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Band 100
De Gruyter
Die Theorie des Guten
in Aristoteles’
Nikomachischer Ethik
von
Philipp Brüllmann
De Gruyter
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung
der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften
in Ingelheim am Rhein.
ISBN 978-3-11-022786-4
e-ISBN 978-3-11-022787-1
ISSN 0344-8142
Brüllmann, Philipp.
Die Theorie des Guten in Aristoteles‘ „Nikomachischer Ethik“ / von Philipp
Brüllmann.
p. cm. -- (Quellen und Studien zur Philosophie, ISSN 0344-8142 ; Bd. 100)
Revision of the author‘s thesis--Humboldt-Universität zu Berlin, 2007.
Includes bibliographical references (p. ) and index.
ISBN 978-3-11-022786-4 (hardcover : alk. paper)
1. Aristotle. Nicomachean ethics. 2. Good and evil. 3. Teleology. I. Title.
B430.B78 2011
171‘.3--dc22
2010043071
Inhalt .................................................................................................... IX
Abkürzungen ......................................................................................... XI
Einleitung ................................................................................................ 1
Literatur............................................................................................... 185
An. De anima
An. post. Analytica posteriora
Cat. Categoriae (Kategorienschrift)
EE Ethica Eudemia (Eudemische Ethik)
EN Ethica Nicomachea (Nikomachische Ethik)
Gen. an. De generatione animalium
Met. Metaphysica (Metaphysik)
MM Magna Moralia
Mot. an. De motu animalium
Part. an. De partibus animalium
Phys. Physica (Physik)
Protr. Protrepticus (Protreptikos)
Rhet. Ars rhetorica (Rhetorik)
Top. Topica (Topik)
Einleitung
_____________
1 Für die Zitate aus der Rhetorik greife ich hier wie im Folgenden auf die Übersetzung
von Christof Rapp (2002) zurück.
2 Einleitung
_____________
2 Im Verlauf der Arbeit wird deutlich werden, inwiefern sich die Ergebnisse auch auf
die Eudemische Ethik übertragen lassen.
3 ȇֻIJį ijȒȥȟș Ȝįվ ʍֻIJį ȞȒȚȡİȡȣ, ՍȞȡȔȧȣ İպ ʍȢֻȠȔȣ ijı Ȝįվ ʍȢȡįȔȢıIJțȣ, ԐȗįȚȡ ףijțȟրȣ
ԚĴȔıIJȚįț İȡȜı ·הİțր Ȝįȝȣ ԐʍıĴȓȟįȟijȡ ijԐȗįȚȪȟ, ȡ՟ ʍȑȟij’ ԚĴȔıijįț. Für die Zitate
aus EN I konnte ich auf eine unveröffentlichte Übersetzung von Klaus Corcilius zu-
rückgreifen, die ich allerdings immer wieder modifiziert habe. Für mögliche Fehler
Das Gute und das Erstrebte 3
Bekanntermaßen bieten diese beiden Sätze eine ganze Reihe von Interpre-
tationsproblemen. So scheint der Schluss vom ersten auf den zweiten Satz
einen „Quantorendreher“ zu enthalten und daher ungültig zu sein. Aus
„Für alle x gibt es (jeweils) ein y“ folgt nicht „Es gibt (genau) ein y für
alle x“. Außerdem ist nicht klar, wie die durch diho („deshalb“: a2) ange-
deutete Begründungsbeziehung genau zu verstehen ist. Geht es Aristoteles
darum, die im ersten Satz genannten Beobachtungen zu verallgemeinern,
oder sind diese Beobachtungen Beispiele für ein im zweiten Satz genanntes
Prinzip? Genauso unklar erscheint der Status der hier formulierten güter-
theoretischen Aussage. Verschiedene Möglichkeiten sind denkbar. So
könnte es sich (i) um eine Aussage über die Bedeutung des Ausdrucks
„gut“ handeln, so dass Aristoteles seine Ethik mit einer begrifflichen Klä-
rung beginnen würde. 4 Es könnte aber auch (ii) um eine Aussage über
grundlegende Eigenschaften menschlichen Verhaltens gehen, so dass
gleich zu Beginn der Ethik ein Bezug zur menschlichen Praxis hergestellt
würde. 5 Eine weitere Möglichkeit würde (iii) darin bestehen, dass hier ein
allgemeines teleologisches Prinzip zum Ausdruck kommt, das auf natur-
philosophischen Annahmen basiert. 6
Als Rechtfertigung der in der Ethik verwendeten Konzeption des Gu-
ten kann der Beginn von EN I eigentlich nur enttäuschen. Will man Aris-
toteles daher kein mangelndes Problembewusstsein vorwerfen, liegt es
nahe, diese Rechtfertigung an anderer Stelle zu vermuten. Die Bestim-
mung von Gütern als Strebenszielen würde dann durch eine Theorie be-
gründet, die in der Ethik als bekannt vorausgesetzt wird. Für die Rekon-
struktion dieser Theorie bieten sich allerdings wieder sehr unterschiedliche
Strategien an. So könnte man, um nur ein Beispiel herauszugreifen, eine
„naturalistische“ Interpretationsrichtung einschlagen, die Aristoteles in
etwa die folgende Auffassung zuschreiben würde: Da Lebewesen unter
„normalen Bedingungen“ das erstreben, was von Natur aus gut für sie ist,
kann die Eigenschaft, unter normalen Bedingungen erstrebt zu werden, als
Indiz für das Gutsein von Gegenständen betrachtet werden. Eine andere
denkbare Strategie würde darin bestehen, für eine „konsensualistische“
Deutung zu plädieren, nach der Aristoteles Werturteile als nicht im übli-
chen Sinn wahrheitsfähig begreifen würde. Nach dieser Deutung könnte
die Tatsache, dass etwas von allen erstrebt wird, als einzig mögliche Recht-
fertigung der These erscheinen, dass das Erstrebte etwas Gutes ist.
_____________
zeichne ich verantwortlich. Die Übersetzungen aus EN II ff. sowie aus der Eudemi-
schen Ethik stammen von mir. Die dabei herangezogenen Texte sind im Literatur-
verzeichnis aufgeführt.
4 Vgl. etwa Ackrill (1974/1995).
5 Diesen Bezug betont z.B. Höffe (21996).
6 Diesen Weg schlägt z.B. Terence Irwin (1980) ein.
4 Einleitung
_____________
7 Einige Interpreten legen großen Wert auf die Unterscheidung zwischen Aristoteli-
schen Aussagen über „das Gute“ und seinen Aussagen über „Güter“. Im Prinzip macht
eine Unterscheidung zwischen Gütern und dem Guten durchaus Sinn; nach meinem
Eindruck sind die Grenzen bei Aristoteles aber eher fließend. Zwei Beispiele: (i) Aris-
toteles bezeichnet das oberste Ziel des Strebens umstandslos sowohl als „das höchste
aller praktischen Güter“ (ijր ʍչȟijȧȟ ԐȜȢցijįijȡȟ ijȟ ʍȢįȜijȟ ԐȗįȚȟ: EN I 2,
1095a16-17) als auch als „das Beste“ (ijր ԔȢțIJijȡȟ: I 1, 1094a22), d.h. das „am meis-
ten Gute“. (ii) Aristoteles überprüft die den Lebensformen zugeordneten Güter Lust,
Ehre, Tugend usw. umstandslos anhand von Eigenschaften, die „dem Guten“ zuge-
sprochen werden (z.B. I 3, 1095b26). Die angemessenste Lesart scheint mir daher zu
sein, dass Güter für Aristoteles einfach Gegenstände sind, die als gut bezeichnet wer-
den. (Dies ist auch die Bedeutung, in der ich den Ausdruck „Güter“ hier wie im Fol-
genden verwende.) Ähnlich wie im Fall des Seienden versucht Aristoteles, anhand die-
ser Gegenstände etwas über „das Gute“ herauszufinden.
Zielsetzung und Aufbau der Arbeit 5
dass gleich zu deren Beginn ein Zusammenhang zwischen dem Guten und
dem Erstrebten hergestellt wird?
Mit Blick auf die Begründung der teleologischen Konzeption sind zwei
Ergebnisse der Untersuchung besonders hervorzuheben. Erstens wäre es
tatsächlich falsch, Aristoteles „mangelndes Problembewusstsein“ vorzuwer-
fen. Die gerade skizzierten Schwierigkeiten einer undifferenzierten Gleich-
setzung von Gütern und Zielen spielen vielmehr eine entscheidende Rolle
in der Aristotelischen Ethik. Allerdings sollte, zweitens, die „Lösung“ die-
ser Schwierigkeiten, das heißt die Begründung, inwiefern es zulässig ist,
das Gute als das Erstrebte zu bestimmen, nicht in einer wie auch immer
beschaffenen Hintergrundtheorie gesucht werden. Um Aristoteles’ Ein-
schätzung der teleologischen Konzeption des Guten zu verstehen, sollten
wir vielmehr die ersten Kapitel der Nikomachischen Ethik (I 1-5) selbst in
den Blick nehmen. Denn hier führt Aristoteles vor Augen, was geschieht,
wenn man die Gleichsetzung von Gütern und Zielen als Grundlage einer
Theorie des Guten ernst nimmt. Er macht deutlich, dass sich die als Ziele
aufgefassten Güter in relevanter Hinsicht, nämlich insofern sie gut sind,
unterscheiden.
Mit diesem Resultat ist bereits die wichtigste Konsequenz benannt, die
die teleologische Konzeption des Guten nach sich zieht. Wenn die im
Folgenden vorzustellende Interpretation Recht hat, dann legt Aristoteles
seiner Nikomachischen Ethik eine Auffassung des Guten zugrunde, zu der
er selbst ein keineswegs unkritisches, zumindest aber ein sehr differenzier-
tes Verhältnis hat. Und wie sich herausstellen wird, reagiert Aristoteles in
der weiteren Untersuchung, das heißt in erster Linie bei der Bestimmung
des menschlichen Glücks (EN I 6 ff.), 8 auf die Schwierigkeiten, die in EN
I 1-5 zutage getreten sind. Die Vorgehensweise des ersten Buches der Ni-
komachischen Ethik lässt sich unmittelbar auf die gütertheoretischen Erwä-
gungen der Kapitel I 1-5 beziehen. Diese Erwägungen geben gewisserma-
ßen den gütertheoretischen Rahmen vor, in dem sich die Argumentation
dann bewegt. (Im Gegensatz zu einer verbreiteten Forschungsmeinung
möchte ich zeigen, dass die in EN I 1 vorgenommene Identifikation des
Guten mit dem Erstrebten nicht „psychologisch“ aufgefasst werden sollte.
Auch dass Aristoteles wenig später vom Glück als dem höchsten Ziel
spricht: I 2, 1095a14-20, sollte m.E. nicht im Sinn eines „Psychologischen
Eudaimonismus“ verstanden werden. Vielmehr werde ich dafür plädieren,
die genannte Identifikation konsequent „gütertheoretisch“ zu verstehen,
_____________
8 Wie in 4.2 gezeigt werden soll, lässt sich eventuell auch der Aristotelische Rekurs auf
die Figur des „Tugendhaften“ (spoudaios) mit den gütertheoretischen Erläuterungen
aus EN I 1-5 in Verbindung bringen.
6 Einleitung
tion der eudaimonia, und damit letztlich seine Ethik, dialektisch begrün-
det, da er sie mit gängigen Meinungen abgleicht (I 8 ff.), oder ob er mit
dem Rückgriff auf das spezifische ergon des Menschen (I 6) eine eher me-
taphysische Fundierung im Sinn hat. Speziellere Interpretationsprobleme
betreffen die Einleitung des ersten Kapitels (1094a1-22), die zwei Fehl-
schlüsse zu enthalten scheint, oder die in Kapitel I 4 durchgeführte Ideen-
kritik, wo vor allem die Deutung des so genannten „Kategorienarguments“
(1096a23-29) umstritten ist. Nach meiner Überzeugung beruhen viele
dieser Interpretationsprobleme auf impliziten Voraussetzungen hinsicht-
lich des Argumentationsziels der jeweiligen Passage. Indem ich die Texte
auf ein anderes Argumentationsziel beziehe, positioniere ich mich daher in
der Regel nicht innerhalb einer Debatte, sondern zu einer Debatte als
Ganzer, etwa zu der erwähnten Diskussion um eine dominante oder in-
klusive Interpretation der eudaimonia (vgl. 1.2). Ich werde also eher versu-
chen, bestimmte Tendenzen oder Grundlagen einer bestehenden Diskus-
sion nachzuweisen, um so eine „Negativfolie“ für die eigene Interpretation
zu haben, als ein detailliertes Bild dieser Diskussion zu geben. Außerdem
möchte ich zeigen, dass die Spezialdebatten um bestimmte Abschnitte oft
den Blick dafür verstellen, was sich aus diesen Abschnitten für die Inter-
pretation der Nikomachischen Ethik gewinnen lässt. So werde ich zum
Beispiel mit Bezug auf das Kategorienargument aus EN I 4 eine Deutung
vorschlagen, die diesem Argument eine Funktion für die Untersuchung
zuweist, ohne sich auf eine kontroverse These zur Aristotelischen Seman-
tik einzulassen (vgl. 2.3.3). Die vorliegende Arbeit beansprucht jedoch
nicht, die Forschung zum ersten Buch der Nikomachischen Ethik in umfas-
sender Weise wiederzugeben oder ihr in allen Details gerecht zu werden.
Die Arbeit gliedert sich in vier Kapitel. Das erste Kapitel dient dazu, die
gütertheoretische Lektüre von EN I 1-9 vorzubereiten. Es soll gezeigt wer-
den, dass die in EN I gewählte Vorgehensweise zwangsläufig auf güter-
theoretische Fragen führt. Dazu werde ich mich an zwei einfachen Beo-
bachtungen orientieren: (i) Für Aristoteles bildet die Gleichsetzung zwi-
schen dem Glück und dem höchsten menschlichen Gut den Zugang zur
Bestimmung des Glücks. Die Beantwortung der Frage nach dem Glück
führt über die Beantwortung der Frage nach dem höchsten Gut (1.1).
(ii) Für Aristoteles ist die Frage nach dem höchsten Gut schwierig zu be-
antworten. Aus aristotelischer Sicht ist es keineswegs klar, was die These,
etwas sei das höchste Gut, überhaupt bedeuten soll. Dies lässt sich nicht
nur an den unterschiedlichen Kriterien des höchsten Guts aus EN I 5
ablesen, die in der Regel unter der Alternative einer inklusiven oder domi-
nanten Interpretation des Glücks diskutiert werden (1.2). Es wird auch in
jenen Passagen deutlich, in denen auf der Basis „anerkannter Güter“ eine
8 Einleitung
Definition des Guten vorgenommen werden soll, wie etwa in Rhet. I 6-7.
Die Komplexität der hier entworfenen Definition spiegelt die Komplexität
des Gegenstandes wider (1.3). Vor dem Hintergrund dieser beiden Beo-
bachtungen liegt es nahe, gütertheoretische Erörterungen in der Ethik zu
erwarten, zumal Aristoteles keinen (radikal) revisionistischen Ansatz ver-
tritt (1.4).
Die im ersten Kapitel umrissene Situation dient als Hintergrund für
die Interpretation von EN I 1-5. Wie gezeigt werden soll, entwickelt Aris-
toteles in diesen Passagen eine Theorie des Guten, die das Problem der
Verschiedenheit der Güter berücksichtigt. Der Grundgedanke dieser im
zweiten Kapitel enthaltenen Interpretation wurde bereits vorgestellt: Aris-
toteles bestimmt zwar gleich zu Beginn der Abhandlung Güter als Ziele
(I 1), dies bedeutet jedoch nicht, dass er eine teleologische Konzeption des
Guten für unproblematisch halten würde. Vielmehr machen die Kritik der
verbreiteten Meinungen über das Glück (I 2-3) und die Auseinanderset-
zung mit der Annahme einer Idee des Guten (I 4) deutlich, wo die Schwä-
chen des teleologischen Ansatzes liegen. Zu Beginn von EN I 5 verfügt
Aristoteles über eine „Einschätzung“ der Identifikation von Gütern und
Zielen und damit über Grundlinien einer Theorie des Guten. Die Inter-
pretation lässt sich durch die folgenden Schritte markieren: (i) Die ange-
messenste Deutung des Beginns von EN I 1 (1094a1-22) begreift den dort
vorgestellten Zusammenhang zwischen dem Guten und dem Erstrebten
als stipulativ. Aristoteles möchte zeigen, dass dieser Zusammenhang einen
Vergleich zwischen Gütern ermöglicht und so auf ein Kriterium eines
höchsten Guts führt. Er bietet aber weder eine Begründung der Gleichset-
zung zwischen Gütern und Zielen, noch verweist er auf eine solche Be-
gründung. Diese Deutung wird in Absetzung von der verbreiteten Auffas-
sung entwickelt, dass Aristoteles am Beginn der Nikomachischen Ethik die
Existenz eines höchsten Guts beweist (2.2.1). (ii) Die erste Behandlung der
Meinungen über das Glück, vor allem die Kritik der verbreiteten Lebens-
formen in Kapitel I 3, lässt sich als eine „Anwendung“ des in I 1 einge-
führten gütertheoretischen Ansatzes begreifen. Denn die hier besproche-
nen Güter wie Lust oder Tugend werden explizit als höchste Strebensziele
aufgefasst. Interessant an dieser Anwendung ist, dass in ihr einige Eigen-
schaften der teleologischen Konzeption des Guten zutage treten. So führt
die Gleichsetzung zwischen Gütern und Zielen offenbar in einen Relati-
vismus (Güter sind stets Güter „in Bezug auf“), und sie erfasst zweitens
nicht alle Kriterien des Guten. Daher stellt sich die Frage, wie man auf der
Basis eines teleologischen Ansatzes überhaupt ein höchstes Gut bestimmen
kann, das alle Kriterien des Guten erfüllt (2.2.2). (iii) Aber auch die Pla-
tonkritik in Kapitel I 4 enthält einen Hinweis, der die teleologische Kon-
zeption des Guten betrifft. Aristoteles macht nämlich nicht nur deutlich,
Zielsetzung und Aufbau der Arbeit 9
Das exegetische Ziel der vorliegenden Arbeit besteht darin, eine gütertheo-
retische Lektüre des ersten Buches der Nikomachischen Ethik vorzustellen. 2
Es soll gezeigt werden, dass diese Lektüre dem Text angemessener ist als
mögliche Alternativen.
Das folgende Kapitel dient zur Vorbereitung dieses Unternehmens.
Ich werde hier zum einen ein Problem skizzieren, das sich außerhalb der
Ethiken immer wieder andeutet 3 und das ich als „Problem der Verschie-
denheit der Güter“ bezeichnen möchte. Auf den Punkt gebracht besteht
dieses Problem darin, dass die Gegenstände, die üblicherweise Güter ge-
nannt werden, einander sehr unähnlich sind. Es fällt daher schwer, ein
einheitliches Kriterium des Guten zu entwickeln oder einen wertenden
Vergleich zwischen Gütern vorzunehmen. Zum anderen werde ich andeu-
ten, dass Aristoteles, nach seiner Vorgehensweise in EN I zu schließen,
eigentlich zu diesem Problem Stellung beziehen müsste. Auf diese Weise
wird ein möglicher Hintergrund für die Interpretation des ersten Buches
bereitgestellt. Im zweiten und dritten Kapitel dieser Arbeit werde ich dann
zeigen, dass Aristoteles tatsächlich zu dem genannten Problem Stellung
bezieht und dass hierin ein Schlüssel für das Verständnis seiner Argumente
liegt.
Das Kapitel gliedert sich in drei Abschnitte. Zunächst soll gezeigt wer-
den, dass die Gleichsetzung zwischen der eudaimonia und dem höchsten
Gut den sachlichen Ausgangspunkt der Aristotelischen Ethik bildet, wie
auch immer die weitere Bedeutung dieser Gleichsetzung aufzufassen ist
(1.1). Danach werde ich mich mit den Kriterien des höchsten Guts befas-
_____________
1 Thomson (1996, 129).
2 Streng genommen konzentriert sich die Untersuchung auf EN I 1-9. Aus Gründen
der Einfachheit werde ich aber in der Regel vom „ersten Buch“ sprechen.
3 Die wichtigsten Belege finden sich im dritten Buch der Topik (III 1-4), im ersten
Buch der Rhetorik (I 6-7) und in einigen Fragmenten des Protreptikos (insbes. B 71
und B 82 DÜRING).
12 1. Die Verschiedenheit der Güter
_____________
4 Von der genauen Übersetzung des Ausdrucks eudaimonia hängt für die vorliegende
Untersuchung nichts ab. Ich werde ihn daher in der Regel unübersetzt lassen oder mit
„Glück“ wiedergeben.
5 Vgl. EE I 1, 1214a7-8; I 7, 1217a21-22.
6 Genauer gesagt konzentriert sich Aristoteles in EN I explizit auf die menschliche
eudaimonia und das menschliche Gut: „Dass aber die menschliche Tugend zu unter-
suchen ist, ist offensichtlich. Denn wir suchten auch (von Anfang an) nach dem
menschlichen Gut und dem menschlichen Glück“ (ʍıȢվ ԐȢıij׆ȣ İպ ԚʍțIJȜıʍijջȡȟ
ԐȟȚȢȧʍտȟșȣ İ׆ȝȡȟ Ցijțǝ Ȝįվ ȗոȢ ijԐȗįȚրȟ ԐȟȚȢօʍțȟȡȟ ԚȘșijȡףȞıȟ Ȝįվ ijռȟ
ıİįțȞȡȟտįȟ ԐȟȚȢȧʍտȟșȟ: I 13, 1102a13-15); vgl. 3.2.
1.1 Das höchste Gut 13
Auf den ersten Blick scheint es so, als würde Aristoteles den Wert von
T nicht allzu hoch einschätzen:
Wir aber wollen [...] sagen, [...] was das höchste aller praktischen Güter ist. Dem
Namen nach stimmen wohl die meisten überein. Denn sowohl die Vielen als
auch die Wohlgesitteten nennen es ‚Glück’ [...]. Jedoch darüber, was das Glück
ist, sind sie sich uneinig, und die Vielen erklären es nicht auf dieselbe Weise wie
die Weisen. 7 (I 2, 1095a14-22)
Zu sagen, dass Glück das Beste ist, scheint aber vielleicht etwas allgemein Aner-
kanntes zu sein. Wir verlangen aber, noch deutlicher zu sagen, was es ist. 8 (I 6,
1097b22-24)
Es ist zwar allgemein anerkannt, dass die eudaimonia das höchste Gut ist;
die Frage, was die eudaimonia ist, wird dadurch aber nicht beantwortet.
Da jedoch gerade diese Frage beantwortet werden soll – vgl. die relativ
starke Formulierung potheitai de („wir verlangen aber“: 1097b23) –,
scheint T für die Untersuchung von untergeordnetem Nutzen. Dement-
sprechend wird in der Forschung häufig von einer bloß „formalen“ Be-
stimmung der eudaimonia durch T gesprochen, die von der entscheiden-
den „inhaltlichen“ Bestimmung abzugrenzen sei. 9
Dass die Frage nach dem Glück durch den Verweis auf das höchste
Gut noch nicht beantwortet wird, darf allerdings nicht darüber hinweg-
täuschen, dass T für die Herangehensweise in der Ethik eine wichtige
Rolle spielt. Die Identifikation der eudaimonia mit dem höchsten Gut
bietet den sachlichen Ausgangspunkt der ethischen Untersuchung. Um
dies zu verdeutlichen, möchte ich zunächst einen Blick auf das erste Buch
der Eudemischen Ethik werfen, wo sich Aristoteles explizit zur Rolle von T
äußert.
In der Eudemischen Ethik stellt Aristoteles gleich zu Beginn fest, dass
die eudaimonia das Schönste (ȜչȝȝțIJijȡȟ), Beste (ԔȢțIJijȡȟ) und Lustvollste
(ԱİțIJijȡȟ) ist (1214a7-8). Im Verlauf des Proömiums (I 1-6) kommt er
hin und wieder auf diese These zurück; was sie für die Ethik bedeutet,
wird aber erst mit dem Beginn der eigentlichen Untersuchung in Kapitel I
7 deutlich:
_____________
7 ȂȒȗȧȞıȟ [...] ijȔ ijր ʍȑȟijȧȟ ԐȜȢȪijįijȡȟ ijȟ ʍȢįȜijȟ ԐȗįȚȟ. ՌȟȪȞįijț Ȟպȟ ȡ՞ȟ
IJȥıİրȟ ՙʍր ijȟ ʍȝıȔIJijȧȟ ՍȞȡȝȡȗıהijįț· ijռȟ ȗոȢ ıİįțȞȡȟȔįȟ Ȝįվ ȡԽ ʍȡȝȝȡվ Ȝįվ ȡԽ
ȥįȢȔıȟijıȣ ȝȒȗȡȤIJțȟ [...] ʍıȢվ İպ ij׆ȣ ıİįțȞȡȟȔįȣ, ijȔ ԚIJijțȟ, ԐȞĴțIJȖșijȡףIJț Ȝįվ ȡȥ
ՍȞȡȔȧȣ ȡԽ ʍȡȝȝȡվ ijȡהȣ IJȡĴȡהȣ ԐʍȡİțİȪįIJțȟ.
8 Ԙȝȝ’ ՀIJȧȣ ijռȟ Ȟպȟ ıİįțȞȡȟȔįȟ ijր ԔȢțIJijȡȟ ȝȒȗıțȟ ՍȞȡȝȡȗȡȫȞıȟȪȟ ijț ĴįȔȟıijįț,
ʍȡȚıהijįț İ’ ԚȟįȢȗȒIJijıȢȡȟ ijȔ ԚIJijțȟ Ԥijț ȝıȥȚ׆ȟįț. Für eine genauere Besprechung die-
ser Passage vgl. 3.2.
9 Vgl. z.B. Lawrence (2006, 45-47).
14 1. Die Verschiedenheit der Güter
Nach diesen Vorbemerkungen wollen wir fortfahren, indem wir, wie gesagt, zu-
nächst bei den ersten und unklaren Meinungen beginnen und versuchen, auf eine
klare Weise herauszufinden, was die eudaimonia ist. Es ist also allgemein aner-
kannt, dass dies das größte und beste der menschlichen Güter ist. 10 (1217a18-22)
Dieser Einleitungssatz enthält einige aufschlussreiche Informationen über
die Gleichsetzung zwischen der eudaimonia und dem höchsten Gut: (i) T
zählt zu den allgemein anerkannten Meinungen (ՍȞȡȝȡȗıהijįț İս). 11 (ii) T
ist Ausgangspunkt (ԐȢȠչȞıȟȡț ʍȢijȡȟ Ԑʍր ijȟ ʍȢօijȧȟ) einer Untersu-
chung, deren Ziel darin besteht, herauszufinden, was die eudaimonia ist
(ıՙȢıהȟ ijտ ԚIJijțȟ ԭ ıİįțȞȡȟտį). 12 (iii) Im Rahmen dieser Untersuchung
soll die These T, die zwar allgemein anerkannt, aber nicht klar ist (ijȟ ȡ
IJįĴȣ ȝıȗȡȞջȟȧȟ), geklärt werden (IJįĴȣ ıՙȢıהȟ). 13
Die zitierte Passage wirft einige schwierige Interpretationsfragen auf.
So ist zum Beispiel umstritten, wie sich die Wahrheit von T zu dem Um-
stand verhält, dass T allgemein anerkannt ist, oder inwiefern eine „Klä-
rung“ von T bereits eine Antwort auf die Frage bietet, was die eudaimonia
ist. Fragen dieser Art sind besonders für die Interpretation der Methode
der Aristotelischen Ethik von Bedeutung, da sich an ihnen entscheidet, ob
man von einem dialektischen Ansatz in der Ethik sprechen kann. Es lassen
sich aber zwei Beobachtungen festhalten, die von diesen Fragen unabhän-
gig sind. Erstens wird T vorläufig weder begründet noch in Frage gestellt.
Wenn Aristoteles später darauf zurückkommt, verwendet er das „philoso-
phische Imperfekt“ (II 1, 1219a28; a29 und a34), was darauf hindeutet,
dass die These für den Rahmen der Untersuchung als gesichert gilt. Zwei-
tens ist T zumindest insofern ein Ausgangspunkt, als die Frage „Was ist
die eudaimonia?“ in EE I 7 – II 1 durch die Frage „Welches ist das beste
der menschlichen Güter?“ ersetzt wird. Aristoteles klärt zunächst, was un-
ter einem „menschlichen“ Gut zu verstehen ist. Ein menschliches Gut ist
eines, das sich durch menschliches Handeln verwirklichen lässt (ʍȢįȜijցȟ)
(I 7). Er beschäftigt sich dann mit der Bedeutung des Besten (I 8). Das
Beste lässt sich im Sinne eines höchsten Ziels begreifen. Und schließlich
beantwortet er die Frage nach dem höchsten menschlichen Gut mit Hilfe
_____________
10 ʍıʍȢȡȡțȞțįIJȞջȟȧȟ İպ Ȝįվ ijȡփijȧȟ, ȝջȗȧȞıȟ ԐȢȠչȞıȟȡț ʍȢijȡȟ Ԑʍր ijȟ ʍȢօijȧȟ,
խIJʍıȢ ıՀȢșijįț, ȡ IJįĴȣ ȝıȗȡȞջȟȧȟ, Șșijȡףȟijıȣ Ԛʍվ ijր IJįĴȣ ıՙȢıהȟ ijտ ԚIJijțȟ ԭ
ıİįțȞȡȟտį. ՍȞȡȝȡȗıהijįț İռ ȞջȗțIJijȡȟ ıՂȟįț Ȝįվ ԔȢțIJijȡȟ ijȡףijȡ ijȟ ԐȗįȚȟ ijȟ
ԐȟȚȢȧʍտȟȧȟ.
11 Mit I 6, 1216b32, worauf das „wie gesagt“ (խIJʍıȢ ıՀȢșijįț) offensichtlich verweist,
darf man vermutlich ergänzen, dass T als wahr angesehen wird.
12 Die Bedeutung dieser Frage wurde bereits im Proömium angedeutet: I 4, 1215a20-22.
13 Vgl. auch hierzu I 6: „Aus dem, was zwar wahr, aber nicht klar gesagt ist, wird im
Fortschreiten das klar (Gesagte)“ (ԚȜ ȗոȢ ijȟ ԐȝıȚȣ Ȟպȟ ȝıȗȡȞջȟȧȟ ȡ IJįĴȣ İջ,
ʍȢȡȨȡףIJțȟ ԤIJijįț Ȝįվ ijր IJįĴȣ: 1216b32-33).
1.1 Das höchste Gut 15
des „Ergon-Aguments“ (II 1). Das höchste menschliche Gut ist die Tätig-
keit der Tugend der Seele. Erst nachdem Aristoteles diese Antwort gege-
ben hat, kommt er in einer Zusammenfassung der Argumentation auf die
Identifikation von eudaimonia und höchstem Gut zurück:
Aus dem Zugrundegelegten ist offensichtlich, [...] dass die Tätigkeit der Tugend
der Seele das Beste ist. Es war aber auch die eudaimonia das Beste. Also ist die eu-
daimonia die Tätigkeit einer guten Seele. 14 (II 1, 1219a28-35)
Die Strategie ist demnach verhältnismäßig einfach. Aristoteles geht davon
aus, dass er sich bei der Untersuchung der eudaimonia (zumindest vorerst)
ganz auf die Frage nach dem höchsten Gut konzentrieren kann. Die Ant-
wort auf diese Frage soll dann automatisch die Antwort auf die Frage nach
der eudaimonia liefern, da diese ja mit dem höchsten Gut identisch ist. T
dient somit als Gelenkstelle zwischen der Frage nach der eudaimonia und
der konkreten Untersuchung des höchsten menschlichen Guts. 15
Im ersten Buch der Nikomachischen Ethik scheint Aristoteles anders
und weniger systematisch vorzugehen als in EE I 7 – II 1. 16 Er beginnt
hier nicht mit einer These über die eudaimonia, sondern mit dem Begriff
des höchsten Guts (I 1). Er erwähnt zwar mehrmals, dass dieses höchste
Gut als eudaimonia bezeichnet wird, es sieht aber nicht so aus, als würde er
diese These für die Untersuchung fruchtbar machen; wie wir gesehen ha-
ben, scheint er ihren Wert sogar eher gering zu schätzen. Dennoch gibt es
einige Anhaltspunkte dafür, dass die grundlegende Funktion von T in
EN I dieselbe ist wie in EE I 7 – II 1, auch wenn sie nicht in derselben
Weise offengelegt wird:
Die Nikomachische Ethik beginnt zwar mit der Frage nach dem höchs-
ten Gut (I 1, 1094a18-26), die Untersuchung des ersten Buches läuft aber
auf eine Definition der eudaimonia hinaus (I 13, 1102a5-6) und führt
auch hier über ein „Ergon-Argument“ (I 6). Dabei glaubt Aristoteles wie
in der Eudemischen Ethik durch das Ergon-Argument eine Antwort auf die
Frage nach „dem Guten“ umrissen zu haben (ȇıȢțȗıȗȢչĴȚȧ Ȟպȟ ȡ՞ȟ
ijԐȗįȚրȟ ijįփijׄ: I 7, 1098a20-21), die er später umstandslos als eine Defi-
nition der eudaimonia behandelt. 17 Die Konstellation ist also mit der in
_____________
14 İ׆ȝȡȟ İպ ԚȜ ijȟ ՙʍȡȜıțȞջȟȧȟ [...] ij׆ȣ ԐȢıij׆ȣ ԚȟջȢȗıțįȟ ij׆ȣ ȦȤȥ׆ȣ ԔȢțIJijȡȟ ıՂȟįț.
Բȟ İպ Ȝįվ ԭ ıİįțȞȡȟտį ijր ԔȢțIJijȡȟ. ԤIJijțȟ ԔȢį ԭ ıİįțȞȡȟտį ȦȤȥ׆ȣ ԐȗįȚ׆ȣ
ԚȟջȢȗıțį.
15 Diese Strategie führt auf die Frage, welche Art von Identität zwischen der eudaimonia
und dem höchsten Gut besteht. Im vorliegenden Kontext ist es allerdings nicht nötig,
dieser Frage weiter nachzugehen.
16 Vgl. hierzu Rowe (1971, Teil I, Kap. 2).
17 Diese Definition wird mit gängigen Meinungen zur eudaimonia abgeglichen, und
zwar auch mit solchen, die nichts mit der Bestimmung der eudaimonia als höchstes
16 1. Die Verschiedenheit der Güter
immer richtig interpretiert wurde) 27 . Zum einen greift sie die grundlegen-
de Unterscheidung zwischen einer inklusiven und einer dominanten In-
terpretation der eudaimonia auf. Die Debatte verläuft im Wesentlichen
entlang dieser Dichotomie, 28 auch wenn die Begriffe „inklusiv“ und „do-
minant“ eine gewisse Unschärfe aufweisen. Zum anderen besteht das vor-
rangige Interesse darin, die von Hardie behauptete Ambiguität zurückzu-
weisen. Man will zeigen, dass Aristoteles in der Nikomachischen Ethik eine
konsistente eudaimonia-Konzeption vertritt, sei es nun im dominanten
Sinn, im inklusiven Sinn oder in einem Sinn, der beide Positionen vermit-
telt. (Hardies Kritik an der dominanten Auffassung – eigentlich das
Hauptanliegen seines Aufsatzes – tritt also in den Hintergrund.) Dement-
sprechend liegt ein zentrales Augenmerk darauf, die möglichen Gegen-
belege, zum Beispiel aus EN I 5, zu entkräften oder zu integrieren, 29 was
in der Regel mit einem hohen interpretatorischen Aufwand verbunden
ist. 30
Nach dieser Skizze sind wir in der Lage, die erwähnte Gemeinsamkeit
mit Bezug auf EN I 5 zu benennen. Sowohl der dominanten als auch der
inklusiven Interpretation geht es offensichtlich darum, anhand der Krite-
rien des höchsten Guts Aufschluss über die Aristotelische eudaimonia-
Konzeption zu erhalten. Beide benutzen die Ausführungen aus I 5, um
eine bestimmte Interpretation der eudaimonia zu belegen. Das Grund-
problem besteht für sie in einer konsistenten Beschreibung des Gegen-
stands, auf den alle Kriterien zutreffen. Diese Herangehensweise scheint
legitim; denn Aristoteles weist ja explizit darauf hin, dass die eudaimonia
die genannten Kriterien erfüllt (1097a34; b15-16; b20-21). Sie führt aber
nach meiner Ansicht zu einem verzerrten Bild dessen, was in den ersten
Kapiteln der Nikomachischen Ethik eigentlich geschieht.
_____________
27 Ein Beispiel für eine Akzentverschiebung gegenüber Hardie: Die inklusive Konzeption
wird in der Regel mit der Vorstellung einer „Anhäufung“ von Gütern in Verbindung
gebracht. Der für Hardie wichtige Aspekt der geordneten Erfüllung von Zielen wird
dabei vernachlässigt.
28 Vgl. für ein neueres Beispiel Richardson Lear (2004).
29 Besondere Aufmerksamkeit hat dabei das Kriterium der Nicht-Ergänzbarkeit erfahren.
Vgl. z.B. die ausführliche Analyse von Gavin Lawrence (1997).
30 Vgl. als einflussreichstes Beispiel für die inklusive Interpretation Ackrill (1974/1995),
dessen Ansatz explizit auf das Kriterium der Nicht-Ergänzbarkeit aufbaut: „He
[Aristotle, Ph.B.] is saying, then, that eudaimonia, being absolutely final and genuinely
self-sufficient, is more desirable than anything else in that it includes everything desi-
rable in itself“ (47). Unter der Voraussetzung, dass es mehrere intrinsische Güter gibt,
was durch 1097b2-5 impliziert werde, könne das höchste Gut nur in einer Kombina-
tion dieser Güter bestehen. Dagegen versucht Stemmer (1992) als radikaler Vertreter
einer dominanten Interpretation unter Rückgriff auf dieselben Zeilen zu zeigen, dass
Aristoteles allein die eudaimonia als intrinsisches Gut ansieht. Für eine dominante In-
terpretation, die dennoch mehrere intrinsische Güter zulässt, vgl. Kraut (1989).
22 1. Die Verschiedenheit der Güter
eudaimonia das höchste Gut ist, muss zustimmen, dass ihr kein weiteres
Gut hinzugefügt werden kann. Andernfalls wäre die „eudaimonia + x“
besser als die eudaimonia selbst, die damit eben nicht mehr als höchstes
Gut in Frage käme. Die Ablehnung der genannten Kriterien würde also in
einen Selbstwiderspruch münden. Aristoteles wendet die Kriterien in ge-
nau dieser Weise an, wenn er zum Beispiel gegen den Reichtum als höchs-
tes Gut argumentiert: „Es ist offensichtlich, dass der Reichtum nicht das
gesuchte Gut ist. Denn er ist nützlich und (besteht) um einer anderen
Sache willen“ (Ս ʍȝȡףijȡȣ İ׆ȝȡȟ Ցijț ȡ ijր ȘșijȡփȞıȟȡȟ ԐȗįȚցȟǝ ȥȢսIJțȞȡȟ
ȗոȢ Ȝįվ ԔȝȝȡȤ ȥչȢțȟ: I 3, 1096a6-7). Es scheint sich also um rein „forma-
le“ Bestimmungen zu handeln, die sich rein „analytisch“ aus dem Begriff
des höchsten Guts ergeben. 31
Diese Sichtweise ist nicht völlig falsch, aber zu oberflächlich, da sie ei-
nen entscheidenden Punkt vernachlässigt. Die Kriterien des höchsten Guts
sind von Kriterien des Guten abhängig, und die Kriterien des Guten un-
terscheiden sich voneinander. Vergleichen wir, um dies zu verdeutlichen,
Aristoteles’ Argumente für das erste und das dritte Kriterium:
Das Beste scheint jedoch etwas Vollkommenes zu sein, so dass, wenn es nur ein
Vollkommenes gibt, dieses das gesuchte (Beste) sein dürfte, wenn aber mehrere,
dann das Vollkommenste von diesen. Wir aber nennen das um seiner selbst wil-
len Erstrebte vollkommener als das um einer anderen Sache willen (Erstrebte)
und das niemals um einer anderen Sache willen Gewählte (vollkommener) als die
sowohl um ihrer selbst willen als auch um seinetwillen gewählten Dinge, und
schlechthin vollkommen (nennen wir) das, was immer um seiner selbst willen
und niemals um einer anderen Sache willen gewählt wird. 32 (1097a28-34)
Ferner (ist Glück) das Wählenswerteste von allem, weil ihm nichts hinzugefügt
werden kann. Wenn ihm etwas hinzugefügt werden könnte, wäre offensichtlich,
dass es mit dem kleinsten (hinzugefügten) Gut wählenswerter würde. Denn das
Hinzugesetzte ergibt ein Übertreffen an Gütern, und bei den Gütern ist die grö-
ßere Summe immer wählenswerter. 33 (1097b16-20)
Es fällt auf, dass Aristoteles in beiden Fällen formal gesehen mit dem glei-
chen Argument arbeitet. Beide Male beruht das Kriterium für das Beste –
beziehungsweise das Vollkommenste oder Wählenswerteste: diesen Unter-
_____________
31 Vgl. etwa J.L. Ackrill: „Surely Aristotle is here making a clear conceptual point, not a
rash and probably false empirical claim“ (1974/1995, 46).
32 ijր İ’ ԔȢțIJijȡȟ ijȒȝıțȪȟ ijț ĴįȔȟıijįț. խIJij’ ıԼ ȞȒȟ ԚIJijțȟ ԥȟ ijț ȞȪȟȡȟ ijȒȝıțȡȟ, ijȡףij’ Ԓȟ
ıՀș ijր ȘșijȡȫȞıȟȡȟ, ıԼ İպ ʍȝıտȧ, ijր ijıȝıțցijįijȡȟ ijȡփijȧȟ. ijıȝıțցijıȢȡȟ İպ ȝջȗȡȞıȟ ijր
ȜįȚ’ įՙijր İțȧȜijրȟ ijȡ ףİț’ ԥijıȢȡȟ Ȝįվ ijր ȞșİȒʍȡijı İț’ Ԕȝȝȡ įԽȢıijրȟ ijȟ <Ȝįվ>
ȜįȚ’ įՙijո Ȝįվ İț’ įijր įԽȢıijȟ, Ȝįվ ԑʍȝȣ İռ ijȒȝıțȡȟ ijր ȜįȚ’ įՙijր įԽȢıijրȟ Ԑıվ Ȝįվ
ȞșİȒʍȡijı İț’ Ԕȝȝȡ.
33 Ԥijț İպ ʍȑȟijȧȟ įԽȢıijȧijȑijșȟ Ȟռ IJȤȟįȢțȚȞȡȤȞȒȟșȟ—IJȤȟįȢțȚȞȡȤȞȒȟșȟ İպ İ׆ȝȡȟ թȣ
įԽȢıijȧijȒȢįȟ Ȟıijո ijȡ ףԚȝįȥȔIJijȡȤ ijȟ ԐȗįȚȟ· ՙʍıȢȡȥռ ȗոȢ ԐȗįȚȟ ȗȔȟıijįț ijր
ʍȢȡIJijțȚȒȞıȟȡȟ, ԐȗįȚȟ İպ ijր ȞıהȘȡȟ įԽȢıijȬijıȢȡȟ ԐıȔ.
24 1. Die Verschiedenheit der Güter
_____________
34 Hier zeigt sich, dass „vollkommen“ keine ganz glückliche Übersetzung für teleion
darstellt, da der Ausdruck „vollkommen“ bereits einen Superlativ meint.
35 Es gibt genau einen Gegenstand a für alle y, so dass gilt: „a ist besser als y“.
36 Dieses Argumentationsmuster wird uns am Beispiel von EN I 1 noch einmal begeg-
nen; vgl. 2.2.1.
1.2 Kriterien des höchsten Guts: EN I 5 25
ternative zwischen zwei Kriterien des Besseren beschreiben. Wie aber ge-
winnt Aristoteles diese Kriterien?
Im Fall des Kriteriums des höchsten Ziels ist diese Frage relativ einfach
zu beantworten. Nachdem Aristoteles festgestellt hat, dass Güter Ziele
sind (1097a20-22), argumentiert er dafür, dass sich bestimmte Differen-
zierungen zwischen Zielen (zum Beispiel an sich oder um einer anderen
Sache willen erstrebt zu werden) als Differenzierungen zwischen Gütern
verstehen lassen: „Wir aber nennen das um seiner selbst willen Erstrebte
vollkommener (ijıȝıțցijıȢȡȟ) als das um einer anderen Sache willen (Er-
strebte)“ (a30-31). Für das Kriterium der Nicht-Ergänzbarkeit fehlt eine
entsprechende Ableitung, es lässt sich aber ein ganz ähnliches Muster re-
konstruieren. Denn auch hier versucht Aristoteles, ein bestimmtes Ver-
hältnis zwischen Gegenständen (in diesem Fall könnte man sagen: „Güter-
summen“) als Verhältnis zwischen Gütern zu begreifen: „Denn das
Hinzugesetzte (ijր ʍȢȡIJijțȚջȞıȟȡȟ) ergibt ein Übertreffen (ՙʍıȢȡȥս) an
Gütern, und bei den Gütern ist die größere Summe immer wählenswer-
ter“ (1097b18-20). Beiden Fällen scheint es darum zu gehen, eine „Steige-
rung“ des Kriteriums (hier ein „höheres“ Ziel, dort eine „größere“ Summe)
mit einer Steigerung der Güte in Verbindung zu bringen. 37 Und es zeigt
sich schon jetzt, dass diese Steigerung, abhängig vom Kriterium, unter-
schiedlich zu konstruieren ist (vgl. 1.3).
Das heißt, nur wenn sich Güter als Ziele begreifen lassen, ist das Kri-
terium des höchsten Ziels anwendbar, und nur wenn eine Menge von
Gütern ebenfalls als ein Gut anzusprechen ist, ist das Kriterium der Nicht-
Ergänzbarkeit anwendbar. Die Anwendbarkeit der Kriterien des höchsten
Guts ist abhängig von der Gültigkeit bestimmter Kriterien des Guten.
Durch welche Kriterien das Gute identifiziert werden kann, ist aber keine
formale, sondern eine inhaltliche Frage. Der nahe liegende Eindruck, Ka-
pitel I 5 würde rein formale Bestimmungen des höchsten Guts formulie-
ren, ist daher irreführend. 38
_____________
37 Vgl. die in diesem Kontext verwendeten Begriffe teleioteron („vollkommener“) und
hyperochê („Übertreffen“). Der Ausdruck „Steigerung“ ist hier in einem weiten Sinn
gebraucht und bezieht sich nicht auf die technische Bedeutung von „mehr und weni-
ger“ (Ȟֻȝȝȡȟ Ȝįվ Գijijȡȟ), die Aristoteles in der Kategorienschrift verwendet, um Grade
von z.B. qualitativen Eigenschaften zu bezeichnen (8, 10b26-11a14). Im Gegenteil:
Im engen Sinn liegen bei der Zweck-Mittel-Relation gerade nicht unterschiedliche
Grade einer Eigenschaft vor, sondern ein Abhängigkeitsverhältnis des „Früheren“
(ʍȢցijıȢȡȟ) zum „Späteren“ (՝IJijıȢȡȟ) (vgl. explizit Protr. B 82 DÜRING). Eine auf-
schlussreiche Untersuchung dieses Unterschieds mit Bezug auf die Ethik bietet Paka-
luk (1992).
38 Die hier skizzierte Gegenüberstellung ist insofern eine Vereinfachung, als das Kriteri-
um des höchsten Ziels auf einem bestimmten Kriterium des Guten basiert, während
das Kriterium der Nicht-Ergänzbarkeit für unterschiedliche Kriterien des Guten offen
26 1. Die Verschiedenheit der Güter
Dies ist nicht selbstverständlich; denn die Rhetorik tritt mit dem An-
spruch auf, in inhaltlichen Fragen primär auf anerkannte Meinungen (en-
doxa) zurückzugreifen. Um überzeugen zu können, muss der Redner nicht
über wissenschaftliche Prinzipien verfügen, sondern er muss wissen, wel-
che Meinungen bei seinem Publikum anerkannt sind. Aristoteles betont
immer wieder, dass sich die Rhetorik damit von den Wissenschaften ab-
grenzt:
Aber je mehr einer versuchen wird, die Dialektik oder diese (die Rhetorik) nicht
als Fähigkeiten, sondern als Wissenschaften einzurichten, um so mehr wird er
unbewusst ihre eigentliche Natur vernichten, indem er dazu übergeht, sie als Wis-
senschaften von bestimmten zugrunde liegenden Gegenständen zu etablieren, an-
statt allein von Reden. 40 (Rhet. I 4, 1359b12-16; vgl. I 2, 1358a23-26)
Dass dennoch Übereinstimmungen vorliegen, führt drittens auf die Frage,
inwiefern die Aristotelische Ethik selbst endoxisch ist. Da es zu den me-
thodischen Prinzipien des Aristoteles gehört, anerkannte Meinungen an-
gemessen zu berücksichtigen, drängt sich der Vergleich mit der Rhetorik
geradezu auf.
Ein wesentliches Anliegen der Forschung besteht also darin, eine Er-
klärung für die inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen der Rhetorik
und den Ethiken zu suchen – sei es durch eine Untersuchung der Metho-
den der Ethik oder durch eine Untersuchung des ethischen Anspruchs der
Rhetorik. 41 Was im vorliegenden Kontext interessiert, hat dagegen mit
diesen inhaltlichen Übereinstimmungen nur indirekt zu tun. (Allerdings
könnte es ein anderes Licht auf die Rolle werfen, welche die endoxa für die
Ethik spielen; vgl. 1.4.) Hier soll zunächst auf zwei Parallelen zwischen
EN I 5 und Rhet. I 7 hingewiesen werden. Dass sich (i) Kriterien für ei-
nen Gütervergleich durch die Anwendung eines formalen Verfahrens auf
_____________
40 ՑIJ İ’ Ԕȟ ijțȣ Ԯ ijռȟ İțįȝıȜijțȜռȟ Ԯ ijįփijșȟ Ȟռ ȜįȚչʍıȢ Ԓȟ İȤȟչȞıțȣ Ԑȝȝ’ ԚʍțIJijսȞįȣ
ʍıțȢֻijįț ȜįijįIJȜıȤչȘıțȟ, ȝսIJıijįț ijռȟ ĴփIJțȟ įijȟ ԐĴįȟտIJįȣ ij ȞıijįȖįտȟıțȟ
ԚʍțIJȜıȤչȘȧȟ ıԼȣ ԚʍțIJijսȞįȣ ՙʍȡȜıțȞջȟȧȟ ijțȟȟ ʍȢįȗȞչijȧȟ, Ԑȝȝո Ȟռ Ȟցȟȡȟ ȝցȗȧȟ.
41 Für die Rolle der endoxa in der Ethik vgl. z.B. Most (1994), Irwin (1996) und grund-
legend, wenn auch ohne Bezug auf die Rhetorik, Barnes (1980). Für eine Untersu-
chung der ethischen Elemente in der Rhetorik vgl. z.B. Oates (1963, Kap. VIII), Wör-
ner (1990), Cooper (1994), Halliwell (1994 und 1996), Engberg-Pedersen (1996)
und noch einmal Irwin (1996). Der zuletzt genannte Aspekt lässt sich differenzieren:
Zum einen bereitet der vermeintlich instrumentelle Charakter der Rhetorik einigen
Autoren Unbehagen (die übliche Referenz ist die von Platon im Gorgias und im
Phaidros geäußerte Kritik). Ein Beispiel dafür ist Oates (1963, Kap. VIII), der den
Vorwurf der Immoralität sogar selbst erhebt und als eine Schwäche des Aristotelischen
Ansatzes wertet. Zum anderen wird versucht, die ethischen Thesen der Rhetorik mit
denen der Ethiken zu vergleichen, sie auf ihren Status zu hinterfragen und gegebenen-
falls ihre Kompatibilität nachzuweisen. Ein gutes Beispiel dafür ist Irwin (1996), der
davon ausgeht, dass Aristoteles in beiden Schriften eigentlich dieselben Konzeptionen
vertritt.
28 1. Die Verschiedenheit der Güter
Kriterien des Guten gewinnen lassen und dass es (ii) sehr unterschiedliche
Kriterien des Guten gibt, lässt sich auch an den Topen zum größeren Gut
beobachten, die Aristoteles in Rhet. I 7 entwickelt (vgl. Top. III 1-4).
Man kann sogar sagen, dass hiermit grundlegende Eigenschaften dieser
Topen benannt sind, deren Vielfalt weit über die der Kriterien aus EN I 5
hinausgeht.
Außerdem soll gezeigt werden, wie die Verschiedenheit der in der Rhe-
torik genannten Kriterien des Guten mit der Verschiedenheit der aner-
kannten Meinungen über das Gute und diese wiederum mit der Verschie-
denheit der anerkannten Güter zusammenhängt.
_____________
42 Vgl. Rapp (2002, II 263-269).
43 Ԧʍıվ İպ ʍȡȝȝȑȜțȣ ՍȞȡȝȡȗȡףȟijıȣ ԔȞĴȧ IJȤȞĴȒȢıțȟ ʍıȢվ ijȡ ףȞֻȝȝȡȟ
ԐȞĴțIJȖșijȡףIJțȟ, ԚĴıȠ׆ȣ Ԓȟ ıՀș ȝıȜijȒȡȟ ʍıȢվ ijȡ ףȞıȔȘȡȟȡȣ ԐȗįȚȡ ףȜįվ ijȡ ףȞֻȝȝȡȟ
IJȤȞĴȒȢȡȟijȡȣ.
1.3 Topen zum größeren Gut: Rhet. I 6-7 29
Merkmale des Guten genannt worden sind. Als Kriterien des Guten
kommen nicht nur in Frage, wählenswert zu sein (1364a1), ein Ziel zu
sein (a3) oder selbstgenügsam zu sein (a6), sondern auch: Prinzip (ԐȢȥս)
oder Ursache (įՀijțȡȟ) zu sein (a10-11), selten zu sein (a24), schwierig zu
sein (a28), von den Vernünftigen oder allen oder der Menge oder der
Mehrheit oder den Besten als ein Gut beurteilt zu werden (b11-13), ange-
nehm zu sein (b23), schön zu sein (b26), dauerhaft zu sein (b30), sicher zu
sein (b31), lobenswert zu sein (1365a6), von Natur aus vorhanden zu sein
(a29), in der Not nützlich zu sein (a33-34), möglich zu sein (a35-36), auf
die Wahrheit zu zielen (b1), unverborgen zu sein (b14), geschätzt zu wer-
den (b16) usw.
Dass ein Vergleich zwischen zwei Gütern zu unterschiedlichen Ergeb-
nissen führen kann, wenn dabei auf unterschiedliche Topen zurückgegrif-
fen wird, dürfte kaum überraschen. 45 So könnte zum Beispiel ein Gegen-
stand a (ein Edelstein) von einer größeren Personenzahl erstrebt werden
als ein Gegenstand b (ein Werkzeug) (vgl. 1364b12), während b zugleich
für mehr Dinge nützlich ist als a (vgl. 1365b8). Außerdem müssen die
„Vernünftigen“, die „Mehrheit“ und die „Besten“ keineswegs darin über-
einstimmen, welche Gegenstände gut sind. Eine weitere Differenzierung
ergibt sich daraus, dass die in der Regel durch einen Komparativ gekenn-
zeichnete „Steigerung“ des Gütekriteriums unterschiedlich erzeugt werden
kann. Wenn das Gute zum Beispiel das ist, was erstrebt wird, kann das
Bessere das sein, was von einer größeren Zahl von Personen oder was in
höherem Maße erstrebt wird. Je nachdem welcher Aspekt in den Blick
genommen wird, fällt das vergleichende Werturteil also anders aus, und
Aristoteles selbst gibt Beispiele, wie für einander entgegengesetzte Urteile
argumentiert werden kann:
Überhaupt kann man sagen, dass das Schwierigere besser als das Einfachere ist,
denn es ist seltener; umgekehrt kann man sagen, dass das Einfachere besser als das
Schwierigere ist, denn es verhält sich so, wie wir wollen. 46 (1364a28-30)
_____________
45 Die Topen zu den umstrittenen Gütern sollen dazu dienen, „Dinge als gut zu etablie-
ren, die nicht schon ihrer Art nach anerkanntermaßen gut sind; dazu muss auf nicht-
essentielle Eigenschaften und vor allem auch auf Relationen zurückgegriffen werden,
in denen diese Dinge stehen [...]. Ein und dieselbe Sache kann in ganz unterschiedli-
chen Relationen stehen, viele verschiedene nicht-essentielle Eigenschaften aufweisen
usw., so dass erstens mit einem einzigen Topos für das Gutsein ganz verschiedenarti-
ger Dinge argumentiert werden kann und zweitens bei der Anknüpfung an unter-
schiedliche Relationen und Eigenschaften dieselbe Sache bald als gut, bald als schäd-
lich dargestellt werden kann“ (Rapp 2002, II 364).
46 Ȝįվ Ցȝȧȣ ijր ȥįȝıʍȬijıȢȡȟ ijȡֺע ףȡȟȡȣ· IJʍįȟțȬijıȢȡȟ ȗȑȢ. Ԕȝȝȡȟ İպ ijȢȪʍȡȟ ijր ּעȡȟ
ijȡ ףȥįȝıʍȧijȒȢȡȤ· Ԥȥıț ȗոȢ թȣ ȖȡȤȝȪȞıȚį.
1.3 Topen zum größeren Gut: Rhet. I 6-7 31
Auch wenn wir diese Beobachtungen nicht unmittelbar auf die Ethik
übertragen sollten, lässt sich doch Folgendes festhalten: Was im Kontext
der Nikomachischen Ethik irritiert, nämlich dass es unterschiedliche, even-
tuell sogar inkompatible Kriterien des Besseren gibt, scheint im Kontext
der Rhetorik eher den Normalfall zu beschreiben. Wenn man die Topen
aus Rhet. I 7 ernst nimmt, dann könnte der Alternative zwischen einer
inklusiven und einer dominanten Auffassung des höchsten Guts sogar eine
Vielzahl weiterer Alternativen hinzugefügt werden. Anders als dem Inter-
preten der Ethik ist dem Rhetor diese Situation allerdings willkommen;
denn er muss in der Lage sein, möglichst für Beliebiges zu argumentieren:
„Es sei also die Rhetorik eine Fähigkeit, bei jeder Sache das möglicherweise
Überzeugende zu betrachten (İփȟįȞțȣ ʍıȢվ ԥȜįIJijȡȟ ijȡ ףȚıȧȢ׆IJįț ijր
ԚȟİıȥցȞıȟȡȟ ʍțȚįȟցȟ)“ (I 2, 1355b26-27). Außerdem teilt er mit dem
Dialektiker die Eigenschaft, „vom Gegenteil überzeugen“ zu können (Ԥijț
İպ ijԐȟįȟijտį İı הİփȟįIJȚįț ʍıտȚıțȟ: I 1, 1355a29-30).
Weiter oben wurde die Vermutung geäußert, dass die in EN I 5 ge-
nannten Kriterien des höchsten Guts, genauer: die ihnen zugrunde liegen-
den Kriterien des Guten, auf anerkannten Meinungen basieren (vgl. 1.2).
Ihre Verschiedenheit hätte demnach in der Verschiedenheit dieser Mei-
nungen ihren Ursprung (womit, wie erwähnt, noch nichts über den dia-
lektischen Charakter der Ethik gesagt sein soll). Im Fall der in Rhet. I 7
enthaltenen Kriterien des Guten ist die Situation eindeutig. Diese Krite-
rien müssen auf anerkannten Meinungen basieren oder wenigstens mit
den anerkannten Meinungen kompatibel sein; denn andernfalls wären die
daran anknüpfenden Topen für den Kontext einer Rede überhaupt nicht
geeignet. Der Redner könnte seine Zuhörer nicht davon überzeugen, dass
ein bestimmter Gegenstand besser ist als ein anderer. Das heißt, in der
Vielfalt und möglichen Unvereinbarkeit der Topen zum größeren Gut
spiegeln sich die Vielfalt und mögliche Unvereinbarkeit der Meinungen
über das Gute. Rhet. I 7 bietet einen Einblick in die Komplexität gängiger
Werturteile. Genau dieser Umstand macht das Kapitel als Hintergrund für
die Interpretation der Ethik interessant.
Um diese Spur noch etwas weiter zu verfolgen, das heißt um die Prob-
leme noch etwas genauer zu beschreiben, welche die Meinungen über das
Gute mit sich bringen, soll im Folgenden ein Blick auf die „Definition“
des Guten geworfen werden, die Aristoteles in Rhet. I 6 formuliert.
32 1. Die Verschiedenheit der Güter
Einzelfall jedem Einzelnen vorschreiben würde, für den Einzelnen ein Gut; [4]
ferner das, bei dessen Anwesenheit man sich in einem guten Zustand befindet [5]
und sich selbstgenügsam verhält, sowie das Selbstgenügsame [ii] [1] und das, was
Derartiges hervorbringt und bewahrt, [2] und das, was Derartiges zur Folge hat,
[3] sowie das, was die Gegenteile von solchen Dingen verhindert und vernich-
tet. 51 (1362a21-29)
Eine wichtige Aufgabe dieser Definition besteht offenbar darin, Kriterien
des Guten zu benennen, auf die der Redner in strittigen Fällen zurück-
greifen kann. 52 Aus der allgemeinen Bestimmung des größeren Guts (I 7,
1363b5-21) geht diese Aufgabe unmissverständlich hervor. Ein Begriff des
größeren Guts lässt sich gewinnen, indem man das Konzept des „Übertref-
fens“ (ՙʍıȢջȥıțȟ), das Mengen (ʍȡȝփ – Ռȝտȗȡȟ) ebenso umfasst wie Grö-
ßen (Ȟջȗį – ȞțȜȢցȟ), auf die Definition des Guten anwendet, die hier in
etwas verkürzter Form wiederholt wird (b12-18). Und tatsächlich werden
einige der Topen zum größeren Gut unter Verweis auf die Definition des
Guten eingeführt, zum Beispiel:
Auch das, was an sich wählenswert ist, ist ein größeres Gut als das, was nicht an
sich wählenswert ist, wie zum Beispiel Stärke ein größeres Gut ist als das, was ge-
sund macht, weil das letztere nicht um seiner selbst willen gewählt wird, das erste
aber schon; und darin, sagten wir, bestehe das Gute. 53 (1363b38-1364a3)
Auch das, was von allen gewählt wird, (ist ein größeres Gut) als das, was nicht
von allen gewählt wird, und das, was von der Mehrheit gewählt wird, (ist ein grö-
ßeres Gut) als das, was von der Minderheit gewählt wird; denn ‚gut’, sagten wir,
sei das, was alle begehren, so dass das ein größeres Gut ist, was in höherem Maße
begehrt wird. 54 (1364b37-1365a2)
In seiner Auflistung der Topen geht Aristoteles allerdings weniger systema-
tisch vor, als es der Beginn von I 7 suggeriert; denn nicht alle Kriterien des
Besseren lassen sich problemlos auf die gegebene Definition des Guten
_____________
51 ԤIJijȧ İռ ԐȗįȚրȟ Տ Ԓȟ įijր ԛįȤijȡ ףԥȟıȜį ֜ įԽȢıijȪȟ, Ȝįվ ȡ՟ ԥȟıȜį Ԕȝȝȡ įԽȢȡȫȞıȚį,
Ȝįվ ȡ՟ ԚĴȔıijįț ʍȑȟijį, Ԯ ʍȑȟijį ijո įՀIJȚșIJțȟ Ԥȥȡȟijį Ԯ ȟȡףȟ Ԯ ıԼ ȝȑȖȡț ȟȡףȟ, Ȝįվ ՑIJį
Ս ȟȡףȣ Ԓȟ ԛȜȑIJij ԐʍȡİȡȔș, Ȝįվ ՑIJį Ս ʍıȢվ ԥȜįIJijȡȟ ȟȡףȣ ԐʍȡİȔİȧIJțȟ
ԛȜȑIJij ·ijȡףijȪ ԚIJijțȟ ԛȜȑIJij ԐȗįȚȪȟ, Ȝįվ ȡ՟ ʍįȢȪȟijȡȣ ı՞ İțȑȜıțijįț Ȝįվ įijȑȢȜȧȣ
Ԥȥıț, Ȝįվ ijր į՜ijįȢȜıȣ, Ȝįվ ijր ʍȡțșijțȜրȟ Ԯ ĴȤȝįȜijțȜրȟ ijȟ ijȡțȡȫijȧȟ, Ȝįվ ֭
ԐȜȡȝȡȤȚı הijո ijȡțįףijį, Ȝįվ ijո ȜȧȝȤijțȜո ijȟ Ԛȟįȟijտȧȟ Ȝįվ ijո ĴȚįȢijțȜչ.
52 „Bei den kontroversen Topen werden Dinge als Gut erwiesen, indem man zeigt, dass
sie solche akzidentelle Merkmale aufweisen oder in solchen Beziehungen stehen oder
solche Folgen haben usw., von denen man aufgrund der Definition des Guten meinen
muss, sie machten das, dem sie zukommen[,] zu einem Gut“ (Rapp 2002, II 297;
Hervorhebung Ph.B.).
53 Ȝįվ įԽȢıijȬijıȢȡȟ ijր ȜįȚ’ įՙijր ijȡ ףȞռ ȜįȚ’ įՙijȪ, ȡՃȡȟ ԼIJȥւȣ ՙȗțıțȟȡ ·ףijր Ȟպȟ ȗոȢ
ȡȥ įՙijȡ ףԥȟıȜį, ijր İպ įՙijȡף, ՑʍıȢ Բȟ ijր ԐȗįȚȪȟ.
54 Ȝįվ Տ ʍȑȟijıȣ įԽȢȡףȟijįț ijȡ ףȞռ Տ ʍȑȟijıȣ. Ȝįվ Տ ȡԽ ʍȝıȔȡȤȣ Ԯ Տ ȡԽ ԚȝȑijijȡȤȣ· ԐȗįȚրȟ
ȗոȢ Բȟ ȡ՟ ʍȑȟijıȣ ԚĴȔıȟijįț, խIJijı Ȝįվ ȞıהȘȡȟ ȡ՟ Ȟֻȝȝȡȟ.
34 1. Die Verschiedenheit der Güter
zeige, dass sich auch die Sätze aus der ersten Hälfte von I 6 als Topen, und
nicht als bloße Protasen, begreifen lassen. 56 „Auf diese Weise spielt die
Definition des jeweiligen Grundbegriffs [...] bei den spezifischen Topen
und den aus spezifischen Topen gebildeten Enthymemen eine ähnliche
Rolle wie die ‚logischen’ oder formalen Gesetze bei den allgemeinen To-
pen der Topik“ (Rapp 2002, II 293).
Eine andere, mit der genannten aber durchaus kompatible Antwort
bestünde darin, die Verknüpfung zwischen der Definition und den aner-
kannten Gütern als eine Bestätigung der Definition zu verstehen. Der
Redner kann davon ausgehen, dass seine Definition, auch wenn sie nicht
selbst endoxisch sein sollte, alle anerkannten Güter umfasst und somit für
den Kontext der beratenden Rede geeignet ist. Er verfügt über ein Hilfs-
mittel, das ihm die Auflistung aller anerkannten Güter erspart. Und was
noch wichtiger ist: Der Redner kann sicher sein, dass sich die an die Defi-
nition anknüpfenden Topen mit den endoxa vereinbaren lassen. Die Defi-
nition des Guten stellt eine Verbindung zwischen umstrittenen und aner-
kannten Gütern her.
Wenn diese Sichtweise zutrifft, dann kann die in Rhet. I 6 gegebene
Definition des Guten als ein Versuch gelesen werden, relevante Gemein-
samkeiten zwischen den Gegenständen zu benennen, die allgemein für
Güter gehalten werden – wie gesagt mit der Einschränkung, dass es sich
um „erwerbbare“ Güter handeln muss. Einige Bestandteile dieser Definiti-
on tauchen zwar auch in anderen Bereichen der Aristotelischen Philoso-
phie auf; zum Beispiel bildet die Identifikation des Guten mit dem Stre-
bensziel einen wichtigen Bestandteil seiner Theorie über die
Ortsbewegung beseelter Lebewesen. 57 Im Kontext der Rhetorik ist aber die
Frage, ob Aristoteles die gegebenen Definitionen selbst vertritt, irrelevant.
Die Begriffsbestimmungen der Rhetorik rechtfertigen sich ausschließlich
dadurch, dass sie die endoxa erfassen. Sie müssen keinen strengeren Bedin-
gungen genügen, wie sie zum Beispiel an eine Wesensdefinition im enge-
ren Sinne gestellt würden.
Wie sieht das so verstandene Bild der endoxa zum Guten aus? Auffällig
ist vor allem, dass die Definition des Guten in Rhet. I 6 mehrteilig ist. Sie
setzt sich aus verschiedenen Teildefinitionen zusammen, die durch „und“
(Ȝįտ) miteinander verknüpft sind. Es handelt sich um eine Sammlung
unterschiedlicher Kriterien des Guten. Eine ähnliche Struktur findet sich
_____________
56 Rapp (2002, II 266f. und 293).
57 Vgl. die entsprechenden Passagen aus Mot. an. 6 (z.B. 700b25-29) und An. III 9-11
(z.B. III 10, 433a27-30).
36 1. Die Verschiedenheit der Güter
Eindruck, dass sich die Teildefinitionen auf Subklassen beziehen und dass
erst ihre Konjunktion alle anerkannten Güter erfasst. Genau dies ist das
Problem der Verschiedenheit der Güter.
Der Blick in das erste Buch der Rhetorik bringt also zwei Einsichten
über die endoxa zum Guten mit sich. Erstens lassen sich auf der Basis an-
erkannter Meinungen unterschiedliche Kriterien des Guten formulieren.
Die daran anknüpfenden Kriterien des Besseren (oder des Besten) können
durchaus zu widersprüchlichen Ergebnissen führen. Zweitens ist es kei-
neswegs ausgemacht, dass es ein Kriterium gibt, durch das sich alle aner-
kannten Güter identifizieren lassen.
***
Wir können nun auf die in 1.1 formulierte These zurückkommen: Aus
„aristotelischer Sicht“ ist nicht ohne weiteres klar, was es bedeuten soll,
dass etwas das höchste Gut ist. Es dürfte inzwischen deutlich geworden
sein, wie diese These mit dem Problem der Verschiedenheit der Güter
zusammenhängt.
Wenn wir von den Gegenständen ausgehen, die anerkanntermaßen
für Güter gehalten werden, dann fällt es offenbar schwer, die Eigenschaft
zu benennen, die alle diese Gegenstände gleichermaßen zu Gütern macht.
Vereinfacht ausgedrückt liegt dies an der Verschiedenheit der anerkannten
Güter. (Diese Ausdrucksweise ist insofern eine Vereinfachung, als sie na-
türlich nicht darauf hinweisen soll, dass die anerkannten Güter in einer
beliebigen Hinsicht verschieden sind. Vielmehr soll sie darauf hinweisen,
dass die anerkannten Güter in einer Hinsicht verschieden sind, die ihren
Status als Güter betrifft. Es handelt sich, genauer gesagt, um eine relevante
Verschiedenheit.) Die Verschiedenheit der Güter wird dann zu einem
Problem, wenn wir darauf angewiesen sind, eine Gemeinsamkeit zwischen
ihnen festzustellen. Dies ist zum einen der Fall, wenn wir ein Kriterium
oder eine Definition des Guten formulieren wollen, zum anderen, wenn
wir versuchen, Güter als solche miteinander zu vergleichen; denn Kriterien
des Besseren oder des Besten beruhen stets auf Kriterien des Guten. Es
scheint also nicht von vornherein klar zu sein, wie der Begriff eines höchs-
ten Guts überhaupt aufzufassen ist.
1.4 Fazit
In diesem Kapitel sollte ein Hintergrund für die gütertheoretische Lektüre
des ersten Buches der Nikomachischen Ethik bereitgestellt werden. Es sollte
jenes Problem formuliert werden, auf das sich die Argumentation des
38 1. Die Verschiedenheit der Güter
_____________
60 In EN VII 14 argumentiert Aristoteles explizit dafür, dass die Lust ein Gut ist.
61 Vgl. auch Everson (1995, 174 mit FN 4).
1.4 Fazit 39
_____________
62 Ԑȟչʍįȝțȟ İպ Ȝįվ İıțȜijջȡȟ Ԯ թȣ ȟףȟ İıțȜȟփȡȤIJț ijր ԐȗįȚրȟ įijց. ȟףȟ Ȟպȟ ȗոȢ ԚȜ ijȟ
ԐȟȡȞȡȝȡȗȡȤȞջȟȧȟ Ԥȥıțȟ ijր ԐȗįȚցȟ, ԚȠ ԚȜıտȟȧȟ ijո ՍȞȡȝȡȗȡփȞıȟį ıՂȟįț ԐȗįȚո
İıțȜȟփȡȤIJțȟ, ԚȠ ԐȢțȚȞȟ, Ցijț ԭ İțȜįțȡIJփȟș Ȝįվ ԭ ՙȗտıțį ԐȗįȚցȟǝ ijչȠıțȣ ȗոȢ Ȝįվ
ԐȢțȚȞȡտ, թȣ ijȡהȣ ԐȢțȚȞȡהȣ Ȝįվ ijįהȣ ȞȡȟչIJțȟ ijԐȗįȚȡ ףՙʍչȢȥȡȟijȡȣ İțո ijր ıՂȟįț ijր ԣȟ
įijր ‹ijր› ԐȗįȚցȟ. İı הİ’ ԚȜ ijȟ ՍȞȡȝȡȗȡȤȞջȟȧȟ, ȡՃȡȟ ՙȗțıտįȣ ԼIJȥփȡȣ IJȧĴȢȡIJփȟșȣ,
Ցijț Ȝįվ Ԛȟ ijȡהȣ ԐȜțȟսijȡțȣ Ȟֻȝȝȡȟ ijր Ȝįȝցȟ.
2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
was Großes und ihr Verständnis Übersteigendes sagen. Einige andere aber glau-
ben, dass es neben den vielen Gütern ein anderes (Gut) an sich gibt, das auch für
alle diese die Ursache ihres Gutseins ist. 3 (1095a14-28)
Diese Passage ist vor allem deshalb aufschlussreich, weil sie eine erste Dar-
stellung des Problems bietet, das es zu lösen gilt: Es besteht zwar Einigkeit
über die Benennung des höchsten Guts – es ist die eudaimonia –, aber
Uneinigkeit darüber, was die eudaimonia oder das höchste Gut ist (vgl.
1.1). Diese Uneinigkeit belegt Aristoteles durch eine Auflistung gängiger
Meinungen (doxai), mit denen er sich in den folgenden zwei Kapiteln
noch genauer beschäftigen wird. Da die doxai also das Problem gewisser-
maßen „enthalten“ – zum Beispiel indem sie nicht miteinander kompati-
bel sind –, ist es interessant zu sehen, welche Meinungen als relevant aus-
gewählt werden und wie Aristoteles diese Meinungen präsentiert. 4 Zwei
Dinge fallen auf:
Erstens fällt auf, dass Aristoteles bei seiner Schilderung der allgemei-
nen Problemlage die Verschiedenheit und Vielzahl der Antworten betont.
Nicht nur haben verschiedene Menschen unterschiedliche Auffassungen
über das Glück (Ԕȝȝȡț İ’ Ԕȝȝȡ: a23), sondern oft auch derselbe Mensch
zu unterschiedlichen Zeiten oder in unterschiedlichen Situationen
(ʍȡȝȝչȜțȣ İպ Ȝįվ Ս įijրȣ ԥijıȢȡȟ: a23-24): Ist er krank, besteht für ihn
das Glück in der Gesundheit, ist er arm, im Reichtum, usw. Da die An-
zahl denkbarer Lebenssituationen unüberschaubar groß sein dürfte, dürfte
auch die Anzahl denkbarer Antworten auf die Frage nach dem Glück un-
überschaubar groß sein. In seiner Darstellung konzentriert sich Aristoteles
also zunächst auf die Menge und nicht auf den Inhalt der bestehenden
Ansichten.
Zweitens fällt auf, dass Aristoteles versucht, die bestehenden Ansichten
trotz ihrer Verschiedenheit in zwei Gruppen einzuteilen. Auf der einen
Seite (ȡԿ Ȟջȟ: a22) stehen die „Vielen“ (ʍȡȝȝȡտ), die etwas Offensichtliches
und Bekanntes (ijȟ ԚȟįȢȗȟ ijț Ȝįվ ĴįȟıȢȟ) zur Antwort geben, zum
_____________
3 ȂȒȗȧȞıȟ İ’ ԐȟįȝįȖȪȟijıȣ, Ԛʍıțİռ ʍֻIJį ȗȟIJțȣ Ȝįվ ʍȢȡįȔȢıIJțȣ ԐȗįȚȡ ףijțȟրȣ
ՌȢȒȗıijįț, ijȔ ԚIJijվȟ ȡ՟ ȝȒȗȡȞıȟ ijռȟ ʍȡȝțijțȜռȟ ԚĴȔıIJȚįț Ȝįվ ijȔ ijր ʍȑȟijȧȟ ԐȜȢȪijįijȡȟ
ijȟ ʍȢįȜijȟ ԐȗįȚȟ. ՌȟȪȞįijț Ȟպȟ ȡ՞ȟ IJȥıİրȟ ՙʍր ijȟ ʍȝıȔIJijȧȟ ՍȞȡȝȡȗıהijįț· ijռȟ
ȗոȢ ıİįțȞȡȟȔįȟ Ȝįվ ȡԽ ʍȡȝȝȡվ Ȝįվ ȡԽ ȥįȢȔıȟijıȣ ȝȒȗȡȤIJțȟ, ijր İ’ ı՞ Ș׆ȟ Ȝįվ ijր ı՞
ʍȢȑijijıțȟ ijįijրȟ ՙʍȡȝįȞȖȑȟȡȤIJț ij ıİįțȞȡȟıהȟ· ʍıȢվ İպ ij׆ȣ ıİįțȞȡȟȔįȣ, ijȔ ԚIJijțȟ,
ԐȞĴțIJȖșijȡףIJț Ȝįվ ȡȥ ՍȞȡȔȧȣ ȡԽ ʍȡȝȝȡվ ijȡהȣ IJȡĴȡהȣ ԐʍȡİțİȪįIJțȟ. ȡԿ Ȟպȟ ȗոȢ ijȟ
ԚȟįȢȗȟ ijț Ȝįվ ĴįȟıȢȟ, ȡՃȡȟ ԭİȡȟռȟ Ԯ ʍȝȡףijȡȟ Ԯ ijțȞȓȟ, Ԕȝȝȡț İ’ Ԕȝȝȡ—
ʍȡȝȝȑȜțȣ İպ Ȝįվ Ս įijրȣ ԥijıȢȡȟ· ȟȡIJȓIJįȣ Ȟպȟ ȗոȢ ՙȗȔıțįȟ, ʍıȟȪȞıȟȡȣ İպ ʍȝȡףijȡȟ·
IJȤȟıțİȪijıȣ İ’ ԛįȤijȡהȣ Ԕȗȟȡțįȟ ijȡւȣ ȞȒȗį ijț Ȝįվ ՙʍպȢ įijȡւȣ ȝȒȗȡȟijįȣ
ȚįȤȞȑȘȡȤIJțȟ. Ԥȟțȡț İ’ ֪ȡȟijȡ ʍįȢո ijո ʍȡȝȝո ijįףijį ԐȗįȚո Ԕȝȝȡ ijț ȜįȚ’ įՙijր ıՂȟįț,
Տ Ȝįվ ijȡȫijȡțȣ ʍֻIJțȟ įՀijțȪȟ ԚIJijț ijȡ ףıՂȟįț ԐȗįȚȑ.
4 Dies gilt unabhängig von der Frage, welche Rolle die Meinungen für die Lösung des
Problems spielen, das heißt inwieweit Aristoteles in der Ethik dialektisch verfährt.
2.1 Zwei gütertheoretische Ansätze 43
Beispiel Lust, Reichtum oder Ehre. Auf der anderen Seite (Ԥȟțȡț İջ: a26)
stehen diejenigen, die neben den Gütern das Gute „an sich“ (kath’ hauto)
annehmen, das die Ursache für die Güte der anderen Güter sei. Sie könn-
ten mit den Weisen (sophoi) aus a21 identisch sein; vielleicht meint sophoi
aber auch diejenigen, die das Glück in einem der Theorie gewidmeten
Leben sehen.
Es ist leicht zu sehen, dass diese Zweiteilung auch für den weiteren
Verlauf der Untersuchung, also die genauere Behandlung der Meinungen,
bestimmend ist. Denn Kapitel I 3 nimmt in der Auseinandersetzung mit
den Lebensformen (Ȗտȡț) die genannten Antworten der Vielen auf und
ergänzt sie um Tugend und Weisheit. Und der ideentheoretische Ansatz,
der in Kapitel I 4, der so genannten „Platonkritik“, behandelt wird, lässt
sich problemlos mit der Antwort identifizieren, die ein Gutes an sich pos-
tuliert (vgl. z.B. 1096b33, wo explizit von einem Guten kath’ hauto die
Rede ist).
Schwieriger ist dagegen zu sagen, worin die genaue Alternative zwi-
schen den beiden Gruppen besteht. Denn auf den ersten Blick scheinen
sie nicht auf die gleiche Frage zu antworten. Lust, Reichtum, Ehre und
Gesundheit können als mehr oder weniger direkte Antworten auf die in
1095a20-21 aufgeworfene Frage „Was ist das Glück?“ verstanden werden
(vgl. 2.2.2). Für das Gute an sich scheint dies jedoch nicht zu gelten. Zu-
mindest müsste erst geklärt werden, wie die bloße Behauptung, es gebe
neben den vielen Gütern ein Gut an sich, mit der Frage nach dem Glück
zusammenhängt. „Was ist x?“ – Fragen werden in der Regel nicht durch
Existenzaussagen beantwortet. Besteht das Glück im Erwerb dieses an sich
Guten? Oder in dessen Erkenntnis? Oder gibt es einen anderen Zusam-
menhang? Es sieht so aus, als würde die Theorie des an sich Guten nicht
so recht zu den anderen Meinungen passen. 5 Dieser Verdacht scheint sich
in I 4 dann auch zu bestätigen. Aristoteles markiert den Beginn des Kapi-
tels als neuen Ansatz: „Aber dies sei nun erledigt. Vielleicht ist es besser,
das allgemeine (Gute) ins Auge zu fassen“ (ijįףijį Ȟպȟ ȡ՞ȟ ԐĴıտIJȚȧ. Ȋր İպ
ȜįȚցȝȡȤ Ȗջȝijțȡȟ ՀIJȧȣ ԚʍțIJȜջȦįIJȚįț: 1096a10-11), und er beendet es
mit einer deutlichen Schlusswendung: „Auch über diese Dinge sei hiermit
soviel gesagt“ (Ȝįվ ʍıȢվ Ȟպȟ ijȡփijȧȟ Ԛʍվ ijȡIJȡףijȡȟ ıԼȢսIJȚȧ: 1097a14). Da
I 5 mit einer Wiederaufnahmefloskel beginnt: „Wir wollen wieder auf das
gesuchte Gut zurückkommen“ (ȇչȝțȟ İ’ ԚʍįȟջȝȚȧȞıȟ Ԛʍվ ijր
ȘșijȡփȞıȟȡȟ ԐȗįȚցȟ: 1097a15), wirkt die Platonkritik wie ein Einschub,
der zum verhandelten Thema nur wenig beigetragen hat.
_____________
5 Vgl. C.J. Rowe: „[I]t is, surely, somewhat odd to find the form of the good included
in a list of views on happiness. The form of the good is not by any stretch of the
imagination an answer to the question of the nature of happiness” (1971, 27).
44 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
_____________
12 ȡԽ İպ ȥįȢȔıȟijıȣ Ȝįվ ʍȢįȜijțȜȡվ ijțȞȓȟ· ijȡ ףȗոȢ ʍȡȝțijțȜȡ ףȖȔȡȤ IJȥıİրȟ ijȡףijȡ ijȒȝȡȣ.
[...] Ԥijț İ’ ԚȡȔȜįIJț ijռȟ ijțȞռȟ İțօȜıțȟ Ձȟį ʍțIJijıփIJȧIJțȟ ԛįȤijȡւȣ ԐȗįȚȡւȣ ıՂȟįț·
ȘșijȡףIJț ȗȡףȟ ՙʍր ijȟ ĴȢȡȟȔȞȧȟ ijțȞֻIJȚįț, Ȝįվ ʍįȢ’ ȡՃȣ ȗțȟȬIJȜȡȟijįț, Ȝįվ Ԛʍ’
ԐȢıij ·ׇİ׆ȝȡȟ ȡ՞ȟ Ցijț Ȝįijȑ ȗı ijȡȫijȡȤȣ ԭ ԐȢıijռ ȜȢıȔijijȧȟ. ijȑȥį İպ Ȝįվ Ȟֻȝȝȡȟ Ԕȟ
ijțȣ ijȒȝȡȣ ijȡ ףʍȡȝțijțȜȡ ףȖȔȡȤ ijįȫijșȟ ՙʍȡȝȑȖȡț.
46 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
***
Nach diesem ersten Argument für eine gütertheoretische Lektüre von EN
I 1-5 können wir auf die bereits genannte Interpretationsthese zurück-
kommen:
Die ersten fünf Kapitel der Nikomachischen Ethik entwickeln eine
Theorie des Guten, die auf die Anforderungen der Ethik zugeschnit-
ten ist.
_____________
13 Diese Alternative taucht in ähnlicher Form auch in der Eudemischen Ethik auf (I 8);
vgl. hierzu 2.5.
2.1 Zwei gütertheoretische Ansätze 47
Wie verhält sich diese These zu den beiden gerade identifizierten güter-
theoretischen Ansätzen? Auf den ersten Blick scheint die Antwort sehr
einfach. Es ist offensichtlich, dass Aristoteles den „platonischen“ Ansatz
zurückweist. Er versucht zu zeigen, dass es keine Idee des Guten geben
kann und dass eine Idee des Guten, wenn es sie gäbe, keinen Nutzen für
die Ethik hätte. Ebenso offensichtlich scheint, dass Aristoteles selbst einen
teleologischen Ansatz vertritt. Im Prinzip hält er an der zu Beginn der
Untersuchung eingeführten Identifikation von Gütern und Zielen fest.
Wie ich im Folgenden zeigen möchte, greift diese Antwort jedoch zu
kurz. Ihr entgeht die eigentliche gütertheoretische Pointe der ersten Kapi-
tel der Nikomachischen Ethik, die sich folgendermaßen umreißen lässt:
Zwar trifft es zu, dass Aristoteles dem teleologischen Ansatz zur Bestim-
mung des Guten den Vorzug gibt. Was er genau von diesem Ansatz hält,
wird aber erst im Verlauf von EN I 1-5 deutlich. Die Kapitel I 1-5 bieten
eine gütertheoretische Einschätzung der Identifikation von Gütern und
Zielen und damit eine „Theorie des Guten“. Und für diese Theorie des
Guten spielt auch die Kritik der platonischen Alternative eine wichtige
Rolle. Entscheidend ist dabei, dass Aristoteles nicht nur die Vorteile her-
vorhebt, die den teleologischen Ansatz gegenüber der Annahme einer Idee
des Guten auszeichnen, sondern auch auf einige Schwierigkeiten dieses
Ansatzes hinweist. Es sind diese Schwierigkeiten, auf die er im weiteren
Verlauf der Untersuchung reagieren muss.
Die folgende Interpretation von EN I 1-5 gliedert sich in drei Ab-
schnitte. Im ersten Abschnitt (2.2.1) werden wir uns mit der Einführung
des teleologischen Ansatzes am Beginn von EN I 1 (1094a1-22) befassen.
Es soll gezeigt werden, dass Aristoteles diesen Ansatz hier lediglich stipu-
liert, das heißt dass er eine gütertheoretische Festlegung trifft, über deren
genauere Begründung nichts gesagt wird. Im zweiten Abschnitt (2.2.2)
möchte ich dafür plädieren, die Kapitel I 2 und I 3 als eine „Anwendung“
des teleologischen Ansatzes zu lesen, in deren Verlauf einige der oben er-
wähnten Schwierigkeiten zutage treten. So scheint die Identifikation von
Gütern und Zielen zum einen auf eine „relativistische“ Konzeption der
Güter hinauszulaufen und zum anderen nicht allen Kriterien des Guten
gerecht zu werden. Der dritte Abschnitt (2.3) ist in erster Linie einer selek-
tiven Interpretation der Platonkritik gewidmet. Hier soll gezeigt werden,
dass EN I 4 einige wichtige „metaethische“ Einsichten enthält. Die ent-
scheidende dieser Einsichten lautet, dass der teleologische Ansatz auf einer
Gemeinsamkeit „der Analogie nach“ (kat’ analogian) beruht. Güter als
Ziele aufzufassen stellt daher weder eine Definition des Guten dar, noch
bietet es den Zugang zu einem Wissen über das Gute. Die als Ziele aufge-
fassten Güter sind in relevanter Hinsicht verschieden.
48 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
_____________
15 Eine gute Einführung zu verschiedenen Interpretationsfragen bietet nach wie vor
Kenny (1977).
16 Vgl. hierzu u.a. Williams (1962), Kirwan (1967), Jacobi (1979), Seel (1981), Wedin
(1981) und Vranas (2005).
17 Vgl. hierzu u.a. von Wright (1963, Kap. V.2), Kenny (1977), Irwin (1980), McDo-
well (1980) und Roche (1992, 46-48).
2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3) 51
Wird nun die Kenntnis dieses (Besten) nicht auch einen großen Einfluss in Bezug
auf das Leben haben, und dürften wir nicht, gerade so wie Bogenschützen, wenn
sie ein Ziel haben, besser das Erforderliche treffen? 18 (1094a22-24)
Da Aristoteles hier vom Potentialis (İ׆ȝȡȟ թȣ ijȡףij’ Ζȟ ıτș ijԐȗįȚցȟ:
a21-22) in den Realis (ԭ ȗȟIJțȣ įijȡ ףȞıȗչȝșȟ Ψȥıț עȡʍսȟ: a22-23)
wechselt, sieht es so aus, als würde er von der Existenz des einen höchsten
Strebensziels ausgehen. 19 Wie aber ist diese These zu verstehen? Meint
Aristoteles, dass wir alles, was wir tun, grundsätzlich auf das eine höchste
Ziel ausrichten? Die Annahme eines derart umfassenden „Lebensplans“
scheint nicht nur wenig plausibel, sie widerspricht auch dem von Aristote-
les beschriebenen Phänomen des akratischen Handelns (EN VII 1-11).
Denn der Akratiker handelt dem entgegen, was er in einer konkreten Situ-
ation für das Richtige hält. Er würde also etwas tun, was seiner Meinung
nach nicht zum höchsten Gut beiträgt. Außerdem wäre zu klären, ob das
höchste Ziel für alle Menschen ein und dasselbe ist oder ob es jeweils ver-
schieden sein kann. Für Ersteres spräche zum Beispiel, dass die Ethiken
eine Antwort auf die Frage nach dem höchsten Gut geben, für Letzteres,
dass sich der Wunsch beziehungsweise das „rationale Streben“ (ȖȡփȝșIJțȣ)
für Aristoteles auf etwas richtet, was dem Wünschenden als gut erscheint
(EN III 6, 1113a24). Das Postulat eines höchsten Strebensziels ist also
schwierig zu interpretieren und offen für eine ganze Reihe unterschiedli-
cher Deutungen.
Das dritte Problem betrifft nicht die Gleichsetzung von höchstem Gut
und oberstem Ziel des Strebens, sondern generell die Gleichsetzung von
Gutem und Erstrebtem. 20 Da es sich bei „x ist gut“ um ein wertendes Prä-
dikat handelt, bei „x ist ein Ziel“ dagegen um ein beschreibendes Prädikat,
scheint Aristoteles einen „naturalistischen Fehlschluss“ zu begehen. 21 Man
vermisst in EN I eine deutliche Unterscheidung zwischen dem (faktisch)
Erstrebten und dem Erstrebenswerten. Diese Schwierigkeit betrifft natür-
lich auch den Vergleich von Gütern. Es ist keineswegs ausgemacht, dass
die Ziele der Strategik in jeder Hinsicht „besser“ sind als die der Reitkunst.
Daher scheint es verwunderlich, dass Aristoteles die Gleichsetzung von
Gutem und Erstrebtem in der Ethik überhaupt verwendet, zumal er an
anderen Stellen zwischen dem nur als gut Erscheinenden oder „scheinbar“
_____________
18 ԖȢ’ ȡ՞ȟ Ȝįվ ʍȢրȣ ijրȟ ȖȔȡȟ ԭ ȗȟIJțȣ įijȡ ףȞıȗȑȝșȟ Ԥȥıț עȡʍȓȟ, Ȝįվ ȜįȚȑʍıȢ
ijȡȠȪijįț IJȜȡʍրȟ Ԥȥȡȟijıȣ Ȟֻȝȝȡȟ Ԓȟ ijȤȗȥȑȟȡțȞıȟ ijȡ ףİȒȡȟijȡȣ;
19 Weiter unten werden wir auf diesen Satz noch einmal zurückkommen.
20 Vgl. hierzu u.a. Broadie (1991, Kap. 1.II), Wolf (2002, 27) und Müller (2006b).
21 Die genaue Formulierung des Arguments vom naturalistischen Fehlschluss ist freilich
ebenso umstritten wie die Frage, ob es überhaupt gültig ist. An dieser Stelle geht es al-
lerdings nur um den Verdacht, der sich bei der Lektüre von (A) einstellt.
52 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
_____________
22 „Jeder, der nach seiner eigenen Entscheidung leben kann, sollte ein bestimmtes Ziel
des guten Lebens ansetzen, sei es nun Ehre oder Ansehen oder Reichtum oder Bil-
dung, auf das blickend er alle Handlungen ausführen wird; denn sein Leben nicht mit
Bezug auf ein bestimmtes Ziel geordnet zu haben ist ein Zeichen großer Unvernunft“
(ԕʍįȟijį ijրȟ İȤȟչȞıȟȡȟ Ș׆ȟ Ȝįijո ijռȟ įՙijȡ ףʍȢȡįտȢıIJțȟ [İı ]הȚջIJȚįț ijțȟո IJȜȡʍրȟ
ijȡ ףȜįȝȣ Ș׆ȟ, ijȡț ijțȞռȟ Ԯ İցȠįȟ Ԯ ʍȝȡףijȡȟ Ԯ ʍįțİıտįȟ, ʍȢրȣ Տȟ ԐʍȡȖȝջʍȧȟ
ʍȡțսIJıijįț ʍչIJįȣ ijոȣ ʍȢչȠıțȣ, թȣ ijց ȗı Ȟռ IJȤȟijıijչȥȚįț ijրȟ Ȗտȡȟ ʍȢցȣ ijț ijջȝȡȣ
ԐĴȢȡIJփȟșȣ ʍȡȝȝ׆ȣ IJșȞıהցȟ ԚIJijțȟ).
23 Eine dem ähnliche Auffassung vertritt Terence Irwin (1980, 45-48).
24 Vgl. zu einer Kombination dieser beiden Ansätze Bostock (2000), allgemein zu den
verschiedenen Varianten des Psychologischen Eudaimonismus und zu einer Kritik an
denselben Roche (1992). Auf die These des Psychologischen Eudaimonismus werden
wir in 3.1 ausführlicher zurückkommen.
25 Vgl. u.a. Kullmann (1995, 267f.), Nussbaum (1995) sowie ausführlich Müller
(2006b, Kap. IV.4).
2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3) 53
_____________
26 Etwas vereinfacht könnte man sagen, dass es bei (1) darum geht, dass es sich um ein
einzelnes höchstes Gut handelt, bei (2) darum, dass es dieses Gut gibt, und bei (3) dar-
um, dass es tatsächlich ein Gut ist.
27 Vgl. u.a. Joachim (1951, ad loc.), Hardie (1968, Kap. II), Cooper (1975, Kap. II.1),
Broadie (1991, 9) und Wolf (2002, 24). Eine Ausnahme bildet Michael Pakaluk: „We
may take him [Aristotle, Ph.B.] [...] to be proposing a definition, rather than arguing
that there is some particular good at which all things aim. What Aristotle wishes to
claim, in effect, is that ‘good’ should be defined as ‘aimed at’” (2005, 49).
54 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
Wir haben es also mit folgender Situation zu tun: Es hat zwar den An-
schein, als würde (A) für die Existenz eines obersten Ziels und damit eines
höchsten Guts argumentieren, die Passage scheint aber kein wirklich
schlüssiges Argument hierfür zu bieten. So könnte das Problem eines un-
endlichen Regresses immer höherer Ziele und die damit verbundene „Lee-
re“ und „Vergeblichkeit“ des Strebens (ʍȢցıțIJț ȗոȢ ȡ՝ijȧ ȗ’ ıԼȣ ԔʍıțȢȡȟ,
խIJij’ ıՂȟįț Ȝıȟռȟ Ȝįվ Ȟįijįտįȟ ijռȟ ՐȢıȠțȟ: 1094a20-21) auch durch meh-
rere um ihrer selbst willen erstrebte Güter vermieden werden. Es müsste
nur jede „Strebenskette“ durch ein solches Gut abgeschlossen sein.
Ein möglicher Ausweg aus dieser Situation scheint nun darin zu lie-
gen, andere Texte für die Interpretation von (A) heranzuziehen. Schließ-
lich ist es denkbar, dass der Beginn der Nikomachischen Ethik auf Annah-
men basiert, die an anderer Stelle genauer ausgeführt und begründet
werden. Diese Annahmen könnten als Zusatzprämissen dienen, um die
Existenz eines höchsten Guts zu beweisen. Beispielsweise könnte der
Übergang vom Erstrebten zum Erstrebenswerten (Problem 3) durch die
Annahme eines natürlichen Instinkts ermöglicht werden, der Lebewesen
genau das erstreben lässt, was tatsächlich gut für sie ist. Nach dem Referat
des Aristoteles scheint dies ungefähr die Auffassung des Eudoxos gewesen
zu sein: „(Eudoxos meinte) nämlich, dass jeder das für sich Gute finden
(könne), wie auch die Nahrung“ (ԥȜįIJijȡȟ ȗոȢ ijր įՙij ԐȗįȚրȟ
ıՙȢտIJȜıțȟ, խIJʍıȢ Ȝįվ ijȢȡĴսȟ: EN X 2, 1172b13-14.)
Es gibt einige Interpreten, die explizit für eine solche Kontextualisie-
rung des Beginns der Nikomachischen Ethik eintreten. Autoren wie Franz
Dirlmeier (81983) oder Gerhard Seel (1981) betonen den philosophiehis-
torischen Hintergrund; andere wie Terence Irwin (1980) versuchen der
Ethik ein zum Beispiel metaphysisches Fundament zu geben, indem sie
einen Zusammenhang mit weiteren Schriften des Aristoteles herstellen.
Wieder andere Kommentatoren scheinen zumindest implizit davon auszu-
gehen, dass sich (A) nur mit Hilfe von Zusatzannahmen verstehen lässt.
Im Folgenden möchte ich zeigen, dass dieser Ansatz, ob er nun explizit
oder implizit verfolgt wird, aus mehreren Gründen problematisch ist. Die
einleitenden Zeilen der Nikomachischen Ethik sollten, wenn möglich, als
unabhängige und in sich geschlossene Argumentation interpretiert wer-
den.
Auf den ersten Blick hat der Gedanke, dass (A) auf einen bestimmten
Kontext verweist, durchaus etwas für sich. Denn die These, dass sich Gü-
ter als Strebensziele begreifen lassen, geht weder auf Aristoteles zurück,
noch beschränkt sie sich auf dessen Ethik. Daher scheinen von Abschnitt
(A) gleich mehrere Spuren auszugehen, denen bei der Interpretation nach-
2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3) 55
_____________
31 Z.B. Met. A 2, 982b10; A 3, 983a31-32; B 2, 996a23-26; ǻ 1, 1013a21-23; ǻ 2,
1013b25-26; K 1, 1059a35-36 usw.
32 Vgl. zur entsprechenden Debatte Gotthelf (1988).
33 Z.B. Met. ǻ 2, 1013b25-28: „Anderes endlich (ist Ursache) als das Ziel und das Gute
des Übrigen; denn das Worumwillen soll das Beste und das Ziel des Übrigen sein; es
mag hierbei gleich gelten, ob wir es als das (wirklich) Gute oder als das scheinbar Gute
bezeichnen“ (ijո İ’ թȣ ijր ijջȝȡȣ Ȝįվ ijԐȗįȚրȟ ijȟ Ԕȝȝȧȟ. ijր ȗոȢ ȡ՟ ԥȟıȜį ȖջȝijțIJijȡȟ
Ȝįվ ijջȝȡȣ ijȟ Ԕȝȝȧȟ ԚȚջȝıț ıՂȟįțǝ İțįĴıȢջijȧ İպ Ȟșİպȟ įijր ıԼʍıהȟ ԐȗįȚրȟ Ԯ
ĴįțȟցȞıȟȡȟ ԐȗįȚցȟ). Für die Zitate aus der Metaphysik orientiere ich mich hier wie
im Folgenden an der Übersetzung von Hermann Bonitz: Wolf (Hg.) (32002).
2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3) 57
Erstrebte) nicht notwendig gut oder angenehm ist, sondern nur so zu sein
scheint. 34 (146b36-147a4)
Nun ist zwar zu Beginn der Nikomachischen Ethik vom scheinbar Guten
keine Rede, wohl aber in deren weiterem Verlauf (III 6). Für welchen
Kontext soll man sich also bei der Interpretation von (A) entscheiden?
Und welche Zusatzannahmen sind bei dieser Interpretation zu überneh-
men?
Schließlich hat (A) eindeutig den Charakter einer Einleitung. Es ist
der Beginn eines Proömiums, in dem geklärt wird, worum es in der Ethik
geht und warum diese Untersuchung wichtig ist. Aristoteles stellt keine
direkte Verbindung zu anderen Texten her, sondern suggeriert eine in sich
geschlossene Argumentation, die den Anfang einer neuen Untersuchung
bildet. 35 Die Passage enthält zwar einige Aristotelische Termini wie ergon
und energeia (1094a4-5). Die meisten Begriffe werden aber nicht streng
terminologisch gebraucht, 36 und die entscheidenden Differenzierungen
werden – wie ich weiter unten darstellen möchte – im Text selber einge-
führt. Der Versuch, (A) aus sich selbst heraus zu interpretieren, ist also der
Textgestalt angemessen.
_____________
34 Ԫijț Ԛʍվ ijȟ ՌȢȒȠıȧȟ ıԼ Ȟռ ʍȢȪIJȜıțijįț ijր ĴįțȟȪȞıȟȡȟ, Ȝįվ ԚĴ’ ՑIJȧȟ Ԕȝȝȧȟ
ԑȢȞȪijijıț, ȡՃȡȟ Ցijț ԭ ȖȡȫȝșIJțȣ ՐȢıȠțȣ ԐȗįȚȡף, ԭ İ’ ԚʍțȚȤȞȔį ՐȢıȠțȣ ԭİȒȡȣ, Ԑȝȝո Ȟռ
ĴįțȟȡȞȒȟȡȤ ԐȗįȚȡ ףԮ ԭİȒȡȣ. ʍȡȝȝȑȜțȣ ȗոȢ ȝįȟȚȑȟıț ijȡւȣ ՌȢıȗȡȞȒȟȡȤȣ Ց ijț ԐȗįȚրȟ
Ԯ ԭİȫ ԚIJijțȟ, խIJij’ ȡȜ ԐȟįȗȜįהȡȟ ԐȗįȚրȟ Ԯ ԭİւ ıՂȟįț Ԑȝȝո ĴįțȟȪȞıȟȡȟ ȞȪȟȡȟ.
35 Vgl. hierzu Jacobi (1979, 304-307).
36 Ein Beispiel: Während der Begriff praxis im ersten Satz von dem der technê abgesetzt
wird (1094a1), also offensichtlich in der engeren Bedeutung einer Tätigkeit gebraucht
wird, die ihr Ziel in sich selbst hat, benutzt Aristoteles praxis vier Zeilen später als
Überbegriff für verschiedene Arten menschlichen Tuns, auch für solche, bei denen es
ein Ziel „neben den Handlungen“ (para tas praxeis: a5) gibt.
58 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
_____________
40 Die Einführung des Ausdrucks „Fähigkeit“ (İփȟįȞțȣ) spielt hier m.E. keine besondere
Rolle. Aristoteles hätte auch von einer Wissenschaft (ԚʍțIJijսȞș) oder Kunst (ijջȥȟș)
sprechen können, der andere untergeordnet sind.
41 Während Aristoteles mit Bezug auf (a) von „besser“ spricht, wählt er mit Bezug auf (b)
den Ausdruck „wählenswerter“. Da er aber in Abschnitt (3) aus (b) Kriterien für das
„Beste“ gewinnt, scheinen die beiden Ausdrücke hier gleichbedeutend zu sein.
42 Ich sehe dementsprechend auch kein Problem in den vieldiskutierten Zeilen a16-18:
„Es macht aber keinen Unterschied, ob die Ziele der Handlungen die Tätigkeiten
selbst sind oder etwas anderes neben diesen, wie bei den genannten Wissenschaften“
(vgl. z.B. Ackrill 1974/1995, 43f.). Hinter ihnen verbirgt sich m.E. keine besondere
„Pointe“ (z.B. dass hier bereits das Teil-Ganzes-Verhältnis im Sinne von Ackrills in-
klusiver Ǽudaimonia-Interpretation angesprochen wäre), sondern lediglich der Hin-
weis, dass für das hypo-Verhältnis (b) eine andere Perspektive relevant ist als für das er-
gon-praxis -Verhältnis (a).
2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3) 61
Frage, aus welchen Gründen es legitim ist, Güter als Ziele zu begreifen,
sollte daher vorerst offen gelassen werden.
Die Vorteile dieser Deutung gegenüber der „gängigen Sicht“ dürften
auf der Hand liegen. Zum einen müssen keine Zusatzprämissen herange-
zogen werden, was der Textgestalt und der rhetorischen Situation von (A)
als Proömium angemessen ist. Zum anderen wird dem Text nicht eine
Funktion zugesprochen, die er argumentativ nicht erfüllen kann. Die drei
Interpretationsprobleme, denen die „gängige Sicht“ gegenübersteht, treten
nicht auf. 47
Dass Abschnitt (A) auch dann eine wichtige Rolle für die Untersu-
chung spielen kann, wenn er nicht die Existenz eines höchsten Guts be-
weist, wurde bereits herausgestellt. Die sachliche Ausgangsthese der Niko-
machischen Ethik (die eudaimonia ist das höchste Gut) ist eine These über
die Relation von Gütern. Ein Ansatz, der es ermöglicht, diese Relation
herzustellen, bietet daher ein wichtiges argumentatives Werkzeug. Da sich
diese Deutung jedoch auf den Fortgang der Untersuchung stützt, könnte
man den Einwand vorbringen, dass sie keine Erklärung für Reihenfolge
der Argumentation bietet. Wenn die Basis der Nikomachischen Ethik in
der These besteht, dass die eudaimonia das höchste Gut ist, wieso beginnt
Aristoteles dann nicht wie in der Eudemischen Ethik mit dieser These? Und
wenn der in (A) vorgestellte Ansatz eine Stipulation darstellt, wieso kenn-
zeichnet Aristoteles ihn dann nicht deutlicher als eine solche? Tatsächlich
scheint ein Hauptgrund für die „gängige Sicht“ auf (A) in der Reihenfolge
der Argumentation zu liegen. Aristoteles beginnt die Untersuchung eben
nicht mit dem Begriff des Glücks, sondern mit dem des höchsten Guts. 48
Nach meiner Ansicht vernachlässigt dieser Einwand den besonderen
Status des ersten Kapitels. Wie wir bereits gesehen haben, bildet EN I 1
ein Proömium, einen in sich abgeschlossenen, vorbereitenden Teil. Das
_____________
EE I 8, 1218b16-24; hier beschreibt Aristoteles, dass man für die Güte eines Gegen-
standes argumentieren kann, indem man ihn als Mittel zu einem als gut angesetzten
Zweck beschreibt (ՍȢțIJչȞıȟȡț ȗոȢ ijր ijջȝȡȣ ijԖȝȝį İıțȜȟփȡȤIJțȟ, Ցijț ԥȜįIJijȡȟ įijȟ
ԐȗįȚցȟ: b17-18). Dabei wird im Rahmen dieser Argumentation für die Güte des
Zwecks gerade nicht argumentiert (b22-24). Ähnlich liegt der Fokus von (A) nicht auf
der Gleichsetzung zwischen dem Guten und dem Erstrebten selbst, sondern auf den
sich daraus ergebenden Relationen.
47 Problem (1) tritt nicht auf, weil wir (a) in 1094a3 den Ausdruck tagathon auf das
formale Objekt des Strebens und nicht auf das eine höchste Gut bezogen haben und
(b) a18-22 als Formulierung eines Kriteriums des höchsten Guts und nicht als Beweis
für dessen Existenz verstanden haben. Problem (2) tritt nicht auf, weil wir a18-22,
insbesondere das Regressargument in a20-21, nicht psychologisch aufgefasst haben,
sondern als Bestandteil der Formulierung eines Kriteriums des höchsten Guts. Prob-
lem (3) tritt (vorerst) nicht auf, weil wir a1-3 als eine Stipulation gedeutet haben, de-
ren genaue Begründung noch aussteht.
48 Vgl. Cooper (1975, 91).
2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3) 63
höchsten Gut lässt sich dadurch erklären, dass Aristoteles zunächst die
Bedeutung des Gegenstandes herausstellen möchte (protreptische Funk-
tion). (ii) (A) kann die Bedeutung des Gegenstandes herausstellen, ohne
die Existenz eines höchsten Ziels beweisen zu müssen.
Da (A) also eine bestimmte Rolle im Rahmen des Proömiums über-
nimmt, ist es weder verwunderlich, dass der Abschnitt Elemente vorweg-
nimmt, deren genaue Funktion erst später deutlich wird, noch, dass Ele-
mente aus (A) später wieder aufgenommen und genauer bestimmt werden.
Unsere Interpretation des Abschnitts (A) hat zwei wesentliche Ergeb-
nisse: (i) Der Beginn der Nikomachischen Ethik weist nicht die Existenz
eines obersten Ziels oder höchsten Guts nach, sondern entwickelt lediglich
ein Kriterium des höchsten Guts auf der Basis eines teleologischen Ansat-
zes. Dieses Ergebnis unterscheidet die Interpretation von der „gängigen
Sicht“ auf Abschnitt (A). (ii) Der Beginn der Nikomachischen Ethik bietet
weder ein abschließendes Argument für die Richtigkeit des teleologischen
Ansatzes, noch verweist er auf andere Kontexte, in denen ein solches Ar-
gument am Platz sein könnte. Die Einführung des teleologischen Ansatzes
hat eher den Charakter einer Stipulation. Dieses Ergebnis ist vor allem für
den Fortgang der gütertheoretischen Lektüre von Bedeutung.
Wichtig ist, dass Ergebnis (ii) nicht mit der These verwechselt werden
darf, Aristoteles stünden prinzipiell keine Argumente für die Identifikation
von Gütern und Zielen zur Verfügung. 50 Eine so starke These soll hier
nicht vertreten werden. Das Ergebnis betrifft allein die Frage, wie Aristote-
les den teleologischen Ansatz in die ethische Untersuchung einführt. Und
wie sich herausstellen wird, lässt sich der weitere Ablauf der Argumen-
tation darauf beziehen.
Zu Beginn des Abschnitts 2.2.1 haben wir die Frage aufgeworfen, wie der
teleologische Ansatz zur Bestimmung des Guten begründet wird. Diese
Frage schien schon deshalb legitim, weil es andere gütertheoretische An-
sätze gibt. Im Verlauf von 2.2.1 haben wir gesehen, dass die Einleitung des
Kapitels I 1 diese Begründung nicht liefert. Die Identifikation von Gütern
und Zielen wird hier mehr oder weniger stipuliert und bestenfalls plausibi-
_____________
50 So lässt sich gegen die hier vorgeschlagene Deutung der Einwand erheben, dass der
Begriff der eudaimonia selbst mit der Vorstellung eines obersten Strebensziels verbun-
den ist und dass sich die Entscheidung für den teleologischen Ansatz auf diese Weise
begründen lässt. Dieser Einwand ist nicht unberechtigt, spricht aber, wie ich weiter
unten zeigen werde, nicht gegen die hier vorgestellte gütertheoretische Interpretation
(vgl. 2.5).
2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3) 65
_____________
51 Ein Problem für die Interpretation von EN I liegt darin, dass Aristoteles in I 2-3 einen
dialektischen Ansatz suggeriert, den er dann mit dem Ergon-Argument zu verlassen
scheint. So urteilt beispielsweise Ernst Tugendhat: „In I, 3 verfolgt Aristoteles eine
Methode, die er auch in anderen Zusammenhängen häufig anwendet, indem er zu-
nächst fragt: was ist denn die Meinung der Leute über das Glück? [...] Platon hätte
sich [...] auf die Antworten seiner Gesprächspartner eingelassen und wäre ihren Kon-
sequenzen und eventuellen Widersprüchen nachgegangen, und – so können wir fra-
gen – ist das nicht der einzig richtige Weg, können wir etwas anderes tun? Aristoteles
meint es offenbar, denn er verzichtet auf ein solches dialogisches Verfahren, er läßt die
drei Lebenskonzepte so stehen und versucht das Problem in I, 6 in einem ganz neuen
Ansatz sozusagen von der Sache her anzugehen“ (41997, 241; vgl. Wolf 2002, 37).
66 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
Die Floskel „andere anderes“ (alloi d’ allo) zeigt, dass hier nur eine Aus-
wahl an Antworten auf die Frage nach dem höchsten Gut genannt wird.
Und der Hinweis auf die Abhängigkeit der Antworten von bestimmten
Lebenssituationen macht deutlich, dass diese Auswahl nicht zufällig zu-
stande kommt. Sie wird nach einem bestimmten Muster erzeugt und ließe
sich nach dem gleichen Muster fortsetzen. So könnte, wer sich im Krieg
befindet, Frieden das höchste Gut nennen, wer kinderlos ist, Nachwuchs,
wer einsam ist, einen Freund, usw. Was auch immer jemand entsprechend
seiner Lebenssituation als höchstes Ziel seines Strebens bezeichnet, kann
offenbar als ein höchstes Gut angesprochen werden.
Mit der nötigen Vorsicht lässt sich diese Beobachtung auf die folgende
Weise verallgemeinern: Der zu Beginn von EN I 1 stipulierte teleologische
Ansatz scheint auf eine „relativistische“ Konzeption der Güter hinauszu-
laufen; die als Ziele identifizierten Güter sind stets Güter „in Bezug auf“.
Eine gewisse Vorsicht ist deshalb geboten, weil mit dieser Verallgemeine-
rung noch nichts über die Bedeutung des Ausdrucks „gut“ gesagt werden
soll, mit der Aristoteles sich erst in Kapitel I 4 befasst. Vorerst geht es nur
um die Beobachtung, dass die als Ziele aufgefassten Güter jeweils ver-
schieden sind und dass sich für jedes davon ein eigenes Relatum benennen
lässt. 52 Da der Ausdruck „Ziel“ selbst relational ist, stellt diese Beobach-
tung allerdings keine Überraschung dar. Ein Ziel ist notwendigerweise das
Ziel von etwas, zum Beispiel das Ziel einer Kunst, einer Untersuchung,
einer Handlung oder eines Entschlusses (I 1). Dementsprechend dürften
auch die als Ziele bestimmten Güter und die als Ziele bestimmten höchs-
ten Güter relational aufzufassen sein. Es sind Güter, die auf bestimmte
Künste, Untersuchungen, Handlungen oder Entschlüsse, und höchste
Güter, die auf bestimmte Lebenssituationen (I 2) oder Lebensformen (I 3)
bezogen sind. Der Vielfalt der Ziele entspricht eine Vielfalt der Gegen-
stände, deren Ziele sie sind.
Bereits an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass dieser „Güter-
Relativismus“ nicht mit einem Subjektivismus verwechselt werden darf
oder mit dem, was gelegentlich „subjektiver Relativismus“ heißt und mit
der Figur des Protagoras in Verbindung gebracht wird. Es geht hier nicht
um die These, gut für eine Person sei dasjenige, was diese Person für gut
hält. Bei der Einführung des teleologischen Ansatzes ist von Personen
zunächst auch gar nicht die Rede, sondern ausschließlich von bestimmten
Vorgängen. Dass aber zum Beispiel Herstellungsprozesse durch ihr Pro-
dukt (ergon) und damit ihr Ziel definiert sind und dass unterschiedliche
_____________
52 Zu ergänzen: Es ist möglich, dass etwas, das ein Gut in Bezug auf a ist, kein Gut in
Bezug auf b ist, und umgekehrt. Vgl. für ein Beispiel einer relativistischen Moralkon-
zeption Harman (1996).
2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3) 67
_____________
53 ԑʍȑIJįȣ Ȟպȟ ȡ՞ȟ ԚȠıijȑȘıțȟ ijոȣ İȪȠįȣ ȞįijįțȪijıȢȡȟ ՀIJȧȣ ԚIJijȔȟ, ԽȜįȟրȟ İպ ijոȣ
ȞȑȝțIJijį ԚʍțʍȡȝįȘȡփIJįȣ Ԯ İȡȜȡփIJįȣ Ԥȥıțȟ ijțȟո ȝցȗȡȟ.
54 „Anerkannte Meinungen dagegen sind diejenigen, die entweder von allen oder den
meisten oder den Fachleuten und von diesen entweder von allen oder den meisten
oder den bekanntesten und anerkanntesten für richtig gehalten werden“ (ԤȟİȡȠį İպ
ijո İȡȜȡףȟijį ʍֻIJțȟ Ԯ ijȡהȣ ʍȝıȔIJijȡțȣ Ԯ ijȡהȣ IJȡĴȡהȣ, Ȝįվ ijȡȫijȡțȣ Ԯ ʍֻIJțȟ Ԯ ijȡהȣ
ʍȝıȔIJijȡțȣ Ԯ ijȡהȣ ȞȑȝțIJijį ȗȟȧȢȔȞȡțȣ Ȝįվ ԚȟİȪȠȡțȣ: Top. I 1, 100b21-23).
68 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
Gegen die Auffassung, dass Ehre (ijțȞս) oder Reichtum (ʍȝȡףijȡȣ) das
höchste Gut darstellen könnten, wendet Aristoteles ein, dass beide eigent-
lich um einer anderen Sache willen erstrebt werden. Ehre wird um des
Ansehens der Tugendhaftigkeit willen erstrebt (1095b26-28), und Reich-
tum ist schon per se ein Mittel zum Zweck (1096a7). (Am Beispiel des
Reichtums wird noch einmal deutlich, dass es hier nicht um die Psycholo-
gie der Handelnden geht. Denn selbstverständlich ist es nicht psycholo-
gisch ausgeschlossen, sich den Reichtum zum höchsten Ziel zu machen.
Vielmehr gehört es einfach zum Begriff des Geldes, Mittel zu einem
Zweck zu sein.) Offensichtlich kommt in diesen Argumenten das in Kapi-
tel I 1 entwickelte Kriterium des Besseren zur Anwendung: Wenn a um-
willen von b erstrebt wird, dann ist b besser als a, so dass a keinesfalls das
höchste Gut sein kann. Aristoteles arbeitet demnach mit einem Kriterium,
das auf dem teleologischen Ansatz selbst basiert. Auf den Vergleich zwi-
schen Tugend, Lust und Weisheit lässt sich dieses Kriterium allerdings
nicht anwenden; denn diese drei werden um ihrer selbst willen geschätzt
(İț’ įՙijո ȗոȢ Ԑȗįʍֻijįț: 1096a8-9).
Bei den anderen Argumenten aus Kapitel I 3 ist ein Bezug zum teleo-
logischen Ansatz dagegen nicht festzustellen. Gegen das Leben der Lust
spricht zum Beispiel, dass es „sklavenartig“ und „viehisch“ ist (ȡԽ Ȟպȟ ȡ՞ȟ
ʍȡȝȝȡվ ʍįȟijıȝȣ ԐȟİȢįʍȡİօİıțȣ Ĵįտȟȡȟijį ȖȡIJȜșȞչijȧȟ Ȗտȡȟ
ʍȢȡįțȢȡփȞıȟȡț: 1095b19-20), gegen das der Tugend, dass man als Tu-
gendhafter sein Leben auch untätig oder schlafend verbringen (ԚȟİջȥıIJȚįț
Ȝįվ ȜįȚıփİıțȟ Ԥȥȡȟijį ijռȟ ԐȢıijռȟ Ԯ ԐʍȢįȜijıהȟ İțո ȖտȡȤ) und außerdem
das größte Unglück erleiden könnte (ȜįȜȡʍįȚıהȟ Ȝįվ ԐijȤȥıהȟ) (1095b32-
1096a1). Unter der Hand werden hier also Kriterien des Guten (und der
eudaimonia) eingeführt, die sich nicht auf deren teleologische Bestimmung
zurückführen lassen. Und offenbar gibt es Gegenstände, die zwar höchste
Güter im Sinne höchster Ziele darstellen, aber andere Kriterien des Guten
nicht erfüllen. Besonders deutlich wird dies im ersten Argument gegen die
Ehre, wo das Gute als etwas „Eigenes“ bezeichnet wird, das nur schwer
wegzunehmen sei (ijԐȗįȚրȟ İպ ȡԼȜıהցȟ ijț Ȝįվ İȤIJįĴįտȢıijȡȟ ıՂȟįț
ȞįȟijıȤցȞıȚį: 1095b25-26). Dass Aristoteles etwas nicht für das gesuchte
Gut hält, muss also nicht bloß damit zusammenhängen, dass es kein
höchstes Gut im Sinne eines höchsten Ziels ist.
Was lernen wir aus diesen Beobachtungen über den teleologischen
Ansatz zur Bestimmung des Guten? Mindestens zwei wichtige Eigenschaf-
ten sind in EN I 2-3 zutage getreten. Erstens scheint der teleologische
Ansatz eine relativistische Konzeption der (höchsten) Güter zu beinhalten.
(Höchste) Güter sind stets (höchste) Güter „in Bezug auf“. Zweitens er-
fasst der teleologische Ansatz nicht alle Kriterien des Guten. Wenn wir
aber davon ausgehen, dass Aristoteles nach dem einen höchsten Gut sucht
2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3) 69
(vgl. z.B. I 5, 1097a30), das möglichst alle Kriterien des Guten erfüllt (vgl.
z.B. I 8, 1098b12-22), dann lassen sich diese Eigenschaften als Schwierig-
keiten begreifen, die eine Identifikation von Gütern und Zielen mit sich
bringt. 55 Wir verfügen somit über eine erste gütertheoretische Einschät-
zung des teleologischen Ansatzes.
Darüber hinaus sind wir in der Lage, einen Zusammenhang zwischen
der Argumentation in EN I und dem im ersten Kapitel dieser Arbeit skiz-
zierten gütertheoretischen Hintergrund herzustellen. Anhand von Rhet. I
6-7 hatten wir festgestellt, dass die anerkannten Meinungen über das Gute
zu sehr unterschiedlichen Kriterien des Guten führen und dass nicht klar
ist, ob es ein Kriterium gibt, durch das sich alle anerkannten Güter erfas-
sen lassen (vgl. 1.3). Anhand von EN I 1-3 stellen wir fest, dass Aristoteles
den teleologischen Ansatz wie eine gütertheoretische Option behandelt,
die tatsächlich nicht allen Kriterien des Guten gerecht wird. Die Kritik der
Lebensformen in Kapitel I 3 enthält die Situation einander widerspre-
chender Topen zum Guten oder Besseren, wie sie auch in Rhet. I 7 vorge-
sehen ist. Die Beobachtungen an EN I 1-3 bestätigen insgesamt die in
Kapitel 1 beschriebene Komplexität des Gegenstands.
Obwohl in Kapitel I 3 einige Gegenstände identifiziert worden sind,
die um ihrer selbst willen erstrebt werden, scheint keiner dieser Gegen-
stände das gesuchte Gut zu sein (1096a7-10). Wie aber sollte man über
diese Gegenstände hinausgehen können, ohne die am Beginn der Unter-
suchung eingeschlagene Strategie zu verlassen? Wie kann vor dem Hinter-
grund einer teleologischen Güterkonzeption eine nicht-relativistische Be-
stimmung des Glücks als höchstem Gut gegeben werden? Wie die
Abbruchformel tauta men oun apheisthô („aber dies sei nun erledigt“:
1096a10) andeutet, scheint die Untersuchung hier in eine Sackgasse gera-
ten zu sein. Eine weitere Differenzierung ist auf der Basis eines teleologi-
schen Ansatzes offenbar nicht möglich. So gesehen ist es kaum verwunder-
lich, dass sich Aristoteles zunächst einmal der grundlegenden
gütertheoretischen Alternative zuwendet und das Gute „an sich“ in den
Blick nimmt.
_____________
55 Das heißt, der Verlauf der Kapitel I 2 und I 3 unterstützt die These, dass Aristoteles in
I 1 zunächst nur einen hypothetischen Kontext hergestellt hat: Wenn und insofern
man Erstrebt-Werden als Kriterium für Güte akzeptiert, kann man auch die Kriterien
für das höchste Gut akzeptieren.
70 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
_____________
56 Vgl. als neuere Beispiele Bostock (2000), der die Behandlung von I 4 in einen „Ap-
pendix“ verlegt (29-31), oder Pakaluk (2005), der das Kapitel als eine „Digression on
the Logic of Goodness“ (57) bezeichnet, die der Leser auch auslassen könne, es sei
denn, er habe „fervent Platonists among [his] closest friends“ (58). Eine der seltenen
Ausnahmen zu dieser Tendenz bildet MacDonald (1989).
57 Vgl. z.B. Flashar (1995).
2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4) 71
Verschaffen wir uns also zunächst einen Überblick über das Kapitel. Nach
der berühmten Einleitung über befreundete Männer und die Wahrheit
(1096a11-17) bringt Aristoteles in direkter Folge fünf Argumente gegen
die Ideenlehre vor (a17-b5). Dies sind: (i) Das Argument von der Reihung
(a17-23): Von Dingen, die zueinander in einem Verhältnis des „Früher“
oder „Später“ stehen, das heißt in einem Abhängigkeitsverhältnis, 58 gibt es
keine gemeinsame Idee. Da das Gute sowohl in der Kategorie der Sub-
stanz (ijտ ԚIJijț) als auch in den Kategorien der Quantität (ʍȡțցȟ) und der
Relation (ʍȢցȣ ijț) ausgesagt wird, besteht hier ein Verhältnis des „Früher“
_____________
58 Vgl. zu den verschiedenen Bedeutungen von proteron („früher“) Met. ǻ 11 sowie
Cleary (1998).
72 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
oder „Später“; denn die Substanz ist von Natur aus früher als zum Beispiel
die Relation (vgl. zur Priorität der Substanz Met. Z 1, 1028a31-b2). (ii)
Das Kategorienargument (a23-29): Wenn etwas wie das Gute in mehreren
Kategorien ausgesagt wird, dann gibt es davon kein Gemeinsames im Sin-
ne einer Idee. (iii) Das Wissenschaftsargument (a29-a34): Es gibt keine
allgemeine Wissenschaft vom Guten, die es gemäß der Ideentheorie geben
müsste. (iv) Das Argument von der Hypostasierung (a34-b3): Die Hyposta-
sierung einer Sache zur „Sache selbst“, zum Beispiel die Hypostasierung
des Menschen zum Menschen selbst (įijȡչȟȚȢȧʍȡȣ) in der Idee des
Menschen, ist sinnlos. Denn als das, was sie sind, unterscheiden sich Idee
und Einzelding gerade nicht. (v) Das Argument von der Ewigkeit (b3-5):
Etwas wird nicht dadurch besser (oder weißer usw.), dass es wie die Ideen
ewig (Ԑտİțȡȟ) ist.
Die Argumente (i) bis (iii) befassen sich direkt mit der Möglichkeit ei-
ner Idee des Guten, während (iv) und (v) gegen Aspekte der Ideenlehre als
solcher gerichtet sind.
Nach einem kurzen Einschub zu den Pythagoreern und Speusipp
(b5-8) geht Aristoteles auf einen möglichen Gegeneinwand ein, der auf
der Differenzierung zwischen Gütern „an sich“ (ȜįȚ’ įՙijչ) und „auf-
grund dieser“ (İțո ijįףijį) basiert; er wird durch ein sechstes Argument
zurückgewiesen (b8-26). Auch von den Gütern an sich kann es keine ge-
meinsame Idee geben (vgl. hierzu 2.3.3). Daran schließt sich die kurze
Skizze der eigenen Position an (b26-31). Das Kapitel endet mit zwei wei-
teren Argumenten gegen die Ideenlehre (1096b31-1097a14). Das eine
behauptet, (vii) die Idee des Guten sei weder Gegenstand einer Handlung
noch erwerbbar (b31-35), das andere, (viii) ihre Kenntnis sei für die ein-
zelnen Wissenschaften nicht von Nutzen (b35-a14).
Auch wenn Aristoteles in mehreren Anläufen vorgeht, verfolgt er of-
fensichtlich zwei wesentliche Ziele. Er möchte zum einen zeigen, dass es
keine Idee des Guten gibt (Argumente (i) bis (vi)), zum anderen, dass eine
Idee des Guten, wenn es sie gäbe, kein Handlungsziel sein könnte und
daher für die vorliegende Untersuchung „nutzlos“ wäre (Argumente (vii)
und (viii)). Diese Zweiteilung wird noch deutlicher in der Eudemischen
Ethik, wo gleich zu Beginn von I 8 behauptet wird, die Rede von einer
Idee des Guten sei erstens leer (Ȝıȟȣ: 1217b21); zweitens hätte eine Idee
des Guten für das gute Leben und die Handlungen keinen Nutzen (ȡİպ
ȥȢսIJțȞȡȣ ʍȢրȣ Șȧռȟ ԐȗįȚռȟ ȡİպ ʍȢրȣ ijոȣ ʍȢչȠıțȣ: b24-25). Ich werde
mich im Folgenden vor allem auf die Argumente (i) bis (vi) konzentrieren.
Wenn man die gerade skizzierte Argumentation mit anderen platon-
kritischen Passagen bei Aristoteles vergleicht, dann fällt ein Unterschied
ins Auge, der für die Beurteilung von EN I 4 entscheidend sein dürfte:
2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4) 73
_____________
59 Diese drei Passagen hängen miteinander zusammen. Met. M 4 und 5 wiederholen –
zum Teil textidentisch – Argumente aus A 6 und 9; De ideis ist in der überlieferten
Form, das heißt als Bestandteil von Alexanders Metaphysik-Kommentar, die ausführli-
che Behandlung von fünf Argumenten, die in der Metaphysik skizziert werden (A 9,
990b11-17 bzw. M 4, 1079a7-13).
60 Vgl. Ross (1924, ad loc.) und Fine (1993).
61 Vgl. zur Idee des Guten Wieland (1976).
62 Insgesamt verwendet Aristoteles in EN I 4 auffallend wenig Mühe darauf, den Plato-
nischen Ansatz darzustellen. Offensichtlich geht er davon aus, dass seine Hörer mit
der Theoriebildung der Akademie vertraut sind.
74 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
Ursache des Gutseins der anderen Güter zu sein. Beides komme aber der Idee des
Guten zu – mit „beides“ meine ich, das Erste unter den Gütern zu sein und durch
Anwesenheit Ursache des Gutseins der anderen Güter zu sein. Am meisten werde
das Gute nämlich von jener wahrheitsgemäß ausgesagt. Denn durch Teilhabe
und Ähnlichkeit mit jener seien die anderen (Güter) gut, und sie sei das Erste un-
ter den Gütern. Denn wenn man das, woran teilgehabt wird, aufhebe, werde
auch das aufgehoben, was an der Idee teilhat und was durch die Teilhabe an jener
benannt wird. Auf diese Weise aber verhalte sich das Erste zu dem Späteren, so
dass das Gute selbst die Idee des Guten sei. Denn sie sei auch abtrennbar von
dem, was an ihr teilhat, wie auch die anderen Ideen. 63 (I 8, 1217b2-16)
Anscheinend geht es in den Ethiken also nicht um eine generelle Ideen-
kritik – eine Ausnahme bilden lediglich die Argumente (iv) und (v) –,
sondern um Schwierigkeiten, die sich speziell aus der Annahme einer Idee
des Guten ergeben. Und offensichtlich ist Aristoteles hierbei nicht an allen
Aspekten der Ideenlehre interessiert.
Um genauer einzugrenzen, um welchen Aspekt der Ideenlehre es in
EN I 4 geht, möchte ich von der in Met. A 6 und M 4 gegebenen Skizze
der Ideentheorie ausgehen. Zwar sei dahingestellt, ob Aristoteles den An-
satz hier tatsächlich so beschreibt, wie „diejenigen, welche zuerst die Exis-
tenz der Ideen behaupteten“ (ȡԽ ʍȢijȡț ijոȣ Լİջįȣ ĴսIJįȟijıȣ ıՂȟįț: M 4,
1078b11-12). Da ihm die Skizze aber als Grundlage seiner ausführlichen
antiplatonischen Argumentation dient, dürfte sie zumindest ein gutes Bild
der Aristotelischen Sicht auf die Ideenlehre bieten. Außerdem stimmt sie
in den wesentlichen Punkten mit der eben zitierten Beschreibung aus EE I
8 überein; es erscheint also nahe liegend, ein ähnliches Bild im Hinter-
grund von EN I 4 zu vermuten.
Sieht man von den Ausführungen zum Status der Zahlen ab, die für
unsere Zwecke nicht relevant sind, zeichnet sich der ideentheoretischen
Ansatz vor allem durch drei Merkmale aus:
(1) Allgemeinheit. Ideen stehen für das Allgemeine (ȜįȚցȝȡȤ), das
heißt für etwas, das mehreren Gegenständen gemeinsam ist
(Ȝȡțȟցȟ) oder worin verschiedene Gegenstände einander ähnlich
sind (ՑȞȡțȡȟ). Dieses Allgemeine, die „Einheit über der Vielheit“
_____________
63 ĴįIJվ ȗոȢ ԔȢțIJijȡȟ Ȟպȟ ıՂȟįț πȑȟijȧȟ įijր ijր ԐȗįȚȪȟ, įijր İ’ ıՂȟįț ijր ԐȗįȚրȟ ֭
ՙπȑȢȥıț ijȪ ijı πȢȬij ıՂȟįț ijȟ ԐȗįȚȟ Ȝįվ ijր įԼijȔ ij ׇπįȢȡȤIJȔֹ ijȡהȣ Ԕȝȝȡțȣ ijȡף
ԐȗįȚո ıՂȟįț. ijįףijį İ’ ՙπȑȢȥıțȟ ԐȞĴȪijıȢį ij ׇԼİȒֹ ijȡ ףԐȗįȚȡף. ȝȒȗȧ İպ ԐȞĴȪijıȢį
ijȪ ijı πȢijȡȟ ijȟ ԐȗįȚȟ Ȝįվ ijր ijȡהȣ Ԕȝȝȡțȣ įՀijțȡȟ ԐȗįȚȡהȣ ij ׇπįȢȡȤIJȔֹ ijȡף
ԐȗįȚȡהȣ ıՂȟįț. ȞȑȝțIJijȑ ijı ȗոȢ ijԐȗįȚրȟ ȝȒȗıIJȚįț Ȝįij’ ԚȜıȔȟșȣ ԐȝșȚȣ (Ȝįijո
Ȟıijȡȥռȟ ȗոȢ Ȝįվ ՍȞȡțȪijșijį ijԖȝȝį ԐȗįȚո ԚȜıȔȟșȣ ıՂȟįț), Ȝįվ πȢijȡȟ ijȟ ԐȗįȚȟ·
ԐȟįțȢȡȤȞȒȟȡȤ ȗոȢ ijȡ ףȞıijıȥȡȞȒȟȡȤ ԐȟįțȢıהIJȚįț Ȝįվ ijո ȞıijȒȥȡȟijį ij׆ȣ ԼİȒįȣ, ԓ
ȝȒȗıijįț ij ȞıijȒȥıțȟ ԚȜıȔȟșȣ, ijր İպ πȢijȡȟ ijȡףijȡȟ Ԥȥıțȟ ijրȟ ijȢȪπȡȟ πȢրȣ ijր
՝IJijıȢȡȟ. խIJij’ ıՂȟįț įijր ijր ԐȗįȚրȟ ijռȟ ԼİȒįȟ ijȡ ףԐȗįȚȡ ·ףȜįվ ȗոȢ ȥȧȢțIJijռȟ ıՂȟįț
ijȟ ȞıijıȥȪȟijȧȟ, խIJπıȢ Ȝįվ ijոȣ Ԕȝȝįȣ ԼİȒįȣ.
2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4) 75
_____________
64 ıԼ ȗոȢ ijȡףijց ijțȣ ʍįȢįİջȠıijįț, ijȟ ȗı ԐȟȡȞȡȗıȟȟ Ȝįվ ʍչȟijׄ İțįĴıȢցȟijȧȟ ԤIJijįț
Ȟտį Լİջį, ȗȢįȞȞ׆ȣ, Ԓȟ ȡ՝ijȧ ijփȥׄ, Ȝįվ ԐȟȚȢօʍȡȤǝ ȡȥ Ձʍʍȡț ȗոȢ ijįףijį ʍչȟijį. Vgl.
hierzu auch Met. A 9, 991a5-8.
76 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
Wieso kann man davon ausgehen, dass zwischen Gütern keine hinrei-
chenden Gemeinsamkeiten für die Annahme einer Idee des Guten beste-
hen? Die Platonkritik enthält mehrere Antworten auf diese Frage. Eine
davon lautet: Man kann davon ausgehen, dass zwischen Gütern keine
hinreichenden Gemeinsamkeiten bestehen, weil es keine Definition des
Guten gibt, die auf alle Güter gleichermaßen zutrifft. Im Folgenden werde
ich mich auf diese Antwort konzentrieren, auch wenn dies eine sehr selek-
tive Vorgehensweise bedeutet. 66 Anhand der Frage einer einheitlichen
Definition des Guten möchte ich das m.E. entscheidende Interpretations-
problem der Platonkritik umreißen, um dann meine eigene Deutung da-
von abzusetzen. Beginnen wir dazu mit einem Blick auf das sechste Argu-
ment:
Wenn aber auch diese (gerade genannten Beispiele) zu den (Gütern) an sich ge-
hören, so wird in allen von ihnen dieselbe Definition des Guten sichtbar werden
müssen, ganz so wie in Schnee und Bleiweiß die der Weißheit. Aber die Defini-
tionen der Ehre, der Weisheit und der Lust sind verschieden und unterscheiden
sich, insofern sie Güter sind. Also ist das Gute nicht etwas Gemeinsames gemäß
einer einzigen Idee. 67 (1096b21-26)
Aristoteles vergleicht hier die Eigenschaft gut mit der Eigenschaft weiß.
Die Eigenschaft weiß ist in verschiedenen Instanziierungen, zum Beispiel
im Schnee und im Bleiweiß, dieselbe. Dies wird dadurch belegt, dass die
Definition (logos) des Weißen im Fall von Schnee und Bleiweiß ebenfalls
dieselbe ist. Im Fall des Guten behauptet Aristoteles dagegen, dass sich die
Definitionen von Gütern wie Ehre, Weisheit und Lust gerade unterschei-
den, insofern diese Güter sind (hêi agatha).
Die Stoßrichtung des Arguments ist offensichtlich. Die Verschieden-
heit der logoi hêi agatha soll die These begründen, dass es kein gemeinsa-
_____________
66 Eine vergleichbare Interpretation ließe sich anhand des Wissenschaftsarguments
durchführen, das allerdings weitaus weniger Aufmerksamkeit in der Forschung gefun-
den hat.
67 ıԼ İպ Ȝįվ ijįףij’ ԚIJijվ ijȟ ȜįȚ’ įՙijȑ, ijրȟ ijԐȗįȚȡ ףȝȪȗȡȟ Ԛȟ ԕʍįIJțȟ įijȡהȣ ijրȟ įijրȟ
ԚȞĴįȔȟıIJȚįț İıȓIJıț, ȜįȚȑʍıȢ Ԛȟ ȥțȪȟț Ȝįվ ȦțȞȤȚȔ ijրȟ ij׆ȣ ȝıȤȜȪijșijȡȣ. ijțȞ׆ȣ İպ
Ȝįվ ĴȢȡȟȓIJıȧȣ Ȝįվ ԭİȡȟ׆ȣ ԥijıȢȡț Ȝįվ İțįĴȒȢȡȟijıȣ ȡԽ ȝȪȗȡț ijįȫijׄ ֝ ԐȗįȚȑ. ȡȜ
ԤIJijțȟ ԔȢį ijր ԐȗįȚրȟ ȜȡțȟȪȟ ijț Ȝįijո ȞȔįȟ ԼİȒįȟ.
78 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
mes Gutes gemäß einer einzigen Idee gibt (ȡȜ ԤIJijțȟ ԔȢį ijր ԐȗįȚրȟ
Ȝȡțȟցȟ ijț Ȝįijո Ȟտįȟ Լİջįȟ: 1096b25-26). Dahinter scheint der Gedanke
zu stehen, dass sich die für die Annahme einer Idee erforderliche Einheit
des Allgemeinen als Einheit einer Definition begreifen lässt, die auf alle
Einzeldinge gleichermaßen zutrifft (wenn auch vielleicht in abgeleiteter
Weise).
Es sieht damit so aus, als hätten wir es im sechsten Argument der Pla-
tonkritik mit einer typischen Homonymie-Situation zu tun, wie sie im
ersten Kapitel der Kategorienschrift des Aristoteles definiert wird. 68 Auf
verschiedene Gegenstände wird zwar der gleiche „Name“ (ՐȟȡȞį) ange-
wandt (im vorliegenden Fall: agathon), die dem Namen entsprechende
Definition (der logos hêi agathon) ist aber jeweils eine andere. Dieser Ein-
druck scheint sich in den folgenden Zeilen zu bestätigen; denn hier wirft
Aristoteles zumindest indirekt die Frage auf, um welche Art von Homo-
nymie es sich beim Guten handelt: „Aber wie wird (das Gute) dann ausge-
sagt? Denn es scheint jedenfalls nicht zu den zufällig homonymen Dingen
zu gehören“ (Ԑȝȝո ʍȣ İռ ȝջȗıijįț; ȡ ȗոȢ ԤȡțȜı ijȡהȣ ȗı Ԑʍր ijփȥșȣ
ՍȞȧȟփȞȡțȣ: 1096b26-27). Eine weitere Bestätigung erfährt der Homo-
nymie-Verdacht durch Top. I 15, wo das Gute ausdrücklich als homonym
bezeichnet wird (107a11-12) und von den unterschiedlichen logoi des
Guten die Rede ist (106a1-8).69
Da das sechste Argument die logoi der verschiedenen Güter jedoch
nicht nennt, stellt die These von der Homonymie des Guten an dieser
Stelle eine bloße Behauptung dar. Was aber spricht für diese Behauptung?
Prima facie erscheinen die Zeilen 1096b23-25 eher unplausibel. Auch
wenn sich das Prädikat „x ist gut“ auf sehr unterschiedliche Gegenstände
beziehen kann, würden wir wohl eher davon ausgehen, dass sich all diese
_____________
68 „Homonym heißen Dinge, wenn sie nur einen Namen gemeinsam haben, aber die
dem Namen entsprechende Definition des Seins verschieden ist“ (ՓȞȬȟȤȞį ȝȒȗıijįț
կȟ ՐȟȡȞį ȞȪȟȡȟ ȜȡțȟȪȟ, Ս İպ Ȝįijո ijȡ՜ȟȡȞį ȝȪȗȡȣ ij׆ȣ ȡIJȔįȣ ԥijıȢȡȣ: 1a1-2).
69 Ein Problem für die These, das Gute sei homonym, liegt im uneinheitlichen
Gebrauch des Homonymie-Begriffs. An manchen Stellen scheint Aristoteles den Aus-
druck homônymos bloßen Äquivokationen vorzubehalten (vgl. z.B. Met. ī 2, 1003a33
ff.). In diesem Fall müsste ein Unterschied zwischen den Thesen gemacht werden,
dass etwas „auf vielfache Weise ausgesagt wird“ (pollachôs legetai) und dass etwas im
eigentlichen Sinn homonym ist. Die Wendung apo tychês homônymos („zufälligerweise
homonym/gleichnamig“) in EN I 4, 1096b26-27, wäre dann qualifizierend, nicht
spezifizierend gemeint. Aufgrund der offensichtlichen Parallele zu Top. I 15 werde ich
im Folgenden jedoch „homonym“ in einem weiten Sinn verstehen, der keine Ent-
scheidung darüber beinhaltet, ob eine Äquivokation vorliegt oder ob die verschiede-
nen Aussageweisen miteinander zusammenhängen (vgl. dazu z.B. EN V 2, 1129a26-
31). Wie sich zeigen wird, geht Aristoteles im Fall des Guten gerade nicht von einer
Äquivokation aus.
2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4) 79
Gegenstände gerade gleichen, insofern sie Güter sind – worin auch immer
ihre Gemeinsamkeit liegen mag. 70
Als eine Begründung für die Homonymie des Guten wird in der Re-
gel eine andere Passage der Platonkritik angesehen, nämlich das Katego-
rienargument:
Da aber das Gute in ebenso vielfacher Weise ausgesagt wird wie das Seiende –
denn es wird sowohl in der (Kategorie der) Substanz ausgesagt, zum Beispiel der
Gott und die Vernunft, als auch in der (Kategorie der) Qualität, die Tugenden,
und in der (Kategorie der) Quantität, das Maßvolle, und in der (Kategorie der)
Relation, das Nützliche, und in der (Kategorie der) Zeit, der rechte Augenblick,
und in der (Kategorie des) Ortes, der richtige Aufenthalt –, ist klar, dass es wohl
kein gemeinsames und allgemeines und einheitliches (Gutes) geben dürfte; denn
es würde sonst nicht in allen Kategorien ausgesagt, sondern nur in einer einzi-
gen. 71 (1096a23-29)
In dieser Passage ist zwar nicht von logoi die Rede, und streng genommen
ist offen, von welchem Problem das Argument genau handelt. Es scheint
aber gerechtfertigt, die Wendung isachôs legetai tôi onti („in ebenso vielfa-
cher Weise ausgesagt wie das Seiende“) als hinreichende Bedingung dafür
zu verstehen, dass das Gute ein pollachôs legomenon („auf vielfache Weise
Ausgesagtes“) und somit homonym im hier gemeinten Sinne ist. Die Pa-
rallele zu Top. I 15 deutet in die gleiche Richtung; denn hier wird aus-
drücklich von „Das Gute wird in unterschiedlichen Kategorien ausgesagt“
auf „Das Gute ist homonym“ geschlossen (107a3-12). Ein Unterschied
zwischen dem Kategorienargument und der Topik-Passage besteht zwar
darin, dass in EN I 4 behauptet wird, das Gute werde in allen Kategorien
ausgesagt. Der Nachsatz „Es würde sonst nicht in allen Kategorien ausge-
sagt, sondern nur in einer einzigen“ (a28-29) weist diese Behauptung aber
eindeutig als a fortiori Argument aus. 72
_____________
70 Vgl. die entsprechende Kritik von David Bostock: „Indeed, since he [Aristotle, Ph.B.]
himself equates ‚good in itself’ with ‚pursued for its own sake’, it seems that his own
view must be that they [the goods mentioned in b21-25, Ph.B] are each good in the
same way, namely by being pursued for their own sakes [...]. One can only conclude, I
think, that he has misstated his point” (2000, 31).
71 Ԥijț İ’ Ԛʍıվ ijԐȗįȚրȟ ԼIJįȥȣ ȝȒȗıijįț ij Րȟijț (Ȝįվ ȗոȢ Ԛȟ ij ijȔ ȝȒȗıijįț, ȡՃȡȟ Ս Țıրȣ
Ȝįվ Ս ȟȡףȣ, Ȝįվ Ԛȟ ij ʍȡț įԽ ԐȢıijįȔ, Ȝįվ Ԛȟ ij ʍȡIJ ijր ȞȒijȢțȡȟ, Ȝįվ Ԛȟ ij ʍȢȪȣ ijț
ijր ȥȢȓIJțȞȡȟ, Ȝįվ Ԛȟ ȥȢȪȟ ȜįțȢȪȣ, Ȝįվ Ԛȟ ijȪʍ İȔįțijį Ȝįվ ԥijıȢį ijȡțįףijį), İ׆ȝȡȟ
թȣ ȡȜ Ԓȟ ıՀș ȜȡțȟȪȟ ijț ȜįȚȪȝȡȤ Ȝįվ ԥȟ· ȡ ȗոȢ Ԓȟ ԚȝȒȗıij’ Ԛȟ ʍȑIJįțȣ ijįהȣ
ȜįijșȗȡȢȔįțȣ, Ԑȝȝ’ Ԛȟ Ȟțּ ȞȪȟׄ.
72 Damit soll nicht bestritten werden, dass die These, das Gute werde in allen Kategorien
ausgesagt, interessant und wichtig ist. Sie spielt aber m.E. für das vorliegende Argu-
ment eine geringere Rolle, als gemeinhin angenommen wird – zumal Aristoteles keine
systematische Begründung gibt, sondern einfach Beispiele für Güter nennt. Da ich
hier eine möglichst einfache Interpretation vorstellen möchte, scheint es mir angemes-
sener, vorerst von der a fortiori-Lesart des Kategorienarguments auszugehen.
80 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
essence, or part of the essence, of the subject; and it is, therefore, inevitably
in the same category as the subject“ (57). L.A. Kosman (1968) dagegen ist
der Ansicht, dass die Beispiele nicht als Subjekte zu verstehen sind, auf die
das Prädikat „x ist gut“ angewandt wird, sondern eher als Prädikate, durch
die die Eigenschaft gut anderen Gegenständen „in verdeckter Weise“ zuge-
sprochen werden kann: „He [...] gives examples of predicates which are
(disguised) means of predicating good in each of the categories“ (174). Da
diese Prädikate „of radically different type“ (ebd.) seien, gelte gleiches auch
für die Bedeutungen von „gut“. J.L. Ackrill (1972/1997) hält diese beiden
Herangehensweisen für falsch. Er schlägt stattdessen vor, in den Beispielen
Kriterien zu sehen, durch die die Empfehlung eines Gegenstandes als gut
begründet werden kann: „The point is that the ground for predicating
‚good’ in the different cases is radically different. [...] The criteria for
commending different things as good are diverse, and fall into different
categories; and this is enough to show that ‚good’ does not stand for some
single common quality“ (207).
Die zweite Gruppe setzt beim Begriff der Homonymie an. Anders als
in der naiven Interpretation vorausgesetzt, habe Homonymie nichts mit
der Bedeutung eines Ausdrucks zu tun. Prominentester Vertreter dieser
Gruppe ist Scott MacDonald, der in seinem vielzitierten Aufsatz „Aristotle
and the Homonymy of the Good“ (1989) für eine „multiple-natures in-
terpretation“ der Homonymie (im Gegensatz zu einer „multiple-senses
interpretation“) plädiert: „the most straightforward suggestion is that ho-
monymy involves not difference of the senses of words but difference of
real natures corresponding to the word“ (160). Die Behauptung, dass das
Gute homonym ist, würde demnach nichts anderes bedeuten, als dass dem
Wort „gut“ nicht eine, sondern verschiedene und unterschiedlich zu defi-
nierende „real natures“ zugeordnet seien. 76
Die dritte Gruppe sieht das Kategorienargument nicht als ein Argu-
ment für die Homonymie des Guten, sie unterstellt also ein anderes Be-
weisziel. Diesen Weg schlägt zum Beispiel Friedemann Buddensiek in
seiner Arbeit über die Eudemische Ethik ein (1999, Kap. 3.3). Er versucht
zu zeigen, dass es beim Kategorienargument 77 nicht um das Gut-Sein ver-
schiedener Gegenstände geht, sondern um das Sein beziehungsweise die
Existenz des Guten: „Gutes ist gutes Seiendes, das als gutes Seiendes da-
durch besteht oder existiert, weil es in einem bestimmten Verhältnis zur
Idee des Guten steht, nämlich in einem solchen Verhältnis, daß diese ihm
_____________
76 Ansatzpunkt dieser Interpretation ist die Wendung „die dem Namen entsprechende
Definition des Seins“ aus der Homonymiedefinition in Cat. 1 (Ս İպ Ȝįijո ijȡ՜ȟȡȞį
ȝȪȗȡȣ ij׆ȣ ȡIJȔįȣ: 1a1-2).
77 Buddensiek bezieht sich freilich auf die Version in EE I 8, die aber der aus EN I 4
hinreichend ähnlich ist, um das gleiche Argumentationsziel zu erwarten.
82 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
_____________
78 Vgl. zum Verhältnis zwischen Homonymie und Wortbedeutung Shields (1999, Kap.
3.5-8).
79 Dies bezieht sich selbstverständlich nicht auf die konkrete Vorgehensweise, sondern
auf die argumentative Strategie.
80 Ich halte die Vorgehensweise der ersten Gruppe aber auch aus einem weiteren Grund
für problematisch; denn auch wenn die Kategorienlehre schwer zu interpretieren ist:
dass Aristoteles die Kategorien als Test für Homonymie gebraucht, lässt sich kaum be-
zweifeln. Dieser Test sollte daher eher als Ausgangspunkt für ein Verständnis der Ka-
2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4) 83
_____________
tegorienlehre dienen und nicht vor dem Hintergrund einer Interpretation beurteilt
werden.
84 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
Da aber das Gute in ebenso vielfacher Weise ausgesagt wird wie das Seiende –
denn es wird sowohl in der (Kategorie der) Substanz ausgesagt, zum Beispiel der
Gott und die Vernunft, als auch in der (Kategorie der) Qualität, die Tugenden,
und in der (Kategorie der) Quantität, das Maßvolle, und in der (Kategorie der)
Relation, das Nützliche, und in der (Kategorie der) Zeit, der rechte Augenblick,
und in der (Kategorie des) Ortes, der richtige Aufenthalt –, ist klar, dass es wohl
kein gemeinsames und allgemeines und einheitliches (Gutes) geben dürfte; denn
es würde sonst nicht in allen Kategorien ausgesagt, sondern nur in einer einzigen.
(1096a23-29)
Eine mehr oder weniger „neutrale“ Beschreibung dieses Arguments, das
heißt eine Beschreibung, die ohne weitreichende Festlegungen über dessen
Hintergrundannahmen auskommt, könnte sich an folgenden Beobach-
tungen orientieren:
(1) Gegenstand des Arguments ist das Gute (tagathon). Es fällt auf,
dass hier wie im Rest des Kapitels keine Definition oder allgemei-
ne Charakterisierung des Guten angeführt wird, sondern aus-
schließlich Beispiele für Güter. Diese Beispiele, etwa Vernunft,
Tugend oder das Nützliche, sind aus zahlreichen Kontexten ver-
traut und dürften als besonders unkontrovers gelten.
(2) Aristoteles ordnet diese Beispiele für Güter, ebenso wie im Argu-
ment von der Reihung und im Wissenschaftsargument, in das
Schema der Kategorien ein, das wir aus anderen seiner Schriften
kennen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er versucht, dieses
Schema für die Zwecke der Ethik zu modifizieren. Es zeigt sich,
dass das Gute in allen Kategorien ausgesagt wird.
(3) Die Einordnung in das Schema der Kategorien soll die Frage be-
antworten, ob es eine einheitliche Definition des Guten gibt. Wie
erwähnt ist dabei vorausgesetzt, dass isachôs legetai tôi onti eine
hinreichende Bedingung für pollachôs legetai darstellt. Die entspre-
chende semantische Theorie wird im Kontext von EN I 4 aller-
dings nicht dargestellt.
Wie wir gesehen haben, dreht sich die Debatte um das Kategorienargu-
ment vor allem um die Beobachtungen (2) und (3). Es besteht Uneinig-
keit darüber, wie die Einordnung in das Schema der Kategorien genau zu
verstehen ist und unter welchen Bedingungen diese Einordnung tatsäch-
lich semantische Konsequenzen nach sich zieht. Wie ich zeigen möchte, ist
das Kategorienargument aber auch dann aufschlussreich, wenn wir uns zu
diesen Fragen nicht positionieren, sondern allein von den drei Beobach-
tungen ausgehen. Wir müssen lediglich festhalten, dass für Aristoteles die
kategorielle Verschiedenheit der Güter semantische Konsequenzen hat,
und wir sollten überlegen, was daraus für die Untersuchung folgt. Um dies
zu verdeutlichen, werde ich einen metaethischen Text des 20. Jahrhun-
2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4) 85
derts zum Vergleich heranziehen, der offenbar ein ähnliches Anliegen wie
das Kategorienargument verfolgt. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
ergeben eine Folie für die Darstellung der Interpretation. 81
Im zweiten Teil seines Buches The Language of Morals von 1952 unter-
sucht Richard M. Hare am Beispiel von „gut“ charakteristische Eigen-
schaften wertender Ausdrücke (Kap. 5-9). Sein Ziel ist zu bestimmen, wie
sich die Semantik dieser Ausdrücke von der Semantik beschreibender
Ausdrücke unterscheidet. Dabei stellt er ein Gedankenexperiment an, das
einige interessante Ähnlichkeiten zum Kategorienargument des Aristoteles
aufweist (Abschnitt 6.2).
Ausgangspunkt des Gedankenexperiments ist die Beobachtung, dass
sich der Ausdruck „gut“ auf sehr unterschiedliche Klassen von Gegenstän-
den anwenden lässt, zum Beispiel auf Tennisschläger, Sonnenuntergänge
und Menschen. Um Aufschluss über die Frage der Semantik zu erhalten,
überlegt Hare (im Anschluss an Wittgenstein), wie sich die Verwendung
des Ausdrucks „gut“ anhand dieser Gegenstandsklassen erlernen ließe.
Hierbei stößt er auf ein Problem: Einerseits kann dieser Lernprozess nicht
so funktionieren wie beispielsweise beim Ausdruck „rot“. Denn im Fall
von „rot“ gibt es eine leicht zu identifizierende gemeinsame Eigenschaft,
so dass sich die unterschiedlichen Klassen roter Gegenstände (Feuer-
löscher, Autos, Sonnenuntergänge usw.) problemlos als Beispiele ein und
derselben Lektion begreifen lassen. Man muss diese Gegenstände einfach
betrachten, um auf ihre Gemeinsamkeit zu kommen, was bei als „gut“
bezeichneten Gegenständen dagegen nicht möglich ist. Die Semantik von
„gut“ scheint also anders zu funktionieren als die Semantik von „rot“.
Andererseits lässt sich der Lernprozess aber auch nicht mit dem Fall eines
äquivok gebrauchten Ausdrucks vergleichen – Hares Beispiel ist „fast“
(„schnell“ bzw. „fest“) –, wo jede Klasse von Gegenständen eine völlig
neue Lektion bildet. Denn wir sind durchaus in der Lage, den Ausdruck
„gut“ auch auf für uns neue Gegenstände anzuwenden. Daher scheint der
Spracherwerb von „gut“ weder mit einer einzigen Lektion für alle Gegen-
standsklassen noch mit einer je eigenen Lektion für jede einzelne Gegen-
standsklasse zu funktionieren. Anscheinend führt das Gedankenexperi-
ment in ein Dilemma.
_____________
81 Der Versuch, die Platonkritik als eine „metaethische“ Untersuchung ernst zu nehmen,
spielt in der Forschung zu EN I keine besondere Rolle. Vgl. allerdings die entspre-
chende Andeutung von R. Heinaman (1995, 2).
86 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
Hare löst dieses Dilemma, indem er zwischen den Kriterien für die
Anwendung eines Ausdrucks einerseits und der Bedeutung dieses Aus-
drucks andererseits unterscheidet. Während die Kriterien für die Anwen-
dung von „gut“ tatsächlich für jede Gegenstandsklasse neu erlernt werden
müssten, sei die einheitliche Bedeutung von „gut“ durch den Gebrauch
gewährleistet, nämlich dadurch, dass wir mit Hilfe des Ausdrucks „gut“
Gegenstände empfehlen. Hares Strategie läuft also letztlich auf die An-
wendung einer sprachpragmatischen Semantik auf Wertausdrücke hinaus.
Auch wenn das übergeordnete Beweisziel verschieden ist und unter-
schiedliche Theorien entfaltet werden, gibt es auffallende Parallelen zwi-
schen Hares Text und dem Kategorienargument aus EN I 4. Man könnte
sagen, sie näherten sich einem ähnlichen Phänomen unter einer ähnlichen
Fragestellung. Ebenso wie Hare befasst sich Aristoteles mit Beispielen für
Güter. Diese Beispiele sind so gewählt, dass die Verschiedenheit oder Un-
ähnlichkeit der Güter deutlich wird (vgl. Beobachtung 1). Ebenso wie
Hare sagt Aristoteles etwas darüber, wie sich die Verschiedenheit der Gü-
ter auf die Semantik des Guten auswirkt (vgl. Beobachtung 3). Dazu wen-
det er, ebenso wie Hare, einen Test an. Hare arbeitet mit dem Gedanken-
experiment des Spracherwerbs, Aristoteles prüft, wie sich das Gute in das
Schema der Kategorien fügt (vgl. Beobachtung 2). Der verwendete Test
hängt mit einer bestimmten semantischen Theorie zusammen. Bei Hare
wäre es eine Theorie nach dem Muster „Bedeutung gleich Gebrauch“, bei
Aristoteles eine Theorie, die in einer näher zu bestimmenden Weise vom
Schema der Kategorien abhängt.
Da Hares Text als Folie für die Beschreibung einer Perspektive dienen
soll und nicht als Folie für die inhaltliche Interpretation des Kategorienar-
guments, ist es nicht nötig, den Vergleich hier weiter zu vertiefen. Statt-
dessen können wir Folgendes festhalten:
Das Phänomen der Unähnlichkeit oder Verschiedenheit von Gütern
ist uns bereits im ersten Kapitel dieser Arbeit begegnet. Anhand von Rhet.
I 6-7 hatten wir festgestellt, dass die Klasse der von Aristoteles aufgeliste-
ten anerkannten Güter ausgesprochen heterogen ist und dass diese Hete-
rogenität zu einem Problem für die Formulierung eines einheitlichen Kri-
teriums des Guten und für einen Vergleich zwischen Gütern werden
könnte. Sollte unsere Beschreibung des Kategorienarguments zutreffen,
dann lässt sich dieses als Stellungnahme zu einer vergleichbaren Schwie-
rigkeit begreifen. Das Argument macht deutlich, welche Konsequenzen
die Verschiedenheit der Güter für eine mögliche Definition des Guten
haben könnte. Jetzt geht es also nicht um ein bloßes Kriterium, das eine
relevante Gemeinsamkeit zwischen Gütern benennt. Es geht um eine De-
finition, die bestimmten semantischen Standards genügt.
2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4) 87
_____________
82 Aristoteles’ Definitionsproblem betrifft also nicht den Übergang vom Sein zum Sol-
len. Das Gute ist deshalb schwierig zu definieren, weil Güter voneinander sehr ver-
schieden sind, nicht weil die Definition eines Wertausdrucks grundsätzlich ausge-
schlossen ist.
83 Vgl. für eine entsprechende Kritik an Hare z.B. Searle (1969, Kap. 6).
88 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
geht, dass die Frage selbst auf falschen Voraussetzungen basiert. Im Fol-
genden werden wir uns diese Antwort etwas genauer ansehen.
muss man es vorerst (ijր ȟףȟ) dabei belassen. Denn hierüber Genaueres zu
sagen dürfte wohl einer anderen philosophischen Disziplin angemessener
sein“ (b30-31). Liest man die Passage jedoch in ihrem Kontext, dann wird
schnell deutlich, welche Lösung Aristoteles präferiert.
Auf den ersten Blick ist man sicher versucht, die drei Relationstypen
auf das Kategorienargument zu beziehen. Denn in der Metaphysik reagiert
Aristoteles mit der pros hen-Relation auf die kategorielle Verschiedenheit
des Seienden (vgl. Met. Z 1, 1028a10-15). Ob Aristoteles diese Relation
auch für die kategorielle Verschiedenheit des Guten ins Spiel bringen
würde, kann auf der Basis von EN I 4 aber nicht gesagt werden. Der Text
enthält hierzu keinerlei Hinweis.
Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass es nicht nötig ist,
hierüber eine Festlegung zu treffen. Denn bei näherem Hinsehen scheint
es angemessener, die drei Relationstypen nicht auf das Gute in den unter-
schiedlichen Kategorien, sondern auf die an sich erstrebten Güter zu be-
ziehen, von denen im unmittelbar vorausgehenden sechsten Argument die
Rede gewesen ist. Die Frage „Aber wie wird (das Gute) dann ausgesagt?“
(Ԑȝȝո ʍȣ İռ ȝջȗıijįț: 1096b26) schließt jedenfalls unmittelbar an die
Feststellung an, dass die logoi dieser Güter verschieden sind (b24-25). Und
die Beispiele Sehkraft (ՐȦțȣ) und Vernunft (ȟȡףȣ) aus der Erläuterung der
Analogie (b29) scheinen die Beispiele für an sich erstrebte Ziele Sehen
(ՍȢֻȟ) und Denken (ĴȢȡȟıהȟ) aufzunehmen (b17). 91
Folgt man dieser Deutung und bezieht die Alternative aph’ henos, pros
hen und kat’ analogian auf Güter als Ziele, dann spricht alles dafür, dass
Aristoteles die Gemeinsamkeit kat’ analogian für die richtige Lösung hält.
Zum einen wurde bereits festgestellt, dass der Ausdruck „Ziel“ relational
ist (vgl. 2.2.2). Daher liegt es nahe, die teleologische Gemeinsamkeit als
die einer Relation aufzufassen, was schon für sich genommen auf eine
Analogie hindeuten würde. Zum anderen ist das in 1096b28-29 präsen-
tierte Muster zur Darstellung der Analogie: „So nämlich wie beim Körper
die Sehkraft ist, so (ist) bei der Seele die Vernunft, und mithin ein anderes
bei einem anderen“ (թȣ ȗոȢ Ԛȟ IJօȞįijț ՐȦțȣ, Ԛȟ ȦȤȥ ׇȟȡףȣ, Ȝįվ Ԕȝȝȡ İռ
Ԛȟ Ԕȝȝ), im Kontext des teleologischen Ansatzes omnipräsent. Ein ähnli-
ches Muster findet sich bereits in den ersten beiden Kapiteln von Buch I,
zum Beispiel:
_____________
91 Da Aristoteles auch in den sich anschließenden Argumenten (vii) und (viii) von er-
strebten Gütern spricht (vgl. 1096b34 ff.), scheint sich die Perspektive ab 1096b8 ins-
gesamt verlagert zu haben. Daher liegt es nicht unbedingt nahe, die Zeilen b26-29 auf
das Kategorienargument zu beziehen.
2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4) 93
Da es aber viele Handlungen gibt und (viele) Künste und Wissenschaften, gibt es
auch viele Ziele; denn (Ziel) der Heilkunst ist die Gesundheit, (Ziel) der Schiffs-
baukunst das Schiff, (Ziel) der Strategik der Sieg, (Ziel) der Ökonomik der
Reichtum. (I 1, 1094a7-9) 92
Denn die einen (nennen) etwas Offensichtliches und Bekanntes, zum Beispiel
Lust oder Reichtum oder Ehre, andere anderes – oft aber auch derselbe Verschie-
denes; denn wenn er krank ist, (nennt er) Gesundheit, wenn er arm ist, Reich-
tum. (I 2, 1095a22-25)
Das Gut Gesundheit verhält sich zur Heilkunst so wie das Gut Schiff zur
Schiffsbaukunst und das Gut Sieg zur Strategik. Ebenso verhält sich das
Gut Gesundheit zum Kranken wie das Gut Reichtum zum Armen. Auch
der Behandlung der Lebensformen in EN I 3 scheint das gleiche Muster
zugrunde zu liegen: Die Lust verhält sich zum Genussleben wie die Tu-
gend zum politischen Leben oder der Reichtum zum kaufmännischen
Leben usw. In allen diesen Fällen funktioniert die Darstellung der Güter
ähnlich wie im Analogie-Beispiel aus I 4. Mit Hilfe von Einzelbeispielen
wird eine strukturelle Gemeinsamkeit verdeutlicht, und durch Wendun-
gen wie „andere anderes“ (alloi d’ allo), „ein anderes eines anderen“ (allo
allou), „in einem anderen ein anderes“ (en allôi d’ allo) wird angedeutet,
dass sich diese Struktur verallgemeinern lässt. 93
Direkt im Anschluss an die Platonkritik, bei der expliziten Wiederauf-
nahme des teleologischen Ansatzes, greift Aristoteles noch einmal auf das
gleiche Darstellungsmuster zurück:
(Das Gute) scheint nämlich je nach Handlung und Kunst ein anderes zu sein.
Denn es ist ein anderes in der Heilkunst und in der Strategik und auf gleiche
Weise in den übrigen (Künsten). [...] Dies aber ist in der Heilkunst die Gesund-
heit, in der Strategik der Sieg, in der Kunst des Hausbaus das Haus, in einem an-
deren aber ein anderes. (1097a16-20) 94
Während diese Zeilen einerseits klar auf den Beginn des ersten Buches
verweisen, liegt es andererseits nahe, die Wendung en allôi d’ allo nun
explizit mit der Gemeinsamkeit kat’ analogian in Verbindung zu bringen,
_____________
92 Aristoteles spricht hier zwar von Zielen, hat aber im vorhergehenden Satz bereits Ziele
als Güter identifiziert (1094a1-3)
93 Diese Wendungen tauchen zwar nicht immer, aber doch recht häufig auf: z.B. I 2,
1095a23; I 5, 1097a16 und a20; vgl. als explizitestes Beispiel die bereits zitierte Passa-
ge EE I 8, 1218a30-33: „Zu behaupten, dass alles Seiende ein und dasselbe Gut ver-
folge, ist nicht wahr. Denn jedes einzelne (Seiende) erstrebt ein eigenes Gut, das Auge
(erstrebt das) das Sehen, der Körper Gesundheit, und auf diese Weise andere anderes
(allo allou)“.
94 ĴįȔȟıijįț Ȟպȟ ȗոȢ Ԕȝȝȡ Ԛȟ Ԕȝȝׄ ʍȢȑȠıț Ȝįվ ijȒȥȟׄ· Ԕȝȝȡ ȗոȢ Ԛȟ ԼįijȢțȜ ׇȜįվ
IJijȢįijșȗțȜ ׇȜįվ ijįהȣ ȝȡțʍįהȣ ՍȞȡȔȧȣ. [...] ijȡףijȡ İ’ Ԛȟ ԼįijȢțȜ ׇȞպȟ ՙȗȔıțį, Ԛȟ
IJijȢįijșȗțȜ ׇİպ ȟȔȜș, Ԛȟ ȡԼȜȡİȡȞțȜ ׇİ’ ȡԼȜȔį, Ԛȟ Ԕȝȝ İ’ Ԕȝȝȡ.
94 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
die in I 4 eingeführt wurde. 95 Die oben formulierte These über den teleo-
logischen Ansatz kann somit auf die folgende Weise ergänzt werden:
Die Identifikation von Gütern und Zielen bietet keine Definition des
Guten. Sie benennt vielmehr eine Gemeinsamkeit „der Analogie nach“
(kat’ analogian).
Gütern dagegen als eine Gemeinsamkeit „der Analogie nach“, dann muss
die Untersuchung des Guten von einer Struktur ausgehen, die an prinzi-
piell gleichberechtigten Einzelfällen vorkommt. Es liegt auf der Hand, dass
sich diese beiden Arten der Untersuchung erheblich voneinander unter-
scheiden werden.
Um diese vorläufige Antwort weiter auszuführen, dürften einige Be-
merkungen zum Konzept der Analogie bei Aristoteles hilfreich sein.
Wie bereits dargelegt, ist die Analogie eine strukturelle Gemeinsam-
keit, eine Gleichheit der Verhältnisse: „Der Analogie nach (eins ist das),
was sich ebenso verhält wie ein anderes zu einem andern (ՑIJį Ԥȥıț թȣ
Ԕȝȝȡ ʍȢրȣ Ԕȝȝȡ)“ (Met. ǻ 6, 1016b34-35). Diese Verhältnisgleichheit
spielt in unterschiedlichen Kontexten der Aristotelischen Philosophie eine
Rolle, so zum Beispiel in der Erläuterung der Ursachen und Prinzipien
(Met. ȁ 4-5), der Gerechtigkeitsdiskussion aus EN V 6 oder der Erklä-
rung der Tierorgane in De partibus animalium.
Aristoteles’ Verhältnis zur Analogie drückt sich am deutlichsten in den
Passagen aus, wo er die Analogie anderen Formen der Gemeinsamkeit
oder Ähnlichkeit gegenüberstellt. Das anschaulichste Beispiel hierfür fin-
det sich im ersten Buch der Schrift De partibus animalium. Hier wird
angesichts der Vielfalt der Lebewesen die Frage aufgeworfen, ob die für die
Wissenschaft zentrale Einteilung in Gattungen und Arten 96 eher anhand
morphologischer oder anhand funktionaler Kriterien geschehen sollte.
Aristoteles entscheidet sich für Ersteres:
Hauptsächlich sind die Gattungen durch die Formen der Teile und des ganzen
Körpers in sich differenziert, wenn immer es Ähnlichkeiten gibt, wie es zum Bei-
spiel bei der Gattung der Vögel im Verhältnis zu sich selbst der Fall ist und bei
der Gattung der Fische und bei den Cephalopoden und den Schaltieren. Denn
die Teile unterscheiden sich bei diesen Tieren nicht durch Analogieähnlichkeit,
wie bei Mensch und Fisch sich der Knochen zur Gräte verhält, sondern mehr
durch körperliche Eigenschaften, wie Größe, Kleinheit, Weichheit, Härte, Glätte,
Rauheit und derartiges, überhaupt aber durch das ‚mehr und weniger’. 97 (I 4,
644b7-15; Übers. Kullmann)
_____________
96 „Für die im Sinne der ԚπțIJijսȞș zuverlässige Erkenntnis müssen an die Stelle von
Ungefährem und Ähnlichem verbindliche Zuordnungen und Begriffsbestimmungen
treten. Das wichtigste Strukturmoment ist für Aristoteles hierbei das Art-/Gattungs-
verhältnis“ (Rapp 1992, 526).
97 ȉȥıİրȟ İպ ijȡהȣ IJȥȓȞįIJț ijȟ ȞȡȢȔȧȟ Ȝįվ ijȡ ףIJȬȞįijȡȣ ՑȝȡȤ, Ԛոȟ ՍȞȡțȪijșijį ԤȥȧIJțȟ,
խȢțIJijįț ijո ȗȒȟș, ȡՃȡȟ ijր ijȟ ՌȢȟȔȚȧȟ ȗȒȟȡȣ ʍȢրȣ įijո ʍȒʍȡȟȚı Ȝįվ ijր ijȟ ԼȥȚȫȧȟ
Ȝįվ ijո ȞįȝȑȜțȑ ijı Ȝįվ ijո ՐIJijȢıțį. Ȋո ȗոȢ ȞȪȢțį İțįĴȒȢȡȤIJț ijȡȫijȧȟ ȡ ijׇ
Ԑȟȑȝȡȗȡȟ ՍȞȡțȪijșijț, ȡՃȡȟ Ԛȟ ԐȟȚȢȬʍ Ȝįվ ԼȥȚȫȨ ʍȒʍȡȟȚıȟ ՌIJijȡףȟ ʍȢրȣ ԔȜįȟȚįȟ,
Ԑȝȝո Ȟֻȝȝȡȟ ijȡהȣ IJȧȞįijțȜȡהȣ ʍȑȚıIJțȟ, ȡՃȡȟ ȞıȗȒȚıț ȞțȜȢȪijșijț, ȞįȝįȜȪijșijț
IJȜȝșȢȪijșijț, ȝıțȪijșijț ijȢįȥȫijșijț Ȝįվ ijȡהȣ ijȡțȡȫijȡțȣ, Ցȝȧȣ İպ ij Ȟֻȝȝȡȟ Ȝįվ Գijijȡȟ.
96 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
_____________
98 Vgl. hierzu Kullmann (1974, 76-79), Balme (21992, 120-122), Lennox (2001, 167-
172) sowie die ausführlichen Untersuchungen in Pellegrin (1986).
99 Dieser Punkt erscheint mir wichtig. Es geht bei dieser Hierarchisierung nicht darum,
dass bei einer analogen Gemeinsamkeit weniger gemeinsame Eigenschaften des glei-
chen Typs vorliegen, sondern dass es sich um einen anderen Typ von Gemeinsamkeit
handelt. Die Hierarchisierung hat daher etwas von einer wissenschaftstheoretischen
„Grundsatzentscheidung“ an sich.
100 ԘʍȡȢȓIJıțı İ’ Ԕȟ ijțȣ İțո ijȔ ȡȜ ԔȟȧȚıȟ ԛȟվ ՌȟȪȞįijț ԚȞʍıȢțȝįȖȪȟijıȣ ԕȞį ԣȟ ȗȒȟȡȣ
ԔȞĴȧ ʍȢȡIJșȗȪȢıȤIJįȟ ȡԽ ԔȟȚȢȧʍȡț, Տ ʍıȢțȒȥıț ijȑ ijı ԤȟȤİȢį Ȝįվ ijո ʍijșȟո ijȟ
Șȧȟ. ԪIJijț ȗոȢ Ԥȟțį ʍȑȚș Ȝȡțȟո Ȝįվ ijȡȫijȡțȣ Ȝįվ ijȡהȣ Ԕȝȝȡțȣ Șȡțȣ ԕʍįIJțȟ. Ԙȝȝ’
ՑȞȧȣ ՌȢȚȣ İțȬȢțIJijįț ijȡףijȡȟ ijրȟ ijȢȪʍȡȟ. IJį Ȟպȟ ȗոȢ İțįĴȒȢıț ijȟ ȗıȟȟ ȜįȚ’
ՙʍıȢȡȥռȟ Ȝįվ ijր Ȟֻȝȝȡȟ Ȝįվ ijր Գijijȡȟ, ijįףijį ՙʍȒȘıȤȜijįț ԛȟվ ȗȒȟıț, ՑIJį İ’ Ԥȥıț ijր
Ԑȟȑȝȡȗȡȟ, ȥȧȢȔȣ· ȝȒȗȧ İ’ ȡՃȡȟ ՐȢȟțȣ ՐȢȟțȚȡȣ İțįĴȒȢıț ij Ȟֻȝȝȡȟ Ԯ ȜįȚ’ ՙʍıȢȡȥȓȟ
(ijր Ȟպȟ ȗոȢ ȞįȜȢȪʍijıȢȡȟ ijր İպ ȖȢįȥȫʍijıȢȡȟ), ԼȥȚȫıȣ İ’ ՐȢȟțȚȡȣ ij Ԑȟȑȝȡȗȡȟ (Տ
ȗոȢ ԚȜıȔȟ ʍijıȢȪȟ, ȚįijȒȢ ȝıʍȔȣ). Diese Diskussion ist für das Verständnis der
Ethik aufschlussreich; denn sie bietet eine EN I 4 vergleichbare Situation. Angesichts
der Verschiedenheit einer bestimmten Klasse von Gegenständen – hier anerkannte
Güter, dort Lebewesen und ihre Teile – wird die Frage aufgeworfen, welche Gemein-
samkeiten für die Untersuchung dieser Gegenstände entscheidend sein sollen. Dabei
werden erstens verschiedene Typen von Gemeinsamkeiten einander gegenübergestellt,
und zweitens werden diese Typen beurteilt.
2.4 Der Analogie nach eins 97
_____________
101 Diese Ordnung kommt auch in der „Einheitsreihe“ aus Met. ǻ 6 zum Ausdruck:
„Ferner ist einiges der Zahl nach eins, anderes der Art, anderes der Gattung, anderes
der Analogie nach. Der Zahl nach (ist) das (eins), dessen Stoff einer (ist), der Art nach,
dessen Begriff einer (ist), der Gattung nach das, was derselben Form der Kategorie an-
gehört, der Analogie nach, was sich ebenso verhält wie ein anderes zu einem anderen“
(Ԥijț İպ ijո Ȟպȟ Ȝįij’ ԐȢțȚȞցȟ ԚIJijțȟ ԥȟ, ijո İպ Ȝįij’ ıՂİȡȣ, ijո İպ Ȝįijո ȗջȟȡȣ, ijո İպ Ȝįij’
Ԑȟįȝȡȗտįȟ, ԐȢțȚȞ Ȟպȟ կȟ ԭ ՝ȝș Ȟտį, ıՀİıț İ’ կȟ Ս ȝցȗȡȣ ıՃȣ, ȗջȟıț İ’ կȟ ijր įijր
IJȥ׆Ȟį ij׆ȣ ȜįijșȗȡȢտįȣ, Ȝįij’ Ԑȟįȝȡȗտįȟ İպ ՑIJį Ԥȥıț թȣ Ԕȝȝȡ ʍȢրȣ Ԕȝȝȡ: 1016b31-
35; vgl. Top. I 7, 103a8-14).
102 Vgl. hierzu Rapp (1992). Zum Konzept der Analogie vgl. außerdem Kullmann (1974)
und Fiedler (1978) sowie, für eine knappe Zusammenfassung, Liske (2002).
98 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
Die Ursachen und die Prinzipien sind in dem einen Sinne bei Verschiedenem
verschieden, in anderem Sinne dagegen, wenn man nämlich im allgemeinen und
der Analogie nach von ihnen spricht, bei allen dieselben. 103 (1070a31-33)
An der Ambivalenz dieses Einleitungssatzes halten die weiteren Erläute-
rungen der Kapitel ȁ 4 und 5 fest. Aristoteles wechselt hier immer wieder
zwischen Beispielen für die Verschiedenheit der Prinzipien und einer Dar-
stellung ihrer strukturellen Gemeinsamkeit hin und her (vgl. z.B.
1070b10-11; b17-18; b26-27). Während also die pros hen-Relation einen
Einzelfall hervorhebt, der dann untersucht werden kann, macht das Beste-
hen einer analogen Gemeinsamkeit eine Darstellung der Einzelfälle nicht
überflüssig.
Diese Bemerkungen sind sicher alles andere als erschöpfend; zwei
wichtige Aspekte dürften aber bereits deutlich geworden sein: (i) Aristote-
les betrachtet Analogien als eine Möglichkeit, Gemeinsamkeiten zwischen
Gegenständen zu erfassen, die in relevanter Hinsicht verschieden sind. In
relevanter Hinsicht verschieden zu sein kann zum Beispiel heißen, durch
unterschiedliche logoi definiert oder von unterschiedlichen Wissenschaften
(ԚʍțIJijսȞįț) erfasst zu werden. (ii) Aristoteles legt Wert darauf, dass die
relevante Verschiedenheit auch bei einer Beschreibung analoger Gemein-
samkeiten nicht aus dem Blick gerät. Diese Einschätzung schlägt sich be-
reits in der Darstellungsweise von Analogien nieder. Wie wir gesehen ha-
ben, wird hier die Gemeinsamkeit zwischen den Einzelfällen (die
identische Relation) in der Regel überhaupt nicht benannt. Stattdessen
wird durch Floskeln wie allo en allôi eine Verallgemeinerung angedeutet
und zugleich hervorgehoben, dass die Relata jeweils andere sind.
Unsere vorläufige Antwort auf Hardies Frage kann daher folgender-
maßen präzisiert werden: Wenn Aristoteles die Gemeinsamkeit zwischen
Gütern als eine Gemeinsamkeit „der Analogie nach“ begreift, dann muss
die Untersuchung des Guten von einer Struktur ausgehen, die an prinzi-
piell gleichberechtigten Einzelfällen vorkommt, und außerdem berück-
sichtigen, dass die Einzelfälle gegenüber der Struktur vorrangig sind. Die
Auswirkungen der These, dass Güter allo en allôi sind, dürften in der Vor-
gehensweise zu suchen sein (vgl. 3.2).
Dieser Ansatz könnte dazu führen, dass sich die Anwendungskriterien des
Prädikats „x ist gut“ oder „x ist ein Gut“ willkürlich festlegen lassen, was
mit unseren Intuitionen nur schwer zu vereinbaren sein dürfte. Die Eigen-
schaft gut hängt auf die eine oder andere Weise mit weiteren Eigenschaf-
ten des als gut bezeichneten Gegenstandes zusammen. 106 Zum anderen
entgeht dem Einwand die Rolle der Platonkritik für den weiteren Verlauf
der Untersuchung. Aristoteles scheint der Auffassung zu sein, dass eine
Bestimmung des Guten als Ziel bestimmten theoretischen Standards nicht
genügt. Man kann diese Standards für falsch halten, und man kann es für
falsch halten, sie auf das Gute anzuwenden. Trotzdem kann die Aristoteli-
sche Einschätzung für die weitere Vorgehensweise entscheidend sein. Ge-
nau dies soll im dritten Kapitel dieser Arbeit gezeigt werden. 107
***
Es ist nun an der Zeit, die Beobachtungen zur Platonkritik mit den Beo-
bachtungen zu den Kapiteln I 1-3 zusammenzuführen. Am Ende von
Kapitel I 3 schien die Untersuchung in eine Sackgasse geraten zu sein (vgl.
_____________
106 Dieser Intuition versucht Hare mit dem Konzept der Supervenienz gerecht zu werden
(1952, Kap. 5.2).
107 Am Rande sei bemerkt, dass Platons Philebos eine ganz ähnliche Konstellation be-
schreibt. Die Frage, ob die Lust das Gute sei, führt hier auf das Problem, dass die als
Lust (ԭİȡȟս) bezeichneten Gegenstände voneinander sehr verschieden sind: „Denn so
einfach anzuhören ist sie (die Lust) freilich nur eins, aber vielfältige Gestalten nimmt
sie doch an, und zwar solche, die einander auf gewisse Weise unähnlich sind“ (ԪIJijț
ȗչȢ, ԐȜȡփıțȟ Ȟպȟ ȡ՝ijȧȣ ԑʍȝȣ, ԥȟ ijț, ȞȡȢĴոȣ İպ İսʍȡȤ ʍįȟijȡտįȣ ıՀȝșĴı Ȝįտ ijțȟį
ijȢցʍȡȟ ԐȟȡȞȡտȡȤȣ Ԑȝȝսȝįțȣ: 12c). Aufgrund dieser Unähnlichkeit sei zweifelhaft, ob
man alle Lüste gleichermaßen als gut bezeichnen könne: „ȅbgleich du zugibst, dass sie
einander unähnlich sind, nennst du sie dennoch alle gut“ (ՑȞȧȣ ʍչȟijį IJւ
ʍȢȡIJįȗȡȢıփıțȣ ԐȗįȚո įijչ, ՍȞȡȝȡȗȟ ԐȟցȞȡțį ıՂȟįț: 13b). Streng genommen
müsste man daher alle Arten der Lust genau bestimmen, um beurteilen zu können, ob
die Lust gut ist. Um die Eingangsfrage dennoch zu entscheiden, biete sich aber eine
„zweitbeste Möglichkeit“ (İıփijıȢȡȣ ʍȝȡףȣ: 19c) an. Diese zweitbeste Möglichkeit be-
steht in verschiedenen Kriterien des Guten, durch die sich Kandidaten für das Gute
prüfen lassen. So ist das Gute (i) „vollendet“ (ijջȝıȡȟ), (ii) „genügend“ (ԽȜįȟցȟ), und
(iii) „alles Erkennende jagt danach und strebt, es zu gewinnen und für sich zu haben“
(ʍֻȟ ijր ȗțȗȟIJȜȡȟ įijր ȚșȢıփıț Ȝįվ ԚĴտıijįț ȖȡȤȝցȞıȟȡȟ ԛȝıהȟ Ȝįվ ʍıȢվ įijր
ȜijսIJįIJȚįț: 20d). (Vgl. zu der Ähnlichkeit zwischen diesen und den in EN I 5 vorge-
stellten Kriterien Cooper 2003.) Bemerkenswert an diesen Passagen ist nicht nur, dass
Platon, ähnlich wie Aristoteles, auf die relevante Verschiedenheit der als gut bezeich-
neten Gegenstände hinweist. Bemerkenswert ist auch, dass Platon die teleologischen
Kriterien geringer schätzt – er bezeichnet sie, wie erwähnt, als „zweitbeste Möglich-
keit“ – und ihren Wert vor allem darin sieht, allgemeine Aussagen über das Gute zu
treffen, ohne eine genaue Bestimmung des Einzelfalls vornehmen zu müssen. Wenn
die vorliegende Deutung von EN I 1-4 zutrifft, dann ist Aristoteles’ Einschätzung
dem durchaus vergleichbar. Denn auch für Aristoteles vermittelt die Identifikation
von Gütern und Zielen kein Wissen über das Gute.
2.4 Der Analogie nach eins 101
2.2.2). Aristoteles war auf eine Reihe von Gütern gestoßen, die zwar alle
„höchste Güter“ sind, keines davon schien aber als Bestimmung des „ge-
suchten Guts“ in Frage zu kommen. Der vorgeschlagene Interpretations-
ansatz lautete, diesen Befund auf den zu Beginn der Untersuchung stipu-
lierten gütertheoretischen Ansatz zu beziehen. Demnach würde die
Identifikation von Gütern und Zielen in eine „relativistische“ Konzeption
der Güter münden; und es gäbe Gegenstände, die (höchste) Ziele sind,
aber andere Kriterien des Guten nicht erfüllen.
Wenn die hier vorgeschlagene Interpretation der Platonkritik zutrifft,
dann kann diese in zweifacher Hinsicht als eine Reaktion auf EN I 3 gele-
sen werden. Zum einen wird deutlich, dass der ideentheoretische Ansatz
keine Alternative bietet. Als eine Theorie des Guten scheitert dieser Ansatz
aus prinzipiellen Gründen (vgl. 2.3.1); hierin hat die übliche Sicht der
Platonkritik zweifellos Recht. Der Weg aus der Sackgasse führt also nicht
über die Idee des Guten. Zum anderen wird deutlich, dass auch die als
Ziele aufgefassten, „relativen“ Güter keine gemeinsame Definition aufwei-
sen (vgl. 2.3.3). Wenn sich die ethische Untersuchung an einer teleologi-
schen Konzeption des Guten orientiert, dann hat sie es mit Gütern zu tun,
die zwar durch eine strukturelle Gemeinsamkeit verbunden sind, sich aber
ansonsten in relevanter Hinsicht unterscheiden.
Zu Beginn des Kapitels I 5 kommt Aristoteles auf die Frage zurück,
was das gesuchte Gut sei (1097a15-16). Seine bereits zitierte Antwort
lautet:
(Das Gute) scheint nämlich je nach Handlung und Kunst ein anderes zu sein.
Denn es ist ein anderes in der Heilkunst und in der Strategik und auf gleiche
Weise in den übrigen (Künsten). Was ist nun das Gut jeder einzelnen (Handlung
und Kunst)? Etwa das, um dessentwillen das Übrige getan wird? Dies aber ist in
der Heilkunst die Gesundheit, in der Strategik der Sieg, in der Kunst des Haus-
baus das Haus, in einem anderen aber ein anderes, doch in jeder Handlung und
in jedem Entschluss (ist es) das Ziel; denn um seinetwillen tun alle das Übrige. 108
(1097a16-22)
Wie wir schon in unserer groben Übersicht festgestellt haben (vgl. 2.1),
bedeutet diese Antwort eine explizite Rückkehr zum teleologischen An-
satz. Der Blick auf diesen Ansatz hat sich nach den Erfahrungen von Kapi-
tel I 4 jedoch verändert. Der Hinweis „(Das Gute) scheint nämlich je nach
Handlung und Kunst ein anderes zu sein“, der bereits in I 1 anklingt („Da
es aber viele Handlungen gibt und [viele] Künste und Wissenschaften,
_____________
108 ĴįȔȟıijįț Ȟպȟ ȗոȢ Ԕȝȝȡ Ԛȟ Ԕȝȝׄ ʍȢȑȠıț Ȝįվ ijȒȥȟׄ· Ԕȝȝȡ ȗոȢ Ԛȟ ԼįijȢțȜ ׇȜįվ
IJijȢįijșȗțȜ ׇȜįվ ijįהȣ ȝȡțʍįהȣ ՍȞȡȔȧȣ. ijտ ȡ՞ȟ ԛȜչIJijșȣ ijԐȗįȚցȟ; Ԯ ȡ՟ ȥչȢțȟ ijո ȝȡțʍո
ʍȢչijijıijįț; ijȡףijȡ İ’ Ԛȟ ԼįijȢțȜ ׇȞպȟ ՙȗȔıțį, Ԛȟ IJijȢįijșȗțȜ ׇİպ ȟȔȜș, Ԛȟ ȡԼȜȡİȡȞțȜ ׇİ’
ȡԼȜȔį, Ԛȟ Ԕȝȝ İ’ Ԕȝȝȡ, Ԛȟ ԑʍչIJׄ İպ ʍȢչȠıț Ȝįվ ʍȢȡįțȢջIJıț ijր ijջȝȡȣǝ ijȡփijȡȤ ȗոȢ
ԥȟıȜį ijո ȝȡțʍո ʍȢչijijȡȤIJț ʍչȟijıȣ.
102 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
gibt es auch viele Ziele“: 1094a6-8), erhält ein besonderes Gewicht, da wir
nun wissen, dass die Verschiedenheit der Güter relevant ist. 109 Wir verfü-
gen über eine Einschätzung der Identifikation von Gütern und Zielen, an
die die weitere Untersuchung anknüpfen kann.
2.5 Fazit
In diesem Kapitel wurde der erste Teil der gütertheoretischen Lektüre von
EN I vorgestellt. Es sollte gezeigt werden, dass die Kapitel I 1-5 eine Theo-
rie des Guten entwickeln, die auf die Bedürfnisse der Ethik zugeschnitten
ist. Was damit gemeint ist, dürfte inzwischen deutlich geworden sein. Die
ersten fünf Kapitel der Nikomachischen Ethik entwickeln insofern eine
„Theorie des Guten“, als sie eine Einschätzung des teleologischen Ansatzes
enthalten, der am Beginn der Abhandlung lediglich stipuliert wird. Nach
dieser Einschätzung bietet der teleologische Ansatz zwar die Möglichkeit,
Güter miteinander zu vergleichen, und er stellt ein Kriterium des höchsten
Guts bereit (I 1). Zugleich bringt er aber eine „relativistische“ Vielzahl von
Gütern hervor (I 2-3), die lediglich durch eine strukturelle Gemeinsamkeit
zusammengehalten wird. Die als Ziele aufgefassten Güter unterscheiden
sich, insofern sie Güter sind (hêi agatha) (I 4). Wer sich für einen teleolo-
gischen Ansatz entscheidet, weiß nach EN I 1-5, worauf er sich einzustel-
len hat.
Außerdem dürfte deutlich geworden sein, inwiefern das in Kapitel 1
beschriebene Problem der Verschiedenheit der Güter den Hintergrund der
Argumentation von EN I 1-5 bildet. Etwas vereinfacht gesprochen wird in
EN I 1-5 die Bestimmung von Gütern als Zielen mit dieser Verschieden-
heit konfrontiert. Dabei hebt Aristoteles zum einen hervor, dass es noch
weitere Kriterien des Guten gibt, die bei der Bestimmung des „gesuchten
Guts“ berücksichtigt werden müssen. (Dies geschieht nicht nur in Kapitel
I 3, sondern, wie wir bereits zu Beginn dieser Untersuchung gesehen ha-
ben, auch in Kapitel I 5; vgl. 1.2.) Zum anderen macht er deutlich, dass
der teleologische Ansatz relevante Unterschiede zwischen Gütern „ver-
deckt“. Aristoteles’ Verhältnis zum teleologischen Ansatz ist also alles an-
dere als unreflektiert.
_____________
109 Zu den wenigen Autoren, die diesen Unterschied erwähnen, zählt C.J. Rowe: „The
argument of the first part of chapter 5 (up to 1097a24) bears a superficial resemblance
to that of chapter 1; but it is in fact quite distinct from it. Aristotle still has in mind
here his rejection of the form in chapter 4: different sciences, he is saying, have differ-
ent goods (sc. not the same one, as the Platonic view suggests)” (1971, 29).
2.5 Fazit 103
_____________
112 Z.B. nennt EE I 8, bis auf das Argument der Hypostasierung, die gleichen antiplato-
nischen Argumente wie EN I 4. Vgl. zu EE I 8 Berti (1971), Robinson (1971) und
Woods (21992, 60-84).
2.5 Fazit 105
ijր ԐȗįȚցȟ: 1218b11-12) bezeichnet. 113 Der Punkt, auf den es hier an-
kommt, ist von diesem Unterschied aber unabhängig. In der Eudemischen
Ethik ist der Schluss des achten Kapitels von Buch I die erste Stelle, an der
explizit ein Zusammenhang zwischen dem Guten und dem Erstrebten
erwähnt wird. 114 Die Funktion der Platonkritik besteht hier darin, den
teleologischen Ansatz einzuführen, wobei diese Einführung als Antwort auf
die Frage „Was ist das Beste?“ verstanden wird. Dies ist insofern bemer-
kenswert, als EE I 1-6 (das so genannte „Proömium“) 115 inhaltlich durch-
aus mit EN I 1-3 vergleichbar ist. Als gemeinsame Elemente enthalten die
beiden Abschnitte zum Beispiel die Gleichsetzung der eudaimonia mit
dem höchsten Gut (I 1, 1214a7-8), die Konzentration auf die Frage, was
die eudaimonia ist (I 4, 1215a20-22), den Hinweis auf die drei Kandida-
ten Weisheit, Tugend und Lust (I 1, 1214a30-b6) sowie die Verknüpfung
dieser Kandidaten mit unterschiedlichen Lebensformen (I 5, 1216a27-37).
Wie wir gesehen haben, stehen diese Elemente in der Nikomachischen
Ethik alle im Zusammenhang mit dem zu Beginn von I 1 vorgestellten
teleologischen Ansatz (vgl. 2.1). In EE I 1-6 dagegen fehlt dieser Zusam-
menhang oder wird zumindest nicht in systematischer Weise hergestellt.
(Ein auffälliges Beispiel für diesen Unterschied ist die Zurückweisung der
kaufmännischen Lebensform, die in der Eudemischen Ethik ohne den ex-
pliziten Hinweis auf den instrumentellen Charakter des Geldes auskommt:
I 4, 1215a25-32.)
Selbst wenn man die Vergleichbarkeit zwischen EE I – II 1 und EN I
als begrenzt ansieht, lässt sich also Folgendes festhalten: Der in dieser In-
terpretation vorgestellte Gedanke, den „Ansatz beim Streben“ vor allem
gütertheoretisch zu deuten, wird durch die Vorgehensweise der Eudemi-
schen Ethik gestützt. Ebenfalls gestützt wird die These, dass die Identifika-
tion von Gütern und Zielen zunächst eine Art gütertheoretischer „Opti-
on“ darstellt, über deren genauere Eigenschaften wir erst nach der
_____________
113 Wie wir weiter oben festgestellt haben, kann die Frage, wie Aristoteles die Relation
zwischen Gütern auffasst, für ein Verständnis seiner ethischen Theorie auch dann
wichtig sein, wenn er die genauere Bestimmung dieser Relation als Aufgabe einer an-
deren philosophischen Disziplin betrachtet (vgl. 2.4).
114 Auch der Anfang von EE I 2, der immer wieder für die Interpretation der Nikomachi-
schen Ethik herangezogen wird, stellt diesen Zusammenhang nicht ausdrücklich her.
Aristoteles fordert hier lediglich, dass jeder, der in der Lage ist, nach seiner eigenen
Entscheidung zu leben, ein Ziel des guten Lebens (ijțȟո IJȜȡʍրȟ ijȡ ףȜįȝȣ Ș׆ȟ) an-
setzen sollte, mit Blick auf welches er seine Handlungen ausführt (ʍȢրȣ Տȟ
ԐʍȡȖȝջʍȧȟ ʍȡțսIJıijįț ʍչIJįȣ ijոȣ ʍȢչȠıțȣ) (1214b6-9). Mit dieser Forderung wird
keine Aussage über die Bedeutung des Ausdrucks „gut“ getroffen.
115 Vgl. Gigon (1971).
106 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)
haupt ein höchstes Gut bestimmt werden kann, das auch die anderen Kri-
terien des Guten erfüllt. Wie lässt sich der Relativismus der Güter über-
winden? Und wie können wir der relevanten Verschiedenheit der Güter
gerecht werden?
Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die in den Kapiteln I 6-9 ver-
folgte Strategie, also die Einführung des Ergon-Arguments (I 6) und der
Vergleich mit den gängigen Meinungen (I 8-9) 1 , eine Antwort auf diese
Fragen gibt. Die Bestimmung der eudaimonia geschieht insofern auf der
Grundlage der in I 1-5 entwickelten Theorie des Guten, als Aristoteles auf
die Probleme reagiert, die diese Theorie vor Augen führt. Insbesondere das
Ergon-Argument zeigt einen Ausweg aus der erwähnten „Sackgasse“ (vgl.
2.2.2), den die Annahme einer Idee des Guten nicht bieten konnte.
Die Interpretation der beiden folgenden Abschnitte geschieht wieder
nach dem in der Einleitung angekündigten Prinzip der „Negativfolie“. Als
Negativfolie soll eine einflussreiche Position skizziert werden, die den
Beginn der Nikomachischen Ethik anders liest als hier vorgeschlagen und
dementsprechend die Kapitel I 6-9 auf andere Fragen bezieht, als sie eben
formuliert worden sind. Dabei handelt es sich um die Position des „Psy-
chologischen Eudaimonismus“, der uns bei der Interpretation von EN I 1
bereits begegnet ist (vgl. 2.2.1). Es soll gezeigt werden, dass die Perspektive
des Psychologischen Eudaimonismus zu erheblichen Deutungsproblemen
führt und nicht zu der Vorgehensweise passt, die Aristoteles in EN I 6-9
verfolgt (3.1). Danach soll gezeigt werden, dass sich diese Probleme ver-
meiden lassen, wenn wir der hier vorgeschlagenen Interpretation von EN
I 1-5 folgen und I 6-9 darauf beziehen (3.2).
Grob vereinfacht lässt sich der Unterschied zwischen den beiden An-
sätzen folgendermaßen umreißen: Aus der Sicht des Psychologischen Eu-
daimonismus liegt es nahe, den Übergang von EN I 1-5 zu EN I 6-9 als
Übergang von einem „subjektiven“ zu einem „objektiven“ Blick auf das
Gute und das Glück zu begreifen. Aristoteles würde hier von dem, was
Handelnde für die eudaimonia halten und tatsächlich erstreben, zu dem
übergehen, was die eudaimonia, objektiv gesehen, ist. Die Aufgabe der
Interpretation würde darin bestehen, diese beiden Perspektiven zueinander
ins Verhältnis zu setzen und den Übergang zu erklären. Legt man dagegen
die in Kapitel 2 vorgestellte „gütertheoretische Lektüre“ zugrunde, dann
_____________
1 Streng genommen umfasst der Vergleich mit den Meinungen nicht nur die Kapitel I 8
und I 9, sondern setzt sich bis I 12 fort. Die Beschränkung auf I 8-9 erklärt sich dar-
aus, dass diese Kapitel primär einer Bestätigung der in I 6 formulierten Definition der
eudaimonia dienen, während I 10-12 in erster Linie zusätzliche Aspekte (Wie wird die
eudaimonia erworben? Sollte ein Urteil über die eudaimonia erst am Ende des Lebens
gefällt werden? Gehört die eudaimonia zu den lobenswerten oder zu den ehrwürdigen
Dingen?) behandeln.
3.1 Die Perspektive des Psychologischen Eudaimonismus 109
_____________
4 Vgl. z.B. Anscombe (21963, § 21).
5 Vgl. zu diesem Zusammenhang Fine (1999, 5-14).
6 Eine andere Variante des Eudaimonismus lässt sich auf der Basis der bereits mehrmals
zitierten Passage EE I 2, 1214b6-11, formulieren: „Jeder, der nach seiner eigenen Ent-
scheidung leben kann, sollte ein bestimmtes Ziel des guten Lebens ansetzen, sei es nun
Ehre oder Ansehen oder Reichtum oder Bildung, auf das blickend er alle Handlungen
ausführen wird; denn sein Leben nicht mit Bezug auf ein bestimmtes Ziel geordnet zu
haben ist ein Zeichen großer Unvernunft.“ In dieser Variante geht es nicht um die
These, dass alle Handlungen tatsächlich auf die eudaimonia ausgerichtet sind, sondern
darum, dass alle Handlungen auf die eudaimonia ausgerichtet sein sollten. Diese Form
des „rationalen Eudaimonismus“ wird immer wieder für die Interpretation der Niko-
machischen Ethik herangezogen. Da sie aber im Text von EN I nicht vorkommt,
scheint es angemessener, zunächst nach einer alternativen Deutung der „deskriptiven“
Variante zu suchen.
3.1 Die Perspektive des Psychologischen Eudaimonismus 111
McDowell (1980, 361f.) und Gavin Lawrence (2006, 42) behaupten, dass
nur jene Handlungen, die auf einem Entschluss (ʍȢȡįտȢıIJțȣ) basieren, um
der eudaimonia willen geschehen. Für den vorliegenden Kontext ist es aber
nicht nötig, auf diese Modifikationen einzugehen. Hier interessiert in
erster Linie, welches Bild der PsE vom Beginn der Nikomachischen Ethik
zeichnet. Wovon ist aus der Sicht des PsE hier die Rede?
Wenn wir eine psychologische Perspektive auf den Beginn von EN I
einnehmen, das heißt wenn wir davon ausgehen, dass sich der Ausdruck
„Ziel“ (telos) hier auf den Gehalt der Wünsche und Strebungen handeln-
der Personen bezieht, dann liegt es nahe anzunehmen, dass Aristoteles in I
1 über den Zusammenhang zwischen den so verstandenen Zielen und
konkreten Handlungen sprechen möchte. Auch bei der Identifikation des
höchsten Ziels mit der eudaimonia wäre dann von einem telos die Rede,
das wir in unseren konkreten Handlungen verfolgen. Die drei Argumenta-
tionsschritte des Abschnitts 1094a1-22 (vgl. 2.2.1) könnten als Skizze
einer teleologischen Theorie der Handlungserklärung gelesen werden, die
aus drei Komponenten besteht:
Die erste Komponente läge in der Annahme, dass die Handlungen einer
Person unter Rekurs auf deren Strebensziele erklärt werden müssen (vgl.
1094a1-3). Eine solche Erklärung könnte zum Beispiel folgendermaßen
aussehen: Person P hat Handlung H ausgeführt, weil sie ein bestimmtes
Ziel Z erstrebt und der Meinung ist, dass H ein Mittel zur Erlangung von
Z ist. Diese Beschreibung wäre selbstverständlich eine grobe Vereinfa-
chung. Unter anderem müsste geklärt werden, was der Ausdruck „Mei-
nung“ umfasst und wie die Relation zwischen Z und H genau zu verstehen
ist. Wichtig für den vorliegenden Kontext wäre aber lediglich, dass die
Angabe von Z Teil der Erklärung von H ist. Um zu erklären, warum P H
ausgeführt hat, würde darauf hingewiesen, dass P mit H ein von ihr er-
strebtes Ziel verfolgt hat. Hierin besteht der Grundgedanke einer teleolo-
gischen Handlungserklärung. (Wesentlich komplexer würde sich die Situ-
ation darstellen, wenn P nicht wüsste beziehungsweise sich darüber
täuschte, welche Ziele sie mit ihren Handlungen „wirklich“ erstrebt. Die-
sen Fall einer opaken Motivlage können wir allerdings beiseite lassen.
Denn zum einen geht es hier darum, eine möglichst einfache Theorie zu
skizzieren, zum anderen scheinen die in 1094a1 ff. genannten Beispiele
gegen das Vorliegen einer opaken Motivlage zu sprechen.)
Die zweite Komponente läge in der Annahme von Zielhierarchien (vgl.
1094a3-18). Demnach kann es vorkommen, dass P ein bestimmtes Ziel Z1
umwillen eines anderen Ziels Z2 erstrebt und Z2 wiederum umwillen eines
weiteren Ziels Z3 usw. Wichtig mit Blick auf die Erklärung von H wäre,
dass P Z1 nicht ertreben würde, wenn sie Z2 nicht erstreben würde und Z2
nicht erstreben würde, wenn sie Z3 nicht erstreben würde. Das Streben
112 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)
nach Z3 würde also eine Erklärung dafür bieten, warum P Z2 erstrebt, und
das Streben nach Z2 eine Erklärung dafür, warum P Z1 erstrebt. Geht man
von einer Transitivität dieser Erklärungen aus und wird ein unendlicher
Regress ausgeschlossen, so würde das Streben nach einem „höchsten“ Ziel
Zn alle darauf bezogenen untergeordneten Strebungen erklären. Dabei
könnte aber nicht ausgeschlossen werden, dass es mehrere „höchste Ziele“
gibt.
Die dritte Komponente schließlich läge in der Annahme des PsE. Die
Pointe dieser Annahme bestünde darin, dass letztlich alle Handlungen von
P durch das Streben nach einem höchsten Ziel erklärt werden können (vgl.
1094a18-22). Das heißt, der PsE würde die zweite Komponente durch
eine These über die Struktur der Zielhierarchien ergänzen. Alle diese Hier-
archien würden in die eudaimonia als oberstes Ziel münden, so dass die
Möglichkeit mehrerer höchster Ziele explizit ausgeschlossen wäre. P er-
strebt in allen ihren Handlungen ein einziges höchstes Ziel. (Um auch hier
eine möglichst einfache Version zu formulieren, werden wir im Folgenden
davon ausgehen, dass P das höchste Ziel als eudaimonia erstrebt und nicht
unter einer anderen Beschreibung.)
Begreift man den PsE auf diese Weise, dann spielt es tatsächlich keine
Rolle, ob wir davon ausgehen, dass sich alle Handlungen von P oder nur
alle Handlungen von P, die zu einem bestimmten Typ gehören, durch das
Glücksstreben erklären lassen. Mit Blick auf den Grundgedanken des PsE
geht es lediglich darum, dass die entsprechenden Handlungen auf diese
Weise erklärt werden. Die Modifikationen werden somit von der hier
gegebenen Bestimmung des PsE erfasst. Was den PsE in all seinen Spiel-
arten auszeichnet, ist die handlungstheoretische Perspektive.
Ausgehend von dieser Interpretation des Abschnitts 1094a1-22 liegt es
nahe, die Gleichsetzung zwischen der eudaimonia und dem obersten Ziel
folgendermaßen aufzufassen:
(i) Bei der Gleichsetzung zwischen der eudaimonia und dem obersten
Ziel geht es letztlich um die Erklärung konkreter Handlungen.
Die Gleichsetzung gehört in einen handlungstheoretischen Kon-
text. 7
Diese Auffassung hat Konsequenzen für die Rolle, die wir dem Beginn der
Nikomachischen Ethik zuschreiben. Der Beginn der Nikomachischen Ethik
würde eine Theorie der Handlungserklärung entwerfen, auf der die Ab-
handlung in der einen oder anderen Weise basieren würde. Daraus wie-
_____________
7 So meint etwa Roger Crisp, mit Blick auf eine Passage aus Platons Phaidon: „Psycho-
logical Eudaimonism [...] is based on the power of explanations of human action as
aimed at the agent’s own perceived good“ (2003, 57).
3.1 Die Perspektive des Psychologischen Eudaimonismus 113
derum würde sich eine Aufgabe für die weitere Untersuchung ergeben;
denn der Fortgang der Argumentation müsste zu dieser Theorie der
Handlungserklärung ins Verhältnis gesetzt werden. Zum Beispiel müsste
geklärt werden, ob sich auch tugendhafte Handlungen mit Hilfe des PsE
erklären lassen. Um diese Aufgabe etwas genauer zu formulieren, möchte
ich die Aufmerksamkeit auf eine Voraussetzung richten, die mit der An-
nahme des PsE verknüpft ist.
Wir sind davon ausgegangen, dass der PsE, gleichgültig um welche
Variante es sich handelt, die Ausdrücke „Ziel“ und „höchstes Ziel“ psy-
chologisch versteht. Der PsE bezieht diese Ausdrücke auf jene Ziele, die
wir mit unseren Handlungen verfolgen (wie gesagt, unter Ausschluss des
Falls einer opaken Motivlage). Wie aber kommt der Begriff des Guten ins
Spiel, der in EN I 1 ja ebenfalls eine zentrale Rolle einnimmt und den wir
in unserer Skizze einer Theorie der Handlungserklärung bislang ausge-
klammert haben? Aus der Perspektive des PsE dürfte es am Naheliegends-
ten sein, auch diesen Ausdruck auf die Psychologie des Handelnden zu
beziehen. Die Identifikation von Gütern und Zielen würde dann auf den
Zusammenhang zwischen den rationalen Strebungen und den Überzeu-
gungen einer Person verweisen, den Aristoteles immer wieder herstellt:
„keiner nämlich will etwas, wenn er nicht meint, dass es gut sei“ (ȡİıվȣ
ȗոȢ Ȗȡփȝıijįț Ԑȝȝ’ Ԯ Ցijįȟ ȡԼșȚ ׇıՂȟįț ԐȗįȚցȟ: Rhet. I 10, 1369a3-4; vgl.
EE II 7, 1223b6-7). Am Beginn der Nikomachischen Ethik würde es somit
darum gehen, was handelnde Personen für gut, für besser oder für das
Glück halten und dementsprechend erstreben. 8 Und auch die Kernthese des
PsE wäre so zu verstehen, dass alle alles um dessentwillen tun, was sie für
das Glück halten. 9 Die erwähnte Voraussetzung des PsE lautet demnach:
(ii) Wenn (i) zutrifft, dann führt die Gleichsetzung zwischen dem
Guten und dem Erstrebten die Perspektive des Handelnden ein.
Es geht um das, was Handelnde für das Gute halten und dement-
sprechend erstreben.
Was verschiedene Menschen für das Gute oder das Glück halten, ist je-
doch mehr oder weniger zufällig. Genau darauf weist Aristoteles im zwei-
ten Kapitel der Nikomachischen Ethik hin:
_____________
8 Ein Problem für diese Annahme besteht darin, dass Aristoteles in EN I 1 nicht von
dem spricht, was „als gut erscheint“ (phainomenon agathon), wie er es streng genom-
men tun müsste, sondern einfach vom Guten (agathon). Aus Gründen der Einfachheit
soll dieses Problem hier aber beiseite gelassen werden. Vgl. für eine ausführliche Be-
handlung der Aristotelischen „Theorie der Strebung“ Corcilius (2008a, Teil I).
9 Vgl. wiederum die entsprechende Formulierung von Roger Crisp: „Each person, when
acting rationally, pursues her own perceived greatest happiness” (2003, 55; Hervorhe-
bung Ph.B.).
114 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)
Jedoch darüber, was das Glück ist, sind sie sich uneinig, und die Vielen erklären
es nicht auf dieselbe Weise wie die Weisen. Denn die einen (nennen) etwas Of-
fensichtliches und Bekanntes, zum Beispiel Lust oder Reichtum oder Ehre, ande-
re anderes – oft aber auch derselbe Verschiedenes; denn wenn er krank ist, (nennt
er) Gesundheit, wenn er arm ist, Reichtum. (I 2, 1095a20-25)
Dass diese Passage die Vielzahl der unterschiedlichen Auffassungen betont,
wurde bereits herausgestellt (vgl. 2.1). Je nachdem in welcher Lebenssitua-
tion wir uns befinden, wird unsere Vorstellung von der eudaimonia eine
andere sein. Durch den PsE wird diesem Hinweis jedoch eine bestimmte
Stoßrichtung verliehen. Indem Aristoteles die Glücksauffassungen mit den
Lebenssituationen verknüpft, hebt er die Perspektive des Handelnden – als
Perspektive desjenigen, der sich in einer bestimmten Situation befindet –
eigens hervor. Und indem Aristoteles die Meinungen zum Glück als eine
beliebig zu ergänzende Aufzählung präsentiert, verdeutlicht er, dass es
letztlich kontingent ist, was Menschen für gut halten und erstreben.
Es ergibt sich also folgendes Bild: Wenn der PsE die handlungstheore-
tische Grundlage der ethischen Untersuchung bilden soll, dann muss Aris-
toteles bei der Bestimmung der eudaimonia die Perspektive des Handeln-
den berücksichtigen, die ich im Folgenden als subjektiv bezeichnen
möchte. Auf die eine oder andere Weise muss Aristoteles in Rechnung
stellen, was handelnde Personen für die eudaimonia halten und tatsächlich
erstreben. Denn nur unter dieser Bedingung kann die eudaimonia ihre
Rolle in der Erklärung von Handlungen erfüllen. Zugleich kann aber
nicht bestritten werden, dass Aristoteles letztlich an einer objektiven Be-
stimmung der eudaimonia interessiert ist. Die Bestimmung der eudaimo-
nia durch das Ergon-Argument (EN I 6) rekurriert keineswegs auf die
tatsächlichen Wünsche einzelner Handelnder. Sie wird aus der Perspektive
einer „dritten Person“ vorgenommen. 10
Wenn es somit zutrifft, dass die Gleichsetzung zwischen dem Guten
und dem Erstrebten die Perspektive des Handelnden einführt, dann liegt
das zentrale Problem für die Aristotelische eudaimonia-Konzeption im
Verhältnis zwischen subjektiver und objektiver Perspektive: zwischen dem,
was einem Handelnden als eudaimonia erscheint (und was er erstrebt), und
dem, was die eudaimonia ist. 11 Denn warum sollte jemand angesichts sei-
ner individuellen Wünsche überhaupt nach dem streben, was die eudai-
_____________
10 Das Begriffspaar „subjektiv“ – „objektiv“ steht hier also für den Unterschied zwischen
„was jemand für die eudaimonia hält (und dementsprechend erstrebt)“ und „was die
eudaimonia ist“. Es steht nicht für den Unterschied zwischen „was jemand für die Zie-
le seines Strebens hält“ und „was jemand tatsächlich erstrebt“. (Vgl. die obigen Be-
merkungen zum Fall der opaken Motivlage.)
11 Vgl. zu dieser Sicht Szaif (2004, insbes. 61-63).
3.1 Die Perspektive des Psychologischen Eudaimonismus 115
monia, objektiv gesehen, ist? In ihrer präzisierten Version lautet die Auf-
gabe also:
(iii) Wenn (ii) zutrifft, dann stellt sich die Aufgabe zu zeigen, auf wel-
che Weise die objektiv bestimmte eudaimonia den Handelnden als
eudaimonia erscheinen und so zum Ziel ihrer Handlungen werden
kann.
Gelingt dies nicht, ist der handlungstheoretische Beginn der Nikomachi-
schen Ethik entweder redundant; denn es wird nicht klar, welche Rolle der
PsE für die Ethik spielen sollte. Oder die Aristotelische eudaimonia-
Konzeption enthielte eine entscheidende und nicht aufgelöste Spannung.
Die Theorie wäre dann inkonsistent oder nicht hinreichend ausgeführt.
Die hier beschriebene Situation ist in einer gewissen Hinsicht mit der
vergleichbar, in der sich einige moderne Glückstheorien befinden. Diese
Theorien gehen auf der einen Seite von der subjektivistischen Grundüber-
zeugung aus, dass sich das Glück eines Menschen letztlich nur im Rekurs
auf die „nonkognitiven Einstellungen, das heißt zum Beispiel auf die Ge-
fühle, die Wünsche oder das Wollen“ dieses Menschen bestimmen lässt:
„Wir führen danach dann ein gutes Leben, wenn wir es affektiv und/oder
voluntativ bejahen; das Gutsein eines Lebens soll sich in einer solchen
Bejahung sogar allererst konstituieren“ (Steinfath 1998, 18). Auf der ande-
ren Seite versuchen diese Theorien einen „einfachen“ Subjektivismus zu
vermeiden. Sie versuchen zu zeigen, dass die Antwort auf die Frage nach
dem guten Leben, trotz ihrer Abhängigkeit von individuellen Wünschen
und Gefühlen, nicht völlig beliebig ist. Dabei schlagen sie häufig den Weg
eines „reflektierten“ Subjektivismus ein, der die nonkognitiven Einstellun-
gen einer (wertneutralen) Kritik unterzieht. Diese Kritik kann zum Bei-
spiel die Frage betreffen, ob die Wünsche auf wahren oder falschen Mei-
nungen basieren. 12
Natürlich bestehen wichtige Unterschiede zwischen diesen Theorien
und einer auf dem PsE basierenden Deutung der Aristotelischen Glücks-
konzeption. Die Gründe, die aus heutiger Sicht für eine subjektivistische
Glücksauffassung sprechen, hängen zweifellos mit einem neuzeitlichen
Menschenbild zusammen, das die individuelle Lebensführung in erster
Linie zur Privatsache erklärt. Und die „Objektivität“ der Aristotelischen
_____________
12 „Gegenstand der Kritik soll dabei nicht das sein, was sich eine Person für ihr Leben
wünscht, sondern die Art und Weise, wie sie es sich wünscht. So kann es sein, daß wir
uns etwas für unser Leben nur wünschen, weil wir uns falsche (kognitive) Vorstellun-
gen von der Welt und uns selbst machen; unsere Wünsche können uninformiert sein
und uns deswegen enttäuschen, wenn sie sich erfüllen. Falsch sind in diesem Fall je-
doch nicht eigentlich unsere Wünsche (oder anderen nonkognitiven Einstellungen),
sondern die epistemischen Meinungen, in die sie eingebettet sind“ (ebd., 19).
116 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)
_____________
14 Vgl. für eine Übersicht z.B. Whiting (1988, 34f.) und Achtenberg (1991).
15 Ԙȝȝ’ ՀIJȧȣ ijռȟ Ȟպȟ ıİįțȞȡȟȔįȟ ijր ԔȢțIJijȡȟ ȝȒȗıțȟ ՍȞȡȝȡȗȡȫȞıȟȪȟ ijț ĴįȔȟıijįț,
ʍȡȚıהijįț İ’ ԚȟįȢȗȒIJijıȢȡȟ ijȔ ԚIJijțȟ Ԥijț ȝıȥȚ׆ȟįț. ijչȥį İռ ȗջȟȡțij’ Ԓȟ ijȡףij’ ıԼ
ȝșĴȚıտș ijր ԤȢȗȡȟ ijȡ ףԐȟȚȢօʍȡȤ.
118 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)
Hinter diesem Fehlschluss wird oft eine von Aristoteles vermeintlich über-
sehene Mehrdeutigkeit des Ausdrucks „gut“ vermutet. Demnach mag es
zwar zulässig sein, denjenigen als guten Menschen („a good man“) zu be-
zeichnen, der das menschliche ergon auf gute Weise erfüllt (P 2’). Dies
bedeute aber nicht, dass die Erfüllung des ergon das Gute des Menschen
(„the good of man“) (P 1) und damit das oberste Ziel menschlicher Hand-
lungen sei („the final goal of man’s actions“). Aristoteles würde demnach
die attributive Verwendung von „gut“ („ein gutes x“) nicht streng genug
von dessen prädikativer Verwendung („x ist gut“) unterscheiden. 16
Andere Autoren sprechen zwar nicht von einem Fehlschluss, sie sehen
aber zumindest eine erklärungsbedürftige Lücke zwischen I 5 und I 6.
Beim Übergang zum Ergon-Argument setze Aristoteles zwei unterschiedli-
che Bestimmungen des Guten nebeneinander, ohne auszuführen, wie er
sich den Zusammenhang zwischen diesen beiden Bestimmungen denke.
Die Frage, wie diese Lücke zu schließen wäre, hätte zweifellos erhebliche
Auswirkungen auf das Verständnis der Aristotelischen Glückskonzeption.
Denn wenn es zutrifft, dass EN I zwei unterschiedliche Bestimmungen des
Guten enthält, dann läuft die Frage „Was ist das gesuchte Gut?“ auf die
Frage hinaus, wie sich diese beiden Bestimmungen zueinander verhalten.
Sieht man sich die Literatur zum Ergon-Argument etwas näher an,
dann fällt auf, dass die vermeintliche Lücke zwischen I 5 und I 6 oft auf
ähnliche Weise beschrieben wird. Es scheint ein gewisser Konsens darüber
zu bestehen, was Aristoteles zeigen müsste, um diese Lücke zu schließen.
Friedo Ricken schreibt beispielsweise:
Versteht man es [das menschliche ergon, Ph.B.] als charakteristische Tätigkeit, so
ist einsichtig, daß die den Menschen als Menschen unterscheidende Lebenstätig-
keit, die Aristoteles auch als das Sein des Menschen bezeichnet [...], die Vernunft-
tätigkeit ist. Nicht gezeigt hat Aristoteles dagegen, daß das Streben des Menschen
dessen eigenes Sein zu seinem letzten Ziel hat. An diesem Satz hängt aber die ge-
samte aristotelische Ethik. (1976, 29)
Und David Bostock bringt das Problem folgendermaßen auf den Punkt:
Aristotle makes no attempt to show that what he calls the ‚function’ of man, i.e.
the specifically human kind of life, is something that men aim for. (2000, 26)
Die Frage, die sich mit dem Übergang zum Ergon-Argument verbindet,
würde demnach lauten:
(iv) Inwiefern ist die Erfüllung des menschlichen ergon das, wonach
Menschen streben?
_____________
16 Vgl. zu dieser Unterscheidung den vielzitierten Aufsatz von P.T. Geach (1956).
3.1 Die Perspektive des Psychologischen Eudaimonismus 119
Die Ähnlichkeit zwischen (iv) und (iii) ist kaum zu übersehen. Im Prinzip
haben wir es nun mit einer Präzisierung der Frage zu tun, auf welche Wei-
se die objektiv bestimmte eudaimonia (die Erfüllung des menschlichen
ergon) den Handelnden als eudaimonia erscheinen kann (wonach sie tat-
sächlich streben). Es lässt sich daher leicht erkennen, wie die vermeintliche
Lücke zwischen I 5 und I 6 mit der Annahme des PsE zusammenhängt.
Folgt man Ricken, Bostock und anderen, dann geht es darum, die Erfül-
lung des ergon zu den tatsächlichen Strebenszielen der Menschen ins Ver-
hältnis zu setzen. Und nur wenn prinzipiell offen ist, was Menschen
erstreben, wird das Problem, weshalb sie etwas Bestimmtes erstreben soll-
ten, wirklich virulent. Es sind die Subjektivität und die Kontingenz der
Strebensziele, die den Übergang zum Ergon-Argument problematisch
erscheinen lassen.
Sobald man die Spannung beim Übergang zum Ergon-Argument auf
diese oder vergleichbare Weise beschreibt, nimmt man zwangsläufig die
Perspektive des PsE ein. Man geht explizit oder implizit davon aus, dass
die Gleichsetzung zwischen dem Guten und dem Erstrebten psychologisch
zu verstehen ist. Umgekehrt bedeutet dies, dass der PsE es nahe legt, das
Ergon-Argument als einen Einschnitt im Argumentationsverlauf zu be-
trachten. Das Ergon-Argument markiert den Wechsel von einer Betrach-
tung dessen, was Menschen kontingenterweise erstreben, zu einer Betrach-
tung dessen, was die eudaimonia tatsächlich ist.
Im Prinzip ist damit das Ziel des vorliegenden Abschnitts schon er-
reicht. Es sollte gezeigt werden, wie sich die Perspektive des PsE auf das
Verständnis der Vorgehensweise auswirkt. Die Annahme des PsE führt
dazu, dass der Argumentationsgang von EN I in zwei Teile zerfällt, die
durch die Interpretation, genauer: durch eine Beantwortung der unter (iv)
formulierten Frage, verbunden werden müssen. Um jedoch den Kontrast
zur gütertheoretischen Lektüre noch deutlicher zu machen, soll die hier
aufgenommene Spur noch einen Schritt weiter verfolgt werden. Im fol-
genden Abschnitt werde ich zwei einflussreiche Antworten skizzieren, die
mit Blick auf Frage (iv) diskutiert werden. Außerdem werde ich andeuten,
warum diese Antworten nach meiner Auffassung unzulänglich sind. Da-
nach wird es leichter fallen, den Unterschied zu beschreiben, den die hier
vorgelegte Interpretation von EN I 1-5 mit sich bringt.
120 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)
Das Erstrebenswerte
Wie also lässt sich Frage (iv) beantworten? Welche Möglichkeiten könnte
es geben, das, was Handelnde als eudaimonia betrachten und dementspre-
chend erstreben, mit dem zu verbinden, was die eudaimonia objektiv gese-
hen ist, um so die vermeintliche Lücke zwischen I 5 und I 6 zu schließen?
Eine sehr einfache und mit dem PsE unmittelbar kompatible Antwort
bestünde in der Annahme einer instrumentellen Tugendkonzeption.
Wenn die Tugenden Werkzeuge zur Verwirklichung beliebiger Ziele wä-
ren, könnte man problemlos an diesen Zielen festhalten und zugleich
einen objektiven Zusammenhang zwischen eudaimonia und Tugend be-
haupten.
Interessanterweise führt Aristoteles in außerethischen Kontexten
manchmal einen solchen Tugendbegriff ein. So heißt es zum Beispiel in
Rhet. I 9: „Tugend aber ist, wie es scheint, eine Fähigkeit, Güter zu be-
schaffen und zu bewahren“ (ԐȢıijռ İ’ ԚIJijվ Ȟպȟ İփȟįȞțȣ, թȣ İȡȜıה,
ʍȡȢțIJijțȜռ ԐȗįȚȟ Ȝįվ ĴȤȝįȜijțȜս: 1366a36-37). Für ethische Kontexte
gilt dies aber sicher nicht. In der Ethik wird die Tugend nicht instrumen-
tell aufgefasst, sondern als eines der Güter, die um ihrer selbst willen, ge-
nauer: um ihrer selbst und um der eudaimonia willen, erstrebt werden (EN
I 3, 1096a8-9; I 5, 1097b2-4). Der einfache Lösungsweg scheint daher
nicht in Frage zu kommen.
Eine andere Strategie bestünde in dem Versuch nachzuweisen, dass die
objektiv bestimmte eudaimonia, also die Erfüllung des menschlichen er-
gon, für jeden von uns erstrebenswert ist. Auf diese Weise könnte, in der
Formulierung Ursula Wolfs, der „objektive Ansatz, der sich auf die Natur
des Menschen beruft, [...] für das Individuum auch subjektiv plausibel
gemacht werden“ (2002, 190). Aristoteles müsste also zeigen, dass es etwas
gibt, was aus der Sicht des Einzelnen für die Erfüllung des menschlichen
ergon spricht, und zwar abgesehen davon, dass diese Erfüllung das beste
menschliche Gut darstellt. Diese Strategie soll im Folgenden etwas näher
betrachtet werden.
Zunächst darf nicht übersehen werden, dass dieser Weg Auswirkungen
auf die Theorie des PsE hat. In der bisherigen Beschreibung des PsE sind
wir von den gegebenen Wünschen und Strebenszielen einzelner Handeln-
der ausgegangen. Wir haben betont, dass diese Wünsche und Strebens-
ziele, abhängig von der jeweiligen Lebenssituation, sehr unterschiedlich
ausfallen können. 17 Um den angedeuteten Lösungsweg gangbar zu ma-
_____________
17 In moderner Terminologie würde man vermutlich von einer Variante eines „hume-
schen“ Modells sprechen, „das Handlungen mit Bezug auf Wünsche und relevante
3.1 Die Perspektive des Psychologischen Eudaimonismus 121
chen, müssen dagegen zwei Bedingungen erfüllt sein. Zum einen muss es
möglich sein, objektiv festzustellen, was für jemanden erstrebenswert ist.
Zum anderen müssen die Meinungen einer Person über das, was (für sie)
erstrebenswert ist, Auswirkungen darauf haben, was diese Person tatsäch-
lich erstrebt. Denn nur so kann die motivationale Rolle der eudaimonia
weiterhin sichergestellt werden. Es muss also möglich sein, durch Mei-
nungen Einfluss auf Strebungen zu nehmen. Für sich genommen ist diese
Annahme zwar nicht unplausibel. Es scheint Teil unserer praktischen Ra-
tionalität zu sein, dass unsere Meinungen über das Erstrebenswerte mit
dem von uns Erstrebten in einer näher zu bestimmenden Weise konver-
gieren. Ein Problem dieser verfeinerten Version des PsE liegt aber darin,
dass Aristoteles streng genommen keine Erwägung von Zielen vorsieht. Im
Aristotelischen Modell der Deliberation (ȖȡփȝıȤIJțȣ) werden Ziele durch
das Streben vorgegeben (EN III 7, 1113b3). Der Prozess der Deliberation
betrifft ausschließlich das, was auf das Ziel bezogen oder ausgerichtet ist
(pros to telos: III 5, 1112b34; III 7, 1113b4), im einfachsten Fall die erfor-
derlichen Mittel. Es ist daher nicht leicht zu sehen, wie eine Argumentati-
on über die richtigen Ziele Einfluss auf das Handeln nehmen könnte.
An dieser Stelle ist es nicht nötig, auf die komplexe Debatte um den
Ausdruck pros to telos und die Möglichkeit einer Erwägung von Zielen bei
Aristoteles näher einzugehen. 18 Wichtig ist lediglich die Beobachtung, wie
eine bestimmte Sicht auf das Projekt von EN I eine bestimmte Erwartung
an die Aristotelische Handlungstheorie generiert. Wir erwarten die Mög-
lichkeit einer Deliberation über Ziele, weil wir davon ausgehen, dass I 1-5
von tatsächlichen Strebenszielen spricht und I 6 ff. von dem, was erstre-
benswert ist.
Warum also sollte jemand die Erfüllung des menschlichen ergon für
erstrebenswert halten? Was spricht aus der Sicht des Handelnden für die
von Aristoteles entwickelte eudaimonia-Konzeption? Der Text von EN I
6-9 scheint mindestens zwei Optionen zu bieten, wie diese Frage beant-
wortet werden könnte. Nach der ersten Option enthielte bereits das Er-
gon-Argument selbst einen entscheidenden Hinweis, und es würde nur
darum gehen, eine bestimmte Hintergrundtheorie zu rekonstruieren.
Nach der zweiten Option böte erst die Berücksichtigung der gängigen
Meinungen (legomena) in EN I 8-9 die Möglichkeit, den objektiven
Glücksbegriff mit den tatsächlichen Strebenszielen der Menschen zu ver-
binden. Ich werde beide Optionen skizzieren und Einwände gegen sie
vorbringen.
_____________
Meinungen erklärt und nach dem praktische rationale Gründe immer auf der motiva-
tionalen Verfassung der betreffenden Person basieren müssen“ (Gosepath 1999, 14).
18 Hierzu nach wie vor einschlägig: Wiggins (1980).
122 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)
Text der Nikomachischen Ethik selbst geschieht. Zwar ist nicht prinzipiell
auszuschließen, dass Aristoteles Theorieelemente anderer Schriften in der
Ethik voraussetzt. Wenn es aber zutrifft, dass er die Vorteilhaftigkeit der
Erfüllung des ergon vor Augen führen möchte, dann wäre zu erwarten,
dass er dem Nachweis dieser Vorteilhaftigkeit einen erheblich größeren
Raum zumisst. Der Versuch, die Hörer zu überzeugen oder ihnen die
Mittel zur Überzeugung anderer an die Hand zu geben, müsste ein beson-
deres Gewicht erhalten. (Auch diese Erwartung geht übrigens aus der An-
nahme des PsE hervor. Sie ergibt sich aus der These, dass die tatsächlichen
Strebungen berücksichtigt werden müssen, wenn die eudaimonia ihre
Rolle in der Erklärung von Handlungen erfüllen soll.)
Diese Einwände legen es nahe, die zweite Option zu bevorzugen, da
diese nicht mit impliziten Voraussetzungen operiert. Sie lässt sich folgen-
dermaßen zusammenfassen: Nachdem das höchste Gut mit Hilfe des Er-
gon-Arguments bestimmt wurde, bemüht sich Aristoteles nachzuweisen,
dass diese Bestimmung mit dem, was über die eudaimonia „gesagt“ wird,
kompatibel ist (ȉȜıʍijջȡȟ İպ ʍıȢվ įij׆ȣ [...] Ȝįվ ԚȜ ijȟ ȝıȗȡȞջȟȧȟ ʍıȢվ
įij׆ȣ: I 8, 1098b9-11). Er versucht zu zeigen, dass die Definition der
eudaimonia als Tugend die wichtigsten Ansichten über die eudaimonia zu
integrieren vermag. Setzt man nun diese „wichtigsten Ansichten über die
eudaimonia“ mit dem gleich, was allgemein erstrebt wird – eben weil die
eudaimonia etwas ist, das erstrebt wird –, dann könnten die Kapitel I 8-9
eine Brücke vom Ergon-Argument zu den Strebenszielen handelnder Per-
sonen schlagen. Tugendhaft zu sein wäre deshalb erstrebenswert, weil
seine Begleiterscheinungen dem entsprechen, was wir erstreben. (Der Aus-
druck „Begleiterscheinungen“ ist hier in einem weiten Sinn gebraucht und
soll keine Festlegung über den genauen Zusammenhang zwischen der
Ausübung der Tugenden und den übrigen Eigenschaften eines glücklichen
Lebens bedeuten.)
_____________
aber für ein Lebewesen vorteilhaft sein sollte, das eigene ergon zu erfüllen, scheint zu-
nächst eher unklar. Zumindest ist nicht einzusehen, wie in beiden Fällen die gleiche
Begründung greifen könnte. Im Fall der Teile eines Lebewesens lässt sich ein Kontext
benennen, in dem Hörner, Rüssel, Schnäbel usw. eine bestimmte Funktion erfüllen.
Dieser Kontext ist das Überleben und Gedeihen des Lebewesens. Für ein Lebewesen
vorteilhaft zu sein bedeutet hier, auf spezifische Weise zu dessen Überleben und Ge-
deihen beizutragen. Wenn es aber um das ergon eines Lebewesens selbst geht, ist ein
solcher Kontext nicht ohne weiteres auszumachen. Mehr noch: Sobald wir eine funk-
tionale Deutung des Ausdrucks ergon für diesen Fall ablehnen, wie es beim ergon des
Menschen üblicherweise geschieht, weisen wir den Gedanken eines übergeordneten
Kontextes zwangsläufig zurück (vgl. für eine knappe Darstellung dieses Zusammen-
hangs: Nussbaum 21985, 100-106). Die Vorteilhaftigkeit der Erfüllung des ergon
müsste dementsprechend anders erklärt werden; und es scheint keineswegs offensicht-
lich, wie eine solche Erklärung aussehen könnte.
124 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)
Nach der Interpretation von Ursula Wolf zum Beispiel liegt die Ver-
bindung zwischen „objektivem“ und „subjektivem Glücksbegriff“ in dem
Nachweis, dass ein tugendgemäßes Leben lustvoll ist: „Zu zeigen wäre,
dass diese Lebensform das Moment des Wohlgefühls (der Lust) enthält,
das, wie Aristoteles konstatiert, zum alltäglichen Glücksbegriff hinzu-
gehört“ (2002, 190f.). Der entsprechende Zusammenhang wird bereits in
Kapitel I 9 angedeutet (1099a7-21) und später, mit der Einführung des
Konzepts der „Tätigkeitslust“ in den beiden Lustabhandlungen der Niko-
machischen Ethik, genauer ausgeführt: „Aristoteles entdeckt [...], dass es
Lust an Tätigkeiten gibt, die nicht aus einem Mangel hervorgehen, son-
dern in denen sich die menschliche Natur verwirklicht, wenn kein Mangel
erfahren wird“ (ebd., 208). Die Pointe des Ansatzes besteht also in der
These, dass die von Aristoteles vorgeschlagene Definition des höchsten
Guts mit einer höherstufigen Lust verbunden und deshalb erstrebenswert
ist.
Zu den wichtigsten Anliegen der antiken philosophischen Ethik ge-
hört zweifellos der Nachweis, dass es aus unterschiedlichen Gründen bes-
ser ist, tugendhaft zu sein, als nicht tugendhaft zu sein. 21 Die Behandlung
der Meinungen zur eudaimonia kann als ein Beitrag zu diesem Anliegen
gelesen werden. Dennoch kann sie nicht als Lösung der hier formulierten
Aufgabe dienen; denn sie ist nicht dazu geeignet, die objektive Bestim-
mung der eudaimonia mit einer auf dem PsE basierenden Theorie der
Handlungserklärung zu verknüpfen. Ich werde in 4.1 noch etwas ausführ-
licher auf diesen Punkt eingehen, möchte aber jetzt schon einige Argu-
mente nennen:
In den Anfangszeilen des neunten Kapitels gibt Aristoteles einen Hin-
weis, warum die bestehenden Meinungen über die eudaimonia zu berück-
sichtigen sind:
Diese (Meinungen) werden zum Teil von vielen und seit alter Zeit vertreten, zum
Teil von wenigen angesehenen Männern, und es ist anzunehmen, dass keine die-
ser beiden (Gruppen) völlig falsch liegt; vielmehr werden sie zumindest in einem
oder sogar im meisten richtig liegen. 22 (1098b27-29)
Worum es Aristoteles geht, ist die (anzunehmende) Richtigkeit der ange-
führten Meinungen. Die legomena werden berücksichtigt, insofern sie
(wahrscheinlich) zutreffend sind. Dementsprechend dürfte es auch die
_____________
21 Vgl. die in diesem Kontext üblicherweise genannten Auseinandersetzungen des Sokra-
tes mit den „Amoralisten“ Kallikles und Thrasymachos (Platon, Gorgias, 481b ff.; Po-
liteia I, 336b ff.).
22 ijȡȫijȧȟ İպ ijո Ȟպȟ ʍȡȝȝȡվ Ȝįվ ʍįȝįțȡվ ȝȒȗȡȤIJțȟ, ijո İպ ՌȝȔȗȡț Ȝįվ ԤȟİȡȠȡț ԔȟİȢıȣ·
ȡİıijȒȢȡȤȣ İպ ijȡȫijȧȟ ı՜ȝȡȗȡȟ İțįȞįȢijȑȟıțȟ ijȡהȣ Ցȝȡțȣ, Ԑȝȝ’ ԥȟ ȗȒ ijț Ԯ Ȝįվ ijո
ʍȝıהIJijį ȜįijȡȢȚȡףȟ.
3.1 Die Perspektive des Psychologischen Eudaimonismus 125
_____________
24 Vgl. dazu die aufschlussreichen Bemerkungen von Sarah Broadie: „Aristotle knew that
his equation [between ‚living well’ and ‚living a life of ethical virtue’, Ph.B.] was what
we call a synthetic statement. As the style of his advocacy for it shows, he knew per-
fectly well that it was a contested position, and that both claim and counter-claim
were logically intelligible. [...] [O]ne cannot help wondering whether a hedonist or a
splendid life-ist as clever as Aristotle might not have turned the tables by showing
ways in which what is intuitively attractive about virtuous (in the ordinary sense) ac-
tivity is actually to be found, in some form or other, lurking within the folds of their
ideals“ (2006, 344).
3.2 Die gütertheoretische Perspektive 127
_____________
25 Dies scheint die von John McDowell vertretene Sicht zu sein: „[I]f someone really
embraces a specific conception of human excellence, however grounded, then that will
of itself equip him to understand special employments of the typical notions of ‚pru-
dential’ reasoning – the notions of benefit, advantage, harm, loss, and so forth – ac-
cording to which (for instance) no payoff from flouting a requirement of excellence
[...] can count as a genuine advantage; and, conversely, no sacrifice necessitated by the
life of excellence [...] can count as a genuine loss“ (1980, 369).
26 Vgl. für eine übersichtliche Behandlung der entsprechenden Passagen aus De anima
und De motu animalium sowie für eine kurze Einführung in die Aristotelische „Hand-
lungstheorie“ insgesamt Corcilius/Rapp (2008).
128 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)
es also nahe, die Gleichsetzung zwischen der eudaimonia und dem obers-
ten Ziel folgendermaßen aufzufassen:
(i*) Bei der Gleichsetzung zwischen der eudaimonia und dem obersten
Ziel geht es nicht um die Erklärung konkreter Handlungen (dies
war These i), sondern um eine Darstellung der These, dass die eu-
daimonia das höchste Gut ist. Die Gleichsetzung gehört nicht in
einen handlungstheoretischen, sondern in einen gütertheoreti-
schen Kontext.
Eine entscheidende Eigenschaft des teleologischen Ansatzes liegt darin,
dass er auf einer Gemeinsamkeit „der Analogie nach“ (kat’ analogian) be-
ruht (vgl. 2.3.3 und 2.4). Das heißt, die Gemeinsamkeit zwischen den
verschiedenen Gütern besteht in der identischen Relation, die sie zu je-
weils verschiedenen Gegenständen aufweisen, der Relation nämlich, ein
Ziel für diese Gegenstände zu sein. In den Kapiteln I 1-3 sind uns unter-
schiedliche Gegenstandsklassen begegnet, auf die sich das Gute qua Ziel
beziehen lässt. So geht es zu Beginn von I 1 (1094a1-2) um unterschiedli-
che Arten menschlicher Tätigkeiten, in I 2 spricht Aristoteles von Perso-
nen („andere anderes“: 1095a23) und Lebenssituationen (Krankheit, Ar-
mut: a24-25), und in I 3 sind es grundlegende Lebensformen (Ȗտȡț), auf
die ein je eigenes (höchstes) Gut bezogen wird.
Dass Menschen mit ihren Handlungen Ziele verfolgen, soll hier kei-
neswegs bestritten werden. Allerdings scheint es nicht diese psychologische
Tatsache zu sein, um die es Aristoteles am Beginn der Nikomachischen
Ethik geht. Die genannten Beispiele sprechen eher dafür, dass „x ist das
Ziel von y“ hier einen begrifflichen Zusammenhang beschreibt (vgl.
2.2.2): Es gehört zum Begriff des Ziels, Ziel von etwas zu sein. Da dieser
Zusammenhang aus der Perspektive der „dritten Person“ hergestellt wer-
den kann, gibt es keinen Anlass, die Perspektive des Handelnden über-
haupt ins Spiel zu bringen. 30 Das heißt:
(ii*) Wenn (i*) zutrifft, dann führt die Gleichsetzung zwischen dem
Guten und dem Erstrebten nicht die Perspektive des Handelnden
ein. Es geht hier nicht um das, was Handelnde für das Gute hal-
_____________
1102a2-3; X 6, 1176a31-32). Ähnlich sieht es z.B. G.H. von Wright: „I would under-
stand Aristotle’s so-called eudaimonism in the following light: among possible ends of
human action, eudaimonia holds a unique position. This unique position is not that
eudaimonia is the final end of all action. It is that eudaimonia is the only end that is
never anything except final. It is the nature of eudaimonia that it cannot be desired for
the sake of anything else. This is, so Aristotle seems to think, why eudaimonia is the
highest good for man“ (1963, 90).
30 Vgl. hierzu noch einmal das oben (S. 66f.) genannte Beispiel des Herstellungsprozes-
ses, der durch sein Ziel „definiert“ wird.
130 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)
worden ist. Ich werde mich daher bei der Interpretation zunächst auf drei
einfache und, wie ich hoffe, relativ unkontroverse textliche Beobachtun-
gen konzentrieren.
Der erste Satz des sechsten Kapitels lautet:
Ԙȝȝ’ ՀIJȧȣ ijռȟ Ȟպȟ ıİįțȞȡȟտįȟ ijր ԔȢțIJijȡȟ ȝջȗıțȟ ՍȞȡȝȡȗȡփȞıȟցȟ ijț Ĵįտȟıijįț,
ʍȡȚıהijįț İ’ ԚȟįȢȗջIJijıȢȡȟ ijտ ԚIJijțȟ Ԥijț ȝıȥȚ׆ȟįț. (1097b22-24)
Der erste Teil dieses Satzes kann so gelesen werden, dass in der Infinitiv-
konstruktion eudaimonia das Subjekt und ariston das Prädikatsnomen ist.
Das Fragepronomen ti in der zweiten Satzhälfte würde sich dann ebenfalls
auf eudaimonia beziehen:
Zu sagen, dass Glück das Beste ist, scheint aber vielleicht etwas allgemein Aner-
kanntes zu sein. Wir verlangen aber, noch deutlicher zu sagen, was es (das Glück)
ist. 33
Liest man den Satz auf diese Weise, dann scheint es nahe liegend, Kapitel
I 6 als einen Wendepunkt in der Untersuchung zu begreifen. Während
bisher über die eudaimonia allein qua höchstes Gut gesprochen wurde,
würde sich die Argumentation jetzt der Frage zuwenden, was die eudaimo-
nia wirklich ist. Die Emphase läge also auf der ti estin-Frage (ʍȡȚıהijįț İ’
ԚȟįȢȗջIJijıȢȡȟ ijЃ ΤIJijțȟ Ԥijț ȝıȥȚ׆ȟįț), und es bestünde kein notwendiger
Zusammenhang zwischen der nun folgenden Antwort auf diese Frage und
dem, was bisher über die eudaimonia gesagt wurde.
Es gibt allerdings auch eine zweite Übersetzungsmöglichkeit, in der
ariston das Subjekt und eudaimonia das Prädikatsnomen ist. Nach dieser
Übersetzungsmöglichkeit würde sich das Fragepronomen ti in der zweiten
Satzhälfte auf ariston beziehen:
Zu sagen, dass das Beste Glück ist, scheint aber vielleicht etwas allgemein Aner-
kanntes zu sein. Wir verlangen aber, noch deutlicher zu sagen, was es (das Beste)
ist. 34
Die Symmetrie zur ersten Lesart scheint zunächst folgende Deutung zu
fordern: Während bisher über das Beste allein qua eudaimonia gesprochen
wurde, wendet sich die Argumentation jetzt der Frage zu, was das Beste
wirklich ist. Dabei besteht kein notwendiger Zusammenhang zwischen der
nun folgenden Antwort auf diese Frage und dem, was bisher über das
_____________
33 Vgl. z.B. Gigon (21995). Diese Übersetzung würde einen guten Anschluss an den
letzten Satz von EN I 5 bieten, in dem eudaimonia eindeutig Subjekt ist: „Also scheint
das Glück, als Ziel alles Handelns, etwas Vollkommenes und selbstgenügsam zu sein“
(ijջȝıțȡȟ İս ijț Ĵįտȟıijįț Ȝįվ į՜ijįȢȜıȣ ԭ ıİįțȞȡȟտį, ijȟ ʍȢįȜijȟ ȡ՞IJį ijջȝȡȣ:
1097b20-21).
34 Vgl. z.B. Broadie/Rowe (2002, mit Kommentar 276) und Wolf (2006, mit Kommen-
tar 347).
3.2 Die gütertheoretische Perspektive 133
Beste gesagt wurde. Angesichts des Fortgangs von Buch I scheint diese
Deutung jedoch wenig plausibel. Das Ziel der Untersuchung bleibt eine
Bestimmung der eudaimonia. Mit Blick auf dieses Ziel hat die Untersu-
chung des „Besten“ einen instrumentellen Charakter. Das Thema eudai-
monia wird keineswegs fallen gelassen.
Eine andere Deutung scheint daher näher zu liegen. Nach dieser Deu-
tung geht es nach wie vor um eine Bestimmung des „Besten“, die gemäß
der eingeschlagenen Strategie als Bestimmung der eudaimonia behandelt
werden kann. Die Emphase des zitierten Satzes liegt auf dem Versuch,
noch deutlicher zu sagen, was das Beste ist (ʍȡȚıהijįț İ’ ΤȟįȢȗϿIJijıȢȡȟ ijտ
ԚIJijțȟ Ԥijț ȝıȥȚ׆ȟįț). Das Ergon-Argument würde also keinen Wende-
punkt, sondern eher eine Fortsetzung der bisherigen Untersuchung bedeu-
ten. 35
Zieht man den weiteren Kontext in Betracht, dann spricht einiges da-
für, die zweite Lesart des Satzes der ersten vorzuziehen. Denn die zu Be-
ginn von I 5 aufgeworfene Frage lautet: „Was ist das gesuchte Gut?“ (ijր
ȘșijȡփȞıȟȡȟ ԐȗįȚցȟ, ijտ ʍȡij’ Ԓȟ ıՀș: 1097a15-16),36 und das zu Beginn
von I 7 gezogene Fazit lautet: „Dies möge als ein Umriss des Guten gel-
ten“ (ȇıȢțȗıȗȢչĴȚȧ Ȟպȟ ȡ՞ȟ ijԐȗįȚրȟ ijįփijׄ: 1098a20). Es scheint also
kein Wechsel in der Fragestellung stattzufinden. Außerdem wurde die
erste Antwort auf diese Frage bereits einer Präzisierung unterzogen: „Man
muss aber versuchen, dies noch genauer zu fassen“ (ijȡףijȡ İ’ Ԥijț Ȟֻȝȝȡȟ
İțįIJįĴ׆IJįț ʍıțȢįijջȡȟ: 1097a24-25), so dass die Einleitung zu I 6 ein-
fach eine weitere Präzisierung ankündigen würde. (Hier sei noch einmal
an die argumentative Strategie der Eudemischen Ethik erinnert, die sich
explizit als eine „Klärung“ begreift; vgl. 1.1.)
Die erste Beobachtung zum Text des Ergon-Arguments lautet also: Der
Beginn von I 6 spricht dafür, das Ergon-Argument nicht als einen Wende-
punkt, sondern eher als eine Fortsetzung der bisherigen Argumentation zu
verstehen. Das höchste Gut (und damit die eudaimonia) soll noch genauer
bestimmt werden.
Die zweite Beobachtung lautet: Das Ergon-Argument bestimmt das ge-
suchte Gut als anthrôpinon agathon, das heißt als ein „menschliches“ be-
ziehungsweise „auf den Menschen bezogenes“ Gut. Dies geht aus der
Konklusion des Arguments unmissverständlich hervor (ıԼ İ’ ȡ՝ijȧ ijր
_____________
35 Die erste Satzhälfte kann dann auf den Schluss von I 5 bezogen werden, wo noch
einmal betont wird, dass allein die eudaimonia alle Kriterien eines höchsten Guts er-
füllt.
36 Da Aristoteles mit dem Beginn von I 5 von der Besprechung der gängigen Meinungen
zu seiner eigenen Antwort übergeht, scheint eher hier ein Einschnitt in der Untersu-
chung vorzuliegen.
134 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)
gen, worin das ergon des Menschen (P 2) beziehungsweise das ergon eines
vortrefflichen Menschen (P 2’) besteht. Dabei fällt auf, dass das Augen-
merk der Argumentation auf den Prämissen P 2 beziehungsweise P 2’
liegt. Während P 1 in lediglich vier Zeilen abgehandelt wird (1097b25-
28), entfallen auf P 2 und P 2’ beinahe zwanzig Zeilen (1097b28-
1098a12). Und auch in der Rekapitulation des Arguments (a12-16) wer-
den lediglich P 2 und P 2’ zusammengefasst.
Wenn es aber zutrifft, dass allein in der ersten Prämisse über den Zu-
sammenhang zwischen der Erfüllung des ergon und dem Guten gespro-
chen wird, dann bieten diese Zeilen genau genommen den einzigen An-
haltspunkt zur Lösung von (iv*). Zur Lösung von (iv*) muss dargestellt
werden, ob und inwiefern die hier gegebene Bestimmung des Guten als
eine Präzisierung dessen verstanden werden kann, was vor I 6 über das
Gute gesagt wurde:
Denn wie für den Aulosspieler und für den Bildhauer und für jeden Künstler und
insgesamt für jeden, der eine bestimmte Leistung (ergon) und Tätigkeit hat, in
(dem Erbringen) dieser Leistung das Gute und das ‚auf gute Weise’ zu liegen
scheint, so dürfte es wohl auch für den Menschen der Fall sein, wenn er denn ei-
ne bestimmte Leistung hat. 37 (1097b25-28)
Inwiefern also knüpfen diese vier Zeilen an Bekanntes an, inwiefern for-
mulieren sie etwas im Kontext der Untersuchung Neues?
Neu ist zweifellos die These, dass es Personengruppen gibt, die als sol-
che ein ergon haben. Davon war in den Kapiteln I 1-5 nicht die Rede.
Zwar taucht der Ausdruck ergon schon im ersten Kapitel der Nikomachi-
schen Ethik auf, er wird hier aber nicht auf Personen, sondern auf Tätig-
keiten bezogen (1094a3-5). EN I 6 markiert also gleichsam den Übergang
vom Herstellungsvorgang (technê) zur herstellenden Person (technitês).
Dass ein ergon als etwas Gutes bezeichnet werden kann, ist jedoch
streng genommen kein neuer Gedanke. Vielmehr werden erga bereits in
den ersten Zeilen von Kapitel I 1 als Beispiele für Ziele und damit für
Güter genannt (1094a5).38 Ausgehend von der Gleichsetzung zwischen
Gütern und Zielen, die am Beginn der Nikomachischen Ethik eingeführt
wird, ist es keine Überraschung, dass auch in EN I 6 ein Zusammenhang
zwischen dem ergon und dem Guten hergestellt wird.
Wie aber sieht es mit der These aus, dass im ergon des Menschen das
für den Menschen Gute liegen soll? Versteht man den Dativ anthrôpôi
(„dem Menschen“), wie durch die in 3.1 beschriebene Strategie nahe ge-
_____________
37 խIJʍıȢ ȗոȢ įȝșij ׇȜįվ ԐȗįȝȞįijȡʍȡț Ȝįվ ʍįȟijվ ijıȥȟȔijׄ, Ȝįվ Ցȝȧȣ կȟ ԤIJijțȟ ԤȢȗȡȟ
ijț Ȝįվ ʍȢֻȠțȣ, Ԛȟ ij ԤȢȗ İȡȜı הijԐȗįȚրȟ ıՂȟįț Ȝįվ ijր ı՞, ȡ՝ijȧ İȪȠıțıȟ Ԓȟ Ȝįվ
ԐȟȚȢȬʍ, ıՀʍıȢ ԤIJijț ijț ԤȢȗȡȟ įijȡף.
38 Diesen Zusammenhang sieht z.B. auch U. Wolf (2002, 38f.).
136 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)
legt, als Dativus commodi (s.o., S. 122), dann ist diese These zweifellos
neu. Das Gute im Sinne des Vorteilhaften hat in I 1-5 keine Rolle ge-
spielt. Demnach wäre der Verweis auf das ergon in I 6 mit einer völlig
anderen Bedeutung von „gut“ verbunden als in I 1. Wenn jedoch die er-
wähnte Strategie obsolet wird, das heißt wenn wir gar nicht erwarten, dass
Aristoteles hier über die Vorteile des menschlichen Guts sprechen möchte,
dann eröffnet sich die Möglichkeit, den Dativ anders zu lesen. Der Dativ
ließe sich dann auf die Relation zwischen den Gütern und den ihnen zu-
geordneten Gegenständen beziehen. 39 So wie in Bezug auf den Aulosspieler
(įȝșij )ׇdas Gute im Aulosspielen liegt und in Bezug auf den Bildhauer
(ԐȗįȝȞįijȡʍȡț )in der Statue, so liegt das Gute in Bezug auf den Men-
schen (anthrôpôi) im ergon des Menschen. In der Wendung „das Gute für
den Menschen“ käme also das zur Sprache, was oben bereits festgestellt
wurde: Wenn Güter als Ziele bestimmt werden, dann werden sie stets in
Relation zu etwas bestimmt, dessen Ziele sie sind (vgl. 2.2.2). Zu dieser
Deutung passt auch, dass Aristoteles seine These durch eine Reihe von
Beispielen einführt, in denen jeweils die gleiche Relation besteht. Die
Darstellung geschieht wie in den Kapiteln I 1-5 mit Hilfe einer Analogie.
Wenn wir der gütertheoretischen Lektüre dieser Kapitel folgen, dann lässt
sich die erste Prämisse des Ergon-Arguments also problemlos erklären.
In seinem vielzitierten Aufsatz „Aristotle on Happiness“ urteilt An-
thony Kenny über das Ergon-Argument: „The surprising step in this ar-
gument is the identification of the good for man with the characteristic
activity of the good man“ (1977, 27). Wenn die hier angestellten Beo-
bachtungen zutreffen und wenn „good for“ nicht im Sinne von „vorteil-
haft“ verstanden werden muss, dann ist gerade diese Identifikation kein
„surprising step“. Sie würde vielmehr an den bereits in EN I 1 eingeführ-
ten teleologischen Ansatz zur Bestimmung des Guten anknüpfen. So wür-
de sich auch erklären, warum Aristoteles dem Zusammenhang zwischen
dem Guten und dem ergon so wenig Beachtung schenkt und sich stattdes-
sen auf die inhaltliche Bestimmung des menschlichen ergon konzentriert.
Folgt man der hier vorgeschlagenen Interpretation der Kapitel I 1-5,
dann fällt die Antwort auf (iv*) erstaunlich einfach aus. Das Ergon-
Argument hält am gütertheoretischen Rahmen der Kapitel I 1-5 fest, das
heißt Güter werden weiterhin als Ziele aufgefasst. In diesen Rahmen wird
allerdings eine neue „Gegenstandsklasse“ eingeführt; denn nun geht es um
Personengruppen, die als solche ein ergon haben. Dieser Schritt, das heißt
_____________
39 Unter dieser Voraussetzung ließe sich auch der Übergang zum „menschlichen Gut“
(anthrôpinon agathon), den die Konklusion des Ergon-Arguments vollzieht, sehr ein-
fach erklären. Das menschliche Gut ist das Gut „in Bezug auf den Menschen“, von
dem bereits in der ersten Prämisse die Rede ist.
3.2 Die gütertheoretische Perspektive 137
die Einführung einer neuen Klasse von Gegenständen, auf die sich das
Gute als Ziel beziehen lässt, ist jedoch ebenfalls kein „surprising step“. Er
knüpft vielmehr nahtlos an die Vorgehensweise der ersten Kapitel aus
EN I an, wo wir bereits einige dieser Gegenstandsklassen kennengelernt
haben, wie etwa Tätigkeiten (I 1), Personen in bestimmten Lebenssitua-
tionen (I 2) und Lebensformen (I 3). Die eigentliche „Aufgabe“ des Er-
gon-Arguments besteht zum einen in dem Nachweis, dass der Mensch zu
der relevanten Gegenstandsklasse gehört, das heißt dass er ein spezifisches
ergon hat, und zum anderen in der Bestimmung dieses menschlichen er-
gon. Sehr vereinfacht gesprochen wird in EN I 6 also einer der zahllosen
analogen Fälle herausgegriffen und einer genaueren Betrachtung unterzo-
gen. Die einfache Antwort auf (iv*) lautet damit: Das „menschliche Gut“
ist deshalb eine genauere Bestimmung des gesuchten (höchsten) Guts, weil
es einen der Fälle bildet, die mit Hilfe des teleologischen Ansatzes identifi-
ziert werden können.
Auf diese Weise erhalten wir auch eine Antwort auf (iii*), das heißt
auf die Frage, wie sich das höchste Gut innerhalb des gewählten Ansatzes
überhaupt bestimmen lässt. Innerhalb des gewählten teleologischen Ansat-
zes lässt sich das höchste Gut nur dadurch genauer bestimmen, dass man
den entscheidenden Einzelfall betrachtet. Und wie wir in 2.3.3 und 2.4
gesehen haben, scheint dies tatsächlich die einzige Möglichkeit zu sein, die
eine Gemeinsamkeit „der Analogie nach“ bietet. Neben der Angabe der
strukturellen Identität bleibt nur eine Untersuchung der einzelnen Fälle.
Entgegen unserer prima facie-Erwartung führt das Ergon-Argument also
kein Konzept des „absolut Guten“ ein, das dem „Guten in Relation zu“
gegenübergestellt würde – es greift vielmehr eines der relativen Güter her-
aus. 40 Aus gütertheoretischer Perspektive ist die Funktion des Ergon-
Arguments damit im Wesentlichen beschrieben.
_____________
40 Die weiter oben geäußerte These, dass Aristoteles keinen Glücksrelativismus vertritt,
ist also streng genommen falsch. Tatsächlich geht es Aristoteles um das Glück bezie-
hungsweise das Gute in Bezug auf den Menschen. Auch der Aristotelische Terminus
des agathon haplôs, also des „Guten schlechthin“, darf nicht im hier vorgestellten Sinn
eines „absolut Guten“ verstanden werden. Wenn Aristoteles behauptet, schlechthin
gut für den Körper sei das, was für den gesunden (im Gegensatz zum kranken) Körper
zuträglich ist (ijո Ȟպȟ ȗոȢ ij ՙȗțįտȟȡȟijտ ĴįȞıȟ IJօȞįijț IJȤȞĴջȢȡȟijį ԑʍȝȣ ıՂȟįț
IJօȞįijț ԐȗįȚչ, ijո İպ ij ȜչȞȟȡȟijț ȡ՜: EE VIII 2, 1235b33-34), dann spricht er im-
mer noch von einem Gut in Bezug auf den Körper.
138 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)
Ein Einwand
Im vorigen Abschnitt wurde eine Frage formuliert, die sich aus zwei einfa-
chen Beobachtungen zum Text des Ergon-Arguments ergibt und der sich
daher jede Interpretation dieses Arguments zu stellen hat: Inwiefern kann
das menschliche Gut als genauere Bestimmung des gesuchten höchsten
Guts verstanden werden? Es wurde gezeigt, dass die gütertheoretische
Perspektive eine ebenfalls einfache Antwort auf diese Frage ermöglicht.
Das menschliche Gut kann als genauere Bestimmung des gesuchten
höchsten Guts verstanden werden, weil es eines der (höchsten) Ziele ist,
die gemäß dem in I 1 entworfenen teleologischen Ansatz (höchste) Güter
darstellen. Wie wir gesehen haben, liegt hierin auch die Lösung des ent-
scheidenden Problems, das der teleologische Ansatz aufwirft, nämlich des
Problems, wie man auf der Basis dieses Ansatzes überhaupt ein höchstes
Gut bestimmen kann. Die Lösung lautet: Man muss eines der relativen
höchsten Güter herausgreifen. Der offensichtliche Vorteil gegenüber der
in 3.1 vorgestellten Perspektive des PsE besteht darin, dass wir nun nicht
mehr von einer argumentativen Lücke zwischen den Kapiteln I 5 und I 6
ausgehen müssen, sondern – im Gegenteil – das Ergon-Argument als Re-
aktion auf die vorausgehende Untersuchung begreifen können.
Um das Bild weiter auszumalen und den Zusammenhang zwischen
EN I 1-5 und EN I 6-9 noch deutlicher zu machen, möchte ich mich im
Folgenden mit einem wichtigen Einwand auseinandersetzen. Nach diesem
Einwand könnte man zwar zugestehen, dass I 6 durch I 1 vorbereitet wird,
indem in beiden Kapiteln vom ergon als etwas Gutem die Rede ist. Außer-
dem könnte man zugestehen, dass der Dativ in P 1 die Relation zwischen
ergon und Gegenstand bezeichnet und nicht die Vorteilhaftigkeit der Er-
füllung des ergon. Zugleich müsse man aber darauf hinweisen, dass ent-
scheidende Aspekte des Ergon-Arguments in der vorgeschlagenen Inter-
pretation ausgeblendet würden. Zum einen tauche die
naturphilosophische Theorie, auf die das Ergon-Argument verweise, in der
vorgestellten Deutung nicht auf. Zum anderen werde der Hinweis, dass
derjenige, der sein ergon gut (ı՞) erfüllt, ein vortrefflicher Mensch ist,
nicht berücksichtigt. Es möge daher zwar zulässig sein, das Ergon-
Argument auf Aufgabe (iii*) zu beziehen. Es sei jedoch unzulässig, die
wesentliche Funktion des Ergon-Arguments in der Lösung dieser Aufgabe
zu sehen. Die Bedeutung des Textabschnitts würde dadurch viel zu weit
heruntergespielt. Deshalb könne auch nicht behauptet werden, dass die
hier vorgestellte Sicht auf EN I 1-5 eine angemessenere Deutung des Er-
gon-Arguments ermöglicht als etwa die auf dem PsE basierende Sicht.
Die Entgegnung auf diesen Einwand liegt in einer Umkehr der Be-
weislast. Mit Blick auf den Argumentationsgang in EN I 6 müsste nach
3.2 Die gütertheoretische Perspektive 139
_____________
41 Die ausführliche Behandlung der einzelne Gewebe und Organe in Part. an. II-IV
bietet hierfür zahllose Beispiele.
42 Vgl. zu diesem Zusammenhang Müller (2006b, Kap. II.6) mit den entsprechenden
Stellenverweisen.
140 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)
Zunächst wird die These, dass es Gegenstände gibt, die „als solche“ ein
ergon haben, nicht durch den Verweis auf natürliche Arten eingeführt,
sondern am Beispiel der Vertreter „herstellender“ Berufe. 43 (Der Ausdruck
„Natur“ [ĴփIJțȣ], taucht im Kontext des Ergon-Arguments nur in einer
Randbemerkung auf: 1097b30.) Auch der Gedanke, dass der Mensch ein
spezifisches ergon aufweist, wird nicht unter Rekurs auf naturphilosophi-
sche Vorannahmen eingeführt. Er wird vielmehr anhand einfacherer Bei-
spiele plausibel gemacht (1097b28-33). Zu diesen Beispielen zählen wie-
derum nicht natürliche Arten, sondern Handwerker und Körperteile, also
Gegenstände, bei denen offensichtlich ist, dass sie eine eigentümliche Leis-
tung besitzen.
Die These, dass die Erfüllung des ergon etwas Gutes „für x“ ist, lässt
sich, wie erläutert, auf der Basis der in I 1-5 umrissenen Gütertheorie er-
klären. Selbst wenn es eine naturphilosophische Theorie geben sollte, die
einen Zusammenhang zwischen der Erfüllung des ergon und dem für den
Menschen Guten herstellt, 44 gibt es keinen Grund, diese Theorie für die
Interpretation von EN I 6 heranzuziehen. Dies gilt vor allem dann, wenn
die erste der drei erwähnten Beobachtungen zum Text des Ergon-
Arguments zutrifft, wenn also das Ergon-Argument eine Fortsetzung der
bisherigen Untersuchung darstellen soll. Im Kontext von EN I scheint die
Erfüllung des ergon nicht deshalb etwas Gutes „für x“ zu sein, weil es der
Natur von x entspricht, dieses ergon zu erfüllen. Sie ist vielmehr deshalb
etwas Gutes (in Bezug auf x), weil dadurch ein Ziel (das Ziel von x) er-
reicht wird. Im Ergon-Argument der Eudemischen Ethik wird dieser Ge-
danke sogar explizit ausgesprochen:
Und wie sich die Dispositionen zueinander verhalten, so sollen sich auch die von
ihnen herstammenden erga zueinander verhalten. Und das Ziel jedes Einzelnen ist
das ergon. Aus diesem ist also offensichtlich, dass das ergon besser ist als die Dispo-
sition. Denn das Ziel ist, da es Ziel ist, das Beste. Es wurde nämlich zugrunde ge-
legt, dass das Ziel, das heißt das Letzte, worumwillen alles andere (gewählt wird),
das Beste ist. Dass also das ergon besser ist als die Disposition und der Zustand, ist
offensichtlich. 45 (II 1, 1219a6-12)
_____________
43 Hierin liegt eine grundlegende Schwäche des in 3.1 erwähnten Ansatzes von Jennifer
Whiting. Whiting muss die von Aristoteles eingeführte Analogie zwischen den Ange-
hörigen bestimmter Berufsgruppen und dem Menschen einschränken, da sie nur im
Fall natürlicher Arten einen Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit von x zu ei-
ner Art F und dem Gut für x sieht (1988, 35-37). Für eine solche Einschränkung gibt
es im Rahmen von EN I 6 aber keinen Anhaltspunkt.
44 Auf einen möglichen Einwand gegen die Annahme einer solchen Theorie wurde
bereits hingewiesen (s.o., S. 122f., FN 20).
45 Ȝįվ թȣ ԤȥȡȤIJțȟ įԽ ԥȠıțȣ ʍȢրȣ Ԑȝȝȓȝįȣ, ȡ՝ijȧ Ȝįվ ijո ԤȢȗį ijո Ԑʍր ijȡȫijȧȟ ʍȢրȣ
Ԕȝȝșȝį ԚȥȒijȧ. Ȝįվ ijȒȝȡȣ ԛȜȑIJijȡȤ ijր ԤȢȗȡȟ. — ĴįȟıȢրȟ ijȡȔȟȤȟ ԚȜ ijȡȫijȧȟ Ցijț
ȖȒȝijțȡȟ ijր ԤȢȗȡȟ ij׆ȣ ԥȠıȧȣ· ijր ȗոȢ ijȒȝȡȣ ԔȢțIJijȡȟ թȣ ijȒȝȡȣ· ՙʍȪȜıțijįț ȗոȢ ijȒȝȡȣ ijր
3.2 Die gütertheoretische Perspektive 141
_____________
ȖȒȝijțIJijȡȟ Ȝįվ ijր ԤIJȥįijȡȟ, ȡ՟ ԥȟıȜį ijԖȝȝį ʍȑȟijį. Ցijț Ȟպȟ ijȡȔȟȤȟ ijր ԤȢȗȡȟ ȖȒȝijțȡȟ
ij׆ȣ ԥȠıȧȣ Ȝįվ ij׆ȣ İțįȚȒIJıȧȣ, İ׆ȝȡȟ.
46 ıԼ İ’ ԚIJijվȟ ԤȢȗȡȟ ԐȟȚȢȬʍȡȤ ȦȤȥ׆ȣ ԚȟȒȢȗıțį Ȝįijո ȝȪȗȡȟ Ԯ Ȟռ ԔȟıȤ ȝȪȗȡȤ, ijր İ’
įijȪ ĴįȞıȟ ԤȢȗȡȟ ıՂȟįț ij ȗȒȟıț ijȡףİı Ȝįվ ijȡףİı IJʍȡȤİįȔȡȤ, խIJʍıȢ ȜțȚįȢțIJijȡף
Ȝįվ IJʍȡȤİįȔȡȤ ȜțȚįȢțIJijȡף, Ȝįվ ԑʍȝȣ İռ ijȡףij’ Ԛʍվ ʍȑȟijȧȟ, ʍȢȡIJijțȚıȞȒȟșȣ ij׆ȣ
Ȝįijո ijռȟ ԐȢıijռȟ ՙʍıȢȡȥ׆ȣ ʍȢրȣ ijր ԤȢȗȡȟ· ȜțȚįȢțIJijȡ ףȞպȟ ȗոȢ ȜțȚįȢȔȘıțȟ,
IJʍȡȤİįȔȡȤ İպ ijր ı՞· ıԼ İ’ ȡ՝ijȧȣ [...].
47 Ein „menschliches Gut“ ließe sich bereits auf der Basis der Prämissen P 1 und P 2
bestimmen.
142 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)
_____________
48 Dass EN I eher auf einer Psychologie des Commonsense aufbaut als auf den psycho-
logischen Schriften des Aristoteles, wird in der Forschung immer wieder hervorgeho-
ben. Vgl. z.B. Cooper (1975, 69f. und 147).
49 Damit soll nicht behauptet werden, dass das Ergon-Argument völlig voraussetzungslos
ist. Tatsächlich stellen bereits die Thesen, dass sich die menschliche Entwicklung te-
leologisch beschreiben lässt und dass das „Ziel“ der menschlichen Entwicklung in der
Ausübung eines spezifisch menschlichen ergon besteht, Voraussetzungen dar, die
durchaus als „naturphilosophisch“ bezeichnet werden können. Die „evaluativen“ Be-
standteile des Ergon-Arguments, also die Thesen, dass es „für den Menschen gut“ ist,
sein ergon möglichst gut zu erfüllen, und dass hierin letztlich das menschliche Glück
besteht, lassen sich m.E. jedoch unter Rekurs auf EN I selbst begründen. Sie basieren
nicht auf naturphilosophischen Hintergrundannahmen.
3.2 Die gütertheoretische Perspektive 143
Eine Frage ist allerdings noch offen geblieben. Nach der vorliegenden
Interpretation dient das Ergon-Argument im Wesentlichen dazu, aus einer
Reihe analoger Fälle einen herauszugreifen und vorzustellen. Wie aber
kann gezeigt werden, dass dieser Fall der richtige ist? Worauf basiert die
Annahme, dass das menschliche Gut, das zweifellos ein höchstes Gut ist,
das entscheidende höchste Gut ist? Auf der Basis der Gleichsetzung zwi-
schen dem Guten und dem Erstrebten kann diese Frage nicht beantwortet
werden; denn qua höchstes Ziel unterscheidet sich das ergon des Menschen
nicht von anderen erga wie etwa dem des Schusters. Es ist einfach „ein
anderes bei einem anderen“ (allo en allôi). Müssen wir also davon ausge-
hen, dass mit der Wahl des menschlichen Guts doch naturalistische Zu-
satzprämissen ins Spiel kommen?
Zunächst sei darauf hingewiesen, dass jede Interpretation des Ergon-
Arguments sich dieser Frage stellen muss. Auch wenn man zum Beispiel
davon ausgeht, dass das Ergon-Argument die Vorteilhaftigkeit der Tugend
beweist, müsste man zeigen, wieso das, was für den Menschen qua Men-
schen vorteilhaft ist, „entscheidend“ sein soll. Genauso gut könnten Vor-
teile ins Feld geführt werden, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer be-
stimmten sozialen Schicht, einem Geschlecht oder einer Altersgruppe
ergeben. Die anthropologische Perspektive müsste also in jedem Fall be-
gründet werden.
Dass Aristoteles die Zugehörigkeit zur einer natürlichen Art für die re-
levante Perspektive hält, mag durchaus mit naturalistischen Überzeugun-
gen zusammenhängen. Bei näherer Betrachtung des Textes ergibt sich
jedoch das gleiche Bild wie im Fall einer naturalistischen Theorie des
menschlichen Glücks. Selbst wenn es gute Gründe dafür geben sollte,
Aristoteles eine Form des Naturalismus zuzusprechen: die konkrete Argu-
144 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)
_____________
50 Vgl. die Interpretation von Müller (2006a).
51 Allerdings bringt Aristoteles den Ausdruck anthrôpinon in EE I 7, anders als in EN I
6, mit dem in Verbindung, was durch menschliches Handeln zu verwirklichen ist (ijո
ԐȟȚȢօʍ ʍȢįȜijչ) (1217a29-40).
3.3 Fazit 145
3.3 Fazit
Im diesem Kapitel wurde die gütertheoretische Lektüre des ersten Buches
der Nikomachischen Ethik einer Lektüre gegenübergestellt, die von der
Annahme des PsE ausgeht. Es sollte gezeigt werden, dass die Argumenta-
tion der Kapitel I 6-9 sich aus gütertheoretischer Perspektive wesentlich
leichter erklären lässt als aus der Perspektive des PsE. Die Kapitel I 6-9
beantworten jene Fragen, die wir als Fazit unserer Interpretation von EN
I 1-5 aufgeworfen hatten und die unmittelbar mit dem teleologischen
Ansatz zur Bestimmung des Guten zusammenhängen: Wie lässt sich der
Relativismus der als Ziele bestimmten Güter überwinden? Wie können
_____________
52 Vgl. zu dieser Debatte Müller (2006a, 6-8) mit den entsprechenden Literatur-
hinweisen.
146 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)
_____________
53 Vgl. als besonders klares Beispiel einer solchen Sicht die bereits erwähnte Darstellung
von Ernst Tugendhat (41997, Kap. 12).
3.3 Fazit 147
_____________
6 Die Seitenangaben zur Grundlegung (GMS, 1785) und zur Kritik der praktischen
Vernunft (KpV, 1788) orientieren sich, wie üblich, an der Kant-Ausgabe der Preußi-
schen Akademie der Wissenschaften.
7 Problematisch erscheint unter anderem die Verknüpfung des modallogischen Begriffs
der „Notwendigkeit“ mit dem epistemologischen Begriff der „Apriorität“. Vgl. Scara-
no (2006).
4.1 Zur Frage „Warum moralisch sein?“ 153
logen Gorgias und Politeia begegnet. 10 Stark vereinfacht lässt sich dieser
Amoralist als eine Person beschreiben, die konsequent aus Eigeninteresse
handelt. Seine „Herausforderung“ an die philosophische Ethik besteht in
der Frage, warum er das tun sollte, was (moralisch) richtig ist, wenn es
zum Beispiel doch vorteilhafter sein könnte, (moralisch) richtiges Verhal-
ten nur vorzutäuschen. Die im Glücksargument zusammengefasste, „anti-
ke“ Antwort lautet, wiederum stark vereinfacht, dass nur moralisch richti-
ges Verhalten, das heißt nur die Ausbildung und Ausübung menschlicher
Tugenden, ein glückliches Leben ermöglicht.
_____________
10 Um die Figur des Amoralisten (vgl. etwa Williams 1976, Kap. 1) gibt es eine intensive
Forschungsdebatte, die sich vor allem um die Frage dreht, ob sich dessen Position
überhaupt konsistent vertreten lässt. Diese Debatte soll im Folgenden allerdings keine
Rolle spielen. Hier genügt die Charakterisierung des Amoralisten als einer Person, die
weder eine „moral-skeptische“ noch eine „immoralistische“ Position vertritt (die also
nicht das Unmoralische um des Unmoralischen willen tut), sondern die Moral aus-
schließlich unter dem Gesichtspunkt des Eigeninteresses betrachtet. Vgl. Bayertz
(2006, 22-24).
11 Die Frage, was genau als ein (rechtfertigender oder erklärender) Grund und was als
ein Motiv für eine Handlung zu gelten hat, ist in der Handlungstheorie sehr umstrit-
ten. Abhängig von den jeweiligen Hintergrundannahmen erhalten die Begriffe eine
jeweils andere Bedeutung (vgl. für ein Beispiel Smith 1994, 94-98). Ich hoffe aber,
dass der Grundgedanke meiner Rekonstruktion auch unabhängig von diesen termino-
logischen Schwierigkeiten nachvollziehbar ist.
156 4. Konsequenzen der Interpretation
Versuchen wir, diesen Punkt noch etwas genauer zu fassen. Wie auch
immer die Frage „Warum moralisch sein?“ im Einzelnen zu verstehen ist:
es kann bei ihr sicher nicht darum gehen, einen beliebigen Grund zu nen-
nen, der dafür spricht, das moralisch Richtige zu tun. Vielmehr sollte es
sich um einen Grund handeln, der prinzipiell in der Lage ist, uns zu mora-
lischem Handeln zu veranlassen. Denn andernfalls wäre nicht klar, worin
überhaupt die Relevanz der Antwort liegen sollte. (Dies ist die angekün-
digte notwendige Ergänzung unserer vorläufigen Bestimmung der Frage,
warum wir moralisch sein sollen.) Am Beispiel des Amoralisten lässt sich
diese Forderung sehr einfach veranschaulichen. Wie wir gesehen haben,
wird der Amoralist als eine Person vorgestellt, die konsequent aus Eigen-
interesse handelt. Diese Eigenschaft kann so aufgefasst werden, dass der
Amoralist nur durch eine bestimmte Art von Gründen zum Handeln mo-
tiviert wird, nämlich nur durch solche Gründe, die auf sein Eigeninteresse
Bezug nehmen. Eine Antwort auf die Herausforderung des Amoralisten
muss sich daher in irgendeiner Weise auf Gründe genau dieser Art bezie-
hen. Andernfalls wäre sie unter den Bedingungen des Gedankenexperi-
ments nicht relevant (wodurch natürlich nicht ausgeschlossen ist, dass
diese Bedingungen ihrerseits kritisiert werden können).
Der Grund, der gemäß der eudaimonistischen Antwort dafür spricht,
das moralisch Richtige zu tun, soll also dem Anspruch nach in der Lage
sein, zu moralischem Handeln zu motivieren. Die (moral-)psychologische
Grundlage dieses Anspruchs ist wieder in beiden Beispielen, das heißt
beim „kantischen Eudaimonisten“ und bei dem „antiken Eudaimonisten“
des Glücksarguments, die gleiche. Indem sie eine Verbindung zwischen
Moral und Glück herstellen, behaupten beide an das anzuknüpfen, was
von den Handelnden erstrebt wird. In den Worten Kants: „Glücklich zu
sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen We-
sens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungs-
vermögens“ (KpV V 25). Und in den Worten des Glücksarguments: „Alle
Menschen streben (notwendigerweise) nach Glück.“ Wer das moralisch
Richtige tut, erhält also auf eine näher zu bestimmende Weise das, was er
erstrebt. Genau hierin liegt die psychologische Pointe der eudaimonisti-
schen Strategie zur Beantwortung der Frage „Warum moralisch sein?“.
Und zumindest auf den ersten Blick liegt hierin auch ihre Attraktivität.
Zwischen dem „kantischen Eudaimonisten“ und dem Eudaimonisten
des Glücksarguments bestehen also Gemeinsamkeiten, die es ermöglichen,
von der eudaimonistischen Antwort auf die Frage, warum wir moralisch
sein sollen, zu sprechen. Abgesehen von diesen Gemeinsamkeiten gibt es
aber auch einen wichtigen Unterschied. Dieser Unterschied hat erhebliche
Auswirkungen darauf, wie die eudaimonistische Antwort jeweils auszu-
buchstabieren ist.
4.1 Zur Frage „Warum moralisch sein?“ 157
Beginnen wir, indem wir uns zunächst Kants Konzeption der Glück-
seligkeit vor Augen führen. Zwei Eigenschaften dieser Konzeption dürften
in der oben entworfenen Skizze hervorgetreten sein. Zum einen ist Kants
Begriff der Glückseligkeit offenbar hedonistisch. Glückseligkeit wird ver-
standen als „Annehmlichkeit des Lebens“ (KpV V 22), das heißt als ein
Zustand der „Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein“ (V 25). Zum
anderen ist Kants Begriff der Glückseligkeit offenbar formal. Welche Ge-
genstände einem vernünftigen Wesen Zufriedenheit verschaffen, wird
durch diesen Begriff nicht festgelegt (vgl. GMS IV 418). Vielmehr ist
Glückseligkeit nach Kant
doch nur der allgemeine Titel der subjektiven Bestimmungsgründe und bestimmt
nichts spezifisch [...]. Worin nämlich jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe,
kommt auf jedes sein besonderes Gefühl der Lust und Unlust an, und selbst in
einemunddemselben Subjekt auf die Verschiedenheit des Bedürfnisses nach den
Abänderungen dieses Gefühls (KpV V 25).
Die inhaltliche Bestimmung der Glückseligkeit hängt für Kant also letzt-
lich davon ab, wovon sich jemand (kontingenterweise) Lust verspricht und
was er faktisch erstrebt (GMS IV 418). Dies gilt sowohl, wenn sich die
erstrebten Gegenstände von Person zu Person unterscheiden, als auch,
wenn sie durch einen „Zufall“ konvergieren. Wenn also der „kantische
Eudaimonist“ einen Zusammenhang zwischen Moral und Glückseligkeit
herstellt, dann verknüpft er die Moral mit dem, was handelnde Personen
faktisch erstreben. Handlungstheoretisch gesehen erscheint dieser Ansatz –
vorausgesetzt, er ließe sich tatsächlich durchführen – ausgesprochen ein-
fach.
Kants Konzeption der Glückseligkeit unterscheidet sich durch die bei-
den genannten Eigenschaften grundlegend von dem, was zum Beispiel
Aristoteles unter eudaimonia versteht. Zwar begreift auch Aristoteles die
Lust (ԭİȡȟս) als Bestandteil der eudaimonia, sein Ansatz ist aber zweifellos
nicht „hedonistisch“. Denn für Aristoteles ist es nicht gleichgültig, welche
Gegenstände uns Lust verschaffen. Vielmehr geht nur die Lust an be-
stimmten Tätigkeiten in seine Glückskonzeption ein (vgl. EN I 9,
1099a7-21; VII 12, 1152b6-8). Außerdem nimmt Aristoteles an, dass eine
inhaltliche Bestimmung der eudaimonia durchaus möglich ist. Für ihn ist
Glück nicht eine Funktion unserer jeweils vorliegenden Wünsche und
Begierden, sondern etwas, dessen Gehalt sich „objektiv“ bestimmen lässt.
Und diese objektive Bestimmung beruht ihrerseits nicht auf einer zufälli-
gen Übereinstimmung der Meinungen und Wünsche, sondern setzt beim
Begriff eines spezifisch menschlichen ergon an.
Wenn diese Beobachtungen zutreffen, dann kann das Glücks-
argument – als Rekonstruktion einer „aristotelischen“ Position aufgefasst –
nicht so verstanden werden, dass wir durch moralisches Handeln das
158 4. Konsequenzen der Interpretation
erlangen, was wir faktisch erstreben. Denn faktisch gesehen erstreben die
Menschen durchaus Unterschiedliches (vgl. die bereits mehrmals zitierte
Passage EN I 2, 1095a20-25). Hierin liegt eine wesentliche Differenz
zwischen einem „kantischen“ und einem „aristotelischen“ Eudaimonisten.
Wie ist das Argument aber dann zu verstehen? Eine nahe liegende und
durchaus gängige Antwort auf diese Frage setzt beim Begriff des Erstrebten
an. Nach dieser Antwort behauptet ein „antiker Eudaimonist“ nicht, dass
durch tugendhaftes Handeln beliebige Wünsche in Erfüllung gehen. Er
behauptet vielmehr, dass wir durch tugendhaftes Handeln das erlangen,
was wir eigentlich erstreben oder was wir erstreben sollten. Die eudaimo-
nistische Antwort auf die Herausforderung des Amoralisten würde lauten,
dass Tugend unseren wahren Interessen dient:
Und schließlich [...] haben die antiken Autoren einen scharfen Unterschied zwi-
schen dem gemacht, was die Individuen für ihre Interessen halten, und dem, was
ihr Selbstinteresse tatsächlich ist. Einen Subjektivismus der Präferenzen wie ihn
die Moderne [...] überwiegend vertreten hat, wäre von ihnen als eine typische
Meinung der Vielen und daher als unphilosophisch zurückgewiesen worden. Für
sie gibt es über die faktischen Präferenzen der Individuen hinaus ein objektives,
seinem Inhalt nach weder kontingentes noch individuell radikal verschiedenes
Selbstinteresse. Es besteht in einem guten und gelingenden Leben. (Bayertz 2006,
179f.) 12
Was sich hinter dem Konzept der wahren Interessen genau verbirgt, ist
nicht leicht zu sagen. Schon auf den ersten Blick dürfte aber deutlich sein,
dass diese Variante der eudaimonistischen Antwort viel voraussetzungs-
reicher ist als die „kantische“. Einerseits sollen sich wahre Interessen näm-
lich radikal von dem unterscheiden können, was „Individuen für ihre In-
teressen halten“. Andererseits sollen sie aber auf eine vergleichbare Weise
in der Lage sein, uns zu bestimmten Handlungen zu motivieren. (Denn
andernfalls wäre nicht einzusehen, welchen Sinn der Verweis auf das Er-
strebte im Kontext der Frage „Warum moralisch sein?“ überhaupt haben
sollte.) Handlungstheoretisch gesehen erscheint dieser Ansatz – seine
Durchführbarkeit wiederum vorausgesetzt – also eher anspruchsvoll. 13
_____________
12 Vgl. hierzu Bernard Williams’ Ausführungen zur antiken Konzeption „wahrer Interes-
sen“ (1985, Kap. 3) sowie die von Julia Annas vertretene These, dass es in der antiken
Ethik keine strikte Trennung zwischen eigenem und fremdem Interesse gebe (1993,
Kap. 10 und 14).
13 M.E. ist es keineswegs ausgemacht, dass uns der Verweis auf unsere „wahren Interes-
sen“ auf eine leichter nachvollziehbare Weise zum Handeln motivieren kann als der
Verweis auf unsere moralischen Pflichten.
4.1 Zur Frage „Warum moralisch sein?“ 159
Um dieses Problem soll es hier aber nicht gehen. Vielmehr sind wir nun in
der Lage, die Auswirkungen der vorgelegten Interpretation von EN I ge-
nauer zu beschreiben. Wie verhält sich diese Interpretation zu dem von
Bayertz entworfenen Glücksargument? Die Antwort, die ausdrücklich
nicht auf Platon oder die antike Ethik „insgesamt“ übertragen werden
sollte, lässt sich in drei Thesen zusammenfassen: (i) Wenn die gütertheore-
tische Lektüre des ersten Buches der Nikomachischen Ethik Recht hat,
dann kann das Glücksargument aus prinzipiellen Gründen nicht als Re-
konstruktion einer Aristotelischen Auffassung beschrieben werden.
(ii) Der von Aristoteles hergestellte Zusammenhang zwischen Glück und
Tugend eignet sich nicht als Grundlage für eine eudaimonistische Antwort
auf die Frage „Warum moralisch sein?“. Genauer gesagt: Er eignet sich
nicht als Grundlage für eine Antwort, die die oben skizzierte Strategie
verfolgt. (iii) Der Verweis auf eine andere Konzeption von Eigeninteresse
trifft nicht den entscheidenden Unterschied zwischen dem „kantischen
Eudaimonisten“ und Aristoteles.
Dass diese drei Thesen mit der in Kapitel 3 vorgenommenen Zurück-
weisung des Psychologischen Eudaimonismus zu tun haben, dürfte kaum
überraschen. Der Zusammenhang lässt sich folgendermaßen umreißen:
Wenn die eudaimonistische Strategie zur Beantwortung der Frage „Wa-
rum moralisch sein?“ Aussicht auf Erfolg haben soll, dann muss die erste
Prämisse des Glücksarguments „psychologisch“ aufgefasst werden. In einer
näher zu bestimmenden Weise muss hier von dem die Rede sein, was
handelnde Personen in ihren Handlungen erstreben. Dies gilt auch dann,
wenn sich die Rede vom Erstrebten nicht auf unsere kontingenten fakti-
schen Wünsche bezieht, sondern auf das, was wir „eigentlich“ erstreben
oder was wir erstreben sollten. Hierin liegt, wie erwähnt, die Pointe und
auf den ersten Blick auch die Attraktivität der eudaimonistischen Antwort.
Dass wir in unseren konkreten Handlungen nach Glück streben, ist je-
doch genau die Auffassung des Psychologischen Eudaimonismus, gegen
den in den Abschnitten 3.1 und 3.2 argumentiert worden ist.
Folgt man dagegen der in dieser Arbeit vorgeschlagenen Interpreta-
tion, dann stellt die These, dass die eudaimonia ein höchstes Ziel ist, keine
psychologische oder handlungstheoretische, sondern eine primär güter-
theoretische Aussage dar (vgl. 3.2). Diese Aussage sagt etwas darüber, was
es bedeutet, dass die eudaimonia das höchste Gut ist. Sie gibt den teleolo-
gischen Rahmen vor, innerhalb dessen die Bestimmung der eudaimonia
erfolgt. Sie betrifft aber nicht die Frage, was Handelnde dazu motiviert,
etwas Bestimmtes zu tun. Nur so lässt sich nach meiner Auffassung das
160 4. Konsequenzen der Interpretation
_____________
15 Dies bedeutet natürlich nicht, dass diese Konzeption insgesamt unproblematisch wäre.
So scheint mir zum Beispiel der gängige Elitarismus-Vorwurf gegen Aristoteles durch-
aus berechtigt. Gerade weil er seiner Definition bestimmte Glücksgüter hinzufügt,
scheint die vollendete eudaimonia nur für diejenigen erreichbar zu sein, die unter be-
sonders begünstigten Bedingungen aufwachsen.
4.2 Zur Frage „Was soll ich tun?“ 163
_____________
16 Vgl. für eine Einführung in die gegenwärtige Tugendethik Crisp/Slote (1997), Stat-
man (1997), Rippe/Schaber (1998); und für einen einflussreichen tugendethischen
Ansatz, der sich explizit als „aristotelisch“ begreift, Hursthouse (1999).
17 Diese beiden Varianten entsprechen Michael Slotes Unterscheidung zwischen „agent-
focused“ und „agent-based virtue ethics“ (1995/1997).
164 4. Konsequenzen der Interpretation
sonnene Weise getan, wenn es selbst sich auf eine bestimmte Weise verhält, son-
dern wenn auch der Handelnde in einer bestimmten Verfassung handelt: wenn er
erstens wissend, zweitens aufgrund einer Entscheidung, und zwar aufgrund einer
Entscheidung um der Sache selbst willen, und drittens in einer festen und unbe-
irrbaren Verfassung handelt. 19 (II 3, 1105a28-33)
Auch der in T ausgedrückte Gedanke einer begrifflichen Hierarchie findet
sich in vergleichbarer Form in der Ethik des Aristoteles. Aristoteles be-
hauptet, dass die „Mitte“ (ȞıIJցijșȣ), die das tugendhafte Verhalten kenn-
zeichnet, so ist, wie sie der „Weise“ oder „Kluge“ (phronimos) bestimmen
würde (hôs an ho phronimos horiseien: II 6, 1107a1-2). Mutatis mutandis
lässt sich diese Formulierung durchaus so verstehen, dass eine Handlung
genau dann moralisch richtig ist, wenn sich ein phronimos dafür entschei-
den würde. Dass an dieser Stelle nicht vom Tugendhaften (spoudaios),
sondern vom phronimos die Rede ist, spielt dabei keine Rolle. Denn ers-
tens bedingen sich ethische Tugend und phronêsis (Klugheit) wechselseitig
(vgl. EN VI 13, v.a. 1144a36-b1; b30-32); zweitens geht es mit Blick auf
die Akteurszentrierung darum, dass auf das Urteil einer Person verwiesen
wird anstatt zum Beispiel auf die Anwendung einer bestimmten Regel.
Außerdem ist zu bemerken, dass auch bei Aristoteles die Akteurszen-
trierung mit einer Fokussierung der Handlungssituation einherzugehen
scheint. Zum einen zeigt Aristoteles eine generelle Skepsis gegenüber all-
gemeinen Regeln in Bezug auf richtiges Handeln. Was in einer konkreten
Situation zu tun ist, muss vom Handelnden selbst bedacht werden:
Es soll aber von vorneherein Einigkeit darüber bestehen, dass alles, was über das
Handeln gesagt wird, nur im Umriss und nicht mit Genauigkeit gesagt werden
darf [...]. Im Bereich der Handlungen und des Nützlichen gibt es nichts Stabiles
wie auch nicht im Bereich des Gesunden. Wenn sich aber die allgemeinen Aussa-
gen so verhalten, dann werden die Aussagen über das Einzelne erst recht keine
Genauigkeit aufweisen. Denn sie fallen weder unter eine Kunst noch unter ir-
gendeine Vorschrift, sondern stets müssen die Handelnden selbst die Umstände
bedenken, wie es sich auch in der Heilkunst und in der Steuermannskunst ver-
hält. 20 (II 2, 1103b34-1104a10)
_____________
19 ijո İպ Ȝįijո ijոȣ ԐȢıijոȣ ȗțȟցȞıȟį ȡȜ Ԛոȟ įijչ ʍȧȣ Ԥȥׄ, İțȜįտȧȣ Ԯ IJȧĴȢցȟȧȣ
ʍȢչijijıijįț, Ԑȝȝո Ȝįվ Ԛոȟ Ս ʍȢչijijȧȟ ʍȣ Ԥȥȧȟ ʍȢչijijׄ, ʍȢijȡȟ Ȟպȟ Ԛոȟ ıԼİօȣ, Ԥʍıțij’
Ԛոȟ ʍȢȡįțȢȡփȞıȟȡȣ, Ȝįվ ʍȢȡįțȢȡփȞıȟȡȣ İț’ įijչ, ijր İպ ijȢտijȡȟ Ԛոȟ Ȝįվ ȖıȖįտȧȣ Ȝįվ
ԐȞıijįȜțȟսijȧȣ Ԥȥȧȟ ʍȢչijijׄ.
20 ԚȜıהȟȡ İպ ʍȢȡİțȡȞȡȝȡȗıտIJȚȧ, Ցijț ʍֻȣ Ս ʍıȢվ ijȟ ʍȢįȜijȟ ȝցȗȡȣ ijփʍ Ȝįվ ȡȜ
ԐȜȢțȖȣ ՌĴıտȝıț ȝջȗıIJȚįț [...]ǝ ijո İ’ Ԛȟ ijįהȣ ʍȢչȠıIJț Ȝįվ ijո IJȤȞĴջȢȡȟijį ȡİպȟ
ԛIJijșȜրȣ Ԥȥıț, խIJʍıȢ ȡİպ ijո ՙȗțıțȟչ. ijȡțȡփijȡȤ İ’ Րȟijȡȣ ijȡ ףȜįȚցȝȡȤ ȝցȗȡȤ, Ԥijț
Ȟֻȝȝȡȟ Ս ʍıȢվ ijȟ ȜįȚ’ ԥȜįIJijį ȝցȗȡȣ ȡȜ Ԥȥıț ijԐȜȢțȖջȣǝ ȡ՜ijı ȗոȢ ՙʍր ijջȥȟșȟ
ȡ՜Ț’ ՙʍր ʍįȢįȗȗıȝտįȟ ȡİıȞտįȟ ʍտʍijıț, İı הİ’ įijȡւȣ Ԑıվ ijȡւȣ ʍȢչijijȡȟijįȣ ijո ʍȢրȣ
ijրȟ ȜįțȢրȟ IJȜȡʍıהȟ, խIJʍıȢ Ȝįվ Ԛʍվ ij׆ȣ ԼįijȢțȜ׆ȣ Ԥȥıț Ȝįվ ij׆ȣ ȜȤȖıȢȟșijțȜ׆ȣ.
168 4. Konsequenzen der Interpretation
Zum anderen wird die intellektuelle Tugend der phronêsis explizit auf den
Einzelfall bezogen. Wer ein phronimos ist, weiß, was in einer konkreten
Situation zu tun ist (VI 7, 1141a22-26; VI 12). Unter anderem dadurch
unterscheidet sich die Tugend der phronêsis von der der sophia (Weisheit),
die ein Wissen von allgemeinen und notwendigen Wahrheiten darstellt
(VI 7, 1141a17-20 mit VI 3, 1139b18-21).
Interessant ist nun, dass sich auch die beiden erwähnten Probleme ei-
ner akteurszentrierten Ethik auf der Basis des Aristotelischen Textes for-
mulieren lassen. Es sind Probleme, die sich bei der Interpretation dieses
Textes stellen.
Erstens scheint Aristoteles von der Existenz per se schlechter Handlun-
gen auszugehen, womit die Voraussetzungen für das erste Problem gege-
ben wären:
Einige (Handlungen und Leidenschaften) sind nämlich gleich so benannt wor-
den, dass sie mit der Schlechtigkeit verbunden sind, zum Beispiel Schadenfreude,
Schamlosigkeit, Neid und bei den Handlungen Ehebruch, Diebstahl, Mord.
Denn all dieses und Derartiges wird deshalb (schlecht) genannt, weil es selbst
schlecht ist, und nicht sein Übermaß oder Mangel. Es ist also niemals möglich, in
Bezug auf diese Dinge richtig zu handeln, sondern (man wird) stets (das Richtige)
verfehlen. 21 (II 6, 1107a9-15)
Zweitens ist es schwierig, eine Bestimmung des Tugendhaften zu gewin-
nen, die nicht auf dessen (moralisch) richtiges „Verhalten“ (um einen
möglichst weiten Begriff zu wählen) zurückgreift. Besonders aufschluss-
reich ist in diesem Zusammenhang eine vielzitierte Passage aus EN III 6:
Der Tugendhafte beurteilt nämlich jedes Einzelne richtig und in jedem Einzelnen
erscheint ihm das Wahre; denn bei jeder einzelnen Haltung gibt es (dafür) eigen-
tümliches Edles und Lustvolles, und vielleicht zeichnet sich der Tugendhafte am
meisten dadurch aus, dass er im Einzelnen das Wahre sieht, als wäre er eine
Richtschnur und ein Maß für diese Dinge. 22 (1113a29-33)
Indem Aristoteles hier den Tugendhaften (spoudaios) einerseits als Richt-
schnur (kanôn) und Maß (metron) des in Wahrheit Guten bezeichnet,
andererseits aber den Tugendhaften als denjenigen bestimmt, der das im
Einzelfall Wahre sieht, scheint er in genau den Zirkel zu geraten, von dem
_____________
21 Ԥȟțį ȗոȢ ıȚւȣ ըȟցȞįIJijįț IJȤȟıțȝșȞȞջȟį Ȟıijո ij׆ȣ ĴįȤȝցijșijȡȣ, ȡՃȡȟ ԚʍțȥįțȢıȜįȜտį
ԐȟįțIJȥȤȟijտį ĴȚցȟȡȣ, Ȝįվ Ԛʍվ ijȟ ʍȢչȠıȧȟ Ȟȡțȥıտį Ȝȝȡʍռ ԐȟİȢȡĴȡȟտįǝ ʍչȟijį ȗոȢ
ijįףijį Ȝįվ ijո ijȡțįףijį ȝջȗıijįț ij įijո Ĵįףȝį ıՂȟįț, Ԑȝȝ’ ȡȥ įԽ ՙʍıȢȖȡȝįվ įijȟ
ȡİ’ įԽ ԚȝȝıտȦıțȣ. ȡȜ ԤIJijțȟ ȡ՞ȟ ȡİջʍȡijı ʍıȢվ įijո ȜįijȡȢȚȡףȟ, Ԑȝȝ’ Ԑıվ
ԑȞįȢijչȟıțȟ.
22 Ս IJʍȡȤİįהȡȣ ȗոȢ ԥȜįIJijį ȜȢտȟıț ՌȢȚȣ, Ȝįվ Ԛȟ ԛȜչIJijȡțȣ ijԐȝșȚպȣ įij Ĵįտȟıijįț.
ȜįȚ’ ԛȜչIJijșȟ ȗոȢ ԥȠțȟ Հİțչ ԚIJijț Ȝįȝո Ȝįվ ԭİջį, Ȝįվ İțįĴջȢıț ʍȝıהIJijȡȟ ՀIJȧȣ Ս
IJʍȡȤİįהȡȣ ij ijԐȝșȚպȣ Ԛȟ ԛȜչIJijȡțȣ ՍȢֻȟ, խIJʍıȢ Ȝįȟքȟ Ȝįվ ȞջijȢȡȟ įijȟ լȟ.
4.2 Zur Frage „Was soll ich tun?“ 169
oben die Rede gewesen ist. 23 Versucht man anhand dieser Zeilen zu
bestimmen, wer der Tugendhafte ist, stößt man zwangsläufig auf das zwei-
te Problem.
Aristoteles’ Ausführungen zur ethischen Tugend legen es nahe, den
Zusammenhang zwischen der richtigen Handlung und der Handlung des
Tugendhaften als trivial aufzufassen. Die ethischen Tugenden lassen sich
als Dispositionen zum richtigen „Verhalten“ in unterschiedlichen Situa-
tionstypen definieren (vgl. EN II 2, 1104b32-34 und II 4). Es scheint also
trivialerweise wahr, dass der Tugendhafte immer, weil dispositionell, rich-
tig handelt. Wenn Aristoteles jedoch nicht über diesen analytischen Zu-
sammenhang hinausgehen möchte, dann wird nicht klar, wieso der Tu-
gendhafte als Richtschnur und Maß des Wahren bezeichnet wird. Welche
Pointe sollte sich mit dieser und ähnlichen Redeweisen verbinden? Und
was nutzt der Hinweis auf das Urteil des phronimos?
Es scheint also, dass wir in der Aristotelischen Ethik genau die Situa-
tion vorfinden, die oben mit Blick auf die Akteurszentrierung der gegen-
wärtigen Tugendethik entworfen wurde. Es gibt Hinweise darauf, dass
Aristoteles das Verhalten des Tugendhaften als ein Kriterium für das be-
trachten möchte, was (moralisch) richtig ist. Wenn dies zutrifft, müssen
andere Aspekte seiner Ethik jedoch irritieren: zum einen die Rede von per
se falschen Handlungen, zum anderen die Vernachlässigung einer „moral-
unabhängigen“, deskriptiven Bestimmung des Tugendhaften.
Vor allem das zweite Problem hat in der Forschung einige Aufmerk-
samkeit erfahren. Stark vereinfacht lassen sich zwei Lösungsansätze unter-
scheiden. Der erste Lösungsansatz besteht in dem Versuch, eine deskripti-
ve und nicht-zirkuläre Bestimmung des Tugendhaften zu rekonstruieren.
Die einfachste Variante dieser Strategie liegt in einer „kommunitaristi-
schen“ Lesart der Aristotelischen Ethik. Demnach hätte Aristoteles einfach
deshalb auf eine Definition des Tugendhaften verzichtet, weil in der anti-
ken Polis klar gewesen sei, wer als spoudaios zu gelten hat. 24 Der zweite,
weitaus einflussreichere Lösungsansatz besteht darin, den Gedanken eines
_____________
23 Vgl. für eine ausführliche Behandlung Charles (1995) und Everson (1995).
24 Der prominenteste Vertreter dieser Interpretationsrichtung ist zweifellos Alasdair
MacIntyre (1985). Für ein klares Beispiel lässt sich aber auch der hier zitierte Aufsatz
von Robert Louden heranziehen: „The reasons for this strange lacuna [i.e. that Aris-
totle does not give the reader any hints on how to track down a phronimos, Ph.B.], I
suggest, are two. First, Aristotle is dealing with a small face-to-face community, where
the pool of potential phronimoi generally come from certain well established families
who are well known throughout the polis. Within a small face-to-face community of
this sort, one would naturally expect to find wide agreement about judgements of
character. Second, Aristotle’s own methodology is itself designed to fit this sort of
moral community. He is not advocating a Platonic ethics of universal categories”
(1984/1997, 213).
170 4. Konsequenzen der Interpretation
_____________
27 Ե İպ ȖȡȫȝșIJțȣ Ցijț Ȟպȟ ijȡ ףijȒȝȡȤȣ ԚIJijվȟ ıՀȢșijįț, İȡȜı הİպ ijȡהȣ Ȟպȟ ijԐȗįȚȡ ףıՂȟįț,
ijȡהȣ İպ ijȡ ףĴįțȟȡȞȒȟȡȤ ԐȗįȚȡף.
28 IJȤȞȖįȔȟıț İպ ijȡהȣ Ȟպȟ [ijր] ȖȡȤȝșijրȟ ijԐȗįȚրȟ ȝȒȗȡȤIJț Ȟռ ıՂȟįț ȖȡȤȝșijրȟ Տ
Ȗȡȫȝıijįț Ս Ȟռ ՌȢȚȣ įԽȢȡȫȞıȟȡȣ (ıԼ ȗոȢ ԤIJijįț ȖȡȤȝșijȪȟ, Ȝįվ ԐȗįȚȪȟ· Բȟ İ’, ıԼ
ȡ՝ijȧȣ ԤijȤȥı, ȜįȜȪȟ).
172 4. Konsequenzen der Interpretation
der etwas Schlechtes wünscht, als „nicht gewünscht“ (mê boulêton) zu be-
zeichnen. Implizit enthält dieses Argument die Annahme, dass es Dinge
gibt, die zwar gewünscht werden, sich aber als schlecht herausstellen, etwa
weil der Wünschende sich geirrt hat. (Auf diesen Punkt werden wir später
noch zurückkommen.)
Für dieses Problem scheint die Gleichsetzung zwischen dem Ge-
wünschten und dem scheinbar Guten eine Lösung zu bieten. Dass das
Gewünschte demjenigen, der es wünscht, als etwas Gutes erscheint, kann
nach Aristoteles nicht bestritten werden. Vgl. hierzu die bereits zitierte
Passage aus dem sechsten Buch der Topik:
Ferner ist bei den (Definitionen von) Strebungen zu prüfen, ob versäumt wurde,
‚anscheinend’ hinzuzufügen, wie auch bei vielen anderen Dingen, bei denen es
passt, zum Beispiel (wenn er definiert), dass der Wille ein ‚Streben nach dem Gu-
ten’ oder die Begierde ein ‚Streben nach dem Angenehmen’ sei, aber nicht (sagt):
nach dem ‚anscheinend Guten’ oder: ‚anscheinend Angenehmen’. Oft ist nämlich
den Strebenden das verborgen, was (wirklich) gut oder angenehm ist, so dass (das
Erstrebte) nicht notwendig gut oder angenehm ist, sondern nur so zu sein
scheint. (VI 8, 146b36-147a4)
Trotzdem hält Aristoteles auch eine undifferenzierte Gleichsetzung zwi-
schen dem Gewünschten und dem scheinbar Guten für problematisch:
Für diejenigen wiederum, die das scheinbar Gute gewünscht nennen, (ergibt sich)
dass es kein von Natur aus Gewünschtes gibt, sondern nur für jeden Einzelnen
das, was ihm so erscheint. Verschiedenen Menschen erscheint aber Verschiedenes
(als gewünscht), und wenn es sich so ergibt, Gegenteiliges. 29 (EN III 6, 1113a20-
22)
Das Problem dieser zweiten Option ist schwieriger zu bestimmen. Vor
allem ist nicht leicht zu sagen, welche theoretischen Annahmen sich mit
dem Ausdruck „von Natur aus gewünscht“ (physei boulêton) verbinden.
Dieser Ausdruck könnte für eine anspruchsvolle naturalistische These
stehen, nach der wir bestimmte Dinge erstreben, weil sie von Natur aus
gut für uns sind. Er könnte aber auch, als Gegenbegriff zu nomôi oder
thesei („durch Gesetz“ oder „Festlegung“), einfach den Gedanken festhal-
ten, dass die Frage, was gut ist, keine Angelegenheit willkürlicher Festset-
zungen ist, sondern „objektiv“ entschieden werden kann (vgl. I 1,
1094b16).
Aristoteles behauptet jedenfalls, dass die Gleichsetzung zwischen dem
Gewünschten und dem scheinbar Guten dazu führt, dass es nur noch das
„gibt“, was jedem Einzelnen als gewünscht erscheint. Wie ist diese These
zu verstehen? Am einfachsten lässt sie sich erklären, indem man die Mehr-
_____________
29 ijȡהȣ İ’ į՞ ijր ĴįțȟȪȞıȟȡȟ ԐȗįȚրȟ ȖȡȤȝșijրȟ ȝȒȗȡȤIJț Ȟռ ıՂȟįț ĴȫIJıț ȖȡȤȝșijȪȟ, Ԑȝȝ’
ԛȜȑIJij ijր İȡȜȡףȟ· Ԕȝȝȡ İ’ Ԕȝȝ ĴįȔȟıijįț, Ȝįվ ıԼ ȡ՝ijȧȣ ԤijȤȥı, ijԐȟįȟijȔį.
4.2 Zur Frage „Was soll ich tun?“ 173
_____________
30 Vgl. z.B. Broadie/Rowe (2002, 317f.). Ich bin mir nicht sicher, ob diese Erklärung
allen Aspekten des Arguments gerecht wird. Für die vorliegenden Zwecke ist sie aber
ausreichend.
31 ıԼ İպ İռ ijįףijį Ȟռ ԐȢȒIJȜıț, ԖȢį ĴįijȒȡȟ ԑʍȝȣ Ȟպȟ Ȝįվ Ȝįij’ ԐȝȓȚıțįȟ ȖȡȤȝșijրȟ
ıՂȟįț ijԐȗįȚȪȟ, ԛȜȑIJij İպ ijր ĴįțȟȪȞıȟȡȟ;
174 4. Konsequenzen der Interpretation
Schweres und alles andere. Der Tugendhafte beurteilt nämlich jedes Einzelne
richtig und in jedem Einzelnen erscheint ihm das Wahre. 32 (a25-31)
Nach dieser Passage lässt sich das Gute und an sich Gewünschte als das
beschreiben, was vom „Vortrefflichen“ oder „Tugendhaften“ (spoudaios)
gewünscht wird, das scheinbar, aber nicht wirklich Gute als das, was vom
„Schlechten“ (Ĵįփȝȡȣ) gewünscht wird. (Hier könnte man in beiden Fäl-
len den Ausdruck boulêton mit „tatsächlich gewünscht“ übersetzen.) Als
Grund wird angeführt, dass der Tugendhafte den Einzelfall richtig beur-
teilt.
Ähnlich wie beim Ausdruck des „von Natur aus Gewünschten“ fällt es
auch hier schwer, die Hintergrundannahmen des Arguments genauer zu
bestimmen. So könnte der Vergleich mit den wahrnehmbaren Qualitäten
bitter, süß, warm usw. darauf hindeuten, dass Aristoteles letztlich eine
„dispositionelle“ Auffassung des tatsächlich Guten vertritt. In Wahrheit
gut wäre dann das, was unter idealen Bedingungen von einem spoudaios als
gut wahrgenommen wird. Angesichts der weitreichenden Konsequenzen
einer solchen Auffassung erscheinen die Hinweise in 1113a25-31 jedoch
ausgesprochen spärlich. Und tatsächlich ist es im Kontext von EN III 6
auch nicht nötig, Aristoteles diese Auffassung zuzusprechen. Für die Inter-
pretation des Kapitels III 6 genügt das, was wir bereits festgestellt haben.
Aristoteles identifiziert das Gute und an sich Gewünschte (a23-24) mit
dem vom Tugendhaften Gewünschten, und er begründet diese Identifika-
tion damit, dass der Tugendhafte stets richtig urteilt.
Was lässt sich anhand dieser kurzen Zusammenfassung darüber sagen,
ob Aristoteles die Handlungen des Tugendhaften als ein Kriterium für das
moralisch Richtige begreift? Dass der Tugendhafte ein paar Zeilen später
als kanôn und metron des in Wahrheit Guten bezeichnet wird (a33),
scheint auf den ersten Blick für die Kriterien-Auffassung zu sprechen. Wer
über einen Maßstab des in Wahrheit Guten verfügt, ist in der Lage zu
beurteilen, ob etwas in Wahrheit gut ist oder nicht. Auf den zweiten Blick
erweist sich dieser Eindruck jedoch als voreilig.
Wie wir gesehen haben, impliziert der Text von EN III 6, dass es
durchaus möglich ist zu beurteilen, ob etwas, das gewünscht wurde, auch
tatsächlich gut ist. Andernfalls könnte der in a19 erwähnte Fall „es traf
sich aber so, dass es schlecht war“ überhaupt nicht vorkommen. Im Kon-
text des Kapitels III 6 geht es aber eindeutig nicht darum, Kriterien zu
_____________
32 ij Ȟպȟ ȡ՞ȟ IJʍȡȤİįȔ ijր Ȝįij’ ԐȝȓȚıțįȟ ıՂȟįț, ij İպ Ĵįȫȝ ijր ijȤȥȪȟ, խIJʍıȢ Ȝįվ
Ԛʍվ ijȟ IJȧȞȑijȧȟ ijȡהȣ Ȟպȟ ı՞ İțįȜıțȞȒȟȡțȣ ՙȗțıțȟȑ ԚIJijț ijո Ȝįij’ ԐȝȓȚıțįȟ ijȡțįףijį
Րȟijį, ijȡהȣ İ’ ԚʍțȟȪIJȡțȣ ԥijıȢį, ՍȞȡȔȧȣ İպ Ȝįվ ʍțȜȢո Ȝįվ ȗȝȤȜȒį Ȝįվ ȚıȢȞո Ȝįվ
ȖįȢȒį Ȝįվ ijȟ Ԕȝȝȧȟ ԥȜįIJijį· Ս IJʍȡȤİįהȡȣ ȗոȢ ԥȜįIJijį ȜȢտȟıț ՌȢȚȣ, Ȝįվ Ԛȟ
ԛȜչIJijȡțȣ ijԐȝșȚպȣ įij Ĵįտȟıijįț.
4.2 Zur Frage „Was soll ich tun?“ 175
wird, ist keine Aussage über die Kriterien des in Wahrheit Guten. Die
Frage nach diesen Kriterien kann im Kontext von EN III 6 offen bleiben.
Sollte es per se falsche Handlungen geben, würde der Tugendhafte sie
nicht ausführen; denn es gehört zur Definition des Tugendhaften, den
Einzelfall richtig zu beurteilen. Dies wäre die Entgegnung auf das erste
Problem. Dass zur Definition des Tugendhaften auf dessen richtiges Urteil
verwiesen wird (dass wir also kein rein deskriptives Merkmal des Tugend-
haften erhalten), stellt keine Schwierigkeit dar. Im Gegenteil: Es ist die
Voraussetzung dafür, dass die Einführung des Tugendhaften die Funktion
übernehmen kann, die ihr im Kontext von EN III 6 zukommt. Nur weil
der spoudaios als jemand definiert worden ist, der stets richtig urteilt, ist es
gerechtfertigt, das in Wahrheit Gute mit dem vom spoudaios Gewünschten
zu identifizieren. Welche theoretischen Hintergrundannahmen mit dieser
Definition verbunden sind, ist dabei völlig unerheblich. Dies wäre die
Entgegnung auf das zweite Problem.
Obwohl der Tugendhafte dadurch definiert ist, richtig zu urteilen,
macht es im Kontext von EN III 6 Sinn, ihn als eine Richtschnur und ein
Maß des in Wahrheit Guten zu bezeichnen. Denn in diesem Kontext wird
das von ihm Gewünschte tatsächlich wie eine Art Maßstab des Guten
behandelt.
zur Figur des spoudaios, wenn wir von ihnen eine Antwort auf die Frage
„Was soll ich tun?“ erwarten. Dagegen erscheinen diese Ausführungen
durchaus sinnvoll, wenn wir sie als den Versuch begreifen, die Unterschei-
dung zwischen dem Guten und dem scheinbar Guten nicht zu treffen,
sondern lediglich zu „berücksichtigen“, das heißt sie in einem bestimmten
theoretischen Rahmen „abzubilden“. In 4.3 werden wir noch einmal kurz
auf diesen Punkt zu sprechen kommen. Für den hier unternommenen
Vergleich zur Kriterien-Auffassung ist zunächst Folgendes entscheidend:
Die skizzierte Funktion des Verweises auf den Tugendhaften ist mit jeder
beliebigen Vorstellung darüber vereinbar, nach welchen Kriterien etwas als
„in Wahrheit gut“ (moralisch richtig) zu bezeichnen ist. Sie ist sowohl mit
der Annahme strenger moralischer Gesetze vereinbar (auch wenn Aristote-
les wohl eher nicht von solchen Gesetzen ausgeht) als auch mit der An-
nahme eines moralischen Partikularismus (gegen den die Vorstellung per se
schlechter Handlungen spricht). Der Rekurs auf den Tugendhaften ist
ganz einfach keine Aussage über mögliche Kriterien des moralisch Richti-
gen oder Falschen.
Dass Aristoteles ein „Regelskeptiker“ ist, trifft wahrscheinlich zu. Seine
Ethik stellt eine Gegenposition zu Ansätzen dar, die versuchen, die Moral
auf möglichst wenige Prinzipien, im Idealfall auf ein Prinzip, zu reduzie-
ren. Der Einzelfall spielt für die moralische Beurteilung eine entscheiden-
de Rolle. Dennoch scheint es mir voreilig zu sein, die Figur des Tugend-
haften als aristotelische Antwort auf eine Gesetzesethik zu interpretieren.
Wie ich zeigen wollte, kann dieser Figur auch eine andere Funktion im
Rahmen des von Aristoteles verfolgten Projekts zugesprochen werden.
Sollte sich diese Interpretation als tragfähig erweisen, dann bietet der Re-
kurs auf das Verhalten des Tugendhaften kein Äquivalent eines morali-
schen Prinzips.
„Warum moralisch sein?“ verwendet werden, und der Verweis auf den
Tugendhaften wäre nicht als Angabe eines Kriteriums für das moralisch
Richtige zu verstehen. – Was aber lernen wir daraus über das Projekt, das
Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik verfolgt?
Die in diesem Kapitel angesprochenen Fragen „Was soll ich tun?“ und
„Warum moralisch sein?“ sind nicht zufällig gewählt. Es sind vielmehr
Grundfragen, deren philosophische Beantwortung wir von einer normati-
ven Ethik erwarten würden. Eine normative Ethik sollte erstens Auskunft
darüber geben, was moralisch richtig oder falsch ist. Dazu wird sie im
einfachsten Fall moralische Prinzipien formulieren und begründen. Zwei-
tens sollte eine normative Ethik etwas darüber sagen, warum wir tun soll-
ten, was moralisch richtig ist. Das heißt, sie sollte eine Begründung für die
Geltung oder Verbindlichkeit moralischer Normen liefern. Ausgehend
von dieser – sehr vereinfachenden – Charakterisierung lässt sich nun Fol-
gendes festhalten: Der Versuch, die Nikomachische Ethik des Aristoteles als
normative Ethik zu interpretieren, sollte nicht (in der vorgestellten Weise)
bei den beiden genannten Aspekten ansetzen. Denn der Verweis auf den
Tugendhaften dient Aristoteles nicht als eine Antwort auf die Frage „Was
soll ich tun?“, und der Verweis auf den Zusammenhang zwischen Tugend
und Glück dient ihm nicht als Antwort auf die Frage „Warum moralisch
sein?“. Zugleich dürfte eine gewisse Skepsis geweckt sein, ob dieser Ver-
such überhaupt Aussicht auf Erfolg hat, das heißt ob sich die Nikomachi-
sche Ethik als eine normative Ethik interpretieren lässt. Wesentliche Aspek-
te dieser Schrift sind offenbar auf eine andere Zielsetzung bezogen und
stehen für eine andere Perspektive auf den Gegenstand. Eine weitergehen-
de Untersuchung zur Beschreibung des Aristotelischen Projekts könnte
m.E. bei genau dieser Beobachtung ansetzen. Um die Richtung anzudeu-
ten, die eine solche Untersuchung nehmen könnte, möchte ich abschlie-
ßend noch einmal einen kurzen Blick auf die Frage werfen, worin für Aris-
toteles das Kriterium moralisch richtigen Verhaltens liegt.
Das in Abschnitt 4.2 behandelte Problem lässt sich in folgendes Di-
lemma fassen: Einerseits liegt es nahe, den Verweis auf das Verhalten des
Tugendhaften im Sinne der Formulierung eines moralischen Prinzips zu
verstehen. Wenn es um die Unterscheidung zwischen dem Richtigen und
Falschen geht, bringt Aristoteles regelmäßig die Person des spoudaios oder
phronimos ins Spiel. Andererseits fällt es ausgesprochen schwer, die Aristo-
telischen Ausführungen zu dieser Person mit der eben genannten Funk-
tion in Einklang zu bringen. Dies liegt vor allem daran, dass keine deskrip-
tiven Kriterien zur Anwendung dieses Prinzips formuliert werden. Was
den Tugendhaften und Weisen kennzeichnet, ist eben sein (u.a. mora-
lisch) richtiges Verhalten.
4.3 Fazit und Ausblick 181
_____________
33 Vgl. Crisp (2004).
34 Ein besonders deutliches Beispiel hierfür bietet der Begriff des orthos logos. Bei der
ersten Einführung dieses Begriffs (EN II 2, 1103b31-34) kündigt Aristoteles an, die
Frage, was der orthos logos sei, später zu beantworten. Diese Ankündigung wird zu Be-
ginn des sechsten Buches der Nikomachischen Ethik wieder aufgenommen (VI 1,
1138b18-20). Ob das sechste Buch die Frage nach dem orthos logos dann auch tatsäch-
lich beantwortet, ist in der Forschung sehr umstritten (vgl. hierzu Gauthier/Jolif
1959, ad loc.; Gómez-Lobo 1995). Klar scheint aber zu sein, dass diese Antwort nicht
in der Formulierung deskriptiver Kriterien des Richtigen besteht. Denn das sechste
Buch enthält die Untersuchung der Verstandestugenden.
182 4. Konsequenzen der Interpretation
Nutzen diese Definition hat und wie der Praxisbezug der Aristotelischen
Ethik genau aufzufassen ist, sind selbstverständlich wichtig und legitim; sie
stellen aber für sich genommen keinen Einwand gegen die Richtigkeit der
Definition dar.
Aristoteles macht deutlich, dass eine angemessene Antwort auf die
Frage „Was ist Tugend?“ berücksichtigen muss, dass tugendhaftes Verhal-
ten richtiges Verhalten ist. Dass der Tugendhafte gemäß einem orthos logos,
also einer richtigen Erklärung handelt, wird als ebenso selbstverständlich
vorausgesetzt (EN II 2, 1103b31-32) wie dass der Tugendhafte aufgrund
von Wissen handelt und das Richtige nicht zufällig trifft (II 3, 1105a31;
vgl. EE VIII 1). Aristoteles versucht, diese Aspekte in seiner Bestimmung
der charakterlichen Tugend zu berücksichtigen. Dass diese Bestimmung
normatives Vokabular enthält, ist daher alles andere als überraschend. Eine
weitergehende inhaltliche Fixierung des Richtigen scheint dagegen nicht
das Anliegen des Aristoteles zu sein. Dieser für eine normative Ethik ent-
scheidende Aspekt spielt im Rahmen der Nikomachischen Ethik keine grö-
ßere Rolle. Die Fragen, mit denen Aristoteles sich befasst, lauten eher:
Was ist der Gegenstandsbereich des Wissens, über das ein Tugendhafter
verfügt? Wie wird das Wissen vom Richtigen handlungsrelevant? Wie
kommt es dazu, dass jemand die richtigen Ziele verfolgt, wie dazu, dass er
dabei die richtigen Mittel wählt? Wie lässt sich die richtige emotionale
Reaktion allgemein kennzeichnen? Und so weiter.
Diese Bemerkungen sind natürlich bloße Andeutungen, und sie sollen
auch nur dazu dienen, eine bestimmte Interpretationsrichtung zu markie-
ren. Ihre genauere Ausarbeitung würde über die Zielsetzung der vorlie-
genden Untersuchung weit hinausgehen. Wenn allerdings das Bild, das
sich hier abzeichnet, zutreffend ist, dann wäre grundsätzlich zu fragen, ob
die Aristotelische Ethik als eine normative Ethik begriffen werden kann
und ob es angemessen ist, sie als Alternative zu anderen normativen Ethi-
ken ins Spiel zu bringen.
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190 Literatur
1. Stellen
(Metaphysica) I 1, 1094a24 63
Ȃ 7, 1072a29 2 I 1, 1094a25-26 116
M4 74 I 1, 1094b7 144
M 4, 1078b11-12 74 I 1, 1094b11-27 38
M 4, 1078b17-19 75 I 1, 1094b14-22 41
M 4, 1078b31-32 75 I 1, 1094b16 172
M 4, 1079a7-13 73 I 1, 1094b16-17 38
M 4-5 73 I 1, 1095a5-6 182
M 9, 1086a32-34 75 I 1, 1095a11-13 41, 63
I 1, 1095a12-13 41
Ethica Nicomachea I 1-3 8, 48-69, 71, 88,
I VII, 5-7, 9-12, 15f., 100, 105, 129
22, 37f., 40, 57, 71, I 1-4 100
93, 110, 119, 133, I 1-5 VII, 5f., 8f., 17, 22,
143, 145f., 149, 40-106, 107-109,
159-162, 178 116f., 119, 121,
I1 8f., 15, 17, 24, 41, 127f., 131, 134-
46, 48, 62-64, 66, 136, 138, 140, 143,
68f., 83, 101f., 145-147, 162, 170,
105, 108, 110, 113, 177
128, 136-139, 145, I 1-6 145, 160
178 I 1-9 6f., 9, 11
I 1, 1094a1 57 I2 17, 44, 47, 137
I 1, 1094a1 ff. 111 I 2, 1095a14 41
I 1, 1094a1-2 129 I 2, 1095a14-20 5, 110
I 1, 1094a1-3 2, 50, 58, 62, 111, I 2, 1095a14-22 13
128 I 2, 1095a14-28 41f.
I 1, 1094a1-22 6f., 47-64, 111f. I 2, 1095a15-19 12
I 1, 1094a2 3 I 2, 1095a16-17 4
I 1, 1094a2-3 55 I 2, 1095a17-20 128
I 1, 1094a3 61f. I 2, 1095a19 16
I 1, 1094a3-5 135 I 2, 1095a20-25 114, 130, 158
I 1, 1094a3-6 59 I 2, 1095a21 43
I 1, 1094a3-18 58, 111, 128 I 2, 1095a22 42
I 1, 1094a4-5 57 I 2, 1095a22-25 65, 93
I 1, 1094a5 57, 135 I 2, 1095a23 42f., 93, 129
I 1, 1094a5-6 60 I 2, 1095a23-24 42
I 1, 1094a6-8 102 I 2, 1095a24-25 129
I 1, 1094a6-16 45 I 2, 1095a26 43
I 1, 1094a7-9 93 I 2, 1095a26-27 46
I 1, 1094a15-16 60 I 2, 1095a26-28 73
I 1, 1094a16-18 60 I 2, 1095a28-30 67
I 1, 1094a18-19 110 I 2-3 64-69, 83, 102,
I 1, 1094a18-22 1, 50, 53, 58, 62, 107, 145
112, 128 I 2-4 178
I 1, 1094a18-26 15 I3 8f., 16f., 38, 43,
I 1, 1094a20-21 54, 62, 110 45-48, 69, 93,
I 1, 1094a21 110 100f., 104, 107,
I 1, 1094a21-22 51 129, 137, 146
I 1, 1094a22 4 I 3, 1095b14-15 16
I 1, 1094a22-23 51 I 3, 1095b14-16 44
I 1, 1094a22-24 51 I 3, 1095b17-19 67
I 1, 1094a22-26 59, 63 I 3, 1095b18 44
1. Stellen 193
(Ethica Nicomachea) II 10 55
X 2, 1172b9-15 55 VI 12-15 55
X 2, 1172b13-14 54 VIII 1 183
X 6, 1176a31-32 103, 109, 129 VIII 2, 1235b33-34 137
X7 19
X 8, 1178a10-14 181 Ars rhetorica
I 37
Magna Moralia I 1, 1355a29-30 31
I 1, 1182b6- I 2, 1355b26-27 31
1183b8 44 I 2, 1357a4-6 32
I 2, 1358a23-26 27
Ethica Eudemia 2 I 4, 1359a30 ff. 32
I 106 I 4, 1359b12-16 27
I 1, 1214a7-8 12f., 105 I 4-8 26, 32
I 1, 1214a30-b6 105 I5 32
I 1-6 13, 105 I 5, 1360b14-18 36
I 2, 1214b6-9 105 I 5, 1360b17-18 36
I 2, 1214b6-11 52, 110 I 5, 1360b25-29 38
I 4, 1215a20-22 14, 105 I 6, 1362a17-21 32
I 4, 1215a25-32 105 I 6, 1362a21-29 32f.
I 5, 1216a27-37 105 I 6, 1362b2-29 32, 34
I 6, 1216b32 14 I 6, 1362b28-29 34
I 6, 1216b32-33 14 I 6, 1362b29-
I7 14, 104, 144 1363b4 32
I 7, 1217a18-22 14, 104 I 6, 1363a9 34
I 7, 1217a21-22 12, 144 I 6-7 8, 11f., 26-37, 69,
I 7, 1217a22-40 144 86
I 7, 1217a29-40 144 I7 69, 141
I 7 – II 1 14f. I 7, 1363b5-7 28
I8 14, 44, 46, 70, 73f., I 7, 1363b5-21 28, 33f.
81, 104, 144 I 7, 1363b12-18 33
I 8, 1217b1 104 I 7, 1363b13 34
I 8, 1217b2-16 73f. I 7, 1363b14 1
I 8, 1217b16-19 70 I 7, 1363b21-
I 8, 1217b21 72 1365b21 28f.
I 8, 1217b24-25 72 I 7, 1363b38-
I 8, 1218a15-22 39 1364a3 33
I 8, 1218a30-33 61, 93 I 7, 1364a1 30
I 8, 1218a33-b10 76 I 7, 1364a2-3 34
I 8, 1218b10-11 104 I 7, 1364a3 29f.
I 8, 1218b11-12 104f. I 7, 1364a5-6 29
I 8, 1218b16-24 62 I 7, 1364a6 30
I 8, 1218b17-18 62 I 7, 1364a10-11 30
I 8, 1218b22-24 62 I 7, 1364a23-24 29
I – II 1 105 I 7, 1364a24 30
II 1 15f. I 7, 1364a26 29
II 1, 1219a6-12 140 I 7, 1364a28 30
II 1, 1219a10-11 61 I 7, 1364a28-30 30
II 1, 1219a28 14 I 7, 1364b7-9 29
II 1, 1219a28-35 15 I 7, 1364b11-13 30
II 1, 1219a29 14 I 7, 1364b12 30
II 1, 1219a34 14 I 7, 1364b23 30
II 7, 1223b6-7 1, 113 I 7, 1364b26 30
196 Register
2. Namen