmachen des Sehens läßt sich auch die Polarität von Ich und (ihm gegenüberstehen-
1 »Unter dem bemerkenswerten Motto. Aus der Finsternis absoluten Seins (im
Spinozismus) zum Licht!«
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14 Helmut Girndt
den) Seins in ihrem Entstehen verstehen und erkennen, daß Sehen und Sein nur Er-
zeugnisse der Sichtbarkeit des Lebens sind, Bedingungen seiner Erscheinung.
Was ist es nun, das dieses Sichtbarmachen von Sehen und Sein wirklich
vollzieht? Dasjenige, in welchem Leben und Sehen noch völlig verschmolzen sind.
(Im Vorblick auf späteres deutet Fichte nur kurz an:) Indem sich nun dieses Einssein
als Sehen erblickt, verschwindet ihm im Sehen das Leben, und indem es dasselbe als
Leben erblickt die Klarheit und so weiter ins Unendliche fort. Und so wird es denn
durch den Wechsel mit sich selbst, indem es sich ewig fort sichtbar, d. i. zum Ich
macht, in die Unendlichkeit getrieben.
Und was ist dieses Ich, das noch nicht Ich ist, sondern es erst in seinem Si-
cherblicken wird? Ein ewiges sichtbar Machen des Urlebens, d. h. ein praktisches
Handeln, in welchem Gott erscheint. Und was ist die Welt? – Mittel der Sich-gestal-
tung dieses Handelns, so wie das reine Ich Mittel der Sichtbarkeit.
Fichte schließt also mit der Aufforderung, die Wahrheit des hier Vorgetrage-
nen in sich selbst, im eigenen individuellen Leben, zu entdecken und wiederzufinden.
Erster Teil.
Absolutes Sein, Leben oder absolutes Ich
(118,19-129,5)
Das Sein als Absolutes zu setzen ist der Grundirrtum der Philosophie. Das Absolute ist
Leben. Diese Bestimmung wiederum ruft das Mißverständnis hervor, den Begriff des
Lebens, nicht das Leben selbst als absolut zu verstehen. Würde jemand fragen: »Le-
ben, was ist das?«, so wäre er noch zu keinem lebendigen Denken gekommen. Denn
das Leben ist kein Etwas, das durch einen Beisatz bestimmt werden könnte. Denken
läßt sich das Leben höchstens als nicht denkbar und als im Denken verschwindend,
was jedoch ebenfalls eine Bestimmung des Lebens durch das Denken ist.
Leben ist im Sinne eines verbum activum zu verstehen, als vivere, esse und
essentia. Das Leben ist, es west, aktiv und virtualiter, und das ist, das verbal verstan-
dene »sein«, ist eben das Leben. Man kann deshalb das Leben nur leben, nicht denken,
es muß dynamisch und aktiv vollzogen werden. Als vom Denken Gedachtes wird es
zu etwas Totem. Der Tod des Lebens durch den Begriff ist dabei kein symmetrisches
Pendant zum Leben, sondern dessen Privation.
Das Absolute der WL ist auch keine Person (Gottes), sondern es ist infinitiv.
In diesem infinitiven Sinne ist es Ich, d.h. unendliches absolutes Ich. Nicht das »Ich
als Ich«. Denn das »Als« charakterisiert das Ich als Ichheit und bleibt formal wie der
Begriff gegenüber der Anschauung. Das, was das »Ich als Ich« in seiner Wurzel ist,
Zusammenfassung des Gedankengangs 15
sein Träger, ist absolutes Ich – ohne »Als«. Zu diesem »als-losen« Ich soll das »Ich als
Ich« erst werden und damit werden, was es ursprünglich ist.2 –
Um diesen Zusammenhang zu verstehen, ist es wichtig, die dogmatischen
Tendenzen der Sprache zu unterlaufen, sie durch überraschende und aufregende Bilder
zu beleben und die Einbildungskraft mit ihrer schöpferischen Potenz ins Spiel zu brin-
gen. Denn Philosophie ist keine auf formales Denken beschränkte Logik, vielmehr le-
bendiges, schöpferisches, lebenserzeugendes Denken.
Jedem dogmatischen Ansatz entgegen ist das Wissen der Wissenschaftslehre
Denken der Einheit in und aus lebendiger Einheit, und die Einsicht in diese Einheit
muß, da sie nicht begrifflich vermittelbar ist, einbrechen wie ein Blitz.
Aus diesem Verständnis des Absoluten als Leben folgt eine Kritik an drei
Richtungen der Philosophie:
1. dem dogmatischen Dualismus von Denken und Sein als irreduziblen Ge-
gebenheiten, dem Empirismus, der das Wissen als Nachbildung einer für sich be-
stehenden Außenwelt versteht
2. dem Spinozismus, der zwar absolute Einheit denkt, jedoch als objekti-
vierte Substanz.
3. der Philosophie Schellings, die außer Spinozas Substanz noch eine reale
für sich bestehende Emanation aus ihr annimmt und sie als reales Losreißen vom Ab-
soluten versteht, wodurch Gott in das von ihm Hervorgebrachte übergeht und sich als
Absolutes verliert.
Dagegen setzt die Wissenschaftslehre auf die immanente Bestimmung eines
absolut bleibenden Absoluten. Und dieses Absolute kann nur als Leben jene Einheit
sein, aus dem die Formen abgeleitet werden, die als transzendentale Bestimmungen
der phänomenalen Wirklichkeit zugrunde liegen. Die Wissenschaftslehre deckt dem-
entsprechend durch bewußtseinsimmanente Ableitung das Leben in seiner Prinzipien-
funktion auf bis hin zu dessen kontingenten Erscheinungen. Die materielle Welt, das
Sein (im Sinne von Seiendem) wird nachrangiges Produkt des Lebens.
Was das Leben außerhalb der Bestimmungen des Sich-sehens ist, d.h. außer-
halb des Wissens, läßt sich nicht beantworten, denn jede Antwort fällt in das Wissen,
das stets das logisch Erste ist. Wissen und Leben schließen einander ein. Die metaphy-
sische Position Schellings, nach der das Bewußtsein aus dem absoluten »hervorquillt«,
wird damit zurückgewiesen. Die transzendentalphilosophische Begründung des Be-
wußtseins durch das Absolute findet im und für das Wissen statt.
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16 Helmut Girndt
Zweiter Teil
Grundlage des theoretischen Wissens:
Sehen und sich Sehen als Erscheinung des Lebens
(129,5-164,3)
8. Vorlesung
Das Sehen als Äußerungsform des Lebens.
(129,5-133,9)
Im Folgenden wird entwickelt, daß Wissen als Vollzug des Sehens nicht unmittelbares
Leben ist, sondern nur ein Schema des Lebens. Und daß es sich so verhält, wird erst in
einem Begreifen des Schemas als Schema gegenüber dem Leben als Leben bewußt.
Im Absoluten fallen Leben, Anschauen und Sich-anschauen in eins. Auf die-
se Weise wird das Leben allerdings nicht angeschaut.
Die Wissenschaftslehre geht nun von dem alles weitere begründenden Postulat aus,
das Leben solle sich anschauen als Leben. Und dieses reflektorische »Als« spielt im
Folgenden die entscheidende Rolle.
1. Was heißt: Sich anschauen? – Das Sehen soll etwas projizieren. Was soll
es projizieren? Eine Identität des Sehenden und Gesehenen und diese Identität sei das
[in der Erscheinung eingetretene, d.h.] wirklich gewordene Leben (C). Dabei handelt
es sich um ein Sehen überhaupt, d.h. ein unbestimmtes Sehen – das als solches noch
nicht erkannt und begriffen ist. Zu unterscheiden ist: 1. die Erzeugung des Sehen aus
und von sich 2. Das Erzeugte, das gesehene Leben im Bild oder Schema. Bei dem let-
zen könnten wir, wie Kant, stehen bleiben.
2. Blieben wir dabei stehen, würden wir das ursprüngliche Sehen, die An-
schauung, zum absolut Realen und Letztgrund des Schematismus machen. Aus ihm
könnten wir zwar nach Gesetzen des Sehens, d. i. des Schematisierens, die Welt des
Seins aufbauen. Das wäre aber nur eine vorläufige Ansicht der W.L.. Soll dagegen das
Leben sich als Leben sehen, so muß das Sehen aus sich ein zweites Schema gebären –
und zwar ein Schema von sich selbst, denn nur dann kann es sich verstehen als bloßes
Schema im Unterschied zur absoluten Realität.
3. Das Sehen als Äußerung des Lebens ist nicht absolute Realität, sondern
nur etwas Mögliches, ein absolutes Vermögen, ein Schema aus sich zu erzeugen. Mit
diesem Bezug wird über das Wirkliche zum Möglichen hinausgegangen. Es existiert
also ein (Seh)Vermögen (= B) (aktualisiert durch X), und wenn dieses Vermögen
(durch X) aktualisiert wird, entsteht ein Sehen (C) und aus diesem ein Schema (D).
Daraus ergibt sich, das Sehen ist »nicht Accidenz u. Produkt des Ich, sondern das Ich
Produkt des Sehens« (130,10-12).
4. – Was macht es nun, daß durch den Vollzug des Vermögens (B) ein wirk-
liches Sehen (C) entsteht? – Der Grund für den Vollzug des Vermögens, (als das Ver-
wirklichen eines Möglichen), müßte im Leben liegen als der absoluten Realität. Und
das Vermögen B würde, wenn es vollzogen wird, zu einem wirklich gewordenen Le-
Zusammenfassung des Gedankengangs 17
ben (C) (im Unterschied zum absoluten realen Leben = A). Was also ist »wirklich«? –
Eine gewisse Beschränkung und insofern ein Anhalten und Erlöschen des Lebens (A).
Eine solche Beschränktheit oder Bestimmtheit liegt schon im Vermögen (B) des Se-
hens (und nicht erst in dessen Aktualisierung). Denn das Vermögen zu sehen ist eine
Form und als solche eine Beschränkung des Lebens. Das in diese Form eintretende
Leben ist deshalb ein »erloschenes« Leben.
Da das Vermögen des Sehens (B) nicht schon das Sehen selbst ist, das wirk-
liche Sehen vielmehr Vollziehung (C) dieses Vermögens, ergibt sich die Frage: Was ist
das Sehende? – Es ist A, das absolute Leben, in der Form B und als solches wirklich
lebend. Also: nicht das Leben ist wirklich geworden, (das Leben ist vielmehr absolute
Realität in sich), sondern es ist dasjenige, was im Sehen ist und wirkt.
Wenn wir nun unter anderem uns selbst sehen (D), so wissen wir, daß dieses
»Wir« Resultat des Sehens ist, und wenn wir uns sehen als das Sehende (= C), so wis-
sen wir, daß dies eine weitere Bestimmung des Schemas ist, also Schema des Schemas
(D). Nicht wir sehen uns, sondern das Leben in der Form seiner Äußerung (des Se-
hens) sieht sich hin als Ich und als ein sehendes Ich (D).
Resultat
B ist ein Vermögen, (die Möglichkeit eines Wirklichen). Das aber, was in unserem
wirklichen Wissen lebt, was demselben ungesehen und schlechterdings unsichtbar als
dessen Wurzel zu Grunde liegt, ist das Reale zu diesem Vermögen, das Leben. Dieses
soll durch jenes Schema ersichtlich gemacht werden. Was in der Form des Sehens tat-
sächlich wirkt und ist, ist das Reale A = Leben. Dieses Reale läßt sich gar nicht erken-
nen und begreifen, sondern nur leben. »Gehe hin und lebe, so wird in dir ohne Dein
Zutun das Leben auch erscheinen! «
Alle anderen Systeme außer dem hier vorgetragenen bleiben in einem Sche-
ma befangen. Sie bilden nur Schatten- und Schemen. Der Materialist sieht das Sein,
(das Insgesamt des Seienden, die Welt), als das eigentlich Reale an, die halben Ideali-
sten das Sehen. Das höchste und absolute Schema des Realen aber ist das des Lebens.
Die WL. wird über die schematische Natur der philosophischen Erkenntnis nicht ge-
täuscht. Sie sieht die Realität nicht in irgendeiner Philosophie, sondern im Leben selbst
wirken und so ist die Weisheit, (und nicht die Wissenschaft), ihre Tochter, um derent-
willen allein sie da ist.
Ergänzend sei festgestellt: Das Leben kann gar nicht anders als sich im Se-
hen zu äußern. Könnte es anders, wäre da Willkür. Also, wenn das Leben erscheint, so
muß es als Sehen erscheinen. Nun könnte jemand sagen: »ja wenn! Aber ist es denn
überhaupt notwendig, daß es erscheint? « – Nein, allerdings nicht! – Denn »notwen-
dig« heißt, es gibt einen nötigenden Grund = X, der das Leben treibt. Dann aber wäre
das Leben nicht von sich, aus sich, durch sich – und so wäre nicht das Leben, sondern
X der nötigende Grund. X aber ist bestimmt und als bestimmt nicht identisch mit dem
absoluten Leben. Fragt man aber, ob das Leben erscheine? So läßt sich nur antworten:
Siehe hin! – Es kann nur unmittelbarer erfaßt werden durch Anschauung.
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18 Helmut Girndt
9. Vorlesung
Das Schema des Schemas
(133, 10-137, 20)
1. Zuvor gingen wir davon aus, daß Sehen nur als Schema des Lebens existiert. Daß es
sich in der Tat so verhält, wird allerdings erst in einem Weiteren, d.h. einem Begreifen
des Schemas als Schema gegenüber dem Leben (als dem Ersten) bewußt.
2. Nunmehr gehen wir davon aus, daß das Leben sich anschauen soll als Leben. In der
Anschauung hatte sich das Leben zwar (»an sich oder für uns die Philosophierenden«)
geäußert, sich aber noch nicht (»für sich«) als Leben erkannt. Im unmittelbaren Voll-
zug des Sehens blieb das Sehen sich selbst als Äußerung des Lebens unsichtbar. – Was
darum in der anfänglichen postulativen Voraussetzung – das Leben solle sich als Le-
ben sehen – noch nicht im Spiel ist, ist das »Als«.
Etwas als Schema (Bild) zu erkennen bedeutet, es von dem, was nicht Bild
ist, d.h. dem absolut Realen, zu unterscheiden. Die Unterscheidung von Bild und ab-
gebildeter Realität und die Beziehung beider aufeinander kann allerdings nur inner-
halb des Wissens als einem Bilde oder Schema (des Absoluten) stattfinden. Im Bilde,
und nur im Bilde, werden also Bild (Schema) als Bild vom Leben und das Leben als
Leben (als Nichtbild) unterschieden und aufeinander bezogen. Das Wissen vom Leben
oder der Realität ist also seinerseits schematischer Natur, so wie alles Wissen. Es lie-
fert »[…] nur Schemen und Schatten; daraus keine Realität [erfolgt]« (136, 15-16).
3. Methodische Rückbesinnung zur Verdeutlichung (3.1) und zur Frage: Wie ist ein
Schema des Schemas möglich (3.2)?
3.1. Das Sehen ist in sich selbst ein Schematisieren. Und so ist das weiter be-
stimmte Sehen ein Sehen des Sehens oder ein Schematisieren eines Schemas. Damit
gewinnen wir das Sehen eines qualitativen Etwas, ein bestimmtes Sehen; wohingegen
wir zuvor in C ein Sehen überhaupt hatten, d.h. ein unbestimmtes Sehen. In diesem
bestimmten Schema des Schemas (d. h. im Bewußtwerden des Sehens als Äußerungs-
form des Lebens) liegt implizit das Schema überhaupt. Nachdem wir nun erkannt ha-
ben, daß zum Schema das Schematisieren seiner selbst (als Schema) gehört, bedürfen
wir nun des (Zwischengedankens eines) unbestimmten Schemas nicht mehr, wovon
wir anfänglich ausgingen. Schema ist immer zugleich Schema des Schemas. Das Se-
hen ist also Träger aller Schematizität.
Unmittelbar daran knüpft sich nun die Frage: und was ist das Sehende im
Sehen? – Antwort: Es ist das im Sehen sich äußernde Leben (A), das jetzt als ersehe-
nes Leben (D) im Kontrast zum ersehenen Sehen (ebenfalls D) in die Sicht des Sehens
(C) gelangt ist. Dabei besteht trotz Unterschiedes kein Dualismus zwischen Leben und
Sehen.
3.2. Als abschließende Frage ergibt sich: Wie ist ein solches Schema des
Schemas möglich? Daß es möglich sei, wurde schon beantwortet: unter der Vor-
aussetzung, daß es ein Schema gibt, muß es ein Schema des Schemas geben. Und auf
die Frage, wie ist ein solches Schema des Schemas möglich, ergibt sich die Antwort:
Das Schema entspringt dem Sehen. In der Unmittelbarkeit des An- oder Hin-schauens
bleibt der Prozeß des aus absolutem Leben entspringenden Sehens unsichtbar und so
Zusammenfassung des Gedankengangs 19
das Sehen sich selbst. Damit nun das Schema als bloßes Schema (und im Kontrast
zum Leben) sichtbar werden könne, müßte dieses Sehen seinerseits gesehen und in
seinem Vollzug ergriffen werden. Das könnte nur durch eine besondere Tätigkeit ge-
schehen, allerdings durch keine reale, sondern durch eine ideale Tätigkeit (der Reflexi-
on).
Konkreter und im Vorblick bedeutet das: gibt es eine Einheit in der Mannig-
faltigkeit des Wissens, so muß es eine (ideale) Beziehung der Bilder (Vorstellungen)
zueinander geben. Und die äußere Welt als eine Einheit von Vorstellungen ist ihrer-
seits nur Schema, Bild der inneren Welt und Mittel ihrer Gestaltung. Und diese innere
als eine sittliche Welt wiederum ist nur Schema des ewig unsichtbar bleibenden We-
sens des reinen Lichts und dessen Lebensquelle, der Gottheit. Weiterhin wird sich zei-
gen, daß das Schema des Schemas fünffacher Natur ist in einer Rücksicht und un-
endlich in einer anderen. Mit der Einsicht in diesen Zusammenhang gewinnen wir die
ganze Lehre vom Wissen in einem Blick.
10./11.Vorlesung
Das Verhältnis von Leben und Sehen
(138-145,30)
Bisher gingen wir vom Sehen aus. Der obigen Forderung entsprechend »…das Leben
solle als unsichtbares Prinzip des Sehens, ersehen, oder sichtbar gemacht werden.«
(S. 139) Konzentrieren wir uns von jetzt an darauf, daß es das Leben ist, das sich im
Sehen äußert!
Als erstes stellt sich dabei die Frage: Kann das Leben des Sehens überhaupt
gesehen werden? – Die Antwort kann nur negativ sein: Das Leben geht im Sehen auf
und ist darin verloren. Dem entsprechend kann das Leben nur als Unsichtbares sicht-
bar gemacht werden. Wie und auf welche Weise das an sich unsichtbare Leben den-
noch (mittelbar) sichtbar gemacht und so in ein äußeres Verhältnis der Sichtbarkeit zu
sich selbst gesetzt werden könne, wird im Folgenden deutlich werden.
Am absoluten Leben ist dem Sehen also eine Grenze gesetzt, die es nicht
überwinden kann. Ziel und Aufgabe der Wissenschaftslehre bleibt deshalb, statt des
absoluten Lebens das Sehen oder Wissen als dessen Äußerungsform in seinem Wesen
zu durchzudringen. Aus dieser Durchdringung des Wissens in seinem Wesen ergibt
sich allerdings auch, daß das Wissen nicht unmittelbar erfaßt, sondern nur mittelbar
(nämlich in seinem Verhältnis zu absolutem Leben) sichtbar gemacht werden kann.
Nur auf diese Weise, im Bezug auf absolutes Leben, vermag sich die philosophische
Erkenntnis über die Welt daseiender Schemata erheben.
Alles Erkennen ist Ausdruck eines Verhältnisses, ein mittelbares Erfassen,
ein »Durch«. Und das bedeutet: Erst in der Sicht des Sehens und damit auch der Wis-
senschaftslehre verwandelt sich das an sich unbezügliche absolute Leben in einen er-
möglichenden Grund und ein Begründen. Nur in der Form des Sehens, der Erkenntnis,
setzt sich das allein wahrhaft seiende Leben in ein phänomenales Verhältnis zu sich
selber und erschafft dadurch eine Differenz und eine Beziehung seiner beiden Grund-
modifikationen – als »Leben schlechtweg« und als »sehendes Leben«.
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20 Helmut Girndt
12. Vorlesung
Das Sichtbarmachen des unsichtbaren Lebens in der Aktualität schöpferischer
Praxis.
(146-147,15)
Beginnen wir mit der Feststellung: das Leben als Prinzip des Sehens ist seinerseits un-
sichtbar. In Erscheinung tritt das Leben als das, was in jedem Sehensakt einfach ist
oder lebt. In dieser Grundform des schlichten »Ist« ist das entäußerte Leben völlig un-
bestimmt. Die »Feststellung« in einem thetischen »ist« bringt aber die im Wissensakt
sich äußernde Lebendigkeit des (unsichtbaren) Lebens zum Erliegen und gerät zu ei-
nem Verdecken der Realität, zu einer »Entfremdung«, zu einer »Seinsverborgenheit«.
So ist das Leben zwar präsent in der Form des lebendigen Wissensaktes, aber auf un-
sichtbare Weise. Und was sonst gewußt wird, ist bloß das tote Sein in Form einer the-
tischen Seinssetzung (d.h. in der empirischen Sicht der Dinge).
Wenn überhaupt, dann kann das unsichtbare Leben nur auf andere Weise
entdeckt werden und seine Lebendigkeit gewinnen. Auf der Suche nach jener anderen
Art des Innewerdens des Lebens kontrastieren wir noch einmal Leben und Sehen:
Das Leben ruht in sich selbst; nicht so das Sehen (von Gesehenem), vielmehr
entspringt es dem ursprünglichen Leben. Im Gegensatz zum Leben, das in sich selber
lebt, unterliegt das Sehen (von Gesehenem) als ein nicht Ursprüngliches der Notwen-
digkeit, sich in einem anderen, und das heißt hier: im Leben, zu begründen. Doch um
sich begründen zu können, muß das Sehen seinerseits »gesehen und als Sehen gesehen
werden« (145,28). Auf diese Weise, durch Selbstreflexion des Sehens, wird das an
sich unsichtbare Leben mittelbar sichtbar, allerdings nur als der unsichtbar bleibende
Grund des Sehens (139,16-18). Die Bestimmungen des Lebens als Grund des Sehens
und dessen Unsichtbarkeit gehören dabei nicht dem unbezüglichen, absoluten Leben
selber an. Die an das Leben herangetragene Bestimmung als Grund ist eine dem Wis-
sen entstammende und von ihm an das Leben herangetragene Zuschreibung. –
13. Vorlesung
Wiederholende Zusammenfassung
(148-151,32)
14. Vorlesung
Anschauung und Denken und die Fünffachheit als grundlegende Struktur des
Wissens.
(152-154,14)
Wir greifen auf die Erkenntnis zurück, Sehen sei notwendig ein sich Begründen.
(152,5)
Erste Bedingung für ein Begründen des Sehens ist, daß es nicht nur sieht,
sondern daß es zugleich sich sieht. Mit dem Akt des Sehens (als An- oder Hin-
schauen) ist zugleich das Sich-sehen (eines An- oder Hin-geschauten) da. Sehend und
von sich selbst gesehen ist das Sehen etwas Kontingentes, das einer Begründung be-
darf.
Zweite Bedingung für ein Begründen des Sehens ist ein weiterer Akt des Se-
hens, der nicht auf unmittelbarer An- oder Hinschauung, sondern auf mittelbarer Re-
flexion des Wissens auf sich selbst beruht, dem Denken. Und erst aufgrund dieser
zweiten Reflexion (dem Denken) auf die erste (des sich sehenden Sehens) zeigt das
Sehen sich als das, was es ist, und als etwas, das einer Begründung bedarf.
Die Anschauung oder Hinschauung liefert ein unmittelbar Sichtbares bloß
dadurch, daß Sehen eben ist. Das Denken hingegen macht das in dieser Anschauung
unsichtbar Gebliebene mittelbar sichtbar. (Nämlich den Grund des Sehens als sich im
Sehen äußerndes Leben).
Die Anschauung ergibt sich. Das Denken hingegen ist ein neues Schaffen.
Nun ist die Anschauung nur die Bedingung der Möglichkeit des Begründens
im Denken, (als des Vermögens, den Lebensgrund des Sehens sichtbar machen zu
können), noch nicht das aktuale Denken selber. Anschauen und Ermöglichung des
Denkens erfolgen hingegen in demselben Schlage.
Zudem ist die Anschauung nicht ohne ihre Produkte a-b (d. h. als Anschauen
und Angeschautes), noch das Denkvermögen ohne die seinigen: A-B (d.h. Denken und
Gedachtes). Die synthetische Einheit des Anschauungs- und des Denkvermögens bil-
det eine Fünffachheit. Die Elemente dieser Quintruplizität bestehen erstens aus dem
Anschauungsvermögen (1) und seinen Momenten: 1.1 Anschauen und 1.2 Ange-
schautes und zweitens auf dem Denkvermögen (2) und seinen Momenten, 2.1 Denken
und 2.2 Gedachtes. Alle Momente zusammen bilden eine Vierzahl. Zu ihr kommt als
fünftes die alle vier Momente integrierende Einheit des Einen Sehens, aus dem sie sich
entfalten.
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22 Helmut Girndt
Der Grund des Einen Sehens, aus dem heraus sich Anschauen3 und denkende
Reflexion des sich sehenden Sehens entfalten, ist das Leben, das aufgrund eigenen
Vermögens in jenen Grundstrukturen in Erscheinung tritt.
15. Vorlesung
Die synthetische Einheit des Ich
(155-156,22)
Die Selbstbestimmtheit des Lebens im Sehen bringt also zweierlei Schemata hervor: 1.
das Schema, das unmittelbar im Sehen als Hin-sehen objektiven Seins projiziert wird
(das Anschauungsvermögen) und 2. das Schema des hervorbringenden Lebens als
schöpferisches Hervorbringen und Begründen – (das freie Denkvermögen), beide sind
unabtrennbar von einander (156,9–11).
Beide Schemata, das des unmittelbaren An- und Hinschauens und das (aus
freier Reflexion) hervorbringenden Denkens müssen nun ihrerseits aufeinander bezo-
gen und gesehen werden. Die Einheit beider Schemata macht dabei die Ich-Struktur
aus: Ich ist die Identität von (Sich)Anschauendem und (Sich)Denkendem. Das erste
Schema, (durch das die Anschauung hervorgebracht wird), ist das objektive, das zwei-
te (das Prinzip des Denkens) ist das subjektive (156,17); und das lebendige »nothwen-
dige Band beider« (156,18) ist die »synthetischen Einheit der Apperception«
(156,15f.).
Die Entäußerung des Lebens in Anschauung und Selbstanschauung in der
Ich-struktur ist »Urschema des Lebens« (156,19). In diesem Urschema verwandelt sich
»Das Leben […] in eine synthetische Einheit der Anschauung« (157,3f.) und darüber
hinaus in »ein denkendes Ich« (157,4). Dieses Ich ist das Grundprinzip alles weiteren
in der Erscheinung stattfindenden Schematisierens, Prinzip allen objektiven und sub-
jektiven Seins der Welt.4
3 Der Terminus Anschauung (oder auch Hinschauung, resp. Anschauen oder Hin-
schauen oder Sehen oder Schematisieren) hat nicht dieselbe Bedeutung wie in der Philosophie
Kants. Während bei Kant Anschauung ein rezeptives Vermögen in Form des vor-begrifflichen
raum-zeitlichen Neben- und Nacheinanders von sinnlichen Gegebenheiten bedeutet im Unter-
schied zu dem spontanen Vermögen des Denkens, das dem Angeschautem erst begrifflichen Sinn
verleiht, ist bei Fichte der Akt des Sehens (resp. des Sehen des Sehen) ineins Anschauen und
Denken. Selbst die elementarste Wahrnehmung enthält nach Fichte schon neben den reinen An-
schauungsbestimmungen des Vor-, Neben- und Nacheinanders in Raum und Zeit ein Minimum
kategorialer, also gedanklicher Bestimmungen, etwa Sein, Einheit, Substanz, Qualität und Quan-
tität, wie Fichte in seiner Transzendentalen Logik am Beispiel eines Sandhaufens illustriert. Unter
Denken oder Begreifen im Unterschied zum Sehen versteht Fichte die freie Aktivität bewußten
gedanklichen Reflektierens über das im Sehen unmittelbar Gesehene hinaus. Es beginnt, wenn
aus Freiheit nach dem Grund des Gesehenen gefragt wird. Das Denken oder Begreifen ist ein
neues Schaffen (153,28).
4 Dieses Ur-schema des Ich ist, wie in Erinnerung gerufen wird, nicht das absolute
Ich im Sinne absoluten unbezüglichen Seins und Lebens oder Ich des ersten Grundsatzes der
Wissenschaftslehre von 1794 (siehe Anm. 1).
Zusammenfassung des Gedankengangs 23
Das Leben hat sich nun in eine synthetische Einheit des Sehens verwandelt. Völlig
aufgegangen in die Einheit von Anschauen und Denken ist das Leben selbst allerdings
nicht mehr sichtbar, »wie es doch soll« (157,1-5).
Die Aufgabe, die der Wissenschaftslehre gestellt ist, lautet also genauer: das
im Wissen und Sich-selbst-Wissen aufgegangene Leben wieder sichtbar werden zu
lassen, aber nicht nur als unmittelbar anschauendes, auch nicht nur im schöpferischen
Erscheinungsleben, sondern als die verborgene Quelle erscheinenden Daseins über-
haupt, (des anschaulich gebundenen, wie des schöpferisch freien). Das an sich un-
sichtbare Leben auf diese Weise sichtbar werden zu lassen, bedeutet, das Leben vom
transzendentalen Standpunkt aus zu sehen.
Was in gewöhnlicher Sicht der Dinge das wahre Leben und das Schaffende
im Ich verdeckt, ist die Notwendigkeit. Sollte nun das (verdeckte und verwandelte) Le-
ben in philosophischer Erkenntnis wiederhergestellt werden, so könnte dies nur durch
die Freiheit der Reflexion geschehen. Im Zustande unmittelbaren Sehens hat das Da-
sein seinen Grund verloren, deshalb muß es, um zu sich selbst zu kommen, sich be-
gründen. Dieses Sichbegründen ist eine neue Schöpfung des Lebens aus einem wahr-
haft in sich selber lebenden Sehen.
Wie aber soll dieses Sichbegründen vonstatten gehen? Wie soll ein Überstieg
des Wissens über sich selbst gedacht werden (157,11-21), den ein Sichbegründen er-
scheinenden Lebens erforderlich macht? – Nur so, daß das Gesetz des Schematismus,
dem das Leben anheimgefallen ist, seinerseits sichtbar gemacht würde. Die Hülle, die
das Leben umgibt, wird dadurch transparent, daß das Gesetz des Schematismus durch-
schaut wird. Auf diese Weise vermag sich die Erscheinung als Erscheinung (philoso-
phisch) zu durch-schauen und wissentlich zum Leben zurückzukehren.
Eine solches Sichtbarmachen und Sichbegründen des Wissens im Leben ist
Aufgabe der Transzendentalphilosophie. Sie kann nur »durch eine abermalige neue
Schöpferkraft des Denkens« (157,15-16) vollzogen werden. Die Neuheit dieser 'neuen
Schöpferkraft des Denkens liegt in seiner Freiheit: Denn im Unterschied zur Notwen-
digkeit des Schematismus liegt das Sichtbarmachen des Gesetzes des Schematismus
durch philosophische Erklärung nicht im Schematismus (157,17-18).
Hier, in der transzendentalen Reflexion, wird das Leben verwandelt in ein wahrhaftig
neues und anderes Leben, das aus sich eine neue, kreative Sicht der Wirklichkeit er-
schafft.
Allerdings läßt diese mittelbare Rückkehr des Leben zu sich selbst in trans-
zendentaler Erkenntnis die Erscheinung nicht einfach verschwinden, es bleibt bei der
Erscheinung als Äußerung des Lebens – aber sie wird nun zu einer im Denken in sei-
ner Gesetzmäßigkeit durch-blickten.
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24 Helmut Girndt
18. Vorlesung
Vom theoretischen zum praktischen Teil der Wissenschaftslehre
(161,6-164,3)
Dritter Teil
Grundlage der Wissenschaft des Praktischen: Der Trieb als infinites
Streben
(165-202,21)
19./20. Vorlesung
Der Trieb und der ontologische Status des Triebes
(165-170,29)
Um ein vertieftes Verständnis des Verhältnisses von Leben und Sehen zu gewinnen,
wird nunmehr, im dritten Teil der Ausführungen, ein neuer Begriff eingeführt, der des
»Triebes«. Dieser dritte Teil der Wissenschaftslehre von 1807 ließe sich analog zur
»Grundlage« von 1794 als Grundlage des praktischen Wissens überschreiben.
Die Annahme eines Triebes ist eine »Hypothesis«, genauer eine erklärende
Letzthypothese, die ihrerseits auf keinen weiteren Annahmen beruht und deren Bewäh-
rung allein in ihrer Erklärungsleistung liegt. Dieser Trieb ist zunächst nur hypothetisch
und nur nach vollendeter Untersuchung als existent anzunehmen.
Zusammenfassung des Gedankengangs 25
Das Problem, das mit der »Trieb«Hypothese gelöst werden soll, besteht dar-
in, daß das Leben als in sich geschlossenes Sein sich nicht auf etwas anderes beziehen
kann. Zum absoluten Leben kann keine Kausalität gehören. Der Theorie des »Triebes«
liegt deshalb der Gedanke einer Kausalität zugrunde, die zugleich keine ist. Dieser
scheinbare Widerspruch wird mit der Idee einer »verhinderten« Kausalität gelöst, d. h.
einem Streben nach Kausalität oder nach Sein, das sein Ziel allerdings niemals er-
reicht. Auf diese Weise soll der Hiatus zwischen absolutem Sein und faktischem Da-
sein, so wie er sich seitens des Da-seins darstellt, überbrückt werden.
Anstelle eines Hervorbringens absoluten Seins, was a limine unmöglich ist,
tritt der Trieb mit seinem bleibenden Streben nach Kausalität, der allerdings nicht wei-
ter gelangt, als ein bloßes Schema oder Bild des Seins zu erzeugen. Der Trieb bewirkt
also tatsächlich etwas, aber nicht Realität, dann hätte er Kausalität, sondern nur ein
Abbild der Realität im Sehen. Und so besteht das Streben des Triebes darin, statt Sein
das ihm am nächsten Kommende hervorzubringen, eben Sehen eines Schemas des
Seins. Der Trieb »in und an Gott«, nicht Gott selbst (als relationslos Absolutes), ist
also der Grund der Welt. Als Trieb Gottes ist er unvergänglich, und das heißt ewig
wirksam. Und so ist der Trieb ein ewiges Erzeugen, (in der Zeitform, die allerdings in
der WL 1807 nicht explizit entwickelt ist, bedeutete ein solches Streben des Triebes
ein Erzeugen, das im Entstehen zugleich schon wieder vergeht, nur um von etwas
Neuem, ebenso Vergänglichen, abgelöst zu werden). Und dennoch ist und bleibt der
Trieb unveränderlich Streben nach einem unerreichbaren Ideal, ein vollkommenes Bild
Gottes zu werden und sichtbar werden zu lassen.
21. Vorlesung
Der Trieb als Grund des Bildes
(171-174,10)
Nun kann es aufgrund des Triebes nicht nur nicht zu keiner Wiederholung absoluten
Seins, sondern noch nicht einmal zu einem vollendeten Bild oder Schema des Seins
kommen. Ein vollendetes Bild des Seins zu erreichen, bedeutete, das Ziel des Triebes
tatsächlich verwirklicht zu haben. Und damit würde der Trieb aufhören Trieb zu sein,
er wäre zu Kausalität geworden, (wenn auch nur im Bereich der Bildhaftigkeit). Eine
vollkommene Offenbarung Gottes kann also nie wirklich werden. Zuvor hieß es: kein
Sein außer Gott, jetzt heißt es: kein vollendetes Bild seines Seins. Allerdings bürgt der
Trieb, Gott nie vollkommen erkennen zu können, auch für die Unendlichkeit der Exis-
tenz des erscheinenden Daseins (in der Zeit).
Wird denn nun in jenem ersten unmittelbaren Ausdrucke des Triebes, d.h. im
Sehen, der Trieb seinerseits sichtbar? Die Antwort ist: Nein. Die unmittelbare Ver-
wirklichung des Triebes im Sehen bleibt unsichtbar.
Mittelbar jedoch könnte der Trieb sichtbar werden und zwar in einem wiete-
ren Sehen, das über die Verwirklichung eines ersten Triebes (Tr1) hinausgehend zu
einem Sehen des Triebes wird (Tr2). Wie zuvor im Sehen, bei dem es zu einem Sehen
des Sehens kam, gewinnen wir an dieser Stelle eine weitere Bestimmung des Triebes
(Tr2) innerhalb des schon bestehenden (Tr1). Der Trieb des Sehens wird so zu einem
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26 Helmut Girndt
Ersehen des Triebes; der Sehtrieb zu einem Sehen seiner selbst. Und auf diese Weise
entsteht ein realer Kern im Bereich der Schemata.
Mit diesem Ersehen des Triebes hat nun der lebendige Trieb wirklich und in
der Tat Kausalität erlangt, (nämlich in Bezug auf sich selbst, als Selbsterfahrung), al-
lerdings nur im Bereich schematischen Daseins, ohne deshalb aufzuhören, weiter nach
dem vollkommenen Bild des Seins zu streben, das nie erreichbar ist.
So ist denn das göttliche Wesen – auf sichtbare und unsichtbare Weise –
ewig fort das Reale in allem Sehen. Die Form des Sehens aber ist die Unendlichkeit.
Könnte sie jemals vollendet werden, würde Gott erscheinen, wie er ist, was unmöglich
ist.
22. Vorlesung
Das Ich als Trieb und der Trieb als Ich
(175 -178,9)
Die Verwirklichung des Triebes erzeugt zunächst keine phänomenale Realität, sondern
ein Sehen und ein im Sehen gesehenes Sein. Nun ist aber das nur hinschauende Ich
dasselbe wie das Ich des Triebes. Deshalb existieren Sehen und Treiben in unmittel-
barer Einheit. Der Trieb ist, wie wir gesehen hatten, zunächst unsichtbar (als Tr1). Da,
wo Anschauung wirklich ist, ist sie es demnach aufgrund der Selbstreflexivität des
Triebes (Tr2) und dem immer über sich Hinausgehen des Triebes (als Fluß der An-
schauungen).
Allerdings bleibt in den einander ablösenden Anschauungen das Ich stets
dasselbe Eine und darüber hinaus bleibt es auch sichtbar als dasselbe Eine, insofern es
bei allen wechselnden Vorstellungen immer dasselbe Ich bleibt. Daraus muß sich die
Frage ergeben: welches ist denn nun das Prinzip der Einheit des Ich, das in der Unend-
lichkeit seines Schematisierens nicht zerfließt, sondern eines bleibt?
Bevor wir diese Frage nach dem Prinzip der sich in der Mannigfaltigkeit
durchhaltenden Einheit des Ich beantworten, sehen wir noch, auf welche Weise sich
das Ich als Trieb oder der Trieb als Ich manifestiert!
1. Im Bereich der Idealität äußert sich der Trieb als Seh-Trieb (Tr1), Gott zu
schauen. Das geschieht zunächst naiv und unbewußt im sinnenhaft schauenden Ich
und in Übereinstimmung mit seinem natürlichen Trieb, dann aber im reflektierenden
Ich, das diesen Trieb zu bewußtem Dasein erhebt.
2. Im Bereich (phänomenaler) Realität hingen äußert sich der Trieb als
Handlungs-Trieb, Gott selbst zu werden, (d.h. eins mit ihm zu werden). Dieser Trieb
(TR 2) wird gefühlt als Liebe. Liebe ist das qualitative Kriterium phänomenaler Reali-
tät und das Prinzip allen Handelns gegenüber dem formalen Prinzip allen Sehens. Erst
im Gefühl (der Liebe) erfahren wir die Realität phänomenalen Daseins. Allerdings
wird nichts Wirkliches jenen Realitäts-Trieb (Tr2) je befriedigen können, denn die nur
im Gefühl erfahrbare Nichtigkeit alles Wirklichen begleitet das Ich in allen seinen
Handlungen. Das Ich erfährt auf diese Weise im Gefühl, worum der Philosoph auf sei-
ne Weise schon wußte: real ist nur das sich selber klar gewordene Leben in Einheit mit
Zusammenfassung des Gedankengangs 27
der göttlichen Liebe. Diesem Ideal gegenüber bleibt es in der Wirklichkeit beim ewi-
gen Streben, nicht anders als in der Grundlage von 1794.5
23. Vorlesung
Der Trieb als Prinzip der Einheit von Einheit und unendlicher Mannigfaltigkeit
(179-183,15)
Die zuvor gestellte Aufgabe bleibt weiterhin dieselbe: Die aus dem Treiben des Trie-
bes (in der Form der Fünffachheit) sich entfaltende Unendlichkeit aus absoluter Ein-
heit abzuleiten. Denn diese Einheit unendlicher Mannigfaltigkeit macht das Wissen
erst möglich. (179)
Gelöst wird die Aufgabe, die synthetische Einheit des Mannigfaltigen des Wissens (2)
mit der absoluten Einheit absoluten Lebens (1) in Beziehung zu setzen, durch die zu
Anfang des dritten Teils der Wissenschaftslehre angenommene Voraussetzung eines
Triebes »an und in« Gott. Dieser Trieb ist es, der im Wissen ein selbständiges Sein
annimmt. Obwohl das mit seinem Sein verschmolzene Wissen sich spaltet und ins Un-
endliche wandelt, bleibt der Trieb als unsichtbares Prinzip des Einen Wissens in allem
Wechsel bestehen. Und so ist denn die Identität des Triebes mit sich selbst in allen
Wandlungen des Wissens das gesuchte dritte synthetische Einheitsprinzip. –Diese
These wird im Folgenden expliziert.
5 Dieses dritte Prinzip bildet keine höhere, über das Absolute und das Prinzip der
Mannigfaltigkeit hinausgehende Synthese.
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28 Helmut Girndt
Fühlvermögens], in dem der Trieb (in Bezug auf sich selbst) tatsächliche Kausalität er-
langt, ist das aktuelle Fühlen.
Da nun diese unmittelbare und innere Schöpferkraft (des Gefühlsvermögens)
in einem absoluten Triebe gründet, der nicht aufhören kann zu streben, wiederholt sich
diese Schöpferkraft ins Unendliche und erzeugt ein seinem Gehalte nach unveränderli-
ches immer gleiches Fühlen. So bleibt das Fühlen in der Unendlichkeit des Mannigfal-
tigen dem Inhalt nach stets dasselbe und wird, im Wesen unverändert, im Treiben des
Triebes bloß wiederholt und nach jedem Mal wieder neu gesetzt.
24. Vorlesung
Ein Widerspruch im Trieb: Einheit des Triebes und Unendlichkeit des Treibens.
(184-187,24)
Mit dieser neuen Erkenntnis der Innendimension des Triebes scheint sich ein Wider-
spruch aufzutun. Er lautet:
Der Trieb »an und in« Gott hat ein immanentes Sein, zufolge dessen er zu
einem Vermögen wird, sich selbst zu fühlen. Als solcher ist der Trieb ein ins Unendli-
che Wiederholbares, ein immer erneutes Werden.
Dagegen steht aber: Weil der Trieb »in und an« Gott ist, kann jenes im-
manente Sein des Triebes nicht ewiges Werden, sondern nur ein immer Bleibendes
sein. Denn was »in und an« Gott ist wie der Trieb, ist schlechthin und wird nicht ins
Unendliche fort. Das eine Gefühl wäre demnach nur einmal und einfach und durchaus
nicht ins Unendliche wiederholbar.
Über die Existenz des Triebes herrscht zwar Einigkeit, aber in Beziehung auf
das Wesen des Triebes hat sich nun eine Differenz aufgetan. Ein ständiges Entstehen
und Vergehen des Triebes in alle Unendlichkeit scheint mit dem Charakter der Seins-
einheit des Triebes unvereinbar zu sein.
Damit sind wir bei einem Hauptproblem der Philosophie angelangt: dem
grundsätzlichen Verhältnis von Einheit und Vielheit. Das Problem ist: wie können die
absolute Einheit und Unveränderlichkeit Gottes, (dem der Trieb »an und in« Gott ent-
stammt), und unendliche Veränderlichkeit und Vielheit des Triebes neben einander be-
stehen?
25. Vorlesung
Auflösung des Widerspruchs: Das Vermögen des Wissens.
(188-192,8)
Zur Lösung wird ein unerwarteter Weg eingeschlagen, der darin besteht,
nicht direkt auf die Frage nach der Vereinbarkeit von Sein und Werden, (Einheit und
Vielheit), einzugehen, sondern auf die anstehende Frage als Frage. Die höhere Frage
ist: Woher entsteht das Fragen, was ist Prinzip des Fragens und des Zweifels selber,
aus dem sich Vielheit und Unendlichkeit gebiert? Wenn es gelingt, diese höhere Frage
nach dem Ursprung des Fragens zu beantworten, ist auch die aufgezeigte Frage nach
dem Verhältnis von Sein und Werden, Einheit und Vielheit, gelöst.
Reflektieren wir auf den zuvor zurückgelegten Weg: Wir sind uns bewußt,
die Einsicht über den Trieb erst erzeugt zu haben. Gibt es denn, diese Einsicht als
höchste genommen, noch etwas anderes, das der Einsicht in das Wesen des Triebes zu-
grunde läge und das wir bisher nicht bedacht hätten? Die Antwort ist: Ja! Das Allerers-
te und das Ursprünglichste, das erlaubt, eine Erkenntnis über den Trieb zu gewinnen,
ist der Trieb nach Erkenntnis und das in ihm begründete Vermögen des Wissens selbst.
Der Ursprung des Fragens ist also der Trieb und das durch ihn getriebene Wissens-
vermögen. Käme dem Trieb kein Vermögen der Erkenntnis zu, hätten wir nicht ver-
mocht, die Einsicht in den Trieb und seine wissensbegründende Funktion zu gewin-
nen.
Damit ergibt sich: Das Wesen des Triebes ist es, Erkenntnis zu erlangen und
in der Erkenntnis als einem Vermögen ist auch die Einsicht in das Wesen des Triebes
begründet. Der Trieb ist dasjenige, was zur Verwirklichung des Vermögens des Wis-
sens treibt. Und dieses im Trieb begründete Vermögen, insbesondere Gott zu denken
und zu erkennen, ist wiederum ein durch das Sein Gottes ermöglichtes Vermögen.
Dieses Vermögen des Triebes zu (absoluter) Erkenntnis ist nun weder durch
sich noch durch anderes determiniert. Wie jede Erkenntnis folgt auch die Erkenntnis
des Triebes aus dem sich unbegrenzt entfaltenden Vermögen der Freiheit.
Das im und durch den Trieb begründete Wissen ist also dasjenige, das den
aufzulösenden Widerspruch zwischen Sein und Werden, absoluter Einheit und Unver-
änderlichkeit und unendlicher Veränderlichkeit aufzulösen vermag. Die Antwort lautet
umfassender formuliert:
Das in sich geschlossene Absolute kann nicht aus sich heraustreten, aber es
kann in Form des Wissens (als Gotteserkenntnis) sichtbar werden. Sichtbar wird es im
Erkenntnisvermögen. Dieses Vermögen ist als Erkenntnisvermögen immer eins und
dasselbe. Aber die Verwirklichung dieses Vermögens aufgrund des Erkenntnistriebes
ist ins Unendliche möglich, eben darum, weil es ein Vermögen ist und auf diese Weise
ein Werden.
Im letzten Abschnitt (193-199) des dritten Teils der WL 1807 ergibt sich als noch ver-
bleibende Aufgabe, ein vermittelndes Prinzip zwischen den bisher auseinander gehal-
tenen Gliedern Trieb einerseits und Vermögen (des Wissens) andererseits aufzufinden.
Würde dieses Vermögen keinerlei Kausalität unterliegen, bliebe es lediglich bei der
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30 Helmut Girndt
Möglichkeit des Vollzugs des Wissens. Damit es zur Verwirklichung des Wissens
kommt, bedarf es des Erkenntnistriebes. Das Vermögen zu wissen wurzelt im Triebe.
Es gilt nun zu sehen, auf welche Weise.
Als Trieb des Absoluten oder als Trieb »in und an Gott« bewirkt der Trieb
die unmittelbare Äußerung in der Erscheinung als Anschauung. In dieser Funktion ist
er ein Trieb zur Realisierung seiner selbst, denn der Trieb steht in einem Selbstverhält-
nis (Tr. 2). Nach der Verwirklichung des Triebes fragend, fanden wir die anschauliche
Welt und mit ihr das Selbstverhältnis des Wissens als Ich.
Der immanente Aspekt des Ich, auf dem Trieb des Absoluten beruhend,
drückt sich im Gefühl der Gewißheit aus, einem Sichfühlen oder Aufsichberuhen un-
mittelbaren Wissens als Anschauung. Dem gegenüber steht der emanente Aspekt des
Ich, selbst nicht das Absolute zu sein, sondern nur dessen Äußerung in der Erschei-
nung. Damit ist klar, daß das Ich, sowohl was seinen immanenten wie seinen emanen-
ten Aspekt ausmacht, nicht von sich selbst her ins Leben treten kann.
Mit der Beschreibung des Ich ist nur verdeutlicht worden, wie der Trieb rea-
lisiert wird und was dabei realisiert wird, doch ist es damit noch nicht zu seiner Ver-
wirklichung gekommen. Dieser Trieb muß also noch vollzogen werden, damit man
sagen kann, die WL sei vollendet. Es muß daher ein lebendiges Prinzip in den Trieb
gesetzt werden, das den Schematismus des Ich erst in Gang setzt; nur durch ein solches
lebendiges Prinzip kann es zur Verwirklichung des Triebes kommen. Das den Trieb
belebende Prinzip ist also das gesuchte Mittelglied, das den letzten Begründungs-
schritt über Trieb und das Vermögen des Wissens hinaus ermöglicht.
Außer dem absoluten Sein und dem Trieb »in und an« Gott wird also noch
etwas Drittes angenommen, um die Wissenschaftslehre zu begründen: ein lebendiges
oder belebendes Prinzip (199,3). Und dieses belebende Prinzip (außer Gott) ist es,
welches das Vermögen des Triebes aktualisiert (199, 9). Als den Trieb belebendes
Prinzip ist es Ausfluß absoluten Lebens, ohne dieses absolute Leben selbst zu sein.
Und als Lebendigkeit des Triebes ist es das Leben des Ich, das wir (nach der Ent-
faltung der schematischen Aspekte) suchten.
Damit ist der letzte wichtige Schritt zur Begründung der Erscheinung getan.
Zur Vollendung der WL wäre dann lediglich noch zu zeigen, auf welche Weise sich
die Eine Erscheinung in eine unendliche Mannigfaltigkeit auffächert – das wäre The-
ma des letzten, des 28. Vortrags, (wie in der WL 1804 auch), der allerdings nicht mehr
vollständig ausgeführt wurde.
28. Vorlesung
Zusammenfassung und offene Fragen
(201-202,20)
Das lebendiges Prinzip als ein eigenes, immanente Lebens des Triebes außer dem
göttlichen Sein haben wir als Schöpferkraft bloßer Schematen kennen gelernt. Es hat
die Form des Ich und als solches ist es emanent in der Anschauung seiner selbst und
immanent in seinem Ausdruck, dem Gefühle.
Zusammenfassung des Gedankengangs 31
Sich in seiner Unmittelbarkeit als Ich anschauend findet sich das lebendige
Prinzip als Prinzip fünffacher Unendlichkeit. Und erst durch die lebendige Selbstan-
schauung des Ich kann in Erscheinung treten, daß das, was Eins ist, ins Unendliche
wiederholt werden kann. Anschaubarkeit ist also der Quell der Unendlichkeit.
Um nun die Einheit in der Unendlichkeit der Anschauungen wiederherzu-
stellen, muß die Einheit des Ich wiederhergestellt werden. Und das geschieht durch das
Vermögen des Denkens. Das Ich wird nämlich im Denken als Prinzip seiner selbst und
seiner Selbstanschauung begriffen. Als ein solches Prinzip der Selbstanschauung muß
es sich als ein Ich erfassen. Und das heißt: Mit dem Gedanken des Ich als Prinzip wird
die Einheit des Ich im Denken wiederhergestellt. Ist die Anschaubarkeit Quell der Un-
endlichkeit, so das Denken das Vermögen der Einheit.
Im Wechsel zwischen dem Hingeben an die Anschauung (in der sie sich der
Unendlichkeit Preis gibt), und dem Denken (als eines Vernichtens jener Selbstan-
schauung und Hingabe an das Gesetz der Einheit), d.h. im Wechsel dieser beiden Re-
flexionsweisen liegt nun die Freiheit des sich selbst bestimmenden Ich als zwischen
Unendlichkeit und Einheit vermittelndes Prinzip.
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Gaetano Rametta
1. Lebenslehre
1 Um die Orientierung des Lesers zu erleichtern, geben wir hier das Verzeichnis der
von Fichte benutzten Abkürzungen an:
X = das noch nicht als Leben bestimmtes Prinzip oder Absolute;
A – (a-b) : A = das Absolute als Leben und Urquell, hier als Grund der Erscheinung gedacht; a-b
= die Erscheinung als vom Leben begründete Disjunktion zwischen Ich an sich und Ich als Ich,
oder auch zwischen Ich als sehendem Subjekt und (faktischem) Sein als gesehenes Objekt;
A – x: A = das Absolute oder Leben als getrennt von seiner wirklichen Erscheinung, oder in
seiner »reinen« Realität gedacht (= übersinnliche Welt); x = die erscheinende Wirklichkeit (=
sinnliche Welt), deren Bestimmtheit nicht a-priori ableitbar ist; – = das Band beider.
34 Einleitende Bemerkungen
Eine solche Aufgabe kann und darf nicht darin bestehen, der
grammatikalischen Bestimmung zu entfliehen; nicht darin, das Leben in
einen absolut reinen, von Sprache und Begriffen freien Raum hineinzu-
führen. Das Leben zu einem Schweigen zu verurteilen, das unbegrifflich
und sprachlos ist, würde bedeuten, es am leben zu hindern, es von seinem
Erscheinen ausschließen zu wollen. Vielmehr geht es darum, das Leben
auf eine Weise zu bestimmen, die über die grammatisch substantivierende
Bestimmung hinaus geht.
In der WL-07 fragt sich Fichte, wie man das Leben denn wohl
konjugieren könne. Und darüber hinaus: Wenn man davon ausgeht, daß
das Leben weder Substantiv ist noch substantiviert werden kann, also we-
der substantia noch substratus ist, bedeutet das dann, daß der verbale Cha-
rakter, der dem Leben eigen ist, wirklich konjungierbar ist? Das würde
nicht nur bedeuten, ein bevorzugtes Tempus für das Leben anzunehmen,
sondern auch einen Modus oder eine bestimmte Person, denen man den
Vorrang zuschreiben müßte, das Leben selbst darzustellen und auszu-
drücken.
Der Wissenschaftslehre, so klagt Fichte, wird vorgeworfen, die
erste Person zu bevorzugen; woraus sich wiederum der Vorwurf ergibt,
Ausdruck eines spekulativen Solipsismus´ zu sein, dessen unvermeidlicher
Nebeneffekt nichts anderes sein kann, als ein »ungeheurer« Egozentris-
mus. Was sonst könnte der Vorrang bedeuten, den die Wissenschaftslehre
dem Ich zuschreibt? Welche anderen Konsequenzen könnte sie mit sich
bringen, wenn nicht die von Friedrich Heinrich Jacobi dargelegten, die auf
eine Erhöhung der Subjektivität und des subjektiven Bewußtseins als
Schluß- und Ausgangs-punkt der Transzendentalphilosophie hindeuten?
In dem Text, den es hier zu kommentieren gilt, distanziert sich Fichte wie-
derholt von einer solchen Interpretation der Wissenschaftslehre. In ihr
geht es nicht darum, das empirische, natürliche, individuelle Bewußtsein
in den Mittelpunkt zu stellen und zum methodischen Ausgangspunkt der
Philosophie zu machen. Die Kritiker, welche die Bedeutung der Ichheit
und des Selbstbewußtseins auf solche Weise interpretieren, mißverstehen
vollkommen den Sinn des transzendentalen Unterfangens, das sie mit ei-
ner empirisch-faktischen Erörterung verwechseln. Dabei geht es der
Transzendentalphilosophie gerade darum, die Bedingungen der Möglich-
keit der empirisch-faktischen Gegebenheit zu erforschen. Anders ausge-
drückt: Es handelt sich bei den Mißverständnissen der Transzendentalphi-
losophie um die Übertragung einer naturalistischen Geisteshaltung und
Gaetano Rametta 35
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36 Einleitende Bemerkungen
bene Richtung erwies sich aber als richtig, weil sie dahin führte, die Re-
duktion des Wahren auf das empirische Ich, das endliche Bewußtsein und
die subjektive Vernunft zu überwinden. Jacobis Gedankengang drückte
die Notwendigkeit aus, über den Schein, oder, wie Fichte sagen würde,
über die Schemen und Bilder hinauszugehen, die nur an der Oberfläche
der Phänomene auftauchen, um die Wahrheit in ihrer ursprünglichen Ab-
solutheit zu erfassen. Trotz alledem konnte jedoch sein Vorschlag, die
dritte Person gegenüber der ersten zu bevorzugen, nicht überzeugen, um
die Wahrheit als Leben zum Ausdruck zu bringen. Denn was bezeichnet
die dritte Person genau? - »Die dritte ist das getödtete [,] des Lebens u. der
innern Thätigkeit beraubte Seyn« (a.a.O., 16-17).
Denn ist es nicht genau das Sein, das, zum Ausgangspunkt philo-
sophischen Denkens gemacht, als der Grundirrtum (a.a.O., 11) schlechthin
angesehen werden muß? »Grundirrtum« deshalb, weil es sich um das han-
delt, von dem alle theoretischen und praktischen Fehler philosophischen
Denkens stammen; die Wurzel und das Fundament aller unserer Verir-
rungen, das, worauf man alle Irrtümer zurückführen kann (vorausgesetzt,
daß Fehler und das Negative überhaupt eine Wurzel und ein Fundament
haben und nicht nur, wie Fichte meint, etwas sind, das völlig Nichtig ist).
Der radikalen Kritik des Seins-begriffs stellt Fichte sogleich die
Kritik des Substantivs zur Seite, der mit der dogmatischen und nicht-trans-
zendentalen Auffassung des Seins verbunden ist, ja als Synonym dersel-
ben verstanden werden kann - zum Schaden der Wahrheit und des Lebens.
Nicht anders als das philosophische Ausgehen vom Sein wird das »vom
Substantivum Ausgehen« von Fichte als »Grundirrtum« verstanden. Da-
mit auch dieser Irrtum als »Grundirrtum« bezeichnet werden kann, muß er
als einzigartig begriffen werden. Es leuchtet somit ein, daß wir es eigent-
lich mit zwei Bestimmungen desselben zu tun haben, die das eigentliche
Leben, so wie es in Wahrheit ist, verfehlen und vernichten, sowohl der
Ausgangspunkt vom Sein in der dritten Person, (als »Es«), wie der vom
Substantiv.
Aber: Wenn vom Sein im Sinne von »Es«, (der dritten Person),
und vom Substantiv auszugehen nach Fichte den Grundirrtum philosophi-
schen Denkens ausmacht, was bedeutet dann diese Ablehnung positiv?
Was soll denn an deren Stelle treten?
Und wenn das »Es« der dritten Person und die Substantivierung
des Seins etwas unlebendiges, totes, ja lebensfeindliches bedeuten, wie
soll man dann verstehen, daß Fichte vom »Sein« auch affirmativ im Sinne
Gaetano Rametta 37
von »Leben« spricht, um damit das Urwahre oder Gott als »esse in mero
actu« zu kennzeichnen?
Es scheint so, als ob das Sein durch ein Herausragen ausgezeich-
net ist, das ihm die Möglichkeit gibt, sich selbst zu übertreffen. Das Sein,
mit dem der philosophische Grundirrtum beginnt, ist nämlich gleichzeitig
mehr als einfach nur Sein. Aber um mehr als einfach nur Sein zu sein,
muß das Sein notwendigerweise auch anders sein als bloßes Sein, und
somit anders als es selbst.
Offensichtlich ist Fichtes Standpunkt in der Seinsfrage nur dann
konsistent, wenn man annimmt, daß die Wissenschaftslehre die Wahrheit
des Seins auf andere Weise versteht als dies eine bloß theoretische Er-
kenntnis vermag. In der Tat, sie sucht eine ursprünglichere Auffassung
dessen, was das Sein ist, ans Licht zu bringen. Die Wahrheit des Seins, so
wie es von der Transzendentalphilosophie interpretiert wird, ist mehr als
Sein, anderes als Sein, geradezu gegenläufig zum alltäglichen Seinsver-
ständnis; und doch untrennbar von diesem.
Es befreit von seiner dogmatischer Erstarrung, indem es eine tie-
fere Erkenntnisschicht aufdeckt, die auf das Sein als Leben führt. Mit die-
ser Erkenntnis deckt die Wissenschaftslehre die wesentliche Grundlage
ihrer Einsicht auf. Das Leben ist die Wahrheit des Seins, und sie verwirk-
licht sich im lebendigen Sein unterschieden vom (objektivierten) Sein sub-
stantivischen und substantiellen Denkens. Von ihm auszugehen ist der
Grundirrtum aller dogmatischen Systeme, aus dem sie sich alle entwickelt
haben, vor und nach der transzendentalen Revolution, vor und nach Kant
und der Wissenschaftslehre und aus dem sie sich auch in Zukunft ent-
wickeln werden.
In eins mit dieser Einsicht des Seins oder, genauer gesagt, im
Namen seiner Wahrheit verzichtet die Wissenschaftslehre auf Erkenntnis-
ansprüche im Bereich (objektiven) Seins. So finden wir im zweiten Vor-
trag von 1807 die Anmerkung, daß das, was wir im Leben erleben, »das
eigentl. Seyn formaliter« (4v, 25-26) sei, aus dessen Verständnis sich
transzendentale Philosophie entfaltet. Und in diesem Sinne wird in dem
darauf folgenden dritten Vortrag, wie bereits erwähnt, die dritte Person,
also das »ist« der Kopula und der objektiven Erkenntnis kritisiert, weil in
dieser das Sein seines Lebens »beraubt« wird, das ihm rechtmäßig zusteht.
Wenn es nun darum geht, zur »grammatischen Bestimmung« (5v,
4) überzugehen, die dem Leben eigen ist, verwendet Fichte zwar wiede-
rum das »ist« der dritten Person des Verbs sein, löst dieses aber von seiner
Bedeutung als Kopula und reißt es von der objektiven Funktion los, wel-
che die Kopula nicht nur in den vom natürlichen Denken formulierten Ur-
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38 Einleitende Bemerkungen
Vita, vivere, esse, essentia. – Das Leben ist[,] weset, aktive, u. vir-
tualiter: u. das ist ist eben als Leben zu denken. Ein verbum acti-
vum, nicht neutrum. – Man kann das Leben eben nur leben (5v, 4-
6r, 5-6).
Zu sagen, daß das Leben »ist«, ist nur dann legitim, wenn dieses »ist« als
»weset«, als »wesen« des Seins verstanden, d.h. als das, was sich im Er-
scheinen entfaltet und als immer neu werdendes Hervorbringen der Phäno-
mene erfahren wird. Wesen drückt somit das Sich-zur-Erscheinung-Brin-
gen des Seins als Leben aus.
Das »weset« des Lebens ist und ist gleichzeitig auch nicht: Es
»ist« in dem Sinn, daß es sich im Erscheinen ins Unendliche fort selbst er-
neuert. Es »ist« aber auch »nicht«, wenn in dieser dritten Person, dem
»es« des »es ist«, ausschließlich das stille und tote Sein der nicht transzen-
dental-philosophischen Einstellung wahrgenommen wird. In diesem Fall
wird das »ist« der dritten Person seinem ursprünglichen Sinn entrissen und
somit anfällig für die Übernahme der Kopula-Funktion im prädikativen
Urteil, innerhalb dessen das Leben notwendigerweise als starr und »ge-
tödtet« (6r, 17), d.h. als Substantiv erscheint.
Darauf bauen nun auch die folgenden genaueren Angaben Fich-
tes: Wenn das Leben »ist« im Sinne von weset, dann heißt das, »aktive, u.
virtualiter« in den Formen bewußten Lebens auf immer neue und schöpfe-
rische Weise in Erscheinung zu treten, oder konkreter, sich als freies Han-
deln zu manifestieren.
Keine Tätigkeit ist verständlich ohne das, was sie erst möglich
macht, und das Vermögen der Tätigkeit wird als unerschöpflich, unbe-
grenzt und offen gegenüber der Unendlichkeit potentieller Entfaltungen
verstanden. Das Gegenteil würde bedeuten, daß sich das Leben prinzipiell
erschöpfen und dem eigenen Wesen gegenüber als Streben nach Selbstver-
wirklichung verschließen könnte. Freiheit würde sich nicht nur als unmög-
lich erweisen, sondern auch einem faktischen Zustand unterworfen, der,
einmal erreicht, sich unüberwindbar durchsetzte. Das wäre das Ende jeder
Schöpfungskraft, und in diesem Fall könnte die dogmatische Lehre der
Unfreiheit tatsächlich ihren Triumph feiern und der Determinismus seine
Herrschaft über das gesamte Sein ausbreiten.
Gaetano Rametta 39
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40 Einleitende Bemerkungen
»Das Ich ist freilich das absolute; aber nicht als Ich, sondern jen-
seit« (6r, 23-24).
Hier finden wir ein Wort, das an schon zuvor verwendete Aussagen Fich-
tes erinnert, nämlich daß das Ich die absolute Einheit »jenseit« »der Dis-
junktion« bezeichnet und deshalb notwendigerweise »nicht als Ich« (4v,
18-20) verstanden werden kann. Denn mit »als« wird ein Unterschied zum
Ausdruck gebracht. »Ich als Ich« ist das Ich, sofern es sich von anderem
(vom Nicht-ich) unterscheidet. Ich absolute hingegen »nicht als Ich« steht
in keinem Gegensatz. Erst jenseits des »Als« ist das Ich das Absolute. Ich
an sich (im Unterschied zum Ich für sich) ist das Ich unmittelbarer Mani-
festation des Lebens und ursprünglicher Einheit, in der und durch welche
sich die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen offenbart. Und so wird es
möglich, einerseits im Ich das Absolute zu finden, gleichzeitig aber eine
Identifikation des Absoluten mit dem Ich zu vermeiden, indem das Abso-
lute im Ich in Erscheinung tritt. Mit dem Unterschied von Ich an sich und
Ich als Ich, bekräftigt Fichte darüber hinaus, daß das Ich, gerade weil es
das Absolute »ist« »niemals« das Absolute »werden kann« (6r, 24-25).
Diese Überlegungen stehen nicht nur im Gegensatz zu Nietzsches:
»Werde, was du bist!«, sie scheinen darüber hinaus paradox, da sie be-
haupten, es sei unmöglich zu werden, was wir sind. Denn wie könnte das
Ich etwas sein, das nicht mit sich identisch ist?
Der Standpunkt der Wissenschaftslehre klärt sich, wenn wir uns
vor Augen führen, daß das ist, das dem Leben zugehört, ein weset bezeich-
net, ein »sich im Werden entfalten« der essentia. Wenn Fichte also be-
hauptet, das Ich »ist« das Absolute, dann bedeutet das, daß im Ich das Ab-
solute »weset«, oder daß das Leben im Ich und als Ich ein »Bild« von sich
bildet, in dem es sich auf stets frische Weise erscheint und immer wieder
neu erscheint: Und genau deshalb finden wir auch im Ich eine prinzipielle
Unendlichkeit des Lebens.
Gaetano Rametta 41
»Eben weil es niemals als Ich das absolute [...] werden kann, ist es
unendlich.« (6r, 24-25).
Das Ich enthält denn auch tatsächlich eine Art von Jenseitigkeit, die sich
aber in der Immanenz der Erscheinung im Erscheinen des Lebens selbst
hervorbringt. So zeigt das über sich Hinausragen des Werdens im Sein die
Unmöglichkeit, das Werden mittels des Seins abzuschließen. Und das Ich
erscheint gerade als der Ort, durch den das Erscheinen des Lebens sich
immer wieder ins Unendliche hinein ereignet.
Das bedeutet nun nicht, daß das Ich in die »schlechte Unendlich-
keit« einer über alle Begrenzung hinausstrebenden Sehnsucht projiziert
wird und erreichen zu wollen, was ihm prinzipiell entfliehen muß. Es han-
delt sich für das Ich nicht darum, ein »beschädigtes« Leben zu leben, stän-
dig unbefriedigt und im Streit mit sich selbst. Im Gegenteil, das Ich ist
schon im Leben, so wie umgekehrt das Leben durch das Ich erscheint und
»weset«. So kann Fichte schreiben:
[...] sein Träger aber, der Halter[,] die Wurzel in dieser Unend-
lichkeit des Abfließens ist sein Seyn jenseit der Ichheit (a.a.O., 25-
26).
Die Art des Seins, die das Leben im Ich erreicht, sehnt sich nicht nach et-
was Unerreichbarem, das über das Leben selbst hinausginge. Vielmehr er-
scheint das sich Hinaus-lehnen und -gehen über das, was tatsächlich ist,
als einzige Möglichkeit, in der das Leben weset und in der das Sein sich
als Leben vollzieht. Genau im Werden hin zur Unendlichkeit ist das Leben
des Ich schon immer verwirklicht, und es ist genau diese unabgeschlos-
sene und unabschließbare Projektion über sich selbst hinaus und in sich
selbst hinein, in der das Ich seine Verwurzelung im Leben bestätigt findet.
Hieraus erklärt sich auch die Schlußfolgerung Fichtes im oben zi-
tierten Abschnitt: Da und insofern das Leben im Ich »ist« (»weset«), sich
jedoch darin niemals erschöpft, (da das Leben ansonsten die Form der Ich-
heit zerstören würde), »ist es unendlich«, das heißt, ist es in die Form und
in den unbeschränkten Prozeß der Verwirklichung der Freiheit eingetreten.
Das »Seyn« (oder Leben) des Ich ist das, was das Ich unterstützt und trägt,
und das, was das Ich, (und somit auch die Wissenschaftslehre), vor dem
Nihilismus eines endlosen Erkenntnisstrebens schützt, das dazu verdammt
wäre, ins Nichts zu führen, weil es auf nichts beruht. Im Gebrauch der von
Fichte verwendeten Begriffe zeigt sich gerade, daß er versucht, das Ver-
wurzelt-sein des Ich in etwas vom Ich Unabhängigen auszudrücken, und
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42 Einleitende Bemerkungen
2. Darstellungslehre
Bis zu diesem Punkt haben wir versucht, einen Überblick über Fichtes Le-
benslehre in der WL-07 zu geben. Die Lehre vom Leben im Zusammen-
hang mit seiner Erscheinung wurde bisher aber noch nicht genetisch ent-
wickelt. Darauf weist Fichte in der zweiten Stunde hin, wenn er bemerkt,
daß mit der Bestimmung des »X« als Leben die »Reine Wahrheit [...] der
Urquell alles andern gefunden sei, jedoch noch nicht als Urquell« (4v, 29-
30). Das Leben wurde zwar als Wahrheit des Seins entdeckt; doch sein
genetisches Potential als transzendentaler Ursprung der wirklichen Be-
stimmungen seines Erscheinens im Wissen und für das erkennende Be-
wußtseins noch nicht erwiesen.
Im Zusammenhang der genetischen Entwicklung des Fichteschen
Gedankenganges wird das zunächst unbestimmte »X« des Absoluten nun
zu »A«, mit welcher Bezeichnung das Absolute als Leben und Urquell des
Sehen bezeichnet wird, dem alles Gesehene als projiziertes Sein ( = Er-
scheinendes oder Seiendes) oder Schema entstammt:
a – b (vgl. 4v).
bestimmt wurde, das Leben aber noch nicht in seiner Eigenschaft als Ur-
quell in seiner transzendentalen Produktivität und genetischen Funktion
thematisiert wurde. In der Absicht, die einzelnen Bestimmungen des Le-
bens in ihrem genetischen Ursprungs zu entfalten und zu rechtfertigen,
wendet sich Fichte nun dem argumentativ beweisenden und nicht mehr
nur phänomenologisch aufweisenden Charakter seiner Lehre zu. Es geht
also darum, den Blick auf die Dynamik dieser gedanklichen Bewegung zu
lenken, oder, noch besser: Es geht darum, transzendentalphilosophisch zu
rekonstruieren und einzusehen, was der natürlichen Denkweise als voraus-
zusetzende Gegebenheit erscheint und auch vom dogmatischen Denken
nicht anders gedacht werden kann, denn als Gegebenheit.
Um welche Bestimmungen handelt es sich bei diesen Überle-
gungen? Offensichtlich um die in einem disjunktiven Verhältnis stehenden
Momente a – b, mit denen Fichte die Differenz von Ich an sich (a) und Ich
als Ich (b), (vgl. unten, S. 14), bezeichnet. Die Transzendentalphilosophie
muß ihre Aufmerksamkeit als erstes auf die Entstehung dieser Disjunktion
richten und fragt sich auch tatsächlich: »woher entsteht nun die Disjunk-
tion«? (a.a.O., 31). Genau dieser Fragestellung folgt Fichte bei der Ent-
wicklung der Gedankengänge in der WL-07.
Die Wissenschaftslehre kann die Problemstellung ihres ersten An-
fangs allerdings nicht in dem Sinne verstehen oder gar lösen, daß sie sie
als ein Problem innerhalb eines geschlossenen Systems behandelt; fast
muß das Gegenteil angenommen werden, denn es geht ja um den ersten
Anfang der Entfaltung des Systems des Wissens oder der Erscheinung.
Das Problem des Anfangs läßt sich also nicht einfach auf eine begriffliche
Beziehung zweier Termini reduzieren. Die Wissenschaftslehre beginnt
vielmehr mit einer Hypothese, einer Annahme, und darüber hinaus mit ei-
ner Hypothese postulativen Charakters, d.h. mit einem Appell an die Frei-
heit des philosophisch Erkennenden, etwas Bestimmtes anzunehmen. In
der Lehre von 1807 wird das in folgenden Worten ausgedrückt:
»Setze das Leben sehe sich selbst [...] es werde dem Leben ein
Auge eingesezt« (a.a.O., 3 u. 5-6).
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44 Einleitende Bemerkungen
daß sie als gerechtfertigt gelten kann, und daß das Ergebnis der vollende-
ten Ableitung rückwirkend den Punkt bestätigt, von dem man ausgegan-
gen ist. Allerdings muß sich nun die Frage stellen: Warum wurde genau
dieser Ausgangspunkt für die Entwicklung der Wissenschaftslehre ge-
wählt, kein anderer?
Gleich zu Beginn befreit Fichte das transzendentale Studienfeld
von den Fragen nach Gründen. Und tatsächlich gibt er an, daß die Wissen-
schaftslehre »in Absicht der kategorischen Gewißheit ihrer Voraussetzung
an das Leben selber verweise« (a.a.O., 4-5). Dennoch erscheint es ange-
messen, noch einmal nachzufragen: Warum ist ein solcher Verweis »auf
das Leben selber« notwendig, wenn es darum geht, den Beginn des trans-
zendentalen Gedankengangs einzuleiten?
Um dieses »Warum«, das den (hypothetischen) Anfang der Wis-
senschaftslehre betrifft, angemessen verstehen zu können, muß man sich
darüber klar werden, daß weder das Ich noch das (erscheinende) Sein, (al-
so weder das »a« noch das »b« des obigen Schemas: a - b) ursprüngliche
methodische Ausgangspunkte für die Wissenschaftslehre sind, sondern
die unmittelbarsten »Bedingungen der Erscheinung des Lebens« (5r, 27).
Und als solche sind sie beide, - das Ich (a) wie das erscheinende Sein (b)
– sowohl Resultate der projizierenden Kraft des Lebens wie auch Be-
dingungen seiner »Sichtbarkeit« (a.a.O. 25). Denn ohne Sichtbarkeit des
Lebens gibt es kein Sehen; und ohne Sehen keine Erscheinung des Lebens.
Wenn das Leben keine Augen hätte, als Bedingung des Sehens, könnte es
auch nicht gesehen werden oder erscheinen.
Genau dieser Zusammenhang wird von Fichte bestätigt, wenn er
behauptet, daß das Sehen nicht nur Bedingung der Erscheinung des Le-
bens ist, sondern auch mit der Erscheinung selbst übereinstimmt und so-
mit die Art und Weise begründet, in der das Leben erscheint:
»Das Leben kann gar nicht anders erscheinen, und sich äußern,
denn als ein Sehen […] wenn das Leben erscheint, so muß es er-
scheinen als Sehen, u. kann gar nicht anders erscheinen« (11v, 29-
30 u. 34-35).
An diesem Punkt können wir feststellen, daß es uns gelungen ist, auf die
erste Frage zu antworten, warum der (hypothetische) Beginn der Wissen-
schaftslehre in der Forderung besteht, »dem Leben ein Auge einzusetzen«.
Denn ohne Auge könnte sich das Leben nicht erscheinen; während die Ne-
gation der Hypothese nicht nur, was augenfällig da ist, unmöglich machen
würde, sondern auch jede philosophischer Erkenntnis. Die an den Beginn
Gaetano Rametta 45
Tatsächlich haben wir, indem wir die Antwort auf die erste Frage formu-
lierten, gleichzeitig auch schon die Lösung der zweiten Frage zumindest
angeschnitten, warum die Wissenschaftslehre hinsichtlich der »kategori-
schen Gewißheit« ihrer Voraussetzung auf das Leben verweist. Denn die
sich auf das Sehen beziehende Problematik gründet in einer noch viel ur-
sprünglichere Frage, ob denn das Leben überhaupt erscheint.
Was bisher erklärt wurde, war, daß wenn das Leben erscheint, es
nicht anders kann als sehen: Aber erscheint das Leben denn wirklich? Und
wenn ja, wie verhält sich die Wissenschaftslehre zu dieser Tatsache? Und
darüber hinaus: Falls man auf diese Frage eine Antwort geben könnte,
hieße das etwa, die Erscheinung des Lebens sei erkenntnismäßig ableit-
bar, herleitbar, konstruierbar, ausgehend von etwas, das als Fundament,
als »Grundlage« für die Beantwortung der Frage dienen könnte? Verweist
also die Erscheinung auf etwas noch Ursprünglicheres als sie selbst? Oder
besser, (denn schließlich ist das Ursprüngliche in der Erscheinung das Le-
ben, weil nur es die Fähigkeit hat, zu erscheinen): Ist die Beziehung zwi-
schen dem Erscheinen und seinem Ursprung im Leben faßbar in Termini,
die eine Ableitung (im Sinne einer Forschung nach Ursachen) oder eine
Erklärung (im Sinne einer Suche von Gründen) ermöglichen?
Von den Antworten auf diese Vielzahl von Fragen hängt der Cha-
rakter des zu konstruierenden Systems ab: insbesondere, ob es auf Freiheit
und Autonomie oder auf Abhängigkeit und Zwang beruht, oder, ob es
sich als transzendental-genetisch oder als dogmatisch setzend darstellt.
In Fichtes Antwort auf die Fragen nach dem Erscheinen des Le-
bens finden wir gleichzeitig auch die nach dem Sinn des Rückverweises
auf »das Leben selbst«, den wir in der Wissenschaftslehre als »kategori-
sche Gewißheit« ihrer Voraussetzung wiederfinden. Auf sie bezieht sich
Fichte, wenn er schreibt:
»Ob es [scil. das »Eins« des Lebens, G.R.] erscheine; siehe hin:
kann nur unmittelbar erfaßt werden. Mittelbar es erfassen wollen,
heißt eben: es nicht erfaßen wollen, das Leben – sondern den Tod
wollen, u. aus ihm etwa, so Gott will, ein Leben heraus erkünsteln«
(11v, 6-12r, 7-9).
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46 Einleitende Bemerkungen
Vor allem muß dabei bedacht werden, daß der zu untersuchende Abschnitt
eine Kritik Fichtes am »Begriff« impliziert, das heißt, eine Kritik an dem
Anspruch, theoretisch ableiten zu können, was Prinzip jeder Deduktion ist,
und deshalb, unableitbar, immer schon in ihr impliziert ist. Anders gesagt:
Hier geht es darum, wie Fichte die Beziehung von Begriff und Leben deu-
tet. Die Tatsache, daß das Leben erscheint, kann man weder auf begriff-
lichem Wege begründen, noch auf theoretischer Basis erklären; und um-
gekehrt, gerade weil das Faktum, daß das Leben erscheint, jeder mög-
lichen Deduktion entflieht, ist es nicht reduzierbar auf eine theoretische
Setzung oder »logische Folge«, auf welche es eine jede Theorie zurückzu-
führen scheint.
Das von Fichte erörterte »Sehen« und die mit ihm verbundene
Problematik taucht übrigens auch noch in einem anderen Zusammenhang
auf und auch hier im imperativen Modus des: »Siehe hin!«2. Dabei geht es
allerdings nicht um das »Daß«, also um das Faktum des Erscheinens, son-
dern um das »Wie« oder darum, auf welche Weise sich das Sehens und
seine Erscheinung manifestiert. In beiden Fällen, sowohl im Hinblick auf
das »Daß« als auch im Hinblick auf das »Wie« des Erscheinens des Le-
bens in seinem wirklichen und konkreten Gehalt, geht es dabei um das-
selbe Thema, um die Unmöglichkeit, weder das »Daß«, noch das »Wie«
des Erscheinens auf logische Weise bestimmen zu können.
In beiden Fällen geht es Fichte also um die selbe Idee, daß das Er-
scheinen des Lebens und somit das Leben als Ursprung aller Erscheinung
nicht auf der Ebene theoretischer Reflexion und Erkenntnis erfaßt und
durchdrungen werden kann, sondern, daß der Zugang zum ursprünglichen
Leben im Leben selbst liegt, und das heißt konkreter, im spontanen Le-
bensvollzug als freien, allein aus sich bestimmten Handeln. In der Wissen-
schaftslehre geht es also weder um »Lebensphilosophie« noch um »Exis-
tenzphilosophie«; sondern um eine Ontologie »ethischer« Erfahrung in
einem Sinne, der im Folgenden noch genauer dargestellt werden soll.
2 Vgl. WL-07, 3r 19-21: «Das was erscheint ist das Ewige [...] Wie erscheint es: da
siehe du hin, gieb dich dem Strome des Lebens«.
Gaetano Rametta 47
»ich sage gelebt, [-] nicht etwa nur erlebt im Erfahren – d.i. ge-
than, u. gehandelt« (a.a.O.).
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48 Einleitende Bemerkungen
3. Weisheitslehre
Nachdem wir festgestellt haben, daß das Leben erscheint, stellt sich nun
konkreter die Frage nach der Art seines Erscheinens; nach dem »Wie«.
Zunächst müssen wir negativ feststellen: Wenn das »Wie« des Erschei-
nens des Lebens theoretisch ableitbar oder im voraus planbar wäre, gliche
unsere Existenz einer Fiktion. Die Bedeutung des »Ex« im Wort »Ex-
istenz« als Ausdruck ursprünglichen Entspringens würde dadurch nicht
nur gemindert, sondern sogar prinzipiell vernichtet. Das Leben würde als
fertig vor-gestellt erscheinen und somit als etwas schon Geschehenes.
Fichte scheint in der Frage: »Wie erscheint es?« (3r, 20) der
Trägheit nachzuspüren, der sich das philosophische Bewußtsein für allzu
lange Zeit hingegeben hatte. Tatsächlich suchte es oft eine vorgefertigte
Antwort, wo dies eigentlich gar nicht möglich war. Darauf gründet die
Antwort Fichtes, die eigentlich keine ist, wenn er sagt:
A, hier nun in der Bedeutung übersinnlicher Welt und x, d.h. die sinnliche
Welt, jede für sich, sind nicht die Wahrheit, vielmehr können sie nur dann
als deren Ausdruck gelten, wenn sich die Wahrheit in beiden zugleich
wieder findet. Der Begriff der Erscheinung, der sich auf diese Weise er-
gibt, bezieht das »x« der sinnlichen Welt auf sein genetisches Entspringen
aus »A«, der übersinnlichen. Und weil diese »bindende Einheit« beider
die Art und Weise bezeichnet, in welcher das Leben im Medium bewußten
und freien Handelns in Erscheinung tritt, läßt sich das Wie ihrer Bezie-
hung nicht im voraus bestimmen, und damit auch nicht, was dasjenige sein
wird, das im raum-zeitlichen Werden in Erscheinung tritt.
Der Verweis auf freie Selbstbesinnung, die sich aus der Interpre-
tation des Verhältnisses von A und x ergibt, zeigt zugleich auch die Gren-
ze der Darstellung auf, die von der Philosophie nicht überschritten werden
kann. Denn es handelt sich um die Thematisierung einer lebenspraktischen
Einsicht, die es ermöglicht, sich »im Bande beider« zu halten, in der eige-
nen Existenz und gleichzeitig in deren »Urquell«, der übersinnlichen Welt.
Dieser Einsicht, die das Leben des Ich in seinem ganzen Umfang um-
schließt und verklärt, gibt Fichte den Namen Weisheit. In ihr findet das
Gaetano Rametta 49
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50 Einleitende Bemerkungen
sinnlichen Welt, leben zu können; denn das liefe auf nichts weniger hin-
aus, als auf eine Verleugnung des Ursprungs phänomenalen Daseins.
Umgekehrt wird in der Weisheit der Einsicht das »lebendige
Band« zwischen A und x, der übersinnlichen und der sinnlichen Welt,
nicht einfach nur »gedacht« und auch nicht blindlings nur »erlebt«, denn
das würde bedeuten, es nicht zu leben, sondern zu vermissen und zu ver-
nichten, da beides zusammengehört »in einem Schlag«. Hier, in dieser
Einsicht, erreicht die Problematik der Beziehung von Philosophie und Le-
ben, Theorie und Praxis ihre maximale Verdichtung; aber eben deshalb
löst sich an diesem Punkt auch das durch den Gegensatz von Theorie und
Praxis dominierte Problem, und zwar in der Einsicht der ursprünglichen
Bindung von »A - x«, Fichtes Formel für die grundlegende Einheit von
Übersinnlichem und Sinnlichem, Praxis und Theorie, Leben und Philoso-
phie.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erkennen, daß die
WL-07 ihre philosophische Darstellung als eine systematisch folgende
Selbst-Entwertung der theoretischen »Bilder« und »Schemen« versteht,
mit deren Hilfe sie die Erscheinung des Lebens zu verstehen sucht, durch
welche sie aber auch gleichzeitig das Leben in seiner Ursprünglichkeit
verdeckt.
Allein auf diese Weise wird die Tatsache, daß das Absolute er-
scheint, in seiner Genesis »durchdrungen«, nicht aber als positives Resul-
tat eines Beweises aus vorausgesetzten Axiomen abgeleitet. Und gerade,
weil sich die Philosophie auf ihrer Spitze dem absoluten Leben entzieht,
kann sie sich wieder mit ihm vereinigen. Und die Einsicht in die ursprüng-
liche Verbindung von übersinnlichem und sinnlichen Sein (A – x) bedeu-
tet gleichzeitig auch eine Besinnung des Bewußtseins auf sich selbst, die
im Stande ist, das philosophierende Subjekt von Grund auf existentiell zu
verwandeln; und in diesem Sinne bezeichnet Fichte die Weisheit als Aus-
druck der Selbstbesinnung als das höchste Ziel und Ende der Wissen-
schaftslehre:
die W.L. [...] sieht [...] die Realität nicht in irgend einer Philoso-
phie, noch in ihr selber, sondern im Leben, u. so ist ihre Tochter,
um deren willen allein sie da ist, die Weißheit (11v, 20-23).
jjj
52 Einleitende Bemerkungen
wo auch Moral besteht. Aber die Begriffe von Handlung, Gesetz und Mo-
ralität erlangen einen neuen Sinn in Fichtes Denken. Freies Handeln ist
Handeln im Bewußtsein der Verbindung von A und x., der übersinnlichen
und der sinnlichen Welt, wobei es sich innerhalb der Immanenz dieser Im-
plikation bewegt, ohne sich anzumaßen, »A« oder »x« in theoretischer
Abstraktion erkenntnismäßig erschöpfen zu können. Handeln wird auf die-
se Weise nicht mehr durch bloße Ehrfurcht vor dem Gesetz in seiner ab-
strakten Formalität beherrscht, das Gegenteil ist der Fall: Das ethische
Handlung enthält und entwickelt all den Reichtum des Gehalts, der dem
Erscheinen der übersinnlichen Welt eigen ist. So verweist es nicht nur auf
die schöpferische Dimension der Erscheinung in ihrem Erscheinen, son-
dern auch auf die dem Bewußtsein innewohnende Tiefgründigkeit.
Gerade aber weil das lebendige Bewußtsein nicht mit einer theo-
retischen Konstruktion der Verbindung »A - x« identifiziert werden kann,
es sich vielmehr als das Medium begreift, in dem sich die Verbindung
zwischen übersinnlicher und sinnlicher Welt entfaltet und vollzieht, kann
das freie Handeln nicht ohne Spontaneität sein. Und eine solche Sponta-
neität kann weder auf Maximen, konform zum Imperativ, noch auf Zwang
gegenüber der Sinnlichkeit reduziert werden. Vielmehr muß eine solche
Spontaneität das ganze Dasein bewußter Existenz einbeziehen. In anderen
Worten: Ursprüngliches Handelns besteht in einem Bewußtsein, das die
»bindende Einheit« der »übersinnlichen und sinnlichen Welt« in der Tota-
lität ihrer Aspekte verwirklicht, und somit auch sich selbst im Ganzen sei-
nes Seins als handelnd ausdrückt.3
3 Fichtes Freiheitslehre muß innerhalb des Rahmens seiner Theorie der Fünffachheit
verstanden werden. In der WL-07 findet man folgendes Schema: »x = A + F + U + 5« (16.
Stunde, 24 v 10). Fichte meint damit, daß die Erscheinung des Lebens (= x) als Durchdrungenheit
der fünf verschiedenen Ebenen phänomenalen Daseins durch das absolut unteilbare Eins »reinen«
Lebens (= A) verstanden werden muß, durch welche die Freiheit (= F) des Bewußtseins ins
Unendliche fort (= U) das absolute Leben zur Erscheinung bringt. Diese Ebenen werden von
Fichte als Natur, Legalität, höhere Moralität, Religion und Philosophie im Sinne der
Wissenschaftslehre bezeichnet. Von entscheidender Bedeutung ist hier die Differenz zwischen
den Stufen von »Legalität« (2. Stufe) und »höherer Moralität« (3. Stufe), welche letztere Fichtes
Lehre des kreativen Handelns umfaßt. Auf dem Standpunkt der Wissenschaftslehre (5. Stufe) läßt
sich die 3. Stufe der »höheren Moralität« mit der religiösen Einsicht (4. Stufe) verbinden, nach
welcher der Ursprung der Schöpfungskraft des Ich »jenseits« des Ich liegt, d.h. im Übersinnli-
chen. Aus dem jeweils vorherrschenden Gesichtspunkt erscheinen alle übrigen von ihm mitbe-
stimmt, sodaß auch die Natur (1. Stufe) durch transzendentale Einsicht in die höchste Stufe des
Übersinnlichen integriert werden kann (vgl. H. Girndt, Die fünffache Sicht der Natur im Denken
Fichtes, »Fichte-Studien«, Bd. 1 (1990), S. 108-120; und bezüglich der WL-07 vom Verf.,
Quintruplicità e individualità. La costruzione dell’io in WL 1807, »DAIMON. Revista de
Filosofía«, Bd. 9 (1994), S. 114-134).
Gaetano Rametta 53
4. Ich-Lehre
Gehen wir also davon aus, daß das Leben erscheint, und daß es, um zu er-
scheinen, sehen muß, dann geht es nun darum, die Aufmerksamkeit auf
die innere Struktur des Sehens selbst zu lenken.
Wie wir bereits beobachtet hatten, gibt es kein Sehen ohne Spal-
tung von Sehendem und Gesehenem, ohne Trennung des Ich (a), das sieht,
und des Objekts, das gesehen wird (b/Sein). Um zu sehen, ist es also nicht
nur notwendig, daß das Sehen, (auch wenn es in Einheit mit dem Leben
verbleibt), in einen Unterschied zum Leben tritt; sondern auch, daß das
Sehen, (obwohl als ein einziges Sehen bestehen bleibend), sich in ein Sub-
jekt, (mit dem Vermögen zu sehen), und ein Objekt (als vom Vermögen
zu sehen Gesehenes) spaltet, das im Vollzug dieses Vermögens gesehen
wird.
jjj
54 Einleitende Bemerkungen
barkeit, (im Sinne des sich zum Erscheinen Bringen des Lebens), die fakti-
schen Bedingungen auf transzendentale Weise herstellt (das x. als Dis-
junktion (a – b)), innerhalb derer sie sich schlußendlich selbst realisiert. Es
ist deshalb wichtig, den jeweils verschiedenen theoretischen Status zu be-
tonen, der dem Begriff »Bedingung« zukommt, wenn dieser entweder a.
und b. (Ich und Sein) als faktischen Bedingungen zugesprochen wird oder
demjenigen, das sie genetisch »hervorbringt« (Sichtbarkeit also als Ge-
samtheit der Implikation (A. - x.) und oberste Bedingung der Möglichkeit
des faktischen Sehens).
Um zusammenzufassen: Die Disjunktion (a – b) von Ich und Sein
ergibt sich notwendigerweise, angenommen, daß das Leben erscheint, in-
sofern das Leben, in Einheit mit seinem Erscheinen, die Bedingungen her-
stellt, die sein Erscheinen tatsächlich möglich machen, oder, negativ aus-
gedrückt: Ohne welche das Erscheinen tatsächlich nicht möglich und so-
mit nicht tout court wäre.
Wir haben nun aufgezeigt, daß die transzendentale Antwort auf
die Frage, ob das Leben denn erscheinen könne, ohne zu sehen, unbedingt
negativ ausfallen muß (ohne Sehen kein Erscheinen). Jetzt geht es darum
herauszufinden, unter welchen Bedingungen das Sehen steht.
Angenommen also, das Leben sähe sich selbst, welches sind dann
die Bedingungen seines sich selbst Sehens? Da sich das Leben nur selbst
sehen kann, wenn es das Sehen aufspaltet in (a – b), Ich und Sein, ist diese
Disjunktion die faktische Bedingung des Erscheinens des Lebens: Ohne
Disjunktion kein Sehen; ohne Sehen kein Erscheinen. Die Disjunktion von
Ich und Sein wird auf diese Weise in ihrer transzendentalen Notwen-
digkeit genetisch abgeleitet und gleichzeitig von ihrem Charakter als bloße
Tatsache entbunden: Sie geht von einer ursprünglichen Bedingung, die
nicht genetisch zu erfassen ist, zu einem transzendentalen »Erzeugnis« des
Erscheinens des Lebens über, das die (faktischen) Bedingungen der Mög-
lichkeit seines Erscheinens selbst erschafft.
Mit ihrem Vorgehen macht die Wissenschaftslehre nun klar, daß
im Erscheinen notwendigerweise auch das Ich eingeschlossen ist, sodaß
die Bedingungen der Möglichkeit des Erscheinens zu entdecken, gleichzei-
tig bedeutet, auch die Bedingungen der Genesis des Ich zu entdecken. Und
wirklich, nur wenn das Ich in die weiteste Bewegung einbezogen wird, mit
der sich das Absolute zum Erscheinen bringt, ist es tatsächlich möglich, es
in seiner Möglichkeit zu erklären (genauso wie es umgekehrt nur dann
möglich ist, das Ich in seiner Struktur zu entfalten, wenn man seine trans-
zendentale Genesis versteht).
jjj
56 Einleitende Bemerkungen
Mit Hilfe der Wissenschaftslehre können wir durch den »Satz des Grun-
des« als »Prinzip des Verstandes« die a-priori Bedingungen des Erschei-
nens verstehen. In eins damit verstehen wir auch, daß die genetische Ab-
leitung nicht die Tatsache schaffen kann, daß das Leben erscheint. Somit
ist die transzendentale Genesis des Ich gleichzeitig auch die Demons-
tration seiner Unableitbarkeit, was seine wirkliche Existenz betrifft. Auf
diese Weise begreifen wir durch die Wissenschaftslehre die Unbegreif-
lichkeit des Erscheinens (und somit des Ich), auf vernünftige Weise.
Einmal bei der Disjunktion (a – b) angekommen, hat die Wissen-
schaftslehre die genetische Deduktion der Bedingungen der Erscheinung
vollendet. Mit der Erklärung der Disjunktion als Resultat der »Sichtbar-
keit« wird sie als Tatsache begriffen, über die hinauszugehen nicht mehr
möglich ist.
Die Wissenschaftslehre kann sich jedoch nicht auf diese Ablei-
tung der Unableitbarkeit der Disjunktion (a – b), von Ich und Sein, be-
schränken. Im Gegenteil, gerade weil sich die kategorische Gewißheit ih-
rer Vorraussetzung im Resultat jener Genesis von Ich und Sein bestätigt
sieht, ist es notwendig, daß das Erscheinen die Möglichkeit mit sich
bringt, sich selbst im Licht der Implikation zu sehen, die es an das Prinzip
= A. bindet; oder, anders ausgedrückt: daß es sich nicht nur als Selbstbe-
wußtsein widerspiegeln, sondern als Reflexion auf seine eigene Reflexion
realisieren kann, das heißt, im Gewand der Wissenschaftslehre. Nur so
kann das Leben tatsächlich dahin gelangen, sich selbst vollständig zu se-
hen; nur so kann das Selbstbewußtsein sich selbst erneut mit dem Prinzip
verbinden, aus dem es entspringt; nur so kann schließlich die Wissen-
schaftslehre zu einer Selbstbesinnung auf die eigenen, konstruktiven Vor-
gänge gelangen und die Einheit mit dem Leben wieder herstellen, aus dem
sie entstammt.
Aus alle dem ergibt sich die Notwendigkeit, nicht bei der Dis-
junktion von (a. – b.), Ich und Sein zu verharren, sondern von eben dieser
Gaetano Rametta 57
Es sieht sich, heißt eben; es schaut hin ein Ich (5r, 22-23).
Das »sich«, in dem das Leben sich selbst sieht, kann nichts anderes sein
als ein Subjekt mit der Fähigkeit zu Sehen, da sich das Leben ansonsten
als blind sehen würde, oder, anders ausgedrückt: Das Leben, das sieht,
würde sich selbst als etwas sehen, das nicht sieht, es würde sich also mit
einer Eigenschaft sehen, die im Gegensatz zu der steht, die es der Hypo-
these nach innehat. Das Leben muß sich also, um sich selbst zu sehen, als
Ich sehen, d.h. als Subjekt mit dem Vermögen zu sehen. Das Ich ist also
der Ort, an dem das Leben seiner selbst als sehendes Leben inne wird.
Da das Leben, um sich selbst zu sehen, sich in seiner Eigenschaft
als Ich sehen muß, kann es sich nicht im Vollzug des Sehens sehen. Da-
durch, daß es sich als das sieht, was es zu sehen im Stande ist, trennt es
sich in ein Subjekt, das sieht, und in ein Objekt, das gesehen wird. Wir ha-
ben hier also eine Bewegung, die wir schon zuvor dargestellt hatten, und
die Fichte in folgenden Worten zusammenfaßt:
es sieht sich als sehen; heißt eben; es schaut sich an als absolute
hinsehend ein Objekt, ein Seyn! (a.a.O., 23-24).
So geht das »Sein« als Ergebnis seines projizierenden Charakters aus dem
Sehens hervor. Damit das Leben sich sehen kann, muß es sich notwendi-
gerweise in sehendes Subjekt und gesehenes Objekt auseinanderlegen und
die Aktivität des Sehens auf eine Seite der Disjunktion verlegen, (d.h. auf
die Seite des Ich), der gleichzeitig ein Etwas, das dieses Sehen sieht, ent-
sprechen muß. Das Ich und das Sein erscheinen somit als Bedingungen
sowohl der Verwirklichung des Sehensvermögens des Lebens als auch der
Bestätigung der Hypothese, von der die Wissenschaftslehre ausgeht, und
auf Grund welcher das Leben sich für sich selbst sichtbar macht.
jjj
58 Einleitende Bemerkungen
indem es sich bis in seine Wurzel erblikt als blosses Sehen, in dem
es abgesondert hat, so verschwindet ihm im Sehen das Leben
(a.a.O., 32-33).
In seinem Sehen und Sich-sehen als Sehen ist das Leben somit dürftiger
geworden, da es sich nun nicht mehr in sich selber findet, sondern nur
noch außerhalb seiner selbst, auf objektivierte Weise. Weil aber trotzdem
das Ich die Einheit von Leben und Sehen ist, ruft das Verschwinden des
Lebens im Sehen notwendigerweise eine der vorherigen Bewegung entge-
gengesetzte hervor, also eine Bewegung, die in Richtung der Wiederver-
einigung des Lebens mit dem Sehen geht. Aber weil es sich dabei um ei-
nen Prozeß handelt, der sich einer Ausschließung entgegenstellt, stellt
auch er sich in einseitiger Form dar. Die Wiedervereinigung des Lebens
korrespondiert also der Ausschließung des Lebens vom Sehen: Das Ich,
beobachtet Fichte, »muß leben, u. sucht daßelbe wieder auf, aber sodann
verschwindet ihm die Klarheit« (5r, 34-35).
Gaetano Rametta 59
Konkreter bedeutet das, die Einheit von Leben und Sehen, die für
das Ich grundlegend ist, so zu denken, daß sie sich im Gegensatz des theo-
retischen Bereichs (des Sehens) und des praktischen (des Handelns) als
Einheit darstellt und erhält. Bezogen auf dieses Ziel verwendet Fichte den
Begriff »Wechsel«. Wechsel taucht als der entscheidende Begriff auf, der
das »Wie« der Vereinigung bezeichnet, die sich zwischen dem Ich und
dem Prinzip des Lebens herstellt.
Da das Ich nämlich die Einheit von Leben und Sehen repräsen-
tiert, wendet sich das Ich im Sehen, welches das Leben verschwinden läßt,
notwendigerweise der Suche nach eben diesem Leben zu, welches in die-
ser Einheit ja nicht fehlen darf. Umgekehrt ist es so, daß, weil sich die
Einheit mit dem Leben eben auf Kosten des Sehens realisiert, das Ich im
Leben erneut dazu zurückkehrt, die »Klarheit« zu suchen. Weil sich die
Beziehungen von Leben und Sehen innerhalb eines Wechsels entfalten,
der ihren Gegensatz bewahrt, (also nicht anstrebt, ihn zu überwinden oder
gar zu vernichten), verwirklicht sich die Einheit beider Momente (und so-
mit das Ich selbst) in der immer erneuten Wiederherstellung der Spannung
zwischen den Beziehungsmomenten A – x, (Übersinnlichem und Sinnli-
chem), a – b, (Ich und Sein), Sehen und Leben, (theoretischem und prak-
tischen Dasein). Und umgekehrt: Gerade weil die Einheit sich im Inneren
dieses Gegensatzes darstellt und erhält, nimmt sie die Form des Wechsels
an. Und da dieser Wechsel, in der Realisierung der Einheit, gleichzeitig
auch wieder zu einer Wiederherstellung der Ausschließung und des Ge-
gensatzes führt, kann das Streben des Ich nie ein Ende haben, es ist unend-
lich. Die Unendlichkeit, die das Leben im Erscheinen erreicht, ist daher
eine »vermittelte«, aber nur in dem Sinn, daß sie sich »durch« den nie en-
denden Wechsel realisiert, der sich innerhalb des Ich zwischen theore-
tischer und praktischer Tätigkeit entwickelt.
Diese Eigentümlichkeit der Wiedervereinigung mit dem Prinzip,
die in der abstrakten, (weil theoretischen) Erkenntnis der Wissenschafts-
lehre erreicht wurde, erlaubt es nicht, sie mit der das wirkliche und kon-
krete Bewußtsein konstituierenden Selbstbesinnung und Selbstbestim-
mung gleich zu setzen : Die Wissenschaftslehre schließt sich insofern vom
Leben aus, als sie ihre Einheit mit dem Prinzip = A., von dem sie ausge-
gangen ist, in Form einer theoretischen Erkenntnis, d.h. einer Abstraktion
vom konkreten Leben realisiert. Mit dieser Erkenntnis ist die Philosophie
aber auch in der Lage, sich wieder mit dem Leben zu vereinigen; aber in
einer Weise, die die Wiederherstellung der Einheit des Lebens (A) mit
dem Wissen des Unterschiedes übereinstimmen läßt, der sich zwischen
dem »reinen Leben« des Geistes in der philosophischen Erkenntnis und
jjj
60 Einleitende Bemerkungen
schiedes zwischen dem Leben und seinem Erscheinen ist. Und deshalb
gilt, daß das Ich immer hin »in die Unendlichkeit getrieben« ist (5r, 1-2).
Andererseits bedeutet das auch, daß das Ich zwar schon fast an-
wesend, aber in gewissem Sinne noch nicht ganz da ist. Das Ich ist Ich nur
dann, wenn es sich als Ich darstellt und begreift, nur dann, wenn es sich
selbst als Ich sieht. Die Wissenschaftslehre versteht somit die Einsicht, die
das Ich von sich selbst hat, als Einsicht der notwendigen (und somit un-
vermeidlichen) Undurchsichtigkeit, welche das Ich in Bezug auf sich
selbst nicht vermeiden kann. Die Unendlichkeit des Wechsels, aus dem
heraus die Undurchsichtigkeit immer wieder aufs Neue entspringt, ist das,
was das Ich zur Klarheit über sich selbst antreibt. Weil aber diese das Ich
als Selbstbewußtsein konstituiert, ist ein Ich ohne Klarheit ein Ich, das ei-
gentlich noch nicht da, sondern immer auf der Suche nach sich selbst ist,
ein Ich also auf dem Weg, Ich zu werden:
Und nun, was ist dieses, in dieser Form der Unendlichkeit betrach-
tete Ich, das noch nicht Ich ist, sondern es erst in seinem Sicher-
blicken wird, jenseit [...]« (5r, 3-4).
Das »Jenseits« im Ich ist aber gleichzeitig auch das, was das Ich dazu an-
treibt, seinen momentanen Status zu überschreiten, um neue »Gestalten«
von sich zu suchen und zu verwirklichen, in denen es sich dann selbst wie-
der anerkennen kann. Hier zeigt sich also die Notwendigkeit, daß sich das
Ich als praktisches Ich verwirklicht. Ohne Handlung gibt es keine Pro-
jektion von »Bildern«, aber ohne projizierende Tätigkeit, das heißt ohne
Objektivierung von sich selbst, ist auch kein Sehen möglich. Deshalb be-
antwortet Fichte die oben zitierte Frage auf folgende Weise:
[...] Ein ewiges sichtbar machen des Urlebens, also eben ein prak-
tisches Handeln, in welchem Gott erscheint (a.a.O., 4-6)5.
5 Für weitere Analysen ueber die WL-07 vgl. vom Verf. Le strutture speculative
della dottrina della scienza. Il pensiero di Fichte negli anni 1801-1807, Genova 1995. Darüber
auch den Aufsatz von M. Ivaldo, Transzendentale Lebenslehre. Zur Königsberger Wissenschafts-
lehre 1807, »Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch«, 22, 1996, S. 167-188. In Bezug auf
die späteren Fassungen der WL, vgl. endlich S. Furlani, L’ultimo Fichte. Il sistema della »Dott-
rina della scienza« negli anni 1810-1814, »Fichtiana«, Milano 2004. Die WL-07 ist auch in der
Reihe »Fichtiana« auf italienische Sprache vom Verf. herausgegeben worden (Milano 1995).
Herrn Prof. Dr. Helmut Girndt möchte ich für eine wesentliche Verbesserung der deutschen
Fassung herzlich danken.
jjj
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Prolegomena
111,3-118,18
1. und 2. Vorlesung
1. Vorlesung
In den ersten zwei Vorlesungen werden, wie Fichte anfangs der ersten
Vorlesungsstunde erklärt, die so genannten »Prolegomena« dargestellt.
Diese stellen Mittel zur Verfügung, wie man überhaupt in die Wissen-
schaftslehre eintreten kann, und zugleich gelten sie als der Eintrittsschritt
in die Wissenschaftslehre selbst.
Die Prolegomena sollen einen neuen Sinn, und zwar den trans-
zendentalen, schaffen, »dem eine neue Welt aufgehe«. (111,5) Die Wich-
tigkeit dieses neuen Sinnes besteht darin, daß nur durch ihn die Wissen-
schaftslehre verständlich wird. Wie Fichte ausdrücklich erklärt, müssen
nämlich »alle die Uebungen u. Vorbereitungen, die hier [...] vorgenom-
men werden, […] schon mit einem analogen Sinne aufgenommen werden«
(111,5-7). Und diesen transzendentalen Sinn kann man erst dadurch erlan-
gen, daß man schon im Voraus einen allgemeinen Begriff dessen besitzt,
was zu tun ist. Ziel der Prolegomena ist also, diesen neuen Sinn durch die
Darstellung eines allgemeinen Begriffs der Wissenschaftslehre zu vermit-
teln.
Der Begriff der Wissenschaftslehre wird seinerseits in zwei
Schritten mitgeteilt: durch die Definition der Aufgabe der WL und durch
die Aufzählung der Schritte zu ihrer Lösung. Die erste einleitende Vorle-
sung ist in sechs Punkte unterteilt und hat die Definition der Wissen-
66 Matteo D'Alfonso
Die korrekte Definition der Wissenschaftslehre kann man nach Fichte nir-
gendwo anders als in seinen Vorlesungen von ihm selbst erhalten, denn
keiner außer ihm besitze sie und außerdem – wie er bemerkt – würden sei-
ne veröffentlichten Schriften falsch interpretiert.
1.) »Zur Erzeugung eines vorläufigen Begriffs« ist zunächst der
Zweck der Wissenschaftslehre zu erklären, und dieser ist: »Zur Wahrheit
und Gewißheit, über Zweifel u. Ungewißheit hinaus zu kommen« (111,17-
18). Um diesen Zweck zu erlangen, muß man sich zunächst von dem na-
türlichen, gewöhnlichen Sehen oder Wissen befreien, denn gerade dieses
bringe eine Menge Irrtümer mit sich, und ein neues Sehen statt des alten
entwickeln. Die allererste vorläufige Definition der Wissenschaftslehre ist
also, daß sie diese neue »Kunst zu sehen« (111,23) lehrt.
In diesem Sinne ist die WL einerseits mit der Kantischen Kritik
verwandt – denn auch Kant hätte »eine Kritik eben des Sehens und Wis-
sens« gewollt – andererseits ist sie aber auch von dem kantischen Ergebnis
darin unterschieden, »daß diese Kritik nicht vollendet, u. in ihren Resulta-
ten niedergelegt [ist], sondern jeder ewig fort sein eigener Kritiker bleiben
muß« (111,25 -112,2). Die Bedeutung der Philosophie Kants besteht also
nicht in ihren Resultaten, sondern in der Aufforderung, sich selbst zu-
nächst zum Kritiker zu machen.
2. – 3.) Die Übung einer andauernden Kritik ist notwendig, weil
»das natürl. Sehen sich selbst innerlich u. durch sich selbst, dem Beobach-
ter unsichtbar auf eine gewiße Weise machte u. weiter bestimmte, so ver-
dekte es eben hierdurch sich selbst, u. seine wahre reine Gestalt. Es stünde
sich selbst im Wege«. (112, 3-6)
Jeder soll also in erster Person und für sich selbst die Kritik seine
gewöhnlichen Wissensart üben, um nicht unbemerkt in deren Irrtümern
verwickelt zu bleiben. Der Mangel des gewöhnlichen Wissens besteht dar-
in, daß es keine Gewißheit vermittelt kann.
1. und 2. Vorlesung (Prolegomena) 67
jjj
68 Matteo D'Alfonso
2. Vorlesung
Auf die Darstellung der Aufgabe der WL folgt in den Prolegomena eine
allgemeine Übersicht über den Weg, auf dem diese zu erledigen ist:
1) Die erste Schwierigkeit besteht darin, die Einheit ernsthaft zu
denken. Denn wenn man »Eins« sagt, muß man dabei zugleich bedenken,
daß man in der Tat eine Zweiheit hat; denn neben der gedachten Einheit
steht auch der sie denkende Gedanke. Die Quelle dieser Zweiheit, so Fich-
te, liege im Ich, das nun, um eine echte Einheit zu bekommen, als erstes
eliminiert werden sollte. Dazu setzt Fichte folgendes hinzu: »Wolltest Du
nun doch bei der ersten Voraussetzung, das Ich sey das Eine, bestehen, so
müsstest du dieselbe nur so beschränken, daß es nicht als Ich, in der Dis-
junktion, […] sondern jenseit derselben, als absolute Eins, es sey. Ich,
1. und 2. Vorlesung (Prolegomena) 69
eben dasselbe was zugleich auch Ich ist, bin als Nicht-Ich. das Eine«
(116,17-21)
Das »eigentliche Misverständnis der WL« bestehe in der falschen
Interpretation der Rolle, die sie dem Ich zuschreibe. Die Frage, was wäre
die gemeinsame Wurzel x von a-b, – d. h. von den scheinbar entgegenge-
setzten Polen Anschauendes und Angeschautes, – beantwortet Fichte mit
dem Begriff des »NichtBegriff[s] = Leben[s], eben de[s] lebendige[n] Le-
ben[s] in sich selbst, u. nicht de[s] Tod[es]« (116,24-25). Denn, wie Fichte
anschließend argumentiert, »im Leben bist du, u. das Leben ist deine ei-
gentl. Wurzel«, während jeder Begriff tot bleibt, und genauso tot gelten
dementsprechend sowohl der Begriff des Seyns als auch der des Ich.
2. – 3.) Wenn nun aber sich faktisch eine Disjunktion ergibt, wie
sie »in Mir: als noch nicht Ich, u. als Ich: u. das leztere auf eine doppelte
Weise« (116,31-117,1) vorkommt, dann kann das nur aus dem Grund sein,
»daß da außer dem Leben manches ist« (117,2).
Unter der Voraussetzung, daß das Leben sich selbst sieht, ist dem
Leben zunächst ein Auge einzusetzen, das in ihm vollkommen aufgeht;
»Leben im Lichte, Licht in das Leben: Absolute Konkretion u. Mischung,
Durchdringung, u. Aufgehen beider in einander« (117,9-10). Diese absolu-
te Durchdringung erlaubt aber kein sich Sehen des Lebens, denn dafür be-
nötigte man gerade das Gegenteil, sprich einen Abstand zwischen dem
Auge und dem Leben selbst.
4. – 5.) Mit dem vierten Punkt kommt man zur echten Beschrei-
bung des Gedankenwegs der Wissenschaftslehre als Kunst des Sehens.
Denn die Idee Fichtes ist: gerade um diesen nötigen Abstand zwischen
Leben und Sehen (bzw. Auge oder Licht) zu bekommen und dabei aber
der vorausgesetzten Einheit des Lebens treu zu bleiben, muß in dieser Dif-
ferenz zunächst das Sehen gesehen werden. Es muß also »sichtbar werden,
als bloßes dadurch von dem Leben zu unterscheidendes Leben«. Unter der
Voraussetzung des zweiten Punktes, daß das Leben sich selbst sieht, muß
diese Sichtbarkeit des Sehens möglich sein. Die Sichtbarmachung des Se-
hens fällt nun mit der Entfaltung aller Gesetze des Bewußtseins zusam-
men. Das Sehen zu sehen, heißt das faktische Funktionieren des Sehver-
mögens zu erklären, und dieses realisiert sich eben im Bewußtsein.
6) Aus dem Begriff des sich Sehens folgen nun eine Reihe wich-
tiger Gleichungen:
»Alles wirkliche Sehen projicirt, schaut hin: Es sieht sich, heißt
eben; es schaut hin ein Ich; es sieht sich als sehen; heißt eben; es schaut
sich an als absolute hinsehend ein Objekt, ein Seyn!« (117,22-24)
jjj
70 Matteo D'Alfonso
Auf diese Weise gewinnt man die Polarität des Ich-Objekts des
Anfangs, nun aber in ihrer Genesis, statt in ihrer bloßen Faktizität. Denn
nun kann man einsehen, daß »dieses Ich und dieses Seyn […] bloße Be-
dingungen und Erzeugnisse der Sichtbarkeit [sind und] nicht selbst Leben,
sondern nur Bedingungen der Erscheinung des Lebens, als Lebens, wie sie
denn auch ausdrüklich vom Leben, als Nichtleben unterschieden werden
sollen, drum unterscheidbar seyn müssen, drum in sich tragen den Tod«
(117,25-29).
Aus der Voraussetzung des sich Sehens des Lebens wurde also
der Anschein des Todes in der Vorstellung deduziert.
7) Vom »objektiven« Standpunkt geht Fichte nun zum »subjekti-
ven« über. Entsprechend seiner Beschreibung vollzieht die Sichtbarkeit
»das höhere[,] in welchem Leben, und Sehen verschmolzen sind«. Gerade
diese Verschmolzenheit, wenn sie sich weiter als Sehen betrachtet und
analysiert, hört auf, sich als Leben zu verstehen, und umgekehrt: in allem,
in dem sie sich nur faktisch als Leben verstehen kann, findet noch keine
Klarheit, Licht, statt und daher soll die Analyse weitergeführt werden: »u.
so ins Unendliche fort und so wird es denn durch den Wechsel mit sich
selbst, indem es ewig fort sich sichtbar, d. i. zum Ich macht, in die Unend-
lichkeit getrieben.« (117,35-118,2)
8) Es wird daher ein Noch-nicht-ich postuliert, das durch das
Sich-sichtbar-machen des Lebens, bzw. des Sehens unendlich zum Ich
gemacht wird: Diesen Prozeß nennt Fichte »ein ewiges sichtbar machen
des Urlebens, also eben ein praktisches Handeln in welchem Gott er-
scheint.« (118,5-7)
9) Der neunte und letzte Punkt der Prolegomena ist der weiteren
und wichtigen Aufforderung gewidmet, das Vorgetragene auf sich selbst
und auf die eigene Selbsterfahrung anzuwenden. Nur in sich selbst kann
man nämlich spüren, ob derjenige, »der diese Worte hört, Antheil an ihnen
habe oder nicht« (118,7). Im ersten Falle »quillt seine Thätigkeit immer-
fort schaffend das Neue«, (118, 10) und daher erweist er sich, sozusagen
in Fleisch und Blut, als Bild Gottes: denn »Das Gepräge des göttlichen ist
die fortdauernde Schöpfung aus nichts«. (118,17-18)
Erster Teil
118,19-129,3
3/ 4/ 5/ 6 / (7) Vorlesung
3. – 7. Vorlesung
Fichte kritisiert: Das Sein als Absolutes gesetzt, ist der Grundirrtum der
Philosophie. Er fordert, das Absolute als Leben zu bestimmen, wobei –
Fichte zufolge – allerdings die Gefahr besteht, daß das Leben selbst wie-
der nur als repräsentierender Begriff genommen wird, nicht als das leben-
dige Leben, sondern als totes Scheinleben. Fichte kommt es darauf an, das
Auge frei zu machen, d. h. die verstellenden Bestimmungen vom Leben
fernzuhalten. Diese bestehen beispielsweise darin, das Leben für ein »Et-
was« zu halten, für eine statische Substanz, dem nachträglich irgendwel-
che Bestimmungen zukommen. Fichte kritisiert damit eine an Aristoteles
orientierte Metaphysik und vor allem deren Anwendbarkeit im Bereich
des Absoluten. Ihr Fehler besteht nach Fichte darin: Wird das Leben als
das Absolute gedacht, schreibt sich das Denken selbst Absolutheit zu,
spricht sie es dem Absoluten zugleich ab. Auf diese Weise läßt sich das
Leben nach Fichte nicht konsistent denken. Es ist für ihn aber unverzicht-
bar, daß das Leben als das Absolute und als absolutes Prinzip der Philoso-
phie gedacht wird. Es ergibt sich für Fichte die paradoxe Situation: Das
Leben läßt sich nicht denken, läßt sich aber zugleich auch nicht überhaupt
nicht denken. Fichtes Folgerung: Das Leben kann nur gedacht werden als
nicht denkbar, woraus aber eine Bestimmung des Nicht-Denkbaren durch
das Denken resultiert.
74 Christoph Asmuth
gzgutgtg
3. bis 7. Vorlesung (Erster Teil) 75
zttgtgtgtgzu
76 Christoph Asmuth
sische Position, nach der das Bewußtsein aus dem Absoluten ›hervor-
quillt‹ (Schelling), in die transzendentalphilosophische, nach der die Be-
gründung des Bewußtseins durch das Absolute selbst nur und aus-
schließlich ›im‹ Wissen und für das Wissen statthaben kann.
gzgutgtg
Zweiter Teil
ddddd
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Helmut Girndt
129,5-145,30
8. bis 11. Vorlesung
8. Vorlesung1
(I.) Leben und Anschauen fallen in Eins und das sich im Anschauen äu-
ßernde Leben wird im Akt des Anschauens seinerseits nicht angeschaut.
Das Leben aber soll sich anschauen und zwar als Leben. (Also nicht un-
mittelbar). Dieses Als, die Form der Reflexion, spielt im Folgenden eine
Hauptrolle.
1 Auf den Seiten (125,15 – 129,3) rechtfertigt Fichte sein Verhalten in einem Streit
mit seinen Hörern, auf den als nicht zur Sache gehörig hier nicht eingegangen wird. Seine Recht-
fertigung bestand darin, daß er, Spinoza und Kant kritisierend, in seinen Vorträgen inhaltlich über
beide hinausgehend eine ganz neue Philosophie vorträgt. Deshalb sei eine Vorauszahlung des stu-
dentischen Honorars angemessen.
2 Zur Übersicht der in den folgenden Vorlesungen eingeführten Zeichen: Die hypo-
thetische Setzung, von der Fichte ausgeht, »Setzet, das Leben solle als unsichtbares Prinzip des
Sehens, ersehen, oder sichtbar gemacht werden.« S. 139 enthält mehrere unterscheidbare Momen-
te, die Fichte durch alphabetische Zeichen kenntlich macht: A Das Leben. Es ist Prinzip des Se-
hens oder das eigentlich Reale im Sehen. B Das Vermögen (des Lebens), ein Schema oder Sehen
(C) aus sich (in seiner Vollziehung) zu erzeugen. Das Sehende ist A in der Form B. C Das Sehen,
Schauen, An- oder Hinschauen oder Schematisieren als tatsächliche Äußerung des Lebens. D Das
im Sehen Ersehene. Das Sich-sehen des Sehens, Schema des Schematisierens: = Denken. E Das
Sichtbarmachen des ganzen Zusammenhanges: A bis E durch die Wissenschaftslehre („Schema
des Schemas des Schemas« 135,6), in der das Leben, das unsichtbare Prinzip des Sehens als
Grund der Erscheinung erkennbar wird. X Der Trieb als dasjenige, was das Vermögen des Sehens
= B vollzieht oder aktualisiert. („In diesem Vermögen soll ein primum movens der Vollziehung
seiner selbst gedacht werden: der Trieb«(S 194)
ddddd
80 Helmut Girndt
II. Blieben wir dabei stehen, würden wir das ursprüngliche Sehen, das An-
oder Hinschauen als solches zum Letztgrund des Schematismus und damit
zum absolut Realen machen. Aus diesem Sehen oder Anschauen können
wir nach Gesetzen des Sehens zwar die Welt des Seins (des Seienden)
aufbauen, aber das wäre nur eine (vorläufige) Ansicht der W.L.3
Soll dagegen das Leben sich als Leben sehen, so muß das Sehen
aus sich heraus ein zweites Schema gebären und zwar von sich selbst,
denn nur dann kann es sich verstehen als bloβes Schema im Unterschied
zur absoluten Realität.
III. Das Sehen als Äußerung des Lebens ist nicht absolute Realität, son-
dern nur etwas Mögliches, ein absolutes Vermögen, ein Schema aus sich
zu erzeugen. Mit diesem Bezug auf ein Vermögen sind wir über das abso-
lut Wirkliche zum Möglichen hinausgegangen. Es existiert also ein
(Seh)Vermögen (B) (aktualisiert durch X), und wenn dieses Vermögen
aktualisiert wird, entsteht ein Sehen (C) (und aus diesem ein Schema als
dessen Erzeugnis). Daraus ergibt sich, das Sehen ist »nicht Accidens u.
Produkt des Ich, sondern [das Sehen ist dem Ich vorgängig und] das Ich
Produkt des Sehens [und zwar] das erste, u. GrundSchema« (130,10-12).
IV. – Was macht es denn nun, daß durch den Vollzug des Vermögens (B)
ein wirkliches Sehen entsteht? – Der Grund für den Vollzug des Vermö-
gens, (das Verwirklichen jener Möglichkeit), müßte im Leben liegen als
der absoluten Realität. Und das Vermögen B würde, wenn es vollzogen
wird, zu einem wirklich gewordenen Leben (C) (im Unterschied zum ab-
3 dazu siehe 10. Vorl. 138,5: »Bisher sehen das erste…dabei kann es nicht bleiben!
gzgutgtg
8. bis 11. Vorlesung (Zweiter Teil) 81
soluten realen Leben = A). Was heißt also »wirklich«? Eine gewisse Be-
schränktheit und insofern ein Anhalten und Erlöschen des Lebens.
Resultat
B ist ein Vermögen, (die Möglichkeit eines Wirklichen). Das aber, was in
unserem wirklichen Wissen lebt, was demselben ungesehen und schlech-
terdings unsichtbar als dessen Wurzel zu Grunde liegt, ist das Reale zu
diesem Vermögen, das Leben, welches eben durch dieses Schema ersicht-
lich gemacht werden soll. Was in der Form des Sehens tatsächlich wirkt
und ist, ist das Reale A = Leben. Dieses Reale läßt sich gar nicht erkennen
und begreifen, sondern nur leben.« Gehe hin und lebe, so wird in dir ohne
Dein Zutun das Leben auch erscheinen!«
Alle anderen Systeme bleiben in einem Schema befangen, was sie
für die »Sache« ansehen. Sie sind jedoch nur Schatten- und Schemen- Phi-
losophien. Der Materialist sieht das Sein (das Insgesamt des Seienden, die
Welt), als das eigentlich Reale an, die halben Idealisten das Sehen. Das
höchste und absolute Schema des Realen aber ist das des Lebens, über das
auch die WL nicht hinaus kann. Doch die WL. wird über dessen schemati-
sche Natur nicht getäuscht. Sie sieht die Realität nicht in irgendeiner Phi-
zttgtgtgtgzu
82 Helmut Girndt
losophie, sondern im Leben selbst wirken und so ist die Weisheit, (und
nicht die Wissenschaft), ihre Tochter, um derentwillen allein sie da ist.
Ergänzend, um Mißverständnisse zu verhüten, sei festgestellt: Das
Leben kann gar nicht anders erscheinen und sich äußern, denn als Sehen.
Könnte es anders, wäre da Willkür. Also, wenn das Leben erscheint, so
muß es erscheinen als Sehen und kann gar nicht anders erscheinen. Nun
könnte jemand sagen: »ja wenn! Aber ist es denn überhaupt notwendig,
daß es erscheint?« Nein, allerdings nicht! – Denn »notwendig« heißt, es
gibt einen nötigenden Grund = X, der das Leben treibt in dem Vermögen
und der Form B. Dann aber wäre das Leben nicht von sich, aus sich durch
sich – also nicht das Leben, sondern X, der nötigende Grund, dieser müßte
dann das rechte Leben sein: X aber ist bestimmt und als bestimmt nicht
identisch mit dem absoluten Leben. Fragt man aber, ob das Leben erschei-
ne? So läßt sich nur antworten: Siehe hin – es kann nur unmittelbarer er-
faßt werden, durch Anschauung. Mittelbar (durch Begriffe) das Leben er-
fassen zu wollen, heißt: es nicht erfassen zu wollen, sondern den Tod.
9. Vorlesung
2. Wir gehen davon aus, daß das Leben sich anschauen soll als Leben.
Daß aufgrund dieser Forderung ein Schema oder eine Anschauung des
Lebens erscheint, ist schon gezeigt worden. Aber in dieser Anschauung
hat sich das Leben zwar (»an sich oder für uns«) geäußert, sich aber noch
nicht („für sich«) als Leben erkannt. Das Leben äußerte sich zwar im Akt
des Schematisierens (des An– oder Hinschauen), aber im unmittelbaren
Vollzug des Sehens blieb das Sehen selbst als Äußerung des Lebens un-
sichtbar. – Was darum in der Voraussetzung – das Leben solle sich als
Leben sehen – noch nicht erschöpft ist das »Als«. Es ist noch nicht im
Spiel.
gzgutgtg
8. bis 11. Vorlesung (Zweiter Teil) 83
Wie könnte dieses Defizit behoben werden und das Leben (für
sich) sichtbar werden? Nur dadurch, daß das Schema (Bild) als Schema
erkannt und verstanden würde. Etwas als Schema oder Bild erkennen be-
deutet, es von dem, was nicht Bild ist, d.h. dem absolut Realen, zu unter-
scheiden. Die Unterscheidung von Bild und Realität und die Beziehung
beider aufeinander kann ihrerseits aber nur innerhalb eines Bildes (D)
stattfinden. Im Bilde also werden das Bild (Schema) als Bild vom Leben
als absolute Realität unterschieden und nur im Bild (D) werden beide auf-
einander bezogen. Das Wissen von der Realität ist also schematischen Na-
tur, Wissen »liefert nur Schemen und Schatten; daraus keine Realität [er-
folgt]« (136, 15-16). Aller Irrtum entstammt daher dem Umstand, daß man
dem im Wissen (im Bild oder Schema) Erkannten eigene Realität verleiht,
und so im Schema befangen bleibt, so als wäre das in ihm Abgebildete
(angeschaute) die Realität selbst.
Ad 3. 1 Rückbesinnung auf das Sehen des Sehens. Das Sehen ist in sich
selbst ein Schematisieren. Und so ist das weiter bestimmte Sehen ein Se-
hen des Sehens oder ein Schema des Schemas. Damit gewinnen wir das
Sehen eines qualitativen Etwas, (D) wohingegen wir zuvor in C ein Sehen
überhaupt hatten, d.h. ein unbestimmtes Sehen. Nunmehr ist das Sehen als
Sehen von etwas ein bestimmtes Sehen.
3.1.1 In diesem bestimmten Schema des Schemas (d.h. im Be-
wußtwerden des Sehens als Äußerungsform des Lebens) (D) liegt implizit
das Schema überhaupt. Vom ihm als einem unbestimmten Sehen über-
haupt waren wir zunächst ausgegangen. Nachdem wir nun erkannt haben,
daß zum Schema das Schematisieren seiner selbst (als Schema) gehört,
bedürfen wir nun keines unbestimmten Schemas mehr, oder keines Sehens
überhaupt, wie anfänglich angenommen.
3.1.2 Denn das eigentlich Tragende in diesem Schema des Sche-
mas ist das Sehen selbst; also wenn dieses gesetzt oder aufgehoben ist, so
auch jenes: es gibt nur die Welt des Sehens. Und was ist das Sehende im
Sehen überhaupt? Es ist das Leben (A), das jetzt als ersehendes Leben (D)
im Kontrast zum ersehenen Sehen (ebenfalls D) oder als weiterer Bestim-
mung des Sehens (C ) in die Sicht gekommen ist. Dabei besteht kein Dua-
lismus zwischen Leben und Sehen. Und damit auch keine Gefahr der
Verwandlung der W.L. in einen Nihilismus, deren Sicht nichts Wirkliches
entspricht.
zttgtgtgtgzu
84 Helmut Girndt
3.1.3 Wir haben jetzt das Schema des Schema als notwendig ein-
gesehen, es gesetzt und beschrieben. Was sind denn nun wir, die Philoso-
phen oder die WL, indessen gewesen, und worin ist unser Leben aufge-
gangen? – Unser Leben bestand in einem Schema vom Schema des Sche-
mas.
Da nun in allem Sehen das Leben das Sehende ist, vermöchten wird jenes
gar nicht zu sein, wenn nicht das Leben selbst in diese Form (der WL) ein-
träte. – Wie das möglich ist, kann allerdings erst dann erklärt werden,
wenn die WL sich selbst erklärt, d.h. ihr eigenes Schema schematisiert.
Hier sind wir die WL selber und unser freies Leben in ihr aufgegangen.
Ad 3.2 Wie ist ein solches Schema des Schemas möglich? Diese Frage ist
doppelsinnig.
Entweder
3.2.1 sie enthält die Frage: Ist es überhaupt möglich? Und darauf
erhalten wir die Antwort: unter der Voraussetzung, daß es ein Schema
gibt, muß ein solches Schema des Schemas sein; es ist darum notwendi-
gerweise wirklich und möglich zugleich; oder
3.2.2 die Frage, wie ist ein solches Schema des Schemas möglich,
enthält die weitere: wie, auf welche Weise, ist es möglich?
Das Schema entspringt dem Sehen. Sehen ist das Vollziehen des absoluten
Vermögens zu sehen, in dem das absoluten Leben sich äußert, und sowie
es zu diesem Vollzug kommt, ist das Sehen da. In der Unmittelbarkeit des
Anschauens bleibt dieser Prozeß allerdings unsichtbar und so das Sehen
sich selbst. Damit nun das Schema als bloßes Schema sichtbar werden
könne, müßte dieses Sehen seinerseits gesehen und in seinem Vollzug er-
griffen werden. Das könnte nur durch eine besondere Tätigkeit geschehen.
Allerdings durch keine reale, sondern durch eine ideale, durch die Tätig-
keit des Denkens (oder gedanklichen Reflektierens).
Um die Bedeutung dieser Überlegung ganz zu verstehen, bedarf
es einer Bemerkung!
Gibt es Mannigfaltigkeit im Wissen und in derselben Einheit, so
muß es eine feste Beziehung der Bilder zueinander geben und damit auch
eine Beziehung der Bilder von Bildern, oder Vorstellungen von Vorstel-
lungen. Z.B. die äußere wirkliche Welt ist nur Schema, Bild der inneren
sittlichen Welt und Mittel ihrer Gestaltung. Diese sittliche Welt wiederum
ist nur Schema des inneren und unmittelbar ewig unsichtbar bleibenden
Wesens des einen Lichts und dessen Lebensquelle, der Gottheit. Weiterhin
gzgutgtg
8. bis 11. Vorlesung (Zweiter Teil) 85
wird sich zeigen, daß das Schema des Schemas fünffacher Natur ist in ei-
ner Rücksicht und unendlich in einer anderen. Beides, Fünffachheit als
Unendlichkeit, sollen dabei in einem Gedanken vereint begriffen werden.
Mit der Einsicht in diesen Zusammenhang gewinnen Sie die ganze WL in
einem Blick.
10./11. Vorlesung
Von jetzt an konzentrieren wir uns darauf, daß es das Leben ist, das sich
im Sehen äußert.
Denn bisher war es das Sehen (Wissen), von dem wir ausgingen
und Sehen an sich bestand im Erzeugen bloßer Schemen. Wir wollen aber
über bloße Schemen hinaus zur Realität.
Im Blick auf die leitende Voraussetzung, daß das eigentlich Se-
hende im Sehen das Leben ist, stellt sich die Frage der folgenden Untersu-
chung: Kann das Leben in seinem unmittelbaren Prinzipsein des Sehens
selbst gesehen werden, sich auf der Tat ergreifen? – Die Antwort kann nur
negativ sein, denn im Bereich des Wissens bleibt es bei bloßen Schemen.
Ist das Leben das Sehende oder Prinzip des Sehens, so geht sein Prin-
zipsein im Sehen auf und ist darin verloren. Das Leben als unmittelbares
Prinzip des Sehens ist schlechthin unsichtbar.
So ist dem Sehen eine Grenze gesetzt, die es nicht überwinden
kann. Für uns kommt es deshalb darauf an, das Sehen in seinem Wesen zu
durchzudringen und uns so über die Welt daseiender Schemata zur wahren
Welt zu erheben. Darin, in der Einsicht in das Wesen des Sehens oder
Wissens, besteht das Geschäft der WL. Die jetzige Reflexion über die
Grenzen des Wissens ist daher eine auch Reflexion der Wissenschaftslehre
über sich selbst, ein sich selbst Verstehen derselben. Dabei handelt es sich
allerdings um einen methodischen Vorgriff. Denn an dieser Stelle sind und
leben wir noch die WL, und sollen noch nicht über sie hinaus zu einer Me-
tareflexion
»Setzet, das Leben solle als unsichtbares Prinzip des Sehens, erse-
hen, oder sichtbar gemacht werden!«
zttgtgtgtgzu
86 Helmut Girndt
Wie ist das möglich (139)? – Die methodische Forderung enthält eine
These, die ihre Erfüllung auszuschließen scheint. Einerseits heißt es, das
Leben ist unsichtbar, andererseits, das Leben solle sichtbar gemacht wer-
den. Genauer lautet die Forderung jedoch, daß das Leben als unsichtbares
Prinzip des Sehens sichtbar gemacht werden solle. Damit ist ausgeschlos-
sen, daß das Leben in der Form der Unmittelbarkeit des Sehens, in der
Anschauung, sichtbar gemacht werden solle. Es kann gar nicht im Sehen
überhaupt, d.h. in der Unmittelbarkeit des Anschauens, sichtbar gemacht
werden, denn es soll sichtbar werden »als« etwas. Etwas als etwas sichtbar
zu machen ist eine Forderung an das Denken. Denn nur das Denken kann
etwas als etwas zu sehen geben. Zudem lautet die methodische Forderung
nicht, das Leben schlechthin solle sichtbar gemacht werden, sondern das
Leben als etwas Unsichtbares und als Prinzip solle sichtbar werden. Un-
sichtbarkeit wie Prinzipsein sind aber keine Angelegenheit unmittelbaren
Ersehens, sondern vermittelndes Denkens. Zur Unmittelbarkeit des An-
schauens bleibt nur die Alternative der Mittelbarkeit des Denken: das Le-
ben soll also, statt unmittelbar, in der Form der Mittelbarkeit des Denkens
sichtbar gemacht werden.
gzgutgtg
8. bis 11. Vorlesung (Zweiter Teil) 87
zttgtgtgtgzu
88 Helmut Girndt
Wie bleibt das Leben im Sehen? Es bleibt als das, was schlechtweg und
ohne Sichbestimmung in jedem Sehensakt einfach ist. Denn das Leben,
das da sieht, das Prinzip, bleibt ewig unsichtbar. Alles Sichtbare ist Wei-
terbestimmtes, jedes etwas ist durch seinen Gegensatz aufgrund der Mit-
telbarkeit des Setzens, bestimmt, also Schema und nur Schema. Nur sche-
matisch kann das Leben sich als Gesehenes im Sehen fassen: Dabei ver-
wandelt sich das Leben zunächst in ein sich selbst Schematisieren, und zu-
folge dessen in ein Schema.
Sein im ursprünglichen und unbedingten Sinne des Wortes ist Le-
ben (vivere). Mit dem Ausdruck »ist« oder »Sein« verbinden wir aller-
dings zumeist eine stehende und feste Gestalt (vita). Der Grund dieser Fi-
xierung des Lebendigen ist das Schematisieren oder Hin- oder An-
schauens. In ihm tritt das Leben in die Form des Bedingtseins ein, wird
festgestellt und ist damit erloschen. Hingegen bleibt das Leben, das da
sieht, das Prinzip, seinerseits unsichtbar.
In dieser Verdeckung lebendiger Realität durch das Gesehene
liegt ein gewisser Grund der Erlesenheit des Lebens: es ist präsent in der
Anschauung, aber unsichtbar: und das was unmittelbar anschaubar er-
scheint, ist nur seine Hülle, mit deren Durchdringung die Realität erst
sichtbar wird, allerdings vielleicht wieder nur in Form einer anderen Hül-
le.
Das Leben als absolutes Insichsein bedarf keines Begründens.
Doch das Leben in seiner einzig möglichen Modifikation, die notwendig
ein Sehen ist, muß sich begründen, denn im Sehen hat es sich verloren.
Darin liegt ein doppelter Sinn: Teils, daß es das Leben selbst sei, das da
begründe; i. e. das begründende Leben; teils, daß dasselbe Leben auch
dasjenige sei, das da begründet werde. i. e. das begründete Leben.
In welcher seiner beiden möglichen Gestalten ist das Leben 1. das
Begründete und in welcher 2. das Begründende?
1. Offenbar nicht in der Gestalt des Lebens schlechtweg, denn in
dieser ruht es in sich selbst, sondern in der Gestalt des Sehens ist das Le-
ben das Begründete. In dieser Rücksicht ist es ja auch das Zufällige, wel-
ches auch nicht sein könnte, wodurch ganz allein die Begründung notwen-
dig wird.
gzgutgtg
8. bis 11. Vorlesung (Zweiter Teil) 89
zttgtgtgtgzu
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Reinhard Look
146,1-151,32
12. und 13. Vorlesung
12./13. Vorlesung
I. Meinem Beitrag möchte ich durch drei Thesen einen etwas allgemeine-
ren Rahmen geben. 1. Fichte begreift das Wissen, das Ich oder die auto-
nome Subjektivität nicht als eine »Säkularisierung«, sondern als eine Ma-
nifestation Gottes. 2. Er kennzeichnet die Reflexion, das Innere der Sub-
jektivität, nicht als ein auf sich selbst zurückgewendetes Vorstellen eines
individuellen Subjekts, sondern als eine Zurückwendung auf ihren Grund
in Gott als Absolutes. Sich-Manifestieren und Sich-Zurückwenden sind
dabei als immanentes Geschehen zu denken. 3. Mutatis mutandis und mit
aller Vorsicht gesagt, gilt diese – in einem ›theologischen‹ Sinn – geistige
Bestimmung von Subjektivität und Reflexion nicht nur für Fichte, sondern
für die Mehrheit der neuzeitlichen Philosophien insgesamt.
II. Im Mittelpunkt der folgenden Textpassage steht das Sehen des Sehens
oder das reflektierte Sehen. Diese Thematik schließt sich folgendermaßen
an den bisherigen Gedankengang an: Die Realität des Sehens oder Wis-
sens, so lautet die prinzipielle Einsicht Fichtes, beruht im absoluten Leben,
und umgekehrt erweist sich das Wissen als diejenige Form, in der das Le-
ben sich erscheint. Aufgabe der WL ist es im Grunde allein, dieses Grund-
verhältnis der Manifestation des absoluten Lebens im Wissen auf seine
notwendigen Bestimmungen hin zu durchdenken.
ddddd
92 Reinhard Look
Soll also das an sich unsichtbare Leben als Prinzip des Sehens ge-
dacht werden, dann müßte es »Princip eines solchen Sehens [sein], in wel-
chem es selber, als unmittelbar unsichtbares Princip des Sehens überhaupt,
ersehen würde.« (139,16-18) Das Sehen als solches unterliegt, weil es aus
der Freiheit des Lebens entspringt, der Zufälligkeit und daher der Not-
wendigkeit, sich allererst zu begründen. Um sich begründen zu können,
müßte das Sehen »gesehen, und als Sehen gesehen werden« (145,28).
Fichtes Grundgedanke des absoluten Verhältnisses von Leben und Sehen
zieht sich also in folgende Einsicht zusammen: Das Leben manifestiert
sich nur dann im Sehen, wenn das Sehen nicht allein weltschöpferische
Tätigkeit ist, sondern sich in dieser Tätigkeit reflektiert. Denn nur durch
diese Reflexivität ist es der Realität seines Grundes, (resp. seines schema-
tisierenden Charakters) eingedenk, und nur so wird im Sehen zugleich das
unsichtbare Prinzip des Sehens gesehen. Unableitbar ist, daß das Leben
sich manifestiert. Wenn es sich aber manifestiert, dann notwendig im Se-
hen oder Wissen. Denn allein die Reflexivität des Wissens ermöglicht, daß
das Leben in seiner Manifestation sich nicht von sich selbst trennt, son-
dern sich auf sich bezieht. Jede andere denkbare Äußerungsform des Le-
bens wäre keine Manifestation; denn zur Manifestation wird die Äußerung
nur, wenn sie sich als Manifestation erkennt.
III. Was heißt nun, fragt unsere Textpassage: das Sehen selbst wird gese-
hen? Fichtes Antwort lautet: das Sehen oder das Schema und das Sehen
des Sehens oder das Schema des Schemas sind vollkommen unabtrennbar
von einander, sie vollziehen sich »durchaus in einem Schlage« (146,11-
12). Die Begründung dieser Hauptthese unseres Abschnitts läßt sich wie
folgt rekonstruieren: 1. Wenn das absolute Leben sich bestimmt, d.h. er-
scheint, dann wird es notwendig ein Sehen. 2. Wenn es ein Sehen wird,
dann muß sich dieses Sehen um seiner Realität willen begründen. Fichte
hebt hervor, daß dieser Grund nicht als ein An-sich aufgefaßt werden
kann. Soll er das Prinzip des Wissens darstellen, dann muß er auch für das
Wissen sein. Der Grund liegt »im Wißen selber: = das Wißen begründet
sich: es ist in seinem Wesen ein sichbegründen.« (151,5-6) 3. Wenn das
Wissen sich begründet, dann muß es sich selbst wissen oder das Sehen
sich selbst sehen. Sehen und Sehen des Sehens verweisen also wechselsei-
tig aufeinander und sind voneinander unabtrennbar, und so kann das Le-
ben »sich selbst keinen Augenblick verlieren« (146,9). Die Manifestation
des Lebens im Sehen kann nur gedacht werden, wenn das Sehen sich
schlechthin reflektiert und sich dadurch im Leben begründet. Fichte sagt:
gzgutgtg
12./13. Vorlesung (Zweiter Teil) 93
»beides, oder vielmehr die lebendige Quelle dieser beiden, ist die Be-
stimmung, in welche das Leben, zum Sehen werdend, nothwendig eintritt«
(146,12-13). Manifestiert sich also das Leben im Sehen, dann vollzieht
sich dies im untrennbaren Zugleich des Sehens (von etwas) und dem Sich-
sehen dieses Sehens. Diese Einheit von und Gegenstands- und Selbst-
beziehung macht den konkreten Begriff von Vernunft aus.
In die traditionelle philosophische Sprache rückübersetzt, bedeu-
tet dies: Denken und Anschauung (Selbstbewuβtsein und unmittelbares
Bewuβtsein) sind voneinander untrennbar. Die lebendig-produktive An-
schauung macht sichtbar, sie konstituiert das Gesehene. Das Denken da-
gegen bringt das Mannigfaltige der Anschauung zur Einheit, es macht, daß
sich die Anschauung nicht im Angeschauten (in der Erscheinung) verliert.
Erst diese »Identität in der Zweiheit« (144,23) macht das Sehen zum Se-
hen. Dagegen wären weder das Denken noch die Anschauung für sich le-
bendig; die Anschauung nicht, weil sie die Erscheinung, in die sie sich
verliert, für das Reale halten müßte; das Denken oder die bloße Reflexion
nicht, weil sie keinen Gegenstand hätte und unschöpferisch in sich selbst
kreiste. Fichte deutet an, daß diese jetzt entwickelte produktiv-reflexive
Einheit, die »Identität des sehenden Sehens, u. des gesehenen Sehens«
(147,13), implizit die Grundform des Ich, »noch ohne expressum ego«
(147,14), darstellt.
zttgtgtgtgzu
94 Reinhard Look
kehrt heißen: »das Seyn kann nur seyn im Wissen, Produkt desselben, es
versteht sich wenn ein Wissen ist.« (148,24-25).
3. Den Grund des Wissens denkt Fichte als Leben. Entscheidend
ist nun aber, nicht ein Wort, das Sein, durch ein anderes, das Leben, zu
ersetzen, sondern einen Unterschied im Denken zu machen. Der besteht
hier vor allem darin, das Leben nicht wiederum zu vergegenständlichen,
sondern seinem substratlos-schöpferischen Charakter zu entsprechen. Das
Leben oder das Reale im Wissen, sagt Fichte, kann nur gelebt werden, und
damit sind keine diffusen Erlebnisse gemeint, sondern eine schöpferische
Praxis, »zwar auch mit Schematismus vermischt, aber doch ist da ein
Kern« (149,9-10). Sie besteht in einer reinen und selbstzweckhaften
Selbstbestimmung des Handelns, der gemäß die Welt zu formieren ist.
»Das Handeln, und zwar rein, ursprünglich und schöpferisch, nicht zufol-
ge irgend eines Seyns, sondern schlechthin um sein selbst Willen, und
nach sich bestimmend alles Seyn, ist das einzig wahre Reale.« (149,7-9).
Fichte stellt nun (cf. 149) heraus, daß dieses in den Grundzügen
skizzierte Wesen der WL nicht in einer anderen Philosophie, sondern nur
im Johannes-Evangelium eine Entsprechung findet. Diese Andeutung läßt
sich am besten durch die VI. Vorlesung der Anweisung zum seligen Leben
entschlüsseln, und zwar durch Fichtes Auslegung der ersten fünf Verse.
Diese enthalten seiner Auffassung zufolge das absolut Wahre und ewig
Gültige des Johannes-Evangeliums, im Unterschied zu dem, was nur auf
dem historischen Standpunkt Jesu und seiner Apostel notwendig war.
Die Verse 1, 1-3 lauten: »Im Anfang war das Wort, und das Wort
war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbige war im Anfang bei Gott.
Alle Dinge sind durch dasselbige gemacht, und ohne dasselbige ist nichts
gemacht, was gemacht ist.«
Fichte sieht in diesen Versen eine Absage an den Grundirrtum al-
ler falschen Metaphysik und Religionslehre, nämlich an den Schöpfungs-
gedanken. Positiv gewendet, erkennt er in der von Johannes ausgespro-
chenen anfänglichen Identität von Wort und Gott seine eigene Lehre vom
Dasein des absoluten Seins wieder: »Nachdem, ausser Gottes innerem und
in sich verborgenem Seyn, das wir zu denken vermögen, es auch noch
überdies da ist, was wir bloß factisch erfassen können, so ist es nothwen-
dig durch sein inneres und absolutes Wesen da: und sein, nur durch uns
von seinem Seyn unterschiedenes Daseyn, ist an sich und in ihm davon
nicht unterschieden, sondern dieses Daseyn ist ursprünglich, vor aller Zeit
und ohne alle Zeit, bei dem Seyn, unabtrennbar von dem Seyn, und selber
das Seyn« (SW 5, 480, GA I, 9, 119).
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12./13. Vorlesung (Zweiter Teil) 95
Weiter hebt er heraus, daß Johannes das Dasein eben als Logos,
d.h. als Wort, Vernunft oder Weisheit auffaßt. Das Dasein ist als nicht
bloß eine Äußerung Gottes, sondern seine sich selbst durchsichtige Mani-
festation. Insofern kommt der johanneische Logos mit der Auffassung
Fichtes überein, daß »das unmittelbare Daseyn Gottes nothwendig Be-
wußtseyn, theils seiner selbst, theils Gottes sey« (SW 5, 481, GA I, 9,
119). Schließlich faßt Fichte das Gemachtsein aller Dinge durch den Lo-
gos im Sinne seines produktiv-schöpferischen Wissensbegriffs auf. Mit
dem Wissen und seiner Ichform gleichbedeutend sei, »dass die Welt und
alle Dinge lediglich im Begriffe, in Johannes Worten, und als begriffene,
und bewusste, – als Gottes Sich-Aussprechen seiner selbst, – da sind; und
dass der Begriff, oder das Wort, ganz allein der Schöpfer der Welt über-
haupt [...] sey.« (SW 5, 481, GA I, 9, 119)
Was also 1. das Dasein als Manifestation des absoluten Seins be-
trifft, 2. die Bestimmung des Daseins als Wissen und 3. die Bestimmung
des Wissens als reine Produktivität, sieht Fichte in den ersten drei Versen
des Johannes-Evangeliums gewissermaßen eine faktische Darstellung des-
sen, was die WL genetisch deduziert.
Die Verse 4-5 lauten: »In ihm [dem Wort] war das Leben, und das
Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheinet in der Finster-
nis, und die Finsternis hat's nicht begriffen.«
Das Leben, das im Wort ist, versteht Fichte als den Grund alles
lebendigen Daseins, der aber als Grund unmittelbar verborgen ist. Der
verborgene Grund wird erst im Menschen zum Licht, und zwar durch sei-
ne vernünftige Reflexivität. »In ihm, diesem unmittelbaren göttlichen Da-
seyn, war das Leben, der tiefste Grund alles lebendigen, substanziellen,
ewig aber dem Blicke verborgen bleibenden, Daseyns; und dieses Leben
ward im wirklichen Menschen Licht, bewusste Reflexion« (SW 5, 481,
GA I, 9, 119). Insofern aber die Finsternis dieses in sie scheinende Licht
nicht begriffen hat, kann mit dem Licht nicht das natürliche Reflektieren
als solches gemeint sein. Mit dem johanneischen Licht kommt nur die Re-
flexion überein, die sich als Manifestation Gottes versteht, mit Fichte ge-
sagt: die schöpferische Reflexion, die aus ihrem absoluten Einheitspunkt
die Grundbestimmungen des Wissens und der gewußten Welt ableitet.
In der Entfaltung der Grundbestimmungen des Wissens sieht
Fichte freilich, wie aus der Anspielung auf Johannes in der WL 1807
ebenfalls hervorgeht, einen Unterschied. Johannes habe die Wissensform
nur im Allgemeinen dargestellt, der forschende Verstand dagegen gehe
ebenso ins Besondere – womit Fichte vorausweist auf die spätere Darstel-
lung der Fünffachheit und Unendlichkeit des Wissens.
zttgtgtgtgzu
96 Reinhard Look
gzgutgtg
Hans Georg von Manz
152,1-156,22
14. und 15. Vorlesung
14. Vorlesung
Im einzelnen:
1. »Das Sehen ist nothwendig ein sich begründen« (152,5). Dieser
Satz ist bereits in der 11. Stunde begründet worden (Resultat: 143,35; vgl.
a. 145,13: »Das Leben, in seiner einzig möglichen Modifikation, die
nothwendig ein Sehen ist, muß sich begründen«). Hier ist der Satz der
Ausgangspunkt für die folgenden Deduktionspunkte.
ddddd
98 Hans Georg von Manz
1 Fichte verweist an dieser Stelle ganz allgemein auf das »Grundgesetz« der Penta-
tomie, eine Struktur, die in verschiedenen Ausprägungen immer wieder in seinem System auf-
taucht. Kant, so Fichte, habe drei Kritiken geschrieben, denen drei Welten entsprechen. (Oder
meint Fichte hier doch nur zwei? Oder ist als dritte nicht die »Kritik der Urteilskraft« gemeint,
sondern die »Religion innerhalb der bloßen Vernunft«?) Die »Kritik der reinen Vernunft« ent-
spricht dem Bereich der theoretischen Erkenntnis, der gegenständlichen Welt, die »Kritik der
praktischen Vernunft« dem Bereich der sittlichen Prinzipien. Nach Fichte fehlen (bei Kant), um
auf die Gesamtzahl von fünf Bereichen zu kommen, drei: die reale sittliche Welt (die Welt des
Triebes, des Gefühls als der Bereich, der den Übergang von der sittlichen Idee, den sittlichen
Prinzipien, zur realen Welt darstellt), die religiöse und die wissenschaftliche.
gzgutgtg
14. und 15. Vorlesung (Zweiter Teil) 99
Faktizität liegt; dadurch bringt es ein Neues ins Spiel. Das Überführen des
Angeschauten durch das Denken ins Wissen (also Begreifen) ist ein neuer,
schöpferischer Akt.
6. Der Übergang von a zu b (gekennzeichnet durch »–«) ist die
Anschauung (vielleicht besser zu sagen: das Anschauen), a und b sind die
Anschauung und ihre Produkte (Anschauendes und Angeschautes). a – b
(Anschauung und ihrer Produkte) sind die Bedingung von A – B, wobei
der Übergang von A zu B das Denken darstellt, A und B seine Produkte
(Begreifendes und Begriffenes).
Fichte nennt die synthetische Einheit der Anschauung fünffach.
Wie ist dies zu verstehen? Anschauung (1) und ihre Produkte a – b, (2),
Denken (3) und seine Produkte A – B (4), dazu die (Selbst)Sichtbarkeit
des Denkens (5).
(Vgl. 153, 16–19). (Oder sind die Pole a, b, A, B, und deren Einheit ge-
meint?)
15. Vorlesung
Thema der 15. Stunde ist zum einen die Deduktion des Denkens als freies
schöpferisches Prinzip aus dem Leben. Anknüpfungspunkt ist die Aussage
aus der 14. Stunde: das Denken bzw. Begreifen ist ein neues Schaffen.
(»Das Denken ist ein neues Schaffen« [153,28]). Zum anderen geht es um
die Einheit von Anschauung und Denken, eine synthetische Einheit, die
wesentlicher Charakter der Ich-struktur ist. Das Ich wird abgeleitet als
»Urschema des Lebens«.
1. Diese »zweite neue Schöpfung« ist Begründen; dieses ist nur
möglich durch »Schöpfung aus Nichts« (155,25), es ist ein Schaffen, ein
schöpferischer Akt, der nur aus Freiheit erfolgen kann. Deshalb ist hier
Freiheit als notwendig anzusetzen; zugleich ist sie bedingt, nämlich da-
durch, daß sich das Leben zum Sehen bestimmt hat – was nicht notwendig
ist.
2. Fichte behauptet nun, daß dieses schöpferische Leben nicht nur
seinem Ergebnis nach zur Anschauung kommt, sondern daß das Prinzip
des schöpferischen Lebens eingesehen werden müsse. Der Grund dafür
liegt darin, daß, wenn einmal das Leben sich zum Sehen bestimmt hat,
diese weitere Bestimmung (das Begründen in Freiheit) notwendig mitge-
geben ist.
zttgtgtgtgzu
100 Hans Georg von Manz
gzgutgtg
Wilhelm Metz
157-161,5
16. und 17. Vorlesung
I.
Schon die Weise, wie diese 16. Vorlesung einsetzt – »4.) Gleich die weite-
re Anwendung zeigen« – läßt erkennen, daß Fichte den Gedankengang der
14. und 15. Vorlesung fortsetzt, auch wenn in der 16. Vorlesung ein neuer
Schritt zu machen ist. Fichte faßt den Punkt, bis zu dem wir gekommen
sind, folgendermaßen zusammen:
ddddd
102 Wilhelm Metz
Mit dem Sehen tritt notwendigerweise das Sich-Sehen ein, das sich in eine
synthetische Einheit der Anschauung, in eine Einheit von Anschauen und
Denken entfaltet. In dem folgenden Schema werden diejenigen Momente
unter einander geschrieben, die Fichte in einem notwendigen Zusammen-
hang erblickt:
Die Aufgabe, die der WL gestellt ist, lautet: das Leben nicht nur als den-
kendes Ich, sondern als Leben sichtbar werden zu lassen, das Leben selbst
zu sehen. Diese neue Weise des Sehens, das als ein Rückblick des sehen-
den Lebens auf sich als Leben charakterisiert werden kann, bezeichnet
Fichte mit dem Buchstaben x.
<---------------- <---------------
Leben ERSCHEINUNG WL
-----------------> --------------->
Die WL erkennt die Erscheinung als Erscheinung; auf diese Weise vermag
sie die Erscheinung zu durch-schauen und zum Leben zurückzukehren.
(vgl. die Trinitätsformel: Vater – Sohn – Geist.)
Die folgende Klammeranmerkung grenzt die WL nach zwei Sei-
ten von einem Wissen ab, das nicht zum Leben selbst durch- und zurück-
gzgutgtg
16. und 17. Vorlesung (Zweiter Teil) 103
1 Fichte bezieht sich hier nicht, ebensowenig wie an irgendeiner anderen Stelle
seines Werkes, auf Hegel. Ein Hegel-Bezug wird von den Herausgebern der Fichte-Gesamtausga-
be zwar immer wieder behauptet, konnte aber an keiner einzigen Stelle belegt werden.
zttgtgtgtgzu
104 Wilhelm Metz
Wir hätten demnach hier die folgende Struktur, die Fichte zurückweist: A
+ B – B = A. Denn da würde sich die Frage stellen lassen, warum wir
nicht einfach A = A ansetzen sollten. Warum überhaupt die Anschauung,
wenn ihr höchster Vollzug darin besteht, sich wegzuschauen? Warum
bleibt das Leben nicht direkt, ohne diesen Umweg über die Anschauung,
bei sich?
Der weitere Gedankengang zeigt, worin der Fehler einer solchen
Folgerung besteht:
gzgutgtg
16. und 17. Vorlesung (Zweiter Teil) 105
Die Rückkehr der Anschauung zum Leben läßt die Erscheinung nicht ein-
fach verschwinden, sondern hält sie – und das ist der springende Punkt –
als die von uns durch-blickte eigens fest.
Kurz: Die von Fichte gedachte Rückkehr (ins Leben) ist nicht die Reduk-
tion auf eine abstrakte Einheit, sondern höchster Punkt der freien Schöp-
ferkraft des Ich, die gerade darin – zuhöchst – erhalten bleibt.3
zttgtgtgtgzu
106 Wilhelm Metz
II.
»Nun ist das Leben schlechthin frei Sehen zu seyn: diese Bestim-
mung geht daher ins unendliche. Seine Freiheit, in der ersten Form
Eins bleibend, u. in dieser Einheit, da ja das Gesez dasselbe bleibt,
nur in der selbigen Gestalt zu wiederholend, ist in der letzten Un-
endlich x = A + F + U« (32-35) (U steht für Unendlichkeit).
gzgutgtg
16. und 17. Vorlesung (Zweiter Teil) 107
III.
4 Vgl. den berühmten Satz aus der Einleitung in Hegels Phänomenologie des
Geistes: »Sollte das Absolute durch das Werkzeug uns nur überhaupt nähergebracht werden, ohne
etwas an ihm zu verändern, wie etwa durch die Leimrute der Vogel, so würde es wohl, wenn es
nicht an und für sich schon bei uns wäre und sein wollte, dieser List spotten ...« (Suhrkamp-
Ausgabe, Frankfurt 1970f., Bd. 3, S. 69).
zttgtgtgtgzu
108 Wilhelm Metz
4. In diesem Zustand, in dem das Schaffende des Ich nicht sichtbar wird,
wird das Schema für die Sache selbst gehalten. Dies wird (auch nach der
Darstellung der publizierten Wissenschaftslehre) von Fichte als der Stand-
punkt des gewöhnlichen, sinnlichen Menschen charakterisiert.
5. Was hier das Leben und des weiteren das Schaffende im Ich
verdeckt, ist die Notwendigkeit. Sollte nun das (verdeckte und verwandel-
te) Leben wiederhergestellt werden, so könnte dies nur durch einen Akt
der Freiheit geschehen. Und dieser Akt der Freiheit ist die transzendentale
Reflexion, die im Jenenser System nicht selten als ein ›sich Losreißen
vom Zwange‹ charakterisiert worden ist.
Dieser letztere Gedanke verweist noch einmal auf den unlösbaren
Zusammenhang zwischen Wissen und Freiheit. Das Wissen, das in der
WL gesucht und gefunden wird, vermag sich schlechthin nur im Element
der Freiheit zu vollziehen. Denn es hat – anders als die notwendigen
Handlungen des menschlichen Geistes – die Freiheit zu seinem ›Geburts-
ort‹.
gzgutgtg
Hitoshi Minobe
161,6-164,3
18. Vorlesung
18. Vorlesung
In den vorigen Vorlesungen haben wir gesehen, daß sich das Leben in Se-
hen verwandelt, und daß das zu Sehen gewordene Leben unter dem Gesetz
des Schematismus steht. In dieser 18. Vorlesung richtet Fichte den Blick
aufs Neue auf das Problem, wie wir zu dieser Einsicht gekommen sind. Er
fragt nämlich, wie wir wissen können, daß der Schematismus, den wir im
Sehen finden, ein Schematismus des Lebens ist, oder, wie wir in dem
Schematismus des Sehens das Leben erblicken können.
Der Schematismus, der dem zu Sehen gewordenen Leben notwen-
dig ist, verdeckt seiner Natur nach das schaffende Leben und verführt uns,
das Schema für die Sache selbst zu halten. »Sollte er wegfallen so müste
diese Nothwendigkeit selber, als Nothwendigkeit, der das Leben eben, wie
es frei zum Sehen wird, frei sich hingibt, eingesehen werden« (161,9-11).
Wie ist dies möglich?
Es ist nach Fichte nur dadurch möglich, dass das sich unmittelbar
bestimmende sehende Leben sich weiter bestimmt. Diese weitere Selbst-
bestimmung ist »ein neues Sehen«, »Attention« oder »Reflexion«, mit
einem Wort: die transzendentale Reflexion.
In der unmittelbaren Bestimmung des Lebens, d. h. im Sehen als
sinnlicher Anschauung geht das Sehen in der Gesetzmäßigkeit auf. Die
ddddd
110 Hitoshi Minobe
»Diese Tafel: sind denn nun Ihrer eigenen Meinung nach so viele
Tafeln, als Personen hier sind. Nein nur soviel Vorstellungen; dies
also das persönliche. Die Tafel selbst denkt das Eine, die Welt an-
schauende, oder richtiger schaffende Ich« (163,19-21).
Es bleibt uns aber noch unklar: »wie ist die Identität des Ich, des absolut
im Sehen sich begründenden schöpferischen Lebens, in der Fünffachheit
u. Unendlichkeit seiner aus einander fallenden Bestimmungen möglich«
(163,9-11)? In folgenden Vorlesungen werden wir sehen, wie Fichte sich
mit diesem Problem auseinandersetzt.
gzgutgtg
Dritter Teil
ddddd
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dddd
Hitoshi Minobe
165-170, 29
19. und 20. Vorlesung
19. Vorlesung
ddddd
114 Hitoshi Minobe
gzgutgtg
19. bis 20. Vorlesung (Dritter Teil) 115
Die Lehre Fichtes vom Trieb und Schema steht allerdings unter einem
grundlegenden methodischen Vorbehalt, der an dieser Stelle lediglich in
einem unscheinbaren Absatz, S. 166, zur Sprache kommt.
20. Vorlesung
zttgtgtgtgzu
116 Hitoshi Minobe
Wir haben den Trieb zuvor hypothetisch gesetzt. Wenn seine Existenz
aber allein daran hinge, wäre er nicht wahrhaft gedacht. Denn was im ab-
soluten Sein Gottes ist, wie der Trieb, das muß eben wahrhaftig und in der
Tat sein und kann nicht nicht sein. Der Trieb muß deshalb lebendig sein 1.
weil das Absolute ein lebendiges Sein ist und kein totes Sein in es eintre-
ten kann 2. weil er ein Trieb Gottes ist, was etwas in sich Lebendiges,
Treibendes, aus sich, von sich und durch sich anzeigt. (169,14ff)
Der Trieb ist lebendig an und in Gott. Wie verhält es sich nun mit
dem Getriebensein Gottes? Der Trieb geht zwar auf die Darstellung des
ganzen Wesens Gottes, dennoch bleibt er nur Trieb, ohne alle Kausalität.
Deshalb tritt Gottes inneres Wesen auch nicht in das Sein des Triebes ein.
Aus dem Trieb folgt keine Realität. So kann man das Sein des Triebes, das
zu keiner Realität führt, zu Recht nennen ein Sein »außerhalb« des realen
Sein Gottes: – eine Äußerung desselben oder ein Akzidenz Gottes. Es ist
aber ein Akzidens, das »keineswegs etwa mit blinder Willkür, noch auch
durch äußere außer ihm liegende Nothwendigkeit, sondern zufolge der in-
neren ewig verborgen bleibenden Nothwendigkeit seines Wesens«
(169,29ff) ist. Es ist das einzige Akzidens Gottes.
Der Trieb hat aber seinerseits eine »reales, in sich selbst ge-
schloßnes, u. absolutes Sein und Leben« (170,1f), weil das Sein Gottes
ganz von ihm ausgeschlossen ist, und er sich auch selber vom göttlichen
Sein ausschließt und verschließt. Dieses Sein und Leben des Triebes als
solchen ist nach Fichte eben Sehen, Schematisieren oder »sich bewußt
seyn des Triebes« (170,11f). Denn das, was das Leben des Triebes bringt,
d.h. das Getriebene ist nichts als ein bloß Gesehenes, ein Schema oder ein
Bewußtsein, das in sich keine Realität hat. Das Sehen ist also an und in
Gott, insofern es als lebendiger Trieb innerlich göttliches Leben selbst
lebt. Insofern es aber in seinem Ausfluß als Getriebenes ist, ist es im Ver-
hältnis zu sich selbst befangen und somit ist seine Rückkehr zum göttli-
chen Leben ausgeschlossen.
Rückblick: Wie ist nun das Argument für die Existenz des Triebes
und seine Seinsweise geführt worden? Der Trieb ist ein lebendiges Sein,
weil er ein Trieb in Gott ist. Aber weil er bloßer Trieb ohne Kausalität ist,
ist er ohne allen realen Inhalt. Der Trieb bringt nur ein bloßes Bild, Sche-
ma oder Wissen des Seins hervor. Im Trieb ist also das lebendige Sein und
das Bewußtsein oder das Sehen eins und dasselbe.
Das Sehen ist also, unter der Voraussetzung des Triebes in Gott,
notwendig wirklich, denn es ist eine notwendige Bestimmung der Gott-
heit. Daraus geht nicht hervor, daß Gott selbst das Prinzip eines Sehens
gzgutgtg
19. bis 20. Vorlesung (Dritter Teil) 117
sei, was der Voraussetzung widerstreitet. Es ist der Trieb und in Gott, also
sein Akzidenz, welches das Prinzip des Sehens ist. Als Trieb an und in
Gott ist er aber, wenn er ist, ein lebendiges Sein wie das Gottes, das nicht
nicht sein kann.
zttgtgtgtgzu
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dddd
Ewa Nowak-Juchacz
171-178,9
21. und 22. Vorlesung
21. Vorlesung
Das Leben des Triebes ist ein Sehen seiner selbst und dies ist eine wirkli-
che und wahre Kausalität, die er hat, nicht zufolge dessen, daß er Trieb
ist, sondern daß er wirklich lebendig da ist. Aber in diesem Sehen bleibt er
doch immer Trieb, was er ja absolut ist, und was nicht aufgehoben werden
soll. Und zwar bleibt er es als der Trieb Gottes, sich im Sehen sichtbar zu
machen, sich in ein lebendiges Sehen seiner selbst, so wie er innerlich ist,
zu verwandeln und sich so in seinem inneren Wesen zu offenbaren.
Wir gingen in der vorherigen Stunde von der Annahme eines
Triebes in Gott aus, sich schlechthin im Medium des absoluten Seins zu
wiederholen, so wie er ist, also sich zum zweiten Mal zu setzen. (Dabei
war uns bewußt, daß dieser Trieb ewig Trieb bleiben mußte und nicht zur
Verwirklichung kommen konnte, weil das Sein Gottes einzigartig ist und
nicht wiederholt werden kann). Diese Ansicht entstand, wie wir jetzt se-
hen, allerdings nur dadurch, weil wir den Trieb verblaßt, keineswegs aber
energisch dachten und uns nicht bekümmerten, wie er denn real werden
könnte. – Jetzt haben wir erkannt, daß sich der Trieb tatsächlich verwirkli-
chen kann, allerdings nicht im Sein, sondern nur im Sehen. Demnach be-
steht der Trieb Gottes darin, sich im Medium des Sehens, d. h. in bildlicher
Form der Anschauung Gottes, zu verwirklichen.
ddddd
120 Ewa Nowak-Juchacz
Daß wir den Trieb zunächst verblaßt als Trieb nach Sein statt als Trieb
nach einem Sehen des Seins konzipierten, geschah, um auf diese Weise, i.
e. mittelbar, zur Einsicht zu gelangen, daß der Trieb Gottes nur in der
Form des Sehens seines Seins verwirklicht werden konnte. »Trieb 1« nach
Verwirklichung überhaupt führte so zum »Trieb 2« als seine weitere not-
wendige Bestimmung dieser Verwirklichung.
(171,32) So kann der Trieb nur darin bestehen, Gott, statt ihn im
Sein zu wiederholen, im Medium des Triebes sichtbar zu machen. Nun
kann es aber nicht nur nicht zu keiner Wiederholung des realen Seins,
sondern noch nicht einmal zu einer vollendeten Anschauung Gottes kom-
men, denn dann würde der Trieb, Gott zu erkennen, sein Ziel tatsächlich
erreicht haben und als Trieb erlöschen. Der Trieb soll aber Trieb bleiben.
Eine vollkommene Offenbarung Gottes kann also nie wirklich werden.
Gott offenbart sich nur als der nie zu Offenbarende. Könnte er sich voll-
kommen offenbaren, wäre es mit der Erscheinung zu Ende. Zuvor hieß es:
kein reales Sein außer Gott, jetzt heißt es: kein vollendetes Bild realen
Seins außer Gott. Allerdings bürgt sein niemals zu realisierender Trieb,
sich vollkommen zu erkennen, auch für die Unendlichkeit des erscheinen-
den Daseins.
Damit ist der Beweis geführt, daß die Äußerung des Seins not-
wendig Leben und Sehen sei. Allerdings nicht, daß eine solche Äußerung
notwendig sei, sondern nur, daß, wenn diese sei, sie es notwendig sei.
172,6 Wie dieser Trieb, als die einzige unmittelbare Sichäußerung
Gottes nun dennoch mittelbar realisiert und realer Kern in der Erschei-
nung werden möge, ergibt sich durch Reflektion auf die vorher aufgestell-
ten Sätze (172,9):
1. Das wirkliche Dasein des Triebes als Trieb wird unmittelbar
Sehen. Dies ist seine unmittelbare Kausalität.
2. Im Zustande dieses Sehens bleibt der Trieb bloßer Trieb, ohne
alle Kausalität, und zwar Trieb des Sehens, Gott zu erblicken, wie er an
sich ist.
3. Wird denn in dem ersten unmittelbaren Ausdrucke des Triebes
im Sehen dieser Trieb Gott, zu schauen, seinerseits sichtbar? Nein, denn
die unmittelbare Realisation des Triebes überhaupt wird Sehen schlecht-
weg. In diesem ersten unmittelbaren Sehen ist der Trieb selbst unsichtbar.
4. Man nehme nun an, (172,3) daß dieser Trieb ersichtlich und
einleuchtend gemacht und aus seiner Unsichtbarkeit hervorgezogen wer-
den könne, wie wir selbst ihn dermalen ersichtlich gemacht haben, was
freilich späterhin noch ausdrücklich bewiesen werden muß.
gzgutgtg
21. und 22. Vorlesung (Dritter Teil) 121
Sehen ist Sichtbarkeit des bloßen formalen Triebes. Er bleibt in alle Ewig-
keit Trieb, nie aufhörend, also unendlich. S(ehen) = »e«. So jemand hier
steht, was hat er? Die bloße unmittelbare Erscheinung. Was ist er selbst?
Eben das bloße unmittelbare Treiben, wie es sich eben treibt, physisch und
intellektuell, zu leben wie es ihm nun eben wird, sich einfallen zu lassen,
was ihm eben einfällt. Was ist der Grund seines Stehens in diesem Stand-
punkt? Der Trieb und die Liebe zu diesem sich selbst Machen, d. h. der
eigentliche Naturtrieb, natürlich zu sein und zu bleiben. Nun ist in sol-
chem dennoch Realität vorhanden, der Möglichkeit nach, denn die Liebe
ist schlechthin in allem Wissen, und diese Möglichkeit fällt ihm zufolge so
aus, wie sie ihm ausfällt, jedoch ihm unsichtbar und verhüllt. Der Trieb in
seinem Wissen bekommt nur die leere Erscheinung, die Hülle der Realität.
Setzet, er reflektiere, so wird ihm klar werden, warum die Erscheinung so
ist, wie sie ihm erscheint, und reflektiert er bis zu Ende, um als Gott inne-
wohnender Trieb sein Wesen zu offenbaren. Dazu kann es nur durch den
lebendigen Trieb kommen, Gott zu erkennen.
Jetzt ist alles das in ihm – und auch nicht: Es ist in ihm, in sich zu
gehen und sich zu besinnen; und es ist nicht in ihm, d. h. in seinem wirkli-
zttgtgtgtgzu
122 Ewa Nowak-Juchacz
chen Wissen und Denken, deswegen, weil sein Trieb, (der alleinige Quell
des wirklichen Wissens in ihm), nicht auf das Eine, Bleibende und Selbst-
ständige geht. So ist denn das göttliche Wesen – auf sichtbare und un-
sichtbare Weise – ewig fort das Reale in allem Sehen. Die Form des Se-
hens aber ist die Unendlichkeit. Könnte sie jemals vollendet werden, wür-
de Gott erscheinen, wie er ist, was unmöglich ist. Und so ist denn die Un-
endlichkeit die Kluft, die die Erscheinung Gottes, den ewig sichtbar Wer-
denden, von seinem inneren unsichtbaren Wesen trennt.
So ist die Welt aus zwei Momenten gebildet: Gottes innerem We-
sen und der Unendlichkeit. In der Welt sind beide unabtrennlich.
22. Vorlesung
Das Ich als Trieb und der Trieb als Ich (1751-178, 9)
176 Es kommt darauf an, sich in den Mittelpunkt zu versetzen, aus wel-
chem die unendliche Fünffachheit oder die Reflexionsform und der Sche-
matismus des Sehens hervorgeht. Eine andere methodische Hinsicht be-
steht darin, die Beziehung auf die Realität, das innere göttliche Wesen, im
Wissen aufzuzeigen, damit, obgleich das Schema an sich nichts ist, nicht
1 Gott ist das ist ein absolutes Postulat, von welchem einen Beweis zu fordern, ein
absoluter Widerspruch ist. 2. Setzet in ihm einen Trieb, sich zu wiederholen, so ist dieser Trieb
notwendig wirklich. Es ist in ihm durchaus keine Realität, also er kann nur als Wissen realisiert
werden 3. Dabei bleibt er Trieb, wenn auch in diesem Medium des Sehens: Also Trieb Gott zu
sehen, wie er in ihm selbst ist. Voraussetzung: Nur durch das Faktum kontingenten Daseins ist
[der Trieb] zu beweisen, und wir werden zuletzt an ein bloßes Faktum verwiesen werden. Zwei
Fragen: 1. welches wird das Faktum sein und wie wird das Faktum sein müssen, durch welches
die Richtigkeit jener Voraussetzung erwiesen würde? – Diese Frage zu beantworten, war die Ab-
sicht unserer bisherigen Deduktion. Es wird auch die Absicht ihrer heute zu liefernden Fortset-
zung sein. 2. Sie werden, falls Ihnen die faktische Beweisführung verdächtig sein sollte, nicht
ohne Grund fragen: Läßt sich denn nicht wenigstens a priori und aus Begriffen erweisen, dass die-
ser Erweis nur faktisch geführt werden könne? – Allerdings! und ich führe ihn: – Voraussetzung
ist, daß der angegebene Trieb und was daraus folgt, schlechtweg in Gott sei. Es kann daher dieses
alles, wenn es ist, nicht auch nicht sein; denn sein göttliches Sein kann sich nicht von seinem Sein
wieder trennen und losreißen. Und falls wir etwa selber dieses göttliche Sein sein sollten, wir
können uns nicht davon losreißen, welches ja einen Beweis desselben a priori voraussetzen
würde, sondern wir können es eben nur erfassen als unser unmittelbares und faktisches Sein. Wie
wir, in unserer gegenwärtigen Deduktion, uns selbst scheinbar aus der faktischen synthetischen
Einheit loszureißen vermögen, wird ohne Zweifel an der Stelle, wo die WL. sich selber erklärt,
begreiflich gemacht werden müssen. Als höchstwahrscheinlich aber läßt sich schon hier ersehen,
daß wir das Faktum gar nicht in seinem lebendigen Sein, sondern nur nach dem Gesetze ableiten,
nach welchem es zu Stande kommt, und daß wir selbst es sein mögen, die erklärt werden sollen –
allerdings in einer besonderen Gestalt. «
gzgutgtg
21. und 22. Vorlesung (Dritter Teil) 123
der Anschein entsteht, als ob ihm nichts zu Grunde läge, und die WL. sich
in Nihilismus verwandele.
Die Aufgabe ist nun, den Trieb als Trieb sichtbar zu machen (– und damit
das Faktum des Triebes aufzuzeigen).
I. Wie schon gezeigt, ist der Trieb zu sehen wirklich und in der
Tat, d. h. er ist als real zu denken, aber alle Realisierung des Triebes gibt,
da er Trieb bleibt, niemals eine wirkliche aus ihm erzeugte Realität, daher
bleibt der Trieb Sehen.
II. Da der Trieb allein im Sehen realisiert wird und das Sehen der
Trieb ist, sind beide unmittelbar identisch. D. i. Ich, das Sehen und Ich,
der Trieb, bin schlechthin eins zufolge der lebendigen Anschauung, in der
sich der Sehtrieb realisiert.
III. Als unmittelbares und absolutes Faktum ist das Ich nicht er-
schlossen, sondern angeschaut, allerdings nicht als real an sich, sondern
nur als notwendige Form der ursprünglichen Anschauung.
IV. Das Ich kann2 – wenigstens in dieser Anschauung – gesehen
werden als ein Trieb zu sehen (Gott nämlich, wie er selber ist) und er ist
als solcher sichtbar (TR2), wenn auch nicht unmittelbar (TR1). Wenn das
Ich nun so gesehen würde, wie würde es gesehen ? – Als die Anmutung,
Prinzip einer Anschauung Gottes zu werden; es würde erblickt als Prinzip
und zwar als sein sollendes Prinzip einer Anschauung, von der es aller-
dings niemals wirklich Prinzip werden kann, da es in dieser Rücksicht
schlechthin nur Trieb ist.
V. (S.177) Nun aber schaut sich das Ich auch an als wirklich! Und
zwar als Prinzip einer Anschauung von sich, aus sich, durch sich. Also als
Prinzip einer hingeworfenen schematischen Gestalt oder eines objektiven
Seins. In dieser unmittelbaren Schöpfung liefert die Anschauung das Ich,
und nur so wird das Ich durch sie geliefert. Also, wo wirkliche Anschau-
ung besteht, ist unmittelbar neue, drum ewig fort zu wiederholende, un-
endliche Kausalität a b c d e …
Damit entsteht die Frage: bleibt denn das in a b c d e Prinzip seiende Ich
dasselbe eine Prinzip und bleibt es auch sichtbar in dieser Einheit? Und
welches ist das Prinzip der Einheit des in der Unendlichkeit seines Sche-
matisierens nicht verfließenden Ich?
2 (176, 24-26) ȟber dieses kann machen Sie sich hier keine weiteren Gedanken, es
ist gewissermassen schon in der letzten Stunde erklärt worden und wir kommen darauf zurück«
zttgtgtgtgzu
124 Ewa Nowak-Juchacz
gzgutgtg
dddd
Helmut Girndt
179-187, 24
23. und 24. Vorlesung
23. Vorlesung
Der Trieb als Prinzip der Einheit von Einheit und unendlicher Mannigfal-
tigkeit (179,1-183,15)
Unsere Aufgabe bleibt immer noch dieselbe: die Mannigfaltigkeit, die wir
als fünffache Unendlichkeit kennen, aus absoluter Einheit abzuleiten. Sie
macht das Wissen erst möglich.
1 Sie in ihrer vollendeten Form vorzutragen habe ich mir hier vorgenommen, denn,
»wenn es nur auf das Materiale der Einheit ankommt, nicht aber auf vollendete formale Kunst,
kann man auch anders verfahren. (So in meiner gedruckten WL.. Ich wusste es wohl, aber
vermochte es nicht auszuführen.)«
ddddd
126 Helmut Girndt
Das Erste gibt die ewig in Gott bleibende Realität seines inneren Wesens.
Das Zweite gibt das Wissen in seinen gesetzmäßigen Produkten. Das
Dritte, wie jene Realität vermittelst eines Mediums in das Wissen eintrete.
Gelöst wird die Aufgabe durch die Voraussetzung eines Triebes in Gott,
sich zu wiederholen, wie er innerlich ist, wobei das selbstständige Sein des
vorausgesetzten Triebes das Wissen ist, das als innere Einheit eins und in
seinem Sein unveränderlich ist.
Jener vorausgesetzte Trieb in Gott ist unwandelbare Einheit; denn
er kann niemals über sich herausgehen (181). Er ist daher das erste absolut
in sich selber Eine und Eins bleibende, ewig unwandelbare Prinzip, das
wir suchten. Er ist ferner Trieb Gottes, d.h. in ihm ist daher Realität erfaßt.
Und so ist denn die Identität des Triebes mit sich selbst in allen Fortschrit-
ten seiner Verwandlung das dritte Prinzip.
Dieser Trieb ist zunächst nur hypothetisch, also nur nach vollen-
deter Untersuchung [als existent anzunehmen]. Das Zweite ist unmittelbar
einleuchtend. Nur das Dritte ist Gegenstand unserer Untersuchung.
Das Fühlen. (182) Ein realer Trieb ist ein Streben, ein lebendiges
Ringen nach Kausalität, zu der es jedoch, weil er Trieb ist, niemals kom-
men kann.
Dieses Streben soll ein in ihm selbst abgeschlossenes immanentes
und selbstständiges Sein haben. Es ist Gefühl.
Dieses immanente Sein hat der Trieb nur zufolge seiner selbst und
seines absoluten Seins im göttlichen Wesen, zufolge seiner selbst, unmit-
telbar in seiner inneren Schöpferkraft. Es wäre ein sich Anhalten und sich
unmittelbar Wiederholen, zu dem sich machend, was er ursprünglich ist.
Nun muß sich diese Schöpferkraft zufolge des Triebes in ihrer
Unmittelbarkeit ins Unendliche wiederholen, was ein mittelbares Fühlen
gibt.
In diesem Fühlen wird der Eine und selber bleibende Trieb ge-
fühlt. So bleibt das Fühlen dem Inhalt nach dasselbe und es wird, im We-
sen unverändert, bloß wiederholt und nach jedem Mal wieder gesetzt.
2 Das Absolute bleibt also in ihm selber und wird nicht mit fortgerissen vom
Wandel. Diese Erkenntnis ist ausschließender Charakter der W.L. sonst wäre sie um nichts besser,
als die vorhergegangenen Systeme, welche zwischen der Einheit und Mannigfaltigkeit ewig im
Sprunge und auf der Flucht stehen. Z.B. Spinozas stehende Modifikationen der Gottheit.
gzgutgtg
23. und 24. Vorlesung (Dritter Teil) 127
Damit haben wir ein Glied gefunden, das Eins ist und unendlich
zugleich: das Fühlen. Und an ein solches Glied wird der geforderte Beweis
der Identität des Einen und des unendlich Mannigfaltigen angeknüpft wer-
den müssen.
Setzet, dieses Fühlen des Triebes solle sich selbst verstehen und deuten, so
könnte es sich in aller Unendlichkeit fort nur also aussprechen: Das ist´s
nicht, was ich anstrebe: so fühle ich mich; das auch nicht, das auch nicht
usw. Es wäre in ihm daher
I. Ein Schema dessen, was es anstrebt, welches Streben ihm durch
das Gefühl gedeutet wird, und in welchem Schema nun durchaus nichts
von dem Inhalt des Strebens läge, sondern bloß ein allgemeines und leeres
Objekt desselben hingesetzt würde.
II. Dieses würde nun in aller Unendlichkeit wiederkehren, in der-
selben Leerheit.
III. Ein Schema dessen, was dem Triebe nicht gemäß befunden
wird, welches nun in aller Unendlichkeit sich ändern dürfte, und eben zu-
folge des niemals zu befriedigenden Triebes diese Schöpfung, die ihre Be-
friedigung versucht, zur Unendlichkeit ausdehnen würde. Hier erst wäre
nun eine wahre Wandelbarkeit in der Unendlichkeit. Auf die Reflexion,
die in ihrer ersten Form Fühlen ist, wäre also zu blicken.
24. Vorlesung
Widerspruch im Trieb: Die Einheit des Triebes und die Unendlichkeit des
Treibens (184-187, 24)
Das immanente Sein des Treibens und Strebens ist das Gefühl des Triebes.
Als Gefühl hätte der Trieb eine unmittelbare und innere Kausalität, die im
Produkte mit ausgedrückt sein müßte. Auf diese Weise entstände ein Füh-
len.
zttgtgtgtgzu
128 Helmut Girndt
Aus dem folgenden Gegensatz ergibt sich nun, daß zwischen dem
Triebe in seiner absoluten Einheit und Einfachheit und seinem sich Erfas-
sen (Reflexion) ein noch zu ergänzendes Mittelglied übersprungen worden
sein muß.
Erläuterung:
1. Der vorausgesetzte Trieb hat sich in der Gewalt bedeutet, er ist
reines ruhiges Sehen, Hin- und Anschauung seines eignen Wesens: Das
»sich in der Gewalt Haben« drückt das projizierende Wesen des Triebes
aus.
2. Er hat sich in der Gewalt, als – dieses als drückt die weitere
Bestimmung des Sehens aus, wodurch das Sehen sich selber als Sehendes,
als Prinzip eines Sehens, d.h. als ein Ich faßt. – In dieser Bestimmung hält
es das Gewalthaben selber in seiner Gewalt. Es wird zur Freiheit, durch
gzgutgtg
23. und 24. Vorlesung (Dritter Teil) 129
Eines erforscht das Prinzip des unendlichen Wissens und setzt dasselbe
identisch eben mit diesem erforschenden; dasselbe, das da setzt und er-
forscht, erschafft auch ins Unendliche fort. – Das andere schaut das sich
selbst ins Unendliche entwickelnde Prinzip hin. –
Hier liegt der schon berührte Wendepunkt zwischen den beiden
absoluten Polen des Wissens, dem absoluten Reflektieren und dem absolu-
ten sich Hingeben an die Anschauung.
Im Folgenden geht es uns darum, die innere Verschiedenheit der den bei-
den Weisen des Wissens zu Grunde liegenden unsichtbaren Freiheit zu er-
blicken. Das ist neu und wird uns weiter führen.
Gemeinschaftliche Voraussetzung beider Wissensweisen ist, daß
das unendlich sich fortgestaltende Wissen das Wesen ausdrücke, d. h.
Wahrheit und Realität in sich enthalte.
1. In der einen Ansicht wird vorausgesetzt, daß die Freiheit durch
sich, aus sich, von sich jene unendliche Fortgestaltung des Wissens schaf-
fe. Soll diese nun real sein, so muß die Freiheit nicht als Willkür gedacht,
sondern unter ein Gesetz ihres Schaffens gebracht werden. –Und so fällt
denn in dieser ersten Ansicht die Freiheit, gerade dadurch, daß sie sich als
zttgtgtgtgzu
130 Helmut Girndt
absolut setzt, dem Gesetze anheim, und es entsteht die Ansicht einer Not-
wendigkeit.
2. In der anderen Ansicht der Freiheit dagegen wird vorausge-
setzt, daß das unendlich sich durch sich selbst entwickelnde Sein die Frei-
heit der Anschauung zu ihrem Abbilde bilde; daher man eben nichts wei-
ter zu tun habe, als sich dieser aus sich selbst erfolgenden Gestaltung hin-
zugeben.
Beides ist eine Beweisführung für die Wahrheit des Gesehenen, nur aus
entgegengesetzten Maximen. Da das Wissen an dem Wechsel dieser bei-
den Beweisführungen ins Unendliche, von einem zu dem anderen, fort-
läuft, so dürfte es wohl keinen Stand halten. Das einzig Lehrreiche für uns
wird daher sein zu sehen, welches gemeinsame und fest zu haltende Glied
dem Wissen zu Grunde liegt.
Offenbar muß es die innere Zweifelhaftigkeit und Ungewißheit
sein, die zur Forderung eines Beweises treibt. Wie entsteht nun dieser
Zweifel und was ist er?
An der Wahrheit des Gesehenen wird gezweifelt. Dabei handelt es sich um
ein weiter bestimmtes Sehen: das Sehen überhaupt wird dahingehend an-
gesehen, ob Wahrheit in ihm sei. Auf diese Frage kann nun nur im dunke-
len Wissen die Antwort erfolgen: Ja! – Kommt aber das Wissen zu Ende
und wird sich klar, so erfolgt allemal die Antwort: Nein!
Durch dieses »Nein« wird das Wissen in die Unendlichkeit fortgetrieben.
Ergebnis:
Das Wissen wird durch die bloße Fragen nach der Wahrheit in ei-
nen unendlichen Zweifel an sich selber getrieben. Die Wahrheitsfrage im-
pliziert die Unendlichkeit und die Unendlichkeit die Wahrheitsfrage. – Als
Resultat böte sich an, daß nur im Sehen schlechtweg Wahrheit, im Sehen
des Sehens aber Leerheit sei. Das allerdings ist nicht unsre Meinung. Was
bleibt also übrig? Übrig bleibt, daß das Sehen des Sehens als Fortbestim-
mung des Sehens überhaupt möglich ist und darin mit dem reinen Sehen
zusammenhängt.
gzgutgtg
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188,1-192,11
25. Vorlesung
25. Vorlesung
Die Realisierung des Triebes (X) in der Erscheinung ist hier das Thema.
Zuerst, der Widerspruch aus den vorigen Vorlesungen:
– Der Trieb ist in Gott, und wird nicht: also Sein, nicht Werden.
– Der Trieb kann nur durch sich selber sich erfassen, und nur
durch dieses Erfassen sich halten, aber dann ist »ein ins unendliche wie-
derholbares unmittelbares Fühlen« (188, 9): also Werden.
Als Lösung sollen wir ein neues Glied in die synthetische Kette
einschieben: das Vermögen (B).
Unsere Voraussetzung war: Es gibt ein Trieb (X) in Gott (A), sich
zu sehen, sich zu äußern, in medio des Sehens sich zu wiederholen, sich
mitzuteilen.
Dieser Trieb wurde Sehen (C), und als Trieb blieb er verborgen.
Nun ist unsere Aufgabe, ihn als Trieb heraustreten zu lassen, den »Trieb
zu sehen« (176, 10): eben als Vermögen (B). Am Anfang unserer Vorle-
sung wird dieser Widerspruch, aber in umgekehrter Ordnung wiederholt:
– Der Trieb soll von sich wissen, dieses Wissen soll er sich selber
wegen der Absolutheit des Seyns des Triebes schaffen, und dieses Selbst-
wissen bringt mit sich eine Wiederholung des Sichfühlen, also Werden.
– Aber aus dem selben Grund, weil der Trieb in Gott ist, kann er
nicht ein ewiges Werden sein, sondern muß er ein Sein »mit Einem Schla-
ddddd
132 Jacinto Rivera de Rosales
ge« (188, 13-14) ohne Werden sein. Wir begegnen hier nochmals dem
Problem zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit, der eigentlichen und letz-
ten Aufgabe aller Philosophie (188, 25-26), nämlich wie
– die absolute Einheit und Unveränderlichkeit Gottes,
– und die unendliche Veränderlichkeit im Wissen, nebeneinander
bestehen und wie Mannigfaltigkeit aus der Einheit folgt. Wir sollen dabei
nicht das Eine verlieren, nicht es in die Veränderlichkeit hinabsteigen und
das göttliche Sein selbst in die Erscheinung eintreten lassen, wie es Spino-
za und die heutigen Spinozisten tun. Vielmehr ist zu zeigen, wie seine Er-
scheinung Eins ist, und zugleich Unendlichkeit wird, »das Hauptproblem
der WL« (189,9) bei Hinabsteigen.
Lösung: das Entscheidende enthält der zweite Satz des Wider-
spruches: der Trieb in Gott ist kein Werden, sondern ein Sein; nur darin
»tritt Gott heraus« (191,20). Das Werden müssen wir aber nur innerhalb
einer bestimmten Grenze gelten lassen. Dann kann »der Trieb nur als ste-
hendes u. festes Faktum eintreten« (190,15) für die WL, und zwar als ei-
nes vom innern göttlichen Seyn unterschiedenen Dasein, aber an Gott, in
Gott und so Gottes selber, doch nur mittelbar. Die Wissenschaftslehre ist
denn Realismus, doch nur im Wissen (wie alle idealistischen Behauptun-
gen). Das ungewordene Sein des Triebes ist das Vermögen, diese Einsicht
zu erzeugen, und zwar das absolute Vermögen, Gott einzusehen, die
Denkbarkeit Gottes zufolge des Satzes vom Grunde.
Dieses Vermögen ist das neue Glied in der synthetischen Kette,
das den Widerspruch löst, der Vereinigungspunkt von Unendlichkeit und
Einheit:
– Jenes absolute Dasein (die äußere Existenz) Gottes ist ein Ver-
mögen (einer gewissen Erzeugung), und so tritt Gott in einem nicht wer-
denden Sein heraus, denn das Vermögen ist immer eins und dasselbe.
– Aber die Erzeugung dieses Vermögens ist möglich ins Unendli-
che in seiner Äußerung eben darum, weil es absolutes Vermögen ist; es
bedarf also nichts, um die Einsicht zu vollziehen, aber es kann sich auch
dessen enthalten, und diese Vollziehung vernichten, und wieder eine neue
vollbringen. »Und so ist es Eins, weil das Vermögen [Eins] ist, u. kann
seyn u. werden ins Unendliche in seiner Äußerung fort aus eben dem
Grund, weil es [absolutes] Vermögen ist« (191,16-17). Das Vermögen ist
das absolute Accidens Gottes, und bildet das Ich, wie wir früher schon ge-
sehen hatten. Dieser Trieb ist die Wurzel unseres Daseins (172, 1), »und
das Sehen nicht Accidens und Produkt des Ich, sondern das Ich Produkt
des Sehens« (130, 10-11).
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Jan Seide
193-198,28
26. und 27. Vorlesung
26./27. Vorlesung
Das Vermögen als Möglichkeit des Vollzugs des Triebes, Erster Teil (193-
198,28)
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134 Jan Seide
Fichte am Ende dieses ersten Abschnittes zu dem Ergebnis, daß das Leben
Prinzip der Einsicht ist, daß es selbst als Prinzip des Sehens unsichtbar ist
– es ist also Prinzip einer Einsicht über sich selbst.
Da es im Wissen weiter nicht kommen kann als bis zu dieser
Selbstverständigung, bestand die nun folgende Aufgabe darin, die Kluft,
die sich zwischen dem absoluten und dem im Wissen erfahrenen Leben
aufgetan hat, zu verdeutlichen. Dieser H i a t u s war das Thema des zwei-
ten Abschnittes, dessen Ergebnis darin bestand, daß im Absoluten ein
Trieb herrscht, sich zu äußern, wobei dieser Trieb lediglich hypothetisch
gesetzt wird und faktisch auszumitteln ist. Diese nicht mehr hintergehbare
Faktizität ist Ausfluß der Einsicht, daß der Hiatus, also die Kluft zum Ab-
soluten, per definitionem nicht mehr übersprungen werden kann und jeder
Versuch, jenseits dieser Kluft Begründungsversuche zu errichten, als Wi-
derspruch in sich scheitern muß.
Der dritte und letzte Abschnitt dieser WL hat sich daher der Ar-
beit am Absoluten als der G r u n d l a g e a l l e r E r s c h e i n u n g zu
widmen, was allerdings nur noch diesseits der Kluft geleistet werden
kann. Im Zuge der Lösung dieser Aufgabe ergab sich das Vermögen als
Möglichkeit des Vollzugs des Triebes des Absoluten, sich zu äußern. An
diesem Punkt zwischen Trieb und Vermögen setzt nun der XXVI. Vortrag
ein.
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26. und 27. Vorlesung (Dritter Teil) 135
zttgtgtgtgzu
136 Jan Seide
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26. und 27. Vorlesung (Dritter Teil) 137
zttgtgtgtgzu
138 Jan Seide
Welches ist dieses a n d e r e : Das was eben noch da ist, die faktische Rea-
lisation des Triebes, u. zwar [...] außer dem Seyn, u. dieses außer ihm: also
ein unmittelbares Ich, das da nicht ist das Seyn: – . Hauptsache: diese Dis-
junktion zwischen dem Ich und dem Seyn (dem NichtIch) ist schlechthin,
sie ist das absolute Faktum des Daseyns des Triebes selbst« (197,21ff).
Es kann noch ein weiterer Punkt angegeben werden, der ein Licht
auf die Einordnung des Ich zwischen Absolutem und Erscheinung wirft.
Da das Ich die faktische Verfaßtheit der Erscheinung darstellt, ist es zwar
auch Grundprinzip alles in der Erscheinung stattfindenden Schematisie-
rens, wie es aus dem ersten Hauptabschnitt dieser WL bekannt ist. Es ist
jedoch keinesfalls Prinzip der (ersten) Schematisierung des absoluten
Seins, mit der die Äußerung des Absoluten überhaupt einsetzt: selbst Äu-
ßerung des Absoluten, ist auch das Ich Ausfluß dieses ersten Schrittes, der
von ihm selbst nicht geleistet werden kann. In dieser Hinsicht besteht eine
ganz klare Beschränkung des Ich im Hinblick auf das Absolute, die ein
weiteres Licht auf seine nicht mehr hintergehbare Faktizität und die schon
im zweiten Hauptabschnitt konstatierte Kluft zwischen Absolutem und Er-
scheinung wirft: das Ich kann sich seine Grundlage nicht selbst geben. Das
Ich »ist a b s o l u t e s P r i n z i p der Schematen; also als könnend pp.
Bemerken Sie[:] nicht etwa als Prinzip des Schema des Seyns, denn dieses
wird projicirt aus der Einen Anschauung, aus welcher mit demselben
Schlage auch das Ich projicirt wird, u. diese ist schlechthin in Gott, u. wird
dem Ich nicht zugeschrieben [...] sondern als mögliches Prinzip anderer
Schematen schlechthin aus ihm, u. von ihm ins unendliche (198,19ff).
Damit sind alle Vorbereitungen getroffen, um nun den schon zu
Beginn des XXVI. Vortrags angekündigten letzten Schritt über Trieb und
Vermögen hinaus zu tun. Es hatte sich ergeben, daß vom Trieb und nicht
vom Vermögen ausgegangen werden muß. Des weiteren hatten die Über-
legungen zur Realisierung des Triebes das Ich als Grundlage der Er-
scheinung ausgewiesen. Dabei hat sich jedoch gezeigt, daß das Ich zwar
den immanenten wie auch den emanenten Aspekt der Erscheinung als Äu-
ßerung des Absoluten aufweist, aber insofern formal bleibt, als es nicht
selbst ins Leben treten kann: es ist zwar beschrieben worden, wie der Trieb
realisiert wird und was dabei realisiert wird, nur ist es damit noch nicht
zur Verwirklichung gekommen. Diese Verwirklichung selbst muß also
noch vollzogen werden, um sagen zu können, die WL sei vollendet. Daß
es nicht das Absolute selbst sein kann, was in die Disjunktionen, wie sie
der Erscheinung eigen sind, eintritt, ist per definitionem klar und auch
immer wieder hervorgehoben worden. Es muß daher in den Trieb selbst
gzgutgtg
26. und 27. Vorlesung (Dritter Teil) 139
ein lebendiges Prinzip gesetzt werden, das den Schematismus des Ich in
Gang setzt, damit es zur Verwirklichung des Daseins – der Realisierung
des Triebes – kommen kann: das ist das gesuchte Mittelglied, das den letz-
ten Schritt über Trieb und Vermögen hinaus ermöglicht. Fichte beschreibt
diesen letzten Schritt in der folgenden entscheidenden Passage: »Zum ent-
scheidenden Schlage: Ich sage, durch alles bisher gesagte ist der Trieb, als
solcher noch gar nicht realisirt; u. das Faktum, das wir suchen, ist nicht er-
schöpft. Es ist noch gar kein wahrhaftiges Daseyn außer dem göttlichen
Seyn, dergleichen doch der Trieb ausdrückt, wirklich geworden [...]. Also
in allem Ernste: ein l e b e n d i g e s P r i n z i p außer dem göttlichen
Seyn, u. ein eignes immanentes formales Leben, aus sich von sich, müste
in den Trieb gesetzt werden. Dies ist das neue Glied. Die Form dieses Le-
bens aber haben wir soeben kennen gelernt: es ist die der A n -
s c h a u u n g : Kurz: es muß ein solches Prinzip, wie soeben das Ich ange-
schaut wurde, wirklich u. in der That geben: ein P r i n z i p d e s S c h e -
m a t i s m u s , eine absolute Schöpferkraft von bloßen Schematen aus sich
von sich durch sich: u. dies ist erst das Leben des Triebes; das da ist,
w e i l der Trieb in Gott ist: aber nicht Gottes Leben selbst, sondern nur
das Leben des Triebes ist« (198,29 ff). Es mag zunächst widersprüchlich
klingen, wenn nun noch ein weiteres lebendiges Prinzip außer dem göttli-
chen Seyn (199,3) angesetzt wird – wurde doch bisher immer streng darauf
geachtet, daß kein zweites Absolutes in die Argumentation eindringt. Be-
denkt man jedoch, daß das geforderte lebendige Prinzip das »Leben des
Triebes ist; das da ist, weil der Trieb in Gott ist« (199,9), so ist klar, daß
auch dieses Leben Ausfluß des absoluten Lebens ist, allerdings ohne es
selbst zu sein.
Damit ist der letzte große Schritt bei der Arbeit an der Grundlage
der Erscheinung getan. Zur Vollendung der WL ist lediglich noch zu zei-
gen, auf welche Weise sich die erste Disjunktion der Erscheinung in eine
unendliche Mannigfaltigkeit auffächert – das ist Thema des XXVIII. Vor-
trags (wie in der WL 1804 auch). Den XXVII. Vortrag beschließt Fichte
mit Vorüberlegungen zum Grund der Unendlichkeit in der unmittelbaren
Anschauung des Ich als sein Prinzip.
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Karsten Thiel
198, 29-202,20
27. und 28. Vorlesung
27. Vorlesung
Das Vermögen als Möglichkeit des Vollzugs des Triebes, Zweiter Teil
(198,29-200,19)
Fichte setzt nun zum entscheidenden Schlage an, indem er zunächst die
Realisierung des Triebes in Frage stellt. In einem damit, daß die Realisie-
rung des Triebes in Frage steht, sei dann auch das gesuchte Faktum nicht
erschöpft. (198,29f.) Nach allen Ausführungen zur Realisierung des Trie-
bes in der 26. und zu Anfang der 27. Vorlesung dürfte diese Feststellung
erstaunen. Doch ihre Begründung knüpft sogar an eben diese vertiefende
Betrachtung gewissermaßen der Momente dieser Realisierung – ›der Trieb
ist realisiert‹ (197,6-29) einerseits und ›der Trieb ist es, der realisiert ist‹
(197,30-198,28) andererseits – an. Genauer führt sie offenbar sogar das
zweite der beiden Momente, daß es nämlich der Trieb ist, der realisiert
wird, fort, wenn es heißt, daß der Trieb als solcher noch nicht realisiert sei.
Im einzelnen stellt die Begründung der Feststellung, daß der Trieb
noch nicht realisiert sei, nun darauf ab, daß »noch gar kein wahrhaftiges
Daseyn außer dem göttlichen Seyn, dergleichen doch der Trieb ausdrükt,
wirklich geworden« sei (198,31f.). Ohne seinen Ausdruck kann der Trieb
als solcher in der Tat nicht realisiert sein. Daß dem aber auch so ist, bedarf
seinerseits wieder der Begründung. Dazu wirft Fichte nun die Frage auf:
»[I]n der Anschauung, die wir soeben als das höchste hingestellt haben,
was wäre denn in ihr das seyende = anschauende[?]« (198,32-34) Um zu-
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142 Karsten Thiel
gzgutgtg
27. und 28. Vorlesung (Dritter Teil) 143
28. Vorlesung
Der überwiegende Teil der 28. Vorlesung gilt einer Zusammenfassung der
vorangegangenen Vorlesung. Anstatt aber noch auf die beiden Fragen zu
sprechen zu kommen, die er am Ende der 27. Vorlesung angerissen hat,
problematisiert Fichte erneut die Frage der ›faktischen Selbstanschauung
überhaupt des Prinzips‹. (201,2-28).
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144 Karsten Thiel
Zu Beginn des zweiten Schrittes weist Fichte darauf hin, daß das Prinzip
seinem Wesen nach diese im ersten Schritt beschriebene Beschaffenheit
hat, um sogleich festzustellen, daß es demnach also nicht, wie gesagt, das
»eben so nothwendig nachgewiesene innere, u.[nd] selbstständige Leben«
wäre (202,10f.). Da allerdings sowohl Selbstbewußtsein als auch Leben
Essentialia dieses Prinzips sind, kommt Fichte nicht umhin, beide mit-
einander in Einklang zu bringen (202,11f.). Er muß also einen neuer-
lichen, diesmal essentialistischen Widerspruch auflösen.
Für Fichte gibt es seinen eigenen Worten nach eine offenkundige,
aber nicht unmittelbar einsichtige Antwort zur Behebung dieses essentia-
listischen Widerspruchs: »[D]as schematische Leben müste sich wieder er-
heben zu einem Schema jenes unter 1 nachgewiesenen Gesetzes seines
Wesens« (202,13f.), d. i. das des Schemas des Schemas.
Dieses weitere Schema des Schemas leuchte nach Fichte »als auf
doppelte Art möglich« ein (202,14f.): »[E]ntweder nemlich es schematisirt
jenes Gesez, als Gesez, sagt, daß es Gesez sey, durch welches Schema es
eben als Gesez erstirbt, u.[nd] sein Seyn außer sein Seyn als Gesez fällt,
oder es macht sich selbst zu einem schematisiren nach jenem Gesetze, d. i.
es giebt mit Freiheit, sein an sich freies Schematisiren jenem Gesetze sei-
nes Wesens hin.« (202,15-19).
Leider ist uns Fichte weitere Ausführungen, die seine Antwort zu
verstehen erleichtern könnten, schuldig geblieben.
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Rezensionen
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Rezensionen
Der Reiz ist bekanntlich ein schmaler Grat, zu dessen Seiten die Frus-
tration über das Eintreten oder Ausbleiben der Erfüllung klafft. In diesem
Sinne nimmt es nicht wunder, daß für die Fichte-Forschung vor allem die
1804 gehaltene zweite Vortragsreihe von Fichtes Wissenschaftslehre einen
reizvollen Untersuchungsgegenstand darstellt. In keiner anderen Schrift
Fichtes befällt den Leser ein so unbezwingbar scheinender Eindruck, als
habe es Fichte vor lauter skeptischer Fragen an eine mögliche Theorie des
Wissens versäumt, diese vor Kritik gefeite Theorie selbst zu entwerfen.
Und in der Tat besteht in der Forschung bislang kein Einvernehmen da-
rüber, an welchem Punkt in den insgesamt 28 Vorträgen der kritisch-nega-
tive Aufstieg zum wahren Grund des Wissens einer positiv-absteigenden
Darstellung der Wahrheit, mithin ihrer systematischen Entwicklung aus
dem Grund weicht.1
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148 Rezensionen
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Rezensionen 149
zttgtgtgtgzu
150 Rezensionen
wißsein (6.3.). Gemäß des Untertitels von Schlössers Schrift vollzieht die
W.L. von 18042 im 23. Vortrag die Kehre von einer »Kritik an der An-
nahme entzogener Voraussetzungen unseres Wissens« zu einer »Philoso-
phie des Gewißseins«. Aus der Tatsache, daß dieser Grund im begriffli-
chen Wissen verstellt und daher nicht als Grund eingesehen werden kann,
folgt nicht nur eine Selbstbeschränkung der Philosophie, sondern ebenso –
gleichsam als Kehrseite – die Freisetzung des sich begrifflich erkennenden
Subjekts. Denn würde dasselbe den Grund als solchen erkennen, wäre es
vollkommen durch ihn bestimmt, mithin nicht frei. Die Implikationen die-
ser Lehre für die praktische Philosophie sind evident (136).
Mit der Gewißheit führt Fichte, wie Schlösser schlüssig darlegt,
einen nicht als Deduktionsgrundlage zu verwendenden Grund ein (165),
aus welchem sich unmittelbar die reine Form von Selbstbewußtsein ergibt.
Danach entwickelt Fichte aus der Gewißheit als derjenigen Instanz, wel-
che die Geltung von Wissen ermöglicht, die Selbstbeziehung der Gewiß-
heit als notwendiges Implikat. So kommt Schlösser zu dem Ergebnis, daß
es sich in der W.L. von 18042 auf Grund der »Vorordnung der Rede von
der Gewissheit gegenüber der von Selbstbewusstsein« (129) eben nicht
um eine Philosophie des Selbstbewußtseins handelt. Die Gewißheit ähnelt
»in ihrem Eintreten weniger dem Selbstbewusstsein als vielmehr dem Zu-
stand von Sein und Leben« (130). Damit entgeht Fichte zudem – so
Schlösser weiter – der Kritik Jacobis an seiner Frühphilosophie.
Zur Darstellung der im eigentlichen Sinne positiven Lehre Fichtes
bedarf es nach Schlösser einer Erklärung, wie die reine Gewißheit die
Wahrheit des begrifflichen Denkens – und auf höherer Ebene ebenso der
Philosophie als propositional verfaßte Lehre über die Gewißheit – zu be-
glaubigen vermag (150). Dem kritischen Aufstieg zur höchsten Gewißheit
muß ein genetischer Abstieg von der Gewißheit zum Begriff derselben fol-
gen. Erst daraus läßt sich die bis zum 23. Vortrag geübte Kritik an anderen
Theorien aus der Perspektive des eigenen Systems vollständig recht-
fertigen. Es muß gleichsam auf der Grundlage der eigenen systematisch
verfaßten Position die Möglichkeit von Fehldeutungen aufgewiesen wer-
den, welche in den Modellen von Kant, Jacobi und Schelling bzw. Hölder-
lin zutage treten (161). Die geforderte Darstellung von Fichtes positiver
Theorie erfolgt jedoch in der W.L. von 18042 laut Schlösser »ohne Recht-
fertigung der Schritte« (148). Ebenso wenig argumentativ und ebenso kurz
wie im Originaltext beschreibt auch Schlösser diesen »neuralgischen«
Punkt (148-152).
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Rezensionen 151
zttgtgtgtgzu
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Die vorliegende Arbeit spricht ein Thema an, das unter verschiedenen Per-
spektiven für die aktuelle Fichte-Forschung von erheblichem Belang ist.
Der Wert des Beitrags von Petra Lohmann liegt besonders in dem mono-
graphischen Ansatz, der einen guten Überblick über den Begriff des Ge-
fühls in der Philosophie Fichtes gewährt: Die von der Autorin angebotene
Literaturübersicht zeigt nämlich, wie Einzelaspekte dieses Problemfeldes
bereits ausführlich betrachtet wurden, zugleich aber, daß die bis jetzt auf-
geführten Untersuchungen auf einen bestimmten Zeitabschnitt oder auf
einen bestimmten Aspekt des Themas beschränkt bleiben. Lohmanns An-
spruch besteht darin, neue Aspekte des Fichteschen Gefühlsbegriffs in ih-
rer je eigenen Entwicklung und in ihrer Bezogenheit aufeinander im Kon-
zept der Fichteschen Philosophie von 1780 bis 1801 zu untersuchen und
zugleich die bereits veröffentlichten Einzelstudien durch das Angebot ei-
ner Explikation der zentralen Rolle des Gefühls in Fichtes Philosophie zu
ergänzen und zu erweitern.
Die unter dem Stichwort Selbstobjektivierung des Subjektes zu-
sammengefaßte Theorie des Gefühls wird von Lohmann sowohl im mora-
lischen als auch im erkenntnistheoretischen Bereich untersucht. Die Ana-
lyse konzentriert sich dabei zunächst auf die Darstellung der Grundlegung
der Funktion des Gefühls (Kap. III): Bei der Untersuchung derjenigen
Schriften, die Fichte unmittelbar vor der Grundlage verfaßte, hebt Loh-
mann die Vermittlungsleistung des Gefühls zwischen transzendentaler
Ebene (dem reinen Willen) und empirischer Ebene (dem empirischen Wil-
len) hervor. Nach Lohmann gelingt Fichte die Fundierung in diesen Wer-
ken nicht vollständig. Jedoch sind die Prämissen hier bereits enthalten, die
Fichte in den darauf folgenden Jahre zu einer selbstständigen Konzeption
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Rezensionen 153
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154 Rezensionen
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Rezensionen 155
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156 Rezensionen
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Rezensionen 157
an Gott nicht genügend fundiert. Dem religiösen Gefühl scheinen alle an-
deren Formen des Gefühls subordiniert werden zu können.
Einen nicht geringen Anteil an dieser Wertung hat die Ausblen-
dung von Werken aus der Spätzeit (ab 1801), was durchaus auch fragwür-
dig erscheint, wenn es in diesem Text um einen Gesamtblick auf Fichtes
Konzeption gehen soll – wie es der Titel verspricht. Warum die späten
Texte Fichtes unberücksichtigt bleiben, wird nirgendwo im Text näher be-
gründet. Die Berücksichtigung der populären Schriften mag zu dem Ein-
druck beitragen, daß ihr Interpretationsansatz – auch für die spätere Zeit –
gut belegt ist. Indes bleiben gewichtige Zweifel. Der Bezug auf die popu-
lären Schriften ist trügerisch, denn Lohmann erspart sich weitere Überle-
gungen zur Frage der Vermittlung philosophischer Inhalten in populärer
Formen.
Die Untersuchung späterer Texte hätte gewiß einige Grundzüge
der vorgeschlagenen Interpretation bestätigen können. Andererseits dürfte
dadurch aber die religiös dominierte Auffassung des Gefühls in Lohmanns
Interpretation problematisch werden. Die Frage besteht darin, ob und in-
wiefern aus der Sicht der Spätphilosophie tatsächlich das religiöse Gefühl
bei Fichte als zentral und grundlegend angesehen werden muß. Beispiel-
weise hätte die in den Tatsachen des Bewußtseins ausgearbeitete Theorie
der Wahrnehmung zeigen können, wie Fichtes Konfrontation mit der Kan-
tischen Auffassung eine Konstante seiner philosophischen Untersuchun-
gen bleibt. Der Kantische Begriff der Rezeptivität wird dort auf die unmit-
telbare Selbstbeziehung des Subjektes zu sich selbst zurückgeführt und
unter dem Stichwort »Gefühl« bzw. Selbstgefühl zusammengefaßt. Ver-
schiedene Aspekte der Beziehung des Subjekts zur Welt, das Realitätsbe-
wußtsein, werden in den Berliner Vorlesungen thematisiert. Beispielweise
enthält die Theorie vom »Gesicht« Konnotationen, die Fichte im Rahmen
einer Theorie des Gefühls entwickelt, in denen der Vorrang des Sehens
eine Untersuchung verdienen würde.
Eine solche Untersuchung würde Lohmanns Thesen um einiges
ergänzen, besonders was die Auslegung des Gefühls in Beziehung auf das
System der Sensibilität betrifft, die Lohmann schließlich aufgrund der WL
nova methodo und teilweise der Vorlesungen über Platners Aphorismen
durchführt. Dadurch würde es sich zeigen, daß die von Lohmann schön
skizzierte Entwicklungslinie auch in den Werken nach 1801 weiter zu un-
tersuchen ist. Es besteht ein berechtigter Zweifel, ob und in welchem Sin-
ne das Stichwort »Glauben an Gott« dann noch zutreffend sein kann. Die
Auseinandersetzung mit dem Begriff des Glaubens könnte beispielsweise
in der Sittenlehre 1812 verfolgt werden, und zwar anhand der Unterschei-
zttgtgtgtgzu
158 Rezensionen
dung des sittlichen Sinns – den Fichte als Gefühl bezeichnet – von der Se-
he. Sehe und Gefühl stehen nach der Sittenlehre 1812 in absolutem Ge-
gensatz: Nur ein zur Klarheit gekommenes Gefühl kann Fichte als »sittli-
chen Glaube« bezeichnen.: »Der sittl. Glaube ist es, wo es zu wahrer ϕ.
kommt, der sich selbst zur Klarheit, u. zum Triebe des sehens wollens,
entwikelt.« (GA IV, 13, 390). Gefühl bedeutet also eine noch nicht zur
Klarheit gekommene Erkenntnis und unterscheidet sich vom Glauben, der
aus einer wissenschaftlich fundierten Position hervorgeht. Die Unmittel-
barkeit des Gefühls ist dabei zugleich mit Dunkelheit und mit der Richtig-
keit einer Intuition verbunden, die Züge der Genialität und Inspiration be-
sitzt. Gerade die Auseinandersetzung mit den Berliner Vorlesungen kön-
nen zeigen, daß erkenntnistheoretische und praktische Dimension gerade
nicht der religiösen untergeordnet werden: vielmehr sucht Fichte die Wur-
zel, die Einheit dieser Momente. Dadurch kann zugleich Nähe und Distanz
Fichtes zur Kantischen Position gezeigt werden, da Fichte genau nach der
Wurzel der menschlichen Vermögen sucht, die Kant als unauffindbar er-
klärt. Das Gefühl spielt dabei eine zentrale Rolle: Als Vermittlungsinstanz
wird es in den späteren Werken in engen Zusammenhang mit der Einbil-
dungskraft, bzw. der Bildungskraft gebracht. Der Vorrang des Praktischen
wird sich beim späten Fichte in einen Vorrang des Ästhetischen verwan-
deln: Er arbeitet einen Begriff der auch gefühlten Freiheit aus, von dem
der Glaube an Gott schließlich der populäre Ausdruck sein wird.
Bedauerlicherweise muß zum Schluß bemerkt werden, daß der
Leser dieses wichtigen Buchs mit einer großen Menge an Rechtschreib-
fehlern konfrontiert wird, was den Lesegenuß leider nicht unerheblich
trübt.
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160 Rezensionen
Der Band setzt sich aus Kommentaren zum Titel, zur Vorrede, dem Ersten
(§§1-3), Zweiten (§4) und Dritten (§§5-11) Teil zusammen. Ein Verzeich-
nis zur benutzten Literatur, ein Sachregister zum Fichte-Text und ein Ver-
zeichnis der zitierten Arbeiten Fichtes bilden den Schluß. Im Aufbau fol-
gen die Kommentatoren dem Wortlaut der Grundlage, wobei sowohl zen-
trale Begriffe als auch ganze Textpassagen besprochen werden. Die ein-
zelnen Kommentare zeichnen sich durch eine komplexe Verweisstruktur
aus. Die mehr oder weniger deutlichen Textverweise Fichtes werden ge-
nau bestimmt. Neben dieser formalen Verweisstruktur hinsichtlich des
Fundortes wichtiger Textstellen besteht eine inhaltliche Verweisstruktur,
die es erlaubt, einen Argumentationsgang durch die Grundlage zu verfol-
gen. Detailanalysen werden auf diese Weise hervorragend unterstützt.
Grundsätzlich sind die Autoren bemüht, die Fichtesche Argumen-
tation der Grundlage zu verdeutlichen, wobei unterstützende Belegstellen
aus anderen Schriften Fichtes herangezogen werden. In den Verweisen auf
mögliche Interpretationen schlägt sich eine kritische Haltung zur bisheri-
gen Fichteforschung nieder. Der Interpretationslinie, die – grob gesagt –
das absolute Ich à la Hegel mit dem Selbstbewußtsein identifiziert, wird
eine Absage erteilt. Trotz einer ebenso kritischen Haltung dem Fichte-
schen Text gegenüber hebt der Kommentar die Plausibilität des Fichte-
schen Denkens hervor, die allerdings nur deutlich wird, wenn das sich set-
zende Ich konsequent in einer transzendentalphilosophischen Perspektive
und somit als Möglichkeitsbedingung empirischen Bewußtseins und nicht
als dieses selbst angesehen wird.
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Rezensionen 161
absolute Ich aus sich herausgehen muß, ohne dabei seinen Absolutheits-
charakter einzubüßen. Thematisiert wird die Frage, warum das absolute
Ich aus sich herausgehen sollte, um ȟber sich selbst zu reflektiren, und zu
fordern, daß es in dieser Reflexion als alle Realität erfunden werde.« (GA
I, 2, 408) Obwohl die Kommentatoren an verschiedenen Stellen ausführen,
daß das absolute Ich keineswegs als ein Bewußtsein, sondern als Element
des Setzungsgefüges des zu deduzierenden empirischen Bewußtseins be-
trachtet werden muß1, sprechen sie hier dem absoluten Ich die Unsicher-
heit zu, »ob es alle Realität ist.« (Ebd.) Der Grund zur Reflexion des abso-
luten Ich auf sein eigenes Setzen wird demnach in einem möglichen Ver-
hältnis des absoluten Ich zu sich selbst, in dem es seinen Realitätsgehalt
prüfen muß, gesehen. Wie allerdings die weiteren Ausführungen in Form
von Verweisen auf weitere Textstellen und Kommentare zeigen, kann die
Notwendigkeit eines selbstbezüglichen Setzens allein aus dem Dedukti-
onsziel, dem empirischen Bewußtsein, abgeleitet werden. Es finden sich
vier Verweise:
1. Im Kommentar 408, 292 wird erklärt, daß der Begriff »erfin-
den« in ursprünglicher Bedeutung auch »finden« bedeutet.
2. In 409, 27 wird die Reflexion genauer als eine dem Vollzug des
Ich wesentliche Reflexion im Sinne eines Gesetzes und nicht als eine
»willentlich bewusste oder initiierte Reflexion« (415) bestimmt. Es findet
sich hier ein Verweis auf 408, 28, wo Fichte erläutert, daß das Gesetz zur
Reflexion »in dem absoluten Seyn des Ich begründet« (GA I, 2, 408) ist.
Ein weiterer Verweis führt zum Kommentar zu 419, 1-2. Dort kommt das
Gesetz zur Reflexion én detail zur Anwendung.
3. Weiterhin wird auf 409, 2-3 verwiesen, wo der Begriff der
Öffnung weiter expliziert wird: »Aber es [das absolute Ich; P.G.] muß
auch, wenn es ein Ich seyn soll, sich setzen, als durch sich selbst gesetzt.«
(GA I, 2, 409) Die Kommentatoren sehen hier die These erhärtet, daß
»zum Ich [...] wesentlich Bewusstsein [gehört]« (409), da Fichte mit dem
Setzen-als die Subjekt-Objekt-Relation im Auge habe, die für ein reines
bzw. göttliches Bewußtsein gerade nicht gelte. Neben dem absoluten
Selbstsetzen ist die »Wiederholung« (GA I, 2, 409) dieses Setzens ent-
scheidend, um zum empirischen Bewußtsein zu gelangen, da erst durch
dieselbe die Begrenzung durch den Anstoß für das Ich ermöglicht werde.
Die Notwendigkeit des Anstoßes hinsichtlich einer gelungenen Reflexion
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führt die Kommentatoren zur These der »Defizienz des absoluten Ich im
Sinne des ersten Grundsatzes.« (409) Die entscheidende Rolle des
Anstoßes wird durch einen Verweis auf den Reflexionstrieb in §8
unterstrichen. Im weiteren Verlauf des Kommentars zu 409, 2-3 folgt ein
längeres Zitat aus den Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten
(1794). Dort unterscheidet Fichte ausdrücklich das reine Ich vom sich
selbst bewußten Ich hinsichtlich der Denkbarkeit beider. Als das
»eigentlich Geistige im Menschen« (GA I, 3, 28) ist das reine Ich
unbestimmbar. Das sich selbst bewußte Ich setzt dagegen »ein Etwas
außer dem Ich« (Ebd.) voraus, so daß von einem reinen bzw. absoluten Ich
mit Bewußtsein keine Rede sein kann. Die Bedeutung des wiederholenden
Setzens wird abschließend mit einem Zitat G. Zöllers sehr instruktiv
herausgestellt. Zöller expliziert das wiederholende Setzen nicht als eine
schlichte Duplikation, sondern als ein autoprädikatives Setzen.
4. In 409, 22-25 bestimmt Fichte das absolute Ich des §1 bzw. das
absolute Sichsetzen als »Idee des Ich, die seiner praktischen unendlichen
Forderung nothwendig zu Grunde gelegt werden muß.« (GA I, 2, 409) Die
Kommentatoren zeigen anhand eines längeren Zitats von B. Noll, in
welche Schwierigkeiten man gerät, wenn man die Absolutheit des Ich (§1)
auch für das empirische Ich absolut setzt. Dann resultiert beispielsweise
die Frage, ob »›das Ich überhaupt noch absolutes Ich [ist], wenn es sich als
Idee für das Bewußtsein unerreichbar ist‹«. (414) Entsprechend ihrer
Ankündigung in der Einleitung lassen die Autoren dieses Zitat unkom-
mentiert.
Weiterhin sei exemplarisch auf die Kommentierung der Passagen zur Be-
gründung des Anstoßes zu Beginn des §5 verwiesen.3 Es wird dort die
wichtige Frage untersucht, »ob denn bei Fichte wirklich der Gedanke ei-
nes ›Dinges an sich‹ ›überwunden‹ sei.« (354) Unter Berufung auf ein Ge-
dankenexperiment aus Jacobis David Hume über den Glauben, oder Idea-
lismus und Realismus (1787) und eine Arbeit Sollers wird argumentiert,
daß unterschiedliche Objektwahrnehmungen durchaus nach einem »›in
sich differenzierte[n] Anstoß‹« (356) fragen. Die Sorgfalt der Kommenta-
toren macht diesen kritischen Einwurf allerdings als eine mögliche Inter-
pretation kenntlich, indem diesbezügliche Äußerungen Fichtes angeführt
werden. In der Platner-Vorlesung, aus der eine längere Passage zitiert
wird, macht Fichte deutlich, daß das realistische Moment nicht überbewer-
tet werden darf. Dem Einwurf Sollers würde Fichte wohl mit dem Hinweis
3 Vgl. S. 354ff.
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Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Autoren das Anliegen eines
ausführlichen Kommentars zur Grundlage ihren Intentionen entsprechend
umgesetzt haben. Einerseits behalten sie durch die vielfachen Verweise
auf Kommentare und Textstellen das Textganze und damit den übergrei-
fenden Gedankengang im Blick, während sie andererseits schwierigen
bzw. fragwürdigen Passagen mit Detailanalysen begegnen. Neben dieser
sehr feingliedrigen Aufschließung der Grundlage selbst wird der Kom-
mentar durch zahlreiche Verweise auf Texte von Fichtes Zeitgenossen und
modernen Interpreten maßgeblich bereichert. Indem die Kommentatoren
mögliche Interpretationen auch als solche kennzeichnen, wird vermieden,
daß der Leser genötigt ist, den Gedankengang Fichtes einseitig zu bewer-
ten. Das Verfahren der Verfasser, kritische Interpretationsmöglichkeiten
aufzuzeigen, ohne diese im Sinne einer Metakritik weiter zu verfolgen,
gibt dem Leser wertvolle Anregungen, ohne die Argumentation Fichtes,
die im Mittelpunkt steht, aus den Augen zu verlieren. Die Forderung an
4 Vgl. S. 69-76.
5 Vgl. S. 129f.
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den Leser besteht somit darin, die aufgeworfenen Fragen selber weiter zu
verfolgen. Allerdings muß demgegenüber angemerkt werden, daß die
Kommentatoren sich dennoch explizit kritisch gegenüber solchen Interpre-
tationen äußern, durch die sie das Gesamtverständnis des Textes in ihrem
Sinne verletzt sehen. Im Ganzen stellt der vorliegende Kommentarband
eine äußerst hilfreiche und gut anwendbare Unterstützung bei der Er-
schließung und Interpretation der Grundlage dar. Gerade die Tatsache,
daß die Grundlage im Ganzen ohne einen Schwerpunkt bspw. auf das
Grundsatzkapitel bearbeitet wurde, kann nicht genügend betont werden.
So bleibt zu hoffen, daß die eher wenig beachteten §§6-11 in Zukunft ein
größeres Interesse auf sich ziehen werden.
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Sinn und Zweck des Opfers Christi sei die Wiederherstellung des göttli-
chen Lebens in uns. Herr Danz seinerseits zeigt, wie Schelling eine »posi-
tive« Idee des trinitarischen Gottes (Absoluten) herausarbeitete mit Bezug
auf Athanasius von Alexandrien, der die substantielle Verschiedenheit von
zwei ersten Gottespersonen zu schwach hervorgehoben hätte, eine Ver-
schiedenheit, die auf die Freiheit (Unableitbarkeit) des Aktes der ewigen
Zeugung des göttlichen Sohnes hinweise.
Der patristische Gedanke kommt eigentlich nur in einem Aufsatz
zur Geltung ebenso wie Aristoteles. Die Verwandtschaft von Schellings
und Augustinus’ Lehre vom Bösen bestehe – so P. L. Oesterreich – in der
Ausnützung des Motivs der Perversion, der Abwendung vom göttlichen
Lichte; der Hauptunterschied, welcher die Bedeutsamkeit der Konzeption
aus der Freiheitsabhandlung für die Gegenwart ausmache, habe sein We-
sen in der Betonung der Wirklichkeit, der Positivität des Bösen bei Schel-
ling. A. Denker, der sich bei dem Herrn Ch. Asmuth für die »Hilfe bei der
Herstellung des deutschen Textes« sehr herzlich bedankt, wiederholt die
Beschreibung der dreifachen Struktur des »positiven« Absoluten, um zu
zeigen, daß die Aristotelische Metaphysik für Schelling der Lösung des
Problems dienen sollte, einen Ausgleich herbeizuführen zwischen dem in
der »positiven« Philosophie herausgehobenen Gott und der in der »negati-
ven« Philosophie herausgehobenen Welt. Doch trotz des positiv-empiri-
schen Ausgangspunkts müßte sich Aristoteles mit der Fassung des Abso-
luten als eines Wesens, und nicht mehr als eines lebendigen Seins begnü-
gen, was letztendlich seine »negative« Einstellung aufweise. Erst das
Christentum könnte eine neue Perspektive des durchaus positiven Denkens
Gottes schaffen.
Den Beziehungen zur antiken Wissenschaft werden zwei Aufsätze
gewidmet. Zum einen der auf italienisch geschriebene Text von X. Tilliet-
te, der sich mit dem pythagoräischen Erbe beim frühen Schelling befaßt,
und zum zweiten das Referat von P. Ziche, der beweist, daß nicht allein
das kantische oder leibnizische, sondern auch das antike Verständnis von
Mathematik einen wesentlichen Einfluß auf die Ausarbeitung der Methode
beim jungen Schelling gehabt habe, das philosophische System zu kon-
struieren – u. a. dank Christoph Friedrich Pfleider, dem Tübinger Lehrer
der Mathematik. Diese Methode beginne mit dem höchsten Grundsatz,
und das ganze Konstruieren vollziehe sich im inneren Sinn, was eine Fol-
ge der neuzeitlichen Verallgemeinerung von Arithmetik sei.
Es sei uns erlaubt, die Darstellung der Textinhalte mit kurzen Be-
merkungen zu den Aufsätzen zu schließen, die sich mit dem kulturellen
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Das vorliegende Buch untersucht das System, das Fichte in den Jahren
1810-1814 an der Universität Berlin erarbeitete, unter der Voraussetzung,
dass man kein volles Verständnis von Fichtes Philosophie erlangen kann,
wenn man nicht alle Teile der systematischen Konstruktion bedenkt. Die
Perspektive der Rekonstruktion ist zugleich chronologisch und systema-
tisch: Die Vorlesungen Fichtes werden in ihrer zeitlichen Reihenfolge
verhandelt; aber stets werden die systematischen Verknüpfungen zwischen
den verschieden Vorlesungen aufgezeigt mit der ausdrücklichen Absicht,
den Unterschied zwischen den einleitenden Kursen, den Vorlesungen über
die Wissenschaftslehre und denen der angewandten Philosophie gewidme-
ten Vorträgen zu verstehen.
Der erste Teil ist der »Wissenschaftslehre 1811« gewidmet, deren
Struktur insbesondere in Beziehung auf die Thatsachen des Bewußtseins
1810/1811 untersucht wird. Furlani lenkt seine Aufmerksamkeit auf das
Problem der zwei Zugangsarten zur Transzendentalphilosophie: eine un-
mittelbar aus den Prinzipien (dem Prinzip, der Erscheinung Gottes, die
Voraussetzung der WL) und eine mittelbare, die die Tatsachen als bloße
faktische Phänomene betrifft und nur ein propädeutisches Ziel hat.
Wie können beide Wege nebeneinander bestehen? Die Lösung
Furlanis ist folgende: Die Argumentation am Anfang der WL, mit der
Fichte den absoluten Idealismus (Schelling) und den absoluten Realismus
(Spinoza) zugleich abweist, enthält den Gedankengang der Thatsachen des
Bewußtseins 1810/1811, d.i. den Verlauf der natürlichen Entwicklung des
gewöhnlichen Bewußtseins. Der erste Teil der Thatsachen des Bewußt-
seins 1810/1811 (»in Beziehung auf das theoretische Vermögen«) geht
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ausführlich auf die Zustände des Wissens (äußerer und innerer Sinn, Re-
produktion oder Erinnerungsvermögen) des natürlichen und konkreten
Bewußtseins ein, die auf der Grundbehauptung des absoluten Realismus
gegründet sind. Der zweite Teil (»in Beziehung auf das praktische Ver-
mögen«) hat die Grundannahme des absoluten Idealismus als Vorausset-
zung und beschäftigt sich mit den auf dieser Anschauung begründeten Zu-
ständen. In diesem Sinne ist die Kontinuität zwischen dem vortranszen-
dentalen einleitenden Wissen (Tatsachen des Bewusstseins) und dem
transzendentalen Wissen (Wissenschaftslehre) gewahrt: Aber nur die Wis-
senschaftslehre ist »Philosophia prima«. Diese enthält die transzendentale
Deduktion, die sich durch fünf Schemata entfaltet: – Vermögen, Abzie-
hung Gottes, Reflex, Reflexibilität, Reflex des Reflexes. Jedes Schema ist
durch einen Widerspruch charakterisiert, der auf das vorhergehende Sche-
ma zurückwirkt und zum folgenden forttreibt. In den Schemata spiegelt
sich somit die Dialektik zwischen den Bedingungen der Erscheinung des
Absoluten und den Möglichkeitsbedingungen des Bewußtseins wider, die
zwei Deduktionsweisen – von oben nach unten und von unten nach oben –
eröffnet. Besondere Aufmerksamkeit richtet Furlani auf die Figur der »Re-
flexibilität«, die es erlaubt, die Vermittlung zwischen Absolutheit und Er-
scheinung zu realisieren. Da diese Vermittlung nur von einem »Soll« ge-
leistet wird, ist die Komposition von Unendlichem und Endlichem aber
bloß problematisch.
Die Fünffachheit ist jedoch nicht nur eine Darstellungsstruktur,
sondern auch die Struktur des Bewußtseins, das transzendental legitimiert
ist. Da aber diese Struktur auch im dritten Teil der Thatsachen des Be-
wußtseins auffindbar ist, und zwar in der Manifestation Gottes als Gesetz
für das Bewußtsein in fünf »Grundformen«, die selbst nicht wieder gene-
tisch gerechtfertigte Projektionen der fünf Schemata sind, entsteht das Ri-
siko der Überlagerung der transzendentalen Schemata der WL und der
faktischen projektiven Grundformen der Tatsachen des Bewußtseins.
Denn wenn die transzendentalen Schemata nur Projektionen oder Verab-
solutierungen von psychologischen, bewußtseinsmäßigen faktischen
Strukturen wären, würde die Wissenschaftslehre ihre Absolutheit verlie-
ren.
Dieses Problem zwingt – nach Furlani – Fichte dazu, die folgen-
den Versionen der »Tatsachen« und die Darstellungsform der letzten voll-
ständigen Wissenschaftslehre (1812) zu ändern. Der zweite Teil des Bu-
ches (»Die Struktur der WL 1812«) analysiert die WL 1812 mit Bezug auf
die zwei Vorlesungsreihen über die Transzendentalen Logik. Auch in der
WL 1812 bilden die fünf Schemata die Grundstruktur, aber Fichte fügt ei-
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nen parallelen Standpunkt hinzu. »Schema I« und »Schema II« sind als
»Erscheinung« und »Erscheinung der Erscheinung« abgeleitet, ohne daß
die Deduktion auf die vorherigen Glieder zurückwirkt. Von da aus de-
duziert Fichte in einer »Nebenbetrachtung« eine fünffache Struktur, deren
Produkt oder Projektion die »Erscheinung der Erscheinung der Erschei-
nung« und die der Standpunkt des konkreten Bewußtseins ist. Fichte be-
ginnt dann wieder aus der absoluten Erscheinung zu deduzieren: Die
transzendentale Deduktion entspricht genau derjenigen der WL 1811. In
der letzen Sektion der WL 1812, die der »Reflexibilität« gewidmet ist,
zeigt Fichte wie die transzendentalen Strukturen aus der Konkretheit des
Systems des Bewußtseins entspringen. Absicht Fichtes sei es, das Problem
des Verhältnisses zwischen der konkreten (natürlichen und vor-wissen-
schaftlichen) Dimension (der fünffachen Struktur des Endes der Thatsa-
chen des Bewußtseins 1810/1811) und der transzendentalen Dimension
(der WL) aufzulösen, aber diesmal innerhalb der WL als transzendentaler
Deduktion und als Philosophia prima. Laut Furlani scheitert aber diese
Strategie, weil das schlechthin Faktische – aus der Perspektive der gene-
tischen Deduktion aus der absoluten Voraussetzung als letzte Implikation
der Grunddeduktion – nur ›gefunden‹ werden kann. Auch die erste Vorle-
sung über die transzendentale Logik – deren systematischen Entsprechun-
gen mit der WL ausführlich erörtert werden – würde das Problem nicht lö-
sen: Indem, dem Empirismus entgegen, das Wesen der Empirie als »Bild-
lichkeit der Erscheinung« erklärt wird, wird das empirische faktische Wis-
sen vernachlässigt, und selbst die Logik verwandelt sich in eine Wissen-
schaftslehre.
Der entscheidende Mangel in Fichtes Deduktion wird an einer
Stelle der WL 1812 gefunden, wo der Reflex (III. Schema) folgender-
maßen bestimmt wird: »Kein Bewußtseyn, Bild, usf. ohne Selbstbewußt-
seyn, d. i. Bewußtseyn des ‹formalen› Seyns der Erscheinung« (GA II, 13,
77 (13v). Dies bedeutet – nach Furlani – daß das Faktische aus dem
Grundsehen bzw. aus dem absoluten Wissen kommt, und daß der Paralle-
lismus zwischen beiden verschwindet. Wichtiger sei aber, daß »diese Be-
hauptung auf dieser Ebene der Deduktion nicht gerechtfertig ist« (S. 155),
weil das Bewußtsein nur in der Dimension der Reflexibilität vorkommt,
die als »Rückbeziehung« Selbstbewußtsein und als »Begrenzbarkeit« oder
»Anschaubarkeit« Bewußtsein ist. Der Widerspruch, der die Setzung des
dritten Schemas (Reflex) als transzendentaler Bedingung bewirkt, basiert
auf der Notwendigkeit, den Dualismus zwischen dem Sein Gottes und
dem Sein der absoluten Erscheinung zu vermeiden. Da aber der Reflex die
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ken Fichtes zwar einheitlich ist, aber dies gelte ebenso für die Probleme
der transzendentalen Perspektive.
Nichtsdestotrotz bleibt das Problem der ungenügenden Vermitt-
lung zwischen dem faktischen und dem transzendentalen Wissen, mit dem
der Autor immer wieder ringt, m.E. nur dann bestehen, wenn die Möglich-
keit der Erscheinung des Absoluten und die Deduktion des Bewußtseins
als von Anfang an getrennt betrachtet werden. Dies ist eben – gegen Furla-
nis Standpunkt, der anscheinend von der Hegelschen Kritik der »schlech-
ten Unendlichkeit« stillschweigen beeinflußt ist – beim späten Fichte nicht
der Fall. Wäre die Struktur der Fünffachheit, der Furlani ein so großes
Gewicht zuschreibt, auch auf dem Niveau der Theorie des Bildes in der II.
»Transzendentalen Logik« untersucht worden, hätte das Problem in einem
anderen Licht erscheinen können. Die Transzendentale Logik, die zwar,
wie Furlani ausdrücklich betont, selbst Wissenschaftslehre ist, denkt über
die Form der Wissenschaftslehre als Lehre der Form des Wissens nach,
und somit erklärt sie die Wechselbestimmung zwischen Faktum und Ge-
nesis bzw. die Bedeutung der Zirkularität zwischen der hypothetischen
Voraussetzung des Prinzips und deren kategorischer Bestätigung im und
für das Bewußtsein. Eine stärkere Betonung der Kreisförmigkeit der WL
als Strategie der genetischen Begründung hätte die Probleme lösen kön-
nen, die sich auf dem Niveau der Deduktion darstellen, insbesondere das
Problem der Vermittlung zwischen dem Transzendentalen und dem Fakti-
schen.
Das Buch ist ein grundlegendes Werk für die Erforschung des
deutschen Idealismus, eine fundamentale Arbeit, der eine herausragende
Stellung insbesondere für die Fichte-Forschung zugeschrieben werden
muß. Zunächst ist dieses Buch das erste, welches das ganze neue Material
von Fichte benutzt, das in der Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie
der Wissenschaft veröffentlicht wurde. Zudem sind die Argumentationen
Furlanis immer stringent und konsequent. Die interne Struktur des Buches
ist solide. Die begriffliche Entwicklung der untersuchten Darstellungen
der WL ist jeweils erklärt und geprüft, auch dank stets zuverlässiger und
aufschlußreicher Bezüge zur Sekundärliteratur. Die Verknüpfungen zwi-
schen den verschiedenen Niveaus des Fichteschen Philosophierens sind
deutlich aufgezeigt und die Schwierigkeiten, die das Zunehmen von ver-
schiedenen Arten von Einführung zur Philosophie (faktische Einführung:
Thatsachen des Bewußtseins; wissenschaftliche Einführung: Transzenden-
tale Logik) mit sich bringt, sowie die Probleme, die das Verhältnis zwi-
schen der Philosophia prima der WL und der angewandten Philosophie
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Meister Eckhart und Johann Gottlieb Fichte – ein Thema mit Geschichte.
Mit einer problematischen Geschichte. Die Verwicklungen sind prekär.
Und das betrifft beide Denker. Bereits die Entstehung der Eckhart-For-
schung ist überschattet von einer nachromantischen Deutschtümelei. Erst
recht sind Planung und Beginn der Eckhart-Ausgabe in den 30er Jahren
des 20. Jahrhunderts nicht zufällig mit der Blut-und-Boden-Rhetorik der
nationalsozialistischen Propaganda verwoben. Dieses Geflecht von Inter-
essen wissenschaftlicher, psychologischer oder politischer Provenienz
mag in historischer Perspektive auseinander zu dividieren sein: Jedenfalls
entspringen sie einer unschönen Allianz.
Der Philosophie Fichtes erging es nicht anders. Nach dem Sieg
Deutschlands über Frankreich und nach der Reichseinheit unter der Füh-
rung Preußens entlarvte sich Fichte als unfreiwilliger und doch dienstbarer
Prophet. Seine postrevolutionäre Rhetorik machte sich gut in den Jahren
bis zum Ersten Weltkrieg, und die Kriegsbegeisterung des August 1914
blies die Stimme Fichtes durch das Sprachrohr der deutschen Gelehrten
und Gebildeten bis in die Hinterzimmer der wilhelminischen Kleinbürger.
Und auch in den Jahren der Weimarer Republik gehörten die ›Reden an
die deutsche Nation‹ zum klassischen Bildungsschatz des deutschen Pa-
trioten.
Der Auftritt beider Philosophen im Doppelpack machte die Sache
nicht besser. Alfred Rosenberg entwarf in seinem haßerfüllten ›Mythus
des 20. Jahrhunderts‹ eine ideologische Generallinie des Nationalsozialis-
mus, deren Eckpfeiler u.a. Meister Eckhart und Johann Gottlieb Fichte bil-
deten. Ihm folgten einige der bekanntesten Publizisten. Aber auch die phi-
losophische Wissenschaft war von Thema und ideologischem Horizont in-
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der Autor nicht nur Eckhart und Fichte in eine Linie, sondern auch Platon
und Kant. Bei dieser Linie handle es sich um eine platonisch-idealistische;
sie sei ethisch-existentiell (175) und schließe Platon als Transzendental-
philosophen mit ein (191). So sieht sich der Autor genötigt, den Gang der
Untersuchung mehrfach zu unterbrechen, um in langen Exkursen systema-
tische Positionen bei Platon und Aristoteles zu diskutieren. Daraus folgt
eine assoziative Struktur, bei der der Autor sich selbst ins Wort fällt und
zur Ordnung rufen muß: »Doch zurück zu Eckhart.« (156, 178)
Der weitgespannte Bogen nivelliert die historischen und systema-
tischen Differenzen. Überhaupt fragt es sich, ob eine deutliche Charakteri-
sierung der Unterschiede nicht ein sinnvolleres Projekt darstellte. Die Po-
sitionen Eckharts und Fichtes werden hier nur nebeneinandergestellt, und
ihre Gemeinsamkeiten sollen von selbst ins Auge fallen (127f.). Eine
Skepsis gegenüber der eigenen Perspektive, in der die Ähnlichkeiten als
solche aufscheinen, stellt sich nicht ein.
Am Anfang des Buches verrät der Autor, daß seine Arbeit eine
das »Historische ausklammernde Deutung« sei (28). Tatsächlich läßt
sich seine Grundthese eines ethischen Idealismus bei Eckhart und Fichte
nur vertreten, wenn man systematisch argumentiert. Allerdings verzich-
tet der Autor keineswegs auf historische Argumente. Im Gegenteil: Der
Leser wird mit einer Fülle historischen Materials vertraut gemacht. Dazu
gehört nicht zuletzt eine Edition des Avignoneser Gutachten über 28
Eckhart belastende Artikel sowie ein Kapitel über Eckharts Inquisitions-
prozeß. Auch das Fehlen eines Textzeugnisses bei Fichte, mit dem eine
etwaige Lektüre Meister Eckharts belegt werden könnte, versucht der
Autor auf spekulativem Wege zu beseitigen. Er versucht nämlich diese
Lücke durch einen imaginativen historischen Beleg zu schließen, eine
Lücke, die ihn in systematischer Hinsicht gar nicht bedrücken müßte
(265).
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eines Baumgarten oder eines Crusius hingewiesen, es ist auch von der Be-
stimmung des Menschen Johann Joachim Spaldings die Rede, die sich be-
kannterweise mit einem Thema befaßt, das auch in einer gleichlautenden
Schrift Fichtes behandelt werden wird. Gellerts Vorlesungen, so Bacin,
»berühren viele zentrale Themen und Begriffe der zeitgenössischen phi-
losophischen Kultur [ ...] wie die der Bestimmung des Menschen oder des
Gewissenstriebs, die dann später in Fichtes Reflexion weiterentwickelt
werden« (67).
Die Kontinuität zwischen unserem Philosophen und einigen Auto-
ren der Schulphilosophie wird von Bacin auch in einer zweiten Hinsicht
gezeigt. Man könne nämlich nicht bloß feststellen, dass Fichtes erste Lek-
türe in Schulpforta ein direktes Echo in den späteren Texten findet, son-
dern dass auch Stellen seiner frühen Schriften, die unter deutlichem Ein-
fluß von bekannten Autoren stehen, ihr Gegenstück in den späteren Jahren
erhalten. Dies ist z. B. der Fall der klassischen Theorie der Künste, der zu-
folge das docere, movere et delectare Objekt des Redners ist – eine Lehre,
die von Quintilian über Ernesti und Gottsched bis zur Oratio valedictoria
Fichtes gelangt und die auch später in Schriften wie der Practischen Phi-
losophie und den Vorlesungen Über Geist und Buchstabe in seiner Philo-
sophie nachweisbar ist (142-143).
Max Wundts These, das Verfahren der Wissenschaftslehre sei
»als eine Fortsetzung und Weiterführung der von Fichtes Vorgängern [un-
ter anderem von Christian Wolff] in der Philosophie angebahnten Metho-
de« zu begreifen2, stützt sich nur auf eine mehr oder minder annehmbare
Ähnlichkeit im theoretischen Prozedere (in unserem Fall mathematischer
Art). Bacins Buch hingegen begnügt sich damit, die theoretisch weniger
weit gehende, aber dafür historisch beweisbare Tatsache festzuhalten, daß
der junge Fichte sich mit Wolffs Lehrmittel für Mathematik [sc. mit den
Auszügen aus den Anfangs-Gründen aller Mathematischen Wissenscha-
ften] befassen mußte (48-49).
Das aus dieser Untersuchung resultierende Bild von Fichte kann
auch deswegen als innovativ für die Forschung bewertet werden, weil es
Aspekte in sich enthält, die bisher zu wenig beleuchtet wurden. Viele da-
von tragen dazu bei, die Ausbildung in Schulpforta, allgemeiner: einen
großen Teil der spekulativen Reflexion des Philosophen von Rammenau
als in der damaligen Schulphilosophie verankert zu betrachten. Genauer,
sie erweckt den Eindruck, sehr stark unter dem Einfluß der sogenannten
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Tagungsbericht
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Tagungsbericht
Vom 19. bis 21. Mai 2005 fand im Barockschloß zu Rammenau eine Ta-
gung der Internationalen J. G. Fichte-Gesellschaft und des Istituto Italiano
per gli Studi Filosofici (Neapel) anläßlich des Geburtstages von Johann
Gottlieb Fichte zur Wissenschaftslehre 1805 statt. Am Abend des 19. be-
gann die feierliche Eröffnung im Spiegelsaal mit Klavier und Querflöte.
Nach Grußworten der Leiterin des Schlosses, Frau Roswitha Förster, und
der Bürgermeisterin, Frau Hiltrud Snelinski, eröffnete Prof. Dr. J. Stol-
zenberg die Tagung. Prof. Dr. K. Hammacher hielt einen öffentlichen
Abendvortrag über Die großen Themen in Fichtes Leben und ging dabei
unter anderem auf Fichtes Auffassung von Gott, Glauben und Freiheit ein.
Am Freitagmorgen eröffnete Prof. Dr. Günter Zöller die Reihe der
Hauptvorträge, an die sich jeweils Korreferate anschlossen. Er sprach über
»Einsicht im Glauben« Der dunkle Grund des Wissens in der Wissen-
schaftslehre 1805. Dabei stellte er ausgehend von Aufzeichnungen Fichtes
im Umfeld der WL 05 die Bedeutung des Glaubens für eine mögliche
Vollendung der Wissenschaftslehre heraus. Das Methodenkonzept der
Selbsttranszendenz des Wissens, die im Glauben erreicht wird, stand dabei
im Mittelpunkt. Im anschließenden Korreferat ging Patrick Grüneberg auf
das Ich als den Repräsentanten des Absoluten ein. Als ein Hauptpunkt der
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Diskussion wurden anschließend durch Ch. Asmuth zwei Begriffe des Als
hinsichtlich des Differenzmoments der Existenz und des Identitätsmo-
ments im Ich (oder Wir) der WL herausgestellt.
Christoph Binkelmann, M.A., widmete sich der Selbstbezüglich-
keit des Wissens. Unter dem Titel »Die absolute Relation ist das Licht«
Der Relationsbegriff in Fichtes Erlanger Wissenschaftslehre legte er die
Einheit von Identität und Duplizität beziehungsweise die Wechselbestim-
mung von Intelligenz und Intuition im zentralen Begriff des Als dar. In
ihrem Korreferat vertiefte Dr. Katja Crone die begriffliche Gegensatzrela-
tion im Sinne eines Inferentialismus. In der Diskussion wurde durch A.
Bertinetto auf den Unterschied von Logik und Philosophie eingegangen.
H. Traub fragte nach dem Zusammenhang einer formallogischen und ei-
ner transzendental-pragmatischen Urteilstheorie. Weiterhin ging G. Zöller
auf die Strukturunterschiede herkömmlicher Urteile und solcher über das
Absolute ein.
Im dritten Hauptvortrag entwickelte Dr. Hartmut Traub Fichtes
Begriff der Aufklärung in der WL 1805. Ausgehend von Fichtes ambiva-
lentem Verhältnis zum Zeitalter der Aufklärung arbeitete er einen trans-
zendentalen Gebrauch des Begriffes der Aufklärung heraus, der in einer
Darstellung Fichtes als Aufklärer der Aufklärung mündete, indem Fichte
das »Licht« der Aufklärung selbst transzendental reflektiert. Rocco Por-
cheddu zeichnete in seinem Korreferat die Entwicklung von Fichtes These
der absoluten Relationalität als Lösung des Grundwiderspruches der WL
05 nach. Die anschließende Frage von Ch. Asmuth nach einer etwaigen
therapeutischen Funktion der WL wurde in bezug auf die Anweisung zum
seligen Leben bejaht, bezüglich späterer Wissenschaftslehren aber ver-
neint. G. Zöller vermißte in Traubs Interpretation den Zusammenhang von
intellektuell-kognitiver Erhellung und praktischer Vollendung in Fichtes
Aufklärungsbegriff und stellte Fichte als Kulturphilosophen heraus.
Die Reihenfolge umkehrend bereitete Kai Gregor, M.A., mit sei-
nem Korreferat zu einigen materialen Aspekten der Sittenlehre von 1812
den Hauptvortrag von Federico Ferraguto, M.A., vor, wobei das Werden
des Faktums des sittlichen Bewußtseins (das Soll) bei Gregor zentrale Be-
deutung erlangte. Unter dem Titel Die metakritische Funktion der Ist/Soll-
Spaltung in der Wissenschaftslehre von 1805 behandelt Ferraguto das Pro-
blem der Einleitung in die Wissenschaftslehre als den roten Faden von
Fichtes Denken. Die Diskussion eröffnete A. Bertinetto bezüglich der Be-
ziehung von Kritik und Philosophie mit der Frage, ob die Metakritik an
Fichte herangetragen oder immanent sei.
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