Sie sind auf Seite 1von 211

Philipp Brüllmann

Die Theorie des Guten


in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik
Quellen und Studien
zur Philosophie
Herausgegeben von
Jens Halfwassen, Dominik Perler,
Michael Quante

Band 100

De Gruyter
Die Theorie des Guten
in Aristoteles’
Nikomachischer Ethik
von
Philipp Brüllmann

De Gruyter
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung
der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften
in Ingelheim am Rhein.

ISBN 978-3-11-022786-4
e-ISBN 978-3-11-022787-1
ISSN 0344-8142

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data:

Brüllmann, Philipp.
Die Theorie des Guten in Aristoteles‘ „Nikomachischer Ethik“ / von Philipp
Brüllmann.
p. cm. -- (Quellen und Studien zur Philosophie, ISSN 0344-8142 ; Bd. 100)
Revision of the author‘s thesis--Humboldt-Universität zu Berlin, 2007.
Includes bibliographical references (p. ) and index.
ISBN 978-3-11-022786-4 (hardcover : alk. paper)
1. Aristotle. Nicomachean ethics. 2. Good and evil. 3. Teleology. I. Title.
B430.B78 2011
171‘.3--dc22
2010043071

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York
Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
f Gedruckt auf säurefreiem Papier
Printed in Germany
www.degruyter.com
Für meine Eltern
Vorwort

Zu den Gemeinplätzen des gängigen Aristoteles-Bildes gehört, dass Aristo-


teles eine „Strebensethik“ oder „teleologische Ethik“ entwirft. Dieser Ge-
meinplatz hat, wie es scheint, einige Berechtigung. Denn gleich zu Beginn
seiner Nikomachischen Ethik bezeichnet Aristoteles das Gute als das, „wo-
nach alles strebt“; und nur wenig später wird das Glück, der zentrale Ge-
genstand der Ethik, als höchstes Ziel menschlichen Strebens identifiziert.
Jenseits dieser einfachen Beobachtungen scheint die Situation jedoch alles
andere als klar zu sein. Zunächst ist unklar, auf welchen Voraussetzungen
die teleologische Bestimmung des Guten basiert. Was rechtfertigt die
Gleichsetzung von Gütern und Strebenszielen? Die Ethik selbst scheint
auf diese Frage keine befriedigende Antwort zu geben. Welche Voran-
nahmen müssen wir also teilen, um die Argumentation nachzuvollziehen?
Dann ist unklar, welche Rolle die teleologische Bestimmung des Guten im
Rahmen der Untersuchung spielt. Die eigentliche „Definition“ des Glücks
sieht dieses in der Ausübung einer spezifisch menschlichen Leistung (er-
gon). Wie aber verhält sich die Gleichsetzung des Glücks mit einem höchs-
ten Strebensziel zu dieser Definition? Streben wir etwa alle danach, unser
ergon zu erfüllen? Und schließlich ist unklar, welche Auswirkungen die
teleologische Bestimmung des Guten hat. Was bedeutet es für eine Cha-
rakterisierung der Aristotelischen Ethik, dass sie Güter als Ziele begreift?
Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, diese und ähnliche
Fragen zu beantworten. Sie gibt Auskunft über die Voraussetzungen, die
Funktion und die Konsequenzen der teleologischen Konzeption des Gu-
ten in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik. Dreierlei soll dabei vor allem
gezeigt werden. Erstens: Aristoteles hat kein unkritisches Verhältnis zu
einer teleologischen Konzeption des Guten. Zweitens: Die entscheidenden
Hinweise zu diesem Verhältnis finden sich nicht außerhalb der Nikoma-
chischen Ethik, sondern in deren ersten Kapiteln (EN I 1-5). Drittens: Der
Ansatz beim Streben sollte nicht „psychologisch“, sondern „gütertheore-
tisch“ aufgefasst werden. Dieser Ansatz gibt den gütertheoretischen Rah-
men vor, in dem sich die Untersuchung bewegt. So ist es möglich, ein
relativ geschlossenes Bild der Argumentation vor allem des ersten Buches
der Nikomachischen Ethik zu zeichnen.
Die vorliegende Studie ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung
meiner Dissertation, die im März 2006 von der Philosophischen Fakultät
VIII Vorwort

der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen worden ist. Durch ein


Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes hatte ich das Privi-
leg, mich in der Zeit davor ganz auf diese Arbeit konzentrieren zu können.
Dafür bin ich sehr dankbar. Ansonsten gilt mein erster Dank meinem
Doktorvater Christof Rapp, der die Arbeit von den Anfangsideen bis zur
Publikation begleitet und mich auch sonst in vielerlei Hinsicht unterstützt
hat. Thomas Schmidt war bereit, das Zweitgutachten zu verfassen und hat
die Arbeit ebenfalls in unterschiedlichen Stadien gelesen und kommen-
tiert. Volker Gerhardt danke ich für die rasche Erstellung eines verglei-
chenden Gutachtens. Weitere Personen, denen ich wertvolle Kommentare
und Verbesserungsvorschläge verdanke, sind Anne Burkard, Klaus Corci-
lius, Katharina Fischer, Rolf Geiger, Jan Gertken, Christoph Horn, Jakub
Krajczynski, Andreas Müller und Tim Wagner sowie die Teilnehmerinnen
und Teilnehmer der Magistranden- und Doktorandenkolloquien von
Christof Rapp (Berlin) und Christoph Horn (Bonn). Klaus Corcilius hat
mir seine unveröffentlichte Übersetzung von EN I zur Verfügung gestellt,
von der ich in dieser Arbeit sehr profitiert habe. Ein weiterer Dank gilt
den Herausgebern der Reihe „Quellen und Studien zur Philosophie“ sowie
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags Walter de Gruyter, die
diesen Band betreut haben, insbesondere Gertrud Grünkorn und Andreas
Brandmair. Die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geistes-
wissenschaften hat mir einen großzügigen Druckkostenzuschuss gewährt.
Nicht zuletzt danke ich meiner Frau Mirjam und unseren Söhnen Paul
und Anton für ihre Geduld und liebevolle Unterstützung.
Meine Eltern, Hans Jakob und Hedwig Brüllmann, haben mich im-
mer darin bestärkt, das zu tun, was mir Freude macht. Ich möchte ihnen
diese Arbeit widmen.
Inhalt

Vorwort ................................................................................................ VII

Inhalt .................................................................................................... IX

Abkürzungen ......................................................................................... XI

Einleitung ................................................................................................ 1

1. Die Verschiedenheit der Güter........................................................... 11


1.1 Das höchste Gut ........................................................................ 12
1.2 Kriterien des höchsten Guts: EN I 5 .......................................... 17
1.3 Topen zum größeren Gut: Rhet. I 6-7 ....................................... 26
1.4 Fazit........................................................................................... 37

2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5).................................................... 40


2.1 Zwei gütertheoretische Ansätze .................................................. 41
2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3)........................................... 48
2.2.1 Die Einführung des teleologischen Ansatzes
(I 1, 1094a1-22) ............................................................... 48
2.2.2 Die Anwendung des teleologischen Ansatzes
(I 2 und I 3)...................................................................... 64
2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4) ................................ 70
2.3.1 Das Grundproblem des ideentheoretischen Ansatzes......... 71
2.3.2 Das Kategorienargument .................................................. 77
2.3.3 Eine metaethische These................................................... 83
2.4 Der Analogie nach eins .............................................................. 94
2.5 Fazit......................................................................................... 102

3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9) .......................................... 107


3.1 Die Perspektive des Psychologischen Eudaimonismus.............. 109
3.2 Die gütertheoretische Perspektive............................................. 127
3.3 Fazit......................................................................................... 145
X Inhalt

4. Konsequenzen der Interpretation ..................................................... 149


4.1 Zur Frage „Warum moralisch sein?“ ........................................ 150
4.2 Zur Frage „Was soll ich tun?“ .................................................. 162
4.3 Fazit und Ausblick .................................................................. 179

Literatur............................................................................................... 185

Register ........................................................................................ 191


Abkürzungen

Für die Werke des Aristoteles werden folgende Abkürzungen verwendet:

An. De anima
An. post. Analytica posteriora
Cat. Categoriae (Kategorienschrift)
EE Ethica Eudemia (Eudemische Ethik)
EN Ethica Nicomachea (Nikomachische Ethik)
Gen. an. De generatione animalium
Met. Metaphysica (Metaphysik)
MM Magna Moralia
Mot. an. De motu animalium
Part. an. De partibus animalium
Phys. Physica (Physik)
Protr. Protrepticus (Protreptikos)
Rhet. Ars rhetorica (Rhetorik)
Top. Topica (Topik)
Einleitung

Das Gute und das Erstrebte


Im ersten Buch der Rhetorik schreibt Aristoteles, um zu begründen, dass
das Wollen (ȖȡփȝșIJțȣ) ein Streben nach Gutem (ԐȗįȚȡ‫ ף‬ՐȢıȠțȣ) sei:
„keiner nämlich will etwas, wenn er nicht meint, dass es gut sei“ (I 10,
1369a2-4; vgl. EE II 7, 1223b6-7). 1 Als Aussage über die Relation zwi-
schen den Überzeugungen und den rationalen Strebungen einer Person
erscheint dieser Satz unproblematisch. Es entspricht zweifellos unseren
Intuitionen, dass ein Zusammenhang zwischen dem besteht, was Men-
schen für gut halten, und dem, was sie erstreben. Und sobald wir das Phä-
nomen der akrasia – jemand entscheidet sich für etwas, das er eigentlich
für schlechter hält – als Problem empfinden, dürfte uns deutlich werden,
dass wir diesen Zusammenhang als Normalfall betrachten. In einer näher
zu bestimmenden Weise ist er Bestandteil unserer praktischen Rationali-
tät.
Wie aber sieht es aus, wenn man versucht, diesen Zusammenhang gü-
tertheoretisch zu wenden? Eignet sich die Feststellung, dass ein Gegen-
stand erstrebt wird, als Antwort auf die Frage, was das Gutsein von Ge-
genständen ausmacht? Aristoteles scheint jedenfalls davon auszugehen. Er
bestimmt das Gute als das, „wonach alles strebt“ (ȡ՟ ʍչȟij’ ԚĴտıijįț: Rhet.
I 7, 1363b14), und er gebraucht diese Bestimmung in seinen ethischen
Schriften, also im Rahmen jener Untersuchungen, die das für den Men-
schen Gute in den Mittelpunkt stellen. Im Kontext der Ethik erhält der
Ansatz beim Streben zudem ein besonderes Gewicht. Denn das „höchste
Gut“, nach dem hier gefragt wird, wird als ein „oberstes Ziel“ aufgefasst
(EN I 1, 1094a18-22). Die Ethik des Aristoteles scheint also auf einer
teleologischen Konzeption des Guten zu basieren.
Gegen eine solche teleologische Konzeption des Guten lassen sich sehr
leicht Einwände erheben. Dass wir Gegenstände erstreben, die wir für gut
halten, muss nicht bedeuten, dass Gegenstände gut sind, weil wir sie
erstreben. Und sollte es tatsächlich vorkommen, dass „alles“ nach den

_____________
1 Für die Zitate aus der Rhetorik greife ich hier wie im Folgenden auf die Übersetzung
von Christof Rapp (2002) zurück.
2 Einleitung

gleichen Gegenständen strebt, so muss auch dies nicht bedeuten, dass


diese Gegenstände gut sind. Schließlich könnte „alles“ sich irren. Interes-
santerweise lassen sich vergleichbare Einwände auch anhand Aristoteli-
scher Aussagen formulieren. Aristoteles verwendet zwar eine teleologische
Konzeption des Guten; er scheint aber die Eigenschaft, erstrebt zu werden,
weder für eine hinreichende noch für eine notwendige Bedingung des
Gutseins von Gegenständen zu halten. Erstrebt zu werden ist keine hinrei-
chende Bedingung für das Gutsein eines Gegenstandes; denn es gibt Ge-
genstände, die erstrebt werden, aber nur „scheinbar“ gut sind (vgl. z.B.
Top. VI 8, 146b36-147a4). Ob etwas „wirklich“ gut ist, muss also von
weiteren Bedingungen abhängen. Erstrebt zu werden ist aber auch keine
notwendige Bedingung für das Gutsein eines Gegenstandes; denn die Ge-
genstände sind nicht gut, weil sie erstrebt werden, sondern werden er-
strebt, weil sie gut sind (vgl. Met. ȁ 7, 1072a29). Ein weiteres Problem
entsteht in der Ethik dadurch, dass Aristoteles für seine „Definition“ des
gesuchten Guts auf eine, wie es scheint, ganz andere Bestimmung des
Guten zurückgreift (EN I 6). Nach dieser Bestimmung besteht das Gute
darin, eine spezifische Leistung oder Funktion (ergon) auf besonders gute
Weise zu erfüllen. Es ist keineswegs klar, welcher Status der teleologischen
Konzeption des Guten im Verhältnis zu dieser Definition zukommen soll.
Angesichts dieser eigenartigen Situation – Aristoteles gebraucht eine
Konzeption des Guten, die vor dem Hintergrund seiner eigenen Auffas-
sungen problematisch erscheint – wäre zu erwarten, dass die Rechtferti-
gung dieser Konzeption einen besonderen Stellenwert in der Ethik erhält.
Zu erwarten wäre eine genaue Festlegung, unter welchen Umständen es
aus welchen Gründen legitim ist, Güter als Strebensziele zu bestimmen.
Und angesichts des „Ergon-Arguments“ wären zudem klare Aussagen über
den Nutzen und die Reichweite der teleologischen Konzeption des Guten
zu erwarten. Umso erstaunlicher ist es, dass die Nikomachische Ethik, auf
die sich die vorliegende Untersuchung konzentrieren wird, 2 nur eine kurze
Passage enthält, die einer solchen Rechtfertigung zumindest nahe kommt.
Dies sind die ersten drei Zeilen des Textes:
Jede Kunst und jede Untersuchung, ebenso (jede) Handlung und (jeder) Ent-
schluss scheint ein Gut zu erstreben. Deshalb hat man richtig behauptet, das Gu-
te sei das, wonach alles strebt. (1094a1-3) 3

_____________
2 Im Verlauf der Arbeit wird deutlich werden, inwiefern sich die Ergebnisse auch auf
die Eudemische Ethik übertragen lassen.
3 ȇֻIJį ijȒȥȟș Ȝįվ ʍֻIJį ȞȒȚȡİȡȣ, ՍȞȡȔȧȣ İպ ʍȢֻȠȔȣ ijı Ȝįվ ʍȢȡįȔȢıIJțȣ, ԐȗįȚȡ‫ ף‬ijțȟրȣ
ԚĴȔıIJȚįț İȡȜı‫ ·ה‬İțր Ȝįȝ‫׭‬ȣ ԐʍıĴȓȟįȟijȡ ijԐȗįȚȪȟ, ȡ՟ ʍȑȟij’ ԚĴȔıijįț. Für die Zitate
aus EN I konnte ich auf eine unveröffentlichte Übersetzung von Klaus Corcilius zu-
rückgreifen, die ich allerdings immer wieder modifiziert habe. Für mögliche Fehler
Das Gute und das Erstrebte 3

Bekanntermaßen bieten diese beiden Sätze eine ganze Reihe von Interpre-
tationsproblemen. So scheint der Schluss vom ersten auf den zweiten Satz
einen „Quantorendreher“ zu enthalten und daher ungültig zu sein. Aus
„Für alle x gibt es (jeweils) ein y“ folgt nicht „Es gibt (genau) ein y für
alle x“. Außerdem ist nicht klar, wie die durch diho („deshalb“: a2) ange-
deutete Begründungsbeziehung genau zu verstehen ist. Geht es Aristoteles
darum, die im ersten Satz genannten Beobachtungen zu verallgemeinern,
oder sind diese Beobachtungen Beispiele für ein im zweiten Satz genanntes
Prinzip? Genauso unklar erscheint der Status der hier formulierten güter-
theoretischen Aussage. Verschiedene Möglichkeiten sind denkbar. So
könnte es sich (i) um eine Aussage über die Bedeutung des Ausdrucks
„gut“ handeln, so dass Aristoteles seine Ethik mit einer begrifflichen Klä-
rung beginnen würde. 4 Es könnte aber auch (ii) um eine Aussage über
grundlegende Eigenschaften menschlichen Verhaltens gehen, so dass
gleich zu Beginn der Ethik ein Bezug zur menschlichen Praxis hergestellt
würde. 5 Eine weitere Möglichkeit würde (iii) darin bestehen, dass hier ein
allgemeines teleologisches Prinzip zum Ausdruck kommt, das auf natur-
philosophischen Annahmen basiert. 6
Als Rechtfertigung der in der Ethik verwendeten Konzeption des Gu-
ten kann der Beginn von EN I eigentlich nur enttäuschen. Will man Aris-
toteles daher kein mangelndes Problembewusstsein vorwerfen, liegt es
nahe, diese Rechtfertigung an anderer Stelle zu vermuten. Die Bestim-
mung von Gütern als Strebenszielen würde dann durch eine Theorie be-
gründet, die in der Ethik als bekannt vorausgesetzt wird. Für die Rekon-
struktion dieser Theorie bieten sich allerdings wieder sehr unterschiedliche
Strategien an. So könnte man, um nur ein Beispiel herauszugreifen, eine
„naturalistische“ Interpretationsrichtung einschlagen, die Aristoteles in
etwa die folgende Auffassung zuschreiben würde: Da Lebewesen unter
„normalen Bedingungen“ das erstreben, was von Natur aus gut für sie ist,
kann die Eigenschaft, unter normalen Bedingungen erstrebt zu werden, als
Indiz für das Gutsein von Gegenständen betrachtet werden. Eine andere
denkbare Strategie würde darin bestehen, für eine „konsensualistische“
Deutung zu plädieren, nach der Aristoteles Werturteile als nicht im übli-
chen Sinn wahrheitsfähig begreifen würde. Nach dieser Deutung könnte
die Tatsache, dass etwas von allen erstrebt wird, als einzig mögliche Recht-
fertigung der These erscheinen, dass das Erstrebte etwas Gutes ist.
_____________
zeichne ich verantwortlich. Die Übersetzungen aus EN II ff. sowie aus der Eudemi-
schen Ethik stammen von mir. Die dabei herangezogenen Texte sind im Literatur-
verzeichnis aufgeführt.
4 Vgl. etwa Ackrill (1974/1995).
5 Diesen Bezug betont z.B. Höffe (21996).
6 Diesen Weg schlägt z.B. Terence Irwin (1980) ein.
4 Einleitung

Dass beide Strategien erhebliche Auswirkungen auf das Verständnis


der Aristotelischen Ethik hätten, ist leicht zu sehen. Nach der ersten Stra-
tegie würde Aristoteles seiner Konzeption des Guten ein anspruchsvolles
naturalistisches Fundament verleihen. Um diese Konzeption nachzuvoll-
ziehen, müssten wir bestimmte naturphilosophische Annahmen teilen.
Nach der zweiten Strategie würde Aristoteles hingegen annehmen, dass
Urteile über das Gute gerade nicht durch ein solches Fundament, sondern
nur durch eine Übereinstimmung der Meinungen zu rechtfertigen sind.
Hier müsste die Interpretation in erster Linie epistemologische Vorausset-
zungen berücksichtigen. Je nachdem welcher Strategie wir folgen, wird das
Bild der Aristotelischen Ethik also anders ausfallen; und weitere Strategien
dürften das Bild weiter verändern. Die Frage, wie Aristoteles die Gleich-
setzung zwischen Gütern und Zielen begründet, ist nicht nur schwierig zu
beantworten. Sie spielt für die Charakterisierung seiner Ethik auch eine
entscheidende Rolle.

Zielsetzung und Aufbau der Arbeit


Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, die der Nikomachischen
Ethik zugrunde liegende teleologische Konzeption des Guten genauer zu
untersuchen. 7 Sie möchte zum einen die argumentative Grundlage dieser
Konzeption bestimmen, das heißt sie möchte herausfinden, wie Aristoteles
die Identifikation von Gütern und Zielen begründet und welche inhaltli-
chen oder methodischen Vorannahmen wir teilen müssen, um diese Iden-
tifikation nachzuvollziehen. Zum anderen möchte die Arbeit einige Kon-
sequenzen beschreiben, die die von Aristoteles gewählte Güterkonzeption
mit sich bringt. Was bedeutet es für das Projekt der Nikomachischen Ethik,

_____________
7 Einige Interpreten legen großen Wert auf die Unterscheidung zwischen Aristoteli-
schen Aussagen über „das Gute“ und seinen Aussagen über „Güter“. Im Prinzip macht
eine Unterscheidung zwischen Gütern und dem Guten durchaus Sinn; nach meinem
Eindruck sind die Grenzen bei Aristoteles aber eher fließend. Zwei Beispiele: (i) Aris-
toteles bezeichnet das oberste Ziel des Strebens umstandslos sowohl als „das höchste
aller praktischen Güter“ (ijր ʍչȟijȧȟ ԐȜȢցijįijȡȟ ij‫׭‬ȟ ʍȢįȜij‫׭‬ȟ ԐȗįȚ‫׭‬ȟ: EN I 2,
1095a16-17) als auch als „das Beste“ (ijր ԔȢțIJijȡȟ: I 1, 1094a22), d.h. das „am meis-
ten Gute“. (ii) Aristoteles überprüft die den Lebensformen zugeordneten Güter Lust,
Ehre, Tugend usw. umstandslos anhand von Eigenschaften, die „dem Guten“ zuge-
sprochen werden (z.B. I 3, 1095b26). Die angemessenste Lesart scheint mir daher zu
sein, dass Güter für Aristoteles einfach Gegenstände sind, die als gut bezeichnet wer-
den. (Dies ist auch die Bedeutung, in der ich den Ausdruck „Güter“ hier wie im Fol-
genden verwende.) Ähnlich wie im Fall des Seienden versucht Aristoteles, anhand die-
ser Gegenstände etwas über „das Gute“ herauszufinden.
Zielsetzung und Aufbau der Arbeit 5

dass gleich zu deren Beginn ein Zusammenhang zwischen dem Guten und
dem Erstrebten hergestellt wird?
Mit Blick auf die Begründung der teleologischen Konzeption sind zwei
Ergebnisse der Untersuchung besonders hervorzuheben. Erstens wäre es
tatsächlich falsch, Aristoteles „mangelndes Problembewusstsein“ vorzuwer-
fen. Die gerade skizzierten Schwierigkeiten einer undifferenzierten Gleich-
setzung von Gütern und Zielen spielen vielmehr eine entscheidende Rolle
in der Aristotelischen Ethik. Allerdings sollte, zweitens, die „Lösung“ die-
ser Schwierigkeiten, das heißt die Begründung, inwiefern es zulässig ist,
das Gute als das Erstrebte zu bestimmen, nicht in einer wie auch immer
beschaffenen Hintergrundtheorie gesucht werden. Um Aristoteles’ Ein-
schätzung der teleologischen Konzeption des Guten zu verstehen, sollten
wir vielmehr die ersten Kapitel der Nikomachischen Ethik (I 1-5) selbst in
den Blick nehmen. Denn hier führt Aristoteles vor Augen, was geschieht,
wenn man die Gleichsetzung von Gütern und Zielen als Grundlage einer
Theorie des Guten ernst nimmt. Er macht deutlich, dass sich die als Ziele
aufgefassten Güter in relevanter Hinsicht, nämlich insofern sie gut sind,
unterscheiden.
Mit diesem Resultat ist bereits die wichtigste Konsequenz benannt, die
die teleologische Konzeption des Guten nach sich zieht. Wenn die im
Folgenden vorzustellende Interpretation Recht hat, dann legt Aristoteles
seiner Nikomachischen Ethik eine Auffassung des Guten zugrunde, zu der
er selbst ein keineswegs unkritisches, zumindest aber ein sehr differenzier-
tes Verhältnis hat. Und wie sich herausstellen wird, reagiert Aristoteles in
der weiteren Untersuchung, das heißt in erster Linie bei der Bestimmung
des menschlichen Glücks (EN I 6 ff.), 8 auf die Schwierigkeiten, die in EN
I 1-5 zutage getreten sind. Die Vorgehensweise des ersten Buches der Ni-
komachischen Ethik lässt sich unmittelbar auf die gütertheoretischen Erwä-
gungen der Kapitel I 1-5 beziehen. Diese Erwägungen geben gewisserma-
ßen den gütertheoretischen Rahmen vor, in dem sich die Argumentation
dann bewegt. (Im Gegensatz zu einer verbreiteten Forschungsmeinung
möchte ich zeigen, dass die in EN I 1 vorgenommene Identifikation des
Guten mit dem Erstrebten nicht „psychologisch“ aufgefasst werden sollte.
Auch dass Aristoteles wenig später vom Glück als dem höchsten Ziel
spricht: I 2, 1095a14-20, sollte m.E. nicht im Sinn eines „Psychologischen
Eudaimonismus“ verstanden werden. Vielmehr werde ich dafür plädieren,
die genannte Identifikation konsequent „gütertheoretisch“ zu verstehen,

_____________
8 Wie in 4.2 gezeigt werden soll, lässt sich eventuell auch der Aristotelische Rekurs auf
die Figur des „Tugendhaften“ (spoudaios) mit den gütertheoretischen Erläuterungen
aus EN I 1-5 in Verbindung bringen.
6 Einleitung

wodurch sich das Bild der Aristotelischen Ethik in einigen Hinsichten


verändert.)
Der sich hier andeutende Blick auf das erste Buch der Nikomachischen
Ethik weicht von gängigen Auffassungen – sofern es angesichts der
Forschungslage überhaupt legitim ist, von „gängigen Auffassungen“ zu
sprechen – mehr oder weniger deutlich ab. Daher muss er sich an einer
genaueren Interpretation des Textes bewähren. Diese Interpretation, eine
„gütertheoretische Lektüre“ von EN I 1-9, bildet den Kern der vorliegen-
den Arbeit. In ihr soll gezeigt werden, dass Aristoteles in den Kapiteln
I 1-5 eine „Theorie des Guten“ entwickelt, welche die Grundlage für die
Bestimmung des Glücks in den Kapiteln I 6-9 bildet. Die weiteren Teile
der Arbeit lassen sich als Vorbereitung der gütertheoretischen Lektüre und
als eine Beschreibung ihrer Konsequenzen verstehen.
Die Strategie der Interpretation ist verhältnismäßig einfach. Im Prin-
zip soll gezeigt werden, dass eine gütertheoretische Lektüre von EN I 1-9,
das heißt der Versuch, die Argumentation auf gütertheoretische Frage-
stellungen zu beziehen, dem Text angemessener ist als mögliche Alternati-
ven. Angemessener zu sein heißt dabei erstens, Interpretationsprobleme zu
vermeiden, die sich ergeben, wenn der Text auf andere Fragestellungen
bezogen wird; und es heißt zweitens, ein geschlosseneres Bild des argu-
mentativen Ablaufs zu zeichnen, also die einzelnen Argumentationsschritte
zueinander ins Verhältnis zu setzen.
Diese Art der Herangehensweise hat Konsequenzen für den Umgang
mit der Sekundärliteratur. Die ersten Kapitel der Nikomachischen Ethik
haben in der Aristotelesforschung große Aufmerksamkeit erfahren. 9 Sie
enthalten einige Interpretationsprobleme, über die bislang keine Einigkeit
erzielt werden konnte, deren Lösung aber für das Verständnis der Ethik
insgesamt als zentral erscheint. 10 So scheint zum Beispiel die Frage nach
einer „inklusiven“ oder „dominanten“ Interpretation des Glücks (eudai-
monia) bereits in den Kriterien des höchsten Guts angelegt, die Aristoteles
in EN I 5 entwickelt. Das Ergon-Argument (I 6), das nach allgemeiner
Auffassung die Basis der Aristotelischen Glückskonzeption darstellt, bietet
gleich eine ganze Reihe von Schwierigkeiten; zu ihnen gehört etwa die
Frage, wie sich die Bestimmung des „guten Menschen“ (spoudaios
anthrôpos) mit der Bestimmung des „menschlichen Guts“ (anthrôpinon
agathon) verbinden lässt und ob Aristoteles hier einen „naturalistischen
Fehlschluss“ begeht. Hinzu kommt die Frage, ob Aristoteles seine Defini-
_____________
9 Vgl. für relativ ausführliche und aktuelle bibliographische Angaben zur Nikomachi-
schen Ethik z.B. Bostock (2000), Broadie/Rowe (2002), Wolf (2002) und Pakaluk
(2005).
10 Vgl. zu den im Folgenden angeführten Interpretationsproblemen die Literaturangaben
in den entsprechenden Passagen der vorliegenden Arbeit.
Zielsetzung und Aufbau der Arbeit 7

tion der eudaimonia, und damit letztlich seine Ethik, dialektisch begrün-
det, da er sie mit gängigen Meinungen abgleicht (I 8 ff.), oder ob er mit
dem Rückgriff auf das spezifische ergon des Menschen (I 6) eine eher me-
taphysische Fundierung im Sinn hat. Speziellere Interpretationsprobleme
betreffen die Einleitung des ersten Kapitels (1094a1-22), die zwei Fehl-
schlüsse zu enthalten scheint, oder die in Kapitel I 4 durchgeführte Ideen-
kritik, wo vor allem die Deutung des so genannten „Kategorienarguments“
(1096a23-29) umstritten ist. Nach meiner Überzeugung beruhen viele
dieser Interpretationsprobleme auf impliziten Voraussetzungen hinsicht-
lich des Argumentationsziels der jeweiligen Passage. Indem ich die Texte
auf ein anderes Argumentationsziel beziehe, positioniere ich mich daher in
der Regel nicht innerhalb einer Debatte, sondern zu einer Debatte als
Ganzer, etwa zu der erwähnten Diskussion um eine dominante oder in-
klusive Interpretation der eudaimonia (vgl. 1.2). Ich werde also eher versu-
chen, bestimmte Tendenzen oder Grundlagen einer bestehenden Diskus-
sion nachzuweisen, um so eine „Negativfolie“ für die eigene Interpretation
zu haben, als ein detailliertes Bild dieser Diskussion zu geben. Außerdem
möchte ich zeigen, dass die Spezialdebatten um bestimmte Abschnitte oft
den Blick dafür verstellen, was sich aus diesen Abschnitten für die Inter-
pretation der Nikomachischen Ethik gewinnen lässt. So werde ich zum
Beispiel mit Bezug auf das Kategorienargument aus EN I 4 eine Deutung
vorschlagen, die diesem Argument eine Funktion für die Untersuchung
zuweist, ohne sich auf eine kontroverse These zur Aristotelischen Seman-
tik einzulassen (vgl. 2.3.3). Die vorliegende Arbeit beansprucht jedoch
nicht, die Forschung zum ersten Buch der Nikomachischen Ethik in umfas-
sender Weise wiederzugeben oder ihr in allen Details gerecht zu werden.

Die Arbeit gliedert sich in vier Kapitel. Das erste Kapitel dient dazu, die
gütertheoretische Lektüre von EN I 1-9 vorzubereiten. Es soll gezeigt wer-
den, dass die in EN I gewählte Vorgehensweise zwangsläufig auf güter-
theoretische Fragen führt. Dazu werde ich mich an zwei einfachen Beo-
bachtungen orientieren: (i) Für Aristoteles bildet die Gleichsetzung zwi-
schen dem Glück und dem höchsten menschlichen Gut den Zugang zur
Bestimmung des Glücks. Die Beantwortung der Frage nach dem Glück
führt über die Beantwortung der Frage nach dem höchsten Gut (1.1).
(ii) Für Aristoteles ist die Frage nach dem höchsten Gut schwierig zu be-
antworten. Aus aristotelischer Sicht ist es keineswegs klar, was die These,
etwas sei das höchste Gut, überhaupt bedeuten soll. Dies lässt sich nicht
nur an den unterschiedlichen Kriterien des höchsten Guts aus EN I 5
ablesen, die in der Regel unter der Alternative einer inklusiven oder domi-
nanten Interpretation des Glücks diskutiert werden (1.2). Es wird auch in
jenen Passagen deutlich, in denen auf der Basis „anerkannter Güter“ eine
8 Einleitung

Definition des Guten vorgenommen werden soll, wie etwa in Rhet. I 6-7.
Die Komplexität der hier entworfenen Definition spiegelt die Komplexität
des Gegenstandes wider (1.3). Vor dem Hintergrund dieser beiden Beo-
bachtungen liegt es nahe, gütertheoretische Erörterungen in der Ethik zu
erwarten, zumal Aristoteles keinen (radikal) revisionistischen Ansatz ver-
tritt (1.4).
Die im ersten Kapitel umrissene Situation dient als Hintergrund für
die Interpretation von EN I 1-5. Wie gezeigt werden soll, entwickelt Aris-
toteles in diesen Passagen eine Theorie des Guten, die das Problem der
Verschiedenheit der Güter berücksichtigt. Der Grundgedanke dieser im
zweiten Kapitel enthaltenen Interpretation wurde bereits vorgestellt: Aris-
toteles bestimmt zwar gleich zu Beginn der Abhandlung Güter als Ziele
(I 1), dies bedeutet jedoch nicht, dass er eine teleologische Konzeption des
Guten für unproblematisch halten würde. Vielmehr machen die Kritik der
verbreiteten Meinungen über das Glück (I 2-3) und die Auseinanderset-
zung mit der Annahme einer Idee des Guten (I 4) deutlich, wo die Schwä-
chen des teleologischen Ansatzes liegen. Zu Beginn von EN I 5 verfügt
Aristoteles über eine „Einschätzung“ der Identifikation von Gütern und
Zielen und damit über Grundlinien einer Theorie des Guten. Die Inter-
pretation lässt sich durch die folgenden Schritte markieren: (i) Die ange-
messenste Deutung des Beginns von EN I 1 (1094a1-22) begreift den dort
vorgestellten Zusammenhang zwischen dem Guten und dem Erstrebten
als stipulativ. Aristoteles möchte zeigen, dass dieser Zusammenhang einen
Vergleich zwischen Gütern ermöglicht und so auf ein Kriterium eines
höchsten Guts führt. Er bietet aber weder eine Begründung der Gleichset-
zung zwischen Gütern und Zielen, noch verweist er auf eine solche Be-
gründung. Diese Deutung wird in Absetzung von der verbreiteten Auffas-
sung entwickelt, dass Aristoteles am Beginn der Nikomachischen Ethik die
Existenz eines höchsten Guts beweist (2.2.1). (ii) Die erste Behandlung der
Meinungen über das Glück, vor allem die Kritik der verbreiteten Lebens-
formen in Kapitel I 3, lässt sich als eine „Anwendung“ des in I 1 einge-
führten gütertheoretischen Ansatzes begreifen. Denn die hier besproche-
nen Güter wie Lust oder Tugend werden explizit als höchste Strebensziele
aufgefasst. Interessant an dieser Anwendung ist, dass in ihr einige Eigen-
schaften der teleologischen Konzeption des Guten zutage treten. So führt
die Gleichsetzung zwischen Gütern und Zielen offenbar in einen Relati-
vismus (Güter sind stets Güter „in Bezug auf“), und sie erfasst zweitens
nicht alle Kriterien des Guten. Daher stellt sich die Frage, wie man auf der
Basis eines teleologischen Ansatzes überhaupt ein höchstes Gut bestimmen
kann, das alle Kriterien des Guten erfüllt (2.2.2). (iii) Aber auch die Pla-
tonkritik in Kapitel I 4 enthält einen Hinweis, der die teleologische Kon-
zeption des Guten betrifft. Aristoteles macht nämlich nicht nur deutlich,
Zielsetzung und Aufbau der Arbeit 9

dass der ideentheoretische Ansatz aus prinzipiellen Gründen scheitert. Er


behauptet zugleich, dass es keine einheitliche Definition des Guten geben
kann. Auch eine Identifikation von Gütern und Zielen bietet keine solche
Definition, sondern benennt lediglich eine Gemeinsamkeit „der Analogie
nach“ (kat’ analogian). Die als Ziele aufgefassten, „relativen“ Güter sind
somit in relevanter Hinsicht verschieden (allo en allôi) (2.3 und 2.4).
Die theoretischen Hintergrundannahmen der Platonkritik aus EN I 4
sind in der Forschung sehr umstritten. Es besteht sowohl Uneinigkeit über
die genaue Interpretation der einzelnen Argumente als auch über die Fra-
ge, ob die ihnen zugrunde liegende Theorie überhaupt konsistent ist. Die
hier vorgeschlagene Interpretation klammert diese Probleme aus und kon-
zentriert sich allein auf das genannte Ergebnis der Platonkritik: Eine teleo-
logische Konzeption des Guten hat es mit einer Vielzahl von Gütern zu
tun, die in entscheidender Weise verschieden sind. Im dritten Kapitel soll
gezeigt werden, dass Aristoteles in EN I 6-9, das heißt bei der Bestim-
mung der eudaimonia, an genau dieses Ergebnis anknüpft. Die Einfüh-
rung des Ergon-Arguments (I 6) und der sich anschließende Vergleich mit
den gängigen Meinungen (I 8-9) reagieren auf die Situation einer Ge-
meinsamkeit kat’ analogian, indem sie aus der Vielzahl der als Ziele be-
stimmten Güter eines „herausgreifen“ (das Gute in Bezug auf den Men-
schen) und einer genaueren Betrachtung unterziehen. Da die teleologische
Konzeption des Guten in EN I 1 lediglich stipuliert worden ist und da aus
I 3 und I 5 bekannt ist, dass die als Ziele begriffenen Güter nicht zwangs-
läufig alle Kriterien des Guten erfüllen, macht ein Vergleich des „mensch-
lichen Guts“ mit anerkannten Meinungen durchaus Sinn. Erst dieser Ver-
gleich kann zeigen, dass in EN I 6 das „richtige“ Gut herausgegriffen
wurde (3.2). Um die Vorteile dieser Interpretation darzustellen, wird sie in
Kapitel 3 mit einer Deutung verglichen, die die ersten Kapitel aus EN I
nicht gütertheoretisch liest, sondern sie im Sinn des erwähnten „Psycholo-
gischen Eudaimonismus“ versteht. Es soll gezeigt werden, dass EN I aus
der Sicht des Psychologischen Eudaimonismus einen entscheidenden
Bruch enthält. Aristoteles würde mit Kapitel I 6 unvermittelt von einer
„subjektiven“ zu einer „objektiven“ Perspektive auf das Glück übergehen;
und es scheint alles andere als klar zu sein, wie sich diese beiden Perspekti-
ven verbinden lassen (3.1). Folgt man dagegen der hier vorgeschlagenen
gütertheoretischen Lektüre, dann können die Kapitel I 1-5 als Vorberei-
tung des Ergon-Arguments und die Kapitel I 1-9 als ein in sich geschlos-
sener Argumentationsgang begriffen werden.
Mit dem dritten Kapitel ist die gütertheoretische Lektüre von EN
I 1-9 abgeschlossen. Im sich anschließenden vierten Kapitel werden einige
Auswirkungen beschrieben, die diese Lektüre für unser Verständnis der
Aristotelischen Ethik mit sich bringt. Dazu werde ich mich an zwei
10 Einleitung

Grundfragen orientieren, deren Beantwortung wir üblicherweise von einer


normativen Ethik erwarten würden. Zum einen soll gezeigt werden, dass
sich der in EN I hergestellte Zusammenhang zwischen Glück und Tugend
nicht für eine „eudaimonistische Antwort“ auf die Frage „Warum mora-
lisch sein?“ eignet, wie sie bisweilen in der Literatur zu finden ist. Denn
mit der Zurückweisung des Psychologischen Eudaimonismus entfällt auch
die psychologische Pointe, die diese Antwort eigentlich auszeichnen soll.
Wie Aristoteles die Frage „Warum moralisch sein?“ beantworten würde,
geht aus dem ersten Buch der Nikomachischen Ethik nicht hervor (4.1).
Zum anderen sollen Zweifel an der Auffassung geweckt werden, dass der
Aristotelische Verweis auf den Tugendhaften als „Maßstab“ des in Wahr-
heit Guten eine Antwort auf die Frage „Was soll ich tun?“ bietet, dass er
also als Äquivalent eines moralischen Prinzips zu verstehen ist. Nach der
hier vorgestellten Deutung von EN I liegt es viel näher, diesen Verweis als
den Versuch zu interpretieren, die Unterscheidung zwischen dem tatsäch-
lich Guten und dem nur scheinbar Guten (phainomenon agathon) in den
Rahmen der teleologischen Konzeption des Guten zu integrieren (4.2).
Sollte diese Interpretation zutreffen, dann wäre der Verweis auf den Tu-
gendhaften nicht als Bestandteil eines normativen, sondern eher eines
deskriptiven Projekts zu begreifen. Ausgehend von dieser Beobachtung
wird abschließend die Frage aufgeworfen, inwiefern es überhaupt sinnvoll
ist, die Ethik des Aristoteles als eine normative Ethik aufzufassen (4.3).
1. Die Verschiedenheit der Güter

Alice’s new Mercedes is a good car; chocolate tastes good.


Which is better, Alice’s Mercedes or chocolate? 1
(Judith Jarvis Thomson)

Das exegetische Ziel der vorliegenden Arbeit besteht darin, eine gütertheo-
retische Lektüre des ersten Buches der Nikomachischen Ethik vorzustellen. 2
Es soll gezeigt werden, dass diese Lektüre dem Text angemessener ist als
mögliche Alternativen.
Das folgende Kapitel dient zur Vorbereitung dieses Unternehmens.
Ich werde hier zum einen ein Problem skizzieren, das sich außerhalb der
Ethiken immer wieder andeutet 3 und das ich als „Problem der Verschie-
denheit der Güter“ bezeichnen möchte. Auf den Punkt gebracht besteht
dieses Problem darin, dass die Gegenstände, die üblicherweise Güter ge-
nannt werden, einander sehr unähnlich sind. Es fällt daher schwer, ein
einheitliches Kriterium des Guten zu entwickeln oder einen wertenden
Vergleich zwischen Gütern vorzunehmen. Zum anderen werde ich andeu-
ten, dass Aristoteles, nach seiner Vorgehensweise in EN I zu schließen,
eigentlich zu diesem Problem Stellung beziehen müsste. Auf diese Weise
wird ein möglicher Hintergrund für die Interpretation des ersten Buches
bereitgestellt. Im zweiten und dritten Kapitel dieser Arbeit werde ich dann
zeigen, dass Aristoteles tatsächlich zu dem genannten Problem Stellung
bezieht und dass hierin ein Schlüssel für das Verständnis seiner Argumente
liegt.
Das Kapitel gliedert sich in drei Abschnitte. Zunächst soll gezeigt wer-
den, dass die Gleichsetzung zwischen der eudaimonia und dem höchsten
Gut den sachlichen Ausgangspunkt der Aristotelischen Ethik bildet, wie
auch immer die weitere Bedeutung dieser Gleichsetzung aufzufassen ist
(1.1). Danach werde ich mich mit den Kriterien des höchsten Guts befas-
_____________
1 Thomson (1996, 129).
2 Streng genommen konzentriert sich die Untersuchung auf EN I 1-9. Aus Gründen
der Einfachheit werde ich aber in der Regel vom „ersten Buch“ sprechen.
3 Die wichtigsten Belege finden sich im dritten Buch der Topik (III 1-4), im ersten
Buch der Rhetorik (I 6-7) und in einigen Fragmenten des Protreptikos (insbes. B 71
und B 82 DÜRING).
12 1. Die Verschiedenheit der Güter

sen, die Aristoteles in EN I 5 präsentiert. Eine Untersuchung dieser Krite-


rien führt zwangsläufig auf die Frage nach den ihnen zugrunde liegenden
Kriterien des Guten (1.2). Und schließlich möchte ich unter Rückgriff auf
Rhet. I 6-7 andeuten, wie sich die Verschiedenheit der Güter auf mögliche
Kriterien des Guten auswirkt (1.3).
In allen drei Abschnitten wird es nicht um eine genaue Interpretation
der jeweils betrachteten Passage gehen, sondern darum, auf einen be-
stimmten Punkt hinzuweisen, der nach meiner Auffassung für die Inter-
pretation der Ethik relevant ist. Dass und inwiefern dieser Punkt relevant
ist, inwiefern also das Problem der Verschiedenheit der Güter hinter der
Argumentation in EN I steht, wird jedoch erst in den Kapiteln 2 und 3
gezeigt. Es geht, wie gesagt, um einen möglichen Hintergrund für die In-
terpretation.

1.1 Das höchste Gut


Im ersten Buch der Nikomachischen Ethik äußert Aristoteles mehrmals die
These, dass die eudaimonia 4 das höchste menschliche Gut ist beziehungs-
weise dass das höchste menschliche Gut als eudaimonia bezeichnet wird
(I 2, 1095a15-19; I 6, 1097b22-23; I 9, 1099a24-25).5 Diese These (im
Folgenden: T) wird an unterschiedlichen Stellen unterschiedlich formu-
liert. Mal spricht Aristoteles vom „höchsten Gut“ (ijր ԐȜȢցijįijȡȟ ij‫׭‬ȟ
ԐȗįȚ‫׭‬ȟ), mal vom „Besten“ (ijր ԔȢțIJijȡȟ), mal wird das Gut explizit als
„menschliches Gut“ (anthrôpinon agathon) bezeichnet, mal unterbleibt
diese Spezifikation. Diese Unterschiede können hier aber vernachlässigt
werden. Ganz offensichtlich meint das „höchste Gut“ mit Bezug auf die
eudaimonia immer das höchste menschliche Gut, das mit dem besten
menschlichen Gut identisch ist. 6 Im Folgenden sollen einige Anmerkun-
gen zur Funktion der These T gemacht werden, die mir für das Verständ-
nis von EN I wichtig erscheinen.

_____________
4 Von der genauen Übersetzung des Ausdrucks eudaimonia hängt für die vorliegende
Untersuchung nichts ab. Ich werde ihn daher in der Regel unübersetzt lassen oder mit
„Glück“ wiedergeben.
5 Vgl. EE I 1, 1214a7-8; I 7, 1217a21-22.
6 Genauer gesagt konzentriert sich Aristoteles in EN I explizit auf die menschliche
eudaimonia und das menschliche Gut: „Dass aber die menschliche Tugend zu unter-
suchen ist, ist offensichtlich. Denn wir suchten auch (von Anfang an) nach dem
menschlichen Gut und dem menschlichen Glück“ (ʍıȢվ ԐȢıij‫׆‬ȣ İպ ԚʍțIJȜıʍijջȡȟ
ԐȟȚȢȧʍտȟșȣ İ‫׆‬ȝȡȟ Ցijțǝ Ȝįվ ȗոȢ ijԐȗįȚրȟ ԐȟȚȢօʍțȟȡȟ ԚȘșijȡ‫ף‬Ȟıȟ Ȝįվ ijռȟ
ı՘İįțȞȡȟտįȟ ԐȟȚȢȧʍտȟșȟ: I 13, 1102a13-15); vgl. 3.2.
1.1 Das höchste Gut 13

Auf den ersten Blick scheint es so, als würde Aristoteles den Wert von
T nicht allzu hoch einschätzen:
Wir aber wollen [...] sagen, [...] was das höchste aller praktischen Güter ist. Dem
Namen nach stimmen wohl die meisten überein. Denn sowohl die Vielen als
auch die Wohlgesitteten nennen es ‚Glück’ [...]. Jedoch darüber, was das Glück
ist, sind sie sich uneinig, und die Vielen erklären es nicht auf dieselbe Weise wie
die Weisen. 7 (I 2, 1095a14-22)
Zu sagen, dass Glück das Beste ist, scheint aber vielleicht etwas allgemein Aner-
kanntes zu sein. Wir verlangen aber, noch deutlicher zu sagen, was es ist. 8 (I 6,
1097b22-24)
Es ist zwar allgemein anerkannt, dass die eudaimonia das höchste Gut ist;
die Frage, was die eudaimonia ist, wird dadurch aber nicht beantwortet.
Da jedoch gerade diese Frage beantwortet werden soll – vgl. die relativ
starke Formulierung potheitai de („wir verlangen aber“: 1097b23) –,
scheint T für die Untersuchung von untergeordnetem Nutzen. Dement-
sprechend wird in der Forschung häufig von einer bloß „formalen“ Be-
stimmung der eudaimonia durch T gesprochen, die von der entscheiden-
den „inhaltlichen“ Bestimmung abzugrenzen sei. 9
Dass die Frage nach dem Glück durch den Verweis auf das höchste
Gut noch nicht beantwortet wird, darf allerdings nicht darüber hinweg-
täuschen, dass T für die Herangehensweise in der Ethik eine wichtige
Rolle spielt. Die Identifikation der eudaimonia mit dem höchsten Gut
bietet den sachlichen Ausgangspunkt der ethischen Untersuchung. Um
dies zu verdeutlichen, möchte ich zunächst einen Blick auf das erste Buch
der Eudemischen Ethik werfen, wo sich Aristoteles explizit zur Rolle von T
äußert.
In der Eudemischen Ethik stellt Aristoteles gleich zu Beginn fest, dass
die eudaimonia das Schönste (ȜչȝȝțIJijȡȟ), Beste (ԔȢțIJijȡȟ) und Lustvollste
(ԱİțIJijȡȟ) ist (1214a7-8). Im Verlauf des Proömiums (I 1-6) kommt er
hin und wieder auf diese These zurück; was sie für die Ethik bedeutet,
wird aber erst mit dem Beginn der eigentlichen Untersuchung in Kapitel I
7 deutlich:

_____________
7 ȂȒȗȧȞıȟ [...] ijȔ ijր ʍȑȟijȧȟ ԐȜȢȪijįijȡȟ ij‫׭‬ȟ ʍȢįȜij‫׭‬ȟ ԐȗįȚ‫׭‬ȟ. ՌȟȪȞįijț Ȟպȟ ȡ՞ȟ
IJȥıİրȟ ՙʍր ij‫׭‬ȟ ʍȝıȔIJijȧȟ ՍȞȡȝȡȗı‫ה‬ijįț· ijռȟ ȗոȢ ı՘İįțȞȡȟȔįȟ Ȝįվ ȡԽ ʍȡȝȝȡվ Ȝįվ ȡԽ
ȥįȢȔıȟijıȣ ȝȒȗȡȤIJțȟ [...] ʍıȢվ İպ ij‫׆‬ȣ ı՘İįțȞȡȟȔįȣ, ijȔ ԚIJijțȟ, ԐȞĴțIJȖșijȡ‫ף‬IJț Ȝįվ ȡ՘ȥ
ՍȞȡȔȧȣ ȡԽ ʍȡȝȝȡվ ijȡ‫ה‬ȣ IJȡĴȡ‫ה‬ȣ ԐʍȡİțİȪįIJțȟ.
8 Ԙȝȝ’ ՀIJȧȣ ijռȟ Ȟպȟ ı՘İįțȞȡȟȔįȟ ijր ԔȢțIJijȡȟ ȝȒȗıțȟ ՍȞȡȝȡȗȡȫȞıȟȪȟ ijț ĴįȔȟıijįț,
ʍȡȚı‫ה‬ijįț İ’ ԚȟįȢȗȒIJijıȢȡȟ ijȔ ԚIJijțȟ Ԥijț ȝıȥȚ‫׆‬ȟįț. Für eine genauere Besprechung die-
ser Passage vgl. 3.2.
9 Vgl. z.B. Lawrence (2006, 45-47).
14 1. Die Verschiedenheit der Güter

Nach diesen Vorbemerkungen wollen wir fortfahren, indem wir, wie gesagt, zu-
nächst bei den ersten und unklaren Meinungen beginnen und versuchen, auf eine
klare Weise herauszufinden, was die eudaimonia ist. Es ist also allgemein aner-
kannt, dass dies das größte und beste der menschlichen Güter ist. 10 (1217a18-22)
Dieser Einleitungssatz enthält einige aufschlussreiche Informationen über
die Gleichsetzung zwischen der eudaimonia und dem höchsten Gut: (i) T
zählt zu den allgemein anerkannten Meinungen (ՍȞȡȝȡȗı‫ה‬ijįț İս). 11 (ii) T
ist Ausgangspunkt (ԐȢȠչȞıȟȡț ʍȢ‫׭‬ijȡȟ Ԑʍր ij‫׭‬ȟ ʍȢօijȧȟ) einer Untersu-
chung, deren Ziel darin besteht, herauszufinden, was die eudaimonia ist
(ıՙȢı‫ה‬ȟ ijտ ԚIJijțȟ ԭ ı՘İįțȞȡȟտį). 12 (iii) Im Rahmen dieser Untersuchung
soll die These T, die zwar allgemein anerkannt, aber nicht klar ist (ij‫׭‬ȟ ȡ՘
IJįĴ‫׭‬ȣ ȝıȗȡȞջȟȧȟ), geklärt werden (IJįĴ‫׭‬ȣ ıՙȢı‫ה‬ȟ). 13
Die zitierte Passage wirft einige schwierige Interpretationsfragen auf.
So ist zum Beispiel umstritten, wie sich die Wahrheit von T zu dem Um-
stand verhält, dass T allgemein anerkannt ist, oder inwiefern eine „Klä-
rung“ von T bereits eine Antwort auf die Frage bietet, was die eudaimonia
ist. Fragen dieser Art sind besonders für die Interpretation der Methode
der Aristotelischen Ethik von Bedeutung, da sich an ihnen entscheidet, ob
man von einem dialektischen Ansatz in der Ethik sprechen kann. Es lassen
sich aber zwei Beobachtungen festhalten, die von diesen Fragen unabhän-
gig sind. Erstens wird T vorläufig weder begründet noch in Frage gestellt.
Wenn Aristoteles später darauf zurückkommt, verwendet er das „philoso-
phische Imperfekt“ (II 1, 1219a28; a29 und a34), was darauf hindeutet,
dass die These für den Rahmen der Untersuchung als gesichert gilt. Zwei-
tens ist T zumindest insofern ein Ausgangspunkt, als die Frage „Was ist
die eudaimonia?“ in EE I 7 – II 1 durch die Frage „Welches ist das beste
der menschlichen Güter?“ ersetzt wird. Aristoteles klärt zunächst, was un-
ter einem „menschlichen“ Gut zu verstehen ist. Ein menschliches Gut ist
eines, das sich durch menschliches Handeln verwirklichen lässt (ʍȢįȜijցȟ)
(I 7). Er beschäftigt sich dann mit der Bedeutung des Besten (I 8). Das
Beste lässt sich im Sinne eines höchsten Ziels begreifen. Und schließlich
beantwortet er die Frage nach dem höchsten menschlichen Gut mit Hilfe

_____________
10 ʍıʍȢȡȡțȞțįIJȞջȟȧȟ İպ Ȝįվ ijȡփijȧȟ, ȝջȗȧȞıȟ ԐȢȠչȞıȟȡț ʍȢ‫׭‬ijȡȟ Ԑʍր ij‫׭‬ȟ ʍȢօijȧȟ,
խIJʍıȢ ıՀȢșijįț, ȡ՘ IJįĴ‫׭‬ȣ ȝıȗȡȞջȟȧȟ, Șșijȡ‫ף‬ȟijıȣ Ԛʍվ ijր IJįĴ‫׭‬ȣ ıՙȢı‫ה‬ȟ ijտ ԚIJijțȟ ԭ
ı՘İįțȞȡȟտį. ՍȞȡȝȡȗı‫ה‬ijįț İռ ȞջȗțIJijȡȟ ıՂȟįț Ȝįվ ԔȢțIJijȡȟ ijȡ‫ף‬ijȡ ij‫׭‬ȟ ԐȗįȚ‫׭‬ȟ ij‫׭‬ȟ
ԐȟȚȢȧʍտȟȧȟ.
11 Mit I 6, 1216b32, worauf das „wie gesagt“ (խIJʍıȢ ıՀȢșijįț) offensichtlich verweist,
darf man vermutlich ergänzen, dass T als wahr angesehen wird.
12 Die Bedeutung dieser Frage wurde bereits im Proömium angedeutet: I 4, 1215a20-22.
13 Vgl. auch hierzu I 6: „Aus dem, was zwar wahr, aber nicht klar gesagt ist, wird im
Fortschreiten das klar (Gesagte)“ (ԚȜ ȗոȢ ij‫׭‬ȟ ԐȝıȚ‫׭‬ȣ Ȟպȟ ȝıȗȡȞջȟȧȟ ȡ՘ IJįĴ‫׭‬ȣ İջ,
ʍȢȡȨȡ‫ף‬IJțȟ ԤIJijįț Ȝįվ ijր IJįĴ‫׭‬ȣ: 1216b32-33).
1.1 Das höchste Gut 15

des „Ergon-Aguments“ (II 1). Das höchste menschliche Gut ist die Tätig-
keit der Tugend der Seele. Erst nachdem Aristoteles diese Antwort gege-
ben hat, kommt er in einer Zusammenfassung der Argumentation auf die
Identifikation von eudaimonia und höchstem Gut zurück:
Aus dem Zugrundegelegten ist offensichtlich, [...] dass die Tätigkeit der Tugend
der Seele das Beste ist. Es war aber auch die eudaimonia das Beste. Also ist die eu-
daimonia die Tätigkeit einer guten Seele. 14 (II 1, 1219a28-35)
Die Strategie ist demnach verhältnismäßig einfach. Aristoteles geht davon
aus, dass er sich bei der Untersuchung der eudaimonia (zumindest vorerst)
ganz auf die Frage nach dem höchsten Gut konzentrieren kann. Die Ant-
wort auf diese Frage soll dann automatisch die Antwort auf die Frage nach
der eudaimonia liefern, da diese ja mit dem höchsten Gut identisch ist. T
dient somit als Gelenkstelle zwischen der Frage nach der eudaimonia und
der konkreten Untersuchung des höchsten menschlichen Guts. 15
Im ersten Buch der Nikomachischen Ethik scheint Aristoteles anders
und weniger systematisch vorzugehen als in EE I 7 – II 1. 16 Er beginnt
hier nicht mit einer These über die eudaimonia, sondern mit dem Begriff
des höchsten Guts (I 1). Er erwähnt zwar mehrmals, dass dieses höchste
Gut als eudaimonia bezeichnet wird, es sieht aber nicht so aus, als würde er
diese These für die Untersuchung fruchtbar machen; wie wir gesehen ha-
ben, scheint er ihren Wert sogar eher gering zu schätzen. Dennoch gibt es
einige Anhaltspunkte dafür, dass die grundlegende Funktion von T in
EN I dieselbe ist wie in EE I 7 – II 1, auch wenn sie nicht in derselben
Weise offengelegt wird:
Die Nikomachische Ethik beginnt zwar mit der Frage nach dem höchs-
ten Gut (I 1, 1094a18-26), die Untersuchung des ersten Buches läuft aber
auf eine Definition der eudaimonia hinaus (I 13, 1102a5-6) und führt
auch hier über ein „Ergon-Argument“ (I 6). Dabei glaubt Aristoteles wie
in der Eudemischen Ethik durch das Ergon-Argument eine Antwort auf die
Frage nach „dem Guten“ umrissen zu haben (ȇıȢțȗıȗȢչĴȚȧ Ȟպȟ ȡ՞ȟ
ijԐȗįȚրȟ ijįփijׄ: I 7, 1098a20-21), die er später umstandslos als eine Defi-
nition der eudaimonia behandelt. 17 Die Konstellation ist also mit der in

_____________
14 İ‫׆‬ȝȡȟ İպ ԚȜ ij‫׭‬ȟ ՙʍȡȜıțȞջȟȧȟ [...] ij‫׆‬ȣ ԐȢıij‫׆‬ȣ ԚȟջȢȗıțįȟ ij‫׆‬ȣ ȦȤȥ‫׆‬ȣ ԔȢțIJijȡȟ ıՂȟįț.
Բȟ İպ Ȝįվ ԭ ı՘İįțȞȡȟտį ijր ԔȢțIJijȡȟ. ԤIJijțȟ ԔȢį ԭ ı՘İįțȞȡȟտį ȦȤȥ‫׆‬ȣ ԐȗįȚ‫׆‬ȣ
ԚȟջȢȗıțį.
15 Diese Strategie führt auf die Frage, welche Art von Identität zwischen der eudaimonia
und dem höchsten Gut besteht. Im vorliegenden Kontext ist es allerdings nicht nötig,
dieser Frage weiter nachzugehen.
16 Vgl. hierzu Rowe (1971, Teil I, Kap. 2).
17 Diese Definition wird mit gängigen Meinungen zur eudaimonia abgeglichen, und
zwar auch mit solchen, die nichts mit der Bestimmung der eudaimonia als höchstes
16 1. Die Verschiedenheit der Güter

EE II 1 durchaus vergleichbar. 18 Allerdings dürfte diese Sichtweise um-


stritten sein, da über die genaue Interpretation des Ergon-Arguments im
Kontext von EN I keine Einigkeit besteht. Deshalb möchte ich zwei weite-
re Beobachtungen nennen, die weniger kontrovers sein dürften, aber auf
dasselbe hindeuten: (i) Bei der Untersuchung der gängigen Meinungen
anhand der Lebensformen (Ȗտȡț) in EN I 3 betrachtet Aristoteles Lust,
Ehre, Tugend usw. sowohl als Kandidaten für das (höchste) Gut als auch
als Kandidaten für die eudaimonia. Dies geht bereits aus dem Einleitungs-
satz hervor, der sich explizit auf das Gute und (bzw.: das heißt) die eudai-
monia bezieht (ijր ȗոȢ ԐȗįȚրȟ ȜįЂ ijռȟ ı՘İįțȞȡȟտįȟ: 1095b14-15). Es
wird aber noch deutlicher dadurch, dass Aristoteles die genannten Kandi-
daten sowohl anhand von Kriterien eines höchsten Guts 19 als auch anhand
von Auffassungen über das Glück prüft. 20 Das heißt, im Hintergrund der
Frage nach dem höchsten Gut steht bereits hier die Frage nach der eudai-
monia. (ii) Aristoteles beginnt seine eigene Antwort auf die Frage nach der
eudaimonia, indem er in EN I 5 Kriterien eines höchsten Guts umreißt.
Auch wenn die Funktion und Reichweite dieses Ansatzes umstritten ist,
lässt sich zumindest festhalten, dass eine Untersuchung des höchsten Guts
den Zugang zur Antwort auf die Frage nach der eudaimonia bildet. Und
da auch andere Zugangsweisen denkbar erscheinen, ist diese Feststellung
keineswegs trivial. So hätte Aristoteles auch bei der allgemein anerkannten
These ansetzen können, dass die eudaimonia mit dem „gut Leben“ (ı՞
Ș‫׆‬ȟ) und „gut Handeln“ oder „Wohlbefinden“ (ı՞ ʍȢչijijıțȟ) identisch ist
(vgl. I 2, 1095a19).
Damit verfügen wir über den ersten Aspekt unseres Hintergrunds für
die gütertheoretische Lektüre von EN I: Um herauszufinden, was die eu-
daimonia ist, setzt Aristoteles bei einer Untersuchung des höchsten Guts
an. Der Begriff des höchsten Guts bildet den Zugang zur Ethik. 21
_____________
Gut zu tun haben. (Dazu gehört z.B. der Zusammenhang zwischen eudaimonia und
Lust: I 9, 1099a7-21).
18 Einen Vergleich der Ergon-Argumente aus EN I 6 und EE II 1 bietet Müller (2003).
19 Dies geschieht im Fall von Ehre (1095b26-30) und Reichtum (1096a6-7): Beide
werden um einer anderen Sache willen erstrebt und kommen daher nicht als höchste
Güter in Frage; vgl. 2.2.2.
20 Gegen die Tugend als höchstes Gut wird eingewandt, dass man als Tugendhafter sein
Leben auch schlafend verbringen kann oder größtes Unglück erleiden: „Wer aber so
lebt, den dürfte wohl niemand glücklich nennen, außer um an seiner These festzuhal-
ten“ (ijրȟ İ’ ȡ՝ijȧ Ș‫׭‬ȟijį ȡ՘İıվȣ Ԓȟ ı՘İįțȞȡȟտIJıțıȟ, ıԼ Ȟռ ȚջIJțȟ İțįĴȤȝչijijȧȟ:
1096a1-2).
21 Nach einer von Jörn Müller vorgeschlagenen Interpretation lässt sich die Argumenta-
tion des ersten Buches der Nikomachischen Ethik insgesamt als eine „konzeptuelle Ana-
lyse des Ausdrucks ‚das höchste Gut menschlicher Praxis’“ begreifen (2006a, 5). Mit
dem Grundgedanken dieser Interpretation stimme ich überein; und ebenso wie Mül-
ler (2006a, 25-28) gehe ich davon aus, dass ein Blick auf die Vorgehensweise der Eu-
1.2 Kriterien des höchsten Guts: EN I 5 17

Der zweite Aspekt dieses Hintergrunds liegt in der Beobachtung, dass


der Begriff des höchsten Guts schwierig zu bestimmen ist. Aus „aristoteli-
scher Sicht“ ist nicht ohne weiteres klar, was es bedeuten soll, dass etwas
das höchste Gut ist. Im Folgenden möchte ich diese Beobachtung genauer
ausführen und begründen. Dazu werden wir uns zunächst den Kriterien
des höchsten Guts zuwenden, die Aristoteles in EN I 5 entwickelt.

1.2 Kriterien des höchsten Guts: EN I 5


Kapitel I 5 bildet im Verlauf des ersten Buches eine Art Wendepunkt.
Nachdem Aristoteles in den Kapiteln I 1 und I 2 die Fragestellung expo-
niert hat und in den Kapiteln I 3 und I 4 auf die bestehenden Meinungen
eingegangen ist, beginnt er nun damit, seine eigene Antwort zu umrei-
ßen. 22 Auch wenn die eigentliche Definition erst im sechsten Kapitel ge-
geben wird, scheint I 5 zumindest eine erste Annäherung an den Begriff
der eudaimonia zu enthalten. 23
Dazu geht Aristoteles, wie erwähnt, von der Identifikation der eudai-
monia mit dem höchsten Gut aus und erarbeitet drei Kriterien, die die
eudaimonia qua höchstes Gut erfüllt: Die eudaimonia ist erstens etwas, das
stets um seiner selbst willen und nie um einer anderen Sache willen er-
strebt wird, während alles andere um ihretwillen erstrebt wird (1097a25-
b6; im Folgenden: „Kriterium des höchsten Ziels“); sie ist zweitens selbst-
genügsam (į՜ijįȢȜıȣ), das heißt keiner weiteren Sache bedürftig (b6-16);
und drittens kann sie nicht durch Hinzufügung eines weiteren Guts noch
besser werden (b16-20; im Folgenden: „Kriterium der Nicht-
Ergänzbarkeit“). Aristoteles umschreibt diese Untersuchung als eine Art
der Klärung oder Präzisierung; zumindest kündigt er sie so an: „Man muss
aber versuchen, dies noch genauer zu fassen (Ȟֻȝȝȡȟ İțįIJįĴ‫׆‬IJįț)“
_____________
demischen Ethik für das Verständnis von EN I hilfreich sein kann. Allerdings spielen
nach meiner Interpretation die (von Müller nicht in den Blick genommenen) Schwie-
rigkeiten in der Bestimmung des Begriffs des höchsten Guts eine entscheidende Rolle
für den Argumentationsgang.
22 Für die Zwecke des vorliegenden Kapitels genügt diese grobe Einteilung. Eine genaue
Interpretation der Gliederung von EN I 1-5 findet sich im zweiten Kapitel dieser Ar-
beit.
23 Die Beziehung zwischen den Kapiteln I 5 und I 6 dürfte je nach Interpretation des
Ergon-Arguments anders gedeutet werden. Eine klare Zäsur setzen vor allem diejeni-
gen Interpreten, die I 5 als „formale“, I 6 dagegen als „inhaltliche“ Bestimmung der
eudaimonia betrachten. Nach meiner Ansicht spricht aber einiges gegen diese Sicht-
weise (vgl. 3.2). I 6 scheint mir direkt an I 5 anzuknüpfen. Ich würde daher auch eher
der Gliederung Bywaters folgen, die die Kapitel I 5-7 zu einem Kapitel (I vii) zusam-
menfasst.
18 1. Die Verschiedenheit der Güter

(1097a24-25), und fasst sie implizit auch so zusammen, denn zu Beginn


von I 6 meint er, man müsse jetzt „noch deutlicher“ (ԚȟįȢȗջIJijıȢȡȟ) sa-
gen, was die eudaimonia (oder das höchste Gut) sei (1097b23-24). Die
drei Kriterien beschreiben also näher, was es bedeutet, dass die eudaimonia
das höchste Gut ist, sie gehen aber inhaltlich nicht über diese These hin-
aus. 24 Dem entspricht auch das Fazit, mit dem das sich anschließende
sechste Kapitel einsetzt. Hier wird festgestellt, dass bisher nur über etwas
allgemein Anerkanntes gesprochen wurde (Ԙȝȝ’ ՀIJȧȣ ijռȟ Ȟպȟ
ı՘İįțȞȡȟտįȟ ijր ԔȢțIJijȡȟ ȝջȗıțȟ ՍȞȡȝȡȗȡփȞıȟցȟ ijț Ĵįտȟıijįț: 1097b22-
23).

Inklusive oder dominante Interpretation?

Die in EN I 5 vorgestellten Kriterien der eudaimonia sind in der For-


schung intensiv diskutiert worden. Umstritten ist vor allem die Frage, ob
sie überhaupt miteinander zu vereinbaren sind, das heißt ob ein Gegen-
stand denkbar ist, der alle drei Kriterien des höchsten Guts erfüllt. Denn
zumindest das erste und das dritte Kriterium scheinen einander in der
folgenden Weise zu widersprechen:
Gemäß dem Kriterium eines höchsten Ziels scheint die eudaimonia
ein einzelnes Gut zu sein, dem alle anderen Güter, auch intrinsische Güter
wie Vernunft, Tugend oder Lust, untergeordnet sind. Dies wird durch
1097b2-6 nahe gelegt, wonach Ehre, Lust, Vernunft und Tugend teils um
ihrer selbst willen gewählt werden, teils aber auch um der eudaimonia
willen, während die eudaimonia um keines dieser Dinge und überhaupt
um keiner anderen Sache willen gewählt wird. Die eudaimonia wäre dem-
nach von den anderen Gütern verschieden. Noch deutlicher drückt Aristo-
teles sich in 1097a30 aus: Wenn es mehrere „vollkommene“, also intrinsi-
sche Güter gibt (was in b2-6 dann auch festgestellt wird), dann ist das
beste Gut das vollkommenste von diesen (ıԼ İպ ʍȝıտȧ, ijր ijıȝıțցijįijȡȟ
ijȡփijȧȟ). Hier wird explizit behauptet, dass das höchste Gut eines unter
den Gütern ist. Gemäß dem Kriterium der Nicht-Ergänzbarkeit dagegen
scheint die eudaimonia etwas zu sein, das alle anderen Güter, oder wenigs-
tens alle intrinsischen Güter, 25 umfasst; denn andernfalls könnte sie durch
_____________
24 Vgl. die explizite Formulierung „Es scheint sich aber aus der Selbstgenügsamkeit
dasselbe (dass die eudaimonia das höchste Gut ist) zu ergeben“ (Ĵįտȟıijįț İպ Ȝįվ ԚȜ ij‫׆‬ȣ
į՘ijįȢȜıտįȣ ijЄ įϜijЄ IJȤȞȖįտȟıțȟ: 1097b6-7).
25 Die Einschränkung auf die nicht-instrumentellen Güter ergibt sich aus Top. III 2,
117a18-21: „Wenn das eine um des anderen willen da ist [dann sind mehr Güter
nicht wählenswerter als weniger Güter, Ph.B.]; die beiden nämlich sind dann um
nichts mehr wählenswert als das eine, wie zum Beispiel das Gesundwerden und die
1.2 Kriterien des höchsten Guts: EN I 5 19

Hinzufügung eines Gutes zu einem größeren Gut werden. Demnach wäre


die eudaimonia in irgendeiner Form mit anderen Gütern identisch. Auch
wenn diese Darstellung oberflächlich ist und im Detail diskutiert werden
müsste: prima facie weisen die Kriterien aus EN I 5 in zwei unterschiedli-
che Richtungen.
Für beide Richtungen scheint es in der Nikomachischen Ethik weitere
Belege zu geben. Zum Beispiel sprechen die eigentlichen „Definitionen“
der eudaimonia eher dafür, sie als ein einzelnes Gut zu begreifen, sei es
nun als tugendgemäße Tätigkeit der Seele (I 6) oder als Ausübung theore-
tischer Betrachtungen (X 7). Zugleich wird aber dafür argumentiert, dass
zum glücklichen Leben auch äußere Güter wie Reichtum oder Freunde
gehören (Ĵįտȟıijįț İ’ ՑȞȧȣ Ȝįվ ij‫׭‬ȟ ԚȜijրȣ ԐȗįȚ‫׭‬ȟ πȢȡIJİıȡȞջȟș: I 9,
1099a31-32). Diese eigentümliche Konstellation hat zur Folge, dass sich
ganz unterschiedliche Interpretationen der eudaimonia gleichermaßen auf
EN I 5 berufen. Gerade für die einflussreiche Debatte um eine „inklusive“
oder „dominante“ beziehungsweise „exklusive“ Deutung hat das Kapitel
eine zentrale Rolle gespielt, und es gehört zu den wichtigsten Belegstellen
beider Interpretationsrichtungen. 26
Die Inklusiv-Dominant-Diskussion soll im Folgenden als eine Nega-
tivfolie für meine eigene Interpretation dienen. Es lässt sich m.E. zeigen,
dass beide Parteien eine ganz ähnliche Sicht auf EN I 5 haben. Sie würden
das grundlegende Interpretationsproblem auf ähnliche Weise beschreiben,
und sie haben letztlich die gleiche Auffassung über die Rolle, die die Krite-
rien des höchsten Guts in der Untersuchung der eudaimonia spielen. Diese
Auffassung ist eine Voraussetzung dafür, dass die Diskussion überhaupt
zustande kommt. Da ich, wie bereits erwähnt, für eine andere Perspektive
auf den Text plädieren möchte, werde ich mich nicht innerhalb der De-
batte positionieren – auch nicht im Sinne eines Kompromisses zwischen
den beiden Positionen –, sondern zur Debatte als Ganzer. Deshalb ist der
folgende Überblick auch sehr summarisch gehalten.
Die Unterscheidung zwischen einer inklusiven und einer dominanten
Interpretation der eudaimonia geht auf W.F.R. Hardie zurück. Dessen
Aufsatz „The Final Good in Aristotle’s Ethics“ hat 1965 die Debatte ange-
stoßen und dient als Referenzpunkt der unterschiedlichen Deutungen. In
den darauf folgenden vier Jahrzehnten haben sich zahlreiche und sehr
_____________
Gesundheit nicht wählenswerter sind als die Gesundheit, weil wir das Gesundwerden
um der Gesundheit willen wählen“ (ıՀ ʍȡȤ ȚȑijıȢȡȟ ȚįijȒȢȡȤ ȥȑȢțȟ· ȡ՘İպȟ ȗոȢ
įԽȢıijȬijıȢį ijո ԔȞĴȧ ijȡ‫ ף‬ԛȟȪȣ, ȡՃȡȟ ijր ՙȗțȑȘıIJȚįț Ȝįվ ԭ ՙȗȔıțį ij‫׆‬ȣ ՙȗțıȔįȣ, Ԛʍıțİռ
ijր ՙȗțȑȘıIJȚįț ij‫׆‬ȣ ՙȗțıȔįȣ ԥȟıȜıȟ įԽȢȡȫȞıȚį). Für die Zitate aus der Topik greife ich
hier wie im Folgenden auf die Übersetzung von Tim Wagner und Christof Rapp
(2004) zurück.
26 Vgl. die ausführliche Übersicht in Stemmer (1992).
20 1. Die Verschiedenheit der Güter

differenzierte Positionen herausgebildet, und natürlich hat sich die Dis-


kussion von Hardies Ansatz weit entfernt. Es lohnt sich aber nach wie vor,
auf „The Final Good“ einzugehen; denn anhand dieses Textes lässt sich
relativ einfach zeigen, welches Problem sich hinter der Alternative von
inklusiv und dominant verbirgt.
Die Ausdrücke „inclusive“ und „dominant“ werden von Hardie zur
Kennzeichnung zweier unterschiedlicher Konzeptionen des höchsten Ziels
beziehungsweise der eudaimonia eingeführt. Nach der dominanten Kon-
zeption ist die eudaimonia das Objekt eines bestimmten vorrangigen Stre-
bens. Sie zu erlangen bedeutet, dass sich dieses eine Streben erfüllt: „gain-
ing only one of his [a man’s, Ph.B.] objects at the cost of losing all the rest“
(1965/1968, 300). Nach der inklusiven Konzeption dagegen ist die eu-
daimonia ein Ziel zweiter Stufe, das durch eine „geordnete“ Erfüllung
unterschiedlicher Strebungen erreicht wird: „a secondary end, the full and
harmonious achievement of primary ends“ (ebd.).
Mit dieser Unterscheidung verfolgt Hardie im Wesentlichen zwei Ab-
sichten, die beide auf eine Kritik des Aristotelischen Ansatzes hinaus-
laufen. Erstens möchte er zeigen, dass sich in den Aristotelischen Ethiken
Hinweise auf beide Konzeptionen finden, dass Aristoteles’ eudaimonia-
Begriff also eine gewisse Ambiguität aufweist. Dabei nennt er auch zwei
Belegstellen aus EN I 5: das Kriterium der Nicht-Ergänzbarkeit für die
inklusive Interpretation und einen Ausschnitt aus dem Argument für das
Kriterium des höchsten Ziels für die dominante Interpretation: „wenn (es)
aber mehrere (vollkommene Dinge gibt), dann das Vollkommenste von
diesen“ (1097a30). Allerdings geht Hardie davon aus, dass Aristoteles die
dominante Konzeption präferiert, und sein zweites, wichtigeres Anliegen
besteht darin zu zeigen, dass dies ein Fehler ist. Dafür bringt Hardie zum
einen systematische Gründe vor. Die dominante Auffassung eines höchs-
ten Ziels sei insgesamt unplausibel; denn eine Lebensplanung funktioniere
in der Regel nicht so, dass ein Ziel unter Vernachlässigung aller übrigen
angestrebt werde (ebd., 298f.). Zum anderen versucht Hardie darzulegen,
dass die Ethiken keine brauchbaren Argumente für die dominante Auffas-
sung liefern. Sein Hauptvorwurf besteht darin, dass Aristoteles zwei Punk-
te miteinander verbindet, die nicht notwendigerweise zusammengehören,
nämlich die Vorstellung einer irgendwie gearteten „Planung“ von Hand-
lungen und die Vorstellung, dass sich diese Planung immer an einem ein-
zigen Ziel orientieren müsse. Nach Hardies Ansicht zieht sich diese unzu-
lässige Verknüpfung durch die gesamte Nikomachische Ethik: vom Ergon-
Argument über die Beschreibung der Rolle der Politik hin zur Theorie der
Erwägung (ȖȡփȝıȤIJțȣ) beziehungsweise der Zweck-Mittel-Relation.
Die durch Hardie angeregte Diskussion knüpft in zweifacher Weise an
dessen Ansatz an (wobei wir die Frage vernachlässigen können, ob Hardie
1.2 Kriterien des höchsten Guts: EN I 5 21

immer richtig interpretiert wurde) 27 . Zum einen greift sie die grundlegen-
de Unterscheidung zwischen einer inklusiven und einer dominanten In-
terpretation der eudaimonia auf. Die Debatte verläuft im Wesentlichen
entlang dieser Dichotomie, 28 auch wenn die Begriffe „inklusiv“ und „do-
minant“ eine gewisse Unschärfe aufweisen. Zum anderen besteht das vor-
rangige Interesse darin, die von Hardie behauptete Ambiguität zurückzu-
weisen. Man will zeigen, dass Aristoteles in der Nikomachischen Ethik eine
konsistente eudaimonia-Konzeption vertritt, sei es nun im dominanten
Sinn, im inklusiven Sinn oder in einem Sinn, der beide Positionen vermit-
telt. (Hardies Kritik an der dominanten Auffassung – eigentlich das
Hauptanliegen seines Aufsatzes – tritt also in den Hintergrund.) Dement-
sprechend liegt ein zentrales Augenmerk darauf, die möglichen Gegen-
belege, zum Beispiel aus EN I 5, zu entkräften oder zu integrieren, 29 was
in der Regel mit einem hohen interpretatorischen Aufwand verbunden
ist. 30
Nach dieser Skizze sind wir in der Lage, die erwähnte Gemeinsamkeit
mit Bezug auf EN I 5 zu benennen. Sowohl der dominanten als auch der
inklusiven Interpretation geht es offensichtlich darum, anhand der Krite-
rien des höchsten Guts Aufschluss über die Aristotelische eudaimonia-
Konzeption zu erhalten. Beide benutzen die Ausführungen aus I 5, um
eine bestimmte Interpretation der eudaimonia zu belegen. Das Grund-
problem besteht für sie in einer konsistenten Beschreibung des Gegen-
stands, auf den alle Kriterien zutreffen. Diese Herangehensweise scheint
legitim; denn Aristoteles weist ja explizit darauf hin, dass die eudaimonia
die genannten Kriterien erfüllt (1097a34; b15-16; b20-21). Sie führt aber
nach meiner Ansicht zu einem verzerrten Bild dessen, was in den ersten
Kapiteln der Nikomachischen Ethik eigentlich geschieht.
_____________
27 Ein Beispiel für eine Akzentverschiebung gegenüber Hardie: Die inklusive Konzeption
wird in der Regel mit der Vorstellung einer „Anhäufung“ von Gütern in Verbindung
gebracht. Der für Hardie wichtige Aspekt der geordneten Erfüllung von Zielen wird
dabei vernachlässigt.
28 Vgl. für ein neueres Beispiel Richardson Lear (2004).
29 Besondere Aufmerksamkeit hat dabei das Kriterium der Nicht-Ergänzbarkeit erfahren.
Vgl. z.B. die ausführliche Analyse von Gavin Lawrence (1997).
30 Vgl. als einflussreichstes Beispiel für die inklusive Interpretation Ackrill (1974/1995),
dessen Ansatz explizit auf das Kriterium der Nicht-Ergänzbarkeit aufbaut: „He
[Aristotle, Ph.B.] is saying, then, that eudaimonia, being absolutely final and genuinely
self-sufficient, is more desirable than anything else in that it includes everything desi-
rable in itself“ (47). Unter der Voraussetzung, dass es mehrere intrinsische Güter gibt,
was durch 1097b2-5 impliziert werde, könne das höchste Gut nur in einer Kombina-
tion dieser Güter bestehen. Dagegen versucht Stemmer (1992) als radikaler Vertreter
einer dominanten Interpretation unter Rückgriff auf dieselben Zeilen zu zeigen, dass
Aristoteles allein die eudaimonia als intrinsisches Gut ansieht. Für eine dominante In-
terpretation, die dennoch mehrere intrinsische Güter zulässt, vgl. Kraut (1989).
22 1. Die Verschiedenheit der Güter

Eine Untersuchung der Kriterien

Die Teilnehmer der Inklusiv-Dominant-Debatte versuchen eine Rekon-


struktion der Theorie der eudaimonia, die möglichst alle Belege aus EN I
und X gleichermaßen integriert. Mit diesem Ziel verbinden sich zwei
(stillschweigende) Annahmen. Da die Belege in unterschiedliche Richtun-
gen weisen, geht man erstens davon aus, dass Aristoteles eine eher komple-
xe Konzeption der eudaimonia vertritt. Und da sich die Belege schon in
den ersten Kapiteln der Nikomachischen Ethik finden, geht man zweitens
davon aus, dass diese komplexe Konzeption dort von Anfang an präsent
ist.
Aristoteles vermittelt in EN I 5 aber ein ganz anderes Bild. Wie wir
gesehen haben, geht er davon aus, sich noch im Bereich dessen zu befin-
den, was allgemein anerkannt ist. Inhaltlich hat er sich nach eigenen An-
gaben noch nicht über die These hinausbewegt, dass die eudaimonia das
höchste Gut ist. Und diese These behauptet er vorläufig nur zu klären. Es
liegt also nahe, die durch die Kriterien aufgeworfenen Schwierigkeiten
nicht in Aristoteles’ Konzeption der eudaimonia zu suchen, sondern in der
allgemein anerkannten Auffassung, dass die eudaimonia das höchste Gut
ist. Dies ist der Ansatzpunkt der folgenden Interpretation. Sie orientiert
sich an der Frage, wie es überhaupt dazu kommt, dass unterschiedliche,
vielleicht sogar einander widersprechende Kriterien des höchsten Guts
formuliert werden können. Daher sollen nur die Kriterien selbst unter-
sucht und mit Blick auf ihre Gültigkeit und ihren Status hinterfragt wer-
den. (Ich behaupte also weder, eine Lösung der Diskussion um die domi-
nante oder inklusive Deutung der eudaimonia zu bieten, noch, dass es sich
bei dieser Diskussion um eine bloße Scheindebatte handelt. Meine These
ist lediglich, dass die Herangehensweise dieser Diskussion Folgen für die
Interpretation von EN I 1-5 hat, die möglichst vermieden werden sollten.)
Nach meiner Auffassung kann man Hardie also durchaus zustimmen.
Einige Textstellen der Nikomachischen Ethik weisen auf eine inklusive,
andere auf eine dominante Interpretation hin. Hardies Diagnose würde
ich dagegen widersprechen. Sein Befund muss keineswegs bedeuten, dass
Aristoteles eine unklare eudaimonia-Konzeption vertritt. Er muss aber
auch nicht bedeuten, dass Aristoteles eine besonders komplexe Theorie
entfaltet, wie dies Hardies Nachfolger annehmen (müssen). Es ist zumin-
dest denkbar, dass in den Kriterien zunächst ein sachliches Problem zum
Ausdruck kommt, das mit dem Begriff eines höchsten Guts zusammen-
hängt.
Dass die Frage nach der Gültigkeit der Kriterien in der Regel übergan-
gen wird, hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass diese auf den ersten
Blick völlig unverfänglich wirken. Wer zum Beispiel zustimmt, dass die
1.2 Kriterien des höchsten Guts: EN I 5 23

eudaimonia das höchste Gut ist, muss zustimmen, dass ihr kein weiteres
Gut hinzugefügt werden kann. Andernfalls wäre die „eudaimonia + x“
besser als die eudaimonia selbst, die damit eben nicht mehr als höchstes
Gut in Frage käme. Die Ablehnung der genannten Kriterien würde also in
einen Selbstwiderspruch münden. Aristoteles wendet die Kriterien in ge-
nau dieser Weise an, wenn er zum Beispiel gegen den Reichtum als höchs-
tes Gut argumentiert: „Es ist offensichtlich, dass der Reichtum nicht das
gesuchte Gut ist. Denn er ist nützlich und (besteht) um einer anderen
Sache willen“ (Ս ʍȝȡ‫ף‬ijȡȣ İ‫׆‬ȝȡȟ Ցijț ȡ՘ ijր ȘșijȡփȞıȟȡȟ ԐȗįȚցȟǝ ȥȢսIJțȞȡȟ
ȗոȢ Ȝįվ ԔȝȝȡȤ ȥչȢțȟ: I 3, 1096a6-7). Es scheint sich also um rein „forma-
le“ Bestimmungen zu handeln, die sich rein „analytisch“ aus dem Begriff
des höchsten Guts ergeben. 31
Diese Sichtweise ist nicht völlig falsch, aber zu oberflächlich, da sie ei-
nen entscheidenden Punkt vernachlässigt. Die Kriterien des höchsten Guts
sind von Kriterien des Guten abhängig, und die Kriterien des Guten un-
terscheiden sich voneinander. Vergleichen wir, um dies zu verdeutlichen,
Aristoteles’ Argumente für das erste und das dritte Kriterium:
Das Beste scheint jedoch etwas Vollkommenes zu sein, so dass, wenn es nur ein
Vollkommenes gibt, dieses das gesuchte (Beste) sein dürfte, wenn aber mehrere,
dann das Vollkommenste von diesen. Wir aber nennen das um seiner selbst wil-
len Erstrebte vollkommener als das um einer anderen Sache willen (Erstrebte)
und das niemals um einer anderen Sache willen Gewählte (vollkommener) als die
sowohl um ihrer selbst willen als auch um seinetwillen gewählten Dinge, und
schlechthin vollkommen (nennen wir) das, was immer um seiner selbst willen
und niemals um einer anderen Sache willen gewählt wird. 32 (1097a28-34)
Ferner (ist Glück) das Wählenswerteste von allem, weil ihm nichts hinzugefügt
werden kann. Wenn ihm etwas hinzugefügt werden könnte, wäre offensichtlich,
dass es mit dem kleinsten (hinzugefügten) Gut wählenswerter würde. Denn das
Hinzugesetzte ergibt ein Übertreffen an Gütern, und bei den Gütern ist die grö-
ßere Summe immer wählenswerter. 33 (1097b16-20)
Es fällt auf, dass Aristoteles in beiden Fällen formal gesehen mit dem glei-
chen Argument arbeitet. Beide Male beruht das Kriterium für das Beste –
beziehungsweise das Vollkommenste oder Wählenswerteste: diesen Unter-
_____________
31 Vgl. etwa J.L. Ackrill: „Surely Aristotle is here making a clear conceptual point, not a
rash and probably false empirical claim“ (1974/1995, 46).
32 ijր İ’ ԔȢțIJijȡȟ ijȒȝıțȪȟ ijț ĴįȔȟıijįț. խIJij’ ıԼ ȞȒȟ ԚIJijțȟ ԥȟ ijț ȞȪȟȡȟ ijȒȝıțȡȟ, ijȡ‫ף‬ij’ Ԓȟ
ıՀș ijր ȘșijȡȫȞıȟȡȟ, ıԼ İպ ʍȝıտȧ, ijր ijıȝıțցijįijȡȟ ijȡփijȧȟ. ijıȝıțցijıȢȡȟ İպ ȝջȗȡȞıȟ ijր
ȜįȚ’ įՙijր İțȧȜijրȟ ijȡ‫ ף‬İț’ ԥijıȢȡȟ Ȝįվ ijր ȞșİȒʍȡijı İț’ Ԕȝȝȡ įԽȢıijրȟ ij‫׭‬ȟ <Ȝįվ>
ȜįȚ’ įՙijո Ȝįվ İț’ į՘ijր įԽȢıij‫׭‬ȟ, Ȝįվ ԑʍȝ‫׭‬ȣ İռ ijȒȝıțȡȟ ijր ȜįȚ’ įՙijր įԽȢıijրȟ Ԑıվ Ȝįվ
ȞșİȒʍȡijı İț’ Ԕȝȝȡ.
33 Ԥijț İպ ʍȑȟijȧȟ įԽȢıijȧijȑijșȟ Ȟռ IJȤȟįȢțȚȞȡȤȞȒȟșȟ—IJȤȟįȢțȚȞȡȤȞȒȟșȟ İպ İ‫׆‬ȝȡȟ թȣ
įԽȢıijȧijȒȢįȟ Ȟıijո ijȡ‫ ף‬ԚȝįȥȔIJijȡȤ ij‫׭‬ȟ ԐȗįȚ‫׭‬ȟ· ՙʍıȢȡȥռ ȗոȢ ԐȗįȚ‫׭‬ȟ ȗȔȟıijįț ijր
ʍȢȡIJijțȚȒȞıȟȡȟ, ԐȗįȚ‫׭‬ȟ İպ ijր Ȟı‫ה‬Șȡȟ įԽȢıijȬijıȢȡȟ ԐıȔ.
24 1. Die Verschiedenheit der Güter

schied können wir an dieser Stelle vernachlässigen – auf einem Kriterium


für das Bessere. Im ersten Fall lautet dieses Kriterium: Das an sich Erstrebte
ist vollkommener (ijıȝıțցijıȢȡȟ) 34 als das um einer anderen Sache willen
Erstrebte, im zweiten Fall: Bei den Gütern ist das, was mehr ist, immer
wählenswerter (įԽȢıijօijıȢȡȟ).
Die Ableitung des Besten aus dem Besseren ist möglich, weil zwischen
den beiden Begriffen ein analytischer Zusammenhang besteht. Das Beste
kann definiert werden als das, was besser ist als alles andere (i), oder als
das, wozu es nichts Besseres gibt (ii). Das heißt, wenn wir über ein Krite-
rium für „x ist besser als y“ verfügen, können wir entweder behaupten,
dieses Kriterium träfe auf einen konkreten Gegenstand a im Verhältnis zu
jedem beliebigen anderen Gegenstand zu (i), 35 oder wir können behaup-
ten, es gäbe für einen konkreten Gegenstand a kein x, so dass gilt: „x ist
besser als a“ (ii). In beiden Fällen hätten wir ein Kriterium für das Beste
gewonnen. 36 (Allerdings kann (ii) nicht die Möglichkeit gleich guter Ge-
genstände ausschließen.)
Es ist leicht zu sehen, dass dieser Gedanke hinter den beiden zitierten
Argumenten steckt. Wenn das, was um seiner selbst willen erstrebt wird,
besser ist als das, was um einer anderen Sache willen erstrebt wird, dann ist
das Beste (a) das um seiner selbst willen Erstrebte, von dem wir ausschlie-
ßen können, dass es um einer anderen Sache willen erstrebt wird (wir
können also ausschließen, dass es ein x gibt, so dass gilt: „x ist besser
als a“): Schlechthin vollkommen ist das, „was immer um seiner selbst wil-
len und niemals um einer anderen Sache willen gewählt wird“ (1097a33-
34). Und wenn die Hinzufügung eines Gutes zu einem besseren Gut
führt, dann ist das Beste (a) das, von dem wir ausschließen können, dass
ihm etwas hinzugefügt werden kann (wir schließen also wieder aus, dass es
ein x gibt, so dass gilt: „x ist besser als a“): „Ferner (ist Glück) das Wäh-
lenswerteste von allem, weil ihm nichts hinzugefügt werden kann“
(1097b16-17).
Damit deutet sich auch an, worin der genaue Unterschied zwischen
den beiden Kriterien des höchsten Guts besteht. Sie basieren zwar in for-
mal gleicher Weise auf Kriterien des Besseren, gehen aber von inhaltlich
verschiedenen Kriterien des Besseren aus. Die Debatte um eine dominante
oder inklusive Konzeption der eudaimonia ließe sich also anhand der Al-

_____________
34 Hier zeigt sich, dass „vollkommen“ keine ganz glückliche Übersetzung für teleion
darstellt, da der Ausdruck „vollkommen“ bereits einen Superlativ meint.
35 Es gibt genau einen Gegenstand a für alle y, so dass gilt: „a ist besser als y“.
36 Dieses Argumentationsmuster wird uns am Beispiel von EN I 1 noch einmal begeg-
nen; vgl. 2.2.1.
1.2 Kriterien des höchsten Guts: EN I 5 25

ternative zwischen zwei Kriterien des Besseren beschreiben. Wie aber ge-
winnt Aristoteles diese Kriterien?
Im Fall des Kriteriums des höchsten Ziels ist diese Frage relativ einfach
zu beantworten. Nachdem Aristoteles festgestellt hat, dass Güter Ziele
sind (1097a20-22), argumentiert er dafür, dass sich bestimmte Differen-
zierungen zwischen Zielen (zum Beispiel an sich oder um einer anderen
Sache willen erstrebt zu werden) als Differenzierungen zwischen Gütern
verstehen lassen: „Wir aber nennen das um seiner selbst willen Erstrebte
vollkommener (ijıȝıțցijıȢȡȟ) als das um einer anderen Sache willen (Er-
strebte)“ (a30-31). Für das Kriterium der Nicht-Ergänzbarkeit fehlt eine
entsprechende Ableitung, es lässt sich aber ein ganz ähnliches Muster re-
konstruieren. Denn auch hier versucht Aristoteles, ein bestimmtes Ver-
hältnis zwischen Gegenständen (in diesem Fall könnte man sagen: „Güter-
summen“) als Verhältnis zwischen Gütern zu begreifen: „Denn das
Hinzugesetzte (ijր ʍȢȡIJijțȚջȞıȟȡȟ) ergibt ein Übertreffen (ՙʍıȢȡȥս) an
Gütern, und bei den Gütern ist die größere Summe immer wählenswer-
ter“ (1097b18-20). Beiden Fällen scheint es darum zu gehen, eine „Steige-
rung“ des Kriteriums (hier ein „höheres“ Ziel, dort eine „größere“ Summe)
mit einer Steigerung der Güte in Verbindung zu bringen. 37 Und es zeigt
sich schon jetzt, dass diese Steigerung, abhängig vom Kriterium, unter-
schiedlich zu konstruieren ist (vgl. 1.3).
Das heißt, nur wenn sich Güter als Ziele begreifen lassen, ist das Kri-
terium des höchsten Ziels anwendbar, und nur wenn eine Menge von
Gütern ebenfalls als ein Gut anzusprechen ist, ist das Kriterium der Nicht-
Ergänzbarkeit anwendbar. Die Anwendbarkeit der Kriterien des höchsten
Guts ist abhängig von der Gültigkeit bestimmter Kriterien des Guten.
Durch welche Kriterien das Gute identifiziert werden kann, ist aber keine
formale, sondern eine inhaltliche Frage. Der nahe liegende Eindruck, Ka-
pitel I 5 würde rein formale Bestimmungen des höchsten Guts formulie-
ren, ist daher irreführend. 38
_____________
37 Vgl. die in diesem Kontext verwendeten Begriffe teleioteron („vollkommener“) und
hyperochê („Übertreffen“). Der Ausdruck „Steigerung“ ist hier in einem weiten Sinn
gebraucht und bezieht sich nicht auf die technische Bedeutung von „mehr und weni-
ger“ (Ȟֻȝȝȡȟ Ȝįվ Գijijȡȟ), die Aristoteles in der Kategorienschrift verwendet, um Grade
von z.B. qualitativen Eigenschaften zu bezeichnen (8, 10b26-11a14). Im Gegenteil:
Im engen Sinn liegen bei der Zweck-Mittel-Relation gerade nicht unterschiedliche
Grade einer Eigenschaft vor, sondern ein Abhängigkeitsverhältnis des „Früheren“
(ʍȢցijıȢȡȟ) zum „Späteren“ (՝IJijıȢȡȟ) (vgl. explizit Protr. B 82 DÜRING). Eine auf-
schlussreiche Untersuchung dieses Unterschieds mit Bezug auf die Ethik bietet Paka-
luk (1992).
38 Die hier skizzierte Gegenüberstellung ist insofern eine Vereinfachung, als das Kriteri-
um des höchsten Ziels auf einem bestimmten Kriterium des Guten basiert, während
das Kriterium der Nicht-Ergänzbarkeit für unterschiedliche Kriterien des Guten offen
26 1. Die Verschiedenheit der Güter

Unsere eher oberflächliche Betrachtung des Kapitels I 5 mündet in die


einfache Beobachtung, dass es unterschiedliche Kriterien des Guten gibt.
Wie wir gesehen haben, führen die daran anknüpfenden Kriterien des
Besten nicht zwangsläufig zum selben Ergebnis. Es ist durchaus denkbar,
dass die größte Gütersumme nicht mit dem höchsten Ziel identisch ist.
Diese Möglichkeit bildet den Hintergrund der Debatte um eine inklusive
oder dominante Interpretation der eudaimonia.
Wie aber kommt es zu diesen unterschiedlichen, eventuell sogar in-
kompatiblen Kriterien des Guten? Wenn wir die erwähnten Bemerkungen
zum Status der in I 5 formulierten Aussagen ernst nehmen, dann liegt der
Verdacht nahe, dass diese Kriterien ganz einfach allgemein anerkannt sind.
Auf eine näher zu bestimmende Weise wäre es allgemein anerkannt, dass
Güter Ziele sind und dass sie sich addieren lassen. (Damit soll freilich
nicht behauptet werden, dass dies für alle Aussagen gilt, die in der Niko-
machischen Ethik über das Gute getroffen werden. Es wäre aber eine inte-
ressante Aufgabe zu bestimmen, inwieweit das Problem einer inklusiven
oder dominanten Deutung der eudaimonia nicht eines ist, das Aristoteles
erzeugt, sondern eines, das sich ihm stellt.)
Dem Verdacht, dass die Kriterien des Besseren deshalb in unterschied-
liche Richtungen weisen, weil die anerkannten Meinungen über das Gute
verschieden sind, soll im Folgenden etwas weiter nachgegangen werden.
Dazu werden wir uns den Kapiteln I 6 und I 7 der Aristotelischen Rhetorik
zuwenden. Die hier entwickelten Topen zum größeren Gut bieten näm-
lich ein ganz ähnliches Bild wie die Kriterien des höchsten Guts aus
EN I 5.

1.3 Topen zum größeren Gut: Rhet. I 6-7


Vergleiche zwischen der Aristotelischen Rhetorik und seinen Ethiken wer-
den in der Forschung immer wieder gezogen. 39 Die Gründe dafür liegen
auf der Hand. Erstens gibt es thematische Überschneidungen, die sich
schon an den behandelten Grundbegriffen ablesen lassen. Ebenso wie die
ethischen Schriften befasst sich die Rhetorik mit der eudaimonia, dem Gu-
ten, den Tugenden, möglichen Handlungsgründen usw. Vor allem in den
Passagen über die beratende Rede (I 4-8) bietet die Rhetorik Aussagen, die
auch in den Bereich der Ethik fallen. Zweitens bestehen Übereinstim-
mungen in der Konzeption, die sich mit diesen Grundbegriffen verbindet.
_____________
ist. Das Grundproblem sollte aber deutlich geworden sein. Vgl. zum Aristotelischen
Begriff des höchsten Guts Broadie (2005 und 2007).
39 Vgl. für eine Übersicht Rapp (2002, II 324-335).
1.3 Topen zum größeren Gut: Rhet. I 6-7 27

Dies ist nicht selbstverständlich; denn die Rhetorik tritt mit dem An-
spruch auf, in inhaltlichen Fragen primär auf anerkannte Meinungen (en-
doxa) zurückzugreifen. Um überzeugen zu können, muss der Redner nicht
über wissenschaftliche Prinzipien verfügen, sondern er muss wissen, wel-
che Meinungen bei seinem Publikum anerkannt sind. Aristoteles betont
immer wieder, dass sich die Rhetorik damit von den Wissenschaften ab-
grenzt:
Aber je mehr einer versuchen wird, die Dialektik oder diese (die Rhetorik) nicht
als Fähigkeiten, sondern als Wissenschaften einzurichten, um so mehr wird er
unbewusst ihre eigentliche Natur vernichten, indem er dazu übergeht, sie als Wis-
senschaften von bestimmten zugrunde liegenden Gegenständen zu etablieren, an-
statt allein von Reden. 40 (Rhet. I 4, 1359b12-16; vgl. I 2, 1358a23-26)
Dass dennoch Übereinstimmungen vorliegen, führt drittens auf die Frage,
inwiefern die Aristotelische Ethik selbst endoxisch ist. Da es zu den me-
thodischen Prinzipien des Aristoteles gehört, anerkannte Meinungen an-
gemessen zu berücksichtigen, drängt sich der Vergleich mit der Rhetorik
geradezu auf.
Ein wesentliches Anliegen der Forschung besteht also darin, eine Er-
klärung für die inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen der Rhetorik
und den Ethiken zu suchen – sei es durch eine Untersuchung der Metho-
den der Ethik oder durch eine Untersuchung des ethischen Anspruchs der
Rhetorik. 41 Was im vorliegenden Kontext interessiert, hat dagegen mit
diesen inhaltlichen Übereinstimmungen nur indirekt zu tun. (Allerdings
könnte es ein anderes Licht auf die Rolle werfen, welche die endoxa für die
Ethik spielen; vgl. 1.4.) Hier soll zunächst auf zwei Parallelen zwischen
EN I 5 und Rhet. I 7 hingewiesen werden. Dass sich (i) Kriterien für ei-
nen Gütervergleich durch die Anwendung eines formalen Verfahrens auf
_____________
40 ՑIJ‫ ׫‬İ’ Ԕȟ ijțȣ Ԯ ijռȟ İțįȝıȜijțȜռȟ Ԯ ijįփijșȟ Ȟռ ȜįȚչʍıȢ Ԓȟ İȤȟչȞıțȣ Ԑȝȝ’ ԚʍțIJijսȞįȣ
ʍıțȢֻijįț ȜįijįIJȜıȤչȘıțȟ, ȝսIJıijįț ijռȟ ĴփIJțȟ į՘ij‫׭‬ȟ ԐĴįȟտIJįȣ ij‫ ׮‬ȞıijįȖįտȟıțȟ
ԚʍțIJȜıȤչȘȧȟ ıԼȣ ԚʍțIJijսȞįȣ ՙʍȡȜıțȞջȟȧȟ ijțȟ‫׭‬ȟ ʍȢįȗȞչijȧȟ, Ԑȝȝո Ȟռ Ȟցȟȡȟ ȝցȗȧȟ.
41 Für die Rolle der endoxa in der Ethik vgl. z.B. Most (1994), Irwin (1996) und grund-
legend, wenn auch ohne Bezug auf die Rhetorik, Barnes (1980). Für eine Untersu-
chung der ethischen Elemente in der Rhetorik vgl. z.B. Oates (1963, Kap. VIII), Wör-
ner (1990), Cooper (1994), Halliwell (1994 und 1996), Engberg-Pedersen (1996)
und noch einmal Irwin (1996). Der zuletzt genannte Aspekt lässt sich differenzieren:
Zum einen bereitet der vermeintlich instrumentelle Charakter der Rhetorik einigen
Autoren Unbehagen (die übliche Referenz ist die von Platon im Gorgias und im
Phaidros geäußerte Kritik). Ein Beispiel dafür ist Oates (1963, Kap. VIII), der den
Vorwurf der Immoralität sogar selbst erhebt und als eine Schwäche des Aristotelischen
Ansatzes wertet. Zum anderen wird versucht, die ethischen Thesen der Rhetorik mit
denen der Ethiken zu vergleichen, sie auf ihren Status zu hinterfragen und gegebenen-
falls ihre Kompatibilität nachzuweisen. Ein gutes Beispiel dafür ist Irwin (1996), der
davon ausgeht, dass Aristoteles in beiden Schriften eigentlich dieselben Konzeptionen
vertritt.
28 1. Die Verschiedenheit der Güter

Kriterien des Guten gewinnen lassen und dass es (ii) sehr unterschiedliche
Kriterien des Guten gibt, lässt sich auch an den Topen zum größeren Gut
beobachten, die Aristoteles in Rhet. I 7 entwickelt (vgl. Top. III 1-4).
Man kann sogar sagen, dass hiermit grundlegende Eigenschaften dieser
Topen benannt sind, deren Vielfalt weit über die der Kriterien aus EN I 5
hinausgeht.
Außerdem soll gezeigt werden, wie die Verschiedenheit der in der Rhe-
torik genannten Kriterien des Guten mit der Verschiedenheit der aner-
kannten Meinungen über das Gute und diese wiederum mit der Verschie-
denheit der anerkannten Güter zusammenhängt.

Die Topen zum größeren Gut

Der Ausgangspunkt unseres Vergleichs ist also eine formale Gemeinsam-


keit. Die Argumentationsstruktur, die wir an den beiden Kriterien aus EN
I 5 beobachtet haben, findet sich in der Struktur der Topen zum größeren
Gut aus Rhet. I 7 wieder. Betrachten wir also zunächst dieses Kapitel.
Rhet. I 7 gliedert sich in zwei Abschnitte. Im ersten Abschnitt
(1363b5-21) gibt Aristoteles eine allgemeine Bestimmung des größeren
Guts. Diese basiert auf einer Bestimmung des „Übertreffens“ (ՙʍıȢջȥıțȟ)
und einer Definition des Guten, die bereits in I 6 entwickelt wurde. Der
zweite, deutlich längere Abschnitt (1363b21-1365b21) enthält eine Auflis-
tung von Sätzen, mit deren Hilfe im Einzelfall begründet werden kann,
dass eine Sache besser ist als eine andere. Es gibt eine Forschungskontro-
verse darüber, ob man diese Sätze als (spezifische) Topen bezeichnen kann
oder ob man sie, in Absetzung von Topen im engeren Sinne, zum Beispiel
als Protasen bezeichnen sollte. 42 Auf diese Kontroverse muss hier aber
nicht eingegangen werden. Ich folge zwar Rapp (2002) in der Benennung
als „spezifische Topen“, davon hängt für mein Argument aber nichts ab.
Für unsere Zwecke genügt es, wenn wir uns für die Beurteilung von I 7
vorerst am Einleitungssatz des Kapitels orientieren:
Weil aber oftmals beide Seiten darin übereinstimmen, dass etwas nützlich ist, die
Meinungen darüber, was in höherem Maße nützlich ist, aber auseinandergehen,
ist jetzt an der Reihe, über das größere Gut und das in höherem Maße Nützliche
zu sprechen. 43 (1363b5-7)

_____________
42 Vgl. Rapp (2002, II 263-269).
43 Ԧʍıվ İպ ʍȡȝȝȑȜțȣ ՍȞȡȝȡȗȡ‫ף‬ȟijıȣ ԔȞĴȧ IJȤȞĴȒȢıțȟ ʍıȢվ ijȡ‫ ף‬Ȟֻȝȝȡȟ
ԐȞĴțIJȖșijȡ‫ף‬IJțȟ, ԚĴıȠ‫׆‬ȣ Ԓȟ ıՀș ȝıȜijȒȡȟ ʍıȢվ ijȡ‫ ף‬ȞıȔȘȡȟȡȣ ԐȗįȚȡ‫ ף‬Ȝįվ ijȡ‫ ף‬Ȟֻȝȝȡȟ
IJȤȞĴȒȢȡȟijȡȣ.
1.3 Topen zum größeren Gut: Rhet. I 6-7 29

In Rhet. I 7 geht es darum, Argumente für vergleichende Werturteile zu


liefern. Die spezifischen Topen enthalten Kriterien, durch die beurteilt
werden kann, welcher Gegenstand eines Paares von Gegenständen der
bessere ist.
Die spezifischen Topen aus 1363b21-1365b21 lassen sich in zwei Ty-
pen gliedern, die auf zwei unterschiedlichen Argumentationsmustern ba-
sieren:
Typ A: Um dafür zu argumentieren, dass ein Gegenstand a besser ist
als ein Gegenstand b wird auf ein anderes Gegenstandspaar a’ und b’ ver-
wiesen, wobei (i) a in derselben Relation zu a’ steht wie b zu b’ und (ii)
über die relative Güte von a’ und b’ bereits Einigkeit besteht. Der Ver-
gleich zwischen a und b beruht dann auf einer Analogiebehauptung: a
verhält sich zu b wie a’ zu b’; zum Beispiel: „Auch die Gegenstände, von
denen die Wissenschaften schöner oder bedeutender sind, sind selbst
schöner und bedeutender, denn so wie die Wissenschaft, so verhält sich
auch das Wahre (թȣ ȗոȢ Ԥȥıț ԭ ԚʍțIJijսȞș, Ȝįվ ijր ԐȝșȚջȣ)“ (1364b7-9). a
und b sind hier Gegenstände von Wissenschaften, a’ und b’ sind die a und
b zugeordneten Wissenschaften. Wenn a’ schöner und bedeutender als b’
ist, dann ist auch a schöner und bedeutender als b. Dieser Typ nimmt in I
7 einen großen Raum ein. Es handelt sich aber gewissermaßen um einen
Topos zweiter Stufe, da er auf einem bereits gefällten vergleichenden
Werturteil basiert und kein unabhängiges Kriterium des Besseren liefert.
Ein solches unabhängiges Kriterium bietet dagegen Typ B, wobei man
wiederum zwei Muster unterscheiden kann. Entweder wird behauptet,
dass der eine der beiden zu vergleichenden Gegenstände ein Merkmal
aufweist, das der andere nicht aufweist (B1), zum Beispiel: „Auch wenn das
eine ein Ziel ist und das andere nicht (ijր Ȟպȟ ijջȝȡȣ, ijր İպ Ȟռ ijջȝȡȣ), (ist
das erste ein größeres Gut)“ (1364a3). Oder es wird behauptet, dass beide
Gegenstände ein Merkmal teilen, das der eine aber in höherem Maß auf-
weist als der andere (B2). 44 Besser ist zum Beispiel das, was selbstgenügsa-
mer ist (1364a5-6), was seltener ist (a23-24), was im Überfluss vorhanden
ist (a26), was von allen oder der Mehrheit (im Gegensatz zur Minderheit)
gewählt wird (b37-38), was lobenswerter ist (1365a6), usw.
Es ist leicht zu sehen, dass die Topen des Typs B2 formal den Kriterien
aus EN I 5 entsprechen. Ebenso wie jene gehen sie von bestimmten
Merkmalen aus, die für das Gutsein eines Gegenstandes relevant sein sol-
len, und begreifen ein „Übertreffen“ in Bezug auf das Merkmal als Über-
treffen in Bezug auf die Güte. Ein kurzer Blick auf die in Rhet. I 7 aufge-
listeten Topen zeigt jedoch, dass in der Ethik keinesfalls alle denkbaren
_____________
44 Letztlich lässt sich B1 unter B2 subsumieren, da das Nicht-Vorliegen eines Merkmals
als Grenzfall des Vorliegens in geringerem Maß verstanden werden kann.
30 1. Die Verschiedenheit der Güter

Merkmale des Guten genannt worden sind. Als Kriterien des Guten
kommen nicht nur in Frage, wählenswert zu sein (1364a1), ein Ziel zu
sein (a3) oder selbstgenügsam zu sein (a6), sondern auch: Prinzip (ԐȢȥս)
oder Ursache (įՀijțȡȟ) zu sein (a10-11), selten zu sein (a24), schwierig zu
sein (a28), von den Vernünftigen oder allen oder der Menge oder der
Mehrheit oder den Besten als ein Gut beurteilt zu werden (b11-13), ange-
nehm zu sein (b23), schön zu sein (b26), dauerhaft zu sein (b30), sicher zu
sein (b31), lobenswert zu sein (1365a6), von Natur aus vorhanden zu sein
(a29), in der Not nützlich zu sein (a33-34), möglich zu sein (a35-36), auf
die Wahrheit zu zielen (b1), unverborgen zu sein (b14), geschätzt zu wer-
den (b16) usw.
Dass ein Vergleich zwischen zwei Gütern zu unterschiedlichen Ergeb-
nissen führen kann, wenn dabei auf unterschiedliche Topen zurückgegrif-
fen wird, dürfte kaum überraschen. 45 So könnte zum Beispiel ein Gegen-
stand a (ein Edelstein) von einer größeren Personenzahl erstrebt werden
als ein Gegenstand b (ein Werkzeug) (vgl. 1364b12), während b zugleich
für mehr Dinge nützlich ist als a (vgl. 1365b8). Außerdem müssen die
„Vernünftigen“, die „Mehrheit“ und die „Besten“ keineswegs darin über-
einstimmen, welche Gegenstände gut sind. Eine weitere Differenzierung
ergibt sich daraus, dass die in der Regel durch einen Komparativ gekenn-
zeichnete „Steigerung“ des Gütekriteriums unterschiedlich erzeugt werden
kann. Wenn das Gute zum Beispiel das ist, was erstrebt wird, kann das
Bessere das sein, was von einer größeren Zahl von Personen oder was in
höherem Maße erstrebt wird. Je nachdem welcher Aspekt in den Blick
genommen wird, fällt das vergleichende Werturteil also anders aus, und
Aristoteles selbst gibt Beispiele, wie für einander entgegengesetzte Urteile
argumentiert werden kann:
Überhaupt kann man sagen, dass das Schwierigere besser als das Einfachere ist,
denn es ist seltener; umgekehrt kann man sagen, dass das Einfachere besser als das
Schwierigere ist, denn es verhält sich so, wie wir wollen. 46 (1364a28-30)

_____________
45 Die Topen zu den umstrittenen Gütern sollen dazu dienen, „Dinge als gut zu etablie-
ren, die nicht schon ihrer Art nach anerkanntermaßen gut sind; dazu muss auf nicht-
essentielle Eigenschaften und vor allem auch auf Relationen zurückgegriffen werden,
in denen diese Dinge stehen [...]. Ein und dieselbe Sache kann in ganz unterschiedli-
chen Relationen stehen, viele verschiedene nicht-essentielle Eigenschaften aufweisen
usw., so dass erstens mit einem einzigen Topos für das Gutsein ganz verschiedenarti-
ger Dinge argumentiert werden kann und zweitens bei der Anknüpfung an unter-
schiedliche Relationen und Eigenschaften dieselbe Sache bald als gut, bald als schäd-
lich dargestellt werden kann“ (Rapp 2002, II 364).
46 Ȝįվ Ցȝȧȣ ijր ȥįȝıʍȬijıȢȡȟ ijȡ‫ֺע ף‬ȡȟȡȣ· IJʍįȟțȬijıȢȡȟ ȗȑȢ. Ԕȝȝȡȟ İպ ijȢȪʍȡȟ ijր ‫ּע‬ȡȟ
ijȡ‫ ף‬ȥįȝıʍȧijȒȢȡȤ· Ԥȥıț ȗոȢ թȣ ȖȡȤȝȪȞıȚį.
1.3 Topen zum größeren Gut: Rhet. I 6-7 31

Auch wenn wir diese Beobachtungen nicht unmittelbar auf die Ethik
übertragen sollten, lässt sich doch Folgendes festhalten: Was im Kontext
der Nikomachischen Ethik irritiert, nämlich dass es unterschiedliche, even-
tuell sogar inkompatible Kriterien des Besseren gibt, scheint im Kontext
der Rhetorik eher den Normalfall zu beschreiben. Wenn man die Topen
aus Rhet. I 7 ernst nimmt, dann könnte der Alternative zwischen einer
inklusiven und einer dominanten Auffassung des höchsten Guts sogar eine
Vielzahl weiterer Alternativen hinzugefügt werden. Anders als dem Inter-
preten der Ethik ist dem Rhetor diese Situation allerdings willkommen;
denn er muss in der Lage sein, möglichst für Beliebiges zu argumentieren:
„Es sei also die Rhetorik eine Fähigkeit, bei jeder Sache das möglicherweise
Überzeugende zu betrachten (İփȟįȞțȣ ʍıȢվ ԥȜįIJijȡȟ ijȡ‫ ף‬ȚıȧȢ‫׆‬IJįț ijր
ԚȟİıȥցȞıȟȡȟ ʍțȚįȟցȟ)“ (I 2, 1355b26-27). Außerdem teilt er mit dem
Dialektiker die Eigenschaft, „vom Gegenteil überzeugen“ zu können (Ԥijț
İպ ijԐȟįȟijտį İı‫ ה‬İփȟįIJȚįț ʍıտȚıțȟ: I 1, 1355a29-30).
Weiter oben wurde die Vermutung geäußert, dass die in EN I 5 ge-
nannten Kriterien des höchsten Guts, genauer: die ihnen zugrunde liegen-
den Kriterien des Guten, auf anerkannten Meinungen basieren (vgl. 1.2).
Ihre Verschiedenheit hätte demnach in der Verschiedenheit dieser Mei-
nungen ihren Ursprung (womit, wie erwähnt, noch nichts über den dia-
lektischen Charakter der Ethik gesagt sein soll). Im Fall der in Rhet. I 7
enthaltenen Kriterien des Guten ist die Situation eindeutig. Diese Krite-
rien müssen auf anerkannten Meinungen basieren oder wenigstens mit
den anerkannten Meinungen kompatibel sein; denn andernfalls wären die
daran anknüpfenden Topen für den Kontext einer Rede überhaupt nicht
geeignet. Der Redner könnte seine Zuhörer nicht davon überzeugen, dass
ein bestimmter Gegenstand besser ist als ein anderer. Das heißt, in der
Vielfalt und möglichen Unvereinbarkeit der Topen zum größeren Gut
spiegeln sich die Vielfalt und mögliche Unvereinbarkeit der Meinungen
über das Gute. Rhet. I 7 bietet einen Einblick in die Komplexität gängiger
Werturteile. Genau dieser Umstand macht das Kapitel als Hintergrund für
die Interpretation der Ethik interessant.
Um diese Spur noch etwas weiter zu verfolgen, das heißt um die Prob-
leme noch etwas genauer zu beschreiben, welche die Meinungen über das
Gute mit sich bringen, soll im Folgenden ein Blick auf die „Definition“
des Guten geworfen werden, die Aristoteles in Rhet. I 6 formuliert.
32 1. Die Verschiedenheit der Güter

Die Definition des Guten

Betrachten wir zunächst Rhet. I 6 und I 7 im Zusammenhang. Die beiden


Kapitel sind Bestandteil der Ausführungen zur „beratenden Rede“
(IJȤȞȖȡȤȝս: I 4-8), zu deren theatischen Grundbegriffen der Ausdruck
„gut“ gehört:
Da aber dem beratenden Redner als Ziel das Nützliche vorliegt – man berät näm-
lich nicht über das Ziel, sondern über die Dinge, die zum Ziel führen, dies aber
ist das hinsichtlich der Handlungen Nützliche – und da das Nützliche ein Gut
ist, sollten wir die Elemente des Guten und des Nützlichen im Allgemeinen erfas-
sen. 47 (I 6, 1362a17-21)
Der beratende Redner muss in der Lage sein, Werturteile zu fällen und zu
begründen. Dabei gibt es zwei Einschränkungen. Erstens beziehen sich
seine Urteile nicht auf alle Güter, sondern nur auf solche, die Gegenstand
von Handlungen sein können. 48 Zweitens basieren seine Begründungen,
wie erwähnt, auf anerkannten Meinungen und nicht auf wissenschaftli-
chen Prinzipien.
Die Untersuchung der Kapitel I 6 und I 7 gliedert sich in drei Ab-
schnitte. Zunächst werden die Güter erfasst, über die Einigkeit besteht
(I 6, 1362b2-29). Dann werden Argumentationsmuster für die Fälle an-
geboten, in denen keine Einigkeit besteht (I 6, 1362b29-1363b4). Und
schließlich werden, wie wir gesehen haben, Argumentationsmuster für
vergleichende Werturteile angeboten (I 7). Diesen drei Abschnitten ist
eine durch „es sei“ (ԤIJijȧ) eingeleitete „Definition“ 49 des Guten vorange-
stellt: 50
[i] [1] ‚Gut’ sei als dasjenige bestimmt, was um seiner selbst willen gewählt wird,
und als das, um dessentwillen wir anderes wählen, [2] und als das, wonach alles
strebt oder vielmehr alles, was Wahrnehmung oder Vernunft hat, oder (was von
allen erstrebt werden würde), wenn sie Vernunft erlangen würden. [3] Ferner ist
sowohl das, was die Vernunft jedem vorschreiben würde, als auch das, was sie im
_____________
47 Ԛʍıվ İպ ʍȢȪȜıțijįț ij‫ ׮‬IJȤȞȖȡȤȝıȫȡȟijț IJȜȡʍրȣ ijր IJȤȞĴȒȢȡȟ (ȖȡȤȝıȫȡȟijįț ȗոȢ ȡ՘
ʍıȢվ ijȡ‫ ף‬ijȒȝȡȤȣ, Ԑȝȝո ʍıȢվ ij‫׭‬ȟ ʍȢրȣ ijր ijȒȝȡȣ, ijį‫ף‬ijį İ’ ԚIJijվ ijո IJȤȞĴȒȢȡȟijį Ȝįijո
ijոȣ ʍȢȑȠıțȣ, ijր İպ IJȤȞĴȒȢȡȟ ԐȗįȚȪȟ), ȝșʍijȒȡȟ Ԓȟ ıՀș ijո IJijȡțȥı‫ה‬į ʍıȢվ ԐȗįȚȡ‫ ף‬Ȝįվ
IJȤȞĴȒȢȡȟijȡȣ ԑʍȝ‫׭‬ȣ.
48 Vgl. hierzu I 2, 1357a4-6 und I 4, 1359a30 ff. Zum Gegenstandsbereich der bouleusis
(Überlegung, Deliberation) vgl. außerdem EN III 5.
49 Auch wenn die Bestimmung des Guten sicher keine Wesensdefinition im engeren
Sinne darstellt, werde ich hier der Einfachheit halber von einer Definition (im Sinne
einer Begriffsbestimmung) sprechen.
50 Damit folgen I 6 und 7 dem Aufbau, der für viele Kapitel von Rhet. I bestimmend ist;
so beginnt I 5 mit einer Definition der eudaimonia, I 9 mit einer Definition des Schö-
nen (Ȝįȝցȟ) und der Tugend (ԐȢıijս), I 10 mit einer Definition des Unrechttuns
(ԐİțȜı‫ה‬ȟ) und I 11 mit einer Definition der Lust (ԭİȡȟս).
1.3 Topen zum größeren Gut: Rhet. I 6-7 33

Einzelfall jedem Einzelnen vorschreiben würde, für den Einzelnen ein Gut; [4]
ferner das, bei dessen Anwesenheit man sich in einem guten Zustand befindet [5]
und sich selbstgenügsam verhält, sowie das Selbstgenügsame [ii] [1] und das, was
Derartiges hervorbringt und bewahrt, [2] und das, was Derartiges zur Folge hat,
[3] sowie das, was die Gegenteile von solchen Dingen verhindert und vernich-
tet. 51 (1362a21-29)
Eine wichtige Aufgabe dieser Definition besteht offenbar darin, Kriterien
des Guten zu benennen, auf die der Redner in strittigen Fällen zurück-
greifen kann. 52 Aus der allgemeinen Bestimmung des größeren Guts (I 7,
1363b5-21) geht diese Aufgabe unmissverständlich hervor. Ein Begriff des
größeren Guts lässt sich gewinnen, indem man das Konzept des „Übertref-
fens“ (ՙʍıȢջȥıțȟ), das Mengen (ʍȡȝփ – Ռȝտȗȡȟ) ebenso umfasst wie Grö-
ßen (Ȟջȗį – ȞțȜȢցȟ), auf die Definition des Guten anwendet, die hier in
etwas verkürzter Form wiederholt wird (b12-18). Und tatsächlich werden
einige der Topen zum größeren Gut unter Verweis auf die Definition des
Guten eingeführt, zum Beispiel:
Auch das, was an sich wählenswert ist, ist ein größeres Gut als das, was nicht an
sich wählenswert ist, wie zum Beispiel Stärke ein größeres Gut ist als das, was ge-
sund macht, weil das letztere nicht um seiner selbst willen gewählt wird, das erste
aber schon; und darin, sagten wir, bestehe das Gute. 53 (1363b38-1364a3)
Auch das, was von allen gewählt wird, (ist ein größeres Gut) als das, was nicht
von allen gewählt wird, und das, was von der Mehrheit gewählt wird, (ist ein grö-
ßeres Gut) als das, was von der Minderheit gewählt wird; denn ‚gut’, sagten wir,
sei das, was alle begehren, so dass das ein größeres Gut ist, was in höherem Maße
begehrt wird. 54 (1364b37-1365a2)
In seiner Auflistung der Topen geht Aristoteles allerdings weniger systema-
tisch vor, als es der Beginn von I 7 suggeriert; denn nicht alle Kriterien des
Besseren lassen sich problemlos auf die gegebene Definition des Guten

_____________
51 ԤIJijȧ İռ ԐȗįȚրȟ Տ Ԓȟ į՘ijր ԛįȤijȡ‫ ף‬ԥȟıȜį ֜ įԽȢıijȪȟ, Ȝįվ ȡ՟ ԥȟıȜį Ԕȝȝȡ įԽȢȡȫȞıȚį,
Ȝįվ ȡ՟ ԚĴȔıijįț ʍȑȟijį, Ԯ ʍȑȟijį ijո įՀIJȚșIJțȟ Ԥȥȡȟijį Ԯ ȟȡ‫ף‬ȟ Ԯ ıԼ ȝȑȖȡț ȟȡ‫ף‬ȟ, Ȝįվ ՑIJį
Ս ȟȡ‫ף‬ȣ Ԓȟ ԛȜȑIJij‫ ׫‬ԐʍȡİȡȔș, Ȝįվ ՑIJį Ս ʍıȢվ ԥȜįIJijȡȟ ȟȡ‫ף‬ȣ ԐʍȡİȔİȧIJțȟ
ԛȜȑIJij‫ ·׫‬ijȡ‫ף‬ijȪ ԚIJijțȟ ԛȜȑIJij‫ ׫‬ԐȗįȚȪȟ, Ȝįվ ȡ՟ ʍįȢȪȟijȡȣ ı՞ İțȑȜıțijįț Ȝįվ į՘ijȑȢȜȧȣ
Ԥȥıț, Ȝįվ ijր į՜ijįȢȜıȣ, Ȝįվ ijր ʍȡțșijțȜրȟ Ԯ ĴȤȝįȜijțȜրȟ ij‫׭‬ȟ ijȡțȡȫijȧȟ, Ȝįվ ֭
ԐȜȡȝȡȤȚı‫ ה‬ijո ijȡțį‫ף‬ijį, Ȝįվ ijո ȜȧȝȤijțȜո ij‫׭‬ȟ Ԛȟįȟijտȧȟ Ȝįվ ijո ĴȚįȢijțȜչ.
52 „Bei den kontroversen Topen werden Dinge als Gut erwiesen, indem man zeigt, dass
sie solche akzidentelle Merkmale aufweisen oder in solchen Beziehungen stehen oder
solche Folgen haben usw., von denen man aufgrund der Definition des Guten meinen
muss, sie machten das, dem sie zukommen[,] zu einem Gut“ (Rapp 2002, II 297;
Hervorhebung Ph.B.).
53 Ȝįվ įԽȢıijȬijıȢȡȟ ijր ȜįȚ’ įՙijր ijȡ‫ ף‬Ȟռ ȜįȚ’ įՙijȪ, ȡՃȡȟ ԼIJȥւȣ ՙȗțıțȟȡ‫ ·ף‬ijր Ȟպȟ ȗոȢ
ȡ՘ȥ įՙijȡ‫ ף‬ԥȟıȜį, ijր İպ įՙijȡ‫ף‬, ՑʍıȢ Բȟ ijր ԐȗįȚȪȟ.
54 Ȝįվ Տ ʍȑȟijıȣ įԽȢȡ‫ף‬ȟijįț ijȡ‫ ף‬Ȟռ Տ ʍȑȟijıȣ. Ȝįվ Տ ȡԽ ʍȝıȔȡȤȣ Ԯ Տ ȡԽ ԚȝȑijijȡȤȣ· ԐȗįȚրȟ
ȗոȢ Բȟ ȡ՟ ʍȑȟijıȣ ԚĴȔıȟijįț, խIJijı Ȝįվ Ȟı‫ה‬Șȡȟ ȡ՟ Ȟֻȝȝȡȟ.
34 1. Die Verschiedenheit der Güter

zurückführen. An vielen Stellen ist der Rekurs jedoch explizit, etwa in


Form des „philosophischen Imperfekts“ to agathon ên („das Gute war“) 55 ,
an anderen Stellen lässt er sich ohne Schwierigkeiten konstruieren. (Insge-
samt geht es in 1363b5-21 wohl eher darum, das allgemeine Verfahren zu
beschreiben, nach dem sich Topen zum größeren Gut erzeugen lassen. Es
wäre jedenfalls weder ein Problem, die Definition des Guten zur Gewin-
nung weiterer Topen heranzuziehen, noch wäre es ein Problem, diese
Definition unter Bezug auf die in Kapitel I 7 genannten Topen zu erwei-
tern.)
Die in Rhet. I 6 formulierte Definition des Guten eignet sich deshalb
als eine Grundlage für die Beurteilung umstrittener Fälle, weil sie auf dem
basiert, was unumstritten ist. Die Definition gibt wieder, was „wir gut
nennen“ (ԐȗįȚրȟ ȝջȗȡȞıȟ: ǿ 7, 1363b13). Bedeutet dies, dass die Defini-
tion des Guten allgemein anerkannt ist? Aristoteles behauptet dies nicht
ausdrücklich, er stellt jedoch auf andere Weise eine Verbindung zwischen
der Definition und den anerkannten Meinungen her:
Wie bereits erwähnt, enthält Rhet. I 6-7 nicht nur Topen für zweifel-
hafte Fälle, sondern bietet auch eine Auflistung aller Güter, über die Ei-
nigkeit besteht (I 6, 1362b2-29). Dabei wird jedes dieser Güter durch
einen begründenden gar-Satz mit der Eingangsdefinition verknüpft. Aner-
kanntermaßen gut sind demnach ganz allgemein die Tugenden (wegen
i.4), Lust, Angenehmes und Schönes (wegen i.2). „Im Einzelnen“ sind es:
Glück (wegen i.1 und i.5), die Tugenden der Seele wie zum Beispiel Ge-
rechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit (wegen i.4), die Vortrefflichkei-
ten (ԐȢıijįտ) des Körpers wie zum Beispiel Gesundheit und Schönheit
(wegen i.4 und ii.1), Reichtum (wegen ii.1), Freundschaft (wegen i.1 und
ii.1), Ehre und gutes Ansehen (indirekt wegen i.2 und ii.1), die Fähigkeit
zu reden und zu handeln (wegen ii.1), natürliche Talente (ı՘ĴȤ‫ד‬į) (wegen
ii.1), alle Wissenschaften und Künste (wegen ii.1?) und das Leben (ijր Ș‫׆‬ȟ)
(wegen i.1).
Auf den ersten Blick muss diese Verknüpfung zwischen der Definition
des Guten und den anerkannten Gütern irritieren. Wenn es zutrifft, dass
erst die Liste der Güter das endoxische Material enthält (vgl. explizit
1362b28-29: „Dies also sind so ziemlich diejenigen Güter, über die Über-
einstimmung herrscht“ [ijį‫ף‬ijį Ȟպȟ ȡ՞ȟ IJȥıİրȟ ijո ՍȞȡȝȡȗȡփȞıȟį ԐȗįȚչ
ԚIJijțȟ]), wozu bedarf es dann einer Ableitung dieser Liste von der Defini-
tion des Guten? Eine mögliche Antwort auf diese Frage gibt Christof
Rapp in seinem Kommentar zur Aristotelischen Rhetorik. Nach seiner
Auffassung kommen die Definitionen in der rhetorischen Argumentation
selbst zur Anwendung. Die Verknüpfung der endoxa mit einer Definition
_____________
55 Z.B. 1363a9; 1364a2-3; vgl. auch Rapp (2002, II 366 ff. und 839).
1.3 Topen zum größeren Gut: Rhet. I 6-7 35

zeige, dass sich auch die Sätze aus der ersten Hälfte von I 6 als Topen, und
nicht als bloße Protasen, begreifen lassen. 56 „Auf diese Weise spielt die
Definition des jeweiligen Grundbegriffs [...] bei den spezifischen Topen
und den aus spezifischen Topen gebildeten Enthymemen eine ähnliche
Rolle wie die ‚logischen’ oder formalen Gesetze bei den allgemeinen To-
pen der Topik“ (Rapp 2002, II 293).
Eine andere, mit der genannten aber durchaus kompatible Antwort
bestünde darin, die Verknüpfung zwischen der Definition und den aner-
kannten Gütern als eine Bestätigung der Definition zu verstehen. Der
Redner kann davon ausgehen, dass seine Definition, auch wenn sie nicht
selbst endoxisch sein sollte, alle anerkannten Güter umfasst und somit für
den Kontext der beratenden Rede geeignet ist. Er verfügt über ein Hilfs-
mittel, das ihm die Auflistung aller anerkannten Güter erspart. Und was
noch wichtiger ist: Der Redner kann sicher sein, dass sich die an die Defi-
nition anknüpfenden Topen mit den endoxa vereinbaren lassen. Die Defi-
nition des Guten stellt eine Verbindung zwischen umstrittenen und aner-
kannten Gütern her.
Wenn diese Sichtweise zutrifft, dann kann die in Rhet. I 6 gegebene
Definition des Guten als ein Versuch gelesen werden, relevante Gemein-
samkeiten zwischen den Gegenständen zu benennen, die allgemein für
Güter gehalten werden – wie gesagt mit der Einschränkung, dass es sich
um „erwerbbare“ Güter handeln muss. Einige Bestandteile dieser Definiti-
on tauchen zwar auch in anderen Bereichen der Aristotelischen Philoso-
phie auf; zum Beispiel bildet die Identifikation des Guten mit dem Stre-
bensziel einen wichtigen Bestandteil seiner Theorie über die
Ortsbewegung beseelter Lebewesen. 57 Im Kontext der Rhetorik ist aber die
Frage, ob Aristoteles die gegebenen Definitionen selbst vertritt, irrelevant.
Die Begriffsbestimmungen der Rhetorik rechtfertigen sich ausschließlich
dadurch, dass sie die endoxa erfassen. Sie müssen keinen strengeren Bedin-
gungen genügen, wie sie zum Beispiel an eine Wesensdefinition im enge-
ren Sinne gestellt würden.
Wie sieht das so verstandene Bild der endoxa zum Guten aus? Auffällig
ist vor allem, dass die Definition des Guten in Rhet. I 6 mehrteilig ist. Sie
setzt sich aus verschiedenen Teildefinitionen zusammen, die durch „und“
(Ȝįտ) miteinander verknüpft sind. Es handelt sich um eine Sammlung
unterschiedlicher Kriterien des Guten. Eine ähnliche Struktur findet sich

_____________
56 Rapp (2002, II 266f. und 293).
57 Vgl. die entsprechenden Passagen aus Mot. an. 6 (z.B. 700b25-29) und An. III 9-11
(z.B. III 10, 433a27-30).
36 1. Die Verschiedenheit der Güter

auch bei der eudaimonia-Definition in Rhet. I 5 (1360b14-18) 58 und bei


den Definitionen des Schönen (Ȝįȝցȟ) und der Tugend (ԐȢıijս) in Rhet.
I 9 (1366a33-b1). Eine einfache Begründung für diese Mehrteiligkeit liegt
darin, dass die Definition möglichst viele endoxa abdecken soll und dass
mit unterschiedlichen Auditorien zu rechnen ist. Außerdem könnte ein zu
hoher Allgemeinheitsgrad das Publikum überfordern und liegt daher nicht
im Interesse des Rhetors: „man darf die Schlussfolgerungen nämlich weder
von weither ziehen noch, indem man alles aufgreift“ (ȡ՜ijı ȗոȢ ʍցȢȢȧȚıȟ
ȡ՜ijı ʍչȟijį İı‫ ה‬ȝįȞȖչȟȡȟijįȣ IJȤȟչȗıțȟ: II 22, 1395b24-25). 59 Eine ande-
re Frage ist aber, ob Aristoteles überhaupt davon ausgeht, dass sich eine
Definition des Guten geben lässt, die alle Einzeldefinitionen umfasst, be-
ziehungsweise eine Definition, die die Einzeldefinitionen ersetzen könnte.
Gibt es ein gemeinsames Kriterium, durch das sich alle anerkannten Güter
identifizieren lassen? Anhand der Rhetorik ist diese Frage sicher nicht ab-
schließend zu beantworten. Fest steht aber, dass Aristoteles bei der Aufzäh-
lung der anerkannten Güter in Rhet. I 6 auf fast alle Teildefinitionen zu-
rückgreift. Und prima facie spricht nichts dafür, dass eines der genannten
Kriterien ausreichen könnte, um alle Güter problemlos zu identifizieren.
So lässt sich die Lust nicht ohne weiteres als das beschreiben, bei dessen
Anwesenheit man sich in einem guten Zustand befindet, oder die Tugend
als das, nach dem alles strebt. Bringt man zusätzlich die nicht in der Defi-
nition genannten, aber in den Topen angewandten Kriterien des Guten
ins Spiel, dann erscheint dieses Problem noch verstärkt.
Worauf es vorläufig ankommt, ist Folgendes: Die Klasse der aner-
kannten Güter, die in Rhet. I 6 aufgelistet werden, bietet ein eher hetero-
genes Bild. Gemeinsam ist den Elementen dieser Klasse, dass sie alle als
gut bezeichnet werden. Ansonsten sind sie aber so verschieden, dass es,
zumindest fürs Erste, unterschiedlicher Kriterien bedarf, um alle Elemente
zu erfassen. Es kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Teil-
definitionen des Guten letztlich doch als koextensional erweisen. Dann
würden sie einfach unterschiedliche Aspekte derselben Gegenstandsmenge
bezeichnen, und einige dieser Aspekte wären eben bei einigen Gütern
offensichtlicher als bei anderen. Beispiele für solche alternativen Begriffs-
bestimmungen lassen sich bei Aristoteles durchaus nachweisen; man denke
etwa an die „naturphilosophische“ und die „dialektische“ Definition des
Zorns in De anima (I 1, 403a27-b2). Die Rhetorik vermittelt aber eher den
_____________
58 Ein vielleicht wichtiger Unterschied für den Status der beiden Definitionen besteht
darin, dass Aristoteles im Fall der eudaimonia sofort erwähnt, dass sie alle anerkannten
Meinungen abdeckt (1360b17-18), während er im Fall des Guten erst die einzelnen
Güter ableitet.
59 Vgl. zu den drei Gründen Rapp (2002, II 329) mit Bezug auf die Definition der
eudaimonia.
1.4 Fazit 37

Eindruck, dass sich die Teildefinitionen auf Subklassen beziehen und dass
erst ihre Konjunktion alle anerkannten Güter erfasst. Genau dies ist das
Problem der Verschiedenheit der Güter.
Der Blick in das erste Buch der Rhetorik bringt also zwei Einsichten
über die endoxa zum Guten mit sich. Erstens lassen sich auf der Basis an-
erkannter Meinungen unterschiedliche Kriterien des Guten formulieren.
Die daran anknüpfenden Kriterien des Besseren (oder des Besten) können
durchaus zu widersprüchlichen Ergebnissen führen. Zweitens ist es kei-
neswegs ausgemacht, dass es ein Kriterium gibt, durch das sich alle aner-
kannten Güter identifizieren lassen.

***
Wir können nun auf die in 1.1 formulierte These zurückkommen: Aus
„aristotelischer Sicht“ ist nicht ohne weiteres klar, was es bedeuten soll,
dass etwas das höchste Gut ist. Es dürfte inzwischen deutlich geworden
sein, wie diese These mit dem Problem der Verschiedenheit der Güter
zusammenhängt.
Wenn wir von den Gegenständen ausgehen, die anerkanntermaßen
für Güter gehalten werden, dann fällt es offenbar schwer, die Eigenschaft
zu benennen, die alle diese Gegenstände gleichermaßen zu Gütern macht.
Vereinfacht ausgedrückt liegt dies an der Verschiedenheit der anerkannten
Güter. (Diese Ausdrucksweise ist insofern eine Vereinfachung, als sie na-
türlich nicht darauf hinweisen soll, dass die anerkannten Güter in einer
beliebigen Hinsicht verschieden sind. Vielmehr soll sie darauf hinweisen,
dass die anerkannten Güter in einer Hinsicht verschieden sind, die ihren
Status als Güter betrifft. Es handelt sich, genauer gesagt, um eine relevante
Verschiedenheit.) Die Verschiedenheit der Güter wird dann zu einem
Problem, wenn wir darauf angewiesen sind, eine Gemeinsamkeit zwischen
ihnen festzustellen. Dies ist zum einen der Fall, wenn wir ein Kriterium
oder eine Definition des Guten formulieren wollen, zum anderen, wenn
wir versuchen, Güter als solche miteinander zu vergleichen; denn Kriterien
des Besseren oder des Besten beruhen stets auf Kriterien des Guten. Es
scheint also nicht von vornherein klar zu sein, wie der Begriff eines höchs-
ten Guts überhaupt aufzufassen ist.

1.4 Fazit
In diesem Kapitel sollte ein Hintergrund für die gütertheoretische Lektüre
des ersten Buches der Nikomachischen Ethik bereitgestellt werden. Es sollte
jenes Problem formuliert werden, auf das sich die Argumentation des
38 1. Die Verschiedenheit der Güter

ersten Buches nach meiner Auffassung beziehen lässt. Dieses Problem


enthält zwei Aspekte: (i) Der Zugang zur Bestimmung der eudaimonia ist
der Begriff des höchsten Guts. (ii) Der Begriff des höchsten Guts ist
schwierig zu bestimmen. Wenn wir die hier angestellten Beobachtungen
ernst nehmen – ohne gleich deren genaue Relevanz festzulegen –, dann
erscheint jedes Kriterium des Guten (bzw. des Besseren und des Besten)
als begründungsbedürftig. An jedes Kriterium des Guten kann die Frage
gerichtet werden, wie es sich zur Verschiedenheit der anerkannten Güter
verhält.
Es ist allerdings eine Situation denkbar, in der die Heterogenität der
anerkannten Meinungen keine Bedeutung für die Ethik hätte. Dies wäre
dann der Fall, wenn Aristoteles einen revisionistischen Ansatz vertreten
würde, wenn er also davon ausginge, dass alle oder die meisten der Ge-
genstände, die in der Regel für Güter gehalten werden, „in Wirklichkeit“,
das heißt vor dem Hintergrund der korrekten ethischen Theorie, keine
Güter sind. Abgesehen davon, dass ein solcher Ansatz wenig plausibel ist,
lassen sich ad hoc mehrere Indizien dafür nennen, dass Aristoteles nicht
diesen Weg geht.
Erstens tauchen die meisten Beispiele für Güter, die uns in der Rheto-
rik begegnet sind, auch in der Nikomachischen Ethik auf, wo sie ebenfalls
als Güter bezeichnet werden (vgl. z.B. die Aufzählung der „äußeren Güter“
in I 9, 1099a31-b8). Aristoteles bezweifelt zwar, dass Lust, Ehre, Tugend
oder Reichtum als höchstes Gut in Frage kommen (I 3), dass es sich bei
ihnen also um das „gesuchte Gut“ handelt; es spricht aber nichts dafür,
dass er sie nicht für Güter hält. 60 Auch der Hinweis auf die geringere Ge-
nauigkeit der Ethik im ersten Methodenexkurs aus Buch I (I 1, 1094b11-
27) deutet nicht in diese Richtung. Hier meint Aristoteles zwar, dass Gü-
ter wie Reichtum oder Tapferkeit eine gewisse „Unbeständigkeit“ aufwei-
sen (ijȡțįփijșȟ İջ ijțȟį ʍȝչȟșȟ Ԥȥıț Ȝįվ ijԐȗįȚչ: b16-17), weil viele durch
sie zu Schaden kommen. Dies bringt ihn aber nicht dazu, Reichtum oder
Tapferkeit nicht mehr als Güter zu behandeln. 61
Zweitens überprüft Aristoteles seine eigene Definition der eudaimonia
anhand gängiger Meinungen (legomena) (I 8-9), zu denen auch Meinun-
gen über das Gute beziehungsweise über Güter gehören (vgl. etwa die
Dreiteilung der Güter in „äußere“, „körperliche“ und „seelische“ Güter in
I 8, 1098b12-18, die aus Rhet. I 5, 1360b25-29, bekannt ist, oder die
Berücksichtigung der äußeren Güter in I 9, 1099a31-b8). Der genaue
Status dieser Überprüfung ist zwar umstritten, aber schon der Vergleich

_____________
60 In EN VII 14 argumentiert Aristoteles explizit dafür, dass die Lust ein Gut ist.
61 Vgl. auch Everson (1995, 174 mit FN 4).
1.4 Fazit 39

der eigenen Definition mit bestehenden Meinungen spricht gegen die


Annahme einer revisionistischen Ethikauffassung bei Aristoteles.
Drittens fordert Aristoteles eine dezidiert antirevisionistische Heran-
gehensweise im ersten Buch der Eudemischen Ethik, das EN I in vielen
Hinsichten ähnelt (vgl. 2.5):
Das Gute selbst muss aber andersherum, als es zur Zeit geschieht, bewiesen wer-
den. Denn momentan (gehen sie) von dem aus, wovon umstritten ist, ob es das
Gute aufweist, und beweisen aus diesem das, was anerkanntermaßen gut ist, (zum
Beispiel beweisen sie) aus den Zahlen, dass die Gerechtigkeit und die Gesundheit
gut sind, denn sie seien Ordnungen und Zahlen, (und dies in der Annahme) dass
den Zahlen und den Einheiten das Gute zukäme, weil die Eins das Gute selbst
sei. Man muss aber aus dem, was anerkanntermaßen (gut ist), wie Gesundheit,
Kraft, Besonnenheit, (beweisen), dass in den unbewegten Dingen das Gute in
noch höherem Maße vorkommt. 62 (I 8, 1218a15-22)
Auch wenn die genaue Rolle der anerkannten Güter für die Ethik schwie-
rig zu bestimmen ist, dürfte klar sein, dass Aristoteles keinen revisionisti-
schen Zugang wählt. Beispiele anerkannter Güter dienen ihm sowohl als
Ausgangspunkt als auch zur Überprüfung seiner Theorie. Daher scheint es
keinesfalls abwegig, dass Probleme, die sich aus der Verschiedenheit der
anerkannten Güter ergeben, auch für die Ethik relevant sind. Bei dem hier
angestellten Vergleich zwischen Ethik und Rhetorik geht es also nicht um
die These, dass beide Disziplinen in derselben Weise auf endoxa rekurrie-
ren müssten. Hier soll nichts über den dialektischen Charakter der Ethik
gesagt werden. Es geht vielmehr darum, dass die Rhetorik eine Schwierig-
keit in der Bestimmung des Guten aufzeigt, die einer Untersuchung, wel-
che vom Begriff des „höchsten Guts“ ausgeht, im Wege steht.

_____________
62 Ԑȟչʍįȝțȟ İպ Ȝįվ İıțȜijջȡȟ Ԯ թȣ ȟ‫ף‬ȟ İıțȜȟփȡȤIJț ijր ԐȗįȚրȟ į՘ijց. ȟ‫ף‬ȟ Ȟպȟ ȗոȢ ԚȜ ij‫׭‬ȟ
ԐȟȡȞȡȝȡȗȡȤȞջȟȧȟ Ԥȥıțȟ ijր ԐȗįȚցȟ, ԚȠ ԚȜıտȟȧȟ ijո ՍȞȡȝȡȗȡփȞıȟį ıՂȟįț ԐȗįȚո
İıțȜȟփȡȤIJțȟ, ԚȠ ԐȢțȚȞ‫׭‬ȟ, Ցijț ԭ İțȜįțȡIJփȟș Ȝįվ ԭ ՙȗտıțį ԐȗįȚցȟǝ ijչȠıțȣ ȗոȢ Ȝįվ
ԐȢțȚȞȡտ, թȣ ijȡ‫ה‬ȣ ԐȢțȚȞȡ‫ה‬ȣ Ȝįվ ijį‫ה‬ȣ ȞȡȟչIJțȟ ijԐȗįȚȡ‫ ף‬ՙʍչȢȥȡȟijȡȣ İțո ijր ıՂȟįț ijր ԣȟ
į՘ijր ‹ijր› ԐȗįȚցȟ. İı‫ ה‬İ’ ԚȜ ij‫׭‬ȟ ՍȞȡȝȡȗȡȤȞջȟȧȟ, ȡՃȡȟ ՙȗțıտįȣ ԼIJȥփȡȣ IJȧĴȢȡIJփȟșȣ,
Ցijț Ȝįվ Ԛȟ ijȡ‫ה‬ȣ ԐȜțȟսijȡțȣ Ȟֻȝȝȡȟ ijր Ȝįȝցȟ.
2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

Die Erläuterungen des ersten Kapitels haben Folgendes deutlich gemacht:


Wenn die ethische Untersuchung vom Begriff eines höchsten Guts ausge-
hen soll, dann kann die Verschiedenheit der Güter und die Vielzahl mög-
licher Kriterien des Guten zu einem Problem werden. Dass und wie sich
dieses Problem tatsächlich auf den Argumentationsgang von EN I aus-
wirkt, wird im Verlauf der folgenden Interpretation klar werden.
Nachdem damit der Hintergrund umrissen ist, können wir zu der an-
gekündigten „gütertheoretischen Lektüre“ des ersten Buches der Nikoma-
chischen Ethik übergehen. Sie geschieht in zwei Schritten. Im ersten Schritt
soll gezeigt werden, dass Aristoteles in EN I 1-5 eine Theorie des Guten
entwickelt (Kap. 2), im zweiten Schritt, dass diese Theorie die Grundlage
der in I 6-9 erfolgenden Bestimmung der eudaimonia bildet. Aristoteles
reagiert in den Kapiteln I 6-9 auf die zuvor gewonnenen gütertheoreti-
schen Einsichten (Kap. 3). Entsprechend dem in der Einleitung formulier-
ten Anliegen soll zum einen die exegetische Angemessenheit der Interpre-
tation nachgewiesen werden. Ich möchte zeigen, dass die gütertheoretische
Lektüre eine Reihe gängiger Interpretationsprobleme vermeidet und ein
geschlossenes Bild des argumentativen Ablaufs vermittelt. Zum anderen
wird es darum gehen, einige Konsequenzen zu beschreiben, die diese Lek-
türe für das Verständnis der Aristotelischen Ethik mit sich bringt (vgl.
dazu auch Kap. 4).
Die Interpretationsthese zu EN I 1-5 lautet also:
Die ersten fünf Kapitel der Nikomachischen Ethik entwickeln eine
Theorie des Guten, die auf die Anforderungen der Ethik zugeschnit-
ten ist.
Mit dieser These ist gemeint, dass es in EN I 1-5 nicht nur um eine in-
haltliche Bestimmung des Guten oder des höchsten Guts geht – dies dürf-
te kaum umstritten sein –, sondern auch um die Frage, wie sich das Gute
oder das höchste Gut überhaupt bestimmen lassen. Die Kapitel enthalten
einige „Meta-Überlegungen“ zur Bestimmung des Guten. Diese Sicht der
Dinge ist unüblich und wahrscheinlich gewöhnungsbedürftig. Auch wenn
niemand bezweifeln wird, dass in EN I 1-5 viel von Gütern die Rede ist,
scheint es doch nur an wenigen Stellen explizit um gütertheoretische Fra-
gen zu gehen. Die Frage, was Güter zu Gütern macht, wird in dieser Form
2.1 Zwei gütertheoretische Ansätze 41

gar nicht aufgeworfen. Besonderheiten oder Schwierigkeiten in Bezug auf


das Gute werden nur im Rahmen des ersten Methodenexkurses in Kapitel
I 1 (v.a. 1094b14-22) und in Kapitel I 4 eigens thematisiert, also in Passa-
gen, die wie Einschübe im Gang der Untersuchung wirken. 1 Eine güter-
theoretische Lesart des gesamten Textes hat prima facie wenig für sich.
Um diesem nahe liegenden Einwand zu begegnen, möchte ich, bevor
ich mit der genaueren Interpretation beginne, ein erstes und relativ einfa-
ches Argument für meine Sichtweise liefern. Anhand eines groben Über-
blicks soll gezeigt werden, dass eine gütertheoretische Lektüre von EN
I 1-5 sinnvoll ist, auch wenn das Gute qua Gutes nicht den einzigen oder
zentralen Gegenstand der Untersuchung bildet. Dieser Überblick wird es
zudem ermöglichen, die genannte Interpretationsthese zu präzisieren und
die Vorgehensweise genauer zu umreißen.

2.1 Zwei gütertheoretische Ansätze


Um herauszufinden, worum es in den ersten fünf Kapiteln der Nikomachi-
schen Ethik geht, lohnt es sich, zunächst einen Blick auf den Anfang von
Kapitel I 2 zu werfen. Zwar enthält bereits Kapitel I 1 Angaben zum Ge-
genstand, zu den Hörern und darüber, wie das Gesagte aufzunehmen sei,
die eigentliche Untersuchung beginnt aber erst hier. 2 Denn erst hier expli-
ziert Aristoteles die Fragestellung und gibt einen Plan seines weiteren Vor-
gehens:
Wir aber wollen, (die Untersuchung) wieder aufnehmend, sagen, da jede Er-
kenntnis und (jeder) Entschluss ein bestimmtes Gut anstrebt, was es ist, wovon
wir behaupten, dass die politische Wissenschaft es erstrebt, und was das höchste
aller praktischen Güter ist. Dem Namen nach stimmen wohl die meisten überein.
Denn sowohl die Vielen als auch die Wohlgesitteten nennen es ‚Glück’, und sie
nehmen an, gut zu leben und gut zu handeln (Wohlergehen) seien dasselbe wie
glücklich zu sein. Jedoch darüber, was das Glück ist, sind sie sich uneinig, und
die Vielen erklären es nicht auf dieselbe Weise wie die Weisen. Denn die einen
(nennen) etwas Offensichtliches und Bekanntes, zum Beispiel Lust oder Reich-
tum oder Ehre, andere anderes – oft aber auch derselbe Verschiedenes; denn
wenn er krank ist, (nennt er) Gesundheit, wenn er arm ist, Reichtum. Da sie sich
aber ihrer eigenen Unwissenheit bewusst sind, bewundern sie diejenigen, die et-
_____________
1 Zumindest werden diese Passagen sprachlich als Einschübe markiert, da in den auf sie
folgenden Sätzen der Faden explizit wieder aufgenommen wird (I 2, 1095a14 und I 5,
1097a15). Weiter unten werde ich allerdings versuchen zu zeigen, dass I 4 einen in-
tegralen Bestandteil der Untersuchung bildet (2.3).
2 Aristoteles selbst kennzeichnet Kapitel I 1 in der Zusammenfassung (1095a11-13) als
Proömium; vgl. die explizite Wendung pephroimiasthô tauta („dies sei einleitend ge-
sagt“: a12-13).
42 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

was Großes und ihr Verständnis Übersteigendes sagen. Einige andere aber glau-
ben, dass es neben den vielen Gütern ein anderes (Gut) an sich gibt, das auch für
alle diese die Ursache ihres Gutseins ist. 3 (1095a14-28)
Diese Passage ist vor allem deshalb aufschlussreich, weil sie eine erste Dar-
stellung des Problems bietet, das es zu lösen gilt: Es besteht zwar Einigkeit
über die Benennung des höchsten Guts – es ist die eudaimonia –, aber
Uneinigkeit darüber, was die eudaimonia oder das höchste Gut ist (vgl.
1.1). Diese Uneinigkeit belegt Aristoteles durch eine Auflistung gängiger
Meinungen (doxai), mit denen er sich in den folgenden zwei Kapiteln
noch genauer beschäftigen wird. Da die doxai also das Problem gewisser-
maßen „enthalten“ – zum Beispiel indem sie nicht miteinander kompati-
bel sind –, ist es interessant zu sehen, welche Meinungen als relevant aus-
gewählt werden und wie Aristoteles diese Meinungen präsentiert. 4 Zwei
Dinge fallen auf:
Erstens fällt auf, dass Aristoteles bei seiner Schilderung der allgemei-
nen Problemlage die Verschiedenheit und Vielzahl der Antworten betont.
Nicht nur haben verschiedene Menschen unterschiedliche Auffassungen
über das Glück (Ԕȝȝȡț İ’ Ԕȝȝȡ: a23), sondern oft auch derselbe Mensch
zu unterschiedlichen Zeiten oder in unterschiedlichen Situationen
(ʍȡȝȝչȜțȣ İպ Ȝįվ Ս į՘ijրȣ ԥijıȢȡȟ: a23-24): Ist er krank, besteht für ihn
das Glück in der Gesundheit, ist er arm, im Reichtum, usw. Da die An-
zahl denkbarer Lebenssituationen unüberschaubar groß sein dürfte, dürfte
auch die Anzahl denkbarer Antworten auf die Frage nach dem Glück un-
überschaubar groß sein. In seiner Darstellung konzentriert sich Aristoteles
also zunächst auf die Menge und nicht auf den Inhalt der bestehenden
Ansichten.
Zweitens fällt auf, dass Aristoteles versucht, die bestehenden Ansichten
trotz ihrer Verschiedenheit in zwei Gruppen einzuteilen. Auf der einen
Seite (ȡԿ Ȟջȟ: a22) stehen die „Vielen“ (ʍȡȝȝȡտ), die etwas Offensichtliches
und Bekanntes (ij‫׭‬ȟ ԚȟįȢȗ‫׭‬ȟ ijț Ȝįվ ĴįȟıȢ‫׭‬ȟ) zur Antwort geben, zum
_____________
3 ȂȒȗȧȞıȟ İ’ ԐȟįȝįȖȪȟijıȣ, Ԛʍıțİռ ʍֻIJį ȗȟ‫׭‬IJțȣ Ȝįվ ʍȢȡįȔȢıIJțȣ ԐȗįȚȡ‫ ף‬ijțȟրȣ
ՌȢȒȗıijįț, ijȔ ԚIJijվȟ ȡ՟ ȝȒȗȡȞıȟ ijռȟ ʍȡȝțijțȜռȟ ԚĴȔıIJȚįț Ȝįվ ijȔ ijր ʍȑȟijȧȟ ԐȜȢȪijįijȡȟ
ij‫׭‬ȟ ʍȢįȜij‫׭‬ȟ ԐȗįȚ‫׭‬ȟ. ՌȟȪȞįijț Ȟպȟ ȡ՞ȟ IJȥıİրȟ ՙʍր ij‫׭‬ȟ ʍȝıȔIJijȧȟ ՍȞȡȝȡȗı‫ה‬ijįț· ijռȟ
ȗոȢ ı՘İįțȞȡȟȔįȟ Ȝįվ ȡԽ ʍȡȝȝȡվ Ȝįվ ȡԽ ȥįȢȔıȟijıȣ ȝȒȗȡȤIJțȟ, ijր İ’ ı՞ Ș‫׆‬ȟ Ȝįվ ijր ı՞
ʍȢȑijijıțȟ ijį՘ijրȟ ՙʍȡȝįȞȖȑȟȡȤIJț ij‫ ׮‬ı՘İįțȞȡȟı‫ה‬ȟ· ʍıȢվ İպ ij‫׆‬ȣ ı՘İįțȞȡȟȔįȣ, ijȔ ԚIJijțȟ,
ԐȞĴțIJȖșijȡ‫ף‬IJț Ȝįվ ȡ՘ȥ ՍȞȡȔȧȣ ȡԽ ʍȡȝȝȡվ ijȡ‫ה‬ȣ IJȡĴȡ‫ה‬ȣ ԐʍȡİțİȪįIJțȟ. ȡԿ Ȟպȟ ȗոȢ ij‫׭‬ȟ
ԚȟįȢȗ‫׭‬ȟ ijț Ȝįվ ĴįȟıȢ‫׭‬ȟ, ȡՃȡȟ ԭİȡȟռȟ Ԯ ʍȝȡ‫ף‬ijȡȟ Ԯ ijțȞȓȟ, Ԕȝȝȡț İ’ Ԕȝȝȡ—
ʍȡȝȝȑȜțȣ İպ Ȝįվ Ս į՘ijրȣ ԥijıȢȡȟ· ȟȡIJȓIJįȣ Ȟպȟ ȗոȢ ՙȗȔıțįȟ, ʍıȟȪȞıȟȡȣ İպ ʍȝȡ‫ף‬ijȡȟ·
IJȤȟıțİȪijıȣ İ’ ԛįȤijȡ‫ה‬ȣ Ԕȗȟȡțįȟ ijȡւȣ ȞȒȗį ijț Ȝįվ ՙʍպȢ į՘ijȡւȣ ȝȒȗȡȟijįȣ
ȚįȤȞȑȘȡȤIJțȟ. Ԥȟțȡț İ’ ֪ȡȟijȡ ʍįȢո ijո ʍȡȝȝո ijį‫ף‬ijį ԐȗįȚո Ԕȝȝȡ ijț ȜįȚ’ įՙijր ıՂȟįț,
Տ Ȝįվ ijȡȫijȡțȣ ʍֻIJțȟ įՀijțȪȟ ԚIJijț ijȡ‫ ף‬ıՂȟįț ԐȗįȚȑ.
4 Dies gilt unabhängig von der Frage, welche Rolle die Meinungen für die Lösung des
Problems spielen, das heißt inwieweit Aristoteles in der Ethik dialektisch verfährt.
2.1 Zwei gütertheoretische Ansätze 43

Beispiel Lust, Reichtum oder Ehre. Auf der anderen Seite (Ԥȟțȡț İջ: a26)
stehen diejenigen, die neben den Gütern das Gute „an sich“ (kath’ hauto)
annehmen, das die Ursache für die Güte der anderen Güter sei. Sie könn-
ten mit den Weisen (sophoi) aus a21 identisch sein; vielleicht meint sophoi
aber auch diejenigen, die das Glück in einem der Theorie gewidmeten
Leben sehen.
Es ist leicht zu sehen, dass diese Zweiteilung auch für den weiteren
Verlauf der Untersuchung, also die genauere Behandlung der Meinungen,
bestimmend ist. Denn Kapitel I 3 nimmt in der Auseinandersetzung mit
den Lebensformen (Ȗտȡț) die genannten Antworten der Vielen auf und
ergänzt sie um Tugend und Weisheit. Und der ideentheoretische Ansatz,
der in Kapitel I 4, der so genannten „Platonkritik“, behandelt wird, lässt
sich problemlos mit der Antwort identifizieren, die ein Gutes an sich pos-
tuliert (vgl. z.B. 1096b33, wo explizit von einem Guten kath’ hauto die
Rede ist).
Schwieriger ist dagegen zu sagen, worin die genaue Alternative zwi-
schen den beiden Gruppen besteht. Denn auf den ersten Blick scheinen
sie nicht auf die gleiche Frage zu antworten. Lust, Reichtum, Ehre und
Gesundheit können als mehr oder weniger direkte Antworten auf die in
1095a20-21 aufgeworfene Frage „Was ist das Glück?“ verstanden werden
(vgl. 2.2.2). Für das Gute an sich scheint dies jedoch nicht zu gelten. Zu-
mindest müsste erst geklärt werden, wie die bloße Behauptung, es gebe
neben den vielen Gütern ein Gut an sich, mit der Frage nach dem Glück
zusammenhängt. „Was ist x?“ – Fragen werden in der Regel nicht durch
Existenzaussagen beantwortet. Besteht das Glück im Erwerb dieses an sich
Guten? Oder in dessen Erkenntnis? Oder gibt es einen anderen Zusam-
menhang? Es sieht so aus, als würde die Theorie des an sich Guten nicht
so recht zu den anderen Meinungen passen. 5 Dieser Verdacht scheint sich
in I 4 dann auch zu bestätigen. Aristoteles markiert den Beginn des Kapi-
tels als neuen Ansatz: „Aber dies sei nun erledigt. Vielleicht ist es besser,
das allgemeine (Gute) ins Auge zu fassen“ (ijį‫ף‬ijį Ȟպȟ ȡ՞ȟ ԐĴıտIJȚȧ. Ȋր İպ
ȜįȚցȝȡȤ Ȗջȝijțȡȟ ՀIJȧȣ ԚʍțIJȜջȦįIJȚįț: 1096a10-11), und er beendet es
mit einer deutlichen Schlusswendung: „Auch über diese Dinge sei hiermit
soviel gesagt“ (Ȝįվ ʍıȢվ Ȟպȟ ijȡփijȧȟ Ԛʍվ ijȡIJȡ‫ף‬ijȡȟ ıԼȢսIJȚȧ: 1097a14). Da
I 5 mit einer Wiederaufnahmefloskel beginnt: „Wir wollen wieder auf das
gesuchte Gut zurückkommen“ (ȇչȝțȟ İ’ ԚʍįȟջȝȚȧȞıȟ Ԛʍվ ijր
ȘșijȡփȞıȟȡȟ ԐȗįȚցȟ: 1097a15), wirkt die Platonkritik wie ein Einschub,
der zum verhandelten Thema nur wenig beigetragen hat.
_____________
5 Vgl. C.J. Rowe: „[I]t is, surely, somewhat odd to find the form of the good included
in a list of views on happiness. The form of the good is not by any stretch of the
imagination an answer to the question of the nature of happiness” (1971, 27).
44 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

Diese – verbreitete – Sicht 6 halte ich für unbefriedigend. Auch wenn


es nie falsch ist zu sagen, dass die Auseinandersetzung mit Platon eine
zentrale Stellung in Aristoteles’ Philosophie einnimmt, sollte man doch im
Einzelfall über eine Erklärung darüber verfügen, wieso er ein bestimmtes
Theoriestück für relevant hält. Dies gilt besonders in unserem Fall, da sich
die Platonische Ethik ja keineswegs in der Idee des Guten erschöpft. 7 Es
erscheint wenig plausibel, dass Aristoteles in beiden Ethiken auf die Idee
des Guten zu sprechen kommen sollte, 8 um dann zu merken, dass sie mit
seiner Fragestellung eigentlich nichts zu tun hat. Wie also fügt sich der
Hinweis auf das an sich Gute in die Auflistung der bestehenden Meinun-
gen zu Beginn von Kapitel I 2?
Nach meiner Auffassung stehen die beiden zu Beginn von EN I 2 vor-
gestellten Gruppen für zwei unterschiedliche gütertheoretische Ansätze,
auf deren Basis eine je eigene Antwort auf die Frage nach dem höchsten
Gut gegeben werden kann. 9 Die Ansichten der Vielen basieren auf einem
„teleologischen“ Ansatz, der Güter mit Zielen identifiziert. Nach diesem
Ansatz ist das höchste Gut das oberste Ziel des Strebens. Die „platonische“
Ansicht basiert dagegen auf einem Ansatz, der die Eigenschaft gut zu den
„ontologischen“ Eigenschaften des als gut bezeichneten Gegenstandes in
Beziehung setzt. Nach diesem Ansatz wäre das höchste Gut der Gegen-
stand, der bestimmte dieser Eigenschaften in höchstem Maße aufweist.
Dass die Beispiele der ersten Gruppe auf einem Zusammenhang zwi-
schen dem Guten und dem Erstrebten beruhen, deutet sich schon in I 2
an; denn wer arm ist, erstrebt offensichtlich Reichtum, wer krank ist, er-
strebt Gesundheit, usw. Explizit verwendet wird dieser Zusammenhang
aber erst in I 3, wo anhand der „vorherrschenden“ Lebensformen
(ȞչȝțIJijį ȡԽ ʍȢȡփȥȡȟijıȣ: 1095b18) eine Auswahl aus den Antworten der
Vielen getroffen wird. Lust, Tugend und Weisheit – in zweiter Linie Ehre
und Reichtum – werden von den Anhängern der entsprechenden Lebens-
formen als höchste Güter angesehen 10 und sind zugleich die Ziele der je-
weiligen Lebensform. 11 Sie werden von Aristoteles qua höchste Ziele als
_____________
6 Vgl. zur gängigen Einschätzung der Platonkritik 2.3.
7 So spielt auch bei Vergleichen zwischen der Platonischen und der Aristotelischen
Ethik die Ideenkritik kaum eine Rolle. Vgl. als ein Beispiel die Beiträge in Heinaman
(Hg.) (2003).
8 EE I 8; vgl. außerdem MM I 1, 1182b6-1183b8.
9 Vgl. ähnlich Broadie/Rowe (2002, 9f.).
10 Vgl. z.B. 1095b14-16: „Denn nicht ohne Grund scheinen die vielen und einfachsten
Leute unter den (bekannten) Lebensformen die Lust für das Gute und das Glück zu
halten“ (ijր ȗոȢ ԐȗįȚրȟ Ȝįվ ijռȟ ı՘İįțȞȡȟտįȟ ȡ՘Ȝ Ԑȝցȗȧȣ ԚȡտȜįIJțȟ ԚȜ ij‫׭‬ȟ Ȗտȧȟ
ՙʍȡȝįȞȖչȟıțȟ ȡԽ Ȟպȟ ʍȡȝȝȡվ Ȝįվ ĴȡȢijțȜօijįijȡț ijռȟ ԭİȡȟսȟ).
11 Vgl. z.B. die Wendung „Ziel der politischen Lebensform“ (ijջȝȡȣ ijȡ‫ ף‬ʍȡȝțijțȜȡ‫ ף‬ȖտȡȤ:
1095b23 und b31).
2.1 Zwei gütertheoretische Ansätze 45

höchste Güter behandelt. Besonders aufschlussreich ist in diesem Kontext


ein Argument aus der Behandlung der politischen Lebensform (Ȗտȡȣ
ʍȡȝțijțȜցȣ):
Die wohlgesitteten und aktiven Leute (wählen die) Ehre; denn dies ist wohl das
Ziel der politischen Lebensform. [...] Sie scheinen aber die Ehre zu erstreben,
damit sie sich selbst davon überzeugen können, dass sie gut sind. Sie suchen je-
denfalls, von den Weisen geehrt zu werden und von denen, denen sie bekannt
sind, und zwar für (ihre) Tugend. Also ist klar, dass, soweit es nach diesen geht,
die Tugend besser ist. Vielleicht könnte man auch eher annehmen, dass diese das
Ziel des politischen Lebens ist. 12 (1095b22-31)
Nach diesem Argument kann daraus, dass jemand etwas um einer anderen
Sache willen erstrebt (zum Beispiel die Ehre um des Ansehens der Tu-
gendhaftigkeit willen), geschlossen werden, dass Letzteres, soweit es nach
ihm geht, besser ist. Verhältnisse zwischen Strebenszielen werden hier als
Verhältnisse zwischen Gütern begriffen (vgl. auch das Argument gegen
den Reichtum: 1096a5-7). Genau dieser Gedanke wird bereits in der Ein-
leitung zu I 1 formuliert (1094a6-16; vgl. 2.2.1) und taucht, wie wir gese-
hen haben, unter den Kriterien des höchsten Guts in I 5 wieder auf
(1097a25-34; vgl. 1.2). Um herauszufinden, was das höchste Gut ist, muss
man herausfinden, welches die vorrangigen Ziele menschlichen Strebens
sind.
Im Rahmen der Platonkritik ist dagegen von einem Zusammenhang
zwischen dem Guten und dem Erstrebten zunächst keine Rede. Und auch
wenn Kapitel I 4 wesentlich schwieriger zu interpretieren ist als Kapitel
I 3, wird auf den ersten Blick deutlich, dass Güter hier nicht als Ziele auf-
gefasst werden. Aristoteles wirft Platon sogar explizit vor, dass eine Idee
des Guten weder durch Handlungen zu erreichen (ʍȢįȜijցȟ) noch er-
werbbar (Ȝijșijցȟ), noch sonstwie eine Hilfe für die Erlangung der erreich-
baren Güter wäre (1096b31-1097a13). Die verwendeten Argumente – vor
allem das so genannte „Kategorienargument“ (1096a23-29) – legen es jetzt
eher nahe, von einem ontologischen Konzept des Guten zu sprechen (vgl.
2.3).
Damit verfügen wir über eine plausible Erklärung, wieso Aristoteles
die gängigen Meinungen in zwei Gruppen einteilt. Den Antworten der
ersten Gruppe ist gemeinsam, dass sie sich trotz ihrer Verschiedenheit alle
als Ziele begreifen lassen. Sie fügen sich problemlos in den zu Beginn von

_____________
12 ȡԽ İպ ȥįȢȔıȟijıȣ Ȝįվ ʍȢįȜijțȜȡվ ijțȞȓȟ· ijȡ‫ ף‬ȗոȢ ʍȡȝțijțȜȡ‫ ף‬ȖȔȡȤ IJȥıİրȟ ijȡ‫ף‬ijȡ ijȒȝȡȣ.
[...] Ԥijț İ’ ԚȡȔȜįIJț ijռȟ ijțȞռȟ İțօȜıțȟ Ձȟį ʍțIJijıփIJȧIJțȟ ԛįȤijȡւȣ ԐȗįȚȡւȣ ıՂȟįț·
Șșijȡ‫ף‬IJț ȗȡ‫ף‬ȟ ՙʍր ij‫׭‬ȟ ĴȢȡȟȔȞȧȟ ijțȞֻIJȚįț, Ȝįվ ʍįȢ’ ȡՃȣ ȗțȟȬIJȜȡȟijįț, Ȝįվ Ԛʍ’
ԐȢıij‫ ·ׇ‬İ‫׆‬ȝȡȟ ȡ՞ȟ Ցijț Ȝįijȑ ȗı ijȡȫijȡȤȣ ԭ ԐȢıijռ ȜȢıȔijijȧȟ. ijȑȥį İպ Ȝįվ Ȟֻȝȝȡȟ Ԕȟ
ijțȣ ijȒȝȡȣ ijȡ‫ ף‬ʍȡȝțijțȜȡ‫ ף‬ȖȔȡȤ ijįȫijșȟ ՙʍȡȝȑȖȡț.
46 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

Kapitel I 1 hergestellten teleologischen Kontext. Das Gute an sich ist da-


gegen zwar ebenfalls ein „höchstes Gut“, aber – zumindest in der Darstel-
lung des Aristoteles – kein oberstes Ziel und kann daher nicht ohne weite-
res an die Antworten der ersten Gruppe angefügt werden. Es steht für eine
ganz andere Auffassung vom Guten, weshalb die zunächst rätselhafte
Formulierung „Einige andere aber glauben, dass es neben den vielen Gü-
tern ein anderes (Gut) an sich gibt“ (1095a26-27) durchaus Sinn macht.
Die Existenzbehauptung markiert einen Wechsel im gütertheoretischen
Ansatz. Da die Kapitel I 1, I 3 und I 5 auf der gleichen „Gütertheorie“
basieren, wird auch verständlich, wieso I 4 wie ein Einschub wirkt und
wieso Aristoteles in I 5 meint, quasi auf einem Umweg am gleichen Ziel
angekommen zu sein (ȞıijįȖįտȟȧȟ İռ Ս ȝցȗȡȣ ıԼȣ ijį՘ijրȟ ԐĴ‫ה‬Ȝijįț:
1097a24).
Wir erhalten somit folgendes Bild vom Gang der Untersuchung: Aris-
toteles führt in I 1 den teleologischen Ansatz zur Bestimmung des Guten
ein und benutzt ihn in I 3 als Hintergrund für die Betrachtung gängiger
Meinungen. Dann wendet er sich in I 4 dem ideentheoretischen Ansatz als
der grundlegenden Alternative zu und kommt in I 5 auf den teleologi-
schen Ansatz zurück.
Aristoteles’ erster Zugang zum Untersuchungsgebiet, seine Aufberei-
tung der Problemlage anhand der Meinungen, orientiert sich an einer
Alternative zwischen zwei gütertheoretischen Ansätzen. 13 Dies gilt, wie
eingangs behauptet, unabhängig davon, ob gütertheoretische Probleme in
EN I 1-5 auch explizit behandelt werden. Die Frage, was diese Alternative
für die Nikomachische Ethik bedeutet und wie Aristoteles damit umgeht,
ist daher berechtigt. Für eine gütertheoretische Perspektive auf EN I 1-5
spricht, dass Aristoteles selbst eine solche Perspektive einzunehmen
scheint.

***
Nach diesem ersten Argument für eine gütertheoretische Lektüre von EN
I 1-5 können wir auf die bereits genannte Interpretationsthese zurück-
kommen:
Die ersten fünf Kapitel der Nikomachischen Ethik entwickeln eine
Theorie des Guten, die auf die Anforderungen der Ethik zugeschnit-
ten ist.

_____________
13 Diese Alternative taucht in ähnlicher Form auch in der Eudemischen Ethik auf (I 8);
vgl. hierzu 2.5.
2.1 Zwei gütertheoretische Ansätze 47

Wie verhält sich diese These zu den beiden gerade identifizierten güter-
theoretischen Ansätzen? Auf den ersten Blick scheint die Antwort sehr
einfach. Es ist offensichtlich, dass Aristoteles den „platonischen“ Ansatz
zurückweist. Er versucht zu zeigen, dass es keine Idee des Guten geben
kann und dass eine Idee des Guten, wenn es sie gäbe, keinen Nutzen für
die Ethik hätte. Ebenso offensichtlich scheint, dass Aristoteles selbst einen
teleologischen Ansatz vertritt. Im Prinzip hält er an der zu Beginn der
Untersuchung eingeführten Identifikation von Gütern und Zielen fest.
Wie ich im Folgenden zeigen möchte, greift diese Antwort jedoch zu
kurz. Ihr entgeht die eigentliche gütertheoretische Pointe der ersten Kapi-
tel der Nikomachischen Ethik, die sich folgendermaßen umreißen lässt:
Zwar trifft es zu, dass Aristoteles dem teleologischen Ansatz zur Bestim-
mung des Guten den Vorzug gibt. Was er genau von diesem Ansatz hält,
wird aber erst im Verlauf von EN I 1-5 deutlich. Die Kapitel I 1-5 bieten
eine gütertheoretische Einschätzung der Identifikation von Gütern und
Zielen und damit eine „Theorie des Guten“. Und für diese Theorie des
Guten spielt auch die Kritik der platonischen Alternative eine wichtige
Rolle. Entscheidend ist dabei, dass Aristoteles nicht nur die Vorteile her-
vorhebt, die den teleologischen Ansatz gegenüber der Annahme einer Idee
des Guten auszeichnen, sondern auch auf einige Schwierigkeiten dieses
Ansatzes hinweist. Es sind diese Schwierigkeiten, auf die er im weiteren
Verlauf der Untersuchung reagieren muss.
Die folgende Interpretation von EN I 1-5 gliedert sich in drei Ab-
schnitte. Im ersten Abschnitt (2.2.1) werden wir uns mit der Einführung
des teleologischen Ansatzes am Beginn von EN I 1 (1094a1-22) befassen.
Es soll gezeigt werden, dass Aristoteles diesen Ansatz hier lediglich stipu-
liert, das heißt dass er eine gütertheoretische Festlegung trifft, über deren
genauere Begründung nichts gesagt wird. Im zweiten Abschnitt (2.2.2)
möchte ich dafür plädieren, die Kapitel I 2 und I 3 als eine „Anwendung“
des teleologischen Ansatzes zu lesen, in deren Verlauf einige der oben er-
wähnten Schwierigkeiten zutage treten. So scheint die Identifikation von
Gütern und Zielen zum einen auf eine „relativistische“ Konzeption der
Güter hinauszulaufen und zum anderen nicht allen Kriterien des Guten
gerecht zu werden. Der dritte Abschnitt (2.3) ist in erster Linie einer selek-
tiven Interpretation der Platonkritik gewidmet. Hier soll gezeigt werden,
dass EN I 4 einige wichtige „metaethische“ Einsichten enthält. Die ent-
scheidende dieser Einsichten lautet, dass der teleologische Ansatz auf einer
Gemeinsamkeit „der Analogie nach“ (kat’ analogian) beruht. Güter als
Ziele aufzufassen stellt daher weder eine Definition des Guten dar, noch
bietet es den Zugang zu einem Wissen über das Gute. Die als Ziele aufge-
fassten Güter sind in relevanter Hinsicht verschieden.
48 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3)


2.2.1 Die Einführung des teleologischen Ansatzes (I 1, 1094a1-22)

Bei unserem Überblick über EN I 1-5 haben wir folgende Beobachtung


gemacht: Innerhalb der ersten fünf Kapitel der Nikomachischen Ethik gibt
es Passagen, die auf der These beruhen, dass sich Güter als Strebensziele
begreifen lassen. Sowohl die Darstellung bestehender Ansichten über das
Glück anhand der Lebensformen (I 3) als auch die Entwicklung der Krite-
rien für das höchste Gut (I 5) setzen anscheinend die Gültigkeit dieser
These voraus. Das heißt, Aristoteles benutzt die Gleichsetzung des Guten
mit dem Erstrebten im Rahmen seiner Untersuchung. Bislang ausge-
klammert wurde dagegen die Frage, ob und wie Aristoteles auch begründet,
dass Güter Strebensziele sind. Wir wissen noch nichts über die argumenta-
tive Basis der teleologischen Bestimmung des Guten. Da wir allerdings
gesehen haben, dass der teleologische Ansatz nicht ohne Alternative ist,
liegt es nahe, irgendeine Form der Stellungnahme zu erwarten.
Zwei Annahmen scheinen sich diesbezüglich anzubieten. Die Begrün-
dung des teleologischen Ansatzes könnte zum einen dort stattfinden, wo
dieser Ansatz in die Untersuchung eingeführt wird, also gleich am Beginn
des ersten Kapitels der Nikomachischen Ethik (1094a1-22). Zum anderen
könnte die Begründung zu einer Hintergrundtheorie gehören, auf die der
Beginn von EN I 1 lediglich verweist. Die genauere Gestalt dieser Hinter-
grundtheorie hätte dann einen erheblichen Einfluss auf die Charakterisie-
rung der Aristotelischen Ethik.
Wie sich im Folgenden jedoch herausstellen wird, sind beide Annah-
men bei näherer Betrachtung problematisch. Denn weder bieten die ersten
Zeilen der Nikomachischen Ethik eine Begründung für die teleologische
Bestimmung des Guten, noch scheinen sie auf eine Hintergrundtheorie zu
verweisen. Dem Text angemessener scheint es dagegen, von der Einfüh-
rung einer gütertheoretischen „Option“ zu sprechen, deren Status zu-
nächst einmal offen bleibt. Diese Option erfährt weder eine (abschließen-
de) Rechtfertigung, noch wird ein Hinweis darauf gegeben, wie sie zu
rechtfertigen wäre. Stattdessen ist Aristoteles allein an den Relationen
interessiert, die mit ihrer Hilfe hergestellt werden können. Er macht deut-
lich, dass der teleologische Ansatz ein Kriterium eines höchsten Guts ver-
mittelt.
Betrachten wir zunächst den Einleitungsabschnitt der Nikomachischen
Ethik im Ganzen:
Jede Kunst und jede Untersuchung, ebenso (jede) Handlung und (jeder) Ent-
schluss scheint ein Gut zu erstreben. Deshalb hat man richtig behauptet, das Gu-
te sei das, wonach alles strebt.
2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3) 49

Offensichtlich gibt es aber einen gewissen Unterschied zwischen den Zielen.


Denn die einen sind Tätigkeiten, die anderen bestimmte Werke neben ihnen
(den Tätigkeiten). Wo es Ziele neben den Handlungen gibt, dort sind die Werke
von Natur aus besser als die Tätigkeiten. Da es aber viele Handlungen gibt und
(viele) Künste und Wissenschaften, gibt es auch viele Ziele; denn (Ziel) der Heil-
kunst ist die Gesundheit, (Ziel) der Schiffsbaukunst das Schiff, (Ziel) der Strate-
gik der Sieg, (Ziel) der Ökonomik der Reichtum. In allen Fällen, in denen derar-
tige (Künste, Wissenschaften usw.) einer bestimmten Fähigkeit untergeordnet
sind – zum Beispiel sind der Reitkunst die Sattlerei und alle anderen der Reit-
kunst dienenden Künste untergeordnet, diese aber und jede (weitere) mit der
Kriegsführung verbundene Tätigkeit sind der Strategik untergeordnet und auf die
gleiche Weise andere anderen –, sind die Ziele der anordnenden (Fähigkeiten,
Künste usw.) wählenswerter als alle ihnen untergeordneten. Denn um jener wil-
len werden auch diese verfolgt. Es macht aber keinen Unterschied, ob die Ziele
der Handlungen die Tätigkeiten selbst sind oder etwas anderes neben diesen, wie
bei den genannten Wissenschaften.
Wenn es also ein Ziel des Handelns gibt, das wir um seiner selbst willen wollen,
das andere aber um seinetwillen, und wir nicht alles um eines anderen willen
wählen – denn so jedenfalls würde es unbegrenzt weitergehen, so dass das Streben
leer und vergeblich wäre –, ist klar, dass dieses das Gute und das Beste sein dürf-
te. 14 (1094a1-22)
Um meine Interpretation dieses Abschnitts zu entwickeln, möchte ich
einen kleinen Umweg nehmen und zunächst das Bild einer „gängigen
Sicht“ entwerfen. Dies entspricht der in der Einleitung angekündigten
Arbeit mit Negativfolien. Es geht also vor allem um ein heuristisches Mit-
tel und nicht um den Versuch, die Forschungslage im Detail wieder-
zugeben. In erster Linie soll gezeigt werden, dass die „gängige Sicht“ den
Text überfordert, indem sie ein Beweisziel unterstellt, das im Rahmen der
Passage nicht erfüllt werden kann. Dann werde ich dafür argumentieren,
dass der Versuch, andere Schriften für das Verständnis von 1094a1-22
_____________
14 ȇֻIJį ijȒȥȟș Ȝįվ ʍֻIJį ȞȒȚȡİȡȣ, ՍȞȡȔȧȣ İպ ʍȢֻȠȔȣ ijı Ȝįվ ʍȢȡįȔȢıIJțȣ, ԐȗįȚȡ‫ ף‬ijțȟրȣ
ԚĴȔıIJȚįț İȡȜı‫ ·ה‬İțր Ȝįȝ‫׭‬ȣ ԐʍıĴȓȟįȟijȡ ijԐȗįȚȪȟ, ȡ՟ ʍȑȟij’ ԚĴȔıijįț. İțįĴȡȢո İȒ ijțȣ
ĴįȔȟıijįț ij‫׭‬ȟ ijıȝ‫׭‬ȟ· ijո Ȟպȟ ȗȑȢ ıԼIJțȟ ԚȟȒȢȗıțįț, ijո İպ ʍįȢ’ į՘ijոȣ ԤȢȗį ijțȟȑ. կȟ İ’
ıԼIJվ ijȒȝș ijțȟո ʍįȢո ijոȣ ʍȢȑȠıțȣ, Ԛȟ ijȡȫijȡțȣ ȖıȝijȔȧ ʍȒĴȤȜı ij‫׭‬ȟ ԚȟıȢȗıț‫׭‬ȟ ijո ԤȢȗį.
ʍȡȝȝ‫׭‬ȟ İպ ʍȢȑȠıȧȟ ȡ՘IJ‫׭‬ȟ Ȝįվ ijıȥȟ‫׭‬ȟ Ȝįվ ԚʍțIJijșȞ‫׭‬ȟ ʍȡȝȝո ȗȔȟıijįț Ȝįվ ijո ijȒȝș·
ԼįijȢțȜ‫׆‬ȣ Ȟպȟ ȗոȢ ՙȗȔıțį, ȟįȤʍșȗțȜ‫׆‬ȣ İպ ʍȝȡ‫ה‬ȡȟ, IJijȢįijșȗțȜ‫׆‬ȣ İպ ȟȔȜș, ȡԼȜȡȟȡȞțȜ‫׆‬ȣ
İպ ʍȝȡ‫ף‬ijȡȣ. ՑIJįț İ’ ıԼIJվ ij‫׭‬ȟ ijȡțȡȫijȧȟ ՙʍր ȞȔįȟ ijțȟո İȫȟįȞțȟ, ȜįȚȑʍıȢ ՙʍր ijռȟ
ԽʍʍțȜռȟ ȥįȝțȟȡʍȡțțȜռ Ȝįվ ՑIJįț Ԕȝȝįț ij‫׭‬ȟ ԽʍʍțȜ‫׭‬ȟ ՌȢȗȑȟȧȟ ıԼIJȔȟ, į՝ijș İպ Ȝįվ ʍֻIJį
ʍȡȝıȞțȜռ ʍȢֻȠțȣ ՙʍր ijռȟ IJijȢįijșȗțȜȓȟ, Ȝįijո ijրȟ į՘ijրȟ İռ ijȢȪʍȡȟ Ԕȝȝįț ՙĴ’
ԛijȒȢįȣ· Ԛȟ ԑʍȑIJįțȣ İպ ijո ij‫׭‬ȟ ԐȢȥțijıȜijȡȟțȜ‫׭‬ȟ ijȒȝș ʍȑȟijȧȟ ԚIJijվȟ įԽȢıijȬijıȢį ij‫׭‬ȟ
ՙʍ’ į՘ijȑ· ijȡȫijȧȟ ȗոȢ ȥȑȢțȟ ȜԐȜı‫ה‬ȟį İțȬȜıijįț. İțįĴȒȢıț İ’ ȡ՘İպȟ ijոȣ ԚȟıȢȗıȔįȣ
į՘ijոȣ ıՂȟįț ijո ijȒȝș ij‫׭‬ȟ ʍȢȑȠıȧȟ Ԯ ʍįȢո ijįȫijįȣ Ԕȝȝȡ ijț, ȜįȚȑʍıȢ Ԛʍվ ij‫׭‬ȟ
ȝıȥȚıțIJ‫׭‬ȟ ԚʍțIJijșȞ‫׭‬ȟ. ǽԼ İȓ ijț ijȒȝȡȣ ԚIJijվ ij‫׭‬ȟ ʍȢįȜij‫׭‬ȟ Տ İț’ įՙijր ȖȡȤȝȪȞıȚį,
ijԖȝȝį İպ İțո ijȡ‫ף‬ijȡ, Ȝįվ Ȟռ ʍȑȟijį İț’ ԥijıȢȡȟ įԽȢȡȫȞıȚį (ʍȢȪıțIJț ȗոȢ ȡ՝ijȧ ȗ’ ıԼȣ
ԔʍıțȢȡȟ, խIJij’ ıՂȟįț Ȝıȟռȟ Ȝįվ ȞįijįȔįȟ ijռȟ ՐȢıȠțȟ), İ‫׆‬ȝȡȟ թȣ ijȡ‫ף‬ij’ Ԓȟ ıՀș ijԐȗįȚրȟ
Ȝįվ ijր ԔȢțIJijȡȟ.
50 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

heranzuziehen, problematisch ist. Es spricht einiges dafür, dass der Ab-


schnitt aus sich heraus interpretiert werden sollte. Erst danach werde ich
meine eigene Deutung vorstellen, die von einem anderen Beweisziel aus-
geht und ohne anspruchsvolle Zusatzprämissen auskommt.

Die „gängige Sicht“

Wenn man sich die umfangreiche Literatur zu 1094a1-22 (im Folgenden:


A) etwas näher ansieht, dann fällt auf, dass die Debatte um eine relativ
geringe Anzahl von Interpretationsproblemen kreist. Der Text enthält eine
Reihe von Schwierigkeiten, deren Lösung offensichtlich als so vorrangig
betrachtet wird, dass die Forschung immer wieder darauf zurückkommt.
Um die „gängige Sicht“ des Abschnitts (A) zu umreißen, möchte ich drei
dieser Probleme skizzieren: 15 ein argumentationslogisches, ein psychologi-
sches und ein im engeren Sinn ethisches Problem.
Das erste Problem, das ganz erhebliche Aufmerksamkeit gefunden hat,
betrifft die argumentationslogische Gültigkeit von (A). 16 Denn gleich zu
Beginn der Passage (1094a1-3) scheint sich Aristoteles einen so genannten
„Quantorendreher“ (quantifier shift) zuschulden kommen zu lassen. Er
scheint zu übersehen, dass die Stärke einer Behauptung von der relativen
Position der verwendeten Quantoren abhängt. Aus „Für alle x gibt es ein
y, so dass gilt: x erstrebt y (ein Gut: agathon ti)“ folgt nicht: „Es gibt ein y
(das Gute: tagathon) für alle x, so dass gilt, x erstrebt y“. Am Ende des
Abschnitts (A) (1094a18-22) scheint ein ähnlicher Fehler vorzuliegen.
Hier scheint Aristoteles fälschlicherweise von „Es gibt mindestens ein x,
das um seiner selbst willen erstrebt wird, das andere aber um seinetwillen
(andernfalls gäbe es einen unendlichen Regress)“ auf „Es gibt genau ein x,
das um seiner selbst willen erstrebt wird, das andere aber um seinetwillen“
zu schließen. Auch dieser Fehler ließe sich als ein Quantorendreher be-
schreiben (s.u.).
Das zweite Problem betrifft die These, es gebe ein oberstes Ziel alles
Handelns. 17 Dies wird in Abschnitt (A) zwar nicht explizit behauptet,
aber, wie es scheint, durch den sich anschließenden Satz impliziert:

_____________
15 Eine gute Einführung zu verschiedenen Interpretationsfragen bietet nach wie vor
Kenny (1977).
16 Vgl. hierzu u.a. Williams (1962), Kirwan (1967), Jacobi (1979), Seel (1981), Wedin
(1981) und Vranas (2005).
17 Vgl. hierzu u.a. von Wright (1963, Kap. V.2), Kenny (1977), Irwin (1980), McDo-
well (1980) und Roche (1992, 46-48).
2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3) 51

Wird nun die Kenntnis dieses (Besten) nicht auch einen großen Einfluss in Bezug
auf das Leben haben, und dürften wir nicht, gerade so wie Bogenschützen, wenn
sie ein Ziel haben, besser das Erforderliche treffen? 18 (1094a22-24)
Da Aristoteles hier vom Potentialis (İ‫׆‬ȝȡȟ թȣ ijȡ‫ף‬ij’ Ζȟ ıτș ijԐȗįȚցȟ:
a21-22) in den Realis (ԭ ȗȟ‫׭‬IJțȣ į՘ijȡ‫ ף‬Ȟıȗչȝșȟ Ψȥıț ‫ע‬ȡʍսȟ: a22-23)
wechselt, sieht es so aus, als würde er von der Existenz des einen höchsten
Strebensziels ausgehen. 19 Wie aber ist diese These zu verstehen? Meint
Aristoteles, dass wir alles, was wir tun, grundsätzlich auf das eine höchste
Ziel ausrichten? Die Annahme eines derart umfassenden „Lebensplans“
scheint nicht nur wenig plausibel, sie widerspricht auch dem von Aristote-
les beschriebenen Phänomen des akratischen Handelns (EN VII 1-11).
Denn der Akratiker handelt dem entgegen, was er in einer konkreten Situ-
ation für das Richtige hält. Er würde also etwas tun, was seiner Meinung
nach nicht zum höchsten Gut beiträgt. Außerdem wäre zu klären, ob das
höchste Ziel für alle Menschen ein und dasselbe ist oder ob es jeweils ver-
schieden sein kann. Für Ersteres spräche zum Beispiel, dass die Ethiken
eine Antwort auf die Frage nach dem höchsten Gut geben, für Letzteres,
dass sich der Wunsch beziehungsweise das „rationale Streben“ (ȖȡփȝșIJțȣ)
für Aristoteles auf etwas richtet, was dem Wünschenden als gut erscheint
(EN III 6, 1113a24). Das Postulat eines höchsten Strebensziels ist also
schwierig zu interpretieren und offen für eine ganze Reihe unterschiedli-
cher Deutungen.
Das dritte Problem betrifft nicht die Gleichsetzung von höchstem Gut
und oberstem Ziel des Strebens, sondern generell die Gleichsetzung von
Gutem und Erstrebtem. 20 Da es sich bei „x ist gut“ um ein wertendes Prä-
dikat handelt, bei „x ist ein Ziel“ dagegen um ein beschreibendes Prädikat,
scheint Aristoteles einen „naturalistischen Fehlschluss“ zu begehen. 21 Man
vermisst in EN I eine deutliche Unterscheidung zwischen dem (faktisch)
Erstrebten und dem Erstrebenswerten. Diese Schwierigkeit betrifft natür-
lich auch den Vergleich von Gütern. Es ist keineswegs ausgemacht, dass
die Ziele der Strategik in jeder Hinsicht „besser“ sind als die der Reitkunst.
Daher scheint es verwunderlich, dass Aristoteles die Gleichsetzung von
Gutem und Erstrebtem in der Ethik überhaupt verwendet, zumal er an
anderen Stellen zwischen dem nur als gut Erscheinenden oder „scheinbar“

_____________
18 ԖȢ’ ȡ՞ȟ Ȝįվ ʍȢրȣ ijրȟ ȖȔȡȟ ԭ ȗȟ‫׭‬IJțȣ į՘ijȡ‫ ף‬Ȟıȗȑȝșȟ Ԥȥıț ‫ע‬ȡʍȓȟ, Ȝįվ ȜįȚȑʍıȢ
ijȡȠȪijįț IJȜȡʍրȟ Ԥȥȡȟijıȣ Ȟֻȝȝȡȟ Ԓȟ ijȤȗȥȑȟȡțȞıȟ ijȡ‫ ף‬İȒȡȟijȡȣ;
19 Weiter unten werden wir auf diesen Satz noch einmal zurückkommen.
20 Vgl. hierzu u.a. Broadie (1991, Kap. 1.II), Wolf (2002, 27) und Müller (2006b).
21 Die genaue Formulierung des Arguments vom naturalistischen Fehlschluss ist freilich
ebenso umstritten wie die Frage, ob es überhaupt gültig ist. An dieser Stelle geht es al-
lerdings nur um den Verdacht, der sich bei der Lektüre von (A) einstellt.
52 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

Guten (phainomenon agathon) und dem „tatsächlich“ Guten (kat’ alêtheian


agathon oder einfach agathon) unterscheidet (EN III 6; vgl. 4.2).
Die drei hier skizzierten Probleme prägen die Debatte zum ersten Ka-
pitel der Nikomachischen Ethik. Die Aristotelesforschung hat sich mit allen
drei Problemen intensiv auseinandergesetzt und für jedes davon eine ganze
Reihe von Lösungsstrategien entwickelt. Zum Beispiel werden seit Ber-
nard Williams’ Aufsatz „Aristotle on the Good“ von 1962 regelmäßig neue
Formalisierungen des Argumentationsgangs präsentiert, die die argumen-
tationslogischen Schwierigkeiten vermeiden sollen. Eine andere wichtige
Interpretationslinie lässt sich unter dem Stichwort des „Psychologischen
Eudaimonismus“ zusammenfassen. Hier wird versucht, die psychologische
These vom obersten Ziel alles Handelns so zu formulieren, dass sie bei-
spielsweise mit den Ausführungen zur akrasia kompatibel ist. So schlägt
etwa John McDowell (1980) vor, diese These auf solche Handlungen
einzuschränken, die aufgrund einer Entscheidung (ʍȢȡįտȢıIJțȣ) geschehen
(vgl. auch Lawrence 2006); andere Autoren argumentieren unter Verweis
auf die vielzitierte Passage EE I 2, 1214b6-11,22 dass es hier nicht um eine
Beschreibung von Handlungen geht, sondern um die Aufforderung, das
Leben nach einem höchsten Gut auszurichten; 23 usw. 24 Das dritte Problem
wird häufig in einem weiteren Kontext untersucht. Dabei lautet die wich-
tigste Entgegnung auf den Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses, dass
sich die in diesem Vorwurf vorausgesetzte Unterscheidung zwischen einer
„reinen“ Beschreibung und einer „reinen“ Bewertung auf Aristoteles nicht
anwenden lasse. 25
Diese verschiedenen Lösungswege sollen hier jedoch nicht weiter ver-
folgt werden; denn im vorliegenden Kontext ist ein anderer Aspekt von
Bedeutung: Die drei Probleme zur Interpretation von (A) scheinen eine

_____________
22 „Jeder, der nach seiner eigenen Entscheidung leben kann, sollte ein bestimmtes Ziel
des guten Lebens ansetzen, sei es nun Ehre oder Ansehen oder Reichtum oder Bil-
dung, auf das blickend er alle Handlungen ausführen wird; denn sein Leben nicht mit
Bezug auf ein bestimmtes Ziel geordnet zu haben ist ein Zeichen großer Unvernunft“
(ԕʍįȟijį ijրȟ İȤȟչȞıȟȡȟ Ș‫׆‬ȟ Ȝįijո ijռȟ įՙijȡ‫ ף‬ʍȢȡįտȢıIJțȟ [İı‫ ]ה‬ȚջIJȚįț ijțȟո IJȜȡʍրȟ
ijȡ‫ ף‬Ȝįȝ‫׭‬ȣ Ș‫׆‬ȟ, ԰ijȡț ijțȞռȟ Ԯ İցȠįȟ Ԯ ʍȝȡ‫ף‬ijȡȟ Ԯ ʍįțİıտįȟ, ʍȢրȣ Տȟ ԐʍȡȖȝջʍȧȟ
ʍȡțսIJıijįț ʍչIJįȣ ijոȣ ʍȢչȠıțȣ, թȣ ijց ȗı Ȟռ IJȤȟijıijչȥȚįț ijրȟ Ȗտȡȟ ʍȢցȣ ijț ijջȝȡȣ
ԐĴȢȡIJփȟșȣ ʍȡȝȝ‫׆‬ȣ IJșȞı‫ה‬ցȟ ԚIJijțȟ).
23 Eine dem ähnliche Auffassung vertritt Terence Irwin (1980, 45-48).
24 Vgl. zu einer Kombination dieser beiden Ansätze Bostock (2000), allgemein zu den
verschiedenen Varianten des Psychologischen Eudaimonismus und zu einer Kritik an
denselben Roche (1992). Auf die These des Psychologischen Eudaimonismus werden
wir in 3.1 ausführlicher zurückkommen.
25 Vgl. u.a. Kullmann (1995, 267f.), Nussbaum (1995) sowie ausführlich Müller
(2006b, Kap. IV.4).
2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3) 53

implizite Festlegung hinsichtlich der Funktion dieses Abschnitts zu bein-


halten.
Betrachten wir dazu ein einfaches Beispiel. In den letzten Zeilen von
(A) (1094a18-22) scheint Aristoteles einen Fehlschluss zu begehen, der
sich – in der bekannten Formulierung von G.E.M. Anscombe – folgen-
dermaßen umschreiben lässt: „In fact there appears to be an illicit transiti-
on in Aristotle, from ‚all chains must stop somewhere’ to ‚there is some-
where where all chains must stop’“ (21963, 34). Dies ist der oben erwähnte
Quantorendreher von „Für alle x gibt es ein y“ zu „Es gibt ein y für alle x“.
Unabhängig von der Frage, ob das Aristotelische Argument auf diese Wei-
se korrekt wiedergegeben ist, lässt sich Folgendes festhalten: Anscombes
Kritik setzt offenbar voraus, dass das Argument dazu dienen soll, die Exis-
tenz eines einzelnen höchsten Strebensziels zu beweisen. Denn nur dann
besteht tatsächlich die Gefahr, dass ein Fehlschluss im genannten Sinne
vorliegt. Indem die an diese Kritik anknüpfende Debatte untersucht, wie
sich der Fehlschluss vermeiden lässt, das heißt unter welchen Bedingungen
der Beweis gelingt, übernimmt sie automatisch das durch die Kritik impli-
zierte Beweisziel. Ähnlich verhält es sich auch beim zweiten Problem. Hier
lautet die problematische These, dass wir in allen Handlungen letztlich ein
und dasselbe oberste Ziel verfolgen; und die verschiedenen Varianten des
Psychologischen Eudaimonismus formulieren Bedingungen, unter denen
diese These korrekt erscheint. In Bezug auf das dritte Problem ist die Situ-
ation ebenfalls vergleichbar. Die Reaktionen auf den Vorwurf des natura-
listischen Fehlschlusses versuchen zu zeigen, inwiefern es legitim ist, das
höchste Ziel des Strebens als etwas Gutes zu bezeichnen.
Die drei Probleme werden also nur dann virulent, wenn wir davon
ausgehen, dass (A) für die Existenz eines höchsten Strebensziels argumen-
tiert, das als höchstes Gut bezeichnet werden kann. 26 In genau dieser An-
nahme besteht die „gängige Sicht“: „Ar[istotle] begins by arguing that
there is a chief good for human beings“ (Broadie/Rowe 2002, 261). 27 Der
argumentative Aufwand in Bezug auf (A) erklärt sich daraus, dass die Pas-
sage diese Funktion nicht ohne weiteres erfüllt.

_____________
26 Etwas vereinfacht könnte man sagen, dass es bei (1) darum geht, dass es sich um ein
einzelnes höchstes Gut handelt, bei (2) darum, dass es dieses Gut gibt, und bei (3) dar-
um, dass es tatsächlich ein Gut ist.
27 Vgl. u.a. Joachim (1951, ad loc.), Hardie (1968, Kap. II), Cooper (1975, Kap. II.1),
Broadie (1991, 9) und Wolf (2002, 24). Eine Ausnahme bildet Michael Pakaluk: „We
may take him [Aristotle, Ph.B.] [...] to be proposing a definition, rather than arguing
that there is some particular good at which all things aim. What Aristotle wishes to
claim, in effect, is that ‘good’ should be defined as ‘aimed at’” (2005, 49).
54 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

Eine außerethische Fundierung?

Wir haben es also mit folgender Situation zu tun: Es hat zwar den An-
schein, als würde (A) für die Existenz eines obersten Ziels und damit eines
höchsten Guts argumentieren, die Passage scheint aber kein wirklich
schlüssiges Argument hierfür zu bieten. So könnte das Problem eines un-
endlichen Regresses immer höherer Ziele und die damit verbundene „Lee-
re“ und „Vergeblichkeit“ des Strebens (ʍȢցıțIJț ȗոȢ ȡ՝ijȧ ȗ’ ıԼȣ ԔʍıțȢȡȟ,
խIJij’ ıՂȟįț Ȝıȟռȟ Ȝįվ Ȟįijįտįȟ ijռȟ ՐȢıȠțȟ: 1094a20-21) auch durch meh-
rere um ihrer selbst willen erstrebte Güter vermieden werden. Es müsste
nur jede „Strebenskette“ durch ein solches Gut abgeschlossen sein.
Ein möglicher Ausweg aus dieser Situation scheint nun darin zu lie-
gen, andere Texte für die Interpretation von (A) heranzuziehen. Schließ-
lich ist es denkbar, dass der Beginn der Nikomachischen Ethik auf Annah-
men basiert, die an anderer Stelle genauer ausgeführt und begründet
werden. Diese Annahmen könnten als Zusatzprämissen dienen, um die
Existenz eines höchsten Guts zu beweisen. Beispielsweise könnte der
Übergang vom Erstrebten zum Erstrebenswerten (Problem 3) durch die
Annahme eines natürlichen Instinkts ermöglicht werden, der Lebewesen
genau das erstreben lässt, was tatsächlich gut für sie ist. Nach dem Referat
des Aristoteles scheint dies ungefähr die Auffassung des Eudoxos gewesen
zu sein: „(Eudoxos meinte) nämlich, dass jeder das für sich Gute finden
(könne), wie auch die Nahrung“ (ԥȜįIJijȡȟ ȗոȢ ijր įՙij‫ ׮‬ԐȗįȚրȟ
ıՙȢտIJȜıțȟ, խIJʍıȢ Ȝįվ ijȢȡĴսȟ: EN X 2, 1172b13-14.)
Es gibt einige Interpreten, die explizit für eine solche Kontextualisie-
rung des Beginns der Nikomachischen Ethik eintreten. Autoren wie Franz
Dirlmeier (81983) oder Gerhard Seel (1981) betonen den philosophiehis-
torischen Hintergrund; andere wie Terence Irwin (1980) versuchen der
Ethik ein zum Beispiel metaphysisches Fundament zu geben, indem sie
einen Zusammenhang mit weiteren Schriften des Aristoteles herstellen.
Wieder andere Kommentatoren scheinen zumindest implizit davon auszu-
gehen, dass sich (A) nur mit Hilfe von Zusatzannahmen verstehen lässt.
Im Folgenden möchte ich zeigen, dass dieser Ansatz, ob er nun explizit
oder implizit verfolgt wird, aus mehreren Gründen problematisch ist. Die
einleitenden Zeilen der Nikomachischen Ethik sollten, wenn möglich, als
unabhängige und in sich geschlossene Argumentation interpretiert wer-
den.
Auf den ersten Blick hat der Gedanke, dass (A) auf einen bestimmten
Kontext verweist, durchaus etwas für sich. Denn die These, dass sich Gü-
ter als Strebensziele begreifen lassen, geht weder auf Aristoteles zurück,
noch beschränkt sie sich auf dessen Ethik. Daher scheinen von Abschnitt
(A) gleich mehrere Spuren auszugehen, denen bei der Interpretation nach-
2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3) 55

gegangen werden könnte. Ich möchte kurz skizzieren, wo diese Spuren


hinführen: (i) Die These, dass alle das Gute erstreben, findet sich bereits in
den Platonischen Dialogen, so etwa im Gorgias (467c-468e), im Symposion
(205a) und im Philebos (20d). 28 (ii) Diese These ist außerdem Bestandteil
der innerakademischen Diskussion, was aus Aristoteles’ Referat der Debat-
te um die Lust hervorgeht:
Eudoxos meinte also, die Lust sei das Gute, weil er sah, dass alles nach ihr strebte,
Vernunftbegabtes wie Vernunftloses; in allen Dingen aber sei das Gewählte das
Gute (Passende), und das am meisten (Gewählte) das Beste (Stärkste). [...] und
was nun für alles gut sei und wonach alles strebe, sei das Gute. 29 (EN X 2,
1172b9-15)
Etwas als ein Gut zu bezeichnen, weil es erstrebt wird, ist also ein bekann-
tes Argument; und durch den Ausdruck apephênanto („man hat behaup-
tet“ oder „erklärt“: 1094a2-3) weist Aristoteles eigens darauf hin, dass er
eine bestehende Position referiert. 30 (iii) Die Gleichsetzung des Guten mit
dem Erstrebten findet sich in der Aristotelischen Philosophie auch außer-
halb der Ethik, so in naturphilosophischen Kontexten als Teil der Vier-
Ursachen-Lehre (z.B. Phys. II 3, 195a23-26; Met. ǻ 2, 1013b25-28) und
in der Theorie über die Ortsbewegung beseelter Lebewesen (z.B. An. III
10, 433a27-30; Mot. an. 6, 700b15-29). Der Begriff des Guten ist ein
integraler Bestandteil der teleologischen Naturauffassung des Aristoteles.
(iv) Innerhalb der Ethik spielt die Gleichsetzung des Guten mit dem Er-
strebten ebenfalls mehrmals eine Rolle, zum Beispiel bei der Unterschei-
dung zwischen dem scheinbar Guten und dem tatsächlich Guten (EN III
6; vgl. EE II 10; vgl. 4.2) und in den beiden Lustabhandlungen (EN VII
[= EE VI] 12-15 und X 1-5).
Die Zahl möglicher Parallelstellen zu (A) ist demnach relativ hoch. Bei
genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass mehrere Gründe dagegen
sprechen, diese vermeintlichen Parallelstellen für das Verständnis von (A)
heranzuziehen:
Zunächst ist die Frage, wie der Zusammenhang zwischen dem Guten
und dem Erstrebten genau zu verstehen ist, auch außerhalb der Ethik
schwierig zu beantworten. Aristoteles gibt sich auffallend wenig Mühe,
diesen Zusammenhang näher zu erläutern. Zwar verzichtet er nur selten
_____________
28 Vgl. die ausführlichen Hinweise von Dirlmeier (81983, ad loc.).
29 ǽ՜İȡȠȡȣ Ȟպȟ ȡ՞ȟ ijռȟ ԭİȡȟռȟ ijԐȗįȚրȟ ֪ıij’ ıՂȟįț İțո ijր ʍȑȟȚ’ ՍȢֻȟ ԚĴțȒȞıȟį
į՘ij‫׆‬ȣ, Ȝįվ Ԥȝȝȡȗį Ȝįվ Ԕȝȡȗį, Ԛȟ ʍֻIJț İ’ ıՂȟįț ijր įԽȢıijրȟ ijր ԚʍțıțȜȒȣ, Ȝįվ ijր
ȞȑȝțIJijį ȜȢȑijțIJijȡȟ· [...] ijր İպ ʍֻIJțȟ ԐȗįȚȪȟ, Ȝįվ ȡ՟ ʍȑȟij’ ԚĴȔıijįț, ijԐȗįȚրȟ ıՂȟįț.
30 Ähnliches könnte sich hinter der Wendung agathou tinos ephiesthai dokei verbergen,
die auch mit „erstrebt, wie man allgemein annimmt, ein Gut“ übersetzt werden kann.
Vgl. z.B. die Übersetzung von U. Wolf (2006): „strebt, so die verbreitete Meinung,
nach einem Gut“.
56 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

darauf, die Gleichsetzung von Zielen und Gütern zu erwähnen, 31 er macht


sie selbst aber kaum zum Gegenstand der Untersuchung. In der Regel geht
es ihm eher darum, etwas anderes mit Hilfe dieser Gleichsetzung zu erklä-
ren. (Dies ist insofern nachvollziehbar, als Ziele im Kontext teleologischer
Erklärungen nicht das Explanandum bilden, sondern das Explanans. Die
Identifikation von Gütern und Zielen gerät in diesem Kontext also nicht
notwendigerweise in den Blick.) So soll etwa die motivationale Relevanz
eines Gegenstandes dadurch erklärt werden, dass dieser Gegenstand einem
Lebewesen als gut erscheint und somit erstrebt wird. Dadurch wird aber
noch nicht deutlich, inwiefern das Erstrebt-werden Aufschluss über die
Güte eines Gegenstandes gibt. Meines Wissens gibt es keine Erläuterung
der Gleichsetzung von Zielen und Gütern, die problemlos als Hintergrund
für die Interpretation von (A) dienen könnte. 32
Daneben ist offensichtlich, dass die Gleichsetzung zwischen dem Gu-
ten und dem Erstrebten in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche
Funktionen erfüllt und daher mit jeweils anderen Zusatzannahmen ver-
bunden ist. Ein auffälliges Beispiel dafür ist die Unterscheidung zwischen
dem Guten (agathon) und dem scheinbar Guten oder als gut Erscheinen-
den (phainomenon agathon). Im Zusammenhang der Vier-Ursachen-Lehre
und der Theorie über die Ortsbewegung beseelter Lebewesen weist Aristo-
teles regelmäßig darauf hin, dass dieser Unterschied für das jeweilige Ar-
gument keine Rolle spielt. 33 Dies leuchtet insofern ein, als es für die kausa-
le Relevanz eines Handlungszweckes gleichgültig ist, ob der erstrebte
Gegenstand „tatsächlich“ gut ist. In anderen Zusammenhängen hebt Aris-
toteles dagegen den Unterschied zwischen Gutem und scheinbar Gutem
eigens hervor. So schreibt er beispielweise in Top. VI 8:
Ferner ist bei den (Definitionen von) Strebungen zu prüfen, ob versäumt wurde,
‚anscheinend’ hinzuzufügen, wie auch bei vielen anderen Dingen, bei denen es
passt, zum Beispiel (wenn er definiert), dass der Wille ein ‚Streben nach dem Gu-
ten’ oder die Begierde ein ‚Streben nach dem Angenehmen’ sei, aber nicht (sagt):
nach dem ‚anscheinend Guten’ oder: ‚anscheinend Angenehmen’. Oft ist nämlich
den Strebenden das verborgen, was (wirklich) gut oder angenehm ist, so dass (das

_____________
31 Z.B. Met. A 2, 982b10; A 3, 983a31-32; B 2, 996a23-26; ǻ 1, 1013a21-23; ǻ 2,
1013b25-26; K 1, 1059a35-36 usw.
32 Vgl. zur entsprechenden Debatte Gotthelf (1988).
33 Z.B. Met. ǻ 2, 1013b25-28: „Anderes endlich (ist Ursache) als das Ziel und das Gute
des Übrigen; denn das Worumwillen soll das Beste und das Ziel des Übrigen sein; es
mag hierbei gleich gelten, ob wir es als das (wirklich) Gute oder als das scheinbar Gute
bezeichnen“ (ijո İ’ թȣ ijր ijջȝȡȣ Ȝįվ ijԐȗįȚրȟ ij‫׭‬ȟ Ԕȝȝȧȟ. ijր ȗոȢ ȡ՟ ԥȟıȜį ȖջȝijțIJijȡȟ
Ȝįվ ijջȝȡȣ ij‫׭‬ȟ Ԕȝȝȧȟ ԚȚջȝıț ıՂȟįțǝ İțįĴıȢջijȧ İպ Ȟșİպȟ į՘ijր ıԼʍı‫ה‬ȟ ԐȗįȚրȟ Ԯ
ĴįțȟցȞıȟȡȟ ԐȗįȚցȟ). Für die Zitate aus der Metaphysik orientiere ich mich hier wie
im Folgenden an der Übersetzung von Hermann Bonitz: Wolf (Hg.) (32002).
2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3) 57

Erstrebte) nicht notwendig gut oder angenehm ist, sondern nur so zu sein
scheint. 34 (146b36-147a4)
Nun ist zwar zu Beginn der Nikomachischen Ethik vom scheinbar Guten
keine Rede, wohl aber in deren weiterem Verlauf (III 6). Für welchen
Kontext soll man sich also bei der Interpretation von (A) entscheiden?
Und welche Zusatzannahmen sind bei dieser Interpretation zu überneh-
men?
Schließlich hat (A) eindeutig den Charakter einer Einleitung. Es ist
der Beginn eines Proömiums, in dem geklärt wird, worum es in der Ethik
geht und warum diese Untersuchung wichtig ist. Aristoteles stellt keine
direkte Verbindung zu anderen Texten her, sondern suggeriert eine in sich
geschlossene Argumentation, die den Anfang einer neuen Untersuchung
bildet. 35 Die Passage enthält zwar einige Aristotelische Termini wie ergon
und energeia (1094a4-5). Die meisten Begriffe werden aber nicht streng
terminologisch gebraucht, 36 und die entscheidenden Differenzierungen
werden – wie ich weiter unten darstellen möchte – im Text selber einge-
führt. Der Versuch, (A) aus sich selbst heraus zu interpretieren, ist also der
Textgestalt angemessen.

Der Gedankengang unseres „Umwegs“ lässt sich wie folgt zusammenfas-


sen: Nach der „gängigen Sicht“ hat Abschnitt (A) die Funktion, für die
Existenz eines obersten Ziels beziehungsweise eines höchsten Guts zu ar-
gumentieren. Diese Funktion kann (A) jedoch für sich genommen nicht
erfüllen. Deshalb greifen viele Interpreten auf Zusatzprämissen aus ande-
ren Kontexten zurück, was aber der Textgestalt von (A) widerspricht und
die Interpretation eher zu erschweren scheint. Angesichts dieser Situation
ist es sinnvoll, sich nach einer alternativen Lesart umzusehen, die (A) ar-
gumentativ nicht überfordert und zugleich möglichst ohne Zusatzannah-
men auskommt. Eine solche Lesart soll nun vorgestellt werden, womit wir
zur gütertheoretischen Lektüre von EN I zurückkehren.

_____________
34 Ԫijț Ԛʍվ ij‫׭‬ȟ ՌȢȒȠıȧȟ ıԼ Ȟռ ʍȢȪIJȜıțijįț ijր ĴįțȟȪȞıȟȡȟ, Ȝįվ ԚĴ’ ՑIJȧȟ Ԕȝȝȧȟ
ԑȢȞȪijijıț, ȡՃȡȟ Ցijț ԭ ȖȡȫȝșIJțȣ ՐȢıȠțȣ ԐȗįȚȡ‫ף‬, ԭ İ’ ԚʍțȚȤȞȔį ՐȢıȠțȣ ԭİȒȡȣ, Ԑȝȝո Ȟռ
ĴįțȟȡȞȒȟȡȤ ԐȗįȚȡ‫ ף‬Ԯ ԭİȒȡȣ. ʍȡȝȝȑȜțȣ ȗոȢ ȝįȟȚȑȟıț ijȡւȣ ՌȢıȗȡȞȒȟȡȤȣ Ց ijț ԐȗįȚրȟ
Ԯ ԭİȫ ԚIJijțȟ, խIJij’ ȡ՘Ȝ ԐȟįȗȜį‫ה‬ȡȟ ԐȗįȚրȟ Ԯ ԭİւ ıՂȟįț Ԑȝȝո ĴįțȟȪȞıȟȡȟ ȞȪȟȡȟ.
35 Vgl. hierzu Jacobi (1979, 304-307).
36 Ein Beispiel: Während der Begriff praxis im ersten Satz von dem der technê abgesetzt
wird (1094a1), also offensichtlich in der engeren Bedeutung einer Tätigkeit gebraucht
wird, die ihr Ziel in sich selbst hat, benutzt Aristoteles praxis vier Zeilen später als
Überbegriff für verschiedene Arten menschlichen Tuns, auch für solche, bei denen es
ein Ziel „neben den Handlungen“ (para tas praxeis: a5) gibt.
58 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

Eine alternative Lesart

Nach der im Folgenden darzustellenden Interpretation zeigt der Beginn


der Nikomachischen Ethik lediglich, wie sich die These „Die eudaimonia ist
das höchste der Güter“ teleologisch ausdrücken lässt. Abschnitt (A) be-
weist nicht die Existenz eines höchsten Guts oder obersten Ziels. 37
Rufen wir uns zunächst noch einmal die „gütertheoretische Perspekti-
ve“ auf EN I ins Gedächtnis. Nach dieser Perspektive besteht der sachliche
Ausgangspunkt der Nikomachischen Ethik in der These, dass Glück das
höchste Gut ist (vgl. 1.1). Es gehört zu den Aufgaben der Untersuchung,
diese These genauer zu bestimmen. Wie ich jetzt zeigen möchte, präsen-
tiert der Beginn des Kapitels I 1 einfach eine mögliche Lösung dieser Auf-
gabe. Die Argumentation in Abschnitt (A) ist darauf zugeschnitten, aus
einem teleologischen Ansatz heraus Kriterien für das höchste Gut zu ent-
wickeln. Streng genommen ist diese Auffassung also nicht besonders an-
spruchsvoll und im Kern wohl nicht einmal kontrovers. Auch Anhänger
der „gängigen Sicht“ könnten zugeben, dass (A) einen Begriff des höchsten
Guts vermittelt. Anders als diese behaupte ich allerdings, dass hierin die
einzige Aufgabe von (A) besteht.
Abschnitt (A) gliedert sich in drei Teilabschnitte (im obigen Zitat,
S. 48f., durch Absätze markiert), die die Abstufung Positiv – Komparativ
– Superlativ nachzeichnen. Zunächst (1) ist nur vom Guten (agathon) die
Rede (1094a1-3), dann (2) vom Besseren oder Wählenswerteren (Ȗջȝijțȡȟ,
įԽȢıijօijıȢȡȟ: a3-18) und schließlich (3) vom Besten (ijր ԔȢțIJijȡȟ bzw.
tagathon: a18-22). Die drei Teilabschnitte bauen insofern aufeinander auf,
als der Begriff des Besten den des Besseren voraussetzt und der Begriff des
Besseren den des Guten. Um diese Abhängigkeit, der wir bereits im ersten
Kapitel dieser Arbeit begegnet sind (vgl. 1.2), zu verdeutlichen, möchte
ich die Abschnitte in umgekehrter Reihenfolge betrachten.
Auffallend ist, dass Abschnitt (3) als Konditional gefasst ist: Wenn es
ein Ziel der Handlungen gibt, das wir um seiner selbst willen wollen und
um dessentwillen wir das andere wollen, und wenn wir außerdem nicht
alles um eines anderen willen wählen [...], dann ist klar, dass dieses Ziel
das Gute und das Beste sein dürfte. Als Existenznachweis eines höchsten
Guts ist das Argument, wie gesagt, kaum geeignet, selbst wenn man den
hier ausgelassenen Hinweis auf die Regressgefahr mit berücksichtigt. Ein
unendlicher Regress des Strebens könnte auch durch mehrere „höchste
_____________
37 Ansätze zu dieser Lesart finden sich in Arbeiten von Gerhard Seel (1981), Michael
Pakaluk (1992) und – vor allem – Timothy D. Roche (1992 und 1995). Sie haben al-
lerdings nur geringen Einfluss auf die gegenwärtigen Debatten und unterscheiden sich
in wesentlichen Punkten von meiner Interpretation. Vgl. außerdem die bereits er-
wähnte Interpretation von Jörn Müller (2006a).
2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3) 59

Güter“ vermieden werden. Möchte Aristoteles die Existenz des höchsten


Guts also hier noch offen lassen, um sie gleich danach (1094a22-26; s.o.,
S. 51) doch zu behaupten, ohne dafür argumentiert zu haben? Ich denke,
diese Spannung lässt sich vermeiden. Die Protasis muss nämlich keines-
wegs Bedingungen für die Existenz eines höchsten Guts nennen. Die Fra-
ge, ob ein höchstes Gut exisiert, scheint hier wie im folgenden Satz (s.u.,
S. 63f.) gar nicht das Thema zu sein. 38 Vielmehr kommt durch die Form
des Satzes zum Ausdruck, dass die Kriterien des höchsten Guts – es ist
etwas, das wir um seiner selbst willen wollen (Տ İț’ įՙijր ȖȡȤȝցȞıȚį), das
andere aber um seinetwillen (ijԖȝȝį İպ İțո ijȡ‫ף‬ijȡ) – durch Extrapolation
aus anderen Kriterien gewonnen sind. Dazu passt auch die Verwendung
der Partikel dê zu Beginn des Abschnitts (ei dê: „wenn also“, „wenn wirk-
lich“): Aristoteles greift etwas auf und zieht daraus eine Schlussfolgerung.
Da das Beste als das bestimmt werden kann, was besser ist als jedes einzel-
ne andere, genügt es, über ein Kriterium für die Relation „besser als“ zu
verfügen und dann zu behaupten, dass diese Relation auf die Beziehung
zwischen einem bestimmten Gegenstand und jedem beliebigen anderen
Gegenstand zutrifft (vgl. die Interpretation von EN I 5 in 1.2). Unter
diesen Bedingungen bedarf es keines eigenen Kriteriums für das Beste.
Eine Schwierigkeit für diese Herangehensweise könnte sich nur aus einem
unendlichen Regress ergeben, bei dem sich die Relation „besser als“ unbe-
grenzt fortsetzt und wir „alles um eines anderen willen wählen“ (ʍչȟijį İț’
ԥijıȢȡȟ įԽȢȡփȞıȚį). Daher wird ein solcher Regress durch die Zusatzbe-
dingung „das wir um seiner selbst willen wollen“ ausgeschlossen. Anders
als bei üblichen Interpretationen wird somit dem kurzen Hinweis „so dass
das Streben leer und vergeblich wäre“ (խIJij’ ıՂȟįț Ȝıȟռȟ Ȝįվ Ȟįijįտįȟ ijռȟ
ՐȢıȠțȟ) keine grundlegende, „existentielle“ Beweislast aufgebürdet. 39
Entscheidend ist also das Kriterium für die Relation „besser als“. Die-
ses wird in Abschnitt (2) entwickelt, der sich schon durch seine Länge vor
den beiden anderen Abschnitten auszeichnet. Aristoteles zeigt, wie ein
teleologischer Ansatz als Basis für einen Gütervergleich verwendet werden
kann. Dabei gibt es zwei Optionen: (a) die Unterscheidung zwischen dem
Werk (ergon) und der Tätigkeit beziehungsweise Handlung (praxis): Wenn
eine Tätigkeit um eines Zieles willen verrichtet wird, das als ergon von der
Tätigkeit selbst verschieden ist (para tas praxeis), dann ist das ergon besser
als die Tätigkeit (1094a3-6); (b) das hypo-Verhältnis unterschiedlicher
Ziele: Wenn verschiedene Handlungen, Künste etc. einander so unter-
_____________
38 Vgl. ähnlich Seel (1981).
39 Vgl. z.B. Franz Dirlmeier: „Mit Recht hat schon Grant in diesem Satz das Fundament
der gesamten Ethik gesehen. Es ist der horror infiniti [...], der Ar. einen letzten, obers-
ten Zweck ansetzen, die Reihe der voneinander abhängigen Zwecke, das Weiterschrei-
ten ins Endlose, als eine Unmöglichkeit ablehnen läßt“ (81983, 267).
60 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

geordnet sind, dass sich eine „anordnende“ (ԐȢȥțijıȜijȡȟțȜս) Fähigkeit 40


einer oder mehrerer anderer bedient, dann sind die Ziele der leitenden
Fähigkeit besser oder wählenswerter 41 als die der untergeordneten. Zu-
mindest im Fall von Option (b) macht Aristoteles deutlich, dass sich sei-
ner Meinung nach die Strebensstruktur auf das Verhältnis zwischen Gü-
tern übertragen lässt. Sie kann als Argument für den Vergleich zwischen
Gütern herangezogen werden: „Denn um jener willen werden auch diese
verfolgt“ (ijȡփijȧȟ ȗոȢ ȥչȢțȟ ȜԐȜı‫ה‬ȟį İțօȜıijįț: a15-16). Im Fall von
Option (a) wird die Hierarchisierung nur thetisch eingeführt: „dort sind
die Werke von Natur aus besser als die Tätigkeiten“ (Ԛȟ ijȡփijȡțȣ Ȗıȝijտȧ
ʍջĴȤȜı ij‫׭‬ȟ ԚȟıȢȗıț‫׭‬ȟ ijո ԤȢȗį: a5-6); allerdings liegt auch hier ein Wahl
um einer anderen Sache willen vor, so dass das gleiche Argument zuträfe,
welches damit den Kern des zweiten Abschnitts bildet.
Nach dieser Interpretation haben wir es also mit einem zweifach ein-
geschränkten Fokus zu tun. Der teleologische Ansatz wird nur so weit
ausgeführt, dass er ein Vehikel für einen Gütervergleich bieten kann; und
die Vergleichsmöglichkeiten werden nur so weit ausgeführt, wie es den
Bedürfnissen des Abschnitts (3) entspricht. Wenn man Abschnitt (2) auf
die Funktion beschränkt, Abschnitt (3) vorzubereiten, dann stört es nicht,
dass viele Fragen erst einmal offen bleiben, zum Beispiel: Wie lassen sich
Güter vergleichen, die nicht in einem hypo-Verhältnis zueinander stehen? 42
Abschnitt (2) ist nun in ähnlicher Weise von Abschnitt (1) abhängig
wie Abschnitt (3) von Abschnitt (2), da der Begriff des Besseren den Beg-
riff des Guten voraussetzt. Nur wenn erstrebt zu werden ein Kriterium für
Güte darstellt, lässt sich die Zielhierarchie auf die Güterhierarchie übertra-
gen. Abschnitt (1) kann so gelesen werden, dass hier genau dieser Zusam-
menhang hergestellt werden soll. Da jede Kunst, jede Untersuchung, jede
Handlung und jeder Entschluss ein Gut erstrebt, scheint erstrebt zu wer-
den tatsächlich ein vielversprechendes Kriterium für Güte zu sein. Wie der

_____________
40 Die Einführung des Ausdrucks „Fähigkeit“ (İփȟįȞțȣ) spielt hier m.E. keine besondere
Rolle. Aristoteles hätte auch von einer Wissenschaft (ԚʍțIJijսȞș) oder Kunst (ijջȥȟș)
sprechen können, der andere untergeordnet sind.
41 Während Aristoteles mit Bezug auf (a) von „besser“ spricht, wählt er mit Bezug auf (b)
den Ausdruck „wählenswerter“. Da er aber in Abschnitt (3) aus (b) Kriterien für das
„Beste“ gewinnt, scheinen die beiden Ausdrücke hier gleichbedeutend zu sein.
42 Ich sehe dementsprechend auch kein Problem in den vieldiskutierten Zeilen a16-18:
„Es macht aber keinen Unterschied, ob die Ziele der Handlungen die Tätigkeiten
selbst sind oder etwas anderes neben diesen, wie bei den genannten Wissenschaften“
(vgl. z.B. Ackrill 1974/1995, 43f.). Hinter ihnen verbirgt sich m.E. keine besondere
„Pointe“ (z.B. dass hier bereits das Teil-Ganzes-Verhältnis im Sinne von Ackrills in-
klusiver Ǽudaimonia-Interpretation angesprochen wäre), sondern lediglich der Hin-
weis, dass für das hypo-Verhältnis (b) eine andere Perspektive relevant ist als für das er-
gon-praxis -Verhältnis (a).
2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3) 61

Zusammenhang zwischen dem Guten und dem Erstrebten genau zu ver-


stehen ist, wird dabei nicht wirklich klar. 43 Aristoteles begnügt sich offen-
bar damit, den Ansatz zunächst einmal plausibel zu machen und ihn, ähn-
lich wie dann in Abschnitt (2), nur so weit auszuführen, wie es für die
weitere Argumentation erforderlich ist. Eine Schwierigkeit liegt lediglich
darin, dass in 1094a3 von dem Guten (tagathon) die Rede ist; denn die
Konstruktion mit dem bestimmten Artikel to kann unterschiedlich inter-
pretiert werden. 44 Allerdings spricht einiges für eine schwächere Lesart, die
tagathon lediglich als das formale Objekt des Strebens begreift, das jeweils
verschieden sein kann, und nicht als das eine höchste Gut: (i) Bei der stär-
keren Lesart ergeben sich die oben erwähnten Interpretationsprobleme.
Das Argument ist logisch ungültig und nur durch anspruchsvolle Zusatz-
prämissen zu retten. (ii) Aristoteles betont immer wieder, dass die Ver-
schiedenheit der Ziele eine Verschiedenheit der Güter impliziert. Die un-
terschiedlichen Strebungen haben gerade nicht ein identisches Ziel,
sondern jeweils eigene Ziele, durch die sie sich voneinander unterschei-
den. 45 (iii) Die Formulierung „wonach alles strebt“ (ȡ՟ ʍչȟij’ ԚĴտıijįț)
taucht in ähnlicher Form auch an anderen Stellen auf, an denen es offen-
sichtlich nicht um das eine höchste Gut geht. So heißt es beispielsweise in
Met. A 3 über Ziele ganz allgemein: „Denn dieses (das Worumwillen und
das Gute) ist Ziel alles Entstehens und aller Bewegung (ijջȝȡȣ ȗոȢ
ȗıȟջIJıȧȣ Ȝįվ ȜțȟսIJıȧȣ ʍչIJșȣ)“ (983a31-32; vgl. auch EE II 1, 1219a10-
11). (iv) Im Sinne der hier dargestellten Interpretation lässt sich festhalten,
dass Aristoteles zumindest den oben genannten Zusammenhang herstellen
muss, damit die Argumentation der Abschnitte (2) und (3) funktioniert.
Nach dieser Interpretation eröffnet der Beginn der Nikomachischen
Ethik also einen teleologischen Kontext und zeigt, wie dieser Kontext als
Basis einer Hierarchisierung von Gütern verwendet werden kann. Wenn
und insofern man die Gleichsetzung von Gutem und Erstrebtem akzep-
tiert, kann man auch die Kriterien für Besseres oder das Beste akzeptie-
ren. 46 Der teleologische Ansatz wird hier eher stipuliert als begründet. Die
_____________
43 Vgl. zu der Unterscheidung zwischen einer „analytischen“ und einer „empirischen“
Deutung dieser Aussage Wolf (2002, 27).
44 Vgl. die Hinweise in Wolf (2002, 26).
45 Am deutlichsten wohl in EE I 8, 1218a30-33: „Zu behaupten, dass alles Seiende ein
und dasselbe Gut verfolge, ist nicht wahr. Denn jedes einzelne (Seiende) erstrebt ein
eigenes Gut, das Auge (erstrebt das) das Sehen, der Körper Gesundheit, und auf diese
Weise andere anderes“ (ijց ijı Ĵչȟįț ʍչȟijį ijո Րȟijį ԚĴտıIJȚįț ԛȟցȣ ijțȟȡȣ ԐȗįȚȡ‫ ף‬ȡ՘Ȝ
ԐȝșȚջȣǝ ԥȜįIJijȡȟ ȗոȢ ԼİտȡȤ ԐȗįȚȡ‫ ף‬ՌȢջȗıijįț, ՌĴȚįȝȞրȣ ՐȦıȧȣ, IJ‫׭‬Ȟį ՙȗțıտįȣ,
ȡ՝ijȧȣ Ԕȝȝȡ ԔȝȝȡȤ).
46 Wie ich oben anhand der Theorie über die Ortsbewegung beseelter Lebewesen ange-
deutet habe, ist Aristoteles häufig an dem Kontext interessiert, der dadurch hergestellt
wird, dass ein Gegenstand als ein Gut erstrebt wird. Eine weitere Parallele dazu bietet
62 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

Frage, aus welchen Gründen es legitim ist, Güter als Ziele zu begreifen,
sollte daher vorerst offen gelassen werden.
Die Vorteile dieser Deutung gegenüber der „gängigen Sicht“ dürften
auf der Hand liegen. Zum einen müssen keine Zusatzprämissen herange-
zogen werden, was der Textgestalt und der rhetorischen Situation von (A)
als Proömium angemessen ist. Zum anderen wird dem Text nicht eine
Funktion zugesprochen, die er argumentativ nicht erfüllen kann. Die drei
Interpretationsprobleme, denen die „gängige Sicht“ gegenübersteht, treten
nicht auf. 47
Dass Abschnitt (A) auch dann eine wichtige Rolle für die Untersu-
chung spielen kann, wenn er nicht die Existenz eines höchsten Guts be-
weist, wurde bereits herausgestellt. Die sachliche Ausgangsthese der Niko-
machischen Ethik (die eudaimonia ist das höchste Gut) ist eine These über
die Relation von Gütern. Ein Ansatz, der es ermöglicht, diese Relation
herzustellen, bietet daher ein wichtiges argumentatives Werkzeug. Da sich
diese Deutung jedoch auf den Fortgang der Untersuchung stützt, könnte
man den Einwand vorbringen, dass sie keine Erklärung für Reihenfolge
der Argumentation bietet. Wenn die Basis der Nikomachischen Ethik in
der These besteht, dass die eudaimonia das höchste Gut ist, wieso beginnt
Aristoteles dann nicht wie in der Eudemischen Ethik mit dieser These? Und
wenn der in (A) vorgestellte Ansatz eine Stipulation darstellt, wieso kenn-
zeichnet Aristoteles ihn dann nicht deutlicher als eine solche? Tatsächlich
scheint ein Hauptgrund für die „gängige Sicht“ auf (A) in der Reihenfolge
der Argumentation zu liegen. Aristoteles beginnt die Untersuchung eben
nicht mit dem Begriff des Glücks, sondern mit dem des höchsten Guts. 48
Nach meiner Ansicht vernachlässigt dieser Einwand den besonderen
Status des ersten Kapitels. Wie wir bereits gesehen haben, bildet EN I 1
ein Proömium, einen in sich abgeschlossenen, vorbereitenden Teil. Das
_____________
EE I 8, 1218b16-24; hier beschreibt Aristoteles, dass man für die Güte eines Gegen-
standes argumentieren kann, indem man ihn als Mittel zu einem als gut angesetzten
Zweck beschreibt (ՍȢțIJչȞıȟȡț ȗոȢ ijր ijջȝȡȣ ijԖȝȝį İıțȜȟփȡȤIJțȟ, Ցijț ԥȜįIJijȡȟ į՘ij‫׭‬ȟ
ԐȗįȚցȟ: b17-18). Dabei wird im Rahmen dieser Argumentation für die Güte des
Zwecks gerade nicht argumentiert (b22-24). Ähnlich liegt der Fokus von (A) nicht auf
der Gleichsetzung zwischen dem Guten und dem Erstrebten selbst, sondern auf den
sich daraus ergebenden Relationen.
47 Problem (1) tritt nicht auf, weil wir (a) in 1094a3 den Ausdruck tagathon auf das
formale Objekt des Strebens und nicht auf das eine höchste Gut bezogen haben und
(b) a18-22 als Formulierung eines Kriteriums des höchsten Guts und nicht als Beweis
für dessen Existenz verstanden haben. Problem (2) tritt nicht auf, weil wir a18-22,
insbesondere das Regressargument in a20-21, nicht psychologisch aufgefasst haben,
sondern als Bestandteil der Formulierung eines Kriteriums des höchsten Guts. Prob-
lem (3) tritt (vorerst) nicht auf, weil wir a1-3 als eine Stipulation gedeutet haben, de-
ren genaue Begründung noch aussteht.
48 Vgl. Cooper (1975, 91).
2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3) 63

Kapitel erhält ein eigenes Fazit, in welchem Aristoteles zusammenfasst,


was er erreicht zu haben meint: „Über den Zuhörer und wie man es auf-
fassen soll und was wir uns vorgenommen haben, sei dies einleitend gesagt
(ʍıĴȢȡțȞțչIJȚȧ ijį‫ף‬ijį)“ (1095a11-13). Im Rahmen dieses Proömiums
übernimmt (A) eine bestimmte Funktion, was aus den Zeilen hervorgeht,
die sich direkt an (A) anschließen:
Wird nun die Kenntnis dieses (Besten) nicht auch einen großen Einfluss in Bezug
auf das Leben haben, und dürften wir nicht, gerade so wie Bogenschützen, wenn
sie ein Ziel haben, besser das Erforderliche treffen? Wenn es sich aber so verhält,
muss man versuchen, wenigstens im Umriss zu erfassen, was es eigentlich ist und
welche Wissenschaft oder Fähigkeit sich damit befasst. 49 (1094a22-26)
Aristoteles behauptet hier, dass der in (A) eingeführte Gegenstand, das
„Beste“, eine große Bedeutung in Bezug auf das Leben hat und dass es sich
daher lohnt herauszufinden, was das Beste ist. Und er formuliert diese
Behauptung so, als müsse die praktische Bedeutung des Besten aus dem
Vorhergehenden, also aus (A), unmittelbar einleuchten. Die Funktion von
(A) für das Proömium scheint also darin zu liegen, die Relevanz des Ge-
genstandes herauszustellen.
Häufig wird die zitierte Passage als Bestätigung dafür angesehen, dass
Aristoteles denkt, die Existenz eines höchsten Guts bewiesen zu haben
(denn er wechselt in den Indikativ), und dass er das höchste Gut im Sinn
des Psychologischen Eudaimonismus begreift (denn er spricht vom Ein-
fluss auf das Leben). Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass diese
Interpretation Schwierigkeiten mit sich bringt. Denn sollte Aristoteles
tatsächlich gezeigt haben, dass es einen Gegenstand x gibt, um dessentwil-
len wir alles andere tun, dann ist unklar, wieso dem Einzelnen überhaupt
unbekannt sein sollte, was x ist. Dass x in diesem Fall einen großen Ein-
fluss auf das Leben hätte, leuchtet ein; Aristoteles spricht aber der „Kennt-
nis“ (ȗȟ‫׭‬IJțȣ) von x diesen Einfluss zu.
Die in diesem Abschnitt vorgestellte Deutung von (A) bietet eine ein-
fachere Erklärung. Aristoteles beweist in den ersten Zeilen von EN I 1
nicht die Existenz eines obersten Ziels, sondern vermittelt den Begriff
eines höchsten Guts, eines Gegenstandes, der besser ist als alles andere.
Dass die Kenntnis eines solchen Gegenstandes einen großen Einfluss auf
das Leben hätte, lässt sich behaupten, ohne dass man den Psychologischen
Eudaimonismus zur Hilfe nehmen müsste. Ebenso, dass man in diesem
Fall besser weiß, was nötig ist, um ihn zu erreichen (Ȟֻȝȝȡȟ Ԓȟ
ijȤȗȥչȟȡțȞıȟ ijȡ‫ ף‬İջȡȟijȡȣ: 1094a24). Das heißt: (i) Der Beginn beim
_____________
49 ԖȢ’ ȡ՞ȟ Ȝįվ ʍȢրȣ ijրȟ ȖȔȡȟ ԭ ȗȟ‫׭‬IJțȣ į՘ijȡ‫ ף‬Ȟıȗȑȝșȟ Ԥȥıț ‫ע‬ȡʍȓȟ, Ȝįվ ȜįȚȑʍıȢ
ijȡȠȪijįț IJȜȡʍրȟ Ԥȥȡȟijıȣ Ȟֻȝȝȡȟ Ԓȟ ijȤȗȥȑȟȡțȞıȟ ijȡ‫ ף‬İȒȡȟijȡȣ; ıԼ İ’ ȡ՝ijȧ, ʍıțȢįijȒȡȟ
ijȫʍ‫ ׫‬ȗı ʍıȢțȝįȖı‫ה‬ȟ į՘ijր ijȔ ʍȡij’ ԚIJijվ Ȝįվ ijȔȟȡȣ ij‫׭‬ȟ ԚʍțIJijșȞ‫׭‬ȟ Ԯ İȤȟȑȞıȧȟ.
64 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

höchsten Gut lässt sich dadurch erklären, dass Aristoteles zunächst die
Bedeutung des Gegenstandes herausstellen möchte (protreptische Funk-
tion). (ii) (A) kann die Bedeutung des Gegenstandes herausstellen, ohne
die Existenz eines höchsten Ziels beweisen zu müssen.
Da (A) also eine bestimmte Rolle im Rahmen des Proömiums über-
nimmt, ist es weder verwunderlich, dass der Abschnitt Elemente vorweg-
nimmt, deren genaue Funktion erst später deutlich wird, noch, dass Ele-
mente aus (A) später wieder aufgenommen und genauer bestimmt werden.
Unsere Interpretation des Abschnitts (A) hat zwei wesentliche Ergeb-
nisse: (i) Der Beginn der Nikomachischen Ethik weist nicht die Existenz
eines obersten Ziels oder höchsten Guts nach, sondern entwickelt lediglich
ein Kriterium des höchsten Guts auf der Basis eines teleologischen Ansat-
zes. Dieses Ergebnis unterscheidet die Interpretation von der „gängigen
Sicht“ auf Abschnitt (A). (ii) Der Beginn der Nikomachischen Ethik bietet
weder ein abschließendes Argument für die Richtigkeit des teleologischen
Ansatzes, noch verweist er auf andere Kontexte, in denen ein solches Ar-
gument am Platz sein könnte. Die Einführung des teleologischen Ansatzes
hat eher den Charakter einer Stipulation. Dieses Ergebnis ist vor allem für
den Fortgang der gütertheoretischen Lektüre von Bedeutung.
Wichtig ist, dass Ergebnis (ii) nicht mit der These verwechselt werden
darf, Aristoteles stünden prinzipiell keine Argumente für die Identifikation
von Gütern und Zielen zur Verfügung. 50 Eine so starke These soll hier
nicht vertreten werden. Das Ergebnis betrifft allein die Frage, wie Aristote-
les den teleologischen Ansatz in die ethische Untersuchung einführt. Und
wie sich herausstellen wird, lässt sich der weitere Ablauf der Argumen-
tation darauf beziehen.

2.2.2 Die Anwendung des teleologischen Ansatzes (I 2 und I 3)

Zu Beginn des Abschnitts 2.2.1 haben wir die Frage aufgeworfen, wie der
teleologische Ansatz zur Bestimmung des Guten begründet wird. Diese
Frage schien schon deshalb legitim, weil es andere gütertheoretische An-
sätze gibt. Im Verlauf von 2.2.1 haben wir gesehen, dass die Einleitung des
Kapitels I 1 diese Begründung nicht liefert. Die Identifikation von Gütern
und Zielen wird hier mehr oder weniger stipuliert und bestenfalls plausibi-
_____________
50 So lässt sich gegen die hier vorgeschlagene Deutung der Einwand erheben, dass der
Begriff der eudaimonia selbst mit der Vorstellung eines obersten Strebensziels verbun-
den ist und dass sich die Entscheidung für den teleologischen Ansatz auf diese Weise
begründen lässt. Dieser Einwand ist nicht unberechtigt, spricht aber, wie ich weiter
unten zeigen werde, nicht gegen die hier vorgestellte gütertheoretische Interpretation
(vgl. 2.5).
2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3) 65

lisiert. Die Anfangszeilen dienen dazu, den Kontext herzustellen, und


nicht dazu, für ihn zu argumentieren.
Wie bereits mehrmals erwähnt, benutzt Aristoteles den teleologischen
Ansatz bei seiner Untersuchung der Meinungen in den Kapiteln I 2 und
I 3. Sowohl die grobe Übersicht zu den Meinungen der Vielen (I 2) als
auch die systematischere Behandlung der Lebensformen (I 3) basieren auf
der Annahme, dass sich das höchste Gut als ein oberstes Ziel begreifen
lässt. Der teleologische Ansatz hilft also nicht nur dabei, Güter zu identifi-
zieren. Er legt zugleich fest, inwiefern Tugend, Weisheit oder Lust als
Kandidaten für die Bestimmung der eudaimonia anzusehen sind. Sie sind
dies insofern, als sie höchste Güter im Sinne höchster Ziele darstellen. Da
es auch andere Möglichkeiten geben könnte, die entsprechenden Glücks-
konzeptionen einzuführen, ist diese Beobachtung keineswegs trivial. Viel-
mehr sagt sie etwas über den begrifflichen Rahmen, in dem sich die Un-
tersuchung bewegt.
Im Folgenden möchte ich zeigen, dass die „Anwendung“ des teleologi-
schen Ansatzes in EN I 2-3 Aufschluss über einige von dessen Eigenschaf-
ten gibt. Es geht in diesen Kapiteln also nicht nur darum, bestehende
Meinungen aufzulisten (darum geht es auch). Aristoteles führt zugleich
vor, welche Konsequenzen es nach sich zieht, wenn man der zu Beginn der
Untersuchung stipulierten Güterkonzeption folgt. Auf diese Weise kann
den Kapiteln I 2 und I 3 eine klare Funktion im Argumentationsgang
zugewiesen werden. 51
Eine erste Auffälligkeit wurde bereits angesprochen (vgl. 2.1). So, wie
Aristoteles die Meinungen der Vielen in Kapitel I 2 präsentiert, scheint der
teleologische Ansatz eine beliebige Anzahl denkbarer Antworten auf die
Frage nach dem höchsten Gut zu generieren:
Denn die einen (nennen) etwas Offensichtliches und Bekanntes, zum Beispiel
Lust oder Reichtum oder Ehre, andere anderes – oft aber auch derselbe Verschie-
denes; denn wenn er krank ist, (nennt er) Gesundheit, wenn er arm ist, Reich-
tum. (1095a22-25)

_____________
51 Ein Problem für die Interpretation von EN I liegt darin, dass Aristoteles in I 2-3 einen
dialektischen Ansatz suggeriert, den er dann mit dem Ergon-Argument zu verlassen
scheint. So urteilt beispielsweise Ernst Tugendhat: „In I, 3 verfolgt Aristoteles eine
Methode, die er auch in anderen Zusammenhängen häufig anwendet, indem er zu-
nächst fragt: was ist denn die Meinung der Leute über das Glück? [...] Platon hätte
sich [...] auf die Antworten seiner Gesprächspartner eingelassen und wäre ihren Kon-
sequenzen und eventuellen Widersprüchen nachgegangen, und – so können wir fra-
gen – ist das nicht der einzig richtige Weg, können wir etwas anderes tun? Aristoteles
meint es offenbar, denn er verzichtet auf ein solches dialogisches Verfahren, er läßt die
drei Lebenskonzepte so stehen und versucht das Problem in I, 6 in einem ganz neuen
Ansatz sozusagen von der Sache her anzugehen“ (41997, 241; vgl. Wolf 2002, 37).
66 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

Die Floskel „andere anderes“ (alloi d’ allo) zeigt, dass hier nur eine Aus-
wahl an Antworten auf die Frage nach dem höchsten Gut genannt wird.
Und der Hinweis auf die Abhängigkeit der Antworten von bestimmten
Lebenssituationen macht deutlich, dass diese Auswahl nicht zufällig zu-
stande kommt. Sie wird nach einem bestimmten Muster erzeugt und ließe
sich nach dem gleichen Muster fortsetzen. So könnte, wer sich im Krieg
befindet, Frieden das höchste Gut nennen, wer kinderlos ist, Nachwuchs,
wer einsam ist, einen Freund, usw. Was auch immer jemand entsprechend
seiner Lebenssituation als höchstes Ziel seines Strebens bezeichnet, kann
offenbar als ein höchstes Gut angesprochen werden.
Mit der nötigen Vorsicht lässt sich diese Beobachtung auf die folgende
Weise verallgemeinern: Der zu Beginn von EN I 1 stipulierte teleologische
Ansatz scheint auf eine „relativistische“ Konzeption der Güter hinauszu-
laufen; die als Ziele identifizierten Güter sind stets Güter „in Bezug auf“.
Eine gewisse Vorsicht ist deshalb geboten, weil mit dieser Verallgemeine-
rung noch nichts über die Bedeutung des Ausdrucks „gut“ gesagt werden
soll, mit der Aristoteles sich erst in Kapitel I 4 befasst. Vorerst geht es nur
um die Beobachtung, dass die als Ziele aufgefassten Güter jeweils ver-
schieden sind und dass sich für jedes davon ein eigenes Relatum benennen
lässt. 52 Da der Ausdruck „Ziel“ selbst relational ist, stellt diese Beobach-
tung allerdings keine Überraschung dar. Ein Ziel ist notwendigerweise das
Ziel von etwas, zum Beispiel das Ziel einer Kunst, einer Untersuchung,
einer Handlung oder eines Entschlusses (I 1). Dementsprechend dürften
auch die als Ziele bestimmten Güter und die als Ziele bestimmten höchs-
ten Güter relational aufzufassen sein. Es sind Güter, die auf bestimmte
Künste, Untersuchungen, Handlungen oder Entschlüsse, und höchste
Güter, die auf bestimmte Lebenssituationen (I 2) oder Lebensformen (I 3)
bezogen sind. Der Vielfalt der Ziele entspricht eine Vielfalt der Gegen-
stände, deren Ziele sie sind.
Bereits an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass dieser „Güter-
Relativismus“ nicht mit einem Subjektivismus verwechselt werden darf
oder mit dem, was gelegentlich „subjektiver Relativismus“ heißt und mit
der Figur des Protagoras in Verbindung gebracht wird. Es geht hier nicht
um die These, gut für eine Person sei dasjenige, was diese Person für gut
hält. Bei der Einführung des teleologischen Ansatzes ist von Personen
zunächst auch gar nicht die Rede, sondern ausschließlich von bestimmten
Vorgängen. Dass aber zum Beispiel Herstellungsprozesse durch ihr Pro-
dukt (ergon) und damit ihr Ziel definiert sind und dass unterschiedliche
_____________
52 Zu ergänzen: Es ist möglich, dass etwas, das ein Gut in Bezug auf a ist, kein Gut in
Bezug auf b ist, und umgekehrt. Vgl. für ein Beispiel einer relativistischen Moralkon-
zeption Harman (1996).
2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3) 67

Herstellungsprozesse unterschiedliche Ziele haben, kann „objektiv“ festge-


stellt werden und bildet für sich genommen keine These darüber, welche
Ziele der Herstellende „subjektiv“ erstrebt. Das Gute wird hier also nicht
von der Psychologie handelnder Personen abhängig gemacht. (In Kapitel 3
wird der Unterschied zwischen Relativismus und Subjektivismus noch
eine Rolle spielen.)
Entscheidend ist vielmehr, dass die durch den teleologischen Ansatz
erfassten Güter und höchsten Güter, wenn sie nicht durch Zielhierarchien
verknüpft sind, „gleichberechtigt“ nebeneinander stehen. (Daher ist es
auch nicht verwunderlich, dass Aristoteles die Möglichkeit in Betracht
zieht, dass es mehrere höchste Güter geben könnte: I 5, 1097a30.) So
verschieden diese Güter auch sein mögen: qua Ziele unterscheiden sie sich
nicht voneinander.
Bereits wenige Zeilen nach der gerade zitierten Passage wird jedoch
klar, dass Aristoteles durchaus einen Unterschied zwischen den angeführ-
ten Meinungen machen möchte:
Alle Meinungen zu untersuchen macht wohl keinen Sinn; es reicht aus, die gän-
gigsten (zu untersuchen) oder diejenigen, die eine gewisse Plausibilität zu haben
scheinen. 53 (1095a28-30)
Aus den verbreiteten Meinungen soll eine Auswahl getroffen und diese
Auswahl dann untersucht werden, womit Aristoteles den Übergang von
den bloßen Meinungen (doxai) zu den im engeren Sinn „anerkannten
Meinungen“ (endoxa) zu vollziehen scheint. 54 Offensichtlich hält Aristote-
les nicht alle Meinungen für richtig. Wenn wir aber davon ausgehen, dass
alle bisherigen Antworten durch den gleichen gütertheoretischen Ansatz
erfasst werden und insofern gleichermaßen „höchste Güter“ sind, dann
drängt sich die Frage auf, anhand welcher Kriterien eine Prüfung dieser
Meinungen überhaupt stattfinden könnte. Wie kann zwischen den richti-
gen und den falschen Meinungen unterschieden werden?
Eine Antwort finden diese Fragen in Kapitel I 3. Mit der Konzentra-
tion auf die verbreitetsten Lebensformen (1095b17-19) wird die in Kapitel
I 2 angekündigte Beschränkung der zu betrachtenden Ansichten eingelöst.
Die dabei verwendeten Kriterien lassen sich in zwei Gruppen unterteilen:

_____________
53 ԑʍȑIJįȣ Ȟպȟ ȡ՞ȟ ԚȠıijȑȘıțȟ ijոȣ İȪȠįȣ ȞįijįțȪijıȢȡȟ ՀIJȧȣ ԚIJijȔȟ, ԽȜįȟրȟ İպ ijոȣ
ȞȑȝțIJijį ԚʍțʍȡȝįȘȡփIJįȣ Ԯ İȡȜȡփIJįȣ Ԥȥıțȟ ijțȟո ȝցȗȡȟ.
54 „Anerkannte Meinungen dagegen sind diejenigen, die entweder von allen oder den
meisten oder den Fachleuten und von diesen entweder von allen oder den meisten
oder den bekanntesten und anerkanntesten für richtig gehalten werden“ (ԤȟİȡȠį İպ
ijո İȡȜȡ‫ף‬ȟijį ʍֻIJțȟ Ԯ ijȡ‫ה‬ȣ ʍȝıȔIJijȡțȣ Ԯ ijȡ‫ה‬ȣ IJȡĴȡ‫ה‬ȣ, Ȝįվ ijȡȫijȡțȣ Ԯ ʍֻIJțȟ Ԯ ijȡ‫ה‬ȣ
ʍȝıȔIJijȡțȣ Ԯ ijȡ‫ה‬ȣ ȞȑȝțIJijį ȗȟȧȢȔȞȡțȣ Ȝįվ ԚȟİȪȠȡțȣ: Top. I 1, 100b21-23).
68 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

Gegen die Auffassung, dass Ehre (ijțȞս) oder Reichtum (ʍȝȡ‫ף‬ijȡȣ) das
höchste Gut darstellen könnten, wendet Aristoteles ein, dass beide eigent-
lich um einer anderen Sache willen erstrebt werden. Ehre wird um des
Ansehens der Tugendhaftigkeit willen erstrebt (1095b26-28), und Reich-
tum ist schon per se ein Mittel zum Zweck (1096a7). (Am Beispiel des
Reichtums wird noch einmal deutlich, dass es hier nicht um die Psycholo-
gie der Handelnden geht. Denn selbstverständlich ist es nicht psycholo-
gisch ausgeschlossen, sich den Reichtum zum höchsten Ziel zu machen.
Vielmehr gehört es einfach zum Begriff des Geldes, Mittel zu einem
Zweck zu sein.) Offensichtlich kommt in diesen Argumenten das in Kapi-
tel I 1 entwickelte Kriterium des Besseren zur Anwendung: Wenn a um-
willen von b erstrebt wird, dann ist b besser als a, so dass a keinesfalls das
höchste Gut sein kann. Aristoteles arbeitet demnach mit einem Kriterium,
das auf dem teleologischen Ansatz selbst basiert. Auf den Vergleich zwi-
schen Tugend, Lust und Weisheit lässt sich dieses Kriterium allerdings
nicht anwenden; denn diese drei werden um ihrer selbst willen geschätzt
(İț’ įՙijո ȗոȢ Ԑȗįʍֻijįț: 1096a8-9).
Bei den anderen Argumenten aus Kapitel I 3 ist ein Bezug zum teleo-
logischen Ansatz dagegen nicht festzustellen. Gegen das Leben der Lust
spricht zum Beispiel, dass es „sklavenartig“ und „viehisch“ ist (ȡԽ Ȟպȟ ȡ՞ȟ
ʍȡȝȝȡվ ʍįȟijıȝ‫׭‬ȣ ԐȟİȢįʍȡİօİıțȣ Ĵįտȟȡȟijį ȖȡIJȜșȞչijȧȟ Ȗտȡȟ
ʍȢȡįțȢȡփȞıȟȡț: 1095b19-20), gegen das der Tugend, dass man als Tu-
gendhafter sein Leben auch untätig oder schlafend verbringen (ԚȟİջȥıIJȚįț
Ȝįվ ȜįȚıփİıțȟ Ԥȥȡȟijį ijռȟ ԐȢıijռȟ Ԯ ԐʍȢįȜijı‫ה‬ȟ İțո ȖտȡȤ) und außerdem
das größte Unglück erleiden könnte (ȜįȜȡʍįȚı‫ה‬ȟ Ȝįվ ԐijȤȥı‫ה‬ȟ) (1095b32-
1096a1). Unter der Hand werden hier also Kriterien des Guten (und der
eudaimonia) eingeführt, die sich nicht auf deren teleologische Bestimmung
zurückführen lassen. Und offenbar gibt es Gegenstände, die zwar höchste
Güter im Sinne höchster Ziele darstellen, aber andere Kriterien des Guten
nicht erfüllen. Besonders deutlich wird dies im ersten Argument gegen die
Ehre, wo das Gute als etwas „Eigenes“ bezeichnet wird, das nur schwer
wegzunehmen sei (ijԐȗįȚրȟ İպ ȡԼȜı‫ה‬ցȟ ijț Ȝįվ İȤIJįĴįտȢıijȡȟ ıՂȟįț
ȞįȟijıȤցȞıȚį: 1095b25-26). Dass Aristoteles etwas nicht für das gesuchte
Gut hält, muss also nicht bloß damit zusammenhängen, dass es kein
höchstes Gut im Sinne eines höchsten Ziels ist.
Was lernen wir aus diesen Beobachtungen über den teleologischen
Ansatz zur Bestimmung des Guten? Mindestens zwei wichtige Eigenschaf-
ten sind in EN I 2-3 zutage getreten. Erstens scheint der teleologische
Ansatz eine relativistische Konzeption der (höchsten) Güter zu beinhalten.
(Höchste) Güter sind stets (höchste) Güter „in Bezug auf“. Zweitens er-
fasst der teleologische Ansatz nicht alle Kriterien des Guten. Wenn wir
aber davon ausgehen, dass Aristoteles nach dem einen höchsten Gut sucht
2.2 Der teleologische Ansatz (EN I 1-3) 69

(vgl. z.B. I 5, 1097a30), das möglichst alle Kriterien des Guten erfüllt (vgl.
z.B. I 8, 1098b12-22), dann lassen sich diese Eigenschaften als Schwierig-
keiten begreifen, die eine Identifikation von Gütern und Zielen mit sich
bringt. 55 Wir verfügen somit über eine erste gütertheoretische Einschät-
zung des teleologischen Ansatzes.
Darüber hinaus sind wir in der Lage, einen Zusammenhang zwischen
der Argumentation in EN I und dem im ersten Kapitel dieser Arbeit skiz-
zierten gütertheoretischen Hintergrund herzustellen. Anhand von Rhet. I
6-7 hatten wir festgestellt, dass die anerkannten Meinungen über das Gute
zu sehr unterschiedlichen Kriterien des Guten führen und dass nicht klar
ist, ob es ein Kriterium gibt, durch das sich alle anerkannten Güter erfas-
sen lassen (vgl. 1.3). Anhand von EN I 1-3 stellen wir fest, dass Aristoteles
den teleologischen Ansatz wie eine gütertheoretische Option behandelt,
die tatsächlich nicht allen Kriterien des Guten gerecht wird. Die Kritik der
Lebensformen in Kapitel I 3 enthält die Situation einander widerspre-
chender Topen zum Guten oder Besseren, wie sie auch in Rhet. I 7 vorge-
sehen ist. Die Beobachtungen an EN I 1-3 bestätigen insgesamt die in
Kapitel 1 beschriebene Komplexität des Gegenstands.
Obwohl in Kapitel I 3 einige Gegenstände identifiziert worden sind,
die um ihrer selbst willen erstrebt werden, scheint keiner dieser Gegen-
stände das gesuchte Gut zu sein (1096a7-10). Wie aber sollte man über
diese Gegenstände hinausgehen können, ohne die am Beginn der Unter-
suchung eingeschlagene Strategie zu verlassen? Wie kann vor dem Hinter-
grund einer teleologischen Güterkonzeption eine nicht-relativistische Be-
stimmung des Glücks als höchstem Gut gegeben werden? Wie die
Abbruchformel tauta men oun apheisthô („aber dies sei nun erledigt“:
1096a10) andeutet, scheint die Untersuchung hier in eine Sackgasse gera-
ten zu sein. Eine weitere Differenzierung ist auf der Basis eines teleologi-
schen Ansatzes offenbar nicht möglich. So gesehen ist es kaum verwunder-
lich, dass sich Aristoteles zunächst einmal der grundlegenden
gütertheoretischen Alternative zuwendet und das Gute „an sich“ in den
Blick nimmt.

_____________
55 Das heißt, der Verlauf der Kapitel I 2 und I 3 unterstützt die These, dass Aristoteles in
I 1 zunächst nur einen hypothetischen Kontext hergestellt hat: Wenn und insofern
man Erstrebt-Werden als Kriterium für Güte akzeptiert, kann man auch die Kriterien
für das höchste Gut akzeptieren.
70 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4)


In den gängigen Interpretationen der Aristotelischen Ethik spielt EN I 4,
ebenso wie das entsprechende Kapitel EE I 8, eine eher untergeordnete
Rolle. 56 Viele Autoren sehen in dem Text eine Spezialdiskussion, die vor
allem als Zeugnis für Aristoteles’ Verhältnis zu Platon oder für die Bezie-
hungen zwischen Nikomachischer und Eudemischer Ethik von Interesse
ist. 57 So bringt Terence Irwin nur eine verbreitete Meinung auf den Punkt,
wenn er urteilt: „Much of the discussion is important for Aristotle’s gene-
ral criticism of Plato (cf. esp. Met. i 9), but less important for ethics“
(21999, 178). Einschätzungen dieser Art stützen sich in der Regel auf fol-
gende Beobachtungen: (i) Aristoteles weist darauf hin, dass die Untersu-
chung aus EN I 4 ihren eigentlichen Platz nicht in der Ethik hat, sondern
einem anderen Zweig der Philosophie angehört. Eine genauere Betrach-
tung müsse daher an anderer Stelle stattfinden (ԚȠįȜȢțȖȡ‫ף‬ȟ ȗոȢ ՙʍպȢ
į՘ij‫׭‬ȟ Ԕȝȝșȣ Ԓȟ ıՀș ĴțȝȡIJȡĴտįȣ ȡԼȜıțցijıȢȡȟ: 1096b30-31; vgl. EE I 8,
1217b16-19). (ii) EN I 4 ist Teil einer Auseinandersetzung mit bestehen-
den Meinungen. Die Argumentation ist darauf zugeschnitten, eine be-
stimmte Ansicht zu widerlegen. Wir haben es also nicht nur mit einem
negativen Beweisziel, sondern auch mit einem klar umgrenzten und relativ
speziellen Untersuchungskontext zu tun. (iii) Aristoteles macht deutlich,
dass die Idee des Guten kein Gegenstand einer richtig verstandenen Ethik
sein kann. Sie ist nämlich weder Gegenstand einer Handlung (ʍȢįȜijցȟ)
noch erwerbbar (Ȝijșijցȟ) (1096b33-34). Es scheint also, als würde er be-
reits aus prinzipiellen Gründen dem teleologischen Ansatz den Vorzug
geben.
Gerade der zuletzt genannte Punkt prägt das übliche Bild auf EN I 4.
Während umstritten ist, ob die antiplatonische Argumentation überhaupt
gelingt – vor allem das so genannte „Kategorienargument“ (1096a23-29)
ist Gegenstand anhaltender Kontroversen –, scheint immerhin klar zu
sein, dass Aristoteles das ideentheoretische Konzept zurückweist und statt-
dessen eine „teleologische Ethik“ oder „Strebensethik“ vertritt.
Diese Sicht der Dinge ist jedoch nicht differenziert genug und wird
der Rolle, die die Platonkritik in der Nikomachischen Ethik spielt, nicht
gerecht. Ich werde im Folgenden eine Interpretation von EN I 4 vorstel-

_____________
56 Vgl. als neuere Beispiele Bostock (2000), der die Behandlung von I 4 in einen „Ap-
pendix“ verlegt (29-31), oder Pakaluk (2005), der das Kapitel als eine „Digression on
the Logic of Goodness“ (57) bezeichnet, die der Leser auch auslassen könne, es sei
denn, er habe „fervent Platonists among [his] closest friends“ (58). Eine der seltenen
Ausnahmen zu dieser Tendenz bildet MacDonald (1989).
57 Vgl. z.B. Flashar (1995).
2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4) 71

len, die der eben skizzierten Einschätzung quasi entgegengesetzt ist:


(i) Nach meiner Ansicht lässt sich das Kapitel problemlos in den Kontext
des ersten Buches der Nikomachischen Ethik einordnen und übernimmt
hier eine wichtige Funktion. (ii) Trotz des speziellen Untersuchungskon-
texts enthält EN I 4 eine allgemeine gütertheoretische Pointe. (iii) Aristo-
teles weist den ideentheoretischen Ansatz zwar zurück und zieht den teleo-
logischen Ansatz vor. Die Einsichten aus EN I 4 sind aber auch für die
Einschätzung des teleologischen Ansatzes von Bedeutung. Die Platonkritik
beeinflusst den Blick auf die Identifikation von Gütern und Zielen.
Insgesamt werde ich dafür argumentieren, dass EN I 4 unmittelbar an
EN I 1-3 anknüpft. Zu Beginn von EN I 5 verfügt Aristoteles über die
Grundlinien einer Theorie des Guten, auf der die weitere Untersuchung
aufbauen wird.
Da meine Interpretation von der üblichen Sicht stark abweicht, möch-
te ich bei der Untersuchung etwas weiter ausholen. Zunächst werde ich
einen Überblick über EN I 4 geben. Anhand dieses Überblicks soll her-
ausgearbeitet werden, worin nach Aristoteles das Grundproblem des
ideentheoretischen Ansatzes liegt (2.3.1). Dann werde ich am Beispiel des
Kategorienarguments verdeutlichen, warum EN I 4 so schwierig zu inter-
pretieren ist. Worauf basiert die grundlegende Uneinigkeit über die Deu-
tung vor allem der ersten Argumente der Platonkritik? (2.3.2). Schließlich
werde ich meine eigene Interpretation vorstellen, die die zuvor dargestell-
ten Schwierigkeiten umgehen soll. Im Kern besteht diese Interpretation in
dem Vorschlag, die „metaethischen“ Thesen der Platonkritik ernst zu
nehmen und sie mit dem Kontext der Untersuchung in Verbindung zu
bringen (2.3.3)

2.3.1 Das Grundproblem des ideentheoretischen Ansatzes

Verschaffen wir uns also zunächst einen Überblick über das Kapitel. Nach
der berühmten Einleitung über befreundete Männer und die Wahrheit
(1096a11-17) bringt Aristoteles in direkter Folge fünf Argumente gegen
die Ideenlehre vor (a17-b5). Dies sind: (i) Das Argument von der Reihung
(a17-23): Von Dingen, die zueinander in einem Verhältnis des „Früher“
oder „Später“ stehen, das heißt in einem Abhängigkeitsverhältnis, 58 gibt es
keine gemeinsame Idee. Da das Gute sowohl in der Kategorie der Sub-
stanz (ijտ ԚIJijț) als auch in den Kategorien der Quantität (ʍȡțցȟ) und der
Relation (ʍȢցȣ ijț) ausgesagt wird, besteht hier ein Verhältnis des „Früher“
_____________
58 Vgl. zu den verschiedenen Bedeutungen von proteron („früher“) Met. ǻ 11 sowie
Cleary (1998).
72 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

oder „Später“; denn die Substanz ist von Natur aus früher als zum Beispiel
die Relation (vgl. zur Priorität der Substanz Met. Z 1, 1028a31-b2). (ii)
Das Kategorienargument (a23-29): Wenn etwas wie das Gute in mehreren
Kategorien ausgesagt wird, dann gibt es davon kein Gemeinsames im Sin-
ne einer Idee. (iii) Das Wissenschaftsargument (a29-a34): Es gibt keine
allgemeine Wissenschaft vom Guten, die es gemäß der Ideentheorie geben
müsste. (iv) Das Argument von der Hypostasierung (a34-b3): Die Hyposta-
sierung einer Sache zur „Sache selbst“, zum Beispiel die Hypostasierung
des Menschen zum Menschen selbst (į՘ijȡչȟȚȢȧʍȡȣ) in der Idee des
Menschen, ist sinnlos. Denn als das, was sie sind, unterscheiden sich Idee
und Einzelding gerade nicht. (v) Das Argument von der Ewigkeit (b3-5):
Etwas wird nicht dadurch besser (oder weißer usw.), dass es wie die Ideen
ewig (Ԑտİțȡȟ) ist.
Die Argumente (i) bis (iii) befassen sich direkt mit der Möglichkeit ei-
ner Idee des Guten, während (iv) und (v) gegen Aspekte der Ideenlehre als
solcher gerichtet sind.
Nach einem kurzen Einschub zu den Pythagoreern und Speusipp
(b5-8) geht Aristoteles auf einen möglichen Gegeneinwand ein, der auf
der Differenzierung zwischen Gütern „an sich“ (ȜįȚ’ įՙijչ) und „auf-
grund dieser“ (İțո ijį‫ף‬ijį) basiert; er wird durch ein sechstes Argument
zurückgewiesen (b8-26). Auch von den Gütern an sich kann es keine ge-
meinsame Idee geben (vgl. hierzu 2.3.3). Daran schließt sich die kurze
Skizze der eigenen Position an (b26-31). Das Kapitel endet mit zwei wei-
teren Argumenten gegen die Ideenlehre (1096b31-1097a14). Das eine
behauptet, (vii) die Idee des Guten sei weder Gegenstand einer Handlung
noch erwerbbar (b31-35), das andere, (viii) ihre Kenntnis sei für die ein-
zelnen Wissenschaften nicht von Nutzen (b35-a14).
Auch wenn Aristoteles in mehreren Anläufen vorgeht, verfolgt er of-
fensichtlich zwei wesentliche Ziele. Er möchte zum einen zeigen, dass es
keine Idee des Guten gibt (Argumente (i) bis (vi)), zum anderen, dass eine
Idee des Guten, wenn es sie gäbe, kein Handlungsziel sein könnte und
daher für die vorliegende Untersuchung „nutzlos“ wäre (Argumente (vii)
und (viii)). Diese Zweiteilung wird noch deutlicher in der Eudemischen
Ethik, wo gleich zu Beginn von I 8 behauptet wird, die Rede von einer
Idee des Guten sei erstens leer (Ȝıȟ‫׭‬ȣ: 1217b21); zweitens hätte eine Idee
des Guten für das gute Leben und die Handlungen keinen Nutzen (ȡ՘İպ
ȥȢսIJțȞȡȣ ʍȢրȣ Șȧռȟ ԐȗįȚռȟ ȡ՘İպ ʍȢրȣ ijոȣ ʍȢչȠıțȣ: b24-25). Ich werde
mich im Folgenden vor allem auf die Argumente (i) bis (vi) konzentrieren.
Wenn man die gerade skizzierte Argumentation mit anderen platon-
kritischen Passagen bei Aristoteles vergleicht, dann fällt ein Unterschied
ins Auge, der für die Beurteilung von EN I 4 entscheidend sein dürfte:
2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4) 73

Die Aristotelischen Schriften enthalten mehrere Auseinandersetzungen


mit der Ideenlehre. Die wichtigsten finden sich im ersten und dreizehnten
Buch der Metaphysik (A 6 und 9; M 4 und 5) sowie in den durch Alexan-
der von Aphrodisias überlieferten Fragmenten der Schrift De ideis (Über
die Ideen). 59 Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen kommen verschie-
dene Aspekte zur Sprache, die Aristoteles offensichtlich als für die Ideen-
lehre charakteristisch ansieht, zum Beispiel der ontologische Status der
Ideen, ihr Verhältnis zu den wahrnehmbaren Einzeldingen, ihre erkennt-
nistheoretische und kausale Rolle. Mit einer Reihe von Argumenten soll
gezeigt werden, dass Platons Theorie in sich unstimmig und nicht in der
Lage ist, die relevanten Phänomene zu erklären. 60
Vor diesem Hintergrund scheint es erstaunlich, dass Aristoteles sich in
der Ethik so ausführlich mit der Idee des Guten auseinandersetzt. Wenn er
die Ideenlehre insgesamt für verfehlt hält, welchen Sinn macht dann die
Beschäftigung mit einem Beispiel? Und warum nennt er nur zwei Argu-
mente gegen die Konzeption der Ideen als solche, das Argument von der
Hypostasierung und das Argument von der Ewigkeit (1096a34-b5)? Wie-
so lässt er beispielsweise den ontologischen Status der Ideen und ihr Ver-
hältnis zu den Einzeldingen beiseite? Eine nahe liegende Antwort bestünde
darin, dass Platon selbst der Idee des Guten eine Sonderrolle beimisst (vgl.
insbes. die drei Gleichnisse aus Politeia VI und VII, 504a-519b), 61 die
unter Umständen einer eigenen Kritik bedarf. Diese Sonderrolle wird in
EN I 4 und EE I 8 aber noch nicht einmal erwähnt. Im Gegenteil: Aristo-
teles betrachtet die Idee des Guten offenbar als eine unter vielen. Die Um-
schreibung „Einige andere aber glauben, dass es neben den vielen Gütern
ein anderes (Gut) an sich gibt, das auch für alle diese die Ursache ihres
Gutseins ist“ (EN I 2, 1095a26-28), ließe sich problemlos auf andere
Ideen übertragen. 62 Gleiches gilt für die ausführlichere Charakterisierung,
die sich in der Eudemischen Ethik findet. Sie wirkt wie eine allgemeine
Darstellung der Ideenlehre anhand eines Beispiels:
Sie sagen nämlich, das Beste von allen sei das Gute selbst, dies aber sei das Gute,
dem es zukomme, sowohl Erstes der Güter zu sein als auch durch Anwesenheit

_____________
59 Diese drei Passagen hängen miteinander zusammen. Met. M 4 und 5 wiederholen –
zum Teil textidentisch – Argumente aus A 6 und 9; De ideis ist in der überlieferten
Form, das heißt als Bestandteil von Alexanders Metaphysik-Kommentar, die ausführli-
che Behandlung von fünf Argumenten, die in der Metaphysik skizziert werden (A 9,
990b11-17 bzw. M 4, 1079a7-13).
60 Vgl. Ross (1924, ad loc.) und Fine (1993).
61 Vgl. zur Idee des Guten Wieland (1976).
62 Insgesamt verwendet Aristoteles in EN I 4 auffallend wenig Mühe darauf, den Plato-
nischen Ansatz darzustellen. Offensichtlich geht er davon aus, dass seine Hörer mit
der Theoriebildung der Akademie vertraut sind.
74 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

Ursache des Gutseins der anderen Güter zu sein. Beides komme aber der Idee des
Guten zu – mit „beides“ meine ich, das Erste unter den Gütern zu sein und durch
Anwesenheit Ursache des Gutseins der anderen Güter zu sein. Am meisten werde
das Gute nämlich von jener wahrheitsgemäß ausgesagt. Denn durch Teilhabe
und Ähnlichkeit mit jener seien die anderen (Güter) gut, und sie sei das Erste un-
ter den Gütern. Denn wenn man das, woran teilgehabt wird, aufhebe, werde
auch das aufgehoben, was an der Idee teilhat und was durch die Teilhabe an jener
benannt wird. Auf diese Weise aber verhalte sich das Erste zu dem Späteren, so
dass das Gute selbst die Idee des Guten sei. Denn sie sei auch abtrennbar von
dem, was an ihr teilhat, wie auch die anderen Ideen. 63 (I 8, 1217b2-16)
Anscheinend geht es in den Ethiken also nicht um eine generelle Ideen-
kritik – eine Ausnahme bilden lediglich die Argumente (iv) und (v) –,
sondern um Schwierigkeiten, die sich speziell aus der Annahme einer Idee
des Guten ergeben. Und offensichtlich ist Aristoteles hierbei nicht an allen
Aspekten der Ideenlehre interessiert.
Um genauer einzugrenzen, um welchen Aspekt der Ideenlehre es in
EN I 4 geht, möchte ich von der in Met. A 6 und M 4 gegebenen Skizze
der Ideentheorie ausgehen. Zwar sei dahingestellt, ob Aristoteles den An-
satz hier tatsächlich so beschreibt, wie „diejenigen, welche zuerst die Exis-
tenz der Ideen behaupteten“ (ȡԽ ʍȢ‫׭‬ijȡț ijոȣ Լİջįȣ ĴսIJįȟijıȣ ıՂȟįț: M 4,
1078b11-12). Da ihm die Skizze aber als Grundlage seiner ausführlichen
antiplatonischen Argumentation dient, dürfte sie zumindest ein gutes Bild
der Aristotelischen Sicht auf die Ideenlehre bieten. Außerdem stimmt sie
in den wesentlichen Punkten mit der eben zitierten Beschreibung aus EE I
8 überein; es erscheint also nahe liegend, ein ähnliches Bild im Hinter-
grund von EN I 4 zu vermuten.
Sieht man von den Ausführungen zum Status der Zahlen ab, die für
unsere Zwecke nicht relevant sind, zeichnet sich der ideentheoretischen
Ansatz vor allem durch drei Merkmale aus:
(1) Allgemeinheit. Ideen stehen für das Allgemeine (ȜįȚցȝȡȤ), das
heißt für etwas, das mehreren Gegenständen gemeinsam ist
(Ȝȡțȟցȟ) oder worin verschiedene Gegenstände einander ähnlich
sind (ՑȞȡțȡȟ). Dieses Allgemeine, die „Einheit über der Vielheit“
_____________
63 ĴįIJվ ȗոȢ ԔȢțIJijȡȟ Ȟպȟ ıՂȟįț πȑȟijȧȟ į՘ijր ijր ԐȗįȚȪȟ, į՘ijր İ’ ıՂȟįț ijր ԐȗįȚրȟ ֭
ՙπȑȢȥıț ijȪ ijı πȢȬij‫ ׫‬ıՂȟįț ij‫׭‬ȟ ԐȗįȚ‫׭‬ȟ Ȝįվ ijր įԼijȔ‫ ׫‬ij‫ ׇ‬πįȢȡȤIJȔֹ ijȡ‫ה‬ȣ Ԕȝȝȡțȣ ijȡ‫ף‬
ԐȗįȚո ıՂȟįț. ijį‫ף‬ijį İ’ ՙπȑȢȥıțȟ ԐȞĴȪijıȢį ij‫ ׇ‬ԼİȒֹ ijȡ‫ ף‬ԐȗįȚȡ‫ף‬. ȝȒȗȧ İպ ԐȞĴȪijıȢį
ijȪ ijı πȢ‫׭‬ijȡȟ ij‫׭‬ȟ ԐȗįȚ‫׭‬ȟ Ȝįվ ijր ijȡ‫ה‬ȣ Ԕȝȝȡțȣ įՀijțȡȟ ԐȗįȚȡ‫ה‬ȣ ij‫ ׇ‬πįȢȡȤIJȔֹ ijȡ‫ף‬
ԐȗįȚȡ‫ה‬ȣ ıՂȟįț. ȞȑȝțIJijȑ ijı ȗոȢ ijԐȗįȚրȟ ȝȒȗıIJȚįț Ȝįij’ ԚȜıȔȟșȣ ԐȝșȚ‫׭‬ȣ (Ȝįijո
Ȟıijȡȥռȟ ȗոȢ Ȝįվ ՍȞȡțȪijșijį ijԖȝȝį ԐȗįȚո ԚȜıȔȟșȣ ıՂȟįț), Ȝįվ πȢ‫׭‬ijȡȟ ij‫׭‬ȟ ԐȗįȚ‫׭‬ȟ·
ԐȟįțȢȡȤȞȒȟȡȤ ȗոȢ ijȡ‫ ף‬ȞıijıȥȡȞȒȟȡȤ ԐȟįțȢı‫ה‬IJȚįț Ȝįվ ijո ȞıijȒȥȡȟijį ij‫׆‬ȣ ԼİȒįȣ, ԓ
ȝȒȗıijįț ij‫ ׮‬ȞıijȒȥıțȟ ԚȜıȔȟșȣ, ijր İպ πȢ‫׭‬ijȡȟ ijȡ‫ף‬ijȡȟ Ԥȥıțȟ ijրȟ ijȢȪπȡȟ πȢրȣ ijր
՝IJijıȢȡȟ. խIJij’ ıՂȟįț į՘ijր ijր ԐȗįȚրȟ ijռȟ ԼİȒįȟ ijȡ‫ ף‬ԐȗįȚȡ‫ ·ף‬Ȝįվ ȗոȢ ȥȧȢțIJijռȟ ıՂȟįț
ij‫׭‬ȟ ȞıijıȥȪȟijȧȟ, խIJπıȢ Ȝįվ ijոȣ Ԕȝȝįȣ ԼİȒįȣ.
2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4) 75

(ԣȟ Ԛʍվ ʍȡȝȝ‫׭‬ȟ), ist Gegenstand der Definition (logos bzw.


ՍȢțIJȞցȣ) und des Wissens (ԚʍțIJijսȞș) von einer Sache. Ideen ha-
ben demnach zumindest die Funktion von Universalien.
(2) Abgetrenntheit. Als Idee ist das Allgemeine nicht nur von den Ein-
zeldingen verschieden oder „neben den Einzeldingen“ (ʍįȢո ijո
ȜįȚ’ ԥȜįIJijį), es existiert auch ontisch „abgetrennt“ (ȥȧȢțIJijցȟ)
und hat damit selbst den Status eines Einzeldings.
(3) Teilhabe. Die Beziehung zwischen Idee und Einzelding wird als
„Teilhabe“ (ȞջȚıȠțȣ, Ȟıijȡȥս) aufgefasst.
In den Argumenten aus der Metaphysik und De ideis konzentriert sich
Aristoteles vor allem auf die Merkmale (2) und (3). Er sieht zum Beispiel
den entscheidenden Fehler der Platoniker darin, dem Allgemeinen den
Status eines Einzeldings zugesprochen zu haben (M 9, 1086a32-34); er
wirft ihnen vor, keine Erklärung des Begriffs der Teilhabe zu liefern (A 6,
987b13-14); er behauptet, dass die Idee als etwas von den Einzeldingen
Abgetrenntes nicht die ihr beigelegten Funktionen erfüllen kann (A 9,
991a8-19); usw. Merkmal (1) scheint dagegen nur in Kombination mit
Merkmal (2) problematisch zu sein und wird außerdem nicht als Spezifi-
kum der Ideenlehre eingeführt. Denn schon Sokrates habe seine Aufmerk-
samkeit auf das Allgemeine und die Definitionen gerichtet (M 4,
1078b17-19), welche die Platoniker dann „abtrennten“ (ԚȥօȢțIJįȟ) und
als Ideen bezeichneten (b31-32). Dass es neben den Einzeldingen etwas
Allgemeines gibt, das mit keinem der Einzeldinge identisch ist, sei aber
kein hinreichender Grund für die Annahme, dass dieses Allgemeine als
Idee begriffen werden müsse. (Dieses Argument wird vor allem in De ideis
häufig verwendet: CAG I, 79.15-18; 81.7-12 u.ö.).
Allerdings macht Aristoteles deutlich, dass das Bestehen von Ähnlich-
keiten oder Gemeinsamkeiten zwischen Einzeldingen eine notwendige
Bedingung für die Annahme der Existenz einer Idee ist. Besonders an-
schaulich wird dies in seiner Entgegnung auf das Argument von der Ein-
heit über der Vielheit in De ideis (CAG I, 80.15-81.22). Aristoteles be-
hauptet, dass dieses Argument zu der Konsequenz führe, auch Ideen von
Negationen und Nichtseiendem anzunehmen, da es auch hier eine Einheit
über der Vielheit gebe. Dies sei aber absurd (Ԕijȡʍȡȟ):
Denn wenn man dies annimmt, dann wird es von gattungsmäßig verschiedenen
und ganz und gar unterschiedlichen Gegenständen eine einzige Idee geben, zum
Beispiel von Linie und Mensch, denn alle diese sind Nicht-Pferde. 64 (81.3-5)

_____________
64 ıԼ ȗոȢ ijȡ‫ף‬ijց ijțȣ ʍįȢįİջȠıijįț, ij‫׭‬ȟ ȗı ԐȟȡȞȡȗıȟ‫׭‬ȟ Ȝįվ ʍչȟijׄ İțįĴıȢցȟijȧȟ ԤIJijįț
Ȟտį Լİջį, ȗȢįȞȞ‫׆‬ȣ, Ԓȟ ȡ՝ijȧ ijփȥׄ, Ȝįվ ԐȟȚȢօʍȡȤǝ ȡ՘ȥ Ձʍʍȡț ȗոȢ ijį‫ף‬ijį ʍչȟijį. Vgl.
hierzu auch Met. A 9, 991a5-8.
76 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

Es kann also keine gemeinsame Idee von völlig verschiedenen Gegenstän-


den geben.
Genau dieser Punkt wird offensichtlich auch in der Platonkritik der
Nikomachischen Ethik angesprochen. Bereits der Einleitungssatz kündigt
nicht etwa eine Untersuchung der Idee des Guten an – dies geschieht
indirekt erst in 1096a13 –, sondern eine Untersuchung des „Allgemeinen“
(ȜįȚցȝȡȤ). Und die Konklusionen der einzelnen Argumente weisen im-
mer wieder auf das Fehlen einer Gemeinsamkeit hin: „so dass es bei diesen
wohl keine gemeinsame Idee (Ȝȡțȟս ijțȣ Ԛʍվ ijȡփijȡțȣ Լİջį) geben dürfte“
(1096a22-23); „ist klar, dass es wohl kein gemeinsames (Ȝȡțȟցȟ) und all-
gemeines (ȜįȚցȝȡȤ) und einheitliches (ԥȟ) (Gutes) geben dürfte“ (a27-
28); „Also ist das Gute nicht etwas Gemeinsames (Ȝȡțȟցȟ ijț) gemäß einer
einzigen Idee“ (1096b25-26).
Ein wichtiges Ziel der Argumentation scheint also in dem Nachweis
zu bestehen, dass Güter keine solchen Gemeinsamkeiten haben, die die
Annahme der Existenz eines allgemeinen Guten und damit einer Idee des
Guten rechtfertigen könnten (Merkmal 1). Es gibt beim Guten keine
„Einheit über der Vielheit“ im platonischen Sinn. Alle Theorien, die da-
von ausgehen, dass zwischen Gütern hinreichende Ähnlichkeiten bestehen,
könnten durch die gleichen Argumente zurückgewiesen werden, selbst
wenn sie zum Beispiel dem Allgemeinen nicht den Status von Einzeldin-
gen zusprechen würden. Auch dies wird in der Eudemischen Ethik deutli-
cher ausgedrückt, wo Aristoteles dieselbe Kritik auf die Idee des Guten (ԭ
Լİջį ijԐȗįȚȡ‫ )ף‬und auf das „gemeinsame Gute“ (ijր Ȝȡțȟրȟ ԐȗįȚցȟ) be-
zieht (I 8, 1218a33-b10). Die Ethik setzt also eine Stufe tiefer an als die
anderen platonkritischen Passagen. Es geht hier weniger darum, dass die
Theorie selbst falsch ist, sondern darum, dass sie im speziellen Fall des
Guten von falschen Voraussetzungen ausgeht. 65 Da das Gute die notwen-
digen Bedingungen für die Annahme einer gemeinsamen Idee nicht er-
füllt, ist es nicht verwunderlich, dass Aristoteles sich mit den weiteren
Merkmalen der Ideenlehre in EN I 4 kaum beschäftigt.
Wir verfügen nun über eine ungefähre Vorstellung, warum der ideen-
theoretische Ansatz im Fall des Guten scheitern muss. Eine Idee des Gu-
ten kann es deshalb nicht geben, weil zwischen Gütern keine Gemeinsam-
keiten bestehen, die für die Annahme einer solchen Idee hinreichend
wären. Die als Güter bezeichneten Gegenstände sind ganz einfach zu un-
_____________
65 Schon das erste Argument, das Argument von der Reihung, weist in diese Richtung.
Denn es versucht zu zeigen, dass das Gute zu den Gegenständen gehört, bei denen die
Platoniker selbst keine Idee annehmen würden: „Diejenigen also, die diese Meinung
einführten, setzten keine Ideen von solchen (Dingen) an, bei denen sie das Früher
oder Später aussagten“ (ȡԽ İռ ȜȡȞտIJįȟijıȣ ijռȟ İցȠįȟ ijįփijșȟ ȡ՘Ȝ ԚʍȡտȡȤȟ Լİջįȣ Ԛȟ
ȡՃȣ ijր ʍȢցijıȢȡȟ Ȝįվ ՝IJijıȢȡȟ Ԥȝıȗȡȟ: 1096a17-18).
2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4) 77

terschiedlich. Wie wir gesehen haben, ist dieses Grundproblem relativ


leicht zu identifizieren. Viel schwieriger ist dagegen nachzuvollziehen, wie
Aristoteles dafür argumentiert. Hier liegen die eigentlichen Interpretati-
onsprobleme des Kapitels.

2.3.2 Das Kategorienargument

Wieso kann man davon ausgehen, dass zwischen Gütern keine hinrei-
chenden Gemeinsamkeiten für die Annahme einer Idee des Guten beste-
hen? Die Platonkritik enthält mehrere Antworten auf diese Frage. Eine
davon lautet: Man kann davon ausgehen, dass zwischen Gütern keine
hinreichenden Gemeinsamkeiten bestehen, weil es keine Definition des
Guten gibt, die auf alle Güter gleichermaßen zutrifft. Im Folgenden werde
ich mich auf diese Antwort konzentrieren, auch wenn dies eine sehr selek-
tive Vorgehensweise bedeutet. 66 Anhand der Frage einer einheitlichen
Definition des Guten möchte ich das m.E. entscheidende Interpretations-
problem der Platonkritik umreißen, um dann meine eigene Deutung da-
von abzusetzen. Beginnen wir dazu mit einem Blick auf das sechste Argu-
ment:
Wenn aber auch diese (gerade genannten Beispiele) zu den (Gütern) an sich ge-
hören, so wird in allen von ihnen dieselbe Definition des Guten sichtbar werden
müssen, ganz so wie in Schnee und Bleiweiß die der Weißheit. Aber die Defini-
tionen der Ehre, der Weisheit und der Lust sind verschieden und unterscheiden
sich, insofern sie Güter sind. Also ist das Gute nicht etwas Gemeinsames gemäß
einer einzigen Idee. 67 (1096b21-26)
Aristoteles vergleicht hier die Eigenschaft gut mit der Eigenschaft weiß.
Die Eigenschaft weiß ist in verschiedenen Instanziierungen, zum Beispiel
im Schnee und im Bleiweiß, dieselbe. Dies wird dadurch belegt, dass die
Definition (logos) des Weißen im Fall von Schnee und Bleiweiß ebenfalls
dieselbe ist. Im Fall des Guten behauptet Aristoteles dagegen, dass sich die
Definitionen von Gütern wie Ehre, Weisheit und Lust gerade unterschei-
den, insofern diese Güter sind (hêi agatha).
Die Stoßrichtung des Arguments ist offensichtlich. Die Verschieden-
heit der logoi hêi agatha soll die These begründen, dass es kein gemeinsa-
_____________
66 Eine vergleichbare Interpretation ließe sich anhand des Wissenschaftsarguments
durchführen, das allerdings weitaus weniger Aufmerksamkeit in der Forschung gefun-
den hat.
67 ıԼ İպ Ȝįվ ijį‫ף‬ij’ ԚIJijվ ij‫׭‬ȟ ȜįȚ’ įՙijȑ, ijրȟ ijԐȗįȚȡ‫ ף‬ȝȪȗȡȟ Ԛȟ ԕʍįIJțȟ į՘ijȡ‫ה‬ȣ ijրȟ į՘ijրȟ
ԚȞĴįȔȟıIJȚįț İıȓIJıț, ȜįȚȑʍıȢ Ԛȟ ȥțȪȟț Ȝįվ ȦțȞȤȚȔ‫ ׫‬ijրȟ ij‫׆‬ȣ ȝıȤȜȪijșijȡȣ. ijțȞ‫׆‬ȣ İպ
Ȝįվ ĴȢȡȟȓIJıȧȣ Ȝįվ ԭİȡȟ‫׆‬ȣ ԥijıȢȡț Ȝįվ İțįĴȒȢȡȟijıȣ ȡԽ ȝȪȗȡț ijįȫijׄ ֝ ԐȗįȚȑ. ȡ՘Ȝ
ԤIJijțȟ ԔȢį ijր ԐȗįȚրȟ ȜȡțȟȪȟ ijț Ȝįijո ȞȔįȟ ԼİȒįȟ.
78 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

mes Gutes gemäß einer einzigen Idee gibt (ȡ՘Ȝ ԤIJijțȟ ԔȢį ijր ԐȗįȚրȟ
Ȝȡțȟցȟ ijț Ȝįijո Ȟտįȟ Լİջįȟ: 1096b25-26). Dahinter scheint der Gedanke
zu stehen, dass sich die für die Annahme einer Idee erforderliche Einheit
des Allgemeinen als Einheit einer Definition begreifen lässt, die auf alle
Einzeldinge gleichermaßen zutrifft (wenn auch vielleicht in abgeleiteter
Weise).
Es sieht damit so aus, als hätten wir es im sechsten Argument der Pla-
tonkritik mit einer typischen Homonymie-Situation zu tun, wie sie im
ersten Kapitel der Kategorienschrift des Aristoteles definiert wird. 68 Auf
verschiedene Gegenstände wird zwar der gleiche „Name“ (ՐȟȡȞį) ange-
wandt (im vorliegenden Fall: agathon), die dem Namen entsprechende
Definition (der logos hêi agathon) ist aber jeweils eine andere. Dieser Ein-
druck scheint sich in den folgenden Zeilen zu bestätigen; denn hier wirft
Aristoteles zumindest indirekt die Frage auf, um welche Art von Homo-
nymie es sich beim Guten handelt: „Aber wie wird (das Gute) dann ausge-
sagt? Denn es scheint jedenfalls nicht zu den zufällig homonymen Dingen
zu gehören“ (Ԑȝȝո ʍ‫׭‬ȣ İռ ȝջȗıijįț; ȡ՘ ȗոȢ ԤȡțȜı ijȡ‫ה‬ȣ ȗı Ԑʍր ijփȥșȣ
ՍȞȧȟփȞȡțȣ: 1096b26-27). Eine weitere Bestätigung erfährt der Homo-
nymie-Verdacht durch Top. I 15, wo das Gute ausdrücklich als homonym
bezeichnet wird (107a11-12) und von den unterschiedlichen logoi des
Guten die Rede ist (106a1-8).69
Da das sechste Argument die logoi der verschiedenen Güter jedoch
nicht nennt, stellt die These von der Homonymie des Guten an dieser
Stelle eine bloße Behauptung dar. Was aber spricht für diese Behauptung?
Prima facie erscheinen die Zeilen 1096b23-25 eher unplausibel. Auch
wenn sich das Prädikat „x ist gut“ auf sehr unterschiedliche Gegenstände
beziehen kann, würden wir wohl eher davon ausgehen, dass sich all diese

_____________
68 „Homonym heißen Dinge, wenn sie nur einen Namen gemeinsam haben, aber die
dem Namen entsprechende Definition des Seins verschieden ist“ (ՓȞȬȟȤȞį ȝȒȗıijįț
կȟ ՐȟȡȞį ȞȪȟȡȟ ȜȡțȟȪȟ, Ս İպ Ȝįijո ijȡ՜ȟȡȞį ȝȪȗȡȣ ij‫׆‬ȣ ȡ՘IJȔįȣ ԥijıȢȡȣ: 1a1-2).
69 Ein Problem für die These, das Gute sei homonym, liegt im uneinheitlichen
Gebrauch des Homonymie-Begriffs. An manchen Stellen scheint Aristoteles den Aus-
druck homônymos bloßen Äquivokationen vorzubehalten (vgl. z.B. Met. ī 2, 1003a33
ff.). In diesem Fall müsste ein Unterschied zwischen den Thesen gemacht werden,
dass etwas „auf vielfache Weise ausgesagt wird“ (pollachôs legetai) und dass etwas im
eigentlichen Sinn homonym ist. Die Wendung apo tychês homônymos („zufälligerweise
homonym/gleichnamig“) in EN I 4, 1096b26-27, wäre dann qualifizierend, nicht
spezifizierend gemeint. Aufgrund der offensichtlichen Parallele zu Top. I 15 werde ich
im Folgenden jedoch „homonym“ in einem weiten Sinn verstehen, der keine Ent-
scheidung darüber beinhaltet, ob eine Äquivokation vorliegt oder ob die verschiede-
nen Aussageweisen miteinander zusammenhängen (vgl. dazu z.B. EN V 2, 1129a26-
31). Wie sich zeigen wird, geht Aristoteles im Fall des Guten gerade nicht von einer
Äquivokation aus.
2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4) 79

Gegenstände gerade gleichen, insofern sie Güter sind – worin auch immer
ihre Gemeinsamkeit liegen mag. 70
Als eine Begründung für die Homonymie des Guten wird in der Re-
gel eine andere Passage der Platonkritik angesehen, nämlich das Katego-
rienargument:
Da aber das Gute in ebenso vielfacher Weise ausgesagt wird wie das Seiende –
denn es wird sowohl in der (Kategorie der) Substanz ausgesagt, zum Beispiel der
Gott und die Vernunft, als auch in der (Kategorie der) Qualität, die Tugenden,
und in der (Kategorie der) Quantität, das Maßvolle, und in der (Kategorie der)
Relation, das Nützliche, und in der (Kategorie der) Zeit, der rechte Augenblick,
und in der (Kategorie des) Ortes, der richtige Aufenthalt –, ist klar, dass es wohl
kein gemeinsames und allgemeines und einheitliches (Gutes) geben dürfte; denn
es würde sonst nicht in allen Kategorien ausgesagt, sondern nur in einer einzi-
gen. 71 (1096a23-29)
In dieser Passage ist zwar nicht von logoi die Rede, und streng genommen
ist offen, von welchem Problem das Argument genau handelt. Es scheint
aber gerechtfertigt, die Wendung isachôs legetai tôi onti („in ebenso vielfa-
cher Weise ausgesagt wie das Seiende“) als hinreichende Bedingung dafür
zu verstehen, dass das Gute ein pollachôs legomenon („auf vielfache Weise
Ausgesagtes“) und somit homonym im hier gemeinten Sinne ist. Die Pa-
rallele zu Top. I 15 deutet in die gleiche Richtung; denn hier wird aus-
drücklich von „Das Gute wird in unterschiedlichen Kategorien ausgesagt“
auf „Das Gute ist homonym“ geschlossen (107a3-12). Ein Unterschied
zwischen dem Kategorienargument und der Topik-Passage besteht zwar
darin, dass in EN I 4 behauptet wird, das Gute werde in allen Kategorien
ausgesagt. Der Nachsatz „Es würde sonst nicht in allen Kategorien ausge-
sagt, sondern nur in einer einzigen“ (a28-29) weist diese Behauptung aber
eindeutig als a fortiori Argument aus. 72
_____________
70 Vgl. die entsprechende Kritik von David Bostock: „Indeed, since he [Aristotle, Ph.B.]
himself equates ‚good in itself’ with ‚pursued for its own sake’, it seems that his own
view must be that they [the goods mentioned in b21-25, Ph.B] are each good in the
same way, namely by being pursued for their own sakes [...]. One can only conclude, I
think, that he has misstated his point” (2000, 31).
71 Ԥijț İ’ Ԛʍıվ ijԐȗįȚրȟ ԼIJįȥ‫׭‬ȣ ȝȒȗıijįț ij‫ ׮‬Րȟijț (Ȝįվ ȗոȢ Ԛȟ ij‫ ׮‬ijȔ ȝȒȗıijįț, ȡՃȡȟ Ս Țıրȣ
Ȝįվ Ս ȟȡ‫ף‬ȣ, Ȝįվ Ԛȟ ij‫ ׮‬ʍȡț‫ ׮‬įԽ ԐȢıijįȔ, Ȝįվ Ԛȟ ij‫ ׮‬ʍȡIJ‫ ׮‬ijր ȞȒijȢțȡȟ, Ȝįվ Ԛȟ ij‫ ׮‬ʍȢȪȣ ijț
ijր ȥȢȓIJțȞȡȟ, Ȝįվ Ԛȟ ȥȢȪȟ‫ ׫‬ȜįțȢȪȣ, Ȝįվ Ԛȟ ijȪʍ‫ ׫‬İȔįțijį Ȝįվ ԥijıȢį ijȡțį‫ף‬ijį), İ‫׆‬ȝȡȟ
թȣ ȡ՘Ȝ Ԓȟ ıՀș ȜȡțȟȪȟ ijț ȜįȚȪȝȡȤ Ȝįվ ԥȟ· ȡ՘ ȗոȢ Ԓȟ ԚȝȒȗıij’ Ԛȟ ʍȑIJįțȣ ijį‫ה‬ȣ
ȜįijșȗȡȢȔįțȣ, Ԑȝȝ’ Ԛȟ Ȟțּ ȞȪȟׄ.
72 Damit soll nicht bestritten werden, dass die These, das Gute werde in allen Kategorien
ausgesagt, interessant und wichtig ist. Sie spielt aber m.E. für das vorliegende Argu-
ment eine geringere Rolle, als gemeinhin angenommen wird – zumal Aristoteles keine
systematische Begründung gibt, sondern einfach Beispiele für Güter nennt. Da ich
hier eine möglichst einfache Interpretation vorstellen möchte, scheint es mir angemes-
sener, vorerst von der a fortiori-Lesart des Kategorienarguments auszugehen.
80 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

Wenn diese Beschreibung des Kategorienarguments zutrifft, dann lässt


sich die Strategie folgendermaßen zusammenfassen: Aus der Tatsache, dass
das Gute in mehreren Kategorien ausgesagt wird, folgt (i), dass das Gute
homonym (bzw. ein pollachôs legomenon) ist. Dies bedeutet (ii), dass es
keine einheitliche Definition des Guten geben kann, die auf alle Güter
gleichermaßen zutrifft. Dies wiederum heißt (iii), dass es kein „allgemei-
nes“ (ȜįȚցȝȡȤ) und „gemeinsames“ (Ȝȡțȟցȟ) Gutes gibt, was (iv) der
Annahme einer Idee des Guten widerspricht.
Die Deutung des Kategorienarguments ist in der Forschung sehr um-
stritten. Es besteht keine Einigkeit darüber, ob die Anwendung der Kate-
gorien dazu geeignet ist, den ideentheoretischen Ansatz zu widerlegen. Der
Forschungsstand soll hier nicht im Detail wiedergeben werden; ich möch-
te aber zusammenfassend einige Tendenzen nennen, um auf die grund-
sätzliche Schwierigkeit hinzuweisen.
Ausgangspunkt der meisten Texte ist eine „naive“ Interpretation der
Stelle. Sie lautet ungefähr folgendermaßen: Da der Ausdruck „gut“ auf
Gegenstände aus unterschiedlichen Kategorien angewandt wird – was sich
durch die angeführten Beispiele belegen lässt –, ist „gut“ mehrdeutig. Es
herrscht eine erstaunliche Einigkeit darüber, dass dieses Argument falsch
ist. Die Bedeutung eines Ausdrucks, so der generelle Vorwurf, habe nichts
mit der Frage zu tun, auf welche Gegenstände dieser Ausdruck angewandt
wird. 73 Daher müsse man entweder davon ausgehen, dass das Argument
misslingt, 74 oder eine alternative Interpretation versuchen. Soweit ich se-
hen kann, lassen sich diese alternativen Interpretationen in drei Gruppen
gliedern, die für drei unterschiedliche Ansätze stehen, die Gültigkeit des
Kategorienarguments zu beweisen:
Die erste Gruppe geht zwar davon aus, dass es im Kategorienargument
um die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks „gut“ geht, hält aber die von der
naiven Interpretation gegebene Begründung der Mehrdeutigkeit für falsch.
Daher versuchen die Autoren dieser Gruppe, die von Aristoteles angeführ-
ten Beispiele anders zu deuten. So sieht etwa W.F.R. Hardie (1968) in
den Beispielen nicht Gegenstände, denen die Eigenschaft gut lediglich
zugesprochen wird, sondern Gegenstände, die wesentlich gut sind. Sätze
wie „Gott ist gut“ (sprich: eine gute Substanz) oder „Tugend ist gut“
(sprich: eine gute Qualität) ließen sich daher als Definitionen dieser Ge-
genstände begreifen, 75 und nur auf diese Weise sei garantiert, dass Subjekt
und Prädikat derselben Kategorie angehören: „The predicate expresses the
_____________
73 Vgl. für eine besonders klare Darstellung dieser Kritik Woods (21992, 66-69).
74 Dies ist z.B. die Auffassung von Woods (21992, 68) und Shields (1999, 215f.).
75 Eine vergleichbare Interpretation scheint auch H.H. Joachim zu vertreten (1951,
41f.).
2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4) 81

essence, or part of the essence, of the subject; and it is, therefore, inevitably
in the same category as the subject“ (57). L.A. Kosman (1968) dagegen ist
der Ansicht, dass die Beispiele nicht als Subjekte zu verstehen sind, auf die
das Prädikat „x ist gut“ angewandt wird, sondern eher als Prädikate, durch
die die Eigenschaft gut anderen Gegenständen „in verdeckter Weise“ zuge-
sprochen werden kann: „He [...] gives examples of predicates which are
(disguised) means of predicating good in each of the categories“ (174). Da
diese Prädikate „of radically different type“ (ebd.) seien, gelte gleiches auch
für die Bedeutungen von „gut“. J.L. Ackrill (1972/1997) hält diese beiden
Herangehensweisen für falsch. Er schlägt stattdessen vor, in den Beispielen
Kriterien zu sehen, durch die die Empfehlung eines Gegenstandes als gut
begründet werden kann: „The point is that the ground for predicating
‚good’ in the different cases is radically different. [...] The criteria for
commending different things as good are diverse, and fall into different
categories; and this is enough to show that ‚good’ does not stand for some
single common quality“ (207).
Die zweite Gruppe setzt beim Begriff der Homonymie an. Anders als
in der naiven Interpretation vorausgesetzt, habe Homonymie nichts mit
der Bedeutung eines Ausdrucks zu tun. Prominentester Vertreter dieser
Gruppe ist Scott MacDonald, der in seinem vielzitierten Aufsatz „Aristotle
and the Homonymy of the Good“ (1989) für eine „multiple-natures in-
terpretation“ der Homonymie (im Gegensatz zu einer „multiple-senses
interpretation“) plädiert: „the most straightforward suggestion is that ho-
monymy involves not difference of the senses of words but difference of
real natures corresponding to the word“ (160). Die Behauptung, dass das
Gute homonym ist, würde demnach nichts anderes bedeuten, als dass dem
Wort „gut“ nicht eine, sondern verschiedene und unterschiedlich zu defi-
nierende „real natures“ zugeordnet seien. 76
Die dritte Gruppe sieht das Kategorienargument nicht als ein Argu-
ment für die Homonymie des Guten, sie unterstellt also ein anderes Be-
weisziel. Diesen Weg schlägt zum Beispiel Friedemann Buddensiek in
seiner Arbeit über die Eudemische Ethik ein (1999, Kap. 3.3). Er versucht
zu zeigen, dass es beim Kategorienargument 77 nicht um das Gut-Sein ver-
schiedener Gegenstände geht, sondern um das Sein beziehungsweise die
Existenz des Guten: „Gutes ist gutes Seiendes, das als gutes Seiendes da-
durch besteht oder existiert, weil es in einem bestimmten Verhältnis zur
Idee des Guten steht, nämlich in einem solchen Verhältnis, daß diese ihm
_____________
76 Ansatzpunkt dieser Interpretation ist die Wendung „die dem Namen entsprechende
Definition des Seins“ aus der Homonymiedefinition in Cat. 1 (Ս İպ Ȝįijո ijȡ՜ȟȡȞį
ȝȪȗȡȣ ij‫׆‬ȣ ȡ՘IJȔįȣ: 1a1-2).
77 Buddensiek bezieht sich freilich auf die Version in EE I 8, die aber der aus EN I 4
hinreichend ähnlich ist, um das gleiche Argumentationsziel zu erwarten.
82 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

Existenz vermittelt“ (88). Diese „Existenzvermittlung“ (ebd.) sei aber von


einer Idee auf kategoriell verschiedenes Seiendes nicht möglich.
Jede dieser drei Gruppen steht vor eigenen Schwierigkeiten. Gegen die
dritte lässt sich zum Beispiel vorbringen, dass Aristoteles tatsächlich von
einer Verschiedenheit der logoi ausgeht (vgl. das sechste Argument), die
sich durch die kategorielle Verschiedenheit der Güter begründen lässt (vgl.
Top. I 15). Gegen die zweite Gruppe kann die Frage erhoben werden, ob
die Tatsache, dass die als gut bezeichneten „real natures“ unterschiedlich
definiert werden, wirklich einen Unterschied hêi agathon wiedergibt. 78 Für
die Beschreibung des exegetischen „Grundproblems“ sind jedoch die In-
terpretationen der ersten Gruppe am aufschlussreichsten:
Im Prinzip funktionieren die Interpretationen der ersten Gruppe alle
nach einem ähnlichen Muster. 79 Sie entwerfen (i) ein Bild der Kategorien-
lehre. Dieses basiert in erster Linie auf einer Deutung der Kategorienschrift.
Sie erörtern (ii), unter welchen Bedingungen sich die so skizzierte Katego-
rienlehre als Test für die Mehrdeutigkeit eines Ausdrucks eignet. Meist
sind dies sehr restriktive Bedingungen. Und sie versuchen (iii) die Beispie-
le aus EN I 4 so zu interpretieren, dass sie diesen restriktiven Bedingungen
genügen. Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet der bereits erwähnte
Aufsatz von Ackrill (1972/1997), da dieser seine Interpretation der Katego-
rienschrift tatsächlich offenlegt. So argumentiert Ackrill unter anderem,
dass der Ansatz von Hardie (1968), in dem gut als wesentliche Eigenschaft
der genannten Güter betrachtet wird, mit der Kategorienlehre nicht kom-
patibel sei. Denn erstens sei nicht gesagt, dass die spezifische Differenz
einer Definition in dieselbe Kategorie fällt wie die Gattung (oder wenigs-
tens an die Gattung gebunden ist), zweitens seien viele Gegenstände im
Kategorienschema nicht eindeutig zuzuordnen und drittens verfügten viele
Gegenstände über keine Definition im strikten Sinne (202-204).
Das heißt, die Diskussion entzündet sich zwar an den Beispielen aus
EN I 4, die verschiedenen Interpretationen beruhen aber letztlich auf un-
terschiedlichen Auffassungen über die Ontologie der Kategorien im All-
gemeinen. Da diese jedoch zu den umstrittensten Gebieten der Aristoteli-
schen Philosophie gehört, fehlt der Debatte eine gemeinsame Basis. 80 Die

_____________
78 Vgl. zum Verhältnis zwischen Homonymie und Wortbedeutung Shields (1999, Kap.
3.5-8).
79 Dies bezieht sich selbstverständlich nicht auf die konkrete Vorgehensweise, sondern
auf die argumentative Strategie.
80 Ich halte die Vorgehensweise der ersten Gruppe aber auch aus einem weiteren Grund
für problematisch; denn auch wenn die Kategorienlehre schwer zu interpretieren ist:
dass Aristoteles die Kategorien als Test für Homonymie gebraucht, lässt sich kaum be-
zweifeln. Dieser Test sollte daher eher als Ausgangspunkt für ein Verständnis der Ka-
2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4) 83

Interpretation des Kategorienarguments wird vor allem durch dessen Ab-


hängigkeit von einer bestimmten Hintergrundtheorie erschwert.
Eine gängige Reaktion auf diese Schwierigkeiten habe ich bereits an-
gedeutet. Da fraglich ist, ob und unter welchen Bedingungen die Widerle-
gung des ideentheoretischen Ansatzes tatsächlich gelingt, konzentrieren
sich einige Interpreten auf den letzten Abschnitt des Kapitels (1096b31-
1097a14), zumal Aristoteles selbst hier die Bedeutung seiner ideenkriti-
schen Argumentation zu relativieren scheint. Er gesteht den Platonikern
hypothetisch die Existenz einer Idee des Guten zu und zeigt, dass diese
dennoch für die Ethik ohne Nutzen wäre. Daher scheint es nahe liegend,
den ersten, längeren Abschnitt des Kapitels (1096a11-b31) bei der Inter-
pretation auszuklammern. Dass dies ein Fehler wäre, wird im Folgenden
deutlich werden.

2.3.3 Eine metaethische These

Im vorhergehenden Abschnitt wurde das Problem umrissen, das hinter


den Debatten um das Kategorienargument aus EN I 4 steht. Im folgenden
Abschnitt soll eine Interpretation vorgestellt werden, die dieses Problem
umgeht, die sich also nicht von einer bestimmten Auffassung der Aristote-
lischen Semantik oder der Ontologie der Kategorien abhängig macht. Wie
im Fall von Kapitel I 1 werde ich also nicht eine Lösung der dargestellten
Schwierigkeiten präsentieren, sondern versuchen, den Text auf andere
Weise für die Interpretation der Ethik fruchtbar zu machen.
Der Grundgedanke dieser Interpretation besteht aus zwei Aspekten:
(i) Wir sollten die in der ersten Hälfte der Platonkritik geäußerten Thesen,
insbesondere die These zu den unterschiedlichen Definitionen des Guten,
auch dann ernst nehmen, wenn wir deren theoretische Voraussetzungen
nicht vollständig nachvollziehen können oder sogar für falsch halten.
(ii) Wir sollten versuchen, diese „metaethischen“ Thesen mit dem Kontext
in Verbindung zu bringen, in dem die Platonkritik erscheint. Wie bei den
Kapiteln I 2 und I 3 möchte ich zeigen, dass die Platonkritik eine Beurtei-
lung des zu Beginn von Kapitel I 1 stipulierten teleologischen Ansatzes
enthält.
Um darzustellen, wie sich dieser Vorschlag zu den oben skizzierten
Debatten verhält, ist es hilfreich, zunächst noch einmal einen Blick auf das
Kategorienargument zu werfen:

_____________
tegorienlehre dienen und nicht vor dem Hintergrund einer Interpretation beurteilt
werden.
84 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

Da aber das Gute in ebenso vielfacher Weise ausgesagt wird wie das Seiende –
denn es wird sowohl in der (Kategorie der) Substanz ausgesagt, zum Beispiel der
Gott und die Vernunft, als auch in der (Kategorie der) Qualität, die Tugenden,
und in der (Kategorie der) Quantität, das Maßvolle, und in der (Kategorie der)
Relation, das Nützliche, und in der (Kategorie der) Zeit, der rechte Augenblick,
und in der (Kategorie des) Ortes, der richtige Aufenthalt –, ist klar, dass es wohl
kein gemeinsames und allgemeines und einheitliches (Gutes) geben dürfte; denn
es würde sonst nicht in allen Kategorien ausgesagt, sondern nur in einer einzigen.
(1096a23-29)
Eine mehr oder weniger „neutrale“ Beschreibung dieses Arguments, das
heißt eine Beschreibung, die ohne weitreichende Festlegungen über dessen
Hintergrundannahmen auskommt, könnte sich an folgenden Beobach-
tungen orientieren:
(1) Gegenstand des Arguments ist das Gute (tagathon). Es fällt auf,
dass hier wie im Rest des Kapitels keine Definition oder allgemei-
ne Charakterisierung des Guten angeführt wird, sondern aus-
schließlich Beispiele für Güter. Diese Beispiele, etwa Vernunft,
Tugend oder das Nützliche, sind aus zahlreichen Kontexten ver-
traut und dürften als besonders unkontrovers gelten.
(2) Aristoteles ordnet diese Beispiele für Güter, ebenso wie im Argu-
ment von der Reihung und im Wissenschaftsargument, in das
Schema der Kategorien ein, das wir aus anderen seiner Schriften
kennen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er versucht, dieses
Schema für die Zwecke der Ethik zu modifizieren. Es zeigt sich,
dass das Gute in allen Kategorien ausgesagt wird.
(3) Die Einordnung in das Schema der Kategorien soll die Frage be-
antworten, ob es eine einheitliche Definition des Guten gibt. Wie
erwähnt ist dabei vorausgesetzt, dass isachôs legetai tôi onti eine
hinreichende Bedingung für pollachôs legetai darstellt. Die entspre-
chende semantische Theorie wird im Kontext von EN I 4 aller-
dings nicht dargestellt.
Wie wir gesehen haben, dreht sich die Debatte um das Kategorienargu-
ment vor allem um die Beobachtungen (2) und (3). Es besteht Uneinig-
keit darüber, wie die Einordnung in das Schema der Kategorien genau zu
verstehen ist und unter welchen Bedingungen diese Einordnung tatsäch-
lich semantische Konsequenzen nach sich zieht. Wie ich zeigen möchte, ist
das Kategorienargument aber auch dann aufschlussreich, wenn wir uns zu
diesen Fragen nicht positionieren, sondern allein von den drei Beobach-
tungen ausgehen. Wir müssen lediglich festhalten, dass für Aristoteles die
kategorielle Verschiedenheit der Güter semantische Konsequenzen hat,
und wir sollten überlegen, was daraus für die Untersuchung folgt. Um dies
zu verdeutlichen, werde ich einen metaethischen Text des 20. Jahrhun-
2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4) 85

derts zum Vergleich heranziehen, der offenbar ein ähnliches Anliegen wie
das Kategorienargument verfolgt. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
ergeben eine Folie für die Darstellung der Interpretation. 81

Das Kategorienargument und Richard Hares The Language of Morals

Im zweiten Teil seines Buches The Language of Morals von 1952 unter-
sucht Richard M. Hare am Beispiel von „gut“ charakteristische Eigen-
schaften wertender Ausdrücke (Kap. 5-9). Sein Ziel ist zu bestimmen, wie
sich die Semantik dieser Ausdrücke von der Semantik beschreibender
Ausdrücke unterscheidet. Dabei stellt er ein Gedankenexperiment an, das
einige interessante Ähnlichkeiten zum Kategorienargument des Aristoteles
aufweist (Abschnitt 6.2).
Ausgangspunkt des Gedankenexperiments ist die Beobachtung, dass
sich der Ausdruck „gut“ auf sehr unterschiedliche Klassen von Gegenstän-
den anwenden lässt, zum Beispiel auf Tennisschläger, Sonnenuntergänge
und Menschen. Um Aufschluss über die Frage der Semantik zu erhalten,
überlegt Hare (im Anschluss an Wittgenstein), wie sich die Verwendung
des Ausdrucks „gut“ anhand dieser Gegenstandsklassen erlernen ließe.
Hierbei stößt er auf ein Problem: Einerseits kann dieser Lernprozess nicht
so funktionieren wie beispielsweise beim Ausdruck „rot“. Denn im Fall
von „rot“ gibt es eine leicht zu identifizierende gemeinsame Eigenschaft,
so dass sich die unterschiedlichen Klassen roter Gegenstände (Feuer-
löscher, Autos, Sonnenuntergänge usw.) problemlos als Beispiele ein und
derselben Lektion begreifen lassen. Man muss diese Gegenstände einfach
betrachten, um auf ihre Gemeinsamkeit zu kommen, was bei als „gut“
bezeichneten Gegenständen dagegen nicht möglich ist. Die Semantik von
„gut“ scheint also anders zu funktionieren als die Semantik von „rot“.
Andererseits lässt sich der Lernprozess aber auch nicht mit dem Fall eines
äquivok gebrauchten Ausdrucks vergleichen – Hares Beispiel ist „fast“
(„schnell“ bzw. „fest“) –, wo jede Klasse von Gegenständen eine völlig
neue Lektion bildet. Denn wir sind durchaus in der Lage, den Ausdruck
„gut“ auch auf für uns neue Gegenstände anzuwenden. Daher scheint der
Spracherwerb von „gut“ weder mit einer einzigen Lektion für alle Gegen-
standsklassen noch mit einer je eigenen Lektion für jede einzelne Gegen-
standsklasse zu funktionieren. Anscheinend führt das Gedankenexperi-
ment in ein Dilemma.
_____________
81 Der Versuch, die Platonkritik als eine „metaethische“ Untersuchung ernst zu nehmen,
spielt in der Forschung zu EN I keine besondere Rolle. Vgl. allerdings die entspre-
chende Andeutung von R. Heinaman (1995, 2).
86 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

Hare löst dieses Dilemma, indem er zwischen den Kriterien für die
Anwendung eines Ausdrucks einerseits und der Bedeutung dieses Aus-
drucks andererseits unterscheidet. Während die Kriterien für die Anwen-
dung von „gut“ tatsächlich für jede Gegenstandsklasse neu erlernt werden
müssten, sei die einheitliche Bedeutung von „gut“ durch den Gebrauch
gewährleistet, nämlich dadurch, dass wir mit Hilfe des Ausdrucks „gut“
Gegenstände empfehlen. Hares Strategie läuft also letztlich auf die An-
wendung einer sprachpragmatischen Semantik auf Wertausdrücke hinaus.
Auch wenn das übergeordnete Beweisziel verschieden ist und unter-
schiedliche Theorien entfaltet werden, gibt es auffallende Parallelen zwi-
schen Hares Text und dem Kategorienargument aus EN I 4. Man könnte
sagen, sie näherten sich einem ähnlichen Phänomen unter einer ähnlichen
Fragestellung. Ebenso wie Hare befasst sich Aristoteles mit Beispielen für
Güter. Diese Beispiele sind so gewählt, dass die Verschiedenheit oder Un-
ähnlichkeit der Güter deutlich wird (vgl. Beobachtung 1). Ebenso wie
Hare sagt Aristoteles etwas darüber, wie sich die Verschiedenheit der Gü-
ter auf die Semantik des Guten auswirkt (vgl. Beobachtung 3). Dazu wen-
det er, ebenso wie Hare, einen Test an. Hare arbeitet mit dem Gedanken-
experiment des Spracherwerbs, Aristoteles prüft, wie sich das Gute in das
Schema der Kategorien fügt (vgl. Beobachtung 2). Der verwendete Test
hängt mit einer bestimmten semantischen Theorie zusammen. Bei Hare
wäre es eine Theorie nach dem Muster „Bedeutung gleich Gebrauch“, bei
Aristoteles eine Theorie, die in einer näher zu bestimmenden Weise vom
Schema der Kategorien abhängt.
Da Hares Text als Folie für die Beschreibung einer Perspektive dienen
soll und nicht als Folie für die inhaltliche Interpretation des Kategorienar-
guments, ist es nicht nötig, den Vergleich hier weiter zu vertiefen. Statt-
dessen können wir Folgendes festhalten:
Das Phänomen der Unähnlichkeit oder Verschiedenheit von Gütern
ist uns bereits im ersten Kapitel dieser Arbeit begegnet. Anhand von Rhet.
I 6-7 hatten wir festgestellt, dass die Klasse der von Aristoteles aufgeliste-
ten anerkannten Güter ausgesprochen heterogen ist und dass diese Hete-
rogenität zu einem Problem für die Formulierung eines einheitlichen Kri-
teriums des Guten und für einen Vergleich zwischen Gütern werden
könnte. Sollte unsere Beschreibung des Kategorienarguments zutreffen,
dann lässt sich dieses als Stellungnahme zu einer vergleichbaren Schwie-
rigkeit begreifen. Das Argument macht deutlich, welche Konsequenzen
die Verschiedenheit der Güter für eine mögliche Definition des Guten
haben könnte. Jetzt geht es also nicht um ein bloßes Kriterium, das eine
relevante Gemeinsamkeit zwischen Gütern benennt. Es geht um eine De-
finition, die bestimmten semantischen Standards genügt.
2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4) 87

Die Theorie, die diese Standards festlegt, wird in EN I 4 nicht darge-


stellt und ist insgesamt schwierig zu interpretieren. Wie ich in 2.3.2 zu
zeigen versucht habe, ist es vor allem dieser Umstand, der die Interpreta-
tion der Platonkritik blockiert. Der Vergleich mit Hare deutet aber eine
Möglichkeit an, eine relativ einfache Charakterisierung dieser Theorie zu
geben. Während Hare letztlich dafür argumentiert, dass die mangelnde
deskriptive Ähnlichkeit zwischen Gütern keine Auswirkung auf die Bedeu-
tung des Ausdrucks „gut“ hat, macht Aristoteles deutlich, dass die katego-
rielle Verschiedenheit der Güter für die Semantik des Guten entscheidend
ist. Andernfalls würde seine Herangehensweise, sein „Test“ mit Hilfe des
Schemas der Kategorien, überhaupt keinen Sinn machen. Die Platonkritik
bietet also eine „technische“ Formulierung des Problems der Verschieden-
heit der Güter. Die Verschiedenheit der Güter ist semantisch relevant (im
Sinne einer hinreichenden Bedingung), wenn die mangelnde Ähnlichkeit
eine kategorielle Verschiedenheit beinhaltet. 82 Das heißt, wie auch immer
die semantische Hintergrundtheorie im Detail funktioniert: sie legt fest,
welche Art von Ähnlichkeiten oder Unähnlichkeiten für die Definition
einer Sache relevant sein soll. Bei Hare sind dies Ähnlichkeiten im
Gebrauch, bei Aristoteles Ähnlichkeiten, die sich durch die Kategorien-
ontologie erfassen lassen.
Selbstverständlich kann man die sich im Kategorienargument andeu-
tenden Hintergrundannahmen in Frage stellen. Man kann bezweifeln,
dass die Einordnung in das Schema der Kategorien etwas über die Bedeu-
tung eines Ausdrucks sagt, ebenso wie man am Ansatz Hares bezweifeln
kann, dass sich die Bedeutung eines Ausdrucks über dessen Gebrauch
bestimmen lässt. 83 Die skizzierte Diskussion um das Kategorienargument
ist also keineswegs unangebracht. Unabhängig von dieser Diskussion ist es
aber wichtig, das grundlegende Problem zu sehen, auf das das Kategorien-
argument hinweist. Die als gut bezeichneten Gegenstände sind so ver-
schieden voneinander, dass es, vor dem Hintergrund einer als verbindlich
angesehenen semantischen Theorie, keine einheitliche Definition des Gu-
ten geben kann.
Wenn dies aber zutrifft, dann liegt es nahe zu fragen, auf welcher
Grundlage diese Gegenstände überhaupt alle als Güter bezeichnet werden
(1096b26-27). Aristoteles’ Antwort auf diese Frage kann für ein Ver-
ständnis seiner Ethik auch dann eine Rolle spielen, wenn man davon aus-

_____________
82 Aristoteles’ Definitionsproblem betrifft also nicht den Übergang vom Sein zum Sol-
len. Das Gute ist deshalb schwierig zu definieren, weil Güter voneinander sehr ver-
schieden sind, nicht weil die Definition eines Wertausdrucks grundsätzlich ausge-
schlossen ist.
83 Vgl. für eine entsprechende Kritik an Hare z.B. Searle (1969, Kap. 6).
88 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

geht, dass die Frage selbst auf falschen Voraussetzungen basiert. Im Fol-
genden werden wir uns diese Antwort etwas genauer ansehen.

Welche Gemeinsamkeit besteht zwischen Gütern?

Entscheidend ist es zunächst festzustellen, wie Aristoteles das Problem der


(kategoriellen) Verschiedenheit der Güter nicht löst, wobei uns wieder der
Ansatz Hares als Vergleich dienen kann. Hare reagiert auf die Verschie-
denheit der Güter, indem er die Bedeutung von „gut“ auf einer anderen
Ebene, nämlich auf der Ebene des Gebrauchs, ansiedelt. Auf dieser Ebene
lassen sich in seinen Augen hinreichende Gemeinsamkeiten zwischen Gü-
tern feststellen. Auf den ersten Blick scheint Aristoteles ein ganz ähnlicher
Weg offen zu stehen. Denn während auf der „ontologischen“ Ebene kate-
gorielle Unterschiede zwischen Gütern bestehen, lassen sich auf der teleo-
logischen Ebene Güter insgesamt als Ziele begreifen. Dies ist die Grundla-
ge des teleologischen Ansatzes, der uns seit Beginn der Nikomachischen
Ethik vertraut ist. Aristoteles könnte – so scheint es – gegen Platon einfach
auf die Überlegenheit seiner eigenen Bestimmung des Guten hinweisen
und Güter als Ziele definieren.
Tatsächlich kommt Aristoteles mit dem hypothetischen Einwand in
1096b8, also bereits einige Abschnitte vor Kapitel I 5, auf den teleologi-
schen Ansatz zurück. Er beschränkt die Untersuchung nun auf solche
Güter, die „an sich erstrebt und geschätzt werden“ (ijո ȜįȚ’ įՙijո
İțȧȜցȞıȟį Ȝįվ ԐȗįʍօȞıȟį: b10-11; vgl. b17), und wirft die Frage auf, ob
sich von diesen Gütern eine gemeinsame Idee annehmen lässt. (Die Bei-
spiele dieser Güter, nämlich Denken, Sehen sowie bestimmte Lüste und
Ehrungen, b17-18, sind uns in ähnlicher Form in den Kapiteln I 1-3
schon begegnet.) Ihre negative Antwort findet die Frage im bereits zitier-
ten sechsten Argument:
Wenn aber auch diese (gerade genannten Beispiele) zu den (Gütern) an sich ge-
hören, so wird in allen von ihnen dieselbe Definition des Guten sichtbar werden
müssen, ganz so wie in Schnee und Bleiweiß die der Weißheit. Aber die Definiti-
onen der Ehre, der Weisheit und der Lust sind verschieden und unterscheiden
sich, insofern sie Güter sind. Also ist das Gute nicht etwas Gemeinsames gemäß
einer einzigen Idee. (1096b21-26)
Wie wir in 2.3.2 festgestellt haben, macht Aristoteles in dieser Passage
unmissverständlich klar, dass auch Güter wie Ehre, Weisheit und Lust
unterschiedliche logoi hêi agatha aufweisen. Auch von den um ihrer selbst
2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4) 89

willen erstrebten Gütern gibt es keine gemeinsame Definition. 84 Implizit


bedeutet dies jedoch, dass „x ist ein um seiner selbst willen erstrebtes Ziel“
ebenfalls keine Definition von „x ist gut“ sein kann – Aristoteles schlägt
offenbar einen anderen Weg ein als Hare. Unabhängig von der antiplato-
nischen Pointe, das heißt unabhängig von der Konklusion, dass es keine
Idee des Guten gibt, beinhaltet das sechste Argument also die folgende
These:
Eine Identifikation von Gütern und Zielen bietet keine Definition des
Guten.
Der einfache Grundgedanke meiner Interpretation lautet, dies als eine
These über den teleologischen Ansatz ernst zu nehmen. Zunächst sollten
wir aber den Aristotelischen Gedankengang noch einen Schritt weiter
verfolgen.
Wenn Aristoteles dem Problem der Verschiedenheit der Güter nicht
auf ähnliche Weise begegnet wie Hare, wie begegnet er ihm dann? Genau
wie Hare glaubt Aristoteles nicht an eine bloße Äquivokation. Er hält es
für ausgeschlossen, dass Güter nur zufälligerweise den gleichen Namen
tragen und dass der sprachlichen Gemeinsamkeit keine sachliche Gemein-
samkeit korrespondiert: „Aber wie wird (das Gute) dann ausgesagt? Denn
es scheint jedenfalls nicht zu den zufällig homonymen Dingen zu gehö-
ren“ (1096b26-27). Worin aber liegt die „sachliche“ Gemeinsamkeit zwi-
schen Gütern? Hierzu sagt Aristoteles auffallend wenig:
(Tragen die Güter) aber deshalb (den gleichen Namen), weil sie von einem her-
kommen oder alle auf eines ausgerichtet sind oder vielmehr (weil sie) der Analogie
nach (eines sind)? So nämlich wie beim Körper die Sehkraft ist, so (ist) bei der
Seele die Vernunft und mithin ein anderes bei einem anderen. 85 (1096b27-29)
Die Strategie dieser drei Zeilen scheint folgende zu sein: Anstatt wie Hare
die Definition des Guten auf einer anderen Ebene anzusiedeln, versucht
Aristoteles, die „Art“ der zwischen Gütern bestehenden Gemeinsamkeit zu
_____________
84 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Aristoteles kein Argument für diese These
vorbringt. Und es erscheint höchst zweifelhaft, dass auch an dieser Stelle eine katego-
rielle Verschiedenheit der Güter vorliegen sollte. Allerdings deutet sich bereits im Ar-
gument von den Wissenschaften an, dass Aristoteles die kategorielle Verschiedenheit
als eine hinreichende, nicht aber notwendige Bedingung für das Vorliegen unter-
schiedlicher logoi betrachtet: „Da es von dem, das gemäß einer einzigen Idee (ausge-
sagt wird) auch nur eine Wissenschaft (gibt), dürfte es auch von allen Gütern (nur)
eine einzige Wissenschaft geben; nun sind es aber viele schon bei dem, was unter eine
einzige Kategorie fällt“ (Ԛʍıվ ij‫׭‬ȟ Ȝįijո ȞȔįȟ ԼİȒįȟ ȞȔį Ȝįվ ԚʍțIJijȓȞș, Ȝįվ ij‫׭‬ȟ ԐȗįȚ‫׭‬ȟ
ԑʍȑȟijȧȟ Բȟ Ԓȟ ȞȔį ijțȣ ԚʍțIJijȓȞș· ȟ‫ף‬ȟ İ’ ıԼIJվ ʍȡȝȝįվ Ȝįվ ij‫׭‬ȟ ՙʍր ȞȔįȟ ȜįijșȗȡȢȔįȟ:
a29-32). Vgl. auch das Beispiel der Gesundheit aus Met. ī 2, 1003a34-b4.
85 Ԑȝȝ’ ԖȢչ ȗı ij‫ ׮‬ԐĴ’ ԛȟրȣ ıՂȟįț Ԯ ʍȢրȣ ԥȟ ԕʍįȟijį IJȤȟijıȝı‫ה‬ȟ, Ԯ Ȟֻȝȝȡȟ Ȝįij’
Ԑȟįȝȡȗտįȟ; թȣ ȗոȢ Ԛȟ IJօȞįijț ՐȦțȣ, Ԛȟ ȦȤȥ‫ ׇ‬ȟȡ‫ף‬ȣ, Ȝįվ Ԕȝȝȡ İռ Ԛȟ Ԕȝȝ‫׫‬.
90 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

benennen. Wenn es sich nicht um eine Gemeinsamkeit handeln kann, die


in einer einheitlichen Definition zum Ausdruck kommt, die Namens-
gleichheit aber kein bloßer Zufall sein soll, dann muss die Namensgleich-
heit durch eine andere Art der Gemeinsamkeit erklärt werden. Die Be-
merkungen zu dieser Gemeinsamkeit scheinen aber unklar und wenig
hilfreich. Anstatt sie einfach zu benennen, führt Aristoteles drei Kandida-
ten an, von denen lediglich der dritte durch ein Beispiel erläutert wird. „It
is unfortunate, but telling, that Aristotle shows little interest in proposing
his own positive account of our use of the word ‚good’. His remarks on
the topic are brief and cryptic“ (Pakaluk 2005, 67).
Schauen wir uns zunächst die drei Relationen „von einem her“ (aph’
henos), „auf eines hin“ (pros hen) und „der Analogie nach“ (kat’ analogian)
etwas näher an. Da die Ausdrücke „von einem herkommen“ (aph’ henos
einai) und „auf eines ausgerichtet sein“ (pros hen syntelein) in den zitierten
Zeilen nicht näher erläutert werden, besteht über ihre genaue Interpretati-
on keine Einigkeit. Die Formel pros hen legt zweifellos den Vergleich mit
der Metaphysik nahe, wo erst der Nachweis einer bestimmten pros hen-
Relation die Möglichkeit einer Wissenschaft vom Seienden als Seienden
sicherstellt (vgl. z.B. Met. ī 2, 1003b5-19). Da alles, was „seiend“ genannt
wird, entweder selbst Substanz (ousia) ist oder in irgendeiner Form – zum
Beispiel als Eigenschaft (ʍչȚȡȣ) – von der Substanz abhängt, kann sich die
Ontologie auf die Untersuchung der ousia konzentrieren (vgl. Z 1,
1028b2-4). Es ist jedoch umstritten, ob Aristoteles in EN I 4 tatsächlich
das gleiche Theorem im Sinn hat 86 oder ob er pros hen hier in einer weite-
ren Bedeutung gebraucht. 87 Ebenso umstritten ist, ob aph’ henos und pros
hen für unterschiedliche Konzepte stehen 88 oder ob sie dieselbe Beziehung
aus unterschiedlicher Perspektive betrachten. 89 Eine genaue Beantwortung
dieser Fragen scheint vor allem im Hinblick auf die chronologische Ein-
ordnung der Nikomachischen Ethik interessant. Denn der Hinweis auf die
pros hen-Relation – er fehlt in der Platonkritik der Eudemischen Ethik –
könnte ein Indiz dafür sein, dass die Nikomachische Ethik die mittleren
_____________
86 Dagegen argumentiert z.B. Fortenbaugh (1966), der in den Wendungen aph’ henos
einai und pros hen syntelein das Konzept einer generischen Gemeinsamkeit angespro-
chen sieht. Nachdem Aristoteles allerdings bereits auf die kategorielle Verschiedenheit
der Güter hingewiesen hat, scheint es wenig plausibel, dass er eine generische Gemein-
samkeit überhaupt noch in Betracht ziehen sollte.
87 So z.B. Broadie/Rowe (2002, 272).
88 So könnte aph’ henos für die Paronymie stehen, die üblicherweise durch die Präpositi-
on apo (tinos) gekennzeichnet wird; vgl. z.B. Cat. 1: „Paronym aber heißen Dinge, die
ihre Bezeichnung von etwas anderem her, mit einem Unterschied in der Endung, er-
halten“ (ʍįȢȬȟȤȞį İպ ȝȒȗıijįț ՑIJį ԐʍȪ ijțȟȡȣ İțįĴȒȢȡȟijį ij‫ ׇ‬ʍijȬIJıț ijռȟ Ȝįijո
ijȡ՜ȟȡȞį ʍȢȡIJșȗȡȢȔįȟ Ԥȥıț: 1a12-15).
89 So z.B. Joachim (1951, 46: FN 6).
2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4) 91

Bücher der Metaphysik voraussetzt. (So argumentiert jedenfalls Owen


1960.)
In sachlicher Hinsicht dürfte es dagegen ausreichen, sich die grundle-
gende Alternative zu vergegenwärtigen, die zwischen den Relationen aph’
henos und pros hen auf der einen Seite und der Relation kat’ analogian auf
der anderen Seite besteht. In den ersten beiden Fällen („von einem her“,
„auf eines hin“) gibt es offensichtlich einen Bezugspunkt (hen), von dem
her sich die anderen Aussageweisen verstehen lassen – wie auch immer die
durch pros und apo gekennzeichneten Relationen genau zu interpretieren
sind. Im Fall einer Analogie liegt dagegen eine strukturelle Gleichheit, eine
Gleichheit der Verhältnisse vor: „So nämlich wie beim Körper die Sehkraft
ist, so (ist) bei der Seele die Vernunft und mithin ein anderes bei einem
anderen (allo en allôi)“ (1096b28-29). Die in diesem Beispiel angedeutete
Gemeinsamkeit zwischen der Sehkraft (ՐȦțȣ) und der Vernunft (ȟȡ‫ף‬ȣ)
besteht darin, dass beide zu einem jeweils verschiedenen Gegenstand in
der gleichen Relation stehen: A (die Sehkraft) verhält sich zu C (dem Kör-
per) wie B (die Vernunft) zu D (der Seele) (թȣ Ս į ʍȢրȣ ijրȟ ȗ, Ս Ȗ ʍȢրȣ
ijրȟ İ: EN V 6, 1131b6-7).90 Die Allgemeinheit dieser Relation wird
durch die Wendung „ein anderes bei einem anderen“ (allo en allôi) ausge-
drückt, die insofern auffällig ist, als sie nicht die Relation selbst benennt –
diese Benennung bleibt sogar aus –, sondern pauschal auf weitere Paare
von Gegenständen verweist. Das heißt, die unterschiedlichen Aussagewei-
sen sind bei der Analogie zwar durch eine Gemeinsamkeit miteinander
verknüpft, sie stehen aber im Prinzip gleichberechtigt nebeneinander.
Um diese wichtige Alternative noch einmal auf den Punkt zu bringen:
Im Fall von aph’ henos und pros hen sind die verschiedenen Aussageweisen
a1, a2, a3 ... auf einen gemeinsamen Fokus a0 bezogen. Dabei können zwi-
schen dem Fokus a0 und den Aussageweisen a1, a2, a3 ... durchaus unter-
schiedliche Relationen bestehen, solange es sich um solche Relationen
handelt, die eine Abhängigkeit von a0 beschreiben (vgl. die Beispiele sol-
cher Relationen aus Met. ī 2, 1003b7-10). Der Ausdruck kat’ analogian
weist dagegen auf eine identische Relation hin, die allerdings die Aussage-
weisen a1, a2, a3 ... nicht mit einem gemeinsamen Fokus verknüpft, son-
dern mit jeweils verschiedenen Gegenständen b1, b2, b3 ... (für jedes a gibt
es ein eigenes b: allo en allôi).
Streng genommen lässt Aristoteles die Entscheidung zwischen den drei
Möglichkeiten aph’ henos, pros hen und kat’ analogian in 1096b26-31
offen. Sie wird einer anderen Untersuchung vorbehalten: „Aber vielleicht
_____________
90 „Der Analogie nach (eins ist das), was sich ebenso verhält wie ein anderes zu einem
andern (ՑIJį Ԥȥıț թȣ Ԕȝȝȡ ʍȢրȣ Ԕȝȝȡ)“ (Met. ǻ 6, 1016b34-35; vgl. Top. I 17,
108a7 ff.).
92 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

muss man es vorerst (ijր ȟ‫ף‬ȟ) dabei belassen. Denn hierüber Genaueres zu
sagen dürfte wohl einer anderen philosophischen Disziplin angemessener
sein“ (b30-31). Liest man die Passage jedoch in ihrem Kontext, dann wird
schnell deutlich, welche Lösung Aristoteles präferiert.
Auf den ersten Blick ist man sicher versucht, die drei Relationstypen
auf das Kategorienargument zu beziehen. Denn in der Metaphysik reagiert
Aristoteles mit der pros hen-Relation auf die kategorielle Verschiedenheit
des Seienden (vgl. Met. Z 1, 1028a10-15). Ob Aristoteles diese Relation
auch für die kategorielle Verschiedenheit des Guten ins Spiel bringen
würde, kann auf der Basis von EN I 4 aber nicht gesagt werden. Der Text
enthält hierzu keinerlei Hinweis.
Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass es nicht nötig ist,
hierüber eine Festlegung zu treffen. Denn bei näherem Hinsehen scheint
es angemessener, die drei Relationstypen nicht auf das Gute in den unter-
schiedlichen Kategorien, sondern auf die an sich erstrebten Güter zu be-
ziehen, von denen im unmittelbar vorausgehenden sechsten Argument die
Rede gewesen ist. Die Frage „Aber wie wird (das Gute) dann ausgesagt?“
(Ԑȝȝո ʍ‫׭‬ȣ İռ ȝջȗıijįț: 1096b26) schließt jedenfalls unmittelbar an die
Feststellung an, dass die logoi dieser Güter verschieden sind (b24-25). Und
die Beispiele Sehkraft (ՐȦțȣ) und Vernunft (ȟȡ‫ף‬ȣ) aus der Erläuterung der
Analogie (b29) scheinen die Beispiele für an sich erstrebte Ziele Sehen
(ՍȢֻȟ) und Denken (ĴȢȡȟı‫ה‬ȟ) aufzunehmen (b17). 91
Folgt man dieser Deutung und bezieht die Alternative aph’ henos, pros
hen und kat’ analogian auf Güter als Ziele, dann spricht alles dafür, dass
Aristoteles die Gemeinsamkeit kat’ analogian für die richtige Lösung hält.
Zum einen wurde bereits festgestellt, dass der Ausdruck „Ziel“ relational
ist (vgl. 2.2.2). Daher liegt es nahe, die teleologische Gemeinsamkeit als
die einer Relation aufzufassen, was schon für sich genommen auf eine
Analogie hindeuten würde. Zum anderen ist das in 1096b28-29 präsen-
tierte Muster zur Darstellung der Analogie: „So nämlich wie beim Körper
die Sehkraft ist, so (ist) bei der Seele die Vernunft, und mithin ein anderes
bei einem anderen“ (թȣ ȗոȢ Ԛȟ IJօȞįijț ՐȦțȣ, Ԛȟ ȦȤȥ‫ ׇ‬ȟȡ‫ף‬ȣ, Ȝįվ Ԕȝȝȡ İռ
Ԛȟ Ԕȝȝ‫)׮‬, im Kontext des teleologischen Ansatzes omnipräsent. Ein ähnli-
ches Muster findet sich bereits in den ersten beiden Kapiteln von Buch I,
zum Beispiel:

_____________
91 Da Aristoteles auch in den sich anschließenden Argumenten (vii) und (viii) von er-
strebten Gütern spricht (vgl. 1096b34 ff.), scheint sich die Perspektive ab 1096b8 ins-
gesamt verlagert zu haben. Daher liegt es nicht unbedingt nahe, die Zeilen b26-29 auf
das Kategorienargument zu beziehen.
2.3 Die ideentheoretische Alternative (EN I 4) 93

Da es aber viele Handlungen gibt und (viele) Künste und Wissenschaften, gibt es
auch viele Ziele; denn (Ziel) der Heilkunst ist die Gesundheit, (Ziel) der Schiffs-
baukunst das Schiff, (Ziel) der Strategik der Sieg, (Ziel) der Ökonomik der
Reichtum. (I 1, 1094a7-9) 92
Denn die einen (nennen) etwas Offensichtliches und Bekanntes, zum Beispiel
Lust oder Reichtum oder Ehre, andere anderes – oft aber auch derselbe Verschie-
denes; denn wenn er krank ist, (nennt er) Gesundheit, wenn er arm ist, Reich-
tum. (I 2, 1095a22-25)
Das Gut Gesundheit verhält sich zur Heilkunst so wie das Gut Schiff zur
Schiffsbaukunst und das Gut Sieg zur Strategik. Ebenso verhält sich das
Gut Gesundheit zum Kranken wie das Gut Reichtum zum Armen. Auch
der Behandlung der Lebensformen in EN I 3 scheint das gleiche Muster
zugrunde zu liegen: Die Lust verhält sich zum Genussleben wie die Tu-
gend zum politischen Leben oder der Reichtum zum kaufmännischen
Leben usw. In allen diesen Fällen funktioniert die Darstellung der Güter
ähnlich wie im Analogie-Beispiel aus I 4. Mit Hilfe von Einzelbeispielen
wird eine strukturelle Gemeinsamkeit verdeutlicht, und durch Wendun-
gen wie „andere anderes“ (alloi d’ allo), „ein anderes eines anderen“ (allo
allou), „in einem anderen ein anderes“ (en allôi d’ allo) wird angedeutet,
dass sich diese Struktur verallgemeinern lässt. 93
Direkt im Anschluss an die Platonkritik, bei der expliziten Wiederauf-
nahme des teleologischen Ansatzes, greift Aristoteles noch einmal auf das
gleiche Darstellungsmuster zurück:
(Das Gute) scheint nämlich je nach Handlung und Kunst ein anderes zu sein.
Denn es ist ein anderes in der Heilkunst und in der Strategik und auf gleiche
Weise in den übrigen (Künsten). [...] Dies aber ist in der Heilkunst die Gesund-
heit, in der Strategik der Sieg, in der Kunst des Hausbaus das Haus, in einem an-
deren aber ein anderes. (1097a16-20) 94
Während diese Zeilen einerseits klar auf den Beginn des ersten Buches
verweisen, liegt es andererseits nahe, die Wendung en allôi d’ allo nun
explizit mit der Gemeinsamkeit kat’ analogian in Verbindung zu bringen,
_____________
92 Aristoteles spricht hier zwar von Zielen, hat aber im vorhergehenden Satz bereits Ziele
als Güter identifiziert (1094a1-3)
93 Diese Wendungen tauchen zwar nicht immer, aber doch recht häufig auf: z.B. I 2,
1095a23; I 5, 1097a16 und a20; vgl. als explizitestes Beispiel die bereits zitierte Passa-
ge EE I 8, 1218a30-33: „Zu behaupten, dass alles Seiende ein und dasselbe Gut ver-
folge, ist nicht wahr. Denn jedes einzelne (Seiende) erstrebt ein eigenes Gut, das Auge
(erstrebt das) das Sehen, der Körper Gesundheit, und auf diese Weise andere anderes
(allo allou)“.
94 ĴįȔȟıijįț Ȟպȟ ȗոȢ Ԕȝȝȡ Ԛȟ Ԕȝȝׄ ʍȢȑȠıț Ȝįվ ijȒȥȟׄ· Ԕȝȝȡ ȗոȢ Ԛȟ ԼįijȢțȜ‫ ׇ‬Ȝįվ
IJijȢįijșȗțȜ‫ ׇ‬Ȝįվ ijį‫ה‬ȣ ȝȡțʍį‫ה‬ȣ ՍȞȡȔȧȣ. [...] ijȡ‫ף‬ijȡ İ’ Ԛȟ ԼįijȢțȜ‫ ׇ‬Ȟպȟ ՙȗȔıțį, Ԛȟ
IJijȢįijșȗțȜ‫ ׇ‬İպ ȟȔȜș, Ԛȟ ȡԼȜȡİȡȞțȜ‫ ׇ‬İ’ ȡԼȜȔį, Ԛȟ Ԕȝȝ‫ ׫‬İ’ Ԕȝȝȡ.
94 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

die in I 4 eingeführt wurde. 95 Die oben formulierte These über den teleo-
logischen Ansatz kann somit auf die folgende Weise ergänzt werden:
Die Identifikation von Gütern und Zielen bietet keine Definition des
Guten. Sie benennt vielmehr eine Gemeinsamkeit „der Analogie nach“
(kat’ analogian).

2.4 Der Analogie nach eins


Aristoteles betrachtet die Gemeinsamkeit zwischen den als Zielen aufge-
fassten Gütern als eine Gemeinsamkeit kat’ analogian. Dies ist die für den
Kontext der Untersuchung entscheidende metaethische These. Was aber
folgt aus dieser These? In EN I 4 wird die Untersuchung direkt nach dem
Analogie-Beispiel abgebrochen (1096b30-31). Anstatt das Homonymie-
Problem weiter zu verfolgen, wendet sich Aristoteles nun Argumenten zu,
die die „Nutzlosigkeit“ der Idee des Guten betreffen. Dass er für die ge-
nauere Bestimmung der Relation auf eine andere philosophische Disziplin
verweist (b31), bedeutet aber nicht, dass das Bestehen dieser Relation
keine Relevanz für die Ethik hätte.
W.F.R. Hardie scheint durchaus einen wichtigen Punkt zu treffen,
wenn er gegen eine Deutung im Sinne der Analogie einwendet:
Some of the commentators seem to think that this notion [the notion of analogi-
cal meaning, Ph.B.] expresses Aristotle’s own view on the question discussed. But
this is a pointless speculation unless the suggestion that the uses of good are re-
lated by analogy is significant and at least interesting. (1968, 66)
Die Feststellung, dass Aristoteles von einer analogen Gemeinsamkeit zwi-
schen Gütern ausgeht, ist erst dann interessant, wenn gezeigt werden
kann, welche Auswirkungen dies auf seine Ethik hat. Die entscheidende
Frage lautet also, was es für die Ethik bedeutet, dass zwischen Gütern eine
Gemeinsamkeit kat’ analogian besteht.
Eine erste Antwort auf diese Frage ließe sich bereits anhand der in
2.3.3 skizzierten Gegenüberstellung der Relationen kat’ analogian und pros
hen beziehungsweise aph’ henos geben. Begreift Aristoteles die Gemein-
samkeit zwischen Gütern als eine Gemeinsamkeit „von einem her“ oder
„auf eines hin“, dann kann sich die Untersuchung des Guten auf diesen
einen Bezugspunkt konzentrieren. Begreift er die Gemeinsamkeit zwischen
_____________
95 Einige Autoren, zum Beispiel Ursula Wolf (2002, 33), sehen allerdings die pros hen-
Relation als das bevorzugte Modell. Eine Interpretation der Nikomachischen Ethik, die
der Relation kat’ analogian etwas größere Aufmerksamkeit schenkt, präsentiert Otfried
Höffe (21996, 148-156).
2.4 Der Analogie nach eins 95

Gütern dagegen als eine Gemeinsamkeit „der Analogie nach“, dann muss
die Untersuchung des Guten von einer Struktur ausgehen, die an prinzi-
piell gleichberechtigten Einzelfällen vorkommt. Es liegt auf der Hand, dass
sich diese beiden Arten der Untersuchung erheblich voneinander unter-
scheiden werden.
Um diese vorläufige Antwort weiter auszuführen, dürften einige Be-
merkungen zum Konzept der Analogie bei Aristoteles hilfreich sein.
Wie bereits dargelegt, ist die Analogie eine strukturelle Gemeinsam-
keit, eine Gleichheit der Verhältnisse: „Der Analogie nach (eins ist das),
was sich ebenso verhält wie ein anderes zu einem andern (ՑIJį Ԥȥıț թȣ
Ԕȝȝȡ ʍȢրȣ Ԕȝȝȡ)“ (Met. ǻ 6, 1016b34-35). Diese Verhältnisgleichheit
spielt in unterschiedlichen Kontexten der Aristotelischen Philosophie eine
Rolle, so zum Beispiel in der Erläuterung der Ursachen und Prinzipien
(Met. ȁ 4-5), der Gerechtigkeitsdiskussion aus EN V 6 oder der Erklä-
rung der Tierorgane in De partibus animalium.
Aristoteles’ Verhältnis zur Analogie drückt sich am deutlichsten in den
Passagen aus, wo er die Analogie anderen Formen der Gemeinsamkeit
oder Ähnlichkeit gegenüberstellt. Das anschaulichste Beispiel hierfür fin-
det sich im ersten Buch der Schrift De partibus animalium. Hier wird
angesichts der Vielfalt der Lebewesen die Frage aufgeworfen, ob die für die
Wissenschaft zentrale Einteilung in Gattungen und Arten 96 eher anhand
morphologischer oder anhand funktionaler Kriterien geschehen sollte.
Aristoteles entscheidet sich für Ersteres:
Hauptsächlich sind die Gattungen durch die Formen der Teile und des ganzen
Körpers in sich differenziert, wenn immer es Ähnlichkeiten gibt, wie es zum Bei-
spiel bei der Gattung der Vögel im Verhältnis zu sich selbst der Fall ist und bei
der Gattung der Fische und bei den Cephalopoden und den Schaltieren. Denn
die Teile unterscheiden sich bei diesen Tieren nicht durch Analogieähnlichkeit,
wie bei Mensch und Fisch sich der Knochen zur Gräte verhält, sondern mehr
durch körperliche Eigenschaften, wie Größe, Kleinheit, Weichheit, Härte, Glätte,
Rauheit und derartiges, überhaupt aber durch das ‚mehr und weniger’. 97 (I 4,
644b7-15; Übers. Kullmann)

_____________
96 „Für die im Sinne der ԚπțIJijսȞș zuverlässige Erkenntnis müssen an die Stelle von
Ungefährem und Ähnlichem verbindliche Zuordnungen und Begriffsbestimmungen
treten. Das wichtigste Strukturmoment ist für Aristoteles hierbei das Art-/Gattungs-
verhältnis“ (Rapp 1992, 526).
97 ȉȥıİրȟ İպ ijȡ‫ה‬ȣ IJȥȓȞįIJț ij‫׭‬ȟ ȞȡȢȔȧȟ Ȝįվ ijȡ‫ ף‬IJȬȞįijȡȣ ՑȝȡȤ, Ԛոȟ ՍȞȡțȪijșijį ԤȥȧIJțȟ,
խȢțIJijįț ijո ȗȒȟș, ȡՃȡȟ ijր ij‫׭‬ȟ ՌȢȟȔȚȧȟ ȗȒȟȡȣ ʍȢրȣ į՘ijո ʍȒʍȡȟȚı Ȝįվ ijր ij‫׭‬ȟ ԼȥȚȫȧȟ
Ȝįվ ijո ȞįȝȑȜțȑ ijı Ȝįվ ijո ՐIJijȢıțį. Ȋո ȗոȢ ȞȪȢțį İțįĴȒȢȡȤIJț ijȡȫijȧȟ ȡ՘ ij‫ׇ‬
Ԑȟȑȝȡȗȡȟ ՍȞȡțȪijșijț, ȡՃȡȟ Ԛȟ ԐȟȚȢȬʍ‫ ׫‬Ȝįվ ԼȥȚȫȨ ʍȒʍȡȟȚıȟ ՌIJijȡ‫ף‬ȟ ʍȢրȣ ԔȜįȟȚįȟ,
Ԑȝȝո Ȟֻȝȝȡȟ ijȡ‫ה‬ȣ IJȧȞįijțȜȡ‫ה‬ȣ ʍȑȚıIJțȟ, ȡՃȡȟ ȞıȗȒȚıț ȞțȜȢȪijșijț, ȞįȝįȜȪijșijț
IJȜȝșȢȪijșijț, ȝıțȪijșijț ijȢįȥȫijșijț Ȝįվ ijȡ‫ה‬ȣ ijȡțȡȫijȡțȣ, Ցȝȧȣ İպ ij‫ ׮‬Ȟֻȝȝȡȟ Ȝįվ Գijijȡȟ.
96 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

Die Gliederung der Tiergattungen soll sich an Ähnlichkeiten in der Form


(IJȥ‫׆‬Ȟį) des Körpers und seiner Teile orientieren, so dass innerhalb der
Gattungen nur graduelle Unterschiede der körperlichen Eigenschaften
(ʍչȚș) bestehen („größer oder kleiner“, „weicher oder härter“ usw.). Da-
gegen seien Gemeinsamkeiten in der Funktion – was für den Menschen
die Knochen sind, sind für den Fisch die Gräten – als bloß analoge Ähn-
lichkeiten zwischen Gegenständen unterschiedlicher Gattungen aufzufas-
sen. 98 Aristoteles nimmt hier also eine wissenschaftstheoretische Hierarchi-
sierung unterschiedlicher Typen von Gemeinsamkeiten vor; 99 und es ist
wichtig zu sehen, dass er diese Hierarchisierung für verbindlich hält:
Man könnte die Frage stellen, warum die Menschen nicht mit einem einzigen
Namen von hörerer Allgemeinheit beide Arten von Tieren [die Wassertiere und
die Flugtiere], sie zu einer einzigen Gattung zusammenfassend, benannt haben,
die sowohl Wassertiere als auch Flugtiere umfaßt. Es gibt nämlich einige Eigen-
schaften, die diesen als auch allen anderen Lebewesen gemeinsam sind. Aber
trotzdem ist die Bestimmung in dieser Weise richtig durchgeführt worden. Denn
alle Gruppen, die sich nur nach dem Übermaß (und Mangel) und ‚dem mehr
und dem weniger’ (voneinander) unterscheiden, sind in einer einzigen (größten)
Gattung zusammengeschlossen, diejenigen aber, die nur eine Analogie aufweisen,
sind getrennt. Ich meine zum Beispiel, daß sich Vogel von Vogel durch das
‚mehr’ oder durch den Grad unterscheidet (die eine Art ist langfiedrig und die
andere Art kurzfiedrig), Fische vom Vogel aber durch die Analogie (was nämlich
für jenen die Feder ist, das ist für den anderen die Schuppe). 100 (I 4, 644a12-22;
Übers. Kullmann)

_____________
98 Vgl. hierzu Kullmann (1974, 76-79), Balme (21992, 120-122), Lennox (2001, 167-
172) sowie die ausführlichen Untersuchungen in Pellegrin (1986).
99 Dieser Punkt erscheint mir wichtig. Es geht bei dieser Hierarchisierung nicht darum,
dass bei einer analogen Gemeinsamkeit weniger gemeinsame Eigenschaften des glei-
chen Typs vorliegen, sondern dass es sich um einen anderen Typ von Gemeinsamkeit
handelt. Die Hierarchisierung hat daher etwas von einer wissenschaftstheoretischen
„Grundsatzentscheidung“ an sich.
100 ԘʍȡȢȓIJıțı İ’ Ԕȟ ijțȣ İțո ijȔ ȡ՘Ȝ ԔȟȧȚıȟ ԛȟվ ՌȟȪȞįijț ԚȞʍıȢțȝįȖȪȟijıȣ ԕȞį ԣȟ ȗȒȟȡȣ
ԔȞĴȧ ʍȢȡIJșȗȪȢıȤIJįȟ ȡԽ ԔȟȚȢȧʍȡț, Տ ʍıȢțȒȥıț ijȑ ijı ԤȟȤİȢį Ȝįվ ijո ʍijșȟո ij‫׭‬ȟ
Ș‫׬‬ȧȟ. ԪIJijț ȗոȢ Ԥȟțį ʍȑȚș Ȝȡțȟո Ȝįվ ijȡȫijȡțȣ Ȝįվ ijȡ‫ה‬ȣ Ԕȝȝȡțȣ Ș‫׬‬ȡțȣ ԕʍįIJțȟ. Ԙȝȝ’
ՑȞȧȣ ՌȢȚ‫׭‬ȣ İțȬȢțIJijįț ijȡ‫ף‬ijȡȟ ijրȟ ijȢȪʍȡȟ. ՗IJį Ȟպȟ ȗոȢ İțįĴȒȢıț ij‫׭‬ȟ ȗıȟ‫׭‬ȟ ȜįȚ’
ՙʍıȢȡȥռȟ Ȝįվ ijր Ȟֻȝȝȡȟ Ȝįվ ijր Գijijȡȟ, ijį‫ף‬ijį ՙʍȒȘıȤȜijįț ԛȟվ ȗȒȟıț, ՑIJį İ’ Ԥȥıț ijր
Ԑȟȑȝȡȗȡȟ, ȥȧȢȔȣ· ȝȒȗȧ İ’ ȡՃȡȟ ՐȢȟțȣ ՐȢȟțȚȡȣ İțįĴȒȢıț ij‫ ׮‬Ȟֻȝȝȡȟ Ԯ ȜįȚ’ ՙʍıȢȡȥȓȟ
(ijր Ȟպȟ ȗոȢ ȞįȜȢȪʍijıȢȡȟ ijր İպ ȖȢįȥȫʍijıȢȡȟ), ԼȥȚȫıȣ İ’ ՐȢȟțȚȡȣ ij‫ ׮‬Ԑȟȑȝȡȗȡȟ (Տ
ȗոȢ ԚȜıȔȟ‫ ׫‬ʍijıȢȪȟ, ȚįijȒȢ‫ ׫‬ȝıʍȔȣ). Diese Diskussion ist für das Verständnis der
Ethik aufschlussreich; denn sie bietet eine EN I 4 vergleichbare Situation. Angesichts
der Verschiedenheit einer bestimmten Klasse von Gegenständen – hier anerkannte
Güter, dort Lebewesen und ihre Teile – wird die Frage aufgeworfen, welche Gemein-
samkeiten für die Untersuchung dieser Gegenstände entscheidend sein sollen. Dabei
werden erstens verschiedene Typen von Gemeinsamkeiten einander gegenübergestellt,
und zweitens werden diese Typen beurteilt.
2.4 Der Analogie nach eins 97

Wissenschaftstheoretisch gesehen ist die analoge Gemeinsamkeit also an-


deren Formen der Gemeinsamkeit nachgeordnet. 101 Sie scheint daher ei-
nen geringeren Stellenwert zu haben. Dennoch ist es wahrscheinlich an-
gemessener, Aristoteles’ Verhältnis zur Analogie als ambivalent zu
bezeichnen. 102 Denn auch wenn die Analogie anderen Formen der Ge-
meinsamkeit nachgeordnet ist: sie ermöglicht es, Gegenstände aus unter-
schiedlichen Gattungen miteinander zu vergleichen, und bietet daher ein
hilfreiches epistemisches Werkzeug: „Man muss nicht für jedes eine Be-
griffsbestimmung suchen, sondern auch das Analoge in einem Blick verei-
nigen“ (ȡ՘ İı‫ ה‬ʍįȟijրȣ ՑȢȡȟ Șșijı‫ה‬ȟ Ԑȝȝո Ȝįվ ijր Ԑȟչȝȡȗȡȟ IJȤȟȡȢֻȟ: Met.
Ĭ 6, 1048a36-37). So kann die Analogie in den Wissenschaften eine „heu-
ristisch propädeutische Rolle“ (Rapp 1992, 538) übernehmen, indem sie
das jeweilige Untersuchungsgebiet strukturiert (vgl. An. post. II 14,
98a20-23). Und wie wir gesehen haben, bietet sie eine Erklärung für das
Vorliegen einer Namensgleichheit, wenn Gegenstände zwar unterschiedli-
che Definitionen aufweisen, eine zufällige Homonymie aber ausgeschlos-
sen werden soll.
Diese Einschätzung der Analogie schlägt sich im Umgang mit Fällen
analoger Gemeinsamkeiten nieder, was sich durch einen Vergleich mit
dem Fall einer pros hen-Relation veranschaulichen lässt:
Aristoteles benutzt das erste Kapitel aus Met. Z, um darzustellen, dass
die verschiedenen Aussageweisen des Seienden (ijր Րȟ) auf die eine Aussa-
geweise ausgerichtet sind, die das Seiende im Sinne der Substanz (ousia)
bezeichnet (1028a13-20). Die Frage „Was ist das Seiende?“ (ijտ [ԚIJijț] ijր
Րȟ) könne daher durch eine Untersuchung der Substanz beantwortet wer-
den (b2-4), die in den Büchern Z bis Ĭ dann auch folgt (vgl. ī 2,
1003a33-b18). Aristoteles kümmert sich hier also allein um die Frage nach
der ousia und lässt die anderen Aussageweisen außen vor.
Dagegen beginnt die Darstellung der Ursachen (įՀijțį) und Prinzipien
(ԐȢȥįտ) in Met. ȁ 4-5 mit folgendem Satz:

_____________
101 Diese Ordnung kommt auch in der „Einheitsreihe“ aus Met. ǻ 6 zum Ausdruck:
„Ferner ist einiges der Zahl nach eins, anderes der Art, anderes der Gattung, anderes
der Analogie nach. Der Zahl nach (ist) das (eins), dessen Stoff einer (ist), der Art nach,
dessen Begriff einer (ist), der Gattung nach das, was derselben Form der Kategorie an-
gehört, der Analogie nach, was sich ebenso verhält wie ein anderes zu einem anderen“
(Ԥijț İպ ijո Ȟպȟ Ȝįij’ ԐȢțȚȞցȟ ԚIJijțȟ ԥȟ, ijո İպ Ȝįij’ ıՂİȡȣ, ijո İպ Ȝįijո ȗջȟȡȣ, ijո İպ Ȝįij’
Ԑȟįȝȡȗտįȟ, ԐȢțȚȞ‫ ׮‬Ȟպȟ կȟ ԭ ՝ȝș Ȟտį, ıՀİıț İ’ կȟ Ս ȝցȗȡȣ ıՃȣ, ȗջȟıț İ’ կȟ ijր į՘ijր
IJȥ‫׆‬Ȟį ij‫׆‬ȣ ȜįijșȗȡȢտįȣ, Ȝįij’ Ԑȟįȝȡȗտįȟ İպ ՑIJį Ԥȥıț թȣ Ԕȝȝȡ ʍȢրȣ Ԕȝȝȡ: 1016b31-
35; vgl. Top. I 7, 103a8-14).
102 Vgl. hierzu Rapp (1992). Zum Konzept der Analogie vgl. außerdem Kullmann (1974)
und Fiedler (1978) sowie, für eine knappe Zusammenfassung, Liske (2002).
98 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

Die Ursachen und die Prinzipien sind in dem einen Sinne bei Verschiedenem
verschieden, in anderem Sinne dagegen, wenn man nämlich im allgemeinen und
der Analogie nach von ihnen spricht, bei allen dieselben. 103 (1070a31-33)
An der Ambivalenz dieses Einleitungssatzes halten die weiteren Erläute-
rungen der Kapitel ȁ 4 und 5 fest. Aristoteles wechselt hier immer wieder
zwischen Beispielen für die Verschiedenheit der Prinzipien und einer Dar-
stellung ihrer strukturellen Gemeinsamkeit hin und her (vgl. z.B.
1070b10-11; b17-18; b26-27). Während also die pros hen-Relation einen
Einzelfall hervorhebt, der dann untersucht werden kann, macht das Beste-
hen einer analogen Gemeinsamkeit eine Darstellung der Einzelfälle nicht
überflüssig.
Diese Bemerkungen sind sicher alles andere als erschöpfend; zwei
wichtige Aspekte dürften aber bereits deutlich geworden sein: (i) Aristote-
les betrachtet Analogien als eine Möglichkeit, Gemeinsamkeiten zwischen
Gegenständen zu erfassen, die in relevanter Hinsicht verschieden sind. In
relevanter Hinsicht verschieden zu sein kann zum Beispiel heißen, durch
unterschiedliche logoi definiert oder von unterschiedlichen Wissenschaften
(ԚʍțIJijսȞįț) erfasst zu werden. (ii) Aristoteles legt Wert darauf, dass die
relevante Verschiedenheit auch bei einer Beschreibung analoger Gemein-
samkeiten nicht aus dem Blick gerät. Diese Einschätzung schlägt sich be-
reits in der Darstellungsweise von Analogien nieder. Wie wir gesehen ha-
ben, wird hier die Gemeinsamkeit zwischen den Einzelfällen (die
identische Relation) in der Regel überhaupt nicht benannt. Stattdessen
wird durch Floskeln wie allo en allôi eine Verallgemeinerung angedeutet
und zugleich hervorgehoben, dass die Relata jeweils andere sind.
Unsere vorläufige Antwort auf Hardies Frage kann daher folgender-
maßen präzisiert werden: Wenn Aristoteles die Gemeinsamkeit zwischen
Gütern als eine Gemeinsamkeit „der Analogie nach“ begreift, dann muss
die Untersuchung des Guten von einer Struktur ausgehen, die an prinzi-
piell gleichberechtigten Einzelfällen vorkommt, und außerdem berück-
sichtigen, dass die Einzelfälle gegenüber der Struktur vorrangig sind. Die
Auswirkungen der These, dass Güter allo en allôi sind, dürften in der Vor-
gehensweise zu suchen sein (vgl. 3.2).

Kommen wir, um das Bisherige zusammenzufassen, ein letztes Mal auf


den Vergleich mit Richard Hares The Language of Morals zurück. Wir
hatten festgestellt, dass Hare und Aristoteles einer ähnlichen Situation
gegenüberstehen und sich mit einem vergleichbaren Problem auseinander-
setzen. Beide beschreiben die auffällige Verschiedenheit der als gut be-
_____________
103 Ȋո İ’ įՀijțį Ȝįվ įԽ ԐȢȥįվ Ԕȝȝį Ԕȝȝȧȟ ԤIJijțȟ խȣ, ԤIJijț İ’ խȣ, Ԓȟ ȜįȚցȝȡȤ ȝջȗׄ ijțȣ Ȝįվ
Ȝįij’ Ԑȟįȝȡȗտįȟ, ijį՘ijո ʍչȟijȧȟ.
2.4 Der Analogie nach eins 99

zeichneten Gegenstände, sehen die Gefahr, dass eine zufällige Homonymie


(Äquivokation) vorliegen könnte, halten dies aber für ausgeschlossen. Hare
reagiert auf dieses Problem, indem er sich einer sprachpragmatischen Se-
mantik bedient. Die Bedeutung von „gut“ würde demnach nicht in der
Beschaffenheit des als gut bezeichneten Gegenstandes, sondern im emp-
fehlenden Gebrauch des Wortes liegen. Verschieden wären lediglich die
Anwendungskriterien, die von der jeweiligen Vergleichsklasse abhängen.
Um auszuschließen, dass diese Verschiedenheit zum Problem wird, ver-
sucht Hare nachzuweisen, dass der empfehlende Gebrauch mit Blick auf
die Bedeutung von „gut“ vorrangig ist (vgl. v.a. 1952, Kap. 7-9).104
Auf den ersten Blick scheint sich für Aristoteles eine ähnliche Strategie
anzubieten. Mit der Bestimmung von Gütern als Zielen verfügt er über
eine Gemeinsamkeit, die von der sehr unterschiedlichen „Beschaffenheit“
der Güter unabhängig ist. Seine Einschätzung dieser Gemeinsamkeit ist
der Hares allerdings gerade entgegengesetzt. Denn mit Blick auf die Defi-
nition des Guten, den logos hêi agathon, soll die Gleichsetzung von Gütern
und Zielen gerade nicht vorrangig sein, sondern das Gute jeweils ein ande-
res (allo en allôi). Das Konzept der Analogie bietet Aristoteles die Mög-
lichkeit, diese Situation zu erfassen, ohne von einer Äquivokation ausge-
hen zu müssen. Es benennt eine Gemeinsamkeit, der keine einheitliche
Definition entspricht.
Auch hier gilt, dass man durchaus bezweifeln kann, ob die von Aristo-
teles vertretene Position konsistent ist. Selbst wenn man zugesteht, dass
die jeweils erstrebten Ziele und das Wissen von ihnen sehr „verschieden“
sind, muss man keineswegs behaupten, dass diese Verschiedenheit ihren
Charakter als Güter betrifft. Vielmehr könnte man darauf bestehen, dass
Aristoteles Güter als Ziele definieren müsste, wenn erstrebt zu werden
tatsächlich die einzige Gemeinsamkeit zwischen ihnen beschreibt. 105
Diese Sicht ist nach meiner Auffassung nicht völlig von der Hand zu
weisen. Auch wenn der teleologische Ansatz keine Definition des Guten
bietet, muss er zumindest eine relevante Gemeinsamkeit der Güter be-
schreiben. Andernfalls wäre nicht einzusehen, weshalb Zielhierarchien als
Basis eines wertenden Vergleichs, also eines Vergleichs von Gütern qua
Gütern, dienen könnten. Das „höchste Gut“ dürfte streng genommen
nicht als das „Beste“ bezeichnet werden. Trotzdem macht man es sich zu
einfach, wenn man sich auf diesen Einwand zurückzieht. Zum einen wäre
es sachlich gesehen unplausibel, die Bestimmung des Guten von der Be-
schaffenheit der als gut bezeichneten Gegenstände völlig abzukoppeln.
_____________
104 Dieser Aspekt ist der Ausgangspunkt der „naturalistischen“ Kritik an Hare, wie sie
etwa Philippa Foot (1961 u.ö.) unternimmt.
105 Vgl. ähnlich Woods (21992, 68) und Bostock (2000, 30f.).
100 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

Dieser Ansatz könnte dazu führen, dass sich die Anwendungskriterien des
Prädikats „x ist gut“ oder „x ist ein Gut“ willkürlich festlegen lassen, was
mit unseren Intuitionen nur schwer zu vereinbaren sein dürfte. Die Eigen-
schaft gut hängt auf die eine oder andere Weise mit weiteren Eigenschaf-
ten des als gut bezeichneten Gegenstandes zusammen. 106 Zum anderen
entgeht dem Einwand die Rolle der Platonkritik für den weiteren Verlauf
der Untersuchung. Aristoteles scheint der Auffassung zu sein, dass eine
Bestimmung des Guten als Ziel bestimmten theoretischen Standards nicht
genügt. Man kann diese Standards für falsch halten, und man kann es für
falsch halten, sie auf das Gute anzuwenden. Trotzdem kann die Aristoteli-
sche Einschätzung für die weitere Vorgehensweise entscheidend sein. Ge-
nau dies soll im dritten Kapitel dieser Arbeit gezeigt werden. 107

***
Es ist nun an der Zeit, die Beobachtungen zur Platonkritik mit den Beo-
bachtungen zu den Kapiteln I 1-3 zusammenzuführen. Am Ende von
Kapitel I 3 schien die Untersuchung in eine Sackgasse geraten zu sein (vgl.
_____________
106 Dieser Intuition versucht Hare mit dem Konzept der Supervenienz gerecht zu werden
(1952, Kap. 5.2).
107 Am Rande sei bemerkt, dass Platons Philebos eine ganz ähnliche Konstellation be-
schreibt. Die Frage, ob die Lust das Gute sei, führt hier auf das Problem, dass die als
Lust (ԭİȡȟս) bezeichneten Gegenstände voneinander sehr verschieden sind: „Denn so
einfach anzuhören ist sie (die Lust) freilich nur eins, aber vielfältige Gestalten nimmt
sie doch an, und zwar solche, die einander auf gewisse Weise unähnlich sind“ (ԪIJijț
ȗչȢ, ԐȜȡփıțȟ Ȟպȟ ȡ՝ijȧȣ ԑʍȝ‫׭‬ȣ, ԥȟ ijț, ȞȡȢĴոȣ İպ İսʍȡȤ ʍįȟijȡտįȣ ıՀȝșĴı Ȝįտ ijțȟį
ijȢցʍȡȟ ԐȟȡȞȡտȡȤȣ Ԑȝȝսȝįțȣ: 12c). Aufgrund dieser Unähnlichkeit sei zweifelhaft, ob
man alle Lüste gleichermaßen als gut bezeichnen könne: „ȅbgleich du zugibst, dass sie
einander unähnlich sind, nennst du sie dennoch alle gut“ (ՑȞȧȣ ʍչȟijį IJւ
ʍȢȡIJįȗȡȢıփıțȣ ԐȗįȚո į՘ijչ, ՍȞȡȝȡȗ‫׭‬ȟ ԐȟցȞȡțį ıՂȟįț: 13b). Streng genommen
müsste man daher alle Arten der Lust genau bestimmen, um beurteilen zu können, ob
die Lust gut ist. Um die Eingangsfrage dennoch zu entscheiden, biete sich aber eine
„zweitbeste Möglichkeit“ (İıփijıȢȡȣ ʍȝȡ‫ף‬ȣ: 19c) an. Diese zweitbeste Möglichkeit be-
steht in verschiedenen Kriterien des Guten, durch die sich Kandidaten für das Gute
prüfen lassen. So ist das Gute (i) „vollendet“ (ijջȝıȡȟ), (ii) „genügend“ (ԽȜįȟցȟ), und
(iii) „alles Erkennende jagt danach und strebt, es zu gewinnen und für sich zu haben“
(ʍֻȟ ijր ȗțȗȟ‫׭‬IJȜȡȟ į՘ijր ȚșȢıփıț Ȝįվ ԚĴտıijįț ȖȡȤȝցȞıȟȡȟ ԛȝı‫ה‬ȟ Ȝįվ ʍıȢվ į՘ijր
ȜijսIJįIJȚįț: 20d). (Vgl. zu der Ähnlichkeit zwischen diesen und den in EN I 5 vorge-
stellten Kriterien Cooper 2003.) Bemerkenswert an diesen Passagen ist nicht nur, dass
Platon, ähnlich wie Aristoteles, auf die relevante Verschiedenheit der als gut bezeich-
neten Gegenstände hinweist. Bemerkenswert ist auch, dass Platon die teleologischen
Kriterien geringer schätzt – er bezeichnet sie, wie erwähnt, als „zweitbeste Möglich-
keit“ – und ihren Wert vor allem darin sieht, allgemeine Aussagen über das Gute zu
treffen, ohne eine genaue Bestimmung des Einzelfalls vornehmen zu müssen. Wenn
die vorliegende Deutung von EN I 1-4 zutrifft, dann ist Aristoteles’ Einschätzung
dem durchaus vergleichbar. Denn auch für Aristoteles vermittelt die Identifikation
von Gütern und Zielen kein Wissen über das Gute.
2.4 Der Analogie nach eins 101

2.2.2). Aristoteles war auf eine Reihe von Gütern gestoßen, die zwar alle
„höchste Güter“ sind, keines davon schien aber als Bestimmung des „ge-
suchten Guts“ in Frage zu kommen. Der vorgeschlagene Interpretations-
ansatz lautete, diesen Befund auf den zu Beginn der Untersuchung stipu-
lierten gütertheoretischen Ansatz zu beziehen. Demnach würde die
Identifikation von Gütern und Zielen in eine „relativistische“ Konzeption
der Güter münden; und es gäbe Gegenstände, die (höchste) Ziele sind,
aber andere Kriterien des Guten nicht erfüllen.
Wenn die hier vorgeschlagene Interpretation der Platonkritik zutrifft,
dann kann diese in zweifacher Hinsicht als eine Reaktion auf EN I 3 gele-
sen werden. Zum einen wird deutlich, dass der ideentheoretische Ansatz
keine Alternative bietet. Als eine Theorie des Guten scheitert dieser Ansatz
aus prinzipiellen Gründen (vgl. 2.3.1); hierin hat die übliche Sicht der
Platonkritik zweifellos Recht. Der Weg aus der Sackgasse führt also nicht
über die Idee des Guten. Zum anderen wird deutlich, dass auch die als
Ziele aufgefassten, „relativen“ Güter keine gemeinsame Definition aufwei-
sen (vgl. 2.3.3). Wenn sich die ethische Untersuchung an einer teleologi-
schen Konzeption des Guten orientiert, dann hat sie es mit Gütern zu tun,
die zwar durch eine strukturelle Gemeinsamkeit verbunden sind, sich aber
ansonsten in relevanter Hinsicht unterscheiden.
Zu Beginn des Kapitels I 5 kommt Aristoteles auf die Frage zurück,
was das gesuchte Gut sei (1097a15-16). Seine bereits zitierte Antwort
lautet:
(Das Gute) scheint nämlich je nach Handlung und Kunst ein anderes zu sein.
Denn es ist ein anderes in der Heilkunst und in der Strategik und auf gleiche
Weise in den übrigen (Künsten). Was ist nun das Gut jeder einzelnen (Handlung
und Kunst)? Etwa das, um dessentwillen das Übrige getan wird? Dies aber ist in
der Heilkunst die Gesundheit, in der Strategik der Sieg, in der Kunst des Haus-
baus das Haus, in einem anderen aber ein anderes, doch in jeder Handlung und
in jedem Entschluss (ist es) das Ziel; denn um seinetwillen tun alle das Übrige. 108
(1097a16-22)
Wie wir schon in unserer groben Übersicht festgestellt haben (vgl. 2.1),
bedeutet diese Antwort eine explizite Rückkehr zum teleologischen An-
satz. Der Blick auf diesen Ansatz hat sich nach den Erfahrungen von Kapi-
tel I 4 jedoch verändert. Der Hinweis „(Das Gute) scheint nämlich je nach
Handlung und Kunst ein anderes zu sein“, der bereits in I 1 anklingt („Da
es aber viele Handlungen gibt und [viele] Künste und Wissenschaften,
_____________
108 ĴįȔȟıijįț Ȟպȟ ȗոȢ Ԕȝȝȡ Ԛȟ Ԕȝȝׄ ʍȢȑȠıț Ȝįվ ijȒȥȟׄ· Ԕȝȝȡ ȗոȢ Ԛȟ ԼįijȢțȜ‫ ׇ‬Ȝįվ
IJijȢįijșȗțȜ‫ ׇ‬Ȝįվ ijį‫ה‬ȣ ȝȡțʍį‫ה‬ȣ ՍȞȡȔȧȣ. ijտ ȡ՞ȟ ԛȜչIJijșȣ ijԐȗįȚցȟ; Ԯ ȡ՟ ȥչȢțȟ ijո ȝȡțʍո
ʍȢչijijıijįț; ijȡ‫ף‬ijȡ İ’ Ԛȟ ԼįijȢțȜ‫ ׇ‬Ȟպȟ ՙȗȔıțį, Ԛȟ IJijȢįijșȗțȜ‫ ׇ‬İպ ȟȔȜș, Ԛȟ ȡԼȜȡİȡȞțȜ‫ ׇ‬İ’
ȡԼȜȔį, Ԛȟ Ԕȝȝ‫ ׫‬İ’ Ԕȝȝȡ, Ԛȟ ԑʍչIJׄ İպ ʍȢչȠıț Ȝįվ ʍȢȡįțȢջIJıț ijր ijջȝȡȣǝ ijȡփijȡȤ ȗոȢ
ԥȟıȜį ijո ȝȡțʍո ʍȢչijijȡȤIJț ʍչȟijıȣ.
102 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

gibt es auch viele Ziele“: 1094a6-8), erhält ein besonderes Gewicht, da wir
nun wissen, dass die Verschiedenheit der Güter relevant ist. 109 Wir verfü-
gen über eine Einschätzung der Identifikation von Gütern und Zielen, an
die die weitere Untersuchung anknüpfen kann.

2.5 Fazit
In diesem Kapitel wurde der erste Teil der gütertheoretischen Lektüre von
EN I vorgestellt. Es sollte gezeigt werden, dass die Kapitel I 1-5 eine Theo-
rie des Guten entwickeln, die auf die Bedürfnisse der Ethik zugeschnitten
ist. Was damit gemeint ist, dürfte inzwischen deutlich geworden sein. Die
ersten fünf Kapitel der Nikomachischen Ethik entwickeln insofern eine
„Theorie des Guten“, als sie eine Einschätzung des teleologischen Ansatzes
enthalten, der am Beginn der Abhandlung lediglich stipuliert wird. Nach
dieser Einschätzung bietet der teleologische Ansatz zwar die Möglichkeit,
Güter miteinander zu vergleichen, und er stellt ein Kriterium des höchsten
Guts bereit (I 1). Zugleich bringt er aber eine „relativistische“ Vielzahl von
Gütern hervor (I 2-3), die lediglich durch eine strukturelle Gemeinsamkeit
zusammengehalten wird. Die als Ziele aufgefassten Güter unterscheiden
sich, insofern sie Güter sind (hêi agatha) (I 4). Wer sich für einen teleolo-
gischen Ansatz entscheidet, weiß nach EN I 1-5, worauf er sich einzustel-
len hat.
Außerdem dürfte deutlich geworden sein, inwiefern das in Kapitel 1
beschriebene Problem der Verschiedenheit der Güter den Hintergrund der
Argumentation von EN I 1-5 bildet. Etwas vereinfacht gesprochen wird in
EN I 1-5 die Bestimmung von Gütern als Zielen mit dieser Verschieden-
heit konfrontiert. Dabei hebt Aristoteles zum einen hervor, dass es noch
weitere Kriterien des Guten gibt, die bei der Bestimmung des „gesuchten
Guts“ berücksichtigt werden müssen. (Dies geschieht nicht nur in Kapitel
I 3, sondern, wie wir bereits zu Beginn dieser Untersuchung gesehen ha-
ben, auch in Kapitel I 5; vgl. 1.2.) Zum anderen macht er deutlich, dass
der teleologische Ansatz relevante Unterschiede zwischen Gütern „ver-
deckt“. Aristoteles’ Verhältnis zum teleologischen Ansatz ist also alles an-
dere als unreflektiert.

_____________
109 Zu den wenigen Autoren, die diesen Unterschied erwähnen, zählt C.J. Rowe: „The
argument of the first part of chapter 5 (up to 1097a24) bears a superficial resemblance
to that of chapter 1; but it is in fact quite distinct from it. Aristotle still has in mind
here his rejection of the form in chapter 4: different sciences, he is saying, have differ-
ent goods (sc. not the same one, as the Platonic view suggests)” (1971, 29).
2.5 Fazit 103

Zum Abschluss dieses Kapitels möchte ich auf einen prinzipiellen


Einwand zu sprechen kommen, der gegen die gütertheoretische Lektüre
von EN I 1-5 erhoben werden könnte (s.o., S. 64, FN 50). Dieser Ein-
wand lautet: Der Begriff der eudaimonia ist schon „an sich“ mit dem eines
höchsten Ziels verbunden. 110 Daher kann die Entscheidung für einen te-
leologischen Ansatz nicht alleine von gütertheoretischen Erwägungen ab-
hängen. Sie ist vielmehr bereits durch diesen Begriff vorgegeben. Aristote-
les fragt von Anfang an nach dem obersten Ziel menschlichen Handelns
und stellt fest, dass dieses oberste Ziel die eudaimonia ist, 111 die sich als
Ausübung menschlicher Tugenden bestimmen lässt.
Dass der Begriff der eudaimonia eng mit dem Begriff eines höchsten
Ziels verbunden ist, lässt sich kaum bestreiten. Ich stimme daher zu, dass
die Güterkonzeption einer „eudaimonistischen Ethik“ nicht beliebig ist.
Der zweite Teil der Platonkritik weist ja ausdrücklich darauf hin, dass ein
Gut gesucht wird, das für den Menschen durch Handlungen zu verwirkli-
chen (ʍȢįȜijցȟ) oder erwerbbar ist (Ȝijșijցȟ) (I 4, 1096b34-35). Die The-
se, dass die eudaimonia das höchste Gut ist, lässt sich daher nicht ohne
weiteres von der These trennen, dass die eudaimonia ein höchstes Stre-
bensziel bildet.
In Abschnitt 2.2.1 haben wir festgestellt, dass der Beginn der Nikoma-
chischen Ethik die Identifikation von Gütern und Zielen eher stipuliert als
begründet. Diese Feststellung sollte aber ausdrücklich nicht so verstanden
werden, dass sich die genannte Identifikation überhaupt nicht begründen
lässt. Tatsächlich könnte ein Argument für den teleologischen Ansatz im
gerade beschriebenen Zusammenhang zwischen der eudaimonia und dem
höchsten Ziel liegen. Dennoch kann auf den Einwand Folgendes entgeg-
net werden: Auch wenn sich eine Gleichsetzung der eudaimonia mit dem
höchsten Ziel aus unterschiedlichen Gründen nahe legt, ist die Frage legi-
tim, ob diese Gleichsetzung auch deren Status als höchstes Gut angemes-
sen wiedergibt. Denn es lässt sich kaum leugnen, dass ein teleologischer
_____________
110 Dies wird v.a. in I 5 deutlich, wo Aristoteles explizit darauf hinweist, dass die eudai-
monia nach allgemeiner Auffassung das Kriterium des höchsten Ziels erfüllt: „Diese
nämlich wählen wir stets um ihrer selbst willen und niemals um einer anderen Sache
willen“ (ijįփijșȟ ȗոȢ įԽȢȡփȞıȚį Ԑıվ İț’ į՘ijռȟ Ȝįվ ȡ՘İջʍȡijı İț’ Ԕȝȝȡ: 1097b1; vgl.
auch I 12, 1102a2-3 und X 6, 1176a31-32); vgl. außerdem die entsprechende Passage
in Platons Symposion: „Denn durch den Besitz des Guten [...] sind die Glücklichen
glücklich. Und hier bedarf es nun keiner weiteren Frage mehr, weshalb doch der
glücklich sein will, der es will, sondern die Antwort scheint vollendet zu sein“ (ȁijսIJıț
ȗչȢ [...] ԐȗįȚ‫׭‬ȟ ȡԽ ı՘İįտȞȡȟıȣ ı՘İįտȞȡȟıȣ, Ȝįվ ȡ՘Ȝջijț ʍȢȡIJİı‫ ה‬ԚȢջIJȚįțǝ ‚Ձȟį ijտ İպ
Ȗȡփȝıijįț ı՘İįտȞȧȟ ıՂȟįț Ս ȖȡȤȝցȞıȟȡȣ;’ǝԐȝȝո ijջȝȡȣ İȡȜı‫ ה‬Ԥȥıțȟ ԭ ԐʍցȜȢțIJțȣ:
205a).
111 Und nicht die Idee des Guten: Dies ist die von Roche (1995) vertretene Interpre-
tation.
104 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

Ansatz als Gütertheorie gewisse Schwächen aufweist. Außerdem kann über


die eudaimonia auch qua Gut mehr gesagt werden, als dass sie ein oberstes
Ziel des Handelns ist (vgl. I 3 und I 5). Dass sich Aristoteles aus prinzi-
piellen Gründen für eine teleologische Perspektive entscheidet, muss also
nicht bedeuten, dass er dieser Perspektive völlig unkritisch gegenübersteht.
Eine gewisse Bestätigung erfährt die hier vorgeschlagene Interpretation
durch einen vergleichenden Blick auf EE I. Das erste Buch der Eudemi-
schen Ethik enthält eine Ideenkritik, die der aus der Nikomachischen Ethik
auffallend ähnlich ist (I 8). 112 Daher liegt es nahe, der Platonkritik in bei-
den Ethiken eine ähnliche argumentative Funktion zu unterstellen, auch
wenn (oder gerade weil) EE I und EN I ansonsten unterschiedlich aufge-
baut sind. Was also erfahren wir in der Eudemischen Ethik über diese
Funktion?
Zu Beginn von EE I 8 formuliert Aristoteles folgende Aufgabe: „Man
muss also prüfen, was das Beste ist und auf wieviele Weisen es ausgesagt
wird“ (IJȜıʍijջȡȟ ijȡտȟȤȟ ijտ ijր ԔȢțIJijȡȟ, Ȝįվ ȝջȗıijįț ʍȡIJįȥ‫׭‬ȣ: 1217b1).
Diese Aufgabe knüpft offensichtlich an den programmatischen Beginn des
siebten Kapitels an:
Nach diesen Vorbemerkungen wollen wir fortfahren, indem wir, wie gesagt, zu-
nächst bei den ersten und unklaren Meinungen beginnen und versuchen, auf eine
klare Weise herauszufinden, was die eudaimonia ist. Es ist also allgemein aner-
kannt, dass dies das größte und beste der menschlichen Güter ist. (1217a18-22)
Eine Klärung der allgemein anerkannten These, dass die eudaimonia das
höchste menschliche Gut ist, soll als Ausgangspunkt für die Beantwortung
der Frage dienen, was die eudaimonia ist (vgl. hierzu 1.1). Während EE I 7
der Untersuchung des Begriffs „menschlich“ (anthrôpinon) diente, ist I 8
der Untersuchung des Begriffs „das Beste“ (ijր ԔȢțIJijȡȟ) gewidmet.
Das Ergebnis dieser Untersuchung lautet, ähnlich wie in EN I 4: Das
Beste ist nicht im Sinne einer Idee des Guten zu verstehen, sondern im
Sinne eines höchsten Ziels: „Aber das Worumwillen ist, da es Ziel ist, das
Beste und die Ursache für alles ihm Untergeordnete und das erste von
allen (Gütern)“ (ijր İ’ ȡ՟ ԥȟıȜį թȣ ijջȝȡȣ ԔȢțIJijȡȟ Ȝįվ įՀijțȡȟ ij‫׭‬ȟ ՙĴ’
įՙijր Ȝįվ ʍȢ‫׭‬ijȡȟ ʍչȟijȧȟ: 1218b10-11). Ein auffälliger Unterschied zur
Platonkritik der Nikomachischen Ethik besteht zwar darin, dass Aristoteles
hier keinen Hinweis auf die Relationen pros hen, aph’ henos und kat’ analo-
gian gibt, sondern das Beste im Sinne des Ziels als „das Gute selbst“ (į՘ijր

_____________
112 Z.B. nennt EE I 8, bis auf das Argument der Hypostasierung, die gleichen antiplato-
nischen Argumente wie EN I 4. Vgl. zu EE I 8 Berti (1971), Robinson (1971) und
Woods (21992, 60-84).
2.5 Fazit 105

ijր ԐȗįȚցȟ: 1218b11-12) bezeichnet. 113 Der Punkt, auf den es hier an-
kommt, ist von diesem Unterschied aber unabhängig. In der Eudemischen
Ethik ist der Schluss des achten Kapitels von Buch I die erste Stelle, an der
explizit ein Zusammenhang zwischen dem Guten und dem Erstrebten
erwähnt wird. 114 Die Funktion der Platonkritik besteht hier darin, den
teleologischen Ansatz einzuführen, wobei diese Einführung als Antwort auf
die Frage „Was ist das Beste?“ verstanden wird. Dies ist insofern bemer-
kenswert, als EE I 1-6 (das so genannte „Proömium“) 115 inhaltlich durch-
aus mit EN I 1-3 vergleichbar ist. Als gemeinsame Elemente enthalten die
beiden Abschnitte zum Beispiel die Gleichsetzung der eudaimonia mit
dem höchsten Gut (I 1, 1214a7-8), die Konzentration auf die Frage, was
die eudaimonia ist (I 4, 1215a20-22), den Hinweis auf die drei Kandida-
ten Weisheit, Tugend und Lust (I 1, 1214a30-b6) sowie die Verknüpfung
dieser Kandidaten mit unterschiedlichen Lebensformen (I 5, 1216a27-37).
Wie wir gesehen haben, stehen diese Elemente in der Nikomachischen
Ethik alle im Zusammenhang mit dem zu Beginn von I 1 vorgestellten
teleologischen Ansatz (vgl. 2.1). In EE I 1-6 dagegen fehlt dieser Zusam-
menhang oder wird zumindest nicht in systematischer Weise hergestellt.
(Ein auffälliges Beispiel für diesen Unterschied ist die Zurückweisung der
kaufmännischen Lebensform, die in der Eudemischen Ethik ohne den ex-
pliziten Hinweis auf den instrumentellen Charakter des Geldes auskommt:
I 4, 1215a25-32.)
Selbst wenn man die Vergleichbarkeit zwischen EE I – II 1 und EN I
als begrenzt ansieht, lässt sich also Folgendes festhalten: Der in dieser In-
terpretation vorgestellte Gedanke, den „Ansatz beim Streben“ vor allem
gütertheoretisch zu deuten, wird durch die Vorgehensweise der Eudemi-
schen Ethik gestützt. Ebenfalls gestützt wird die These, dass die Identifika-
tion von Gütern und Zielen zunächst eine Art gütertheoretischer „Opti-
on“ darstellt, über deren genauere Eigenschaften wir erst nach der

_____________
113 Wie wir weiter oben festgestellt haben, kann die Frage, wie Aristoteles die Relation
zwischen Gütern auffasst, für ein Verständnis seiner ethischen Theorie auch dann
wichtig sein, wenn er die genauere Bestimmung dieser Relation als Aufgabe einer an-
deren philosophischen Disziplin betrachtet (vgl. 2.4).
114 Auch der Anfang von EE I 2, der immer wieder für die Interpretation der Nikomachi-
schen Ethik herangezogen wird, stellt diesen Zusammenhang nicht ausdrücklich her.
Aristoteles fordert hier lediglich, dass jeder, der in der Lage ist, nach seiner eigenen
Entscheidung zu leben, ein Ziel des guten Lebens (ijțȟո IJȜȡʍրȟ ijȡ‫ ף‬Ȝįȝ‫׭‬ȣ Ș‫׆‬ȟ) an-
setzen sollte, mit Blick auf welches er seine Handlungen ausführt (ʍȢրȣ Տȟ
ԐʍȡȖȝջʍȧȟ ʍȡțսIJıijįț ʍչIJįȣ ijոȣ ʍȢչȠıțȣ) (1214b6-9). Mit dieser Forderung wird
keine Aussage über die Bedeutung des Ausdrucks „gut“ getroffen.
115 Vgl. Gigon (1971).
106 2. Eine Theorie des Guten (EN I 1-5)

Platonkritik Bescheid wissen. Denn im ersten Buch der Eudemischen Ethik


wird dieser Ansatz sogar erst nach der Platonkritik eingeführt.
3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

Der erste Teil der gütertheoretischen Lektüre von EN I ist abgeschlossen.


Es wurde dargestellt, inwiefern die Kapitel I 1-5 eine Theorie des Guten
entwickeln. Wir können nun zum zweiten Teil übergehen, der sich mit
den Kapiteln I 6-9 befasst. Die bereits erwähnte Interpretationsthese lau-
tet:
Die Bestimmung der eudaimonia in EN I 6-9 geschieht auf der
Grundlage der Theorie des Guten, die in EN I 1-5 entwickelt wurde.
Was mit dieser These gemeint ist, lässt sich verdeutlichen, wenn wir unse-
re Beobachtungen zu der von Aristoteles gewählten Vorgehensweise (vgl.
1.1) mit der Interpretation von EN I 1-5 (Kap. 2) zusammenbringen.
Im ersten Kapitel dieser Arbeit haben wir festgestellt, dass die allge-
mein anerkannte Identifikation der eudaimonia mit dem höchsten Gut für
Aristoteles den Ansatzpunkt zur Bestimmung der eudaimonia bildet. Un-
abhängig davon, wie die Untersuchung im Detail zu verstehen ist: Aristo-
teles geht offenbar davon aus, dass sich eine Bestimmung des höchsten
Guts als Bestimmung der eudaimonia begreifen lässt. In der Eudemischen
Ethik wird die entsprechende Strategie explizit dargelegt, in der Nikoma-
chischen Ethik lässt sie sich zumindest implizit nachweisen.Wenn wir nun
voraussetzen, dass Aristoteles für die Bestimmung des höchsten Guts einen
teleologischen Ansatz wählt, das heißt einen Ansatz, der Güter als Ziele
begreift, dann liegt es nahe anzunehmen, dass die Einschätzung dieses
Ansatzes aus EN I 1-5 Auswirkungen auf die weitere Vorgehensweise hat.
Versuchen wir, diesen Gedanken noch etwas genauer zu fassen. Min-
destens drei Eigenschaften des teleologischen Ansatzes zur Bestimmung
des Guten sind in EN I 1-5 zutage getreten: (i) Der teleologische Ansatz
ist „relativistisch“, das heißt auf seiner Basis können mehrere höchste Gü-
ter identifiziert werden, die sich als höchste Ziele nicht voneinander unter-
scheiden, aber je eigene Relata haben. Es ist denkbar, dass ein Gegenstand,
der in Bezug auf a ein Gut ist, kein Gut in Bezug auf b ist, und umgekehrt
(I 2-3). (ii) Die als (höchste) Ziele identifizierten (höchsten) Güter erfüllen
nicht zwangsläufig alle Kriterien des Guten (I 3). (iii) Die als (höchste)
Ziele identifizierten (höchsten) Güter unterscheiden sich, insofern sie gut
sind (I 4). Angesichts dieser drei Eigenschaften stellt sich, nun genauer
formuliert, die Frage, wie im Rahmen eines teleologischen Ansatzes über-
108 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

haupt ein höchstes Gut bestimmt werden kann, das auch die anderen Kri-
terien des Guten erfüllt. Wie lässt sich der Relativismus der Güter über-
winden? Und wie können wir der relevanten Verschiedenheit der Güter
gerecht werden?
Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die in den Kapiteln I 6-9 ver-
folgte Strategie, also die Einführung des Ergon-Arguments (I 6) und der
Vergleich mit den gängigen Meinungen (I 8-9) 1 , eine Antwort auf diese
Fragen gibt. Die Bestimmung der eudaimonia geschieht insofern auf der
Grundlage der in I 1-5 entwickelten Theorie des Guten, als Aristoteles auf
die Probleme reagiert, die diese Theorie vor Augen führt. Insbesondere das
Ergon-Argument zeigt einen Ausweg aus der erwähnten „Sackgasse“ (vgl.
2.2.2), den die Annahme einer Idee des Guten nicht bieten konnte.
Die Interpretation der beiden folgenden Abschnitte geschieht wieder
nach dem in der Einleitung angekündigten Prinzip der „Negativfolie“. Als
Negativfolie soll eine einflussreiche Position skizziert werden, die den
Beginn der Nikomachischen Ethik anders liest als hier vorgeschlagen und
dementsprechend die Kapitel I 6-9 auf andere Fragen bezieht, als sie eben
formuliert worden sind. Dabei handelt es sich um die Position des „Psy-
chologischen Eudaimonismus“, der uns bei der Interpretation von EN I 1
bereits begegnet ist (vgl. 2.2.1). Es soll gezeigt werden, dass die Perspektive
des Psychologischen Eudaimonismus zu erheblichen Deutungsproblemen
führt und nicht zu der Vorgehensweise passt, die Aristoteles in EN I 6-9
verfolgt (3.1). Danach soll gezeigt werden, dass sich diese Probleme ver-
meiden lassen, wenn wir der hier vorgeschlagenen Interpretation von EN
I 1-5 folgen und I 6-9 darauf beziehen (3.2).
Grob vereinfacht lässt sich der Unterschied zwischen den beiden An-
sätzen folgendermaßen umreißen: Aus der Sicht des Psychologischen Eu-
daimonismus liegt es nahe, den Übergang von EN I 1-5 zu EN I 6-9 als
Übergang von einem „subjektiven“ zu einem „objektiven“ Blick auf das
Gute und das Glück zu begreifen. Aristoteles würde hier von dem, was
Handelnde für die eudaimonia halten und tatsächlich erstreben, zu dem
übergehen, was die eudaimonia, objektiv gesehen, ist. Die Aufgabe der
Interpretation würde darin bestehen, diese beiden Perspektiven zueinander
ins Verhältnis zu setzen und den Übergang zu erklären. Legt man dagegen
die in Kapitel 2 vorgestellte „gütertheoretische Lektüre“ zugrunde, dann
_____________
1 Streng genommen umfasst der Vergleich mit den Meinungen nicht nur die Kapitel I 8
und I 9, sondern setzt sich bis I 12 fort. Die Beschränkung auf I 8-9 erklärt sich dar-
aus, dass diese Kapitel primär einer Bestätigung der in I 6 formulierten Definition der
eudaimonia dienen, während I 10-12 in erster Linie zusätzliche Aspekte (Wie wird die
eudaimonia erworben? Sollte ein Urteil über die eudaimonia erst am Ende des Lebens
gefällt werden? Gehört die eudaimonia zu den lobenswerten oder zu den ehrwürdigen
Dingen?) behandeln.
3.1 Die Perspektive des Psychologischen Eudaimonismus 109

sollte EN I nicht als Verbindung zwischen einer subjektiven und einer


objektiven Perspektive verstanden werden, sondern ausschließlich als „ob-
jektive“ Beantwortung der Frage, was die eudaimonia ist. Die zu Beginn
der Untersuchung eingeschlagene Strategie wird dabei konsequent ver-
folgt.
Sollte diese Interpretation zutreffen, dann ergeben sich einige grund-
sätzliche Auswirkungen, die am Ende des Kapitels ebenfalls dargestellt
werden sollen (3.3). Diese Auswirkungen betreffen zum einen die Frage,
was es bedeutet, dass Aristoteles eine „Strebensethik“ oder „teleologische
Ethik“ formuliert. Zum anderen betreffen sie die Frage, wie die Aristoteli-
sche Konzeption der eudaimonia genau zu verstehen ist.

3.1 Die Perspektive des Psychologischen Eudaimonismus


Im Folgenden wird versucht, den Grundgedanken des Psychologischen
Eudaimonismus (PsE) auf eine möglichst einfache Weise darzustellen.
Darüber hinaus soll anhand einer Reihe von Thesen erläutert werden, wie
sich die Annahme des PsE auf das Verständnis von EN I 1-5 auswirkt und
welche Fragen sich aus dieser Perspektive für den Fortgang der Untersu-
chung ergeben. In 3.2 werde ich dann entsprechende Gegenthesen formu-
lieren, durch die sich die gütertheoretische Perspektive auf EN I markieren
lässt.
Entsprechend dem argumentativen Anliegen wird nicht eine der Vari-
anten des PsE herausgegriffen, die in der Literatur zur antiken Ethik eine
Rolle spielen. 2 Vielmehr soll eine möglichst einfache Version konstruiert
werden, die dann als Gegenpol zur eigenen Interpretation dienen kann.
Dies ist auch deshalb legitim, weil der entscheidende Kontrast von den
Varianten des PsE unabhängig ist. Wie sich zeigen wird, betrifft er allein
den Grundgedanken dieser Theorie.
Die Kernthese des PsE lautet: Alle tun alles um der eudaimonia willen.
Diese These, die in der Nikomachischen Ethik mehrmals anklingt (z.B.
I 12, 1102a2-3; X 6, 1176a31-32), wird vom PsE als eine psychologische
These verstanden. 3 Dass alle alles um der eudaimonia willen tun, ist gemäß
dem PsE eine psychologische Tatsache.
Auf den ersten Blick scheint gerade der Beginn der Nikomachischen
Ethik für eine solche Auffassung zu sprechen. Hier entwickelt Aristoteles
nicht nur den Begriff eines höchsten Ziels, das um seiner selbst willen
erstrebt wird, während alles andere um seinetwillen erstrebt wird (ijջȝȡȣ
_____________
2 Vgl. die sehr hilfreichen Unterscheidungen in Crisp (2003).
3 Für die gütertheoretische Interpretation dieser These s.u., S. 128f., FN 29.
110 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

[...] ij‫׭‬ȟ ʍȢįȜij‫׭‬ȟ Տ İț’ įՙijր ȖȡȤȝցȞıȚį, ijԖȝȝį İպ İțո ijȡ‫ף‬ijȡ: I 1,


1094a18-19; später wird dieses Ziel mit der eudaimonia gleichgesetzt: I 2,
1095a14-20). Er behauptet zugleich, dass das Streben „leer und vergeb-
lich“ wäre, wenn es ein solches Ziel nicht gäbe (խIJij’ ıՂȟįț Ȝıȟռȟ Ȝįվ
Ȟįijįտįȟ ijռȟ ՐȢıȠțȟ: 1094a21). Die Annahme eines höchsten Ziels er-
scheint also wie die Bedingung der Möglichkeit von sinnvollem Streben,
und es liegt nahe, hierin zunächst eine psychologische These zu vermuten.
Dies gilt insbesondere dann, wenn das Argument als ein verkürzter modus
tollens gelesen wird, der auf die folgende Weise zu vervollständigen wäre:
Da das Streben offenbar nicht leer und vergeblich ist, gibt es ein oberstes
Ziel. Nach dieser Interpretation würde EN I 1 einen psychologischen
Beweis für die Existenz eines höchsten Ziels enthalten.
Über die argumentationslogischen Probleme dieser Deutung wurde
im zweiten Kapitel dieser Arbeit bereits gesprochen (vgl. 2.2.1). Sie laufen
auf den Einwand hinaus, dass sich der in a20-21 angedeutete unendliche
Strebensregress auch durch die Annahme mehrerer höchster Ziele vermei-
den ließe. Aber auch psychologisch gesehen bringt die „Kernthese“ des
PsE Schwierigkeiten mit sich. Es scheint nämlich keineswegs plausibel,
dass wir alles um eines einzigen Zieles willen tun, zumal die wenigsten von
uns ihre Handlungen stets zu einer Art „Lebensplan“ ins Verhältnis setzen
dürften. 4 Außerdem scheint Aristoteles mit den akratischen Handlungen
Fälle vorzusehen, in denen wir unseren eigentlichen Zielen, im Sinne des-
sen, was wir für gut halten, entgegen handeln. 5 Und schließlich gehört es
zu den Bedingungen tugendhafter Handlungen, dass sie um ihrer selbst
willen ausgeführt werden, nicht um einer anderen Sache willen. Wie in
2.2.1 bereits erwähnt, haben diese Schwierigkeiten zu unterschiedlichen
Modifikationen des PsE geführt. Dabei besteht die wahrscheinlich wich-
tigste Strategie darin, die Gültigkeit des PsE auf einen bestimmten Typ
von Handlungen einzuschränken. 6 So könnte man zum Beispiel mit John

_____________
4 Vgl. z.B. Anscombe (21963, § 21).
5 Vgl. zu diesem Zusammenhang Fine (1999, 5-14).
6 Eine andere Variante des Eudaimonismus lässt sich auf der Basis der bereits mehrmals
zitierten Passage EE I 2, 1214b6-11, formulieren: „Jeder, der nach seiner eigenen Ent-
scheidung leben kann, sollte ein bestimmtes Ziel des guten Lebens ansetzen, sei es nun
Ehre oder Ansehen oder Reichtum oder Bildung, auf das blickend er alle Handlungen
ausführen wird; denn sein Leben nicht mit Bezug auf ein bestimmtes Ziel geordnet zu
haben ist ein Zeichen großer Unvernunft.“ In dieser Variante geht es nicht um die
These, dass alle Handlungen tatsächlich auf die eudaimonia ausgerichtet sind, sondern
darum, dass alle Handlungen auf die eudaimonia ausgerichtet sein sollten. Diese Form
des „rationalen Eudaimonismus“ wird immer wieder für die Interpretation der Niko-
machischen Ethik herangezogen. Da sie aber im Text von EN I nicht vorkommt,
scheint es angemessener, zunächst nach einer alternativen Deutung der „deskriptiven“
Variante zu suchen.
3.1 Die Perspektive des Psychologischen Eudaimonismus 111

McDowell (1980, 361f.) und Gavin Lawrence (2006, 42) behaupten, dass
nur jene Handlungen, die auf einem Entschluss (ʍȢȡįտȢıIJțȣ) basieren, um
der eudaimonia willen geschehen. Für den vorliegenden Kontext ist es aber
nicht nötig, auf diese Modifikationen einzugehen. Hier interessiert in
erster Linie, welches Bild der PsE vom Beginn der Nikomachischen Ethik
zeichnet. Wovon ist aus der Sicht des PsE hier die Rede?
Wenn wir eine psychologische Perspektive auf den Beginn von EN I
einnehmen, das heißt wenn wir davon ausgehen, dass sich der Ausdruck
„Ziel“ (telos) hier auf den Gehalt der Wünsche und Strebungen handeln-
der Personen bezieht, dann liegt es nahe anzunehmen, dass Aristoteles in I
1 über den Zusammenhang zwischen den so verstandenen Zielen und
konkreten Handlungen sprechen möchte. Auch bei der Identifikation des
höchsten Ziels mit der eudaimonia wäre dann von einem telos die Rede,
das wir in unseren konkreten Handlungen verfolgen. Die drei Argumenta-
tionsschritte des Abschnitts 1094a1-22 (vgl. 2.2.1) könnten als Skizze
einer teleologischen Theorie der Handlungserklärung gelesen werden, die
aus drei Komponenten besteht:
Die erste Komponente läge in der Annahme, dass die Handlungen einer
Person unter Rekurs auf deren Strebensziele erklärt werden müssen (vgl.
1094a1-3). Eine solche Erklärung könnte zum Beispiel folgendermaßen
aussehen: Person P hat Handlung H ausgeführt, weil sie ein bestimmtes
Ziel Z erstrebt und der Meinung ist, dass H ein Mittel zur Erlangung von
Z ist. Diese Beschreibung wäre selbstverständlich eine grobe Vereinfa-
chung. Unter anderem müsste geklärt werden, was der Ausdruck „Mei-
nung“ umfasst und wie die Relation zwischen Z und H genau zu verstehen
ist. Wichtig für den vorliegenden Kontext wäre aber lediglich, dass die
Angabe von Z Teil der Erklärung von H ist. Um zu erklären, warum P H
ausgeführt hat, würde darauf hingewiesen, dass P mit H ein von ihr er-
strebtes Ziel verfolgt hat. Hierin besteht der Grundgedanke einer teleolo-
gischen Handlungserklärung. (Wesentlich komplexer würde sich die Situ-
ation darstellen, wenn P nicht wüsste beziehungsweise sich darüber
täuschte, welche Ziele sie mit ihren Handlungen „wirklich“ erstrebt. Die-
sen Fall einer opaken Motivlage können wir allerdings beiseite lassen.
Denn zum einen geht es hier darum, eine möglichst einfache Theorie zu
skizzieren, zum anderen scheinen die in 1094a1 ff. genannten Beispiele
gegen das Vorliegen einer opaken Motivlage zu sprechen.)
Die zweite Komponente läge in der Annahme von Zielhierarchien (vgl.
1094a3-18). Demnach kann es vorkommen, dass P ein bestimmtes Ziel Z1
umwillen eines anderen Ziels Z2 erstrebt und Z2 wiederum umwillen eines
weiteren Ziels Z3 usw. Wichtig mit Blick auf die Erklärung von H wäre,
dass P Z1 nicht ertreben würde, wenn sie Z2 nicht erstreben würde und Z2
nicht erstreben würde, wenn sie Z3 nicht erstreben würde. Das Streben
112 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

nach Z3 würde also eine Erklärung dafür bieten, warum P Z2 erstrebt, und
das Streben nach Z2 eine Erklärung dafür, warum P Z1 erstrebt. Geht man
von einer Transitivität dieser Erklärungen aus und wird ein unendlicher
Regress ausgeschlossen, so würde das Streben nach einem „höchsten“ Ziel
Zn alle darauf bezogenen untergeordneten Strebungen erklären. Dabei
könnte aber nicht ausgeschlossen werden, dass es mehrere „höchste Ziele“
gibt.
Die dritte Komponente schließlich läge in der Annahme des PsE. Die
Pointe dieser Annahme bestünde darin, dass letztlich alle Handlungen von
P durch das Streben nach einem höchsten Ziel erklärt werden können (vgl.
1094a18-22). Das heißt, der PsE würde die zweite Komponente durch
eine These über die Struktur der Zielhierarchien ergänzen. Alle diese Hier-
archien würden in die eudaimonia als oberstes Ziel münden, so dass die
Möglichkeit mehrerer höchster Ziele explizit ausgeschlossen wäre. P er-
strebt in allen ihren Handlungen ein einziges höchstes Ziel. (Um auch hier
eine möglichst einfache Version zu formulieren, werden wir im Folgenden
davon ausgehen, dass P das höchste Ziel als eudaimonia erstrebt und nicht
unter einer anderen Beschreibung.)
Begreift man den PsE auf diese Weise, dann spielt es tatsächlich keine
Rolle, ob wir davon ausgehen, dass sich alle Handlungen von P oder nur
alle Handlungen von P, die zu einem bestimmten Typ gehören, durch das
Glücksstreben erklären lassen. Mit Blick auf den Grundgedanken des PsE
geht es lediglich darum, dass die entsprechenden Handlungen auf diese
Weise erklärt werden. Die Modifikationen werden somit von der hier
gegebenen Bestimmung des PsE erfasst. Was den PsE in all seinen Spiel-
arten auszeichnet, ist die handlungstheoretische Perspektive.
Ausgehend von dieser Interpretation des Abschnitts 1094a1-22 liegt es
nahe, die Gleichsetzung zwischen der eudaimonia und dem obersten Ziel
folgendermaßen aufzufassen:
(i) Bei der Gleichsetzung zwischen der eudaimonia und dem obersten
Ziel geht es letztlich um die Erklärung konkreter Handlungen.
Die Gleichsetzung gehört in einen handlungstheoretischen Kon-
text. 7
Diese Auffassung hat Konsequenzen für die Rolle, die wir dem Beginn der
Nikomachischen Ethik zuschreiben. Der Beginn der Nikomachischen Ethik
würde eine Theorie der Handlungserklärung entwerfen, auf der die Ab-
handlung in der einen oder anderen Weise basieren würde. Daraus wie-
_____________
7 So meint etwa Roger Crisp, mit Blick auf eine Passage aus Platons Phaidon: „Psycho-
logical Eudaimonism [...] is based on the power of explanations of human action as
aimed at the agent’s own perceived good“ (2003, 57).
3.1 Die Perspektive des Psychologischen Eudaimonismus 113

derum würde sich eine Aufgabe für die weitere Untersuchung ergeben;
denn der Fortgang der Argumentation müsste zu dieser Theorie der
Handlungserklärung ins Verhältnis gesetzt werden. Zum Beispiel müsste
geklärt werden, ob sich auch tugendhafte Handlungen mit Hilfe des PsE
erklären lassen. Um diese Aufgabe etwas genauer zu formulieren, möchte
ich die Aufmerksamkeit auf eine Voraussetzung richten, die mit der An-
nahme des PsE verknüpft ist.
Wir sind davon ausgegangen, dass der PsE, gleichgültig um welche
Variante es sich handelt, die Ausdrücke „Ziel“ und „höchstes Ziel“ psy-
chologisch versteht. Der PsE bezieht diese Ausdrücke auf jene Ziele, die
wir mit unseren Handlungen verfolgen (wie gesagt, unter Ausschluss des
Falls einer opaken Motivlage). Wie aber kommt der Begriff des Guten ins
Spiel, der in EN I 1 ja ebenfalls eine zentrale Rolle einnimmt und den wir
in unserer Skizze einer Theorie der Handlungserklärung bislang ausge-
klammert haben? Aus der Perspektive des PsE dürfte es am Naheliegends-
ten sein, auch diesen Ausdruck auf die Psychologie des Handelnden zu
beziehen. Die Identifikation von Gütern und Zielen würde dann auf den
Zusammenhang zwischen den rationalen Strebungen und den Überzeu-
gungen einer Person verweisen, den Aristoteles immer wieder herstellt:
„keiner nämlich will etwas, wenn er nicht meint, dass es gut sei“ (ȡ՘İıվȣ
ȗոȢ Ȗȡփȝıijįț Ԑȝȝ’ Ԯ Ցijįȟ ȡԼșȚ‫ ׇ‬ıՂȟįț ԐȗįȚցȟ: Rhet. I 10, 1369a3-4; vgl.
EE II 7, 1223b6-7). Am Beginn der Nikomachischen Ethik würde es somit
darum gehen, was handelnde Personen für gut, für besser oder für das
Glück halten und dementsprechend erstreben. 8 Und auch die Kernthese des
PsE wäre so zu verstehen, dass alle alles um dessentwillen tun, was sie für
das Glück halten. 9 Die erwähnte Voraussetzung des PsE lautet demnach:
(ii) Wenn (i) zutrifft, dann führt die Gleichsetzung zwischen dem
Guten und dem Erstrebten die Perspektive des Handelnden ein.
Es geht um das, was Handelnde für das Gute halten und dement-
sprechend erstreben.
Was verschiedene Menschen für das Gute oder das Glück halten, ist je-
doch mehr oder weniger zufällig. Genau darauf weist Aristoteles im zwei-
ten Kapitel der Nikomachischen Ethik hin:
_____________
8 Ein Problem für diese Annahme besteht darin, dass Aristoteles in EN I 1 nicht von
dem spricht, was „als gut erscheint“ (phainomenon agathon), wie er es streng genom-
men tun müsste, sondern einfach vom Guten (agathon). Aus Gründen der Einfachheit
soll dieses Problem hier aber beiseite gelassen werden. Vgl. für eine ausführliche Be-
handlung der Aristotelischen „Theorie der Strebung“ Corcilius (2008a, Teil I).
9 Vgl. wiederum die entsprechende Formulierung von Roger Crisp: „Each person, when
acting rationally, pursues her own perceived greatest happiness” (2003, 55; Hervorhe-
bung Ph.B.).
114 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

Jedoch darüber, was das Glück ist, sind sie sich uneinig, und die Vielen erklären
es nicht auf dieselbe Weise wie die Weisen. Denn die einen (nennen) etwas Of-
fensichtliches und Bekanntes, zum Beispiel Lust oder Reichtum oder Ehre, ande-
re anderes – oft aber auch derselbe Verschiedenes; denn wenn er krank ist, (nennt
er) Gesundheit, wenn er arm ist, Reichtum. (I 2, 1095a20-25)
Dass diese Passage die Vielzahl der unterschiedlichen Auffassungen betont,
wurde bereits herausgestellt (vgl. 2.1). Je nachdem in welcher Lebenssitua-
tion wir uns befinden, wird unsere Vorstellung von der eudaimonia eine
andere sein. Durch den PsE wird diesem Hinweis jedoch eine bestimmte
Stoßrichtung verliehen. Indem Aristoteles die Glücksauffassungen mit den
Lebenssituationen verknüpft, hebt er die Perspektive des Handelnden – als
Perspektive desjenigen, der sich in einer bestimmten Situation befindet –
eigens hervor. Und indem Aristoteles die Meinungen zum Glück als eine
beliebig zu ergänzende Aufzählung präsentiert, verdeutlicht er, dass es
letztlich kontingent ist, was Menschen für gut halten und erstreben.
Es ergibt sich also folgendes Bild: Wenn der PsE die handlungstheore-
tische Grundlage der ethischen Untersuchung bilden soll, dann muss Aris-
toteles bei der Bestimmung der eudaimonia die Perspektive des Handeln-
den berücksichtigen, die ich im Folgenden als subjektiv bezeichnen
möchte. Auf die eine oder andere Weise muss Aristoteles in Rechnung
stellen, was handelnde Personen für die eudaimonia halten und tatsächlich
erstreben. Denn nur unter dieser Bedingung kann die eudaimonia ihre
Rolle in der Erklärung von Handlungen erfüllen. Zugleich kann aber
nicht bestritten werden, dass Aristoteles letztlich an einer objektiven Be-
stimmung der eudaimonia interessiert ist. Die Bestimmung der eudaimo-
nia durch das Ergon-Argument (EN I 6) rekurriert keineswegs auf die
tatsächlichen Wünsche einzelner Handelnder. Sie wird aus der Perspektive
einer „dritten Person“ vorgenommen. 10
Wenn es somit zutrifft, dass die Gleichsetzung zwischen dem Guten
und dem Erstrebten die Perspektive des Handelnden einführt, dann liegt
das zentrale Problem für die Aristotelische eudaimonia-Konzeption im
Verhältnis zwischen subjektiver und objektiver Perspektive: zwischen dem,
was einem Handelnden als eudaimonia erscheint (und was er erstrebt), und
dem, was die eudaimonia ist. 11 Denn warum sollte jemand angesichts sei-
ner individuellen Wünsche überhaupt nach dem streben, was die eudai-

_____________
10 Das Begriffspaar „subjektiv“ – „objektiv“ steht hier also für den Unterschied zwischen
„was jemand für die eudaimonia hält (und dementsprechend erstrebt)“ und „was die
eudaimonia ist“. Es steht nicht für den Unterschied zwischen „was jemand für die Zie-
le seines Strebens hält“ und „was jemand tatsächlich erstrebt“. (Vgl. die obigen Be-
merkungen zum Fall der opaken Motivlage.)
11 Vgl. zu dieser Sicht Szaif (2004, insbes. 61-63).
3.1 Die Perspektive des Psychologischen Eudaimonismus 115

monia, objektiv gesehen, ist? In ihrer präzisierten Version lautet die Auf-
gabe also:
(iii) Wenn (ii) zutrifft, dann stellt sich die Aufgabe zu zeigen, auf wel-
che Weise die objektiv bestimmte eudaimonia den Handelnden als
eudaimonia erscheinen und so zum Ziel ihrer Handlungen werden
kann.
Gelingt dies nicht, ist der handlungstheoretische Beginn der Nikomachi-
schen Ethik entweder redundant; denn es wird nicht klar, welche Rolle der
PsE für die Ethik spielen sollte. Oder die Aristotelische eudaimonia-
Konzeption enthielte eine entscheidende und nicht aufgelöste Spannung.
Die Theorie wäre dann inkonsistent oder nicht hinreichend ausgeführt.
Die hier beschriebene Situation ist in einer gewissen Hinsicht mit der
vergleichbar, in der sich einige moderne Glückstheorien befinden. Diese
Theorien gehen auf der einen Seite von der subjektivistischen Grundüber-
zeugung aus, dass sich das Glück eines Menschen letztlich nur im Rekurs
auf die „nonkognitiven Einstellungen, das heißt zum Beispiel auf die Ge-
fühle, die Wünsche oder das Wollen“ dieses Menschen bestimmen lässt:
„Wir führen danach dann ein gutes Leben, wenn wir es affektiv und/oder
voluntativ bejahen; das Gutsein eines Lebens soll sich in einer solchen
Bejahung sogar allererst konstituieren“ (Steinfath 1998, 18). Auf der ande-
ren Seite versuchen diese Theorien einen „einfachen“ Subjektivismus zu
vermeiden. Sie versuchen zu zeigen, dass die Antwort auf die Frage nach
dem guten Leben, trotz ihrer Abhängigkeit von individuellen Wünschen
und Gefühlen, nicht völlig beliebig ist. Dabei schlagen sie häufig den Weg
eines „reflektierten“ Subjektivismus ein, der die nonkognitiven Einstellun-
gen einer (wertneutralen) Kritik unterzieht. Diese Kritik kann zum Bei-
spiel die Frage betreffen, ob die Wünsche auf wahren oder falschen Mei-
nungen basieren. 12
Natürlich bestehen wichtige Unterschiede zwischen diesen Theorien
und einer auf dem PsE basierenden Deutung der Aristotelischen Glücks-
konzeption. Die Gründe, die aus heutiger Sicht für eine subjektivistische
Glücksauffassung sprechen, hängen zweifellos mit einem neuzeitlichen
Menschenbild zusammen, das die individuelle Lebensführung in erster
Linie zur Privatsache erklärt. Und die „Objektivität“ der Aristotelischen
_____________
12 „Gegenstand der Kritik soll dabei nicht das sein, was sich eine Person für ihr Leben
wünscht, sondern die Art und Weise, wie sie es sich wünscht. So kann es sein, daß wir
uns etwas für unser Leben nur wünschen, weil wir uns falsche (kognitive) Vorstellun-
gen von der Welt und uns selbst machen; unsere Wünsche können uninformiert sein
und uns deswegen enttäuschen, wenn sie sich erfüllen. Falsch sind in diesem Fall je-
doch nicht eigentlich unsere Wünsche (oder anderen nonkognitiven Einstellungen),
sondern die epistemischen Meinungen, in die sie eingebettet sind“ (ebd., 19).
116 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

Glücksbestimmung geht über die eines reflektierten Subjektivismus weit


hinaus. Dennoch: Sobald wir Aristoteles die Annahme des PsE zuschrei-
ben, rücken wir ihn in die Nähe von Theorien, die die Subjektivität des
Glücks auf die eine oder andere Weise zum Bestandteil ihrer Glücks-
bestimmung machen. (In 3.3 werden wir noch einmal auf diesen Punkt
zurückkommen.)

Der Übergang zum Ergon-Argument

Im vorigen Abschnitt wurde eine sachliche Schwierigkeit aus der Annah-


me entwickelt, dass Aristoteles einen PsE vertritt und zugleich an einer
objektiven Bestimmung der eudaimonia interessiert ist. Jetzt soll gezeigt
werden, wie sich diese Annahme auf die Beschreibung des Argumenta-
tionsgangs von EN I auswirkt. Dazu soll die Aufmerksamkeit auf einen
neuralgischen Punkt im Verlauf des ersten Buches gerichtet werden: den
Übergang zum so genannten „Ergon-Argument“ (I 6), also die Stelle, an
der Aristoteles mit der „objektiven“ Bestimmung der eudaimonia beginnt.
In der Forschung hat dieser Übergang erhebliche Irritationen hervorgeru-
fen. Im Folgenden möchte ich darstellen, wie diese Irritationen mit der
Annahme des PsE zusammenhängen. 13 In 3.2 kann dann gezeigt werden,
dass die Irritationen nicht auftreten, wenn wir I 1-5 aus einer „gütertheo-
retischen Perspektive“ betrachten.
Im Ergon-Argument entwickelt Aristoteles die Konzeption des „ge-
suchten Guts“, die er selbst für zutreffend hält. Ob die Wahrheit dieser
Konzeption allein aus dem Ergon-Argument hervorgehen soll, ist zwar
umstritten. Dieses Problem kann aber vorerst beiseite gelassen werden.
Die Struktur des Arguments lässt sich in etwa folgendermaßen umreißen:
P 1: Für alles, was eine eigentümliche Leistung (ergon) und Tätigkeit
(praxis) hat, liegt das Gute (agathon) und das „auf gute Weise“ (ı՞) im
Erbringen dieser Leistung (1097b25-27).
P 2: Das ergon des Menschen ist die vernunftgemäße Tätigkeit der
Seele (ȦȤȥ‫׆‬ȣ ԚȟջȢȗıțį Ȝįijո ȝցȗȡȟ) (1097b27-1098a7).
P 2’: Das ergon des vortrefflichen Menschen (spoudaios) besteht darin,
das ergon des Menschen auf gute Weise (ı՞), das heißt gemäß der ihm
_____________
13 Im Prinzip stellt sich das im Folgenden darzustellende Problem bereits im ersten
Kapitel der Nikomachischen Ethik. Denn unter der Voraussetzung des PsE, das heißt
unter der Voraussetzung, dass Glück ein Ziel ist, auf das wir unsere konkreten Hand-
lungen ausrichten, ist nicht ohne weiteres klar, inwiefern es dem Handelnden unbe-
kannt sein kann, was das Glück ist (1094a25-26).
3.1 Die Perspektive des Psychologischen Eudaimonismus 117

eigentümlichen Tugend (Ȝįijո ijռȟ ȡԼȜıտįȟ ԐȢıijսȟ), zu erfüllen


(1098a7-12).
K: Das „menschliche Gut“ (anthrôpinon agathon) besteht in der tu-
gendgemäßen Tätigkeit der Seele (ȦȤȥ‫׆‬ȣ ԚȟջȢȗıțį Ȝįij’ ԐȢıijսȟ)
(1098a16-20).
Das Ergon-Argument hat eine Vielzahl von Kontroversen hervorgerufen. 14
Ein großer Teil dieser Kontroversen betrifft die Prämissen P 2 und P 2’.
So ist zum Beispiel umstritten, ob man dem Menschen in ähnlicher Weise
ein ergon zusprechen kann wie einem Werkzeug oder einem Organ des
Körpers. Es ist umstritten, ob sich das Wesen des Menschen auf dessen
Vernunfttätigkeit reduzieren lässt. Und es ist umstritten, ob man einen
Menschen, der sein ergon auf gute Weise erfüllt, tatsächlich als „vortreffli-
chen Menschen“ bezeichnen kann.
Das für den vorliegenden Kontext entscheidende Problem setzt jedoch
eine Stufe tiefer an. Selbst wenn man die Zulässigkeit von P 2 und P 2’
einräumt und das Argument insgesamt für schlüssig hält: grundsätzlich
stellt sich die Frage, wie sich die in P 1 gegebene Bestimmung des Guten
zu der aus den Kapiteln I 1-5 verhält. Denn während dort Güter als Stre-
bensziele aufgefasst wurden, soll das Gute nun in der (tugendgemäßen)
Erfüllung eines ergon liegen. Wie passen diese beiden Bestimmungen zu-
sammen? Die Einleitung des Kapitels I 6 scheint zu dieser Frage keinen
Anhaltspunkt zu bieten. Denn die Idee, das menschliche ergon in den
Blick zu nehmen, wird hier wie ein Vorschlag eingeführt:
Zu sagen, dass das Beste Glück ist, scheint aber vielleicht etwas allgemein Aner-
kanntes zu sein. Wir verlangen aber, noch deutlicher zu sagen, was es ist. Dies
dürfte wohl geschehen, wenn wir das ergon des Menschen erfassen. 15 (1097b22-
25)
Einige Interpreten gehen davon aus, dass der Übergang zum Ergon-
Argument auf einem Fehlschluss beruht. Diese Kritik wurde zuerst von P.
Glassen formuliert:
[T]he conclusion is a non sequitur. The good of man, Aristotle has told us, is the
final goal of man’s actions, it is what men always choose for itself and never for
the sake of something else. Granting that the function of a good man is activity of
soul in accordance with excellence, how does it follow that the final goal of man’s
actions is just this function? (1957, 320)

_____________
14 Vgl. für eine Übersicht z.B. Whiting (1988, 34f.) und Achtenberg (1991).
15 Ԙȝȝ’ ՀIJȧȣ ijռȟ Ȟպȟ ı՘İįțȞȡȟȔįȟ ijր ԔȢțIJijȡȟ ȝȒȗıțȟ ՍȞȡȝȡȗȡȫȞıȟȪȟ ijț ĴįȔȟıijįț,
ʍȡȚı‫ה‬ijįț İ’ ԚȟįȢȗȒIJijıȢȡȟ ijȔ ԚIJijțȟ Ԥijț ȝıȥȚ‫׆‬ȟįț. ijչȥį İռ ȗջȟȡțij’ Ԓȟ ijȡ‫ף‬ij’ ıԼ
ȝșĴȚıտș ijր ԤȢȗȡȟ ijȡ‫ ף‬ԐȟȚȢօʍȡȤ.
118 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

Hinter diesem Fehlschluss wird oft eine von Aristoteles vermeintlich über-
sehene Mehrdeutigkeit des Ausdrucks „gut“ vermutet. Demnach mag es
zwar zulässig sein, denjenigen als guten Menschen („a good man“) zu be-
zeichnen, der das menschliche ergon auf gute Weise erfüllt (P 2’). Dies
bedeute aber nicht, dass die Erfüllung des ergon das Gute des Menschen
(„the good of man“) (P 1) und damit das oberste Ziel menschlicher Hand-
lungen sei („the final goal of man’s actions“). Aristoteles würde demnach
die attributive Verwendung von „gut“ („ein gutes x“) nicht streng genug
von dessen prädikativer Verwendung („x ist gut“) unterscheiden. 16
Andere Autoren sprechen zwar nicht von einem Fehlschluss, sie sehen
aber zumindest eine erklärungsbedürftige Lücke zwischen I 5 und I 6.
Beim Übergang zum Ergon-Argument setze Aristoteles zwei unterschiedli-
che Bestimmungen des Guten nebeneinander, ohne auszuführen, wie er
sich den Zusammenhang zwischen diesen beiden Bestimmungen denke.
Die Frage, wie diese Lücke zu schließen wäre, hätte zweifellos erhebliche
Auswirkungen auf das Verständnis der Aristotelischen Glückskonzeption.
Denn wenn es zutrifft, dass EN I zwei unterschiedliche Bestimmungen des
Guten enthält, dann läuft die Frage „Was ist das gesuchte Gut?“ auf die
Frage hinaus, wie sich diese beiden Bestimmungen zueinander verhalten.
Sieht man sich die Literatur zum Ergon-Argument etwas näher an,
dann fällt auf, dass die vermeintliche Lücke zwischen I 5 und I 6 oft auf
ähnliche Weise beschrieben wird. Es scheint ein gewisser Konsens darüber
zu bestehen, was Aristoteles zeigen müsste, um diese Lücke zu schließen.
Friedo Ricken schreibt beispielsweise:
Versteht man es [das menschliche ergon, Ph.B.] als charakteristische Tätigkeit, so
ist einsichtig, daß die den Menschen als Menschen unterscheidende Lebenstätig-
keit, die Aristoteles auch als das Sein des Menschen bezeichnet [...], die Vernunft-
tätigkeit ist. Nicht gezeigt hat Aristoteles dagegen, daß das Streben des Menschen
dessen eigenes Sein zu seinem letzten Ziel hat. An diesem Satz hängt aber die ge-
samte aristotelische Ethik. (1976, 29)
Und David Bostock bringt das Problem folgendermaßen auf den Punkt:
Aristotle makes no attempt to show that what he calls the ‚function’ of man, i.e.
the specifically human kind of life, is something that men aim for. (2000, 26)
Die Frage, die sich mit dem Übergang zum Ergon-Argument verbindet,
würde demnach lauten:
(iv) Inwiefern ist die Erfüllung des menschlichen ergon das, wonach
Menschen streben?

_____________
16 Vgl. zu dieser Unterscheidung den vielzitierten Aufsatz von P.T. Geach (1956).
3.1 Die Perspektive des Psychologischen Eudaimonismus 119

Die Ähnlichkeit zwischen (iv) und (iii) ist kaum zu übersehen. Im Prinzip
haben wir es nun mit einer Präzisierung der Frage zu tun, auf welche Wei-
se die objektiv bestimmte eudaimonia (die Erfüllung des menschlichen
ergon) den Handelnden als eudaimonia erscheinen kann (wonach sie tat-
sächlich streben). Es lässt sich daher leicht erkennen, wie die vermeintliche
Lücke zwischen I 5 und I 6 mit der Annahme des PsE zusammenhängt.
Folgt man Ricken, Bostock und anderen, dann geht es darum, die Erfül-
lung des ergon zu den tatsächlichen Strebenszielen der Menschen ins Ver-
hältnis zu setzen. Und nur wenn prinzipiell offen ist, was Menschen
erstreben, wird das Problem, weshalb sie etwas Bestimmtes erstreben soll-
ten, wirklich virulent. Es sind die Subjektivität und die Kontingenz der
Strebensziele, die den Übergang zum Ergon-Argument problematisch
erscheinen lassen.
Sobald man die Spannung beim Übergang zum Ergon-Argument auf
diese oder vergleichbare Weise beschreibt, nimmt man zwangsläufig die
Perspektive des PsE ein. Man geht explizit oder implizit davon aus, dass
die Gleichsetzung zwischen dem Guten und dem Erstrebten psychologisch
zu verstehen ist. Umgekehrt bedeutet dies, dass der PsE es nahe legt, das
Ergon-Argument als einen Einschnitt im Argumentationsverlauf zu be-
trachten. Das Ergon-Argument markiert den Wechsel von einer Betrach-
tung dessen, was Menschen kontingenterweise erstreben, zu einer Betrach-
tung dessen, was die eudaimonia tatsächlich ist.
Im Prinzip ist damit das Ziel des vorliegenden Abschnitts schon er-
reicht. Es sollte gezeigt werden, wie sich die Perspektive des PsE auf das
Verständnis der Vorgehensweise auswirkt. Die Annahme des PsE führt
dazu, dass der Argumentationsgang von EN I in zwei Teile zerfällt, die
durch die Interpretation, genauer: durch eine Beantwortung der unter (iv)
formulierten Frage, verbunden werden müssen. Um jedoch den Kontrast
zur gütertheoretischen Lektüre noch deutlicher zu machen, soll die hier
aufgenommene Spur noch einen Schritt weiter verfolgt werden. Im fol-
genden Abschnitt werde ich zwei einflussreiche Antworten skizzieren, die
mit Blick auf Frage (iv) diskutiert werden. Außerdem werde ich andeuten,
warum diese Antworten nach meiner Auffassung unzulänglich sind. Da-
nach wird es leichter fallen, den Unterschied zu beschreiben, den die hier
vorgelegte Interpretation von EN I 1-5 mit sich bringt.
120 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

Das Erstrebenswerte

Wie also lässt sich Frage (iv) beantworten? Welche Möglichkeiten könnte
es geben, das, was Handelnde als eudaimonia betrachten und dementspre-
chend erstreben, mit dem zu verbinden, was die eudaimonia objektiv gese-
hen ist, um so die vermeintliche Lücke zwischen I 5 und I 6 zu schließen?
Eine sehr einfache und mit dem PsE unmittelbar kompatible Antwort
bestünde in der Annahme einer instrumentellen Tugendkonzeption.
Wenn die Tugenden Werkzeuge zur Verwirklichung beliebiger Ziele wä-
ren, könnte man problemlos an diesen Zielen festhalten und zugleich
einen objektiven Zusammenhang zwischen eudaimonia und Tugend be-
haupten.
Interessanterweise führt Aristoteles in außerethischen Kontexten
manchmal einen solchen Tugendbegriff ein. So heißt es zum Beispiel in
Rhet. I 9: „Tugend aber ist, wie es scheint, eine Fähigkeit, Güter zu be-
schaffen und zu bewahren“ (ԐȢıijռ İ’ ԚIJijվ Ȟպȟ İփȟįȞțȣ, թȣ İȡȜı‫ה‬,
ʍȡȢțIJijțȜռ ԐȗįȚ‫׭‬ȟ Ȝįվ ĴȤȝįȜijțȜս: 1366a36-37). Für ethische Kontexte
gilt dies aber sicher nicht. In der Ethik wird die Tugend nicht instrumen-
tell aufgefasst, sondern als eines der Güter, die um ihrer selbst willen, ge-
nauer: um ihrer selbst und um der eudaimonia willen, erstrebt werden (EN
I 3, 1096a8-9; I 5, 1097b2-4). Der einfache Lösungsweg scheint daher
nicht in Frage zu kommen.
Eine andere Strategie bestünde in dem Versuch nachzuweisen, dass die
objektiv bestimmte eudaimonia, also die Erfüllung des menschlichen er-
gon, für jeden von uns erstrebenswert ist. Auf diese Weise könnte, in der
Formulierung Ursula Wolfs, der „objektive Ansatz, der sich auf die Natur
des Menschen beruft, [...] für das Individuum auch subjektiv plausibel
gemacht werden“ (2002, 190). Aristoteles müsste also zeigen, dass es etwas
gibt, was aus der Sicht des Einzelnen für die Erfüllung des menschlichen
ergon spricht, und zwar abgesehen davon, dass diese Erfüllung das beste
menschliche Gut darstellt. Diese Strategie soll im Folgenden etwas näher
betrachtet werden.
Zunächst darf nicht übersehen werden, dass dieser Weg Auswirkungen
auf die Theorie des PsE hat. In der bisherigen Beschreibung des PsE sind
wir von den gegebenen Wünschen und Strebenszielen einzelner Handeln-
der ausgegangen. Wir haben betont, dass diese Wünsche und Strebens-
ziele, abhängig von der jeweiligen Lebenssituation, sehr unterschiedlich
ausfallen können. 17 Um den angedeuteten Lösungsweg gangbar zu ma-

_____________
17 In moderner Terminologie würde man vermutlich von einer Variante eines „hume-
schen“ Modells sprechen, „das Handlungen mit Bezug auf Wünsche und relevante
3.1 Die Perspektive des Psychologischen Eudaimonismus 121

chen, müssen dagegen zwei Bedingungen erfüllt sein. Zum einen muss es
möglich sein, objektiv festzustellen, was für jemanden erstrebenswert ist.
Zum anderen müssen die Meinungen einer Person über das, was (für sie)
erstrebenswert ist, Auswirkungen darauf haben, was diese Person tatsäch-
lich erstrebt. Denn nur so kann die motivationale Rolle der eudaimonia
weiterhin sichergestellt werden. Es muss also möglich sein, durch Mei-
nungen Einfluss auf Strebungen zu nehmen. Für sich genommen ist diese
Annahme zwar nicht unplausibel. Es scheint Teil unserer praktischen Ra-
tionalität zu sein, dass unsere Meinungen über das Erstrebenswerte mit
dem von uns Erstrebten in einer näher zu bestimmenden Weise konver-
gieren. Ein Problem dieser verfeinerten Version des PsE liegt aber darin,
dass Aristoteles streng genommen keine Erwägung von Zielen vorsieht. Im
Aristotelischen Modell der Deliberation (ȖȡփȝıȤIJțȣ) werden Ziele durch
das Streben vorgegeben (EN III 7, 1113b3). Der Prozess der Deliberation
betrifft ausschließlich das, was auf das Ziel bezogen oder ausgerichtet ist
(pros to telos: III 5, 1112b34; III 7, 1113b4), im einfachsten Fall die erfor-
derlichen Mittel. Es ist daher nicht leicht zu sehen, wie eine Argumentati-
on über die richtigen Ziele Einfluss auf das Handeln nehmen könnte.
An dieser Stelle ist es nicht nötig, auf die komplexe Debatte um den
Ausdruck pros to telos und die Möglichkeit einer Erwägung von Zielen bei
Aristoteles näher einzugehen. 18 Wichtig ist lediglich die Beobachtung, wie
eine bestimmte Sicht auf das Projekt von EN I eine bestimmte Erwartung
an die Aristotelische Handlungstheorie generiert. Wir erwarten die Mög-
lichkeit einer Deliberation über Ziele, weil wir davon ausgehen, dass I 1-5
von tatsächlichen Strebenszielen spricht und I 6 ff. von dem, was erstre-
benswert ist.
Warum also sollte jemand die Erfüllung des menschlichen ergon für
erstrebenswert halten? Was spricht aus der Sicht des Handelnden für die
von Aristoteles entwickelte eudaimonia-Konzeption? Der Text von EN I
6-9 scheint mindestens zwei Optionen zu bieten, wie diese Frage beant-
wortet werden könnte. Nach der ersten Option enthielte bereits das Er-
gon-Argument selbst einen entscheidenden Hinweis, und es würde nur
darum gehen, eine bestimmte Hintergrundtheorie zu rekonstruieren.
Nach der zweiten Option böte erst die Berücksichtigung der gängigen
Meinungen (legomena) in EN I 8-9 die Möglichkeit, den objektiven
Glücksbegriff mit den tatsächlichen Strebenszielen der Menschen zu ver-
binden. Ich werde beide Optionen skizzieren und Einwände gegen sie
vorbringen.
_____________
Meinungen erklärt und nach dem praktische rationale Gründe immer auf der motiva-
tionalen Verfassung der betreffenden Person basieren müssen“ (Gosepath 1999, 14).
18 Hierzu nach wie vor einschlägig: Wiggins (1980).
122 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

Zu Beginn des Kapitels I 6 formuliert Aristoteles die These, dass für


jeden Gegenstand, der ein ergon hat, das Gute in diesem ergon liegt (Ցȝȧȣ
կȟ ԤIJijțȟ ԤȢȗȡȟ ijț Ȝįվ ʍȢֻȠțȣ, Ԛȟ ij‫ ׮‬ԤȢȗ‫ ׫‬İȡȜı‫ ה‬ijԐȗįȚրȟ ıՂȟįț: 1097b26-
27). Dabei scheint es nahe liegend, den Ausdruck „das Gute für x“ im
Sinne von „das Gute zum Vorteil von x“ zu verstehen, also den griechi-
schen Dativ (į՘ȝșij‫ ׇ‬... ԐȗįȝȞįijȡʍȡț‫ ׮‬... ʍįȟijվ ijıȥȟտijׄ ... ԐȟȚȢօʍ‫׫‬:
b25-28) als Dativus commodi zu lesen. Aristoteles würde demnach die
These vertreten, dass die Erfüllung des menschlichen ergon für den Men-
schen vorteilhaft ist; und es erscheint keinesfalls abwegig, sie aus diesem
Grund auch für erstrebenswert zu halten.
Die erste Option nimmt diese These beim Wort und interpretiert sie
als Ausdruck einer Hintergrundtheorie. Eine solche Theorie würde zeigen,
dass es für Gegenstände, die ein ergon haben, allgemein vorteilhaft ist,
dieses ergon zu erfüllen. Da EN I 6 jedoch keine weiteren Anhaltspunkte
zu dieser Theorie enthält, ist man für ihre Rekonstruktion auf andere Tex-
te angewiesen, wobei vor allem die Aristotelische Naturphilosophie als
wichtiger Bezugspunkt gilt. So beschreibt etwa Jennifer Whiting die Auf-
gabe, die sich mit dem Ergon-Argument stellt: „Aristotle must establish
some connection between a thing’s membership in a natural kind and
what is beneficially good for that thing“ (1988, 36). Nach Whitings Auf-
fassung wird diese Verbindung durch die Annahme von „unconditional or
categorical goods associated with natural kinds“ (ebd., 38) hergestellt. Ein
einfaches Beispiel für diese Güter sei die Gesundheit einer Pflanze. Was
die Gesundheit einer Pflanze ausmache, hänge von der charakteristischen
Struktur dieser Pflanze ab, also davon, was diese Pflanze ist. Der Fall des
Menschen sei dem der Pflanze im Prinzip analog, nur dass Menschen
bewusst erstreben könnten, was aufgrund ihrer Wesensbestimmung gut
für sie sei. 19 Nach der ersten Option würde der Zusammenhang zwischen
der objektiven Bestimmung der eudaimonia und dem Erstrebenswerten
also durch eine naturphilosophische Hintergrundtheorie sichergestellt.
Zwei Einwände lassen sich gegen diesen Ansatz erheben. Zum einen
ist es keineswegs klar, ob die Naturphilosophie des Aristoteles tatsächlich
die These enthält, dass es für Lebewesen vorteilhaft ist, ihr ergon zu erfül-
len. 20 Zum anderen irritiert es, dass der entscheidende Schritt nicht im
_____________
19 Whiting nennt außerdem einen instrumentellen Grund dafür, die eudaimonia in der
Vernunfttätigkeit zu sehen: „The general point is that if we are essentially rational
agents, we have reason to preserve our rational agency simply as a necessary condition
of attaining any of our goals, whatever they happen to be“ (ebd., 42).
20 In der Regel basieren Erklärungen, die die Erfüllung des ergon mit dem Vorteilhaften
in Verbindung bringen, auf folgendem Muster: Es ist gut im Sinne von vorteilhaft für
ein Lebewesen, wenn dessen Teile ihr ergon erfüllen. Zum Beispiel ist es für den Stier
von Vorteil, wenn seine Hörner der Verteidigung dienen (Part. an. III 2). Warum es
3.1 Die Perspektive des Psychologischen Eudaimonismus 123

Text der Nikomachischen Ethik selbst geschieht. Zwar ist nicht prinzipiell
auszuschließen, dass Aristoteles Theorieelemente anderer Schriften in der
Ethik voraussetzt. Wenn es aber zutrifft, dass er die Vorteilhaftigkeit der
Erfüllung des ergon vor Augen führen möchte, dann wäre zu erwarten,
dass er dem Nachweis dieser Vorteilhaftigkeit einen erheblich größeren
Raum zumisst. Der Versuch, die Hörer zu überzeugen oder ihnen die
Mittel zur Überzeugung anderer an die Hand zu geben, müsste ein beson-
deres Gewicht erhalten. (Auch diese Erwartung geht übrigens aus der An-
nahme des PsE hervor. Sie ergibt sich aus der These, dass die tatsächlichen
Strebungen berücksichtigt werden müssen, wenn die eudaimonia ihre
Rolle in der Erklärung von Handlungen erfüllen soll.)
Diese Einwände legen es nahe, die zweite Option zu bevorzugen, da
diese nicht mit impliziten Voraussetzungen operiert. Sie lässt sich folgen-
dermaßen zusammenfassen: Nachdem das höchste Gut mit Hilfe des Er-
gon-Arguments bestimmt wurde, bemüht sich Aristoteles nachzuweisen,
dass diese Bestimmung mit dem, was über die eudaimonia „gesagt“ wird,
kompatibel ist (ȉȜıʍijջȡȟ İպ ʍıȢվ į՘ij‫׆‬ȣ [...] Ȝįվ ԚȜ ij‫׭‬ȟ ȝıȗȡȞջȟȧȟ ʍıȢվ
į՘ij‫׆‬ȣ: I 8, 1098b9-11). Er versucht zu zeigen, dass die Definition der
eudaimonia als Tugend die wichtigsten Ansichten über die eudaimonia zu
integrieren vermag. Setzt man nun diese „wichtigsten Ansichten über die
eudaimonia“ mit dem gleich, was allgemein erstrebt wird – eben weil die
eudaimonia etwas ist, das erstrebt wird –, dann könnten die Kapitel I 8-9
eine Brücke vom Ergon-Argument zu den Strebenszielen handelnder Per-
sonen schlagen. Tugendhaft zu sein wäre deshalb erstrebenswert, weil
seine Begleiterscheinungen dem entsprechen, was wir erstreben. (Der Aus-
druck „Begleiterscheinungen“ ist hier in einem weiten Sinn gebraucht und
soll keine Festlegung über den genauen Zusammenhang zwischen der
Ausübung der Tugenden und den übrigen Eigenschaften eines glücklichen
Lebens bedeuten.)

_____________
aber für ein Lebewesen vorteilhaft sein sollte, das eigene ergon zu erfüllen, scheint zu-
nächst eher unklar. Zumindest ist nicht einzusehen, wie in beiden Fällen die gleiche
Begründung greifen könnte. Im Fall der Teile eines Lebewesens lässt sich ein Kontext
benennen, in dem Hörner, Rüssel, Schnäbel usw. eine bestimmte Funktion erfüllen.
Dieser Kontext ist das Überleben und Gedeihen des Lebewesens. Für ein Lebewesen
vorteilhaft zu sein bedeutet hier, auf spezifische Weise zu dessen Überleben und Ge-
deihen beizutragen. Wenn es aber um das ergon eines Lebewesens selbst geht, ist ein
solcher Kontext nicht ohne weiteres auszumachen. Mehr noch: Sobald wir eine funk-
tionale Deutung des Ausdrucks ergon für diesen Fall ablehnen, wie es beim ergon des
Menschen üblicherweise geschieht, weisen wir den Gedanken eines übergeordneten
Kontextes zwangsläufig zurück (vgl. für eine knappe Darstellung dieses Zusammen-
hangs: Nussbaum 21985, 100-106). Die Vorteilhaftigkeit der Erfüllung des ergon
müsste dementsprechend anders erklärt werden; und es scheint keineswegs offensicht-
lich, wie eine solche Erklärung aussehen könnte.
124 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

Nach der Interpretation von Ursula Wolf zum Beispiel liegt die Ver-
bindung zwischen „objektivem“ und „subjektivem Glücksbegriff“ in dem
Nachweis, dass ein tugendgemäßes Leben lustvoll ist: „Zu zeigen wäre,
dass diese Lebensform das Moment des Wohlgefühls (der Lust) enthält,
das, wie Aristoteles konstatiert, zum alltäglichen Glücksbegriff hinzu-
gehört“ (2002, 190f.). Der entsprechende Zusammenhang wird bereits in
Kapitel I 9 angedeutet (1099a7-21) und später, mit der Einführung des
Konzepts der „Tätigkeitslust“ in den beiden Lustabhandlungen der Niko-
machischen Ethik, genauer ausgeführt: „Aristoteles entdeckt [...], dass es
Lust an Tätigkeiten gibt, die nicht aus einem Mangel hervorgehen, son-
dern in denen sich die menschliche Natur verwirklicht, wenn kein Mangel
erfahren wird“ (ebd., 208). Die Pointe des Ansatzes besteht also in der
These, dass die von Aristoteles vorgeschlagene Definition des höchsten
Guts mit einer höherstufigen Lust verbunden und deshalb erstrebenswert
ist.
Zu den wichtigsten Anliegen der antiken philosophischen Ethik ge-
hört zweifellos der Nachweis, dass es aus unterschiedlichen Gründen bes-
ser ist, tugendhaft zu sein, als nicht tugendhaft zu sein. 21 Die Behandlung
der Meinungen zur eudaimonia kann als ein Beitrag zu diesem Anliegen
gelesen werden. Dennoch kann sie nicht als Lösung der hier formulierten
Aufgabe dienen; denn sie ist nicht dazu geeignet, die objektive Bestim-
mung der eudaimonia mit einer auf dem PsE basierenden Theorie der
Handlungserklärung zu verknüpfen. Ich werde in 4.1 noch etwas ausführ-
licher auf diesen Punkt eingehen, möchte aber jetzt schon einige Argu-
mente nennen:
In den Anfangszeilen des neunten Kapitels gibt Aristoteles einen Hin-
weis, warum die bestehenden Meinungen über die eudaimonia zu berück-
sichtigen sind:
Diese (Meinungen) werden zum Teil von vielen und seit alter Zeit vertreten, zum
Teil von wenigen angesehenen Männern, und es ist anzunehmen, dass keine die-
ser beiden (Gruppen) völlig falsch liegt; vielmehr werden sie zumindest in einem
oder sogar im meisten richtig liegen. 22 (1098b27-29)
Worum es Aristoteles geht, ist die (anzunehmende) Richtigkeit der ange-
führten Meinungen. Die legomena werden berücksichtigt, insofern sie
(wahrscheinlich) zutreffend sind. Dementsprechend dürfte es auch die
_____________
21 Vgl. die in diesem Kontext üblicherweise genannten Auseinandersetzungen des Sokra-
tes mit den „Amoralisten“ Kallikles und Thrasymachos (Platon, Gorgias, 481b ff.; Po-
liteia I, 336b ff.).
22 ijȡȫijȧȟ İպ ijո Ȟպȟ ʍȡȝȝȡվ Ȝįվ ʍįȝįțȡվ ȝȒȗȡȤIJțȟ, ijո İպ ՌȝȔȗȡț Ȝįվ ԤȟİȡȠȡț ԔȟİȢıȣ·
ȡ՘İıijȒȢȡȤȣ İպ ijȡȫijȧȟ ı՜ȝȡȗȡȟ İțįȞįȢijȑȟıțȟ ijȡ‫ה‬ȣ Ցȝȡțȣ, Ԑȝȝ’ ԥȟ ȗȒ ijț Ԯ Ȝįվ ijո
ʍȝı‫ה‬IJijį ȜįijȡȢȚȡ‫ף‬ȟ.
3.1 Die Perspektive des Psychologischen Eudaimonismus 125

Richtigkeit der vorgeschlagenen Definition der eudaimonia sein, die in I 9


auf dem Prüfstand steht. Dies kann gesagt werden, ohne sich auf die
komplexe Diskussion um den epistemischen Status der anerkannten Mei-
nungen (endoxa) bei Aristoteles einzulassen. Der Vergleich mit den lego-
mena ist ganz einfach Teil einer dialektischen Vorgehensweise. Selbst
wenn man also zugesteht, dass die Meinungen über die eudaimonia zum
Ausdruck bringen, was „von vielen und seit alter Zeit“ oder von „angese-
henen Männern“ erstrebt wird: dass diese Meinungen zutreffend sind, hat
mit ihrer motivationalen Relevanz nicht unmittelbar zu tun. Für die moti-
vationale Relevanz wäre gemäß der hier skizzierten Strategie vor allem
entscheidend, dass es sich um bestehende Ansichten handelt. Das heißt, der
Fokus des Arguments richtet sich auf einen anderen Aspekt der legomena
und der Vergleich zwischen Definition und legomena geschieht aus einem
anderen Grund, als es die Vertreter der zweiten Option annehmen.
Einige der von Aristoteles behandelten legomena lassen sich tatsächlich
als Meinungen darüber verstehen, was besonders erstrebenswert ist. Zu
diesen zählt etwa die Auffassung, dass Lust (ԭİȡȟս) und äußeres Wohler-
gehen (ԚȜijրȣ ı՘ıijșȢտį) notwendige Bestandteile der eudaimonia bilden
(1098b25-26). Ein großer Teil der legomena betrifft jedoch andere Aspek-
te, so zum Beispiel die traditionelle Dreiteilung der Güter, die Bestim-
mung der eudaimonia als Tätigkeit oder die Unterscheidung zwischen dem
„Besitzen“ (ԥȠțȣ) und dem „Ausüben“ (ԚȟջȢȗıțį) einer Tugend (1098b31-
1099a7). Es scheint sehr unwahrscheinlich, dass diese Aspekte für etwas
stehen sollten, was allgemein erstrebt wird. Und da Aristoteles keinen
Unterschied zwischen den legomena macht, ist es wesentlich plausibler, alle
Meinungen auf die Frage nach der Richtigkeit der Definition zu beziehen.
Zu einer angemessenen Bestimmung der eudaimonia gehört nach Aris-
toteles die Berücksichtigung äußerer Güter. Nur wer hinreichend mit
Geld, Freundschaften, politischem Einfluss usw. ausgestattet ist, kann
wirklich als glücklich bezeichnet werden (I 9, 1099a31-b8). Zwar behaup-
tet Aristoteles, dass Tugend eine gewisse Unabhängigkeit von äußeren
Umständen mit sich bringt; denn wer tugendhaft ist, wird nicht so leicht
aus diesem Zustand vertrieben (I 11, 1100b35-1101a13). Im Prinzip müs-
sen die erwähnten Güter aber der Definition der eudaimonia hinzugefügt
werden, was bereits aus den von Aristoteles verwendeten Formulierungen
hervorgeht, zum Beispiel: „der äußeren Güter zusätzlich bedürfen“ (ij‫׭‬ȟ
ԚȜijրȣ ԐȗįȚ‫׭‬ȟ ʍȢȡIJİıȡȞջȟș: I 9, 1099a31-32) oder „mit äußeren Gütern
hinreichend ausgestattet sein“ (ijȡ‫ה‬ȣ ԚȜijրȣ ԐȗįȚȡ‫ה‬ȣ ԽȜįȟ‫׭‬ȣ
ȜıȥȡȢșȗșȞջȟȡȟ: I 11, 1101a15). Aristoteles vertritt also keine „Suffizienz-
these“. 23 Er anerkennt, dass es glücksrelevante Faktoren gibt, die von
_____________
23 Vgl. zu diesem Ausdruck Horn (1998, 71).
126 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

dessen Bestimmung als Tugend nicht automatisch erfasst werden. Tugend


ist keine hinreichende Bedingung für Glück. Dieses Anerkenntnis er-
scheint aber problematisch, wenn es darum gehen sollte, die Definition
aus Kapitel I 6 mit den tatsächlich vorliegenden Strebungen der Handeln-
den zu verknüpfen. Denn für jemanden, der zum Beispiel nach äußeren
Gütern strebt, ist es letztlich gleichgültig, welcher Definition der eudaimo-
nia diese äußeren Güter hinzugefügt werden. 24
Angesichts dieser Argumente ist auch die zweite Option zur Beantwor-
tung von (iv) in Frage zu stellen.
Die hier getroffene Unterscheidung zwischen zwei Optionen ist
selbstverständlich sehr schematisch. Sie dient keineswegs dazu, ein umfas-
sendes Bild der Forschung zu zeichnen. Vielmehr ist sie ein heuristisches
Mittel, um grundlegende Strategien zur Beantwortung von (iv) zu benen-
nen. Nach beiden Strategien weist Aristoteles auf Eigenschaften seiner
eudaimonia-Konzeption hin, die diese Konzeption als für den Einzelnen
erstrebenswert erscheinen lassen. Gemäß der ersten Strategie liegen diese
Eigenschaften in der Vorteilhaftigkeit der Erfüllung des ergon, die durch
eine naturphilosophische Hintergrundtheorie sichergestellt werden soll.
Gemäß der zweiten Strategie liegen diese Eigenschaften in den „Begleit-
erscheinungen“ der eudaimonia, die nach dem Ergon-Argument präsen-
tiert werden. Demnach hätte jeder von uns Grund zu der Annahme, dass
ein tugendhaftes Leben Eigenschaften aufweist, die dem entsprechen, was
wir für ein glückliches Leben halten und erstreben. Entscheidend ist, dass
beide Strategien von einer bestimmten Beschreibung der Aufgabe abhän-
gen, die sich mit dem Übergang zum Ergon-Argument stellt. Diese Be-
schreibung geht mehr oder weniger explizit von der Annahme des PsE aus.
Insofern aber keine der beiden Optionen problemlos mit dem Aristoteli-
schen Text zu vereinbaren ist, liegt es nahe, nach einer alternativen Be-
schreibung der Aufgabe zu suchen.
Auf eine etwas andere Weise lässt sich das Problem des PsE folgen-
dermaßen zusammenfassen: Wenn es Aristoteles darum ginge, eine Brücke
zwischen seiner Definition der eudaimonia und den Strebenszielen han-
delnder Personen zu schlagen, so hätte er im Prinzip zwei Möglichkeiten.

_____________
24 Vgl. dazu die aufschlussreichen Bemerkungen von Sarah Broadie: „Aristotle knew that
his equation [between ‚living well’ and ‚living a life of ethical virtue’, Ph.B.] was what
we call a synthetic statement. As the style of his advocacy for it shows, he knew per-
fectly well that it was a contested position, and that both claim and counter-claim
were logically intelligible. [...] [O]ne cannot help wondering whether a hedonist or a
splendid life-ist as clever as Aristotle might not have turned the tables by showing
ways in which what is intuitively attractive about virtuous (in the ordinary sense) ac-
tivity is actually to be found, in some form or other, lurking within the folds of their
ideals“ (2006, 344).
3.2 Die gütertheoretische Perspektive 127

Er könnte (a) den objektiven Glücksbegriff den vorliegenden Strebens-


zielen annähern. Am einfachsten geschähe dies, wie erwähnt, durch eine
instrumentelle Auffassung der Tugenden. Jeder könnte tugendhaft sein
und zugleich an seinen individuellen Strebenszielen festhalten. Aristoteles
könnte aber auch (b) die Strebensziele dem objektiven Glücksbegriff an-
nähern. Er könnte zum Beispiel dafür argumentieren, dass Tugend unsere
Auffassung von der eudaimonia radikal verändert. Wenn für den Tugend-
haften nur die Tugend erstrebenswert erscheint, kann behauptet werden,
dass er in allem, was er tut, nach der „objektiven“ eudaimonia strebt. 25
Aristoteles scheint jedoch keinen dieser beiden Ansätze explizit zu verfol-
gen. Weder vertritt er einen instrumentellen Tugendbegriff noch einen
radikal revisionistischen Glücksbegriff. Genau dieser Umstand macht es so
schwierig, I 1-5 mit I 6 ff. unter Annahme des PsE zu verknüpfen.

3.2 Die gütertheoretische Perspektive


Wir sind nun in der Lage, den Unterschied zu beschreiben, den die hier
vorgestellte gütertheoretische Lektüre der Kapitel I 1-5 für das Verständnis
des weiteren Argumentationsgangs mit sich bringt. Was genau ist anders,
wenn wir diese Kapitel nicht unter dem Blickwinkel des PsE lesen?
Zunächst soll nicht bestritten werden, dass Aristoteles einen teleologi-
schen Ansatz zur Erklärung von Handlungen vertritt. Handlungen werden
von ihm unter Bezugnahme auf die Strebungen des Handelnden erklärt. 26
Außerdem soll nicht bestritten werden, dass Aristoteles im Rahmen dieses
Ansatzes mit Zweck-Mittel-Hierarchien operiert. Vor allem in seinen Aus-
führungen zur Deliberation (ȖȡփȝıȤIJțȣ) spielen solche Hierarchien eine
wichtige Rolle. Deliberation wird von Aristoteles als ein Vorgang be-
schrieben, bei dem ein gegebenes Ziel durch eine Folge von Zweck-Mittel-
Erwägungen mit einer „ersten Ursache“ (ʍȢ‫׭‬ijȡȟ įՀijțȡȟ) verknüpft wird,
die sich direkt umsetzen lässt (EN III 5, 1112b15-31). Bereits auf einer
handlungstheoretischen Ebene lässt sich jedoch bezweifeln, dass der PsE

_____________
25 Dies scheint die von John McDowell vertretene Sicht zu sein: „[I]f someone really
embraces a specific conception of human excellence, however grounded, then that will
of itself equip him to understand special employments of the typical notions of ‚pru-
dential’ reasoning – the notions of benefit, advantage, harm, loss, and so forth – ac-
cording to which (for instance) no payoff from flouting a requirement of excellence
[...] can count as a genuine advantage; and, conversely, no sacrifice necessitated by the
life of excellence [...] can count as a genuine loss“ (1980, 369).
26 Vgl. für eine übersichtliche Behandlung der entsprechenden Passagen aus De anima
und De motu animalium sowie für eine kurze Einführung in die Aristotelische „Hand-
lungstheorie“ insgesamt Corcilius/Rapp (2008).
128 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

einen Bestandteil dieses teleologischen Ansatzes bildet. Weder ist es eine


Voraussetzung für die Erklärbarkeit von Handlungen, dass alle Zielhierar-
chien in ein und dasselbe höchste Ziel münden. 27 Noch gibt es einen
Grund anzunehmen, dass Deliberation für Aristoteles stets bei der eudai-
monia als höchstem Ziel ansetzen würde. 28 Problematisch ist die Hinzufü-
gung des PsE zur Aristotelischen Theorie der Handlungserklärung. Im
vorliegenden Kontext geht es jedoch nicht um diese handlungstheoreti-
schen Einwände gegen den PsE. Entscheidend ist allein, wie die Annahme
des PsE unsere Sicht auf EN I 1-5 beeinflusst und was daraus für den wei-
teren Verlauf der Untersuchung folgt.
Anhand der in Kapitel 2 erzielten Ergebnisse lässt sich der Unterschied
zwischen der gütertheoretischen Perspektive und der Perspektive des PsE
relativ einfach darstellen. Um zunächst den Kontrast in Bezug auf EN
I 1-5 zu verdeutlichen, möchte ich mich an den in 3.1 formulierten The-
sen (i) bis (iii) orientieren und entsprechende Gegenthesen aufstellen.
In den Abschnitten 2.1 und 2.2 wurde dafür argumentiert, dass die
Identifikation zwischen Gütern und Zielen, die Aristoteles am Beginn von
EN I 1 einführt, als ein gütertheoretischer Ansatz zu verstehen ist: „x ist
ein Ziel“ dient hier als Kriterium für „x ist ein Gut“ (1094a1-3). Ein Vor-
teil dieses gütertheoretischen Ansatzes besteht darin, dass er es ermöglicht,
Güter miteinander zu vergleichen. Wenn a umwillen von b erstrebt wird,
dann ist b ein höheres Gut als a (a3-18). Auf der Basis dieses Vergleichs
lässt sich ein Kriterium für ein „höchstes Gut“ gewinnen. Das höchste Gut
ist ein „oberstes Ziel“: etwas, das stets um seiner selbst willen erstrebt wird,
während alles andere um seinetwillen erstrebt wird (a18-22). Nach allge-
meiner Auffassung ist das höchste Gut jedoch die eudaimonia (I 2,
1095a17-20).29 Ausgehend von dieser Interpretation der Kapitel I 1-2 liegt
_____________
27 Auch wenn Aristoteles es für eine Voraussetzung der Erklärbarkeit von Handlungen
betrachtet, dass die Zielhierarchien jeweils an ein Ende kommen (vgl. An. post. I 24,
85b27-38).
28 Vgl. die entsprechenden Beispiele aus EN III 5. Die Überlegungen des Arztes bezie-
hen sich auf die Gesundheit, die des Rhetors auf das Überzeugen, die des Politikers
auf die gute gesetzliche Ordnung usw. (1112b12-16). Ob und inwiefern der Aristote-
lische Hinweis auf die Überlegungen des „Weisen“ (phronimos), die sich auf das gute
Leben insgesamt beziehen sollen (ijր ı՞ Ș‫׆‬ȟ Ցȝȧȣ: EN VI 5, 1140a28), ein Gegen-
beispiel darstellt, müsste eigens diskutiert werden. Hier geht es zunächst um die Frage,
ob menschliches Handeln überhaupt auf diese Weise erklärt werden muss.
29 Die These, dass „alle alles um der eudaimonia willen tun“, lässt sich gütertheoretisch
folgendermaßen interpretieren: Es macht zwar stets Sinn zu behaupten, jemand
erstrebe etwas um der eudaimonia willen; es macht aber niemals Sinn zu behaupten,
jemand erstrebe die eudaimonia um einer anderen Sache willen. Die eudaimonia ist ein
Gut, das nicht instrumentalisierbar ist – was jedoch nicht bedeuten muss, dass alle un-
sere Handlungen auf dieses eine Gut abzielen würden (selbst wenn die von Aristoteles
gebrauchten Formulierungen prima facie darauf hinzudeuten scheinen; vgl. I 12,
3.2 Die gütertheoretische Perspektive 129

es also nahe, die Gleichsetzung zwischen der eudaimonia und dem obers-
ten Ziel folgendermaßen aufzufassen:
(i*) Bei der Gleichsetzung zwischen der eudaimonia und dem obersten
Ziel geht es nicht um die Erklärung konkreter Handlungen (dies
war These i), sondern um eine Darstellung der These, dass die eu-
daimonia das höchste Gut ist. Die Gleichsetzung gehört nicht in
einen handlungstheoretischen, sondern in einen gütertheoreti-
schen Kontext.
Eine entscheidende Eigenschaft des teleologischen Ansatzes liegt darin,
dass er auf einer Gemeinsamkeit „der Analogie nach“ (kat’ analogian) be-
ruht (vgl. 2.3.3 und 2.4). Das heißt, die Gemeinsamkeit zwischen den
verschiedenen Gütern besteht in der identischen Relation, die sie zu je-
weils verschiedenen Gegenständen aufweisen, der Relation nämlich, ein
Ziel für diese Gegenstände zu sein. In den Kapiteln I 1-3 sind uns unter-
schiedliche Gegenstandsklassen begegnet, auf die sich das Gute qua Ziel
beziehen lässt. So geht es zu Beginn von I 1 (1094a1-2) um unterschiedli-
che Arten menschlicher Tätigkeiten, in I 2 spricht Aristoteles von Perso-
nen („andere anderes“: 1095a23) und Lebenssituationen (Krankheit, Ar-
mut: a24-25), und in I 3 sind es grundlegende Lebensformen (Ȗտȡț), auf
die ein je eigenes (höchstes) Gut bezogen wird.
Dass Menschen mit ihren Handlungen Ziele verfolgen, soll hier kei-
neswegs bestritten werden. Allerdings scheint es nicht diese psychologische
Tatsache zu sein, um die es Aristoteles am Beginn der Nikomachischen
Ethik geht. Die genannten Beispiele sprechen eher dafür, dass „x ist das
Ziel von y“ hier einen begrifflichen Zusammenhang beschreibt (vgl.
2.2.2): Es gehört zum Begriff des Ziels, Ziel von etwas zu sein. Da dieser
Zusammenhang aus der Perspektive der „dritten Person“ hergestellt wer-
den kann, gibt es keinen Anlass, die Perspektive des Handelnden über-
haupt ins Spiel zu bringen. 30 Das heißt:
(ii*) Wenn (i*) zutrifft, dann führt die Gleichsetzung zwischen dem
Guten und dem Erstrebten nicht die Perspektive des Handelnden
ein. Es geht hier nicht um das, was Handelnde für das Gute hal-
_____________
1102a2-3; X 6, 1176a31-32). Ähnlich sieht es z.B. G.H. von Wright: „I would under-
stand Aristotle’s so-called eudaimonism in the following light: among possible ends of
human action, eudaimonia holds a unique position. This unique position is not that
eudaimonia is the final end of all action. It is that eudaimonia is the only end that is
never anything except final. It is the nature of eudaimonia that it cannot be desired for
the sake of anything else. This is, so Aristotle seems to think, why eudaimonia is the
highest good for man“ (1963, 90).
30 Vgl. hierzu noch einmal das oben (S. 66f.) genannte Beispiel des Herstellungsprozes-
ses, der durch sein Ziel „definiert“ wird.
130 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

ten und dementsprechend erstreben (dies war These ii). Vielmehr


führt die Gleichsetzung zwischen dem Guten und dem Erstrebten
einen gütertheoretischen Ansatz ein, der auf einer Gemeinsamkeit
kat’ analogian beruht. Die dafür entscheidenden Zusammenhänge
können aus der Perspektive der „dritten Person“ hergestellt wer-
den.
Der Unterschied zwischen (ii*) und (ii) lässt sich besonders gut anhand
der in 3.1 erwähnten Passage 1095a20-25 darstellen (s.o., S. 114). Aus der
Sicht des PsE verdeutlicht der Hinweis auf die unterschiedlichen Auffas-
sungen zur eudaimonia, dass die Perspektive des Handelnden (die Situa-
tion, in der sich dieser befindet, was er für gut hält und dementsprechend
erstrebt ...) letztlich unhintergehbar ist. Sie muss bei der Bestimmung der
eudaimonia berücksichtigt werden. Nach der hier vorgestellten Deutung
macht dieser Hinweis dagegen auf eine Konsequenz der Herangehensweise
aufmerksam. Wenn wir die eudaimonia als höchstes Ziel begreifen, werden
wir mit potentiell unendlich vielen „Glückskandidaten“ konfrontiert.
Denn nichts spricht prinzipiell dagegen, dass sich stets weitere analoge
Fälle konstruieren lassen. Die Antwort auf die Frage nach dem höchsten
Gut scheint zwangsläufig relativistisch auszufallen.
Da Aristoteles jedoch keinen Glücksrelativismus vertritt – er geht da-
von aus, dass es eine richtige Antwort auf die Frage nach der eudaimonia
gibt – und da er analogen Gemeinsamkeiten kritisch gegenübersteht (vgl.
2.4), können wir auch hier eine Aufgabe formulieren, die sich allein aus
der Herangehensweise ergibt:
(iii*) Wenn (ii*) zutrifft, dann geht es nicht darum zu zeigen, auf wel-
che Weise die objektiv bestimmte eudaimonia den Handelnden als
eudaimonia erscheinen kann (dies war These iii), sondern darum,
wie die eudaimonia innerhalb des gewählten Ansatzes überhaupt
bestimmt werden kann.
Mit dieser Aufgabe sind wir bei den Fragen angelangt, die wir zu Beginn
dieses Kapitels aufgeworfen haben: Wie lässt sich der Relativismus der
Güter überwinden? Wie können wir der relevanten Verschiedenheit der
Güter gerecht werden?
Die Zielsetzung der folgenden Abschnitte besteht in dem Nachweis,
dass Aristoteles in EN I 6-9 auf die unter (iii*) formulierte Aufgabe rea-
giert. Es soll gezeigt werden, dass diese Interpretation mit dem Text we-
sentlich besser übereinstimmt als der Versuch, die Kapitel I 6-9 auf Auf-
gabe (iii) zu beziehen.
Um den hier dargestellten Unterschied zwischen der Perspektive des
PsE und der gütertheoretischen Perspektive abschließend auf den Punkt
zu bringen, ist es hilfreich, sich an einer begrifflichen Unterscheidung zu
3.2 Die gütertheoretische Perspektive 131

orientieren. Je nach eingenommenem Blickwinkel steht hinter dem Ver-


hältnis zwischen I 1-5 und I 6-9 eine andere Dichotomie: 31
Aus der Perspektive des PsE geht es um den Unterschied zwischen
dem, was Handelnde (aus Sicht der „ersten Person“) für gut halten, und
dem, was (aus Sicht der „dritten Person“) gut ist. Diesen Unterschied
haben wir durch das Begriffspaar subjektiv – objektiv gekennzeichnet. Da-
bei ist zu beachten, dass „subjektiv“ nicht das gleiche bedeutet wie „gut
für“ oder „vorteilhaft“. Denn zum einen kann durchaus objektiv festge-
stellt werden, was gut für jemanden ist, zum anderen kann sich der Han-
delnde über das für ihn Gute täuschen.
Aus gütertheoretischer Perspektive basieren die Kapitel I 1-5 dagegen
eher auf einer Konzeption des relativ Guten, das heißt des Guten „in Rela-
tion zu“. Dabei ist zu beachten, dass „gut in Relation zu“ nicht das gleiche
bedeutet wie „subjektiv“ (vgl. 2.2.2). Es kann zum Beispiel objektiv der
Fall sein, dass es gut in Relation zum Fußballspiel ist, Tore zu schießen,
ohne dass die Spieler es auch für gut halten müssten, Tore zu schießen.
Genauer gesagt: Die Aussage, dass es gut in Relation zum Fußballspiel ist,
Tore zu schießen, ist für sich genommen keine Aussage über die Psycholo-
gie der Spieler. 32 Genauso wenig bedeutet „gut in Relation zu“ das gleiche
wie „gut für“ oder „vorteilhaft“. Es kann zum Beispiel gut in Relation zum
Klavierspiel sein, alle Töne zu treffen, ohne dass es für den Pianisten vor-
teilhaft sein müsste, alle Töne zu treffen. Genauer gesagt: Die Aussage,
dass es gut in Relation zum Klavierspiel ist, alle Töne zu treffen, ist für
sich genommen keine Aussage über die beruflichen Rahmenbedingungen
eines Musikers. Da der Begriff des Relativen üblicherweise dem des Abso-
luten gegenübergestellt wird, liegt es auf den ersten Blick nahe, von den
Kapiteln I 6 ff. die Einführung eines absolut Guten zu erwarten. Wie sich
weiter unten jedoch herausstellen wird, ist dies nicht der Weg, den Aristo-
teles einschlägt.

Das Ergon-Argument (EN I 6)

Angesichts der Deutungsprobleme, die das Ergon-Argument bereitet, und


angesichts der Aufmerksamkeit, die es erfahren hat, ist es schwierig, The-
sen zu diesem Textabschnitt zu äußern, denen nicht bereits widersprochen
_____________
31 Vgl. dazu die hilfreichen Unterscheidungen in Schroeder (2007).
32 Dass das Ziel des Fußballspiels (und damit das Gute in Bezug auf dieses Spiel) darin
besteht, Tore zu schießen, kann aus der Perspektive der „dritten Person“ festgestellt
werden, zum Beispiel durch bloßes Studium der Regeln. Dies gilt unbeschadet der
Tatsache, dass sich die Spieler, um Fußball zu spielen, dieses Ziel auch aneignen soll-
ten.
132 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

worden ist. Ich werde mich daher bei der Interpretation zunächst auf drei
einfache und, wie ich hoffe, relativ unkontroverse textliche Beobachtun-
gen konzentrieren.
Der erste Satz des sechsten Kapitels lautet:
Ԙȝȝ’ ՀIJȧȣ ijռȟ Ȟպȟ ı՘İįțȞȡȟտįȟ ijր ԔȢțIJijȡȟ ȝջȗıțȟ ՍȞȡȝȡȗȡփȞıȟցȟ ijț Ĵįտȟıijįț,
ʍȡȚı‫ה‬ijįț İ’ ԚȟįȢȗջIJijıȢȡȟ ijտ ԚIJijțȟ Ԥijț ȝıȥȚ‫׆‬ȟįț. (1097b22-24)
Der erste Teil dieses Satzes kann so gelesen werden, dass in der Infinitiv-
konstruktion eudaimonia das Subjekt und ariston das Prädikatsnomen ist.
Das Fragepronomen ti in der zweiten Satzhälfte würde sich dann ebenfalls
auf eudaimonia beziehen:
Zu sagen, dass Glück das Beste ist, scheint aber vielleicht etwas allgemein Aner-
kanntes zu sein. Wir verlangen aber, noch deutlicher zu sagen, was es (das Glück)
ist. 33
Liest man den Satz auf diese Weise, dann scheint es nahe liegend, Kapitel
I 6 als einen Wendepunkt in der Untersuchung zu begreifen. Während
bisher über die eudaimonia allein qua höchstes Gut gesprochen wurde,
würde sich die Argumentation jetzt der Frage zuwenden, was die eudaimo-
nia wirklich ist. Die Emphase läge also auf der ti estin-Frage (ʍȡȚı‫ה‬ijįț İ’
ԚȟįȢȗջIJijıȢȡȟ ijЃ ΤIJijțȟ Ԥijț ȝıȥȚ‫׆‬ȟįț), und es bestünde kein notwendiger
Zusammenhang zwischen der nun folgenden Antwort auf diese Frage und
dem, was bisher über die eudaimonia gesagt wurde.
Es gibt allerdings auch eine zweite Übersetzungsmöglichkeit, in der
ariston das Subjekt und eudaimonia das Prädikatsnomen ist. Nach dieser
Übersetzungsmöglichkeit würde sich das Fragepronomen ti in der zweiten
Satzhälfte auf ariston beziehen:
Zu sagen, dass das Beste Glück ist, scheint aber vielleicht etwas allgemein Aner-
kanntes zu sein. Wir verlangen aber, noch deutlicher zu sagen, was es (das Beste)
ist. 34
Die Symmetrie zur ersten Lesart scheint zunächst folgende Deutung zu
fordern: Während bisher über das Beste allein qua eudaimonia gesprochen
wurde, wendet sich die Argumentation jetzt der Frage zu, was das Beste
wirklich ist. Dabei besteht kein notwendiger Zusammenhang zwischen der
nun folgenden Antwort auf diese Frage und dem, was bisher über das
_____________
33 Vgl. z.B. Gigon (21995). Diese Übersetzung würde einen guten Anschluss an den
letzten Satz von EN I 5 bieten, in dem eudaimonia eindeutig Subjekt ist: „Also scheint
das Glück, als Ziel alles Handelns, etwas Vollkommenes und selbstgenügsam zu sein“
(ijջȝıțȡȟ İս ijț Ĵįտȟıijįț Ȝįվ į՜ijįȢȜıȣ ԭ ı՘İįțȞȡȟտį, ij‫׭‬ȟ ʍȢįȜij‫׭‬ȟ ȡ՞IJį ijջȝȡȣ:
1097b20-21).
34 Vgl. z.B. Broadie/Rowe (2002, mit Kommentar 276) und Wolf (2006, mit Kommen-
tar 347).
3.2 Die gütertheoretische Perspektive 133

Beste gesagt wurde. Angesichts des Fortgangs von Buch I scheint diese
Deutung jedoch wenig plausibel. Das Ziel der Untersuchung bleibt eine
Bestimmung der eudaimonia. Mit Blick auf dieses Ziel hat die Untersu-
chung des „Besten“ einen instrumentellen Charakter. Das Thema eudai-
monia wird keineswegs fallen gelassen.
Eine andere Deutung scheint daher näher zu liegen. Nach dieser Deu-
tung geht es nach wie vor um eine Bestimmung des „Besten“, die gemäß
der eingeschlagenen Strategie als Bestimmung der eudaimonia behandelt
werden kann. Die Emphase des zitierten Satzes liegt auf dem Versuch,
noch deutlicher zu sagen, was das Beste ist (ʍȡȚı‫ה‬ijįț İ’ ΤȟįȢȗϿIJijıȢȡȟ ijտ
ԚIJijțȟ Ԥijț ȝıȥȚ‫׆‬ȟįț). Das Ergon-Argument würde also keinen Wende-
punkt, sondern eher eine Fortsetzung der bisherigen Untersuchung bedeu-
ten. 35
Zieht man den weiteren Kontext in Betracht, dann spricht einiges da-
für, die zweite Lesart des Satzes der ersten vorzuziehen. Denn die zu Be-
ginn von I 5 aufgeworfene Frage lautet: „Was ist das gesuchte Gut?“ (ijր
ȘșijȡփȞıȟȡȟ ԐȗįȚցȟ, ijտ ʍȡij’ Ԓȟ ıՀș: 1097a15-16),36 und das zu Beginn
von I 7 gezogene Fazit lautet: „Dies möge als ein Umriss des Guten gel-
ten“ (ȇıȢțȗıȗȢչĴȚȧ Ȟպȟ ȡ՞ȟ ijԐȗįȚրȟ ijįփijׄ: 1098a20). Es scheint also
kein Wechsel in der Fragestellung stattzufinden. Außerdem wurde die
erste Antwort auf diese Frage bereits einer Präzisierung unterzogen: „Man
muss aber versuchen, dies noch genauer zu fassen“ (ijȡ‫ף‬ijȡ İ’ Ԥijț Ȟֻȝȝȡȟ
İțįIJįĴ‫׆‬IJįț ʍıțȢįijջȡȟ: 1097a24-25), so dass die Einleitung zu I 6 ein-
fach eine weitere Präzisierung ankündigen würde. (Hier sei noch einmal
an die argumentative Strategie der Eudemischen Ethik erinnert, die sich
explizit als eine „Klärung“ begreift; vgl. 1.1.)
Die erste Beobachtung zum Text des Ergon-Arguments lautet also: Der
Beginn von I 6 spricht dafür, das Ergon-Argument nicht als einen Wende-
punkt, sondern eher als eine Fortsetzung der bisherigen Argumentation zu
verstehen. Das höchste Gut (und damit die eudaimonia) soll noch genauer
bestimmt werden.
Die zweite Beobachtung lautet: Das Ergon-Argument bestimmt das ge-
suchte Gut als anthrôpinon agathon, das heißt als ein „menschliches“ be-
ziehungsweise „auf den Menschen bezogenes“ Gut. Dies geht aus der
Konklusion des Arguments unmissverständlich hervor (ıԼ İ’ ȡ՝ijȧ ijր

_____________
35 Die erste Satzhälfte kann dann auf den Schluss von I 5 bezogen werden, wo noch
einmal betont wird, dass allein die eudaimonia alle Kriterien eines höchsten Guts er-
füllt.
36 Da Aristoteles mit dem Beginn von I 5 von der Besprechung der gängigen Meinungen
zu seiner eigenen Antwort übergeht, scheint eher hier ein Einschnitt in der Untersu-
chung vorzuliegen.
134 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

ԐȟȚȢօʍțȟȡȟ ԐȗįȚրȟ ȦȤȥ‫׆‬ȣ ԚȟջȢȗıțį ȗտȟıijįț Ȝįij’ ԐȢıijսȟ: 1098a16-17)


und ist daher von dessen genauer Interpretation unabhängig.
Aus diesen beiden einfachen Beobachtungen ergibt sich bereits eine
Interpretationsaufgabe:
(iv*) Inwiefern kann das menschliche Gut (anthrôpinon agathon), von
dem im Ergon-Argument die Rede ist, als genauere Bestimmung
des gesuchten (höchsten) Guts begriffen werden?
Jede Interpretation des Ergon-Arguments, die die beiden Beobachtungen
für zutreffend hält, muss eine Lösung für diese Aufgabe anbieten. Im Kon-
text der vorliegenden Deutung der Kapitel I 1-5 erhält die Aufgabe jedoch
eine besonderes Gewicht. Denn sie lässt sich als Präzisierung der unter
(iii*) formulierten Frage verstehen, wie die eudaimonia innerhalb des ge-
wählten Ansatzes überhaupt bestimmt werden kann. (Deshalb wurde sie
hier mit (iv*) gekennzeichnet.) Die Präzisierung würde lauten: Inwiefern
kann, ausgehend von der in I 1-5 entworfenen Theorie des Guten, das
menschliche Gut als (genauere) Bestimmung des gesuchten (höchsten)
Guts begriffen werden? Da der teleologische Ansatz eine nicht-
relativistische Bestimmung des höchsten Guts als Problem erscheinen
lässt, würde (iv*) nicht nur eine, sondern die entscheidende Interpreta-
tionsaufgabe benennen.
Damit kommen wir zur dritten Beobachtung am Text des Ergon-
Arguments, für die wir uns dessen Struktur noch einmal vor Augen führen
sollten:
P 1: Für alles, was eine eigentümliche Leistung (ergon) und Tätigkeit
(praxis) hat, liegt das Gute (agathon) und das „auf gute Weise“ (ı՞) im
Erbringen dieser Leistung (1097b25-27).
P 2: Das ergon des Menschen ist die vernunftgemäße Tätigkeit der
Seele (ȦȤȥ‫׆‬ȣ ԚȟջȢȗıțį Ȝįijո ȝցȗȡȟ) (1097b27-1098a7).
P 2’: Das ergon des vortrefflichen Menschen (spoudaios) besteht darin,
das ergon des Menschen auf gute Weise (ı՞), das heißt gemäß der ihm
eigentümlichen Tugend (Ȝįijո ijռȟ ȡԼȜıտįȟ ԐȢıijսȟ), zu erfüllen
(1098a7-12).
K: Das „menschliche Gut“ (anthrôpinon agathon) besteht in der tu-
gendgemäßen Tätigkeit der Seele (ȦȤȥ‫׆‬ȣ ԚȟջȢȗıțį Ȝįij’ ԐȢıijսȟ)
(1098a16-20).
Die dritte Beobachtung lautet: EN I 6 enthält – vielleicht erstaunlicher-
weise – nur eine Passage, in der über den Zusammenhang zwischen der
Erfüllung des ergon und dem für den Menschen Guten gesprochen wird.
Dies ist die erste Prämisse des Arguments. Die zweite Prämisse sagt dage-
3.2 Die gütertheoretische Perspektive 135

gen, worin das ergon des Menschen (P 2) beziehungsweise das ergon eines
vortrefflichen Menschen (P 2’) besteht. Dabei fällt auf, dass das Augen-
merk der Argumentation auf den Prämissen P 2 beziehungsweise P 2’
liegt. Während P 1 in lediglich vier Zeilen abgehandelt wird (1097b25-
28), entfallen auf P 2 und P 2’ beinahe zwanzig Zeilen (1097b28-
1098a12). Und auch in der Rekapitulation des Arguments (a12-16) wer-
den lediglich P 2 und P 2’ zusammengefasst.
Wenn es aber zutrifft, dass allein in der ersten Prämisse über den Zu-
sammenhang zwischen der Erfüllung des ergon und dem Guten gespro-
chen wird, dann bieten diese Zeilen genau genommen den einzigen An-
haltspunkt zur Lösung von (iv*). Zur Lösung von (iv*) muss dargestellt
werden, ob und inwiefern die hier gegebene Bestimmung des Guten als
eine Präzisierung dessen verstanden werden kann, was vor I 6 über das
Gute gesagt wurde:
Denn wie für den Aulosspieler und für den Bildhauer und für jeden Künstler und
insgesamt für jeden, der eine bestimmte Leistung (ergon) und Tätigkeit hat, in
(dem Erbringen) dieser Leistung das Gute und das ‚auf gute Weise’ zu liegen
scheint, so dürfte es wohl auch für den Menschen der Fall sein, wenn er denn ei-
ne bestimmte Leistung hat. 37 (1097b25-28)
Inwiefern also knüpfen diese vier Zeilen an Bekanntes an, inwiefern for-
mulieren sie etwas im Kontext der Untersuchung Neues?
Neu ist zweifellos die These, dass es Personengruppen gibt, die als sol-
che ein ergon haben. Davon war in den Kapiteln I 1-5 nicht die Rede.
Zwar taucht der Ausdruck ergon schon im ersten Kapitel der Nikomachi-
schen Ethik auf, er wird hier aber nicht auf Personen, sondern auf Tätig-
keiten bezogen (1094a3-5). EN I 6 markiert also gleichsam den Übergang
vom Herstellungsvorgang (technê) zur herstellenden Person (technitês).
Dass ein ergon als etwas Gutes bezeichnet werden kann, ist jedoch
streng genommen kein neuer Gedanke. Vielmehr werden erga bereits in
den ersten Zeilen von Kapitel I 1 als Beispiele für Ziele und damit für
Güter genannt (1094a5).38 Ausgehend von der Gleichsetzung zwischen
Gütern und Zielen, die am Beginn der Nikomachischen Ethik eingeführt
wird, ist es keine Überraschung, dass auch in EN I 6 ein Zusammenhang
zwischen dem ergon und dem Guten hergestellt wird.
Wie aber sieht es mit der These aus, dass im ergon des Menschen das
für den Menschen Gute liegen soll? Versteht man den Dativ anthrôpôi
(„dem Menschen“), wie durch die in 3.1 beschriebene Strategie nahe ge-
_____________
37 խIJʍıȢ ȗոȢ į՘ȝșij‫ ׇ‬Ȝįվ ԐȗįȝȞįijȡʍȡț‫ ׮‬Ȝįվ ʍįȟijվ ijıȥȟȔijׄ, Ȝįվ Ցȝȧȣ կȟ ԤIJijțȟ ԤȢȗȡȟ
ijț Ȝįվ ʍȢֻȠțȣ, Ԛȟ ij‫ ׮‬ԤȢȗ‫ ׫‬İȡȜı‫ ה‬ijԐȗįȚրȟ ıՂȟįț Ȝįվ ijր ı՞, ȡ՝ijȧ İȪȠıțıȟ Ԓȟ Ȝįվ
ԐȟȚȢȬʍ‫׫‬, ıՀʍıȢ ԤIJijț ijț ԤȢȗȡȟ į՘ijȡ‫ף‬.
38 Diesen Zusammenhang sieht z.B. auch U. Wolf (2002, 38f.).
136 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

legt, als Dativus commodi (s.o., S. 122), dann ist diese These zweifellos
neu. Das Gute im Sinne des Vorteilhaften hat in I 1-5 keine Rolle ge-
spielt. Demnach wäre der Verweis auf das ergon in I 6 mit einer völlig
anderen Bedeutung von „gut“ verbunden als in I 1. Wenn jedoch die er-
wähnte Strategie obsolet wird, das heißt wenn wir gar nicht erwarten, dass
Aristoteles hier über die Vorteile des menschlichen Guts sprechen möchte,
dann eröffnet sich die Möglichkeit, den Dativ anders zu lesen. Der Dativ
ließe sich dann auf die Relation zwischen den Gütern und den ihnen zu-
geordneten Gegenständen beziehen. 39 So wie in Bezug auf den Aulosspieler
(į՘ȝșij‫ )ׇ‬das Gute im Aulosspielen liegt und in Bezug auf den Bildhauer
(ԐȗįȝȞįijȡʍȡț‫ )׮‬in der Statue, so liegt das Gute in Bezug auf den Men-
schen (anthrôpôi) im ergon des Menschen. In der Wendung „das Gute für
den Menschen“ käme also das zur Sprache, was oben bereits festgestellt
wurde: Wenn Güter als Ziele bestimmt werden, dann werden sie stets in
Relation zu etwas bestimmt, dessen Ziele sie sind (vgl. 2.2.2). Zu dieser
Deutung passt auch, dass Aristoteles seine These durch eine Reihe von
Beispielen einführt, in denen jeweils die gleiche Relation besteht. Die
Darstellung geschieht wie in den Kapiteln I 1-5 mit Hilfe einer Analogie.
Wenn wir der gütertheoretischen Lektüre dieser Kapitel folgen, dann lässt
sich die erste Prämisse des Ergon-Arguments also problemlos erklären.
In seinem vielzitierten Aufsatz „Aristotle on Happiness“ urteilt An-
thony Kenny über das Ergon-Argument: „The surprising step in this ar-
gument is the identification of the good for man with the characteristic
activity of the good man“ (1977, 27). Wenn die hier angestellten Beo-
bachtungen zutreffen und wenn „good for“ nicht im Sinne von „vorteil-
haft“ verstanden werden muss, dann ist gerade diese Identifikation kein
„surprising step“. Sie würde vielmehr an den bereits in EN I 1 eingeführ-
ten teleologischen Ansatz zur Bestimmung des Guten anknüpfen. So wür-
de sich auch erklären, warum Aristoteles dem Zusammenhang zwischen
dem Guten und dem ergon so wenig Beachtung schenkt und sich stattdes-
sen auf die inhaltliche Bestimmung des menschlichen ergon konzentriert.
Folgt man der hier vorgeschlagenen Interpretation der Kapitel I 1-5,
dann fällt die Antwort auf (iv*) erstaunlich einfach aus. Das Ergon-
Argument hält am gütertheoretischen Rahmen der Kapitel I 1-5 fest, das
heißt Güter werden weiterhin als Ziele aufgefasst. In diesen Rahmen wird
allerdings eine neue „Gegenstandsklasse“ eingeführt; denn nun geht es um
Personengruppen, die als solche ein ergon haben. Dieser Schritt, das heißt

_____________
39 Unter dieser Voraussetzung ließe sich auch der Übergang zum „menschlichen Gut“
(anthrôpinon agathon), den die Konklusion des Ergon-Arguments vollzieht, sehr ein-
fach erklären. Das menschliche Gut ist das Gut „in Bezug auf den Menschen“, von
dem bereits in der ersten Prämisse die Rede ist.
3.2 Die gütertheoretische Perspektive 137

die Einführung einer neuen Klasse von Gegenständen, auf die sich das
Gute als Ziel beziehen lässt, ist jedoch ebenfalls kein „surprising step“. Er
knüpft vielmehr nahtlos an die Vorgehensweise der ersten Kapitel aus
EN I an, wo wir bereits einige dieser Gegenstandsklassen kennengelernt
haben, wie etwa Tätigkeiten (I 1), Personen in bestimmten Lebenssitua-
tionen (I 2) und Lebensformen (I 3). Die eigentliche „Aufgabe“ des Er-
gon-Arguments besteht zum einen in dem Nachweis, dass der Mensch zu
der relevanten Gegenstandsklasse gehört, das heißt dass er ein spezifisches
ergon hat, und zum anderen in der Bestimmung dieses menschlichen er-
gon. Sehr vereinfacht gesprochen wird in EN I 6 also einer der zahllosen
analogen Fälle herausgegriffen und einer genaueren Betrachtung unterzo-
gen. Die einfache Antwort auf (iv*) lautet damit: Das „menschliche Gut“
ist deshalb eine genauere Bestimmung des gesuchten (höchsten) Guts, weil
es einen der Fälle bildet, die mit Hilfe des teleologischen Ansatzes identifi-
ziert werden können.
Auf diese Weise erhalten wir auch eine Antwort auf (iii*), das heißt
auf die Frage, wie sich das höchste Gut innerhalb des gewählten Ansatzes
überhaupt bestimmen lässt. Innerhalb des gewählten teleologischen Ansat-
zes lässt sich das höchste Gut nur dadurch genauer bestimmen, dass man
den entscheidenden Einzelfall betrachtet. Und wie wir in 2.3.3 und 2.4
gesehen haben, scheint dies tatsächlich die einzige Möglichkeit zu sein, die
eine Gemeinsamkeit „der Analogie nach“ bietet. Neben der Angabe der
strukturellen Identität bleibt nur eine Untersuchung der einzelnen Fälle.
Entgegen unserer prima facie-Erwartung führt das Ergon-Argument also
kein Konzept des „absolut Guten“ ein, das dem „Guten in Relation zu“
gegenübergestellt würde – es greift vielmehr eines der relativen Güter her-
aus. 40 Aus gütertheoretischer Perspektive ist die Funktion des Ergon-
Arguments damit im Wesentlichen beschrieben.

_____________
40 Die weiter oben geäußerte These, dass Aristoteles keinen Glücksrelativismus vertritt,
ist also streng genommen falsch. Tatsächlich geht es Aristoteles um das Glück bezie-
hungsweise das Gute in Bezug auf den Menschen. Auch der Aristotelische Terminus
des agathon haplôs, also des „Guten schlechthin“, darf nicht im hier vorgestellten Sinn
eines „absolut Guten“ verstanden werden. Wenn Aristoteles behauptet, schlechthin
gut für den Körper sei das, was für den gesunden (im Gegensatz zum kranken) Körper
zuträglich ist (ijո Ȟպȟ ȗոȢ ij‫ ׮‬ՙȗțįտȟȡȟijտ ĴįȞıȟ IJօȞįijț IJȤȞĴջȢȡȟijį ԑʍȝ‫׭‬ȣ ıՂȟįț
IJօȞįijț ԐȗįȚչ, ijո İպ ij‫ ׮‬ȜչȞȟȡȟijț ȡ՜: EE VIII 2, 1235b33-34), dann spricht er im-
mer noch von einem Gut in Bezug auf den Körper.
138 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

Ein Einwand

Im vorigen Abschnitt wurde eine Frage formuliert, die sich aus zwei einfa-
chen Beobachtungen zum Text des Ergon-Arguments ergibt und der sich
daher jede Interpretation dieses Arguments zu stellen hat: Inwiefern kann
das menschliche Gut als genauere Bestimmung des gesuchten höchsten
Guts verstanden werden? Es wurde gezeigt, dass die gütertheoretische
Perspektive eine ebenfalls einfache Antwort auf diese Frage ermöglicht.
Das menschliche Gut kann als genauere Bestimmung des gesuchten
höchsten Guts verstanden werden, weil es eines der (höchsten) Ziele ist,
die gemäß dem in I 1 entworfenen teleologischen Ansatz (höchste) Güter
darstellen. Wie wir gesehen haben, liegt hierin auch die Lösung des ent-
scheidenden Problems, das der teleologische Ansatz aufwirft, nämlich des
Problems, wie man auf der Basis dieses Ansatzes überhaupt ein höchstes
Gut bestimmen kann. Die Lösung lautet: Man muss eines der relativen
höchsten Güter herausgreifen. Der offensichtliche Vorteil gegenüber der
in 3.1 vorgestellten Perspektive des PsE besteht darin, dass wir nun nicht
mehr von einer argumentativen Lücke zwischen den Kapiteln I 5 und I 6
ausgehen müssen, sondern – im Gegenteil – das Ergon-Argument als Re-
aktion auf die vorausgehende Untersuchung begreifen können.
Um das Bild weiter auszumalen und den Zusammenhang zwischen
EN I 1-5 und EN I 6-9 noch deutlicher zu machen, möchte ich mich im
Folgenden mit einem wichtigen Einwand auseinandersetzen. Nach diesem
Einwand könnte man zwar zugestehen, dass I 6 durch I 1 vorbereitet wird,
indem in beiden Kapiteln vom ergon als etwas Gutem die Rede ist. Außer-
dem könnte man zugestehen, dass der Dativ in P 1 die Relation zwischen
ergon und Gegenstand bezeichnet und nicht die Vorteilhaftigkeit der Er-
füllung des ergon. Zugleich müsse man aber darauf hinweisen, dass ent-
scheidende Aspekte des Ergon-Arguments in der vorgeschlagenen Inter-
pretation ausgeblendet würden. Zum einen tauche die
naturphilosophische Theorie, auf die das Ergon-Argument verweise, in der
vorgestellten Deutung nicht auf. Zum anderen werde der Hinweis, dass
derjenige, der sein ergon gut (ı՞) erfüllt, ein vortrefflicher Mensch ist,
nicht berücksichtigt. Es möge daher zwar zulässig sein, das Ergon-
Argument auf Aufgabe (iii*) zu beziehen. Es sei jedoch unzulässig, die
wesentliche Funktion des Ergon-Arguments in der Lösung dieser Aufgabe
zu sehen. Die Bedeutung des Textabschnitts würde dadurch viel zu weit
heruntergespielt. Deshalb könne auch nicht behauptet werden, dass die
hier vorgestellte Sicht auf EN I 1-5 eine angemessenere Deutung des Er-
gon-Arguments ermöglicht als etwa die auf dem PsE basierende Sicht.
Die Entgegnung auf diesen Einwand liegt in einer Umkehr der Be-
weislast. Mit Blick auf den Argumentationsgang in EN I 6 müsste nach
3.2 Die gütertheoretische Perspektive 139

meiner Auffassung eher gezeigt werden, dass den hier „ausgeblendeten“


Aspekten eine tragende Rolle zukommt. Beginnen wir dazu wieder mit
zwei Beobachtungen, die relativ unkontrovers sein dürften:
(1) Der Begriff des ergon spielt in den naturphilosophischen, insbe-
sondere den biologischen Schriften des Aristoteles eine wichtige
Rolle. So bildet er zum Beispiel die Grundlage für die Erklärung
des Aufbaus von Lebewesen. Die konkrete Gestalt der Körperteile
und Organe eines Lebewesens soll sich nach Aristoteles durch die
Funktion erklären lassen, die diese Körperteile und Organe für das
Überleben und Gedeihen des entsprechenden Lebewesens erfül-
len. 41 Darüber hinaus spricht Aristoteles an einigen Stellen auch
Lebewesen als solchen ein ergon zu (vgl. z.B. Gen. an. I 23,
731a24-b2). Dieses ergon ist zwar vermutlich nicht im Sinne einer
Funktion aufzufassen, kann aber als Ziel der natürlichen Entwick-
lung des entsprechenden Lebewesens verstanden werden (vgl.
hierzu Protr. B17 DÜRING). Und da Ziele im Kontext der Natur-
teleologie regelmäßig mit Gütern identifiziert werden, ist es nicht
verwunderlich, dass Aristoteles auch das Gute für den Menschen
mit der Erfüllung des menschlichen ergon identifiziert. 42
(2) Das Ergon-Argument enthält die These, dass ein Mensch, der sein
ergon auf gute Weise erfüllt, ein vortrefflicher Mensch (IJʍȡȤİį‫ה‬ȡȣ
ԔȟȚȢȧʍȡȣ) im Sinne eines guten Exemplars seiner Spezies ist.
Diese These verweist auf eine Konzeption des Guten, die von der
in Kapitel I 1 vorgestellten Konzeption verschieden ist. Auf der
Ebene der Grammatik lässt sich dies anhand der Unterscheidung
zwischen einer attributiven („ein gutes x“) und einer prädikativen
(„x ist gut“) Verwendung des Ausdrucks „gut“ verdeutlichen.
Angesichts dieser beiden Beobachtungen liegt es zum einen nahe, mehr
hinter dem Ergon-Argument zu vermuten, als hier vorgeschlagen wurde.
Zum anderen liegt es nahe, die Naturphilosophie des Aristoteles als Hin-
tergrund für die Interpretation von EN I 6 heranzuziehen. Betrachtet man
das Kapitel jedoch etwas genauer, dann fällt auf, dass Aristoteles geradezu
vermeidet, die Argumentation von Zusatzprämissen abhängig zu machen.
Das Ergon-Argument ist so formuliert, dass es sich ohne Rückgriff auf
implizite naturphilosophische Annahmen nachvollziehen lässt. Dieser
Eindruck wiederholt sich an unterschiedlichen Stellen des Textes.

_____________
41 Die ausführliche Behandlung der einzelne Gewebe und Organe in Part. an. II-IV
bietet hierfür zahllose Beispiele.
42 Vgl. zu diesem Zusammenhang Müller (2006b, Kap. II.6) mit den entsprechenden
Stellenverweisen.
140 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

Zunächst wird die These, dass es Gegenstände gibt, die „als solche“ ein
ergon haben, nicht durch den Verweis auf natürliche Arten eingeführt,
sondern am Beispiel der Vertreter „herstellender“ Berufe. 43 (Der Ausdruck
„Natur“ [ĴփIJțȣ], taucht im Kontext des Ergon-Arguments nur in einer
Randbemerkung auf: 1097b30.) Auch der Gedanke, dass der Mensch ein
spezifisches ergon aufweist, wird nicht unter Rekurs auf naturphilosophi-
sche Vorannahmen eingeführt. Er wird vielmehr anhand einfacherer Bei-
spiele plausibel gemacht (1097b28-33). Zu diesen Beispielen zählen wie-
derum nicht natürliche Arten, sondern Handwerker und Körperteile, also
Gegenstände, bei denen offensichtlich ist, dass sie eine eigentümliche Leis-
tung besitzen.
Die These, dass die Erfüllung des ergon etwas Gutes „für x“ ist, lässt
sich, wie erläutert, auf der Basis der in I 1-5 umrissenen Gütertheorie er-
klären. Selbst wenn es eine naturphilosophische Theorie geben sollte, die
einen Zusammenhang zwischen der Erfüllung des ergon und dem für den
Menschen Guten herstellt, 44 gibt es keinen Grund, diese Theorie für die
Interpretation von EN I 6 heranzuziehen. Dies gilt vor allem dann, wenn
die erste der drei erwähnten Beobachtungen zum Text des Ergon-
Arguments zutrifft, wenn also das Ergon-Argument eine Fortsetzung der
bisherigen Untersuchung darstellen soll. Im Kontext von EN I scheint die
Erfüllung des ergon nicht deshalb etwas Gutes „für x“ zu sein, weil es der
Natur von x entspricht, dieses ergon zu erfüllen. Sie ist vielmehr deshalb
etwas Gutes (in Bezug auf x), weil dadurch ein Ziel (das Ziel von x) er-
reicht wird. Im Ergon-Argument der Eudemischen Ethik wird dieser Ge-
danke sogar explizit ausgesprochen:
Und wie sich die Dispositionen zueinander verhalten, so sollen sich auch die von
ihnen herstammenden erga zueinander verhalten. Und das Ziel jedes Einzelnen ist
das ergon. Aus diesem ist also offensichtlich, dass das ergon besser ist als die Dispo-
sition. Denn das Ziel ist, da es Ziel ist, das Beste. Es wurde nämlich zugrunde ge-
legt, dass das Ziel, das heißt das Letzte, worumwillen alles andere (gewählt wird),
das Beste ist. Dass also das ergon besser ist als die Disposition und der Zustand, ist
offensichtlich. 45 (II 1, 1219a6-12)

_____________
43 Hierin liegt eine grundlegende Schwäche des in 3.1 erwähnten Ansatzes von Jennifer
Whiting. Whiting muss die von Aristoteles eingeführte Analogie zwischen den Ange-
hörigen bestimmter Berufsgruppen und dem Menschen einschränken, da sie nur im
Fall natürlicher Arten einen Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit von x zu ei-
ner Art F und dem Gut für x sieht (1988, 35-37). Für eine solche Einschränkung gibt
es im Rahmen von EN I 6 aber keinen Anhaltspunkt.
44 Auf einen möglichen Einwand gegen die Annahme einer solchen Theorie wurde
bereits hingewiesen (s.o., S. 122f., FN 20).
45 Ȝįվ թȣ ԤȥȡȤIJțȟ įԽ ԥȠıțȣ ʍȢրȣ Ԑȝȝȓȝįȣ, ȡ՝ijȧ Ȝįվ ijո ԤȢȗį ijո Ԑʍր ijȡȫijȧȟ ʍȢրȣ
Ԕȝȝșȝį ԚȥȒijȧ. Ȝįվ ijȒȝȡȣ ԛȜȑIJijȡȤ ijր ԤȢȗȡȟ. — ĴįȟıȢրȟ ijȡȔȟȤȟ ԚȜ ijȡȫijȧȟ Ցijț
ȖȒȝijțȡȟ ijր ԤȢȗȡȟ ij‫׆‬ȣ ԥȠıȧȣ· ijր ȗոȢ ijȒȝȡȣ ԔȢțIJijȡȟ թȣ ijȒȝȡȣ· ՙʍȪȜıțijįț ȗոȢ ijȒȝȡȣ ijր
3.2 Die gütertheoretische Perspektive 141

Ähnlich verhält es sich mit der Einführung des „vortrefflichen“ Menschen


im weiteren Verlauf des Ergon-Arguments. Der Zusammenhang zwischen
der tugendgemäßen Ausübung des ergon und der Vortrefflichkeit des Aus-
übenden wird keineswegs durch den Verweis auf eine bestimmte Natur-
auffassung hergestellt, sondern mit Hilfe der folgenden Analogie:
Wenn das ergon des Menschen in einer Tätigkeit der Seele gemäß der Vernunft,
oder (zumindest) nicht ohne Vernunft, besteht, wir aber sagen, dass das ergon die-
ses (Gegenstandes) und dieses vortrefflichen (Gegenstandes) der Gattung nach
das gleiche ist, wie zum Beispiel (das ergon) des Kitharisten und des vortrefflichen
Kitharisten, und sich dies insgesamt bei allen so verhält, so dass wir dem ergon das
Übertreffen gemäß der Tugend hinzufügen – denn (das ergon) des Kitharisten ist
das Kitharaspielen, (das ergon) des vortrefflichen Kitharisten das gute (ı՞) Kitha-
raspielen: wenn sich dies so verhält [...]. 46 (1098a7-12)
Auch hier bleibt Aristoteles auf dem vorgezeichneten Weg. Denn zum
einen bedient er sich wieder eines Beispiels aus dem Bereich der technê,
zum anderen ist er primär an einem Vergleich interessiert. In der zitierten
Passage wird jedenfalls nicht darüber gesprochen, dass der vortreffliche
oder tugendhafte Mensch in einem guten Zustand ist, sondern darüber,
dass das ergon des tugendhaften Menschen das ergon des Menschen „über-
trifft“ (a11): es ist ganz einfach besser als jenes. Die Einführung der Figur
des Tugendhaften geschieht also nicht als Einführung einer völlig neuen
Konzeption des Guten, sondern als Einführung eines neuen „Topos“ zum
größeren Gut. (Topen dieser Art, das heißt Topen, die auf einem verglei-
chenden Werturteil basieren, über das Einigkeit besteht, sind uns bei der
Lektüre von Rhet. I 7 bereits begegnet. Sie wurden dort als Topen des
Typs A gekennzeichnet; vgl. 1.3.)
Vor diesem Hintergrund ist, nebenbei bemerkt, auch zu verstehen,
warum Aristoteles das ergon des vortrefflichen Menschen (P 2’) mit dem
menschlichen Gut schlechthin identifiziert (K); streng genommen müsste
in der Konklusion des Ergon-Arguments nämlich vom Gut des vortreffli-
chen Menschen die Rede sein. 47 Unter der Voraussetzung, dass wir nach
wie vor nach einem höchsten Gut suchen und dass das ergon des vortreffli-
chen Menschen der Gattung nach das gleiche ist wie das ergon des Men-

_____________
ȖȒȝijțIJijȡȟ Ȝįվ ijր ԤIJȥįijȡȟ, ȡ՟ ԥȟıȜį ijԖȝȝį ʍȑȟijį. Ցijț Ȟպȟ ijȡȔȟȤȟ ijր ԤȢȗȡȟ ȖȒȝijțȡȟ
ij‫׆‬ȣ ԥȠıȧȣ Ȝįվ ij‫׆‬ȣ İțįȚȒIJıȧȣ, İ‫׆‬ȝȡȟ.
46 ıԼ İ’ ԚIJijվȟ ԤȢȗȡȟ ԐȟȚȢȬʍȡȤ ȦȤȥ‫׆‬ȣ ԚȟȒȢȗıțį Ȝįijո ȝȪȗȡȟ Ԯ Ȟռ ԔȟıȤ ȝȪȗȡȤ, ijր İ’
į՘ijȪ ĴįȞıȟ ԤȢȗȡȟ ıՂȟįț ij‫ ׮‬ȗȒȟıț ijȡ‫ף‬İı Ȝįվ ijȡ‫ף‬İı IJʍȡȤİįȔȡȤ, խIJʍıȢ ȜțȚįȢțIJijȡ‫ף‬
Ȝįվ IJʍȡȤİįȔȡȤ ȜțȚįȢțIJijȡ‫ף‬, Ȝįվ ԑʍȝ‫׭‬ȣ İռ ijȡ‫ף‬ij’ Ԛʍվ ʍȑȟijȧȟ, ʍȢȡIJijțȚıȞȒȟșȣ ij‫׆‬ȣ
Ȝįijո ijռȟ ԐȢıijռȟ ՙʍıȢȡȥ‫׆‬ȣ ʍȢրȣ ijր ԤȢȗȡȟ· ȜțȚįȢțIJijȡ‫ ף‬Ȟպȟ ȗոȢ ȜțȚįȢȔȘıțȟ,
IJʍȡȤİįȔȡȤ İպ ijր ı՞· ıԼ İ’ ȡ՝ijȧȣ [...].
47 Ein „menschliches Gut“ ließe sich bereits auf der Basis der Prämissen P 1 und P 2
bestimmen.
142 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

schen (1098a8-9), erscheint diese Identifikation jedoch unproblematisch.


Die Konklusion des Ergon-Arguments benennt das höchste Gut in Bezug
auf den Menschen.
Wenn die hier vorgestellte Interpretation zutrifft, dann muss Aristote-
les über den Zusammenhang zwischen dem ergon und dem Guten nicht
viele Worte verlieren. Er muss vor allem plausibel machen, dass Menschen
ein solches ergon haben, und er muss erläutern, worin dieses ergon besteht.
Die oben beschriebene Gewichtung der Prämissen des Ergon-Arguments
entspricht genau dieser Annahme. Zudem fällt auf, dass die seelentheoreti-
schen Einteilungen des Ergon-Arguments weitgehend ad hoc eingeführt
werden. Auch in Bezug auf diese Einteilungen ist das Ergon-Argument aus
sich selbst heraus verstehbar. 48
Die Entgegnung auf den skizzierten Einwand lautet demnach: Dass
das Ergon-Argument durch die hier vorgestellte Lesart stark „depotenziert“
wird, sei zugestanden. Ebenfalls sei zugestanden, dass die Zuschreibung
spezifischer erga in der Naturphilosophie des Aristoteles eine wichtige
explanatorische Funktion übernimmt. Angesichts des konkreten Textes
von EN I 6 liegt die Beweislast jedoch auf Seiten derer, die der Natur-
philosophie eine größere Rolle für die Ethik zusprechen wollen. Sollte
Aristoteles eine naturphilosophische Konzeption des menschlichen Glücks
vertreten – was ich nicht ausschließen möchte –, wird diese in der Niko-
machischen Ethik zumindest nicht herangezogen. 49 Denn die Rechtferti-
gung der im Ergon-Argument enthaltenen Werturteile kann vor dem
Hintergrund der bereits eingeführten Gleichsetzung zwischen Gütern und
Zielen geschehen (dies betrifft P 1 und P 2’); und die zur Bestimmung des
menschlichen ergon nötigen Unterscheidungen werden weitgehend ad hoc
eingeführt (dies betrifft P 2). Wenn überhaupt, dann würde sich diese
Konzeption allein in der Wendung „das für den Menschen Gute“ andeu-
ten. Dass es nicht nötig ist, dem Dativ anthrôpôi diese Beweislast aufzu-
bürden, wurde gezeigt.

_____________
48 Dass EN I eher auf einer Psychologie des Commonsense aufbaut als auf den psycho-
logischen Schriften des Aristoteles, wird in der Forschung immer wieder hervorgeho-
ben. Vgl. z.B. Cooper (1975, 69f. und 147).
49 Damit soll nicht behauptet werden, dass das Ergon-Argument völlig voraussetzungslos
ist. Tatsächlich stellen bereits die Thesen, dass sich die menschliche Entwicklung te-
leologisch beschreiben lässt und dass das „Ziel“ der menschlichen Entwicklung in der
Ausübung eines spezifisch menschlichen ergon besteht, Voraussetzungen dar, die
durchaus als „naturphilosophisch“ bezeichnet werden können. Die „evaluativen“ Be-
standteile des Ergon-Arguments, also die Thesen, dass es „für den Menschen gut“ ist,
sein ergon möglichst gut zu erfüllen, und dass hierin letztlich das menschliche Glück
besteht, lassen sich m.E. jedoch unter Rekurs auf EN I selbst begründen. Sie basieren
nicht auf naturphilosophischen Hintergrundannahmen.
3.2 Die gütertheoretische Perspektive 143

Wichtiger ist jedoch, dass die vorliegende Arbeit eine Interpretation


von EN I 1-5 bietet, die eine solche Konzeption für den Kontext des ers-
ten Buches überflüssig macht. Es werden keine größeren Erwartungen an
das Ergon-Argument gerichtet, als dieses aus sich heraus erfüllen kann.
Und anders als aus der Perspektive des PsE bedeutet das Ergon-Argument
keinen „Bruch“ in der Argumentation. Vielmehr liegt der Rahmen für ein
angemessenes Verständnis des Ergon-Arguments in der Theorie des Gu-
ten, die in EN I 1-5 entwickelt wird. Die hier vorgeschlagene Deutung
entspricht dem Text von I 6 damit weitaus besser als eine Interpretation,
die unter Bedingungen des PsE an das Ergon-Argument herangeht.

Der Vergleich mit den gängigen Meinungen (I 7-9)

Eine Frage ist allerdings noch offen geblieben. Nach der vorliegenden
Interpretation dient das Ergon-Argument im Wesentlichen dazu, aus einer
Reihe analoger Fälle einen herauszugreifen und vorzustellen. Wie aber
kann gezeigt werden, dass dieser Fall der richtige ist? Worauf basiert die
Annahme, dass das menschliche Gut, das zweifellos ein höchstes Gut ist,
das entscheidende höchste Gut ist? Auf der Basis der Gleichsetzung zwi-
schen dem Guten und dem Erstrebten kann diese Frage nicht beantwortet
werden; denn qua höchstes Ziel unterscheidet sich das ergon des Menschen
nicht von anderen erga wie etwa dem des Schusters. Es ist einfach „ein
anderes bei einem anderen“ (allo en allôi). Müssen wir also davon ausge-
hen, dass mit der Wahl des menschlichen Guts doch naturalistische Zu-
satzprämissen ins Spiel kommen?
Zunächst sei darauf hingewiesen, dass jede Interpretation des Ergon-
Arguments sich dieser Frage stellen muss. Auch wenn man zum Beispiel
davon ausgeht, dass das Ergon-Argument die Vorteilhaftigkeit der Tugend
beweist, müsste man zeigen, wieso das, was für den Menschen qua Men-
schen vorteilhaft ist, „entscheidend“ sein soll. Genauso gut könnten Vor-
teile ins Feld geführt werden, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer be-
stimmten sozialen Schicht, einem Geschlecht oder einer Altersgruppe
ergeben. Die anthropologische Perspektive müsste also in jedem Fall be-
gründet werden.
Dass Aristoteles die Zugehörigkeit zur einer natürlichen Art für die re-
levante Perspektive hält, mag durchaus mit naturalistischen Überzeugun-
gen zusammenhängen. Bei näherer Betrachtung des Textes ergibt sich
jedoch das gleiche Bild wie im Fall einer naturalistischen Theorie des
menschlichen Glücks. Selbst wenn es gute Gründe dafür geben sollte,
Aristoteles eine Form des Naturalismus zuzusprechen: die konkrete Argu-
144 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

mentation in EN I wird nicht von naturalistischen Annahmen abhängig


gemacht. Die Beweislast würde sich also wieder umkehren.
Dass die ethische Untersuchung nach dem menschlichen Glück (eu-
daimonia anthrôpinê) und dem menschlichen Gut (anthrôpinon agathon)
fragt, wird von Aristoteles wie etwas Selbstverständliches behandelt (EN I
13, 1102a14-15; VI 8, 1141b8-9; vgl. auch I 1, 1094b7). Es ist durchaus
denkbar, dass dieser These ein ähnlicher Status zukommt wie der These,
dass die eudaimonia das höchste Gut ist. In diesem Fall würde es sich um
eine Auffassung handeln, die so unkontrovers ist, dass die Untersuchung
bei ihr ansetzen kann. 50 Dafür spricht, dass Aristoteles in der Eudemischen
Ethik genau so vorgeht (vgl. 1.1). Er stellt zunächst fest, dass alle in der
Annahme übereinstimmen, die eudaimonia sei das beste menschliche Gut
(I 7, 1217a21-22). Dann klärt er, was „menschlich“ bedeutet (1217a22-
40) 51 , und schließlich, was „das Beste“ bedeutet (I 8). Hier scheint den
Thesen „Die eudaimonia ist das höchste Gut“ und „Wir sprechen über das
menschliche Gut beziehungsweise das menschliche Glück“ tatsächlich der
gleiche Status zuzukommen. Entscheidend für die Interpretation der Ni-
komachischen Ethik ist jedoch etwas anderes. Wie wir bereits bemerkt ha-
ben, wird hier der Gedanke, das menschliche ergon in den Blick zu neh-
men, wie ein Vorschlag präsentiert:
Zu sagen, dass das Beste Glück ist, scheint aber vielleicht etwas allgemein Aner-
kanntes zu sein. Wir verlangen aber, noch deutlicher zu sagen, was es ist. Dies
dürfte wohl geschehen, wenn wir das ergon des Menschen erfassen. (I 6,
1097b22-25).
Die auf diesem Vorschlag basierende Bestimmung des menschlichen Guts
wird als ein „Umriss“ des gesuchten Guts behandelt (I 7, 1098a20-21),
der noch einer Überprüfung durch die legomena bedarf: „Denn mit dem
Wahren stimmt alles Vorhandene zusammen, mit dem Falschen aber gerät
das Wahre schnell in Missklang“ (ij‫ ׮‬Ȟպȟ ȗոȢ ԐȝșȚı‫ ה‬ʍչȟijį IJȤȟֺİıț ijո
ՙʍչȢȥȡȟijį, ij‫ ׮‬İպ ȦıȤİı‫ ה‬ijįȥւ İțįĴȧȟı‫ ה‬ijԐȝșȚջȣ: I 8, 1098b11-12).
Nimmt man diese beiden Beobachtungen ernst und betrachtet die Kon-
klusion des Ergon-Arguments tatsächlich als eine Art Vorschlag, dann legt
sich folgender Schluss nahe: Ob man die Aristotelische Bestimmung der
eudaimonia als anthrôpinon agathon für richtig hält, ist im Kontext von
EN I letztlich davon abhängig, ob man die dialektische Methode als Be-
gründungsstrategie anerkennt. Es ist nicht davon abhängig, ob man

_____________
50 Vgl. die Interpretation von Müller (2006a).
51 Allerdings bringt Aristoteles den Ausdruck anthrôpinon in EE I 7, anders als in EN I
6, mit dem in Verbindung, was durch menschliches Handeln zu verwirklichen ist (ijո
ԐȟȚȢօʍ‫ ׫‬ʍȢįȜijչ) (1217a29-40).
3.3 Fazit 145

bestimmte naturalistische Annahmen teilt. Dies ist zumindest die Weise,


in der Aristoteles das Argument präsentiert.
Diese Interpretation hat zwei Vorteile. Zum einen wird dem Abgleich
mit den legomena genau die Funktion zugesprochen, die auch Aristoteles
ihm zuspricht. Es geht bei diesem Abgleich um die Richtigkeit der vorge-
schlagenen Definition. (Wie wir in 3.1 gesehen haben, ist der Versuch,
den Kapiteln I 8-9 ein „psychologisches“ Anliegen zu unterstellen, eher
problematisch.) Zum anderen ist es nicht nötig, von zwei konkurrierenden
Begründungen der Aristotelischen Glückskonzeption auszugehen, deren
Verhältnis erst noch zu klären wäre: einer „metaphysischen“ Begründung
durch EN I 6 und einer dialektischen Begründung durch EN I 7 ff. 52 Im
Gegenteil: Wenn wir der hier vorgestellten Interpretation der Kapitel I 1-6
folgen, dann scheint eine Überprüfung der Ergebnisse des Ergon-
Arguments aus mindestens zwei Gründen erforderlich zu sein. Erstens ist
der teleologische Ansatz, auf den auch die Bestimmung des menschlichen
Guts zurückgreift, in EN I 1 eher stipuliert als begründet worden (vgl.
2.2.1). Streng genommen stellt daher die Konklusion des Ergon-
Arguments ebenfalls eine Stipulation dar. Zweitens haben wir an den Ka-
piteln I 2 und I 3 beobachtet, dass die als höchste Ziele bestimmten
höchsten Güter keinesfalls alle Kriterien des Guten erfüllen (vgl. 2.2.2).
Da jedoch auch das menschliche Gut nur eines dieser höchsten Güter
darstellt – es ist lediglich allo en allôi –, muss der Nachweis, dass es sich
um das „gesuchte Gut“ handelt, tatsächlich erst noch erbracht werden. Im
Gegensatz zur Perspektive des PsE ermöglicht es die gütertheoretische
Lektüre, das erste Buch der Nikomachischen Ethik als einen in sich ge-
schlossenen Argumentationsgang zu begreifen.

3.3 Fazit
Im diesem Kapitel wurde die gütertheoretische Lektüre des ersten Buches
der Nikomachischen Ethik einer Lektüre gegenübergestellt, die von der
Annahme des PsE ausgeht. Es sollte gezeigt werden, dass die Argumenta-
tion der Kapitel I 6-9 sich aus gütertheoretischer Perspektive wesentlich
leichter erklären lässt als aus der Perspektive des PsE. Die Kapitel I 6-9
beantworten jene Fragen, die wir als Fazit unserer Interpretation von EN
I 1-5 aufgeworfen hatten und die unmittelbar mit dem teleologischen
Ansatz zur Bestimmung des Guten zusammenhängen: Wie lässt sich der
Relativismus der als Ziele bestimmten Güter überwinden? Wie können
_____________
52 Vgl. zu dieser Debatte Müller (2006a, 6-8) mit den entsprechenden Literatur-
hinweisen.
146 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

wir der relevanten Verschiedenheit dieser Güter gerecht werden? Wie


kann im Rahmen eines teleologischen Ansatzes überhaupt ein höchstes
Gut bestimmt werden, das auch die anderen Kriterien des Guten erfüllt?
Die Antworten auf diese Fragen lassen sich jetzt verhältnismäßig ein-
fach formulieren: (i) Der Relativismus des teleologischen Ansatzes wird
nicht dadurch überwunden, dass in I 6 eine nicht-teleologische und „abso-
lute“ Konzeption des Guten eingeführt würde. Vielmehr wird er dadurch
überwunden, dass in I 6 eines der relativen Güter herausgegriffen wird.
Dies ist der Ausweg aus der Sackgasse, in welche die Untersuchung am
Ende von I 3 geraten war. (ii) Der relevanten Verschiedenheit der Güter
wird dadurch Rechnung getragen, dass dieses eine Gut genauer beschrie-
ben wird. Aristoteles widmet den Großteil des Ergon-Arguments einer
inhaltlichen Bestimmung des anthrôpinon agathon. (iii) Dass das heraus-
gegriffene Gut auch andere Kriterien des Guten erfüllt, steht am Ende des
Ergon-Arguments noch keineswegs fest. Es muss vielmehr anhand eines
Vergleichs mit gängigen Meinungen überprüft werden (I 8-9). Die Identi-
fikation des gesuchten Guts mit dem menschlichen Gut ist ein Vorschlag,
der einer Bestätigung bedarf.
Die gütertheoretische Lektüre des ersten Buches der Nikomachischen
Ethik ist damit abgeschlossen. Es wurde gezeigt, dass die Bestimmung der
eudaimonia in EN I 6-9 auf der Grundlage der Theorie des Guten ge-
schieht, die Aristoteles in EN I 1-5 entwickelt. Der Rest der vorliegenden
Untersuchung, insbesondere Kapitel 4, wird sich mit den Konsequenzen
befassen, die diese Lektüre für unser Bild der Aristotelischen Ethik hat.
Einige dieser Konsequenzen lassen sich anhand des hier angestellten Ver-
gleichs mit der Perspektive des PsE bereits darstellen.
Zunächst dürfte deutlich geworden sein, dass die gütertheoretische
Lektüre ein bestimmtes Bild des argumentativen Ablaufs vermittelt. Dem-
nach trifft es nicht zu, dass das erste Buch der Nikomachischen Ethik in
zwei Teile zerfällt, die für zwei völlig unterschiedliche Vorgehensweisen
stehen und deren Grenze zwischen den Kapiteln I 5 und I 6 verläuft. 53
Interpretationen, die die wesentliche Aufgabe darin sehen, diese beiden
Teile miteinander zu „versöhnen“, beruhen nach meiner Auffassung auf
einem Missverständnis. Die Kapitel I 1-5 stellen vielmehr eine bestimmte
Strategie zur Beantwortung der Frage nach der eudaimonia vor, und sie
enthalten Hinweise darauf, worin die Schwierigkeit dieser Strategie liegt.
Das Ergon-Argument und die Betrachtung der gängigen Meinungen sind
der Versuch, die eudaimonia unter Berücksichtigung dieser Schwierigkeit

_____________
53 Vgl. als besonders klares Beispiel einer solchen Sicht die bereits erwähnte Darstellung
von Ernst Tugendhat (41997, Kap. 12).
3.3 Fazit 147

und im Rahmen der gewählten Strategie so genau wie möglich zu bestim-


men.
Dann wirkt sich die gütertheoretische Lektüre auf die Frage aus, was
es bedeutet, dass Aristoteles eine „Strebensethik“ formuliert. Auch wenn es
auf den ersten Blick nahe zu liegen scheint, sollte der „Ansatz beim Stre-
ben“ nicht psychologisch verstanden werden. Das heißt, wir sollten diesen
Ansatz nicht als einen handlungstheoretischen Rahmen begreifen, zu dem
die Bestimmung des Glücks ins Verhältnis gesetzt werden müsste. Dem
Text angemessener ist es vielmehr, die Identifikation von Gütern und
Zielen rein gütertheoretisch aufzufassen. Aristoteles entwirft eine Konzep-
tion des Guten, deren in den Kapiteln I 1-5 beschriebene Eigenschaften
die weitere Vorgehensweise bestimmen.
Schließlich hat die gütertheoretische Lektüre von EN I Auswirkungen
auf unser Verständnis der Aristotelischen Glückskonzeption. Nach der
hier vorgestellten Interpretation ist das auf dem PsE basierende Bild der
Aristotelischen Glückskonzeption falsch. Diese Konzeption darf nicht als
Verbindung von zwei Perspektiven verstanden werden: einer „subjektiven“
Perspektive, die durch die Gleichsetzung zwischen der eudaimonia und
dem höchsten Strebensziel markiert wird, und einer „objektiven“ Perspek-
tive, die auf der Wesensbestimmung des Menschen beruht. Vielmehr un-
ternimmt Aristoteles eine objektive Bestimmung der eudaimonia, die sich
als konsequente Durchführung einer bestimmten Strategie begreifen lässt.
Ausgangspunkt dieser Strategie sind die Thesen, dass die eudaimonia das
höchste Gut ist und dass sich das höchste Gut als ein höchstes Ziel begrei-
fen lässt.
Veranschaulichen lässt sich dieser Unterschied, indem wir noch ein-
mal auf den Vergleich mit den modernen Theorien des „reflektierten Sub-
jektivismus“ eingehen (vgl. 3.1). Wie wir weiter oben festgestellt haben,
besteht zwischen diesen Theorien und einer auf dem PsE basierenden
Interpretation von EN I eine wichtige Gemeinsamkeit. Beide betrachten,
obwohl nicht aus den gleichen Gründen, die Perspektive des Handelnden
mit seinen tatsächlich vorliegenden Wünschen und Neigungen als nicht
hintergehbar. Die Differenz zwischen Aristoteles und diesen modernen
Theorien würde vor allem in der objektiven Bestimmung des Glücks lie-
gen. Während die Vertreter des reflektierten Subjektivismus auch diese
„objektive“ Bestimmung von den Wünschen der jeweiligen Person abhän-
gig machen, basiert sie bei Aristoteles auf Aussagen über das Wesen des
Menschen. (Dass sich daraus eine Spannung zwischen der subjektiven und
der objektiven Glücksbestimmung ergibt, wurde ausführlich beschrieben.)
Nach der hier vorgestellten Interpretation ist die Differenz dagegen viel
grundlegender. Wenn die gütertheoretische Lektüre Recht hat, ist Aristo-
teles ausschließlich an einer objektiven Bestimmung der eudaimonia
148 3. Die Bestimmung des Glücks (EN I 6-9)

interessiert. Die Gleichsetzung zwischen der eudaimonia und dem höchs-


ten Strebensziel ist zwar Bestandteil dieser objektiven Bestimmung. Sie
bedeutet aber nicht, dass eine wie auch immer zu verstehende „Subjektivi-
tät“ in die Glückskonzeption einfließen würde. Der Status dieser Gleich-
setzung liegt vielmehr darin, den teleologischen Rahmen vorzugeben,
innerhalb dessen die eudaimonia bestimmt wird. Das Gleiche gilt für die
Berücksichtigung der gängigen Meinungen in EN I 8-9. Die Betrachtung
der Meinungen bringt nicht etwa eine subjektive Perspektive ins Spiel,
sondern gehört ebenfalls allein zur objektiven Glücksbestimmung. Die
Meinungen interessieren ausschließlich, insofern sie (wahrscheinlich) zu-
treffend sind. Die erwähnte Gemeinsamkeit zwischen der Aristotelischen
Theorie der eudaimonia und den modernen Positionen eines reflektierten
Subjektivismus besteht also nicht. Die Aristotelische eudaimonia-
Konzeption muss völlig anders beschrieben werden.
4. Konsequenzen der Interpretation

However, people have always expected ethical theory


to tell them something about what they ought to do. 1
(Robert B. Louden)

Am Ende des vorhergehenden Kapitels wurden einige Auswirkungen der


gütertheoretischen Lektüre des ersten Buches der Nikomachischen Ethik
benannt. Diese Auswirkungen betrafen vor allem die Frage, wie der teleo-
logische Ansatz genau zu verstehen ist und welche Bedeutung dieser An-
satz für die Glückskonzeption des Aristoteles hat. Im nun folgenden Kapi-
tel sollen einige weitere Auswirkungen der gütertheoretischen Lektüre
behandelt werden. Sie betreffen die Frage, wie die Aristotelische Ethik als
„ethische Theorie“ zu charakterisieren ist.
Was damit gemeint ist, lässt sich verdeutlichen, wenn man von eini-
gen Debatten in der gegenwärtigen Ethik ausgeht. In diesen Debatten,
ausgelöst vor allem durch Arbeiten von G.E.M. Anscombe und Bernard
Williams, ist es üblich geworden, Positionen der antiken Ethik als (überle-
gene) Gegenentwürfe zu neueren Konzeptionen ins Spiel zu bringen. 2 Vor
allem die Ethik des Aristoteles spielt dabei eine herausragende Rolle. Sie
hat in den letzten Jahrzehnten eine erstaunliche Wiederbelebung erfahren
und gilt vielen Autoren nicht nur als eine einflussreiche Position der Phi-
losophiegeschichte, sondern als moralphilosophischer Ansatz, der systema-
tisch vielversprechend ist.
Selbstverständlich ist der Rückgriff auf die Aristotelische Ethik nicht
immer gleich stark ausgeprägt, und er geschieht auch nicht immer auf die
gleiche Weise. Ein relativ häufig anzutreffendes Verfahren besteht aber
darin, dass einzelne Elemente der Aristotelischen Theorie herausgegriffen
und auf Fragen bezogen werden, die in den gegenwärtigen moralphiloso-
phischen Debatten eine Rolle spielen. 3 Dass dieses Verfahren anwendbar
ist und dass es tatsächlich zu systematischen Alternativen führt, legt auf
den ersten Blick den Gedanken nahe, dass die Ethik des Aristoteles in
_____________
1 Louden (1984/1997, 205).
2 Vgl. für eine Übersicht Gill (2004 und 2005).
3 Ein anschauliches Beispiel, das allerdings der Handlungstheorie zuzurechnen ist, bietet
der so genannte „praktische Syllogismus“. Vgl. hierzu Corcilius (2008b).
150 4. Konsequenzen der Interpretation

vielen Hinsichten ein Anliegen verfolgt, das dem moderner Ethiken im


Prinzip vergleichbar ist. (Der Ausdruck „im Prinzip“ kann dabei durchaus
weit gefasst sein, zum Beispiel so weit, dass die unvermeidlichen Anachro-
nismen möglichst toleriert werden.) Trifft diese Annahme aber zu?
Im Folgenden möchte ich zwei Aspekte der Aristotelischen Ethik in
den Blick nehmen, bei denen es besonders nahe liegt, sie auf moralphilo-
sophische „Grundsatzfragen“ zu beziehen. Der erste Aspekt ist der von
Aristoteles hergestellte Zusammenhang zwischen Glück und Tugend.
Dieser Zusammenhang kann, so scheint es, auf die Frage bezogen werden,
warum wir moralisch sein sollen, was also aus der Sicht des Einzelnen
dafür spricht, das moralisch Richtige zu tun (4.1). Der zweite Aspekt ist
die von Aristoteles geäußerte These, dass der Tugendhafte eine Art Maß-
stab des richtigen Verhaltens bietet. Hier liegt eine Verbindung zur Frage
„Was soll ich tun?“ nahe, bei der es um ein Kriterium des moralisch Rich-
tigen geht (4.2).
Die hier vorgestellte Interpretation von EN I bringt, wie ich zeigen
möchte, eine bestimmte Deutung dieser beiden Aspekte mit sich. Wenn
diese Deutung zutrifft, dann würden die eben skizzierten Verknüpfungen
auf einem grundlegenden Missverständnis beruhen. Der Zusammenhang
zwischen Glück und Tugend dient bei Aristoteles nicht dazu, Gründe zu
benennen, die für moralisches Verhalten sprechen, und der Verweis auf
den Tugendhaften dient nicht dazu, Kriterien des moralisch Richtigen zu
formulieren. (Beides auch nicht in einer indirekten oder stark modifizier-
ten Weise.) Im Kontext der Aristotelischen Ethik erfüllen die zwei Aspekte
eine völlig andere Funktion.
Natürlich soll es im Folgenden nicht darum gehen, einzelnen Autoren
nachzuweisen, dass sie Aristoteles falsch verstanden haben. Aus systemati-
scher Perspektive ist gegen solche Missverständnisse überhaupt nichts
einzuwenden. Das Ziel ist vielmehr, diese Missverständnisse als Ausgangs-
punkt für eine genauere Beschreibung des von Aristoteles verfolgten Pro-
jekts zu nehmen. Ich möchte zeigen, dass es aus interessanten Gründen
falsch ist, die beiden Aspekte in der gerade umrissenen Weise aufzufassen.
So soll ein Ansatz zur Charakterisierung der ethischen Theorie des Aristo-
teles geliefert werden.

4.1 Zur Frage „Warum moralisch sein?“


Im folgenden Abschnitt soll untersucht werden, ob der in EN I hergestell-
te Zusammenhang zwischen Glück und Tugend als Grundlage für eine
„eudaimonistische Antwort“ auf die Frage, warum wir moralisch sein sol-
len, geeignet ist. Dabei können wir an die in Kapitel 3 erzielten Ergebnisse
4.1 Zur Frage „Warum moralisch sein?“ 151

anknüpfen. Die dort entfaltete Interpretation des Aristotelischen Glücks-


konzepts gibt, wie ich zeigen möchte, Aufschluss über diese Frage. So
findet gewissermaßen ein Übergang vom Thema der eudaimonia zum
Thema der „eudaimonistischen Ethik“ statt.
Die Frage „Warum moralisch sein?“ kann unterschiedlich aufgefasst
werden. Je nachdem welche Hintergrundannahmen mit ihr verknüpft
sind, nimmt sie eine etwas andere Bedeutung an. 4 Um jedoch einen Aus-
gangspunkt für die weitere Untersuchung zu haben, möchte ich die fol-
gende Festlegung treffen, die einigermaßen konsensfähig sein dürfte: Die
Frage „Warum moralisch sein?“ fragt nach Gründen, die dafür sprechen,
das moralisch Richtige zu tun (bzw. die Tugenden auszuüben: diesen Un-
terschied werden wir vernachlässigen). Wie sich weiter unten zeigen wird,
muss diese Bestimmung noch in einer entscheidenden Hinsicht ergänzt
werden; vorläufig können wir uns aber an ihr orientieren.

Die „eudaimonistische Antwort“

Um die „eudaimonistische Antwort“ auf die Frage, warum wir moralisch


sein sollen, zu entwickeln, möchte ich von zwei (fingierten) Beispielen
ausgehen: von einem „kantischen Eudaimonisten“, dessen Position sich
aus der Eudaimonismus-Kritik ergibt, die Kant in seinen ethischen Schrif-
ten formuliert, und von einem „antiken Eudaimonisten“, dessen Position
anhand eines von Kurt Bayertz entworfenen „Glücksarguments“ darge-
stellt werden soll. 5 Zwischen diesen beiden Beispielen bestehen einige
Gemeinsamkeiten und einige Unterschiede, vor deren Hintergrund sich
die eigene Interpretation dann relativ leicht verorten lässt.

Erstes Beispiel: Der „kantische Eudaimonist“


Im Folgenden kann es selbstverständlich nicht darum gehen, eine umfas-
sende Darstellung der ethischen Theorie Immanuel Kants zu geben. Es
geht allein darum, den Grundgedanken der in dieser Theorie enthaltenen
„Eudaimonismus-Kritik“ zu erfassen, um von dort aus eine eudaimonisti-
sche Antwort auf die Frage „Warum moralisch sein?“ formulieren zu kön-
nen. Die Probleme der Kant-Exegese werden dabei weitgehend ausgeblen-
det. (Vor allem werde ich mich nicht um die Schwierigkeiten kümmern,
die die oft uneinheitliche Terminologie Kants mit sich bringt.) Dass die
_____________
4 Vgl. Scarano (2002) und Bayertz (2006, 20-32).
5 Die Ausdrücke „kantisch“ und „antik“ sind zwar bewusst gewählt, sollten aber in
erster Linie als Labels verstanden werden. Es geht nicht um eine genaue Interpretation
der kantischen und der antiken Position, sondern um eine Folie zur Darstellung der
Konsequenzen, die die hier vorgeschlagene Interpretation von EN I mit sich bringt.
152 4. Konsequenzen der Interpretation

hier entwickelte Skizze Kants Auffassungen in allen Punkten gerecht wird,


soll nicht beansprucht werden.
Folgt man der „Vorrede“ der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
(1785), dann liegt der sachliche Ausgangspunkt der Moralphilosophie in
der Intuition, dass moralische Regeln, im Gegensatz zu allen anderen Re-
geln, Gesetze sind. Eine angemessene Theorie der Moral muss dieser Intui-
tion gerecht werden; andernfalls wäre sie überhaupt keine Theorie der
Moral (IV 389) 6 . Was der Begriff eines Gesetzes für Kant genau beinhal-
tet, ist nicht leicht zu sagen. Eine wichtige Eigenschaft von Gesetzen
scheint aber darin zu liegen, dass sie notwendig gelten: „Jedermann muß
eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch, d.i. als Grund einer Ver-
bindlichkeit, gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse“
(ebd.; vgl. IV 420). Damit der Anspruch absoluter Notwendigkeit seiner-
seits eingelöst werden kann, müssen nach Kant zwei Bedingungen erfüllt
sein. Erstens darf die Erkenntnis moralischer Gesetze oder Prinzipien
nicht von der Erfahrung, das heißt von empirischem Tatsachenwissen,
abhängen. Diese Gesetze oder Prinzipien müssen vielmehr a priori, also
durch „reine Vernunft“, erkennbar sein (IV 389f.). Zweitens muss reine
Vernunft, da es sich nicht um Gesetze handelt, nach denen etwas ge-
schieht, sondern um Gesetze, nach denen etwas geschehen soll (IV 387f.),
für sich „praktisch“ werden, das heißt Einfluss auf unsere Handlungen
nehmen können. Genau dies nachzuweisen ist eines der Hauptziele des
von Kant verfolgten Projekts.
Dass diese beiden Bedingungen von anspruchsvollen theoretischen
Vorannahmen abhängen, dürfte offensichtlich sein. 7 Für den vorliegenden
Kontext ist die gegebene Darstellung jedoch ausreichend; denn hier inter-
essiert ein anderer Aspekt. Kant argumentiert für seinen Ansatz, indem er
sich mit einem möglichen Gegenentwurf auseinandersetzt (vgl. KpV V
19-41, insbes. 22-26). Nach diesem Gegenentwurf basieren moralische
Regeln nicht auf der reinen Vernunft, sondern auf dem menschlichen
Streben nach Glückseligkeit. Es sind Regeln, die die Frage betreffen, wie
Glückseligkeit zu erreichen ist. Prima facie spricht für diese Herangehens-
weise, dass das Glücksstreben beim Menschen „nach einer Naturnotwen-
digkeit“ (GMS IV 415) vorausgesetzt werden kann. Auch hier scheinen
also gewisse Gesetzmäßigkeiten vorzuliegen, und es wäre denkbar, dass es

_____________
6 Die Seitenangaben zur Grundlegung (GMS, 1785) und zur Kritik der praktischen
Vernunft (KpV, 1788) orientieren sich, wie üblich, an der Kant-Ausgabe der Preußi-
schen Akademie der Wissenschaften.
7 Problematisch erscheint unter anderem die Verknüpfung des modallogischen Begriffs
der „Notwendigkeit“ mit dem epistemologischen Begriff der „Apriorität“. Vgl. Scara-
no (2006).
4.1 Zur Frage „Warum moralisch sein?“ 153

die „Naturnotwendigkeit“ des Glücksstrebens ist, die moralischen Regeln


ihren Status als Gesetze verleiht.
Kants Einwand gegen diesen eudaimonistischen Ansatz läuft darauf
hinaus, dass die so gewonnenen Regeln den Ansprüchen von Gesetzen
trotzdem nicht genügen können. Dabei lassen sich zwei Argumente unter-
scheiden, die mit den beiden oben genannten Bedingungen in Beziehung
stehen:
Kant begreift Glückseligkeit, erstens, als „das Bewußtsein eines ver-
nünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbro-
chen sein ganzes Dasein begleitet“ (KpV V 22). Die Frage, welche Ge-
genstände bei einem vernünftigen Wesen die Empfindung der
„Annehmlichkeit“, also Lust, hervorrufen, kann aber nur durch die Erfah-
rung beantwortet werden. Es gibt nach Kant keine a priori einzusehende
Verbindung zwischen der Vorstellung eines Objekts und der Lustempfin-
dung, die dessen Wirklichkeit hervorrufen mag (V 21). Die inhaltliche
Bestimmung der Glückseligkeit ist demnach Sache der Empirie; und es
liegt nahe anzunehmen, dass sich diese inhaltliche Bestimmung von Per-
son zu Person unterscheiden wird (V 25). Dementsprechend können Re-
geln zur Erlangung der Glückseligkeit auch nicht für alle vernünftigen
Wesen gelten, sondern nur für diejenigen, die sich zufälligerweise von den
gleichen Gegenständen Lust versprechen. Regeln dieser Art sind also keine
Gesetze (vgl. GMS IV 418). Tatsächlich geht Kant aber noch einen
Schritt weiter. Selbst wenn alle Menschen über die Glückseligkeit und
über die Mittel zu ihrer Erlangung gleich dächten, wäre auch diese Einhel-
ligkeit in Kants Augen bloß zufällig, da sie eben nicht auf einer Verbin-
dung a priori beruht (KpV V 26). Auch unter günstigeren Bedingungen
könnten solche Regeln, die sich immerhin auf alle Menschen beziehen
würden, nicht als Gesetze gelten.
Das erste Argument betrifft also die Frage, inwiefern Regeln zur Er-
langung der Glückseligkeit für alle Vernunftwesen gültig sein können. Das
zweite Argument betrifft die Frage, auf welche Weise diese Regeln unseren
Willen bestimmen, das heißt auf welche Weise sie Einfluss auf unsere
Handlungen nehmen. Nach Kant beruht dieser Einfluss auf dem bereits
erwähnten Streben nach Glückseligkeit. Wir folgen einer Regel zur Erlan-
gung der Glückseligkeit deshalb, weil wir nach Glückseligkeit streben,
genauer gesagt, weil wir uns von der Wirklichkeit bestimmter Gegenstän-
de Lust versprechen: „Wer den Zweck will, will [...] auch das dazu unent-
behrlich notwendige Mittel“ (GMS IV 417). 8 Als Gesetze müssten die
_____________
8 Vgl. hierzu die aufschlussreiche Kritik an der gängigen Unterscheidung zwischen
„oberem“ und „unterem Begehrungsvermögen“ (KpV V 22-25). Kant versucht hier zu
zeigen, dass, wenn allein das Gefühl der Lust den Bestimmungsgrund des Willens
154 4. Konsequenzen der Interpretation

Regeln unsere Handlungen jedoch auch unabhängig von – und eventuell


sogar entgegen – unseren jeweils vorliegenden Neigungen beeinflussen
können (IV 416). Hierin liegt ein zweiter Grund, weshalb Regeln zur
Erlangung der Glückseligkeit keine Gesetze sein können.
Ob Kants Einwände zutreffend sind und ob sich durch sie auch ein
Ansatz wie der des Aristoteles zurückweisen ließe, kann hier offen bleiben.
Hier interessiert lediglich, wie eine eudaimonistische Antwort auf die Fra-
ge „Warum moralisch sein?“ aussehen würde. Was würde ein Eudaimo-
nist, wie Kant ihn sich vorstellt, auf diese Frage antworten? Was spräche
aus seiner Sicht für moralisches Verhalten?
Auf die Frage „Warum moralisch sein?“ würde Kants Eudaimonist ei-
nen „hypothetischen Imperativ“ formulieren: 9 „Du sollst moralisch sein,
weil dies ein Mittel zur Erlangung der Glückseligkeit ist.“ Diese Antwort
wäre so zu verstehen, dass wir durch moralisches Verhalten Gegenstände
erlangen, von denen wir uns Lust versprechen. (Sollten sich alle Menschen
von den gleichen Gegenständen Lust versprechen, wäre dies jedoch eine
bloß empirische und somit „zufällige“ Übereinstimmung.) Dass wir uns
von bestimmten Gegenständen Lust versprechen, erklärt den Einfluss, den
der hypothetische Imperativ auf unsere Handlungen nimmt.

Zweites Beispiel: Der „antike Eudaimonist“ (Das Glücksargument)


Damit können wir zum zweiten Beispiel übergehen, das sich wesentlich
kürzer darstellen lässt. In seinem Buch Warum überhaupt moralisch sein?
von 2006 formuliert Kurt Bayertz das folgende „Glücksargument“ (ebd.,
181):
P 1: Alle Menschen streben (notwendigerweise) nach Glück.
P 2: Zu den objektiven Bedingungen des Glücks gehört die Moral.
K: Alle Menschen müssen moralisch sein, um glücklich werden zu
können.
Dieses Argument wird als Rekonstruktion einer antiken Antwort auf die
Frage „Warum moralisch sein?“ verstanden. Etwas genauer gesagt, wird es
als Antwort auf die Herausforderung des „Amoralisten“ verstanden, wie er
uns in den Gestalten des Kallikles und des Thrasymachos in Platons Dia-
_____________
ausmacht, die Frage irrelevant ist, woher die Vorstellung des Lust versprechenden Ge-
genstandes kommt.
9 „Alle Imperative nun gebieten entweder hypothetisch oder kategorisch. Jene stellen die
praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem,
was man will (oder doch möglich ist, daß man es wolle), zu gelangen vor. Der katego-
rische Imperativ würde der sein, welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne Be-
ziehung auf einen anderen Zweck, als objektiv-notwendig vorstellte“ (GMS IV 414).
4.1 Zur Frage „Warum moralisch sein?“ 155

logen Gorgias und Politeia begegnet. 10 Stark vereinfacht lässt sich dieser
Amoralist als eine Person beschreiben, die konsequent aus Eigeninteresse
handelt. Seine „Herausforderung“ an die philosophische Ethik besteht in
der Frage, warum er das tun sollte, was (moralisch) richtig ist, wenn es
zum Beispiel doch vorteilhafter sein könnte, (moralisch) richtiges Verhal-
ten nur vorzutäuschen. Die im Glücksargument zusammengefasste, „anti-
ke“ Antwort lautet, wiederum stark vereinfacht, dass nur moralisch richti-
ges Verhalten, das heißt nur die Ausbildung und Ausübung menschlicher
Tugenden, ein glückliches Leben ermöglicht.

Zwischen diesen beiden Beispielen, das heißt zwischen dem „kantischen


Eudaimonisten“ und dem „antiken Eudaimonisten“ des Glücksarguments,
bestehen einige Gemeinsamkeiten. Anhand dieser Gemeinsamkeiten lässt
sich die Pointe der eudaimonistischen Antwort auf die Frage, warum wir
moralisch sein sollen, relativ leicht fixieren:
Zunächst benennen beide Beispiele einen Grund, der dafür spricht,
das moralisch Richtige zu tun. Dieser Grund verweist auf einen Zusam-
menhang zwischen Moral oder Tugend auf der einen Seite und Glück-
seligkeit beziehungsweise eudaimonia auf der anderen Seite. Insofern ent-
spricht die Antwort unserer oben gegebenen, vorläufigen Bestimmung der
Frage „Warum moralisch sein?“.
Beide Beispiele scheinen aber außerdem so konstruiert zu sein, dass die
Anerkenntnis dieses Grundes eine bestimmte Gruppe von Personen – sei
es nun die Gruppe der „endlichen Vernunftwesen“, die der Amoralisten
oder die der rational Handelnden überhaupt – ceteris paribus dazu moti-
viert, das moralisch Richtige zu tun. Den Grund anzuerkennen, das heißt
für wahr zu halten, dass moralisches Handeln eine Bedingung für Glück
ist, und dennoch nicht das moralisch Richtige zu tun wäre unter den for-
mulierten Bedingungen zumindest irrational. 11

_____________
10 Um die Figur des Amoralisten (vgl. etwa Williams 1976, Kap. 1) gibt es eine intensive
Forschungsdebatte, die sich vor allem um die Frage dreht, ob sich dessen Position
überhaupt konsistent vertreten lässt. Diese Debatte soll im Folgenden allerdings keine
Rolle spielen. Hier genügt die Charakterisierung des Amoralisten als einer Person, die
weder eine „moral-skeptische“ noch eine „immoralistische“ Position vertritt (die also
nicht das Unmoralische um des Unmoralischen willen tut), sondern die Moral aus-
schließlich unter dem Gesichtspunkt des Eigeninteresses betrachtet. Vgl. Bayertz
(2006, 22-24).
11 Die Frage, was genau als ein (rechtfertigender oder erklärender) Grund und was als
ein Motiv für eine Handlung zu gelten hat, ist in der Handlungstheorie sehr umstrit-
ten. Abhängig von den jeweiligen Hintergrundannahmen erhalten die Begriffe eine
jeweils andere Bedeutung (vgl. für ein Beispiel Smith 1994, 94-98). Ich hoffe aber,
dass der Grundgedanke meiner Rekonstruktion auch unabhängig von diesen termino-
logischen Schwierigkeiten nachvollziehbar ist.
156 4. Konsequenzen der Interpretation

Versuchen wir, diesen Punkt noch etwas genauer zu fassen. Wie auch
immer die Frage „Warum moralisch sein?“ im Einzelnen zu verstehen ist:
es kann bei ihr sicher nicht darum gehen, einen beliebigen Grund zu nen-
nen, der dafür spricht, das moralisch Richtige zu tun. Vielmehr sollte es
sich um einen Grund handeln, der prinzipiell in der Lage ist, uns zu mora-
lischem Handeln zu veranlassen. Denn andernfalls wäre nicht klar, worin
überhaupt die Relevanz der Antwort liegen sollte. (Dies ist die angekün-
digte notwendige Ergänzung unserer vorläufigen Bestimmung der Frage,
warum wir moralisch sein sollen.) Am Beispiel des Amoralisten lässt sich
diese Forderung sehr einfach veranschaulichen. Wie wir gesehen haben,
wird der Amoralist als eine Person vorgestellt, die konsequent aus Eigen-
interesse handelt. Diese Eigenschaft kann so aufgefasst werden, dass der
Amoralist nur durch eine bestimmte Art von Gründen zum Handeln mo-
tiviert wird, nämlich nur durch solche Gründe, die auf sein Eigeninteresse
Bezug nehmen. Eine Antwort auf die Herausforderung des Amoralisten
muss sich daher in irgendeiner Weise auf Gründe genau dieser Art bezie-
hen. Andernfalls wäre sie unter den Bedingungen des Gedankenexperi-
ments nicht relevant (wodurch natürlich nicht ausgeschlossen ist, dass
diese Bedingungen ihrerseits kritisiert werden können).
Der Grund, der gemäß der eudaimonistischen Antwort dafür spricht,
das moralisch Richtige zu tun, soll also dem Anspruch nach in der Lage
sein, zu moralischem Handeln zu motivieren. Die (moral-)psychologische
Grundlage dieses Anspruchs ist wieder in beiden Beispielen, das heißt
beim „kantischen Eudaimonisten“ und bei dem „antiken Eudaimonisten“
des Glücksarguments, die gleiche. Indem sie eine Verbindung zwischen
Moral und Glück herstellen, behaupten beide an das anzuknüpfen, was
von den Handelnden erstrebt wird. In den Worten Kants: „Glücklich zu
sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen We-
sens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungs-
vermögens“ (KpV V 25). Und in den Worten des Glücksarguments: „Alle
Menschen streben (notwendigerweise) nach Glück.“ Wer das moralisch
Richtige tut, erhält also auf eine näher zu bestimmende Weise das, was er
erstrebt. Genau hierin liegt die psychologische Pointe der eudaimonisti-
schen Strategie zur Beantwortung der Frage „Warum moralisch sein?“.
Und zumindest auf den ersten Blick liegt hierin auch ihre Attraktivität.
Zwischen dem „kantischen Eudaimonisten“ und dem Eudaimonisten
des Glücksarguments bestehen also Gemeinsamkeiten, die es ermöglichen,
von der eudaimonistischen Antwort auf die Frage, warum wir moralisch
sein sollen, zu sprechen. Abgesehen von diesen Gemeinsamkeiten gibt es
aber auch einen wichtigen Unterschied. Dieser Unterschied hat erhebliche
Auswirkungen darauf, wie die eudaimonistische Antwort jeweils auszu-
buchstabieren ist.
4.1 Zur Frage „Warum moralisch sein?“ 157

Beginnen wir, indem wir uns zunächst Kants Konzeption der Glück-
seligkeit vor Augen führen. Zwei Eigenschaften dieser Konzeption dürften
in der oben entworfenen Skizze hervorgetreten sein. Zum einen ist Kants
Begriff der Glückseligkeit offenbar hedonistisch. Glückseligkeit wird ver-
standen als „Annehmlichkeit des Lebens“ (KpV V 22), das heißt als ein
Zustand der „Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein“ (V 25). Zum
anderen ist Kants Begriff der Glückseligkeit offenbar formal. Welche Ge-
genstände einem vernünftigen Wesen Zufriedenheit verschaffen, wird
durch diesen Begriff nicht festgelegt (vgl. GMS IV 418). Vielmehr ist
Glückseligkeit nach Kant
doch nur der allgemeine Titel der subjektiven Bestimmungsgründe und bestimmt
nichts spezifisch [...]. Worin nämlich jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe,
kommt auf jedes sein besonderes Gefühl der Lust und Unlust an, und selbst in
einemunddemselben Subjekt auf die Verschiedenheit des Bedürfnisses nach den
Abänderungen dieses Gefühls (KpV V 25).
Die inhaltliche Bestimmung der Glückseligkeit hängt für Kant also letzt-
lich davon ab, wovon sich jemand (kontingenterweise) Lust verspricht und
was er faktisch erstrebt (GMS IV 418). Dies gilt sowohl, wenn sich die
erstrebten Gegenstände von Person zu Person unterscheiden, als auch,
wenn sie durch einen „Zufall“ konvergieren. Wenn also der „kantische
Eudaimonist“ einen Zusammenhang zwischen Moral und Glückseligkeit
herstellt, dann verknüpft er die Moral mit dem, was handelnde Personen
faktisch erstreben. Handlungstheoretisch gesehen erscheint dieser Ansatz –
vorausgesetzt, er ließe sich tatsächlich durchführen – ausgesprochen ein-
fach.
Kants Konzeption der Glückseligkeit unterscheidet sich durch die bei-
den genannten Eigenschaften grundlegend von dem, was zum Beispiel
Aristoteles unter eudaimonia versteht. Zwar begreift auch Aristoteles die
Lust (ԭİȡȟս) als Bestandteil der eudaimonia, sein Ansatz ist aber zweifellos
nicht „hedonistisch“. Denn für Aristoteles ist es nicht gleichgültig, welche
Gegenstände uns Lust verschaffen. Vielmehr geht nur die Lust an be-
stimmten Tätigkeiten in seine Glückskonzeption ein (vgl. EN I 9,
1099a7-21; VII 12, 1152b6-8). Außerdem nimmt Aristoteles an, dass eine
inhaltliche Bestimmung der eudaimonia durchaus möglich ist. Für ihn ist
Glück nicht eine Funktion unserer jeweils vorliegenden Wünsche und
Begierden, sondern etwas, dessen Gehalt sich „objektiv“ bestimmen lässt.
Und diese objektive Bestimmung beruht ihrerseits nicht auf einer zufälli-
gen Übereinstimmung der Meinungen und Wünsche, sondern setzt beim
Begriff eines spezifisch menschlichen ergon an.
Wenn diese Beobachtungen zutreffen, dann kann das Glücks-
argument – als Rekonstruktion einer „aristotelischen“ Position aufgefasst –
nicht so verstanden werden, dass wir durch moralisches Handeln das
158 4. Konsequenzen der Interpretation

erlangen, was wir faktisch erstreben. Denn faktisch gesehen erstreben die
Menschen durchaus Unterschiedliches (vgl. die bereits mehrmals zitierte
Passage EN I 2, 1095a20-25). Hierin liegt eine wesentliche Differenz
zwischen einem „kantischen“ und einem „aristotelischen“ Eudaimonisten.
Wie ist das Argument aber dann zu verstehen? Eine nahe liegende und
durchaus gängige Antwort auf diese Frage setzt beim Begriff des Erstrebten
an. Nach dieser Antwort behauptet ein „antiker Eudaimonist“ nicht, dass
durch tugendhaftes Handeln beliebige Wünsche in Erfüllung gehen. Er
behauptet vielmehr, dass wir durch tugendhaftes Handeln das erlangen,
was wir eigentlich erstreben oder was wir erstreben sollten. Die eudaimo-
nistische Antwort auf die Herausforderung des Amoralisten würde lauten,
dass Tugend unseren wahren Interessen dient:
Und schließlich [...] haben die antiken Autoren einen scharfen Unterschied zwi-
schen dem gemacht, was die Individuen für ihre Interessen halten, und dem, was
ihr Selbstinteresse tatsächlich ist. Einen Subjektivismus der Präferenzen wie ihn
die Moderne [...] überwiegend vertreten hat, wäre von ihnen als eine typische
Meinung der Vielen und daher als unphilosophisch zurückgewiesen worden. Für
sie gibt es über die faktischen Präferenzen der Individuen hinaus ein objektives,
seinem Inhalt nach weder kontingentes noch individuell radikal verschiedenes
Selbstinteresse. Es besteht in einem guten und gelingenden Leben. (Bayertz 2006,
179f.) 12
Was sich hinter dem Konzept der wahren Interessen genau verbirgt, ist
nicht leicht zu sagen. Schon auf den ersten Blick dürfte aber deutlich sein,
dass diese Variante der eudaimonistischen Antwort viel voraussetzungs-
reicher ist als die „kantische“. Einerseits sollen sich wahre Interessen näm-
lich radikal von dem unterscheiden können, was „Individuen für ihre In-
teressen halten“. Andererseits sollen sie aber auf eine vergleichbare Weise
in der Lage sein, uns zu bestimmten Handlungen zu motivieren. (Denn
andernfalls wäre nicht einzusehen, welchen Sinn der Verweis auf das Er-
strebte im Kontext der Frage „Warum moralisch sein?“ überhaupt haben
sollte.) Handlungstheoretisch gesehen erscheint dieser Ansatz – seine
Durchführbarkeit wiederum vorausgesetzt – also eher anspruchsvoll. 13

_____________
12 Vgl. hierzu Bernard Williams’ Ausführungen zur antiken Konzeption „wahrer Interes-
sen“ (1985, Kap. 3) sowie die von Julia Annas vertretene These, dass es in der antiken
Ethik keine strikte Trennung zwischen eigenem und fremdem Interesse gebe (1993,
Kap. 10 und 14).
13 M.E. ist es keineswegs ausgemacht, dass uns der Verweis auf unsere „wahren Interes-
sen“ auf eine leichter nachvollziehbare Weise zum Handeln motivieren kann als der
Verweis auf unsere moralischen Pflichten.
4.1 Zur Frage „Warum moralisch sein?“ 159

Ist Aristoteles ein „antiker Eudaimonist“?

Um dieses Problem soll es hier aber nicht gehen. Vielmehr sind wir nun in
der Lage, die Auswirkungen der vorgelegten Interpretation von EN I ge-
nauer zu beschreiben. Wie verhält sich diese Interpretation zu dem von
Bayertz entworfenen Glücksargument? Die Antwort, die ausdrücklich
nicht auf Platon oder die antike Ethik „insgesamt“ übertragen werden
sollte, lässt sich in drei Thesen zusammenfassen: (i) Wenn die gütertheore-
tische Lektüre des ersten Buches der Nikomachischen Ethik Recht hat,
dann kann das Glücksargument aus prinzipiellen Gründen nicht als Re-
konstruktion einer Aristotelischen Auffassung beschrieben werden.
(ii) Der von Aristoteles hergestellte Zusammenhang zwischen Glück und
Tugend eignet sich nicht als Grundlage für eine eudaimonistische Antwort
auf die Frage „Warum moralisch sein?“. Genauer gesagt: Er eignet sich
nicht als Grundlage für eine Antwort, die die oben skizzierte Strategie
verfolgt. (iii) Der Verweis auf eine andere Konzeption von Eigeninteresse
trifft nicht den entscheidenden Unterschied zwischen dem „kantischen
Eudaimonisten“ und Aristoteles.
Dass diese drei Thesen mit der in Kapitel 3 vorgenommenen Zurück-
weisung des Psychologischen Eudaimonismus zu tun haben, dürfte kaum
überraschen. Der Zusammenhang lässt sich folgendermaßen umreißen:
Wenn die eudaimonistische Strategie zur Beantwortung der Frage „Wa-
rum moralisch sein?“ Aussicht auf Erfolg haben soll, dann muss die erste
Prämisse des Glücksarguments „psychologisch“ aufgefasst werden. In einer
näher zu bestimmenden Weise muss hier von dem die Rede sein, was
handelnde Personen in ihren Handlungen erstreben. Dies gilt auch dann,
wenn sich die Rede vom Erstrebten nicht auf unsere kontingenten fakti-
schen Wünsche bezieht, sondern auf das, was wir „eigentlich“ erstreben
oder was wir erstreben sollten. Hierin liegt, wie erwähnt, die Pointe und
auf den ersten Blick auch die Attraktivität der eudaimonistischen Antwort.
Dass wir in unseren konkreten Handlungen nach Glück streben, ist je-
doch genau die Auffassung des Psychologischen Eudaimonismus, gegen
den in den Abschnitten 3.1 und 3.2 argumentiert worden ist.
Folgt man dagegen der in dieser Arbeit vorgeschlagenen Interpreta-
tion, dann stellt die These, dass die eudaimonia ein höchstes Ziel ist, keine
psychologische oder handlungstheoretische, sondern eine primär güter-
theoretische Aussage dar (vgl. 3.2). Diese Aussage sagt etwas darüber, was
es bedeutet, dass die eudaimonia das höchste Gut ist. Sie gibt den teleolo-
gischen Rahmen vor, innerhalb dessen die Bestimmung der eudaimonia
erfolgt. Sie betrifft aber nicht die Frage, was Handelnde dazu motiviert,
etwas Bestimmtes zu tun. Nur so lässt sich nach meiner Auffassung das
160 4. Konsequenzen der Interpretation

erste Buch der Nikomachischen Ethik als in sich geschlossener Argumenta-


tionsgang begreifen.
Blickt man nun unter diesen Voraussetzungen auf das Glücksargu-
ment und die eudaimonistische Strategie zur Beantwortung der Frage
„Warum moralisch sein?“, dann ergibt sich folgendes Bild: Dass Aristoteles
einen objektiven Zusammenhang zwischen Tugend und Glück behauptet,
kann sicher nicht bestritten werden. Dieser Zusammenhang lässt sich als
ein Grund anführen, der dafür spricht, die Tugenden auszuüben. Dazu
genügt es festzustellen, dass Glück etwas Gutes ist. Ob aber dieser Grund
auch dazu in der Lage ist, jemanden zu tugendhaftem Verhalten zu moti-
vieren, ist eine völlig andere Frage. Und anders als es die eudaimonistische
Strategie annimmt, sollte diese Frage nicht durch einen bloßen Verweis
auf die These beantwortet werden, dass wir alle nach dem Glück streben.
Denn im Kontext von EN I hat diese These eine völlig andere Funktion.
(Mit dem Wegfall des Psychologischen Eudaimonismus entfällt also auch
die handlungstheoretische Pointe, welche die eudaimonistische Strategie
eigentlich kennzeichnet.) Deshalb scheint es auch problematisch, den
Unterschied zwischen dem Aristoteles des ersten Buches der Nikomachi-
schen Ethik und dem „kantischen Eudaimonisten“ durch den Hinweis auf
ein spezifisch antikes Konzept von Eigeninteresse zu beschreiben. Welches
Konzept von Eigeninteresse Aristoteles vertritt, lässt sich auf der Basis der
hier behandelten Passagen nicht beantworten.
Um diese Sichtweise abschließend noch etwas genauer zu beleuchten,
lohnt es sich, noch einmal einen Blick auf EN I 8-9 zu werfen, also auf
jene Kapitel, in denen Aristoteles seine Bestimmung der eudaimonia mit
den gängigen Meinungen (legomena) vergleicht. Prima facie liegt es durch-
aus nahe, diese beiden Kapitel auf die Frage zu beziehen, warum wir mora-
lisch sein sollen. Aristoteles scheint hier vor Augen zu führen, dass seine
Konzeption auch für solche Personen attraktiv sein kann, die eigentlich
ganz andere Dinge erstreben. Auch diese Personen hätten dann einen
Grund, die menschlichen Tugenden auszuüben:
Reading Aristotle with a contemporary eye [...], we can be easily drawn to con-
clude that Aristotle attaches flourishing to ethically virtuous activity in order to
give us a needed motive toward the latter. (Broadie 2006, 344)
Es fällt auf, dass dieser Blick auf EN I 8-9 dem entspricht, der die Kapitel
I 1-6 aus der Perspektive des Psychologischen Eudaimonismus betrachtet
und für den sich die Frage stellt, auf welche Weise die objektiv bestimmte
eudaimonia den Handelnden als eudaimonia erscheinen kann (vgl. 3.1,
S. 123 ff.). Das Argument, das gegen diese Auffassung vorgebracht wurde,
lässt sich nun wiederholen. Tugend ist nach Aristoteles keine hinreichende
Bedingung für Glück. Gerade Eigenschaften, die die Aristotelische eudai-
4.1 Zur Frage „Warum moralisch sein?“ 161

monia-Konzeption auch für die Gruppe der „Vielen“ attraktiv erscheinen


lassen könnten (Reichtum, politischer Einfluss, äußeres Wohlergehen
usw.), müssen der Bestimmung des Glücks als Tugend im Prinzip hinzu-
gefügt werden (vgl. I 9, 1099a31-b8). Für sich genommen können diese
Eigenschaften also nicht als Gründe angeführt werden, die dafür sprechen,
sich tugendhaft zu verhalten. Genauer gesagt: Diese Eigenschaften könn-
ten als Gründe für jede beliebige eudaimonia-Konzeption dienen, der auch
immer sie hinzugefügt werden.
[O]ne cannot help wondering whether a hedonist or a splendid life-ist as clever as
Aristotle might not have turned the tables by showing ways in which what is in-
tuitively attractive about virtuous (in the ordinary sense) activity is actually to be
found, in some form or other, lurking within the folds of their ideals. (ebd.)
Eine mögliche Lösung dieses Problems könnte darin liegen, einen schwä-
cheren Zusammenhang zwischen Tugend und Glück zu behaupten. So
wäre es denkbar, dass die Ausübung der Tugenden zwar keine „Glücks-
garantie“ beinhaltet, aber zumindest – um einen Vorschlag von Rosalind
Hursthouse aufzugreifen (1999, Kap. 8) – „the only reliable bet“ für ein
glückliches Leben darstellt (ebd., 172). Die Aristotelische Argumentation
wäre dann nicht als der Versuch zu verstehen, hinreichende Glücksbedin-
gungen zu formulieren; sie wäre eher mit einem ärztlichen Ratschlag zu
vergleichen:
Suppose my doctor said, ‘You would benefit from a regimen in which you gave
up smoking, took regular exercise, and moderated your drinking.’ [...] If, despite
following her advice, I develop lung cancer or heart disease or my liver fails, in
my youth or middle age, this does not impugn the correctness of what she said
[...]. She and I both know that doing as she says does not guarantee perfect
health; nevertheless, if perfect health is what I want, the only thing to do is to fol-
low her advice and hope that I shall not be unlucky. Similarly, the claim is not
that possession of the virtues guarantees that one will flourish. The claim is that
they are the only reliable bet – even though, it is agreed, I might be unlucky and,
precisely because of my virtue, wind up dying early or with my life marred or ru-
ined. (ebd.)
Wie auch immer man die Aussichten einer solchen Herangehensweise
einschätzt: 14 dass Tugend nach Aristoteles keine hinreichende Bedingung
für Glück darstellt, muss irritieren, wenn man versucht, EN I als Aus-
gangspunkt einer eudaimonistischen Antwort auf die Frage „Warum mo-
ralisch sein?“ zu benutzen.
Dagegen tritt diese Irritation nicht auf, wenn man der hier vorgeschla-
genen Interpretation folgt und das erste Buch ausschließlich als den Ver-
such begreift, eine objektive Bestimmung der eudaimonia zu formulieren.
_____________
14 Vgl. für eine Kritik an Hursthouse Lovibond (2005).
162 4. Konsequenzen der Interpretation

Unter diesen Umständen scheint es unproblematisch, dass der Tugend


weitere Glücksgüter hinzugefügt werden müssen. 15 Ich denke daher, dass
Ernst Tugendhat Unrecht hat, wenn er urteilt, Aristoteles sei, indem er
einen Zusammenhang zwischen Moral und Glück herstellt, „ganz Schüler
von Platon“, für den sich „die Frage nach der Moral auf die Frage, ob wir
gute Motive haben, moralisch zu sein“, konzentriere (41997, 240). Wenn
die hier entwickelte Deutung zutrifft, dann scheint es offen, ob Aristoteles
die so verstandene „Frage nach der Moral“ überhaupt in den Blick nimmt.
Über die Gründe, die jemanden zu moralischem Verhalten motivieren
könnten, wird im ersten Buch der Nikomachischen Ethik nicht gesprochen.

4.2 Zur Frage „Was soll ich tun?“


Der zweite Aspekt, an dem die Auswirkungen der hier vorgestellten Inter-
pretation von EN I beschrieben werden sollen, liegt in der von Aristoteles
geäußerten These, dass der Tugendhafte (spoudaios) oder Weise (phroni-
mos) einen „Maßstab“ für das richtige Handeln bietet. Die Frage, auf die
diese These naheliegenderweise bezogen wird, lautet: „Was soll ich tun?“.
Sie fragt nach einem Kriterium für das moralisch richtige Verhalten.
Die in Kapitel 2 vorgelegte Deutung von EN I 1-5 bringt, wie gezeigt
werden soll, eine bestimmte Interpretation der genannten These mit sich.
Anders als bei der Frage „Warum moralisch sein?“ folgt diese Interpreta-
tion jedoch nicht zwangsläufig aus der gütertheoretischen Lektüre. Das
heißt, andere Interpretationen können durch sie nicht ausgeschlossen
werden. Vielmehr handelt es sich um eine Deutungsoption, die durch den
hier vorgestellten Blick auf EN I nahe gelegt wird und für die sich einige
Argumente ins Feld führen lassen. Sollte diese Option zutreffend sein,
dann ist die Verknüpfung des Aristotelischen Verweises auf den Tugend-
haften mit der Frage „Was soll ich tun?“ aus prinzipiellen Gründen prob-
lematisch.
Wie im vorigen Abschnitt werde ich zunächst darstellen, welche Er-
wartungen von seiten der Moralphilosophie an den Verweis auf den Tu-
gendhaften gerichtet werden. Danach werden diese Erwartungen mit dem
Aristotelischen Text abgeglichen.

_____________
15 Dies bedeutet natürlich nicht, dass diese Konzeption insgesamt unproblematisch wäre.
So scheint mir zum Beispiel der gängige Elitarismus-Vorwurf gegen Aristoteles durch-
aus berechtigt. Gerade weil er seiner Definition bestimmte Glücksgüter hinzufügt,
scheint die vollendete eudaimonia nur für diejenigen erreichbar zu sein, die unter be-
sonders begünstigten Bedingungen aufwachsen.
4.2 Zur Frage „Was soll ich tun?“ 163

Handeln wie der Tugendhafte

Zu den wichtigsten Merkmalen neuerer tugendethischer Ansätze gehört


deren so genannte „Akteurszentrierung“. 16 Demnach stehen im Mittel-
punkt der moralischen Beurteilung nicht einzelne Handlungen und deren
Folgen, sondern handelnde Personen und ihre Charaktereigenschaften,
das heißt ihre langfristigen Verhaltensmuster. Diese Akteurszentrierung
kann einfach eine bestimmte thematische Fokussierung bedeuten. Sie
kann aber auch, in einer anspruchsvolleren Variante, mit einer „begriffli-
chen Hierarchie“ verknüpft sein: 17
Just as its utilitarian and deontological competitors begin with primitive concepts
of the good state of affairs and the intrinsically right action respectively and then
derive secondary concepts out of their starting points, so virtue ethics, beginning
with a root conception of the morally good person, proceeds to introduce a dif-
ferent set of secondary concepts which are defined in terms of their relationship
to the primitive element. (Louden 1984/1997, 204)
Diese begriffliche Hierarchie, nach der beispielsweise der moralische Status
einer Handlung vom moralischen Status des Handelnden abhängt, aber
nicht umgekehrt, lässt sich, wiederum am Beispiel von Handlungen, in
folgende These fassen:
T: Eine Handlung ist genau dann moralisch gut, wenn sie unter ver-
gleichbaren Bedingungen von einem moralisch guten, das heißt einem
tugendhaften Menschen gewählt würde.
Der hier ausgedrückte Gedanke kann auf andere Beispiele übertragen
werden. So könnte man auch sagen, dass eine Entscheidung genau dann
moralisch gut ist, wenn sie von einem tugendhaften Menschen getroffen,
eine Absicht, wenn sie von einem tugendhaften Menschen verfolgt würde,
usw. (Der mögliche Unterschied zwischen Moral und Tugend kann hier
beiseite gelassen werden. Im Folgenden bedeutet „tugendhaft“ das gleiche
wie „moralisch gut“.)
Die von der Tugendethik propagierte Konzentration auf den Han-
delnden entspringt unter anderem der Kritik am vermeintlichen „Rigo-
rismus“, den eine Gesetzeskonzeption der Moral mit sich bringt. Begreift
man moralische Vorschriften, wie etwa die Vorschrift „Du sollst nicht
lügen!“, als unbedingte Gesetze, so scheint man die Gültigkeit dieser

_____________
16 Vgl. für eine Einführung in die gegenwärtige Tugendethik Crisp/Slote (1997), Stat-
man (1997), Rippe/Schaber (1998); und für einen einflussreichen tugendethischen
Ansatz, der sich explizit als „aristotelisch“ begreift, Hursthouse (1999).
17 Diese beiden Varianten entsprechen Michael Slotes Unterscheidung zwischen „agent-
focused“ und „agent-based virtue ethics“ (1995/1997).
164 4. Konsequenzen der Interpretation

Vorschriften von den Umständen der konkreten Anwendungssituation


abzukoppeln. Entscheidend für die Anwendung der Vorschrift auf eine
bestimmte Handlung ist dann lediglich, ob sich diese Handlung zum Bei-
spiel als „Lüge“ charakterisieren lässt. Bekanntermaßen gibt es jedoch
Umstände, in denen zu lügen nicht nur moralisch erlaubt scheint, sondern
vielleicht sogar moralisch geboten ist, zum Beispiel wenn man durch eine
(Not-)Lüge ein Leben retten kann. Dieser wichtigen Intuition kann eine
Gesetzeskonzeption der Moral auf den ersten Blick nicht gerecht werden.
Ein tugendethischer Ansatz, dessen „root conception“ der einer moralisch
guten Person ist, erscheint hier als die bessere Alternative. Denn die Ent-
scheidungen des Tugendhaften können als stark abhängig von dessen
Wahrnehmung der konkreten Situation beschrieben werden. Im Gegen-
satz zur „Starrheit“ moralischer Gesetze erscheint T „flexibel“.
Wenn man die Akteurszentrierung in der eben beschriebenen Weise
auffasst, dann stellen sich allerdings zwei wichtige Probleme, die bereits in
dem zitierten Aufsatz von Robert Louden angesprochen werden.
Das erste Problem lässt sich folgendermaßen umreißen: Angenommen,
eine tugendhafte Person entscheidet sich für etwas, das wir eigentlich als
unmoralisch bezeichnen würden: Wie wäre die entsprechende Handlung
moralisch zu beurteilen? Hinter dem Ausdruck „eigentlich“ steht die Intu-
ition, das bestimmte Handlungen per se, das heißt bereits aufgrund ihrer
Beschreibung, moralisch falsch sind. (Ein nahe liegendes Beispiel wäre
eine Handlung, die sich als Mord beschreiben lässt.) Prima facie kann
nicht ausgeschlossen werden, dass die Anwendung von T zu moralischen
Urteilen führt, die mit Blick auf diese Intuition nicht akzeptabel sind. Die
Situation verhält sich also komplementär zum eben beschriebenen Fall der
Notlüge. Per se falsche Handlungen sind solche, die einen moralischen
Rigorismus „fordern“, da für die moralische Beurteilung dieser Handlun-
gen die Umstände gerade keine Rolle spielen sollen. Dieser Forderung
kann eine akteurszentrierte Sichtweise, so scheint es, nicht gerecht werden.
Dass jemand, der tugendhaft ist, sich für etwas Unmoralisches ent-
scheiden sollte, erscheint freilich ausgesprochen kontraintuitiv. Sollte eine
solche Entscheidung vorkommen, würden wir vermutlich zögern, die
entsprechende Person als tugendhaft zu bezeichnen. Zumindest würden
wir nicht behaupten, dass sie diese Entscheidung gefällt hat, insofern sie
tugendhaft ist. Eine einfache Entgegnung auf das Problem könnte also
lauten, dass es zum Wesen des Tugendhaften gehört, moralisch richtige
Entscheidungen zu treffen. Der beschriebene Fall einer unmoralischen
Entscheidung würde daher überhaupt nicht vorkommen; er wäre per defi-
nitionem ausgeschlossen.
Diese Strategie ist aber zweifellos unbefriedigend; denn sie unterläuft
die begriffliche Hierarchie, die durch T festgesetzt werden sollte. Der Be-
4.2 Zur Frage „Was soll ich tun?“ 165

griff des Tugendhaften (bzw. der moralische Status eines Handelnden)


würde vom Begriff der moralisch richtigen Entscheidung (bzw. von deren
moralischem Status) abhängig gemacht. Er wäre nicht mehr der primäre
Begriff.
Durch eine etwas andere Beschreibung lässt sich dieser wichtige Punkt
noch etwas genauer fassen. Dass sich das Problem des Tugendhaften, der
sich für etwas Unmoralisches entscheidet, nicht so einfach zurückweisen
lässt, hängt mit den Erwartungen zusammen, die an die Entscheidungen
des Tugendhaften geknüpft werden. Diese Entscheidungen sollen offenbar
als Kriterium für eine Unterscheidung zwischen dem moralisch Richtigen
und dem moralisch Falschen dienen. Denn nur unter diesen Umständen
kann es dazu kommen, dass die moralische Beurteilung einer Handlung in
der beschriebenen Weise unklar ist. Ein und dieselbe Handlung könnte
nach einem Kriterium (z.B. „würde unter vergleichbaren Umständen vom
Tugendhaften gewählt“) als moralisch richtig, nach einem anderen Krite-
rium (z.B. „lässt sich als Mord beschreiben“) als moralisch falsch beurteilt
werden. So wird auch deutlich, weshalb die nahe liegende Entgegnung,
dass der Tugendhafte per definitionem moralisch richtige Entscheidungen
trifft, auszuschließen ist. Die entsprechende Definition des Tugendhaften
würde dann nämlich auf einem Zirkel basieren. Der Rekurs auf den Tu-
gendhaften könnte kein Kriterium zur Unterscheidung zwischen dem
moralisch Richtigen und dem moralisch Falschen bieten, da dessen Defi-
nition diese Unterscheidung bereits voraussetzt. Die Anwendung von T
würde daran scheitern, dass sich nicht feststellen lässt, wer tugendhaft ist. 18
Damit ist das zweite Problem in Bezug auf T benannt: Gibt es eine
Möglichkeit, den Tugendhaften zu identifizieren, ohne dabei auf dessen
moralisch richtiges Verhalten zurückzugreifen, das heißt auf seine mora-
lisch richtigen Entscheidungen, Handlungen, Absichten usw.? Gibt es ein
hiervon unabhängiges, deskriptives Merkmal zur Identifizierung des Tu-
gendhaften? Eine positive Antwort auf diese Frage scheint zunächst die
einzige Möglichkeit, den Zirkel zu umgehen und die Entscheidungen des
Tugendhaften als Kriterium für das moralisch Richtige zu verwenden.
Die beiden hier skizzierten Probleme sind deshalb aufschlussreich, weil
sie es ermöglichen, eine bestimmte Sicht auf die Akteurszentrierung der
Tugendethik zu charakterisieren. Wie wir gesehen haben, treten sie dann
auf, wenn die Entscheidungen des Tugendhaften als Kriterium für eine
Unterscheidung zwischen dem moralisch Richtigen und dem moralisch
Falschen dienen sollen. Das heißt, sie treten auf, wenn T die Funktion
eines moralischen Prinzips zugesprochen wird, dessen Anwendung den
Übergang von einer Beschreibung zu einer moralischen Bewertung ermög-
_____________
18 Vgl. zu dieser Problematik Blackburn (1998, Kap. 4.5).
166 4. Konsequenzen der Interpretation

licht. Die Entscheidungen des Tugendhaften sollen ein brauchbares Krite-


rium für denjenigen bieten, der selbst eine moralische Entscheidung zu
fällen hat. Um noch einmal Robert Louden zu zitieren: „However, people
have always expected ethical theory to tell them something about what
they ought to do” (1984/1997, 205). Der Rekurs auf den Tugendhaften
wäre unter diesen Umständen eine Antwort auf die moralphilosophische
Frage „Was soll ich tun?“.
Wichtig ist, dass diese Funktion mit der angesprochenen „Flexibilität“
des Prinzips nichts zu tun hat, sondern allein damit, dass es ein Prinzip ist.
Und streng genommen wäre auch nicht das Prinzip selbst flexibel. Ein
ihm entsprechender Imperativ „Handle stets so, wie es der Tugendhafte
tun würde!“ ist genauso rigoros wie etwa Kants Kategorischer Imperativ.
Während dieser jedoch in sehr unterschiedlichen Situationen (vermeint-
lich) die gleiche Handlungsanweisung gibt, kann die Handlungsanweisung
bei jenem in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich ausfallen. Das
heißt: Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die Wahrnehmung der Situa-
tion eine entscheidende Rolle für das Verhalten des Tugendhaften spielt:
sobald wir dieses Verhalten als Kriterium für unsere eigenen Entscheidun-
gen verwenden wollen, müssen wir uns mit den beiden Problemen ausein-
andersetzen. Wir müssen fragen, wie wir mit der Annahme per se falscher
Handlungen umgehen sollen, und wir müssen fragen, wer eigentlich tu-
gendhaft ist.

hôs an ho phronimos horiseien

Die Positionen der modernen Tugendethik sind natürlich wesentlich dif-


ferenzierter, als es hier dargestellt wurde. Die skizzierte Situation bietet
aber eine geeignete Folie, um eine bestimmte Sichtweise der Aristoteli-
schen Ethik zu beschreiben. Um dies zu verdeutlichen, soll zunächst ge-
zeigt werden, dass alle genannten Aspekte auch in der Nikomachischen
Ethik anzutreffen sind.
Dass die Aristotelische Ethik akteurszentriert ist, lässt sich kaum
bestreiten. Bei seinen Ausführungen zur Tugend richtet Aristoteles die
Aufmerksamkeit regelmäßig auf die handelnde Person. Um nur das be-
kannteste Beispiel herauszugreifen: Aristoteles betont, dass tugendhaftes
Handeln nicht nur bedeutet, etwas Bestimmtes zu tun, sondern dies auf
eine bestimmte Weise zu tun. Und die Bedingungen, die dazu erfüllt sein
müssen, werden unter Bezugnahme auf den Zustand des Handelnden er-
läutert:
Was aber gemäß den Tugenden hervorgebracht wird (im Gegensatz zu dem, was
gemäß einer technê hervorgebracht wird), wird nicht deshalb auf gerechte oder be-
4.2 Zur Frage „Was soll ich tun?“ 167

sonnene Weise getan, wenn es selbst sich auf eine bestimmte Weise verhält, son-
dern wenn auch der Handelnde in einer bestimmten Verfassung handelt: wenn er
erstens wissend, zweitens aufgrund einer Entscheidung, und zwar aufgrund einer
Entscheidung um der Sache selbst willen, und drittens in einer festen und unbe-
irrbaren Verfassung handelt. 19 (II 3, 1105a28-33)
Auch der in T ausgedrückte Gedanke einer begrifflichen Hierarchie findet
sich in vergleichbarer Form in der Ethik des Aristoteles. Aristoteles be-
hauptet, dass die „Mitte“ (ȞıIJցijșȣ), die das tugendhafte Verhalten kenn-
zeichnet, so ist, wie sie der „Weise“ oder „Kluge“ (phronimos) bestimmen
würde (hôs an ho phronimos horiseien: II 6, 1107a1-2). Mutatis mutandis
lässt sich diese Formulierung durchaus so verstehen, dass eine Handlung
genau dann moralisch richtig ist, wenn sich ein phronimos dafür entschei-
den würde. Dass an dieser Stelle nicht vom Tugendhaften (spoudaios),
sondern vom phronimos die Rede ist, spielt dabei keine Rolle. Denn ers-
tens bedingen sich ethische Tugend und phronêsis (Klugheit) wechselseitig
(vgl. EN VI 13, v.a. 1144a36-b1; b30-32); zweitens geht es mit Blick auf
die Akteurszentrierung darum, dass auf das Urteil einer Person verwiesen
wird anstatt zum Beispiel auf die Anwendung einer bestimmten Regel.
Außerdem ist zu bemerken, dass auch bei Aristoteles die Akteurszen-
trierung mit einer Fokussierung der Handlungssituation einherzugehen
scheint. Zum einen zeigt Aristoteles eine generelle Skepsis gegenüber all-
gemeinen Regeln in Bezug auf richtiges Handeln. Was in einer konkreten
Situation zu tun ist, muss vom Handelnden selbst bedacht werden:
Es soll aber von vorneherein Einigkeit darüber bestehen, dass alles, was über das
Handeln gesagt wird, nur im Umriss und nicht mit Genauigkeit gesagt werden
darf [...]. Im Bereich der Handlungen und des Nützlichen gibt es nichts Stabiles
wie auch nicht im Bereich des Gesunden. Wenn sich aber die allgemeinen Aussa-
gen so verhalten, dann werden die Aussagen über das Einzelne erst recht keine
Genauigkeit aufweisen. Denn sie fallen weder unter eine Kunst noch unter ir-
gendeine Vorschrift, sondern stets müssen die Handelnden selbst die Umstände
bedenken, wie es sich auch in der Heilkunst und in der Steuermannskunst ver-
hält. 20 (II 2, 1103b34-1104a10)

_____________
19 ijո İպ Ȝįijո ijոȣ ԐȢıijոȣ ȗțȟցȞıȟį ȡ՘Ȝ Ԛոȟ į՘ijչ ʍȧȣ Ԥȥׄ, İțȜįտȧȣ Ԯ IJȧĴȢցȟȧȣ
ʍȢչijijıijįț, Ԑȝȝո Ȝįվ Ԛոȟ Ս ʍȢչijijȧȟ ʍ‫׭‬ȣ Ԥȥȧȟ ʍȢչijijׄ, ʍȢ‫׭‬ijȡȟ Ȟպȟ Ԛոȟ ıԼİօȣ, Ԥʍıțij’
Ԛոȟ ʍȢȡįțȢȡփȞıȟȡȣ, Ȝįվ ʍȢȡįțȢȡփȞıȟȡȣ İț’ į՘ijչ, ijր İպ ijȢտijȡȟ Ԛոȟ Ȝįվ ȖıȖįտȧȣ Ȝįվ
ԐȞıijįȜțȟսijȧȣ Ԥȥȧȟ ʍȢչijijׄ.
20 ԚȜı‫ה‬ȟȡ İպ ʍȢȡİțȡȞȡȝȡȗıտIJȚȧ, Ցijț ʍֻȣ Ս ʍıȢվ ij‫׭‬ȟ ʍȢįȜij‫׭‬ȟ ȝցȗȡȣ ijփʍ‫ ׫‬Ȝįվ ȡ՘Ȝ
ԐȜȢțȖ‫׭‬ȣ ՌĴıտȝıț ȝջȗıIJȚįț [...]ǝ ijո İ’ Ԛȟ ijį‫ה‬ȣ ʍȢչȠıIJț Ȝįվ ijո IJȤȞĴջȢȡȟijį ȡ՘İպȟ
ԛIJijșȜրȣ Ԥȥıț, խIJʍıȢ ȡ՘İպ ijո ՙȗțıțȟչ. ijȡțȡփijȡȤ İ’ Րȟijȡȣ ijȡ‫ ף‬ȜįȚցȝȡȤ ȝցȗȡȤ, Ԥijț
Ȟֻȝȝȡȟ Ս ʍıȢվ ij‫׭‬ȟ ȜįȚ’ ԥȜįIJijį ȝցȗȡȣ ȡ՘Ȝ Ԥȥıț ijԐȜȢțȖջȣǝ ȡ՜ijı ȗոȢ ՙʍր ijջȥȟșȟ
ȡ՜Ț’ ՙʍր ʍįȢįȗȗıȝտįȟ ȡ՘İıȞտįȟ ʍտʍijıț, İı‫ ה‬İ’ į՘ijȡւȣ Ԑıվ ijȡւȣ ʍȢչijijȡȟijįȣ ijո ʍȢրȣ
ijրȟ ȜįțȢրȟ IJȜȡʍı‫ה‬ȟ, խIJʍıȢ Ȝįվ Ԛʍվ ij‫׆‬ȣ ԼįijȢțȜ‫׆‬ȣ Ԥȥıț Ȝįվ ij‫׆‬ȣ ȜȤȖıȢȟșijțȜ‫׆‬ȣ.
168 4. Konsequenzen der Interpretation

Zum anderen wird die intellektuelle Tugend der phronêsis explizit auf den
Einzelfall bezogen. Wer ein phronimos ist, weiß, was in einer konkreten
Situation zu tun ist (VI 7, 1141a22-26; VI 12). Unter anderem dadurch
unterscheidet sich die Tugend der phronêsis von der der sophia (Weisheit),
die ein Wissen von allgemeinen und notwendigen Wahrheiten darstellt
(VI 7, 1141a17-20 mit VI 3, 1139b18-21).
Interessant ist nun, dass sich auch die beiden erwähnten Probleme ei-
ner akteurszentrierten Ethik auf der Basis des Aristotelischen Textes for-
mulieren lassen. Es sind Probleme, die sich bei der Interpretation dieses
Textes stellen.
Erstens scheint Aristoteles von der Existenz per se schlechter Handlun-
gen auszugehen, womit die Voraussetzungen für das erste Problem gege-
ben wären:
Einige (Handlungen und Leidenschaften) sind nämlich gleich so benannt wor-
den, dass sie mit der Schlechtigkeit verbunden sind, zum Beispiel Schadenfreude,
Schamlosigkeit, Neid und bei den Handlungen Ehebruch, Diebstahl, Mord.
Denn all dieses und Derartiges wird deshalb (schlecht) genannt, weil es selbst
schlecht ist, und nicht sein Übermaß oder Mangel. Es ist also niemals möglich, in
Bezug auf diese Dinge richtig zu handeln, sondern (man wird) stets (das Richtige)
verfehlen. 21 (II 6, 1107a9-15)
Zweitens ist es schwierig, eine Bestimmung des Tugendhaften zu gewin-
nen, die nicht auf dessen (moralisch) richtiges „Verhalten“ (um einen
möglichst weiten Begriff zu wählen) zurückgreift. Besonders aufschluss-
reich ist in diesem Zusammenhang eine vielzitierte Passage aus EN III 6:
Der Tugendhafte beurteilt nämlich jedes Einzelne richtig und in jedem Einzelnen
erscheint ihm das Wahre; denn bei jeder einzelnen Haltung gibt es (dafür) eigen-
tümliches Edles und Lustvolles, und vielleicht zeichnet sich der Tugendhafte am
meisten dadurch aus, dass er im Einzelnen das Wahre sieht, als wäre er eine
Richtschnur und ein Maß für diese Dinge. 22 (1113a29-33)
Indem Aristoteles hier den Tugendhaften (spoudaios) einerseits als Richt-
schnur (kanôn) und Maß (metron) des in Wahrheit Guten bezeichnet,
andererseits aber den Tugendhaften als denjenigen bestimmt, der das im
Einzelfall Wahre sieht, scheint er in genau den Zirkel zu geraten, von dem

_____________
21 Ԥȟțį ȗոȢ ı՘Țւȣ ըȟցȞįIJijįț IJȤȟıțȝșȞȞջȟį Ȟıijո ij‫׆‬ȣ ĴįȤȝցijșijȡȣ, ȡՃȡȟ ԚʍțȥįțȢıȜįȜտį
ԐȟįțIJȥȤȟijտį ĴȚցȟȡȣ, Ȝįվ Ԛʍվ ij‫׭‬ȟ ʍȢչȠıȧȟ Ȟȡțȥıտį Ȝȝȡʍռ ԐȟİȢȡĴȡȟտįǝ ʍչȟijį ȗոȢ
ijį‫ף‬ijį Ȝįվ ijո ijȡțį‫ף‬ijį ȝջȗıijįț ij‫ ׮‬į՘ijո Ĵį‫ף‬ȝį ıՂȟįț, Ԑȝȝ’ ȡ՘ȥ įԽ ՙʍıȢȖȡȝįվ į՘ij‫׭‬ȟ
ȡ՘İ’ įԽ ԚȝȝıտȦıțȣ. ȡ՘Ȝ ԤIJijțȟ ȡ՞ȟ ȡ՘İջʍȡijı ʍıȢվ į՘ijո ȜįijȡȢȚȡ‫ף‬ȟ, Ԑȝȝ’ Ԑıվ
ԑȞįȢijչȟıțȟ.
22 Ս IJʍȡȤİį‫ה‬ȡȣ ȗոȢ ԥȜįIJijį ȜȢտȟıț ՌȢȚ‫׭‬ȣ, Ȝįվ Ԛȟ ԛȜչIJijȡțȣ ijԐȝșȚպȣ į՘ij‫ ׮‬Ĵįտȟıijįț.
ȜįȚ’ ԛȜչIJijșȟ ȗոȢ ԥȠțȟ Հİțչ ԚIJijț Ȝįȝո Ȝįվ ԭİջį, Ȝįվ İțįĴջȢıț ʍȝı‫ה‬IJijȡȟ ՀIJȧȣ Ս
IJʍȡȤİį‫ה‬ȡȣ ij‫ ׮‬ijԐȝșȚպȣ Ԛȟ ԛȜչIJijȡțȣ ՍȢֻȟ, խIJʍıȢ Ȝįȟքȟ Ȝįվ ȞջijȢȡȟ į՘ij‫׭‬ȟ լȟ.
4.2 Zur Frage „Was soll ich tun?“ 169

oben die Rede gewesen ist. 23 Versucht man anhand dieser Zeilen zu
bestimmen, wer der Tugendhafte ist, stößt man zwangsläufig auf das zwei-
te Problem.
Aristoteles’ Ausführungen zur ethischen Tugend legen es nahe, den
Zusammenhang zwischen der richtigen Handlung und der Handlung des
Tugendhaften als trivial aufzufassen. Die ethischen Tugenden lassen sich
als Dispositionen zum richtigen „Verhalten“ in unterschiedlichen Situa-
tionstypen definieren (vgl. EN II 2, 1104b32-34 und II 4). Es scheint also
trivialerweise wahr, dass der Tugendhafte immer, weil dispositionell, rich-
tig handelt. Wenn Aristoteles jedoch nicht über diesen analytischen Zu-
sammenhang hinausgehen möchte, dann wird nicht klar, wieso der Tu-
gendhafte als Richtschnur und Maß des Wahren bezeichnet wird. Welche
Pointe sollte sich mit dieser und ähnlichen Redeweisen verbinden? Und
was nutzt der Hinweis auf das Urteil des phronimos?
Es scheint also, dass wir in der Aristotelischen Ethik genau die Situa-
tion vorfinden, die oben mit Blick auf die Akteurszentrierung der gegen-
wärtigen Tugendethik entworfen wurde. Es gibt Hinweise darauf, dass
Aristoteles das Verhalten des Tugendhaften als ein Kriterium für das be-
trachten möchte, was (moralisch) richtig ist. Wenn dies zutrifft, müssen
andere Aspekte seiner Ethik jedoch irritieren: zum einen die Rede von per
se falschen Handlungen, zum anderen die Vernachlässigung einer „moral-
unabhängigen“, deskriptiven Bestimmung des Tugendhaften.
Vor allem das zweite Problem hat in der Forschung einige Aufmerk-
samkeit erfahren. Stark vereinfacht lassen sich zwei Lösungsansätze unter-
scheiden. Der erste Lösungsansatz besteht in dem Versuch, eine deskripti-
ve und nicht-zirkuläre Bestimmung des Tugendhaften zu rekonstruieren.
Die einfachste Variante dieser Strategie liegt in einer „kommunitaristi-
schen“ Lesart der Aristotelischen Ethik. Demnach hätte Aristoteles einfach
deshalb auf eine Definition des Tugendhaften verzichtet, weil in der anti-
ken Polis klar gewesen sei, wer als spoudaios zu gelten hat. 24 Der zweite,
weitaus einflussreichere Lösungsansatz besteht darin, den Gedanken eines
_____________
23 Vgl. für eine ausführliche Behandlung Charles (1995) und Everson (1995).
24 Der prominenteste Vertreter dieser Interpretationsrichtung ist zweifellos Alasdair
MacIntyre (1985). Für ein klares Beispiel lässt sich aber auch der hier zitierte Aufsatz
von Robert Louden heranziehen: „The reasons for this strange lacuna [i.e. that Aris-
totle does not give the reader any hints on how to track down a phronimos, Ph.B.], I
suggest, are two. First, Aristotle is dealing with a small face-to-face community, where
the pool of potential phronimoi generally come from certain well established families
who are well known throughout the polis. Within a small face-to-face community of
this sort, one would naturally expect to find wide agreement about judgements of
character. Second, Aristotle’s own methodology is itself designed to fit this sort of
moral community. He is not advocating a Platonic ethics of universal categories”
(1984/1997, 213).
170 4. Konsequenzen der Interpretation

„moralexternen“, deskriptiven Kriteriums des moralisch Richtigen insge-


samt zurückzuweisen. Nach dieser Strategie kann die Rechtfertigung mo-
ralischer Urteile nur innerhalb eines moralischen Kontextes gegeben wer-
den, wie auch immer diese Rechtfertigung dann im Detail auszusehen
hat. 25 (Häufig geht diese Strategie mit einer Leugnung der strikten Dicho-
tomie von Tatsachen und Werten einher.)
Wenn die oben angestellten Beobachtungen zutreffen, dann lässt sich
beiden Strategien, so unterschiedlich sie auch erscheinen, ein vergleichba-
res Anliegen zusprechen. Insofern sie sich als Lösungen für das „zweite
Problem“ der Tugendethik begreifen lassen, behandeln sie den Rekurs auf
den Tugendhaften als Aristotelisches Äquivalent eines moralischen Prin-
zips. 26 Dies gilt auch dann, wenn sie die Aristotelische Ethik geradezu als
Gegenmodell einer Prinzipienethik begreifen. Wie oben erwähnt, hat die
Funktion eines moralischen Prinzips nichts mit dessen Starrheit oder Fle-
xibilität zu tun. „Tu das, was der Tugendhafte tun würde!“ wäre die Aris-
totelische Antwort auf die Frage „Was soll ich tun?“.
Im Folgenden soll eine grundsätzliche Alternative zu diesen beiden
Lösungsansätzen vorgeschlagen werden. Nach dieser Alternative versteht
Aristoteles den Zusammenhang zwischen dem Richtigen und dem vom
Tugendhaften Gewählten tatsächlich als trivial. Trotzdem verbindet sich
mit der Einführung des Tugendhaften als metron und kanôn eine Pointe.
Diese Pointe lässt sich auf die hier gegebene Interpretation von EN I 1-5
beziehen. Der Rekurs auf den Tugendhaften löst eine Schwierigkeit, die
mit dem dort gewählten teleologischen Ansatz verbunden ist.
Die beiden Probleme der akteurszentrierten Ethik können durch diese
Interpretation umgangen werden. Es erscheint jedoch fraglich, ob der
Verweis auf das Verhalten des Tugendhaften überhaupt mit der Angabe
eines moralischen Prinzips in Verbindung gebracht werden kann. Wenn
die im Folgenden vorzuschlagende Deutung zutrifft, dann muss dieser
Verweis ganz anders aufgefasst werden.

Das Gute und das scheinbar Gute

Im Folgenden möchte ich mich zunächst auf die Passage konzentrieren, in


der Aristoteles explizit vom Tugendhaften als einem Maßstab spricht. Dies
ist das sechste Kapitel aus EN III (vgl. VIII 2, 1155b21-27; VIII 7,
_____________
25 Für diese Interpretationsrichtung steht beispielsweise John McDowell. Vgl. für eine
relativ klare Zusammenfassung McDowell (1995).
26 Explizit wird dieser Ansatz von Rosalind Hursthouse vertreten: „An action is right iff
it is what a virtuous agent would characteristically (i.e. acting in character) do in the
circumstances” (1999, 28).
4.2 Zur Frage „Was soll ich tun?“ 171

1157b26-28). Im Kontext dieses Kapitels lässt sich relativ klar bestimmen,


was Aristoteles mit dem Verweis auf den Tugendhaften bezweckt. Es lässt
sich zeigen, dass zumindest hier kein Kriterium des moralisch Richtigen
gegeben werden soll. Nach einer knappen Interpretation des Abschnitts
werde ich dafür plädieren, die dort angestellten Beobachtungen auf die
Nikomachische Ethik „insgesamt“ zu übertragen.
Der Kontext, in dem das Kapitel EN III 6 erscheint, ist die Untersu-
chung des Freiwilligen (ԛȜȡփIJțȡȟ: III 1-8), die ihrerseits zur Untersu-
chung der so genannten „Charaktertugenden“ (ԐȢıijįվ ԬȚțȜįտ: II-V) ge-
hört. Um zu bestimmen, ob die Handlungen der Tugend und der
Schlechtigkeit freiwillig sind, unterscheidet Aristoteles zwischen den Zie-
len, die mit diesen Handlungen verfolgt werden, und den Handlungen
selbst, die somit, etwas vereinfacht, als Mittel zur Verwirklichung von
Zielen aufgefasst werden. Für das „Ergreifen“ einer Handlung ist nach
Aristoteles der Entschluss (ʍȢȡįտȢıIJțȣ) zuständig, der in den Kapiteln
III 4-5 diskutiert wird. Die Ziele selbst werden dagegen durch den
Wunsch (ȖȡփȝșIJțȣ) vorgegeben, auf den Aristoteles in III 6 zu sprechen
kommt.
Zu Beginn des Kapitels III 6 formuliert Aristoteles folgendes Problem:
Dass sich der Wunsch auf das Ziel bezieht, ist gesagt worden; einige meinen aber,
dass er sich auf das Gute bezieht, andere, dass er sich auf das scheinbar Gute be-
zieht. 27 (1113a15-16)
Der Wunsch ist eine Art des Strebens (ՐȢıȠțȣ; vgl. An. II 3, 414b2; III 9,
432b3-6). Das Ziel dieses Strebens wird, so Aristoteles, von einigen als
„das Gute“ (tagathon) bezeichnet, von anderen als „das scheinbar Gute“ (to
phainomenon agathon). Offensichtlich gibt es also zwei Optionen, wie der
Zusammenhang zwischen dem Gewünschten (boulêton) und dem Guten
aufgefasst werden kann. Aristoteles hält jedoch beide für problematisch.
Die erste, wohl „sokratische“ Option führt zu der folgenden absurden
Konsequenz:
Für diejenigen, die das Gewünschte das Gute nennen, ergibt sich, dass das nicht
gewünscht ist, was der wünscht, der nicht richtig wählt – denn wenn es ge-
wünscht ist, dann auch gut; es traf sich aber so, dass es schlecht war. 28 (a17-19)
Die absurde Konsequenz der Gleichsetzung des Gewünschten mit dem
Guten besteht darin, dass wir gezwungen wären, die Wünsche desjenigen,

_____________
27 Ե İպ ȖȡȫȝșIJțȣ Ցijț Ȟպȟ ijȡ‫ ף‬ijȒȝȡȤȣ ԚIJijվȟ ıՀȢșijįț, İȡȜı‫ ה‬İպ ijȡ‫ה‬ȣ Ȟպȟ ijԐȗįȚȡ‫ ף‬ıՂȟįț,
ijȡ‫ה‬ȣ İպ ijȡ‫ ף‬ĴįțȟȡȞȒȟȡȤ ԐȗįȚȡ‫ף‬.
28 IJȤȞȖįȔȟıț İպ ijȡ‫ה‬ȣ Ȟպȟ [ijր] ȖȡȤȝșijրȟ ijԐȗįȚրȟ ȝȒȗȡȤIJț Ȟռ ıՂȟįț ȖȡȤȝșijրȟ Տ
Ȗȡȫȝıijįț Ս Ȟռ ՌȢȚ‫׭‬ȣ įԽȢȡȫȞıȟȡȣ (ıԼ ȗոȢ ԤIJijįț ȖȡȤȝșijȪȟ, Ȝįվ ԐȗįȚȪȟ· Բȟ İ’, ıԼ
ȡ՝ijȧȣ ԤijȤȥı, ȜįȜȪȟ).
172 4. Konsequenzen der Interpretation

der etwas Schlechtes wünscht, als „nicht gewünscht“ (mê boulêton) zu be-
zeichnen. Implizit enthält dieses Argument die Annahme, dass es Dinge
gibt, die zwar gewünscht werden, sich aber als schlecht herausstellen, etwa
weil der Wünschende sich geirrt hat. (Auf diesen Punkt werden wir später
noch zurückkommen.)
Für dieses Problem scheint die Gleichsetzung zwischen dem Ge-
wünschten und dem scheinbar Guten eine Lösung zu bieten. Dass das
Gewünschte demjenigen, der es wünscht, als etwas Gutes erscheint, kann
nach Aristoteles nicht bestritten werden. Vgl. hierzu die bereits zitierte
Passage aus dem sechsten Buch der Topik:
Ferner ist bei den (Definitionen von) Strebungen zu prüfen, ob versäumt wurde,
‚anscheinend’ hinzuzufügen, wie auch bei vielen anderen Dingen, bei denen es
passt, zum Beispiel (wenn er definiert), dass der Wille ein ‚Streben nach dem Gu-
ten’ oder die Begierde ein ‚Streben nach dem Angenehmen’ sei, aber nicht (sagt):
nach dem ‚anscheinend Guten’ oder: ‚anscheinend Angenehmen’. Oft ist nämlich
den Strebenden das verborgen, was (wirklich) gut oder angenehm ist, so dass (das
Erstrebte) nicht notwendig gut oder angenehm ist, sondern nur so zu sein
scheint. (VI 8, 146b36-147a4)
Trotzdem hält Aristoteles auch eine undifferenzierte Gleichsetzung zwi-
schen dem Gewünschten und dem scheinbar Guten für problematisch:
Für diejenigen wiederum, die das scheinbar Gute gewünscht nennen, (ergibt sich)
dass es kein von Natur aus Gewünschtes gibt, sondern nur für jeden Einzelnen
das, was ihm so erscheint. Verschiedenen Menschen erscheint aber Verschiedenes
(als gewünscht), und wenn es sich so ergibt, Gegenteiliges. 29 (EN III 6, 1113a20-
22)
Das Problem dieser zweiten Option ist schwieriger zu bestimmen. Vor
allem ist nicht leicht zu sagen, welche theoretischen Annahmen sich mit
dem Ausdruck „von Natur aus gewünscht“ (physei boulêton) verbinden.
Dieser Ausdruck könnte für eine anspruchsvolle naturalistische These
stehen, nach der wir bestimmte Dinge erstreben, weil sie von Natur aus
gut für uns sind. Er könnte aber auch, als Gegenbegriff zu nomôi oder
thesei („durch Gesetz“ oder „Festlegung“), einfach den Gedanken festhal-
ten, dass die Frage, was gut ist, keine Angelegenheit willkürlicher Festset-
zungen ist, sondern „objektiv“ entschieden werden kann (vgl. I 1,
1094b16).
Aristoteles behauptet jedenfalls, dass die Gleichsetzung zwischen dem
Gewünschten und dem scheinbar Guten dazu führt, dass es nur noch das
„gibt“, was jedem Einzelnen als gewünscht erscheint. Wie ist diese These
zu verstehen? Am einfachsten lässt sie sich erklären, indem man die Mehr-
_____________
29 ijȡ‫ה‬ȣ İ’ į՞ ijր ĴįțȟȪȞıȟȡȟ ԐȗįȚրȟ ȖȡȤȝșijրȟ ȝȒȗȡȤIJț Ȟռ ıՂȟįț ĴȫIJıț ȖȡȤȝșijȪȟ, Ԑȝȝ’
ԛȜȑIJij‫ ׫‬ijր İȡȜȡ‫ף‬ȟ· Ԕȝȝȡ İ’ Ԕȝȝ‫ ׫‬ĴįȔȟıijįț, Ȝįվ ıԼ ȡ՝ijȧȣ ԤijȤȥı, ijԐȟįȟijȔį.
4.2 Zur Frage „Was soll ich tun?“ 173

deutigkeit der Verbaladjektive auf -tos heranzieht. 30 Versteht man den


Ausdruck boulêton in Zeile a20 im Sinne dessen, was gewünscht werden
soll, was also wünschenswert ist, dann wird unmittelbar einsichtig, weshalb
die Gleichsetzung zwischen dem scheinbar Guten und dem „Gewünsch-
ten“ problematisch ist. Was auch immer den Menschen als gut erschiene,
und dies kann durchaus Gegenteiliges sein, wäre tatsächlich wünschens-
wert. Die in a19 vorausgesetzte Möglichkeit eines Irrtums wäre dann nicht
mehr gegeben. Auch diese Konsequenz kann als absurd beschrieben wer-
den.
Die Behandlung der beiden Optionen führt also in ein Dilemma, da
sowohl die Gleichsetzung des Gewünschten mit dem Guten als auch die
Gleichsetzung des Gewünschten mit dem scheinbar Guten nicht akzepta-
bel erscheint. Als Ausweg aus diesem Dilemma schlägt Aristoteles folgende
Differenzierung vor:
Wenn diese (beiden Möglichkeiten) also nicht befriedigend sind, soll man dann
sagen, dass schlechthin und in Wahrheit gewünscht das Gute ist, für jeden Ein-
zelnen aber das scheinbare (Gute)? 31 (a22-24)
Auch dieser Vorschlag lässt sich am einfachsten mit Hilfe der Mehrdeutig-
keit des Ausdrucks boulêton nachvollziehen. Die Aussage, dass das Ge-
wünschte „schlechthin“ (ԑʍȝ‫׭‬ȣ) und „in Wahrheit“ (kat’ alêtheian) das
Gute ist, könnte sich auf das Gewünschte im Sinne des Wünschenswerten
beziehen. Und die Aussage, dass „für jeden Einzelnen“ (ԛȜչIJij‫ )׫‬das Ge-
wünschte das scheinbar Gute ist, könnte sich auf das Gewünschte im Sin-
ne des tatsächlich Gewünschten beziehen.
Wie auch immer die Passage im Einzelnen zu verstehen ist: letzten
Endes läuft sie darauf hinaus, dass die Unterscheidung zwischen dem Gu-
ten und dem scheinbar Guten auf eine Unterscheidung zwischen dem
„schlechthin“ Gewünschten und dem „für jeden Einzelnen“ Gewünschten
abgebildet wird.
Direkt im Anschluss führt Aristoteles aber noch eine weitere Unter-
scheidung ein:
Für den Tugendhaften ist also das in Wahrheit (Gute gewünscht), für den
Schlechten aber das Zufällige, wie auch bei den Körpern für die in guter Verfas-
sung befindlichen das gesund ist, was in Wahrheit so ist, für die kranken aber et-
was anderes, und auf gleiche Weise auch Bitteres und Süßes und Warmes und

_____________
30 Vgl. z.B. Broadie/Rowe (2002, 317f.). Ich bin mir nicht sicher, ob diese Erklärung
allen Aspekten des Arguments gerecht wird. Für die vorliegenden Zwecke ist sie aber
ausreichend.
31 ıԼ İպ İռ ijį‫ף‬ijį Ȟռ ԐȢȒIJȜıț, ԖȢį ĴįijȒȡȟ ԑʍȝ‫׭‬ȣ Ȟպȟ Ȝįվ Ȝįij’ ԐȝȓȚıțįȟ ȖȡȤȝșijրȟ
ıՂȟįț ijԐȗįȚȪȟ, ԛȜȑIJij‫ ׫‬İպ ijր ĴįțȟȪȞıȟȡȟ;
174 4. Konsequenzen der Interpretation

Schweres und alles andere. Der Tugendhafte beurteilt nämlich jedes Einzelne
richtig und in jedem Einzelnen erscheint ihm das Wahre. 32 (a25-31)
Nach dieser Passage lässt sich das Gute und an sich Gewünschte als das
beschreiben, was vom „Vortrefflichen“ oder „Tugendhaften“ (spoudaios)
gewünscht wird, das scheinbar, aber nicht wirklich Gute als das, was vom
„Schlechten“ (Ĵįփȝȡȣ) gewünscht wird. (Hier könnte man in beiden Fäl-
len den Ausdruck boulêton mit „tatsächlich gewünscht“ übersetzen.) Als
Grund wird angeführt, dass der Tugendhafte den Einzelfall richtig beur-
teilt.
Ähnlich wie beim Ausdruck des „von Natur aus Gewünschten“ fällt es
auch hier schwer, die Hintergrundannahmen des Arguments genauer zu
bestimmen. So könnte der Vergleich mit den wahrnehmbaren Qualitäten
bitter, süß, warm usw. darauf hindeuten, dass Aristoteles letztlich eine
„dispositionelle“ Auffassung des tatsächlich Guten vertritt. In Wahrheit
gut wäre dann das, was unter idealen Bedingungen von einem spoudaios als
gut wahrgenommen wird. Angesichts der weitreichenden Konsequenzen
einer solchen Auffassung erscheinen die Hinweise in 1113a25-31 jedoch
ausgesprochen spärlich. Und tatsächlich ist es im Kontext von EN III 6
auch nicht nötig, Aristoteles diese Auffassung zuzusprechen. Für die Inter-
pretation des Kapitels III 6 genügt das, was wir bereits festgestellt haben.
Aristoteles identifiziert das Gute und an sich Gewünschte (a23-24) mit
dem vom Tugendhaften Gewünschten, und er begründet diese Identifika-
tion damit, dass der Tugendhafte stets richtig urteilt.
Was lässt sich anhand dieser kurzen Zusammenfassung darüber sagen,
ob Aristoteles die Handlungen des Tugendhaften als ein Kriterium für das
moralisch Richtige begreift? Dass der Tugendhafte ein paar Zeilen später
als kanôn und metron des in Wahrheit Guten bezeichnet wird (a33),
scheint auf den ersten Blick für die Kriterien-Auffassung zu sprechen. Wer
über einen Maßstab des in Wahrheit Guten verfügt, ist in der Lage zu
beurteilen, ob etwas in Wahrheit gut ist oder nicht. Auf den zweiten Blick
erweist sich dieser Eindruck jedoch als voreilig.
Wie wir gesehen haben, impliziert der Text von EN III 6, dass es
durchaus möglich ist zu beurteilen, ob etwas, das gewünscht wurde, auch
tatsächlich gut ist. Andernfalls könnte der in a19 erwähnte Fall „es traf
sich aber so, dass es schlecht war“ überhaupt nicht vorkommen. Im Kon-
text des Kapitels III 6 geht es aber eindeutig nicht darum, Kriterien zu

_____________
32 ij‫ ׮‬Ȟպȟ ȡ՞ȟ IJʍȡȤİįȔ‫ ׫‬ijր Ȝįij’ ԐȝȓȚıțįȟ ıՂȟįț, ij‫ ׮‬İպ Ĵįȫȝ‫ ׫‬ijր ijȤȥȪȟ, խIJʍıȢ Ȝįվ
Ԛʍվ ij‫׭‬ȟ IJȧȞȑijȧȟ ijȡ‫ה‬ȣ Ȟպȟ ı՞ İțįȜıțȞȒȟȡțȣ ՙȗțıțȟȑ ԚIJijț ijո Ȝįij’ ԐȝȓȚıțįȟ ijȡțį‫ף‬ijį
Րȟijį, ijȡ‫ה‬ȣ İ’ ԚʍțȟȪIJȡțȣ ԥijıȢį, ՍȞȡȔȧȣ İպ Ȝįվ ʍțȜȢո Ȝįվ ȗȝȤȜȒį Ȝįվ ȚıȢȞո Ȝįվ
ȖįȢȒį Ȝįվ ij‫׭‬ȟ Ԕȝȝȧȟ ԥȜįIJijį· Ս IJʍȡȤİį‫ה‬ȡȣ ȗոȢ ԥȜįIJijį ȜȢտȟıț ՌȢȚ‫׭‬ȣ, Ȝįվ Ԛȟ
ԛȜչIJijȡțȣ ijԐȝșȚպȣ į՘ij‫ ׫‬Ĵįտȟıijįț.
4.2 Zur Frage „Was soll ich tun?“ 175

benennen, die diese Beurteilung ermöglichen. Solche Kriterien sind nicht


das Thema des Kapitels. Was vielmehr geklärt werden soll, ist die Bezie-
hung zwischen dem Gewünschten (boulêton) und dem Guten (agathon)
(1113a15-16). Die Einführung der Figur des spoudaios sollte zunächst
einmal auf diese Aufgabe bezogen werden.
Was also trägt die Figur des spoudaios zur Klärung der Beziehung zwi-
schen dem Gewünschten und dem Guten bei? Die Antwort lässt sich fol-
gendermaßen umreißen: Das von Aristoteles in a17-22 skizzierte Dilemma
scheint es auf den ersten Blick nahe zu legen, die Identifikation des Ge-
wünschten mit dem Guten insgesamt fallen zu lassen. Denn weder scheint
es Sinn zu machen, das Gewünschte mit dem Guten zu identifizieren,
noch scheint es Sinn zu machen, das Gewünschte mit dem scheinbar Gu-
ten zu identifizieren. Indem Aristoteles nun die Figur des spoudaios ein-
führt, zeigt er einen Weg auf, wie sich diese Konsequenz vermeiden lässt.
Denn der Verweis auf den spoudaios ermöglicht es, den Unterschied zwi-
schen dem Guten und dem scheinbar Guten zu berücksichtigen, ohne die
grundsätzliche Identifikation des Guten mit dem Gewünschten auf-
zugeben.
Vor diesem Hintergrund ist auch die Rede vom Tugendhaften als
Richtschnur und Maß relativ leicht zu erklären. Im Kontext des Kapitels
III 6 gibt es, wie gesagt, keinen Grund, eine Aussage über Kriterien des in
Wahrheit Guten zu erwarten. Die Frage lautet eher, wieso das schlechthin
und in Wahrheit Gewünschte (oder Gute) mit dem vom Tugendhaften
Gewünschten identifiziert werden darf. Genau auf diese Frage lassen sich
m.E. die Metaphern von Richtschnur und Maß beziehen. Was auch im-
mer die Kriterien sein mögen, anhand derer entschieden werden kann, ob
etwas in Wahrheit gut ist oder nicht: insofern der spoudaios ein spoudaios
ist, wird er den Einzelfall richtig beurteilen. Dies liegt daran, dass es zur
Definition des spoudaios gehört, in jedem Einzelnen das Wahre zu sehen
(a32-33). Im vorliegenden Kontext kann man also so tun, „als wäre er eine
Richtschnur und ein Maß für diese Dinge“ (խIJʍıȢ ... լȟ; nicht: „weil er
eine Richtschnur und ein Maß für diese Dinge ist“). Aufgrund der in
a29-33 formulierten Definition des spoudaios ist es legitim, die Unter-
scheidung zwischen dem in Wahrheit Guten und dem nur scheinbar Gu-
ten durch die Unterscheidung zwischen den Wünschen des spoudaios und
den Wünschen eines schlechten oder beliebigen Menschen zu kennzeich-
nen. Die argumentative Bedeutung dieser Definition liegt also primär in
der Legitimation der Vorgehensweise, die zur Lösung des in III 6 behan-
delten Problems eingeschlagen wird.
Mit Blick auf die im vorigen Abschnitt entworfene tugendethische
Problematik finden wir in EN III 6 also eine relativ klare Situation vor.
Dass der Tugendhafte als Maßstab des in Wahrheit Guten bezeichnet
176 4. Konsequenzen der Interpretation

wird, ist keine Aussage über die Kriterien des in Wahrheit Guten. Die
Frage nach diesen Kriterien kann im Kontext von EN III 6 offen bleiben.
Sollte es per se falsche Handlungen geben, würde der Tugendhafte sie
nicht ausführen; denn es gehört zur Definition des Tugendhaften, den
Einzelfall richtig zu beurteilen. Dies wäre die Entgegnung auf das erste
Problem. Dass zur Definition des Tugendhaften auf dessen richtiges Urteil
verwiesen wird (dass wir also kein rein deskriptives Merkmal des Tugend-
haften erhalten), stellt keine Schwierigkeit dar. Im Gegenteil: Es ist die
Voraussetzung dafür, dass die Einführung des Tugendhaften die Funktion
übernehmen kann, die ihr im Kontext von EN III 6 zukommt. Nur weil
der spoudaios als jemand definiert worden ist, der stets richtig urteilt, ist es
gerechtfertigt, das in Wahrheit Gute mit dem vom spoudaios Gewünschten
zu identifizieren. Welche theoretischen Hintergrundannahmen mit dieser
Definition verbunden sind, ist dabei völlig unerheblich. Dies wäre die
Entgegnung auf das zweite Problem.
Obwohl der Tugendhafte dadurch definiert ist, richtig zu urteilen,
macht es im Kontext von EN III 6 Sinn, ihn als eine Richtschnur und ein
Maß des in Wahrheit Guten zu bezeichnen. Denn in diesem Kontext wird
das von ihm Gewünschte tatsächlich wie eine Art Maßstab des Guten
behandelt.

Noch einmal: allo en allôi

Fassen wir den bisherigen Gedankengang noch einmal kurz zusammen.


Zu Beginn des Abschnitts 4.2 wurden zwei Probleme formuliert, die eine
bestimmte Variante der „Akteurszentrierung“ in der Tugendethik mit sich
bringt. Das erste Problem betraf die Möglichkeit per se falscher Handlun-
gen, das zweite Problem die Frage, wie sich der Tugendhafte identifizieren
lässt. Es wurde herausgearbeitet, dass diese beiden Probleme vor allem
dann virulent werden, wenn wir das Verhalten des Tugendhaften als ein
Kriterium des moralisch Richtigen betrachten wollen. Wie ein Blick auf
einige ausgewählte Passagen der Nikomachischen Ethik gezeigt hat, liegt es
durchaus nahe, Aristoteles eine solche Auffassung zuzusprechen. Die bei-
den Probleme scheinen also auch Interpretationsprobleme zu sein. Um
eine grundsätzliche Alternative zu dieser Sichtweise vorzustellen, wurde im
Anschluss eine etwas genauere Lektüre von EN III 6 vorgenommen, die
zweierlei deutlich machen sollte. Erstens dient hier der Verweis auf den
Tugendhaften nicht dazu, ein unabhängiges Kriterium des in Wahrheit
Guten zu liefern. Dieser Verweis hat in EN III 6 eine ganz andere Funk-
tion. Er soll es ermöglichen, das Gewünschte (boulêton) mit dem Guten
(agathon) ins Verhältnis zu setzen. Zweitens macht es mit Blick auf diese
4.2 Zur Frage „Was soll ich tun?“ 177

Funktion durchaus Sinn, den Tugendhaften als jemanden zu definieren,


der stets richtig urteilt. Denn nur aufgrund dieser Definition lässt sich das
vom Tugendhaften Gewünschte mit dem tatsächlich Guten oder Wün-
schenswerten identifizieren. Wenn diese Interpretation zutrifft, dann tre-
ten die beiden tugendethischen Probleme in EN III 6 also gar nicht erst
auf.
Das Gleiche würde zweifellos gelten – und dies ist der Grundgedanke
der weiteren Interpretation –, wenn man die Deutung des Kapitels III 6
auf die Nikomachische Ethik „insgesamt“ übertragen könnte. Wenn der
Rekurs auf den Tugendhaften oder Weisen außerhalb von EN III 6 eine
ähnliche Funktion hätte wie im Rahmen dieses Kapitels, dann würde we-
der die Annahme per se schlechter Handlungen noch das Fehlen einer
moralunabhängigen, deskriptiven Bestimmung des Tugendhaften ein
Problem darstellen. Allerdings müsste man dann in Kauf nehmen, dass der
Verweis auf den Tugendhaften kein Kriterium für das bietet, was mora-
lisch richtig ist.
Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die hier vorgestellte Interpreta-
tion von EN I 1-5 (Kap. 2) diese Sichtweise zumindest nahe legt. Wie
eingangs erwähnt, geht es dabei allerdings nicht um die Behauptung einer
Folgebeziehung. Anhand der Interpretation der Kapitel I 1-5 können an-
dere Deutungen der Akteurszentrierung nicht ausgeschlossen werden. Es
geht vielmehr darum, eine Deutungsoption zu präsentieren, die eine plau-
sible Erklärung für die Eigentümlichkeiten der Aristotelischen Vorge-
hensweise bietet.
EN III 6 muss natürlich aus dem Kontext heraus verstanden werden,
in dem das Kapitel erscheint. Die dort beschriebene Situation ist allerdings
der am Beginn der Nikomachischen Ethik auffallend ähnlich; zumindest ist
sie es dann, wenn man der hier vorgeschlagenen gütertheoretischen Lektü-
re der Kapitel I 1-5 folgt. Diese Situation lässt sich durch drei Aspekte
umreißen: (i) Gleich zu Beginn von EN III 6 wird eine Beziehung zwi-
schen Zielen (von Wünschen) und Gütern (genauer: dem Guten) herge-
stellt. (ii) Aristoteles weist darauf hin, dass es weder Sinn macht, das Ge-
wünschte einfach als „gut“ zu bezeichnen, noch, es einfach als „scheinbar
gut“ zu bezeichnen. Das heißt, es gibt eine wichtige Unterscheidung in-
nerhalb des Guten, die durch dessen bloße Gleichsetzung mit dem Ge-
wünschten nicht wiedergegeben werden kann. (iii) Auf diese Schwierigkeit
reagiert Aristoteles nicht, indem er die Gleichsetzung zwischen dem Guten
und dem Gewünschten aufgibt und Kriterien nennt, die es ermöglichen,
das Gute vom scheinbar Guten zu unterscheiden. Diese Möglichkeit ist
bereits durch die thematische Vorgabe des Kapitels ausgeschlossen. Aristo-
teles reagiert auf die Schwierigkeit, indem er im Rahmen dieser Gleichset-
zung eine Differenzierung einführt, die letztlich auf einer Analogie beruht.
178 4. Konsequenzen der Interpretation

Was für den Tugendhaften das in Wahrheit Gute und Wünschenswerte


ist, ist für den Schlechten das scheinbar Gute und Zufällige. Die Differen-
zierung zwischen den „Wünschenden“ erlaubt also eine Differenzierung
zwischen dem „Gewünschten“. So ist es möglich, an der Rede vom Guten
als dem Gewünschten festzuhalten und zugleich den Unterschied zwischen
dem in Wahrheit Guten und dem scheinbar Guten zu berücksichtigen.
Alle drei genannten Aspekte aus EN III 6 finden sich in vergleichbarer
Form am Anfang der Nikomachischen Ethik. (i) Auch hier werden Güter
gleich zu Beginn mit Zielen identifiziert (I 1). (ii) Auch hier wird deutlich,
dass diese Identifikation wichtige Unterschiede zwischen Gütern verdeckt.
Die als Ziele aufgefassten Güter sind in relevanter Hinsicht verschieden.
Dies war das Ergebnis unserer Interpretation der Kapitel I 2-4. (iii) Auch
hier gibt es dennoch gute Gründe, an der Gleichsetzung zwischen Gütern
und Zielen festzuhalten; denn diese Gleichsetzung bietet einen Begriff des
höchsten Guts, der seinerseits den Ausgangspunkt für die Bestimmung der
eudaimonia bildet.
Auch wenn es in den ersten Kapiteln von EN I nicht angesprochen
wird, betrifft das in III 6 behandelte Problem die von Aristoteles gewählte
Herangehensweise generell. Wenn Güter schlechthin mit Zielen identifi-
ziert werden, dann stellt sich nicht nur die Frage, welche Relevanz die
offensichtliche Verschiedenheit dieser Ziele für die Bestimmung des Gu-
ten hat (I 2-4). Es stellt sich auch die Frage, wie man den Fällen gerecht
werden kann, in denen sich ein Ziel als nur „scheinbar“, aber nicht „wirk-
lich“ gut herausstellt (III 6). Ein teleologischer Ansatz scheint für sich
genommen dazu nicht in der Lage zu sein. Genau darauf wird in der oben
zitierten Topik-Passage hingewiesen, und streng genommen müsste Aristo-
teles sich den dort erhobenen Einwand selbst gefallen lassen.
Angesichts dieser Schwierigkeit scheint die Einführung einer Figur, die
per definitionem richtig urteilt, für die Nikomachische Ethik insgesamt at-
traktiv. Sie würde es ermöglichen, die Unterscheidung zwischen dem Gu-
ten (Richtigen) und dem scheinbar Guten (Falschen) zu berücksichtigen,
ohne den teleologischen Rahmen aufzugeben. Und indem Aristoteles den
phronimos als eine Person beschreibt, die weiß, was im Einzelfall zu tun ist,
kann er auf die Relevanz dieses Einzelfalls hinweisen – auch hier ist das
Gute offenbar allo en allôi (vgl. EN II 2, 1103b34-1104a10) –, ohne ge-
nauer auf ihn eingehen zu müssen.
Es würde wahrscheinlich zu weit führen, überall dort, wo der spoudaios
oder phronimos ins Spiel kommt, die Schwierigkeiten der teleologischen
Konzeption des Guten im Hintergrund zu vermuten. Eine so starke These
soll hier auch nicht vertreten werden. Hier geht es vor allem darum, eine
grundsätzliche Alternative zur „Kriterien-Auffassung“ des Tugendhaften
aufzuzeigen. Wie wir gesehen haben, irritieren Aristoteles’ Ausführungen
4.3 Fazit und Ausblick 179

zur Figur des spoudaios, wenn wir von ihnen eine Antwort auf die Frage
„Was soll ich tun?“ erwarten. Dagegen erscheinen diese Ausführungen
durchaus sinnvoll, wenn wir sie als den Versuch begreifen, die Unterschei-
dung zwischen dem Guten und dem scheinbar Guten nicht zu treffen,
sondern lediglich zu „berücksichtigen“, das heißt sie in einem bestimmten
theoretischen Rahmen „abzubilden“. In 4.3 werden wir noch einmal kurz
auf diesen Punkt zu sprechen kommen. Für den hier unternommenen
Vergleich zur Kriterien-Auffassung ist zunächst Folgendes entscheidend:
Die skizzierte Funktion des Verweises auf den Tugendhaften ist mit jeder
beliebigen Vorstellung darüber vereinbar, nach welchen Kriterien etwas als
„in Wahrheit gut“ (moralisch richtig) zu bezeichnen ist. Sie ist sowohl mit
der Annahme strenger moralischer Gesetze vereinbar (auch wenn Aristote-
les wohl eher nicht von solchen Gesetzen ausgeht) als auch mit der An-
nahme eines moralischen Partikularismus (gegen den die Vorstellung per se
schlechter Handlungen spricht). Der Rekurs auf den Tugendhaften ist
ganz einfach keine Aussage über mögliche Kriterien des moralisch Richti-
gen oder Falschen.
Dass Aristoteles ein „Regelskeptiker“ ist, trifft wahrscheinlich zu. Seine
Ethik stellt eine Gegenposition zu Ansätzen dar, die versuchen, die Moral
auf möglichst wenige Prinzipien, im Idealfall auf ein Prinzip, zu reduzie-
ren. Der Einzelfall spielt für die moralische Beurteilung eine entscheiden-
de Rolle. Dennoch scheint es mir voreilig zu sein, die Figur des Tugend-
haften als aristotelische Antwort auf eine Gesetzesethik zu interpretieren.
Wie ich zeigen wollte, kann dieser Figur auch eine andere Funktion im
Rahmen des von Aristoteles verfolgten Projekts zugesprochen werden.
Sollte sich diese Interpretation als tragfähig erweisen, dann bietet der Re-
kurs auf das Verhalten des Tugendhaften kein Äquivalent eines morali-
schen Prinzips.

4.3 Fazit und Ausblick


In diesem Kapitel wurden zwei Aspekte herausgegriffen, an denen sich die
Auswirkungen der gütertheoretischen Lektüre von EN I besonders leicht
beschreiben lassen. Der erste Aspekt liegt in dem von Aristoteles herge-
stellten Zusammenhang zwischen Glück und Tugend, der zweite im Aris-
totelischen Verweis auf den Tugendhaften als Maßstab des in Wahrheit
Guten. Es sollte gezeigt werden, dass die hier vorgestellte Interpretation
von EN I eine bestimmte Deutung dieser beiden Aspekte mit sich bringt,
und zwar eine Deutung, die der gängigen und nahe liegenden Sicht wider-
spricht. Wenn sie zutrifft, dann sollte der Zusammenhang zwischen Glück
und Tugend nicht für eine „eudaimonistische Antwort“ auf die Frage
180 4. Konsequenzen der Interpretation

„Warum moralisch sein?“ verwendet werden, und der Verweis auf den
Tugendhaften wäre nicht als Angabe eines Kriteriums für das moralisch
Richtige zu verstehen. – Was aber lernen wir daraus über das Projekt, das
Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik verfolgt?
Die in diesem Kapitel angesprochenen Fragen „Was soll ich tun?“ und
„Warum moralisch sein?“ sind nicht zufällig gewählt. Es sind vielmehr
Grundfragen, deren philosophische Beantwortung wir von einer normati-
ven Ethik erwarten würden. Eine normative Ethik sollte erstens Auskunft
darüber geben, was moralisch richtig oder falsch ist. Dazu wird sie im
einfachsten Fall moralische Prinzipien formulieren und begründen. Zwei-
tens sollte eine normative Ethik etwas darüber sagen, warum wir tun soll-
ten, was moralisch richtig ist. Das heißt, sie sollte eine Begründung für die
Geltung oder Verbindlichkeit moralischer Normen liefern. Ausgehend
von dieser – sehr vereinfachenden – Charakterisierung lässt sich nun Fol-
gendes festhalten: Der Versuch, die Nikomachische Ethik des Aristoteles als
normative Ethik zu interpretieren, sollte nicht (in der vorgestellten Weise)
bei den beiden genannten Aspekten ansetzen. Denn der Verweis auf den
Tugendhaften dient Aristoteles nicht als eine Antwort auf die Frage „Was
soll ich tun?“, und der Verweis auf den Zusammenhang zwischen Tugend
und Glück dient ihm nicht als Antwort auf die Frage „Warum moralisch
sein?“. Zugleich dürfte eine gewisse Skepsis geweckt sein, ob dieser Ver-
such überhaupt Aussicht auf Erfolg hat, das heißt ob sich die Nikomachi-
sche Ethik als eine normative Ethik interpretieren lässt. Wesentliche Aspek-
te dieser Schrift sind offenbar auf eine andere Zielsetzung bezogen und
stehen für eine andere Perspektive auf den Gegenstand. Eine weitergehen-
de Untersuchung zur Beschreibung des Aristotelischen Projekts könnte
m.E. bei genau dieser Beobachtung ansetzen. Um die Richtung anzudeu-
ten, die eine solche Untersuchung nehmen könnte, möchte ich abschlie-
ßend noch einmal einen kurzen Blick auf die Frage werfen, worin für Aris-
toteles das Kriterium moralisch richtigen Verhaltens liegt.
Das in Abschnitt 4.2 behandelte Problem lässt sich in folgendes Di-
lemma fassen: Einerseits liegt es nahe, den Verweis auf das Verhalten des
Tugendhaften im Sinne der Formulierung eines moralischen Prinzips zu
verstehen. Wenn es um die Unterscheidung zwischen dem Richtigen und
Falschen geht, bringt Aristoteles regelmäßig die Person des spoudaios oder
phronimos ins Spiel. Andererseits fällt es ausgesprochen schwer, die Aristo-
telischen Ausführungen zu dieser Person mit der eben genannten Funk-
tion in Einklang zu bringen. Dies liegt vor allem daran, dass keine deskrip-
tiven Kriterien zur Anwendung dieses Prinzips formuliert werden. Was
den Tugendhaften und Weisen kennzeichnet, ist eben sein (u.a. mora-
lisch) richtiges Verhalten.
4.3 Fazit und Ausblick 181

Die Nikomachische Ethik enthält allerdings noch weitere Elemente, die


unter Umständen die Aufgabe eines moralischen Prinzips übernehmen
könnten. Die Aristotelische Antwort auf die Frage „Was soll ich tun?“
könnte zum Beispiel auch lauten: „Tu das, was die ‚richtige Erklärung’
(orthos logos) vorschreibt!“ (vgl. EN II 2, 1103b31-32; VI 1, 1138b19-20
u.ö.), „Tu alles so, wie man es tun soll (hôs dei)!“ (vgl. EN II 5, 1106b21-
23; VI 10, 1142b27-28 u.ö.), oder „Tu das, was angemessen (prepon) ist!“
(vgl. EN X 8, 1178a10-14 u.ö.). 33 Wenn man Aristoteles’ Umgang mit
den Begriffen orthos logos, hôs dei und prepon genauer betrachtet, scheint
man jedoch stets auf das gleiche Dilemma zu stoßen, das wir in Bezug auf
den Tugendhaften formuliert haben. Aristoteles ist offenbar nicht daran
interessiert, deskriptive Kriterien für die Anwendung dieser Begriffe auszu-
arbeiten. 34 Genau deshalb ist es so schwierig, sie in der Weise moralischer
Prinzipien zu verstehen. Es ist daher kein Wunder, wenn sich Urteile wie
die folgenden in der Literatur immer wieder finden:
Like most great philosophical works Aristotle’s Nicomachean Ethics raises more
questions than it answers. Two central issues as to which it is not even quite clear
what Aristotle’s view really is are, first, what is the criterion of right action and of
moral virtue? and, second, what is the best life for a man to lead? (Ackrill 1974/
1995, 39)
Nun stellt sich hier natürlich sofort die Frage, ob ‚die Mitte’ überhaupt ein echtes
Prinzip ist. Gewiß nicht, wenn mit Prinzip ein Kriterium gemeint ist, durch das
angegeben wird, wo die Linie zwischen Zuviel und Zuwenig liegt, und man kann
nun fragen: wenn das Prinzip nicht ein solches Kriterium hergibt, ist es dann
nicht eine Leerformel? [...] Das Ergebnis ist unbefriedigender, als von Aristoteles
zugegeben wird. (Tugendhat 41997, 251f.)
[Es] besteht große Unsicherheit und Uneinigkeit über eine der Grundfragen der
aristotelischen Ethik, der nach den Regeln moralischen Handelns. Gewiss, es gibt
sie; wie könnte ausgerechnet Aristoteles sie für entbehrlich halten? Die Frage nach
ihrer Natur und Herkunft stellt aber eine quaestio vexata dar. (Frede 2008, 105)
In 4.2 wurden zwei mögliche Strategien zur Reaktion auf das skizzierte
Dilemma genannt. Die erste, einfachere Strategie bestünde darin, eine

_____________
33 Vgl. Crisp (2004).
34 Ein besonders deutliches Beispiel hierfür bietet der Begriff des orthos logos. Bei der
ersten Einführung dieses Begriffs (EN II 2, 1103b31-34) kündigt Aristoteles an, die
Frage, was der orthos logos sei, später zu beantworten. Diese Ankündigung wird zu Be-
ginn des sechsten Buches der Nikomachischen Ethik wieder aufgenommen (VI 1,
1138b18-20). Ob das sechste Buch die Frage nach dem orthos logos dann auch tatsäch-
lich beantwortet, ist in der Forschung sehr umstritten (vgl. hierzu Gauthier/Jolif
1959, ad loc.; Gómez-Lobo 1995). Klar scheint aber zu sein, dass diese Antwort nicht
in der Formulierung deskriptiver Kriterien des Richtigen besteht. Denn das sechste
Buch enthält die Untersuchung der Verstandestugenden.
182 4. Konsequenzen der Interpretation

deskriptive Bestimmung des Tugendhaften zu rekonstruieren, zum Bei-


spiel auf der Basis eines kommunitaristischen Ansatzes. Die zweite, kom-
plexere Strategie bestünde darin, die Forderung nach rein deskriptiven
Kriterien des Richtigen zurückzuweisen und für eine eher „moral-interne“
Begründung moralischer Urteile zu plädieren. Beide Strategien würden es
ermöglichen, den Verweis auf das Verhalten des Tugendhaften zumindest
der Funktion nach mit der Nennung eines moralischen Prinzips in Ver-
bindung zu bringen. Und beide Strategien ließen sich auch auf die soeben
genannten Begriffe anwenden. Zum Beispiel könnte man argumentieren,
dass sich der Ausdruck hôs dei auf die gesellschaftlichen Normen im Athen
des vierten vorchristlichen Jahrhunderts bezieht.
Die in 4.2 vorgeschlagene Interpretation bietet eine Alternative zu die-
ser Sichtweise. Nach dieser Alternative wäre es grundsätzlich falsch, den
Aristotelischen Verweis auf den Tugendhaften als eine wie auch immer
komplexe Formulierung eines moralischen Prinzips zu begreifen. Aristote-
les versucht nicht, ein Kriterium zu benennen, mit dessen Hilfe sich das
Richtige vom Falschen unterscheiden lässt; er versucht vielmehr, diese
Unterscheidung auf eine bestimmte Weise in seine Theorie zu integrieren.
Letztlich läuft dieser Vorschlag aber darauf hinaus, den Verweis auf den
Tugendhaften nicht mehr als Bestandteil eines normativen Projekts zu
verstehen. Versuchen wir diesen Gedanken noch etwas genauer zu fassen.
Aristoteles betont immer wieder, dass er mit seiner Ethik in erster Linie
ein praktisches Anliegen verfolgt. Das Ziel der Untersuchung ist nicht
Erkennen, sondern Handeln (ijր ijջȝȡȣ ԚIJijվȟ ȡ՘ ȗȟ‫׭‬IJțȣ Ԑȝȝո ʍȢֻȠțȣ: I 1,
1095a5-6; vgl. II 2, 1103b27-29). Trotzdem lassen sich weite Teile dieser
Untersuchung als Antworten auf „Was ist x?“-Fragen verstehen: „Was ist
das Glück?“, „Was ist Tugend?“, „Was ist Freundschaft?“ usw. Die Be-
antwortung der Frage „Was ist Tugend?“ und die Beantwortung der Frage
„Was soll ich tun?“, also die Entwicklung von Kriterien für tugendhaftes
Verhalten, sind aber zwei völlig unterschiedliche Projekte. Das erste Pro-
jekt verfolgt ein deskriptives, das zweite ein normatives Anliegen, 35 und es
gibt keinen Grund, von einer Definition der Tugend Kriterien für richti-
ges Verhalten zu erwarten. So kann zum Beispiel die Bestimmung der
charakterlichen Tugend als „Mitte“ auch dann zutreffend sein, wenn sie
nichts darüber sagt, was wir konkret tun sollen. Die Fragen, welchen
_____________
35 In den Frühdialogen Platons scheinen diese beiden Projekte auf eine näher zu be-
stimmende Weise in eins zu fallen. Sokrates scheint etwa im Euthyphron davon auszu-
gehen, dass jemand, der zu wissen vorgibt, welche Handlungen fromm sind, auch wis-
sen müsste, was Frömmigkeit ist (vgl. insbes. 4e ff.). Diese Auffassung ist aber alles
andere als selbstverständlich. Vielmehr scheint sie mit relativ anspruchsvollen Voran-
nahmen verknüpft zu sein. M.E. spricht nichts dafür, Aristoteles eine solche Auffas-
sung zuzusprechen.
4.3 Fazit und Ausblick 183

Nutzen diese Definition hat und wie der Praxisbezug der Aristotelischen
Ethik genau aufzufassen ist, sind selbstverständlich wichtig und legitim; sie
stellen aber für sich genommen keinen Einwand gegen die Richtigkeit der
Definition dar.
Aristoteles macht deutlich, dass eine angemessene Antwort auf die
Frage „Was ist Tugend?“ berücksichtigen muss, dass tugendhaftes Verhal-
ten richtiges Verhalten ist. Dass der Tugendhafte gemäß einem orthos logos,
also einer richtigen Erklärung handelt, wird als ebenso selbstverständlich
vorausgesetzt (EN II 2, 1103b31-32) wie dass der Tugendhafte aufgrund
von Wissen handelt und das Richtige nicht zufällig trifft (II 3, 1105a31;
vgl. EE VIII 1). Aristoteles versucht, diese Aspekte in seiner Bestimmung
der charakterlichen Tugend zu berücksichtigen. Dass diese Bestimmung
normatives Vokabular enthält, ist daher alles andere als überraschend. Eine
weitergehende inhaltliche Fixierung des Richtigen scheint dagegen nicht
das Anliegen des Aristoteles zu sein. Dieser für eine normative Ethik ent-
scheidende Aspekt spielt im Rahmen der Nikomachischen Ethik keine grö-
ßere Rolle. Die Fragen, mit denen Aristoteles sich befasst, lauten eher:
Was ist der Gegenstandsbereich des Wissens, über das ein Tugendhafter
verfügt? Wie wird das Wissen vom Richtigen handlungsrelevant? Wie
kommt es dazu, dass jemand die richtigen Ziele verfolgt, wie dazu, dass er
dabei die richtigen Mittel wählt? Wie lässt sich die richtige emotionale
Reaktion allgemein kennzeichnen? Und so weiter.
Diese Bemerkungen sind natürlich bloße Andeutungen, und sie sollen
auch nur dazu dienen, eine bestimmte Interpretationsrichtung zu markie-
ren. Ihre genauere Ausarbeitung würde über die Zielsetzung der vorlie-
genden Untersuchung weit hinausgehen. Wenn allerdings das Bild, das
sich hier abzeichnet, zutreffend ist, dann wäre grundsätzlich zu fragen, ob
die Aristotelische Ethik als eine normative Ethik begriffen werden kann
und ob es angemessen ist, sie als Alternative zu anderen normativen Ethi-
ken ins Spiel zu bringen.
Literatur

1. Ausgaben, Übersetzungen, Kommentare


Aristoteles: Analytica Priora et Posteriora, hg. von W.D. Ross, Oxford 1964.
— Ars Rhetorica, hg. von R. Kassel, Berlin / New York 1976.
— Categoriae et Liber de Interpretatione, hg. von L. Minio-Paluello, Oxford 1949.
— De Anima, hg. von W.D. Ross, Oxford 1956.
— Ethica Eudemia, hg. von R.R. Walzer und J.M. Mingay, Oxford 1991.
— Ethica Nicomachea, hg. von I. Bywater, Oxford 1894.
— Magna Moralia, hg. von F. Susemihl, Leipzig 1883.
— Metaphysica, hg. von W. Jaeger, Oxford 1957.
— Physica, hg. von W.D. Ross, Oxford 1950.
— Topica et Sophistici Elenchi, hg. von W.D. Ross, Oxford 1958.
Platon: Werke in acht Bänden, griechisch und deutsch, hg. von G. Eigler, Darmstadt
1971.

Alexander von Aphrodisias: In Aristotelis Metaphysica Commentaria, hg. von


M. Hayduck, Berlin 1891 (= Commentaria In Aristotelem Graeca [CAG], Bd. I).
Balme, D.M. (21992): Aristotle. De Partibus Animalium I and De Generatione Animalium I
(with passages from II. 1-3), translated with notes, Oxford (11972).
Broadie, S. / Rowe, C. (2002): Aristotle. Nicomachean Ethics, Translation (with Historical
Introduction), Philosophical Introduction, and Commentary, Oxford.
Dirlmeier, F. (81983): Aristoteles. Nikomachische Ethik, übers. und kommentiert, Berlin
(11956).
Düring, I. (21993): Der Protreptikos des Aristoteles. Einleitung, Text, Übers. und Kom-
mentar, Frankfurt am Main (11969).
Fine, G. (1993): On Ideas. Aristotle’s Criticism of Plato’s Theory of Forms, Oxford.
Gauthier, R.A. / Jolif, J.Y. (1959): Aristote. L’Éthique à Nicomaque, Introduction, Traduc-
tion et Commentaire, 2 Bände, Louvain / Paris.
Gigon, O. (21995): Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, übers. und mit einer Einführung
und Erläuterungen versehen, München (11991).
Irwin, T.H. (21999): Aristotle. Nicomachean Ethics, Translated with Introduction, Notes,
and Glossary, Indianapolis (11985).
Joachim, H.H. (1951): Aristotle. The Nicomachean Ethics, hg. von D.A. Rees, Oxford.
Kullmann, W. (2007): Aristoteles. Über die Teile der Lebewesen, übers. und erläutert,
Berlin.
Lennox, J.G. (2001): Aristotle. On the Parts of Animals I – IV, Translated with a Commen-
tary, Oxford.
Nussbaum, M. (21985): Aristotle’s De Motu Animalium. Text with Translation, Commen-
tary, and Interpretive Essays, Princeton (11978).
Peck, A.L. (1942): Aristotle. Generation of Animals, with an English Translation,
Cambridge (Mass.) / London.
Peck, A.L. / Forster, E.S. (1937): Aristotle. Parts of Animals, Movement of Animals, Progres-
sion of Animals, with an English Translation, Cambridge (Mass.) / London.
186 Literatur

Rapp, C. (2002): Aristoteles. Rhetorik, übers. und erläutert, 2 Bände, Berlin.


Ross, W.D. (1924): Aristotle’s Metaphysics. A Revised Text with Introduction and Com-
mentary, 2 Bände, Oxford.
Wagner, T. / Rapp, C. (2004): Aristoteles. Topik, übers. und kommentiert, Stuttgart.
Wolf, U. (Hg.) (32002): Aristoteles. Metaphysik, übers. von H. Bonitz (ed. Wellmann),
auf der Grundlage der Bearbeitung von H. Carvallo und E. Grassi, Reinbek
bei Hamburg (11994).
— (2006): Aristoteles. Nikomachische Ethik, übers. und hg., Reinbek bei Hamburg.
Woods, M. (21992): Aristotle. Eudemian Ethics, Books I, II, and VIII, Translated with a
Commentary, Oxford (11982).

2. Sonstige Literatur
Achtenberg, D. (1991): The Role of the Ergon Argument in Aristotle’s Nicomachean Ethics,
in: Essays in Ancient Greek Philosophy IV: Aristotle’s Ethics, hg. von J.P. Anton und
A. Preus, Albany, 59-72.
Ackrill, J.L. (1972/1997): Aristotle on ‚Good’ and the Categories, in: Islamic Philosophy
and the Classical Tradition, hg. von S.M. Stern, A. Hourani und V. Brown, Colum-
bia 1972, 17-25. Wiederabdruck in: Ackrill, J.L., Essays on Plato and Aristotle,
Oxford 1997, 201-211.
— (1974/1995): Aristotle on Eudaimonia, in: Proceedings of the British Academy 60
(1974), 339-359. Wiederabdruck in: Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, hg. von
O. Höffe, Berlin 1995, 39-62.
Annas, J. (1993): The Morality of Happiness, New York / Oxford.
Anscombe, G.E.M. (21963): Intention, Oxford (11957).
Barnes, J. (1980): Aristotle and the Methods of Ethics, in: Revue Internationale de
Philosophie 133/134, 490-511.
Bayertz, K. (2006): Warum überhaupt moralisch sein?, München (Beck’sche Reihe).
Berti, E. (1971): Multiplicité et unité du bien selon EE I 8, in: Untersuchungen zur Eu-
demischen Ethik. Akten des 5. Symposium Aristotelicum, hg. von P. Moraux und
D. Harlfinger, Berlin, 157-184.
Blackburn, S. (1998): Ruling Passions. A Theory of Practical Reasoning, New York /
Oxford.
Bostock, D. (2000): Aristotle’s Ethics, Oxford.
Broadie, S. (1991): Ethics with Aristotle, New York / Oxford.
— (2005): On the Idea of the summum bonum, in: Virtue, Norms, and Objectivity.
Issues in Ancient and Modern Ethics, hg. von C. Gill, Oxford, 41-58.
— (2006): Aristotle and Contemporary Ethics, in: The Blackwell Guide to Aristotle’s
Nicomachean Ethics, hg. von R. Kraut, Malden (MA), 342-361.
— (2007): What should we mean by ‘the highest good’?, in: dies., Aristotle and Beyond.
Essays on Metaphysics and Ethics, Cambridge, 153-165.
Buddensiek, F. (1999): Die Theorie des Glücks in Aristoteles’ Eudemischer Ethik,
Göttingen.
Charles, D. (1995): Aristotle and modern realism, in: Aristotle and moral realism, hg. von
R. Heinaman, London, 135-172.
Cleary, J.J. (1998): Aristotle on the Many Senses of Priority, Carbondale.
Cooper, J.M. (1975): Reason and Human Good in Aristotle, Cambridge (Mass.).
— (1994): Ethical-Political Theory in Aristotle’s Rhetoric, in: Aristotle’s Rhetoric.
Philosophical Essays, hg. von D.J. Furley und A. Nehamas, Princeton, 193-210.
— (2003): Plato and Aristotle on ‚Finality’ and ‚(Self-) Sufficiency’, in: Plato and
Aristotle’s Ethics, hg. von R. Heinaman, Aldershot, 117-147.
2. Sonstige Literatur 187

Corcilius, K. (2008a): Streben und Bewegen. Aristoteles’ Theorie der animalischen Orts-
bewegung, Berlin / New York.
— (2008b): Aristoteles’ praktische Syllogismen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten
Jahrhunderts, in: Logical Analysis and History of Philosophy 11, 101-132.
Corcilius, K. / Rapp, C. (2008): Einleitung, in: Beiträge zur Aristotelischen Handlungs-
theorie, hg. von K. Corcilius und C. Rapp, Stuttgart, 9-27.
Crisp, R. (2003): Socrates and Aristotle on Happiness and Virtue, in: Plato and Aristotle’s
Ethics, hg. von R. Heinaman, Aldershot, 55-78.
— (2004): Does Modern Moral Philosophy Rest on a Mistake?, in: Modern Moral
Philosophy, hg. von A. O’ Hear, Cambridge, 75-93.
Crisp, R. / Slote, M. (1997): Introduction, in: Virtue Ethics, hg. von R. Crisp und
M. Slote, Oxford, 1-25.
Engberg-Pedersen, T. (1996): Is There an Ethical Dimension to Aristotelian Rhetoric?, in:
Essays on Aristotle’s Rhetoric, hg. von A.O. Rorty, Berkeley, 116-141.
Everson, S. (1995): Aristotle and the explanation of evaluation: a reply to David Charles,
in: Aristotle and moral realism, hg. von R. Heinaman, London, 173-199.
Fiedler, W. (1978): Analogiemodelle bei Aristoteles, Amsterdam.
Fine, G. (1999): Introduction, in: Plato 2. Ethics, Politics, Religion, and the Soul,
hg. von G. Fine, Oxford, 1-33.
Flashar, H. (1995): Die Platonkritik (I 4), in: Aristoteles. Die Nikomachische Ethik,
hg. von O. Höffe, Berlin, 63-82.
Foot, P. (1961): Goodness and Choice, in: Proceedings of The Aristotelian Society,
Supp. Vol. 35, 45-60.
Fortenbaugh, W.W. (1966): Nicomachean Ethics, I, 1096b26-29, in: Phronesis XI,
185-194.
Frede, D. (2008): Auf Taubenfüßen. Über Natur und Ursprung des ȆȈĭȆȉ ȂȆĬȆȉ in
der aristotelischen Ethik, in: Beiträge zur Aristotelischen Handlungstheorie,
hg. von K. Corcilius und C. Rapp, Stuttgart, 105-121.
Geach, P.T. (1956): Good and Evil, in: Analysis 17, 33-42.
Gigon, O. (1971): Das Prooimion der Eudemischen Ethik, in: Untersuchungen zur
Eudemischen Ethik. Akten des 5. Symposium Aristotelicum, hg. von P. Moraux und
D. Harlfinger, Berlin, 93-133.
Gill, C. (2004): The Impact of Greek Philosophy on Contemporary Ethical Philosophy,
in: Greek Philosophy in the New Millenium. Essays in Honour of Thomas M. Robin-
son, hg. von L. Rossetti, Sankt Augustin, 209-226.
— (2005): Introduction, in: Virtue, Norms, and Objectivity. Issues in Ancient and
Modern Ethics, hg. von C. Gill, Oxford, 1-12.
Glassen, P. (1957): A Fallacy in Aristotle’s Argument about the Good, in: The Philosophi-
cal Quarterly 7, 319-322.
Gómez-Lobo, A. (1995): Aristotle’s Right Reason, in: Aristotle, Virtue, and the Mean,
hg. von R. Bosley, R. Shiner und J. Sisson, Edmonston, 15-34.
Gosepath, S. (1999): Praktische Rationalität. Eine Problemübersicht, in: Motive, Gründe,
Zwecke. Theorien praktischer Rationalität, hg. von S. Gosepath, Frankfurt am Main,
7-53.
Gotthelf, A. (1988): The Place of the Good in Aristotle’s Natural Te-leology, in: Proceed-
ings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy IV, hg. von J.J. Cleary
und D.C. Shartin, Lanham u.a., 113-139.
Halliwell, S. (1994): Popular Morality, Philosophical Ethics, and the Rhetoric, in:
Aristotle’s Rhetoric. Philosophical Essays, hg. von D.J. Furley und A. Nehamas,
Princeton, 211-230.
— (1996): The Challenge of Rhetoric to Political and Ethical Theory in Aristotle, in:
Essays on Aristotle’s Rhetoric, hg. von A.O. Rorty, Berkeley, 175-189.
188 Literatur

Hardie, W.F.R. (1965/1968): The Final Good in Aristotle’s Ethics, in: Philosophy XL
(1965), 277-295. Wiederabdruck in: Aristotle. A Collection of Critical Essays,
hg. von J.M.E. Moravcsik, London / Melbourne 1968, 297-322.
— (1968): Aristotle’s Ethical Theory, Oxford.
Hare, R.M. (1952): The Language of Morals, Oxford. Deutsche Übersetzung von
P. von Morstein: Die Sprache der Moral, Frankfurt am Main 21997 (11983).
Harman, G. (1996): Moral Relativism, in: Harman, G. / Thomson, J.J., Moral Relativism
and Moral Objectivity, Cambridge (Mass.), 3-64.
Heinaman, R. (1995): Introduction, in: Aristotle and moral realism, hg. von R. Heinaman,
London, 1-11.
— (Hg.) (2003): Plato and Aristotle’s Ethics, Aldershot.
Höffe, O. (21996): Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, Berlin (11971).
Horn, C. (1998): Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neupla-
tonikern, München (Beck’sche Reihe).
Hursthouse, R. (1999): On Virtue Ethics, Oxford.
Irwin, T.H. (1980): The Metaphysical and Psychological Basis of Aristotle’s Ethics,
in: Essays on Aristotle’s Ethics, hg. von A.O. Rorty, Berkeley, 35-53.
— (1996): Ethics in the Rhetoric and in the Ethics, in: Essays on Aristotle’s Rhetoric,
hg. von A.O. Rorty, Berkeley, 142-174.
Jacobi, K. (1979): Aristoteles’ Einführung des Begriffs ‚ı՘İįțȞȡȟտį’ im I. Buch der
„Nikomachischen Ethik“. Eine Antwort auf einige neuere Inkonsistenzkritiken, in:
Philosophisches Jahrbuch 86, 300-325.
Kant, I. (1785): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg. von B. Kraft und D. Schön-
ecker, Hamburg 1999.
— (1788): Kritik der praktischen Vernunft, hg. von K. Vorländer, Hamburg 101990
(11869).
Kenny, A. (1977): Aristotle on Happiness, in: Articles on Aristotle, Bd. 2: Ethics and
Politics, hg. von J. Barnes, M. Schofield und R. Sorabji, London, 25-32.
Kirwan, C. (1967): Logic and the Good in Aristotle, in: The Philosophical Quarterly 67,
97-114.
Kosman, L.A. (1968): Predicating the Good, in: Phronesis XIII, 171-174.
Kraut, R. (1989): Aristotle on the Human Good, Princeton.
Kullmann, W. (1974): Wissenschaft und Methode. Interpretationen zur aristotelischen
Theorie der Naturwissenschaft, Berlin / New York.
— (1995): Theoretische und politische Lebensform bei Aristoteles (X 6-9), in:
Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, hg. von O. Höffe, Berlin, 253-276.
Lawrence, G. (1997): Nonaggregatability, Inclusiveness, and the Theory of Focal Value.
Nicomachean Ethics I.7.1097b16-20, in: Phronesis 42, 32-76.
— (2006): Human Good and Human Function, in: The Blackwell Guide to Aristotle’s
Nicomachean Ethics, hg. von R. Kraut, Malden (MA), 37-75.
Liske, M.-T. (2002): Artikel „analogia“, in: Wörterbuch der antiken Philosophie,
hg. von C. Horn und C. Rapp, München, 37f.
Louden, R.B. (1984/1997): On Some Vices of Virtue Ethics, in: American Philosophical
Quarterly 21 (1984), 227-236. Wiederabdruck in: Virtue Ethics, hg. von R. Crisp
und M. Slote, Oxford 1997, 201-216.
Lovibond, S. (2005):Virtue, Nature, and Providence, in: Virtue, Norms, and Objectivity.
Issues in Ancient and Modern Ethics, hg. von C. Gill, Oxford, 99-112.
MacDonald, S. (1989): Aristotle and the Homonymy of the Good, in: Archiv für
Geschichte der Philosophie 71, 150-174.
MacIntyre, A. (1985): After Virtue, London.
McDowell, J. (1980): The Role of Eudaimonia in Aristotle’s Ethics, in: Essays on
Aristotle’s Ethics, hg. von A.O. Rorty, Berkeley, 359-376.
2. Sonstige Literatur 189

McDowell, J. (1995): Eudaimonism and realism in Aristotle’s ethics, in: Aristotle and
moral realism, hg. von R. Heinaman, London, 201-218.
Most, G.W. (1994): The Uses of endoxa: Philosophy and Rhetoric in the Rhetoric,
in: Aristotle’s Rhetoric. Philosophical Essays, hg. von D.J. Furley und A. Nehamas,
Princeton, 167-190.
Müller, J. (2003): Ergon und eudaimonia. Plädoyer für eine unifizierende Interpretation der
ergon-Argumente in den aristotelischen Ethiken, in: Zeitschrift für philosophische
Forschung 57, 513-542.
— (2006a): Dialektische oder metaphysische Fundierung der Ethik? Beobachtungen zur
ethischen Methode im ersten Buch der Nikomachischen Ethik, in: Allgemeine Zeit-
schrift für Philosophie 31, 5-30.
— (2006b): Physis und Ethos. Der Naturbegriff bei Aristoteles und seine Relevanz für
die Ethik, Würzburg.
Nussbaum, M. (1995): Aristotle on human nature and the foundations of ethics,
in: World, Mind, and Ethics. Essays on the ethical philosophy of Bernard Williams,
hg. von J.E.J. Altham und R. Harrison, Cambridge, 86-131.
Oates, W.J. (1963): Aristotle and the Problem of Value, Princeton.
Owen, G.E.L. (1960): Logic and Metaphysics in Some Earlier Works of Aristotle,
in: Aristotle and Plato in the Mid-Fourth Century, hg. von I. Düring und
G.E.L. Owen, Göteborg, 163-190.
Pakaluk, M. (1992): Friendship and the Comparison of Goods, in: Phronesis XXXVII/1,
111-130.
— (2005): Aristotle’s Nicomachean Ethics. An Introduction, Cambridge.
Pellegrin, P. (1986): Aristotle’s Classification of Animals. Biology and the Conceptual
Unity of the Aristotelian Corpus, Berkeley.
Rapp, C. (1992): Ähnlichkeit, Analogie und Homonymie bei Aristoteles, in: Zeitschrift für
philosophische Forschung 46, 526-544.
Richardson Lear, G. (2004): Happy Lives and the Highest Good. An Essay on Aristotle’s
Nicomachean Ethics, Princeton.
Ricken, F. (1976): Der Lustbegriff in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles,
Göttingen.
Rippe, K.P. / Schaber,P. (1998): Einleitung, in: Tugendethik, hg. von K.P. Rippe und
P. Schaber, Stuttgart, 7-18.
Robinson, D.B. (1971): Ends and Means and Logical Priority, in: Untersuchungen zur
Eudemischen Ethik. Akten des 5. Symposium Aristotelicum, hg. von P. Moraux und
D. Harlfinger, Berlin, 185-193.
Roche, T.D. (1992): In Defense of an Alternative View of the Foundation of Aristotle’s
Moral Theory, in: Phronesis XXXVII/1, 46-84.
— (1995): The Ultimate End of Action: A Critique of Richard Kraut’s Aristotle on the
Human Good, in: The Crossroads of Norm and Nature. Essays on Aristotle’s Ethics
and Metaphysics, hg. von M. Sim, Lanham, 115-138.
Rowe, C.J. (1971): The Eudemian and Nicomachean Ethics: A Study in the Development
of Aristotle’s Thought, Cambridge.
Scarano, N. (2002): Artikel „Motivation“, in: Handbuch Ethik, hg. von M. Düwell,
C. Hübenthal und M.H. Werner, Stuttgart / Weimar, 432-437.
— (2006): Necessity and Apriority in Kant’s Moral Philosophy. An Interpretation of the
Groundwork’s Preface (GMS, 387-392), in: Groundwork for the Metaphysics of
Morals, hg. von C. Horn und D. Schönecker, Berlin, 3-22.
Schroeder, M. (2007): Teleology, Agent-Relative Value, and ‘Good’, in: Ethics 117,
265-295.
Searle, J.R. (1969): Speech Acts, Cambridge. Deutsche Übersetzung von R. und R. Wig-
gershaus: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt am Main 1983.
190 Literatur

Seel, G. (1981): Wert und Wertrangordnung in der Aristotelischen Güterlehre.


Zu EN I, 1, 1094a1-26, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 63, 253-288.
Shields, C. (1999): Order in Multiplicity. Homonymy in the Philosophy of Aristotle,
Oxford.
Slote, M. (1995/1997): Agent-Based Virtue Ethics, in: Midwest Studies in Philosophy 20
(1995), 83-101. Wiederabdruck in: Virtue Ethics, hg. von R. Crisp und M. Slote,
Oxford 1997, 239-262.
Smith, M. (1994): The Moral Problem, Malden (MA).
Statman, D. (1997): Introduction to Virtue Ethics, in: Virtue Ethics. A Critical Reader,
hg. von D. Statman, Edinburgh, 1-41.
Steinfath, H. (1998): Einführung: Die Thematik des guten Lebens in der gegenwärtigen
philosophischen Diksussion, in: Was ist ein gutes Leben? Philosophische Reflexionen,
hg. von H. Steinfath, Frankfurt am Main, 7-31.
Stemmer, P. (1992): Aristoteles’ Glücksbegriff in der Nikomachischen Ethik. Eine Inter-
pretation von EN I, 7. 1097b2-5, in: Phronesis XXXVII/1, 85-110.
Szaif, J. (2004): Naturbegriff und Güterlehre in der Ethik des Aristoteles, in: Was ist das
für den Menschen Gute?, hg. von J. Szaif und M. Lutz-Bachmann, Berlin / New
York, 54-100.
Thomson, J.J. (1996): Moral Objectivity, in: Harman, G. / Thomson, J.J., Moral Relativ-
ism and Moral Objectivity, Cambridge (Mass.), 67-154.
Tugendhat, E. (41997): Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main (11993).
Vranas, P.B.M. (2005): Aristotle on the Best Good: Is Nicomachean Ethics 1094a18-22
Fallacious?, in: Phronesis L/2, 116-128.
Wedin, M. (1981): Aristotle on the Good for Man, in: Mind XC, 243-262.
Whiting, J. (1988): Aristotle’s Function Argument: A Defense, in: Ancient Philosophy 8,
33-48.
Wieland, W. (1976): Platon und der Nutzen der Idee. Zur Funktion der Idee des Guten,
in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 1, 19-33.
Wiggins, D. (1980): Deliberation and Practical Reason, in: Essays on Aristotle’s Ethics,
hg. von A.O. Rorty, Berkeley, 221-240.
Williams, B. (1962): Aristotle on the Good: A Formal Sketch, in: The Philosophical Quar-
terly 12, 289-296.
— (1976): Morality. An Introduction to Ethics, London. Deutsche Übersetzung von
E. Bubser: Der Begriff der Moral. Eine Einführung in die Ethik, Stuttgart 1978.
— (1985): Ethics and the Limits of Philosophy, London. Deutsche Übersetzung von
M. Haupt: Ethik und die Grenzen der Philosophie, Hamburg 1999.
Wörner, M.H. (1990): Das Ethische in der Rhetorik des Aristoteles, Freiburg / München.
Wolf, U. (2002): Aristoteles’ ‚Nikomachische Ethik’, Darmstadt.
Von Wright, G.H. (1963): The Varieties of Goodness, London.
Register

1. Stellen

Aristoteles De motu animalium


6, 700b15-29 55
Categoriae 6, 700b25-29 35
1, 1a1-2 78, 81
1, 1a12-15 90 De generatione animalium
8, 10b26-11a14 25 I 23, 731a24-b2 139

Analytica posteriora Metaphysica


I 24, 85b27-38 128 A 2, 982b10 56
II 14, 98a20-23 97 A 3, 983a31-32 56, 61
A6 73f.
Topica A 6, 987b13-14 75
I 1, 100b21-23 67 A9 73
I 7, 103a8-14 97 A 9, 990b11-17 73
I 15 82 A 9, 991a5-8 75
I 15, 106a1-8 78 A 9, 991a8-19 75
I 15, 107a3-12 79 B 2, 996a23-26 56
I 15, 107a11-12 78 Ĭ 2, 1003a33 ff. 78
I 17, 108a7 ff. 91 Ĭ 2, 1003a33-b18 97
III 1-4 11, 28 Ĭ 2, 1003a34-b4 89
III 2, 117a18-21 18f. Ĭ 2, 1003b5-19 90
VI 8, 146b36- Ĭ 2, 1003b7-10 91
147a4 2, 56f., 172 Ǽ 1, 1013a21-23 56
Ǽ 2, 1013b25-26 56
Physica Ǽ 2, 1013b25-28 55f.
II 3, 195a23-26 55 Ǽ 6, 1016b31-35 97
Ǽ 6, 1016b34-35 91, 95
De anima Ǽ 11 71
I 1, 403a27-b2 36 Z 1, 1028a10-15 92
II 3, 414b2 171 Z 1, 1028a13-20 97
III 9, 432b3-6 171 Z 1, 1028a31-b2 72
III 9-11 35 Z 1, 1028b2-4 90, 97
III 10, 433a27-30 35, 55 Z–ĭ 97
ĭ 6, 1048a36-37 97
De partibus animalium K 1, 1059a35-36 56
I 4, 644a12-22 96 Ȃ 4, 1070a31-33 98
I 4, 644b7-15 95 Ȃ 4, 1070b10-11 98
II – IV 139 Ȃ 4, 1070b17-18 98
III 2 122 Ȃ 4, 1070b26-27 98
Ȃ 4-5 95, 97f.
192 Register

(Metaphysica) I 1, 1094a24 63
Ȃ 7, 1072a29 2 I 1, 1094a25-26 116
M4 74 I 1, 1094b7 144
M 4, 1078b11-12 74 I 1, 1094b11-27 38
M 4, 1078b17-19 75 I 1, 1094b14-22 41
M 4, 1078b31-32 75 I 1, 1094b16 172
M 4, 1079a7-13 73 I 1, 1094b16-17 38
M 4-5 73 I 1, 1095a5-6 182
M 9, 1086a32-34 75 I 1, 1095a11-13 41, 63
I 1, 1095a12-13 41
Ethica Nicomachea I 1-3 8, 48-69, 71, 88,
I VII, 5-7, 9-12, 15f., 100, 105, 129
22, 37f., 40, 57, 71, I 1-4 100
93, 110, 119, 133, I 1-5 VII, 5f., 8f., 17, 22,
143, 145f., 149, 40-106, 107-109,
159-162, 178 116f., 119, 121,
I1 8f., 15, 17, 24, 41, 127f., 131, 134-
46, 48, 62-64, 66, 136, 138, 140, 143,
68f., 83, 101f., 145-147, 162, 170,
105, 108, 110, 113, 177
128, 136-139, 145, I 1-6 145, 160
178 I 1-9 6f., 9, 11
I 1, 1094a1 57 I2 17, 44, 47, 137
I 1, 1094a1 ff. 111 I 2, 1095a14 41
I 1, 1094a1-2 129 I 2, 1095a14-20 5, 110
I 1, 1094a1-3 2, 50, 58, 62, 111, I 2, 1095a14-22 13
128 I 2, 1095a14-28 41f.
I 1, 1094a1-22 6f., 47-64, 111f. I 2, 1095a15-19 12
I 1, 1094a2 3 I 2, 1095a16-17 4
I 1, 1094a2-3 55 I 2, 1095a17-20 128
I 1, 1094a3 61f. I 2, 1095a19 16
I 1, 1094a3-5 135 I 2, 1095a20-25 114, 130, 158
I 1, 1094a3-6 59 I 2, 1095a21 43
I 1, 1094a3-18 58, 111, 128 I 2, 1095a22 42
I 1, 1094a4-5 57 I 2, 1095a22-25 65, 93
I 1, 1094a5 57, 135 I 2, 1095a23 42f., 93, 129
I 1, 1094a5-6 60 I 2, 1095a23-24 42
I 1, 1094a6-8 102 I 2, 1095a24-25 129
I 1, 1094a6-16 45 I 2, 1095a26 43
I 1, 1094a7-9 93 I 2, 1095a26-27 46
I 1, 1094a15-16 60 I 2, 1095a26-28 73
I 1, 1094a16-18 60 I 2, 1095a28-30 67
I 1, 1094a18-19 110 I 2-3 64-69, 83, 102,
I 1, 1094a18-22 1, 50, 53, 58, 62, 107, 145
112, 128 I 2-4 178
I 1, 1094a18-26 15 I3 8f., 16f., 38, 43,
I 1, 1094a20-21 54, 62, 110 45-48, 69, 93,
I 1, 1094a21 110 100f., 104, 107,
I 1, 1094a21-22 51 129, 137, 146
I 1, 1094a22 4 I 3, 1095b14-15 16
I 1, 1094a22-23 51 I 3, 1095b14-16 44
I 1, 1094a22-24 51 I 3, 1095b17-19 67
I 1, 1094a22-26 59, 63 I 3, 1095b18 44
1. Stellen 193

(Ethica Nicomachea) I 4, 1096b29 92


I 3, 1095b19-20 68 I 4, 1096b30-31 70, 92, 94
I 3, 1095b22-31 45 I 4, 1096b31 94
I 3, 1095b23 44 I 4, 1096b31-35 72
I 3, 1095b25-26 68 I 4, 1096b31-
I 3, 1095b26 4 1097a4 45,72, 83
I 3, 1095b26-28 68 I 4, 1096b33 43
I 3, 1095b26-30 16 I 4, 1096b33-34 70
I 3, 1095b31 44 I 4, 1096b34-35 103
I 3, 1095b32- I 4, 1096b34 ff. 92
1096a1 68 I 4, 1096b35-
I 3, 1096a1-2 16 1096a14 72
I 3, 1096a5-7 45 I 4, 1097a14 43
I 3, 1096a6-7 16, 23 I5 6-9, 12, 16, 17-26,
I 3, 1096a7 68 27-29, 31, 46, 48,
I 3, 1096a7-10 69 59, 71, 100, 102,
I 3, 1096a8-9 68, 120 104, 118-120, 133,
I 3, 1096a10 69 138, 146
I4 8f., 17, 41, 45-47, I 5, 1097a15 41, 43
66, 70-94, 96, I 5, 1097a15-16 101, 133
101f., 104, 107 I 5, 1097a16 93
I 4, 1096a10-11 43 I 5, 1097a16-20 93
I 4, 1096a11-17 71 I 5, 1097a16-22 101
I 4, 1096a11-b31 83 I 5, 1097a20 93
I 4, 1096a13 76 I 5, 1097a20-22 25
I 4, 1096a17-18 76 I 5, 1097a24 46
I 4, 1096a17-23 71 I 5, 1097a24-25 17f., 133
I 4, 1096a17-b5 71 I 5, 1097a25-34 45
I 4, 1096a22-23 76 I 5, 1097a25-b6 17
I 4, 1096a23-29 7, 45, 70, 72, 79, I 5, 1097a28-34 23
84 I 5, 1097a30 18, 20, 67, 69
I 4, 1096a27-28 76 I 5, 1097a30-31 25
I 4, 1096a28-29 79 I 5, 1097a33-34 24
I 4, 1096a29-34 72 I 5, 1097a34 21
I 4, 1096a34-b3 72 I 5, 1097b1 103
I 4, 1096a34-b5 73 I 5, 1097b2-4 120
I 4, 1096b3-5 72 I 5, 1097b2-5 21
I 4, 1096b5-8 72 I 5, 1097b2-6 18
I 4, 1096b8 88, 92 I 5, 1097b6-7 18
I 4, 1096b8-26 72 I 5, 1097b6-16 17
I 4, 1096b10-11 88 I 5, 1097b15-16 21
I 4, 1096b17 88, 92 I 5, 1097b16-17 24
I 4, 1096b17-18 88 I 5, 1097b16-20 17, 23
I 4, 1096b21-26 77, 88 I 5, 1097b18-20 25
I 4, 1096b23-25 78 I 5, 1097b20-21 21, 132
I 4, 1096b24-25 92 I 5-7 17
I 4, 1096b25-26 76, 78 I6 2, 6f., 9, 15-17, 19,
I 4, 1096b26 92 108, 114, 116-120,
I 4, 1096b26-27 78, 87, 89 122, 126, 131-140,
I 4, 1096b26-29 92 142-146
I 4, 1096b26-31 72, 91 I 6, 1097b22-23 12, 18
I 4, 1096b27-29 89 I 6, 1097b22-24 13, 132
I 4, 1096b28-29 91f. I 6, 1097b22-25 117, 144
194 Register

(Ethica Nicomachea) II 2, 1104b32-34 169


I 6, 1097b23 13 II 3, 1105a28-33 166f.
I 6, 1097b23-24 18 II 3, 1105a31 183
I 6, 1097b25-27 116, 134 II 4 169
I 6, 1097b25-28 122, 135 II 5, 1106b21-23 181
I 6, 1097b26-27 122 II 6, 1107a1-2 167
I 6, 1097b27- II 6, 1107a9-15 168
1098a7 116, 134 II – V 171
I 6, 1097b28-33 140 III 1-8 171
I 6, 1097b28- III 4-5 171
1098a12 135 III 5 32
I 6, 1097b30 140 III 5, 1112b12-16 128
I 6, 1098a7-12 117, 134, 141 III 5, 1112b15-31 127
I 6, 1098a8-9 142 III 5, 1112b34 121
I 6, 1098a11 141 III 6 52, 55, 57, 170f.,
I 6, 1098a16-17 133f. 174-178
I 6, 1098a16-20 117, 134 III 6, 1113a15-16 171, 175
I 6 ff. 5, 121, 127, 131 III 6, 1113a17-19 171
I 6-9 6, 9, 40, 107-148 III 6, 1113a17-22 175
I 7, 1098a20 133 III 6, 1113a19 173f.
I 7, 1098a20-21 15, 144 III 6, 1113a20 173
I 7 ff. 145 III 6, 1113a20-22 172
I 7-9 143-145 III 6, 1113a22-24 173
I 8, 1098b9-11 123 III 6, 1113a23-24 174
I 8, 1098b11-12 144 III 6, 1113a24 51
I 8, 1098b12-18 38 III 6, 1113a25-31 173f.
I 8, 1098b12-22 69 III 6, 1113a29-33 168, 175
I 8 ff. 7 III 6, 1113a32-33 175
I 8-9 9, 38, 108, 121, III 6, 1113a33 174
123, 145f., 148, III 7, 1113b3 121
160 III 7, 1113b4 121
I9 125 V 2, 1129a26-31 78
I 9, 1098b25-26 125 V6 95
I 9, 1098b27-29 124 V 6, 1131b6-7 91
I 9, 1098b31- VI 1, 1138b18-20 181
1099a7 125 VI 1, 1138b19-20 181
I 9, 1099a7-21 16, 124, 157 VI 3, 1139b18-21 168
I 9, 1099a24-25 12 VI 5, 1140a28 128
I 9, 1099a31-32 19, 125 VI 7, 1141a17-20 168
I 9, 1099a31-b8 38, 125, 161 VI 7, 1141a22-26 168
I 10-12 108 VI 8, 1141b8-9 144
I 11, 1100b35- VI 10, 1142b27-28 181
1101a13 125 VI 12 168
I 11, 1101a15 125 VI 13, 1144a36-b1 167
I 12, 1102a2-3 103, 109, 128f. VI 13, 1144b30-32 167
I 13, 1102a5-6 15 VII 1-11 51
I 13, 1102a13-15 12 VII 12, 1152b6-8 157
I 13, 1102a14-15 144 VII 12-15 55
II 2, 1103b27-29 182 VII 14 38
II 2, 1103b31-32 181, 183 VIII 2, 1155b21-27 170
II 2, 1103b31-34 181 VIII 7, 1157b26-28 170f.
II 2, 1103b34- X 22
1104a10 167, 178 X 1-5 55
1. Stellen 195

(Ethica Nicomachea) II 10 55
X 2, 1172b9-15 55 VI 12-15 55
X 2, 1172b13-14 54 VIII 1 183
X 6, 1176a31-32 103, 109, 129 VIII 2, 1235b33-34 137
X7 19
X 8, 1178a10-14 181 Ars rhetorica
I 37
Magna Moralia I 1, 1355a29-30 31
I 1, 1182b6- I 2, 1355b26-27 31
1183b8 44 I 2, 1357a4-6 32
I 2, 1358a23-26 27
Ethica Eudemia 2 I 4, 1359a30 ff. 32
I 106 I 4, 1359b12-16 27
I 1, 1214a7-8 12f., 105 I 4-8 26, 32
I 1, 1214a30-b6 105 I5 32
I 1-6 13, 105 I 5, 1360b14-18 36
I 2, 1214b6-9 105 I 5, 1360b17-18 36
I 2, 1214b6-11 52, 110 I 5, 1360b25-29 38
I 4, 1215a20-22 14, 105 I 6, 1362a17-21 32
I 4, 1215a25-32 105 I 6, 1362a21-29 32f.
I 5, 1216a27-37 105 I 6, 1362b2-29 32, 34
I 6, 1216b32 14 I 6, 1362b28-29 34
I 6, 1216b32-33 14 I 6, 1362b29-
I7 14, 104, 144 1363b4 32
I 7, 1217a18-22 14, 104 I 6, 1363a9 34
I 7, 1217a21-22 12, 144 I 6-7 8, 11f., 26-37, 69,
I 7, 1217a22-40 144 86
I 7, 1217a29-40 144 I7 69, 141
I 7 – II 1 14f. I 7, 1363b5-7 28
I8 14, 44, 46, 70, 73f., I 7, 1363b5-21 28, 33f.
81, 104, 144 I 7, 1363b12-18 33
I 8, 1217b1 104 I 7, 1363b13 34
I 8, 1217b2-16 73f. I 7, 1363b14 1
I 8, 1217b16-19 70 I 7, 1363b21-
I 8, 1217b21 72 1365b21 28f.
I 8, 1217b24-25 72 I 7, 1363b38-
I 8, 1218a15-22 39 1364a3 33
I 8, 1218a30-33 61, 93 I 7, 1364a1 30
I 8, 1218a33-b10 76 I 7, 1364a2-3 34
I 8, 1218b10-11 104 I 7, 1364a3 29f.
I 8, 1218b11-12 104f. I 7, 1364a5-6 29
I 8, 1218b16-24 62 I 7, 1364a6 30
I 8, 1218b17-18 62 I 7, 1364a10-11 30
I 8, 1218b22-24 62 I 7, 1364a23-24 29
I – II 1 105 I 7, 1364a24 30
II 1 15f. I 7, 1364a26 29
II 1, 1219a6-12 140 I 7, 1364a28 30
II 1, 1219a10-11 61 I 7, 1364a28-30 30
II 1, 1219a28 14 I 7, 1364b7-9 29
II 1, 1219a28-35 15 I 7, 1364b11-13 30
II 1, 1219a29 14 I 7, 1364b12 30
II 1, 1219a34 14 I 7, 1364b23 30
II 7, 1223b6-7 1, 113 I 7, 1364b26 30
196 Register

(Ars rhetorica) Gorgias 155


I 7, 1364b30 30 467c-468e 55
I 7, 1364b31 30 481b ff. 124
I 7, 1364b37-38 29
I 7, 1364b37- Politeia 155
1365a2 33 I, 336b ff. 124
I 7, 1365a6 29f. VI, 504a–VII, 519b 73
I 7, 1365a29 30
I 7, 1365a33-34 30
I 7, 1365a35-36 30 Alexander von Aphrodisias
I 7, 1365b1 30
I 7, 1365b8 30 In Aristotelis Metaphysica Commentaria
I 7, 1365b14 30 (CAG I)
I 7, 1365b16 30 79.15-18 75
I9 32 80.15-81.22 75
I 9, 1366a33-b1 36 81.3-5 75
I 9, 1366a36-37 120 81.7-12 75
I 10 32
I 10, 1369a2-4 1, 113
I 11 32 Immanuel Kant
II 22, 1395b24-25 36
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
Protrepticus IV 387f. 152
B 17 DÜRING 139 IV 389 152
B 71 DÜRING 11 IV 389f. 152
B 82 DÜRING 11, 25 IV 414 154
IV 415 152
IV 416 154
Platon IV 417 153
IV 418 153, 157
Euthyphron IV 420 152
4e ff. 182
Kritik der praktischen Vernunft
Philebos V 19-41 152
12c 100 V 21 153
13b 100 V 22 153, 157
19c 100 V 22-25 153
20d 55, 100 V 22-26 152
V 25 153, 156f.
Symposion V 26 153
205a 55, 103
2. Namen 197

2. Namen

Achtenberg, D.: 117 Heinaman, R.: 44, 85


Ackrill, J.L.: 3, 21, 23, 60, 81f., 181 Höffe, O.: 3, 94
Alexander von Aphrodisias: 73 Horn, C.: 125
Annas, J.: 158 Hursthouse, R.: 161, 163, 170
Irwin, T.H.: 3, 27, 50, 52, 54, 70
Anscombe, G.E.M.: 53, 110, 149
Jacobi, K.: 50, 57
Balme, D.M.: 96 Joachim, H.H.: 53, 80, 90
Barnes, J.: 27 Jolif, J.Y.: 181
Bayertz, K.: 151, 154f., 158f.
Berti, E.: 104 Kallikles: 124, 154
Blackburn, S.: 165 Kant, I. / kantisch: 151-160, 166
Bostock, D.: 6, 52, 70, 79, 99, 118f. Kenny, A.: 50, 136
Kirwan, C.: 50
Broadie, S.: 6, 26, 44, 51, 53, 90, 126, Kosman, L.A.: 81
132, 160, 173 Kraut, R.: 21
Buddensiek, F.: 81 Kullmann, W.: 52, 95-97

Charles, D.: 169 Lawrence, G.: 13, 21, 52, 111


Cleary, J.J.: 71 Lennox, J.G.: 96
Cooper, J.M.: 27, 53, 62, 100, 142 Liske, M.-T.: 97
Corcilius, K.: 2, 113, 127, 149 Louden, R.B.: 149, 163f., 166, 169
Crisp, R.: 109, 112f., 163, 181 Lovibond, S.: 161

Dirlmeier, F.: 54f., 59 MacDonald, S.: 70, 81


Düring, I.: 11, 25, 139 MacIntyre, A.: 169
Engberg-Pedersen, T.: 27 McDowell, J.: 50, 52, 111, 127, 170
Everson, S.: 38, 169 Most, G.W.: 27
Müller, J.: 16f., 51f., 58, 139, 144f.
Fiedler, W.: 97
Fine, G.: 73, 110 Nussbaum, M.: 52, 123
Flashar, H.: 70
Foot, P.: 99 Oates, W.J.: 27
Fortenbaugh, W.W.: 90 Owen, G.E.L.: 91
Frede, D.: 181
Geach, P.T.: 118 Pakaluk, M.: 6, 25, 53, 58, 70, 90
Gauthier, R.A.: 181 Pellegrin, P.: 96
Gigon, O.: 105, 132 Platon / platonisch / Platonkritik: 8f.,
Gill, C.: 149 27, 43-45, 47, 55, 65, 70-79, 83,
Glassen, P.: 117 85, 87-90, 93, 100-106, 112, 124,
Gómez-Lobo, A.: 181 154, 159, 162, 169, 182
Gosepath, S.: 121 Protagoras: 66
Gotthelf, A.: 56
Rapp, C.: 1, 19, 26, 28, 30, 33-36, 95,
Halliwell, S.: 27 97, 127
Richardson Lear, G.: 21
Hardie, W.F.R.: 19-22, 53, 80, 82, 94, Ricken, F.: 118f.
98 Rippe, K.P.: 163
Hare, R.M.: 85-89, 98-100 Robinson, D.B.: 104
Harman, G.: 66 Roche, T.D.: 50, 52, 58, 103
198 Register

Ross, W.D.: 73 Thomson, J.J.: 11


Rowe, C.J.: 6, 15, 43f., 53, 90, 102, Thrasymachos: 124, 154
132, 173 Tugendhat, E.: 65, 146, 162, 181

Scarano, N.: 151f. Vranas, P.B.M.: 50


Schaber,P.: 163
Schroeder, M.: 131 Wagner, T.: 19
Searle, J.R.: 87 Wedin, M.: 50
Seel, G.: 50, 54, 58f. Whiting, J.: 117, 122, 140
Shields, C.: 80, 82 Wieland, W.: 73
Slote, M.: 163 Wiggins, D.: 121
Smith, M.: 155 Williams, B.: 50, 52, 149, 155, 158
Sokrates / sokratisch: 75, 124, 171, 182 Wörner, M.H.: 27
Statman, D.: 163 Wolf, U.: 6, 51, 53, 55f., 61, 65, 94,
Steinfath, H.: 115 120, 124, 132, 135
Stemmer, P.: 19, 21 Woods, M.: 80, 99, 104
Szaif, J.: 114 Von Wright, G.H.: 50, 129

Das könnte Ihnen auch gefallen