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Selbstbestimmung und Anerkennung

sexueller und geschlechtlicher Vielfalt


Friederike Schmidt
Anne-Christin Schondelmayer
Ute B. Schröder (Hrsg.)

Selbstbestimmung
und Anerkennung
sexueller und
geschlechtlicher Vielfalt
Lebenswirklichkeiten, Forschungs-
ergebnisse und Bildungsbausteine
Herausgeber
Friederike Schmidt Ute B. Schröder
Bielefeld, Deutschland Berlin, Deutschland

Anne-Christin Schondelmayer
Chemnitz, Deutschland

ISBN 978-3-658-02251-8 ISBN 978-3-658-02252-5 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-658-02252-5

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Inhalt

Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt. Lebenswirklichkeiten, Forschungsergebnisse und
Bildungsbausteine – Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Friederike Schmidt, Anne-Christin Schondelmayer und Ute B. Schröder

I Perspektiven auf geschlechtliche und sexuelle Vielfalt

Vielfalt ist nicht genug! Heteronormativität als herrschafts- und


machtkritisches Konzept zur Intervention in gesellschaft liche
Ungleichheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
Christine M. Klapeer

Zusammen- und Wechselwirkungen von Heteronormativität und


(antimuslimischem) Rassismus. Am Beispiel von
Mehrfachdiskriminierungen binationaler schwuler Paare in Berlin . . . . . . . . . 45
Zülfukar Çetin

Inter*Realitäten. Variabilität und Uneindeutigkeit des Geschlechts als


Herausforderung für Recht und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
Juana Remus

Queer-dekonstruktive Perspektiven auf Sexualität und Geschlecht . . . . . . . . . 75


Ines Pohlkamp
6 Inhalt

II Biografische Erzählungen
Anja Karrasch

100 Prozent dazugehören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

„Ich kann stolz darauf sein, wer ich bin“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Ein Leben für die Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Eine ganz normale Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

III.1 Lebensphasen und -kontexte – Kindheit, Jugend und Familie

Regenbogenfamilien – Kinderwunsch und Familienleben im Kontext


von LSBT-Lebensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
Constanze Körner

Kinder, Eltern, Staat – Rechtliche Konflikte im Zusammenhang mit


minderjährigen Inter*- und Trans*Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
Katharina Bager und Anna Lena Göttsche

Entwurf einer sexuell-geschlechtlichen Personagenese der ersten


sechs Lebensjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
Claudia Schmitt

Einblicke ins „Trainingslager für geschlechtliche Identitäten“. Klaus


Steinkemper im Gespräch mit Mari Günther über „QUEER LEBEN“ . . . . . . 155
Klaus Steinkemper

Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie. Möglichkeiten


der medizinischen Versorgung im Rahmen einer interdisziplinären
Spezialsprechstunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
Timo O. Nieder, Birgit Möller und Hertha Richter-Appelt

Zwischen Selbstbestimmung und gesellschaftlichem Zwang.


Diskurstheoretische Medienanalyse zum Fall „Alex“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
Elaine Lauwaert
Inhalt 7

Jugendkultur im Binärsystem? Perspektiven auf Gender und sexuelle


Identitäten in Online-Spielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
Maike Groen und Arne Schröder

III.2 Lebensphasen und -kontexte – Pädagogische Praxis

Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt als Themen der Kinder- und


Jugendhilfe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
Thomas Kugler und Stephanie Nordt

Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt - (k)ein pädagogisches Thema?


Pädagogische Perspektiven und Erfahrungen mit LSBTI . . . . . . . . . . . . . . . . 223
Friederike Schmidt und Anne-Christin Schondelmayer

Erste-Hilfe-Maßnahmen am Unfallort Schule. Lesbische, schwule,


bisexuelle, trans* und inter* (LSBTI) Lebensweisen sichtbar machen . . . . . . 241
Conny Hendrik Kempe-Schälicke

Die Ordnung der Geschlechter in Schulbüchern. Heteronormativität


und Genderkonstruktionen in Englisch- und Biologiebüchern . . . . . . . . . . . 247
Melanie Bittner

Que(e)r durch den Schulalltag? Annäherung an eine machtkritische


Lesart von Differenz am Beispiel eines Schülerinterviews . . . . . . . . . . . . . . . . 261
Bettina Kleiner

Sexuelle Diversität als Schamgrenze der Sexualaufklärung im


Biologieunterricht!? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
Sara Blumenthal

Que(e)r durch die Fachkulturen. Perspektiven einer transdisziplinären


Dekonstruktion von Geschlecht und Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
Florian Cristobal Klenk
8 Inhalt

III.3 Lebensphasen und -kontexte – Alter(n)

Anders Altern. Zur aktuellen Lebenslage von Schwulen und Lesben


im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
Marco Pulver

„Bei uns gibt es dieses Problem nicht“ – Leitlinien als Impuls für
Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld. Wahrnehmung älterer
LSBT-Menschen und die Wirkung der Berliner Seniorenleitlinien . . . . . . . . . 319
Ute B. Schröder und Dirk Scheffler

Queer und Alter(n) - zum Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337


Ralf Lottmann und Rüdiger Lautmann

IV Bildungsbausteine

Anregungen aus der Praxis für die Praxis –


Bildungsbausteine für die schulische und außerschulische Bildung . . . . . . . . 357
Klaus Steinkemper

V Anhang
Die Autor_innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
Selbstbestimmung und Anerkennung
sexueller und geschlechtlicher Vielfalt
Lebenswirklichkeiten, Forschungsergebnisse
und Bildungsbausteine – Einleitung
Friederike Schmidt, Anne-Christin Schondelmayer und Ute B. Schröder
Einleitung

Ist sexuelle Vielfalt schon ein „alter Hut“? Leben Lesben und Schwule nicht bereits
gleichberechtigt in Deutschland? Und hat nicht 2014 eine Trans*Person den Grand
Prix gewonnen? Muss es also überhaupt noch ein Buch wie das vorliegende geben?
Festzustellen ist, dass sexuelle Vielfalt auf der einen Seite – beginnend mit der zweiten
Reform des §175 im Jahr 19731 und schließlich mit der gesetzlichen Aufhebung des
Strafbestands der Homosexualität im Jahr 1994 – in der Öffentlichkeit zunehmend
sichtbarer wird. Neben dieser wachsenden ‚Normalität‘ sind jedoch auf der anderen
Seite Abwertungen sowie tätliche Angriffe aufgrund sexueller Orientierungen und/
oder geschlechtlicher Mehrfachzugehörigkeiten immer noch allgegenwärtig und
für manche Personen auch ein selbstverständlicher Teil ihrer Alltagserfahrung.2
Dies zeigt sich nicht nur anhand von gewalttätigen und offenen Übergriffen, son-

1 Der §175 des deutschen Strafgesetzbuches, welcher homosexuelle Handlungen zwischen


Männern unter Strafe stellte, wurde im Jahr 1994 abgeschafft . In der DDR wurden bereits
ab Ende der 1950er Jahre homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen nicht mehr
strafverfolgt. In der BRD wurden im Zuge einer 2. Reform des Paragraphen 1973 die
Strafverfolgungen eingestellt.
2 Maneo, das schwule Anti-Gewalt-Projekt in Berlin, berichtet von 474 neuen Fällen von
Beleidigungen und körperlichen Angriffen, die ihnen im Jahr 2012 gemeldet wurden
(siehe: http://www.maneo.de/presse/archiv/year/2013/article/homophobe-gewaltfal-
le-in-berlin-auf-gleichbleibend-hohem-niveau-homophobe-hassgewalt-bedroht-dem.
html; zuletzt abgerufen: 22.5.2014). Dass auch Lesben, Bisexuelle und Trans*personen
häufig von Gewalt betroffen sind, dokumentiert die Studie von LesMigras (siehe: http://
www.lesmigras.de/tl_fi les/lesmigras/kampagne/Studie_Zusammenfassung_LesMigraS.
pdf. Zugegriffen: 22.5.2014). Eine europaweite Umfrage zur Lebenssituation von LGBT
dokumentiert, dass in Deutschland im Jahr 2012 circa 30 % der befragten Schwulen,
Lesben und Bisexuellen und über 50 % der Trans*personen angaben, im letzten Jahr mehr
als vier Mal aufgrund ihrer sexuellen und/oder geschlechtlichen Identität belästigt oder
angegriffen worden zu sein (siehe: http://fra.europa.eu/DVS/DVT/lgbt.php. Zugegriffen:
22.5.2014).

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
10 Friederike Schmidt, Anne-Christin Schondelmayer und Ute B. Schröder

dern auch an weniger offensichtlichen und eher alltäglichen Diskriminierungs-


formen, wie beispielsweise Unsichtbarkeiten im Arbeitsleben, in der Schule, in
sozialen Einrichtungen, in verwaltungstechnischen Vorgaben oder in homophoben
sprachlichen Äußerungen, wie zum Beispiel der negativ konnotierten Bezeichnung
,schwul‘ und vielem mehr. Zugleich lässt sich in eigenen Forschungsarbeiten zum
Thema LSBTTIQ3 in pädagogischen Feldern sowie im Kontext von Kommunal-
verwaltungen ein Spektrum der Wahrnehmung und des Erlebens sexueller und
geschlechtlicher Vielfalt ausmachen, das sich zwischen den Kontrastpunkten von
„ist doch völlig selbstverständlich“ und „es ist ein Randphänomen“ erstreckt. Diesen
gegensätzlichen Deutungen und Erlebensformen ist bei näherer Sicht gemein, dass
sich beide in ihrem Bezugnahmen auf das Phänomen LSBTTIQ durch eine Praxis
der (Nicht-)Sichtbarmachung der Heterogenität sexueller Orientierungen und
geschlechtlicher Identitäten auszeichnen. So erreichen Normalisierung wie auch
Marginalisierung, dass eine Thematisierung – eine aktive Auseinandersetzung sowie
Präsenz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt – weitgehend ausbleibt. Das Thema
findet im alltäglichen Umgang wenig Beachtung, wird kaum in der Schule, noch in
Arbeitszusammenhängen als relevanter Aspekt systematisch aufgegriffen. Es bleibt
verdeckt und wird zum Ungesagten. Einher mit dieser fehlenden Relevanz und
Präsenz, die dem Thema der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt zugestanden
wird und in der sich eine Art Indifferenz zur Thematik dokumentiert, zeigen eigene
Forschungsarbeiten, dass Unsicherheit und Unbehaglichkeit die Konfrontation mit
nicht heteronormativen Lebenswirklichkeiten in vielen Fällen bestimmen. Es treten
Erfahrungslücken und -defizite im (kompetenten) Umgang mit Menschen verschie-
dener sexueller und geschlechtlicher Identitäten zutage. Eine weitere Folge ist, dass
diese Praxis der Nicht-Sichtbarkeit das Feld der Identitäts- und Lebensentwürfe
beschneidet und damit Möglichkeiten der Lebensgestaltung begrenzt. Tabuisierung
sowie Problematisierung und Ausklammerung der Thematik führen bei Jugend-
lichen immer wieder zu Schwierigkeiten in ihrer sexuellen Findungsphase sowie
Identitätsbildung. Jugendliche, die sich nicht am heterosexuellen Ideal orientieren,
werden ausgegrenzt und/oder sind Mobbing ausgesetzt. So stellen weiterführende
Untersuchungen fest, dass 15 % der schwulen Teenager unter Depressionen leiden,

3 Die Abkürzungen LSBT, LSBTI, LSBTTIQ, LSBTI* stehen in den unterschiedlichen


Versionen für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle, Transgender, Intersexuelle
und queere Menschen. Im Englischen: LGBT, LGBTQI. Das Sternchen oder Asterisk
(*) steht für unterschiedliche Selbstdefinitionen und Identitäten. Das „Q“ kann sowohl
queer als auch questioning bezeichnen (= unsicher über sexuelle/geschlechtliche Identität
sein, diese in Frage stellen) (siehe u. a. Glossar der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld.
Abrufbar unter: http://www.hirschfeld-kongress.de/blog/glossar.html).
Einleitung 11

verglichen mit 5 % ihrer heterosexuellen Altersgenossen4. Unter Jugendlichen


sind laut der Studie der Berliner Senatsverwaltung „Sie liebt sie. Er liebt ihn.“5 die
Suizid-Rate und das Suizid-Risiko von Lesben und Schwulen zwischen 12 und
25 Jahren um vier- bis siebenmal höher als das von Jugendlichen insgesamt. 60 %
von Mitarbeitenden, so eine Untersuchung zur Offenheit sexueller Identität am
Arbeitsplatz, haben ihre sexuelle Identität mindestens einmal verborgen. 48 % der
Führungskräfte „outen“ sich nicht (vgl. Frohn 2007).
Die oft proklamierte Normalität sexueller und geschlechtlicher Vielfalt ist somit
häufig nur eine scheinbare. Vielmehr zeigt sich ein Umgang mit dem Thema, der
sich durch eine zunächst formulierte generelle Toleranz in Bezug auf sexuelle und
geschlechtliche Vielfalt äußert, die jedoch im Kontrast zu Vorbehalten bis hin zu
Abwertungen in der konkreten Handlungspraxis steht. Vor diesem Hintergrund, aber
auch im Hinblick auf die Komplexität sozialer Wirklichkeit sind Pädagog_innen6
herausgefordert, Selbstverständlichkeiten von Geschlechter- und Begehrensnormen
zu hinterfragen und sich zugleich dafür zu engagieren, dass Vielfalt auch gelebte
und sichtbare Realität wird. Dies setzt eine Auseinandersetzung mit sexueller und
geschlechtlicher Vielfalt sowohl im empathischen als auch im theoretischen und
praktischen Sinne voraus, über die neue Perspektiven entdeckt und ein erweiterter
Blickwinkel auf Individuen, Umwelt und Gesellschaft entwickelt werden kann.
In der Auseinandersetzung mit eigenen und anderen Lebenswelten entsteht eine
Chance, Vielfalt zu leben und zu unterstützen, Visionen (gemeinsam) zu entfalten
und für Chancengerechtigkeit einzutreten sowie sozial und gesellschaftlich Verant-
wortung zu übernehmen. So haben Pädagog_innen zwar nur einen beschränkten
gesellschaftlichen Einfluss – sie können bspw. Armut nicht beseitigen –, sie können
aber und sind sie gefordert, unterschiedliche Bedürfnisse, Fähigkeiten, Interessen
und Lebenslagen ihrer Klientel berücksichtigen. Aus diesem Grund wendet sich
der Band in erster Linie an Pädagog_innen aus den unterschiedlichsten Bereichen,
aus Bildung und Weiterbildung, aus sozialpädagogischen, schulischen und pflege-
rischen Feldern. Das Anliegen des Fachbuchs ist es, die Beobachtung der fehlenden
Sichtbarkeit, Anerkennung und Wahrnehmung sexueller Vielfalt aufzunehmen
und stärker ins pädagogische Bewusstsein zu rücken. Angeregt werden soll eine
Intensivierung der aktiven Auseinandersetzung um sexuelle und geschlechtliche

4 „Schwule Jugendliche: Ergebnisse zur Lebenssituation, sozialen und sexuellen Identität“,


Studie des Niedersächsischen Ministeriums für Frauen, Arbeit und Soziales (2001).
5 „Sie liebt sie. Er liebt ihn.“, Studie zur psychosozialen Situation junger Lesben, Schwuler
und Bisexueller in Berlin. Durchgeführt im Auftrag der Senatsverwaltung, Fachbereich
für gleichgeschlechtliche Lebensweisen (1999).
6 Der Unterstrich oder auch „Gender Gap“ soll all jene Personen inkludieren, die sich
nicht eindeutig männlich oder weiblich zuordnen (vgl. auch: S_he (2003).
12 Friederike Schmidt, Anne-Christin Schondelmayer und Ute B. Schröder

Vielfalt mit handlungspraktischen Konsequenzen in verschiedenen Lebens- und


Arbeitsfeldern. Dafür greift das vorliegende Buch die Thematik aus einem breit
angelegten Blickwinkel auf. Unsere Forschungsergebnisse als auch weitere Studien
zeigen dabei, dass es im pädagogischen Feld sowohl ein Interesse und eine Bereitschaft
gibt, das Thema in der pädagogischen Praxis zu bearbeiten. Gleichzeitig werden
aber auch Unsicherheiten und Nicht-Wissen deutlich. So kommt es im (Berufs-)
Alltag sowohl zu Irritationen als auch zu Praktiken, die explizit diskriminieren,
etwa durch ein Mitlachen über homosexuellenfeindliche Witze‚ oder auch implizit
ausgrenzen, indem ‚Normalität‘ als heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit hergestellt
und gefestigt wird. Zwar weisen Studien auf eine verbreitete generelle Toleranz in
Bezug auf geschlechtliche und sexuelle Vielfalt hin, in der konkreten Handlungs-
praxis scheinen jedoch Erfahrungswissen, Kompetenz und Unterstützung zu fehlen.
Diese Lücke gilt es zu reflektieren und zu beheben.
Im Rahmen der Herausgabe wird ein Schwerpunkt auf den Aspekt der Selbst-
bestimmung und der Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Identität von
LSBTTIQ-Personen gelegt. Selbstbestimmung im Sinne eines von Diskriminierung
und Ausgrenzung unabhängigen Lebens ist eng verknüpft mit intersubjektiven
Erfahrungen, in denen Menschen in ihrer „egalitären Differenz“ (Honneth 1992)
wahrgenommen, geachtet und anerkannt werden, wie Annedore Prengel auch in
ihrer Pädagogik der Vielfalt (2006) darlegt. Unterschiedliche Lebensphasen bedeu-
ten dabei differente Anforderungen und Herausforderungen hinsichtlich Fragen
der Selbstbestimmung und der sozialen Anerkennung. Diesem Aspekt Rechnung
tragend, greift der Band unterschiedliche Erfahrungen und Einflüsse in verschie-
denen Lebensphasen und -kontexten auf und setzt dabei einen Schwerpunkt auf
Kindheit, Jugend, Familie (III.1) und Alter (III.3). Damit soll die Relevanz von
Selbstbestimmung und Anerkennung im Erwachsenenalter nicht in Frage gestellt
werden. Die Schwerpunktsetzung ergibt sich vielmehr vor dem Hintergrund der
ausgewiesenen Rolle der Pädagogik im Kontext von Kindheit, Jugend, Familie und
Alter. In Kindheit und Jugend sind es vor allem Eltern, Erzieher_innen, andere
pädagogische, medizinische und juristische Fachkräfte, die Dialoge, Normen
und Werte vorgeben, Anerkennung zollen oder nicht und über die persönliche,
soziale und gesundheitliche Entwicklung eines Menschen (mit)bestimmen. Im
Alter, wenn sich die Lebenssituation älterer Menschen häufig durch einen erhöhten
Pflege-, Unterstützungs- und Betreuungsbedarf auszeichnet, geraten sie erneut
in umfassende Abhängigkeiten und sind auf die Professionalität, Anerkennung
und Sensibilität pädagogischen Pflegepersonals angewiesen. Grundsätzlich ist
dabei festzustellen, dass Selbstbestimmung und soziale Anerkennung entlang
u. a. ökonomischer, sozialer, geschlechtlicher und gesundheitlicher Dimensionen
erheblich variieren. Freiheiten genießen dabei vor allem jene, die sich mit Blick
Einleitung 13

auf den Aspekt der Geschlechtszugehörigkeit und der sexuellen Orientierung


innerhalb einer heteronormativen Ordnung verorten und auf ein stabiles soziales
Netz zurückgreifen können.
Mit dem Band wird bewusst ein mehrdimensionaler Blick auf die Thematik
der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt eingenommen. Mit der Spannbreite
der Beiträge soll eine Intensivierung der aktiven Auseinandersetzung angeregt
sowie Ideen zur Integration und Berücksichtigung der Thematik in verschiedenen
pädagogischen Feldern geschaffen werden. Beim Zusammenbringen verschiedener
Perspektiven auf sexuelle und geschlechtliche Vielfalt ist zugleich jedoch auf die
Begrenztheit dieses Unterfangens hinzuweisen. Die Thematik ist zu komplex, um
sie, auch in der Zusammenstellung diverser Themenschwerpunkte und Betrach-
tungsweisen, umfassend darstellen zu können. Bestimmte Perspektiven, Lebenser-
fahrungen und -schwierigkeiten bleiben ungenannt und zwar mitunter auch jene,
welche bereits im täglichen Leben wenig sichtbar und damit marginalisiert sind.
Somit spiegeln sich in der Herausgabe dieses Sammelbandes Phänomene sozialer
Ungleichheit wieder und werden schon in der Frage, wer über welche Thematik
schreibt, reproduziert. Gerade im Kontext sexueller und geschlechtlicher Vielfalt,
in dem Ausgrenzungen, das Absprechen von Identitäten und ein Kampf um Ge-
hört- und Ernstgenommen-Werden dominante Erfahrungen sind, bleibt dies ein
heikler Punkt.
Ein wesentlicher Ausgangspunkt und Anlass, diesen Band herauszugeben, ist
die von uns in den Jahren 2010 bis 2012 durchgeführte Evaluation der Initiative
„Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“ (kurz:
ISV).7 Diese wurde im April 2009 vom Berliner Abgeordnetenhaus beschlossen,
um landespolitisch ein Zeichen zu setzen, sich aktiv gegen Homophobie und für
die Akzeptanz vielfältiger Lebensentwürfe einzusetzen. Ziel dieser Initiative ist
es, einen umfassenden Prozess der Auseinandersetzung mit Homophobie in der
Gesellschaft zu initiieren und einen positiven Wandel hin zu Toleranz, Akzeptanz
und Respekt für sexuelle Vielfalt zu bewirken. Die Federführung der Koordination
der Umsetzung liegt bei der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen
(ehemals Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales), Landesstelle für
Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung (Landesantidiskriminierungsstelle).
Die insgesamt 23 Abgeordnetenhausbeschlüsse sind dabei sechs Handlungsfeldern
zugeordnet: 1. Bildung und Aufklärung stärken; 2. Diskriminierung, Gewalt und
vorurteilsmotivierte Kriminalität bekämpfen, 3. Wandel der Verwaltung voran-
treiben, 4. Erkenntnisgrundlagen verbessern, 5. Dialog fördern, 6. Rechtlicher
Gleichstellung zum Durchbruch verhelfen. Im Rahmen dieser Handlungsfelder

7 Siehe: http://www.berlin.de/lb/ads/gglw/isv/; zugegrifffen: 22.5.2014.


14 Friederike Schmidt, Anne-Christin Schondelmayer und Ute B. Schröder

fanden in den Jahren 2010-2011 verschiedene Angebote und Maßnahmen un-


terschiedlicher Akteur_innen und Träger_innen statt. Von NGOs wurden bspw.
Qualifizierungskonzepte mit dem Schwerpunkt LSBTTIQ entwickelt und angeboten.
Auch Netzwerke, mit dem Ziel vielfältigste Akteur_innen zusammenzubringen,
wurden organisiert und die Bildungsinitiative Queerformat8 gegründet. Zudem
wurden verschiedene Forschungsarbeiten und eine Evaluation der Maßnahmen
veranlasst. Das centrum für qualitative evaluations- und sozialforschung (ces) sowie
die e-fect dialog evaluation consulting eG (e-fect) wurden von der Senatsverwaltung
für Integration, Arbeit und Soziales mit der Gesamtevaluation und vom Senat für
Bildung, Jugend und Wissenschaft mit der Evaluation des Bereichs „Bildung und
Aufklärung stärken“ beauftragt. Diese beiden Untersuchungen sowie eine Studie
zur „Wirksamkeit von Strategien und Methoden zur Bekämpfung von homopho-
ben Diskriminierungen“ in kommunalen Berliner Verwaltungen wurden von den
Herausgeber_innen des Bandes zusammen mit Dirk Scheffler durchgeführt.9

Überblick über die Beiträge

Das vorliegende Buch bietet einen Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis,
zwischen Alltagswelten, konkretem Handeln, Empathie, Reflexion und Wissen-
schaft. Sowohl in der Praxis als auch in der Theorie ist es von Vorteil, verschie-
dene Blickwinkel einzunehmen und unterschiedliche Perspektiven zu erproben,
um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Neugierde, Offenheit, Umdenken, das
scheinbar Normale hinterfragen, das Selbstverständliche nicht selbstverständ-
lich nehmen, Vorurteile und Diskriminierungen zu erkennen, sind dafür gute
Voraussetzungen. Dieses Buch möchte dafür Anregungen bieten. Bereits die hier
vertretenen Autor_innen spiegeln eine große Vielfalt wider. Sie sind etablierte_r
Wissenschaftler_innen und Praktiker_innen oder stehen noch am Anfang ihre_r
Berufslaufbahn. Sie sind Vertreter_innen von NGO`s, Lehrer_innen, Sozialpä-
dagog_innen, Psycholog_innen, Mediziner_innen, Jurist_innen, Sozial- und
Erziehungswissenschaftler_innen. Die Auseinandersetzung mit sexueller Vielfalt

8 www.queerformat.de
9 siehe: www.ces-forschung.de und www.e-fect.de. Die Studien sind online abrufbar unter:
http://www.berlin.de/imperia/md/content/lb_ads/gglw/isv/bericht_gesamtevaluation_
isv_final_bf.pdf?start&ts=1337178962&file=bericht_gesamtevaluation_isv_final_bf.pdf
und http://www.berlin.de/imperia/md/content/lb_ads/gglw/isv/bericht_evaluation_
ah2u3_hf_bildung_bf.pdf?start&ts=1353324466&file=bericht_evaluation_ah2u3_hf_
bildung_bf.pdf; zuletzt abgerufen: 22.5.2014).
Einleitung 15

ist Aufgabe ihres Arbeitsalltags. Die Annäherung an das Thema erfolgt auf ver-
schiedenen Ebenen: analytisch, praktisch und biografisch. Entsprechend variieren
die hier versammelten Beiträge nach Herangehensweise, Aussage und Art und
Weise der Auseinandersetzung.
Das Fachbuch gliedert sich in die folgenden vier Themenbereiche: Perspekti-
ven auf geschlechtliche und sexuelle Vielfalt (I); Biografische Erzählungen (II);
Lebensphasen und Kontexte (III); Erfahrungen aus der Praxis für die Praxis –
Bildungsbausteine (IV).
Das Kapitel I Perspektiven auf geschlechtliche und sexuelle Vielfalt greift
aktuelle Diskurse aus vorwiegend theoretischer Perspektive zu den Themen He-
teronormativität, Mehrfachdiskriminierung, Intersexualität und Pädagogik auf.
Der Beitrag Vielfalt ist nicht genug! Heteronormativität als herrschafts- und
machtkritisches Konzept zur Intervention in gesellschaftliche Ungleichheiten von
Christine Klapeer führt in die komplexe Theoriegeschichte des Konzepts und
Begriffs der Heteronormativität ein und diskutiert die vielfältigen, oftmals auch
widerstreitenden Genealogien, Rezeptionslinien und Bedeutungen. Sie untersucht
die Einflüsse und Konsequenzen der Ansätze von Michael Warner und Judith
Butler und tritt für die (Re-)politisierung des Konzepts der Heteronormativität
als gesellschaftliches Analyseinstrument ein.
Anhand einer Studie von binationalen homosexuellen Paaren geht Zülfukar Çetin
den Verschränkungen von Homophobie und Rassismus als Praxen verschiedener
Formen von Diskriminierung nach. Er arbeitet in seinem Beitrag Zusammen- und
Wechselwirkungen von Heteronormativität und (antimuslimischem) Rassismus
am Beispiel von Mehrfachdiskriminierungen binationaler schwuler Paare in Berlin
heraus, dass gerade Menschen, die in mehrfacher Hinsicht ‚anders‘ sind als die
Mehrheitsgesellschaft, sichtbaren und unsichtbaren Formen verschiedenster Arten
von Diskriminierung auf unterschiedlichen Ebenen ausgesetzt sind.
Intergeschlechtlichkeit tritt in den unterschiedlichsten Formen auf und wird von
den Menschen individuell erlebt. Die Gemeinsamkeit ist, dass intergeschlechtliche
Menschen die normative Annahme von Mann und Frau in Frage stellen und damit
verunsichern. Dies führt auch heute noch zu Pathologisierung, medizinischem
‚Handlungsbedarf‘, rechtlicher und allgemeiner Diskriminierung, wie Juana Remus
in ihrem Beitrag Inter*Realitäten: Variabilität und Uneindeutigkeit des Geschlechts
als Herausforderung für Recht und Gesellschaft aufzeigt.
Ines Pohlkamp richtet ihr Augenmerk auf die gängigen hetero-hegemonialen
Annahmen zu Geschlecht und Sexualität und setzt sich in ihrem Beitrag Queer-
dekonstruktive Perspektiven auf Sexualität und Geschlecht in Pädagogik und Bil-
dung mit den vorherrschenden Bildern in der sozialen Arbeit und der Pädagogik
16 Friederike Schmidt, Anne-Christin Schondelmayer und Ute B. Schröder

auseinander. Sie plädiert für eine Sensibilisierung und Infragestellen von Norma-
lisierungsprozessen und eine Veränderung des pädagogischen Blicks.
Für einen selbstverständlichen, angstfreien und ungezwungenen Umgang mit
sexueller und geschlechtlicher Vielfalt sind nicht nur theoretisches Verstehen,
Akzeptanz und Anerkennung wichtig, sondern auch ein emotionaler Bezug.
Uneindeutigkeiten von Geschlecht und Lebensformen können, wie unsere Inter-
views zeigen, Unsicherheiten und Ängste im Umgang miteinander auslösen. Ein
kleiner Schritt, diese Barrieren zu überwinden, kann durch das Kennenlernen von
persönlichen Geschichten möglich werden: Beim Lesen einer Biografie kann ich
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu meiner eigenen Lebensgeschichte entdecken.
Ich sehe Vertrautes und kann mich identifizieren oder lerne Neues kennen. In dem
Kapitel II Biografische Erzählungen vermittelt Anja Karrasch anhand von vier
Porträts Einblicke in Lebensgeschichten, Wünsche, Träume und Vorstellungen
von Menschen, die jenseits einer heteronormativen Ordnung positioniert sind.
Trotz ihrer individuellen Lebensgeschichten ist allen der Wunsch gemeinsam, dass
ihre Form zu leben, gleichberechtigt mit den vorherrschenden Vorstellungen von
Geschlecht und Begehren gesellschaftlich anerkannt wird. Um dies zu erreichen,
waren und sind zwei der Gesprächspartner_innen politisch aktiv, während die
interviewten Paare ‚Normalität‘ primär durch ihren selbstbewussten Umgang mit
sich und ihrem Umfeld herstellen. Diese Einblicke in Lebensrealitäten von LSBT-
TIQ spiegelt nur einen sehr kleinen Ausschnitt von heterogen Lebenskonzepten
und -bedingungen wider und soll an dieser Stelle vor allem dafür sensibilisieren,
dass Biografien komplex sind und weder allein durch Geschlechtsidentitäten und
Begehrensformen, noch durch Leiden geprägt sind10.
Das Kapitel III Lebensphasen und -kontexte vereint Beiträge zu den Le-
bensphasen Kindheit, Jugend und Alter sowie zu den Kontexten von Familie und
pädagogischer Praxis. Der Abschnitt Kindheit, Jugend und Familie (III.1) setzt
sich mit Familienmodellen, der geschlechtlichen Entwicklung von Kindern in den
ersten sechs Lebensjahren, juristischen und medizinischen Aspekten auseinander

10 Biografische Porträts sowie weitere Zugänge zu LSBTTIQ-Lebenswelten finden sich u. a.


in der Dokumentation „Leben iranischer Lesben“ (2006), hrsg. von LesMigraS; online
abrufbar unter: http://www.lesmigras.de/tl_files/lesmigras/Leben%20iranischer%20
Lesben%20-%20auf%20deutsch.pdf. Zugegriffen: 28.05.2014), „Mein Kind ist das Beste
was mir je passiert ist“ (2011), hrsg. von Queerformat, online abrufbar unter: http://www.
queerformat.de/fileadmin/user_upload/news/QF-ElternBroschuere.pdf. Zugegriffen:
28.05.2014) oder auch „Lebenswelten von Migrantinnen und Migranten in Berlin“
(2001), hrsg. von der Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport- Fachbereich für
gleichgeschlechtliche Lebensweisen, online abrufbar unter: http://www.berlin.de/imperia/
md/content/lb_ads/gglw/veroeffentlichungen/doku19_bf2.pdf?start&ts=1347363676&-
file=doku19_bf2.pdf. Zugegriffen: 28.05.2014).
Einleitung 17

und untersucht die Darstellung und den Umgang mit sexueller und geschlechtlicher
Vielfalt in verschiedenen Medien. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den Lebens-
wirklichkeiten und Auseinandersetzungen von Trans* Kindern bzw. -Familien.
Der Begriff Familie unterliegt seit je her einem Wandel im Kontext der Ver-
änderung von gesellschaftlichen, normativen und wertbezogenen Vorstellungen
und Anschauungen. Die rechtliche Stärkung von LSBTTIQ und eine sich langsam
abzeichnende Akzeptanz haben in den letzten beiden Jahrzehnten in Deutschland
dazu geführt, dass Regenbogenfamilien entstehen konnten. Als Regenbogenfamilie
werden Familienkonstellationen verstanden, in denen lesbische, schwule, trans*
oder bisexuelle Eltern mit Kindern leben. Welche Familienmodelle gelebt werden,
wie rechtliche Bedingungen sind und welche Beratungs- und Unterstützungsmög-
lichkeiten es gibt, zeigt Constanze Körner in ihrem Beitrag Regenbogenfamilien
– Kinderwunsch und Familienleben im Kontext von LSBT-Lebensweisen auf.
Ob und wann intergeschlechtliche und trans* Kinder und – Jugendliche über ihren
eigenen Körper bestimmen können, welches ‚Wohl‘ und welche Wertvorstellungen
bei Entscheidungen zum Tragen kommen und welche rechtlichen Regelungen bzw.
Lücken es gibt, darüber geben Katharina Bager und Anne Lena Göttsche in ihrem
Beitrag Kinder, Eltern, Staat – Rechtliche Konflikte im Zusammenhang mit minder-
jährigen Inter* und Trans* Personen einen Überblick. Deutlich wird, dass vieles,
was von Mehrheitsangehörigen als ‚normal‘erlebt wird, von Personen, die aufgrund
ihrer sexuellen und/oder geschlechtlichen Orientierung von dem Normalitätsmus-
ter abweichen, als diskriminierend erlebt wird. Der Raum Schule stellt in diesem
Zusammenhang keine Ausnahme, sondern vielmehr einen signifikanten Ort dar,
an dem Diskriminierungserfahrungen von Kindern und Jugendlichen stattfinden.
Claudia Schmitt setzt sich in ihrem Beitrag Entwurf einer sexuell-geschlecht-
lichen Personagenese der ersten sechs Lebensjahre mit dem Spannungsfeld einer
modellhaften Vorstellung kindlicher Entwicklung auf der einen Seite und der
Berücksichtigung und Anerkennung spezifischer individueller Entwicklungen
von Kindern auf der anderen Seite auseinander. Sexualität ist aus ihrer Sicht ein
wichtiger Aspekt kindlicher Entwicklung, der interdisziplinär betrachtet werden
sollte und auch in der erziehungswissenschaftlichen Perspektive nicht fehlen darf.
Ein Angebot zur Unterstützung, Beratung und Orientierung von Kindern, Ju-
gendlichen, Erwachsenen und Elternteilen, die sich als schwul, lesbisch, bisexuell,
transgender, transsexuell, transident, transgeschlechtlich bzw. intergeschlechtlich,
Zwitter/ intersexuell verstehen, stellt das Projekt QUEER LEBEN dar. Ein besonde-
res Augenmerk liegt auf der Stärkung und Unterstützung von Familien, in denen
sich eines ihrer Mitglieder o. g. Personenkreis zuordnet. Im Gespräch Einblicke
ins „Trainingslager für geschlechtliche Identitäten“ arbeiten Klaus Steinkemper, ein
Mitinitiator des Projektes, und Mari Günther, die fachliche Leiterin des Projektes,
18 Friederike Schmidt, Anne-Christin Schondelmayer und Ute B. Schröder

die Entstehungshintergründe, die Rahmenbedingungen und Entwicklungen sowie


einige Erfolgsfaktoren des Projektes heraus.
Einen medizinischen Blick werfen Timo O. Nieder et al. in ihrem Beitrag Kinder
und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie. Möglichkeiten der medizinischen Ver-
sorgung im Rahmen einer interdisziplinären Spezialsprechstunde auf die Thematik
Trans* im Jugendalter. Beleuchtet werden medizinische Handlungsmöglichkeiten,
aber auch Entscheidungssituationen, vor die sich Kinder, Eltern und Mediziner in
diesem Zusammenhang gestellt sehen. Im Zentrum steht dabei nicht die Frage,
ob eine medizinische Behandlung angemessen ist, sondern wie diese erfolgen
kann, sobald dazu der Bedarf geäußert wird. Initiiert wurde eine interdisziplinäre
Sprechstunde, die eine am Einzelfall orientierte Behandlung vorsieht und sich in
Abstimmung von prozessbegleitender Diagnostik und Hormonbehandlung bewegt.
Die Auseinandersetzung um Körper, Geschlecht, Sexualität und damit verbun-
den die Frage nach dem Verhältnis von Selbstbestimmung versus Reglementierung
steht häufig im Mittelpunkt des medialen Öffentlichkeitsinteresses. Anhand des
Beispiels des Trans* Kindes Alex“ aus Berlin, welches zwangsweise in die Psychia-
trie eingewiesen werden sollte, um dort seine „gendervarianten“ Verhaltensweisen
abzulegen, analysiert Elaine Lauwaert die medialen Diskurse. In ihrem Beitrag
Zwischen Selbstbestimmung und gesellschaftlichem Zwang. Diskurstheoretische
Medienanalyse zum Fall „Alex“ zeichnet sie das mediale Spannungsfeld zwischen
Stabilisation und Korrektiv normativer Zwänge nach.
Maike Groen und Arne Schröder beleuchten in ihrem Beitrag Jugendkultur im
Binärsystem? Perspektiven auf Gender und sexuelle Identitäten in Online-Spielen
sowohl die geschlechtsspezifischen Zuschreibungen, aber auch die Möglichkeiten
von Multiplayer- Spielen, mit Identitäten zu experimentieren. Vor dem Hintergrund,
dass für Jugendliche bei Online-Spielen insbesondere die soziale Kommunikation
wichtig ist, regen sie an, Computerspiele bspw. als medienpädagogisches Angebot
zum Ausprobieren von verschiedenen Geschlechterrollen zu nutzen.
Schule und außerschulische pädagogisch betreute Orte sind Lebensbereiche, in
denen Kinder und Jugendliche einen sehr großen Teil ihrer Zeit verbringen. Hier
agieren Pädagog_innen mit ihrem professionellen Wissen, aber auch ihren indivi-
duellen Einstellungen. Sie agieren in organisationalen Kontexten, setzen sich mit
Strukturen als auch Kolleg_innen auseinander und nutzen verschiedene Medien
für ihre Arbeit, Kinder und Jugendliche zu erziehen. Der Abschnitt Pädagogische
Praxis (III.2) untersucht, welche Bilder und Ansichten vorherrschen und wie mit
sexueller Vielfalt umgegangen wird. Wie werden scheinbare Selbstverständlich-
keiten reproduziert und Unsichtbarkeit sexueller Vielfalt erzeugt? Diesem sehr
kontroversen Themenfeld widmen sich die Beiträge in diesem Abschnitt.
Einleitung 19

Stephanie Nordt und Thomas Kugler zeigen in ihrem Beitrag Geschlechtliche


und sexuelle Vielfalt als Themen der Kinder- und Jugendhilfe anhand sozialwissen-
schaftlicher Befunde auf, dass LGBT- Jugendliche als vulnerable Gruppe beschrieben
werden. Auf der Grundlage ihrer Erfahrungen in der Fortbildungsarbeit pädagogi-
scher Fachkräfte verdeutlichen sie die Diskrepanz zwischen normativ-theoretischen
Vorgaben und der Alltagsrealität. Zwei gelungene Beispiele aus der Praxis vermitteln
einen Einblick in Handlungsstrategien und eine sensible Pädagogik.
Auch der Beitrag von Friederike Schmidt und Anne-Christin Schondelmayer
setzt sich mit der Praxis pädagogischer Fachkräfte auseinander. In ihrem Beitrag
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt – (k)ein pädagogisches Thema? Pädagogische
Perspektiven und Erfahrungen mit LSBTI diskutieren sie die Ergebnisse der Evalua-
tionsstudie der Initiative des Berliner Abgeordnetenhauses für die Akzeptanz
sexueller Vielfalt (s. o.). Auf der Basis von Interviews und Gruppendiskussionen
mit Fachkräften aus der Schule und der Kinder- und Jugendhilfe rekonstruieren
sie deren Verständnis von geschlechtlicher und sexueller Heterogenität.
Conny Hendrik Kempe-Schälicke ist Lehrer_in. Dieses Arbeitsfeld diagnostiziert
Kempe-Schälicke als „Unfallort“, da hier die normierende Annahme einer Zwei-
geschlechtlichkeit die Regel ist. Der Beitrag Erste-Hilfe-Maßnahmen am Unfallort
Schule. Lesbische, schwule, bisexuelle, trans* und inter* (LSBTI) Lebensweisen sicht-
bar machen, kämpft für eine Veränderung und stellt konkrete Maßnahmen vor,
die an jeder Schule, aber auch in anderen Lebensumwelten, einfach aber effektiv
umgesetzt werden können.
Schulbücher prägen den Unterrichtsalltag und konstruieren Wirklichkeit.
Stereotype und Normen – etwa darüber, wie eine Familie aussieht, was in der
Pubertät passiert oder wie Mädchen und Jungen sind – sind daher problematisch.
Auch rechtliche Rahmenbedingungen legen fest, dass Schulbücher Gleichstellung
fördern und Diskriminierung vermeiden sollen. Anhand der wichtigsten Ergebnisse
einer gleichstellungsorientierten Analyse von Englisch- und Biologiebüchern zeigt
Melanie Bittner in ihrem Artikel Die Ordnung der Geschlechter in Schulbüchern.
Heteronormativität und Genderkonstruktionen in Englisch- und Biologiebüchern auf,
dass Schulbücher diese Anforderungen oft nicht erfüllen und ein Handlungsbedarf
bei der Gestaltung und Verwendung von Schulbüchern besteht.
Bettina Kleiner präsentiert aus ihrer Interviewstudie mit Jugendlichen ein
Interview mit dem gender-non-konformen Jugendlichen Jannes zu Differenz-
und Ausgrenzungserfahrungen und seinem Umgang damit. Aufbauend auf dem
theoretischen Bezugsrahmen von Judith Butlers Subjekttheorie diskutiert sie im
Weiteren in ihrem Beitrag Que(e)r durch den Schulalltag? Annäherung an eine
machtkritische Lesart von Differenz am Beispiel eines Schülerinterviews kritisch
20 Friederike Schmidt, Anne-Christin Schondelmayer und Ute B. Schröder

die Begriffe Selbstbestimmung und Akzeptanz und entwickelt Überlegungen zu


pädagogischen Konsequenzen.
Sexualaufklärung im Unterricht und die Rolle von Scham hat Sara Blumenthal
anhand von Unterrichtsbeobachtungen untersucht. Ihr Artikel Sexuelle Diversität
als Schamgrenze der Sexualaufklärung im Biologieunterricht!? zeigt auf, dass die
Aufklärung über sexuelle Vielfalt besonders schambesetzt ist und affektiv negativ
empfunden und reduziert wird. Dies kann wiederum zur Folge haben, dass in
der schulischen Sexualaufklärung sexuelle und geschlechtliche Vielfalt kaum
thematisiert werden.
Florian Klenk beschäftigt sich in seinem Artikel Que(e)r durch die Fachkulturen.
Perspektiven einer transdisziplinären Dekonstruktion von Geschlecht und Sexualität
damit, wie zukünftige Lehrkräfte besser für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt
sensibilisiert werden können, um die vielen skizzierten Missstände perspektivisch
zu verändern. Von einer machtanalytischen Perspektive ausgehend wird gefragt,
ob die aktuell favorisierten konstruktivistischen Ansätze rund um den Begriff der
Genderkompetenz es angehenden Lehrkräften ermöglichen, sich kritisch mit hete-
ronormativen Machtstrukturen auseinanderzusetzen und an deren Verschiebung
zu arbeiten. Der Begriff der Genderkompetenz erfährt anschließend eine post-
strukturalistische Erweiterung, die neue Perspektiven für eine genderreflektierte
Lehramts(aus)bildung eröffnet.
Im Abschnitt Alter(n) (III.3) wird deutlich, dass sexuelle Vielfalt und Alter von
zwei Restriktionen gekennzeichnet ist. Die Erfahrungen älterer LSBTI-Menschen
sind von Diskriminierung, Ausgrenzung und Kriminalisierung geprägt. Erst in
den 1990iger Jahren ist der Paragraf 175, der männliche Homosexuelle kriminali-
siert, aus dem Strafgesetzbuch gestrichen worden. Zum anderen wird das Thema
Sexualität im Alter nach wie vor tabuisiert. Eine Folge ist u.a, dass die Bedürfnisse
älterer LSBTTIQ-Menschen, die in Pflege- und Abhängigkeitsverhältnisse geraten,
nicht beachtet werden und Betroffene ihre Rechte nicht einfordern. Sexuelle Vielfalt
ist im Alter unsichtbar. Die Konsequenzen bestehen häufig aus der Negation, dem
Übersehen und dem Vereinheitlichen in der Realität existierender Vielfalt.
Im ersten Beitrag berichtet Marco Pulver aus seinem Beratungsalltag in der ho-
mosexuellen Selbsthilfe. Er skizziert in seinem Artikel Anders Altern – Zur aktuellen
Lebenslage von Schwulen und Lesben im Alter Ängste vor Diskriminierung, den
Umgang mit sexueller Vielfalt im Alltag älterer Menschen und den Zusammen-
hang mit Einsamkeit, körperlicher Beeinträchtigung und Pflegebedürftigkeit. Er
diskutiert neue Betreuungsmodelle und stellt das Projekt ‚Lebensort Vielfalt‘ vor.
Der Beitrag von Ute B. Schröder und Dirk Scheffler, „Bei uns gibt es dieses Pro-
blem nicht“ – Leitlinien als Impuls für Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld.
Wahrnehmung älterer LSBT-Menschen und die Wirkung der Berliner Seniorenleit-
Einleitung 21

linien zeigt anhand der o. g. Evaluation der Berliner Abgeordnetenhausinitiative,


ob und wie sich Kommunalpolitiker_innen und Betreuungseinrichtungen von
Senior_innen mit sexueller Vielfalt auseinandersetzen. Ein Fazit ist, dass politische
Schritte Wirkungen haben, jedoch noch wirksamer sein könnten – unabhängig
von explizit geäußerten Bedarfen.
Ralf Lottmann und Rüdiger Lautmann geben einen Überblick über den For-
schungsstand zu älteren LSBTTIQ in ihrem Beitrag: Alter(n) und sexuelle Orientie-
rung – zum Forschungsstand. Eine zentrale Erkenntnis ist, dass der Forschungsstand
ausgesprochen lückenhaft und überschaubar ist. Untersuchungen gibt es wenige
und sie sind eher im anglophonen Raum als in Deutschland zu finden. Zugleich
werden Hinweise auf Chancen und Risiken bei innovativen Wohn- und Pflegepro-
jekten für LSBTTIQ sowie für Pflegekräfte und Multiplikator_innen im Bereich
der Pflege- und Sozialplanung erläutert.
Manche Leser_innen fragen sich vielleicht, wie sie die gewonnen Anregungen
in ihrem Arbeitsalltag umsetzen können. In dem Kapitel IV Anregungen aus der
Praxis für die Praxis – Bildungsbausteine für die schulische und außerschulische
Bildung hat Klaus Steinkemper zahlreiche Möglichkeiten zusammengestellt und
aufbereitet. Hier werden unterschiedlichste Bildungsbausteine von etablierten Ak-
teur_innen der Bildungsarbeit vorgestellt. Sie können sowohl in der Jugend- als auch
in der Erwachsenenbildung angewendet werden. Sie regen dazu an, Wissen nicht
nur kognitiv, sondern gleichzeitig erfahrungsorientiert und auf einer sozial-emoti-
onalen Ebene zu vermitteln. Die Ansätze reichen von einem Handout über die am
häufigsten gestellten Schüler_innen-Fragen bis hin zu Rollenspielen, Aufstellungen
und Quizformaten. Die Übungen sollen neugierig machen und laden ausdrücklich
dazu ein, sie auszuprobieren oder an die eigenen Gegebenheiten anzupassen.

Dieser Band ist durch verschiedene Instanzen und Personen möglich geworden,
denen wir an dieser Stelle herzlich danken möchten: Der Senatsverwaltung für
Bildung, Jugend und Wissenschaft, namentlich Conny Hendrik Kempe-Schälicke,
für die finanzielle Unterstützung. Verena Walterbach, Katrin Viezens und Sarah
Dietrich für Korrekturarbeiten.
22 Friederike Schmidt, Anne-Christin Schondelmayer und Ute B. Schröder

Literatur
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den A/ Mecheril P (Hrsg.): Re-Präsentationen: Dynamiken der Migrationsgesellschaft.
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Scheffler D, Schmidt F, Schondelmayer AC (2012) Bildung und Aufklärung zu Diversity
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ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“- Handlungsfeld Bildung
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bericht_evaluation_ah2u3_hf_bildung_bf.pdf?start&ts=1353324466&file=bericht_
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Scheffler D, Schröder UB (2012) Studie über die Wirksamkeit von Strategien und Methoden
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Walgenbach K; Dietze G; Hornscheidt A; Palm K (2007) (Hrsg.): Gender als interdepen-
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Opladen: Verlag Barbara Budrich
I
Perspektiven auf geschlechtliche und
sexuelle Vielfalt
Vielfalt ist nicht genug!
Heteronormativität als herrschafts- und
machtkritisches Konzept zur Intervention in
gesellschaftliche Ungleichheiten
Christine M. Klapeer

Heteronormativity defines not only a normative sexual practice


but also a normal way of life.
Stevi Jackson 2006

Der Begriff der ‚Heteronormativität‘ ist aus gegenwärtigen gender- und queerpoli-
tischen Diskursen und Praxen nicht mehr wegzudenken: Nicht nur innerhalb der
akademischen Queer und Gender Studies scheint der Begriff der Heteronormativität
beinahe zum selbstverständlichen Bestandteil eines wissenschaft lichen (Analyse-)
Instrumentariums geworden zu sein, auch innerhalb ausgewählter bewegungspoliti-
scher Kontexte1 und gar in manchen ‚offiziellen‘ Politikbereichen2 wird mittlerweile
mit dem Begriff der ‚Heteronormativität‘ operiert. Eine genauere Definition oder
analytische Klärung, wie der Begriff konzeptuell und methodologisch verwendet
oder gefasst wird, findet jedoch – trotz der Komplexität und Vielschichtigkeit an
theoretischen Rezeptionslinien sowie der Vielfalt an theoretischen und politischen
Debatten– oft nur bedingt statt. Für den Begriff der Heteronormativität hat sich
daher bereits die beinahe schon als statisch zu bezeichnende Definition durchgesetzt,
dass es sich dabei um ein Konzept zur Beschreibung der (gesellschaft lichen) Norm
der/zur Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität handle, von der insbesondere
jene Lebensweisen bzw. Personen ‚betroffen‘ sind, die diesen Normen eben nicht

1 Insbesondere innerhalb queer-feministischer und lesbischer/schwuler/trans* Kontexte


wird der Begriff der Heteronormativität mittlerweile auch im Zuge politisch-aktivisti-
scher Praxen verwendet.
2 Gerade im Bereich institutionalisierter Gleichstellungs-, Anti-diskriminierungs- und
Diversitypolitiken findet sich ebenfalls zunehmend der Begriff der Heteronormativität.

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
26 Christine M. Klapeer

entsprechen (können oder wollen) – Lesben, Schwule, Trans* und Intersex* Per-
sonen und Queers.3
Auch wenn diese Beschreibung nicht falsch ist, so impliziert sie doch die Gefahr
einer methodologischen und politischen Verengung des Konzepts der Heteronor-
mativität sowie einer Ausblendung der komplexen geopolitischen Interdependenz
heteronormativer Geschlechter- und Sexualitätskonzepte mit der Geschichte der
‚Aufklärung‘ sowie der Etablierung ‚moderner‘ (und auf koloniale Denksysteme
und Ausbeutung basierenden) Nationalstaaten im ‚Globalen Norden‘. Darüber
hinaus wird durch eine solche Definition auch das vielfältige und dynamische
‚Archiv‘ an durchaus widerstreitenden, theoretischen und politischen Konzepten
zu Wirkungs- und Funktionsweisen von sexuellen und geschlechtlichen Normen/
Normierungen eingeebnet sowie die Umstrittenheit der (genauen)Bedeutung von
Heteronormativität selbst unsichtbar gemacht. Konflikte und Auseinandersetzungen
um das Konzept der Heteronormativität beziehen und bezogen sich in der Ver-
gangenheit u. a. darauf, wie das Verhältnis bzw. die Verwobenheit von Geschlecht
und Sexualität im Detail erfasst und beschrieben werden kann, welche analytischen
Konsequenzen sich aus einer stärkeren Miteinbeziehung von feministischen Analysen
zur Geschlechterungleichheit und zu gesellschaftlich instituierten Geschlechter-
differenzen ergeben und inwiefern sexuelle und geschlechtliche Normen stets im
Kontext anderer Herrschaftsverhältnisse und daher nur in ihrer Interdependenz
mit u. a. rassialisierten, nationalistischen und Klassen- und Körperdiskursen zu
analysieren sind (vgl. Hartmann und Klesse 2007; Erel et al. 2007). D. h. die Ver-
wendung und die konzeptionellen methodologischen Implikationen des Begriffs
Heteronormativität waren und sind folglich selbst Gegenstand politischer und
theoretischer Auseinandersetzungen, weshalb es auch nicht eine ‚einzige‘ oder
‚wirkliche‘ Definition des Konzepts geben kann oder soll. Im Gegenteil kann und
soll das Konzept der Heteronormativität selbst als dynamisch betrachtet werden,
das auch gerade durch unterschiedliche Interventionen und Formen der Kritik
seine politische Stärke und Analysekraft gewinnt. ´
Der folgende Beitrag soll dementsprechend einen ersten Einblick in die komplexe
Theoriegeschichte der Verwendung und Deutung des Begriffs Heteronormativität
geben und die vielfältigen, oftmals auch widerstreitenden, Genealogien und Rezep-
tionslinien aufzeigen, die seine Ausgestaltung und seinen Einsatz geprägt haben.
Gleichzeitig intendiere ich mit diesem Beitrag jedoch keineswegs eine deskriptive
Wiedergabe dieser vielfältigen Geschichte(n) rund um Heteronormativität, sondern
ich verstehe meine Überlegungen selbst als eine Form der kritischen Intervention.

3 Vgl. hierzu etwa den Wikipediaeintrag zu Heteronormativität, auf: http://de.wikipedia.


org/wiki/Heteronormativit%C3%A4t
Vielfalt ist nicht genug! 27

Denn mein Beitrag zielt vor allem auch auf eine Stärkung jener Traditionen ab, die
Heteronormativität als herrschafts- und machtkritisches Konzept zur Analyse von
und Intervention in gesellschaftliche Ungleichheiten deuten und einsetzen und damit
auch stärker innerhalb feministischer, queerer und rassismuskritischer Politiken
verorten. Insofern geht es mir im folgenden Beitrag auch um eine Einmischung
in jene sexualitäts- und genderpolitischen Diskurse und Strategien, welche unter
dem Label der ‚Vielfalt‘ und ‚Diversity‘ oftmals für eine höchste, ‚befriedete‘ und/
oder entpolitsierende Version von Heteronormativität als Legitimierung eines
‚toleranzpluralistischen Integrationskonzepts‘ eintreten.

1 Heteronormativität als politische und theoretische


Perspektivenverschiebung:
Eine erste analytische Annäherung

1.1 Fear of a queer Planet:


Heteronormativität als Aufdeckung und Kritik eines
heterosexuellen Normalisierungsregimes

Der US-amerikanische Sozial- und Literaturwissenschaftler Michael Warner (1991)


verwendete den Begriff der „Heteronormativität“ erstmals 1991 im Rahmen seiner
Einleitung „Fear of a Queer Planet“ für die gleichnamige Schwerpunktnummer
der sozialkritischen Zeitschrift „Social Text“. Darin plädierte er für eine stärkere
gesellschafts- und machtheoretische Fundierung von lesbischen/schwulen/queeren
Analysen und einer damit einhergehenden, methodologischen Perspektivenver-
schiebung: Im Rahmen queerer Theoretisierungen sollen stärker die Wirkungs- und
Funktionsweisen sowie die alltäglichen, vermeintlich ‚unsichtbaren‘ Manifestationen
von hetero-/sexuellen Normen bzw. von Heterosexualität als unhinterfragte Norma-
lität innerhalb sozialer Strukturen und Institutionen in den Blick genommen werden
(ebd.). Warner ging es also um eine radikale und „aggressive“ Verallgemeinerung
der Kritik, in der nicht nur die Effekte eines homophoben Gesellschaftssystems
auf die (vermeintliche) ‚Minderheit‘ der LGBTIQs (z. B. homophobe Diskrimi-
nierungen und Gewalt von Queers),untersucht und benannt werden, sondern er
argumentierte für eine Analyse und grundlegende Kritik der ‚Hetero-Kultur‘ als
(vermeintlich) ‚normale‘ Grundform der sozialen Organisation von Gesellschaft
selbst (ebd., S. 16). Heteronormativität war für ihn folglich – u. a. in Rekurs auf
28 Christine M. Klapeer

die einflussreichen sexualitätstheoretischen Arbeiten von Michel Foucault4 oder


Gayle Rubin5 – ein sexuelles Ordnungssystem, das keineswegs nur ‚das Sexuelle‘
im engeren Sinn reguliert, sondern in beinahe alle gesellschaftlichen Praxen und
Institutionen – wie etwa der Familie, dem Staat, die Ökonomie – eingeschrieben
sei und durch diese wiederum reproduziert werde. Unsere Gesellschaft produziere
und basiere folglich, so Warner (1993) in einer späteren, erweiterten Fassung seines
Beitrages „Fear of a Queer Planet“ auf der „bizarren Fantasievorstellung“, dass zwei
unverkennbar vergeschlechtlichte Individuen, welche als monogames heterosexuelles
Paar miteinander verbunden sind, die Grundlage unserer gesamten ‚Kultur‘ oder
‚Zivilisation‘ bilden (Warner 1993, S. xxiii; eigene Übers.). „Humanity“ werde also
gleichbedeutend mit „heterosexuality“ verwendet oder gedacht (ebd.).
Warner (1993, S. xxviiff.) analysierte dieses heteronormative Ordnungssystem
demnach auch als ein „regime of the normal“, da es die Parameter für Definitionen
des ‚Normalen‘ (u. a. des Verhaltens, Tuns, Sprechens) vorgibt. Nicht zuletzt spricht
Nina Degele (2008, S. 89) im Zusammenhang mit Heteronormativität daher auch von
„verinnerlichte[r] Gesellschaft“, da die vermeintliche ‚Natürlichkeit‘ von Heterosexu-
alität und Zweigeschlechtlichkeit als „unhinterfragter gesellschaftlicher Tatbestand“
gelte, welcher sich selbst weder benennen muss oder gar „legitmierungsbedürftig“
wäre. Keine Person käme beispielsweise auf die Idee, sich selbst als ‚heterosexuell‘
zu ‚outen‘; auch im Zusammenhang mit Filmen, Zeitschriften oder Institutionen,
welche Heterosexualität als die einzige legitime Lebens- und Begehrensform prä-
sentieren, wird keineswegs von heterosexuellen Medien, Filmen oder Organisati-
onen gesprochen. Auch die „Alltagstheorie der Zweigeschlechtlichkeit“ gehört zu
„den fraglosen und nicht weiter begründungsbedürftigen Selbstverständlichkeiten

4 Die machtanalytischen und diskurstheoretischen Arbeiten des französischen Philoso-


phen Michel Foucaults – insbesondere seine sexualitätstheoretischen Überlegungen in
„Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1“ (1983 [1977]) – bilden eine zentrale
theoretische Grundlage für das Konzept der Heteronormativität. Foucault zeigte auf,
inwieweit Homo- und Heterosexualität als spezifische zeit- und kontextgebundene
‚Diskursprodukte‘ interpretiert werden können und daher keineswegs ‚vorsozial‘ oder
‚natürlich‘ sind. Gesellschaftliche (Sexualitäts-)Diskurse bedingen daher umgekehrt
auch die ‚Lebbarkeit‘ und ‚Denkbarkeit‘ bestimmter sexueller Identifizierungen und
Positionen; sie normalisieren oder erklären spezifische (sexuelle) Positionen zur ‚Wahr-
heit‘ oder zur ‚Natur‘, während andere als ‚Perversionen‘ zur Abgrenzung und Definition
sexueller ‚Normalität‘ dienen (ebd.)
5 Gayle S. Rubin (1999 [1984]) zeigte in ihrem bekannten Aufsatz „Thinking Sex: Notes for
a Radical Theoryofthe Politics of Sexuality“, inwiefern unsere Gesellschaften von einer
„sexual hierarchy“ durchzogen werden und Sexualität derart als zentrale gesellschaftliche
Stratifikationskategorie analysiert werden muss. Demnach werden bestimmte Formen
der Sexualität, der sexuellen Praxis oder Lebensorganisation privilegiert und als ‚gut‘
und ‚normal‘ definiert, während andere Formen stigmatisiert oder diskriminiert werden.
Vielfalt ist nicht genug! 29

unseres Alltagswissens“ (Wetterer 2004, S. 122): Die „Geschlechterzugehörigkeit


von Personen und die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen [wird] als natürliche
Vorgaben sozialen Handelns und sozialer Differenzierung“ betrachtet (ebd.).
Heteronormativität kann derart als „organisiertes und organisierendes Wahr-
nehmungs-, Handlungs- und Denkschema“ (Degele 2008, S. 89) analysiert werden,
das sowohl individuelle Handlungsweisen durchzieht als auch über gesellschaft-
liche Strukturen institutionalisiert und reproduziert wird. Heteronormativität
wirkt daher als „strukturierendes Prinzip“ (Ziegler 2008, S. 13) multidimensional
– auf der unmittelbaren Ebene der (persönlichen) geschlechtlichen und sexuellen
Identifizierungen und Subjektivierung, als apriorische Kategorie im (alltäglichen)
Handeln, Sprechen und der Interpretation von Welt, als auch über politische und/
oder soziale Institutionen und Praxen, welche auf den ersten Blick oft nicht unmit-
telbar als sexuell oder geschlechtsspezifisch strukturiert/strukturierend erscheinen
(z. B. die Ehe, sozialrechtliche Maßnahmen und Regeln, wissenschaftliche Theorien,
der Arbeitsmarkt, Ausbildungsinstitutionen, Erziehungspraxen u. a. in der Schule)
(vgl. Wagenknecht 2007). Die Schwierigkeit einer heteronormativitätskritischen
Analyse liegt folglich insbesondere auch darin, dass es diesen Normen zum einen
„erlaubt wurde“, sich unter bestimmten „institutionellen Pseudonymen […] selbst
zu maskieren“ und/oder auch einfach zur „Natur“ erklärt wurden (Sedgwick 1993,
S. 10f.).

1.2 Jenseits von Minderheitenlogiken:


Heteronormativitätskritik als folgenreiche
Fokusverschiebung

Bedeutend an Warners Einführung und Verwendung des Begriffs der Heteronor-


mativität ist insbesondere auch die damit verbundene Kritik und Absage an ein
liberales, toleranzpluralistisches Modell von ‚Homosexualität‘ als „‚additional
choice‘, one that entails no challenge to the heterosexual order“ (Warner 1991,S.
5). Ihm ging es derart auch um eine Zurückweisung einer „minoritizing logic
of toleration“, also einer bloßen Anerkennung von ‚Homosexualität‘ als zu tole-
rierende, bestenfalls ‚legitime‘ Form der ‚sexuellen Ausrichtung‘ – eine Kritik,
welche mittlerweile gleichsam als zentraler Kern queerer Theorien und Politiken
gelten kann (ebd., S. 16; vgl. Klapeer 2007). Im Rahmen einer solchen queeren
bzw. heteronormativitätskritischen Perspektive wird in Rekurs auf feministische
und poststrukturalistische Theorien sowie auf queere politische Bewegungen eine
folgenreiche Fokusverschiebung vorgenommen: Es geht nun keineswegs mehr um
Möglichkeiten oder Strategien der/zur ‚Toleranz‘ oder auch ‚Anerkennung‘ von
30 Christine M. Klapeer

LGBTIQs in einer weiterhin heteronormativ strukturierten Gesellschaft, sondern es


werden jene Praktiken, Systeme, Institutionen und Diskurse in den Blick genommen,
welche (sexuelle und geschlechtliche) ‚Devianz‘ erst produzieren (oder historisch
produziert haben), welche Heterosexualität und zweigeschlechtliche Normen
einsetzen und derart bestimmte Existenzen und Lebensweisen privilegieren und
fördern, während Diskriminierung und Gewalt gegen LGBTIQs legitimiert oder
nur bedingt sanktioniert wird (z. B. durch mangelhafte Anti-Diskriminierungs-
gesetze; durch die mangelnde Einschreibung von sexueller und geschlechtlicher
Diversität in Schulcurriculas). Das „regime oft he normal“ (Warner 1991, S. 16),
seine „Regulierungs- und Normalisierungsverfahren“ (Hark 2004, S. 109) werden
in dieser Perspektive also selbst zum erklärungsbedürftigen Phänomen gemacht. Sie
werden ent-selbstverständlicht und ent-naturalisiert, da die Annahme einer ‚natür-
lichen‘ Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität in den Bereich des ‚Politischen‘
zurückgeführt wird. D. h. sie werden als Effekte und Produkte gesellschaftlicher
Praxen, Denkweisen und politischer Institutionen und Prozesse dechiffriert und
gelten nicht mehr einfach als unhinterfragte, ‚natürliche‘ gesellschaftliche Tatsachen.
Insofern geht es im Rahmen einer heteronormativitätskritischen Analyse auch
darum, die Dichotomie der Hetero-/ Homosexualität sowie die Normalisierung
von Zweigeschlechtlichkeit selbst als konstituierendes und zentrales Moment der
kapitalistischen und auf Kolonialismus basierenden ‚Moderne‘ und seiner (Un-
gleichheits-)Systemen zu analysieren (Warner 1991, S. 7f.). Für Michael Warner
(1991; 1993) sowie für viele andere queere Aktivist*innen und Theoretiker*innen
war/ist die Verwendung des Begriff der Heteronormativität folglich immer auch
mit einer subversiv-widerständigen Intention verbunden: Es geht keineswegs ‚nur‘
um eine Analyse und Aufdeckung von heteronormativen Praktiken und Diskursen,
sondern um eine Destabilisierung, Kritik und Intervention in dieses Normalisie-
rungsregime: „The task of queer social theory in this context as in so many others
must be to confront the default heteronormativity of modern culture with ist worst
nightmare, a queer planet“ (Warner 1991, S. 16).
Vielfalt ist nicht genug! 31

2 Heteronormativität im Widerstreit:
Welche Heteronormen? Welche theoretischen
Prämissen? Welcher analytische Fokus?

2.1 Zur Bedeutung von Geschlechterungleichheit in der


Organisation von Heteronormativität: Feministische
Genealogien und/als queere Leerstellen:

Auch wenn Michael Warner in seiner Initialschrift „Fear of a queer Planet“ (War-
ner 1991; 1993) einige feministische Arbeiten rezipiert sowie auf die Bedeutung
des Zusammenspiels von Geschlecht und Sexualität für das Funktionieren eines
heteronormativen Ordnungssystems hingewiesen hatte, waren seine Überlegungen
durch eine unterkomplexe und sehr partielle Rezeption bereits existierender les-
bisch-/feministischer und geschlechterkritischer Analysen zu den Wirkungs- und
Funktionsweisen von Heterosexualität geprägt (vgl. Jackson 1999; 2006). Auch
innerhalb aktueller heteronormativitätskritischer Diskurstraditionen kann immer
wieder eine derartige Marginalisierung des umfangreichen feministischen und
lesbisch-feministischen ‚Archivs‘ beobachtet werden, das gleichsam ‚vollgestopft‘ ist
mit Analysen zum Verhältnis von (Hetero-)Sexualität und ungleichen Geschlech-
terverhältnissen. Feministisch-lesbische Theoretikerinnen wie Adrienne Rich (1989
[1980]), Audre Lorde (1984), oder Monique Wittig (1992b [1981]; 1992c [1982]; 1992d
[1989]) legten etwa bereits in den 1970er und 1980er Jahren jene generalisierte Kritik
an einer ‚Hetero-Kultur‘ vor, wie sie Michael Warner in seinem Beitrag von 1991
intendierte. Sie zeigten auf, dass das System der Geschlechterungleichheit und die
damit verbundene, geschlechtliche Arbeitsteilung sowie Formen der strukturellen
und personellen Gewalt gegen und Diskriminierung von Frauen untrennbar mit
einer institutionalisierten Form der Heterosexualität bzw. auch mit Rassismus
und Klassenungleichheit verbunden sei bzw. durch diese wiederum immer neu
eingesetzt und legitimiert werde.
Adrienne Rich (1989 [1980]) sprach in ihrem bekannten Aufsatz „Zwangshe-
terosexualität und lesbische Existenz“ bereits von der politischen „Institution He-
terosexualität als einem der Brückenköpfe der Männerherrschaft“ welche „auf alle
[…] Bereiche“ wie u. a. auf „Mutterschaft, geschlechtsspezifische Rollenverteilung,
Beziehungen und gesellschaftliche Vorschriften für Frauen“ einwirke und gleichzeitig
auch den „Erfordernissen des Industriekapitalismus“ entgegenkäme (Rich 1989
[1980], S. 245f., auch S. 250f.). „Zwangsheterosexualität“ bedeutet daher nach Rich
folglich, dass jede weibliche Person nicht nur gezwungen werde „heterosexuell“ zu
sein, sondern „eine heterosexuelle Frau zu sein: sie muß sich entsprechend anziehen
und die von einer ‚richtigen‘ Frau erwarteten feminine, ehrerbietige Rolle spielen“
32 Christine M. Klapeer

(ebd., S. 257; Hervorh. i. Org.). Mit dieser Analyse zeigte Rich daher bereits die
Interdependenz von ungleichen Geschlechterverhältnissen und einer Norm bzw.
einem Zwang zur Heterosexualität auf. Für sie war Heterosexualität daher auch
eine „Ideologie“ und ein „alles durchdringende[s] Machtgefüge“, das von der patri-
archalen Organisation von Gesellschaften nicht zu trennen sei (ebd., S. 251; S. 254).
Für Rich ging es daher – analog zu Michael Warners Forderung – ebenfalls nicht
um eine Anerkennung einer „lesbischen Existenz“ als andere „sexuelle Vorliebe“
einer vermeintlichen Minderheit, sondern um eine vollständige Zerstörung dieser
„aufgezwungene[n], inszenierte[n], organisierte[n], von Propaganda gestützte[n]
und mit Gewalt aufrechterhaltene[n] Form der Sexualität“ (ebd.,S. 263). Rich
intendierte daher die Veränderung der „sozialen Beziehungen der Geschlechter“,
um alle Frauen vom „Zwang zur Heterosexualität“ und der dadurch gestützten
Geschlechterungleichheit und sexuellen Verobjektivierung zu befreien (ebd.).
In einer queeren Rezeption des Konzepts von Heteronormativität gerät jedoch
oftmals genau dieses unmittelbare Zusammenspiel von Geschlechterhierarchien
und/als Heteronormativität aus dem Blick, da wie etwa die feministisch-queere
Theoretikerin Stevi Jackson (2006) betont, der Fokus meist vorwiegend auf einer
Kritik und Analyse der dichotomen und naturalisierenden Logik von Hetero-/
Homosexualität und dem System der Zweigeschlechtlichkeit liege. Auch wenn für
Jackson (1999, S. 161) frühe lesbisch-feministische und queere Arbeiten von der
gemeinsamen Intention ausgehen, dass die „Unvermeidbarkeit und Natürlichkeit
und Normativität von Heterosexualität“ in Frage zu stellen und derart auch das
problematische Verhältnis der Homo-/Hetero-Dichotomie mit der Idee einer
Geschlechterbinarität zu kritisieren sei, würden queere Analysen jedoch oftmals
„Gender Hierachien“ und das System „männlicher Dominanz“ nur bedingt
angreifen. Aber, so Jackson, „what is fundamental to heterosexuality, […] what
sustains it as an identity and an institution […] is gender hierarchy. Its ‚inside‘
workings are not simply about guarding against the homosexual other, but about
maintaining male domination“ (ebd., S. 174). Jackson (1999) stellt daher auch dem
Konzept der Heteronormativität den Begriff des „Heteropatriarchats“ zur Seite,
um damit – ähnlich wie in dem früheren lesbisch-feministischen Konzept des
„Heterosexismus“ − die Verwobenheit von heteronormativen Geschlechter- und
Sexualitätskonzepten mit einer androzentrischen bzw. patriarchalen Organisation
von Gesellschaft entlang der Dichotomie privat/ politisch zu verbinden. Denn
es gehe ja auch darum zu zeigen, dass (‚moderne‘) Vorstellungen von Sexualität
immer vergeschlechtlicht sind bzw. Sexualität(n) und jegliche sexuellen Identi-
fizierungen6 ohne Referenz auf die Geschlechterdifferenz nicht gedacht werden

6 Sowohl Hetero- als auch Homosexualität


Vielfalt ist nicht genug! 33

können (Jackson 2006), bzw. dass auch umgekehrt, wie etwa Chrys Ingraham
(1994, S. 275) betont, Geschlecht/er vorstellungen als „heterogender“ dechiffriert
werden müssen.
In diesem Kontext wäre/ist es folglich auch besonders fruchtbar, aktuelle
Überlegungen zur Heteronormativität von Gesellschaft verstärkt mit jenen his-
torischen feministischen Arbeiten zu verbinden, welche sich mit der spezifischen
Genese von Zweigeschlechtlichkeit und der Herausbildung von ‚modernen‘, polaren
Geschlechtscharakteren im Kontext europäischer, bürgerlich-kapitalistischer Na-
tionalstaaten beschäftigt haben (vgl. Honegger 1991; Hausen 2001 [1976]).Claudia
Honegger (1991) und Karin Hausen (2001 [1976]) zeigen in ihren historischen
Untersuchungen auf, inwieweit sich Ende des 18. Jahrhunderts jene „spezifisch
neue Qualität“ der verwissenschaftlichten Geschlechterunterscheidung etablierte,
in der von bestimmten Körpermerkmalen auf bestimmte „Geschlechtscharaktere“
und Eigenschaften geschlossen und somit „Wesensmerkmale in das Innere des
Menschen“ verlagert wurden (Hausen 2001 [1976], 166). Und gerade diese physio-
logische und psychologische Ontologisierung der Geschlechterverhältnisse und
von Geschlechterungleichheit steht in einem untrennbaren Wechselverhältnis mit
der Konstruktion von ‚sexueller Devianz‘ als Kennzeichnung von Pathologisierung
und letztlich Systematisierung der Abweichung von diesem bipolaren Modell der
Geschlechterungleichheit (vgl. Honegger 1991; Hacker 1987). Stevi Jackson(1999:
2006) plädiert folglich dafür, dass heteronormativitätskritische Analysen sich
vermehrt mit konkreten Prozessen und Manifestationen eines „doing[s] of hetero-
sexuality“ und deren Bedeutung für die Organisierung und Aufrechterhaltung von
Geschlechterungleichheit beschäftigen sollte, da Heterosexualität selbst – etwa im
Gegensatz zu früheren lesbisch-feministischen Arbeiten – ein eher marginalisiertes
Feld innerhalb queerer Forschungen darstelle.

2.2 Vom Zwang, ein (hetero-)sexuell und geschlechtlich


bestimmtes Subjekt zu werden: Das einflussreiche
Modell der „heterosexuellen Matrix“ von Judith Butler

In einer kritische Rekonstruktion der Theoriegeschichte des Konzepts der Hete-


ronormativität geht es freilich auch um eine Benennung und Dechiffrierung von
Differenzen zwischen einzelnen Herangehensweisen und Deutungen. Demnach
schließt das, von der bekannten US-amerikanischen Philosophin Judith Butler
(1991) entwickelte und häufig als theoretische Fundierung von Heteronormativität
gehandelte Modell einer „heterosexuellen Matrix“ zwar an frühere lesbisch-femi-
nistische Überlegungen von Heterosexualität an, gleichzeitig stellt sie jedoch einige
34 Christine M. Klapeer

dieser Annahmen fundamental in Frage: Auch wenn sich Butler selbst innerhalb
eines feministischen Theoriekontextes positioniert, folgt sie in ihrer Analyse des
Verhältnisses von Geschlechter- und sexuellen Normen den methodologischen
Prämissen von Gayle Rubin (1999 [1984]). Diese argumentierte in ihrem, für die
queere Theoriebildung prägenden, Aufsatz „Thinking Sex“ dafür, dass feministische
Theorien nicht den geeigneten methodologischen und theoretischen Rahmen für
die Analyse der strukturierenden und stratifizierenden Bedeutung von Sexualität
darstellen, da (Hetero-)Sexualität darin nicht als eigenständige Kategorie, sondern
quasi als ‚Begleiterscheinung‘ eines patriarchalen Gesellschaftssystems gefasst
wird. Rubin trat dafür ein, Sexualität und Geschlecht zwar in ihrer Verwobenheit
zu untersuchen, aber als distinkte Kategorien zu fassen (ebd.). Diesen Prämissen
folgend, hat sich Judith Butlers (1991) Modell der „heterosexuellen Matrix“ innerhalb
der Queer/Gender Studies mittlerweile als breit rezipiertes Referenzmodell für die
Erklärung und theoretische Untermauerung des Konzepts der Heteronormativität
etabliert. Auch wenn Judith Butler (1991) in „Das Unbehagen der Geschlechter“
selbst nicht den Begriff der Heteronormativität verwendete, kommt mittlerweile
keine heteronormativitätskritische Analyse ohne Verweis auf Butlers Arbeiten aus;
frühere oder andere (feministische) Herangehensweisen werden/wurden in diesem
Kontext nur mehr partiell und äußerst unterkomplex weitergeführt oder rezipiert
– auch wenn sie, wie etwa die Arbeiten der französischen Sprachtheoretikerin
Monique Wittig (1992a) –, ebenfalls Geschlecht und Sexualität als eigenständige
Analysekategorien gefasst und äußerst elaborierte Analysen vorgelegt haben.
Gleichzeitig kommt Judith Butlers Modell der „heterosexuellen Matrix“ eine hohe
analytischen Erklärungskraft und politische Schärfe zu mit welcher Kritiken an
der vermeintlichen ‚Natürlichkeit‘ von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität
pointiert formuliert werden können.
In ihrem 1991 (auf Deutsch7) erschienenen Buch „Das Unbehagen der Geschlech-
ter“ versuchte Butler die Bedeutung von Sexualität/Begehren für die Konstituierung
und Normierung einer hierarchisch organisierten Geschlechterdifferenz nochmals
neu und anders aufzuschlüsseln und analytisch zu entwirren. Für die Analyse der
spezifischen Verschränkung von Begehren/Sexualität und Geschlecht innerhalb eines
hegemonialen (‚westlichen‘) Geschlechterdiskurses führte Butler (1991) den Begriff
der „heterosexuellen Matrix“ ein (Butler 1991). Butler identifiziert innerhalb dieses
Diskurses ein „hegemoniales diskursives Modell der Geschlechter-Intelligibilität“,
das spezifische Regeln für die Formierung von kulturell ‚sinnvollen‘, also intelligib-
len Geschlecht/skörpern vorgibt (ebd.,S. 119f.). Die „heterosexuelle Matrix“ steht

7 Das Original erschien bereits 1990 unter dem Titel „Gender Trouble. Feminism and the
Subversion of Identity“.
Vielfalt ist nicht genug! 35

nach Butler also für ein „Raster der kulturellen Intelligibilität“, welche Folgendes
verlangt: Damit ein (Geschlechts-)Körper in unseren Gesellschaften als „sinnvoll“
und anerkannt erachtet wird, muss er ein stabiles Körpergeschlecht (sex) haben, das
durch ein entsprechendes sozial-kulturelles Geschlecht bzw. die entsprechende Ge-
schlechtsidentität (gender) sowie „durch die zwanghafte Praxis der Heterosexualität“
in einer hierarchischen und gegensätzlichen Form zum Ausdruck gebracht wird
(ebd. S. 220). D. h. ‚Weiblichkeit‘ bzw. ‚Frau-Sein‘ ebenso wie ‚Männlichkeit‘ bzw.
Mann-Sein‘ konstituiert sich in Butlers Modell (erst) durch ein gegengeschlechtliches
Begehren, womit das sozio-kulturelle Geschlecht/die Geschlechtsidentität (gender),
das Körpergeschlecht (sex) und Begehren/Sexualität (desire) in einer Art „Matrix“
miteinander verbunden werden und sich jeweils voneinander ableiten lassen (müs-
sen). Konkret bedeutet dies, dass die „heterosexuelle Fixierung des Begehrens […]
die Produktion von diskreten, asymmetrischen Gegensätzen zwischen ‚weiblich‘
und ‚männlich‘“ instituiert und produziert, welche dann als ‚natürliche‘ Folge
oder Ausdruck des männlichen oder weiblichen Geschlechtskörpers erscheinen
(Butler 1991,S. 38). Nur wenn ein Körper diesen Bedingungen der „Kohärenz“ und
„Kontinuität“ entspricht – sex, gender und Begehren sich demnach voneinander
ab/herleiten lassen – wird er als intelligibles Geschlecht ‚anerkannt‘.
Diese normierende und regulierende „heterosexuelle Matrix“ kann nach Butler
auch als eine Form der „normativen Gewalt“ analysiert werden, da sie spezifische
Regeln der/zur Vergeschlechtlichung und des (sexuellen) Begehrens vorgibt und
dabei alles von diesen Regeln Abweichende ausschließt, verleugnet und/oder zu
verworfenen Wesen – sogenannten „Abjekten“ – macht (Butler 1995, S. 23). Die
Konstituierung sogenannter ‚intelligibler‘, also ‚sinnhafter‘ (Geschlechter-)Subjekte
wird also erst „durch die Kraft des Ausschlusses und des Verwerflichmachens“ (ebd.)
von solchen Existenzen oder Begehrensformen ermöglicht, welche aus dem Raster
kultureller Intelligibilität ‚herausfallen‘, darin nicht ‚denkbar‘ sind und/oder diesem
nicht entsprechen können oder wollen. Butlers politische und theoretische Intention
bei der Analyse des Zwangscharakters einer heterosexuellen Geschlechterbinarität
liegt also darin, den konstitutiven Charakter von nicht-normativen Geschlechtern/
Sexualitäten für die Aufrechterhaltung und Re-Produktion des gewaltvollen Sys-
tems der Zwangsheterosexualität aufzuzeigen. Denn derart wird erst sichtbar, dass
beispielsweise die „Ablehnung (Verwerfung) […] von Homosexualität im Rahmen
einer eindeutigen und fixen heterosexuellen Identität […] den paradoxen Effekt
[hat], dass das was man nicht ist, genau das charakterisiert, was man ist“ (Villa
2003, 52f.). Durch die normative Gewalt des epistemischen Regimes der Hetero-
sexualität wird also „nicht bloß“ nur der „Bereich intelligibler Körper“ erzeugt,
sondern auch ein „Bereich der undenkbaren, verworfenen, nicht-lebbaren Körper“
(Butler 1995, S. 16) hergestellt, welche das „konstitutive Außen“ der heterosexuellen
36 Christine M. Klapeer

Matrix bilden (ebd., S. 23). Ausgeschlossen, verworfen und/oder verleugnet werden


also Existenzen und/oder Begehrensformen, welche nicht in „Übereinstimmung
mit wiedererkennbaren Mustern der Geschlechter-Intelligibilität geschlechtlich
bestimmt“ sind bzw. werden können (Butler 1991, S- 37). Das sind beispielsweise
Existenzen, bei welchen sich das sozio-kulturelle Geschlecht/die Geschlechtsidentität
nicht aus dem Körpergeschlecht herleiten lässt und die „Praktiken des Begehrens“
weder aus dem Körpergeschlecht noch aus dem sozio-kulturellen Geschlecht/ der
Geschlechtsidentität „‚folgen‘“ (Butler 1991,S. 38f.).
Der Zwang innerhalb unserer Gesellschaften ein bestimmtes, ein entlang hie-
rarchisch-heterosexueller Regeln definiertes Geschlecht sein zu müssen, wird bei
Butler folglich als verletzende und ausschließende Form der Gewalt identifiziert.
Denn die Normen für ein ‚intelligibles Geschlecht‘ sind nicht nur ‚einfach‘ regula-
torisch, sondern deren Einhaltung wird zu einer „Überlebensstrategie“, da ansons-
ten „Strafmaßnahmen“ und Gewalt drohen (Butler 1991, S. 213). (Geschlechter-)
Normen definieren daher einerseits, wer als legitimes Subjekt qualifiziert werden
kann, andererseits bringen diese aber auch erst gewisse legitime Subjekte hervor,
indem sie andere (geschlechtliche/sexuelle) Existenzen de-legitimieren oder als
mögliche Subjektpositionen unmöglich machen (Butler 2009).
Wenn Butler also davon ausgeht, dass Geschlecht „im Dienste der Konsolidierung
des heterosexuellen Imperativs“ materialisiert wird bzw. von den Individuen selbst
durch Handlungen, Gesten und Denkweisen performativ hergestellt und reprodu-
ziert wird (Butler 1995,S. 21f.), bricht sie mit den (meisten) früheren lesbisch-femi-
nistischen Analysen, welche den Zwang zur Heterosexualität primär als Ausdruck
eines patriarchalen (ungleichen) Geschlechterverhältnisses und Frauen somit vor
allem als ‚Opfer‘ dieses Regimes interpretiert haben. Für Butler sind jedoch die
Geschlechterdifferenz und die Idee einer unhintergehbaren Zweigeschlechtlichkeit
gleichsam der Effekt und die Bedingung eines heterosexuellen Gesellschaftssys-
tems. Denn ohne die Norm der/ und den Zwang zur Heterosexualität verliert die
Zweigeschlechtlichkeit seine zentrale Funktion. Die zentrale analytische Bedeutung
von Judith Butlers Modell einer „heterosexuellen Matrix“ liegt somit auch darin,
das der Zwang zur Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit den Subjekten
nicht mehr von ‚außen‘ – z. B. in Form patriarchaler Gewalt – ‚übergestülpt‘ wird,
sondern, dass sie selbst daran beteiligt sind, ein geschlechtlich und (hetero-)sexu-
ell bestimmtes, anerkanntes Subjekt zu werden und damit diese Normen immer
wieder aktualisieren. Insofern lenkt Butler den Blick auch nochmals stärker auf
die alltägliche (Mit-)Konstruktion und Aufrechterhaltung eines Systems der Hete-
ronormativität durch die Subjekte selbst.
Derart wird auch deutlich, dass Heteronormativität keineswegs nur LGBTIQs
bzw. jene betrifft, die aus der Matrix ‚herausfallen‘, sondern sich jede Person ir-
Vielfalt ist nicht genug! 37

gendwie in diesem System verhalten und zu diesen Normen positionieren muss.


Umgekehrt weisen jedoch Judith Butlers Überlegungen auch auf die Veränderbarkeit
von heterosexuellen Geschlechternormen hin, betont sie doch immer wieder, dass
Geschlechtereindeutigkeit und Heterosexualität selbst ‚Phantasmen‘ und ‚Ideale‘
seien, welche letztlich von niemanden erreicht werden können, aber (viele) Men-
schen gerade aufgrund dieser Fiktionalität, permanent damit beschäftigt sind,
diesem Ideal zu entsprechen. Da die heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit aber
eben nur als ‚Phantasma‘ und ‚Ideal‘ existiert, ist sie somit immer schon gefährdet
und instabil. Politisch und pädagogisch wertvoll ist daher Butlers Fokus auf immer
schon vorhandene ‚Instabilitäten‘, ‚Fehler‘ und ‚Irritationen‘ als Nebenprodukte des
Konstruktionscharakters der „heterosexuellen Matrix“. Sie zeigt auf, dass bestimmte
Körper-, Geschlechter- und Begehrenspraxen, in denen die Eindeutigkeit von Ge-
schlecht und sexueller Identität nicht (mehr) gegeben ist oder bewusst durchbrochen
wird die „Realität von Geschlecht selbst in die Krise“ bringen kann (Butler 1999, S.
xxiii; eigene Übersetzung). So würden etwa „kulturelle Praktiken der Travestie, des
Kleidertausches“ sowie die „sexuelle Stilisierung der butch/femme-Identitäten […]
Vorstellungen von einer ursprünglichen oder primär geschlechtlich bestimmten
Identität“ parodieren und damit auch gleichzeitig unterlaufen, da sie (im besten
Falle) die „Imitationsstruktur“ von Geschlecht offenbaren und derart zeigen, dass
Geschlecht kein „Original“ besitzt (Butler 1991,S. 201ff.). Denn was passiert, so
fragt Butler, „wenn ein feminisierter heterosexueller Mann eine feminisierte Frau
möchte, damit sie ‚zusammen Mädchen‘ sein können […] oder wenn Butch mit
Butch eine spezielle lesbische Ausprägung männlicher Homosexualität hervor-
bringt?“ (Butler 2009, S. 131).

2.3 Heteronormativität steht nicht allein:


Zur Notwendigkeit einer intersektionell
rassismuskritischen Perspektive

Wie bereits am Beginn des Beitrages angedeutet, wird Heteronormativität oftmals


als Norm der/zur Heterosexualität und als (problematische) Annahme einer ‚bio-
logisch-natürlichen‘ und unveränderlichen Zweigeschlechtlichkeit beschrieben.
Diese Definition marginalisiert jedoch oftmals, dass es bei Heteronormativität eben
keineswegs nur um eine Privilegierung von heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit
gehe, sondern um eine spezifische Form und Organisation von Heterosexualität
und Geschlecht: Vor dem Hintergrund der konstitutiven Bedeutung klassenspe-
zifischer, kolonialer, antisemitischer und rassistischer Gewalt, Ausschlusspraxen
und Denksysteme für die (europäische) ‚Moderne‘ scheint es mir daher als un-
38 Christine M. Klapeer

erlässlich, die mit dem Konzept der Heteronormativität beschriebenen Normen


und Kategorisierungen im Kontext ihrer konstitutiven Verwobenheit mit anderen
ungleichheitsgenerierenden Herrschaftsverhältnissen und Kategorisierungen zu
begreifen. Schwarze und postkoloniale Theoretikerinnen wie u. a. (!) Audre Lorde
(1984), Patricia Hill Collins (2000), Cathy Cohen (1997), María do Mar Castro
Varela und Nikita Dhawan (2005), Anne McClintock (1995) und Ann Laura Stoler
(2002) haben folglich gezeigt, dass ein heteronormatives Gesellschaftssystem eben
nicht nur die Privilegierung von Heterosexualität, sondern die Privilegierung einer
spezifischen weißen, bürgerlichen Heterosexualität zwischen zwei als ‚biologisch‘
different kategorisierten (‚gesunden‘) Körpern impliziert, welche sich nicht nur in
ihrer ‚Erscheinung‘ (‚feminines‘ und ‚maskulines‘ Gender) und ihrem ‚Denken‘ und
‚Handeln‘ grundlegend voneinander unterscheiden, sondern auch innerhalb der
Gesellschaft ungleich positioniert sind und unterschiedliche Tätigkeiten verrichten.
Diese weiße Heteronormativität spiegelt sich beispielsweise in der Diffamierung
von kinderreichen Familien wieder, die nicht als ‚inländisch‘ gelesen werden; in
rassialisierten Diskursen über die ‚Überbevölkerung‘ im ‚Globalen Süden‘, während
die mangelnde ‚Gebärfreudigkeit‘ weißer, insbesondere akademischer Frauen im
Globalen Norden beklagt wird.
Darüber hinaus spielten (hetero-)sexuelle und geschlechtliche Normen auch
in kolonialen Praxen und Diskursen eine konstitutive Rolle. Auf der Basis dieser
Normen wurden strukturelle und physische Gewalt sowie ökonomische und
sexualisierte Formen der Ausbeutung legitimiert und eingesetzt (McClintock
1995; Stoler 2002). Insofern wird auf Basis postkolonialer und dekolonialer The-
orien deutlich, dass Heteronormativität unbedingt in seiner globalhistorischen
Verwobenheit mit der Etablierung rassialisierter, kolonialer Systeme und Diskurse
analysiert werden muss. Anne McClintock (1995) zeigt etwa in ihrem bekannten
Werk „Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest“ in
welcher Weise Kolonien als sogenannte „porno tropics“ für europäische sexuelle
Fantasien und Ängste fungierten: Sexuelle Fantasien ebenso wie Ängste über
sexuelle Abweichungen und/oder Bedrohungen wurden im Zuge der imperialis-
tischen Expansion auf die ‚Tropen‘ projiziert (ebd.). Nicht-europäische Menschen
wurden dementsprechend als sexuell unersättlich, deviant, unkontrollierbar und
irrational konstruiert, die der ‚zivilisatorischen Domestizierung‘ und ‚Disziplinie-
rung‘ bedurften. Ihre Sexualität galt daher stets als ‚gefährlich‘ – entweder weil sie
kannibalische Züge trug, weil sie als unkontrollierbar und abweichend galt (z. B.
homoerotisch) oder weil sie rassistische Grenzziehungen gefährden konnte. Auf-
grund ihrer (vermeintlichen)‚exotischen Andersheit‘ war sie aber umgekehrt auch
‚begehrenswert‘ und gleichzeitig die Bedingung und Voraussetzung, um eine weiße
‚sexuelle Normalität‘ selbst zu konstituieren (ebd. vgl. Castro Varela und Dhawan
Vielfalt ist nicht genug! 39

2005). Rassialisierte Sexualitätskonstruktionen manifestierten sich dann auch u. a.


unmittelbar durch die körperliche Ausbeutung und rassistische Degradierung von
Menschen als ‚ethnopornographische Schauobjekte‘8 sowie im Kontext rassistischer
Gesetzgebungen und Gewalt9.
Gerade für die Analyse aktueller Manifestationen von Heteronormativität gilt
es daher, das Zusammenspiel von Heteronormativität mit u. a. orientalisierenden,
rassistischen und anti-islamischen Diskursen und Praxen immer wieder in den Blick
zu nehmen, werden hier doch (vermeintlich) ‚andere Kulturen‘ in einer paradoxen
Transformation des obigen Diskurses als besonders heteronormativ ‚patriarchal‘
und/oder ‚homophob‘ konstruiert, während sie jedoch gleichsam den Normen
‚weißer‘ bzw. ‚europäischer‘ (‚zivilisierter‘?) Heteronormativität ebenfalls nicht
zu entsprechen zu scheinen (vgl. Puar 2007; Sabsay 2012; Haritaworn et al. 2008).
Gerade aktuelle Diskussionen um sexuelle und geschlechtliche ‚Vielfalt‘ laufen
daher – auch innerhalb der LGBTIQ-Communities – oft Gefahr ,rassialisierende/
rassistische Diskurse auf eine neue Art zu stärken und einzusetzen, wenn Homo-
und Transphobie auf ‚die Anderen‘ (oder deren ‚Religion‘, ‚Kultur‘) projiziert wird
und derart beispielsweise der ‚muslimische Migrant‘ zum homophoben Gewalttäter
par excellence konstruiert wird.

8 Z. B. wurden das Gesäß und die Geschlechtsteile der aus Südafrika kommenden Sara
oder Saartjie Baartman unter dem Titel ‚Hottentot Venus‘ in einer extrem rassistisch-se-
xualisierten Weise ‚ausgestellt‘; nach ihrem Tod wurden ihre Körperteile als sexualisierte
‚Zeichen‘ ‚minderwertiger weiblicher Wildheit‘ im Museum von Paris ‚archiviert‘ (vgl.
Nnaemeka 2005).
9 Z. B. die Konstruktion des ‚Schwarzen Vergewaltigers‘ als Gefahr für weiße Frauen; die
Legitimität von sexualisierter Gewalt an den ‚kolonialisierten‘ Frauen. (vgl. Stoler 2002;
McClintock 1995).
40 Christine M. Klapeer

3 Vielfalt ist (nicht) genug?! Heteronormativitätskritik


als Politisierung und De-Zentrierung von
zweigeschlechtlichen und heterosexuellen
‚Selbstverständlichkeiten‘

I find it depressing that much of what passes as radical these days


does not envisage the end of gender hierarchy or
the collapse of institutionalized heterosexuality,
but simply a multiplying of gender and sexualities or movement between them. […]
But seeking to undo binary divisions by rendering their boundaries more permeable
and adding more categories to them ignore the hierarchical social relations
on which the original binaries were founded.
Stevi Jackson 1999

An das obige Zitat von Stevi Jackson (1999: S. 181) anschließend, möchte ich am Ende
dieses Beitrages für eine stärkere Re-Politisierung des Konzepts der Heteronorma-
tivität plädieren und derart auch für eine stärkere macht- und herrschaftskritische
Einbettung von Analysen und Forderungen nach sexueller und geschlechtlicher
Vielfalt. Dies impliziert für mich zum einen die grundlegende Einsicht, dass Hetero-
und Homosexualität keineswegs als (gleichberechtigte) ‚sexuelle Orientierungen‘
interpretiert werden (können), sondern dass zum einen die konstitutive Funktion
der (‚Erfindung‘ von) Homosexualität für die Aufrechterhaltung eines Systems der
heterosexuellen Geschlechterdifferenz und der Herausbildung/Re-Produktion
vergeschlechtlichter Subjekte in den Blick genommen wird. Dies beinhaltet jedoch
auch die Anerkennung und Benennung der normativen Gewalt, die mit diesen
Normen einhergehen. Wenn Heterosexualität, also gleichsam auf die Definition
eines ‚Abjekts‘ – eines sexuellen, geschlechtlichen ‚Anderen‘ – angewiesen ist, um
überhaupt ‚sinnvoll‘ zu sein, impliziert eine politisierte Heteronormativitätskritik
daher auch die fundamentale Forderung nach der Destabilisierung und letztlich
auch Ent-Privilegisierung heterosexueller Geschlechterverständnisse und -lebens-
weisen − sowohl auf individueller Ebene (Identitäten), als auch auf institutioneller
und struktureller Ebene. Stevi Jacksons (2006; 1999) Forderung nach einer stärkeren
Beschäftigung mit und Intervention in „doing heterosexuality“-Prozesse kann
daher um die Forderung nach (feministischen) Eingriffen in und Kritiken an der
Fortschreibung von „heterogender“-Selbstverständlichkeiten (Ingraham 1994) ergänzt
werden. Eine radikale (Selbst-)Untersuchung und eine bewusste De-Zentrierung
der heterosexuellen Privilegien von Cis-Menschen scheint nämlich nicht unbedingt
zum Kern aktueller ‚Diversitätspolitiken‘ zu gehören.
Vielfalt ist nicht genug! 41

Denn eine bloße ‚Vervielfältigung‘ oder ‚Pluralisierung‘ von sexuellen und


geschlechtlichen Ausdrucksweisen ohne Aushebelung heteronormativer Geschlech-
terverhältnisse bedeutet eben nicht, dass sexuelle und Geschlechterhierarchien in
ihren Grundfesten destabilisiert werden oder dass unsere Gesellschaften weniger
„heterosexualisiert“ (Hartmann und Klesse 2007, S. 9) erfahren werden. ‚Andere‘
Lebensweisen und (sexuelle und geschlechtliche) Identitäten werden dann zwar
nicht mehr vollständig ‚verworfen‘ oder pathologisiert, sondern als (‚andere‘)
‚sexuelle Orientierung‘ integriert. Die heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit wird
aber weiterhin als ‚normale‘ (Lebens-)Form des Zusammenlebens und der Ge-
sellschaftsorganisation aufrecht erhalten, welche die ‚Mehrheit‘ der Bevölkerung
(scheinbar) teilt. Insofern gilt es auch jenen Konzepten einer neoliberalen „projek-
tiven Integration“ (Engel 2008, 52f.) zu widerstehen, welche Differenzen gleichsam
als Ausdruck individualistischer (Selbst-)Verwirklichungspraxen interpretieren,
ohne jedoch Macht- und Herrschaftsverhältnisse selbst in den Blick zu nehmen.
Eine „toleranzpluralistische Offenheit“ gegenüber sexuellen und geschlechtlichen
‚Differenzen‘ kann sich nämlich auch als „ausgesprochen funktional für die Durch-
setzung individualisierter Leistungs- und privatisierter Verantwortungsnormen“
erweisen (ebd., S. 54). Sexueller und geschlechtlicher Pluralismus wird in diesem
Kontext dann quasi zum Pendant eines neoliberalen Marktpluralismus und einer
individuellen Leistungs- und Verantwortungsgesellschaft erklärt. Diskriminierung
und Gewalt erscheinen in dieser Logik dann wiederum entweder als ‚selbstverschul-
dete Ausnahmeerscheinung‘ oder als nicht mehr thematisier- bzw. besprechbar,
da sie in einer vermeintlich ‚toleranten‘ Gesellschaft letztlich nur als ‚individuelle
Probleme‘ erscheinen können (vgl. Hänsch 2003). Eine „suggerierte Gleichheit, das
vermeintliche ‚anything goes‘, wirke demnach „als ‚neuer normativer Imperativ‘,
der Lesben und Schwule auffordert, Kränkungen und Demütigungen zu verleug-
nen“ (ebd., S. 13). Insofern gilt es auch weiterhin im Blick zu behalten, ob wir es,
wie einige politische Diskurse suggerieren, wirklich mit einer Pluralisierung von
sexuellen und geschlechtlichen Normen oder nicht eher mit einer „rhetorischen
Normalisierung“ (Klapeer 2014) sexueller und geschlechtlicher Vielfalt zu tun
haben und sich derart am strukturbildenden Potenzial von Heteronormativität
nur wenig bzw. nur punktuell etwas verändert hat.
Insofern geht es meines Erachtens um die Entwicklung von Diversitätskonzepten,
die eben nicht nur ‚integrationistisch‘ argumentieren und LGBTIQs als ‚hinzu-
zufügende‘, bisher ausgeschlossene ‚Minderheitengruppe‘ fassen, sondern welche
Heteronormativität und die damit verbundenen Annahmen über ‚Normalitäten‘
oder ‚Mehrheiten‘ grundsätzlich verunsichern und in Frage stellen. Dies impliziert
auch die Verabschiedung eines toleranzpluralistischen Konzepts von sexueller
und geschlechtlicher Vielfalt und die Arbeit an und mit der Selbstverständlichkeit
42 Christine M. Klapeer

heteronormativer Normen und Privilegien. Daraus folgt auch die Benennung von
Ungleichheiten in unseren Gesellschaften und eine Auseinandersetzung mit der In-
terdependenz und Abhängigkeit von heteronormativen Denkweisen und Strukturen,
mit rassistischen, klassenspezifischen und körpernormierenden Herrschafts- und
Machtverhältnissen. Die Herausforderung, die sich dabei wohl stellt ist jene, wie
Differenz(en) und Vielfalt jenseits von Hierarchie, Normierung und Ausschluss
und Vereindeutigungswünschen artikuliert werden können.

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Zusammen- und Wechselwirkungen von
Heteronormativität und (antimuslimischem)
Rassismus
Am Beispiel von Mehrfachdiskriminierungen
binationaler schwuler Paare in Berlin
Zülfukar Çetin
Heteronormativität und (antimuslimischer) Rassismus
Einleitung

Dieser Beitrag, basiert auf der Studie „Homophobie und Islamophobie. Intersek-
tionale Diskriminierungen am Beispiel binationaler schwuler Paare1 in Berlin“
(Çetin 2012)2.
In meiner qualitativen Forschung gehe ich der Frage nach, welche Erfahrun-
gen binationale schwule Paare mit Diskriminierungen in ihrer Lebensgeschichte

1 In meiner Studie bevorzuge ich eine sensible Sprache, um diskriminierende Zuschreibungen


und Aussagen zu vermeiden. Aus diesem Anlass möchte ich hier einige Begriffe und
Begriffspaare erläutern, um mögliche Missverständnisse auszuräumen. Der Begriff
binational stellt hier eine juristische Bezeichnung dar, die ich für die Benennung der
Paarkonstellation einiger meiner Interviewpartner verwende. Es geht vor allem um
unterschiedliche Staatsangehörigkeiten der Partner in einer eingetragenen Partnerschaft .
Im Lauf der Studie verwende ich auch die Begriffe ausländischer oder als ausländisch
angesehener Interviewpartner. Während die eine Verwendung – ausländisch – eine
Selbstbezeichnung durch die Interviewpartner darstellt, handelt es sich bei als ausländisch
angesehen um eine Fremdzuschreibung. Bezugnehmend auf Koray Yılmaz-Günay und
Salih Alexander Wolter (2009) möchte ich noch einen Hinweis auf die in diesem Beitrag
verwendete Bezeichnung Migrant_innen geben: „Dem öffentlichen Diskurs folgend
sind nicht Migrant_innen aus osteuropäischen oder afrikanischen, asiatischen oder
amerikanischen Ländern gemeint; ‚Migrant_innen‘ sind hier Menschen mit Wurzeln
in mehrheitlich muslimischen Ländern oder Gebieten – für den deutschen Kontext
also v. a. Türk_innen und Kurd_innen, als die größten Migrant_innen-Gruppen, oder
Araber_innen und Bosnier_innen. Darüber hinaus werden aber auch Menschen in die
Schublade ‚Migration‘ gesteckt, die etwa als Sinti, Roma oder Schwarze Deutsche aufgrund
ihrer äußeren Erscheinung als ‚Migrant_innen‘ identifiziert werden. Offensichtlich ist
es der Blick der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft, der hier entscheidet, über wen
gesprochen wird.“ (Wolter und Yılmaz-Günay 2009, S. 38)
2 Der Beitrag wurde in einer ausführlicheren Form im Journal für Psychologie Jg. 21,
Ausgabe 1 veröffentlicht.

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
46 Zülfukar Çetin

machen und gemacht haben und wie sie diese wahrnehmen, verarbeiten und mit
ihnen umgehen. Diese wurden auf der Basis ausgewählter biographisch-narrati-
ver Interviews mit Männern, die in einer binationalen schwulen Partnerschaft in
Berlin leben, rekonstruiert. Untersuchungsgegenstand waren zum einen schwule
Männer, die aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind oder von einer
Migrant_innen3-Familie in Deutschland abstammen. Die Homosexualität und die
„ausländische“ Herkunft bzw. „unvereinbare“ religiöse oder kulturelle Zugehörig-
keit bilden meistens die (fiktiven) „Gründe“ für strukturelle und institutionelle
Diskriminierungen. Während die ausländischen bzw. als ausländisch angesehenen
Interviewpartner rassistische Diskriminierungen in der weißen Mehrheitsgesell-
schaft erleben, sind sie nicht selten gleichzeitig homophoben Diskriminierungen
ausgesetzt. In diesem Zusammenhang war das Ziel der Studie, institutionelle
und strukturelle Diskriminierungen im biographischen Verlauf der untersuchten
ausländischen oder als ausländisch angesehenen schwulen Männer aufzuzeigen.
Zum anderen wurden auch mehrheitsdeutsche Schwule, die in einer (Lebens-)
Partnerschaft mit einem ausländischen oder als ausländisch angesehenen Schwulen
leben, Teil der Analyse. Aufgrund der (zugeschriebenen) kulturellen, nationalen oder
religiösen Herkunft ihres ausländischen oder als ausländisch angesehenen Partners
erfahren auch sie durch ihre Familie und Verwandten sowie den Freundes- und
Bekanntenkreis Diskriminierungen.
In diesem Beitrag zeige ich anhand empirischen Materials auf, wie Diskriminie-
rung auf Ausschlussmechanismen basiert. Die Kategorisierungen als Schwuler oder
rassifizierende Einstufungen nach der Staatsangehörigkeit oder angenommenen
Religionszugehörigkeit fungieren dabei als Instrument des Ausschließens. Men-
schen werden hierbei als Repräsentant_innen der positiv oder negativ bewerteten
Zugehörigkeitsdimensionen angesehen. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass
Diskriminierungen auch Inklusionsmechanismen beinhalten können. So erfahren
beispielsweise als türkisch angesehene Schwule auch positive Diskriminierungen
bzw. positive Rassismen4 , wenn sie als Opfer des Islam oder der türkischen Kultur

3 In diesem Beitrag schreibe ich die Bezeichnung „Migrant_innen“ immer kursiv, denn
diese Bezeichnung stellt ein Potenzial rassistischer Zuschreibungen dar und ich möchte
mich durch diese kursive Schreibweise von dieser Fremdzuschreibung distanzieren.
4 An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich die Begriffe „positive
Diskriminierung und positive Rassismen“ nicht im Sinne von „Positiven Maßnahmen“
vom Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verwende. Bei den positiven
Maßnahmen des AGG handelt es sich um „[die Zulässigkeit] einer unterschiedlichen
Behandlung aufgrund der zugeschriebenen […] ethnischen Herkunft, des Geschlechts,
der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen
Orientierung, wenn durch „geeignete und angemessene Maßnahmen bestehende Nachteile
wegen eines der genannten Gründe verhindert oder ausgeglichen werden sollen“ (vgl.
Heteronormativität und (antimuslimischer) Rassismus 47

betrachtet werden oder wenn ihnen heteronormative sexuelle Eigenschaften zuge-


schrieben werden, über die sie möglicherweise nicht verfügen.
Im Folgenden stelle ich die Überschneidungen und das Zusammenwirken von
Rassismen und Heteronormativität dar und erläutere, wie diese Form der Mehr-
fachdiskriminierung wirkt. Dabei zeige ich Erscheinungsformen eines antimus-
limischen Rassismus auf und lege dar, wie die als Muslim_innen Markierten zu
Träger_innen homophober Diskriminierungen gemacht werden.

Was ist Mehrfachdiskriminierung5?

Der Antidiskriminierungsverband Deutschland (advd6) zeigt auf, dass „Menschen


aufgrund ihrer (zugeschriebenen) ethnischen Herkunft, ihrer Nationalität, ihrer
Sprache, ihres Aufenthaltsstatus, ihrer Hautfarbe oder äußeren Erscheinung, ih-
res Geschlechts, ihrer Religion und Weltanschauung, ihres sozialen Status, ihres
Familienstandes, ihrer Behinderung, ihres Alters oder ihrer sexuellen Identität
Diskriminierungen erfahren (können). Auch können Menschen von Diskrimi-
nierung betroffen sein, weil sich mehrere dieser Merkmale in ein und derselben
Person verbinden“ (siehe mehrdimensionale Diskriminierung, advd 2009, S. 5).
Aus dieser Feststellung des advd geht hervor, dass Menschen aufgrund unter-
schiedlicher zugeschriebener und/oder tatsächlicher Merkmale Diskriminierungen
erfahren (können), die vor allem mit der Macht des Diskurses zusammenhängen7.

Merx 2007). Im Gegensatz zu „Positiven Maßnahmen“ geht es in meiner Verwendung von


positiver Diskriminierung und positivem Rassismus darum, dass diese diskriminierende
und rassistische Handlungsmotivationen beinhalten, wenn beispielsweise ein arabischer
oder türkischer Schwuler exotisiert wird oder als Angehöriger einer unterdrückten
Gruppe imaginiert wird, wobei der Islam oder die muslimische Gesellschaft als Quelle
oder Ursache der Unterdrückung deklariert werden. So kann der so genannte positive
Rassismus ein pauschalisierendes Bild von Muslim_innen vs. Schwule darstellen (vgl.
Yılmaz-Günay 2011).
5 In Bezug auf Begriffe wie Mehrdimensionale Diskriminierung, Mehrfachdiskriminierung
oder intersektionale Diskriminierung gibt es in den aktivistischen, juristischen und
wissenschaftlichen Bereichen keine Übereinstimmungen. Aus meiner Sicht handelt es
sich zumindest bei diesen drei Begriffen um Verschränkungen und Überschneidungen
von unterschiedlichen Diskriminierungsformen.
6 http://www.antidiskriminierung.org/
7 Den Diskurs-Begriff verwende ich im Sinne Foucaults. Der Diskurs, so Foucault, existiert
unter positiven Bedingungen eines komplexen Bündels von Beziehungen, die zwischen
Institutionen, ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen, Verhaltensnormen,
Normsystemen, Techniken, Klassifikationstypen und Charakterisierungsweisen
48 Zülfukar Çetin

Im hegemonialen heteronormativen und rassistischen Diskurs geht es offen-


sichtlich häufig darum, ethnische Zugehörigkeiten, Geschlechter und Körper zu
konstruieren. All diese Konstruktionen führen zur (Mehrfach-) Diskriminierung
der „gemachten“ Menschen. Mehrfachdiskriminierungen vollziehen sich dadurch,
dass Menschen aufgrund mehrerer zugeschriebener Merkmale ihrer Person auf
verschiedene Art und Weise ausgegrenzt, benachteiligt und herabgewürdigt werden.
Diskriminierungen geschehen durch die soziale Konstruktion von Identitäten, die
aus gesellschaftlichen, historischen, politischen und kulturellen Zusammenhängen
erzeugt werden. Alle diese Identitätskategorien werden im Alltag, in der Wissen-
schaft, in der Wirtschaft, in der Politik und in vielen anderen Lebensbereichen
innerhalb von Machtverhältnissen konstruiert. Die Konstruktion der „Anderen“
dient einerseits der Privilegierung einer bestimmten Gruppe, andererseits der
Benachteiligung einer anderen Gruppe, der bestimmte Merkmale zugeschrieben
werden. Die Mehrfach- und mehrdimensionalen Diskriminierungen werden in den
Ungleichheitsforschungen auch als intersektionelle Diskriminierungen bezeichnet.
Darunter werden unterschiedliche Erscheinungen und Formen von Diskriminierung
begriffen, die sich gleichzeitig wechselseitig beeinflussen (Çetin 2012).

Was ist Rassismus und Heteronormativität?

Für die Analyse des Rassismus als eine soziale Konstruktion setzt Miles (vgl. Miles
1989) an, zunächst die ökonomische Struktur und die politischen Herrschafts-
verhältnisse der Gesellschaften in einem engen historischen Kontext zu erörtern.
Des Weiteren sieht er einen wichtigen Aspekt in der Ausgrenzungspraxis, die Ras-
sismus durch die Benachteiligung bei der Verteilung geringer gesellschaftlicher
Ressourcen und in sozialen Institutionen erst sichtbar und wirksam macht. Hin-
sichtlich der sozialen Bedeutungs- und Rassenkonstruktion (vgl. ebd.) geht Miles
von Zuschreibungen bestimmter biologischer und kultureller Eigenschaften aus.
Diese Bedeutungszuschreibungen fungieren als Erkennungsmerkmal bestimmter

hergestellt werden. (Foucault 1973, S. 68) Der Diskurs, der normierend und regulierend
funktioniert, erzielt in erster Linie die Herstellung und Strukturierung von Realitäten.
In Bezug auf meine Studie geht es immer darum, wer spricht, also wer definiert, regelt,
strukturiert und re-produziert, sowie darum, über wen gesprochen wird, das heißt, wer/
was definiert, geregelt, konstruiert und re-produziert wird. Die sprachlichen Praxen
zeigen den produktiven Charakter des Diskurses und der Macht des Diskurses. Ich habe
in meiner Studie versucht zu zeigen, wie Identitäten beispielsweise hergestellt werden,
wenn von sogenannten Schwulen, Männern, Frauen, Migrant_innen, Europäer_innen,
Muslim_innen, Deutschen und Nicht-Deutschen die Rede ist.
Heteronormativität und (antimuslimischer) Rassismus 49

Gruppen. Status und Herkunft der Gruppen werden als natürlich und unverän-
derlich konstruiert, so dass die „Andersheit“ von Menschen/Menschengruppen
als eine ihnen immanente Gegebenheit erscheint. Die als „anders“ konstruierten
Menschengruppen müssen mit zusätzlichen, negativ bewerteten (biologischen oder
kulturellen) Merkmalen markiert und so dargestellt werden, als riefen sie negative
Folgen für andere hervor (vgl. ebd.). Zurzeit wird in Mittel- und Westeuropa eine
muslimische Community konstruiert, die vor allem als verschlossen, unveränder-
bar, statisch, sexistisch, fanatisch, bzw. fundamentalistisch gilt. So wird zunächst
ein als selbstverständlich angesehenes gegensätzliches Verhältnis zwischen einem
„weiß europäischen Wir“ und „nicht-weiß-europäischen Anderen“ hergestellt und
dadurch die heteronormativen westlichen Gender- und Geschlechterverhältnisse
legitimiert und unsichtbar gemacht (vgl. Pühretmayer 2000, S. 93).
Der Heteronormativität als Teil der Herrschaftsverhältnisse, wie die der rassis-
tischen, macht deutlich, dass Heterosexualität als selbstverständlich, unhinterfragt
und grundlegend gilt und normierend wirkt. In rassistischen Verhältnissen wird
das Weiß-sein beispielsweise als Norm und Grundlage einer „europäischen“ Iden-
tität angesehen, in ähnlicher Weise wird die Heterosexualität in heteronormativen
Verhältnissen für die unveränderbare Norm gehalten und als Bedingung für die
Basis menschlicher Beziehungen verstanden. So werden alle anderen Formen der
Sexualitäten als Gegensatz zu Heterosexualität betrachtet, sie werden pathologisiert,
abgewertet und immer als erklärungswürdig betrachtet (vgl. Klapeer i. d. B.). Durch
die Unterstützung der biologisch-medizinischen Diskurse zwingt Heteronorma-
tivität die Individuen, sich selbst über eine geschlechtlich und sexuell bestimmte
Identität zu definieren, wobei die Mannigfaltigkeit möglicher Identitäten hierar-
chisch angeordnet ist und im Zentrum der Norm die kohärenten heterosexuellen
Geschlechter Mann und Frau stehen oder Homo- und Heterosexuell.

Heteronormativer Rassismus und rassistische Heteronormativität


In diesem Abschnitt werde ich die Verschränkung von Rassismus und Heteronor-
mativität am Beispiel der in Deutschland lebenden türkischen oder als türkisch
angesehenen schwulen Männer näher erörtern. Mittels „positivem Rassismus“
werden schwule Männer, denen eine ethnische Zugehörigkeit zugeschrieben wird,
häufig einerseits rassialisiert und andererseits heteronormalisiert. Der Artikel von
Jennifer Petzen (2011), Wer liegt oben? Türkische und deutsche Maskulinitäten in
der schwulen Szene zeigt die Verwobenheit von Rassismus und Heteronormativität
plastisch auf. Seitens der mehrheitsdeutschen Schwulen werden „türkischen und
arabischen“ Schwulen bestimmte sexuelle Eigenschaften beigemessen, so seien sie
„richtige Männer“ und im Bett „aktiv“, und sie könnten zeigen, „wo der Hammer
hängt“. Diese sexuellen Phantasmen hängen mit Vorstellungen vom „wilden Orient“
50 Zülfukar Çetin

zusammen. Den „orientalischen bzw. orientalisierten“ Schwulen wird in diesen


rassialisierenden Phantasien grenzenlose Gewalt und Wildheit „erlaubt“. Sie wer-
den gleichzeitig heteronormalisiert, indem ihnen Eigenschaften eines „richtigen
heterosexuellen Mannes“ zugeschrieben werden. (vgl. Petzen 2011, S. 25-47).
In ihrem Aufsatz Was ist eigentlich Rassismus? weist Birgit Rommelspacher
(2009) auf vier Merkmale des Rassismus hin. Demnach funktioniert Rassismus
durch Naturalisierung, Homogenisierung, Polarisierung und Hierarchisierung.
Angelehnt an Rommelspacher möchte ich einen Überblick über die Gemeinsam-
keiten von Rassismus und Heteronormativität geben:

t Naturalisierung: Sowohl Rassismus als auch Heteronormativität naturalisieren


soziale und kulturelle Unterschiede und begreifen soziale Beziehungen als
unveränderlich und vererbbar.
t Homogenisierung: Beide Phänomene weisen die Menschen jeweils homogenen
Gruppen zu. Während Rassismus den Menschen bestimmte Eigenschaften zu-
schreibt, wie z. B. türkische Jugendliche seien aggressiv und gewalttätig, weist
die Heteronormativität „geschlechtsspezifische Eigenschaften“ zu, wie z. B.
Frauen können schlecht parken.
t Polarisierung: Entlang bestimmter zugeschriebener Merkmale werden Men-
schen in binäre, grundsätzlich verschiedene und unvereinbare Kategorien
eingeteilt, bspw. beim Rassismus und in der Heteronormativität Muslim_innen
vs. Nicht-Muslim_innen oder auch Mann vs. Frau.
t Hierarchisierung: Menschen werden nach Herkunft, sozialem Status, Geschlecht,
sexueller Orientierung, religiöser Zugehörigkeit, körperlicher/kognitiver Verfas-
sung hierarchisiert. Dadurch werden sie zugleich in eine Rangordnung gebracht.
Während Muslim_innen z. B. in Deutschland als unterlegen und unzivilisiert
angesehen werden, erfolgt die Positionierung queerer Lebensformen in ähnlicher
Weise. Es geht hier um die Erfindung der Unterschiede zwischen Guten/Bösen,
oder Zivilisierten/Unzivilisierten.

Zu diesen vier Merkmalen kommen auch Markierungen und Essentialisierungen8


hinzu (vgl. Attia 2009, S. 49f.; 2013, S. 7f.), die bestimmte hergestellte Eigenschaften
der Menschen und Menschengruppen biologistisch und/oder sozial (z. B. Religion,

8 Mit Essentialisierung ist die (Über-)Betonung von physiognomischen und sozialen


Merkmalen (z. B. Hautfarbe, körperliche/psychische Situation, Kleidungstil etc.),
Geschlechtszugehörigkeit und religiösen oder sexuellen Orientierungen gemeint.
Essentialisierungen gehen mit einer Reduzierung der jeweiligen Person auf dieses eine
Merkmal einher, blenden also andere Identitätsmerkmale der Person aus (vgl. Attia
2009).
Heteronormativität und (antimuslimischer) Rassismus 51

Kleidungsstil, Hautfarbe) hervorheben. Durch soziale und biologistische Markie-


rungen werden insbesondere Differenzen hergestellt, die als Rechtfertigung der
Ausgrenzung und des Ausschlusses benutzt werden. So legitimieren Markierungen
soziale, politische und ökonomische Handlungen, durch die erstens bestimmte
Gruppen vom Zugang zu materiellen und symbolischen Ressourcen ausgeschlos-
sen und zweitens die Privilegien der ausschließenden Gruppe gesichert werden.

Homophobie und Migrant_innen in der


mehrheitsdeutschen Gesellschaft

Ich verstehe Homophobie als Folge eines heteronormativen Diskurses. Sie ist die
Praxis bzw. Praktizierung von Heteronormativität. Wie oben ausgeführt, basiert
Heteronormativität auf Naturalisierung und Selbstverständlichkeit der dichotomen
Zwangsgeschlechterordnung. Dadurch erzeugt sie u. a. diskriminierende Hand-
lungen, die als Homophobie oder Homofeindlichkeit verstanden werden können.
In diesem Zusammenhang ist es von großer Relevanz darauf hinzuweisen, dass
die Heteronormativität und die daraus resultierenden diskriminierenden sozialen
Verhältnisse, wie. z. B. Frauen-, Schwulen-, Lesbenfeindlichkeit oder Transphobie,
nicht milieu- oder kulturspezifisch sind, sondern ein globales Problem, das überall
in unserer Welt existiert. Wenn Homophobie als Praxis der Heteronormativität
verstanden wird, stellt sich u. a. die Frage, wer als homophob gilt, bzw. wer als
homophob bezeichnet wird. Es geht mir aber dabei nicht darum Homophobe zu
definieren und festzustellen, wer genau sie sind, sondern der Fokus meiner Betrach-
tung liegt darauf, wie beispielsweise bestimmte Menschengruppen als homophob
zusammengefasst und deklariert werden. Eine Praxis der westlichen rassistischen
Diskurse der letzten Jahre ist, muslimisch angesehenen Migrant_innen Homophobie
zuzuschreiben und sich dadurch von eigener Homophobie zu entlasten:
Die Ursachen der Homophobie werden in den letzten Jahren auf die religiöse
und kulturelle Zugehörigkeit der vermeintlichen Täter_innen von Homophobie
zurückgeführt. Demnach ist derjenige homophob, der jung, männlich und musli-
misch ist. Jungen männlichen Muslimen wird unterstellt, die sicheren Lebensräume
der Schwulen, Lesben und Trans*Menschen zu bedrohen. Im Zusammenhang
mit (antimuslimischem) Rassismus wird meistens Menschen mit (imaginiertem)
islamischem Hintergrund potentielle Homophobie und Frauenfeindlichkeit zuge-
schrieben. Aus europäischer Perspektive scheint der Islam eine Religion zu sein,
die die Unterdrückung der Frauen, die Ausgrenzung der Homosexuellen und die
Ausübung der Gewalt im Namen Gottes verlangt (vgl. Erdem 2009). Ob muslimi-
52 Zülfukar Çetin

sche Migrant_innen homophob sind, wird in der deutschen Mehrheitsgesellschaft


kaum diskutiert, sondern vielmehr einfach so angenommen, als wäre Homophobie
eine selbstverständliche Eigenschaft muslimischer Migrant_innen. Die Aussagen
über Muslim_innen in den Medien und der breiten Öffentlichkeit beziehen sich
oft auf ihre Kultur und Religion (vgl. Attia 2009). Die Kulturalisierung sowie Ras-
sialisierung der Homophobie ist so stark, dass eine gesamte Bevölkerungsgruppe
systematisch verurteilt wird.
Hieran anschließend stehen die Fragen im Raum, warum sich ein derartiger
Diskurs entfaltet hat und wie er sich in den mittel- und westeuropäischen Gesell-
schaften etabliert und in welcher Art und Weise sich dieser eurozentrische Glaube
– Migrant_innen seien homophob – verstärkt und verbreitet hat9.

Homophobie und Rassismus – binationale schwule Paare in


Deutschland

Methodisches Vorgehen
Für meine Studie habe ich insgesamt mit zehn ausländischen und fünf deutschen
schwulen Männern biographisch-narrative Interviews geführt. Aus 15 Interviews
habe ich sechs Fälle analysiert. Alle sechs Interviews wurden nach der Methode
von Fritz Schütze (1983) einzelfallorientiert textanalytisch ausgewertet und in ihrer
Eigenheit rekonstruiert. Das biographisch-narrative Interview gibt den Interview-
partnern die Möglichkeit, ihre Geschichte selbst zu gestalten und ihre Themen
selbst auszuwählen. In den Interviews haben die Befragten ihre Erfahrungen mit
Coming-out, Migration, Partnerschaft und Erfahrungen mit Diskriminierungen
erzählt.
Nach dem Prinzip der Minimalen und Maximalen Kontrastanalyse konnte ich
die Diskriminierungserfahrungen der Interviewpartner in ihrer Biographie und
in verschiedenen Lebensabschnitten herausarbeiten.

9 Eine intensivere Auseinandersetzung mit der Debatte zu Homophobie und Migrant_innen


sprengt den Rahmen dieses Beitrages. An dieser Stelle möchte ich den_die Leser_in auf
meine Studie Homophobie und Islamophobie. Intersektionale Diskriminierungen am
Beispiel von binationalen schwulen Paaren in Berlin (Çetin 2012) und auf das Buch von
Georg Klauda (2008), Die Vertreibung aus dem Serail. Europa und die Heteronormalisierung
der islamischen Welt, verweisen.
Heteronormativität und (antimuslimischer) Rassismus 53

Ergebnisse der minimalen Kontrastanalyse10


Mit Hilfe der Minimalen Kontrastanalyse haben sich folgende drei Typen her-
ausgebildet:

t Typ I (Arda und Ali): Schwule Männer aus der Türkei, die mit einem deutschen
Schwulen in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben.
t Typ II (Can und Hamid): Sie sind in der Bundesrepublik als Kinder binationaler
Familien – Can als Sohn einer deutschen und katholischen Mutter und eines
türkischen und muslimischen Vaters, Hamid als Sohn einer deutschen, zum
Islam konvertierten Mutter und eines muslimischen Pakistani – aufgewach-
sen. Hamid ist mit Frank verpartnert und Can lebt mit einem weiß-deutschen
Schwulen, der kein Interview für die Studie geben konnte.
t Typ III (Kai und Frank): Weiß-Deutsche Schwule, die eine Partnerschaft mit
einem ausländischen oder als ausländisch angesehenen Schwulen haben. Kai
lebt mit Arda in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft und Frank lebt mit
Hamid ohne eine eingetragene Lebenspartnerschaft zusammen.

Typ I „Ich bin dort [in der Türkei] schwul und hier habe ich
migrantischen Status“
Diese Interviewpartner sind in der Türkei sozialisiert. Die Entscheidung der
Migration nach Deutschland hängt u. a. auch mit erfahrenen homophoben Diskri-
minierungen am Herkunftsort zusammen. Insgesamt lassen sich aus der Analyse
der Interviews folgende Diskriminierungen erkennen:
Homophobie: In der Türkei war vor allem institutionelle Homophobie durch das
Militär ausschlaggebend. Diese Erfahrungen führten zu Existenzangst der Inter-
viewpartner. Als schwule Türken werden sie in Deutschland als exotisch wahrge-
nommen und sind dadurch von so genannter positiver Diskriminierung betroffen.

Ich habe keinen Wehrdienst geleistet. Weil ich gesagt hatte,


dass ich homosexuell bin und wegen dieses Befreiungsscheines11
wurde mir mein Beamtenrecht entzogen, weil ich keinen Mili-
tärdienst gemacht hatte. (Interview mit Arda, Zeile 443-446)

10 Für die Ergebnisse der maximalen Kontrastanalyse verweise ich auf mein Buch bzw.
den Beitrag in der Zeitschrift Journal der Psychologie (Çetin 2013).
11 Dieser Befreiungsschein vom Militärdienst beinhaltet ein psychiatrisches Attest über
„psychosexuelle Störung“ des Interviewpartners.
54 Zülfukar Çetin

Rassismen: Der Rassismus bezieht sich besonders auf die türkische Herkunft der
Interviewpartner. Interessant ist, dass die beiden Merkmale „schwul und türkisch“ als
eine „besondere“ Konstellation vorgestellt wird. Neben dieser so genannten positiven
Diskriminierung werden individuelle Eigenschaften und äußere Erscheinung der
Interviewpartner mit dem Islam verbunden, das heißt, dass die Interviewpartner
orientalisiert, exotisiert und rassifiziert werden. Bürokratische Komplikationen,
Arbeitslosigkeit, schlecht bezahlte Jobs oder Nicht-Anerkennung vorhandener
Qualifikationen führen zu Ausgrenzung, Ausschluss und ungleicher Verteilung
der materiellen und immateriellen Ressourcen. Diese sind unter institutionellem
Rassismus (z. B. Staatsangehörigkeit) einzuordnen. Auf der sozialen Ebene zeigt
sich Rassismus dadurch, dass die Freundschaften des weiß-deutschen Partners nach
der Gründung der Partnerschaft entweder reduziert oder abgebrochen wurden.

Zum Beispiel wenn alle seiner Freund _ innen sich versammeln,


ähm, dann bitten sie mich darum, ob ich orientalisch tanzen
würde, oder man erwartet von mir solche exotischen Dinge.
(Interview mit Arda, Zeile 392-394)

Außerdem hat mein Partner nach unserer Heirat gemerkt, dass


viele seiner Freundschaften bzw. Bekanntschaften, die er vor
unserer Heirat hatte, abgebrochen wurden […] weil er mich
geheiratet hat. (Interview mit Ali, Zeile 891-892)

Soziale Herkunft bzw. sozialer Status: Die Interviewpartner sind nach der Migration
vom sozialen Abstieg betroffen. Die in Deutschland nicht anerkannten Qualifika-
tionen bewirken, dass sie als aberkannte Akademiker im Gastronomiebereich als
Küchenhilfe arbeiten oder arbeitslos werden, was in der Partnerschaft ein ökono-
misches Ungleichgewicht auslöst.

Intersektionale Diskriminierung: Während sie in der Türkei mit Homophobie


konfrontiert sind, müssen sie in Deutschland neben Homophobie vor allem gegen
Rassismen kämpfen.

Ich bin dort [in der Türkei] schwul und hier habe ich migran-
tischen Status. Hier (Deutschland) ist auch nicht meine Heimat,
weil ich denke, dass ich mehr verdient habe, als sie (die
Deutschen) mir geben. Denn ich habe hier einen migrantischen
Status. (Interview mit Arda, Zeile 430 ff.)
Heteronormativität und (antimuslimischer) Rassismus 55

Typ II „schwul sein, die wissen alle, aber, das ist so Tabuthema“
Diese sind schwule Männer, die von binationalen Eltern abstammen, wobei ein
Elternteil deutscher Herkunft ist, und in Deutschland interkulturell sozialisiert
sind. Im Folgenden werden einige Diskriminierungserfahrungen dieser Interview-
partner veranschaulicht:

Homophobie: Typ II erfährt besonders strukturelle Homophobie in unterschiedli-


chen gesellschaftlichen Bereichen. Davon sind sowohl die Befragten als auch deren
Partner sowie insgesamt die Partnerschaft betroffen. Das ‚Doppelleben‘ dieser
Interviewpartner löst Konflikte in der Partnerschaft aus.

Was die familiäre Verhältnisse betrifft, auch von mir, auch


von Uwe, also es ist immer noch so, schwul sein, die wissen
alle, aber, das ist so Tabuthema, sie wollen davon nichts
hören. (Interview mit Can, Zeile 458-459)

[…] weil Frank da sehr unsensibel war in der Hinsicht und mich
unter Druck gesetzt […] Auf jeden Fall habe ich, ähm, viele
Diskussion geführt, und der hat mich als Heuchler beschimpft,
was mir auch nochmal noch mehr Schuldgefühle aufgetan hat.
Weil ich dachte, ich bin unehrlich meinem Vater gegenüber,
aber ich kann auch wieder nicht ehrlich sein, weil das auch
was Schlechtes ist. Also ich hatte, der .onÀikt war riesig,
und die Beziehung drohte eigentlich auseinander zu fallen.
Weil mir wurde es zu viel, und ich wusste nicht, was ich ma-
chen sollte, dann hab ich überlegt, dass ich Frank loswerden
muss. Also ich kann diese Beziehung nicht fortführen […] Und
ja ich muss weiter leben, und das Verstecken wie vorher mit
Frank geht einfach nicht […] ja dann war’s eigentlich kurz
davor […] und dann irgendwann kam so´n Pünktchen in mich,
wo ich mir dachte, das der Punkt vielleicht gekommen ist
[…] wenn ich mein Leben leben werde, wer weiß, wie lange es
noch ist, aber wenn es länger ist als mein bisheriges, dann
möchte ich nicht diesen Leidensweg weiter gehen und ich muss
´n Bruch schaffen. Ich muss da irgendwie aufbrechen, hatte
aber große Angst. Dann hab ich Frank gesagt, das ist alles
egal, ich werde es meinem Vater sagen, egal, was passiert.
(Interview mit Hamid, Zeile 156-174)

Rassismen: Trotz interkultureller Sozialisation erleiden die Interviewpartner ras-


sistische Vorwürfe, sie seien integrationsunwillig und hätten mangelnde Sprach-
56 Zülfukar Çetin

kenntnisse. Zudem werden sie auf ihren vermeintlichen Herkunftsort verwiesen


und mit den Fragen zu Islam und Homosexualität konfrontiert.

Das schlimmste, was passiert ist, ist so, das war 2005, da
hatte ich meine Ausbildungsprüfung in Berlin Ost, und da
hatte ich so total alles Rot angezogen, mein T-Shirt rot,
weiße Hose, es war schöner Tag im Sommer, und ich war ziem-
lich gut gelaunt gewesen, und ja, dann kamen so zwei Frauen
und sie schauten, alles Rot, und dann haben sie gesagt, jaa,
was suchst du denn hier, du bist Türke und so, weißt du denn
überhaupt, wo du bist und so, also solche Diskriminierung
hatt’ ich schon. (Interview mit Can, Zeile 1082-1087)

Soziale Herkunft bzw. sozialer Status: Auch hier erleiden die Interviewpartner, vor
allem Can, partnerschaftliche Konflikte auf Grund ökonomischer Hierarchien.

Mehrdimensionale Diskriminierung: Die Verwobenheit von Homophobie und


Rassismus zeigt sich insbesondere bei Can sehr deutlich. Can konnte bis zum
Zeitpunkt des Interviews die diskriminierende Haltung der Mutter seines Partners
nicht einordnen, weshalb sie ihn beispielsweise ignorierte und die Partnerschaft
nicht akzeptierte.

[…] die Mutter von Uwe hat mich Anfangs total, also sie war
total kühl gewesen, weil ich ja Ausländer war, weil ich ja
Türke bin oder so, und die war erste Mal total schockiert,
als Uwe mich bei ihr vorgestellt hat, und heute eigentlich
hab ich ganz wenig mit der Familie von Uwe zu tun […] die
Mutter ist anders und die mag mich auch nicht […] und ich
weiß auch nicht, wieso sie mich nicht mag, ob es daran liegt,
dass ich Ausländer bin oder ich weiß es nicht […]also ich
denke mal, sie akzeptiert die Beziehung zwischen mir und Uwe
nicht. (Interview mit Can, Zeile 427-435)

Typ III „das war ’ne ziemlich harte Erfahrung, also sich durch diese ganzen
Behörden da durchzukämpfen“
Diese sind schwule Männer, die aus Deutschland bzw. einer mehrheitsdeutschen
Familie stammen.

Homophobie: Typ III hat individuelle und partnerschaftliche Erfahrungen besonders


mit struktureller Homophobie. Insbesondere die Mütter beider Interviewpartner
Heteronormativität und (antimuslimischer) Rassismus 57

reagierten auf deren Coming-out negativ und hatten Schwierigkeiten, mit der
Homosexualität ihrer Söhne umzugehen.

Rassismen: Diese Interviewpartner sind vor allem mit institutionellen und struk-
turellen Rassismuserfahrungen ihrer Partner konfrontiert, worunter auch die
Partnerschaft leidet. Die Erfahrungen mit der Ausländerbehörde, mit der deut-
schen Botschaft oder mit der Polizei seitens des ausländischen oder als ausländisch
angesehenen Partners wirken sich auf die Paarbeziehung bzw. auf den Alltag des
Paares negativ aus:

[…] wie diese ganzen Regularien bei der Ausländerbehörde, also


ich fand das relativ erschreckend auch von der Ausländerbe-
hörde, jetzt zum Beispiel, solang wir noch nicht verpartnert
waren, ähm, wie Arda da behandelt wurde, also nicht speziell
Arda, aber wie einfach alle dort behandelt werden, wo erst-
mal so ’ne riesige Maschinerie in Gang gesetzt wird, um zu
verhindern, dass man die entsprechenden Papiere bekommt und
und das war ’ne ziemlich harte Erfahrung, also sich durch
diese ganzen Behörden da durchzukämpfen. (Interview mit Kai,
Zeile 215-220 und 237-238)

Intersektionelle Diskriminierung des Partners: In einer schwulen binationalen Part-


nerschaft sind sie unmittelbar mit unterschiedlichen Diskriminierungserlebnissen
des Partners konfrontiert, was sich manchmal als Konfliktpotenzial in der Part-
nerschaft darstellt. Auch als binationales Paar begegnen sie Ungleichbehandlungen
bzw. Ausgrenzungen in dem nahen sozialen Umfeld. Im Folgenden erzählt ein
Interviewpartner, Kai, über Situationen seines Mannes in der Mehrheitsgesellschaft:

Es gibt da bestimmte Bilder, die er, äh, als schwuler türki-


scher Mann auch immer für die Deutschen, sag’ ich jetzt mal,
für die Mehrheitsgesellschaft, zu bedienen hat so, also, also
er wird zum Beispiel permanent gefragt, wie ist es bei euch
im Islam und, äh, wird immer vorausgesetzt, er wäre jetzt
der gläubige Muslim, der dann die Religion verteidigt oder,
oder erklärt so, und das nützt überhaupt nichts, dem dann
zu sagen, äh, wir sind da nicht alle gläubige Muslime und
[…] es gibt einfach bestimmte Bilder in die du, glaube ich,
als türkischer Mann sehr schnell rein kommst, also nicht
unbedingt immer mit Diskriminierung, aber mit so ’ner, ein-
fach mit so ’m relativ engen Blick, äh, wie die Türken eben
58 Zülfukar Çetin

zu sein haben in ihren bestimmten Vorstellungen, und, und


das nervt, glaube ich, […] (Interview mit Kai, Zeile 984-994)

Fazit

Die mehrdimensionale Analyse ausgewählter Interviews zeigt, dass Mehrfachdiskri-


minierungen soziale Tatsachen sind, die in unterschiedlichen Ausformungen immer
wieder das Leben der Interviewten durchdringen. Soziale und ethnisierte Herkunft,
Glaubensausrichtung bzw. tatsächliche oder vermeintliche Religionszugehörigkeit,
Staatsangehörigkeit, „nicht-deutsches Aussehen“ und sexuelle Orientierungen
verursachen Diskriminierungen in der weiß-deutschen Dominanzgesellschaft12.
Die Untersuchung zeigt, dass Ausländer_innen und als Ausländer_innen angese-
hene Menschen in der weißen Mehrheitsgesellschaft wenig Chancengleichheit und
Zugang zu wirtschaftlichen und sozialen Ressourcen haben. Diese Chancenun-
gleichheiten bestimmen in erster Linie die soziale Lage der Menschen und gelten als
Diskriminierungen. Die ungleichen Verteilungen von Ressourcen führen nicht nur
innerhalb einer Bevölkerungsgruppe zu wirtschaftlichen und sozialen Differenzen,
sondern auch in einer binationalen Partnerschaft. Da die ausländischen Partner
wirtschaftlich, sozial und juristisch von ihrem weiß-deutschen Partner abhängig
sind, entsteht innerhalb der Beziehung ein Machtverhältnis, von dem besonders
die Interviewpartner betroffen sind, die keine deutsche Staatsangehörigkeit haben
und deren Aufenthaltstitel insofern von einer (fort-)bestehenden Lebenspartner-
schaft abhängt.
Ferner ergibt sich aus der Forschung, dass die Diskriminierungserfahrungen
der Interviewten überwiegend in Zusammenhang mit ökonomischen Aspekten des
Rassismus stehen. Allerdings weist die Studie mit den Fallanalysen zugleich nach,
dass rassistische Handlungen nicht aus ökonomischen Gründen allein entstehen,
sondern ebenso Teil eines Geflechtes von Machtverhältnissen und Ideologien sind.
Heteronormativität, Klassismus und kulturelle Hegemonie sind weitere soziopo-
litische Strukturen, die eng mit Rassismus verwoben sind. Diese Studie zeigt, dass
kulturalistischer Rassismus mit biologistischem Rassismus ineinander greift. So

12 Das Konzept der Dominanzgesellschaft lehnt sich an das von Birgit Rommelspacher
(1995) entwickelte Konzept der Dominanzkultur an. Das Konzept der Dominanzkultur
geht davon aus, dass sich die Gesellschaft nicht aus einer begrenzten Anzahl von
Perspektiven heraus analysieren lässt, sondern dass unterschiedliche Machtdimensionen
die gesellschaftlichen Strukturen und das konkrete Zusammenleben bestimmen, und
im Sinne eines Dominanzgeflechts miteinander verwoben sind (Rommelspacher 2006,
S. 3)
Heteronormativität und (antimuslimischer) Rassismus 59

werden Menschen, die als „Nicht-Deutsche“ angesehen werden, besonders diskri-


miniert, wenn sie als „Türken“ oder „Araber“ angesehen werden.
Die Interviews machen darüber hinaus deutlich, dass Homophobie auch in
„fortschrittlichen“ westlichen Ländern existiert; sie legen Zeugnis davon ab, dass
Homosexuelle auch in der Einwanderungsgesellschaft Diskriminierungen ausge-
setzt sind.
Von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierungen sind sowohl
deutsche als auch nicht-deutsche Interviewpartner in unterschiedlichem Maße
betroffen. Dies liegt an der „Selbstverständlichkeit“ der Heterosexualität in der
heteronormativen Mehrheitsgesellschaft. Da die Interviewten dieser Studie sich als
Schwule definieren, sind sie generell seit ihrer Entscheidung für ein offen homose-
xuelles Leben mit Heteronormativismen konfrontiert. Ein wichtiges Ergebnis ist,
dass auch die deutschen Interviewpartner innerhalb ihrer Familien sowie in ihrem
Umfeld aufgrund ihrer Homosexualität wiederholt in Konflikte geraten sind, die
sie teils immer noch auszutragen haben. Mit den Ergebnissen dieser Studie kann
ein populärer Vorwurf gegenüber muslimischen Gesellschaften zurückgewiesen
werden: Aus den Interviews ergibt sich, dass Homophobie nicht nur in vermeintlich
„rückständigen“ islamischen Ländern existiert, sondern auch in „fortschrittlichen“
westlichen Ländern bzw. anhand einiger Interviews wird deutlich, dass die familiäre
Toleranz gegenüber Homosexualität, bspw. bei in der Türkei lebenden Familien
größer sein kann als bei in Deutschland lebenden Familien. Beispielsweise sind
die eingetragenen Lebenspartnerschaften in der BRD immer noch nicht der Ehe
gleichgestellt.
Die Interviews mit den deutschen Partnern zeigen ebenfalls auf, dass auch
sie in ihrem Herkunftsort belastende Probleme mit homophoben Einstellungen
hatten. So bezeichnen sie Berlin als Metropole, in der sexuelle Freiheit herrscht.
Wenn Berlin in der Tat eine gewisse Freiheit für Homosexuelle bietet, so ist dieser
Umstand u. a. darauf zurückzuführen, dass Metropolen andere Möglichkeiten
der Diskretion und Anonymität bieten, als dies kleine Städte tun. Die türkischen
Interviewten berichteten ebenfalls von der Möglichkeit, in türkischen Metropolen
ihre schwulen Beziehungen ausleben zu können.
Die Studie mit binationalen schwulen Paaren bringt relevante politische und
gesellschaftskritische Aspekte der Mehrfachdiskriminierungen hervor, die aus
Mehrfachzuschreibungen und sozialen Konstruktionen resultieren. Die soziale
Konstruktion eines imaginären „Wir“ bedingt die Konstruktion eines „Anderen“.
Erfundene Differenzen bezüglich Sexualität, Staatsangehörigkeit, „Rasse“ und
„Kultur“ werden instrumentalisiert, um „eigene“ Ressourcen vor „Fremdem“ zu
schützen. Umgesetzt wird dieses Streben durch den konsequenten Ausschluss der
„Fremden“.
60 Zülfukar Çetin

Es ist dieser Studie gelungen, aufzuzeigen, dass „Differenzierungen“ für wirt-


schaftliche und politische Zwecke instrumentalisiert werden. Alle von mir inter-
viewten Personen sind täglich mit Differenzierungen konfrontiert und tragen die
Konsequenzen einer Politik der Differenz zwischen „Eigenem“ und „Fremdem“. So
bezeichnen Differenzierungen eine ökonomische Macht, die auf Normalisierung
abzielt, indem die „Anderen“ zu Devianten, Marginalen, Fremden, „Ausländer_in-
nen“ und Homosexuellen gemacht werden.

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Inter*Realitäten
Variabilität und Uneindeutigkeit des Geschlechts
als Herausforderung für Recht und Gesellschaft
Juana Remus

Johanna1 hatte sich im Oktober 2010 für die Einstellung in den Polizeivollzugs-
dienst beworben. Bei der Einstellungsprüfung erzielte sie ein so gutes Ergebnis,
dass klar war, dass die Bewerbung erfolgreich sein würde: Sie musste nur noch zur
ärztlichen Untersuchung.
Dort gab Johanna an, dass sie aufgrund einer operativen Entfernung der Eierstö-
cke auf die Einnahme von Hormonen angewiesen sei, wobei bei einer kurzfristigen
Unterbrechung der Hormonsubstitution keinerlei lebensbedrohliche Erkrankungen
bzw. Auswirkungen zu erwarten seien. Auch habe sie keine Gebärmutter.
Der Polizeiarzt entschied, dass Johanna polizeidienstuntauglich sei, so dass
die Einstellung der Abiturientin ablehnt wurde. Die Polizei begründete ihre Ent-
scheidung damit, dass Johanna sehr wahrscheinlich XY-Chromosomen habe und
wegen eines nicht intakten Hormonsystems eine verminderte Knochenstabilität zu
erwarten sei, die gerade im Polizeidienst zu Verletzungen führen könne. Auch sei
fraglich, ob Johanna den psychischen Belastungen des Polizeidienstes gewachsen
sei, beispielsweise wenn sie einen Kinderwunsch entwickeln würde. Schließlich
sei sie fortpflanzungsunfähig.
Der Einwand Johannas, sich mit ihrer Fortpflanzungsunfähigkeit ausreichend
beschäft igt zu haben, wird im nachfolgenden Gerichtsverfahren vor dem VG
Ansbach nicht vertieft. Auch die von Johannas Ärztin vorgelegten Studien, wo-
nach kein größeres Risiko für eine verminderte Knochendichte besteht, sofern die
Medikamente eingenommen werden, sind rechtlich unerheblich. Das VG Ansbach
entscheidet vielmehr, die Nichteinstellung Johannas sei rechtmäßig. Insbesondere
sei Johanna nicht aufgrund einer Behinderung oder der sexuellen Identität oder

1 Der Name der hier beschriebenen Person ist der Autorin nicht bekannt, der wiedergegebene
Sachverhalt und die mitgeteilten Argumente beruhen auf der Gerichtsentscheidung des
VG Ansbach vom 14.07.2011 – AN 1 E 11.01005, veröffentlicht in juris.

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
64 Juana Remus

ihres Geschlechtes diskriminiert worden. Vielmehr beruhe der Ausschluss Johannas


vom Polizeidienst allein auf ihrer Erkrankung.
Damit zeigen die Entscheidungen der Polizei und des VG Ansbach aus dem Jahr
2011 sehr deutlich, welche Probleme Personen wie Johanna in Deutschland haben
und an welche Grenzen Gesellschaft und Recht im Umgang mit ihnen stoßen:
Johanna ist intergeschlechtlich, ihre körperliche Variation wird pathologisiert und
medikalisiert, ihre geschlechtliche Identität ist rechtlich nicht anerkannt.

Inter*?

Intergeschlechtliche Menschen sind Personen, die Merkmale, welche insbesondere


einem Geschlecht zugerechnet werden, mit Merkmalen vereinigen, die dem anderen
Geschlecht zugeordnet werden. Die Entwicklung der menschlichen Geschlechtsor-
gane hängt von vielen Faktoren ab, die unter unterschiedlichen Vorrausetzungen
zu verschiedenen Variationen führen. Die Ausbildung von Hoden und Eierstöcken,
Gebärmuttern, Samenleitern etc. ist das Ergebnis einer Vielzahl biomedizinischer
Prozesse bedingt durch genetische Anlagen und hormonelle Abläufe. Manche
Körper produzieren weniger Testosteron, manche mehr; einige Körper reagieren
auf den Einfluss von Testosteron stärker als andere. So entstehen Personen, die
dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, Personen, die dem weiblichen
Geschlecht zugeordnet werden und genauso auch Personen, die intergeschlechtlich
bezeichnet werden können: beispielsweise Personen mit männlich assoziiertem
Aussehen und Eierstöcken, Personen mit Penis und Scheide, Eierstöcken und Hoden
oder Personen mit weiblichem Phänotyp und XY-Chromosomen, wie Johanna.
Die unterschiedlichsten körperlichen Variationen sind denkbar und kommen in
unserer Gesellschaft vor, einer Gesellschaft, die aber nur zwei Geschlechter kennt
und anerkennt, einer Gesellschaft, die Johannas geschlechtliche Variabilität und
Vielfalt unter der medizinischen Diagnose „Intersexualität“ oder neuerdings „DSD
– Disorder of Sexual Development“2 zusammenfasst.
Der Begriff „Intersexualität“ ist eher verwirrend und umstritten, auch weil er
vermuten lässt, es handele sich um eine Form des menschlichen Begehrens, der
Sexualität. Ebenso verweist das „inter“ auf die gedachte Binarität des geschlechtli-
chen Seins und suggeriert damit abermals, dass sich etwas „zwischen“ zwei Polen
befindet. Dabei erschüttert gerade die Variabilität intergeschlechtlicher Menschen

2 Ausführlich zur Einführung in die neue Nomenklatur, vgl. Hiort 2007.


Inter*Realitäten 65

die normative Annahme der Zweigeschlechtlichkeit (vgl. Dietze 2003). 3 Auch der
Begriff „DSD“ wird von Betroffenen kritisiert, da sich im Begriff „Disorder“ und
in seiner deutschen Übersetzung „Störung“ abermals eine negative und pathologi-
sierende Betrachtung der körperlichen Varianz verbirgt (vgl. Thomas 2007, S. 188).
Obschon körperliche Unterschiede der einzelnen „intersexuellen“ Menschen
sich unterscheiden, eint sie, dass ihre körperliche Verfasstheit in der Medizin als
behandlungsbedürftig unter diesem Begriff zusammengefasst wird, weil sie nicht
der gängigen Vorstellung von „männlich“ oder „weiblich“ entsprechen. Dennoch
nutzen intergeschlechtliche Menschen den Begriff „intersexuelle Menschen“ als
Selbstbezeichnung.4 Daneben sind aber auch Selbstbeschreibungen wie interge-
schlechtlich5, zwischengeschlechtlich6, Zwitter oder Hermaphrodit gebräuchlich.
Dabei ist zu beachten, dass intergeschlechtliche Menschen nicht zwingend ein
drittes Geschlecht abbilden, sondern sehr vielfältige Identitäten aufweisen und
unterschiedliche Leben führen. So fühlen sich einige als vollwertige Männer oder
Frauen mit einer kleinen oder großen Besonderheit, andere wiederum sehen sich
als etwas außerhalb der engen zweigeschlechtlichen Ordnung. Nicht zu verwechseln
sind intergeschlechtliche Menschen mit Trans*, deren körperliche Variation rein
biologisch einem der gesellschaftlich anerkannten Geschlechter zuordenbar ist.7

Pathologisierung und Medikalisierung von


geschlechtlicher Vielfalt

Die geschlechtliche Variabilität und Vielfalt intergeschlechtlicher Menschen wird


nicht nur von der Polizei und vom VG Ansbach als „unnormal“ und „krank-
haft“ angesehen. Auch in der Medizin werden Menschen, die nicht dem gesell-
schaftlichen Normgeschlecht entsprechen, pathologisiert, obwohl in den meisten
Fällen keinerlei körperliche Besonderheiten existieren, die in irgendeiner Form

3 Dietze G (2003), stellt dar, dass die Thematisierung von Intergeschlechtlichkeit und die
Problematisierung des Zweigeschlechtersystems als gesellschaftliche Norm die „vierte
anti-universalistische Herausforderung“ der Kategorie gender darstellt.
4 Vgl. „Bundesverband Verein Intersexuelle Menschen e. V.“, http://www.intersexuelle-
menschen.net. Zugegriffen: 26. April 2014]
5 Vgl. ebd.
6 Vgl. den schweizerischen Blog „zwischengeschlecht.org“, http://zwischengeschlecht.
org. Zugegriffen: 26. April 2014
7 Zum Begriff Trans* auch in Abgrenzung zu anderen Begrifflichkeiten wie transsexuell,
Transgender etc. (vgl. Franzen und Sauer 2010, S. 7).
66 Juana Remus

lebensbedrohliche Auswirkungen hervorrufen könnten. Ausgehend von einem


gesellschaftlichen Verständnis, das Menschen außerhalb der Zwei-Geschlech-
ter-Ordnung nicht akzeptieren würde, wurde Mitte des letzten Jahrhunderts ein
medizinisches Behandlungskonzept erarbeitet (vgl. Klöppel 2010), das „Optimal
Gender Policy“ genannt wird. Nach diesem Konzept werden intergeschlechtliche
Kinder zunächst einem gesellschaftlich anerkannten Geschlecht zugewiesen und
ihr Körper entsprechend operativ angepasst. Dazu werden mithilfe chirurgischer
Techniken jene Geschlechtsmerkmale entfernt, die nicht zu dem Zuweisungsge-
schlecht passen: eine als zu groß angesehene Klitoris wird verkürzt, eine zu kleine
Scheide angelegt oder wenn bereits vorhanden, gedehnt, Harnröhren verlegt, im
Bauchraum befindliche Hoden im Hodensack festgenäht, Keimzellen entnommen.
Bei Menschen, die schon kurz nach der Geburt auffallen, weil ihre Genitalien nicht
zu einem Mädchen oder Jungen passen, werden diese Operationen im Säuglings-
und Kleinkindalter vorgenommen.8
Der überwiegende Teil der operierten Personen wird dem weiblichen Geschlecht
zugeordnet (Stark 2006, S. 274) mit der Begründung, dass es operativ einfacher sei,
eine Vagina neu anzulegen, als einen Penis aufzubauen. Dieser Argumentation
wiederum liegt eine bestimmte Vorstellung über die „weibliche“ Sexualität sowie
Geschlechtsrollen zugrunde. So berichten Eltern, dass ihnen die Feminisierung
ihrer Kinder vorgeschlagen wurde, weil es für eine Frau wesentlich einfacher sei,
auf eine erfüllte Sexualität zu verzichten, hingegen für Männer neben der Erekti-
onsfähigkeit auch das Urinieren im Stehen von Bedeutung sei (Plattner 2008, S.
16). Dementsprechend steht bei den genitalverändernden Operationen nicht die
sexuelle Empfindungsfähigkeit im Vordergrund, sondern die sogenannte Kohab-
itationsfähigkeit, die Fähigkeit, vaginalen Penetrationssex auszuüben. Noch 2004
enthielt die Leitlinie der Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin zu
Störungen der Geschlechtsentwicklung folgende Empfehlung:

„Bei der Geschlechtsangleichung in die weibliche Richtung sind drei Ziele zu verfolgen.
Zur Angleichung des äußeren Genitales an den weiblichen Aspekt bedarf es einer
Klitorisreduktionsplastik und der Konstruktion von kleinen Labien. Zum dritten
muss gewährleistet sein, dass später ein normaler Geschlechtsverkehr möglich sein
wird.“ (zit. n. de Silva 2007, S. 178).

Darin zeigt sich neben dem paternalistischen Ansatz der Medizin auch der hetero-
normative Aspekt des Behandlungskonzepts: Es ist undenkbar, dass ein erfülltes

8 So auch die aktuelle Leitlinie der Gesellschaft, abrufbar unter: http://www.awmf.org/


uploads/tx_szleitlinien/027-022l_S1_Stoerungen_der_Geschlechtsentwicklung_2010-10.
pdf
Inter*Realitäten 67

Leben auch mit anderen Sexualpraktiken ohne vaginalen Penetrationssex erreicht


werden kann. Dabei fand erst jüngst eine Hamburger Studie heraus, dass gerade
intergeschlechtliche Personen, die in der Kindheit eine Vaginalplastik erhalten
haben, im Erwachsenenalter jede Form penetrativer Sexualität vermeiden (Rich-
ter-Appelt 2007, S. 7).
Neben den Operationen an den äußeren Genitalien werden in den meisten Fällen
die Gonaden entfernt, also jene Organe, die zum einen Keimzellen wie Spermien
oder Eizellen produzieren, zum anderen aber lebenswichtige Hormone. Ziel dieser
Entfernung ist die Manifestation der erfolgten Geschlechtszuweisung, indem die
hormonellen Veränderungen der Pubertät (Bartwuchs, Ausbildung von Brüsten,
Wachstum der äußeren Genitalien) verhindert werden und diese durch die Gabe
von künstlichen Hormonen besser gesteuert werden kann. Teilweise wird auch mit
einem höheren Krebsrisiko der Gonaden argumentiert, wobei bis heute ungeklärt
ist, ob dieses Krebsrisiko tatsächlich existiert und ob die präventive Entnahme und
damit die Zerstörung der Reproduktionsfähigkeit das rechtfertigen kann (Kolbe
2010, S. 166).
Einer Entnahme der Hoden hat sich sehr wahrscheinlich auch Johanna unter-
zogen. Jedoch wird in der Sachverhaltsdarstellung der Gerichtsentscheidung weder
die Motivation für diese Entscheidung benannt, noch wird geklärt, auf wessen
Wunsch und durch wen die Entnahme durchgeführt wurde. Dabei wäre genau
dieses für Johanna und andere inter*Menschen die relevante Frage gewesen. Denn
das problematische an der Entscheidung des VG Ansbach ist nicht, dass Johanna
wegen fehlender Hoden als polizeiuntauglich angesehen wird, sondern dass dies
potenziell bei allen intergeschlechtlichen Personen so sein wird, da die Hodenent-
nahme Teil des gängigen „Behandlungskonzeptes“ ist. Insoweit verkennt das VG
Ansbach die diskriminierende Perspektive des Falles völlig.
Intergeschlechtliche Menschen stoßen aber nicht nur im Antidiskriminierungs-
recht an die Grenzen des Rechts. Weder wurde bisher eine Regelung gefunden,
die intergeschlechtliche Kinder vor medizinischen Eingriffen an ihren Genitalien
und Keimdrüsen schützt, noch wird die intergeschlechtliche Identität durch das
Recht anerkannt.

(Un)eindeutigkeit im Recht

Medizinische Eingriffe sind grundsätzlich nur mit Einwilligung der von dem
medizinischen Eingriff betroffenen Person möglich. Ohne Einwilligung begeht
der_die Arzt_Ärztin eine nach den §§ 223 ff. StGB strafbare Körperverletzung und
68 Juana Remus

wäre zivilrechtlich schadensersatzpflichtig. Für eine rechtmäßige, also wirksame


Einwilligung muss der_die Einwilligende „in der Lage sein, seiner geistigen und
sittlichen Reife entsprechend die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs und sei-
ner Gestattung zu ermessen“.9 Bei Minderjährigen erteilen die Sorgeberechtigten,
also zumeist die Eltern, die Einwilligung, soweit der_die Minderjährige nicht
selbstständig einwilligen kann.10 Die Vertretungsbefugnis der Sorgeberechtigten
kann aber auch eingeschränkt oder nur unter bestimmten Voraussetzung wirk-
sam werden. Beispiele hierfür sind die Beschränkung der elterlichen Sorge bei der
sogenannten Beschneidung des männlichen Kindes nach § 1631d BGB, während
für die Sterilisation des Kindes sogar ein ausdrückliches Einwilligungsverbot in §
1631c BGB besteht. Die Verstümmelung des weiblichen Genitals ist gemäß § 226a
StGB sogar explizit strafbar.
Obwohl die Regelungen zur Beschneidung des männlichen Genitals erst im
Dezember 2012 und die explizite Strafbarkeit der weiblichen Genitalverstümmlung
sogar erst im September 2013 geregelt wurden, gab es bisher keine grundlegende De-
batte zur Frage, ob intergeschlechtliche Kinder bis zu einem bestimmten Alter durch
ein besonderes Verbot vor genitalverändernden Operationen und der Entnahme ihrer
Keimdrüsen geschützt werden sollten. Zwar vertreten bereits einige Jurist_innen
die These, dass die Einwilligungen in Genitaloperationen an intergeschlechtlichen
Kindern keinen Heilcharakter haben und daher wegen ihres rein kosmetischen
Charakters und ihrer irreversiblen Folgen rechtswidrig sind (vgl. Kolbe 2010, S.
164; Tönsmeyer 2011; Tolmein 2011). Dennoch bleibt auch in der Rechtsprechung
die vermeintliche Uneindeutigkeit des Geschlechts ein Streitpunkt. Lange Zeit
war die Angst vor einer möglichen körperlichen Uneindeutigkeit auch Grundlage
für die an Trans* gestellte Anforderung, sich vor der rechtlichen Anerkennung
des Geschlechts nach dem sogenannten Transsexuellengesetz auch körperlich
ihrem Geschlecht anzunähern bzw. annähern zu lassen. Gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 4
Transsexuellengesetz waren Trans* für die rechtliche Anerkennung gezwungen,
sich einem ihre äußeren Geschlechtsmerkmale verändernden operativen Eingriff
zu unterziehen. Erst seit das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2011 entschieden
hat, dass diese Bestimmung des Transsexuellengesetzes gegen die in Art. 2 Abs. 1
i.V.m. 1 Abs. 1 geschützte sexuelle Selbstbestimmung und die in Art. 2 Abs. 2 GG
geschützte körperliche Unversehrtheit verstößt und daher verfassungswidrig ist,11
bedarf es für die personenstandsrechtliche Anerkennung nach dem Transsexu-
ellengesetz bei einer „Mann-zu-Frau-Transsexuellen“ weder der Amputation des

9 BGH, Urteil vom 05.12.1958 – VI ZR 266/57, NJW 1959, S. 811.


10 Zu weiteren Einzelheiten vgl. Bager und Göttsche i. d. R.
11 BVerfG, Beschluss vom 11.01.2011 – 1 BvR 3295/07, NJW 2011, S. 909.
Inter*Realitäten 69

Penisschaftes und des Hodens noch der Bildung von Neovulva und Neoklitoris.
Auch die bei „Frau-zu-Mann-Transsexuellen“ vormals für erforderlich gehaltene
Angleichung an das Erscheinungsbild des männlichen Geschlechts durch operative
Entfernung von Gebärmutter, Eierstöcken und Eileitern sowie eine Brustverklei-
nerung wird Dank des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes nur noch auf
expliziten Wunsch der Trans* vorgenommen.
Auch wenn das Bundesverfassungsgericht den Zwang zu chirurgischen Maß-
nahmen zur rechtlichen Anerkennung des Personenstandsgesetzes für verfassungs-
widrig befunden und damit abgeschafft hat, so ist der Gedanke der Eindeutigkeit
eines Geschlechtskörpers weiterhin im Alltagswissen und damit im rechtlichen
Diskurs verankert. Die körperliche Uneindeutigkeit wird nach wie vor als abnormal
und wenig erstrebenswert angesehen. Erst kürzlich entschied das Bundessozial-
gericht12, dass die Kosten für eine Operation, die das Geschlecht einer Person eher
verundeutlicht als verdeutlicht, nicht gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V durch die
Krankenkasse zu erstatten sind. In dem entschiedenen Fall nahm die Antragstellerin
bereits Hormonpräparate zur Vermännlichung ein und wollte nunmehr mittels
eines chirurgischen Eingriffes die Herausbildung eines Minipenis bei gleichzeitiger
Erhaltung und Vergrößerung der vorhandenen Schamlippen erreichen. Das Bun-
dessozialgericht entschied, dass eine Person keinen Anspruch auf die Herstellung
eines körperlichen Zustands mit beidgeschlechtlichen Merkmalen habe, da von
den Erstattungsleistungen der Krankenkasse nur eine solche Behandlung erfasst
sei, die „zumindest auf die Annäherung an einen regelhaften Zustand – also dem
körperlichen Zustand einer Frau bzw. eines Mannes – gerichtet ist“.13 Zwar nimmt
das Bundessozialgericht zur Kenntnis, dass es „Menschen mit beidgeschlechtlichen
Merkmalen bisweilen bereits von Geburt an gibt“;14 in solchen Fällen bestehe aber
lediglich ein Anspruch auf Krankenbehandlung, „die darauf gerichtet ist, den
betroffenen Versicherten einem geschlechtlichen Regeltypus anzugleichen, nicht
aber darauf, den Zustand des Beidgeschlechtlichen zu vertiefen“.15 Angesichts der
Vielfalt geschlechtlicher Körper ist die in dem Urteil deutlich werdende Abwertung
unverständlich. Die bloße Abweichung von einer vermeintlichen Norm wie bei
intergeschlechtlichen Kindern führt zu Behandlungsbedürftigkeit und -fähig-
keit, ohne weitere Angaben machen zu müssen. Es erscheint daher angesichts der
rechtlichen Marginalisierung und Abwertung nicht verwunderlich, dass gerade die
Biomedizin, die maßgeblich an der (im wahrsten Sinn des Wortes) Normierung

12 BSG, Urteil vom 28.09.2010 − B 1 KR 5/10 R, NJW 2011, S. 1899.


13 BSG, Urteil vom 28.09.2010 − B 1 KR 5/10 R, NJW 2011, S. 1901.
14 Vgl. ebd.
15 Vgl. ebd.
70 Juana Remus

des Körpers und der Aufrechterhaltung der Zweigeschlechtlichkeit mitwirkt, das


Leben „zwischen den Geschlechtern“ zu einem psychischen Notfall erklärt und
dafür Behandlungskonzepte entwickelt.
Mittlerweile ist der Glaube an die psychische Schädigung intergeschlechtlicher
Kinder im Gefolge der „Andersartigkeit“ von genitalen Merkmalen nicht mehr
unwidersprochen. Verschiedenste Studien (Dreger 1999; Preves 2003) und Erfah-
rungsberichte von Inter* (vgl. Barth et al. 2013) zeigen, dass weder das Leben als
Zwitter unweigerlich zu Stigmatisierung und Ausgrenzung führt, noch Eltern ihre
Kinder nicht lieben oder akzeptieren könnten, nur weil sie einer bestimmten Norm
nicht entsprechen (vgl. Morgen 2013). Stattdessen haben immer mehr Eltern den
Mut, ihre Kinder offen und ohne Angst als intergeschlechtlich zu erziehen und ein
vom Geschlecht ihres Kindes unabhängiges glückliches Familienleben zu leben
(vgl. „Eine Mutter“ 2012; Morgen 2013).

Personenstandsrechtlicher Handlungsbedarf

Auch das geltende Personenstandsrecht hat die körperliche Varianz intergeschlecht-


licher Menschen bisher nicht anerkannt, wenn dies auch Ziel einer kürzlich in Kraft
getretenen Gesetzänderung war. Das Personenstandsgesetz regelt die Anzeige
von Personenstandsänderungen, also von Geburt, Eheschließung, Begründung
einer Lebenspartnerschaft und Tod sowie den damit in Verbindung stehenden
familien- und namensrechtlichen Tatsachen. Nach § 21 Abs. 1 Satz 3 PStG ist bei
Geburt eines Kindes das Geschlecht im Geburtenregister zu beurkunden. Dabei
ist die Frist des § 18 PStG maßgeblich, wonach die Anzeige der Geburt des Kindes
samt Angabe des Geschlechtes innerhalb einer Woche nach Geburt erfolgen muss.
Den Regelungen des Personenstandsgesetzes liegt zugrunde, dass zum einen das
Geschlecht schon bei Geburt sichtbar ist, zum anderen dass sich das Geschlecht
eines Menschen im Laufe des Lebens sich ändere. Der Wortlaut des § 21 PStG gibt
dabei nicht vor, dass das Geschlecht nur als „männlich“ oder „weiblich“ einzutragen
ist; eine solche Notwendigkeit folgte bislang nur aus dem Alltagsverständnis über
Geschlecht. Seit dem 29. März 2010 regelt dies eine neue Verwaltungsvorschrift
zum Personenstandsgesetz,16 die ausdrücklich formuliert, dass das Geschlecht
eines Kindes nur mit „männlich“ oder „weiblich“ einzutragen ist.
Seit Jahren fordern Inter*Aktivist_innen Regelungen im Personenstandsgesetz,
die die Besonderheiten von intergeschlechtlichen Menschen berücksichtigen. Sie

16 Nr. 21.4.3 PStG-VwV, in Kraft seit 01.08.2010.


Inter*Realitäten 71

verlangen, entgegen der genannten Verwaltungsvorschrift und -praxis, auch ab-


weichende Geschlechtseintragungen zu ermöglichen und eine Option zu schaffen,
den Geschlechtseintrag entgegen § 18 PStG aufzuschieben. Teilweise wird gefordert,
auf den Geschlechtseintrag im Geburtenregister gänzlich zu verzichten (IVIM
2009). Ziel der Forderungen ist es, sowohl Sorgeberechtigten als auch Ärzt_innen
die Möglichkeit zu geben, das Kind nicht anhand etwa vorhandener Genitalien
in ein bestimmtes Geschlecht zu zwängen. Ein weiteres Ziel ist es, den Druck zur
Herstellung eines eindeutig als „männlich“ oder „weiblich“ assoziierten Genitals
und damit den Wunsch nach den oben benannten Operationen zu minimieren.
Im Rahmen des Kampfes um Anerkennung der geschlechtlichen Vielfalt wandten
sich Inter*Aktivist_innen an verschiedenste Ausschüsse der Vereinten Nationen.
Als Unterzeichnerstaat des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von
Diskriminierung der Frau, abgekürzt „Frauenkonvention“ oder CEDAW17, hatte
Deutschland im Jahr 2007 zum sechsten Mal zu berichten, wie es um die Umset-
zung der Rechte der Frauen in Deutschland bestellt ist.18 Dies nahm der Verein
„Intersexuelle Menschen e. V.“ zum Anlass, einen Parallelbericht zu verfassen,
der sich mit der Situation all jener Personen beschäftigte, die nicht eindeutig
dem männlichen Geschlecht zugehörig sind.19 Er berichtet von Ignoranz und
Verweigerung der Bundesregierung, die Situation von Personen, die zum Zwecke
der Anpassung an eine Zweigeschlechtergesellschaft an ihren Genitalien operiert
und deren Keimzellen entfernt wurden, zur Kenntnis zu nehmen, und benennt die
einzelnen Menschenrechtsverletzungen. Der Ausschuss zeigte sich betroffen und
gab der Bundesregierung auf, „in einen Dialog mit NGOs von intersexuellen […]
Menschen einzutreten, um ein besseres Verständnis für deren Anliegen zu erlangen
und wirksame Maßnahmen zum Schutz ihrer Menschenrechte zu ergreifen.“20
Die Bundesregierung nahm den Dialog nicht auf. Stattdessen beauftragte sie
den Deutschen Ethikrat, eine Stellungnahme zur Situation intersexueller Menschen
in Deutschland zu erarbeiten. Der Ethikrat empfahl in seiner am 23. Februar 2012
veröffentlichten Stellungnahme zum Thema Intersexualität ein umfassendes Verbot
für geschlechtszuweisende Operationen und schlug vor, neben „männlich“ und
„weiblich“ einen weiteren Personenstand zu schaffen. Zusätzlich wies der Ethikrat
darauf hin, dass die Bundesregierung prüfen solle, ob der Geschlechtseintrag im

17 Die Abkürzung CEDAW steht für Concluding observations of the Committee on the
Elimination of Discrimination against Women
18 Bt-Drs. 16/5807.
19 Der Parallelbericht ist hier zu finden http://intersex.schattenbericht.org/public/
Schattenbericht_CEDAW_2008-Intersexuelle_Menschen_e_V.pdf
20 CEDAW, Concluding observations of the Committee on the Elimination of Discrimination
against Women, Germany, 10 February 2009, CEDAW/C/DEU/CO/6, Nr.61, 62.
72 Juana Remus

Personenstandsgesetz überhaupt notwendig sei (Deutscher Ethikrat 2012, S. 178).


Mit Verweis auf diese Empfehlung schlug die Bundesregierung eine Änderung des
Personenstandsgesetzes vor, die am 1. November 2013 in Kraft trat. Danach ist der
Personenstand ohne Angabe eines Geschlechtes in das Geburtenregister einzutragen,
wenn „das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeord-
net werden kann“21. Nach Ansicht des Bundesministeriums für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend sei die Neuregelung nötig, um eine Forderung des Deutschen
Ethikrates im Bereich der Intersexualität umzusetzen.22 Dies ist aber entschieden
zurückzuweisen. Der Ethikrat hatte in seiner Stellungnahme die Empfehlung
ausgesprochen, neben der Eintragung als „weiblich“ oder „männlich“ wahlweise
auch „anderes“ zu ermöglichen, wobei die Eintragung so lange aufschiebbar sein
sollte, bis die betroffene Person sich selbst entschieden hat oder eine bestimmte
Altersgrenze erreicht hat (Deutscher Ethikrat 2012, S. 177).
Die vom Gesetzgeber hingegen in § 22 PStG eingefügte Neuregelung führt die
Empfehlung des Ethikrates sowie die Forderungen der Inter*-Organisationen ad
absurdum. Weder wurde geregelt, dass die Eintragung aufgeschoben werden kann,
noch ein Wahlrecht für die betreffenden Personen etabliert. Stattdessen muss bei
Personen mit nicht zuordenbarem Geschlecht der Eintrag offenbleiben. Da auch kein
zeitliches Fenster angegeben ist, wird davon auszugehen sein, dass die Frist des §
18 PStG maßgeblich ist, wonach die Anzeige der Geburt des Kindes samt Angabe
des Geschlechtes innerhalb einer Woche nach Geburt erfolgen muss. Das bedeu-
tet, dass nur jene Personen unter die Regelung fallen, deren Gene oder Genitalien
bei Geburt bereits als „uneindeutig“ gelten. Das ist nur ein kleiner Bruchteil von
intergeschlechtlichen Menschen. Eine Vielzahl der Entwicklungen des Körpers
finden während der Pubertät statt, so dass auch bestimmte körperliche Variationen
erst nach der Pubertät als „uneindeutig“ entdeckt werden. Auch lässt das Gesetz
völlig offen, wer die Entscheidung, dass das Geschlecht „weder männlich noch
weiblich“ ist, treffen soll: Die Ein-Wochen-Frist nach der Geburt schließt zumin-
dest die betroffene Person selbst aus. Es verbleiben die Eltern, die Ärzt_innen und
die Geburtshelfer_innen, wobei der Druck auf Eltern, eine genitalverändernde
Operation vornehmen zu lassen, nicht geringer wird, wenn ohne Operation der
Geschlechtseintrag offengelassen wird.
Zudem ist völlig offen, wie andere rechtliche Normen, die an das Geschlecht
anknüpfen, bei einem offenen Geschlechtseintrag anzuwenden sind. Dies betrifft

21 § 22 Abs. 3 PStG lautet seit 1.11.2013: „Kann ein Kind weder dem weiblichen noch dem
männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine
solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen.“
22 Presseeinladung des BMFSFJ zum 1.2.2013, siehe http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/
veranstaltungen,did=195876.html
Inter*Realitäten 73

beispielsweise die Abstammungsnormen § 1591 und § 1592 BGB. In § 1591 BGB


heißt es etwa: „Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat.“ Auch wenn
man vertreten kann, dass die Norm auf Personen mit offenem Geschlechtseintrag
analog anzuwenden sein wird (Sieberichs 2013, S. 1182), so bleibt das erhebliche
Risiko, dass dies erst von intergeschlechtlichen Personen gerichtlich erstritten
werden muss. Nicht anders verhält es sich mit den Regelungen zur Schließung einer
Ehe oder Lebenspartnerschaft. Bekanntlich darf die Ehe nur zwischen Mann und
Frau geschlossen werden, die Lebenspartnerschaft nach § 1 LPartG (Lebenspart-
nerschaftsgesetz) nur zwischen Personen des gleichen Geschlechts. Dürfen interge-
schlechtliche Personen eine Ehe nur dann schließen, wenn ihr Geschlechtseintrag
„männlich“ oder „weiblich“ ist? Und wenn die Lebenspartnerschaft nur Personen
mit gleichem Geschlechtseintrag offen steht – dürfen Personen mit offenem Ge-
schlechtseintrag eine Lebenspartnerschaft (nur) mit Personen begründen, deren
Eintrag ebenso offen ist?
Die neue gesetzliche Regelung im Personenstandsgesetz ist weder ein Fort-
schritt, noch eine Erleichterung. Dabei wäre durchaus möglich gewesen, sich zum
Beispiel an einer wesentlich progressiveren Regelung aus dem 18. Jahrhundert zu
orientieren. Bis Ende des 19. Jahrhunderts waren intergeschlechtliche Menschen
dem deutschen Recht als Zwitter bekannt. Das Preußische Allgemeine Landrecht
von 1794 regelte, dass Eltern bei der Geburt von Zwittern ein Erziehungsgeschlecht
wählen und die Betroffenen dann mit 18 Jahren ihr Geschlecht festlegen konnten
(Plett 2003, S. 26f.). Noch vielversprechender wäre allerdings die Möglichkeit ge-
wesen, den Geschlechtseintrag aus dem Geburtenregister komplett zu streichen. So
wäre es möglich gewesen, der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15.
August 1996 auch für intergeschlechtliche Menschen zur Geltung zu verhelfen: Das
Bundesverfassungsgericht hat in dieser Entscheidung festgestellt, dass die Frage,
welchem Geschlecht sich ein Mensch zugehörig empfindet, jenen „Bereich betrifft,
den das Grundgesetz als Teil der Privatsphäre unter den verfassungsrechtlichen
Schutz der Art. 2 Abs. 1 i.V. mit Art. 1 Abs. 1 GG gestellt hat.“23
Die Entwicklung der rechtlichen Situation zeigt, wie stark die Gesellschaft –
und damit das Recht – in der Zweigeschlechtlichkeit verhaftet ist. Weder werden
Maßnahmen ergriffen, intergeschlechtliche Menschen vor körperlichen Eingriffen
zu schützen, noch wird ihre Existenz durch die gesetzlichen Änderungen im Per-
sonenstandsgesetz anerkannt. Es wird daher für Menschen wie Johanna weiterhin
unmöglich sein, sich auf das Antidiskriminierungsrecht zu stützen, wenn sie wegen
der an ihnen vorgenommenen Eingriffe daran gehindert werden, den von ihnen
gewünschten Beruf auszuüben.

23 BVerfG, Beschluss vom 15.08.1996 – 2 BvR 1833/95, NJW 1997, S. 1632.


74 Juana Remus

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10. Dezember 2013
Queer-dekonstruktive Perspektiven auf
Sexualität und Geschlecht
Ines Pohlkamp

Queer-dekonstruktive Perspektiven auf Sexualität und Geschlecht

Einleitung: Das Echo ist laut

Anfang 2013 begann eine kontroverse Diskussion zum Alltagssexismus in Deutsch-


land (Meßmer 2014). Zum ersten Mal wurde Sexismus als Alltagsphänomen nicht
nur in der Wissenschaft (Diehl et al. 2014) und in queer-/feministischen Kontexten,
im persönlichen Erfahrungsraum von Cis-Frauen1, Transfrauen2 und feminisierten
Männern3, sondern auch in breiten Bevölkerungsschichten diskutiert (Becker 2014;
Kerner 2014). In Baden-Württemberg sieht der neue Bildungsplan für allgemein-
bildende Schulen ab 2015 „Akzeptanz gegenüber sexueller Vielfalt“ vor. In einer
Contra-Petition heißt es, dass die anvisierte bildungspolitische Leitlinie auf eine
„pädagogische, moralische und ideologische Umerziehung“ abzielt. Der Initiator,
ein Realschullehrer aus dem Schwarzwald, betont darin die Gefahr, dass Kinder
und Jugendliche zur Homosexualität geführt werden könnten, ohne dass ihnen die
„negativen Begleiterscheinungen eines LSBTTIQ-Lebenstils“ wie erhöhte Suizid-
raten und gesteigerter Drogenkonsum vermittelt würden. Die Petition wurde von
über 192.000 Personen unterschrieben.4 Seit Anfang 2014 setzt das Unternehmen

1 Der Begriff Cis-Frauen meint jene Personen, denen bei der Geburt ein weibliches
Geschlecht zugewiesen wurde und die dies als Geschlechtsidentität, Geschlechtskörper und
Selbstbezeichnung beibehalten haben. Cis (lat.) meint diesseits (der Geschlechterbinarität).
2 Transfrauen ist eine Selbstbezeichnung jener Personen, denen bei der Geburt
kein weibliches Geschlecht zugewiesen wurde und die sich geschlechtlich als Frau
repräsentieren, fühlen, leben. Trans (lat.) meint hier über die binären Geschlechtergrenzen
hinaus.
3 Feminisierte Männer meint jene Personen, die sich in der Repräsentation ihrer
Männlichkeit explizit weibliches Verhalten, Aussehen, Gestik, Stimme etc. integrieren
und Weiblichkeit repräsentieren. Oft wird dies stereotyp mit der Idee der Homosexualität
gekoppelt.
4 Petitionstext unter: https://www.openpetition.de/petition/online/zukunft-verantwortung-
lernen-kein-bildungsplan-2015-unter-der-ideologie-des-regenbogens, letzter Abruf 22.

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
76 Ines Pohlkamp

„Facebook“ als soziales Netzwerk im englischsprachigen Auftritt auf geschlechtliche


und sexuelle Vielfalt. Nutzer_innen können aus 50 verschiedenen geschlechtlichen
und sexuellen Orientierungen wählen. Zugleich ist eine Kombination aus Homo-
sexualität und Profifußball noch für viele undenkbar. Doch einige Fans des FC
Bayern positionierten sich nach dem Coming-out des Ex-Bayern-Profis Thomas
Hitzelsperger mit einem Banner auf der Tribüne: „Je größer das Echo, desto weiter
der Weg zur Normalität. Erst wenn ein Outing kein Thema mehr ist, ist das Ziel
erreicht“.5
Die vielfältigen Beispiele zeigen, dass der Weg zur Anerkennung, Akzeptanz und
Gleichstellung verschiedener sexueller und geschlechtlicher Orientierungen noch
weit ist und dass wir uns mitten in der Auseinandersetzung um Diskurshegemo-
nien zur Anerkennung geschlechtlicher und sexueller Existenz- und Lebensweisen
befinden. Mit Blick auf geschlechter- und sexualitätssensible Pädagogik und Bil-
dung ist festzuhalten, dass deutschsprachige queer-dekonstruktive Überlegungen
für Pädagogik und Bildung (z. B. Fritsche et al. 2001; Heinrichs 2001, Hartmann
2004, 2004a, Plößer 2005), die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt und/oder
Identitätskritik zum Thema machten, bis heute nur wenig berücksichtigt werden.
Doch vielleicht, so das optimistische Anliegen dieses Artikels, ist jetzt ein guter
Zeitpunkt dafür?
Der Beitrag befasst sich mit hetero-hegemonialen Annahmen zu Geschlecht
und Sexualität, trans-diversen und normativitätskritischen Perspektiven und
stellt ausgewählte Paradigmen für eine queer-dekonstruktive, geschlechter- und
sexualitätssensible Pädagogik und Bildung vor. Dabei wird der Blick vom sexuell
und geschlechtlich vermeintlich Besonderen und „Ver-Anderten“ (Reuter 2002)
auf die heteronormative Ordnung des Allgemeinen gelenkt. Ziel des Artikels ist
es, zum Infragestellen von einschränkenden und gewaltsamen Normalisierungs-
prozessen einzuladen und zur zeitnahen Anerkennung und Implementierung
queer-dekonstruktiver Perspektiven in Bezug auf Geschlechter und Sexualitäten
in Bildung und Pädagogik beizutragen.

April 2014.
5 Vgl. Bild zur Reportage von Schmitz (2014): Das Wort des Jahres. In: Süddeutsche
Zeitung 8./9. Februar 2014, S. 3.
Queer-dekonstruktive Perspektiven auf Sexualität und Geschlecht 77

1 Eingeschrieben: Hetero-hegemoniales
Alltagsverstehen in Pädagogik und Bildung

Als frische Absolventin der Sozialpädagogik mit Schwerpunkt Geschlechter- und


Erwachsenenbildung waren für mich die Publikationen zu poststrukturalistischer
und dekonstruktiver Pädagogik um die Jahrtausendwende wegweisend. Zu ihren
– vom Mainstream pädagogischer Auseinandersetzungen vergessenen gemachten
– Inhalten zählen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, Heteronormativitätskritik,
die Thematisierung von Diskriminierungen und Gewalt, Homo- und Transsexuel-
lenfeindlichkeit, Identitätskritik und intersektionale Perspektiven auf Geschlecht
und Sexualität. Heute, über 15 Jahre später, nach zahlreichen Auseinandersetzungen
mit Kolleg_innen aus Erziehung, Pädagogik, Sozialer Arbeit, politischer Bildung
und Wissenschaft, fällt meine Einschätzung zur Verbreitung queer-dekonstruktiver
Ansätze und Ideen nüchtern aus. Meinen Thesen lauten, dass die Landschaft von
Pädagogik und Bildung in Wissenschaft, Expert_innentum und konkreter Praxis mit
dem Klientel nach wie vor von einem hetero-hegemonialen Alltagsverstehen geprägt
ist, und dass es im pädagogischen Alltag angesichts der Vielzahl der Aufgaben und
des ökonomischen Effizienzanspruchs eine schwierige Aufgabe ist, Zeit zu finden,
Normalisierungen zu dechiffrieren.6 Denn ein kritischer Bezug auf bestehende
soziale Normen und Handeln im Kontext von Normalisierungen braucht Zeit für
Auseinandersetzungen. Inhaltlich dominieren im hetero-hegemonialem Alltagsver-
stehen zwei Prämissen: (1) Sexuelles Begehren (als hetero-, homo- oder bisexuell) ist
eine essentialistische Veranlagung. (2) Geschlecht ist natürlich zweigeschlechtlich,
wobei Ausnahmen auf die Regel verweisen. Diese heteronormativen Grundan-
nahmen werden (intendiert und nicht-intendiert) an jenen Orten reproduziert,
wo Sexualität und/oder Geschlecht thematisiert werden. Dies geschieht außerhalb
wie auch innerhalb geschlechter-/sexualitätssensibler Settings. Problematisch ist,
dass die Vorannahmen zu stereotypen Selbstverständlichkeiten führen, die dann
aufgrund eines angenommenen biologischen oder sozialen Wahrheitsgehalts nicht
mehr infragegestellt werden (können). Zu diesen Selbstverständlichkeiten zählen
z. B.: „Mädchen und Jungen sind immer verschieden.“ – „Geschlecht und Sexua-
lität sind natürliche Konstanten.“ – „Geschlechtliche und sexuelle Instabilitäten
verweisen auf eine psychische Störung, auf eine individuelle Eigenart oder sind
eine (hoffentlich bald) vorüberziehende Lebensphase.“

6 Diese und folgende Einschätzungen und Beobachtungen stammen aus Fortbildungen mit
Praktiker_innen, aus Facharbeitskreisen mit Expert_innen, aus Auseinandersetzungen
mit Wissenschaftler_innen der Pädagogik und Sozialer Arbeit und aus Erfahrungen
in der wissenschaftlichen Lehre mit Studierenden der Erziehungswissenschaften, der
Pädagogik und der Sozialen Arbeit.
78 Ines Pohlkamp

Geschlecht ist im Sprechen der meisten pädagogischen Fachkräfte eine genera-


lisierende Differenzierungsfolie zur Aufteilung der Menschen in Frauen/Mädchen
und Männer/Jungen. Individuelle und strukturelle Unterschiede werden in der
Folge dethematisiert. Darüber hinaus bleiben Verbindungen von Geschlecht und
Rassismus und Klassismus häufig unerkannt. In Bezug auf Geschlecht dominiert
selbst in Fachkreisen eine vage Kenntnis darüber, dass Geschlecht sozial konstruiert
ist, wobei oft hinzugefügt wird, dass dies irgendwie nicht zu verstehen ist, weil es
ja Frauen/Mädchen und Männer/Jungen gäbe, zumindest „in der Praxis“. Oft wird
eine biologische Grundlage von Geschlecht, das heißt in der Regel die Differenz
von zwei geschlechtlich kategorisierten Körpern und das verschiedene „Wesen“ von
Kindern und Jugendlichen (und Erwachsenen), angeführt. An dieser dualistischen
Verschiedenheit sei nun mal nicht zu rütteln. Kurz: Dualistische Differenzlogiken
im Kontext von Geschlecht und Sexualität sind der professionellen Pädagogik,
Erziehung, Sozialen Arbeit und politischen Bildung eingeschrieben.
Sexualität als sexuelle Handlung und als sexuelle Orientierung haftet – ähnlich
wie der Kategorie Geschlecht – die Idee der biografischen Kontinuität und des
„Natürlichen“ an. Heterosexuelle Orientierung und heterosexuelles Verhalten ist
demzufolge „normal“, weil die meisten Menschen heterosexuell leben wollen, und
weil dies der Reproduktion (Arterhaltung) diene und dem Menschen (und der
Menschheit) zu eigen ist. Heterosexualität als ein soziales Machtverhältnis und
Effekt von Normalisierungsprozessen wird nicht anerkannt. Heteronormatives
Denken als naturalisierte Vorstellung vom Zusammenspiel von Geschlecht und
Sexualität stellt so eine Grundlage für pädagogisches und gesellschaftstheoreti-
sches „Vorbeidenken“ (Löw 2008, S. 198) dar. Sowohl Kinder und Jugendliche als
auch Pädagog_innen beziehen sich häufig auf ein technokratisches Wissen von
Sexualität, in dem biologische Vorannahmen und Festlegungen keiner kritischen
Reflexion unterliegen. Dazu zählen nach Löw die Betrachtung der Sexualität als
Triebhaftigkeit nach Freud, die Sexualität als adoleszente Bewältigungs- und Um-
bruchphase, die Annahme, dass die erzieherische und Identität sichernde Aufgabe
in der Formung der biologischen (geschlechtlichen) Vorgaben besteht und dass
Sexualität auf Orgasmus abzielt (vgl. ebd., S. 206ff). Entsprechend bedeutet die
Beschäftigung mit Sexualität vor allem die Thematisierung von Subthemen wie
Fortpflanzung (wie geht praktische Heterosexualität?), Verhütung (als gesundheits-
und bevölkerungspolitische Aufklärung) und sexuelle Gewalt (als Fehlverhalten).
Dabei wird Heterosexualität und im Notfall auch Homosexualität zum begrüßten
Normalfall sexuellen Begehrens (vgl. auch Schmidt/Schondelmayer i. d. B.).
Das Dogma „natürlicher“ Kontinuität, der heteronormative Inhalt von Begehen
und Verhalten, die Verkennung der Diskontinuitäten, Instabilitäten und Mehrdi-
mensionalität der individuellen Handlungspraxen, der subjektiven Selbstkonsti-
Queer-dekonstruktive Perspektiven auf Sexualität und Geschlecht 79

tuierungen und das Vergessen sozialer Dominanzverhältnisse tragen zusätzlich


dazu bei, hetero-hegemoniale Binaritäten zu reproduzieren. Trotz der Präsenz
geschlechtlicher und sexueller Vielfalt in öffentlichen Kontroversen und Medien
und ungeachtet einschlägiger Gesetze (z. B. Transsexuellengesetz (1981), Allgemeines
Gleichbehandlungsgesetz (2006), Personenstandsgesetz (2013)), die Diskriminie-
rung aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Identität zum Thema machen
bzw. die Anerkennung von trans- und intersexuellen Personen legitimieren, sind
viele Fachkräfte nicht in der Lage, normativitätskritisch zu arbeiten. Mehr noch, es
existiert eine Angst der Fachkräfte und der Expert_innen, nicht-normatives Wissen
bereitzustellen, denn sie stellen sich folgende Fragen: Wie reagieren die Eltern/
Erziehungsberechtigten auf die neuen Inhalte? Wie reagieren die Teilnehmenden,
wenn wir über Transgender sprechen? Darf ich überhaupt normativitätskritische
Inhalte einbauen? Diese Fragen sind Ausdruck von Verunsicherungen und sie
veranschaulichen, dass das hetero-hegemoniale Alltagsverstehen in Pädagogik und
Bildung dominiert und so dazu beiträgt nicht-normative Auseinandersetzungen
zu verhindern.

2 Auseinandersetzen:
Normativitätskritik und Trans-Diversität

Normativitätskritik und die Idee der Trans-Diversität sind grundlegende Begriffe


in queer-dekonstruktiver Pädagogik und Bildung. Sie bieten Anschlussstellen, um
hetero-hegemoniale Perspektiven zu erweitern. Normativität meint in diesem Kontext
das Vorhandensein einer geschlechtlichen Norm als Leitlinie für soziale Praxen
und Begegnungen. Kritik bezieht sich auf das Infragestellen der Normativität und
bedeutet, sich der normativen Begrenzung bewusst zu sein, diese zu überschreiten
oder sich ihrer temporär zu entledigen. Soziale Normen bilden die Matrix der Nor-
mativität, wobei sie als statische Strukturen wahrgenommen werden, ohne statisch zu
sein. Nach Judith Butler ist eine Norm keine Regel oder Gesetz, sondern ist vielmehr
ein standardisierter Effekt sozialer Praktiken, der Normalisierung hervorruft (vgl.
Butler 2004, S. 73). Normativitätskritik wird zu einer Folge von (Sprech-)Handlungen,
in denen Normalisierungen zum Thema gemacht werden. Zweigeschlechtlichkeit
und Heterosexualität als manifeste Produkte von sozialen Normen entspringen
dabei keiner individuellen Entscheidung, sondern sind „eine Form sozialer Macht,
die das intelligible Feld der Subjekte hervorbringt, und ein Apparat, durch den die
Geschlechterbinarität eingerichtet wird“ (ebd., S. 84). Soziale Normen wirken nur
selten offensichtlich restriktiv als normalisierende Orientierungspfeiler, sondern
80 Ines Pohlkamp

sie werden von Individuen „selbstbestimmt“ und „freiwillig“ ausgewählt. In Bezug


auf Geschlecht und Sexualität bedeutet dies, dass die Selbsttechnologien (Michel
Foucault) soweit fortgeschritten sind, dass die Sichtbarkeit strukturell verankerter,
sozialer Normen, die zur Ungleichbehandlung beitragen, der alltäglichen Wahr-
nehmung oft entbehren. Selbsttechnologien sind nach Michel Foucault eine Form
der Handlungs- und Wahrheitspraxen, die zur Subjektkonstituierung beitragen.
Sie haben Veränderungen an Körper, Ausdruck, Befähigungen zum Ziel, die ein
Subjekt als Handlung und zum Erkennen des Selbst vornimmt. Dazu zählt jene
Technologie des Selbst, die es „dem Einzelnen ermöglicht, aus eigener Kraft oder
mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele,
seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen“ (Foucault
2005; 1982, S. 968). Pädagogik und Bildung beteiligen sich an den Techniken der
Fortschreibung hetero-hegemonialer Verhältnisse, indem sie normative Wahrheiten
als kulturelles Wissen zu Geschlecht und Sexualität bereitstellen und reproduzieren
(vgl. ebd.). Dies geschieht in der Wissenschaft, im Expert_innentum und in der
Praxis mit dem Klientel gleichermaßen. Die reproduzierte Normativität meint in
diesem Kontext die strikte Orientierung an dichotomen Normalisierungsprozessen,
die Geschlecht als verfestigte Binarität und hegemoniale Heterosexualität als Folge
reproduziert. Sowohl das Klientel als auch die Fachkräfte werden dabei von einem
„Normalisierungsdruck“ (Waldschmidt 2003, S. 195) beeinflusst.

„Die Sorge aus den Normalitätszonen herauszufallen, die Angst davor, in eine
Randposition zu geraten, aus der ein Entkommen nicht mehr möglich ist, diese
Denormalisierungsangst treibt die Subjekte um. Ihre Aufgabe ist es, sich – möglichst
selbstverantwortlich – immer wieder aufs Neue in den einzelnen Normalitätsfeldern
zu positionieren“ (Waldschmidt 2003: S. 195f).

Soziale Normen rund um Geschlecht und Sexualität sind dabei Grundpfeiler der
Entstehung von Subjektivität und der Partizipation in der Leistungsgesellschaft
(Butler 1997, Waldschmidt 2003). Geschlechtliche und sexuelle Normativität
meint die strikte und rigide Annahme der aufeinander verweisenden Existenz der
Zweigeschlechtlichkeit und der daraus folgenden Hetero-, Homo- und Bisexualität.
Diskussionen um pädagogische und bildnerische Konzepte zu Vielfalt bewegen
sich bislang auffallend häufig innerhalb dieser Matrix und weisen nur selten über
diese Maßgabe hinaus. Ein Grund hierfür liegt in der Anziehungskraft der „Nor-
malitätszonen“ in einer auf Leistung fixierten Gesellschaft, die ein Normalsein zum
Standard und zum Glücksversprechen erheben. Dann zählt die reale Anzahl und die
Kombination aus der Anzahl der Schwulen, der Transgender, der Cis-Frauen, der
Cis-Männer, der Lesben, der Migrant_innen, der Alten, der sozial Unterklassierten
Queer-dekonstruktive Perspektiven auf Sexualität und Geschlecht 81

etc. als Beweis für Diversität. Das heißt, normative Diversität meint die schlichte
Zählbarkeit und Vielfalt eindeutiger sozialer Zugehörigkeiten.
Demgegenüber schlage ich als Arbeitsbegriff Trans-Diversität vor, um aus dem
Dilemma der identitären, zählbaren Zugehörigkeiten herauszubrechen und um
hegemoniale Perspektiven innerhalb einer sozialen Gruppe benennen und kri-
tisieren zu können. Trans-Diversität impliziert eine weitestgehende Offenlegung
der Interessen, die hinter Diversitätsansprüchen liegen. Sie gibt darüber hinaus
jenen Positionen, die noch keine Stimme, keine Eindeutigkeit und keine Konstanz
als soziale Zugehörigkeit besitzen, einen Freiraum, der immer mitgedacht wird.
Trans-Diversität ist die alltägliche Diskontinuität der sozialen Vielfalt in sozialen
Ungleichheitsverhältnissen. Für die Praxis bedeutet dies, dass Normativitätskritik
und Trans-Diversität nicht die Anzahl und Kombinationen sichtbarer oder belegbarer
Vielfalt meinen, sondern dass sie das Vergessen der Dominanz von dualistischen
Hierarchien, normativen Entsprechungen und beruhigenden Versprechungen der
„Normalitätszonen“ ausschließen. Trans-Diversität als Ausdruck für die alltägliche
Diskontinuität der sozialen Vielfalt bedeutet, sich der Selbstverständlichkeiten
bewusst zu werden, sie zu destabilisieren und zugleich gesellschaftliche Ungleich-
heitsverhältnisse zu berücksichtigen, um mit Lust auf (neue) Begegnung(en) in die
pädagogische Praxis einzutauchen.

3 Entselbstverständlichen:
Paradigmen queer-dekonstruktiver Praxis

Wesentlich für eine queer dekonstruktive Praxis ist eine Bereitschaft der Fachkraft
zur reflexiven Auseinandersetzung mit dem eigenen Gewordensein und den ge-
sellschaftlichen Verhältnissen, in denen sie_er lebt. Die häufig gestellte skeptische
Frage lautet: Warum sollte ich mich überhaupt mit den Themen auseinandersetzen,
wenn doch eigentlich nur die Gefahr besteht, von Kolleg_innen oder vom Klientel
als „abgerückt“, „speziell“ oder sogar als „verrückt“ abgestempelt zu werden? Die
Erfahrung zeigt außerdem, dass jene Fachkräfte, die diesen ersten Schritt der
persönlich-professionellen Auseinandersetzung gegangen sind, im Umgang mit
den Themenbereichen und im direkten Kontakt häufig zunächst angestrengt und
überfordert agieren. Denn plötzlich, so wird vielen klar, ist Geschlecht und Sexualität
in allen Interaktionen, Inhalten und Herangehensweisen sichtbar. Dies kann sogar
82 Ines Pohlkamp

qualifizierte Fachkräfte der Geschlechter- und Sexualbildung und pädagogische


Wissenschaftler_innen überraschen.7
In Qualifizierungen für geschlechter- und sexualitätssensible Bildungsarbeit
erleben die Fachkräfte, dass die Auseinandersetzungen für die eigene Persönlichkeit,
für Kommunikation, für die Begegnung mit dem Klientel und für die pädagogische
Haltung produktiv werden. Teilnehmer_innen lernen, sich in Reflexionseinheiten
an Ungereimtheiten und Instabilitäten zu erinnern, sie lernen, Normalisierungen
zu erkennen und zu entselbstverständlichen. Der eigene Blick kann sich für jene
Momente öffnen, wo sich das Klientel oder Kolleg_innen der Heteronormativität
entzogen haben und Selbstverständlichkeiten infragegestellt wurden: Da ist der
kleine Junge Sami, der mit rosa Schuhen in die Kita kommt; Bea, die nun in der
Grundschule doch Ole genannt werden will. Da ist die lesbisch lebende Kollegin,
die sich nicht traut, ihre Partnerin mit auf die Weihnachtsfeier zu bringen, und da
ist der Kita-Leiter, der nicht wissen darf, dass eine seiner Angestellten transgender
lebt. Da ist Bilal, der nicht nur als Flüchtling um die Anerkennung kämpft, sondern
zugleich die Sehnsucht hat, sich einen Partner zu suchen. Und da ist Swea, die mit
einem Rollstuhl fährt, die aber von den Jungen ihrer „Inklusionsklasse“ zwar als
Rollstuhlfahrerin, nicht aber als Mädchen wahrgenommen wird. Die Kinder und
Erwachsenen sind wegen dieser Lebens-, Existenzweisen und Problemlagen der
Gefahr ausgesetzt, Diskriminierung zu erfahren. Für die pädagogische Begleitung,
die nicht geschlechter- und/oder sexualitätssensible arbeitet, erschließt sich diese
Gefahr als allgegenwärtiges Szenario häufig nicht. Für sie stellt sich die Frage: Was
und wo ist das Problem? Ist Diskriminierung vorgefallen? Werden diese Fragen
gestellt, so ermöglichen sie eine pädagogische Aktion. Gleichwohl verhindern sie
die Auseinandersetzungen mit diskriminierenden Normalisierungen. Hetero-he-
gemoniales Alltagsverstehen widerspricht dem widersprüchlichen und intersek-
tionalen Alltag vieler Kinder, Jugendlicher und Erwachsener und begünstigt den
Defizitblick in Pädagogik und Bildung.
Eine queer-dekonstruktive Pädagogik der Vielfalt und der vielfältigen Lebens-
weisen (Prengel 2006; 1996); Hartmann 2001, 2004a) im Kontext von Geschlecht
und Sexualität orientiert sich nicht an Defiziten und nicht nur an den Proble-
men der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen. Drei zentrale Paradigmen sind
stattdessen: Wissensvielfalt, Identitätskritik als Infragestellen üblicher sozialer
Zugehörigkeitskategorien und des hetero-hegemonialen Alltagsdenkens sowie die
Balance zwischen der Wahrnehmung struktureller Realitäten und der Möglichkeit

7 Ein anderer erfahrener Sexualpädagoge schüttelte nach einer Biografiearbeit zu Geschlecht


und Sexualität den Kopf und stellte erstaunt fest: „Wenn ich meine eigene Biografie
anschaue, dann ist sie voll von Widersprüchen. Wie konnte ich sie nur vergessen?“.
Queer-dekonstruktive Perspektiven auf Sexualität und Geschlecht 83

zur egalitären Utopie als Motor mit Blick auf die pädagogischen Ziele, die realistisch
genug sind, um an den Lebenswelten des Klientels anzuknüpfen.

Wissensvielfalt. Für die fachlichen Auseinandersetzungen mit „neuen“ Geschlech-


tern und Sexualitäten bedarf es mindestens drei verschiedener Wissensbestände,
die für trans-diverse und normativitätskritische Perspektiven auf den Gegenstand
ausschlaggebend sind. (1) ein fachliches Wissen über die verschiedenen Geschlechter
und Sexualitäten und deren überlappenden und widersprüchlichen Bezeichnungen
und die Offenheit, diese in ihrer Begrenztheit darzustellen; (2) ein Bewusstsein
über die Bedeutung und Diskriminierungsformen von Personen mit geschlecht-
licher und/oder sexueller Nonkonformität in dieser Gesellschaft; (3) eine nicht
diskriminierende fachliche Haltung bezüglich der sexuellen und geschlechtlichen
Selbstkonstituierungen in dieser Gesellschaft. Eine solche sensibilisierte Haltung
inkludiert die Reflexion der persönlichen und politischen Zielsetzungen und der
Paradigmen der eigenen Arbeit. Sie speist sich außerdem aus der Reflexion der
eigenen geschlechtlichen und sexuellen Orientierungen und aus der didaktischen/
fachlichen Kompetenz. Zur Haltung zählen außerdem die Auseinandersetzung mit
Geschlecht und Sexualität jenseits der moralischen Terminologie von „pervers“ und
„normal“ und damit die Infragestellung des Dualismus von Normalität und Anor-
malität. Ethische Auseinandersetzungen mit jenen Wissensgebieten gehören dazu,
die häufig als unbequem empfunden werden, wie z. B. Pädophilie, Pornographie,
Sexualstraftäter_innen, Schönheitsoperationen, genital-chirurgische Operationen etc.
Diese sind ebenso wie eine wahrgenommene „neue“ Vielfalt von Geschlechtern und
Sexualitäten für die Praxis im Kontext von neoliberaler Ökonomie, Herrschaft und
Ausbeutung zu reflektieren. Das bedeutet auch, dass die Anerkennung von Vielfalt
keinesfalls zwangsläufig ent-hierarchisierend wirkt und damit zu antidiskriminie-
renden Verschiebungen von Dominanz- und Herrschaftsverhältnissen führen muss.
Im Gegenteil, die Argumentation von Vielfalt hat das Potential, die Verschiedenheit
der Bedeutungen von Personen(gruppen) und ihrer Zählbarkeit zu essentialisieren.

Identitätskritik. Elisabeth Tuider macht darauf aufmerksam, dass die Pädagogik


immer wieder auf eindeutige Identitätskonzepte Bezug nimmt, die in ihrer Ein-
deutigkeit so nicht existieren, denn jede Forderung nach Toleranz, Akzeptanz oder
Integration bezieht sich auf eine identitäre Personengruppe.

„Pädagogische Arbeit basiert in der Regel (…) auf der un- bzw. kaum hinterfragten
Annahme einer eindeutigen, kohärenten, identitären Zugehörigkeit hinsichtlich
Geschlecht (Frau oder Mann) und Sexualität (Hetero-, Homo- oder Bisexualität),
aber auch hinsichtlich Alter, Nationalität/Kultur und körperlicher/geistiger ‚Unver-
sehrtheit‘“ (Tuider 2004, S. 179)
84 Ines Pohlkamp

Daran anknüpfend problematisiert Tuider den Begriff der okzidentalen Identität


in der Sexualpädagogik, der dem Begriff der Vielfalt zu Grunde gelegt wird. Dabei
ist das Subjekt autonom, kohärent, selbstbestimmt und bildet eine Einheit (vgl.
ebd.). Jutta Hartmann entwirft für die Erziehungswissenschaften ein „nicht-es-
sentialistisches Verständnis“ der Subjektivität. Sie orientiert sich dabei an Andrea
Maihofers Konzept von Geschlecht als hegemonialer Existenzweise, wonach der
geschlechtliche Vorstellungshorizont Erfahrungen und Realitäten konstituiert
(Hartmann 2004, S. 29f). Das geschlechtliche Subjekt wird in Anlehnung an
Foucault zu einem Produkt materialisierter Diskurseffekte und zu einer gelebten
Existenzweise (Maihofer 1995). Tuider schlägt vor, den Begriff der Identität durch
Zugehörigkeiten abzulösen, um die Fragmentiertheit der Subjekte und die „Pro-
zesshaftigkeit von Identität“ besser benennen zu können (Tuider 2004, S. 187). Doch
dies kann nur funktionieren, wenn Zugehörigkeiten gewechselt und verschiebbar
erscheinen. Identitätskritik ist somit in der Praxis die fehlende Festlegung von
sozialen Zugehörigkeiten, das Vermeiden von generalisierenden Zuschreibungen
und das Infragestellen unbenannter Gemeinsamkeiten (z. B. „wir sind doch alle
Frauen“, ohne dass das vorher geklärt worden ist). Identitätskritik erlaubt deshalb
auch das (ernste) Spiel mit Zugehörigkeiten, die im Setting queer-dekonstruktiver
Perspektiven möglich werden und womöglich zunächst nur dort möglich sind.

Balancieren zwischen strukturellen Realitäten und Utopie. Das Balancieren


zwischen normativitätskritischen Inhalten, Erkennen von Normalisierungen und
utopischem Denken ist eine Kunst queer-feministischer Pädagogik und Bildung.
Es umfasst Antworten auf Fragen wie: Was darf und was sollte ich als Pädagog_in
im Bereich von Geschlecht und Sexualität thematisieren? Welche Richtlinien gibt
die eigene Einrichtung vor, und wo sind Möglichkeiten, normativitätskritische
Inhalte zu platzieren? Auf welche Gesetze der Gleichstellung und Gleichbehandlung
kann ich mich beziehen? Zum Balancieren zählt außerdem die Berücksichtigung
normativer Themen: Verhütung, heterosexuelle Sexualität und Beziehungen so-
wie das Leben als Mann und als Frau. Sie sind weiterhin zentrale Themen einer
queer-dekonstruktiven Herangehensweise, deren Anliegen es ist, nicht das Besondere
zu „freakisieren“, sondern die das Allgemeine als Normalisierung und Selbstver-
ständlichkeit in den kritischen Blick nehmen will. Denn erst die Partizipation des
Klientels, die an den eigenen Lebenswirklichkeiten, Werten und Utopien anknüpft,
kann in pädagogischen Prozessen Denkbewegungen ermöglichen. Dabei ist es
unerlässlich, sich als Fachkraft mit den eigenen Utopien auseinanderzusetzen.
In den eigenen Wünschen für individuelles Glück und in den Vorstellungen von
einer sich bewegenden Gesellschaft liegen jene Momente verborgen, die auf Ziele
und damit auch auf mögliche Herangehensweisen/Methoden für die eigene Praxis
Queer-dekonstruktive Perspektiven auf Sexualität und Geschlecht 85

hinweisen. Dabei setzt das utopische Denken eine fundierte Haltung der Kritik an
heteronormativen Geschlechterverhältnissen voraus. Balancieren bedeutet deshalb,
sich zwischen dem nötigen Ernst und dem Spaß an der Vermittlung nicht entschei-
den zu müssen. Queer-dekonstruktive Erziehung, Bildung, Pädagogik und Soziale
Arbeit als Antidiskriminierungsarbeit setzt an der Instabilität und Uneindeutigkeit
an, ohne dabei die Balance zu verlieren.

Was es sonst noch braucht! Geschlechtliche und sexuelle Antidiskriminierungsar-


beit bedeutet, für Gleichstellung und Gleichbehandlung verschiedener Sexualitäten
und Geschlechter zu streiten, sie in ihrer Interdependenz mit anderen sozialen
Ungleichheitskategorien zum Thema zu machen, Teilnehmer_innen für „neue“
Lebenswelten zu interessieren, ohne jemanden bloßzustellen und dabei nicht in alte
Fallen des Vergessens der hierarchischen Zweigeschlechtlichkeit und (des Verges-
sens) der Interdependenzen sozialer Ungleichheit zu fallen. Normativitätskritische
Perspektiven im Kontext von sozialem Lernen unterliegen dabei einem besonderen,
skeptischen Augenmerk und Konformitätsdruck. Deshalb ist damit zu rechnen, dass
Eltern/Erziehungsberechtigte, Jugendliche, Fachkräfte, Wissenschaftler_innen und
andere Personen versuchen, bewusst oder unbewusst, die Wichtigkeit der Themati-
sierung „neuer“ Geschlechter und Sexualitäten und die Kritik an Heteronormativität
grundsätzlich in Frage zu stellen. Für eine queer-dekonstruktive Praxis bedeutet
dies, dass die Fachkraft lernen muss, mit Widerständen umzugehen und dass sie
den empathischen und parteilichen Blick auf das eigene Klientel nicht verlieren darf.
Dann aber ermöglichen queer-dekonstruktive Perspektiven, die Aufmerksamkeit
auf sexuelle und geschlechtliche Besonderheiten des_der Einzelnen zu lenken, die
geschlechtliche und sexuelle Kontinuität der_des Einzelnen und sozialer Gruppen
zu hinterfragen, und den Blick auf heteronormative Geschlechterverhältnisse in
ihrer Interdependenz mit Ungleichheitsverhältnissen wie Rassismus, Klassismus
und Ableism zu konzentrieren.

4 Entschleunigen

Die Versuche, dualistisches Denken in Bedeutungsverschiebungen zu überfüh-


ren, erscheint heute ein schwereres Unterfangen zu sein als beispielsweise Jutta
Hartmann 2004 dachte. Damals postulierte sie, dass „Denomalisierung durch
Bedeutungsverschiebung“ beispielsweise heißt,
86 Ines Pohlkamp

„Abschied [zu] nehmen von Paradigmen der Entwicklung und Sozialisation im Sinne
einer zielgerichteten Vorbereitung auf eine erwachsene Identität, die einen Fahrplan
von Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter als normative Entwicklungslinie
[unterstellt]“ (Hartmann 2004, S. 30f).

Bis heute ist es aber genau diese Geradlinigkeit der Entwicklung und Sozialisation,
die zumeist in Pädagogik, Sozialer Arbeit, Erziehung und Bildung den Ablauf,
die Mittel und die Ziele bestimmt. Sie ist außerdem eine Grundlage der eigenen
Zufriedenheit mit der Praxis und eine Messlatte der eigenen Erfolge. Temporäre
Geradlinigkeit ist die Hoffnung darauf, dass alles, was passiert, planbar bleibt. Im
beschleunigten Alltag ist so das Normative das Willkommene, weil es nicht aufhält,
nicht irritiert, nicht stört. Das Leben aber funktioniert nur selten nach Plan. Weder
bei den Fachkräften noch bei dem Klientel. Deshalb ist es wichtig, dem normativen,
beschleunigten Alltagsverstehen, ein Entschleunigen gegenüberzustellen. Denn erst
ein Sich-Zeit-nehmen, Innehalten, Wahrnehmen, Bedeutungen-erkennen, Hinter-
fragen und Reflektieren eröffnet Wege in eine normativitätskritische Pädagogik,
Bildung, Erziehung und Soziale Arbeit. Eine Präzisierung der eigenen Wahrneh-
mung ermöglicht queer-dekonstruktive Perspektiven: Entselbstverständlichungen
sozialer Normen, mit Widersprüchen und Identitätskritik umgehen lernen, lokale
und brüchige Subjektkonstituierungen erkennen und benennen, Differenzen er-
kennen (können) ohne zu dramatisieren und zu diskriminieren, Normativität und
Normalisierungsprozesse erkennen und Kritik äußern können sowie dichotomes
Verstehen der Welt durch plurales Verstehen zu erweitern. Hetero-hegemoniales
Alltagsverstehen von Sexualität und Geschlecht als ein Ausdruck der Schnell-
lebigkeit und der Anpassung kann so aus den Grundpfeilern gelöst und weiter
in Bedeutungsbewegung gehalten werden. Queer-dekonstruktive Perspektiven
auf Konzepte, Interaktionen und Themen können dann als gewinnbringende
Spannungsfelder bis in allgemeine pädagogische Auseinandersetzungen wirken.
Hierfür aber braucht es entschleunigte Advokat_innen, die sich sicher sind, dass
jetzt der richtige Zeitpunkt ist, für heteronormativitätskritische, intersektionale
Ansätze zu streiten.

Literatur
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der Gegenwart, Suhrkamp, Frankfurt M., S 190-196
II
Biografische Erzählungen
100 Prozent dazugehören
Anja Karrasch

Jonathans Zimmer ist nicht mehr sein Zimmer. Anstelle seines Hochbetts stehen
da nun ein Doppelbett und eine Kommode. Als Kleinfamilie lebten Paul, sein Sohn
Jonathan und Tom 13 Jahre lang zusammen in einer großen Altbauwohnung. Vor
einigen Wochen ist der 17-jährige ausgezogen.
Jonathan steht vom großen Esstisch auf. Er will wieder los, zieht die Camou-
flage Jacke über den dunkelblauen Kapuzenpulli und sucht noch ein paar Sachen
zusammen. Seitdem er ausgezogen ist, kommt er einmal in der Woche bei Paul
und Tom zum Essen und Reden vorbei. Jonathan wohnt jetzt bei seiner Mutter,
weil das Pendeln zwischen zwei Wohnungen zunehmend belastend für ihn war.
Er macht bald Abitur und ist froh, dass er nicht ständig schauen muss, wo er seine
Sachen hat. „Für mich war mein Aufwachsen immer klassisch. Entweder ich fahre
zu Papa oder zu Mama. Das war immer mein Gedanke. Ich hatte auch, als ich klein
war, nie das Gefühl, meine Familie sei anders als andere. Es war eher so, dass unser
Familienleben besser funktioniert hat, wenn ich es mit denen von Freunden vergli-
chen habe,“ sagt er. Sein Vater lebt mit einem Mann zusammen. Das ist Jonathans
Realität, über die er nicht diskutieren möchte. Entweder die Leute kommen damit
klar und wenn nicht, dann kann er sie nicht ernst nehmen. „Es kommt einfach
nur auf die Menschen an und es ist komplett egal, welche Vorlieben sie haben.“

Die Familien reagierten mit Interesse und Akzeptanz

Als sein Vater so alt war wie Jonathan, hatte er Freundinnen, aber er fand auch
Männer gut. Das war in den 80er Jahren. Paul wuchs im Ruhrgebiet auf und damals
waren alternative Lebensmodelle die absolute Ausnahme. Das Thema Homosexualität
war Tabu und erst Jahre später fand Paul den Mut, seiner Familie zu sagen, dass
er schwul ist. Sie reagierte so, wie er es erhofft hatte, mit Interesse und Akzeptanz.

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_6, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
92 Anja Karrasch

Bevor er sich entschied, nur mit Männern zusammen zu sein, lernte er Jonathans
Mutter während des Studiums in Ostdeutschland kennen. Sie verloren sich aus
den Augen, trafen sich später wieder und verliebten sich. Eineinhalb Jahre nach
Jonathans Geburt trennte sich Paul wegen seines ersten langjährigen Partners von
ihr. „Dass ich Vater geworden bin, ist das größte Glück in meinem Leben. Nach
der Trennung begann eine schwierige Zeit, da es Verletzungen gab und damit auch
Streit, aber wir waren uns unserer großen Verantwortung Jonathan gegenüber
bewusst und uns war klar, dass wir beide für ihn präsent sein wollten“, erinnert
sich der 45-jährige. Dafür waren sie bereit, neue Wege zu gehen. Die Familie zog
mit seinem neuen Lebensgefährten in eine WG, damit Jonathan sich weiterhin
liebevoll aufgehoben fühlen konnte. Ein Gefühl, das sie selbst in ihren Familien
erlebt hatten. Auch in dieser dramatischen Lebenssituation reagierte das familiäre
Umfeld nicht mit Ablehnung. „Wie damals, als ich mit Mitte zwanzig meiner Familie
von meiner Homosexualität erzählt habe, war ich wieder in der Situation, darauf
zu hoffen, dass die Familie von Jonathans Mutter mich weiter akzeptiert und das
war dann auch so“, erzählt der studierte Sozialpädagoge. Als Jonathan vier Jahre
alt war, lernte er Tom kennen. Die WG löste sich auf und Jonathan pendelte von
da an zwischen den Wohnungen seiner Eltern.

Ein väterlicher Freund

Für Tom war von Anfang an klar, dass er kein zweiter Vater ist, sondern eine
zusätzliche Bezugsperson. „Wir waren uns einig, dass ich mich erziehungstech-
nisch nur dort einklinke, wo es um unser gemeinschaftliches Leben geht“, sagt er.
Er beschreibt seine Beziehung zu Jonathan als freundschaftlich und erzählt von
einem Restaurantbesuch mit dem damals Sechsjährigen, der es liebte, sich nach
dem Essen in Restaurants auf Stühle oder eine Bank zu legen und dort zu schlafen.
Er fand es toll, einfach dabei zu sein und den Geräuschen und Gesprächen zu lau-
schen. Diesmal gingen sie allein zum Essen. Das hatte sich Jonathan gewünscht,
da der Unternehmer zuvor beruflich viel unterwegs gewesen war. Während ihres
vertrauten Zusammenseins sagte der kleine Junge zu ihm: „Wir sind Freunde.“
Das war auch für Tom die Position, mit der er sich identifizieren konnte. Auch
wenn er manchmal traurig darüber war, für Jonathan nicht der erste Ansprech-
partner zu sein: „Das tat schon ab und zu weh.“ Aber es gab Bereiche, für die war
er zuständig, wie regelmäßig mit ihm zum Schwimmen zu gehen. Jonathan täglich
vom Kindergarten oder von der Schule abzuholen, dafür fühlten sich die Eltern
verantwortlich. Während der Kindergartenzeit wurde Paul von den Erzieherinnen
auf seine Lebenssituation angesprochen, da Jonathan in der Gruppe von zwei Vätern
100 Prozent dazugehören 93

erzählt hatte. „Die Pädagoginnen haben sehr darauf geachtet, ob ein Kind in einer
besonderen Situation ist, die in der Gruppe aufgearbeitet werden muss. Für mich
war es ein gutes Gefühl zu sehen, dass die Erzieherinnen so sensibel reagierten“,
erinnert er sich und erzählt schmunzelnd von dem Buch „König und König“, das
sie ihm empfahlen. In der Geschichte hat eine alte Königin keine Lust mehr zu
regieren und möchte, dass endlich ihr Sohn übernimmt. Da der zukünftige König
heiraten muss, wird eine Frau für ihn gesucht. Prinzessinnen aus allen Ländern
werden vorgeführt, aber der Prinz verliebt sich in den Bruder einer Prinzessin.
Am Ende gibt es eine Männerhochzeit und die Königin kann endlich faul in ihrem
Liegestuhl liegen. Jonathan kann sich daran nicht mehr erinnern und sagt grinsend:
„Ich habe Schwerter gebaut und Ritter gespielt.“

„Mein Papa lebt auch nicht mit seinem besten Freund zusammen“

Tom erzählt, dass er Angst hatte, dass Jonathan sich wehren muss gegen Vorurteile
und dumme Sprüche. Einmal, als Jonathan zwölf Jahre alt war, waren wie so oft
seine Freunde bei ihnen zu Besuch. Es war ein großer Tumult im Flur und dann
fragte ihn ein Junge: „Wieso lebst Du eigentlich mit Paul zusammen? Mein Papa
lebt auch nicht mit seinem besten Freund zusammen.“ Danach war es sehr still
und der 47-jährige antwortete: „Es hat etwas mit Liebe zu tun.“ Dem Paar war es
wichtig, dass auch die Eltern von Jonathans Freunden über ihre Lebenssituation
informiert waren und sie machten es zum Thema, wenn die Jugendlichen das Wort
„schwul“ in ihrer Alltagssprache als Schimpfwort benutzen. „Das hatte nichts
mit uns zu tun, aber das Psycho-Mobbing hat schon zugenommen. Wenn man
extrem sensibel ist, kann das schon krass sein. Deswegen braucht man ein starkes
Selbstbewusstsein, um sich abzugrenzen, ob es Schwulsein oder irgendwas anderes
ist“, meint Jonathan. Dennoch sieht er einen Fortschritt hin zu mehr Akzeptanz.
Allein auf seiner Schule gibt es mindestens zehn Leute, von denen bekannt ist, dass
sie schwul oder lesbisch sind, erzählt Jonathan und auch in der Politik und in den
Medien sei das Thema ja inzwischen präsent.

Menschen als Menschen wahrnehmen

Der Wunsch nach Normalität und Selbstverständlichkeit ist für Tom ein wichtiger
persönlicher Aspekt. Seine Kindheit und Jugendzeit verbrachte er in einer Kleinstadt
im katholisch geprägten Münsterland. Schon während der Pubertät spürte er, dass
er Männer liebt. Mit 25 Jahren, nach vielen abgebrochenen Anläufen, traute er sich
94 Anja Karrasch

seiner Familie davon zu erzählen. „Es war eine hochdramatische Situation, weil
ich große Angst vor der Reaktion meiner Eltern hatte. Ich kannte andere Familien,
da war der Kontakt komplett abgebrochen.“ Seine Mutter weinte und sein Vater
stellte viele Fragen. „Er wollte zum Beispiel wissen, ob ich auch Frauenkleider tra-
ge“, was er verwundert verneinte. Seine Familie stand hinter ihm, denn ihr ging
es immer darum, dass Menschen als Menschen wahrgenommen werden. Es gab
keine Ressentiments gegenüber anderen Verhaltensmustern. Aber das traditionelle
Rollenbild von Mann und Frau war zu dieser Zeit noch unantastbar und so fühlte
er sich durch sein Schwulsein anders – und gleichzeitig normal, da er ein Leben
inmitten der Gesellschaft führte und führen wollte. „Ich wollte immer zu den 100
Prozent gehören und ich wünsche mir sehr, dass unser Lebensmodell als normal
akzeptiert wird“, sagt Tom. Vor drei Jahren erlebten sie, dass dies bereits Realität
ist. Zu Jonathans Konfirmation hatten sie gemeinsam mit seiner Mutter alle drei
Familien zu einer großen Familienfeier eingeladen. Es war das erste Mal, das alle
zusammen waren. Es wurde ein schönes Fest und war für sie der Beweis, dass sie
tatsächlich eine glückliche Familie sind.
„Ich kann stolz darauf sein, wer ich bin“
Anja Karrasch

Die großen Fenster der Maisonette Wohnung geben den Blick auf den januargrauen
Himmel frei. Am Schreibtisch im Wohnzimmer sitzt Klaus und bereitet das Fest zu
seinem 69. Geburtstag vor. Jahrzehntelang war der Buchhändler politisch aktiv in
der Schwulenszene gewesen und hatte sich für eine bessere und gleichberechtigte
Zukunft engagiert. Seit anderthalb Jahren lebt er in einem Mehrgenerationenhaus.
Als die Schwulenberatung in seinem Wohnort 2003 ein Netzwerk für neue
Lebensformen im Alter gründete, gehörte Klaus zu den Ersten, die sich ehren-
amtlich engagierten. Er war mit 58 Jahren arbeitslos geworden. Sein Arbeitgeber
hatte Konkurs angemeldet. Von einem Tag auf den anderen hatte Klaus viel Zeit
und beim Arbeitsamt sagte man ihm, er sei nicht mehr vermittelbar. Einmal in
der Woche traf sich Klaus mit anderen zum Gedankenaustausch, woraus sich die
Idee des gemeinsamen Wohnens entwickelte. „Es war uns ein wichtiges Anliegen,
ein Mehrgenerationenprojekt zu gründen, ohne eine vorherrschende sexuelle
Orientierung“, sagt er. Im Sommer 2012 wurde das modernisierte, fünfstöckige
Haus eröff net. Hier leben alte und junge, schwule und heterosexuelle Männer mit
lesbischen und heterosexuellen Frauen zusammen. Der Name des Hauses ist Pro-
gramm. Seitdem wohnt auch Klaus in einer der 24 Wohnungen des rosa verputzten
Gebäudes. „Es gibt natürlich Probleme und Konflikte. Wie überall. Im Großen
und Ganzen funktioniert das Zusammenleben gut. Man streitet sich, diskutiert
viel, aber wir finden auch Konsens“, erzählt er ruhig und mit wachem Blick. Diese
Formen der Auseinandersetzung des Umgangs miteinander haben Klaus auf seinem
Lebensweg immer wieder begleitet. Als bekennender homosexueller Mann war er
während der 70er Jahre in der politischen schwulen Szene aktiv gewesen und hatte
die ersten großen Schwulen-Demos mitorganisiert. Zuvor war er Mitte der 60er
Jahre aus der Provinz in die Großstadt gekommen, wo er nach vielen negativen
Erfahrungen aus seinem familiären und berufl ichen Umfeld zum ersten Mal das
Gefühl hatte, frei leben zu können.

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_7, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
96 Anja Karrasch

Er war ein Außenseiter, schuf sich seine eigene Welt

Klaus wuchs auf in einem kleinen Ort am Neckar. Anders als die Jungen in seinem
Alter spielte er besonders gern mit Mädchen und kaum konnte er lesen, verschlang
er jedes Buch, was ihm in die Hände geriet, später auch gezielt zum Thema Ho-
mosexualität. Schwule Autoren wie Jean Genet, James Baldwin oder Oscar Wilde
waren für ihn als Jugendlicher und erwachsener Mann wichtige Vorbilder und
Mutmacher. Seine Mutter war streng katholisch und reagierte auf alles ablehnend,
was von den herrschenden Wert- und Moralvorstellungen abwich. Klaus schuf sich
früh eine eigene Welt, in der die Literatur eine große Rolle spielte. „Dass ich anders
war, bezog sich auf alle Lebensbereiche. Anstatt Fußball zu spielen, habe ich lieber
in der Ecke gesessen und ein Buch gelesen“, erinnert er sich. Dies machte ihn zum
Außenseiter, auch in seiner Familie. Erst mit der Pubertät veränderte sich sein
Kontakt zu gleichaltrigen Jungen. Klaus wurde bewusst, dass er in den Freund,
mit dem er in der Freizeit viel zusammen war, verliebt war. „Ich hatte das Glück,
bei ihm auf Gegenliebe zu stoßen. Wir hatten eine mehrjährige Freundschaft, aus
der dann eine Liebesbeziehung wurde. Darüber war ich sehr glücklich.“ Mit dem
Freund hat er immer noch Kontakt, der einen anderen Weg wählte, im Ort blieb,
eine Banklehre machte, heiratete und Sparkassendirektor wurde. Zu seiner Homo-
sexualität bekennt er sich bis heute nicht. Klaus schildert amüsiert ein gemeinsames
Erlebnis, als er vor drei Jahren mit ihm zusammen in seinem Heimatort an einem
Kirchweihfest teilnahm und es einen Karaoke-Abend gab, den ein junges schwules
Paar mit dem Lied “Er gehört zu mir“ von Marianne Rosenberg gewann. Der eine
war der Sohn des Schuldirektors, der andere der Sohn des evangelischen Pastors
und die beiden 18-jährigen standen ganz selbstverständlich Hand in Hand auf
der Bühne. „Mein Freund ist völlig ausgerastet und wollte das nicht akzeptieren
und meinte, man könne sich doch als Schwuler in der Öffentlichkeit nicht so zur
Schau stellen. Da gibt es inzwischen einen richtigen Generationenkonflikt. Und
dem Schicksal bin ich entgangen durch meine Entscheidung wegzugehen. Es gibt
beides, die junge Generation von Schwulen, die mehr und mehr akzeptiert werden
und die alten schwulen Zausel in meinem Alter“, sagt er lächelnd. Aufgrund seines
ehrenamtlichen Engagements hat Klaus viel Kontakt mit älteren Schwulen, bei
denen diese alte Angst als Homosexueller erkannt zu werden immer noch da ist.
„Trotz der zunehmenden Liberalität und Offenheit gibt es immer noch die alten
Urängste. Und das hat mit dem Reaktionen des Umfelds von damals zu tun, die
durchweg negativ waren.“
„Ich kann stolz darauf sein, wer ich bin“ 97

Homosexualität wurde als Krankheit oder Verbrechen verurteilt

Ein ausschlaggebender Grund dafür war der Paragraf 175 des StGB1, der Homo-
sexuelle kriminalisierte, indem dieser nicht nur sexuelle Handlungen zwischen
Personen männlichen Geschlechts unter Strafe stellte, sondern auch kleine Gesten
wie Händchenhalten oder einen Kuss. Nach dem Realschulabschluss absolvierte
Klaus eine Verlagslehre und ging anschließend mit 20 Jahren zur Bundeswehr.
Zur Marine, weil er ein Buch von Jean Genet gelesen hatte, in dem es auch um die
Seefahrt und Matrosen ging. In der Realität war dann alles weniger romantisch.
Im Gegenteil. Er musste um jeden Preis verhindern, dass seine sexuelle Neigung
öffentlich wurde. Dennoch verliebte er sich in einen Zeitsoldaten, der kurz vor
seiner Entlassung stand und zum Studium in die Großstadt wollte. Als er zu Klaus
sagte: „Komm doch mit,“ gab es für ihn kein Zögern mehr. Dort war das Ausleben
der Homosexualität zwar freier möglich, aber auch hier bestimmte die vorherr-
schende Verurteilung den Umgang der Schwulen untereinander. Anonymität zu
wahren war sehr wichtig, um nicht aufzufallen. Es gab nur wenige Treffpunkte, die
überwiegend sexuell orientiert waren und jeder Kontakt, der darüber hinausging,
war kaum möglich. „Ich habe sehr damit zu kämpfen gehabt, da ich das anfangs
nicht verstanden habe. Warum sagt er mir nur seinen Vornamen? Warum weiß ich
nicht, wo er wohnt? Es war die Angst, zu viel von sich preiszugeben, sodass man ihn
identifizieren und damit anzeigen kann. Es war sehr schwer sich kennenzulernen“,
berichtet Klaus von den ersten Jahren. Immer noch ist die Verletzung spürbar, als
er erlebte, dass jemand die Straßenseite wechselte, mit dem er zuvor eine Affäre
gehabt hatte. Das waren die extremen Fälle, die ihm klar machten, welch enormer
Druck auf den Schwulen lastete. Das größte Kompliment in der schwulen Szene
damals sei gewesen: „Hey Mann, Dir sieht man es ja überhaupt nicht an.“

Die 70er Jahre brachten viele positive Veränderungen

Der Besuch eines Kinos, wo der Film von Rosa von Praunheim „Nicht der Ho-
mosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ uraufgeführt wurde,
brachte die entscheidende Wende in seinem Leben. Bereits die 1969 erfolgte Libera-
lisierung des Paragrafen 175, der die praktizierte männliche Homosexualität unter

1 Der § 175 des Strafgesetzbuchs (StGB), der seit 1871 homosexuelle Handlungen zwischen
Männern unter Strafe stellte, wurde im nationalsozialistischen Deutschland verschärft
und hatte in dieser verschärften Fassung in der Bundesrepublik Deutschland noch bis
1969 Bestand. Von 1969 bis 1994 existierte er in abgemilderter Form weiter, bis er im
Zuge der Rechtsangleichung mit der DDR 1994 endgültig außer Kraft gesetzt wurde.
98 Anja Karrasch

Erwachsenen nicht mehr unter Strafe stellte, hatte ein öffentliches schwules Leben in
Deutschland langsam möglich gemacht. Der Paragraf 175 wurde erst 1994 im Zuge
der Wiedervereinigung abgeschafft. Der Film thematisierte das damalige Leben
vieler Schwuler in der Subkultur und forderte sie auf, ihre Angst zu überwinden
und sich zu ihrer Homosexualität zu bekennen, um solidarisch und kämpferisch für
eine bessere und gleichberechtigte Zukunft anzutreten. „Es gab Listen im Foyer des
Kinos, in denen man sich mit Name, Anschrift und Unterschrift eintragen konnte,
um sich mit dem Film zu solidarisieren. Gefährlich war es nicht mehr, aber immer
noch anrüchig. Gleichzeitig war es ein befreiender Schritt“, erinnert sich Klaus. In
den nächsten Monaten traf er sich mit anderen Schwulen, um über ihre Situation
zu diskutieren und gründete mit ihnen im Frühjahr 1972 in einer Fabriketage ein
schwules Zentrum. „Wir orientierten uns an der schwarzen Bürgerrechtsbewegung
in Amerika und wandelten deren Slogan „Black is beautiful“ um in „Schwul ist cool“.
Damit wurde dieser Begriff als Bezeichnung für Homosexualität im Bewusstsein
etabliert und war Ausdruck unseres neuen Selbstbewusstseins.“ Die 70er Jahre,
immer im Verein mit seinen Freunden, wurde die Zeit seiner positiven Erfahrungen.
Das politische Engagement, der Mut mit der Organisation von Schwulendemos in
die Öffentlichkeit zu gehen und das Coming-out gegenüber seinem Arbeitgeber
waren prägende Erlebnisse. Klaus hatte eine Buchhändlerlehre gemacht und bekam
einen Job bei einer großen Buchhandlung. Anders als seine schwulen Mitstreiter,
die in ihren Betrieben und am Arbeitsplatz diskriminiert wurden, reagierte sein
Chef positiv und beförderte ihn zum Abteilungsleiter und übertrug ihm später die
Leitung einer Filiale. „Das hat mich unheimlich aufgebaut und aus dem Gefühl
der Unterlegenheit entwickelte sich ein Bewusstsein dafür, dass ich stolz darauf
sein kann, wer ich bin.“

Nach dem Tod der Mutter brach sein Vater das Schweigen

Ein Foto an der Wand neben dem Bücherregal in seinem Wohnzimmer zeigt ihn
mit seinem damaligen Freund, Händchen haltend mit rotem Schal und Stirnband,
während einer Schwulendemo. Sie wirken unbeschwert als Vertreter einer neuen
Generation, die ihre Liebe nicht mehr versteckte. „Dieser Freund war sehr wichtig
für mich. Er war in der Großstadt aufgewachsen und hatte ein ganz anderes Selbst-
bewusstsein als ich. Seine Familie wusste, dass er schwul ist. Jeden Sonntag sind wir
zu ihnen in ihr idyllisches Reihenhaus zum Mittagessen gefahren.“ Während dieser
Zeit war der Kontakt zu seiner eigenen Familie abgebrochen und erst Mitte der 80er
Jahre, als die Aids-Krise die schwule Szene erschütterte, riefen seine Schwestern
und auch sein Vater besorgt an, um zu erfahren, wie es ihm ginge. In der großen
„Ich kann stolz darauf sein, wer ich bin“ 99

Wohngemeinschaft, in der er damals lebte, starben einige seiner Freunde und durch
die Krankheit verlor Klaus mehrfach einen Lebenspartner. Bis dahin war in seiner
Familie nie offen über seine Homosexualität gesprochen worden. Erst nach dem Tod
seiner Mutter 1998 brach zu seinem Erstaunen sein Vater das Schweigen. Nach der
Beerdigung, im Kreis der Familie am Abendbrottisch, fragte er ihn: “Wie geht es
Dir eigentlich? Du bist doch schwul, nicht wahr? Warum hast Du denn nie etwas
gesagt?“ Klaus hatte es mit Rücksicht auf seine Mutter getan, von der er wusste,
dass es ihr wehgetan hätte, einen schwulen Sohn zu haben.
Die Erkenntnis darüber, wie einflussreich ein einzelner Mensch in der Familie
sein kann, beschäftigt ihn noch heute. Sich mit anderen darüber und Themen wie
Sexualität, Partnerschaft und Beruf auszutauschen, ist immer noch Teil seines
Lebens. Darüber ist Klaus sehr froh, auch über den Kontakt mit jüngeren Mitbe-
wohnern. Sein Nachbar ist Ende dreißig, kocht gern und hat oft Freunde zum Essen
zu Besuch. „Da ist immer eine Menge los und reißt mich aus meinem Trott heraus.“
Die traumatische Erfahrung, während der 90er Jahre mehrere Partner an Aids zu
verlieren, machte es schwer für ihn, sich wieder auf eine Beziehung einzulassen.
Aber die Sehnsucht nach einer Partnerschaft ist geblieben. Wenn er nebenan ins
Café geht und ein älteres schwules Paar sieht, das sich tief in die Augen schaut,
dann ist er immer ein bisschen neidisch.
Ein Leben für die Freiheit
Anja Karrasch

Als sich Samira mit 21 Jahren das erste Mal in eine Frau verliebte, dachte sie nicht
daran, lesbisch zu sein, sondern erlebte diese Liebe als eine tiefe Verbindung zu einem
besonderen Menschen. Zu dieser Zeit lebte die zierliche Frau als politische Aktivistin
im Untergrund in ihrem arabischen Geburtsland. Aus politischen Gründen floh
Samira 1985 nach Deutschland und trat schließlich aus ihrer Partei aus, da sie ihre
Liebe zu Frauen nicht akzeptierte. Seit 1997 berät die Diplom-Psychologin in einer
Beratungsstelle Lesben, Schwule, Bisexuelle und Trans*Menschen1 (LSBIT), die
rassistische, sexistische, homophobe und transdiskriminierende Erfahrungen erlebt
haben. Sie forscht ebenfalls zum Thema Gewalt- und Mehrfachdiskriminierungen
von lesbischen, bisexuellen Frauen und Trans*Menschen.
Es ist Freitagvormittag in den hellen Räumen der Beratungsstelle in der vierten
Etage eines Hinterhofs. Zu dieser Zeit findet keine Beratung statt und Samira nimmt
sich Zeit für ein Gespräch. Menschen aus allen Altersgruppen kommen hierher, um
zu lernen, mit diskriminierenden Erfahrungen aufgrund ihrer sexuellen Identität,
ihres Geschlechts und ihrer Herkunft umzugehen. Auch für Familienmitglieder
und Freund_innen bietet Samira mit ihrem Team Veranstaltungen an, um sie zu
stärken und für die Probleme zu sensibilisieren, mit denen LSBIT konfrontiert sind.
„Damit sie lernen, sich auf die Wünsche und Gefühle des anderen einzulassen und
nicht ihre eigenen Ideen durchzusetzen und enttäuscht sind, wenn ihre Angehörige
oder Freund_in nicht das macht, was sie für richtig halten. Wir arbeiten in beide
Richtungen“, erklärt Samira. Was es im Alltag oft schwierig macht, auf abfällige
Bemerkungen zu reagieren, ist die mehrfach begründete Ablehnung, weil jemand

1 Transgender wird als Oberbegriff für alle Personen verstanden, für die das gelebte
Geschlecht keine zwingende Folge des bei Geburt zugewiesenen Geschlechts ist. Als
Transgender bezeichnen sich Personen, die ihre Geschlechtsidentität jenseits der binären
Geschlechterordnung leben und damit die Geschlechterdichotomie Frau/ Mann in Frage
stellen (Quelle: Transgender Netzwerk Berlin).

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_8, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
102 Anja Karrasch

eine Migrationsbiografie hat und gleichzeitig lesbisch, schwul oder trans* ist. Um
diese meist subtile Mehrfachdiskriminierung besser zu verstehen, führte sie 2012
gemeinsam mit anderen Wissenschaftler_innen eine Studie zu diesem Thema durch.
„Die Erfahrung der Mehrfachdiskriminierung ist sehr komplex. Oft bringen die
Menschen Erfahrungen mit, dass sie als Kind schon negativ bewertet wurden und
dann kommt auch noch ihre von der Norm abweichender Geschlechtsausdruck
oder sexuelle Lebensweise hinzu“. Ein interessantes Ergebnis ihrer Studien ist,
dass Einzelerfahrungen zunächst oft gar nicht als diskriminierend erlebt, sondern
verdrängt werden. Beispielsweise verneinte die Mehrheit der Befragten, dass sie
Diskriminierung erfahren haben, gaben aber an anderer Stelle an, oft Witze über
ihre Lebensweise oder abwertende Handbewegungen erlebt zu haben.

Mehrfache Diskriminierung passiert oft subtil

Auch Samira erinnert sich erst nach einigem Nachdenken an eine Situation, in
der sie eine Mehrfachdiskriminierung erlebte. Die 55-jährige lebt mit ihrer Frau
in einer Regenbogenfamilie zusammen. Sie haben einen 12-jährigen Sohn, mit
dem sie zu einer Zahnorthopädie ging, da er eine Zahnspange brauchte. Von der
Sprechstundenhilfe wurde sie gefragt, wer sie sei und als sie antwortete: „Mein
Sohn ist hier zur Behandlung. Ich warte auf ihn“, ging die Sprechstundenhilfe zur
Zahnärztin. Auch sie fragte: „Entschuldigen Sie bitte, warum sind sie hier?“ Im
weiteren Gespräch wurde deutlich, dass die Ärztin dachte, Samira wolle ihren Pa-
tienten entführen. „Ich kann es mir nur so erklären, dass meine schwarzen Haare
und meine dunklere Hautfarbe bei ihr diese Assoziation von Entführung und
Kriminalisierung ausgelöst hat. Sie hätte ja auch einfach zugeben können, dass sie
an die Möglichkeit nicht gedacht hat, dass mein Sohn zwei Mütter haben könnte.
Das war eine mehrfache Diskriminierung, wo du weißt, dass mehrere Faktoren eine
Rolle spielen, aber dir nicht klar ist, welche im Vordergrund stehen, also worum
geht es hier eigentlich?“, schildert sie die Situation. Bei ihrer Arbeit berichten die
Ratsuchenden oft, dass sie wenige Vorbilder und Unterstützer_innen haben. Sie
selbst hat in ihrem Leben immer Menschen und eine Gemeinschaft an ihrer Seite
gehabt, die sie dabei unterstützt haben, ihren eigenen Weg zu gehen. In ihrem
Geburtsland war es ihre Partei, auch wenn sie ablehnend auf ihre Liebe zu Frauen
reagierte. Samira war schon im Exil in Deutschland, als sie sich deshalb entschied,
aus der Partei auszutreten. Ihr Outing führte zu heftigen Diskussionen innerhalb
der Frauengruppe, in der sie aktiv war. „In unserer Frauengruppe wurde darüber
diskutiert, dass ich lesbisch bin und was das für sie selbst bedeutet. Die Mehrheit
Ein Leben für die Freiheit 103

der Frauen hat sich hinter mich gestellt und angefangen auch über ihre eigenen
Beziehungen zu sprechen, wo sie sich frei fühlen und wo nicht“, erzählt Samira.

Endlich konnte sie zum ersten Mal ihre Liebe zu Frauen


offen leben

Sie begann Deutsch zu lernen und Psychologie zu studieren und zog um in eine
große Stadt, wo sie in einer Wohngemeinschaft mit 13 Frauen lebte. Zum ersten Mal
hatte sie das Gefühl, frei leben zu können. „Das war unterstützend für mich, raus
zu kommen aus diesen engen Zusammenhängen, wie ich sie vorher erlebt hatte.
Ich konnte mir eher vorstellen ins kalte Wasser zu springen und zu schauen, wo es
Ressourcen für mich gibt. Hier hatte ich meine erste offene lesbische Beziehung.“
Trotzdem sie sich von dem Leben in ihrem Geburtsland verabschiedet hatte, blieb
der Kontakt zu ihrer Familie bestehen. Bei ihrem Vater konnte sie sich vor seinem
Tod vor 23 Jahren nicht outen, aber ihre Mutter kam sie dreimal in Deutschland
besuchen, als sie bereits mit ihrer deutschen Freundin zusammenlebte. Samira
sagte ihr beim zweiten Treffen, dass sie ihre Freundin liebt. Ihre Mutter war nicht
erstaunt, sondern hatte es bereits bei ihrem ersten Besuch gespürt. Obwohl sie
religiös und Homosexualität für sie eine Sünde war, unterstützte sie ihre Tochter.
„Du bist zu selbstständig für Männer. Ich kann mir vorstellen, dass sie mit dir nicht
klarkommen und dass du auch keinen Mann brauchst“. Ihre Mutter war überzeugt
davon, dass sie trotzdem ins Paradies kommen wird, da ihre vielen guten Taten
die Sünde, in der sie lebt, überwiegen würden. „Wir sehen uns dann“, sagte sie zu
Samira. Für sie war das Wichtigste, dass ihre Tochter glücklich ist und dass sie es
war, hatte sie bei ihren Besuchen mit eigenen Augen gesehen.

Toleranz hat etwas mit Thematisierung zu tun

Persönlich hat Samira ihr Glück gefunden. In politischer Hinsicht wünscht sie
sich, dass die Gesellschaft offener wird gegenüber anderen Lebensentwürfen, die
von den herrschenden Vorstellungen von Geschlechterrollen und -merkmalen
abweichen. „Wir haben schon sehr viel erreicht in unserer Gesellschaft, aber es gibt
auch noch viel zu tun“, sagt sie. Zum Beispiel würde das Thema sexuelle Vielfalt
in der Schule zu wenig thematisiert, da viele Lehrer_innen unsicher sind und sich
damit überfordert fühlen. Eine Studie zeigt, dass ein angemessener Umgang mit
Mobbing und Diskriminierung zu mehr Akzeptanz für sexuelle Vielfalt bei den
Schüler_innen beitragen kann. Samira erlebt durch ihren Sohn, der in die 7. Klasse
104 Anja Karrasch

eines Gymnasiums geht, dass es in der Schule keine strukturelle Auseinanderset-


zung mit dem Thema gibt. Schulbriefe werden nur an Mutter und Vater adressiert
und andere Elternformen auch nach mehrfachen Hinweisen nicht berücksichtigt.
Jedes Mal müssen sie den Brief korrigieren. Ihr Sohn ist dadurch immer wieder
damit konfrontiert, dass seine Familie, die für ihn normal und selbstverständlich
ist, von den schulischen Autoritäten nicht gesehen wird. Für Samira können
Akzeptanz und Wertschätzung nur entstehen, wenn über das Thema gesprochen
wird. „Mein Outing hat in meiner Community viel verändert, aber es kann nicht
sein, dass nur wir das Thema sichtbar machen, sondern es ist Aufgabe von allen,
sich damit auseinanderzusetzen“. Ihr ist bewusst, dass sich nicht von heute auf
morgen verändern kann, was tausende von Jahren an Beschränkungen und festen
Normen gelebt wurde: „Dafür hat sich schon sehr viel verändert und mein Wunsch
ist, dass das so weitergeht, dass Menschen ohne Sexismus, Rassismus und Gewalt
miteinander leben können. Um das zu realisieren, müssen Politik, Öffentlichkeit
und wir alle sehr viel investieren. Und wir müssen versuchen unsere Träume zu
verwirklichen und uns vor Normen, auch wenn sie sehr mächtig sind, nicht zu
beugen“. Ihr eigenes Leben ist ein Beispiel dafür, dass es möglich ist, alternative
Lebensmodelle frei und selbstbestimmt zu leben.
Eine ganz normale Familie
Anja Karrasch

Seit 15 Jahren sind Anna und Karla ein Paar. Unzertrennlich, immer noch verliebt
und ihr größter Wunsch ist es, miteinander alt zu werden. Das war nicht immer so.
Als vor siebeneinhalb Jahren ihr Sohn Kolja auf die Welt kam, geriet ihre symbio-
tische Beziehung ins Wanken. Sie waren kurz davor sich zu trennen und schafften
es dennoch, sich als Paar und Mütter neu zu finden.
Anna und Karla lernten sich Ende der 90er Jahre in einer Zahnarztpraxis kennen.
Beide spürten sofort, dass sie eine besondere Anziehungskraft verband. Karla arbei-
tete dort als Zahnarzthelferin und Anna kam eines Morgen als Schmerzpatientin
in die Praxis. „Karla war sehr entzückend zu mir“, erinnert sich die 44-jährige mit
einem feinen Lächeln. Zunächst kam sie als Patientin wieder, und als Karla ihr
wegen Schmerzen in der Schulter anbot, zu ihr nach Hause zur Shiatsu Behandlung
zu kommen, zögerte Anna keine Sekunde. Behutsam näherten sie sich einander,
und es dauerte fünf Monate, bis sie sich zum ersten Mal küssten. Sie wurden un-
zertrennlich. Das Handy wurde ihr unverzichtbarer Draht zueinander, wenn sie
nicht zusammen sein konnten. „Ich hatte nie ein Handy gehabt, aber dann brauchte
ich es, damit ich Anna immer anrufen konnte“, erzählt Karla. Mit siebzehn Jahren
hatte sie sich zum ersten Mal in eine Frau verliebt, während eines Ostseeurlaubs mit
ihrem Vater. Auch Männer fand sie interessant, verlor aber schnell das Interesse,
wenn sie erobert waren. „Ich habe geflirtet, mit Männern und Frauen, aber zu mehr
ist es oft nicht gekommen, weil ich immer so schüchtern war“. Erst mit 27 Jahren
hatte Karla ihre erste feste Beziehung mit einer Frau, die acht Jahre lang dauerte.
Als sie in die Brüche ging, fiel sie in ein tiefes Leidenstal, aus dem sie sich langsam
herausarbeitete. Für Anna war sie wieder bereit, sich neu auf die Liebe einzulassen.
Mit ihr zusammen ein Kind zu bekommen, gehörte für Karla nicht dazu. Aber
Anna hatte einen großen Kinderwunsch: „Ich hatte schon zwei Schwangerschaften
aus Beziehungen mit Männern nicht zugelassen, weil ich nicht alleinerziehend sein

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


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wollte. Aber ich wollte nicht kinderlos von dieser Welt gehen und wünschte mir,
dass mein Kind in einer normalen Familie aufwächst und für mich sind wir ja eine
normale Familie“, sagt Anna. Für sie war Karla die dritte Frau, mit der sie eine
Liebesbeziehung hatte und fühlte sich ihr so nah, dass sie sich ein Leben mit ihr
vorstellen konnte. Aber Karla dachte an Trennung, um für Anna den Weg frei zu
machen für eine Beziehung, in der ihr Kinderwunsch erfüllt werden könnte. Ein
Traum brachte die entscheidende Wendung. Eines Nachts träumte die 51-jährige,
dass ihre Partnerin zusammen mit einem Kind auftaucht, einem kleinen Jungen
mit Annas roten Haaren. Sie nahm es als ein Zeichen und blieb.

Schwierige Suche nach einem Samenspender

In ihrem Freundeskreis machten sie sich auf die Suche nach einem Samenspender,
da sie wollten, dass ihr Kind Kontakt zu seinen leiblichen Vater hat und weiß, woher
seine anderen 50 Prozent kommen. Das war nicht so einfach, da auch die Partnerin
einverstanden sein sollte. Schließlich wurden sie fündig und beide erzählen mit
viel Humor von dem Tag, an dem alles zusammenpasste. Anna hatte ihre frucht-
baren Tage, die sie mittels eines Teststäbchens gemessen hatte. Und Knud, der
Samenspender, hatte Zeit: „Es war ein Sonntag, der 22. Januar 2006 und wir riefen
bei Knud und seiner Frau an und kündigten unseren Besuch an, um den Samen
abzuholen. Als wir ankamen, mussten wir feststellen, dass sie ihn im Kühlschrank
gelagert hatten, was gar nicht ging, weil dann die Samen absterben“. Also schickte
das Paar Anna und Karla bei minus 18 Grad noch einmal spazieren und fünfzehn
Minuten später konnten sie noch einen „frischen“ Becher mit nach Hause nehmen.
Anna wurde auf Anhieb schwanger. Da Karla schon einmal schmerzhaft erlebt
hatte, dass sie nach der Trennung von ihrer letzten Partnerin auch den Kontakt zu
deren Tochter verloren hatte, entschieden sie sich dafür zu heiraten, um durch eine
Adoption ihres Kindes durch Karla das gemeinsame Sorgerecht zu ermöglichen.
„Rein bürokratisch gab es vonseiten der Ämter eine große Unsicherheit, wer für die
Adoption zuständig ist. Es war dann so, dass uns das Jugendamt zur Adoptivstelle
geschickt hat, die feststellte, dass in unserem Fall das Jugendamt entscheidet“,
berichtet Karla von den bürokratischen Hürden, die sie überwinden mussten. Als
ihr Sohn Kolja auf die Welt kam, war alles perfekt organisiert, aber womit sie nicht
gerechnet hatten, war der Bruch, der die Geburt für ihre Beziehung bedeutete. „Ich
war ja gespannt, was für eine Mutter Anna wird, aber dass sie dann eine richtige
Glucke wird, damit hatte ich nicht gerechnet. Mit dem Moment der Geburt stand
ich draußen. Es war eine neue Bindung, die sie mit Kolja einging. Ich wollte dabei
sein und Anna fühlte sich kontrolliert“. Während Karla ihre Gefühle schildert, hört
Eine ganz normale Familie 107

Anna aufmerksam zu und antwortet ruhig, die neue Situation sei sehr anstrengend
für sie gewesen. Erst gestern hatten sie über diese Zeit noch einmal gesprochen, was
sie auch während der schwierigen Zeit nach der Geburt immer wieder getan hatten.

Gute Gespräche haben ihre Beziehung gerettet

Dadurch blieben sie auch in dieser Krise miteinander verbunden und schafften es,
ihre Beziehung neu zu ordnen und sich ihre Bereiche in der Familie und bei der
Erziehung ihres Sohnes zu schaffen. Karla ist wichtig, dass Kolja gut isst und Anna
achtet darauf, dass er warm genug angezogen ist. Oder beim Skiurlaub fährt Karla
mit ihm auch riskante Pisten hinunter, während Anna auf den einfacheren Hängen
allein unterwegs ist. Für Kolja, der inzwischen siebeneinhalb Jahre alt ist, heißen
sie beide Mama, aber „neulich im Gespräch meinte er, ich sei ja eher seine Halb-
mama, weil man mit mir alles machen kann wie Skifahren und Spielen. Und seine
andere Mama sei zum Kuscheln da“, erzählt Karla amüsiert und findet es natürlich,
dass er eine besondere Beziehung zu Anna hat. „Für ihn ist ganz klar, sie ist seine
Mama, da sie ihn auf die Welt gebracht hat“. Ihre große Liebe und das Verständnis
füreinander trägt sie durch die Höhen und Tiefen des familiären Alltags. Damit
das so bleibt, wollen Anna und Karla wieder mehr Zeit allein verbringen. Bald wird
Karlas Nichte zweimal im Monat vorbeikommen, um auf Kolja aufzupassen. Und
im Sommer wird er das erste Mal ein paar Tage ohne sie bei seiner Oma verbringen,
da das Paar gemeinsam beruflich unterwegs sein wird. Ihre Familien akzeptieren
ihre Art zu leben. Nur Karlas Bruder hat einmal ihren Vater gefragt, ob er nicht in
der Erziehung etwas falsch gemacht hätte, da auch Karlas Schwester lesbisch ist. Er
reagierte mit Unverständnis und stellte klar: „Ich liebe meine Töchter, wie sie sind,
und mit wem sie sich entschieden haben zusammen zu leben, das ist ihre Sache“.

„Es ist toll, zwei Mamas zu haben“

So selbstverständlich, wie sie mit ihrem Leben umgehen, so unkompliziert re-


agieren auch die Menschen in ihrem Umfeld, ob im Job, in der Kita oder Schule.
„In der Schule schauen die Lehrer und Schüler schon neugierig, wenn wir zwei als
Elternpaar auftauchen. Kolja gibt dann ein bisschen an und sagt, dass es toll ist,
zwei Mamas zu haben. Die Lehrerin hat das Thema auch im Unterricht aufgegriffen
und den Kindern erklärt, dass es verschiedene Lebensformen gibt“, erzählt Karla.
In Koljas Schule ist es üblich, dass jedes Kind zu seinem Geburtstag ein Fotoal-
bum mitbringt. In seinem Album war auch ein Foto von seinem Papa, zu dem er
108 Anja Karrasch

den anderen Kindern erklärte, dass er woanders wohnt. Kolja sieht ihn zwei- bis
dreimal im Jahr, und wenn er möchte, kann er jederzeit mit ihm telefonieren. Für
seine Zukunft wünschen sich Anna und Karla, dass er seinen Weg findet und seine
Talente nutzt: „Ich möchte, dass er eine Stetigkeit im Leben bekommt. Dazu gehört,
durchzuhalten, auch wenn es schwierig wird. Es war toll zu sehen, wie viel er dieses
Jahr von seinem Skilehrer gelernt hat. Eben wieder aufzustehen, wenn er hinfällt“,
sagt Anna. Was wäre, wenn Kolja Männer lieben würde, wenn er groß ist? Karla
hat sich diese Frage auch schon gestellt. „Dann wäre es halt so. Wir nehmen es
dann, wie es ist. Von mir wünsche ich mir, dass, egal wohin sein Weg geht, ich die
Gelassenheit habe auszuhalten und anzuerkennen, für was er sich entscheidet und
nicht einzugreifen“. Die Ruhe, die beide ausstrahlen, lässt daran keinen Zweifel.

Weiterführende Literatur zu II „Biografische Erzählungen“

100 Prozent dazugehören


de Haan L, Nijland S (2001) König & König. Gerstenberg, Hildesheim

„Ich kann stolz darauf sein, wer ich bin“


Baldwin J (1963) Giovannis Zimmer. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg
Genet J (1965) Querelle. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg
Wilde O (1961) Das Bildnis des Dorian Gray. Goldmann, München

Ein Leben für die Freiheit


Klocke U (2012) Akzeptanz sexueller Vielfalt an Berliner Schulen. Eine Befragung zu Verhal-
ten, Einstellungen und Wissen zu LSBIT und deren Einflussvariablen. Die vollständige
Studie unter http://bit.ly/RoWEHb. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse unter http://
bit.ly/1l7AEJy. Zugegriffen: 22. April 2014
LesMigras, Alice Salomon FH Berlin (2012) „Nicht so greifbar und doch real“. Eine quantitative
und qualitative Studie zu Gewalt- und (Mehrfach-) Diskriminierungserfahrungen von
lesbischen, bisexuellen und Trans* in Deutschland. http://bit.ly/1fo5Wa0. Zugegriffen:
22. April 2014

Eine ganz normale Familie


Familien- und Sozialverein des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland (LSVD)
e. V. Köln (2007) Regenbogenfamilien – alltäglich und doch anders. Beratungsführer
für lesbische Mütter, schwule Väter und familienbezogenes Fachpersonal. http://www.
family.lsvd.de/beratungsfuehrer/. Zugegriffen: 22. April 2014
III.1
Lebensphasen und -kontexte
Kindheit, Jugend und Familie
Regenbogenfamilien
Kinderwunsch und Familienleben im Kontext
von LSBT-Lebensweisen
Constanze Körner

Einleitung

Wenn in einer Familie mindestens ein Elternteil lebt, das sich als lesbisch, schwul,
bisexuell oder transident versteht, dann wird diese Familie als Regenbogenfamilie
bezeichnet (Gerlach 2010, S.18). Der Regenbogen steht für die Emanzipationsbe-
wegung der Homosexuellen. Die Vielfalt, die durch den Regenbogen ausgedrückt
werden soll, spiegelt sich dabei auch in der Vielfalt von Regenbogenfamilien im
Kontext von LSBT-Lebensweisen wider.
Den Begriff der Regenbogenfamilie selbst gibt es noch nicht sehr lange. Erst 2009
fand das Wort Eingang in den Duden. Auch ist anzumerken, dass die alltägliche
Wahrnehmung und Anerkennung von Regenbogenfamilien noch in den Kinder-
schuhen steckt. So lassen sich die relevanten gesellschaft lichen und rechtlichen
Entwicklungen auf die letzten beiden Jahrzehnte in Deutschland zurückführen.
Diese haben dazu geführt, dass Regenbogenfamilien auf unterschiedlichsten Wegen
entstehen und teilweise Anerkennung fi nden konnten. Während Homosexualität
und auch Transsexualität noch vor wenigen Jahren in den überwiegenden Fällen an
Kinderlosigkeit gebunden war, entscheiden sich heute immer mehr LSBT-Personen
dafür, selber leibliche Kinder zu bekommen oder Kinder bei sich aufzunehmen, um
mit ihnen als Familie zu leben. Die Wege, wie Regenbogenfamilien entstehen, und
auch die Dynamiken, die hierbei entfacht werden, sind dabei sehr unterschiedlich.
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass das deutsche Familienrecht nicht
darauf ausgelegt ist, dass es in einer Familie gleichgeschlechtliche Eltern gibt und
es in einer Regenbogenfamilie auch mehr als zwei Eltern geben kann. Wiederholt
hat der Gesetzgeber in Deutschland jedoch in den letzten Jahren vom Bundesver-
fassungsgericht die Aufforderung erhalten, Lesben und Schwule in einer Eingetra-
genen Lebenspartnerschaft mit heterosexuellen Ehepaaren gleichzustellen. Diese
Gleichstellungsdiskussionen werden von konservativer Seite jedoch insbesondere

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_10, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
112 Constanze Körner

dann torpediert, wenn es um Familie und Kinder geht. Vernachlässigt wird dabei,
dass diese Eltern selbstredend Verantwortung für ihre Kinder übernehmen und
Kinder in diesen Familien, wie die Studie von Martina Rupp zur „Lebenssituation
von Kindern in Eingetragenen Lebenspartnerschaften“ aus dem Jahr 2009 zeigt,
in einem liebevollen Umfeld aufwachsen und hier Chancen und Möglichkeiten
erhalten, tolerante und beziehungsfähige Menschen zu werden. So kommt es, wie
die Untersuchung eindrücklich dokumentiert, bei der Erziehung von Kindern nicht
auf das Geschlecht der Eltern und die Familienkonstellation an. Von Relevanz ist
vielmehr die Beziehungsqualität in der Familie (Rupp 2009, S. 306).

Familiengründung bei Regenbogenfamilien im Kontext der


rechtlichen Situation in Deutschland

Regenbogenfamilie ist nicht gleich Regenbogenfamilie. In ihren Entstehungsdyna-


miken, ihren rechtlichen Absicherungen und in der gesellschaftlichen Wahrneh-
mung können sie sich erheblich voneinander unterscheiden. Einzig die Tatsache,
dass mindestens ein Elternteil der Gruppe der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und
Transidenten angehört, kann der gemeinsame Nenner sein.
Wenn eine LSBT-Person oder ein LSBT-Paar einen Kinderwunsch hat, stehen
diese zumeist vor zahlreichen Fragen und der Herausforderung, wie sie diesen
Kinderwunsch umsetzen können und wollen. Dies geschieht nicht selten im Span-
nungsfeld der engeren Familie, des Arbeitsumfeldes und den gegebenen rechtlichen
Möglichkeiten. Das Regenbogenfamilienzentrum des LSVD in Berlin1, welches 2013
als deutschlandweit erstes Familienzentrum für speziell diese Familien eröffnet
wurde, bietet Beratungs-, Begegnungs- und Vernetzungsangebote für werdende
und seiende Regenbogenfamilien. Auch Bildungsangebote sowohl für die Familien
aber insbesondere für Multiplikator_innen sind ein wesentlicher Bestandteil des
Zentrums. Die Gründung des Regenbogenfamilienzentrums und deren Inhalte
basieren auf jahrelangen Erfahrungen in diesem Bereich. Die folgenden Ausfüh-
rungen sind Teil dieser Erfahrungen.

1 http:berlin.lsvd.de/projekte/regenbogenfamilien
Regenbogenfamilien 113

Regenbogenfamilien mit Kindern aus heterosexuellen


Beziehungen

Viele Regenbogenfamilien sind dadurch entstanden, dass sich Eltern aus einer
heterosexuellen Beziehung gelöst haben und dann über ein so genanntes spätes
Coming Out eine neue gleichgeschlechtliche Beziehung führen: „Die meisten
Kinder, die bei ihren lesbischen Müttern, schwulen Vätern oder auch in einer
gleichgeschlechtlichen Partnerschaft aufwachsen, sind Kinder aus einer vorherigen
heterosexuellen Partnerschaft oder Ehe“ (Kläser 2011, S. 92). Das Konzept von
gleichgeschlechtlicher Partnerschaft und Familie war im Kontext von Verfolgung
und Diskriminierung vor den 1990er Jahren nur schwer lebbar. Mit der rechtlichen
und gesellschaftlichen Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen,
insbesondere mit der Einführung der Eingetragenen Lebenspartnerschaft 2001
und der Einführung der Stiefkindadoption für leibliche Kinder in Eingetragenen
Lebenspartnerschaften 2005, hat sich jedoch das Selbstverständnis bei Homose-
xuellen, als Familie leben zu können und zu wollen, geändert. In Beratungen im
Regenbogenfamilienzentrum, aber auch bei Kinderwunschzentren, die bei der Um-
setzung eines Kinderwunsches bei lesbischen Frauen unterstützen, ist ein ständiger
Anstieg von Kinderwunschberatungen seit einigen Jahren zu verzeichnen. Doch
obwohl eine rechtliche und gesellschaftliche Anerkennung von gleichgeschlecht-
lichen Partnerschaften inzwischen weitgehend stattgefunden hat, bekennen sich
nach wie vor viele Männer und Frauen zu ihrer Homosexualität (oder auch seltener
Transsexualität) häufig erst, nachdem sie eine heterosexuelle Beziehung gelebt und
in dieser Beziehung Kinder bekommen haben. Nicht selten werden in die neuen
gleichgeschlechtlichen Partnerschaften weitere gemeinsam gewünschte Kinder
geboren: Patchworkfamilien entstehen.

Regenbogenfamilien in Mehrelternmodellen

Immer mehr Lesben und Schwule als Einzelpersonen oder in Paarbeziehungen


wollen ihren Kinderwunsch erfüllen, indem sie gemeinsam neue Familienmodelle
leben. So gibt es ganz unterschiedliche Konstellationen: „Im Rahmen dieses les-
bisch-schwulen Familienmodells kann ein Kind einen Vater und zwei Mütter, eine
Mutter und zwei Väter oder zwei Mütter und zwei Väter haben“ (Kläser 2011, S.
102). Bei Mehrelternmodellen kommt es wesentlich darauf an, wie die biologische,
rechtliche und soziale Elternschaft entschieden und gelebt wird.
Viele lesbische Frauen wünschen sich dabei einen Vater für ihr Kind. Bei der
Erfüllung ihres Kinderwunsches suchen sie zumindest im Kontext der Kinder-
114 Constanze Körner

wunschberatung im Regenbogenfamilienzentrum meist einen schwulen Mann


oder ein schwules Paar, die ihnen den Kinderwunsch erfüllen. Je nachdem, auf
welcher rechtlichen Basis der Vater seine Elternrolle leben möchte, kann durch
die nichtleibliche Mutter eine Stiefkindadoption mit Einwilligung des Vaters
vorgenommen werden. Der biologische Vater gibt in dem Fall das Kind zur Ad-
option für die Lebenspartnerin der leiblichen Mutter frei und verliert dadurch
sein verwandtschaftliches Verhältnis sowie alle Rechte und Pflichten dem Kind
gegenüber. Für viele Regenbogenfamilien ist dies ein optimaler Weg. Der Vater
kann als sozialer Vater an der Familie beteiligt bleiben, aber die Entscheidungen
und das Lebensumfeld des Kindes liegen bei den Müttern.
In den Fällen, in denen alle gleichberechtigt rechtliche Eltern sein wollen, stellt
sich die Situation komplizierter dar, da das Familienrecht insgesamt nur zwei
rechtliche Eltern anerkennt. Um einen Ausgleich zwischen den beteiligten Eltern
zu schaffen, kann eine Variante gewählt werden, die für die nichtleibliche Mutter
in der Eingetragenen Lebenspartnerschaft das kleine Sorgerecht, also die Alltags-
sorge, vorsieht. In diesem Fall kann der Vater die Vaterschaft mit Unterhaltspflicht
und Umgangsrecht anerkennen. Grundsätzlich sollte ein hohes Maß an Vertrauen
vorhanden sein und möglichst eine juristische Beratung aufgesucht werden.

Erfüllung des Kinderwunsches mit Hilfe von Ärzt_innen


und Samenbanken

Lesbische Frauen wollen in ihren Paarbeziehungen oder auch als Alleinstehende


häufig ihren Kinderwunsch mit Hilfe eines anonymen Samenspenders erfüllen und
entscheiden sich für die Unterstützung durch eine Samenbank und Ärzt_innen. In
Deutschland wird dies regional unterschiedlich umgesetzt und stellt sich für die
Frauen zumeist als kompliziert dar. Es gibt nur wenige Samenbanken und Ärzt_in-
nen, die hier weiterhelfen. So führt die Bundesärztekammer in ihren „Richtlinien
zur assistierten Reproduktion“ (BÄK 2006) auch aus, dass nur heterosexuellen
verheirateten Frauen auf diesem Weg geholfen werden soll. Viele Frauen sehen sich
daher genötigt, ins europäische Ausland, zum Beispiel Niederlande oder Dänemark,
zu fahren, wo es längst einen freien Zugang zur Reproduktionsmedizin gibt. Die
Frauenpaare werden nach der Geburt des gemeinsam geplanten Kindes durch die
Stiefkindadoption rechtliche Eltern. Die Kinder können in der Regel mit 18 Jahren
erfahren, wer der genetische Erzeuger ist.
Beratungsstellen, wie beispielsweise das Regenbogenfamilienzentrum des LSVD
in Berlin, sind an dieser Stelle für die Frauen weiterführend, denn sie kennen ent-
Regenbogenfamilien 115

sprechende Adressen von unterstützenden Samenbanken und Kinderwunschpraxen


im In- und Ausland.

Pflegefamilien

Viele Kinder, die aus verschiedensten Gründen nicht in ihren Herkunftsfamilien


bleiben können, brauchen ein neues Zuhause. Die Stadt Berlin sieht bei Lesben
und Schwulen inzwischen ein großes Potenzial, sie als Pflegeeltern zu gewinnen.
So heißt es seit 2004 in den Ausführungsvorschriften der Stadt Berlin über `Hilfe
zur Erziehung in Vollzeitpflege‘, dass verschiedene Familienformen in Frage kom-
men und „unverheiratete Paare, gleichgeschlechtliche Paare und Alleinstehende“
ausdrücklich als Pflegeeltern gewünscht sind (SenBildJugSport 2004, S.3). Insbe-
sondere für Schwule, die biologisch und rechtlich weniger Möglichkeiten haben,
mit Kindern leben zu können, ist dies eine Möglichkeit der Familiengründung.

Adoption eines nichtleiblichen Kindes

Einen Kinderwunsch durch die Adoption eines nichtleiblichen Kindes umzusetzen,


gestaltet sich im In- und Ausland derzeit schwieriger als alle anderen Wege, als
nicht-heterosexuelles Paar eine Familie zu gründen. Zum einen gibt es in Deutsch-
land zu wenige Kinder, die zur Adoption freigegeben werden. Zum anderen gibt
es nur wenige Agenturen, die im Ausland mit Homosexuellen zusammenarbeiten.
Zugleich ist in Deutschland der Vorbehalt gegenüber Homosexuellen als Adopti-
veltern bei vielen zuständigen Behörden noch sehr groß, da auch die Politik sich
nach wie vor beim gemeinsamen Adoptionsrecht sperrt. Erst Anfang 2013 hat das
Bundesverfassungsgericht die Sukzessivadoption, in der erst ein Lebenspartner
oder Lebenspartnerin und dann der andere Lebenspartner oder Lebenspartnerin
das Kind nacheinander adoptiert, erzwungen.

Regenbogenfamilien in der Forschung in Bezug auf


Eltern und Kinder

In Deutschland wurden Regenbogenfamilien als Forschungsthema bisher stark


vernachlässigt. Lange Jahre konnten sich Wissenschaftler_innen und Aktiviste_in-
nen nur auf Forschungsergebnisse aus anglo-amerikanischen Ländern berufen. Bis
116 Constanze Körner

2009 die von Martina Rupp durchgeführte und vom Bundesministerium für Justiz
beauftragte Studie zur „Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen
Partnerschaften“ erschien, war es schwierig, auf wissenschaftlicher Ebene gegen
die vielen Mythen, Vorurteile und Diskriminierungen vorzugehen, die in unserer
Gesellschaft manifestiert sind und weiterhin vielerorts geglaubt und verbreitet
werden. Zu diesen Mythen und Vorurteilen zählt, dass nicht-heterosexuellen Eltern
die Erziehungsfähigkeit fehlt und Kinder sich in diesen Familien negativ psycho-
sexuell und sozialkognitiv entwickeln. Bereits in den älteren amerikanischen und
nun auch in der deutschen Studie von Rupp konnte dies deutlich widerlegt werden:
„Das Erziehungsverhalten gleichgeschlechtlicher Lebenspartner(innen) zeichnet
sich durch Fürsorglichkeit und Zugewandtheit aus. Die Beziehung der Kinder und
Jugendlichen zum leiblichen Elternteil und zum Partner des Vaters bzw. zur Partnerin
der Mutter ist vergleichbar mit der Beziehungsqualität in anderen Familienformen“
(Rupp 2009, S. 309). So schreibt auch Kläser: „Denn homosexuelle Eltern bemühen
sich häufig stärker um ein stabiles Familienleben und um eine positive Beziehung zu
den Kindern, da ihre Kinder in der Regel Wunschkinder sind“ (Kläser 2011, S. 110).
Zur sozialkognitiven Entwicklung von Kindern in Regenbogenfamilien schreibt
Kläser weiter: „Sie haben in der Regel gute Kontakte zu Gleichaltrigen, sie sind sozial
angepasst und integriert wie andere Kinder auch.“ (ebd., S. 111). Dabei weist er auf
besonders positive Auswirkungen der Entwicklung dieser Kinder hin: „Zum einen
erfahren Kinder Respekt, Sympathie und Toleranz gegenüber der multikulturellen
Gesellschaft und Umwelt, in der sie und andere leben. Zum anderen lernen die Kinder
häufig flexible (unterschiedliche) Interpretationen des Geschlechtsrollenverhaltens
kennen und haben somit die Möglichkeit, diese später in persönlichen und intimen
Beziehungen zu integrieren (egalitäre Rollenaufteilung). Des Weiteren entwickeln
die Kinder ein Verständnis dafür, dass Familien auf der Basis von Liebe, eigenen
Lebensentwürfen und freier Wahl aufgebaut sind“ (ebd.). Als weitere, verbreitete
Annahme gegenüber Regenbogenfamilien lässt sich noch die Vorstellung nennen,
dass Kinder in diesen Familien unzureichend männliche oder weibliche Vorbil-
der haben und die sexuelle Identität der Kinder gefährdet sei. An dieser Stelle ist
sicherlich Kläsers Unterscheidung der sexuellen Identität in Geschlechtsidentität,
Geschlechterrollenverhalten und Geschlechtspartnerorientierung weiterführend.
So stellt er fest, dass „[…]Kinder mit homosexuellen Eltern ebenso wie Kinder aus
anderen Familien eine Geschlechtsrollenidentität und ein Rollenverhalten ent-
wickeln, das ihrem biologischen Geschlecht entspricht. Denn Lesben leben ihren
Kindern eine weibliche und Schwule ihren Kindern eine männliche Identität vor.
Ebenso sind neben der Kernfamilie die Einflüsse der sozialen Umwelt sehr groß.
Somit haben die Kinder beispielsweise im Bekannten- und Freundeskreis ihrer
Eltern die Möglichkeit, die jeweils fehlenden Identifikationsfiguren (Frauen oder
Regenbogenfamilien 117

Männer) zu finden. Homosexualität bedeutet nicht die Ablehnung des anderen


Geschlechts“ (ebd., S. 110f.).

Das Regenbogenfamilienzentrum als Anlaufstelle


für Regenbogenfamilien

Für die meisten Regenbogenfamilien ist es sehr wichtig, dass sie sich vernetzen
und austauschen, damit sie Erfahrungen und Informationen weitergeben und vor
allem sich gegenseitig kennenlernen können. Dies gilt für die Eltern und für die
Kinder, um ein starkes Selbstbewusstsein zu entwickeln, ein Leben als Regenbo-
genfamilie zu führen. Insbesondere für die Kinder ist es förderlich, im Prozess des
Aufwachsens Kontakt mit anderen Kindern zu haben, die mit LSBT-Eltern leben.
Das Regenbogenfamilienzentrum in Berlin ist dabei Deutschlands erste Anlaufstelle
dieser Art, wo sich Regenbogenfamilien in einem geschützten Raum treffen können.
So machen Diskriminierungserfahrungen oder Ängste vor Diskriminierungen
im Umfeld der Regenbogenfamilien wie auch die besondere juristische Situation
und der teilweise unsichere Umgang mit diesen Familien in den Institutionen, in
denen sie sich bewegen (Kindergarten, Schule, Ärzte, Behörden usw.), solch eine
Anlaufstelle notwendig. Dieser geschützte Raum bietet ihnen neben den üblichen
Angeboten eines Familienzentrums (psycho-soziale Beratung bis hin zu unter-
schiedlichen Gruppen für Schwangere, Väter, Eltern und Kinder oder Pflegefamilien)
die Möglichkeit, ohne weitere Erklärungen als Familie so zu sein, wie sie sind. Das
Regenbogenfamilienzentrum bietet dabei auch Multiplikator_innen die Option,
sich über Regenbogenfamilien zu informieren und fortzubilden.

Literatur
Bundesärztekammer (BÄK) (2006) (Muster-)Richtlinie zur Durchführung der assistierten
Reproduktion. http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.7.45.3261. Zuge-
griffen: 19.September 2013
Gerlach S (2010) Regenbogenfamilien: Ein Handbuch. Querverlag, Berlin
Kläser T (2011) Regenbogenfamilien: Erziehung von Kindern für Lesben und Schwule.
Centarus Verlag & Media KG, Freiburg
Rupp M (Hrsg) (2009) Die Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Le-
benspartnerschaften. Bundesanzeiger Verlag, Köln
118 Constanze Körner

SenBildJugSport – III D 112 (2004) Ausführungsvorschriften über Hilfe zur Erziehung in


Vollzeitpflege (§ 33 SGB VIII) und teilstationärer Familienpflege (§ 32 Satz 2 SGB VIII)
(AV-Pflege) vom 21.06.2004, S 3. http://www.berlin.de/imperia/md/content/sen-jugend/
rechtsvorschriften/av_pflege.pdf?start&ts=1330550807&file=av_pflege.pdf. Zugegriffen:
23. Januar 2014

Weiterführende Informationen
Funcke D, Thorn P (2010) Die gleichgeschlechtlichen Familien mit Kindern: Interdisziplinäre
Beiträge zu einer neuen Lebensform. Transcript Verlag, Bielefeld
Familien für Kinder gGmbH (Hrsg) (2004) Ausführungsvorschriften über Hilfe zur Erzie-
hung in Vollzeitpflege (§ 33 SGB VIII) und teilstationärer Familienpflege (§ 32 Satz 2
SGB VIII) (AV-Pflege). Pflegekinder Heft 1-04
Rupp M (Hrsg) (2010) Partnerschaft und Elternschaft bei gleichgeschlechtlichen Paaren:
Verbreitung, Institutionalisierung und Alltagsgestaltung. Zeitschrift für Familienfor-
schung., Sonderheft 7, 2010
Streib-Brizič U, Gerlach S (2006) Und was sagen die Kinder dazu? Gespräche mit Töchtern
und Söhnen lesbischer und schwuler Eltern (2. Aufl.). Querverlag, Berlin
Kinder, Eltern, Staat
Rechtliche Konflikte im Zusammenhang mit
minderjährigen Inter*- und Trans*Personen
Katharina Bager und Anna Lena Göttsche

1 Einleitung

Die Annahme, dass es ‚das männliche‘ und ‚das weibliche‘ Geschlecht und auch nur
diese beiden gibt, dass sie sich durch ihre körperlichen Merkmale auf natürliche
Weise voneinander unterscheiden, und dass jeder Mensch (nur) einem der beiden
Geschlechter eindeutig und für sein gesamtes Leben angehört, ist Teil eines nicht
hinterfragten Alltagswissens; sie prägt unsere Intimbeziehungen, unsere Gesellschaft,
unsere gesamte Wahrnehmung und dementsprechend auch unser Rechtssystem.1
Es gibt Menschen, die diese Annahme widerlegen: Deren Geschlechtszugehö-
rigkeitsempfinden sich nicht innerhalb dieses binären Systems der Zweigeschlecht-
lichkeit bewegt und/oder von dem Geschlecht abweicht, das ihnen bei Geburt
zugewiesen wurde. Zu ihnen gehören u. a. Trans*- und Inter*Personen2. Ihnen
widmet sich dieser Beitrag mit dem Schwerpunkt rechtlicher Konfl iktkonstellationen
minderjähriger Trans* und Inter* im Verhältnis zu ihren Erziehungsberechtigten
sowie im Verhältnis zum Staat.

1 Vgl. Adamietz 2012, S. 16; Cottier 2011, S. 87


2 Dieser Beitrag möchte weitestgehend auf die pathologisierenden Begriffe „intersexuell“
bzw. „transsexuell“ verzichten, die auch als Selbstbezeichnungen zum Teil abgelehnt
werden. „Inter*“ bzw. „Trans*“ erfasst ein größeres Spektrum an Identitäten, Lebens-
weisen und Konzepten und wird wohl auch als Selbstbezeichnung bevorzugt (vgl.
ausführlich bzgl. Trans*: Franzen und Sauer 2010, S. 7f.). Der Stern* dient dabei als
Platzhalter, der geschlechtliche Markierungen überflüssig macht.

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_11, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
120 Katharina Bager und Anna Lena Göttsche

2 Grundlagen

Es werden zunächst die einschlägigen Grundrechte der deutschen Verfassung


erläutert, auf ebenfalls relevante antidiskriminierungsrechtliche sowie internati-
onale Normen kann angesichts der Kürze dieses Beitrags nur verwiesen werden. 3

2.1 (Selbstbestimmungs-)Rechte von Minderjährigen

Selbstbestimmungsrechte sind Teil der Grundidee von Menschenrechten und werden


in Deutschland bezüglich unterschiedlicher Persönlichkeitsbereiche als Teil der
Verfassung angesehen. Sie können persönliche Daten, das äußere Erscheinungsbild,
aber auch den Sexualbereich und weitere persönliche Lebenssachverhalte betref-
fen.4 Ein explizites Selbstbestimmungsrecht von Kindern gibt es in der deutschen
Verfassung nicht, denn grundsätzlich sind auch Kinder und Jugendliche Rechts-
subjekte und Träger eigener Grundrechte – sowohl gegenüber dem Staat, als auch
gegenüber ihren Erziehungsberechtigten.5 Dies gilt insbesondere für Grundrechte,
die an die menschliche Existenz anknüpfen. Minderjährige sind also jedenfalls
grundrechtsmündig in Bezug auf die Menschenwürde, das Recht auf Leben und
körperliche Unversehrtheit sowie das allgemeine Persönlichkeitsrecht.6 Letzteres
wurde durch den Bundesgerichtshof (BGH) und das Bundesverfassungsgericht
(BVerfG) aus dem Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Ver-
bindung mit der unveräußerlichen Menschenwürde entwickelt.7 Es schützt den
Sexualbereich8, dem neben dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung das Finden
und Erkennen der eigenen sexuellen Identität zuzuordnen ist.9 Auch der Wunsch
nach körperlichen Veränderungen, wie die Änderung von als falsch empfundenen
Geschlechtsmerkmalen, muss im Bereich der Intimsphäre vom Schutzbereich des
allgemeinen Persönlichkeitsrechts umfasst sein.10

3 Informative Beiträge hierzu finden sich in Lohrenscheidt (2009).


4 Für weitere Beispiele vgl. Hofmann 2011, Art. 2 Rn. 23ff.
5 Jarass 2012, Art. 19 Rn. 10 sowie Art. 2 Rn. 74.
6 Art. 1 Abs. 1; 2 Abs. 2 sowie 2 Abs. 1 iVm 1 Abs. 1 Grundgesetz, vgl. BVerfGE 24, 119
(144); 83, 130(140).
7 BGH, NJW 1954, 1404 (1405); BVerfG, NJW 1973, 1226 (1229).
8 BVerfG, NJW 1997, 1632 (1633).
9 BVerfG, NJW 2011, 909 (910).
10 So auch Rothärmel 2006, S. 281.
Kinder, Eltern, Staat 121

Primär sind Grundrechte als Abwehrrechte zum Schutz vor nicht gerechtfertigten
staatlichen Eingriffen konzipiert.11 Diese Abwehrrechte können, wenn beispielsweise
Grundrechte anderer Personen entgegenstehen, eingeschränkt werden. Ein Grund-
rechtseingriff muss jedoch gerechtfertigt sein, also insbesondere in angemessenem
Verhältnis zur Grundrechtseinschränkung stehen.12

2.2 Elternrecht

Das natürliche Elternrecht13 ist ein „Recht“ der Eltern, nicht des Kindes.14 Es schützt
die Eltern vor staatlichen Eingriffen, richtet sich dabei aber nicht gegen das Kind.15
Vielmehr ist es in sich durch das Kindeswohl begrenzt. Die Begrenzung ergibt sich
aus der Zielsetzung der Norm: Elterliche Pflege und Erziehung soll dazu dienen,
dass sich das schutz- und hilfsbedürftige Kind zu einer eigenverantwortlichen Per-
sönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft entwickeln kann.16 Dies bedingt,
mit zunehmendem Alter, ein Heranführen des Kindes an die Selbstständigkeit:
Beteiligung an Entscheidungen, Rücksichtnahme auf Bedürfnisse und Wünsche,
Eröffnen bestimmter Bereiche selbstverantwortlichen Handelns.17

2.3 Elterliche Sorge

Das verfassungsrechtlich verankerte Elternrecht findet seinen einfachgesetzlichen


Ausdruck in den Regelungen zur elterlichen Sorge.18 Neben dem Recht begründen
diese auch eine elterliche Pflicht zur Sorge gegenüber dem Kind.19 An sie geknüpft
ist die für den vorliegenden Kontext relevante gesetzliche elterliche Vertretung,
die stets „zum Wohle des Kindes“ auszuüben ist. Sie umfasst alle Handlungen
mit rechtlichen Außenwirkungen für das Kind, beispielsweise die Vornahme be-

11 Jarass 2012, Vorb. vor Art. 1 Rn. 5.


12 Jarass 2012, Vorb. vor Art. 1 Rn. 38, 96.
13 Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG.
14 Coester-Waltjen 2012, Art. 6 Rn. 78.
15 Coester-Waltjen 2012, Art. 6 Rn. 78.
16 Daher findet das BVerfG die Bezeichnung „Elternverantwortung“ statt „Elternrecht“
eigentlich treffender, vgl. BVerfGE 24, 119 (143f.); Coester-Waltjen 2012, Art. 6 Rn. 81.
17 Böckenförde 1980, S. 65.
18 §§ 1626 ff. BGB.
19 Vgl. § 1626 Abs. 1 S. 1 BGB und Huber 2012, § 1626Rn. 7.
122 Katharina Bager und Anna Lena Göttsche

hördlicher oder (gerichts-)verfahrensrechtlicher Antrags- und Beschwerderechte


sowie die Zustimmung zum Abschluss zivilrechtlicher Verträge20, zu denen auch
Behandlungsverträge mit Ärzt_innen und Krankenhäusern zählen.
Hiervon abzugrenzen ist die Befugnis bzw. Pflicht der Sorgeberechtigten, in die
medizinische Heilbehandlung eines nicht einwilligungsfähigen Kindes einzuwilligen,
die ebenfalls Teil der elterlichen Sorge ist.21 Die Einwilligung eines_r umfassend
informierten Patienten_in legitimiert den medizinischen Eingriff in die körperliche
Integrität 22 und trägt dem Selbstbestimmungsrecht des_r Patient_in Rechnung.23
Ab wann eine minderjährige Person einwilligungsfähig ist und unabhängig von
der Zustimmung ihrer Eltern in eine Heilbehandlung einwilligen kann, wird
gesetzlich nicht vorgegeben. Die Altersgrenzen der zivilrechtlichen Regelungen
zur Geschäftsfähigkeit finden hier keine Anwendung.24 Bei der Ausübung der
elterlichen Sorge sind die wachsenden Fähigkeiten und Bedürfnisse des Kindes zu
eigenverantwortlichem Handeln zu berücksichtigen. Eltern müssen in Sorgefragen,
je nach Reifegrad des Kindes, das Gespräch mit diesem suchen und Einvernehmen
anstreben. Die zunehmende Selbstbestimmungs- und Selbstverantwortungsfähig-
keit des Kindes drängt die elterlichen Sorgebefugnisse allmählich zurück. Dies
bedeutet nicht, dass Eltern stets dem Kindeswillen zu folgen haben, vielmehr soll
in Belangen, die das Kind betreffen, nicht über dessen Kopf hinweg entschieden
werden.25 Voraussetzung hierfür ist die Fähigkeit und der Wille des Kindes, sich
an der jeweiligen Fragestellung zu beteiligen. Für bestimmte Fälle, in denen Kin-
der eigenständig handeln können und die elterliche Sorge insoweit zurücktreten
muss, hat der Gesetzgeber Regelungen getroffen.26 Minderjährigen mehr Mit- oder
Selbstbestimmung einzuräumen, wird ebenso für weitere Bereiche gefordert. Dies
betrifft auch minderjährige Inter*- und Trans*Personen und ihre Eltern.

20 § 51 Abs. 1 ZPO iVm §§ 107 ff. BGB; § 3 Abs. 1 TSG, 298 StPO sowie §§ 107ff. BGB.
21 Veit 2011, § 1626 Rn. 24.
22 Ein nicht legitimierter Eingriff in die körperliche Integrität, auch wenn durch medizini-
sches Personal ausgeführt, ist eine Körperverletzung im straf- und haftungsrechtlichen
Sinne. Vgl. hierzu BGH, NJW 1972, 335 (336).
23 Kolbe 2010, S. 160.
24 BGH, NJW 1972, 335 (337); NJW 1964, 1177 (1177).
25 Huber 2012, § 1626Rn. 65.
26 Beispielsweise die Wahl eines Glaubensbekenntnisses mit 14 nach § 5 RelKErzG oder
die Einwilligung in die Adoption gemäß der §§ 1746 Abs. 1, 1750 Abs. 3 BGB.
Kinder, Eltern, Staat 123

2.4 Staatlicher Schutzauftrag

Ergänzt wird das verfassungsrechtlich verbürgte Elternrecht um das staatliche


Wächteramt.27 Dieses beinhaltet die Pflicht, die Einhaltung der elternrechtlichen
Grenzen und die Erfüllung der Elternpflicht zu überprüfen und notfalls einzugrei-
fen.28 Es besteht allein zum Wohl des Kindes, muss sich daher immer an diesem
orientieren und wird durch dieses legitimiert. Der Staat muss jedoch bei allen
Maßnahmen, die er aufgrund seines Wächteramtes ergreift, das Elternrecht soweit
möglich respektieren.29 Diese Verpflichtung des Staates, die Pflege und Erziehung
des Kindes sicherzustellen, ergibt sich aus der Eigenschaft des Kindes als Grund-
rechtsträger_in und dessen Anspruch auf staatlichen Schutz.30
Als Leitbild sowohl der elterlichen Erziehungsverantwortung als auch deren
staatlicher Überwachung dient bislang weitgehend das „Kindeswohl“. Es spielt als
Leitmotiv für Kinderrechte eine zentrale Rolle, und ist nicht nur in der UN-Kinder-
rechtskonvention normiert („best interest of the child“), sondern auch in einfach-
gesetzlichen Regelungen des deutschen Rechts.31 Dabei handelt es sich um einen
„unbestimmten Rechtsbegriff“, der je nach Lebenssachverhalt, durch Gerichte oder
Behörden auszulegen ist. So notwendig die Flexibilität unbestimmter Rechtsbegriffe
für die Rechtsauslegung und -anwendung ist, so kritisch kann der Begriff aber auch
gerade bezüglich der Rechte von Kindern gesehen werden. Die Verschmelzung von
„Kindeswohl“ und „Kindesrecht“ ist in Deutschland üblich32, birgt aber die Gefahr,
den Schwerpunkt auf Schutz und Fürsorge von Kindern durch Erwachsene zu legen,
und damit auch Handlungen (allein) im Interesse der zuständigen Erwachsenen
zu rechtfertigen, ohne das Kind in seinem Subjektstatus anzuerkennen. Für den
vorliegenden Kontext erscheint die Trennung der Rechte des Kindes vom Wohl des
Kindes besonders hilfreich. Der Fokus wird dabei auf ersteren liegen.
Die dargestellten Rechte, Interessen und Pflichten können im Kontext von
minderjährigen Inter*- und Trans*Personen die beteiligten Akteur_innen vor
große Probleme stellen: Wer formuliert und bestimmt, was im besten Interesse des
Kindes, also zu „seinem Wohl“ ist? Dies gilt insbesondere für den Fall, dass das
erforderliche Einvernehmen zwischen Eltern und Kind nicht erreicht werden kann.

27 Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG.


28 Coester-Waltjen 2012, Art. 6 Rn. 92.
29 Coester-Waltjen 2012, Art. 6 Rn. 93.
30 BVerfG, BVerfGE 24, 119 (144); Böckenförde 1980, S. 73.
31 Z. B. im Kindschaftsrecht sowie im Kinder- und Jugendhilferecht.
32 Liebel 2005, S. 41
124 Katharina Bager und Anna Lena Göttsche

3 Situationen minderjähriger Inter*Personen

Unter Intersexualität33 oder Zwischengeschlechtlichkeit34 werden eine Reihe unter-


schiedlicher zwischengeschlechtlicher Formen körperlicher Geschlechtsentwicklung
zusammengefasst, bei denen die geschlechtsdeterminierenden und -differenzierenden
Merkmale des Körpers, also Chromosomen, Gene, Keimdrüsen, Hormone, äußere
Geschlechtsorgane und Geschlechtsmerkmale nicht alle dem gleichen Geschlecht
entsprechen.35 Eine solche Entwicklung kann sich unterschiedlich deutlich und zu
unterschiedlichen Zeitpunkten im Leben eines jungen Menschen zeigen.

3.1 Medizinische Behandlung

Die Pathologisierung dieser spezifischen Geschlechtsentwicklung im 20. Jahr-


hundert durch einen vorherrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Diskurs
hat dazu geführt, Inter*Personen als behandlungsbedürftig anzusehen und die
Geschlechtszuschreibung als weiblich oder männlich auch mittels hormoneller
und operativer Maßnahmen vorzunehmen.36 Gestützt wurde diese Vorgehensweise
mit der Annahme, eine eindeutige und stabile Bindung an den männlichen bzw.
weiblichen Geschlechtsstatus sei Grundbedingung psychischer Gesundheit und
sozialer Integration.37 Genitaloperationen wurde dabei unterstellt, effektive und
nebenwirkungsfreie Behandlungsmethoden zu sein; Narben, Verwachsungen,
Sensibilitätsverlust, Schmerzen oder Traumata wurden in der medizinischen Wis-
senschaft stark vernachlässigt.38 Mittlerweile ist der Nutzen insbesondere der frühen
geschlechtszuweisenden Maßnahmen sehr umstritten, er konnte auch bisher nicht
eindeutig belegt werden. Vielmehr zeigt die aktuelle Forschung, dass die Ziele ge-

33 Zur Entwicklung der Terminologie vgl. Schweizer (2012).


34 Es handelt sich – anders als bei Homo-, Bi- und Heterosexualität – nicht um das sexuelle
Begehren („sexuelle Orientierung“) eines Menschen, sondern – wie bei Transgender
– um das Geschlecht bzw. die Geschlechtsidentität, die als solche keine Auskunft über
die Sexualität bzw. das sexuelle Begehren der Person gibt. Daher wird hier der Begriff
„Zwischengeschlechtlichkeit“ bevorzugt, auch wenn „Intersexualität“ mittlerweile
wohl geläufiger ist.
35 Richter-Appelt 2012, S. 23.
36 Ausführlicher Tönsmeyer 2012, S. 38.
37 Klöppel 2012, S. 33; zur „Optimal Gender Policy“ vgl. ausführlicher auch Schweizer
und Richter-Appelt (2012a).
38 Klöppel 2012, S. 33.
Kinder, Eltern, Staat 125

schlechtszuweisender Behandlungen nicht erreicht wurden.39 Dies bestätigen die sich


seit einigen Jahren häufenden Erfahrungsberichte zwischengeschlechtlich geborener
Menschen, die unter den in ihrer Kindheit und/oder Jugendzeit vorgenommenen
Geschlechtszuweisungen leiden oder gelitten haben.40 Kritik wird insbesondere an
irreversiblen chirurgischen Eingriffen an den äußeren Genitalien und damit teilweise
verbundenen Einbußen in der Empfindungsfähigkeit, aber auch an Gonadektomien
und damit zusammenhängenden Hormonersatztherapien sowie dem Verlust der
Fortpflanzungsfähigkeit geäußert, insbesondere dann, wenn diese Interventionen
zu einem sehr frühen Zeitpunkt und folglich ohne Einwilligung der betreffenden
Personen erfolgt sind.41 Die Berichte verdeutlichen, dass operative und hormonelle
Maßnahmen durchaus ihren Zweck verfehlen und Folgemaßnahmen traumatisch
wirken können, oder dass das zugewiesene Geschlecht nicht als das empfunden
wird, mit dem sich die Person später identifizieren kann. Des Weiteren haben Be-
fragungen ergeben, dass auch die Umgangsweise behandelnder Mediziner_innen
als traumatisierend empfunden wurde. Hierzu zählen beispielsweise die fehlende
oder unzureichende Aufklärung der Inter*Personen oder ihrer Eltern, aber auch
das Fotografieren der Genitalien bzw. des nackten Körpers, wiederholte Untersu-
chungen im Genitalbereich, zum Teil in Anwesenheit unbekannter Menschen (z. B.
Studierendengruppen und Ärzt_innen in Ausbildung).42
Die Entscheidung für geschlechtszuweisende Maßnahmen sind insofern nach-
vollziehbar, als dass frischgebackene Eltern von zwischengeschlechtlichen Kinder
in der ohnehin aufwühlenden Zeit direkt nach der Geburt unter Umständen nicht
nur in Erklärungsnot gegenüber dem Standesamt, sondern vor allem gegenüber
neugierigen Mitmenschen („Ist es ein Junge oder ein Mädchen?“43) sind.44 Schließlich
gibt es auch Inter*Menschen, die zufrieden damit sind, medizinische Maßnahmen
bereits als Kind erfahren zu haben.45 Woran sollten sich Eltern von Minderjährigen,
deren rechtliche Vertreter_innen sie sind, also orientieren?

39 Schweizer und Richter-Appelt 2012a, S. 102 mit sämtlichen Studien.


40 Vgl. z. B. Eveline (2008); Kraus-Kinsky 2012, S. 162. Eine Liste einiger Selbsthilfeor-
ganisationen findet sich beispielsweise auf http://www.netzwerk-dsd.uk-sh.de/index.
php?id=37 (Zugegriffen: 2.9.2013), auf denen neben einem breiten Beratungsangebot
auch persönliche Berichte zu finden sind. Vgl. auch den Bericht zur Hamburger Studie
zu Intersexualität: Schweizer und Richter-Appelt (2012b).
41 Schweizer und Richter-Appelt 2012a, S. 107.
42 Schweizer und Richter-Appelt 2012b, S. 194; Eveline 2008, S. 20.
43 Thiemann bezeichnet diese Art von Fragen als normierende Gewalt, vgl. Thiemann
2010, S. 137.
44 Vgl. beispielsweise Plattner (2008); Pulvermüller (2012).
45 Kraus-Kinsky 2012, S. 164 sowie 166.
126 Katharina Bager und Anna Lena Göttsche

3.1.1 Bei Neugeborenen und Kleinstkindern


Wegen des verfassungsrechtlich verbürgten Rechts auf körperliche Integrität sind
auch medizinische Eingriffe Körperverletzungen, die nur dann nicht rechtswidrig
sind, wenn in den Eingriff eingewilligt worden ist. Da Säuglinge und Kleinstkinder
diesbezüglich urteilsunfähig sind, jedenfalls aber sich nicht verständlich machen
können, sind sie auf ihre gesetzlichen Vertreter angewiesen. Im Falle von indizierter
und gleichzeitig geringstmöglicher medizinischer Behandlung macht das durchaus
Sinn, denn die Erhaltung des Lebens oder der Gesundheit kann dem Interesse des
Kindes grundsätzlich zugeschrieben werden. Bei zwischengeschlechtlichen Neuge-
borenen können bestimmte Konstellationen frühzeitig behandlungsbedürftig sein,
beispielsweise eine drohende Salzverlustkrise46 oder Verwachsungen der Harnröhre.47
Allerdings sind bei Inter*Personen im Kindesalter die wenigsten medizinischen
Interventionen tatsächlich zur Lebens- und Gesundheitserhaltung notwendig.48 Viel-
mehr haben die geschlechtsanpassenden Maßnahmen überwiegend kosmetischen
Charakter, dem zugewiesenen Geschlecht soll ein „normales“ Aussehen verliehen
werden.49 Auch präventive Gonadektomien – welche bisher von Ärzt_innen wegen
eines potentiellen Krebsrisikos flächendeckend empfohlen wurden – werden wegen
des fehlenden Belegs dieses Krebsrisikos mittlerweile angezweifelt.50 Vielmehr sind
auch die Keimdrüsen von zwischengeschlechtlichen Menschen Teil der ursprüng-
lichen Ausstattung eines individuellen Körpers und unterliegen damit dem Schutz
der körperlichen Integrität und des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts.51
In Anbetracht der Risiken, die mit normalisierenden Geschlechtszuweisungen
verbunden sind, ihrer (teilweisen) Irreversibilität und der hohen Unsicherheit in
Bezug auf das langfristige Gelingen kann – entgegen der bisherigen überwiegenden
medizinischen Praxis – insofern von medizinischer Indikation bei Neugeborenen
und Kleinstkindern nicht ausgegangen werden. Es kann auch keine Einordnung
als Heilversuch erfolgen, da dies die Beseitigung einer Erkrankung oder eines
Leidens voraussetzt, welche im Kleinkindalter nicht feststellbar sind.52 Handelt es
sich aber nicht um einen Heileingriff, kann aus rechtlicher Sicht die Zustimmung
der Eltern zum Eingriff nicht rechtmäßig sein.53 Dabei ist auch zu bedenken, dass

46 Richter-Appelt 2008, S. 60; Kolbe 2010, S. 26.


47 Warne 2012, S. 297; Grover 2012, S. 321; Kolbe 2010, S. 165.
48 Grover 2012, S. 322.
49 Büchler und Cottier 2005, S. 128.
50 Kolbe 2010, S. 165f.
51 Rothärmel 2006, S. 281.
52 Tönsmeyer 2012, S. 112.
53 Büchler und Cottier 2005, S. 128; Tönsmeyer 2012, S. 104ff.
Kinder, Eltern, Staat 127

ein Heileingriff zur Verbesserung des Wohlbefindens des_r Patient_in – nicht der
Eltern – vorzunehmen ist.54

3.1.2 Bei (Klein-)Kindern und Jugendlichen


Mit wachsendem Alter von Kindern ändert sich die Einschätzung bezüglich ihrer
Einwilligungsfähigkeit in medizinische Behandlungen. (Klein-)Kinder und Ju-
gendliche können im Gegensatz zu Neugeborenen und Kleinstkindern durchaus
urteils- und damit einwilligungsfähig sein. Im Hinblick auf eine umfassende Auf-
klärung über eventuelle medizinische Maßnahmen ist von einem geringen Alter
auszugehen. Schon Kleinkinder können eine gefestigte Geschlechtsidentität als
männlich, weiblich oder jenseits dieser Kategorien haben55, und ein umfassender
Informationsanspruch steht ihnen ohnehin unabhängig davon zu, ob sie einwilli-
gungsfähig sind oder nicht.56 Es besteht kein grundsätzlicher Zweifel daran, dass
manche Kinder auch schon im Alter von ca. drei Jahren in Entscheidungsprozesse
miteinbezogen werden können, hierfür sprechen auch die negativen Erfahrungen
und Traumatisierungen derjenigen Inter*Menschen, die noch unter die Praxis der
Verheimlichung gefallen sind. Die Grundsätze der elterlichen Sorge und der hohe
Rang der betroffenen Grundrechte sprechen dafür, auch die rechtliche Befugnis zur
alleinigen Einwilligung in geschlechtsverändernde Maßnahmen vergleichsweise
früh zu vermuten.57

3.2 Personenstand und Vornamen

Neben dem gesellschaftlich und medizinisch begründeten Zwang, ein Kind schon zu
Beginn seines Lebens in das herrschende Zweigeschlechtersystem einzupassen, stellt
auch das Recht diese Anforderung.58 In der Praxis haben sich einige Standesämter
scheinbar flexibel gezeigt und immerhin eine spätere Eintragung des Geschlechts

54 Adamietz 2012, S. 21.


55 Rothärmel 2006, S. 283; Bosinski 2000, S. 113; die Entwicklung muss aber nicht im
Kleinkindalter abgeschlossen sein, vgl. Richter-Appelt 2012, S. 24; Dannecker 2010, S.
61.
56 Rothärmel 2006, S. 283.
57 Schon bei 12- bis 14-Jährigen, vgl. Rothärmel 2006, S. 281.
58 Zu den Einzelheiten vgl. Remus in diesem Band. Zum historischen Hintergrund vgl.
Plett (2003).
128 Katharina Bager und Anna Lena Göttsche

ermöglicht.59 Schwieriger wird eine flexible Handhabung mit der seit November
2013 geltenden Neufassung des Personenstandsgesetzes.60
Bezüglich der Namensgebung hat das BVerfG bereits Ende 2008 klargestellt,
dass für den Zwang, einem Neugeborenen einen das Geschlecht eindeutig erkennen
lassenden Vornamen zu geben, keine gesetzliche Grundlage existiert und auch das
Kindeswohl nicht als Grund für den Zwang zum geschlechtseindeutigen Vornamen
herangezogen werden könne.61 Mit der seit 2010 geltenden Verwaltungsvorschrift62
kam der Gesetzgeber dieser Vorgabe nach und hob den faktischen Zwang zu einem
(zumindest ergänzenden) eindeutig männlichen oder weiblichen Vornamen auf. Die
neuere Rechtsprechung verlangt nur, dass Eltern ihren Kindern keine erkennbar
gegengeschlechtlichen Namen geben.63 Mit der Wahl eines geschlechtsneutralen
Vornamens können mehr Optionen für zwischengeschlechtlich geborene Kinder
und ihre spätere Entwicklung offengehalten werden.64

3.3 Inter*Schüler_innen

Im Kontext Schule existieren keine gesetzlichen Regelungen, die Inter*Personen


betreffen, doch spielt das Thema Geschlecht auch hier in vielen Bereichen theore-
tisch und praktisch eine Rolle. Es seien hier nur beispielhaft einige angesprochen,
angefangen bei geschlechtergetrenntem Unterricht. Dieser hat sich, teilweise fächer-
spezifisch, in vielen Schulen etabliert. Ob er tatsächlich pädagogisch wertvoll ist, ist
seit langem umstritten. Zwischengeschlechtliche Schüler_innen stellt er jedenfalls
vor die Herausforderung, sich der Gruppe der Jungen oder der Mädchen zuordnen
zu müssen – was für ein Kind unproblematisch sein kann, unter Umständen aber
auch eine Überforderung darstellt.
Dies gilt auch für die Nutzung sanitärer Anlagen: Für die Einrichtung von
geschlechtergetrennten Umkleide-, Wasch- und Toilettenräumen für Schüler_innen
gibt es keine gesetzliche Grundlage, sie ist aber an (vermutlich fast) allen Schulen
üblich.

59 Pulvermüller 2012, S. 257; Rothärmel 2006, S. 284.


60 Vgl. zur politischen Vorgeschichte Göttsche 2014, S. 83f. sowie Remus in diesem Band.
61 BVerfG, NJW 2009, 663. Dies gab bis dahin die Verwaltungsvorschrift § 262 der
Dienstanweisung für Standesbeamte vor.
62 PStG-VwV.
63 Plett 2012, S. 138.
64 Plett 2012, S. 138.
Kinder, Eltern, Staat 129

Bei der Erfassung personenbezogener Daten von Schüler_innen zu Verwaltungs-


zwecken65 und der Verwendung entsprechender Formulare ist häufig die Angabe
des Geschlechtsnotwendig, wobei nur die Alternativen „männlich“ oder „weiblich“
zur Verfügung stehen. Auch dies kann zwischengeschlechtliche Schüler_innen vor
einen nicht lösbaren Entscheidungskonflikt stellen.

4 Situationen minderjähriger Trans*Personen

Der Begriff Trans* wird als weit gefasster Oberbegriff für verschiedene Identitäten
und Lebenssachverhalte verstanden, die mit einem Unbehagen hinsichtlich der
zugewiesenen Geschlechtseigenschaften einhergehen.66 Dieses Unbehagen kann
sich auf vielfältige Weise äußern, temporär oder dauerhaft sein und mit dem drin-
genden Wunsch nach hormoneller/chirurgischer Behandlung verbunden sein oder
nicht. Im rechtlichen Kontext hingegen findet sich bislang überwiegend ein eng
verstandener Begriff der „Transsexualität“,67 dem in Anlehnung an die medizinische
Definition68 Menschen zugeordnet werden, die sich – geschlechterbinär gedacht
– „dem anderen“ als dem bei ihrer Geburt zugewiesenen Geschlecht zugehörig
empfinden.69 Dieses enge Begriffsverständnis entspricht der Eigenart des Rechts,
vereinfachende Kategorien zu schaffen, um Lebenssachverhalte erfassen zu können,
birgt jedoch die Gefahr, „den Transsexuellen an sich zu konstruieren“ 70 und hier-
durch Trans*Personen rechtliche Anerkennung und Handlungsmöglichkeiten zu
verweigern.71 Zudem manifestiert die gängige Definition sprachlich („dem anderen
Geschlecht“) die bislang strikt zweigeschlechtlich strukturierte Rechtsordnung.

65 In manchen Schulgesetzen geregelt, z. B. § 64a SchulG Berlin, Art. 85a SchulG Bayern
(BayEUG).
66 Franzen und Sauer 2010,S. 7f.
67 Vgl. das „Transsexuellengesetz“ (TSG); die Rechtsprechung (z. B. EGMR, NJW-RR 2004,
289; BVerfG, NJW 2011, 909; BFH, BeckRS 2007, 25012808); die juristische Literatur,
z. B. Wielpütz (2012); anders: Adamietz 2006, S. 368.
68 Transsexualität ist als Störung der Geschlechtsidentität in der Liste zur internationalen
Klassifikation von Krankheiten der WHO (ICD 10 F 64.0) verzeichnet.
69 Vgl. z. B. § 1 Abs. 1 Nr. 1 TSG; Ulsenheimer 2010, § 128 Rn. 4. Abweichend von der
WHO-Definition wird ein dauerhaftes Bedürfnis nach medizinischer Angleichung als
konstituierendes Merkmal für Transsexualität im Rechtskontext nicht mehr voraus-
gesetzt, vgl. BVerfGE 115, 1 (4f.); BeckRS 2011, 46019, Rn. 29f.
70 Vgl. Adamietz 2006, S. 377 f.
71 Unbestritten fühlen sich Personen(-gruppen) jedoch gerade diesem Begriff zugehörig,
vgl. z. B. http://www.transsexuell.de/wegweiser-begriffe.shtml (Zugegriffen: 15.8.2013).
130 Katharina Bager und Anna Lena Göttsche

Bereits im frühen Kindesalter kann das Empfinden vorhanden sein, „im falschen
Körper“ zu leben.72 Äußert sich dies mit fortschreitendem Alter durch Leidensdruck
oder dem Wunsch nach psychologischer Beratung, hormoneller bzw. chirurgischer
Behandlung zur Änderung der Geschlechtsmerkmale, kann eine verwirrende
Situation für Kind, Eltern und schulisches Umfeld entstehen. Die Rechtslage ist hier
teilweise untrennbar mit ethischen und medizinischen Fragestellungen verbunden.

4.1 Medizinische Behandlungen

Die Rechtsordnung trifft keine Aussage über den „richtigen“ Zeitpunkt für hormonel-
le oder chirurgische geschlechtsangleichende Maßnahmen.73 Auch die einschlägigen
medizinischen Leitlinien geben keine festen Altersgrenzen vor, sondern verlangen
die sorgfältige Prüfung jedes Einzelfalles.74 Diese erfordert einen individuellen
Abwägungsprozess, der einerseits berücksichtigt, dass bei einem frühen Behand-
lungsbeginn der Leidensdruck der_s Minderjährigen gelindert werden kann (bei
einem Behandlungsbeginn vor Einsetzen der Pubertät kann die für Trans*Perso-
nen oft als sehr schmerzlich empfundene Ausprägung der Geschlechtsmerkmale
unterbunden werden); der andererseits aber auch das Risiko einer Fehldiagnose
aufgrund der evtl. im (vor-)pubertären Alter noch bestehenden Unsicherheit der
Geschlechtsidentität nicht außer Acht lässt.75
Rechtlich ungeklärt sind auch Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Ein-
willigungsfähigkeit minderjähriger Patient_innen ergeben sowie die Frage danach,
inwiefern Minderjährige Behandlungsverträge mit einem Krankenhaus abschließen
können. Relevant werden sie insbesondere dann, wenn die minderjährige Person
eine Behandlung wünscht, die Eltern aber ihre Zustimmung verweigern.

72 Vgl. z. B. Krege 2011, S. 1449. Zur Entwicklung der Geschlechtsidentität bei Minderjähri-
gen: Richter-Appelt 2012, S. 23f. Die den o. g. Kriterien des ICD Katalogs entsprechende
Diagnose „Transsexualismus“ kann jedoch erst bei Erwachsenen gestellt werden (vgl.
Bosinski 2003, S. 716). Bei Minderjährigen können nur „Geschlechtsidentitätsstö-
rungen“ (ICD 10 F 64.2.) oder eine „sexuelle Reifungskrise“ (ICD 10 F 66.0) anhand
patholgisierender Kriterien diagnostiziert werden.
73 Auch die ursprüngliche Fassung des TSG, die für die Personenstandsänderung eine
Mindestaltersgrenze von 25 Jahren vorsah, enthielt keine Mindestaltersgrenze für die
geschlechtsangleichende medizinische Behandlung. Zu beachten ist allerdings, dass
Maßnahmen, die zur Sterilität eines_r Minderjährigen führen, nach Maßgabe des §
1631 c BGB unzulässig sind.
74 Vgl. z. B. Meyer et al. (2001) und Becker (1997).
75 Vgl. hierzu die Ethischen Grundsätze und Empfehlungen bei DSD der Arbeitsgruppe
Ethik im Netzwerk Intersexualität 2008, S. 241f.
Kinder, Eltern, Staat 131

Grundsätzlich kann eine minderjährige Person wirksam allein in eine medi-


zinische Heilbehandlung einwilligen, wenn sie nach der „geistigen und sittlichen
Reife“ in der Lage ist, „die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs und seiner Ge-
stattung“ zu beurteilen.76 Hierüber zu befinden ist Aufgabe des jeweiligen Arztes
bzw. Ärztin. Aussagekräftige Kriterien für die Bestimmbarkeit dieser erforderlichen
Einsichts- und Urteilsfähigkeit sind weder gesetzlich noch durch die Rechtsprechung
einheitlich festgelegt. Einzelne Forderungen, im Interesse der Rechtssicherheit –
die v. a. für die behandelnden Ärzt_innen relevant ist – (Mindest-)Altersgrenzen
einzuführen (beispielsweise das Erreichen des 14. Lebensjahres77) haben sich bislang
nicht durchgesetzt.
Wird einer heranwachsenden Person die alleinige Einwilligungsfähigkeit zuge-
standen, besteht eine weitere „Hürde“, wenn die Eltern keinen Behandlungsvertrag
mit dem Krankenhaus bzw. den behandelnden Ärzt_innen abschließen wollen.
Für diesen zivilrechtlichen Vertrag gelten die allgemeinen Regeln der Geschäfts-
fähigkeit, so dass Minderjährige für einen wirksamen Abschluss grundsätzlich der
Einwilligung der Eltern bedürfen.78 Die zuvor zugesprochene Einwilligungsbefug-
nis findet daher auf rechtsgeschäftlicher Ebene keine Entsprechung, wodurch das
Selbstbestimmungsrecht erheblich an Wert verliert.79
Als letzte Möglichkeit verbleibt bei einem unlösbaren Konflikt zwischen Eltern
und Kind die Anrufung des Familiengerichtes, welches bei Annahme einer Kin-
deswohlgefährdung die Einwilligung in den Behandlungsvertrag ersetzen kann.80

4.2 Verfahren nach dem Transsexuellengesetz (TSG)

Das TSG regelt Voraussetzungen und Rechtsfolgen von Anträgen auf gerichtliche
Änderung des Vornamens oder der Anpassung des Geschlechtseintrags im Per-
sonenstandsregister. Seit Einführung des reformbedürftigen Gesetzes erklärte das

76 BGH, NJW 1959, 811, 811.


77 Kern 1994, S. 755; vgl. auch Dettmeyer 2006, S. 198. An dieses Alter knüpft die Rechts-
ordnung anderweitig Folgen: z. B. Religionsmündigkeit (§ 5 RelErzKG), Schuldfähigkeit
(§ 19 StGB),Strafmündigkeit (§ 1 Abs. 2 JGG) oder die Möglichkeit zur Einwilligung
in die Adoption (§ 1746 Abs. 1 BGB).
78 Untersiebenjährigen ist ein Vertragsschluss gänzlich unmöglich, vgl. die §§ 104 ff. BGB.
79 Peschel-Gutzeit 2007, § 1626, Rn. 103.
80 Der Ausgang einer solchen Entscheidung ist aber äußerst ungewiss, vgl. Nebendahl
2009, S. 201.
132 Katharina Bager und Anna Lena Göttsche

BVerfG zahlreiche Voraussetzungen der Antragstellung für verfassungswidrig81,


darunter die ursprünglich für beide Anträge vorausgesetzte Mindestaltersgrenze
von 25 Jahren.82 Die Änderung des Vornamens oder des Personenstandes ist daher
nach derzeitiger Rechtslage grundsätzlich auch für Minderjährige möglich. Der
Verwirklichung der Selbstbestimmungsrechte sind dennoch rechtliche und fakti-
sche Grenzen gesetzt. Neben der Tatsache, dass die Antragsstellung nur Menschen,
die der Definition des § 1 TSG entsprechen83, offen steht, muss das Verfahren für
„geschäftsunfähige“ Personen durch die gesetzlichen Vertreter_innen geführt
werden. Demnach sind Minderjährige vor Vollendung des siebten Lebensjahres auf
Verfahrensführung durch ihre Sorgeberechtigten angewiesen.84 Ob Minderjährige
zwischen dem siebten und 18. Lebensjahr85 die Verfahren eigenständig führen dürfen,
ist unklar. Zwar dürfte dies – mangels entgegenstehender Regelung – anzunehmen
sein.86 Weigern sich die Eltern, für ihr Kind ein TSG-Verfahren zu betreiben, so
besteht für ein Kind unter sieben Jahren derzeit kaum die Möglichkeit, eine Vor-
namensänderung zu erreichen, für eine unter 18-jährige Person ist die Rechtslage
uneindeutig. Zudem kann die lange Verfahrensdauer gerade für Minderjährige
eine große Belastung darstellen.
Umfassende Datenerhebungen über das Alter der Antragstellenden in Deutsch-
land liegen bislang nicht vor. In Berlin wurden im Jahre 2011 neun TSG-Anträge
für Minderjährige (jeweils im Alter zwischen 14 und 17 Jahren) gestellt.87 Betreibt
eine sorgeberechtigte Person für ihr Kind das TSG-Verfahren, bedarf sie hierzu der
familiengerichtlichen Genehmigung, zudem muss das Kind persönlich angehört
werden.88 Der Staat übt hier folglich sein Wächteramt aus und sucht Missbrauchsfälle

81 BVerfGE 115,1; BVerfG NJW 2007, 900; 2008, 3117; 2011, 909. Ausführlich: Adamietz
(2012) sowie dies. 2006, S. 368f.
82 BVerfG, NJW 1982, 2061; NJW 1993, 1517.
83 Aufgrund der Modifikationen durch das BVerfG gelten derzeit für beide Verfahren
die gleichen Voraussetzungen: Nach den §§ 1, 8 TSG müssen sich die Antragstellenden
„aufgrund ihrer transsexuellen Prägung dem anderen, als dem im Geburtseintrag“
vorgesehen Geschlecht zugehörig fühlen und seit „mindestens drei Jahren unter dem
Zwang“ stehen, diesen Vorstellungen entsprechend zu leben.
84 Vgl. die §§ 104 Abs. 1 Nr. 1, 1629 BGB.
85 Nach dem Zivilrecht sog. beschränkt Geschäftsfähige, vgl. §§ 106, 2 BGB.
86 So auch Spickhoff 2011, § 3 Rn. 2 und Augstein 2012, § 3 Rn. 1.
87 Antwort des Senats von Berlin auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion Berlin, vom
16. März 2012, Drucksache 17/10 194, Anlage, S. 2. Aus der Statistik geht nicht hervor,
ob die Minderjährigen durch ihre Sorgeberechtigten vertreten wurden.
88 §§ 3 Abs. 1 S. 1 und 4 Abs. 2 TSG.
Kinder, Eltern, Staat 133

zu verhindern.89 Ein entsprechend gesetzlich konkretisierter (Kontroll-)Mecha-


nismus, der es Minderjährigen ermöglicht, das Verfahren auch gegen den Willen
ihrer Sorgeberechtigten zu führen, existiert bislang nicht. Die Verweigerung der
elterlichen Unterstützung hinsichtlich der Verfahrensführung ist jedenfalls nicht
vom Erziehungsrecht umfasst, da dieses seine Grenze im Persönlichkeitsrecht und
der Menschenwürde des Kindes findet, welches seinem empfundenen Geschlecht
entsprechend leben möchte.

4.3 Trans*Schüler_innen

Werden Trans*Kinder und -Jugendliche in der Schule entgegen ihrer geschlechtlichen


Identität zu geschlechterkonformem Verhalten gezwungen und Stigmatisierungen
oder Diskriminierung ausgesetzt, kann dies zu hohem Leidensdruck führen und
der Entwicklung der Persönlichkeit schaden.90 Das Recht bietet hier nur begrenzte
Schutzmechanismen. Insofern sind Trans*Schüler_innen nicht minder großen
Herausforderungen wie Inter*Schüler_innen ausgesetzt.
Speziell für Trans*Schüler_innen bleibt anzumerken, dass diese nach dem
jeweils erfolgreich durchgeführten TSG-Verfahren einen rechtlich einklagbaren
Anspruch auf Anrede mit geänderter Anredeform haben. Dies gilt auch hinsichtlich
der Ausstellung persönlicher Dokumente, wie z. B. von Zeugnissen oder Schulaus-
weisen.91 Obgleich vor oder während eines laufenden Verfahrens kein einklagbarer
Anspruch besteht, gebieten Menschenwürde und allgemeines Persönlichkeitsrecht
der minderjährigen Person bereits zu diesem Zeitpunkt wenigstens die Anrede
mit dem gewünschten Vornamen. Dies ist jedenfalls rechtlich zulässig.92 Auch das
Tragen bestimmter, einem Geschlecht zugeordneter Kleidung als Ausdruck der
individuellen Identität steht unter dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeits-
rechts.93 Abweichend könnte sich die Rechtslage für den Wunsch nach Benutzung
der gegengeschlechtlichen Umkleidekabinen oder Toiletten darstellen, wenn sich
andere Kinder hierdurch in ihrer Privat- oder Intimsphäre verletzt fühlen.

89 Spickhoff 2011, § 3 Rn. 1.


90 Vgl. zu Erfahrungen von Trans*Kindern in Schule und Ausbildung z. B. Fuchs et al.
2012, S. 113 ff.
91 Vgl. hierzu die §§ 1, 10 TSG sowie BVerfG, NJW 1997, 1632.
92 Hierzu weiterführend Augstein 2013 (Zugegriffen: 5.9.2013).
93 Ein Kind in geschlechtsuntypischer Kleidung dürfte jedenfalls nicht geeignet sein, den
Schulfrieden oder die Moralvorstellungen der anderen Kinder derart zu beeinträchtigen,
dass dies ein Unterrichtsverbot rechtfertigt. Vgl. auch hierzu Augstein 2013 (Zugegrif-
fen:5.10.2013).
134 Katharina Bager und Anna Lena Göttsche

5 Notwendige Differenzierungen und gemeinsame


Orientierungspunkte

Wie aufgezeigt, wird die Vorstellung einer binär strukturierten Geschlechterordnung


mehrheitlich nach wie vor nicht hinterfragt. Unangetastet bleibt auch die Verbin-
dung von gender als sozialem Geschlecht mit sex, also körperlicher Geschlecht-
lichkeit.94 Das geltende Geschlechtermodell ist – auch im Rechtskontext – nicht
nur auf Zweigeschlechtlichkeit, sondern auch auf Übereinstimmung von Körper-
geschlecht und Geschlechtsidentität fixiert.95 Um diese Fixierung aufzubrechen,
müsste Zweigeschlechtlichkeit dekonstruiert und die Neudefinition bzw. Öffnung
von Geschlechtskategorien möglich werden. Dafür ist die gesellschaftliche, aber
insbesondere auch rechtliche Anerkennung der Selbstdefinition und -identifikati-
on, von Zwischenräumen, Ambivalenzen und multiplen und variablen Identitäten
notwendig.96 Die herkömmlichen Vorstellungen bedeuten für minderjährige Inter*
und Trans* teilweise unterschiedliche, zum Teil aber auch ähnliche Herausforde-
rungen. Um diese zu bewältigen, bieten sich unterschiedliche, manchmal aber auch
im Grundsatz gemeinsame Orientierungen an.

5.1 Medizinische Behandlung

Evident im Kontext medizinischer Behandlungen sind zunächst die Unterschiede


bei Inter*- und bei Trans*Sachverhalten: Trans*Personenmöchten sich unter Um-
ständen freiwillig genau dem Szenario aussetzen, das für Inter*Personen zwanghaft
und traumatisch sein kann.
Doch auch die Gemeinsamkeiten im medizinischen Umgang mit Transsexua-
lität und Intersexualität sind deutlich: Geraten die „natürlichen“ Kongruenzen ins
Wanken oder fehlt es an der vorausgesetzten (nämlich „männlichen“ oder „weib-
lichen“)Eindeutigkeit, so versucht die medizinische (und gesamtgesellschaftliche)
Praxis mühsam die verwischten Grenzen wieder nachzuziehen.97 Die verfassungs-
rechtlich garantierten Selbstbestimmungsrechte Minderjähriger gebieten jedoch
den Schutz vor einem Zwang zu Eindeutigkeit inklusive körperlicher Eingriffe.
Gleichzeitig darf und muss auch Minderjährigen mit wachsender Einsichts- und

94 Büchler und Cottier 2005, S. 124.


95 Büchler und Cottier 2005, S. 132.
96 Büchler und Cottier 2005, S. 125.
97 Büchler und Cottier 2005, S. 124
Kinder, Eltern, Staat 135

Urteilsfähigkeit ermöglicht werden, in medizinische Behandlungen einzuwilligen,


wenn sie diese wünschen.
Für minderjährige Inter*Personen gilt konkret, dass medizinische Behandlungen
grundsätzlich zunächst auf die gesundheitlich notwendigen Maßnahmen redu-
ziert bleiben müssen. Die Verfügung auch über scheinbar „überflüssige“ Organe
muss – gerade wenn sie eng mit der Geschlechtsidentität verbunden sind – dem
betreffenden Individuum überlassen bleiben, insbesondere wenn eine potentielle
maligne Entwicklung des Gewebes durch regelmäßige Beobachtung festgestellt
werden kann.98 Künftig ist außerdem zu verhindern, dass Eltern aus Mangel an
Information oder aus Furcht vor einer stigmatisierenden „Besonderheit“ ihres
Kindes geschlechtszuweisende Maßnahmen geschehen lassen, ohne die mögli-
cherweise traumatischen Folgen abschätzen zu können.99 Bislang bestimmt die
medizinische Praxis den Umgang mit jungen Inter*Menschen, doch gerade der
hohe Rang der betroffenen Grundrechte erfordert enge Grenzen für diese Praxis.
Kann ein diesbezügliches Umdenken in der gesamten medizinischen Wissenschaft
und Praxis nicht umgehend erreicht werden, müsste wohl tatsächlich über ein
gesetzliches Verbot frühzeitiger kosmetischer Eingriffe nachgedacht werden.100
Ein derartiges Verbot dürfte jedoch nicht zu einer generellen Einführung starrer
Altersgrenzen hinsichtlich der Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger in medi-
zinische Eingriffe führen. Unflexible Altersgrenzen lassen die unterschiedliche
Entwicklungsgeschwindigkeit Minderjähriger sowie die äußeren Umstände eines
Falles außer Acht.101 Sie widersprechen zudem dem oben genannten Leitbild der
elterlichen Sorge und des Erziehungsrechts.
Bei der Entscheidung für oder gegen die Durchführung medizinischer Eingriffe
bei minderjährigen Trans* sollte die Einwilligungsfähigkeit – auch bei irreversib-
len Maßnahmen – nicht zu spät angenommen werden.102 Gerade die Bedeutung
eines medizinischen Eingriffs für die spätere Lebensführung spricht dafür, die

98 Rothärmel 2006, S. 281.


99 Adamietz 2012, S. 21.
100 So bspw. Kolbe (2010). Die im September 2013 in Kraft getretene Strafnorm § 226a StGB
(„Verstümmelung weiblicher Genitalien“) gilt laut Gesetzesbegründung ausdrücklich
für Genitaleingriffe, die „in verschiedenen Kulturen, insbesondere in Afrika sowie
in einigen Ländern Asiens und Lateinamerikas“ praktiziert wird und schließt „rein
kosmetisch motivierte Eingriffe, wie Intimpiercing oder ‚Schönheitsoperationen‘“
explizit und Eingriffe an intergeschlechtlichen Personen damit wohl implizit aus dem
Anwendungsbereich aus (BR-Drs. 867/09 (Beschluss) v. 12.2.2010). Zudem betrifft sie
ausdrücklich „weibliche“ Genitalien und ist damit für den Inter*Kontext ungeeignet.
101 Vgl. hierzu ausführlich Wölk 2001, S. 86.
102 Zu beachten ist allerdings, dass die Vornahme einer Sterilisation vor Erreichen der
Volljährigkeit gemäß § 1631c BGB grundsätzlich ausgeschlossen ist.
136 Katharina Bager und Anna Lena Göttsche

Entscheidung darüber der minderjährigen Person selbst zu überlassen.103 Dies gilt


insbesondere auf Grundlage der engen Verknüpfung der Geschlechtsidentität mit
dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Andernfalls droht die Gefahr eines Verstoßes
gegen die Menschenwürde durch Fremdbestimmung.104 Für die Bestimmung der
kognitiven Fähigkeiten einer minderjährigen Person kann z. B. das Verhalten wäh-
rend des medizinischen Aufklärungsgesprächs Aufschluss geben.105 Eine autonome,
stabile Entscheidung frei von äußeren Einflüssen (beispielsweise durch Medien oder
Freundeskreise) kann hierbei als wichtiges Indiz für Reife dienen.106 Die Möglich-
keit, irreversible Behandlungen aufzuschieben und alternative Behandlungswege
zur Linderung des Leidensdrucks zu wählen, bis die Pubertät abgeschlossen bzw.
die Volljährigkeit erreicht ist, muss jedoch sorgsam überprüft werden.107 Daneben
bleibt der Gesetzgeber aufgerufen, einwilligungsfähigen Minderjährigen im Hinblick
auf ihr Persönlichkeitsrecht den Abschluss zivilrechtlicher Behandlungsverträge –
auch gegen den Willen der Eltern – zu gestatten. Konstellationen, in denen Eltern
ihr Trans*Kind zu einer psychologischen Therapiemaßnahmen zwingen wollen,
welche das „Zugehörigkeitsgefühl zum Geburtsgeschlecht“ erzwingen soll108, stellt
unzweifelhaft einen Verstoß gegen Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht des_r
Patienten_in dar.109
Allgemein ist die medizinische Behandlung minderjähriger Trans* und Inter*
in spezialisierten, interdisziplinär arbeitenden Zentren, die auch eine langfristige
psychosoziale Begleitung für Patient_innen sowie Angehörige anbieten, sinnvoll110,
ebenso wie der Kontakt zu Selbsthilfegruppen und anderen Inter*- bzw. Trans*-
Personen und deren Eltern.111

103 Wölk 2001, S. 87.


104 Rothärmel 2006, S. 281.
105 Z. B. das gezeigte Interesse oder die Qualität der Rückfragen, vgl. den Kriterienkatalog
von Dettmeyer 2006, S. 199.
106 May und Westermann 2008, S. 26.
107 So auch Rothärmel 2006, S. 282.
108 Vgl. z. B. Beier 2012, S. 773. Diese Art der Psychotherapie wird von Betroffenen als
Zwangs-, bzw. Umpolungstherapie kritisiert, die das Leiden der Patient_innen nicht
lindern kann, vgl. z. B. http://atme-ev.de/texte/konversionstherapien_aktuell.pdf
(Zugegriffen: 26.10.2013). Ein die empfundene Identität förderndes Konzept verfolgt
hingegen z. B. Senf 2008, 322f.
109 Die zwangsweise stationäre Unterbringung gegen den Willen einer_s Minderjährigen
ist generell nur aus gewichtigen Gründen, wie Eigen- oder Fremdgefährdung zulässig.
In jedem Falle hat ein Gericht darüber zu entscheiden, vgl. z. B. BVerfG, NJW 1960,
811.
110 Vgl. z. B. Nebendahl 2009, S. 202.
111 Ausführlichere Empfehlungen finden sich bei Groneberg und Zehnder 2008, S. 216ff.
Kinder, Eltern, Staat 137

In Konstellationen, in denen Kinder nicht von ihren Eltern unterstützt werden,


muss von staatlicher Seite die Möglichkeit zur Rechtsdurchsetzung geschaffen
werden: Hier käme beispielsweise die Einführung eines staatlichen Schlichtungs-
verfahrens oder eines ähnlichen konkreten Konfliktlösungsinstruments in Betracht,
das auf Antrag des_r Minderjährigen durchgeführt wird112, oder auch die standard-
mäßige Interessenvertretung von Minderjährigen durch einen Verfahrensbeistand.113

5.2 Namen und Personenstand

Die im deutschen Recht verankerte Regulierung des Personenstandsrechts, das nor-


miert, welche Informationen in persönlichen Dokumenten offenbart werden, bewirkt,
dass man an das einmal zugewiesene Geburtsgeschlecht gebunden ist und dieses
„rechtliche Geschlecht“ nicht ohne Weiteres ändern kann. Die Geschlechtsidentität
eines Menschen entwickelt sich jedoch erst im Laufe des Lebens.114
Personenstandsrechtlich wünschenswert wäre daher, die Geschlechtsbestimmung
aller Neugeborenen durch die Eltern (bzw. das medizinische Personal) als nur vor-
läufig zu betrachten und das endgültige Entscheidungsrecht der_m Volljährigen zu
belassen. Inter*Personen wären dann – gab es einen Geschlechtseintrag – von der
Last befreit, vor Gericht den Antrag auf Berichtigung des Geschlechts (§ 47 PStG)
zu stellen und vom damit verbundenen Beweis, dass der ursprüngliche Eintrag
objektiv falsch war115; bzw. – gab es nach der neuen Personenstandsregelung kei-
nen Eintrag – keinem „Zwangsouting“ ausgesetzt. Minderjährige Trans*Personen
müssten (hinsichtlich des Personenstandes) kein TSG-Verfahren führen. Innerhalb
der Regelungen nach dem TSG könnte eine zusätzliche Norm, die Minderjährigen
ein selbständiges TSG-Verfahren auch mit Eilrechtsschutz erlaubt, zu Rechtsklarheit
und dem Abbau von Hürden für minderjährige Trans* beitragen.

5.3 Kontext Schule

Alle Schulen haben sich der Aufgabe verpflichtet, ihre Schüler_innen zu selbststän-
digen Persönlichkeiten zu erziehen, welche unter anderem die Gleichberechtigung

112 Peschel-Gutzeit 2007, § 1626 Rn. 84.


113 Wie bspw. gem. § 158 FamFG. Zur Stärkung von Kinderrechten vgl. Maywald 2012, S.
202.
114 Adamietz 2012, S. 16.
115 Rothärmel 2006, S. 284.
138 Katharina Bager und Anna Lena Göttsche

aller Menschen und insbesondere der Geschlechter anerkennen und respektvoll


miteinander umgehen.116 Dazu gehört auch, Trans*- und Inter*Schüler_innen in
ihrem Dasein und ihrer Entwicklung zu fördern und zu unterstützen. Ein ernsthafter,
nicht tabuisierender Umgang mit den Kindern/Jugendlichen und geschlechtlicher
Vielfalt auch im Unterricht wäre sicher für viele hilfreich, gleichzeitig müssen
individuelle Lösungen gemeinsam mit den Kindern und ihren Eltern gefunden
werden, gegebenenfalls unter Heranziehung sozialarbeiterischer oder schulpsy-
chologischer Unterstützung.
Ob und inwiefern die Geschlechtertrennung im Unterricht sinnvoll ist oder ein
überkommenes Lehr-Lern-Setting darstellt und diskriminierende Geschlechters-
tereotype nicht auch im gemeinsamen Unterricht thematisiert werden können117,
muss in jeder Schule kritisch hinterfragt werden. Gleiches gilt für die Erfassung
personenbezogener Daten, die sich auf das Geschlecht beziehen. Stehen bisher nur
die Alternativen „männlich“ und „weiblich“ zur Verfügung, sollte entweder die
Möglichkeit bestehen, die Angabe offenzulassen oder (mindestens) eine weitere
Variante eingeführt werden. Zudem sollte eine spätere Änderung der Eintragung
ohne größeren Aufwand für die betreffenden Schüler_innen möglich sein. Bei der
Nutzung sanitärer Anlagen hilft die Orientierung an der Arbeitsstättenverordnung
(welche im Kontext Schule nur für das Lehrpersonal gilt) weiter: Sie gibt alternativ
zur herkömmlichen Geschlechtertrennung vor, eine räumlich getrennte Nutzung
von Sanitär- und Umkleideräumen zu ermöglichen.118 So könnten Einzelkabinen
zumindest ergänzend zu geschlechtsspezifischen Sammelanlagen errichtet werden.
Das Parlament des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg beispielsweise hat
vor kurzem die Einrichtung von „Unisex-Toiletten“ in allen öffentlichen Gebäuden,
also auch den öffentlichen Schulen, beschlossen.119
Ganz allgemein sollte geschlechtliche Vielfalt fester Bestandteil des Curriculums
angehender Pädagog_innen werden, um einen aufgeklärten Umgang mit diesem
Thema zu gewährleisten – und zwar nicht fachspezifisch, sondern übergreifend.
Um die Vermittlung stereotyper (Geschlechter-)Bilder zu reduzieren120, sollte in
den schulischen Lehrplänen und im Lehrmaterial auf ein differenziertes und flexi-
bles Geschlechtsverständnis und die Vermittlung des Wissens um die Varianz der

116 Beispielhaft: § 1 SchulG Berlin, § 2 SchulG Hamburg.


117 In Bezug auf Inter* gibt Hechler (2012) sehr hilfreiche Anregungen.
118 § 6 Abs. 2 S. 4 ArbStättV.
119 Drucksache DS/0550/IV der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg
von Berlin.
120 Vgl. hierzu Bittner in diesem Band.
Kinder, Eltern, Staat 139

Geschlechter geachtet werden – ganz gleich, ob zu den anwesenden Schüler_innen


Inter*- und Trans*Personen zählen oder nicht.

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Entwurf einer sexuell-geschlechtlichen
Personagenese der ersten sechs
Lebensjahre
Claudia Schmitt

Entwurf einer sexuell-geschlechtlichen Personagenese

1 Gesellschaftliche Normvorstellungen und Aufgaben

„Früher war alles besser.“ Selbst beim Thema Geschlecht war scheinbar alles klar.
Es gab Jungen und Mädchen und aus diesen wurden selbstverständlich Männer und
Frauen – fraglos in dieser Reihenfolge. Sonst nichts, keine Grautöne dazwischen1.
Zumindest nicht im rechtlichen Sinne. Doch Intersexualität etwa ist keineswegs
eine Entdeckung oder gar Erfindung der vergangenen Jahre. Die Natur war va-
riationsreicher, flexibler und entwicklungsoffener als so manche vorherrschende
gesellschaft liche Norm, Vorgabe und entsprechende Regularien. Obwohl es bereits
vor über 200 Jahren im Allgemeinen Preußischen Landrecht einen so genannten
Zwitterparagrafen für die Rechte von intersexuellen Menschen gab (vgl. Klöppel
2005, S. 173), mussten wieder etliche Jahrzehnte vergehen bis von dieser vermeint-
lichen Eindeutigkeit bzw. der dichotomen Klassifi kation in männlich und weiblich
abgerückt werden konnte. Am 1. November 2013 trat eine Änderung des Perso-
nenstandsgesetzes (PStG) Paragraph 22 in Kraft, welcher Eltern die Möglichkeit 2
eröff net, für das eigene Kind zunächst die geschlechtliche Einordnung offen zu
lassen. Es wird somit auf juristischer und politischer Ebene nicht mehr gänzlich an

1 Historisch bleibt zu erwähnen, dass natürlich nicht alle Gesellschaften gleichermaßen


von dieser starren Zweigeschlechtlichkeit geprägt waren, was jedoch in diesem Rahmen
nicht weiter ausgeführt werden kann (vgl. andere Arbeiten in diesem Buch).
2 Aufgrund der Muss-Bestimmung des neuen Paragraphen 22 im PStG bei fehlender
Zuordnung könnte sich unter Umständen der Druck auf Eltern weiter verstärken, eine
geschlechtsvereindeutigende Operation vornehmen zu lassen, um so ein öffentliches
Zwangsouting zu umgehen. Dabei fühlen sich intersexuelle Menschen durchaus auch
als “eindeutig geschlechtlich bestimmt“, eben als „eindeutig intersexuell“ (vgl. zu diesem
Aspekt auch Remus i. d. B.).

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_12, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
144 Claudia Schmitt

dem Mythos der Zweigeschlechtlichkeit festgehalten. Aus gesellschaftlicher Sicht


ist sicher zu begrüßen, wenn Pluralität zunehmend bejaht wird.
Eine Sexualpädagogik der Vielfalt scheint dagegen erschwert, da sexuelle Bildung
angesichts medialer und populärwissenschaftlicher Debatten auch heute noch vor-
rangig auf Grundlage eines präventiven Charakters nachgefragt wird (vgl. Sielert
2013, S. 50). Selbst in der Erstausbildung von (sozial-)pädagogischen Fachkräften
wird Sexualpädagogik selten vermittelt (vgl. ebd., S. 52). Dieses teils unbewusste
Ausklammern bis hin zur vorsätzlichen Tabuisierung gilt für den spezifischen Be-
reich der kindlichen Sexualität gleichermaßen oder gar noch verstärkter, so bleibt
angesichts des medialen Umgangs mit dem Thema anzunehmen3.
Ohne sexualpädagogische Kompetenzen, eine eigene, reflektierte Haltung und
entsprechend fundiertem Wissen auf der Seite der praktisch tätigen Fachkräfte
gestaltet sich jedoch etwa auch Elternbegleitung und halbformalisierte Beratung
(vgl. Diouani-Streek 2007, S. 20) bei sexuellen und sexualisierten Themen schwie-
rig. Infolgedessen gilt es weiterhin, bestehendes Fachwissen auf interdisziplinärer
Ebene zu bündeln und noch offenen Fragen mittels wissenschaftlicher Forschung
nachzugehen. Denn selbst wenn das Kind als heranwachsendes, sexuelles Wesen
von Geburt an gesehen werden kann und darüber in Fachkreisen zumeist Konsens
besteht, so ist kaum geklärt, was das Kind gemäß seiner Entwicklung von den
Bezugspersonen benötigt. Für eine inhaltliche Ausgestaltung sexueller Bildung
benötigt es aber wiederum dieses Wissen über mögliche Fragen und Bedürfnisse von
Heranwachsenden. Wesentlich ist dabei insbesondere, systematisch zu ergründen,
wie eine individuelle Sexualitätsgeschichte und ein eigenes Geschlechtsempfinden
entstehen. Und zu klären ist, was das Kind in den ersten Lebensjahren von den
Bezugspersonen benötigt, um als Erwachsener sexuell selbstbestimmt leben zu
können, gewissermaßen auch sexuell mündig zu werden. Dem Individuum sollte
mitgegeben werden, was es in der jeweiligen Lebens- und Entwicklungsphase be-
nötigt, um dann in Bezug auf die eigene Sexualität und Geschlechtsrolle aktuell
und zukünftig ein potenziell glückendes Leben führen zu können (vgl. Fuhr 1998).
Diesen Punkten widmet sich der vorliegende Text. Zur Veranschaulichung des
ersten Entwurfs einer sexuell-geschlechtlichen Personagenese mittels einer (sexu-
al-)pädagogischen Rahmung und unter der Hinzunahme als relevant erachteter

3 An dieser Stelle sei auf das bestehende Spannungsfeld hingewiesen, welches im Arti-
kel immer mitgedacht wird. Wie behutsam mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu
kindlicher Sexualität vorzugehen ist, gerade bei der entsprechenden Thematisierung in
der pädagogischen Praxis, zeigte sich beispielsweise im Jahre 2007 an der Sexualaufklä-
rungsbroschüre für Eltern der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
„Körper, Liebe, Doktorspiele“, welche aufgrund des öffentlichen Drucks schließlich aus
dem Vertrieb genommen wurde.
Entwurf einer sexuell-geschlechtlichen Personagenese 145

sexualwissenschaftlicher Diskurse, wird des Weiteren eine entsprechende Skizze


in Tabellenform ergänzt.

2 Fragmente kindlicher Sexual- und


Geschlechtsentwicklung

Die Frage nach der kindlichen Sexualität kann nicht gänzlich ohne die „frühe
bürgerliche sexuelle Revolution, die den Sex als einen Teil des Charakters und der
Identität konzipierte“ (Schmidt 2012, S. 69), und der Psychoanalyse gedacht und be-
schrieben werden. Die psychoanalytischen Konzepte zur infantilen Sexualität dürfen
keinesfalls vorschnell als veraltet abgetan werden, wurzeln doch gerade auf diesen
Wissensbeständen die heutigen, bedeutsamen Vorstellungen von der Entwicklung
und Bedeutung kindlicher Sexualität. So wurde mit Freud erstmalig ein positiver und
nicht ausschließlich ein medizinisch-problematisierter Blick auf Kindersexualität
möglich (vgl. Sigusch 2005, S. 189). Überhaupt beförderte die Psychoanalyse „die
Überwindung des Dualismus von Körper und Seele“ (Quindeau 2012, S. 32) und
erweiterte somit maßgeblich das Repertoire an möglichen Denkansätzen.
Die Aspekte des menschlichen Sexualverhaltens im engeren Sinne, dementspre-
chend die sexuelle Fähigkeit, Motivation und Leistung (vgl. Haeberle 2005, S. 79),
sind nie starr festgelegt und höchst individuell. Dem sozialkonstruktivistischen
Ansatz von John Gagnon und William Simon (1986, 2000) folgend, welcher auf
einer symbolisch-interaktionistischen Betrachtung gründet, wird das angeborene
Potenzial zu Sexualverhalten von drei Hauptfaktoren lebenslang wechselseitig
beeinflusst. So konstatieren sie, dass „sexuelle Skripte auf drei analytisch un-
terscheidbaren Ebenen existieren: auf jener der kulturellen Szenarien (Paradig-
men-Ansammlung jener sozialen Normen, die sexuelles Verhalten beeinflussen), auf
jener der interpersonellen Skripte (wo sich soziale Konventionen und persönliches
Begehren treffen müssen) und auf der intrapsychischen Skripte (der Bereich der
Selbst-Herstellung)“ (ebd. 2000, S. 71, Hervorhebungen getilgt). Entscheidend ist
die Frage der Herstellung und Wandlung der individuellen Skripte, welche grund-
sätzlich zur Bedeutungsentfaltung einer Ausformung „soziogenetische (…) [und/
oder] ontogenetische Signifikanz“ (ebd., S. 70) bedürfen. Sexuelles Verhalten wird
von den Autoren dabei als eine Form sozialen Handelns aufgefasst. Wird diesem
Ansatz gefolgt, unterliegt das sexuelle Verhalten einem lebenslangen Prozess und
stellt ein komplexes Zusammenspiel von Lern- und Entwicklungsaufgaben dar.
Diese wiederum unterliegen dem vorgegebenen kulturellen und gewachsenen
Zeitgeist und müssen durch das Individuum im kommunikativen Sozialisations-
146 Claudia Schmitt

und Erziehungsprozess – gewissermaßen durch das gesellschaftliche Wir und


erzieherische Verhältnis – immer wieder neu verstanden und ausgestaltet werden
(vgl. ebd. 2000).
Dieses hier erörterte Bild von Sexualität musste sich jedoch historisch erst
entwickeln. Nach der Überwindung der Vorstellung einer rein biologistischen
Auffassung von Sexualität, wandelte sich in den 1960er Jahren die Betrachtung.
Mit „Sexualität als Ergebnis lebensgeschichtlicher Lernprozesse (…) [und damit]
aktive, gelernte Formen der Lustsuche“ (Valtl 2003, S. 83) hielt, zumindest in der
deutschsprachigen Literatur, ein neuer Diskurs Einzug. Wenige Jahre später wurde
diesem Ansatz wiederum eine einseitig „sozialisatorische Sichtweise“ entgegenge-
stellt, die dann in den 1980er und 1990er Jahren ein Verständnis für eine multi-
faktorielle Betrachtung möglich machte und seitdem stetig weiter ausformuliert
wurde (vgl. ebd., S. 83). Wenn diese vielschichtige Verquickung der Anreize, sich
selbst sexuell zu begreifen und zu verhalten, ernst genommen wird, so gilt es die
unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und wissenschaftlich weiterzuent-
wickeln. Der Pädagogik und Psychologie kommt demnach die Aufgabe zu, die
sexuelle Identitätsentwicklung und den Lernaspekt im Rahmen der Aneignung
von sexuellen Skripten näher zu beleuchten.
Dem erwähnten Lernaspekt widmet sich dabei insbesondere Schmidt (1986,
2012), weshalb sich gerade diese Theorie für eine pädagogische Betrachtungsweise
der lernenden Aneignung von sexuellen Skripten eignet. Die „drei zentralen Erfah-
rungsbereiche – Bedürfnisgeschichte, Beziehungsgeschichte, Geschlechtsgeschichte
– bestimmen die sexuelle und die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen, sie
prägen seine Sexualität und seinen Charakter“ (ebd. 1986, S. 79, Hervorhebungen
getilgt), konstatiert Schmidt und ergänzt später in seinen Ausführungen die „Kör-
pergeschichte“ (ebd. 2012, S. 67) als gleichwertiges Element. Diese vier Bereiche
ernstgenommen und sexuelles Handeln als eine Form soziales Handeln begriffen,
lässt sich auf Grundlage der pädagogischen Anthropologie eine notwendige, der
kindlichen Entwicklung entsprechende Lern- und Erziehungsaufgabe ableiten (vgl.
Kentler 1988). Es gilt, dem Kind das zu zeigen, was es braucht und das zu verbergen,
was noch nicht Gegenstand der Entwicklung und des Interesses ist. „Modal ver-
läuft Lernen erfahrungsbezogen, dialogisch, sinnvoll und ganzheitlich“ (Göhlich
und Zirfas 2007, S. 180). Was dem Kind gezeigt werden kann oder sollte und zu
welcher Zeit, orientiert sich demnach aus pädagogischer Sicht an den Interessen
und Themen des jeweiligen Heranwachsenden.
Entwurf einer sexuell-geschlechtlichen Personagenese 147

Nach Spitz (1988) kann von einem klaren Zusammenhang zwischen der Mut-
ter-Kind-Beziehung und dem „genital play“4 (Spitz 1988, S. 82) ausgegangen wer-
den. Je besser die Beziehung zwischen Mutter und Kind, desto mehr autoerotische
Betätigungen seien bei dem Heranwachsenden zu beobachten, welche aus psycho-
analytischer Sicht, vorausgesetzt es werde ein angemessenes Maß gefunden, für die
Persönlichkeitsbildung und Sozialbeziehungen zu befürworten ist (vgl. ebd., S. 82
ff.). Die Relevanz einer Eltern-Kind-Bindung bekräftigen auch Masters und John-
son (1993) in ihren Ausführungen (vgl. ebd., S. 141). Kinsey (1988) beschreibt auf
Grundlage von Beobachtungen geschulter Erwachsener und erinnerter Situationen
von interviewten Personen ein Vorkommen von Orgasmen bei Säuglingen ab dem
fünften Lebensmonat über alle Lebensalter hinweg (vgl. ebd., S. 76-79). Masters und
Johnson (1993) sprechen von „sexuellen Reflexe[n]“ (Masters und Johnson 1993, S.
140), welche bereits pränatal bei beiden Geschlechtern durch Ultraschallstudien zu
beobachten sind. Beispielsweise beim Stillen, Baden oder während der Wickelsituation,
so Masters und Johnson (1993), sind aufgrund verschiedener physischer, angenehmer
Reize klitorale Erregung und Vaginalbefeuchtung bei Mädchen bzw. eine Erektion bei
Jungen zu beobachten. Die zunächst noch zufälligen und auf sich selbst bezogenen
Eigenaktivitäten von Säuglingen entwickeln sich bei kleinen Kindern zu spezifischen
Betätigungen der Lustsuche bis hin zu körperlichen, sinnlichen Entdeckungen mit
Gleichaltrigen. Besonders bekannt sind hier die sogenannten „Doktor-“ oder auch
„Vater-Mutter-Kind-Spiele“. Im Kindergartenalter ist auch die Lust an sexualisierter
und damit häufig verpönter Sprache zu beobachten (vgl. ebd., S. 140 ff.). Über den
Wissensstand von Kindern im Krippen- und Kindergartenalter zum Thema Sexualität
gibt es bislang kaum verlässliche Studien. Gemäß den Wissenschaftlerinnen Volbert
und Homburg (1996) äußern zweijährige Kinder Fragen zu Geschlechtsunterschieden.
Im dritten Lebensjahr werden Geschlechtszuordnungen mit äußeren Merkmalen
begründet. Erst mit etwa fünf Jahren erfolgt dies bei Kindern aufgrund genitaler
Unterschiede. Ein Jahr zuvor stehen dennoch bereits die Themen Schwangerschaft
und Geburt im Vordergrund; bei Grundschulkindern kommen dann Fragen zur
Empfängnis und des Geschlechtsverkehrs hinzu. Obwohl die meisten Eltern nur
Fragen beantworten und von sich aus nur selten explizit über sexuelle und geschlecht-
liche Themen sprechen, kommt ihnen doch eine Schlüsselrolle zu, wenn es um das
Sexualwissen ihrer Kinder geht (vgl. ebd. 1996, S. 210-223).

4 Ein Begriff von Spitz für die beobachtbare Aktivität des Kindes im ersten Lebensjahr,
aufgrund des noch nicht zielgerichteten, ungeplanten Handlungsvollzuges bzw. der
nachfolgenden Masturbation im Kleinkind- und Vorschulalter. Volbert (2005) unter-
scheidet wiederum zwischen auto-erotischer Betätigung von Kleinkind und Säugling
und sozio-sexuellen Verhaltensweisen von Kindergarten- und Grundschulkindern (vgl.
Volbert 2005).
148 Claudia Schmitt

Die bislang dargelegten sexuellen oder sexualisierten Verhaltensweisen, Sprach-


äußerungen und Interessen von Kindern basieren jedoch allein auf Aussagen von
Erwachsenen, welche mittels Befragungen und Beobachtungen eruiert werden. Sie
beinhalten damit unweigerlich eine spezifische Annahme von kindlicher Sexualität,
nämlich eine beobachtbare und von anderen Formen klar abgrenzbare Handlung
von Heranwachsenden. Diese einfache Auslegung von Kindersexualität ad acta
gelegt, eröffnet sich ein neues und nicht mehr so klar umrissenes Forschungsfeld.
Nach Schmidt (2012) kann im neueren Verständnis, insbesondere analog zu den
Werken von Sigmund Freud und Albert Moll zu Beginn des 20. Jahrhundert, maß-
geblich zwischen zwei andersgearteten Betrachtungslinien unterschieden werden.
Er nennt hier „das homologe (Moll) [auf der einen Seite; C.S.] und das heterologe
(Freud) Konzept“ (ebd., S. 62) als entsprechendes Pendant, welche beide eine eigene
definitorische Vorstellung von Kindersexualität entwerfen. Durchgesetzt hat sich
die Vorstellung des heterologen Modells, nach dem das „Kind begehrt, aber nicht
wie der Erwachsene – und nicht den Erwachsenen.“ (ebd., S. 64) Es (er)lebt und
begreift vielmehr noch egozentrisch, lustbetont, unbefangen und mit allen Sinnen,
woraus sich erste Anhaltspunkte für eine ganzheitliche, angemessene Sexualerzie-
hung vom Kinde aus ziehen lassen.

3 Entwurf einer Entwicklungspädagogik


kindlicher Sexualität

Dieser These folgend und der damit verbundenen Annahme, dass sich sexuelle
und geschlechtliche Entwicklung vor allem in nicht-sexuellen Bereichen vollzieht
(vgl. ebd., S. 67), kann ein differenzierteres Bild gezeichnet werden. Es braucht eine
sexuelle Entwicklungspädagogik um etwaige Lern- und Erziehungsaufgaben daraus
ableiten zu können. Die Frage ist, wann ein Kind welches sexuelle Wissen sowie
welche Kompetenzen und Haltungen gemäß seiner Entwicklung lernt und wo es
gegebenenfalls individuell im Lernkreislauf zu Schwierigkeiten kommen könnte.
Die nachfolgende Grafik folgt dem heterologen Modell unter Beachtung der
Skripttheorie und den hier bisher erwähnten Untersuchungen. Sie bezieht sich
außerdem auf die vier bedeutsamen Erfahrungsbereiche nach Schmidt (2012) so-
wie dem „pädagogischen Ternar“ (Willmann 1909, S. 95) bzw. in der vorliegenden
gefassten Form der „Trinität des Lernens“ (Prange 2005, S. 62) mit den Begrifflich-
keiten Wissen, Kompetenzen und Haltungen.
Tabelle Exemplarische Meilensteine der kindlichen Sexual- und Geschlechtsentwicklung in den ersten sechs Lebensjahren:

Bedürfnisse Beziehungen Geschlecht Körper


Wissen Kompe- Haltungen Wissen Kompe- Haltungen Wissen Kompe- Haltungen Wissen Kompe- Haltungen
tenzen tenzen tenzen tenzen
eigene bewusste Erfahrung, fremde ver- Bindung zu Gefühl von sich als das eigene positives Entdeckung Neugier sich im eige-
Grundbe- Artikulation die eigenen sus bekannte den engsten Nähe und eigenstän- Selbst erfah- Selbstbild des eigenen gegenüber nen Körper
dürfnisse von Ja und Bedürfnisse Menschen Bezugs- Vertrauen, dige Person ren und sich Körpers und dem eigenen wohlfühlen,
Nein werden personen welches begreifen im Spiegel der eigenen Körper als positiv
angemessen aufbauen sich auf erkennen Genitalien und seinen empfinden
beantwortet Bindungs- Funktionen
erfahrungen ausleben
gründet

Begriffe grund- den unter- über Bewusst- Ge- die positive Körpertei- Körper- positives
für unter- legende eigenen schiedliche eigene sein für schlechts- eigene Ge- Haltung le und ihre gefühle Körper-
schiedliche Wünsche Wünschen Arten von Bezie- die Vielfalt bezeich- schlechts- zum Funktio- einordnen bild
Gefühle und Be- autonom Beziehun- hungen von Bezie- nungen zugehö- eigenen nen und
und Stim- dürfnisse nachkom- gen und die hungen rigkeit biologi- darüber
mungen äußern men zu Familie benennen schen und sprechen
können; sprechen sozialen
Selbst- Geschlecht
wirksam-
Entwurf einer sexuell-geschlechtlichen Personagenese

keit
Bedürfnis zwischen Respekt Freund- neue Be- Anerken- erste Vor- Ge- positive Grund- Körperun- den
nach Pri- guten und gegenüber schaften ziehungen nung von stellung schlecht- Ge- lagen der terschiede eigenen
vatsphäre schlechten dem Ja aufbauen Vielfalt zur Ge- errollen schlechtsi- mensch- erkennen Körper
Geheim- und Nein und schlechts- erkennen dentität lichen als schüt-
nissen anderer aufrecht stabilität/ Fortpflan- zenswert
unter- erhalten -konstanz zung begreifen
scheiden

Eigene Grafik in Anlehnung an das Konzept von Schmidt (2012) und das Rahmenkonzept der WHO und BZgA (vgl. WHO-Regionalbüro für
Europa und BZgA 2011, S. 41-54)
149
150 Claudia Schmitt

Diese Skizze ist als ein erster Entwurf einer sexuell-geschlechtlichen Entwicklungs-
pädagogik gedacht und knüpft bewusst an das europäische Rahmenkonzept der
WHO und BZgA aus dem Jahre 2011 an.
Zweifellos ist die Darstellung lediglich als grobe, prototypische Orientierung
und heuristisches Konstrukt gedacht und sollte deshalb nicht als unveränderbare
Einteilung verstanden werden. Die kindliche Sexualität ist bis heute noch nicht
genug erforscht, um scheinbar unumstößliche Fakten liefern zu können. Die
Übersicht soll aber eine Chance und Möglichkeit bieten erste Anhaltspunkte für
eine emanzipatorische Sexualerziehung von Vorschulkindern aus pädagogischer
Sicht zu ziehen. Denn „eine der wichtigsten pädagogischen Grundregeln lautet:
Der erzieherischen Behandlung hat die Erfassung der Persönlichkeit voranzuge-
hen“ (Moor 1974, S. 277). Es gilt demnach immer „erst [zu] verstehen, dann [zu]
erziehen“ (ebd., S. 277).

4 Elternrolle und familiale Strukturen

Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht kommt der Familie als primäre Soziali-


sations- und Erziehungsinstanz im Sinne der Personagenese und Enkulturation
grundsätzlich eine große Bedeutung für die Entwicklung des Kindes zu (vgl.
Herbart 1831, S. 148). Deshalb ist die Familienerziehung auch bei der Betrachtung
von kindlicher Sexualität und Geschlechtsentwicklung nicht zu vernachlässigen.
An diesen Punkt ist eine positive Tendenz zu verzeichnen. Kinder können in
unserer Gesellschaft nun durchaus auf aufgeklärte Erziehungsberechtigte hoffen.
Nach Schmidt (2012) ist die „Kindersexualität (…) familiarisiert, in die Familie
einbezogen, von der Familie gerahmt“ (ebd., S. 65). Dabei bleibt anzunehmen,
dass es Eltern beispielsweise auch heutzutage noch schwer fällt, eine adäquate,
entwicklungsgemäße Sprache zu finden. Eine Untersuchung zum Genitalentde-
cken im zweiten Lebensjahr von Schuhrke (1997) etwa zeigt, dass Jungen eher als
Mädchen positive, sprachliche Rückmeldungen bei der Beschäftigung mit ihren
Genitalien erfahren. Darüber hinaus wird das weibliche Geschlechtsteil generell
weniger häufig begrifflich gefasst und bleibt deshalb „auf der Körperlandkarte [als
der] gar nicht oder nur ungenau adressierbare Teil“ (ebd. S. 115) zurück. Darüber
hinaus fassen Eltern die eigenen Säuglinge und Kleinkinder an den Genitalen
weniger sinnlich an als am restlichen Körper. An den Geschlechtsorganen wird
vielmehr sachlich und zielstrebig im Hinblick auf die zumeist hygienisch beding-
te, zu erledigende Aufgabe agiert. Die zuvor erwähnte Geschlechtskomponente
tritt an diesem Punkt ebenfalls zutage (vgl. Quindeau 2012, S. 31). Dies legt die
Entwurf einer sexuell-geschlechtlichen Personagenese 151

Vermutung nahe, dass selbst elterliches Bestreben nach einer sexualfreundlichen


Sexual- und Geschlechtserziehung (vgl. Kentler 1970, S. 124) des Nachwuchses
nicht zwangsläufig mit einer entsprechenden intuitiven, handelnden Kompetenz
in diesem Bereich einhergeht. Bisweilen ist die Wahrnehmung von sexuellem
Verhalten als solches und dessen Bewertung stark von der Einstellung und dem
Vorwissen der jeweiligen Erwachsenen geprägt. Volbert und Homburg (1996)
stellen betreffend der von ihnen Befragten fest, dass die „Eltern mit permissiver
Einstellung zur kindlichen Sexualität (…) signifikant häufiger an[geben], sexuelle
Aktivitäten ihrer Kinder beobachtet zu haben“ (ebd., S. 220).
Wenn jetzt aber im Rückgriff auf das heterologe Modell davon ausgegangen
wird, Sexualität sei eben bei Heranwachsenden mehr als nur das beobachtbare
sexualisierte Geschehen, dann braucht es einen veränderten Blick auf das elterliche
Verhalten und den von professioneller Seite angebotenen Bildungs- und Bera-
tungsangeboten. Ein (zweifellos nicht erschöpfender und noch unsystematischer)
Blick auf die Informations- und Vortragsangebote lässt dabei zwei Hauptbereiche
erkennbar werden. Zum einen ist meist das „homologe Modell“ mit dem offenkun-
dig beliebten Thema und Aufhänger „Doktorspiele“ vertreten. Zum anderen ist die
Perspektive auf die scheinbar unzähligen Gefahren bei, mit und durch Sexualität
vorherrschend; mit dem häufig zitierten Schreckgespenst „sexueller Missbrauch“, 5
den es durch Schulung (potenziell) Betroffener zu begegnen gilt.

5 Fachliche Konsequenzen

Eltern dürfen sich noch mehr als bisher, auch und gerade im Bereich der Sexual-
erziehung, als signifikant Andere (vgl. Hechler 2010, S. 60 ff.) verstehen und so
die „Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit“ (Tomasello 2002, S. 117) erzieherisch
nutzen. Das erzieherische Verhältnis liefert nur einen kleinen Baustein. Doch
„Erziehung ist eine spezifische, kommunikative Praxis, mit dem Zweck, auf andere
Praxen unspezifisch vorzubereiten“ (Prange 1997, S. 132). Deshalb lohnt es sich,
diese im Sinne des Kindes und der ganzen Familie noch genauer in den Blick zu

5 In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist der Begriff so nicht mehr gebräuchlich,


da ein „Missbrauch“ sprachlich immer auch einen möglichen „Gebrauch“ (von anderen
Personen) einschließt und es sich vielmehr um eine spezifische Form von psychischer
und/oder physischer Gewalt handelt. Ferner sei explizit erwähnt, dass die Relevanz von
Präventiv- und Aufklärungsangeboten nicht in Frage gestellt werden soll; an dieser Stelle
sei aber auf eine Tendenz einer verstärkten „‘Gefahrenabwehrpädagogik‘“ (Sielert 2013,
S. 50) im Fortbildungsbereich kritisch verwiesen.
152 Claudia Schmitt

nehmen. Allerdings soll nicht der Eindruck erweckt werden, hier werde von einem
kausalen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang ausgegangen. Eine Garantie für
das Erreichen der Erziehungs- bzw. Lernziele kann es bei einem Menschen nicht
geben. Auch darf der pädagogische Einfluss keineswegs überschätzt werden. Und
dennoch, in Anlehnung an das Axiom von Watzlawick (2011) kann vorausgesetzt
werden, dass ein Kind nicht nicht erzogen werden kann. Aus diesem Gesichtspunkt
ableitend, gilt es die erziehungswissenschaftliche Erforschung der kindlichen
Sexualität in all den unterschiedlichen Facetten und der bestehenden Diversität
weiter voranzutreiben.
Wie beschrieben, ist der Prozess der Aneignung einer individuellen Bedürf-
nis-, Körper-, Beziehungs- und Geschlechtsgeschichte in den ersten Lebensjahren
insbesondere in nicht-sexuellen Situationen durchdrungen (vgl. Schmidt 2012, S.
67). Deshalb sollte in der Erziehungswissenschaft eine größere und ganzheitliche
Vorstellung davon entwickelt werden, wann und was ein Kind an Wissen, Kom-
petenzen und Haltungen benötigt und wie diesem im pädagogischen Sinne positiv
und gewinnbringend begegnet werden kann. Dies schließt explizit die sexuelle
und geschlechtliche Entwicklung mit ein. Dies ist aber letztendlich nur möglich,
wenn das komplexe Zusammenspiel aus „bio-psycho-sozial“ genauer untersucht,
verstanden und vermittelt wird.

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Einblicke ins „Trainingslager für
geschlechtliche Identitäten“
Klaus Steinkemper im Gespräch mit Mari Günther
über „QUEER LEBEN“
Klaus Steinkemper

Das Projekt QUEER LEBEN in Berlin dient der umfassenden und angemessenen
Begleitung und Unterstützung von Menschen, die ihre queere sozio-sexuelle Identität
leben, ausprobieren oder suchen. Damit sind insbesondere Kinder, Jugendliche,
Erwachsene und Elternteile angesprochen, die sich als schwul, lesbisch, bisexuell,
transgender, transsexuell, transident, transgeschlechtlich bzw. intergeschlechtlich,
Zwitter/ intersexuell beschreiben. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der
Stärkung und Unterstützung von Familien, in denen sich eines ihrer Mitglieder
o. g. Personenkreis zuordnet.
Das vorrangige Ziel des Projektes ist die Schaff ung eines stützenden und fördern-
den Rahmens für die sozio-sexuelle Entwicklung einer_eines jeden_jeder Einzelnen,
Würde und Selbstbestimmung. Das Projekt stellt sich gegen diskriminierende und
pathologisierende Strukturen und Tendenzen und setzt sich mit diesen auseinander.

Mari Günther
ist systemische Therapeutin und Dipl. Gemeindepädagogin. Sie hat das Beratungs-
und Betreuungsangebot QUEER LEBEN aufgebaut und ist dort fachliche Leitung
seit 2009. Gleichzeitig arbeitet sie auf folgenden Gebieten zum Thema Trans- und
Intergeschlechtlichkeit: Mitarbeit am Runden Tisch „zur Verbesserung der Versor-
gungslage von trans- und intergeschlechtlichen Menschen in Berlin“, Aufbau eines
interdisziplinären Qualitätszirkels „Trans- und Intergeschlechtlichkeit“, anerkannt
von der Ärztekammer Berlin, Fortbildungen und Coachings, Psychotherapie in
eigener Praxis für Familien-, Paar-, Einzelne mit dem Schwerpunkt geschlecht-
liche Identität, Mitglied im Fachbeirat der „Bundesstiftung Magnus Hirschfeld“,
Mitarbeit in AWMF- Leitlinien Arbeitsgruppe „Behandlungsempfehlungen Ge-
schlechtsdysphorie“, Anleitung einer Selbsthilfegruppe für transgeschlechtliche
Menschen und deren Angehörige.

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_13, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
156 Klaus Steinkemper

Klaus Steinkemper
ist Erwachsenenpädagoge und Sozialarbeiter und arbeitet als selbständiger Trainer,
Coach, Moderator und Mediator in Berlin und ganz Deutschland. Themenschwer-
punkte: Konfliktmanagement, Kommunikation, Kultur, Antidiskriminierung,
LGBTI, HIV/Aids. Von 2002 bis 2010 bei der Schwulenberatung Berlin beschäftigt,
war er ein Initiator des Projektes QUEER LEBEN.

Interview

Klaus Steinkemper (KS): Ich freue mich, mit dir über QUEER LEBEN1 zu spre-
chen. Ich verfolge das Projekt, seit wir uns kennen, und staune, wie groß es
mittlerweile geworden ist und wie viel Anklang es gefunden hat. Hättest du das
anfangs erwartet, dass es so einen großen Zulauf findet?

Mari Günther (MG): Also 2007 haben wir uns kennen gelernt und da war das noch
ganz schön in der Inkubationsphase. Das hätte ich nicht gedacht, dass es so groß
wird und vor allem, dass es sich so schnell entwickelt.

KS: Wie war denn damals die Ausgangssituation?

MG: Das ging 2005 los. Da wurde der Runde Tisch2 ins Leben gerufen und parallel
dazu hab ich eine Selbsthilfegruppe angeleitet. Es gab 2004 den ersten Kongress
der Senatsverwaltung, wo für mich zum ersten Mal überhaupt was Schriftliches
zu diesem Thema auftauchte. Ein weiterer wichtiger Aspekt war, dass ich damals
noch in der Jugendhilfe gearbeitet habe mit schuldistanzierten Kindern. Ich war
da geoutet – das war damals in diesem Jugendamtsbezirk schon auch ´ne Num-
mer. Manchmal wurden uns Kinder vermittelt, die das mit der Schule nicht so
genau nahmen und mit ihrem Geschlecht auch nicht. Und hinzu kam, dass ich
in einer Einzelfallbetreuung auch einen transgeschlechtlichen Mann mit seinem
Kind betreut habe, der war sozusagen die Mutter. Da ging es um die Frage, wie
er Unterstützung kriegen kann. Ich hab gemerkt, wie fürchterlich belastet er ist
mit den geschlechtsangleichenden Maßnahmen und wie wenig er den Kopf frei

1 Siehe auch http://www.schwulenberatung-berlin.de/queer-leben.php


2 Der Runde Tisch Trans- und Intergeschlechtlichkeit bei der Senatsverwaltung für Ar-
beit, Integration und Frauen (Berlin) trifft sich seit 2005 halbjährlich und wird von der
Landesstelle für Gleichbehandlung gegen Diskriminierung (LADS/Berlin) moderiert.
Einblicke ins „Trainingslager für geschlechtliche Identitäten“ 157

hatte für Erziehungsfragen. Das war ein Auslöser zu überlegen, was kann man
da machen? Bei dem Runden Tisch wurde deutlich, dass es zwar psychologische
und beraterische Angebote gab, aber kein längerfristig intensiver begleitendes
Angebot für Transmenschen. Das war die Ausgangssituation. Und natürlich die
Erfahrungen aus der Selbsthilfegruppe, wenn ältere Transmenschen erzählt haben,
wie sie aufgewachsen sind und wie es war, als sie jung waren. Da fielen immer mal
solche Sätze wie: Ach wenn es damals irgendwas gegeben hätte, wo ich mich hätte
hinwenden können, dann wäre mein Leben vielleicht ein bisschen glücklicher
und mit weniger Unbill verlaufen. Ich hätte mich vielleicht eher geoutet. Ich hätte
mehr glückliche Jahre gehabt‘. Das waren die Stränge, die da hin führten. Und
dann haben wir uns während des Runden Tisches kennen gelernt und angefangen
konzeptionell zu überlegen.

KS: Es sollte also ein neues Angebot mit einer festen Finanzierung, einer Regel-
finanzierung durchgesetzt werden?

MG: Die Frage war: Wie können Betreuungen im Rahmen des KJHG3, aber auch im
Rahmen der Eingliederungshilfe nach SGB XII4 arrangiert werden? Die Schwulen-
beratung Berlin5 hatte eine Zulassung für Jugendhilfe, nutzte sie aber nicht. Aber
Erwachsene haben sich damals schon bei der Schwulenberatung gemeldet. Diese
wurden dann im Betreuten Wohnen oder der Einzelfallhilfe irgendwie begleitet.
Das war schon mal so’ n Anfang, dass da vereinzelt Menschen hingefunden hatten.

KS: Aber es gab kein spezifisches Angebot.

MG: Das gab es so noch nicht. So richtig los ging’s dann ab 2009, wie ich mich
erinnern kann. Ich hab mich da auch gefragt, warum hat´s so lange gedauert? Die
Hilfeinstrumente gab es, die Menschen gab es auch, aber es ging nicht gleich los.
Ich habe im Rückblick den Eindruck, dass es von vornherein eine Mutfrage war
zu sagen: ‚Jawoll, das muss jetzt hier her!‘ Und es gab und gibt auch immer noch
keine sicheren Aussagen über den Anteil von Transmenschen an der Bevölkerung,
so dass ein Hilfebedarf begründet werden könnte. Außerdem wollten wir ein
Angebot konzipieren, das wirklich für alle Altersstufen da ist. Es ist ja eine relativ
schmale Zielgruppe. Wir wollten die Altersspanne möglichst weit haben, damit
man auch genügend Menschen beieinander kriegt. Wir wollten Jugendhilfe und

3 Kinder- und Jugendhilfegesetz


4 Sozialgesetzbuch XII
5 www.schwulenberatungberlin.de
158 Klaus Steinkemper

Eingliederungshilfe gemeinsam machen. Dafür kam dann noch ein zweiter Träger
hinzu, ein Jugendhilfeträger, Trialog e. V.

KS: Die Entstehungsphase war also ganz schön langwierig und beinhaltete viel
Abstimmungsbedarf. Hatte das mit der sozialpsychiatrischen Landschaft in
Berlin zu tun oder auch damit, innerhalb des Trägers einen Platz zu finden, der
da vielleicht ein bisschen zögerlich war und nicht wusste, wollen wir oder wollen
wir nicht.

MG: Ja, aber ich glaube, die Schwulenberatung hat auch nicht gleich verstanden,
was das neue Angebot für sie bedeutet. In der Zeit ging es auch darum, wie wir uns
nennen. Wir wurden ja auch nicht „trans leben“, sondern „queer leben“. Wir haben
uns deutlich gesagt, dass es nicht darum geht, eine weitere Schublade zu öffnen
und zu füllen, sondern darum Menschen einzuladen, die ein Thema mit ihrer
geschlechtlichen Identität haben. Wir wollten dabei auch offen sein hinsichtlich
dessen, wie sie das beantworten. Gerade im Umgang mit Kindern und Jugendlichen
ist es ja immer möglich, dass Kinder ein geschlechterrollenabweichendes Verhalten
zeigen, aber das auch irgendwann wieder einstellen. Dann hätten diese ja gleich
wieder rausfliegen müssen, wenn wir sagen, wir sind nur trans. Deswegen ging es
darum, ein möglichst breit gefächertes Angebot zu haben, um einen großen Perso-
nenkreis einzuladen und die Menschen nicht gleich auf eine bestimmte Diagnose
festzulegen, denn Transsexualität ist ja noch eine Diagnose6.

KS: Wie ist denn im Moment die Situation, jetzt, Ende 2013? Was ist daraus
geworden?

MG: Wenn ich noch mal anknüpfe, was sich die Schwulenberatung da eingehandelt
hat, haben sie mittlerweile gemerkt, dass es ein Thema ist, was auch viele Kol-
leg_innen in der Schwulenberatung beschäftigt. Sie sagen, es ist eigentlich nicht
mehr zeitgemäß, auf eine bestimmte, festgelegte sexuelle Orientierung abzustellen,
sondern ein offeneres Angebot zu machen. Jüngere lassen sich immer weniger in
bestimmte Schubladen einordnen. Das macht auch Verunsicherung bei einigen
schwulen Mitarbeitern, die ihr Begehren in der Gesellschaft gegen Widerstände
behaupten mussten und zwar auf der Grundlage ihrer Identität, nämlich: ‚Ich bin
ein Mann, ich stehe auf Männer, bin demzufolge schwul‘. Jetzt sind sie mit queeren
Menschen konfrontiert, die ihr Begehren formulieren ohne auf eine fixe Identität

6 ICD 10, F64 ff; DSM V Genderdysphoria


Einblicke ins „Trainingslager für geschlechtliche Identitäten“ 159

zurück zu greifen. Dann löst sich die Frage von schwul, lesbisch, bi irgendwie auf
und das, glaube ich, ist manchmal eine Verunsicherung.

KS: Nun ist ja das queere bzw. trans* Thema generell etwas mehr aus dem Wind-
schatten von schwulen und lesbischen Themen getreten. Es ist in Medien und
im Fernsehen präsenter, in der Wissenschaft auch, es gibt Kinofilme über die
Trans-Thematik, so dass das Thema nicht nur in der schwul-lesbischen Community
angekommen ist, sondern auch in der Gesellschaft. Was heißt angekommen, es
ist noch lange nicht so weit, wie die schwulen und lesbischen Belange, aber auf
dem Weg dahin. Es werden Sensibilisierungstrainings dazu angeboten, der Senat
in Berlin bietet dazu jetzt ein eigenes Projekt an „Trans* in Arbeit“7, Studien
werden veröffentlicht, und all das trägt zu mehr Präsenz in der Gesellschaft bei.

MG: Das schon, aber das sollte deutlich gesehen werden: In bestimmten Teilen
oder Schichten der Gesellschaft wird dieses Thema mehr ventiliert. Zum einen auf
der emanzipatorischen, politischen Antidiskriminierungsebene, dann gibt es aber
auch die Ebene der Freakshow bzw. mehr oder weniger gelungenen Fernsehbeiträge.
Und es gibt auch noch breite Bevölkerungsschichten, in denen es noch lange nicht
angekommen ist, die das als irgendwas Absurdes betrachten.

KS: Wie erlebst du denn heute die Lebensrealität der Menschen, die ihr unterstützt,
sowohl die Familien in der Kinder- und Jugendhilfe aber auch die Erwachsenen
in der Beratung oder der Eingliederungshilfe?

MG: Das ist sehr durchwachsen. Wenn ich mir anschaue, mit welchen Themen,
Fragen und Problemen die Menschen zu uns kommen, ist eine ziemlich unter-
schiedliche Gewichtung zu erkennen – vor allem bei älteren Transmenschen, die
ihre innere Selbsterkenntnis, in einem anderen Geschlecht zu sein, in der Zeit
hatten, bevor das Internet populär wurde. Das heißt, dass diese Gruppe jahre-,
teilweise jahrzehntelang nur mit sich beschäftigt sein konnte und niemanden hatte,
mit dem sie darüber reden konnte. Ich habe den Eindruck, dass sich bei ihnen die
Begleiterscheinungen oder psychischen Beeinträchtigungen deutlich verfestigt ha-
ben oder noch prägnanter geworden sind. Aber bei der Generation, die ihr inneres
Coming Out hatte und dann relativ schnell Zugang zum Internet, wo sie feststellen
konnten, ich bin nicht die_der einzige oder manchmal auch durch Fernsehen oder
Internetinformationen darauf gekommen sind, ‚ach, das könnte auch für mich

7 Siehe hierzu http://www.berlin.de/lb/ads/gglw/tia/index.html


160 Klaus Steinkemper

zutreffen´, da habe ich den Eindruck, die kommen deutlich leichter und auch auf
einer psychischen Funktionsebene besser ins Leben als diese andere Generation.

KS: Also der Gedanke, ich bin nicht die_der einzige, sondern rund um mich
herum in Berlin, in Deutschland und in der Welt gibt es viele andere Menschen
wie mich, trägt zu einer Form von psychischer Stabilisierung oder zu leichterer
Identitätsfindung bei? Heute ist es viel leichter, als es vor dem Internet möglich war?

MG: Unbedingt. Es gibt zwar immer noch keine Role Models in der Öffentlichkeit,
aber es entsteht viel schneller das Gefühl, ich kann da was draus machen. Andere
haben es auch schon geschafft. Das ist bei der älteren Generation weniger der Fall.
Das heißt aber nicht, dass es so klar aufgeteilt ist. Auch heute erlebe ich Jugendli-
che aus beispielsweise sehr restriktiven Elternhäusern, die fast noch die gleichen
Symptome zeigen und genauso verunsichert sind. Das hat auch immer etwas damit
zu tun, ob diejenigen in Familien groß geworden sind, wo sie irgendwann mal die
Chance hatten, etwas darüber zu sagen und wo dies auf relativ freundlichen Boden
fiel oder ob sie es nur einmal probiert haben und es Ärger gab. Da sind selbst fünf-,
sechsjährige Kinder, wenn diese das retrospektiv berichten, so schlau zu sagen,
das spreche ich hier lieber nie wieder an. Sie verlieren dann die nächsten zwanzig
Jahre keinen Ton darüber und versuchen, irgendwie ihr Leben hinzukriegen. Für
diese Menschen ist es ganz wichtig, in Gruppenangebote reinzukommen, andere
kennen zu lernen, sich mit ihnen zu verabreden, um gemeinsam rauszugehen und
in der Gruppe einmal im Leben das Gefühl zu haben: ‚Wir sind jetzt hier gerade
die Mehrheit in dieser Gruppe. Ich kann mich entspannt bewegen, weil rechts und
links, vor und hinter mir auch so Leute wie ich laufen und ich bin überhaupt nicht
alleine und ich kann viel mutiger sein‘. Das beschreiben sie als Schlüsselerfahrungen.
Bei uns laufen sich Transmenschen und Menschen, die sich als queer beschreiben,
aller Altersstufen über den Weg und haben sich was zu sagen. Es gibt ältere Trans-
menschen, die Patenschaften anbieten. Es gibt so ´ne neugierige, offene Haltung
und die Generationen reden miteinander, weil sie was ganz Verbindendes haben.

KS: Das hört sich nach Begegnung und auch nach Solidarität untereinander
an. Erfahrungen werden weiter gegeben, die Menschen beschäftigen sich mit
ähnlichen Fragen und es finden auf einer Art Augenhöhe Begegnungen statt?

MG: Das funktioniert auch. Es gibt es natürlich auch, dass sich manche untereinander
nicht leiden können und es gibt auch Menschen, die Schwierigkeiten haben, queere
Selbstbeschreibungen zu akzeptieren. Für diese ist das Eingeständnis der eigenen
Transgeschlechtlichkeit ein so hohes Gut: ‚Ich war am falschen Ufer, jetzt bin ich
Einblicke ins „Trainingslager für geschlechtliche Identitäten“ 161

endlich am richtigen Ufer angekommen.‘ Die halten das nicht aus, wenn jemand
sich queer beschreibt und behauptet, die Ufer gibt es eigentlich gar nicht. Das ist
manchmal ganz schön spannungsgeladen. Aber ich finde, manchmal entstehen
auch Denkanregungen: ‚Vielleicht muss ich ja nicht unbedingt, wenn ich mich
schon aus dem einen Klischee – z. B. aus der typischen Frauenrolle – gelöst habe,
zwangsläufig in das andere Klischee komplett wieder einreiten; vielleicht kann ich
mir da mehr innere Freiheitsgrade suchen‘.

KS: Verstehe ich das richtig, dass ihr queer als Kontinuum zwischen Geschlechter-
rollen, Geschlechteridentitäten, auch zwischen sexuellen Orientierungen versteht?
Als etwas Fließendes, was sich verändern kann im Laufe des Lebens, was nicht
so fixiert ist auf entweder-oder? Wie versteht ihr queer?

MG: Mal ganz bündig gesagt: Alles, was nicht hetero- und homonormativ ist,
würden wir als queer beschreiben. Also Identitätsbeschreibungen, die vom klassi-
schen männlich-weiblich abweichen und auch von den klassischen Begehrensbe-
schreibungen, die eben differenzierter ausfallen und die teilweise auch was Fluides
haben. Einerseits gehen wir davon aus, dass die Identitätsentwicklung – auch die
der Geschlechtsidentität – im Leben immer weiter geht und nicht ohne weiteres
abgeschlossen ist. Zum anderen ist das auch für die Betreuungsarbeit ein wichtiger
Aspekt, weil manche Transmenschen sich sehr an der Frage reiben, ob das, was sie
jetzt sind, das richtige ist: ‚Bin ich jetzt hier wirklich richtig und ist das jetzt meine
Identität, die auch so bleiben kann?‘ Manchmal haben sie das Gefühl, vielleicht
ist es ja doch alles ganz anders. Wir arbeiten immer damit, dass Identitäten auch
etwas Vorläufiges haben dürfen und dass man sich die innere Freiheit der Verän-
derbarkeit geben darf. Möglicherweise verändern sie sich gar nicht mehr, aber der
Druck ist ein bisschen weniger, denn ich muss jetzt nicht tausend prozentig sicher
sein. Dieser Druck entsteht aber auch durch das medizinische System ringsum.
Viele Gutachter_innen,, Therapeut_innen und Ärzt_innen stellen immer wieder
diese Gretchenfrage: ‚Sind Sie sich denn jetzt auch ganz sicher, dass es das jetzt ist?
Und Hauptsache, wir machen hier nichts falsch und Hauptsache, Sie sagen in ein
paar Jahren nicht, es war vielleicht doch die falsche Entscheidung‘. Durch unseren
Ansatz wird diese queere Sichtweise hingegen immer mehr etabliert.

KS: Das ist schon eine andere Perspektive auf Transidentität als jene, welche die
Medizin auf das Thema wirft. Da entstehen sicher auch Spannungen der Defi-
nition und vielleicht Spannungen in der Zusammenarbeit. Zumal ihr ja einen
ergebnisoffenen Ansatz habt und sagt: Das muss nicht so sein, dass sich jemand
absolut sicher ist, angekommen zu sein, sondern sich auf der Suche befindet.
162 Klaus Steinkemper

MG: Darin wollen wir ja unterstützen! Wir nennen uns gerne auch das ‚Trainings-
lager für geschlechtliche Identitäten‘. Hier kann etwas ausprobiert werden, es kann
Rückschläge geben, es wird aus Fehlern gelernt – dann wird ein neuer Anlauf
genommen. Das ist im Austausch mit den sozialpsychiatrischen Einrichtungen,
die mit der ganzen Masse an Menschen zu tun haben, ein recht entspanntes Ver-
hältnis. Die verstehen das ganz gut oder vielleicht verstehen sie es auch nur bis zu
dem Punkt: ‚Ok, da sind welche, da kann man die hinschicken‘. In der Jugendhilfe
gibt es manchmal eher bedenkenträgerische Jugendamtsmitarbeiter_innen, die
glauben, wenn ich jetzt den_die Jugendliche_n im Wunschgeschlecht anspreche,
diagnostiziere ich ja vielleicht schon oder lege etwas fest, was ja gar nicht festgelegt
werden darf, weil ja erst der Doktor im weißen Kittel bestimmten muss, ob das so
richtig ist oder nicht. Manche Mediziner_innen oder Psychotherapeut_innen, die
in den Begutachtungen oder Pflichttherapien unterwegs sind, sind immer noch auf
diese traditionelle Transsexualitätsdiagnose abgestellt, in der es heißt: ‚dass man
sich dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen muss und dass die Zugehörigkeit
zu dem anderen Geschlecht Ausdruck im Wunsch finden muss, sich operieren zu
lassen‘. Das ist ein diagnostisch-therapeutischer Zirkelschluss. Nur wer die OP ha-
ben will, bekommt auch diese Diagnose. Das macht die ganze Geschichte natürlich
sehr engstirnig. Diese Diagnose ist wohl Ende der 70er Jahre entstanden, als erster
Versuch, dieses Phänomen zu erfassen und vor allem eine Leistungspflicht der
Krankenkassen anzukoppeln. Sie hat aber mit der Lebensrealität und dem Selbst-
empfinden der Menschen heutzutage immer weniger zu tun, weil die Lebensfelder
und die Selbstbeschreibungen viel umfangreicher sind und viel bunter als so ’ne
schmale trennscharfe Diagnose. Dann gibt es Klient_innen, die versuchen, in den
Gutachtensituationen diese klassische Transe zu spielen, was einfach fürchterlich ist.
Da hilft vor allem viel reden, immer wieder reden. Es geht vor allem darum, dass die
Diagnostiker_innen und Mediziner_innen regelmäßig Kontakt mit Transmenschen
haben und dadurch ganz persönliche Berührungsängste abbauen. Transmenschen
sind Leute, die auch leben und denken und arbeiten können. Die sind gar nicht so
verrückt, wie manche Gutachter_innen das in ihrem Unterbewussten immer noch
befürchten. Die sind möglicherweise ziemlich normal.

KS: Mich interessiert die Thematik der Kinder und Jugendlichen und die der
Eltern oder Erziehenden. Wie finden denn Kinder oder deren Eltern zu euch?

MG: Bei den Jüngeren sind es die Eltern, die uns im Internet finden oder, wenn
sie Glück haben, in einer Beratungsstelle oder bei schwul-lesbischen Angeboten
landen und zu uns vermittelt werden. Die Jugendlichen haben in der Regel alles
auf dem Schirm, was es im Netz gibt. Die haben sich vielleicht zwei, drei Jahre
Einblicke ins „Trainingslager für geschlechtliche Identitäten“ 163

festgelesen, bevor sie sich outen. Sie sind informiert, haben aber das Problem, nicht
unterscheiden zu können, was die Informationen wert sind. Das ist oft auch Teil
der Beratungsgespräche mit Jugendlichen, die zu erden und einen Realitätsbezug
herzustellen. Eltern kommen ganz oft mit der Frage: „Können Sie mir eine Bestä-
tigung geben, dass das, was ich mache richtig ist?“ Sie wollen oft unterschwellig
eine Bestätigung. Sie formulieren das nicht so plakativ, aber erzählen dann oft mit
so ‘nem Rechtfertigungston. Da ist es wichtig zu beruhigen und sie zu bestätigen:
‚Sie machen das Richtige und sie müssen sich dafür auch nicht rechtfertigen. Selbst
wenn Ihr Kind erst seit gestern trans wäre und Sie heute entschieden haben, es
zu unterstützen, ist das völlig in Ordnung.‘ Dann geht es in der Beratung viel um
Informationen: was für das eigene Kind in die Wege geleitet werden kann, welche
Verantwortung zu übernehmen ist und ganz viel Outingplanungen für den Be-
reich Schule oder Kita: ‚Wie machen wir das am besten; wen binden wir ein; wer
bekommt eine Vorinformation; machen wir das in der Klasse offen oder machen
wir lieber einen Elternabend‘ usw. Oder wenn es eine unsägliche Mobbingsituation
gibt: ‚Wechseln wir lieber die Schule und fangen dort neu an?‘ Und dann natürlich
auch so heiße Themen: ‚Wie sagen wir es den Großeltern, den Schwiegereltern und
der Verwandtschaft auf dem Dorf? Und was machen wir mit unserem Kind, wenn
Weihnachten ansteht und wir gemeinsam hinfahren? Wie erklären wir das?‘ Das
sind sehr intensive Gespräche, wo auch deutlich wird, dass die Eltern zwar für sich
ein sicheres Gefühl haben, was sie für ihr Kind tun, das aber nach außen noch gar
nicht erklären könnten. Die brauchen noch viel Wissen und auch Support, dass es
eine Normenvielfalt gibt, in die ihr Kind reingehört. Da muss viel Selbstbewusst-
sein gefördert werden.
Manchmal müssen Eltern auch ein bisschen gebremst werden, weil sie von der
Identitätsidee ihres Kindes so begeistert sind und auch überlegen, ob sie damit
vielleicht ins Fernsehen kommen. Dann geht es darum, das zurück zu schrauben.
Nur weil sie z. B. ihrem transweiblichen Kind den weiblichen Spielraum eröffnen,
ist es nicht sinnvoll, ihm den männlichen Spielraum deswegen abzuschneiden.
Sondern dieser sollte auch erhalten bleiben. Es gibt wiederum Fälle, da müssen
Eltern das richtig Maß finden: wie viel kümmern, wie viel Sonderstatus das Kind
haben sollte; ab wann es aber auch um Normalität geht: z. B. zu sagen: „Du kannst
zwar trans sein wie du willst, aber deinen Teller räumst du trotzdem ab.“ Einfache
Erziehungsfragen eben. Oder bei Jugendlichen: Müssen die Eltern alles wissen?
Denn Hormonbehandlung und Psychotherapie, das müssen die Eltern alles ent-
scheiden. Aber auf der anderen Seite kommen die Jugendlichen in eine Phase, wo
sie kein Bock auf ihre Eltern haben. Das gibt dann so’ n Spannungsfeld von Nähe
und Distanz. Da können die Eltern gut begleitet werden. Es geht auch um solche
Informationen, dass, wenn die gegengeschlechtliche Hormontherapie stattfindet,
164 Klaus Steinkemper

es keine einfache Fortpflanzung mehr gibt und sie sich überlegen sollten, ob es für
sie sinnvoll ist, reproduktionsfähiges Gewebe einzulagern usw.

KS: Also ein umfassendes Themenspektrum. Läuft die Begleitung ambulant?


Geht ihr in die Familien?

MG: Das können wir für Berliner Familien anbieten, die mit ihren Kindern und den
Erziehungsdingen zurechtkommen. Andererseits haben wir Jugendwohngruppen,
wenn schnell deutlich wird, dass die Jugendlichen in ihrer Familie nicht verbleiben
können. Das kann auch schwule Jugendliche betreffen, die in ihren Familien mit
entsprechendem sozio-kulturellen Hintergrund nicht akzeptiert werden, aber
auch transgeschlechtliche Jugendliche. Auch transgeschlechtliche Jugendliche aus
anderen Bundesländern, aus dem ländlichen Raum, wo es in dem Dorf oder in der
Kleinstadt keine gute Idee ist, Transgeschlechtlichkeit auszuprobieren – sie werden
eher an uns vermittelt, an die Großstadt.

KS: Das ist hier in Berlin eine besonders komfortable Situation, um Rollen aus-
zuprobieren, um eine Identität zu suchen und vielleicht auch zu finden.

MG: Ja. Die Jugendlichen haben die besondere Chance, dass sie zu einem Träger
kommen, wo sie wirklich so genommen werden, wie sie sind – außer mit schlechtem
Benehmen natürlich (lacht). Aber dass sie sich ausprobieren können, dass sie Zeit
haben, dass sie sich nicht festlegen müssen, dass sie aber, wenn sie sich entscheiden,
genau die Unterstützung bekommen, die sie brauchen – und die ist dann auch sehr
zielgerichtet. Wir sind nicht Teil des Case Managements, sondern wir machen´s.
Wir kennen die richtigen Personen und die Abläufe, haben die Informationen, die
alle Beteiligten brauchen. Wir lotsen die jungen und auch die älteren Menschen
durch die geschlechtsangleichenden Schritte durch, weil wir wissen, dass es genau
die Phase ist, wo die Menschen hochvulnerabel sind und wo das Suizidalitätsrisi-
ko erheblich hoch ist und in der auch abhauen, wegrennen, auf der Straße leben,
Drogen nehmen usw. Themen sind.

KS: Was ist die Signalwirkung von QUEER LEBEN? Was sollte die Welt über
euch wissen?

MG: Wir nehmen uns die Freiheit, Entscheidungen unserer Klient_innen zu ak-
zeptieren und begleiten sie bei deren Findung. Das ist gerade im medizinischen
Bereich noch lange nicht gang und gäbe. Wir haben den Vorteil, dass wir die Sprache
derer sprechen, die trans sind oder die sich queer beschreiben. Wir kennen deren
Einblicke ins „Trainingslager für geschlechtliche Identitäten“ 165

Lebensrealitäten und Notwendigkeiten. Und auf der anderen Seite kennen wir
auch die Sprache der Mediziner_innen und sind da auch ein Übersetzungsbüro.
Wir wissen, es gibt Richtlinien und Vorschriften, die beachtet werden müssen.
Aber die haben so gut wie gar nichts mit dem richtigen Leben zu tun. Da braucht
es eine Übersetzungsleistung, damit die Klient_innen gut damit zurechtkommen
und dass aber auch die Gutachter_innen und Therapeut_innen z. B. immer besser
verstehen, dass sie den Menschen trotzdem Gutes tun, auch wenn diese nicht direkt
in die Diagnosen passen, mal ganz grob gesagt.

KS: Gibt es auch in anderen Städten in Deutschland ein vergleichbares Angebot?

MG: Nein, das gibt es nicht. Wenn ich es richtig raus bekommen habe, gibt es das
in ganz Europa nicht. Es gibt kein Betreuungsprojekt, in dem die Menschen über
einen längeren Zeitraum sozialpädagogisch betreut werden. Und schon gar nicht
von auch transgeschlechtlichen Mitarbeitern. Also genau diese Kombination gibt
es meines Wissens nicht. Ich muss schon sagen, dass durch QUEER LEBEN in den
letzten Jahren auch einige Arbeitsplätze für Transmenschen entstanden sind. Deren
biografisches Erfahrungswissen ist genauso wichtig wie anderes Fachwissen. Das
sind alles Arbeitswerkzeuge.

KS: Vielleicht inspiriert das Interview einige Leser_innen zu schauen: Wie könnte
das Projekt auf meine lokalen Gegebenheiten adaptiert werden. Worauf müssen
Menschen besonders achten wenn sie auch, vielleicht in einem anderen Maßstab
oder mit anderen Schwerpunkten, in dieses Thema einsteigen möchten?

MG: Ich kann es mir teilweise noch nicht richtig vorstellen. Natürlich gibt es auch
in anderen Ballungsräumen breit gefächerte queere, schwule, lesbische Szenen und
damit auch Lebensräume, in denen Transmenschen sich recht geschützt auspro-
bieren können. In solchen Gegenden können vergleichbare Angebote adaptiert
werden. Wichtig ist, dass von vornherein professionelle Transmenschen mit ein-
gebunden sind. Denn sie kennen die dortigen Lebensrealitäten besser. Sie können
gut einschätzen, was der richtige Ansatz sein kann. Und für die Klient_innen ist es
ein wichtiges Signal, dass sie da gut aufgehoben sind, wenn auch Ihresgleichen da
sind. Denn sie machen schon öfter mal die Erfahrung, dass sie zu irgendwelchen
Beratungsangeboten kommen und die Berater_innen meinen, sie machen das mal
ebenso mit, weil sie das im Vorabendfernsehen gesehen haben. Dann werden sie
teilweise entweder mit schlechten oder mit ganz falschen Informationen versorgt,
haben wieder ein Frustrationserlebnis, verstecken sich wieder einige Jahre, bevor
sie den nächsten Anlauf nehmen usw. Das muss unbedingt verhindert werden.
166 Klaus Steinkemper

KS: Das Wichtigste ist deiner Meinung nach die Beteiligung der Transmenschen?

MG: Ja, wobei das nicht heißt, dass nur Transmenschen das machen sollten, weil auch
manchmal ein professioneller Blick mit etwas Abstand zum Thema hilfreich und
sinnvoll ist. Aber sie sollten maßgeblich mitgestalten dürfen, weil es ansonsten ganz
schnell wieder in Richtung Fremdbestimmung geht. Da können Transmenschen ja
lange Lieder von singen. Und dann nehmen sie die Hilfe auch nicht an. Wie das im
ländlichen Raum funktionieren kann, das kann ich mir noch gar nicht vorstellen.
Da geht viel über das Internet, da muss es eine gute online Beratung geben für die
Menschen vor Ort. Und vielleicht sogar aufsuchende Angebote. Und es braucht
immer noch deutliche Schutzräume. Ich glaube, dass die Gefahr, diskriminiert
zu werden, diese Erfahrung verkraften zu müssen, auch in den nächsten Jahren
ein großes Thema bleiben wird. Und dafür wird auch Unterstützung nötig sein.

KS: Wir kommen zum Schluss. Es gibt sicher Fragen, die ich nicht gefragt habe,
Aspekte, die ich nicht beleuchtet habe. Möchtest du noch etwas loswerden?

MG: Ja. Wir reden über Menschen, die in der Gesellschaft schlecht behandelt werden
und die auch schlecht wegkommen, denen es teilweise richtig schlecht geht. Und
es klingt so, als ob die Arbeit, die wir machen, fürchterlich anstrengend ist. Wenn
ich mir aber anschaue, wie viele goldene Momente es gibt, wie oft Leute sagen: ‚Oh,
ist das klasse! Das habe ich geschafft!‘ oder ‚Warum denke ich das jetzt erst?´, die
davon berichten, wie sie ihr Leben auf die Reihe kriegen, wie sie selbstbewusst wer-
den, wie sie strahlen wie ein Honigkuchenpferd, dafür ist diese Arbeit fürchterlich
dankbar. Da kann ich allen nur raten, wenn du einen geilen Job haben willst, dann
mach so was. Also es ist großartig.

KS: Dafür lohnt es sich.

MG: Ja! Ich glaube, dass man da was Gutes tut. Man nutzt zwar recht pathologisie-
rende Systeme, aber mit etwas Geschick für eine gute ent-pathologisierende Arbeit.
Kinder und Jugendliche mit
Geschlechtsdysphorie
Möglichkeiten der medizinischen Versorgung
im Rahmen einer interdisziplinären
Spezialsprechstunde
Timo O. Nieder , Hertha Richter-Appelt und Birgit Möller1
Timo O. Nieder, Hertha Richter-Appelt und Birgit Möller

Zusammenfassung

Im Vergleich scheint zum Beginn des 21. Jahrhunderts, dass geschlechtsvariante


Verhaltensweisen im Kindes- und Jugendalter gesellschaft lich eher akzeptiert werden
und Themen rund um Trans* (auch im Jugendalter) in den letzten Jahren zuneh-
mend öffentliche Aufmerksamkeit bekommen, reflektiert und diskutiert werden.
Dennoch leiden Kinder und Jugendliche mit geschlechtsvarianten Verhaltensweisen
mehr als ihre geschlechtsnormativen Peers unter Intoleranz, Diskriminierung,
sozialer Ausgrenzung, körperlicher Gewalt und Mobbing. Zudem stellen Kinder
und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie, einem spezifischen Leidensdruck, der
aus der Inkongruenz zwischen Geschlechtsrollenverhalten und Geschlechtsiden-
titätserleben mit dem zugewiesenen Geschlecht bzw. den primären und (antizi-
pierten) sekundären Geschlechtsmerkmalen ergibt, eine Herausforderung für die
medizinische und psychotherapeutische Behandlung dar. In Deutschland ist die
Gruppe entsprechender Kinder und Jugendlicher bislang klinisch unterversorgt.
Daher wurde 2006 eine interdisziplinäre Sprechstunde am Universitätsklinikum
Hamburg-Eppendorf mit dem Ziel gegründet, die Versorgungspraxis zu verbes-
sern, Konzepte zur Behandlung zu entwickeln und durch begleitende Forschung
neue Erkenntnisse zu gewinnen. Nach einer ausführlichen Prozess begleitenden
Diagnostik wird eine am Einzelfall orientierte Behandlung begonnen, die neben
psychotherapeutisch orientierter Entwicklungsbegleitung die Möglichkeit sowohl
pubertätsunterdrückender als auch gegengeschlechtlicher Behandlung mit Sexual-
hormonen beinhaltet. Bei Vorliegen der jeweiligen medizinischen Notwendigkeit

1 Gekürzte und überarbeitete Version eines Übersichtsartikels aus der Zeitschrift Praxis
der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie (Möller, Nieder et al., 2014, 63, 6).

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_14, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
168 Timo O. Nieder, Hertha Richter-Appelt und Birgit Möller

kann im Rahmen der endokrinologischen Behandlung zunächst die ursprüngliche


Pubertät unterdrückt und später die gewünschte Pubertät induziert werden. Insge-
samt wird im Verlauf des Kindesalters ein abwartendes, beobachtendes Vorgehen
empfohlen. Bei Einsetzen der Pubertät und Zuspitzung der Geschlechtsdysphorie
können Behandlungsmaßnahmen in Erwägung gezogen werden, die der bzw. dem
Jugendlichen ein Leben in einer Geschlechtsrolle ermöglichen, die im Einklang mit
der Geschlechtsidentität steht.

Einleitung

Unmittelbar nach der Geburt eines Kindes findet in der Regel eine folgenreiche
Zuweisung statt: Anhand der äußeren Erscheinung der Genitalien wird das Neuge-
borene als entweder männlich oder weiblich „bestimmt“2. Diese Einschätzung führt
dazu, dass Eltern und andere Bezugspersonen Erwartungen im Hinblick auf das
für das jeweilige Geschlecht typische Erleben und Verhalten des Kindes aufbauen:
Das Kind soll sich seinem Geschlecht entsprechend erleben (Geschlechtsidentität,
z. B. Ich erlebe mich als Junge.) und verhalten (Geschlechtsrolle, z. B. Ich spiele am
liebsten mit Autos.). Für einen Großteil der Kinder führen diese Erwartungen nicht
zu einem spezifischen Leidensdruck. Allerdings entwickeln nicht alle Kinder und
Jugendlichen ein Geschlechtsidentitätserleben bzw. Geschlechtsrollenverhalten,
das mit den körperlichen Merkmalen von Geschlecht übereinstimmt.
Kinder und Jugendliche, die mit Phänomenen rund um das fortgesetzte Erleben
von Geschlechtsdysphorie3 im Kindes- und Jugendalter professionelle Hilfe suchen,

2 Anders verhält es sich seit Frühjahr 2013 beim Vorliegen eines uneindeutigen Genitale
bzw. bei einer möglichen Intersexualität. Im Gesetz zur Änderung personenstands-
rechtlicher Vorschriften (PSTRÄndG; nachzulesen unter http://npl.ly.gov.tw/pdf/8244.
pdf) vom 07. Mai 2013 heißt es im §22, Absatz 3: „Kann das Kind weder dem weiblichen
noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall
ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen.“ (vgl. dazu auch Bager
et al., i. d. B.)
3 Der Begriff der Geschlechtsdysphorie leitet sich aus dem englischen Begriff „gender
dysphoria“ ab. Dabei kann problematisiert werden, dass sich in der deutsche Übersetzung
aufgrund der Vereinheitlichung der Begriffe Sex und Gender im deutschen Geschlecht
der Fokus auf das psychosoziale Geschlecht (Gender) verliert, den der englische Begriff
vorsieht. Zudem hat der Begriff der Dysphorie in der deutschen Psychopathologie eine
eigenständige Tradition und beschreibt u. a. missmutige Menschen, die sich stumpf-brü-
tend zurückziehen und gereizte Impulsdurchbrüche zeigen. Zuletzt ist fraglich, inwiefern
insbesondere bei Kindern der Leidensdruck, der dem Begriff Dysphorie inhärent ist,
zwangsläufig vorzuliegen hat. So wird im Zusammenhang mit der 11. Revision der ICD
Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie 169

stellen sowohl aus klinischer als auch aus ethischer Sicht eine Herausforderung
dar. Infolge von Berichterstattungen über zunächst pubertätsunterdrückende
und später die gewünschte Pubertät induzierende Hormonbehandlungen wurde
der Druck der Hilfe suchenden Kinder bzw. Jugendlichen und ihren Eltern für die
Mitarbeitenden interdisziplinärer Spezialsprechstunden spürbarer.
Das Zentrum der kontroversen und zum Teil hitzig geführten Debatte, innerhalb
der verschiedene Akteure aus dem Gesundheitsbereich unterschiedliche Positionen
einnehmen, besteht letztlich aus folgenden Kernfragen:

1. Die Frage zur ethischen Rechtfertigung: Inwieweit ist es ethisch gerechtfertigt,


mit irreversiblen Behandlungsmaßnahmen die körperliche Geschlechtsent-
wicklung zu beeinflussen?
2. Die Frage zur klinischen Differenzierung: Für wen sind die entsprechenden
Behandlungsmaßnahmen indiziert (z. B. die ursprüngliche körperliche Puber-
tätsentwicklung zu unterdrücken und die gewünschte Entwicklung sekundärer
Geschlechtsmerkmale zu induzieren)?
3. Die Frage nach den Voraussetzungen für geschlechtsangleichende Maßnahmen:
Welche Voraussetzungen sind notwendig, um das Geschlechtsidentitätserle-
ben und /oder das Geschlechtszugehörigkeitsgefühl eines Kindes bzw. einer/
s Jugendlichen prognostizieren zu können? Oder: Welche Voraussetzungen
sind notwendig, um belastbar einschätzen zu können, dass sich das Erleben
von Geschlechtsdysphorie mit psychotherapeutischen Mitteln allein nicht
behandeln lässt?
4. Die Frage zum Zeitpunkt: Ab wann können welche Behandlungsmaßnahmen
indiziert sein?

Nach Steensma (2013) lässt sich das Erleben und Verhalten von Kindern in Bezug
zum Geschlecht grob in drei Gruppen unterscheiden, die wie folgt charakterisiert
werden können (vgl. Tab. 1):

t Geschlechtstypisch: Kinder erleben und verhalten sich deckungsgleich zu


den gesellschaftlichen Erwartungen an das zugewiesene Geschlecht (gender
normative children).

der Begriff Gender Incongruence vorgeschlagen, um explizit die Unstimmigkeit zwischen


Körper und Erleben in den Vordergrund zu stellen, ohne dass der Leidensdruck explizit
Bestandteil der Diagnose ist. Im vorliegenden Artikel wird – in Kenntnis der genannten
Einschränkungen – der Begriff der Geschlechtsdysphorie verwendet, um jenen Aspekt
der Geschlechtsinkongruenz zu betonen, der für viele Betroffene im Vordergrund steht:
der Leidensdruck.
170 Timo O. Nieder, Hertha Richter-Appelt und Birgit Möller

t Geschlechtsvariant: Kinder zeigen in der Regel ebenfalls geschlechtstypische


Erlebens- und Verhaltensweisen, jedoch mit geringerer Ausprägung sowie mit
Phasen des spielerischen Umgangs mit stereotypen Verhaltensweisen der jeweils
„anderen“ Geschlechtsrolle. Konkret gegengeschlechtliches Erleben und Verhalten
kann somit phasenweise und ohne, dass es mit Belastungserleben verknüpft ist,
auftreten (gender variant children).
t Geschlechtsdysphorisch: Kinder fühlen sich aufgrund der Unstimmigkeit
zwischen dem zugewiesenen Geschlecht mit ihrem Geschlechtsidentitätser-
leben und ihrem Geschlechtsrollenverhalten fortgesetzt stark belastet (gender
dysphoric children).

Die Gruppe der geschlechtsdysphorischen Kinder und Jugendlichen zeigt ausge-


prägt und andauernd Verhaltensweisen, die typischerweise den gesellschaftlichen
Erwartungen an die dem zugewiesenen Geschlecht (u. a. durch die Eltern oder
andere Bezugspersonen, durch Gleichaltrige sowie Erzieher_innen und Lehrer_in-
nen) konträren Geschlechtsrollen entsprechen. In diesem Zusammenhang äußern
manche von ihnen ein ausgeprägtes Unwohlsein mit dem eigenen Körper („Ich
hasse meinen Körper!“). Das Unbehagen geht häufig einher mit dem Wunsch,
dass sich der Körper im Einklang mit dem Geschlechtsidentitätserleben und dem
Geschlechtsrollenverhalten entwickeln wird („Ich will einen Penis!“). Insgesamt
wünschen sich die betroffenen Kinder und Jugendlichen ein Leben im „richtigen
Geschlecht“.
Um die Entwicklung von Kindern mit einer entsprechenden Problematik ange-
messen zu unterstützen und um im Bedarfsfall die geeigneten Maßnahmen (z. B.
Psychotherapie, Hormonbehandlung) indizieren zu können, sind im Hinblick
sowohl auf die Behandlungskompetenz der Psychotherapeut_innen (u. a. Wissen
um die vielfältigen Hintergründe und verschiedenen Verlaufsformen) als auch auf
die Versorgungsstrukturen (u. a. Notwendigkeit einer multiprofessionellen und
interdisziplinären Kooperation) spezialisierte Einrichtungen notwendig. Infolge
der Seltenheit entsprechender Kompetenzzentren handelt es sich bislang noch um
einen deutlich unterversorgten Bereich. Betroffene Kinder sowie Jugendliche und
ihre Eltern müssen zum Teil weite Wege zurücklegen, um eine professionelle und
qualitativ hochwertige Versorgung in Anspruch nehmen zu können. Am Beispiel
einer interdisziplinären Sprechstunde am Universitätsklinikum Hamburg-Eppen-
dorf (UKE) stellt der vorliegende Beitrag ein sich durch Multiprofessionalität und
Einzelfallorientierung auszeichnendes Versorgungsangebot vor, welches sowohl
Diagnostik und Behandlung als auch Begutachtung beinhaltet. Unter individu-
eller Annäherung an eine hohe prognostische Sicherheit sollen den betreffenden
Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie 171

Jugendlichen angemessene Rahmenbedingungen für ihre gesunde und nachhaltige


Entwicklung ermöglicht werden.

Stand der Forschung

Aus Mangel an Untersuchungen zur Häufigkeit geschlechtsvarianter und/ oder


geschlechtsdysphorischer Kinder und Jugendliche lassen sich die Angaben hierzu
nur annäherungsweise schätzen und liegen vermutlich bei unter 3 % (u. a. Coolidge
et al. 2002). Zudem zeigen die Mehrheit der Nachuntersuchungen von Jugendlichen
und Jungerwachsenen, die sich im Kindesalter mit Geschlechtsdysphorie klinisch
vorstellen, dass sich die klinische Relevanz der Geschlechtsdysphorie im Verlauf
der Pubertät bei etwa 75 % verliert. Das weitere Leben verläuft dann im Rahmen
der bei der Geburt zugewiesenen Geschlechtsrolle. In einer neueren Nachuntersu-
chung war die Gruppe von Jugendlichen, die sich im Zuge der Entwicklung ihrer
sekundären Geschlechtsmerkmale fortlaufend geschlechtsdysphorisch erleben und
die Geschlechtsdysphorie somit persistiert mit 37 % hingegen größer als bei den
vorherigen Nachuntersuchungen (Steensma et al. 2013). Fasst man die Ergebnisse
der uns bekannten Nachuntersuchungen zusammen, lassen sich im Anschluss an
das ausgeprägte Erleben von Geschlechtsdysphorie im Kindesalter die verschiedenen
Entwicklungsverläufe grob in drei Gruppen unterteilen:

t Geschlechtsdysphorie im Kindesalter führt am häufigsten zur Entwicklung einer


gleichgeschlechtlichen sexuellen Orientierung bei gleichzeitigem Arrangement
mit den eigenen, geschlechtsspezifischen Körpermerkmalen (desisting gender
dysphoria → desisters).
t Geschlechtsdysphorie im Kindesalter führt am seltensten zur Entwicklung einer
gegengeschlechtlichen sexuellen Orientierung bei gleichzeitigem Arrangement
mit den eigenen, geschlechtsspezifischen Körpermerkmalen (desisting gender
dysphoria → desisters).
t Geschlechtsdysphorie im Kindesalter persistiert bis in die beginnende Adoleszenz
und spitzt sich im Zuge der Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale
zu. Sie gilt dann insofern als behandlungsbedürftig als das die Unterdrückung
der weiteren Pubertätsentwicklung unter Abwägung weiterer relevanter Aspekte
(s. u.) indiziert sein kann. Die Frage nach der sexuellen Orientierung steht bei
dieser Gruppe nicht im Vordergrund (persisting gender dysphoria → persisters).
172 Timo O. Nieder, Hertha Richter-Appelt und Birgit Möller

Die zuverlässige Identifikation der Persisters stellt die notwendige Grundlage einer
etablierungswürdigen Versorgungspraxis für die Behandlung von Kindern bzw.
Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie dar. Zwei Ziele stehen dabei im Vordergrund:

1. Das Risiko einer falsch-positiven Zuordnung zur Gruppe der Persisters gilt es
ebenso gut wie möglich auszuschließen wie
2. das Risiko eines falsch-negativen Ausschlusses betreffender Jugendlicher von einer
Hormonbehandlung, mit der die ursprüngliche Pubertät unterdrückt und die
Entwicklung der gewünschten sekundären Geschlechtsmerkmale induziert wird.

Faktoren zur Unterscheidung zwischen Persisters


und Desisters

Die empirische Basis zur Unterscheidung zwischen den Persisters und den Desisters
ist begrenzt. Allerdings liefern die wenigen Nachuntersuchungen Hinweise darauf,
welche Variablen zur diagnostischen und klinischen Differenzierung beitragen
können. Als ein relevanter Faktor wird die Ausprägung der Geschlechtsdysphorie
in der Kindheit erachtet. Wallien und Cohen-Kettenis (2008) sowie Drummond et
al. (2008) fanden, dass sich die Persisters intensiver geschlechtsdysphorisch erlebten.
Zudem zeigten sie offener geschlechtsrollennonkonforme Verhaltensweisen als die
Desisters. In einer qualitativen Nachuntersuchung identifizierten Steensma et al.
(2011) motivationale Unterschiede. Während die Persisters davon sprachen, das
andere Geschlecht zu sein (z. B. „Ich bin ein Mädchen!“), stand für die Gruppen
der Desisters vielmehr der Wunsch im Raum, wie das andere Geschlecht sein zu
wollen (z. B. „Ich wäre gerne ein Mädchen!“). Der Leidensdruck bei den Persisters
resultierte hauptsächlich direkt aus der Diskrepanz zwischen Körper und Erleben,
während die Desisters vorwiegend darunter litten, aufgrund ihres Körpers nicht
dem Erleben entsprechend wahrgenommen zu werden (s. o.).

Versorgungsstrategie

An der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psycho-


somatik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) werden seit 1998
Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie behandelt. Zu Beginn erfolgte
die Behandlung im Rahmen der regulären ambulanten Sprechstunde in enger
Kooperation mit dem Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie
des UKE und beinhaltete zunächst ausschließlich psychotherapeutische Ent-
Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie 173

wicklungsbegleitung. Während in den Anfangsjahren des Versorgungsangebots


die Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die mit Fragen und Problemen rund
um das Thema Geschlechtsidentität an uns überwiesen wurden, verhältnismäßig
gering war, stieg die Zahl seit 2005 stetig an. Die „Interdisziplinäre Sprechstunde
für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Variationen der geschlecht-
lichen Entwicklung“ besteht aus Mitarbeiter_innen der Klinik für Kinder- und
Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik (UKE) des Instituts für
Sexualforschung und Forensische Psychiatrie (UKE) sowie einem Mitarbeiter des
Endokrinologikum in Hamburg-Altona (Dr. Achim Wüsthof). Das interdisziplinäre
und institutionsübergreifende Herangehen ermöglicht es, eine schnittstellenübergrei-
fende Versorgung sicherzustellen und den komplexen Behandlungsanforderungen
gerecht zu werden. Die Kooperation sichert eine reibungslose Überleitung der über
18-jährigen Personen in die Erwachsenenversorgung.
Ein Konzept und Protokoll zur interdisziplinären Behandlung von Kindern
und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie wurde entwickelt und in den darauf
folgenden Jahren vor dem Hintergrund neuer Forschungsergebnisse und Erfah-
rungen fortlaufend überarbeitet. Der Ansatz wird nachfolgend näher beschrieben.

Diagnostik

Die Diagnostik beginnt mit einer Anamneseerhebung zum familiären Hintergrund


sowie zur bisherigen Entwicklung in der Kindheit, die sowohl mit der gesamten
Familie als auch mit dem Kind und mit den Eltern alleine durchgeführt wird. Im
Anschluss werden sowohl spezifische als auch allgemein entwicklungspsychologi-
sche und kinder- und jugendpsychiatrische Untersuchungen durchgeführt. Diese
umfassen ausführliche Gespräche mit den Eltern und dem Kind bzw. dem oder der
Jugendlichen. Die Diagnostik kann zu verschiedenen Terminen oder – bei Familien,
die von außerhalb kommen – an einem Tag in mehreren aufeinander folgenden
Sitzungen erfolgen. In der Regel erfolgt sie Prozess begleitend und erstreckt sich
über einen längeren Zeitraum von mehreren Sitzungen bzw. Monaten. Ein Ziel der
Evaluation ist die Untersuchung der Geschlechtsdysphorie sowie das Einschätzen
ihres Ausmaßes und ihrer grundlegenden Bedingungen.
Zahlreiche Kinder und Jugendliche kommen mit seit früher Kindheit ausgepräg-
ter Geschlechtsdysphorie in unsere Sprechstunde, andere präsentieren schwächere
Symptome oder erfüllen nicht die jeweils aktuellen diagnostischen Kriterien. Einige
Kinder und Jugendliche leben bereits seit vielen Jahren in der gewünschten Rolle
und zeigen einen geringen Leidensdruck, während andere sich als Folge negativer
Erfahrungen sozial stark zurückgezogen und sich erst spät den Eltern oder anderen
174 Timo O. Nieder, Hertha Richter-Appelt und Birgit Möller

Menschen anvertraut haben. Die Vorstellungsgründe sind – ähnlich dem klini-


schen Bild – mannigfaltig. Einige Eltern von z. B. Kindern im Kindergarten- oder
Grundschulalter kommen, um im Umgang mit der Geschlechtsdysphorie beraten zu
werden. Häufig kommen Jugendliche mit einem durch die pubertären körperlichen
Veränderungen verursachten hohen Leidensdruck bis hin zu akuter Suizidalität
und drängendem Wunsch nach baldiger Behandlung mit Sexualhormonen.
Im Rahmen ausführlicher diagnostischer Gespräche mit den Eltern und dem
Kind bzw. der oder dem Jugendlichen geht es darum, die Geschlechtsdysphorie im
gesamten Entwicklungsverlauf zu explorieren. Hierzu gehören u. a. die Geschlechtsi-
dentitätsentwicklung im Verlauf, der Ausdruck geschlechtsdysphorischen Verhaltens
bzw. des Wunsches, dem anderen Geschlecht anzugehören (seit wann; wie: u. a.
Spielverhalten, Äußerungen, Rollenverhalten; in welchem Kontext etc.) und die
Reaktionen des erweiterten familiären und sozialen Umfeldes. In den Gesprächen
mit dem Kind bzw. Jugendlichen stehen darüber hinaus u. a. folgende Aspekte im
Mittelpunkt: Das individuelle Körpererleben, die Beziehungsgestaltung zu der
Gruppe der Gleichaltrigen, der Wunsch nach körpermedizinischer Veränderung
der geschlechtsspezifischen Erscheinung (endokrinologische und/oder chirurgische
Maßnahmen) sowie der Leidensdruck.
Die spezifische Diagnostik wird ergänzt durch eine allgemeine Entwicklungs-
und Familienanamnese inkl. der Erfassung möglicher belastender und/ oder
traumatisierender Erfahrungen, dem familiären Funktionsniveau und der Bezie-
hungsgestaltung bzw. Bindung zur Familie, Peers etc.
Fremdanamnestische Informationen durch Lehrer, Freunde etc. können zur Ab-
rundung des klinischen Bildes eine sinnvolle Ergänzung darstellen und in Absprache
mit der bzw. nach Zustimmung durch die Familie zusätzlich eingeholt werden.
Sind die diagnostischen Kriterien ebenso erfüllt wie weitere Voraussetzungen im
Zusammenhang mit der körperlichen Pubertätsentwicklung und besteht der Wunsch
nach hormoneller Behandlung, erfolgt eine Zweitsicht durch die Mitarbeiter des
Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie am UKE (Dr. Timo O.
Nieder, Dr. Wilhelm F. Preuss) sowie eine Konsultation beim Kinderendokrinologen
(s. o.). Dieser führt nach ausführlicher endokrinologischer Anamneseerhebung
eine körperliche Untersuchung mit Fokus auf die Pubertätsentwicklung durch.
Eine umfangreiche Labordiagnostik inkl. Untersuchung des Hormonstatus sowie
zytogenetische Basisanalysen (u. a. zur Erfassung chromosomaler Veränderungen)
wird ebenso durchgeführt wie eine ausführliche Aufklärung über die endokrinolo-
gischen Behandlungsmöglichkeiten (Risiken/Nutzen) und die Auswirkungen auf
die Fertilität bzw. die Möglichkeiten der Kinderwunschbehandlung .
Nach der interdisziplinären Diagnostik und Indikationsstellung wird im Rahmen
einer bzw. wenn nötig mehrerer Fallbesprechungen über die klinische Einschät-
Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie 175

zung und weitere Behandlung gesprochen. Die Behandlungsempfehlung wird im


Anschluss mit den Eltern und der oder dem Jugendlichen eingehend erörtert und
die jeweiligen Zuständigkeiten bzw. Verantwortlichkeiten geklärt (bzgl. Dissens
von Eltern-Kind-Entscheidungen vgl. Bager und Götssche, i. d. B.).

Behandlung

Therapeutische Rahmenbedingungen

Empfohlen wird die Behandlung in einem interdisziplinären Setting unter mul-


tiprofessioneller Beteiligung von Kinder- und Jugendpsychiater_innen bzw. Psy-
chotherapeut_innen, Genderspezialist_innen und Kinderendokrinolog_innen
durchzuführen. Als übergeordnete Ziele der Behandlung kommen u. a. in Betracht:
Die nicht wertende Akzeptanz und Anerkennung des Geschlechtsidentitätserlebens
sowie der Ablehnung des Körpers bzw. dessen geschlechtsspezifischer Erscheinung,
der Versuch, die verschieden Probleme rund um das Geschlechtsidentitätserleben
in ihrer Komplexität zu erfassen, Reduzierung kindlicher Belastung in Bezug auf
die Geschlechtsdysphorie, Erhöhung des allgemeinen Wohlbefindens und der
Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung, Aufklärung der Familien über den aktu-
ellen Stand der Forschung und den daraus ableitbaren Behandlungsmöglichkeiten,
eingehende Beratung und Begleitung der Kinder bzw. der Jugendlichen und ihrer
Familien in den Prozess der Entscheidungsfindung sowie Ermutigung, sich mit
dem eigenen Körper im therapeutischen Rahmen auseinanderzusetzen.

Beratung der Eltern

Bei Kindern mit Themen rund um ihr Geschlechtsidentitätserleben bzw. ihre Ge-
schlechtsdysphorie geht es häufig zunächst um eine Beratung der Eltern. Da nur bei
einem geringen Prozentsatz die Geschlechtsdysphorie bis ins Jugendalter anhält,
werden die Eltern zunächst über den gegenwärtigen Wissenstand hinsichtlich der
Entwicklungsverläufe aufgeklärt (s. o.). Dies ist vor allem im Hinblick auf die Frage
eines Rollenwechsels und mögliche Schwierigkeiten, in die ursprüngliche Rolle
zurückzukehren, von Bedeutung. Viele Eltern kommen in die Sprechstunde mit
Fragen, Ängsten und Unsicherheiten bezüglich der Entwicklung des individuellen
Geschlechtsidentitätserlebens ihres Kindes. Sie wollen wissen, ob ihr Kind noch
„normal“ ist oder ihr Vorgehen, das geschlechtsvariante Verhalten zu akzeptieren
176 Timo O. Nieder, Hertha Richter-Appelt und Birgit Möller

bzw. unterstützen „richtig“ ist. Viele fühlen sich verunsichert, wollen Bestätigung,
dass sie nichts „falsch“ machen oder die Geschlechtsdysphorie durch ihr Verhalten
womöglich induziert haben. Manche sorgen sich um die Zukunft ihres Kindes und
befürchten, dass es niemals glücklich werden könne.
Die Aufklärung bzw. das Nachdenken über die vielfältigen Möglichkeiten
der Entwicklung bzw. Lebensgestaltung jenseits binärer Vorstellungen von Ge-
schlecht und Identität, Rollenverhalten etc. als lebenslangen Prozess erleben viele
Eltern als hilfreich und entlastend. Im Beratungsverlauf geht es darum, die Eltern
zu unterstützen, Ängste und Unsicherheiten in Bezug auf das Nichtwissen bzw.
Nicht-Vorhersehenkönnen des weiteren Entwicklungsverlaufs aushalten zu lernen,
und Wege zu finden, wie die Eltern ihr Kind bestmöglich auf dem individuellen
Weg unterstützen können. Neben einer akzeptierenden und fürsorglichen Haltung
im Umgang mit der Geschlechtsdysphorie geht es auch darum, das Kind vor nega-
tiven sozialen Reaktionen zu schützen. So ist es z. B. für viele Kinder wichtig, dass
das soziale Umfeld über die besondere Situation informiert ist, oder ein möglicher
Rollenwechsel mit den Erziehenden, Lehrenden etc. gut vorbereitet wird. Sind ne-
gative soziale Reaktionen unvermeidlich, sollte darüber nachgedacht werden, wie
das Kind bzw. der oder die Jugendliche geschützt werden kann (z. B. Rollenwechsel
ausschließlich im familiären Rahmen).
Für manche Eltern ist die Anerkennung der Geschlechtsdysphorie ihres Kindes
mit einem schmerzlichen Prozess des Abschiednehmens oder Schuldgefühlen ver-
bunden. Manchmal werden eigene schmerzliche Erfahrungen oder Themen berührt.
Eine Begleitung der Eltern oder ggf. Überweisung an Psychotherapeut_innen ist
in diesem Fall hilfreich und ermöglicht den Eltern, in ihrer Elternfunktion ihrem
Kind weiterhin unterstützend zur Verfügung zu stehen. Neben einer individuel-
len Behandlung haben sich auch Gruppensitzungen mit Eltern (Di Ceglie et al.
2006), als sinnvoll erwiesen. Viele Eltern wünschen sich Kontakt und Austausch
mit anderen Eltern in ähnlicher Situation. Es gibt zahlreiche Einrichtungen und
Betroffenenverbände, die in den letzten Jahren gegründet wurden und den Eltern
zur Kontaktaufnahme empfohlen werden (u. a. http://www.trans-kinder-netz.de/).

Hormonbehandlung

Nach einstimmiger Indikationsstellung erfolgt die Hormonbehandlung durch den


Kinderendokrinologen. Als leitende Orientierungshilfe dient das Ziel, einen zu
erwartenden psychischen und körperlichen Schaden abzuwenden. In Anlehnung
an die Clinical Guidelines der Endocrine Society (Hembree et al. 2009) sowie den
Standards of Care der World Professional Association for Transgender Health (2011)
Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie 177

liegen dem Hamburger Protokoll zur Hormonbehandlung als Kriterien u. a. die


lang anhaltende und ausgeprägte Geschlechtsdysphorie und die Zunahme der
Geschlechtsdysphorie im Zuge der einsetzenden Pubertät zugrunde. Darüber
hinaus wird geprüft, inwiefern weitere psychische Probleme vorliegen, die mit
der Diagnostik und/ oder Behandlung interferieren und ein ausreichendes Maß
an Unterstützung durch die Eltern bzw. durch das soziale Umfeld gewährleistet
werden kann.
Die vorübergehende Unterdrückung der körperlichen Pubertätsentwicklung
soll den Jugendlichen die Möglichkeit schenken, sich mit dem Wunsch nach Hor-
montherapie und geschlechtsangleichenden Maßnahmen und ihren Konsequenzen
kritisch auseinanderzusetzen. Darüber hinaus lindert die Hormonbehandlung den
in vielen Fällen erheblichen Leidensdruck und verhindert sekundäre Störungen,
die durch das Fortschreiten der irreversiblen körperlichen Entwicklung (wie z. B.
Stimmbruch) entstanden wären.
Bestehen die Geschlechtsdysphorie sowie der Wunsch nach gegengeschlecht-
licher hormoneller Behandlung weiter und wird letztere von den Eltern und dem
interdisziplinären Gender-Team befürwortet, kann eine gegengeschlechtliche
Behandlung begonnen werden. Wenn sich die betreffenden Jugendlichen durch
eine gegengeschlechtliche Hormontherapie stimmiger in ihrem Körper fühlen,
wünschen sich einige auch geschlechtsangleichende operative Maßnahmen. In
vereinzelten Fällen wurden ausgewählte chirurgische Eingriffe bereits ab dem
Alter von 16 Jahren indiziert.
Die durch das fehlende Wissen (fehlende Evidenzbasierung durch Langzeitstudien
an größeren Fallzahlen, begrenztes Wissen über Geschlechtsidentitätsentwicklun-
gen sowie den Grundlagen persistierender Geschlechtsdysphorie) begründeten
Dilemmata und komplexen ethischen Fragen stellen eine Herausforderung für die
klinische Versorgung dar. Als angemessen und zielführend im Umgang mit dieser
Herausforderung wird daher eine interdisziplinäre, einzelfallorientierte Vorge-
hensweise erachtet, die der jeweiligen Problematik und Situation des Kindes bzw.
der oder des Jugendlichen und seiner Familie gerecht wird. Hierzu gehört auch,
individuelle Lösungen zu finden in Bezug auf das Coming-Out, den öffentlichen
Geschlechtsrollenwechsel (das going-public) oder körpermedizinische Behand-
lungsmaßnahmen zur Veränderung der geschlechtsspezifischen Erscheinung.
Damit verbunden ist die Frage, welchen Stellenwert die äußere Erscheinung bzw.
die körperlichen Merkmale haben. Während es für manche Kinder und Jugendli-
chen von essentieller Bedeutung ist, dass ihr Körper – soweit es die medizinischen
Möglichkeiten erlauben – dem Geschlechtszugehörigkeitserleben angeglichen
ist (mittels Behandlung mit Sexualhormonen und/oder deren Suppression sowie
chirurgischen Eingriffen), lehnen andere eine Hormonbehandlung z. B. aufgrund
178 Timo O. Nieder, Hertha Richter-Appelt und Birgit Möller

der Nebenwirkungen ab oder wünschen nur bestimmte körpermedizinischen


Maßnahmen (z. B. Mastektomie). Dies gilt es im Rahmen psychodiagnostischer
Gespräche sowie in Vorbereitung auf die Indikation verschiedener möglicher
körpermedizinischer Behandlungsmaßnahmen herauszufinden.

Psychotherapeutische Behandlung

Die begleitende psychotherapeutische Behandlung von Kindern und Jugendlichen


mit Geschlechtsdysphorie hat einen wichtigen Stellenwert. Sie ermöglicht dem Kind
bzw. der oder dem Jugendlichen, die mit den geschlechtsbezogenen Problemen im
Zusammenhang stehenden Erfahrungen, Gefühle, Wünsche etc. tiefergehend zu
explorieren und zu bearbeiten. Ein Ziel der Behandlung ist das Verstehen der Ge-
schlechtsidentitätsvariation in seiner Komplexität sowie der Unterstützung darin,
Wege zu finden, sich mit dem individuellen Geschlechtsidentitätserleben wohl zu
fühlen und mit möglichen Belastungen besser umzugehen. Erfahrungsgemäß ist
es hilfreich, die gesamten psychosozialen Ich- und Identitätsentwicklungsprozesse
gleichermaßen zu beachten und alterspezifische Aspekte wie die Ablösung von den
Eltern oder den Aufbau von Beziehungen zu Gleichaltrigen zu berücksichtigen.
Die Fokussierung auf den gesamten Entwicklungsprozess ermöglicht zudem die
Aufdeckung möglicher, auf die Geschlechtsidentitätsproblematik einwirkender,
individueller und familiärer Konflikte. Der geschützte therapeutische Rahmen
kann zudem eine Auseinandersetzung mit den eigenen Körpererfahrungen (u. a.
im Rahmen intimer bzw. sexueller Kontakte) und – im Falle einer körpermedizi-
nischen Behandlung – eine Aufklärung über die möglichen somatomedizinischen
Behandlungsmaßnahmen sowie eine Vorbereitung auf die damit einhergehenden
körperlichen Veränderungen ermöglichen.
Die psychotherapeutische Behandlung kann in unterschiedlichen Settings er-
folgen: Durch den Kinder- und Jugendpsycholog_innen/-psychotherapeut_innen
der interdisziplinären Sprechstunde oder wohnortnah durch eine_n niedergelas-
sene_n Kolleg_in_en.

Fazit und Ausblick

Es ist davon auszugehen, dass die Versorgungs- und Behandlungspraxis von Kin-
dern und Jugendlichen mit ausgeprägter, persistierender Geschlechtsdysphorie
weiterhin Thema kontroverser Debatten sein wird. Ein Teil der Annahmen, die
Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie 179

der hier skizzierten Vorgehensweise zugrunde liegen, sind weniger evidenzbasiert


sondern vielmehr erfahrungs- und meinungsbasiert. Methodisch hochwertige,
im Hinblick auf die möglichen Ergebnisse wünschenswerte Untersuchungen wie
randomisierte kontrollierte Studien sind aus klinisch-ethischen Gründen nicht
durchführbar. Vor diesem Hintergrund ist zunächst festzuhalten, dass eine Be-
handlungsstrategie, die darauf abzielt, das Geschlechtsrollenverhalten und das
Geschlechtsidentitätserleben dem zugewiesenen Geschlecht entsprechend kon-
form zu „gestalten“, weder empirisch abgesichert noch evidenzbasiert ist. Da es
aus klinischer Sicht unmöglich ist, aus der Kindheit heraus eine sichere Prognose
des zukünftigen Geschlechtsidentitätserleben zu stellen, sollte das Geschlechts-
rollenverhalten des Kindes weder mehr als notwendig unterstützt noch mit dem
Ziel der Konformität zum Zuweisungsgeschlecht unterbunden werden. Zum einen
liegt keine Evidenz dafür vor, dass ein einmal prä-pubertär vollzogener sozialer
Geschlechtsrollenwechsel bei peri-pubertär zurückgehender Geschlechtsdysphorie
wieder unbeschadet rückgängig gemacht werden kann. Zum anderen gilt es zu be-
rücksichtigen, dass die interventionelle Beschränkung eines Kindes auf ausgewählte
geschlechtstypische Verhaltensweisen einen potentiell schädigenden Einfluss haben
kann und als Verhinderung einer möglichen homosexuellen Entwicklung ethisch
nicht vertretbar ist. Den positiven klinischen Erfahrungen im Zusammenhang mit
der oben skizzierten Behandlungspraxis aus unserer und anderen Arbeitsgruppen
steht eine nicht zu vernachlässigende Kritik gegenüber. Auch wenn bislang unseres
Wissens nach international kein Fall bekannt wurde, bei dem die Verhinderung
der ursprünglichen Pubertät einhergehend mit der späteren Induktion der gegen-
geschlechtlichen Pubertät im Nachhinein als Fehlindikation eingeschätzt wurde,
liegen keine Befunde vor, wie sich die Hormonbehandlung auf die Entwicklung
der individuellen Geschlechtsidentität auswirkt. Der Vorwurf, dass die skizzierte
Behandlung die Geschlechtsidentitätsvariation aufrecht halte, bleibt somit unwi-
derlegbar im Raum stehen.
Für die Weiterentwicklung und Optimierung der Versorgungspraxis wird daher
als notwendig erachtet, die beschriebene Vorgehensweise fortlaufend zu evaluieren
und die Ergebnisse sowie die Erfahrungen mit anderen Zentren zu vergleichen.
In Analogie zu den Entwicklungen im Bereich der Transgender-Versorgung im
Erwachsenenalter (Nieder et al. 2013; Nieder & Strauß 2014) stehen die enge Ori-
entierung am Leidensdruck bzw. an der individuellen Geschlechtsinkongruenz der
betreffenden Kinder und Jugendlichen sowie das Ziel des nachhaltigen Wohlbe-
findens im Kontext individueller (Trans-)Identität im Vordergrund der (psycho-)
therapeutischen Arbeit. Die Frage nach dem „eigentlichen“ oder „wirklichen“ bzw.
„wahren“ Geschlecht ist dabei zu vernachlässigen.
180 Timo O. Nieder, Hertha Richter-Appelt und Birgit Möller

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Zwischen Selbstbestimmung und
gesellschaftlichem Zwang
Diskurstheoretische Medienanalyse
zum Fall „Alex“1
Elaine Lauwaert

Das Feld der Diskurse um Körper, Geschlecht, Sexualität und damit verbunden
die Frage nach dem Verhältnis von Selbstbestimmung versus Reglementierung,
erweist sich als stark umkämpft und steht häufig im Mittelpunkt des medialen Öf-
fentlichkeitsinteresses. Zu nennen wäre hier z. B. die Diskussion über die Frage der
Beschneidung von Jungen*2 im Judentum und Islam (Cetin et. al 2012), der Bericht
des Deutschen Ethikrates zur Lebenssituation von Intersex*-Menschen (Deutscher
Ethikrat 2012) oder das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Verfassungswid-
rigkeit der Forderung nach einer geschlechtsangleichenden Operation als Voraus-
setzung für eine Personenstandsänderung nach dem Transsexuellengesetz (TSG)
(Bundesverfassungsgericht 2011). Das grundgesetzlich geschützte Recht auf freie
Entfaltung der Persönlichkeit und körperliche Unversehrtheit steht hierbei in einem
Spannungsverhältnis z. B. zu Rechten der Eltern gegenüber ihren minderjährigen
Kindern (bspw. Baader und Goettsche, i. d. B.), staatlicherseits ausgesprochenen
Verboten und Geboten (bspw. Remus, i. d. B.) oder aber weltanschaulichen oder
religiösen Traditionen und Moralvorstellungen.

1 Dieser Buchbeitrag basiert auf einer im November 2012 an der Universität Bielefeld
abgegebenen MA – Arbeit der Verfasser_in zur Erlangung des akademischen Grades
Master of Arts (M.A.)
2 Im Rahmen dieses Beitrags wird der Versuch der Anwendung einer „gendersensiblen“
Schreibweise unternommen: Der Appendix „*“ weist darauf hin, dass Geschlecht im
Rahmen dieser Arbeit als soziale Konstruktion, die immer wieder performativ herge-
stellt und reproduziert wird, verstanden werden soll. Der Unterstrich „_“ fungiert als
ein Symbol einer Leerstelle „als Platzhalter für geschlechtliche Geltungsansprüche und
Möglichkeiten, die in der zweigeschlechtlich strukturierten Sprache nicht repräsentiert
sind“ (Schirmer 2010, S. 15).

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_15, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
182 Elaine Lauwaert

Exemplarisch zeigen sich diese Konflikte am Beispiel des Trans*3 Kindes „Alex“4
aus Berlin, welches für sich in Anspruch nimmt, ein Mädchen* zu sein und als
solches anerkannt zu werden – obwohl diese Selbstzuordnung dem bei der Geburt
festgelegten Geschlecht „männlich“ nicht entspricht. Die Reaktionen des sozialen
Umfeldes auf diesen Schritt gipfelten in dem Versuch des Jugendamtes mit Unterstüt-
zung des Vaters* von Alex*, eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie zu erreichen.
Durch mediale Berichterstattung, die damit verbundene Sensibilisierung der
Öffentlichkeit und die Gefahr des Imageverlustes für die beteiligten Psychiater_innen
der Berliner Charité gelang es, die Zwangseinweisung von „Alex“ zu verhindern. Die
Medien fungierten hierbei einerseits als ein zivilgesellschaftliches Korrektiv gegen-
über der Justiz, andererseits aber auch teilweise als Instanz der erneuten Integration
von „Alex“ in die bipolare Zweigeschlechtlichkeit und damit als Verhinderer einer
Auseinandersetzung über normative Zweigeschlechtlichkeit als solches.
Die hier deutlich werdenden Diskurse nachzuzeichnen, sie auf ihre Qualität der
Systemkritik oder -stabilisation hin zu prüfen sowie daraus resultierend Möglich-
keiten einer heteronormativitätskritischen Medienberichterstattung und Pädagogik
zu entwickeln, wird im Fokus dieses Beitrags stehen.
Zentral erscheint unter diesem Blickwinkel die Auseinandersetzung mit den
Fragen: Wer sprechen darf; wer gehört wird und wessen Rede nicht gehört wird
(vgl. Hornscheidt 2012, S. 220 ff.). Sprechen die Medien über „Alex“ mit ihr oder
wird ihr die Möglichkeit eingeräumt selbst zu sprechen? Kann „Alex“ gehört werden
oder muss sie „stumm“ bleiben?
Hierzu wird zu Beginn kurz die „Fallgeschichte“ von „Alex“ skizziert, um daran
anknüpfend die in den Medien deutlich werdenden Diskurse zu den Komplexen
„Selbst- und Fremdbild“, „Familie und soziales Umfeld“ sowie „Normalität und
Pathologie“ in den Fokus der Aufmerksamkeit zu stellen. Im abschließenden Fazit
soll der Versuch unternommen werden, Möglichkeitsräume einer medialen Be-

3 Die Schreibweise trans* verweist auf eine Vielzahl unterschiedlichster Selbstdefini-


tionen und „möchte sprachlicher Schubladen und Hierarchisierungen verschiedener
Formen geschlechtlicher Transgression vermeiden und das bezeichnen, was sich einer
Kategorisierung entziehen will. Sie verweist auf alle möglichen unterschiedlichen trans-
geschlechtlichen bzw. transidenten Lebensformen und vermeidet eine Aufzählung und
damit unumgängliche Nichtnennung und Unsichtbarmachung derjenigen Menschen,
die sich mit entsprechenden Bezeichnungen nicht gemeint fühlen“ (Schuster 2010, S.
15).
4 Bei dem Namen „Alex“ handelt es sich um ein Pseudonym, welches zum Schutz des
Kindes verwendet wird. Im Rahmen dieser Arbeit werde ich für „Alex“ das Pronomen
„sie“ statt „er“ verwenden, um einerseits auf das Recht des Kindes auf Selbstdefinition
seines Geschlechtsverständnisses zu fokussieren und andererseits Fremddefinitionen,
die nicht „Alex“ Sichtweise entsprechen, entgegenzutreten.
Zwischen Selbstbestimmung und gesellschaftlichem Zwang 183

richterstattung und eines zwischenmenschlich/pädagogischen Umgangs jenseits


normativer Zweigeschlechtlichkeit zu sondieren.

1 Versuch der Rekonstruktion der Fallgeschichte


von Alex

Für eine Analyse der verschiedenen Diskursfragmente erscheint es unabdingbar, zu


Beginn aus den verschiedenen Medienberichten5 eine anfängliche Rekonstruktion
der Lebensgeschichte von „Alex“ zu erreichen. Dabei ist zu beachten, dass es sich
bei den veröffentlichten Daten, Geschichten und Ereignissen nur um eine selektive
Auswahl handelt. Dessen ungeachtet halte ich aber eine solche Grundlagenlegung
für sinnvoll und notwendig, so dass diese vor dem Beginn der diskursanalytischen
Betrachtungen steht.
„Alex“ wurde im April 2000 als Kind einer Erzieherin* und eines Maschinen-
bauingenieurs* geboren. „Alex“ Mutter* hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine
heute erwachsene Tochter* aus erster Ehe. Ende 2001 bekamen „Alex“ Eltern eine
zweite Tochter*, die genau wie „Alex“ nach der Trennung der Eltern seit 2002 bei der
Mutter* lebt (Kullmann 2012, S. 135). Die Eltern teilten sich weiterhin das Sorgerecht
und einigten sich darauf, dass die Kinder den Vater* alle zwei Wochen besuchen.
Schon im Alter von zweieinhalb Jahren erklärte „Alex“ zum ersten Mal, dass
es sich bei ihr um ein Mädchen* handele. Mit vier Jahren fragte sie danach, ob
bei ihr die Möglichkeit bestände, ihren Hoden zu entfernen (ebd.). Aufgrund der
Uneinigkeit der Eltern bezüglich der ärztlichen Behandlung von „Alex“ wurde
ihnen im Sommer 2007 durch das zuständige Amtsgericht der Teilbereich der
Gesundheitssorge entzogen und auf das örtliche Jugendamt übertragen, welches
eine Ergänzungspflegerin* für „Alex“ bestellte. Diese sprach sich dafür aus, dass
„Alex“ gegen ihren Willen stationär in der Berliner Charité untersucht werden solle
und danach in eine Pflegefamilie kommen müsse. Im Gegensatz zu den Plänen des
Jugendamtes wollte „Alex“ weiterhin bei ihrer Mutter* leben, lehnte eine stationäre
Unterbringung und Diagnostizierung in der Berliner Charité ab und wünscht sich
den Beginn einer Hormontherapie, um das Einsetzten einer männlichen* Pubertät
aufhalten zu können.

5 Berücksichtigt für diesen Beitrag wurden acht Artikel aus der „taz“ (koa 2012; Oestreich
2012 a-g), einer aus der „Berliner“ Zeitung (Beyerlein 2012), einer aus dem „Spiegel“
(Kullmann 2012), einer aus dem „Freitag“ (Nowak 2012a), zwei aus der Jungle World
(Nowak 2012b; Sona 2012), einer aus dem „Neuen Deutschland“ (Schubert 2012) und
einer aus dem „CSD Magazin“ (Siebenbaum 2012).
184 Elaine Lauwaert

Mitte Januar 2012 wandte sich die Mutter* von „Alex“ an die Medien, um auf
die geplante „Zwangseinweisung ihrer Tochter*“ aufmerksam zu machen, worauf-
hin sich ein Solidaritäts-Bündnis: Aktionsbündnis „Alex“ gründete (Oestreich
2012d). Diesem gehörten verschiedenste Gruppen und Organisationen u. a. aus
Trans*- Kontexten oder dem Umfeld der „Psychiatriekritik“ an (ebd.). Eine eigens
eingerichtete Online-Petition erhielt großen Zulauf und mehrere Demonstrationen
wurden organisiert. Schließlich erklärte erstens die Berliner Charité öffentlich,
„Alex“ nicht gegen ihren Willen aufnehmen zu wollen (Charité 2012). Zweitens
distanzierte sich der Leiter* des Instituts für Sexualwissenschaft und Medizin, Prof.
Dr. med. Dr. phil. Klaus M. Beier (Charité Berlin) von Handlungsempfehlungen
für die Therapie von Trans*-Kindern und Jugendlichen, die in einem von ihm
herausgegebenem Buch formuliert werden (Oestreich 2012 d)6.
Der Versuch des Jugendamtes der Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht für
„Alex“ zu entziehen, scheiterte im September 2012. Das zuständige Gericht legte
fest, dass „Alex“ wie von ihr und der Mutter* gewünscht am Institut für Sexualfor-
schung und forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
zu begutachten sei. Parallel hierzu solle eine endokrinologische Untersuchung
hinsichtlich des Hormonstatus erfolgen, welche die Voraussetzung dafür darstellt,
mit einer eventuellen Hormonumstellung beginnen zu können (Inka 2012).

2 Diskurstheoretische Betrachtungen einer Struktur-


und Feinanalyse zum Fall „Alex“

Bei der Analyse der verschiedenen Zeitungsbeiträge zum Fall „Alex“ lassen sich
unterschiedliche Diskursebenen unterscheiden, die sich von verschiedenen Blickwin-
keln aus mit den Thematiken Geschlecht, Körper, aber auch Sexualität beschäftigen
und sich dabei im Spannungsfeld zwischen individuellen Handlungsmöglichkei-
ten und gesellschaftlichen Anforderungen bewegen. Untersuchen lässt sich hier
die Dimension von Selbst- vs. Fremddefinition, die Position des Familien- und
Freund_innenkreises zu „Alex“, sowie drittens der Blickwinkel von Institutionen.
Dabei ist jeweils zu fragen, inwieweit die hier auftretenden Diskurse in Bezug auf

6 Im von Beier et al. (2005) herausgegebenen Band „Sexualmedizin“ heißt es zu den


Zielen der Therapie bei Trans*- Kindern und Jugendlichen u. a.: „geht es darum, sein
Zugehörigkeitsgefühl zum Geburtsgeschlecht zu bestärken wobei geschlechtskonforme
Verhaltensangebote gemacht und adäquate Verhaltensweisen belohnt werden. Geschlecht-
satypische Verhaltensweisen werden nicht beachtet bzw. beiläufig unterbunden (jedoch
nicht sanktioniert)“ (S. 410 ff.).
Zwischen Selbstbestimmung und gesellschaftlichem Zwang 185

„Alex“ unterstützend oder einengend verlaufen und ob ihnen eine destabilisieren-


de oder eine integrierende Funktion in Bezug auf Heteronormativität zukommt.

2.1 „Weil ich ein Mädchen bin“ versus „Weil ich ein Mädchen
sein will“ – Betrachtungen zu Selbst- und Fremdbildern

Die Thematik Geschlecht und damit zusammenhängend das Thema Körper


spielen in den Äußerungen von und über „Alex“ eine zentrale Rolle. Einerseits
lässt sich dabei aufzeigen, dass ein Großteil der untersuchten Zeitungsbeiträge7
in dem polaren Spektrum weiblich* – männlich* verbleibt, sich aber andererseits
deutliche Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdbildern entdecken lassen: Es
findet sich die in den Medien vermittelte Selbstdarstellung von „Alex“, für sich
das Recht in Anspruch zu nehmen, selbst zu entscheiden, welchem Geschlecht sie
angehört – dem weiblichen*-, vertreten. Dies auch gegenüber einer Umwelt, die ihr
das männliche* Geschlecht zuzuweisen versucht: „Weil ich ein Mädchen bin“ (Zitat
nach Kullmann 2012, S. 135). Auf Hinweise, dass sie einen biologisch männlichen*
Körper habe, antwortete sie schon im Alter von zweieinhalb Jahren: „Ich bin eben
ein anderes Mädchen“ (ebd.)
Der heteronormative Maßstab der Existenz ausschließlich zweier Geschlechter
wird nicht in Frage gestellt. Auch die Anforderung der Übereinstimmung von „sex“
und „gender“ wird von „Alex“ übernommen. Sie weist deutlich darauf hin, dass es
für sie dazu gehöre „nicht nur die Seele eines Mädchens“ (Beyerlein 2012) zu haben,
sondern auch einen dazu gehörigen Körper. Daraus resultieren bezüglich möglicher
pubertärer Veränderungen bei ihr „Angst“ (ebd.) und „Horror“ (Kullmann 2012,
S. 137) wie auch der Wunsch, über eine Hormonbehandlung diese aufzuhalten
(vgl. Oestreich 2012a; 2012c).
Das Selbstverständnis von „Alex“ wird in dieser eindeutigen Zuordnung zum
weiblichen* Geschlecht von den Beschreibungen aus der Außenperspektive meist
nicht in dieser Deutlichkeit übernommen, wie sich z. B. in den Formulierungen
„lebt als Mädchen“ (Beyerlein 2012), „will ein Mädchen sein“ (ebd.), „beschloss
ein Mädchen zu sein“ (ebd.) oder „als Mädchen fühlt“ (Oestreich 2012e, S. 5) „sich
aber als Mädchen empfindet“ (Oestreich 2012c) zeigt. An die Stelle des „ich bin“
treten Relativierungen, die den Versuch unternehmen, die Definitionshoheit über

7 Berücksichtigt für diesen Beitrag wurden acht Artikel aus der „taz“ (koa 2012; Oestreich
2012 a-g), einer aus der „Berliner“ Zeitung (Beyerlein 2012), einer aus dem „Spiegel“
(Kullmann 2012), einer aus dem „Freitag“ (Nowak 2012a), zwei aus der Jungle World
(Nowak 2012b; Sona 2012), einer aus dem „Neuen Deutschland“ (Schubert 2012) und
einer aus dem „CSD Magazin“ (Siebenbaum 2012).
186 Elaine Lauwaert

„Alexs“ Geschlecht zurückzugewinnen, in dem z. B. auf die juristische – „Auf der


Geburtsurkunde des Kindes steht Alexander“ (Beyerlein 2012) – oder die biologische
Ebene verwiesen wird: „Alex ist als Junge geboren (Kullmann 2012, S. 135), „Mäd-
chen mit männlichen Geschlechtsmerkmalen“ (Oestreich 2012g, koa 2012, S. 22).

2.2 „Den Sprung wagen“ –


Umgang von Familie und Freund_innenkreis mit dem
Geschlechtsselbstverständnis von „Alex“

Der Umgang von Familie und Freund_innenkreis mit dem Geschlechtsselbstver-


ständnis von „Alex“ ist sehr unterschiedlich und bewegt sich zwischen Akzeptanz
(Mitschüler_innen), unsicherer Unterstützung (Mutter*), bis hin zu eindeutiger
Ablehnung auf Seiten des Vaters*: Während die Mutter* von „Alex“ von ihrer
Tochter* spricht und den „Sprung längst getan hat, der den meisten anderen so
schwer fällt“ (Beyerlein 2012), nennt der Vater* von „Alex“ sie weiterhin bei ihrem
früheren Jungen*namen, bezeichnet sie als „Sohn*“ (Kullmann 2012, S. 135), und
fordert von „Alex“- wenn diese ihn besuchte -, dass sie „Kleider und Kettchen“
(Kullmann 2012, S.135) ablegte, wenn sie die Wohnung betrat. In der Schule durfte
„Alex“ sein wie sie wollte, erlebte keine Diskriminierungen und wurde sogar zur
Klassensprecherin gewählt (vgl. Oestrich 2012a). Dabei lassen sich auch hier die
jeweiligen Äußerungen im Spektrum der Existenz ausschließlich zweier Geschlechter
verorten. Zwischenräume für geschlechtliche Selbstverständnisse, die sich nicht
eindeutig entweder dem weiblichen* oder dem männlichen* Geschlecht zuordnen,
werden nicht eröffnet.
Bezüglich dem Geschlechtsselbstverständnis von „Alex“ besteht sowohl bei der
Mutter* als auch beim Vater* der Wunsch, dass „Alex“ begutachtet werden solle
(Kullmann 2012, S. 135; Sona 2012). Auf diese Weise soll Klarheit darüber erlangt
werden, ob es sich bei „Alex‘“ Geschlechtsselbstverständnis um Trans- Sein* im
Sinne der diagnostischen Kriterien nach ICD 10 handelt (vgl. z. B. Sona 2012) und
sich damit Möglichkeiten einer Hormontherapie und eventuell weiterer Schritte
eröffnen würden. Oder ob ihr Verhalten als Ergebnis einer Einredung durch die
Mutter* betrachtet werden müsse (vgl. z. B. Nowak 2012; Oestreich 2012a). „Alex‘“
Selbstverständnis reicht nicht aus. Eine Anerkennung durch normative Instanzen
erscheint als Voraussetzung dafür, ob „Alex“ ein Mädchen* sein darf: „Richter,
Ärzte und Jugendamt müssen klären, ob Alex zur Frau werden darf“ (Kullmann
2012, S. 135).
Die Situation erscheint übereinstimmend als ein Problem. Diskutiert wird, ob
dieses im Kopf des Kindes (Position Vater*) oder aber an dessen Körper (Position
Zwischen Selbstbestimmung und gesellschaftlichem Zwang 187

Mutter*/„Alex“) lokalisiert werden müsse (ebd.). Ob es sich um eine Körperlichkeit


handele, welche nicht zum Geschlecht des Kindes passe oder um eine „Störung“
im Kopf des Kindes, welche durch die Mutter* hervorgerufen sei (Kullmann 2012,
S. 135). Trans-Sein* als möglicher Ausdruck einer Vielfalt von Geschlechtsselbst-
verständnissen kommt in beiden Sichtweisen nicht in Betracht.

2.3 „Nicht die Trans* Person ist gestört, sondern die


Gesellschaft, in der sie lebt“ – Diskurse um „Normalität“
und „Pathologie“, Selbst- versus Fremdbestimmung

Die Frage, wer das Recht hat zu definieren, welches Geschlecht einer Person zukommt;
wie stark auf deren Selbstverständnis rekurriert wird und ob und wenn ja, wo diesem
Grenzen gesetzt werden, spielt eine zentrale Rolle bei den in den Zeitungsbeiträgen
(s. o.) beobachteten Diskursen um Geschlecht, Körper und Sexualität von „Alex“.
Gleichzeitig spielt die Frage mit hinein, wo das Selbstbestimmungsrecht des Kindes
beginnt und das Erziehungsrecht der Eltern endet. Welche körperlichen Eingriffe
sind möglich und nötig und wann kann von einem Eingriff in die körperliche
Unversehrtheit ausgegangen werden, wenn Behandlungen unterbleiben? (vgl. z. B.
Remus; Bager und Göttsche, i. d. B.).
„Alex‘“ Geschlecht wird nach Oestreich zu einer Art „Kampffeld“ (2012a) – ihre
Person wird in den Medien zu einem Symbol, „zu einem Wesen, das uns alle vor
die Frage stellt, was eigentlich normal sein soll“ (Beyerlein 2012). Während „Alex“
selbst am liebsten als normal akzeptiert werden würde, „ein Kind unter vielen sein
möchte“ (ebd.).
Im Fall „Alex“ erscheinen das Jugendamt, die jeweils zuständigen Gerichte sowie
die Berliner Charité als relevante Instanzen, die als Ermöglicher oder Verhinderer
von weiteren Entwicklungsschritten von „Alex“ fungier(t)en.
Die Frage, ob es sich bei Trans*-Sein um eine „Störung“, eine „Krankheit“, etwas
„Pathologisches“, „Behandlungsbedürftiges“ oder vielmehr um eine, neben anderen
gleichberechtigt stehende Form des Geschlechtsselbstverständnisses handelt, spitzt
sich in den Diskussionen zu: Ob und wenn ja, wo „Alex“ begutachtet werden soll?
Ob sie Hormone erhalten darf? Wenn ja zu welchem Zeitpunkt? Es geht darum,
wer die Definitionsmacht darüber erhält festzulegen, welches Geschlecht auf „Alex“
zutrifft bzw. „ob Alex zur Frau werden darf“ (Kullmann 2012, S. 135) oder in einem
gesellschaftlich männlich* konnotierten Körper verbleiben muss.
Die üblicherweise nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stehende Ebene des se-
xuellen Begehrens erlangt hier eine zentrale Bedeutung. Sie erhält die Funktion als
Unterscheidungskriterium zu fungieren: Zwischen „echten“ Trans*-Kindern und
188 Elaine Lauwaert

-Jugendlichen und jenen, welchen unterstellt wird, ihre homosexuelle Orientierung


zu unterdrücken. Deren Wunsch nach Zugehörigkeit zum „anderen“ Geschlecht
sei zu verstehen als Versuch, Geschlecht und sexuelles Begehren wieder in Über-
einstimmung mit der Norm der Heterosexualität zu bringen und könne sich nach
dem Durchlaufen der Pubertät wieder ändern (vgl. Oestreich 2012a).

2.4 Versuch einer Zusammenschau

Beim Blick auf die im Fall „Alex“ deutlich werdenden Diskurse lässt sich als Ober-
thema der Versuch von „Alex“ aufzeigen, selbst definieren zu können, welchem
Geschlecht sie angehört und wie sie leben möchte. Von Seiten der Journalist_innen,
der Familienmitglieder und der beteiligten Institutionen werden unterschiedlichste
Strategien der Relativierung, der Infragestellung, der Negierung von „Alex“ Position
vorgenommen, wie aufgezeigt werden konnte. Die Norm der Zweigeschlechtlich-
keit und die Forderung nach Übereinstimmung zwischen „sex“ und „gender“
erscheint für den Großteil der beteiligten Akteur_innen als unwidersprochenes
und unhinterfragbares Prinzip. Das Postulat, dass alle Menschen unverlierbar
(Konstanzannahme) und aus körperlichen Gründen (Naturhaftigkeit) entweder das
eine oder das andere Geschlecht sind (Dichotomizität) (Hirschauer 1996, S. 243),
konnte hingegen für den Kontext des Falls „Alex“ nicht aufrechterhalten werden.
An die Stelle der „Naturhaftigkeit“ (ebd.) treten Aushandlungsprozesse zwischen
individuellem Selbstverständnis und der Wahrnehmung durch Andere. Es werden
Wege aufgezeigt wie ein „Wechsel“ von dem einen gesellschaftlich anerkannten
Geschlecht zu dem anderen vollzogen werden kann. Es erfolgt damit eine „Rein-
tegration“ von potentiell heteronormativitäts-destabilisierenden Geschlechtsver-
hältnissen in das System der Zweigeschlechtlichkeit, allerdings um den Preis der
Aufgabe der Vorstellung einer von „Natur“ aus gegebenen Übereinstimmung von
„sex“ und „gender“. In den Zeitungsbeiträgen der „taz“ (vgl. Oestreich 2012 a–g;
koa 2012), der „Berliner Zeitung“ (Beyerlein 2012), des „Freitag“ (Nowak 2012a), der
„Jungle World“ (Sona 2012; Nowak 2012b), des „Neuen Deutschlands“ (Schubert
2012) und des CSD Magazins (Siebenbaum 2012) lassen sich klare Positionierun-
gen zu Gunsten des Blickwinkels von „Alex“ und ihrer Mutter erkennen und die
Berichterstattung über die Proteste gegen die geplante Einweisung von „Alex“
nehmen einen großen Raum ein. Dagegen wird im Beitrag des Spiegels (Kullmann
2012) der Versuch unternommen, den Fokus auf innerfamiliäre Dynamiken zu
lenken. Hier erscheint die Thematik Trans*-Sein als individuelles Schicksal eines
Kindes. Gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse, die Einfluss auf die
Zwischen Selbstbestimmung und gesellschaftlichem Zwang 189

Entwicklungschancen und Diskriminierungsrisiken von Trans*-Menschen ausüben


können, werden nicht thematisiert.

3 Möglichkeiten einer heteronormativitätskritischen


Medienberichterstattung und Pädagogik

Als Kennzeichen „moderner“ Gesellschaften lässt sich laut Degele et al. (2002),
neben einer „zunehmenden Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche
oder Teilsysteme auf gesamtgesellschaftlicher Ebene“ (ebd. S. 139), eine immer
stärkere Individualisierung der Gesellschaft beobachten. Diese ist mit größeren
Handlungsspielräumen und einer vermehrten Anzahl an Möglichkeiten verbun-
den (vgl., ebd.). Das Mehr an akzeptierten Möglichkeiten kann einerseits zu einer
Verschiebung des „Radius der Ausgrenzung und Normierung“ (ebd., S. 149) und
zu einer Integration ehemals widerständigen Potentials seitens des Staates führen.
Dies kann aber andererseits auch mit einer Schrumpfung des Handlungsspielraums
derjenigen, die nicht in die neuen „Normalitätsschemata“ hineinpassen einhergehen
(ebd.). Gesellschaftlich propagierte „Toleranz“ und Maßnahmen zum Abbau von
Diskriminierungen müssen unter einem solchen Blickwinkel als Praxen verstanden
werden, „die Abweichungen bis zu einem gewissen Ausmaß ‚managen‘ und unter
bestimmten Bedingungen integrieren“ (Mayrhofer 2012, S. 71; Hervorh. i. O.) sollen.
Dies berücksichtigend ist zu fragen, welche Strategien erfolgversprechend dafür
erscheinen, Räume zu schaffen, die es Trans*- Personen ermöglichen, in ihrem
Geschlechtsselbstverständnis anerkannt zu werden und als gleichberechtigter Teil
der Gesellschaft fungieren zu können – ohne in ein bipolar-zweigeschlechtliches
Gesellschaftssystem `zwangsintegriert´ zu werden. Sollte perspektivisch darauf
hingewirkt werden, Geschlecht zu dethematisieren oder zu neutralisieren (vgl. z. B.
Heinz und Nadai 1998) oder wäre nicht vielmehr der Versuch zu unternehmen,
Geschlecht bewusst anders zu gestalten, da eine „vollständig ungeschlechtliche Welt
aus einer gegenwärtigen Perspektive heraus in der Tat utopisch zu sein“ (Schirmer
2010, S. 411) scheint?
Dies berücksichtigend erscheinen mir folgende Aspekte als zentrale Kriterien
für eine heteronormativitätskritische Medienberichterstattung und/oder einen
trans* sensiblen Umgang im Kontext von Pädagogik (vgl. auch Abschnitt Bil-
dungsbausteine; i. d. B.):
190 Elaine Lauwaert

t Verwendung einer Sprache, die Geschlechtsausdrucksformen, welche sich nicht


innerhalb der Polarität weiblich* – männlich* bewegen, nicht ausschließt, son-
dern „sichtbar“ macht (z. B. die Verwendung des _)
t Verdeutlichung der sozialen Konstruiertheit von Geschlecht durch Anwendung
z. B. eines Appendix (*)
t Zu-Wort-kommen-lassen derjenigen Menschen über die berichtet bzw. erzählt
werden soll
t Anerkennung desjenigen was gesagt wird und Vermeidung von Versuchen zu
relativieren, abzuschwächen oder die eigene Sicht der Dinge in den Vordergrund
zu stellen
t Einbezug des Kontextes der jeweiligen Thematik; Fragen-Stellen nach den ge-
sellschaftlichen Machtverhältnissen, die hiermit verbunden sind und Versuch
des Aufzeigens von Alternativen
t Sensibilisierung für Ungleichheiten, Diskriminierungen und gesellschaftliche
Zuschreibungsprozesse
t Darstellung der Unterschiedlichkeit und Variabilität der Ausdrucksformen statt
Reproduktion von Klischees
t Kritische Selbstreflexion der eigenen Vorstellungen, Annahmen und Voraus-
setzungen

Eine solche Form der Berichterstattung und/oder des pädagogischen Umgangs


mit Trans*-Kindern und Jugendlichen kann mit zu einer diskriminierungsfreieren
Gesellschaft beitragen. Es geht darum, Möglichkeitsräume zu eröffnen, in denen
Trans*-Geschlechtsselbstverständnisse als selbstverständlich-gleichberechtigter
Ausdruck einer Vielzahl von Geschlechtsmöglichkeiten anerkannt werden. Oder
um „Alex“ selbst zu Wort kommen zu lassen, ein gesellschaftliches Klima zu errei-
chen, in dem all „die Leute, die mich nicht verstehen, endlich weg sein“ (Beyerlein
2012) werden.

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Jugendkultur im Binärsystem?
Perspektiven auf Gender und sexuelle Identitäten
in Online-Spielen
Maike Groen und Arne Schröder

Spielen ist elementarer Bestandteil in der Entwicklung von Kindern und Jugendli-
chen. Hier lernen Kinder kulturelle Verhaltensweisen, erproben Handlungsmög-
lichkeiten, entwickeln Lösungsstrategien, erarbeiten sich (gemeinsam) Regeln und
erkunden neue Perspektiven. So können sie Selbstwirksamkeit erfahren (vgl. Krotz
2008). Die Nutzung von Computerspielen hat in den letzten Jahren insbesondere bei
Jugendlichen weiter zugenommen (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund
Südwest 2012). Sie bieten jungen Menschen die Möglichkeit, voller Fantasie in eine
andere Welt einzutauchen, mit vielfältigen Reizen und Lernmöglichkeiten. Diese
Form des Spielens erfüllt damit auch eine Funktion in der Suche nach Ganzheits-
und Subjektivitätserfahrungen.
Daten und Rechenoperationen von Computerspielen basieren auf dem Binärsys-
tem, in dem alle Zustände als Mengen von Nullen und Einsen beschreibbar sind.
Betrachten wir die Darstellungsformen und Handlungen von populären Computer-
spielen, so kann der Eindruck entstehen, das Prinzip der binären Unterscheidung
wäre gewissermaßen zum allgemeinen Prinzip der Kategorienbildung erhoben
worden. Denn viele Spiele reproduzieren die bekannten binären Oppositionen
von Geschlechtlichkeit und von Begehrensformen. Kategorien wie männlich und
weiblich erscheinen dann als Zustände, die weder Zwischenschritte noch ein Über-
schreiten der ihnen zugeordneten Eigenschaften und Handlungsweisen kennen.
Doch ebenso wie auf der Grundlage des binären Systems in der Datenverarbeitung
komplexe Systeme umgesetzt werden, fi nden sich auch im Korpus der Computer-
spiele facettenreiche Möglichkeitsräume, die die engen Grenzen der dichotomen
Zuschreibung zu durchbrechen vermögen.
Online-Spiele erfordern neben regelbezogenen Spielhandlungen die soziale
Interaktion mit anderen Spielenden. Die hieraus entstehende Funktion der Spiel-
umgebung als sozialer Raum bleibt in der medienpädagogischen Thematisierung
von Spielen häufig unberücksichtigt, obwohl für die Spielenden Interaktions- und

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_16, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
194 Maike Groen und Arne Schröder

Kommunikationsmöglichkeiten von zentraler Bedeutung sind (vgl. Schiano et


al. 2011). Anhand der Communities populärer Multiplayer-Spiele wie World of
Warcraft oder Starcraft 2 lässt sich zeigen, in welcher Weise vergeschlechtlichte
Zuschreibungen und Selbstverortungen wirksam werden, und welchen Umgang
Spielende damit entwickeln. In der Rahmung der Spielumgebung werden spezifische
Chancen und Problemfelder für ein Spiel mit Identitäten eröffnet.

Computerspiele, Sozialisation und Identität

Nahezu alle Jugendlichen haben die Möglichkeit, sich unabhängig von Erziehungs-
berechtigten im Internet zu bewegen. Für diese Generation finden Informations-
annäherung und Entwicklung kaum noch unabhängig von Online-Medien statt.
82 % der Jugendlichen besitzen einen eigenen Computer oder Laptop (vgl. MPFS
2012, S. 30f.). Spielen gehört dabei zu den Hauptbeschäftigungen von Jugendlichen
am Computer (ebd., S. 14). Es prägt die jugendliche Lebenswelt aber auch außer-
halb der eigentlichen Spielzeit, durch Austausch in Foren über die Spielwelt oder
als Gesprächsthema mit Freund_innen. Neben zahlreichen Foren und Fan-Seiten
gibt es Spiele-Portale, die eine dezidierte Verbindung von sozialen Netzwerken
und Computerspielen sind. So zählt die Electronic Sports League (ESL), Europas
größte Liga für professionelles Computerspielen, beispielsweise über eine Million
registrierte deutsche Spieler_innen. Die Website versteht sich selbst als „Social
Gaming Network“ und stellt den kommunikativen Aspekt von Online-Spielen
besonders in den Vordergrund (vgl. Mazari und Flierl 2009, S. 71). Hierbei ist be-
achtenswert, dass in Studien mit den dort engagierten Jugendlichen ein niedrigeres
Suchtrisiko festgestellt wurde, als bei Vielspielenden vermutet wurde. Die erhöhte
Medienkompetenz sowie die Anforderung der sozialen Interaktion wirken diesem
anscheinend entgegen (vgl. Adamus 2009).
Die Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb von Online-Spie-
len ermöglichen es, zu einer jugendkulturellen Gruppe dazuzugehören, sowie
Anerkennung durch andere zu erfahren. In Spielen wie World of Warcraft können
Spieler_innen mediale und reale Räume als gleichberechtigte Teile ihrer Umwelt
wahrnehmen und erhalten dadurch einen spielerischen Zugang zu Lebensmodellen
und Teilidentitäten (Schorb 2009, S. 91). Waldemar Vogelgesang (2005) sieht in den
genannten Möglichkeiten ein Potential dafür, dass „Rollen und Identitäten, und
zwar ganz gleich ob nationale, geschlechtsspezifische oder personale, durch das
Spiel reflexiver und – vielleicht – veränderbarer“ (ebd., o. S.) werden.
Jugendkultur im Binärsystem? 195

Dabei bleiben die Zugangsbedingungen zu Computerspielen und Online-Me-


dien strukturell begrenzt. Jugendliche eignen sich Medienangebote, und insofern
auch Online-Spiele, vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen subjektiven Kontexte
wie beispielsweise Geschlecht, sozio-ökononomischem Hintergrund, Bildungsgrad
und Alter an (vgl. Keilhauer 2011; Witzel 2012). Doch auf welche Weise werden
vergeschlechtlichte und sexuelle Identitäten in Spielen wirkmächtig?

Binäre Kategorien in Spielinhalten

Bereits ein kurzer Blick auf die Geschichte der Video- und Computerspielforschung
zeigt, dass Handlungsstrukturen und Charaktere in den Spielen überwiegend ste-
reotypen Bildern folgen. In zahlreichen Veröffentlichungen wird die sexualisierte
Darstellung insbesondere weiblicher Spielcharaktere problematisiert. Tracy L. Dietz
(1998) schreibt in ihrer Studie zu Konsolenspielen, dass es nur eine geringe Anzahl
von Spielen mit weiblichen Charakteren gibt. Dabei werden oftmals stereotype
Vorstellungen von Weiblichkeit durch die Art der Einbettung in die Handlung
und die visuelle Darstellung reproduziert. Eine häufige Rolle der weiblichen Cha-
raktere ist die Position des „Damsel in Distress“ (ebd., S. 434): Sie werden durch
den Antagonisten der Handlung bedroht und geraten in eine Situation, aus der sie
nur durch die Aktionen der Hauptfigur des Spiels wieder befreit werden können.
Klassische Beispiele für diese einfache Konfiguration sind Videospiele wie Donkey
Kong und Super Mario.
In der Darstellung sind weibliche Charaktere häufig sexualisiert. Sie fallen
durch knappe und dysfunktionale Kleidung sowie eine starke Akzentuierung
sekundärer Geschlechtsmerkmale auf. Sara M. Grimes (2003) beobachtete in ihrer
Untersuchung von Spielen mit weiblichen Hauptfiguren einen Zusammenhang
zwischen visueller Darstellung und Rollenzuschreibung: „The more sexualized
the character is visually (…), the more her character adheres to and is submitted
to stereotypical notions about gender roles and ideals“ (ebd., o. S.). Ein großer
Teil der Computer- und Konsolenspiele scheint an eine männlich-heterosexuelle
Zielgruppe gerichtet zu sein.
Ein genderinklusives Spieldesign wird nun nicht dadurch erreicht, dass für
andere Spiele explizit Spielerinnen adressiert und diese zugleich durch die Schaf-
fung einer Spielrichtung von „girl games“ auf bestimmte Spielformen festlegt
werden. Denn durch die Orientierung an einem Status Quo geschlechtsspezifischer
Spielpräferenzen werden die entstandenen Nischen weiblich besetzter Spielräu-
me festgeschrieben (vgl. Deuber-Mankowsky 2007). Beispielsweise herrscht die
196 Maike Groen und Arne Schröder

Annahme vor, Spielerinnen würden kooperative Spielformen den kompetitiven


Formen prinzipiell vorziehen (siehe dazu auch Jenson und de Castell 2007). Ein
höherer Anteil von Spielerinnen bei nicht-kompetitiven Spielen wie The Sims oder
auch im Casual Games1 Markt lässt aber keine Rückschlüsse auf die Existenz von
immanent weiblichen Spielpräferenzen zu. Soziokulturelle Bedingungen beein-
flussen maßgeblich die Zugangsmöglichkeiten von Mädchen zu Computerspielen
und damit die Wahl bestimmter Spielformen (vgl. Carr 2005; Krause 2010). Auch
Schließungsmechanismen in Gaming-Szenen erschweren Zugangsmöglichkeiten
und Sichtbarkeit von Spielerinnen (vgl. Bryce und Rutter 2002, S. 249). Spielvorlieben
und Motivationen sind damit nicht statisch, sondern unterliegen Veränderungen.
Vielversprechend im Sinne einer offenen und inklusiven Spielkultur sind
eher solche Spiele, die auf der Ebene der Spielhandlung wie auch im Regelsystem
Freiheitsgrade anbieten, durch die die Spielenden nicht in die gewohnten Pfade
gezwungen werden. Als Beispiel für Spiele, die dies auf der Regelebene realisieren,
sei hier die populäre The Sims Reihe genannt (siehe dazu Albrechtslund 2007).
Hinsichtlich der Handlungsebene möchten wir hier auf die Single-Player-Rollen-
spiele der Dragon Age- und Mass Effect-Reihen verweisen. Diese erlauben es den
Spielenden, im Verlauf der Handlung Beziehungen mit anderen Spielcharakteren
einzugehen, die nicht auf heterosexuelle Begehrensformen beschränkt sind. Den
genannten, bezüglich der angebotenen Identitätsentwürfe positiven Ausnahmen
steht die nach wie vor überwältigende Zahl von Spielen gegenüber, in denen
nicht-normative Begehrensformen und Geschlechterperformances nicht sichtbar
sind (vgl. Shaw 2009).
Auf der Repräsentationsebene zeigen Spielinhalte insgesamt also noch immer
eine geringe Bandbreite der Artikulationsformen von Geschlecht und sexueller
Orientierung. Für eine adäquate Behandlung von Computer- und Videospielen als
Medienform ist es allerdings unerlässlich, neben der Ebene der Darstellung auch die
Ebene der spielerischen Interaktion und die damit verbundene Kultur zu betrachten.

Spielumgebungen als soziale Räume

Die virtuellen Welten von Online-Spielen sind Orte der Begegnung. Diese soziale
Komponente hat für die meisten Spielenden einen höheren Stellenwert als Spielin-
halte, Narration und Ästhetik (vgl. Keilhauer 2011).

1 Als Casual Games werden Spiele bezeichnet, denen ein einfaches und schnell erlernbares
Spielprinzip zugrunde liegt, so dass sie in Bezug auf Spielzugang und –dauer weniger
voraussetzungsvoll sind.
Jugendkultur im Binärsystem? 197

Die verbreitete Vorstellung der einsamen Nerds geht damit an der Lebensrealität
der Spieler_innen vorbei. Die im Zusammenhang mit dem Spiel geknüpften Kon-
takte erweitern das Beziehungsgeflecht der Spielenden in der Regel (vgl. Schiano
et al. 2011) und sind nicht abgespalten von sozialen Beziehungen außerhalb der
Spielwelten. Dazu gehört auch, dass die Grenze zwischen Online- und Offline-Welt
häufig überschritten wird, beispielsweise durch Gildentreffen2 oder persönliche
Verabredungen, oder dadurch, dass gemeinsam mit Schulfreund_innen gespielt
wird. Jugendliche verknüpfen ihre Welten offensichtlich (vgl. Vogelgesang 2005),
und fliehen nicht, wie oftmals unterstellt wird, von einer in die andere.
Diese Ebene der sozialen Interaktion wird im Folgenden anhand von zwei
verbreiteten Online-Spielen veranschaulicht.

Begegnungen mit dem Avatar: World of Warcraft

Das im Jahr 2004 erschienene World of Warcraft (Blizzard Entertainment 2004)


gehört zur Gruppe der Massively Multiplayer Online Role-Playing Games (MMOR-
PGs). Mit zwischenzeitlich 11 Millionen Nutzenden gilt es als erfolgreichstes Spiel
in diesem Bereich. World of Warcraft ist in einer Fantasywelt angesetzt. Spielende
betreten die Onlinewelt über einen Spielcharakter. Der Charaktername und in
gewissem Rahmen auch das Aussehen sind von den Spielenden konfigurierbar.
Spielhandlungen beinhalten das Erforschen der Spielwelt und den Aufstieg des
Charakters, wodurch der Charakter zusätzliche Fähigkeiten erlernen und seine
Kampfkraft erhöhen kann. Besonders in den fortgeschrittenen Spielphasen sind
Kommunikation und Kooperation mit anderen Spielenden nötig, weil bestimmte
Spielabschnitte nur gemeinsam mit anderen Spielenden zu erreichen sind. Es
hat sich eine große Gemeinschaft von Spielenden herausgebildet, die sich nach
spielerischen Zielen, Interessen oder anderen Kriterien in so genannten Gilden
zusammenschließen. Die Zusammensetzung der Nutzendengemeinschaft von
World of Warcraft spiegelt ein breites Spektrum hinsichtlich Alter, Geschlecht,
sozialer Stellung und weiterer Kategorien wider (vgl. Yee 2008).
Die Möglichkeiten der Charaktererstellung und die über den Avatar3 vermittelte
Begegnung erlauben prinzipiell einen spielerischen Zugang zur Inszenierung der

2 Bei vielen Online-Spielen ist es üblich, im Spiel Gruppen zu bilden, in denen gemeinsam
gespielt wird. Einige dieser Clans oder Gilden veranstalten auch persönliche Treffen
außerhalb des Spiels.
3 Avatare sind stellvertretende Verkörperungen (vgl. Klevjer 2006) in der virtuellen Welt,
über die Spielende mit Objekten und Charakteren innerhalb eines Spiels interagieren.
198 Maike Groen und Arne Schröder

eigenen Person. Avatarbasierte Online-Welten beinhalten eine Form der sozialen


Interaktion, bei der die Beteiligten zum Zeitpunkt der Begegnung mit anderen
zunächst nur Informationen über deren Spielcharakter erhalten, und nicht über
die damit verbundene Offline-Person. Damit wäre es denkbar, dass normative Vor-
stellungen über Identität hier weniger wirkmächtig sind. Tatsächlich reproduzieren
Spielende aber vielfach die hegemonialen Zuschreibungen und Annahmen, die sie
von außerhalb der Spielwelt kennen. Dies kann so weit gehen, dass Identitätszu-
schreibungen in der virtuellen Welt in stärkerem Maße hergestellt werden, als sie
außerhalb der Spiels existieren (vgl. Yee et al. 2011). Was hinsichtlich der Sichtbarkeit
und Artikulation von sexueller und geschlechtlicher Identität akzeptiert und erwartet
wird, unterliegt gleichwohl ständigen Aushandlungsprozessen in Foren und spie-
linterner Kommunikation. Darin finden sich je nach beteiligter Nutzendengruppe
verschiedene Positionierungen von ausgeprägten Rechtfertigungsnarrativen für
diskriminierende Praxen (vgl. Salter und Blodgett 2012) bis hin zu Plädoyers für
ein Vermeiden der sozialen Zuschreibungen. Die Nutzungsbedingungen des Spiels
verbieten diskriminierende Äußerungen in öffentlichen Kommunikationskanälen.
Verstöße können über einen Mechanismus in der Spielsoftware gemeldet werden.
Dennoch sind derartige Äußerungen in den Chatkanälen durchaus häufig anzu-
treffen, etwa auch in Form von negativen Vorurteilen über die Spielkompetenzen
von Mädchen und Frauen.
Während Spielinhalte und die dominante Haltung in den Gaming-Communi-
ties eine Sichtbarkeit nicht-normativer Positionen erschweren, gibt es gleichzeitig
engagierte und aktive Gegenbewegungen seitens verschiedener Gruppen von
Spielenden (vgl. Pulos 2013), die durch ihre Aktivitäten auch die Entwicklung
und Gestaltung der Spiele beeinflussen können. Sie tragen damit einen Teil dazu
bei, dass Spielwelten die Diversität der Spielenden etwas besser repräsentieren.
In dem Zusammenhang sind Frauen- oder Queergilden zu nennen, die sich für
eine offene und vielfältige Spielkultur einsetzen. In einer Gamer-Kultur, in der
diskriminierende Äußerungen nach wie vor an der Tagesordnung sind, bilden die
Gilden Räume heraus, in denen andere Bedingungen hergestellt werden können.
Dazu können auch eigene Kommunikationsregeln gehören, nach denen sexistische
oder homophobe Kommentare sanktioniert werden.
Jugendkultur im Binärsystem? 199

„Good luck and have fun“: StarCraft 2

StarCraft 2 – Wings of Liberty (Blizzard Entertainment 2010) ist ein futuristisches


Echtzeit-Strategiespiel. Echtzeit-Strategie beschreibt ein Computerspielgenre,
in dem alle Spielenden und computergesteuerten Fraktionen ihre Handlungen
gleichzeitig ausführen. Zentrale Spielhandlung ist das kompetitive Taktieren mit
wirtschaftlichen und militärischen Mitteln. Im Rahmen einer Spielsitzung wird eine
Basis aufgebaut, in der Rohstoffe gesammelt, mit derer Hilfe weitere Gebäude oder
militärische Einheiten gebaut werden können. Die Prozesse des Wirtschaftsaufbaus
laufen dabei parallel zu den Kampfhandlungen. Das Spiel selbst wird meist von
zwei Spielenden gegeneinander gespielt, es sind aber auch Team- oder Einzelspiele
möglich. Ziel ist der militärische Sieg über den_die Gegner_in.
Für das Spiel sind Strategien ebenso entscheidend wie Reaktionsgeschwindig-
keit. Deshalb werden in der StarCraft-Community laufend neue Vorgehensweisen
entwickelt. Eine weitere Besonderheit von StarCraft ist, dass es im großen Stil im
Rahmen von E-Sport-Veranstaltungen gespielt wird. Bei diesen Wettbewerben ver-
folgt ein weltweites Millionenpublikum Turniere, die mit hohen Gewinnsummen
zwischen internationalen Teams ausgetragen werden.
T. L. Taylor (2012) beschreibt in ihrer Untersuchung dieser sich professionalisie-
renden Szene von Computerspielenden, wie sich zunehmend respektvolle Normen
und Konventionen für den Umgang miteinander herausbilden.4 Vergemeinschaf-
tungsprozesse, welche die Community prägen, zeigen sich auch an sogenannten
BarCrafts, Public Viewing-Events von StarCraft-Turnieren.
Insofern bietet StarCraft einen relativ niedrigschwelligen Eintritt in die Szene an.
Dennoch dominieren auch hier hegemoniale Männlichkeitsentwürfe und erschweren
den Zugang für alle nicht diesem Bild Entsprechenden. Sexismus manifestiert sich
beispielsweise anhand von misogynen Äußerungen oder übergriffigem Verhalten
bei Turnieren. Auf den Großveranstaltungen der StarCraft-Szene treten Frauen
hauptsächlich als Hostessen „in the service of (…) masculinised technoculture“
(Taylor 2009, S. 249; Hervorh. i. O.) auf. Und auch die Inszenierung der Top-Spieler
folgt bewährten Bildern einer „traditional athletic masculinity“ (Taylor 2012, S. 116).
Dennoch haben sich innerhalb der professionellen Szenen einige Frauen durch-
gesetzt, die mit den sexistischen Strukturen besonders konfrontiert sind: „Their
dedication, knowledge of the domain and overall ‚gamerness‘ gets pushed in ways
men in their position might not face“ (Ebd., S. 123). Dies äußert sich z. B. in der
Diskreditierung ihrer spielerischen Leistungen, indem stattdessen über ihr Aussehen

4 Beispielhaft sei hier das nahezu obligatorische „gl hf“ („good luck, have fun“) am Anfang
eines Spiels genannt.
200 Maike Groen und Arne Schröder

debattiert wird. Hier ist zu beobachten, wie die vom Mainstram abgewertete, klas-
sische „geek masculinity“ (vgl., ebd., S. 111ff.) sich selbst durch eine Herabsetzung
von Homosexualität und allem Weiblichen erhöht.
Ähnliche Erfahrungen machen auch andere Spielerinnen, sobald sie als Frauen
wahrgenommen werden. Taylor beschreibt als einen der zentralen Coping-Mecha-
nismen von Frauen, das eigene Geschlecht zu verbergen. Andere passen sich an das
in der Spielumwelt vorherrschende hegemoniale Männlichkeitsbild übertrieben
an, indem sie entweder den Klischees entsprechen oder männlich konnotierte Ver-
haltensweisen übernehmen und ebenfalls andere diskriminieren (vgl., ebd. 121f.).
Um dem etwas entgegen zu setzen, haben sich die „Girls of StarCraft“ zusam-
mengeschlossen, ein offener Verbund von StarCraft-interessierten Frauen_Trans,
der unter Anderem für Frauen und Trans* StarCraft-Turniere organisiert. Die
Mitglieder intervenieren außerdem – oft erfolgreich – bei besonders offensivem
Sexismus in der Szene.
Einige der erfolgreichsten und berühmtesten StarCraft-Spielerinnen sind Trans-
frauen. Diese erleben Unterstützung von Turnierveranstaltern und Plattformen,
die diskriminierende Äußerungen sanktionieren. In der StarCraft-Community
gibt es von regelmäßigen transphoben Beleidigungen und Zwangs-Outings bis
zu breiten solidarischen Fangemeinden unterschiedliche Reaktionen. Jedoch ist
bereits die bloße Präsenz von offen transidentitären Spieler_innen bemerkenswert.
StarCraft bietet durch die Zusammensetzung der Profi-Ligen eine begrenzte
Sichtbarkeit nicht-hegemonialer Formen von Männlichkeit und Weiblichkeit im
Rahmen der Spielumgebung. Dabei werden konstant Normen etabliert, die auf
Rücksichtnahme und Toleranz hinwirken sollen.

Fazit

Die Relevanz von Computerspielen in der Lebenswelt von Jugendlichen ist evident.
Für die pädagogische Praxis ist das Kennen und Verstehen der Zusammenhänge,
die im Alltag so vieler Jugendlicher eine hohe Bedeutung einnehmen, eine Be-
reicherung. Dazu ist es erforderlich, sich mit den spezifischen Bedingungen des
Gegenstands der Computerspiele vertraut zu machen.
In den vorangegangenen Abschnitten wurde gezeigt, dass Online-Spiele mehr
sind, als durch die Spielinhalte erkennbar ist. Die Spielwelt als ästhetische und
narrative Rahmung der Spielhandlungen ist ein Referenzsystem, in das soziale
Konstruktionen eingeschrieben sind. Hierdurch entstehen Ausschlüsse auf der
Ebene der Inhalte und Darstellungsweisen. Spielen ist aber eine Praxis, die über
Jugendkultur im Binärsystem? 201

die Rezeption von Inhalten weit hinausgeht. Die Regeln und Konventionen, nach
denen innerhalb der Spiele Handlungen ausgeführt werden können, müssen in
einer Betrachtung von Spielenden berücksichtigt werden. Das Spezifische des
Online-Spiels ist die Verbindung von regelbasierten Spielhandlungen mit sozialer
Interaktion. Sie funktionieren als soziale Räume und bieten Kommunikationswege
wie persönliche Nachrichten, Chat oder Sprachverbindungen an.
In Gaming-Communities sind sexistische und homophobe Äußerungen viel-
fach anzutreffen. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass nicht-normative
Identitäten in diesen Communities nicht vorhanden sind. Wenn beispielsweise
Spielerinnen oder schwule Spieler diese Räume betreten, erleben sie eine Kommu-
nikationskultur, in der diskriminierende Sprachpraxen akzeptiert und dominant
sind – eine Konsequenz dessen ist, dass einige sich bemühen, die eigene Verortung
hinauszuzögern oder ein Passing als männlich oder heterosexuell zu erreichen. Sie
erleben aber auch Kommunikationssituationen, in denen Identitätszuordnungen
nicht aufgrund von visuellen Markierungen des eigenen Körpers stattfinden. Über
getrennte Chatkanäle und das System der Gilden bzw. Clans können die Spielenden
sich ein Umfeld suchen oder herstellen, in dem sie sich frei bewegen können. Trotz
einer hegemonialen Kommunikationskultur etablieren sich so innerhalb der Spiele
Räume, in denen Umgangsformen nach eigenen Regeln definiert und erprobt werden
können. Durch das Engagement vieler Spieler_innen gelingt es, inklusive Ansätze
auch in offiziellen Spielzusammenhängen auf die Agenda zu setzen.
Noch haben Spiele, die die Sichtbarkeit nicht-normativer Identitäten erhöhen und
Ausschlüsse vermeiden, Seltenheitswert. Die aktiven Communities in Online-Spielen
tragen aber einen großen Teil dazu bei, Facettenreichtum und Vielschichtigkeit
der Spieler_innengemeinschaft aufzuzeigen. Online-Welten und -Communities
sind Räume der Auseinandersetzung, in denen Sichtbarkeit und Anerkennung der
Vielfalt erkämpft werden. Pädagogik, die jugendliche Spielende in ihrer Lebenswelt
ernst nehmen will, muss diese spezifischen Bedingungen reflektieren.

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III.2
Lebensphasen und -kontexte
Pädagogische Praxis
Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt als
Themen der Kinder- und Jugendhilfe1
Thomas Kugler und Stephanie Nordt

Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der Kinder- und Jugendhilfe

1 LGBT-Jugendliche als vulnerable Gruppen

LGBT-Jugendliche gelten in der Sozialwissenschaft und in gesellschaftspolitischen


Diskursen als vulnerable Gruppen, denn sie unterliegen einer erhöhten psycho-
sozialen Belastung durch ihre Umwelt. Die Forschung beschäft igt sich erst seit
den 1980er Jahren mit den Lebenslagen von lesbischen, schwulen und bisexuellen
Jugendlichen – mit Trans*2Jugendlichen erst seit etwa Anfang dieses Jahrtau-
sends – so dass es nur verhältnismäßig wenig Daten zu diesen Gruppen gibt. Die
vorliegenden Forschungsergebnisse beziehen sich zum größten Teil auf schwule
bzw. auf lesbische und schwule Jugendliche, teilweise wird auch auf bisexuelle und
Trans*Jugendliche eingegangen. Die Lebenslagen von Trans*Jugendlichen sind
wissenschaft lich noch am wenigsten erforscht. Es kann jedoch davon ausgegangen
werden, dass sie aufgrund heteronormativer Sozialisationsbedingungen in vielen
Punkten mit denen von lesbischen und schwulen Jugendlichen vergleichbar sind.
Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass der lesbisch-schwule Anteil
der Gesamtbevölkerung bei ca. 5-10 % liegt. Kinder und Jugendliche nehmen ihre
gleichgeschlechtlichen Gefühle oft schon in jungen Jahren wahr und auch Trans*-
Kinder und Jugendliche beschäftigen sich schon früh mit Identitätsfragen.3Lesbische

1 Passagen aus Teil 1 und 2 dieses Artikels wurden bereits veröffentlicht in: SFBB und
Bildungsinitiative QUEERFORMAT (2012) und für diese Ausgabe aktualisiert.
2 Der von uns gewählte Begriff Trans* schließt alle Menschen ein, die eine andere ge-
schlechtliche Identität besitzen und ausleben oder darstellen als jene, die ihnen bei der
Geburt zugeordnet wurde.
3 Eine Studie aus Australien (3134 befragte queere Jugendliche) belegt, dass 85 % der
befragten Jugendlichen sich bis zum Alter von 15 Jahren ihrer sexuellen Gefühle bereits
bewusst waren. 60 % wussten schon bis zum Alter von 13 Jahren um ihre sexuellen
Gefühle, 26 % sogar bis zum Alter von 10 Jahren. 10 % der Befragten gaben an, schon

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_17, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
208 Thomas Kugler und Stephanie Nordt

Mädchen, schwule Jungen und Trans*Jugendliche bleiben jedoch weitestgehend


unsichtbar, denn aus Angst vor Ablehnung und Ausgrenzung geben sie sich nicht
ohne weiteres zu erkennen.
Alle Jugendlichen, also auch LGBT-Jugendliche, durchlaufen eine heteronormativ
geprägte Sozialisation, in der sie von früh auf lernen, dass die Welt in ausschließlich
zwei Geschlechter unterteilt ist, denen jeweils unterschiedliche gesellschaftliche
Rollen zukommen. Ebenso lernen sie von klein auf, welche Lebensform gut und
erwünscht ist und wie sie einmal lieben und leben sollen. Die Erwartungen der
verschiedenen Erziehungsinstanzen – Familie, Kindergarten, Schule und Freizeitein-
richtungen – sind allgegenwärtig im Hinblick auf eine eindeutige Geschlechterrolle
und ein heterosexuelles Begehren – von Kinderspielen und Filmen bis zur Gestaltung
der Schulbücher. Kinder und Jugendliche, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität,
ihres geschlechtsvarianten Verhaltens oder ihrer gleichgeschlechtlichen Gefühle
den heteronormativen Erwartungen ihrer Umgebung nicht entsprechen, werden
schnell in ihre Schranken verwiesen.
Ein länderübergreifender Forschungsbericht4 unterstreicht, dass Familie und
Schule die Bereiche mit den größten Anpassungsschwierigkeiten für LGBT-Ju-
gendliche bilden. Mehr als die Hälfte der Befragten LGBT-Jugendlichen berichtete
von Vorurteilen und Diskriminierungen in der Familie, zwei Drittel von negativen
Erfahrungen an Schulen. Auch eine Berliner Studie5 von 1999 stellte fest, dass min-
destens ein Elternteil negativ auf das gleichgeschlechtliche Begehren ihrer Tochter
oder ihres Sohnes reagiert.
In der Schule erleben lesbische und schwule Jugendliche homophobes Mobbing
durch Mitschüler_innen, mangelnde Unterstützung durch Lehrkräfte und sogar
Diskriminierung durch Schulpersonal: Laut einer Berliner Studie verwenden 62 %
der Sechstklässler_innen schwul oder Schwuchtel als Schimpfwort, 49 % lästern über
Personen, die für schwul oder lesbisch gehalten wurden. 36 % der Lehrkräfte machen
sich lustig über geschlechtsuntypisches Verhalten von Jungen bzw. Mädchen und
25 % der Lehrkräfte lachen mit, wenn Witze über Lesben und Schwule gemacht
werden.6 Noch häufiger sind die Diskriminierungserfahrungen von Trans*Jugend-
lichen. Eine britische Studie ermittelte bei 872 befragten Trans*Personen, dass 64 %
der Transmänner und 44 % der Transfrauen in der Schule diskriminiert wurden,

immer gewusst zu haben, zu wem sie sich sexuell hingezogen fühlen. 20 % der befragten
Jugendlichen, die sich selbst als „gender questioning“ bezeichneten, gaben an, es schon
immer gewusst zu haben. (L. Hillier e. a., Australian Research Centre in Sex, Health
and Society, La Trobe University, Writing Themselves In 3., 2010).
4 Takacs 2006
5 Schupp 1999
6 Klocke 2012
Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der Kinder- und Jugendhilfe 209

und dies nicht nur von ihren Mitschüler_innen sondern auch vom Schulpersonal
einschließlich der Lehrkräfte.7
Die Konfrontation mit Homo- und Transphobie bleibt für LGBT-Jugendliche nicht
ohne Folgen. Die Diskrepanz zwischen den eigenen Gefühlen und Wünschen und
den verinnerlichten Moralvorstellungen und der Ablehnung durch die Außenwelt
führt bei vielen zu psychosozialen Belastungen. Das häufigste in Studien genannte
Problem ist Einsamkeit. LGBT-Jugendliche weisen im Vergleich zu heterosexuellen
Jugendlichen zudem überproportional häufig Lernprobleme, Konzentrationsstö-
rungen, Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie psychosomatische Probleme wie
Ess- und Schlafstörungen, Angst und Schuldgefühle, mangelnde Selbstakzeptanz,
Vermeiden sozialer Situationen, Depressionen und Suizidversuche auf.8
Der wohl alarmierendste Befund aller Studien ist das erhöhte Suizidrisiko von
LGBT-Jugendlichen: 44,9 % der von Biechele et al. befragten schwulen Jugendlichen
hatten bereits einen Suizid in Erwägung gezogen, 19,2 % hatten ernsthaft daran
gedacht, sich umzubringen; 8,7 % der Befragten hatten sogar schon einen oder
mehrere Suizidversuche hinter sich. Das Suizidrisiko der jungen Lesben, Schwulen
und Bisexuellen, die 1999 in der Berliner Studie9 befragt wurden, war viermal höher
als das ihrer heterosexuellen Peers. Eine Studie aus Österreich10 von 2006 ermittelte
sogar eine sechsfach erhöhte Suizidversuchsrate bei schwulen Jungen. Eine Befra-
gung von 90 Trans*Personen zwischen 16 und 26 Jahren in Frankreich11 ergab, dass
69 % der Befragten schon über Suizid in Zusammenhang mit ihrer Transidentität
nachgedacht hatten. 34 % hatten bereits einen oder mehrere Suizidversuche hinter
sich. Die meisten taten dies im Alter von 12 bis 17 Jahren.
Ein US-amerikanischer Report diagnostiziert Jugendobdachlosigkeit als ein
Problem, von dem LGBT-Jugendliche überproportional häufig betroffen sind.
Etwa 35 % der ca. 12.000 obdachlosen Jugendlichen im US-Bundesstaat Illinois
identifizieren sich selbst als lesbisch, schwul, bisexuell oder Transgender. Diese
Jugendlichen finden oft nur schwer Zugang zu Obdachloseneinrichtungen, da
die Anbieter diesen Zielgruppen in der Regel ignorant, ängstlich und unwissend
begegnen12. Auch eine Reihe weiterer Studien aus Großbritannien weist darauf hin,

7 Whittle et al. 2007


8 Z. B. Faistauer und Plöderl 2006; Takacs 2006; Biechele et al. 2001; Schupp 1999; Kersten
und Sandfort 1994
9 Schupp 1999
10 Faistauer und Plöderl 2006
11 Homosexualités & Socialisme [HES] and the Movement of Affirmation for young Gays,
Lesbians, Bi and Trans (MAG-LGBT Youth) 2009
12 National Gay and Lesbian Task Force Policy Institute/ National Coalition for the Ho-
meless 2006
210 Thomas Kugler und Stephanie Nordt

dass LGBT-Jugendliche einem erhöhten Risiko unterliegen, im Zusammenhang


mit familiären Konflikten obdachlos zu werden13.
Selbstverständlich erleben LGBT-Jugendliche nicht nur Schwierigkeiten und
psychosoziale Probleme. Zu ihrem Leben gehören auch positive Erfahrungen und
Erlebnisse, wie Verliebtsein, gute und enge Freundschaften, vertrauensvolle und
intensive Gespräche, Begegnungen mit für ihr Leben wichtigen Menschen, das
befreiende Erlebnis, ja zu sich zu sagen und die Person zu werden, die in ihnen
steckt. Doch bisher erleben sie all diese Dinge noch in zu geringem Maße, zu selten
und zu spät, weil sexistische, transphobe und homophobe Diskriminierungen ihre
Entwicklungsmöglichkeiten einschränken. Auf dem langen und schwierigen Weg
vom inneren zum äußeren Coming-out (Going Public) brauchen LGBT-Jugendliche
Informationen, Unterstützung und Rückendeckung. Letztendlich hängt ihr Glück
wie bei allen anderen Menschen davon ab, ob sie geliebt und akzeptiert werden.
Dazu brauchen sie Unterstützung und die notwendigen Räume für Selbstfindung
und Entfaltung ihrer eigenen Persönlichkeit. Pädagog_innen sind besonders gefragt,
LGBT-Jugendlichen Mut zu machen, sie zu stärken und in ihrer Entwicklung zu
begleiten, damit sie in Zukunft verstärkt Erfahrungen von sozialem Einschluss
machen können.
Die besorgniserregende Situation junger LGBT markiert einen dringenden
Handlungsbedarf für die Bildungseinrichtungen als zentrale Sozialisations- und
Erziehungsinstanzen zur Vermittlung von demokratischen Werten und Normen.
Denn Kinder und Jugendliche, die sich transgeschlechtlich oder gleichgeschlecht-
lich identifizieren bzw. identifiziert werden, befinden sich in jeder Kindergarten-
gruppe und Schulklasse, werden jedoch üblicherweise nicht wahrgenommen. Die
angeführten Studienergebnisse zeigen, unter welchen erschwerten Bedingungen
LGBT-Jugendliche aufwachsen, und verdeutlichen, dass eine frühe Aufklärung
über geschlechtliche und sexuelle Vielfalt notwendig ist, um gleichberechtigte
Entwicklungsbedingungen für alle Kinder und Jugendlichen zu schaffen.

2 Normativer Anspruch und pädagogische Praxis

Der normative Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe bietet mittlerweile zahlreiche
Möglichkeiten, das Thema sexuelle Vielfalt in die pädagogische Praxis zu integrieren.
Gleichzeitig verpflichtet er die pädagogischen Einrichtungen, LGBT-Jugendliche

13 Vgl. Takacs 2006


Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der Kinder- und Jugendhilfe 211

und Kinder aus Regenbogenfamilien in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu un-


terstützen und sie vor Diskriminierung zu schützen.
Die Jugendhilfe beschäftigt sich etwa seit Mitte der 1990er Jahre mit sexueller
Orientierung und sexueller Identität als wichtigen Themen in der pädagogischen
Arbeit. Die Ausführungsveränderungen zum Kinder- und Jugendhilfegesetz des
Landes Berlin (1995/2004) forderten erstmals explizit die Berücksichtigung von
LGBT- Identitätsentwicklungen und -Lebensrealitäten. Es werden für die Jugendhilfe
sowohl ein besonderer Schutz, als auch ein besonderer Förderungsauftrag betont.
Der Beschluss der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (BAGLJÄ)
von 2003 erkennt die Dringlichkeit des Themas sexuelle Orientierung für die Ju-
gendhilfe und beschreibt die Absicht, es deshalb integrativ in allen Einrichtungen
der Kinder- und Jugendhilfe zu berücksichtigen14. In ihrem Beschluss geht die
BAGLJÄ konkret auf die einzelnen Leistungsbereiche der Jugendhilfe, auf die
Aus- und Fortbildung sowie auf die Konzept- und Qualitätsentwicklung ein. Es
heißt darin z. B., dass „in allen Maßnahmen ambulanter und stationärer erziehe-
rischer Hilfen ( ) im Sinne einer Normalisierung ein vorurteilsfreier Umgang mit
der Thematik Homosexualität zum Alltag gehören [muss].“ Weiter heißt es dort:
„Haupt- und ehrenamtlich in der Jugendhilfe Tätige sollen im Rahmen von Aus-
und Fortbildung zum Thema sexuelle Orientierung qualifiziert werden, und zwar
im Kontext einer allgemeinen Wertschätzung von Vielfalt, von Respekt vor dem
Anderen, von Erziehung zu Gemeinschaftsfähigkeit sowie von Prävention von
Diskriminierung und Gewalt.“15
Im Bereich der Kindertagesbetreuung benennt das am 1. August 2005 in Kraft
getretene Kindertagesförderungsgesetz für Berlin Vielfaltsdimensionen als Grund-
lagen der demokratischen Gesellschaft, auf die Kinder schon in der Kita vorbereitet
werden sollen. In Bezug auf ein gleichberechtigtes Zusammenleben heißt es: „Die
Förderung in Tageseinrichtungen soll insbesondere darauf gerichtet sein, […] das
Kind auf das Leben in einer demokratischen Gesellschaft vorzubereiten, […] in
der alle Menschen ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Identität, ihrer
Behinderung, ihrer ethnischen, nationalen, religiösen und sozialen Zugehörigkeit
sowie ihrer individuellen Fähigkeiten und Beeinträchtigungen gleichberechtigt sind
[…]“16 Hiermit besteht ein gesetzlicher Auftrag, Vielfalt in der Kita zum Thema zu
machen. In diesem Sinn fordert das Berliner Bildungsprogramm für die Bildung,
Erziehung und Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen bis zu ihrem Schul-

14 Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter 2003


15 Ebd., S. 1
16 § 1 Absatz 3 Nummer 2, Gesetz zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und
Kindertagespflege (KitaFöG für Berlin) vom 23. Juni 2005
212 Thomas Kugler und Stephanie Nordt

eintritt von 2004 dazu auf, Vielfalt in der pädagogischen Arbeit auf der Grundlage
gleicher Rechte aktiv zu berücksichtigen und Benachteiligungen abzubauen. In
seiner Neufassung, die 2014 erscheinen wird, wird das Berliner Bildungsprogramm
voraussichtlich auch explizit auf geschlechtliche und sexuelle Vielfalt eingehen.
In den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe werden vielfältige Lebens-
weisen trotz dieser normativen Vorgaben bisher allerdings noch zu wenig berück-
sichtigt.17 Selbst spezifische Problemlagen von LGBT-Jugendlichen, wie z. B. Verlust
des Elternhauses, Obdachlosigkeit und das eklatant erhöhte Suizidrisiko, werden
von den entsprechenden Fachstellen bisher kaum zur Kenntnis genommen. The-
men wie Geschlecht, Sexualität und Lebensformen sind oft noch stark tabuisiert,
obwohl diese gerade im Jugendalter eine zentrale Rolle spielen18. Zusätzlich wirkt
im pädagogischen Alltag ein heteronormatives Verständnis, das häufig zu einer
Nicht-Wahrnehmung vielfältiger geschlechtlicher und sexueller Entwicklungen
führt. Da sich LGBT-Jugendliche in der Regel nicht als solche zu erkennen geben,
herrscht unter den pädagogischen Fachkräften zumeist die Annahme, dieses Thema
spiele in der eigenen Einrichtung keine Rolle und sei deshalb auch nicht relevant.
Von den etwa 800 Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe, die im Rahmen einer
kommunalen Studie von 2011 befragt wurden, gaben knapp 60 % an, dass sie in
ihrem Arbeitsbereich keine lesbischen oder schwulen Jugendlichen kennen.19 Die
Vorbehalte von pädagogischen Fachkräften, Sexualität bzw. sexuelle Identität zum
Thema zu machen, bestehen zum einen in der Befürchtung, etwas Intimes von
sich preisgeben zu müssen. Zum anderen gibt es die Sorge, selbst mit dem Thema
Homosexualität in Verbindung gebracht zu werden. Heterosexuelle fürchten, selbst
für lesbisch bzw. schwul gehalten zu werden, lesbische bzw. schwule Fachkräfte
befürchten, geoutet zu werden.20
Zusammenfassend können die wichtigsten Ergebnisse der kommunalen Be-
fragung, die das Sozialreferat der Stadt München 2011 durchführte, wie folgt
dargestellt werden21:

t Die Lebenslagen schwuler und lesbischer Jugendlicher sind in der Kinder- und
Jugendhilfe zu wenig bekannt, das spezifische Fachwissen fehlt. Es fehlen ausfor-
mulierte Qualitätsstandards, Interventionsformen bei homophoben Ereignissen
sind weitgehend nicht bekannt.

17 Perels 2006
18 SFBB/Bildungsinitiative QUEERFORMAT 2012
19 Vgl. Landeshauptstadt München 2011, S. 20
20 Vgl. Perels und Kirsi 2006, S. 56
21 Sozialreferat der Stadt München 2011
Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der Kinder- und Jugendhilfe 213

t In der Kinder- und Jugendhilfe gibt es so gut wie keine Angebote für schwule,
lesbische oder transgender Jugendliche, sie kommen in der Öffentlichkeitsarbeit
der Einrichtungen nicht vor und sind stark von Unsichtbarkeit betroffen.
t Die Fachkräfte scheinen dem Thema insgesamt jedoch recht positiv gegenüber
zu stehen, die meisten haben persönliche Kontakte zu Lesben und Schwulen
und halten diese Kontakte auch für sehr wichtig in Bezug auf ihren beruflichen
Umgang mit der Zielgruppe.
t Dennoch: Betrachtet man die sehr hohen Werte bei den Fragen nach Belastun-
gen und Homosexuellenfeindlichkeit bedeuten die durchaus selbstkritischen
Ergebnisse der Kinder- und Jugendhilfe, dass die schwierigen Lebenssituatio-
nen schwul-lesbischer Kinder und Jugendlicher mehr in den Blick genommen
werden müssen.

Auch in pädagogischen Ausbildungsgängen sind die Themen Geschlecht, Sexualität


und Lebensformen in ihrer Vielfalt bislang kaum obligatorisch verankert. Wenn
überhaupt, gibt es lediglich vereinzelt fakultative Angebote. Das bedeutet, dass die
in der Kinder- und Jugendhilfe beschäftigten Fachkräfte zu diesem Themenfeld
nicht ausgebildet sind und auch die derzeitigen Studierenden und zukünftigen
Pädagog_innen noch immer nicht zu den spezifischen Belangen von LGBT-Jugend-
lichen und Kindern aus Regenbogenfamilien und für entsprechenden pädagogi-
schen Handlungsbedarf geschult werden. Dementsprechend bestätigen 60 % der in
München befragten Fachkräfte ein fachliches Defizit in ihren Einrichtungen: Die
fachliche Verankerung von Themen sexueller Vielfalt ist in ihrem Arbeitsbereich
nicht oder nicht ausreichend gegeben.22

3 Erfahrungen aus der Fortbildungsarbeit mit


Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe

Umsetzung des Berliner Parlamentsbeschlusses in der Kinder- und


Jugendhilfe

Das Berliner Abgeordnetenhaus hat in seiner fraktionsübergreifenden Initiative


„Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“ (ISV)
einen Schwerpunkt darauf gelegt, Bildung und Aufklärung zu stärken, um Kinder
und Jugendliche schon frühzeitig mit einem akzeptierenden Umgang mit sexueller

22 Vgl. Landeshauptstadt München (2011), S. 18


214 Thomas Kugler und Stephanie Nordt

Vielfalt vertraut zu machen. Das Berliner Parlament gab dabei nicht nur für den
Bereich Schule, sondern auch für die Kinder- und Jugendhilfe vor, Schlüsselperso-
nen in Steuerungsfunktionen und pädagogische Fachkräfte aus der Praxis sowie
in der Ausbildung zu den Themen Diversity, Antidiskriminierung und Akzeptanz
sexueller und geschlechtlicher Vielfalt zu schulen. Zur praktischen Umsetzung die-
ser Maßnahmen im Bereich der Berliner Kinder- und Jugendhilfe beauftragte das
landeseigene Sozialpädagogische Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg (SFBB)
die Bildungsinitiative QUEERFORMAT23 im März 2010, ein Qualifizierungskonzept
für die Umsetzung der Initiative „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzep-
tanz Sexueller Vielfalt“ (ISV) für die Kinder- und Jugendhilfe zu entwickeln und im
Sinne der von Abgeordnetenhaus und Senat vorgegebenen Top-Down-Strategie
umzusetzen.
In der Folge fanden in enger Zusammenarbeit mit den Berliner Jugendämtern
– insbesondere in den beiden Modellbezirken Mitte und Pankow – zahlreiche In-
formationsveranstaltungen für Schlüsselpersonen in Gremien und Fortbildungen
für pädagogische Fachkräfte aus der Praxis statt. Für die Arbeit der Fachkräfte
wurden außerdem pädagogische Materialien entwickelt. Die Teilnehmenden der
Fortbildungen arbeiteten in allen Feldern der Kinder- und Jugendhilfe, z. B. Jugend-
arbeit, Jugendsozialarbeit, Hilfen zur Erziehung, Jugendberufshilfe, Erziehungs-
und Familienberatung, eine besonders starke Nachfrage zeigte sich unerwartet im
Bereich der Kindertagesbetreuung. Leitungen und Fachkräfte aus Kindertagesein-
richtungen zeigten sehr großes Interesse an den Fortbildungen und pädagogischen
Materialien, weil sie in ihrer täglichen Arbeit häufig mit Fragen geschlechtlicher
und sexueller Vielfalt zu tun haben. Regelmäßig wird in diesen Seminaren auf den
Titel der Ausschreibung Bezug genommen, der nicht geschlechtsrollenkonformes
Verhalten von Kindern, gleichgeschlechtliche Elternpaare oder Fragen von Transi-
dentität bei Kindern exemplarisch als Aufhänger nimmt: „Murat spielt Prinzessin,
Alex hat zwei Mütter und Sophie heißt jetzt Ben … Sexuelle Vielfalt – schon ein
Thema in der Kita?!“

Pädagogisches Konzept, Erwartungen der Fachkräfte an die


Fortbildung und Bewertung des Seminarkonzepts

Die Berliner Abgeordneten verweisen im Begründungsteil ihres Beschlusses auf


die pädagogischen Konzepte Diversity Education und Lebensformenpädagogik, die

23 Trägerverbund der Berliner Bildungseinrichtungen Abqueer e. V. und KomBi – Kom-


munikation und Bildung (KBZ e. V.)
Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der Kinder- und Jugendhilfe 215

der Entwicklung von Materialien und Lehransätzen für das Handlungsfeld Bildung
und Aufklärung stärken zugrunde gelegt werden sollen. Die Bildungsinitiative
QUEERFORMAT wendet daher einen Diversity-Ansatz an, der die Menschen-
rechtsbildung24, die Pädagogik der Vielfalt25 und die Lebensformenpädagogik 26
verbindet. Dieser fachliche Ansatz bietet in Anlehnung an die so genannte Trias
der Menschenrechtsbildung im Lernen über, durch und für die Menschenrechte
eine Kombination von Wissensvermittlung, Reflexion und Handlungsorientierung.
Zielstellung für die Fortbildung sind entsprechend die Wissenserweiterung, die
Sensibilisierung und die Erweiterung der pädagogischen Handlungskompetenz.
Konzept und Methodik der Fortbildungsveranstaltungen folgen diesem Dreischritt,
der im Seminar auch mit der Formel Kopf, Herz und Hand vorgestellt und im Ab-
laufplan visualisiert wird: Während die Seminarinhalte durch Wissensvermittlung
(z. B. Inputs) auf der kognitiven Ebene transportiert werden, werden sie auf der
reflexiven Ebene vor allem durch erfahrungsbezogenes Lernen (etwa in Form von
Übungen zum Perspektivwechsel) verankert und auf der Handlungsebene auf die
eigenen Gestaltungsmöglichkeiten in der pädagogischen Arbeit bezogen.
Bei der schriftlichen Abfrage von Erwartungen der Seminarteilnehmenden zeigt
sich, dass sie Wünsche aus allen drei Zielbereichen äußern. Für die Wissensvermitt-
lung („Kopf“) stehen beispielsweise folgende Erwartungen ans Seminar: Erweiterung
des Wissensspektrums, Hintergrundwissen, aktueller Stand zum Thema „Queer“,
Erhellung. Wünsche, die sich auf das Ziel Sensibilisierung („Herz“) beziehen, werden
folgendermaßen formuliert: Neue Impulse, erweiterte Sichtweisen, mehr Bewusst-
sein zum Thema „Queer“, Blickwinkelerweiterung. Für den Praxisbezug („Hand“)
wünschen sich die Fachkräfte beispielsweise, LGBT-Jugendliche unterstützen und
ihre Signale deuten zu können sowie pädagogische Materialien und bestehende
Angebote der Jugendhilfe für LGBT-Jugendliche kennenzulernen. Gefragt sind
auch Methoden zur Diskriminierungsprävention und Interventionsstrategien, um
mit Ausgrenzung umgehen zu können.
Das Seminarkonzept stößt auf hohen Zuspruch, wie die Auswertung der schrift-
lichen Befragung zum Seminarende zeigt. Unabhängig vom Veranstaltungsformat
bewerten 87 % der Teilnehmenden im ersten Jahr der Umsetzung die Fortbildungen
als mindestens gut: 55 % finden ihre Fortbildung im Gesamturteil „sehr gut“ und
32 % finden sie „gut“.27 Auf die Frage, was ihnen im jeweiligen Bereich besonders gut
gefallen habe, antworten die Teilnehmenden in der schriftlichen Evaluation wie folgt:

24 Benedek und Nikolova-Kress 2004


25 Prengel 1995
26 Kugler und Thiemann 2004
27 Bildungsinitiative QUEERFORMAT 2011
216 Thomas Kugler und Stephanie Nordt

Wissensvermittlung
t Begriffsklärung zum Thema Geschlechtervielfalt
t Fachwissen zur psychosozialen Situation queerer Jugendlicher
t Seminarstruktur und Methodenvielfalt
Reflexion
t Möglichkeit, die eigenen Haltungen und deren Ursachen zu reflektieren
t Eingesetzte Sensibilisierungsübungen (Perspektivwechsel, biografischer Zugang)
Handlungsorientierung
t Möglichkeit, eigene Fragen und Themen aus der Praxis einzubringen und im
kollegialen Austausch zu diskutieren
t Vorstellung pädagogischer Materialien (Methoden, Medien, Literatur etc.)
t Vorstellung spezifischer Serviceleistungen (Beratungsstellen und Treffpunkte)

Seminarergebnisse: Handlungsstrategien für die Praxis


der Jugendarbeit

In vielen zweitägigen Basisseminaren mit Teilnehmenden aus der Jugendarbeit


wurde in Kleingruppenarbeit interaktiv mit der Methode Welt Café gearbeitet.
Aufgabe der Teilnehmenden war es, Ideen zu vier vorgegebenen Bereichen aus
ihrem Praxisfeld zu generieren. Dabei ging es um die Integration der Themen
geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in die Alltagspraxis und in die strukturelle
Ebene, um Unterstützung im Coming-out und um Intervention bei Diskriminie-
rungen. In der nachfolgenden Tabelle werden zentrale Seminarergebnisse für die
pädagogische Praxis im Umgang mit LGBT-Jugendlichen als Übersicht dargestellt:

Fragen/ Problemlagen (Mögliche) Interventionsformen


Wie können wir X Raumgestaltung/Ausstattung/Materialien
LGBT-Themen in unsere niedrigschwelliges Informationsmaterial & themenspezifi-
Alltagspraxis integrie- sche Jugendbücher als Gesprächsanlass und -angebot
ren? X Raumnutzung
geschützte Rückzugsräume für Gespräche bieten, Einfüh-
rung von Unisextoiletten in den Räumlichkeiten
X Spezifische Angebote zu LGBT-Themen
Exkursionen, Workshops, Thementage etc. zu Gender &
LGBT-Themen; bestehende pädagogische Angebote ent-
sprechend anpassen
X Öffentlichkeitsarbeit
Kontakt mit LGBT-Organisationen herstellen und pflegen,
Veröffentlichung von Beispielen guter Praxis
Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der Kinder- und Jugendhilfe 217

Wie können wir Jugend- X (Gesprächs-)Angebote


liche im Coming-out offene Gesprächsangebote im geschützten Raum anbieten,
unterstützen? Begleitung zu Beratungsgesprächen, Kontaktaufnahme zu
LGBT-Trägern, Führen von Elterngesprächen
X Pädagogische Haltung
Signalisieren von Offenheit und Gesprächsbereitschaft,
Schaffen einer Vertrauensbasis und einer persönlichen
Ebene mit Jugendlichen, Sprechen über eigene Erfahrun-
gen (auf Seite der Jugendlichen und der pädagogischen
Fachkräfte), wertschätzende und stärkende Haltung, Ver-
mittlung von Schutz und Sicherheit, Schaffen und Leben
einer offenen und diskriminierungsfreien Atmosphäre
Wie lassen sich X Team/Teamentwicklung
LGBT-Themen auf der Verankerung von LGBT-Themen in der Arbeitsplanung,
strukturellen Ebene Entwicklung einer gemeinsamen Teamhaltung für Inter-
integrieren? ventionen bei Fällen von Diskriminierung, Änderung der
Hausordnung mit Aufnahme von Diskriminierung als
Verstoß; regelmäßige Fallbesprechungen zur Besprechung
und Reflexion von Fragen sexueller und geschlechtlicher
Vielfalt, Sensibilisierung von Mitarbeitenden & kontinu-
ierliche Teamfortbildungen
X Leitbild/Konzept
Verweis und Anwenden normativer, gesetzlicher Grund-
lagen zu LGBT in pädagogischen Konzepten & Leitbildern
X z. B. inhaltliche Verankerung von LGBT-Themen für
Einzel- und Gruppenarbeit, spezifische Regelungen z. B.
zu Sprache können in Hausregeln formuliert werden, par-
tizipative Weiterentwicklung des Themas sexuelle Vielfalt
mit Jugendlichen & Entwicklung einer gemeinsamen
Handlungspraxis
X Qualitätsmanagement/Evaluation
Reflexion der Teamarbeit, Festlegung von Indikatoren zur
Überprüfung festgelegter Ziele, Evaluation von Mitarbei-
tenden und Gästen (z. B. durch Fragebögen)
X Netzwerke
Einführung einer verantwortlichen Person, die im
Austausch mit anderen Einrichtungen und Expert_innen
Informationen zu LGBT-Themen ins Team trägt, in kolle-
gialen Netzwerken wie z. B. Arbeitsgemeinschaften nach §
78 KJHG können Teams aktiv LGBT-Themen ansprechen
218 Thomas Kugler und Stephanie Nordt

„Schwule Sau!“, Präventive Maßnahmen


X
„Julian ist ein Mäd- Offene Thematisierung der Vielfalt von Geschlechtsiden-
chen!“, „Blöde Kampf- titäten und sexuellen Orientierungen durch das Team;
lesbe!“ usw. - im Kontakt mit Jugendlichen kann auf die Tragweite von
Sprache, ihre mögliche Verletzungsmacht und auf den
Was können wir bei ho- Anspruch der Einzelnen auf Schutz hingewiesen werden
mophober & transpho- X Thematisierung gesellschaftlicher Zusammenhänge &
ber Diskriminierung Ursachen von Diskriminierung; Schaffung & Betonung
tun? gemeinsamer positiver Erlebnisse für den Gruppenzu-
sammenhalt und die Bereitschaft, andere gegen Diskrimi-
nierungen zu verteidigen; Informationsveranstaltungen
& persönliche Begegnungen mit LGBT- Personen können
Vorurteile reduzieren und so präventiv wirken
X Situative Interventionen
Orientierung an Interventionsstrategien, die die Bil-
dungsinitiative QUEERFORMAT für den Bereich Schule
veröffentlicht hat 28; Fachkräfte können bei homophober/
transphober Sprache Stellung beziehen und offensiv auf
beleidigende Äußerungen reagieren, ihre Ablehnung
erklären und inhaltlich begründen, warum verletzende
Worte nicht geduldet werden, bei klaren Regelverstößen
auch disziplinieren und Sanktionen verhängen; Herstellen
eines persönlichen Bezugs zum Gesagten oder Sprache
korrigieren bzw. richtigstellen; Mitarbeitende können bei
diskriminierenden Äußerungen Alternativen vorschlagen,
wie sich Gefühle ausdrücken lassen, ohne andere zu verlet-
zen, sie können humorvoll reagieren, durch interessiertes
Nachfragen Diskussionen fördern oder durch paradoxe
Interventionen zum Nachdenken anregen
28

Auswirkungen der Bildungsarbeit – Zwei Beispiele guter Praxis


aus der offenen Jugendarbeit und der Kindertagesbetreuung

Handreichung für Mitarbeiter_innen der offenen Jugendarbeit, der


Straßen- und Schulsozialarbeit
Das Projekt Jugendfreizeiteinrichtungen gegen Diskriminierung, das aus einer Fach-
austauschrunde von Pädagog_innen der Jugendarbeit aus Berlin-Hohenschönhausen
und Berlin-Lichtenberg entstand, hat sich zum Ziel gesetzt, in Jugendfreizeiteinrich-
tungen „einen diskriminierungsfreien Raum zu schaffen, in dem eine Kultur des

28 Bildungsinitiative QUEERFORMAT 2012


Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der Kinder- und Jugendhilfe 219

gegenseitigen Respekts in gemeinsamer Verantwortung entstehen kann“29. Da das


Projekt mit einem merkmalsübergreifenden Diskriminierungsverständnis arbeitet
und vielfältige Diskriminierungsformen im Blick hat, suchte die Projektkoordi-
natorin von der Netzwerkstelle LICHT-BLICKE die inhaltliche Unterstützung der
Bildungsinitiative QUEERFORMAT. Zweimal wurden Mitarbeiter_innen der im
Projekt zusammengeschlossenen Einrichtungen fortgebildet und beschäftigten
sich intensiv mit Diskriminierungen aufgrund der Geschlechtsidentität oder der
sexuellen Orientierung. Außerdem kam es zu einer inhaltlichen Zusammenarbeit
bei der Entwicklung einer Handreichung, die das Projekt im November 2013 für
Mitarbeiter_innen der offenen Jugendarbeit, der Straßen- und der Schulsozialarbeit
herausgab. Die von der Bildungsinitiative QUEERFORMAT 2012 veröffentlichte
Handreichung Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der pädagogischen Arbeit
mit Kindern und Jugendlichen bot dabei eine Orientierungshilfe insbesondere für
die Entwicklung und die Diskussion des Fragenkatalogs für den Reflexionsbogen.
Die Handreichung des Projekts bietet Anregungen für die Selbstreflexion, für ein
abgestimmtes Handeln im Team und für Reaktionsmöglichkeiten in Diskriminie-
rungsfällen. Der Reflexionsbogen lädt ein, sich mit Grundhaltungen und Rahmen-
bedingungen für Antidiskriminierung auseinanderzusetzen und ihre Umsetzung
in der Einrichtung zu konkretisieren. Das Projekt wird 2014 fortgeführt und will
alle Jugendfreizeiteinrichtungen im Bezirk Berlin-Lichtenberg einbeziehen, um
gemeinsam Fachstandards für den Umgang mit Diskriminierung in der offenen
Jugendarbeit und darüber hinaus zu entwickeln.

Einsatz des Medienkoffers „Familien und vielfältige Lebensweisen für


Kindertageseinrichtungen“
In der Kindertagesstätte im Rehazentrum am Teltower Damm in Berlin-Zehlendorf
arbeiten 27 Erzieherinnen und drei Erzieher mit etwa 190 Kindern. Angeregt durch
eine Teamdiskussion über geschlechtsbewusste Pädagogik, wurde die stellvertretende
Leiterin auf den Medienkoffer Familien und vielfältige Lebensweisen für Kinderta-
geseinrichtungen aufmerksam und setzte ihn im Sommer 2013 für sechs Wochen
in ihrer Kindertagesstätte ein. Der von der Bildungsinitiative QUEERFORMAT
entwickelte Medienkoffer wurde von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend
und Wissenschaft herausgegeben. Er enthält ausgewählte pädagogische Materialien
für die frühkindliche Bildung u. a. zu den Themen Vielfalt, Identität, Freundschaft,
Anderssein, Herkunft, Behinderung, Geschlechterrollen, gleichgeschlechtliche
Liebe, Lebenswelten und Familienformen.

29 JFE’s gegen Diskriminierung 2013, S. 7.


220 Thomas Kugler und Stephanie Nordt

Beim Fachtag Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt als Themen frühkindlicher


Inklusionspädagogik30 im Oktober 2013 berichtete die stellvertretende Leiterin von
den Erfahrungen, die sie und ihr Team beim Einsatz des Medienkoffers sammeln
konnten. Sie schilderte drei verschiedene Strategien, die die Erzieher_innen gewählt
hatten, um mit den Bilderbüchern zu arbeiten: Spontaneinsatz, projektbezogenen
Einsatz und klassischen Einsatz. Der spontane Einsatz von Bilderbüchern, von
denen sich die Erzieher_innen selbst auf Anhieb angesprochen fühlten, führte über
kollegiale Diskussionen dazu, bei der Auswahl der Bücher auch den Blickwinkel
der Kinder zu berücksichtigen. Anschließend wurden auch Bücher gelesen, die aus
Erwachsenensicht vermeintlich heikle Themen enthielten, z. B. Überschreitungen von
Geschlechterrollen oder Regelbrüche, die aber für die Kinder gerade dadurch sehr
anregend waren. Beim projektbezogenen Einsatz unterstütze die Arbeit mit einem
Bilderbuch gezielt ein Projekt, in dem sich die Kinder mit Geschlechterstereotypen
am Beispiel von Farben auseinandersetzten und über ihre Lieblingsfarben und Klei-
dungsstücke sprachen. Nach dem Projekt benutzen erstmals auch Jungen rosafarbenes
Spielzeug und wurden Mädchen nicht mehr vom Fußballspielen ausgeschlossen.
Bei der klassischen Bilderbuchbetrachtung wurden zur Gruppensituation passende
Titel ausgewählt, die durch Fragen an die Kinder und eine Nachbereitung vertieft
wurden: Dazu zählte etwa das Nacherzählen der Geschichte oder die künstlerische
Bearbeitung des Themas in Rollenspielen oder Bildern. Die Arbeit mit dem Medi-
enkoffer wirkte bereichernd auf die Kinder, die zum Nachdenken angeregt wurden
und neue Verhaltensweisen erprobten, aber auch auf die Erzieher_innen, die sich
mit eigenen Rollenvorstellungen auseinandersetzten und sie im Team reflektierten.
Nicht nur die Bilderbücher, sondern auch die im Medienkoffer enthaltene Fachli-
teratur für die Pädagog_innen und das Begleitmaterial kamen hier zum Tragen.

Literatur
Benedek W, Nikolova-Kress M (2004) Menschenrechte verstehen. Handbuch zur Menschen-
rechtsbildung. Neuer Wissenschaftlicher Verlag GmbH Nfg KG, Wien
Biechele U, Reisbeck G, Keupp H (2001) Schwule Jugendliche. Ergebnisse zur Lebenssituati-
on, sozialen und sexuellen Identität. Niedersächsisches Ministerium für Frauen, Arbeit
und Soziales, Hannover
Bildungsinitiative QUEERFORMAT (Hrsg) (2011) Tätigkeitsbericht zur Umsetzung der
Initiative „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz Sexueller Vielfalt“ (ISV)
im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe in den Haushaltsjahren 2010 und 2011. Berlin.

30 SFBB/Bildungsinitiative QUEERFORMAT 2014


Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der Kinder- und Jugendhilfe 221

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Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt –
(k)ein pädagogisches Thema?
Pädagogische Perspektiven und Erfahrungen
mit LSBTI
Friederike Schmidt und Anne-Christin Schondelmayer

Einleitung

Wenngleich sich in der Pädagogik das Postulat der Anerkennung von Vielfalt weit-
gehend durchgesetzt hat, zeigt die theoretische Debatte und die pädagogische Praxis,
dass diese Prämisse unterschiedlich gefasst und umgesetzt wird. Im Hinblick auf
die tätigen Fachkräfte stellt sich dabei insbesondere die Frage, wie Pädagog_innen
gesellschaft liche Heterogenität wahrnehmen, welche Kenntnis sie davon haben,
welche Relevanz sie den verschiedenen Dimensionen von Heterogenität zusprechen
und ferner, welchen praktischen Umgang sie in ihrer Arbeit entwickeln. Hieran
anknüpfend werden in diesem Beitrag Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung
präsentiert, in der Pädagog_innen aus der Schule und der Kinder- und Jugendhilfe
zu ihren Erfahrungen mit LSBTI befragt wurden. Auf Basis offener Interviews und
Gruppendiskussionen wird ersichtlich, dass die interviewten Fachkräfte spezifische
pädagogische Relevanzen gegenüber LSBTI entfalten sowie bestimmte Handlungs-
optionen und -schwierigkeiten im Umgang mit der Thematik wahrnehmen.

1 Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt


in der Pädagogik

Gesellschaft liche Heterogenität und deren Anerkennung sind aus dem pädagogischen
Diskurs nicht mehr wegzudenken, ja bestimmen diesen mindestens seit Comenius
und dessen Anspruch der Bildung für alle. In den vergangenen Jahrzehnten ist diesem
Aspekt wieder verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt worden. Dazu haben unter-
schiedliche disziplinäre Stränge sowie gesellschaft liche Veränderungen beigetragen.
Als relevante Strömungen der Pädagogik sind u. a. die Interkulturelle Pädagogik,

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_18, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
224 Friederike Schmidt und Anne-Christin Schondelmayer

die sozialwissenschaftliche Forschung zu sozialer Ungleichheit, die Geschlechter-


pädagogik, Queer-Theorien, die Soziale Arbeit sowie die Inklusive Pädagogik zu
nennen. Diese thematisieren Differenzen und Differenzsetzungen sowie die Frage
nach der Wahrnehmung und des Umgangs mit Vielfalt aus jeweils spezifischen
Blickwinkeln. Im Kontext der Interkulturellen Pädagogik rücken beispielsweise
insbesondere die Kategorien Nation, Migration und Ethnie in den Vordergrund
der Debatten (vgl. u. a. Auernheimer 2012; Gogolin 2009; Allemann-Ghionda 2013),
während sexuelle und geschlechtliche Vielfalt vor allem in Arbeiten aufgegriffen
wird, in denen Queer-Theorien den zentralen theoretischen Rahmen bilden (vgl. ex.
Hark 1999; Villa 2011). Neben einzelnen Dimensionen von Vielfalt werden zudem
auch die Verbindungen und die Überschneidungen verschiedener Dimensionen
gesellschaftlicher Heterogenität in den Blick genommen (vgl. Eppenstein/Kiesel
2012; Leiprecht/Lutz 2005; Prengel 1993).
Wird der analytische Blick jedoch von den einzelnen Diskurssträngen und
deren Schwerpunktsetzungen gelöst, ist festzustellen, dass die Dimension sexueller
und geschlechtlicher Vielfalt im allgemeinen pädagogischen Diskurs über gesell-
schaftliche Heterogenität und deren Anerkennung als Gegenstand pädagogischer
Forschung weitgehend vernachlässigt wird. Eine Ausnahme spielen hier Arbeiten
zur Lebenslage von LSBTI-Personen (vgl. Hark 2000; Hartmann 2004; Horvitz 2011)
sowie Studien an Schulen zu Homo- und Transphobie (vgl. FRA 2013; Klocke 2012;
Meurer 2003). In diesem Zusammenhang ist auch auf didaktische Überlegungen
im Bereich der Sexualpädagogik (vgl. Tuider et al. 2012; Timmermanns 2008), der
Pädagogik generell (vgl. Kraus 2012) sowie Analysen pädagogischer Materialien
(Bittner 2011; s. a. Bittner i. d. B.) hinzuweisen. In der pädagogischen Forschung
nach wie vor weitgehend ungeklärt ist allerdings, wie LSBTI in der pädagogischen
Praxis von Fachkräften erfahren und auf welche Weise das Thema berücksichtigt
und bearbeitet wird.

2 Orientierungen und Erfahrungen von Pädagog_innen


zu LSBTI

Pädagogische Praxis ist von vielerlei Aspekten geprägt und beeinflusst. Strukturelle
Rahmenbedingungen, die Interaktionen der pädagogischen Adressat_innen, der
Eltern und der Kolleg_innen sowie das soziale Umfeld des pädagogischen Gegen-
übers und das Handeln der Pädagog_innen bedingen, was handlungspraktisch
möglich ist bzw. nicht. Wird die Analyse auf das Verhalten der pädagogischen
Fachkräfte verengt, kommt deren Wahrnehmungs- und Handlungspraxis eine
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt – (k)ein pädagogisches Thema? 225

bedeutende Rolle zu (vgl. Schmidt 2012). Pädagogische Praxis beruht dabei, und
das wird insbesondere im Zusammenhang von Vielfalt und deren Anerkennung
sichtbar, nicht nur auf der Basis konkret erlernten Wissens, bspw. durch ein
Studium oder eine Fortbildung, sondern ist von internalisierten Haltungen und
Wertvorstellungen, von unhinterfragten Selbstverständlichkeiten und praktisch
erworbenen Wissensbeständen sowie Erfahrungen geprägt und strukturiert (vgl.
Schondelmayer 2010).
Die zumeist impliziten Wissens- und Erfahrungsbestände der Pädagog_innen
werden, obwohl stets individuell ausgeprägt, sozial gebildet und entwickelt. Die
Handlungsorientierung einer einzelnen pädagogischen Fachkraft in Bezug auf
sexuelle und geschlechtliche Vielfalt lässt sich so auch als Stellvertreterin bzw. als
Typus möglicher Wahrnehmungs- und Handlungsoptionen in einem sozialen Feld
begreifen. Denn selbst wenn pädagogische Praxis einzelfallbezogen und situativ
erfolgt, bedeutet dies nicht, dass Pädagog_innen voluntaristisch über ihre jeweilige
Handlungspraxis verfügen (können). Diese soziale Bedingtheit pädagogischer
Praxis tritt auch in der im Weiteren präsentierten Untersuchung der Erfahrungen
von Pädagog_innen mit LSBTI zutage.
Die Studie ist Teil einer umfassenden Evaluation einer politischen Kampagne,
die der Berliner Senat zur Anerkennung von LSBTI in verschiedenen Gesellschafts-
bereichen in den Jahren 2010 bis 2011 lanciert hat („Berlin tritt ein für Selbstbe-
stimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“; s. a. Einleitung der Herausgabe). Im
Rahmen der Evaluation der Initiative wurden u. a. qualitative Untersuchungen zu
den Orientierungen und zur Handlungspraxis von Fachkräften von Schule und
Jugendhilfe zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt erhoben. Dazu wurden vier
Gruppendiskussionen mit Fachkräften aus pädagogischen Einrichtungen sowie vier
offene Interviews mit Lehrer_innen und Referendar_innen geführt. Das empirische
Material wurde mittels einer komparativen Analyse auf Basis des Verfahrens der
dokumentarischen Methode (vgl. Bohnsack 2008) ausgewertet.
Im Folgenden werden einige Ergebnisse der Studie vorgestellt. Rekonstruiert
werden zum einen die Relevanzsetzung, die Pädagog_innen bezüglich dem The-
ma der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt entfalten (2.1), zum anderen ihre
Erfahrungen im Umgang mit LSBTI (2.2.) sowie ihre zugrundeliegende Haltungen
und Einstellungen (2.3).
226 Friederike Schmidt und Anne-Christin Schondelmayer

2.1 Relevanz von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt


in der pädagogischen Praxis

Dass das Thema der sexuellen Vielfalt von den interviewten pädagogischen Fach-
kräften von Schule und Kinder- und Jugendhilfe generell als bedeutsam erkannt
wird, wird an verschiedenen Stellen der Interviews und Gruppendiskussionen
deutlich1. In Bezug auf den eigenen pädagogischen Kontext fällt jedoch auf, dass
die pädagogische Relevanz des Themas eingeklammert wird. Im Vergleich der
erhobenen Gespräche lassen sich zwei Muster rekonstruieren, entlang derer die
Pädagog_innen ihre Relevanzsetzungen in Bezug auf das Thema der sexuellen und
geschlechtlichen Vielfalt entfalten: Zum einen beziehen sich die Pädagog_innen
auf die Adressat_innen ihrer Arbeit, zum anderen verweisen sie auf andere päda-
gogische Handlungsfelder/-bereiche.

Adressat_innen und deren Themen


In den Gruppendiskussionen und Interviews tritt ein grundlegendes Dilemma
zutage, mit dem Pädagog_innen sich in ihrer alltäglichen Arbeit konfrontiert
sehen. Die Fachkräfte stehen vor der Herausforderung, Werte und Normen an
die Adressat_innen ihres pädagogischen Handelns zu vermitteln und bestimm-
te Regeln (bspw. den Umgang in der Einrichtung) durchzusetzen. Gleichzeitig
streben sie einen verstehenden, auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen
gerichteten Zugang an. Dabei lässt sich feststellen, dass diese Konzentration auf
die Adressat_innen Einfluss auf die Relevanz hat, die die Pädagog_innen dem
Thema sexueller und geschlechtlicher Vielfalt einräumen: So wird quer über die
Berufsgruppen und -felder hinweg LSBTI für den eigenen pädagogischen Kontext
als weitgehend unbedeutend eingeschätzt. In dieser Relevanzeinschätzung beziehen
sich die Fachkräfte auf die Kinder und Jugendlichen der pädagogischen Institutionen
und deren ‚eigentliche‘ Themen:

AF: man hat ja im Ethikunterricht auch so seine Nischen und


kann eben auch andere Themen bearbeiten d- auf die die
Schüler Lust haben und […] wenn man die eben so (le-)
eure Lebensentwürfe eure Träume und //hmhmm// kleben
se dann halt ihre Ferraris so in der siebten Klasse auf

1 Die befragten Pädagog_innen thematisieren Bisexualität sowie Intergeschlechtlichkeit


nicht. Die in diesem Beitrag verwendete Abkürzung LSBTI steht daher mehr für einen
Anspruch, sexuelle und geschlechtliche Vielfalt zu benennen, als deren tatsächliche
Berücksichtigung in den Aussagen und Haltungen der interviewten Fachkräfte.
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt – (k)ein pädagogisches Thema? 227

die Plakate und so //mmh// ooh da will ich mal hin und
so Häuser und so;
(Interview Lehrerin)

Im Sinne einer Zugewandtheit gegenüber den Adressat_innen und ihren Bedürf-


nissen wird eine Thematisierung von LSBTI nicht als relevant erachtet. Dies setzt
sich in weiteren Aussagen des bereits zitierten Interviews fort, in dem die Pädagogin
darauf hinweist, dass es nur wenige LSBTI-Schüler_innen gibt („ne relativ geringe
Betroffenengruppe“), und das Thema, anlehnend an diese Einschätzung, als ein
„Einzelthema“ zu begreifen ist. Eine solche Bezugnahme auf die Adressat_innen setzt
voraus, dass LSBTI-Themen von den Kindern und Jugendlichen selbst eingebracht
werden oder aber LSBTI-Kinder und Jugendliche als solche ,bekannt‘ sind. Dies
wird von den befragten Fachkräften teilweise auch erkannt, wie an dem Ausschnitt
einer Gruppendiskussion mit Pädagog_innen aus dem Bereich der Kinder- und
Jugendhilfe exemplarisch deutlich wird:

AM: okay (1) äh dis Thema queere Jugendliche wo in unserem


Arbei- äh äh ähm in unserem Arbeitsalltag nehm wir dis
wahr? also wie wie äußert sich dit überhaupt? (..) nehm
wir dit überhaupt wahr? […] in zwanzig Jahr=n noch nie
jehabt=n Schwulen jibt=s doch=jar nich
(Gruppendiskussion Sozialpädagog _ innen)

Die vom Pädagogen AM aufgeworfenen Fragen weisen auf eigene Wahrnehmungs-


grenzen hinsichtlich „queere[r] Jugendliche“ hin. Neben der eher allgemeinen
Frage, ob die Pädagog_innen diese jugendlichen LSBTI (er-)kennen, kommt AM
schließlich zu der Feststellung, dass sie in der Einrichtung „in zwanzig Jahr=n noch
nie [..] n Schwulen [jehabt]“ haben – ein Sachverhalt, den er im Nachsatz sogleich
hinterfragt („jibt=s doch=jar nich“). Zugleich dokumentiert sich eine Unsicherheit
bezüglich des ‚Erkennens‘ von LSBTI-Jugendlichen resp. tritt eine Unsicherheit
zutage, bestimmtes Verhalten bezüglich sexueller und/oder geschlechtlicher Iden-
tität zu deuten.
Im Zuge der Orientierung an den Adressat_innen wird neben einem geringen
Interesse der Kinder und Jugendlichen auch eine negative Einstellung dieser zum
Thema sexuelle Vielfalt herangezogen und vor diesem Hintergrund die einge-
schränkte Bedeutung von LSBTI für den eigenen pädagogischen Handlungsbereich
untermauert. Es wird auf Tabuisierungen von LSBTI durch die Adressat_innen
hingewiesen, die den pädagogischen Alltag bestimmen:
228 Friederike Schmidt und Anne-Christin Schondelmayer

AF: ähm gab=s da ein Feuerzeug wo auch ähm es ist von GLADT
gewesen. hau- auch so ne ich glaub Schwulen oder Lesben
Organisation, als //mmh// ich dann gesagt habe das
Feuerzeug hat hat n total süßen Spruch drauf gehabt,
ähm auf türkisch, den ich dann übersetzt habe hab //
mhm// aber auch dazu gesagt, aber da steht auch www.
gladt.de, und GLADT //mhh// ist halt eine Organisation,
was für Schwule und Lesben ist; na was haben die alle
angefangen? (.) die haben dann angefangen dieses GLADT
abzukratzen.
(Gruppendiskussion Sozialpädagog _ innen)

Worin diese Negativ-Perspektiven der pädagogischen Adressat_innen, auf die


auch andere Interviewpartner_innen verweisen, begründet sind, ist wiederholt
Thema der Interviews und Gruppendiskussionen. Eine zentrale Rolle spielt dabei
der sozio-kulturelle Hintergrund, in den die Kinder und Jugendlichen eingeordnet
werden, der sogleich als Argumentation fungiert, mit der die Pädagog_innen die
geringe pädagogische Relevanz von LSBTI für ihren Handlungsbereich entfalten:

AF: und dann eben auch grade, wenn man dann in Bezirken
vielleicht arbeitet wo eben denn auch grade sozusagen ähm
man viele Schüler //mmh// hat die halt sozusagen ähm aus
so so Eltern haben aus der Türkei //mmh// oder aus den
muslimischen Ländern, dass es da auch sonne Hemmung ist
ja ähm die ähm die also einige befreien ja ihre Kindern
vom //mmh// Biologieunterricht weil sie nicht möchten,
dass die Kinder das //mmh// sozusagen dort vermittelt
bekommen //okay mmh// wie sehr darf ich es [LSBTI] dann
im //mmh// Deutschunterricht einÀießen lassen.
(Interview Referendarin)

Deutlich wird hier, dass die Pädagogin einen negativen Bezug auf LSBTI nicht nur
bei ihren Adressat_innen, sondern auch in deren familiärem und sozialem Umfeld
wahrnimmt. In diesem Falle verweist die Referendarin AF auf Eltern, die als aus der
Türkei stammend oder als „aus den muslimischen Ländern“ beschrieben werden,
und begründet damit deren Haltung gegenüber sexueller und geschlechtlicher
Vielfalt.2 Vor diesem Hintergrund schränkt die Lehrerin AF die Relevanz für die

2 Wie Einstellungen gegenüber sexueller Vielfalt im Zusammenhang mit Religion als


antimuslimischer Rassismus zutage tritt, diskutieren Yilmaz-Günay/ Wolter (2013) unter
dem Stichwort „Homonationalismus“. Zum Homophobie-Vorwurf gegen muslimische
Menschen siehe auch Çetin in diesem Band.
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt – (k)ein pädagogisches Thema? 229

Adressat_innen und damit auch für die eigene Arbeit deutlich ein. Unklar bleibt
dabei, ob die Pädagogin selbst ein Interesse an einer Thematisierung sexueller
und geschlechtlicher Vielfalt hat. Im Fokus ihrer Erklärungen stehen vielmehr die
Adressat_innen, welche bestimmen, was sie „darf“.

Pädagogische Zuständigkeiten
Die komparative Analyse der Interviews und Gruppendiskussionen weist zudem
auf eine Konzentration der Pädagog_innen auf den Aspekt der pädagogischen
Zuständigkeit hin, vor deren Hintergrund Relevanzen bezüglich LSBTI teils ergän-
zend zum ersten Muster, teils losgelöst davon entfaltet werden. Dieses Muster der
Relevanzsetzung findet sich dabei nur bei Fachkräften aus dem Kontext Schule3.
Exemplarisch sei hier auf eine Grundschulpädagogin verwiesen, die LSBTI als
eine für die „Grundschulleute (.) ganz schwierige Sache“ erfasst. Neben einer ge-
nerellen Auslagerung in andere pädagogische Felder wird LSBTI aber auch in den
Zuständigkeitsbereich anderer Handlungsbereiche der gleichen Institution gerückt.
Beispielsweise wird das Thema als „Oberstufenthema“ begriffen. Teils dokumentiert
sich diese Auslagerung der Thematik allerdings auch darin, dass LSBTI als Thema
anderer Fächer begriffen wird, wie an einem Auszug eines Interviews mit einer
Lehrerin ersichtlich wird:

AF: aber sonst dass ich in meinem Unterricht darauf einge-


he; (.) würde ich sagen ist nicht der Fall.(.) //mhm//
das einzige wo es sicherlich dann dran ist wäre im Fach
Naturwissenschaften Biologie
(Lehrerin Grundschule)

Deutlich wird hier eine Bearbeitung von LSBTI aus der eigenen pädagogischen
Praxis ausgeschlossen. Die Thematik wird vielmehr in den Zuständigkeitsbereich
des Faches Biologie eingeordnet, worin sich ein spezifisches Verständnis des The-
mas LSBTI dokumentiert. Es wird unter dem Aspekt von Sexualität, also unter der
Perspektive von Körper, Körperlichkeit und Begehren erfasst. Der an anderer Stelle
des Interviews folgende Hinweis der Pädagogin, dass LSBTI nicht „im Rahmen
der Sexualerziehung“ bearbeitet wird, bringt diese Fokussierung ebenfalls zum
Vorschein. Der Umstand, dass das Thema LSBTI nicht als relevanter Aspekt des

3 Inwiefern strukturelle Rahmenbedingungen und das eigene Berufs- und


Aufgabenverständnis Einfluss darauf haben, wie neues bzw. ergänzendes Wissen und
Themen in den Berufsalltag integriert werden, kann an dieser Stelle nicht ausführlich
diskutiert werden (vgl. Schmidt 2012).
230 Friederike Schmidt und Anne-Christin Schondelmayer

von AF unterrichteten Komplexes „soziales Lernen“ verstanden wird, unterstreicht


diese Perspektive auf LSBTI zusätzlich. Auch in den weiterführenden Schulen
scheint die pädagogische Relevanz von LSBTI und die pädagogische Zuständigkeit
nicht geklärt zu sein, wie folgender Gesprächsauszug mit einer Referendarin aus
dem Sekundarbereich zeigt:

AF: und da einfach festgestellt also ich festgestellt hab für


mich für meinen Erfahrungsschatz, dass ich halt an sich
klar in der vierten fünften Klasse Sexualkundeunterricht
hatte also diese erste kleine //mmh// ähm Aufklärung dann
nochmal in der achten //mmh// und das wars. und das ähm
//mmh// auch selber als Lehrer dadurch, dass ich nicht
in der Un- //mmh// Grundschule unterrichte und auch nicht
Biologielehrer //mmh// bin ich eigentlich überhaupt nie
wirklich in diesen in diese Thematik komm //mmh//
(Referendarin)

Wie eklatant diese sich hierin dokumentierende Zuständigkeitsproblematik ist und


welche Folgen sich daraus für die pädagogischer Relevanzsetzungen in Bezug auf
das Thema LSBTI ergeben, wird schließlich von der Referendarin selbst expliziert:

R: das [LSBTI] rutscht son son son son Niemandsverantwor-


tungsland also die //mmh// Schule fühlt sich ein stückweit
nicht dafür verantwortlich weil sie macht ja ihren Teil
ähm in der Biologie, aber das ist ja der Teil //mmh//
der wo ich sag mal ganz blöd wo die Schüler ja meistens
wissen, wie es funktioniert //mmh// aber so was dann so-
zusagen das vom Kopf her //okay mmh// und das psychische
damit wirkt da spricht die Biologie nicht so drüber. //
mmh// und das wäre dann ja der Bereich der eher in die
Geisteswissenschaft das heißt in den Deutschunterricht
//mmh// in den Ethikunterricht in den //mmh// den Sozial-
kundeunterricht vielleicht mit einwirken sollte, //mmh//
aber da ist eben kein Platz halt weil es halt nirgendswo
ja mal //mmh// niedergeschrieben ist,
(Interview Referendarin)

Die Referendarin konstatiert, dass die pädagogische Zuständigkeit für die The-
matik LSBTI grundlegend ungeklärt ist. Es „rutscht [in] son Niemandsverant-
wortungsland“. Begründet wird dies damit, dass es zwar einen pädagogischen
Ort der Bearbeitung der Thematik gibt („Biologie“), dieser reiche aber nicht aus.
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt – (k)ein pädagogisches Thema? 231

Zum einen seien die Schüler_innen sexuell aufgeklärt, zum anderen würden die
„psychischen“ Aspekte sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in diesem Fach nicht
erfasst, so AF. Die Pädagogin spricht sich schließlich dafür aus, dass LSBTI in den
Lehrplan bzw. in ein Schulkonzept („niedergeschrieben“) aufgenommen werden
sollen. Dieser Verweis dokumentiert, dass es sich bei dem Thema nicht um etwas
handelt, dem Lehrer_innen eigenständig eine Relevanz zuschreiben und in ihre
Arbeit integrieren. Vielmehr muss dies von anderer Stelle delegiert werden.

2.2 Pädagogische Formen des Umgangs mit LSBTI

Wenngleich die pädagogische Relevanz von LSBTI für die interviewten Päda-
gog_innen und deren Handlungsbereiche weitgehend ungeklärt ist, wird deutlich,
dass die befragten Fachkräfte mit diesem Thema in ihrem pädagogischen Alltag
an verschiedenen Stellen konfrontiert sind. Eine dominante Erfahrung, die sie in
Bezug auf LSBTI machen, sind dabei sind dabei Formen und Momente der Dis-
kriminierung. Die pädagogischen Adressat_innen wählen wiederholt homophobe
Beschimpfungen („schwule Sau“) oder reagieren in anderer Form abwertend
gegenüber dem Thema LSBTI. Der häufig von den Fachkräften gewählte Umgang
gegenüber LSBTI-Diskriminierung ist dabei der des Verbots. Die Pädagog_innen
untersagen homophobe Äußerungen („unterbinde ich=s“), räumen allerdings
teilwise auch ein, dass sie nicht jeder Äußerung und Diskriminierung nachgehen
können. Zugleich setzen die Pädagog_innen auf Aufklärung und Begriffsklärung:

KF: ja das kommt häu¿g von Schülern die sagen wir so um (.)
sich damit hervortun wollen, die haben mal gehört, und
dann geht=s (.) geht=s weiter in die //mhm// Richtung
aber was dahinter steckt, (.) ist ihnen ganz oft //mhm//
nicht klar.aber dann geht=s wirklich eigentlich nur da-
rum m:::anche Begriffe zu klären, (2)
(Interview Grundschullehrerin)

Die Darstellung der Lehrerin macht deutlich, dass sie die homophoben Äußerungen
der Schüler_innen als Verhalten interpretiert, durch das diese Aufmerksamkeit
erreichen wollen („hervortun“). Zugleich verweist sie darauf, dass die Schüler_innen
bei der Wahl ihrer „Begriffe“, womit sie indirekt homophobe Äußerungen meint,
nicht wissen, was sie jeweils äußern („ist ihnen nicht ganz […] klar“). Beschimp-
fungen und Negativäußerungen gegenüber LSBTI werden so nicht als Dokument
gesehen, in dem Homophobie transportiert und stabilisiert wird. Damit einherge-
hend werden diese Äußerungen auch nicht als Anlass gesehen, den homophoben
232 Friederike Schmidt und Anne-Christin Schondelmayer

Gehalt der geäußerten Begriffe näher mit den Schüler_innen zu bearbeiten. Das
Thema wird zudem nicht innerhalb der Lebenserfahrung der Schüler_innen selbst
verortet („die haben mal gehört“).
Über Diskriminierungen hinaus diskutieren die Pädagog_innen Situationen,
in denen sie mit dem Thema LSBTI durch die Kinder und Jugendlichen selbst
konfrontiert sind – sei es, dass sich diese selbst als LSBTI begreifen und als solche
positionieren oder aber als solche von den Fachkräften identifiziert werden; sei
es, dass Teile des familiären Hintergrund als LSBTI-Personen wahrgenommen
werden oder sich selbst entsprechend definieren. Exemplarisch sei hier auf eine
Pädagogin verwiesen, die von einem „kleenen Jungen“ in ihrer pädagogischen
Einrichtung erzählt:

BF: der is also wirklich dit sieht man schon dass der schwul
is er jibt dit och zu schon ja also dass er Jungs ganz
toll ¿ndet und wenn wir=n Film gucken also den fand er
ganz toll und die Mädchen nich und die Kinder wissen dis
(.) und die (.) kommen natürlich diese Sprüche ne, und und
und äh (.) Spitzen aber es ist noch fast so liebenswürdig
also die würden den nie ständig äh ja eh (.) fass mich
nicht an oder dass dis jetzt über ihre Persönlichkeit
geht sondern dis is einfach nur und da ansetzen und wie
mach ich dis
(Gruppendiskussion Sozialpädagog _ innen)

Auch andere Fachkräfte der Schule und der Kinder- und Jugendhilfe verweisen auf
Adressat_innen, angesichts derer sie mit dem Thema LSBTI in ihrem pädagogischen
Alltag konfrontiert sind:

Am: wir ham ja dit Glück wir ham ja jemanden der sich geoutet
hat dit heißt sozusagen wenn bei uns =n schwulenfeind-
licher Spruch kommt oder so äh ähm und äh äh äh und
dieses (.) Mädel oder dieser dieser Junge oder junge Mann
is dit ja inzwischen hat eben so=n standing da kannste
sag=n geh doch ma zu Alex und unterhalt dich ma mit Alex
darüber und da passiert dann och wat
(Gruppendiskussion Sozialpädagog _ innen)

Der Sozialpädagoge AM verweist hier auf einen Transjugendlichen, der sich in der
pädagogischen Einrichtung „geoutet“ hat. In der Einleitung dieser Praxiserfahrung
(„wir ham ja dit Glück“) wird der Jugendliche „Alex“ als Option, als Möglichkeit
präsentiert, die sich der Einrichtung in Bezug auf das Thema LSBTI bietet. Die
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt – (k)ein pädagogisches Thema? 233

biographische Situation des (Trans-)Jungen hilft den Pädagog_innen, das Thema zu


bearbeiten und bei Diskriminierungen entsprechende Maßnahmen zu entwickeln.
Indirekt deutet das Glückserleben zugleich Schwierigkeiten an, LSBTI losgelöst von
LSBTI-Adressat_innen in den pädagogischen Alltag einzubringen und zu bearbeiten.
Diese Unsicherheit und ein Unwissen, wie die Auseinandersetzung von LSBTI
am besten pädagogisch aufgegriffen und bearbeitet werden kann, tritt an anderer
Stelle der gleichen Gruppendiskussion deutlicher zutage. Es wird ersichtlich, dass
den Pädagog_innen ein Handlungswissen, insbesondere auch ein als passend
wahrgenommener Umgang mit LSBTI-Personen, fehlt:

Am: also das es da ganz verschiedene ä:ähm äh Be¿ndlich-


keiten gibt //hmhmm// die ich einfach so nich überbli-
cken kann. //hmhmm// und daf- da ¿nd ich es dann sehr
hilfreich wenn man weiß ey (.) so und so möchte ich das
es genannt wird, oder ich fühl mich als (.) Lesbe oder
lesbisch //hmhmm// und ja wenn=s da ne allgemeine Rege-
lung für gäbe fänd ich super; (2) //hmhmm// aber setzt
natürlich ne Offenheit auf beiden Seiten voraus. (.) auch
eben aus auf der Seite der betroffenen Person sag ich
ma, also der von der schwierigen Situation betroffenen
Person; (.) weil ähm:m (.) weil sie muss natürlich auch
klar sagen so und so möchte ich dis und kann nich im
stillen Kämmerchen sich sagen voraussetzen (.) ä:äh das
alle das verstehen,
(Gruppendiskussion Sozialpädagog _ innen)

Deutlich dokumentiert sich hier ein Wissen um die Begrenztheit des eigenen Wis-
sens und Könnens im Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Zugleich
wird ein Bedarf an Hilfe und Unterstützung in Bezug auf das eigene pädagogische
Handeln deutlich. LSBTI-Personen werden dabei aufgerufen, ihre Bedürfnisse zu
äußern und deutlich zu machen, wie sie ‚richtig‘ behandelt werden wollen. Zugleich
wird eine „allgemeine Regelung“ gewünscht. Das gegenseitige Verstehen und eine
gegenseitige „Offenheit“ werden als Idealkonstruktion entworfen. Doch auch über
den konkreten Umgang mit LSBTI-Personen hinaus fehlt ein Wissen darüber, wie
das Thema der sexuellen Vielfalt in den Alltag integriert werden kann. Vielfach
mangelt es an Ansatzpunkten, diese Thematik in der pädagogischen Praxis auf-
zugreifen und zu integrieren:

AF: es brauch noch ne ganze Weile eh dieses Thema bei d- ehe


ich da irgendwie n Ansatz (.) schaffe.
(Gruppendiskussion Sozialpädagog _ innen)
234 Friederike Schmidt und Anne-Christin Schondelmayer

In ihren Ausführungen knüpft die Pädagogin AF an die berufliche Weiterbildung


an, die sie im Rahmen der politischen Initiative bezüglich LSBTI erfahren hat. Dabei
werden grundlegende Schwierigkeiten ersichtlich, LSBTI in den pädagogischen
Alltag zu integrieren. Sie wird dafür „noch ne ganze Weile“ benötigen, ja es bleibt
sogar unklar, ob ihr eine Anknüpfung an LSBTI in ihrer Praxis überhaupt gelingen
wird („irgendwie n Ansatz schaffe“). Deutlich wird hier, dass die Pädagog_innen
mit LSBTI teilweise ein gänzlich unbekanntes pädagogisches Terrain beschreiten,
welches nicht nur Interesse, sondern auch praktischer Erfahrung bedarf.

2.3 Perspektiven und Haltungen pädagogischer


Fachkräfte zu LSBTI

In den Gruppendiskussionen und Interviews nennen die Pädagog_innen ver-


schiedene Beispiele aus der Praxis. An diesen zeigt sich, dass das Erkennen einer
pädagogischen Relevanz von LSBTI für den eigenen Handlungsspielraum sowie das
Entwickeln von Strategien im Umgang mit dem Thema von einer Haltung gegenüber
LSBTI bedingt ist. Im empirischen Material wird dabei eine Dominanz einer nicht
weiter hinterfragten heteronormativen Orientierung ersichtlich, wenngleich sich
in Einzelfällen auch eine heteronormativ-kritische Orientierung dokumentiert.
Losgelöst von der jeweils vorliegenden Einstellung und Haltung gegenüber sexu-
eller und geschlechtlicher Vielfalt im Allgemeinen, wird im Material deutlich, dass
pädagogische Relevanzsetzungen und das Erkennen von Handlungsmöglichkeiten
zunächst eng mit der eigenen Aufmerksamkeit für ein Thema zusammenhängen.
Dabei ist anzumerken, dass die interviewten Pädagog_innen diesen Zusammenhang
von Relevanzsetzung sowie Handlungsoptionen und eigener Sensibilität teils selbst
in den Interviews und Gruppendiskussionen thematisieren:

AF: wie gesagt ich glaube im Rahmenlehrplan steht für Deutsch


halt Liebeskonzepte aber wenn man halt nicht sensibi-
lisiert ist dann //mmh// fällt es und man selber nicht
betroffen ist //mmh// dann fällt es glaub ich //mmh//
ganz schnell irgendwie hinten runter
(Interview Referendarin)

In den Interviews und den Gruppendiskussionen nehmen die Pädagog_innen immer


wieder Bezug auf die Fortbildungen zu LSBTI, die sie im Rahmen der evaluierten
politischen Initiative besucht haben. Dabei ist festzustellen, dass die Fachkräfte
durch die Fortbildung ihre eigene Handlungspraxis und ihren bisherigen Umgang
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt – (k)ein pädagogisches Thema? 235

mit LSBTI kritisch reflektieren. Die Qualifizierung hat eine „Schärfung des Blicks“
sowie eine „Sensibilisierung“ bezüglich der Thematik LSBTI erreicht:

R: also wie gesagt bis zu dem Zeitpunkt war es sozusagen


für mich ähm //ja// insofern nicht wirklich schulrelevant
oder existent. //ja// jetzt nach der Schulung //mmh// würd
ich halt wenn ich jetzt sonne Einheit planen würde eben
mich fragen ähm lass ich=s einfach aus //mmh// nehm ichs
mit rein. //mmh// wenn ichs mit rein nehme was davon nehm
ich mit rein //mmh// und vor allen dem ist es ist es für
meine Schüler vielleicht auch wirklich interessant oder
ein Thema, //mmh// vorher hätt ichs einfach gar nicht //
mmh// beachtet so. //mmh// also es ist schon ne Anregung
da //mmh//
(Interview Referendarin)

Zugleich wird im Material deutlich, dass eine Vernachlässigung und ein Aus-
klammern von LSBTI auf eine implizite, nicht hinterfragte heteronormative
Orientierung zurückgeführt werden kann, wie das folgende Praxisbeispiel einer
Grundschullehrerin verdeutlicht. Im Laufe des Interviews macht die Pädagogin
deutlich, dass sie Themen wie das eigene Geschlechts- und das damit verbundene
Rollenverständnis im Zusammenhang von ,sozialem Lernen‘ in ihrem Unterricht
aufgreift und bearbeitet. Dazu stellt sie den Schulkindern die Aufgabe, zu klären,
was es heißt, ein Junge bzw. ein Mädchen zu sein. Die Klasse wird dabei in Mädchen
und Jungen unterteilt, bei der die Jungen sich mit dem „Mädchensein“, die Mädchen
wiederum mit dem „Jungensein“ beschäftigen sollen. Leitende Fragen werden u. a.
bezüglich der Vorstellungen der Schüler_innen über ihren Traummann bzw. -frau
gestellt. Entgegen ihrer zuvor getroffenen Aussage, dass sich die Pädagogin in ihrem
Unterricht nicht mit dem Thema der sexuellen Orientierung auseinandersetzt, wird
deutlich, dass dieses Teil ihres Unterrichts ist. Heterosexualität stellt dabei jene
Wahrnehmungs- und Beurteilungsfolie dar, entlang derer die aufgeworfenen Fragen
bearbeitet werden. Die Jungen sollen klären, wie ihre Traumfrau aussieht; während
sich die Mädchen mit der Frage nach ihrem Traummann auseinandersetzen sollen.
Alternativen Entwürfen sexueller Orientierung wird hier keine Relevanz eingeräumt.
Damit einhergehend wird ausschließlich von einem binären Geschlechtermodell
ausgegangen, in dem das biologische Geschlecht auf das soziale Geschlecht verweist
und in einem unauflöslich miteinander verschränkten Verhältnis mit der sexuellen
Orientierung am Gegengeschlecht gedacht wird (Mädchen > Jungen, Jungen >
Mädchen). Deutlich tritt hier eine heteronormative Orientierung zutage, die den
236 Friederike Schmidt und Anne-Christin Schondelmayer

Blick, die Perspektive und Umgang der Pädagogin mit dem Themenkomplex der
sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Zugehörigkeit bestimmt.
In dem empirischen Material wird schließlich ersichtlich, dass vor dem Hinter-
grund einer unreflektierten heteronormativen Orientierung darauf verzichtet wird,
LSBTI als Thema im pädagogischen Alltag zu integrieren, selbst wenn konkrete
Ideen dazu vorliegen:

AF: man kann es [LSBTI] mit reinnehmen wenn man es selber


möchte //mmh// oder wenn halt wirklich mal von Schülern
Fragen kommen. //mmh// aber es ist nicht so, dass man
wenn man so=ne Einheit planen würde wenns um Liebes-
lyrich- lyrik geht //mmh// das man als Lehrer oder ich
jetzt als Lehrerin nicht planen würde okay dann nehm
ich jetzt auch noch die homosexuelle Liebe mit rein //
mmh// und dann vielleicht auch noch die transsexuelle
und dieses, sondern man würde dann wenn nur von dieser
normalen //mmh// in Anführungsstrichen Liebe //mmh//
und Liebeskonzepten ausgehen.
(Interview Referendarin)

In der Art und Weise, wie die Lehrerin über die Optionen spricht, LSBTI in ihrem
Unterricht aufzugreifen, zeigt sich eine Distanz zur Thematik. Hier sei u. a. auf die
allgemeine Formulierung „man“ sowie auf die Aneinanderreihung unterschied-
licher, scheinbar beliebiger („dieses“) sexueller und geschlechtlicher Liebes- und
Lebensformen hingewiesen. In der Formulierung „vielleicht auch noch“ deutet sich
zudem an, dass eine Aufnahme der Thematik LSBTI in ihrem Unterricht für AF
als wenig praktikabel, wenig praktikabel, nahezu absurd erscheint. Gängige Praxis
ist die Thematisierung der „normalen“, sprich der heterosexuellen, „Liebe“, die als
Normvorstellung nicht in Frage gestellt und damit weiter als geltende Selbstver-
ständlichkeit fortgeschrieben wird.
Es ist allerdings auch darauf zu verweisen, dass sich in den Interviews und
Gruppendiskussionen in Einzelfällen eine heteronormativ-kritische Orientierung
dokumentiert, die wiederum einen differenten pädagogischen Zugriff auf LSBTI
bedingt. Statt LSBTI gänzlich auszuklammern und/oder Ideen zur Integration des
Themas im pädagogischen Alltag zu verwerfen, ist der Blick dieser Pädagog_innen
auf Möglichkeiten ausgerichtet, wie diese Thematik in der pädagogischen Praxis
aufgenommen und bearbeitet werden kann. Spezifisch für eine heteronormativ-kri-
tische Orientierung ist dabei eine wiederholte Bezugnahme auf die Lebens- und
Problemlagen von Adressat_innen, die als LSBTI-Personen definiert werden:
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt – (k)ein pädagogisches Thema? 237

AM: also ich hab nen Schüler bei dem ich ähm:m (.) so (.)
überlege ob des ob es sein könnte dass er schwul is, //
hmhmm// weil äh er sich so also im Umgang mit anderen
mit anderen Jungs (2) also sich da teilweise an die ran-
wirft; äh in Situationen in denen es unpassend is […]
ja und da hab ich das Gefühl das könnte sein dass der
(.) dass er schwul is, der is halt ara- also arabischer
Abstammung und seine Familie is also er is sonst also
er is=n Förderzentrum für Lernen insofern haben die sag
ich mal sowieso ä:äh f::f Erfahrungen mit Versagen sach
ich mal al- schulisch, //hmhmmm// und der so in ner
Familie ähm:m hat er Schwierigkeiten; also seine sein
Bruder is an ner Grundschule er is parallel dazu an ner
am Förderzentrum //hmhmm// und wird so als Versager in
ner Familie gesehen, also das schwarze Schaf (.) wird
auch äh nich akzeptiert; seine Meinung wird nich akzep-
tiert er wird von den Eltern auch (.) ä:äh (.) regelmäßig
runtergemacht; da wird gesagt ey äh du hast gar nix zu
sagen; der Bruder eben wie gesagt auch, und da hat der
halt wenig Freiraum sag ich mal sich zu entfalten, //
hmhmmm// wenn jetzt so was hinzukäme dass er auch noch
auch noch schwul is sozusagen
(Interview Referendar)

Ergänzend zur Thematisierung von LSBTI-Lebenslagen wird im Rahmen einer


heteronormativ-kritischen Orientierung auf eine pädagogische Verantwortung
gegenüber den Adressat_innen hingewiesen und dabei ein pädagogischer Unter-
stützungsbedarf formuliert. Zugleich wird wiederholt auf eigene Handlungsschwie-
rigkeiten eingegangen und Wege gesucht, diese zu bewältigen. Den Pädagog_innen
geht es um die Erweiterung des eigenen Handlungsspielraums in Bezug auf LSBTI,
wie auch im weiteren Verlauf des Interviews mit dem Referendar deutlich wird:

AM: da hätte ich gerne ne Möglichkeit wie man damit umgehen


kann oder diese Schüler auch darauf vorbereiten kann (.)
dass er eben doch sein Leben k- so leben kann nach der
Ausrichtung die er (.) wie er sozusagen gestrickt is und
dann (.) da also da hat ich da w- mein mein Interesse
sozusagen
(Interview Referendar)

In der Aussage des Referendars wird deutlich, dass er nicht nur auf der Suche nach
einer unmittelbaren Interventionsmöglichkeit bei diskriminierendem Verhalten
238 Friederike Schmidt und Anne-Christin Schondelmayer

ist, sondern dass er insgesamt daran interessiert ist, in seiner Klasse und Schule
ein Klima der Akzeptanz und Wertschätzung zu schaffen. Im Rahmen einer hete-
ronormativ-kritischen Orientierung umfasst dies den Versuch, das Thema sexuelle
Vielfalt auch über die konkreten Lebenssituationen von Schüler_innen hinaus in
den pädagogischen Alltag zu integrieren.

3 Fazit

Die Interviews und Gruppendiskussionen mit pädagogischen Fachkräften von


Schulen und der Kinder- und Jugendhilfe zeigen ein Spektrum pädagogischer
Wahrnehmung, Relevanzsetzung und des praktischen Umgangs mit dem Thema
LSBTI auf. Dabei wird deutlich, dass die Anerkennung und die Selbstbestimmung
sexueller und geschlechtlicher Vielfalt auf einer theoretischen Ebene, also auf der
Ebene von formulierten Einstellungen, eine grundsätzliche Zustimmung erhalten.
Die Rekonstruktion handlungspraktischen Wissens, also der Wahrnehmung und
Erfahrung von pädagogischen Fachkräften, dokumentiert dagegen, dass es in der
Umsetzung zu Problemen kommt. Diese reichen teilweise so weit, dass das Thema
aus der eigenen pädagogischen Praxis ausgelagert wird. Betrachtet man nun die
Folge dieser Diskrepanz zwischen explizierter Einstellung und Handlung, so wird
deutlich, dass eine Verschiebung von Verantwortlichkeiten auf die Bedürfnisse
der Adressat_innen bzw. andere Institutionen/ Bereiche sowie Unsicherheiten
im Erkennen von LSBTI-Kindern und Jugendlichen und deren ggf. spezifischen
Bedürfnisse die Marginalisierung dieser pädagogischen Adressat_innen implizit
reproduziert. Bleiben eigene Vorstellungen von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt
und damit auch die eigene pädagogische Praxis bezüglich des Themas unreflektiert,
werden ein Bedarf und Handlungsoptionen nicht erkannt bzw. ignoriert. Erst in
der Konfrontation mit LSBTI Jugendlichen, die sich aber als solche zu ‚erkennen‘
geben müssen, treten Wissensdefizite und Handlungsunsicherheiten zum Vor-
schein. Fortbildungen zur Thematik können – wie der Bezug auf das empirische
Material verdeutlicht – eine unterstützende Wirkung bei der Sensibilisierung und
Erweiterung des eigenen Wissens und konkreter Umsetzungsideen entfalten. Bis
diese neuen Perspektiven und das erweiterte Wissen jedoch Teil des beruflichen
Selbstverständnisses werden, bedarf es einer Bereitschaft zur Veränderung und
auch Zeit, um praktische Erfahrungen zu machen, auf die später dann ganz selbst-
verständlich zurückgegriffen werden kann.
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt – (k)ein pädagogisches Thema? 239

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Erste-Hilfe-Maßnahmen am Unfallort
Schule
Lesbische, schwule, bisexuelle, trans* und inter*
(LSBTI) Lebensweisen sichtbar machen
Conny Hendrik Kempe-Schälicke

Schule ist ein Ort, an dem sich viele Menschen begegnen, miteinander umgehen
und arbeiten. Es gibt, wie im Straßenverkehr, Regeln, angefangen mit der Haus-
ordnung, dem Schulgesetz des Bundeslandes bis hin zu Kinder- und Menschen-
rechten. Daher schildere ich, auf einem kleinen Umweg, zunächst einen Fall aus
dem Straßenverkehr: Eine Person liegt bewusstlos auf dem Gehweg. Die Menschen
eilen vorbei, nur einzelne zögern, endlich bleibt jemand stehen und nimmt sich
der hilflosen Person an.
Laut einer aktuellen EuroTest-Befragung des ADAC und des DRK (Resch 2013)
kannten nur 33 % der Befragten alle erforderlichen Erstmaßnahmen am Unfallort.
Nur rund 18 % wussten, was sie wirklich tun müssen. Ich empfehle Ihnen, besser
keinen Unfall im Straßenverkehr zu haben und biege gleichzeitig wieder auf die
Hauptstraße ein:
Hier zeigt sich eine interessante Analogie der Zahlen zu den Befunden einer Studie
von Ulrich Klocke an der Humboldt-Universität zu Berlin, die 2012 veröffentlicht
wurde. Dort wurden Einstellungen und Wissen von Berliner Schüler_innen und
Lehrkräften zu sexueller Identität untersucht. Ebenso wurde die Bekanntheit der
Berliner Rahmenplan-Vorgaben zur Sexualerziehung, die die Thematisierung von
verschiedenen sexuellen Orientierungen seit 2001 fächerübergreifend vorgeben,
erforscht. Nur 33% der Lehrkräfte wissen von der Existenz dieser Vorgaben und
nur 15% meinten, ihren Inhalt zu kennen (Klocke 2012, S.89). Die Leidtragenden
dieser Unkenntnis, also unsere Unfallopfer, sind die Kinder und Jugendlichen –
und besonders diejenigen, die Identitäten jenseits der Norm entwickeln -, aber auch
diejenigen, die unabhängig von ihrer Identität, als abweichend wahrgenommen
werden und daher ebenfalls potentielle Mobbingopfer sind. Ein Zehntel der befrag-
ten Neunt- und Zehntklässler_innen fühlen sich sexuell zum gleichen Geschlecht
hingezogen (ebd. S. 25). In jeder Klasse müsste demnach mindestens eine lesbische,
schwule oder bisexuelle Person bekannt sein. Wie ergeht es diesen Personen aber

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_19, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
242 Conny Hendrik Kempe-Schälicke

in der Schule? Laut Klocke (ebd.) verwendeten 62% aller Sechstklässler_innen nach
Angaben von Mitschüler_innen in den vergangenen zwölf Monaten „schwul“ oder
„Schwuchtel“ als Schimpfwort. „Lesbe“ wird von 40% aller Sechstklässler_innen
als Schimpfwort verwendet. Die Hälfte der Schüler_innen macht sich über nicht
geschlechtskonformes Verhalten lustig; z. B. einen Jungen, „der sich wie ein Mäd-
chen verhalten hat“ (Klocke 2012, S. 87). Neun von zehn Lehrkräften wissen nicht,
dass Lesben und Schwule häufiger als andere versuchen, sich das Leben zu nehmen
(ebd. S.67). Nur jede fünfte Lehrkraft interveniert konsequent, also immer bei
homophobem Verhalten. Etwa ein Viertel der Lehrkräfte lachen mit, wenn Witze
über Schwule oder Lesben gemacht werden (ebd. S.54).
Auch Erfahrungen von Referent_innen aus Fortbildungsveranstaltungen zur
Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt für Lehrkräfte und pädagogische
Fachkräfte zeigen1: Je mehr Schüler_innen über sexuelle Identität wissen, desto
mehr positive Einstellungen haben sie gegenüber Vielfalt und desto solidarischer
verhalten sie sich gegenüber Lesben und Schwulen. Schwule, lesbische, bisexuelle und
trans* Jugendliche, aber auch gleichgeschlechtliche Lebensweisen im Allgemeinen
sind meist nicht sichtbar im (Schul-)Alltag. Lehrkräfte verstecken sich oft hinter
dieser fehlenden Sichtbarkeit. Dies äußert sich z. B. in Aussagen wie: „Da haben
wir kein Problem mit an unserer Schule.“ An Grundschulen ist das Abwehrver-
halten der Lehrkräfte häufig besonders ausgeprägt, da die Meinung herrscht, dass
„die Kinder ja noch nicht betroffen sind“ (vgl. auch den Beitrag von Schmidt und
Schondelmayer i. d. B.). Dass Transgeschlechtlichkeit aber schon im Kindesalter
auftritt (Brill und Pepper 2011) und auch sexuelle Orientierung sich schon im Alter
von weniger als zehn Jahren zeigen kann (Hillier 2010), dass Eltern, Freunde und
Verwandte LSBTI sind und sein können, wird nicht beachtet oder als Einzelfall
abgetan. Die Berührungsängste sind groß und noch größer ist das fehlende Wissen.
Diskriminierendes Verhalten wird eher erduldet, wenn die diskriminierte Gruppe
nicht anwesend zu sein scheint.
Von welchen ‚Unfällen‘ in der Schule ist hier nun die Rede? Es sind die o. g. ho-
mophobe Beschimpfungen und die fehlende Sichtbarkeit von gleichgeschlechtlichen
Lebensweisen, die sich auf verschiedene Arten zeigt: Das Gros der Lehrkräfte lebt
selbstverständlich Heterosexualität als Modell vor. Fragen und Bemerkungen, die
sich auf gegengeschlechtliche Partner_innen beziehen, sind die Regel. Homose-
xualität wird meist als `Abweichung´, als etwas Anderes, Spezielles gesehen und
vielfach lediglich im Biologieunterricht der Sekundarstufe thematisiert (Bittner
2012 u. i. d. B.). So, wie People of Colour sich ebenfalls kaum in Unterrichtsmate-

1 Die Aussagen stützen sich auf Erfahrungen aus den Fortbildungen zur Akzeptanz se-
xueller und geschlechtlicher Vielfalt für Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte aus
Berliner Schulen im Zeitraum 2011 – 2013. Sie sind nicht empirisch untermauert.
Erste-Hilfe-Maßnahmen am Unfallort Schule 243

rialien und im Schulalltag wiederfinden (und wenn, dann oft nur in exotischen
und diskriminierenden Darstellungen), ergeht es Schwulen, Lesben, Bisexuellen,
trans- und intergeschlechtlichen Menschen (Bittner 2012 u. i. d. B.).
Auf dem Schulgelände wird nicht selten geküsst, umarmt und Händchen
gehalten. In 5-10 % der Fälle müssten es gleichgeschlechtliche Paare sein. In der
beobachteten Realität, so Berliner Ansprechpersonen für die Akzeptanz sexueller
Vielfalt (zumeist Lehrkräfte), geht der Anteil gegen Null. Die Verletzungen, die
aus dieser Wirklichkeit entstehen, sind vielfältig und können Ausdruck finden in
Schuldistanz, Krankheiten, Leistungsabfall oder gar Suizidversuchen2. Der Kieler
Sexualpädagoge Uwe Sielert berichtete auf dem 8.Ganztagsschulkongress 2012 in
Berlin in einem Workshop, dass ihm ‚bei seiner Arbeit mit obdachlosen Jugend-
lichen aufgefallen wäre, wie ungewöhnlich hoch der Prozentsatz homosexueller
Jugendlicher gewesen ist‘. Die Schulsprecherin einer Schule aus Schleswig-Holstein
forderte im gleichen Workshop, dass „der Wahnsinn an deutschen Schulen“ in
Bezug auf das homophobe Klima ein Ende haben müsse. Damit bleibt zu konsta-
tieren: Homophobes Verhalten und Unwissen über sexuelle und geschlechtliche
Identität sind nach wie vor Alltag in unseren Schulen.3 Würden Sie sich an einer
solchen Schule outen?

Sofortmaßnahmen zur Reduzierung von Diskriminierungen

Beschimpfungen, Mobbing und Ausgrenzung können reduziert werden. Es fol-


gen sechs Sofortmaßnahmen, die sowohl auf die Schule als auch auf Kinder- und
Jugendeinrichtungen bezogen werden können4 (siehe als Anregung auch die Bil-
dungsbausteine i. d. B.):

2 Die ehemalige Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Christiane Lüders,


bestätigt dies in einem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung vom 11.01.2014 mit
dem Titel „Zu Vielfalt ermutigen“ anlässlich der Diskussion in Baden-Württemberg
über den sogenannten Bildungsplan 2015. http://www.sueddeutsche.de/bildung/2.220/
homosexualitaet-in-der-schule-zur-vielfalt-ermutigen-1.1860365. Zugegriffen 13.01.2014
3 Eine aktuelle Zusammenfassung einiger Befunde mit Empfehlungen zum Abbau von
Benachteiligungen wurde im August 2013 von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes
im Bericht „Diskriminierung im Bildungsbereich und Arbeitsleben“ vorgestellt.
4 Die Bildungsinitiative QUEERFORMAT hat hierzu eine Reihe von Broschüren veröffent-
licht: „Wie sie vielfältige Lebensweisen unterstützen können“, http://www.queerformat.
de/schule/publikationen-und-materialien. Zugegriffen 13. Januar 2014. – Weiterhin gibt
es ein Faltblatt zur Studie von Klocke (2012), in dem ebenfalls Handlungsanregungen
244 Conny Hendrik Kempe-Schälicke

1. Ansprechperson:
Jede Schule benötigt mindestens eine Kontaktperson, die relevante Adressen und
Materialien kennt, ihr Wissen ins Kollegium trägt und sich regelmäßig mit anderen
Kontaktpersonen in Fachgesprächen austauscht, Kolleg_innen sensibilisiert und zu
Fortbildungen motiviert. In Berlin gibt es diese Funktion seit dem Schuljahr 2012/13.
Darüber hinaus erweist es sich als förderlich für ein anerkennendes Schulklima,
wenn bekannt ist, dass es lesbische und schwule Lehrkräfte an der Schule gibt.

2. Intervention:
Pädagogisches Personal sollte konsequent intervenieren bei diskriminierenden
Äußerungen wie z. B. „schwule Aufgabe“, „Transe“, „Kampflesbe“, aber auch bei
sexistischen Aussagen wie „du Mädchen“. Bei anderen Beschimpfungen wie „du
Jude“, „Hurensohn“, „ich fick deine Mutter“, „Türke“, „Kanake“, „Kartoffel“, „fette
Sau“, „du bist ja behindert“ erscheint dies weitgehend selbstverständlich. Darüber
hinaus trägt es zu positiveren Einstellungen bei Schüler_innen zu LSBTI bei, wenn
Gewalt und Mobbing im Leitbild der Schule geächtet werden.

3. Sichtbarkeit:
In den Schulhäusern fehlen Bilder und Plakate, die auch gleichgeschlechtliche
Lebensweisen und Menschen mit verschiedenen körperlichen Merkmalen und
Kleidung zeigen5. Im Unterricht fehlen entsprechende Aufgabenstellungen, Tex-
te und Grafiken. Möglichkeiten hierzu sind vielfach vorhanden. Beispielsweise
können im IT-Unterricht Word-Texte über Regenbogen- und andere Familien-
formen erstellt und formatiert werden. Warum wird die Homo- und Bisexualität
bekannter Schriftsteller_innen meist nicht erwähnt, während wir in der Regel die
(Ehe-) Partner_innen historischer Persönlichkeiten kennen? Warum werden im
Sozialkunde- und Politikunterricht keine Menschenrechtsverletzungen an LSBTI
behandelt? Die Bundeszentrale für politische Bildung stellt zahlreiche Materialien
zum Stichwort Homosexualität bereit6.

gegeben werden: http://www.psychologie.hu-berlin.de/prof/org/download/fb. Zugegriffen


03. Januar 2014
5 Ein gutes Beispiel war die Plakat-Kampagne des LSVD „Liebe verdient Respekt“ aus dem
Jahr 2009. http://berlin.lsvd.de/projekte/community-gaymes/attachment/samsung-di-
gital-camera-5. Zugegriffen: 13. Januar 2014
6 http://www.bpb.de/gesellschaft/gender/homosexualitaet. Zugegriffen: 13. Januar 2014
Erste-Hilfe-Maßnahmen am Unfallort Schule 245

4. Partizipation und Empowerment:


Kinder und Jugendliche müssen beteiligt werden. Wir brauchen – auch im Sinne
der späteren Wahlbeteiligung – starke Schüler_innen-Vertretungen und Mitbe-
stimmungs- und Partizipationsmethoden. Ist Ihre Schule eine Schule ohne Ras-
sismus – Schule mit Courage? Haben Sie den Klassenrat oder andere partizipative
Methoden eingeführt? Gibt es Schüler_innen-Lotsen an Ihrer Schule?
Kinder und Jugendliche müssen ernst genommen und gestärkt werden, auch in
non-konformem Geschlechtsrollenverhalten. Wenn Ihnen ein Mädchen namens
Petra sagt, dass sie ab sofort Kai genannt werden möchte, tun Sie es. Wenn ein Junge
namens Emre „Mädchenspiele“ bevorzugt, unterstützen Sie ihn. Was spricht dagegen?

5. Umfassende Sexualerziehung:
Sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität, Familie und verschiedene Lebenswei-
sen müssen von Beginn an selbstverständlich in jedem Fach thematisiert werden.
Es gibt in jeder Schule Regenbogenfamilien und Kinder mit scheinbar gegenge-
schlechtlichem Äußeren und Rollenverhalten. Einige Kinder wissen schon mit zwölf
Jahren, dass sie sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlen (vgl. z. B. Lauwaert
i. d. B.). Homo- und Bisexualität sind hier nicht als Abweichung, sondern als Teil
der vielfältigen Möglichkeiten zu sehen. Die Marginalisierung der Sexualität und
vielfältiger Lebensweisen auf den Biologie- oder bestenfalls den Ethikunterricht
macht diese zum Sonderfall und trägt zu Ausgrenzung bei (Bittner 2012 u. i. d. B.)

6. Externe Unterstützung:
Lehrkräfte können LSBTI-Aufklärungsprojekte einladen. Diese gibt es bundes-
weit7, oft nach dem Peer-Konzept. So sprechen Jugendliche mit Jugendlichen und
Berührungsängste können abgebaut werden.

Fazit

Schon diese sechs Maßnahmen – vorausgesetzt die Schulleitung trägt sie mit –
schaffen ein Schulklima, das Schule weniger zu einem konstanten Unfallort macht,
sondern zu einem Lernort mit Chancen für alle Kinder und Jugendlichen, unab-
hängig von ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität.

7 Eine Übersicht der bundesweiten Projekte finden Sie hier: http://www.bksl.de/


schulauf klaerung. Zugegriffen: 13. Januar 2014
246 Conny Hendrik Kempe-Schälicke

Im Straßenverkehr und in Bildungseinrichtungen gibt es laut der eingangs


zitierten Studien erhebliche Wissenslücken. Im Straßenverkehr jedoch ist Wegse-
hen und Weitergehen angesichts von Menschen in Not ein strafrechtliches Delikt,
nämlich unterlassene Hilfeleistung.

Literatur
Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2013) Diskriminierung im Bildungsbereich und
Arbeitsleben. Berlin
Bittner M (2011) Geschlechterkonstruktionen und die Darstellung von Lesben, Schwulen,
Bisexuellen, Trans* und Inter* (LSBTI) in Schulbüchern. Gewerkschaft Erziehung und
Wissenschaft, Frankfurt am Main
Brill S, Pepper R (2011) Wenn Kinder anders fühlen – Identität im anderen Geschlecht: Ein
Ratgeber für Eltern. Ernst Reinhardt Verlag, München
Hillier L, Jonas T, Monage M, Overton N, Gahan L, Blackman J, Mitchell A (2010) Writ-
ing Themselves in 3: The third national study on the sexual health and wellbeing of
same sex attracted and gender questioning young people. http://www.glhv.org.au/files/
wti3_web_sml.pdf. Zugegriffen: 13. Januar 2014
Klocke U (2012) Akzeptanz sexueller Vielfalt an Berliner Schulen: Eine Befragung zu Verhal-
ten, Einstellungen und Wissen zu LSBT und deren Einflussvariablen. Senatsverwaltung
für Bildung, Jugend und Wissenschaft, Berlin
Resch R (2013) EuroTest 2013 Umfrage Erste Hilfe-Kenntnisse. http://www.drk.de/filead-
min/Presse/Dokumente/Ergebnisse_Erste_Hilfe_Studie_2013_Sperrfrist_19.3.pdf.
Zugegriffen: 13. Januar 2014
Die Ordnung der Geschlechter
in Schulbüchern
Heteronormativität und Genderkonstruktionen in
Englisch- und Biologiebüchern
Melanie Bittner

LSBTI in der Schulbuchforschung

Die Untersuchung von Gender in Schulbüchern beginnt Ende der 1970er Jahre.
Sie geht von der durch die zweite westdeutsche Frauenbewegung hervorgegangene
Frauenforschung aus und fällt in eine Phase generell politisch motivierter Schul-
buchforschung (vgl. Hunze 2003). Mit der Weiterentwicklung der Frauenforschung
zur Geschlechterforschung und den Gender Studies verändern sich die Analyse-
kategorien, die in Schulbuchstudien verwendet werden. Stehen in den 1970er und
-80er Jahren Frauen, Sexismus oder Geschlecht im Zentrum der empirischen Un-
tersuchungen (vgl. Barz 1976; Borries 1982; Barz 1982; Glötzner 1982; Ohlms 1984;
Zumbühl 1982), konzentrieren sich neuere Studien stärker auf sexuelle Identität oder
Heteronormativität (vgl. Ziemen 2010; Autonomes Lesben- und Schwulenreferat an
der Universität zu Köln 2011) sowie andere soziale Ungleichheiten als Geschlecht
(vgl. Höhne et. al 2005; Osterloh 2008) bzw. auf Geschlecht im Zusammenhang mit
anderen Ungleichheiten (vgl. Markom und Weinhäuptl 2007; Hamann 2009). Zu
LSBTI in Schulbüchern gibt es insgesamt weiterhin deutlich weniger empirische
Forschung als zu Geschlecht. Die einzelnen Studien sind weniger umfangreich,
zumal es sich zumeist um Abschlussarbeiten (vgl. Ziemen 2010) oder Projekte
Studierender (vgl. Autonomes Lesben- und Schwulenreferat an der Universität zu
Köln 2011) handelt. Forschungspolitisch werden hier die wenigsten Ressourcen
investiert. Dieses Forschungsdesiderat greift die im Weiteren präsentierte Unter-
suchung von Schulbüchern auf.

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_20, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
248 Melanie Bittner

1 Rahmenbedingungen von Schulbüchern

Zur Kontextualisierung der Ergebnisse der Schulbuchanalyse möchte ich zunächst


die Besonderheiten des Mediums Schulbuch erläutern: Das sind erstens die recht-
lichen Rahmenbedingungen, denen sie als speziell für den Unterricht produzierte
Medien unterliegen, zweitens die ökonomischen Voraussetzungen innerhalb des
deutschen Schulbuchmarkts und drittens ihre Rolle im Unterrichtsalltag und ihre
pädagogische Funktion für die Akzeptanz von Geschlechtergerechtigkeit und LSBTI.

1.1 Rechtliche Vorgaben

Schulbücher unterliegen umfangreichen rechtlichen Normen auf Landesebene,


nationaler Ebene und internationaler Ebene, die hier nur punktuell dargestellt
werden können. Bei den Regelungen der Bundesländer handelt es sich zum einen um
Schulgesetze, Richtlinien zur Sexualerziehung, (Rahmen-)Lehrpläne, Bildungsstan-
dards oder Zulassungsbestimmungen. Hier finden sich für das Themenfeld Gender
und LSBTI in Schulbüchern z. T. ganz explizite und umfassende Regelungen, wie
das beispielsweise in Berlin der Fall ist. Dort wurden 2011 allgemeine Hinweise
zu den Rahmenlehrplänen für Unterricht und Erziehung in der Berliner Schule
(AV27: Sexualerziehung) verabschiedet. Weit verbreitet ist außerdem eine Regelung
innerhalb der Schulgesetze, die die Gleichstellung der Geschlechter verbindlich zur
Aufgabe von Schulen erklärt.
In der deutschen Verfassung, dem Grundgesetz, ist in Artikel 3 Absatz 3 zum
anderen ein Verbot der Diskriminierung wegen des Geschlechts enthalten. Sexu-
elle Identität wird dort nicht explizit genannt. Es gibt jedoch in der juristischen
Auseinandersetzung die Position, dass die Diskriminierung von LSBTI bei einer
angemessenen Auslegung des Begriffs Geschlecht mit Art. 3 abgedeckt ist (Ada-
mietz 2010; Plett 2007). Das Grundgesetz beinhaltet außerdem den staatlichen
Auftrag, die „tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und
Männern“ zu fördern.
Lehrinhalte und Lehrmaterialen werden zudem in einer internationalen Norm,
der Frauenrechtskonvention CEDAW (Convention on the Elimination of all
Forms of Discrimination against Women), bedacht. Es handelt sich dabei um eine
UN-Konvention, die von Deutschland ratifiziert wurde und somit eine Gültigkeit
beansprucht, die mit der deutschen gesetzlichen Regelung vergleichbar ist. Die
Vertragsstaaten müssen laut Art. 10 zum Thema Bildung die „Beseitigung jeder
stereotypen Auffassung in Bezug auf die Rolle von Mann und Frau“ sicherstellen,
Die Ordnung der Geschlechter in Schulbüchern 249

„insbesondere auch durch Überarbeitung von Lehrbüchern und Lehrplänen und


durch Anpassung der Lehrmethoden.“
Für den Transfer der rechtlichen Rahmenbedingungen in die konkreten Schul-
bücher sind wiederum die Bildungsministerien der Länder zuständig, wofür einige
Bundesländer Zulassungsverfahren nutzen. Über Maßnahmen zur Qualitätssiche-
rung, die Schulbuchverlage hinsichtlich Antidiskriminierung und Gleichstellung
anwenden, liegen allerdings keine Informationen vor.

1.2 Der Schulbuchmarkt

Der Bestand an Schulbüchern ist in Deutschland groß und seine Systematik


schwer zu durchschauen. Aufgrund der Kulturhoheit der Länder muss sogar von
16 regionalen Märkten für Schulbücher gesprochen werden (vgl. Baer 2010). Diese
werden grundlegend von „den Strukturen der Bildungssysteme, den curricularen
Entwicklungen, den demografischen Entwicklungen und den landesspezifischen
Systemen der Lernmittelfinanzierung geprägt“ (Baer 2010, S. 70). Auch lässt sich, in
Anlehnung an Baer (2010), formulieren: Geschichte ist in Deutschland nicht gleich
Geschichte und Biologie nicht gleich Naturwissenschaften. Für beide Fächer gibt es,
zumindest von den großen Reihen der Verlage, nahezu so viele Länderausgaben wie
Bundesländer. Zugleich müssen hier die unterschiedlichen Reihen für die diversen
Schulformen berücksichtigt werden. Und schließlich gibt es, wenn sich bspw. die
Lehrpläne oder Fächerstrukturen verändern, teils neuere und ältere Konzepte eines
Verlags gleichzeitig auf dem Markt.
Was diese kurzen Ausführungen zeigen sollen, ist zum einen die Schwierigkeit
der Auswahl eines überschaubaren Samples im Rahmen von Schulbuchanalysen,
die sich nicht auf ein Bundesland und eine Schulform beschränken. Zum ande-
ren verdeutlicht die Darstellung die große Konkurrenz, die um den Verkauf von
Schulbüchern herrscht.

1.3 Funktion von Schulbüchern im Unterrichtsalltag

Schule ohne Schulbücher ist auch nach der Etablierung neuer Medien für die
meisten Schulformen und Fächer schwer vorstellbar. Natürlich gibt es auch Leh-
rer_innen, die wenig oder nicht damit arbeiten, doch Unterrichtsalltag wird nach
wie vor stark von Schulbüchern geprägt. Sie bieten Orientierung und stellen eine
Arbeitserleichterung bei der Vorbereitung des Unterrichts dar. Häufig scheinen
sie gar die Kenntnis des anzuwendenden Lehrplans oder geltender Richtlinien zu
250 Melanie Bittner

ersetzen. Klocke (2012) stellte in einer umfangreichen Untersuchung zur Akzep-


tanz sexueller Vielfalt an Berliner Schulen fest, dass die rechtlichen Regelungen
zur Sexualerziehung, die in Berlin sehr umfangreich und pointiert sind, bei den
Schulleitungen relativ bekannt zu sein scheinen, jedoch kaum bei den Lehrer_innen.
Zu vermuten ist dabei, dass vor allem Personen an der Befragung teilnahmen, die
sich für das Thema interessieren.
Zudem scheint das Thema sexuelle Identität nicht gerade beliebt bei Lehrer_innen
zu sein. Lesbische und schwule Lehrer_innen berichten häufig, dass von ihnen als
‚Betroffenen‘ erwartet wird, das Thema zu übernehmen und dass sie zum Teil sogar
dazu aufgefordert werden. Neben dem Eindruck, vielleicht nicht genug über das
Thema zu wissen, trägt dazu sicherlich die Sexualisierung von Homosexualität bei.
Die Vorstellung vieler heterosexueller, Lehrer_innen von Unterricht zum Thema
Schwulsein oder Lesbischsein ist, über Sex sprechen zu müssen. Und Sexualität
scheint im Allgemeinen kein geliebtes Unterrichtsthema von Lehrer_innen zu sein.1
Dabei könnten doch die Assoziationen und Möglichkeiten sexuelle Vielfalt anzu-
sprechen ganz andere sein: Familien und Kinder, Oscar Wilde, Beth Ditto und Albus
Dumledore, Gesetzgebung und Rechtsdurchsetzung, Einkaufen gehen und Urlaub
planen. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen, denn sexuelle Vielfalt lässt sich im
Unterricht eben nicht nur thematisieren, wenn es um Pubertät, Geschlechtsverkehr
und Liebe geht2. Die Forschung zur Wirkung von Schulbüchern fehlt. Dennoch lässt
sich eine Marginalisierung von LSBTI im Unterricht dahingehend deuten, dass nicht
allen Schüler_innen die gleichen Bildungschancen ermöglicht werden. Kinder aus
sog. Regenbogenfamilien erleben die Auslassung ihrer Familienformen in Lehr-
materialien und Unterricht als unangenehm bis diskriminierend (vgl. Streib-Brzik
2012, S. 22). Es geht also nicht ausschließlich um Kinder und Jugendliche, die sich
als lesbisch, schwul, bisexuell, trans* oder inter* identifizieren, sondern ebenso
um Schüler_innen, deren Eltern, Geschwister, Verwandte und Bekannte nicht der
zweigeschlechtlichen oder heterosexuellen Norm entsprechen.

1 Diese Thesen wurden bei der Vorstellung der Studie im Rahmen der Fachtagung „Sexuelle
Identität und Gender: (K)Ein Thema in Schulbüchern“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, der
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und des Lesben- und Schwulenver-
bands Deutschland (LSVD) von vielen Lehrer_innen und Expert_innen formuliert und
diskutiert.
2 Viele Hinweise dazu finden sich in dem Praxisheft, das im Anschluss an die hier vor-
gestellte Studie von der GEW herausgegeben wurde (vgl. Göbel 2013)
Die Ordnung der Geschlechter in Schulbüchern 251

1.4 Schulbücher als Politikum

Die rechtlichen Rahmenbedingungen, die Kontextualisierung von Schulbüchern


in einem konkurrierenden Markt und die zentrale Rolle für den Unterrichtsalltag
und Bildungschancen zeigen, dass Schulbücher nicht einfach nur Wissen in Form
neutraler Fakten aufbereiten. Welche Themen werden gesellschaftlich als relevant
erachtet, dass sie Einzug in die Schulbücher finden und als Prüfungsstoff gelten?
Welche Themen gelten als zentrale Sachthemen, die alle Lehrer_innen selbst-
verständlich unterrichten können und müssen? Die Antworten auf diese Fragen
müssen gesellschaftlich verhandelt werden und die Gestaltung von Schulbüchern
ist auch heute noch ein Politikum.3

2 Zwischen den Buchdeckeln – Schulbücher empirisch

Geschlechterkonstruktionen und die Darstellung von LSBTI in Schulbüchern sind


Gegenstand einer Studie von Bittner (2011), die im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung
der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) durchgeführt wurde und
deren wichtigsten Ergebnisse hier vorgestellt werden.4 Im Rahmen des Forschungs-
projekts wurden zwei Fächer der Sekundarstufe I, Englisch und Biologie, ausgewählt.
Während die Untersuchung der Biologiebücher ausschließlich qualitativ erfolgte,
beinhaltete das methodische Vorgehen bei der Analyse der Englischbücher auch
einen quantitativen Teil.
Hauptkriterium für die Entscheidung, Biologiebücher zu untersuchen, war, dass
in diesem Fach in allen Bundesländern im Lehrplan geregelt ist, dass Themen wie
Pubertät, Sexualität, Beziehungen etc. im Biologieunterricht thematisiert werden
müssen.

3 In Frankreich führte eine Änderung des Lehrplans für Sexualerziehung und deren
Umsetzung in neuen Biologiebüchern zu Beginn des Schuljahrs 2011 dazu, dass die
Rolle von Gesellschaft und Erziehung nun auch bei der Entwicklung zu Frauen und
Männern thematisiert wird. Während dies einerseits Massenproteste auslöst, weisen
andere darauf hin, dass dies dem Stand der Genderforschung entspreche und begrüßen
die neuen Bücher (Ulrich, 2011). Der größte Niederländische Schulbuchverlag hat 2010
verkündet, dass auch schwule und lesbische Paare mit Kindern selbstverständlich als
Familien in den Lehrmaterialien dargestellt werden sollen (o. A. 2010). In Polen führte
die Zulassung eines Schulbuchs, in dem Homosexualität als Krankheit dargestellt wird,
zu öffentlichen Protesten des Arbeitskreises für Diversity (o. A. 2010).
4 Online verfügbar unter http://www.gew.de/Binaries/Binary88533/Schulbuchanalyse_web.
pdf. Zugegriffen: 17. Februar 2014
252 Melanie Bittner

Die Englischbücher hingegen wurden ausgewählt, weil dort Personen, Bil-


der und Geschichten dargestellt werden, die dem Alltag der adressierten Schü-
ler_innen ähneln sollen. Damit sind sie für eine Untersuchung der Darstellung
von Geschlechterstereotypen oder normativen Vorstellungen von Familie und
romantischen Liebesbeziehungen aufschlussreich: Wer ist mit wem befreundet?
Was unternehmen die Mädchen und Jungen in der Freizeit? Für wen schwärmen
sie? Und wer sind ihre Eltern?
In Untersuchung wurden ausschließlich aktuelle Bücher berücksichtigt. Das
älteste Schulbuch im Fach Biologie ist aus dem Jahr 2008, im Fach Englisch aus
dem Jahr 2005. Die Auswahl beschränkte sich auf die drei größten deutschen
Schulbuchverlage bzw. Verlagsgruppen: Cornelsen, Klett und Diesterweg. Die
elf untersuchten Englischbücher können in allen Bundesländern außer Bayern
verwendet werden. Bei den Biologiebüchern wurden Bücher für verschiedene
Bundesländer und Schulformen aufgenommen, wobei ein Schwerpunkt auf weit
verbreitete Reihen gelegt wurde.
Ziel der gleichstellungsorientierten Analyse war, empirisch zu untersuchen,
welche Geschlechterkonstruktionen in aktuellen Schulbüchern zu finden sind und
wie Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und Inter* (LSBTI) dargestellt werden. Der
Fokus wird dabei auf Normierungen und Stereotypisierungen durch Schulbücher
gelegt (ebd.).

2.1 Empirische Ergebnisse zur Konstruktion von


Zweigeschlechtlichkeit und der Darstellung
von Inter* und Trans*

Ein konstruktivistischer Genderbegriff umfasst viel mehr als nur die Darstellung
von Frauen und Männern oder die Machtverhältnisse zwischen Frauen und Män-
nern. Ein Verständnis von Geschlecht als sozialer Konstruktion beinhaltet, dass
die binäre Einteilung von Menschen in weiblich und männlich gesellschaftlich
gemacht ist (vgl. Wetterer 2010). Wird in Schulbüchern die Alltagstheorie der
Zweigeschlechtlichkeit reproduziert oder findet auch gendertheoretisches Wissen
Einzug? Wie werden Inter* und deren gewaltvollen Erfahrungen mit der Norm der
Zweigeschlechtlichkeit dargestellt? Und wie sind Trans* repräsentiert, also Men-
schen mit geschlechtlichen Identitäten, die nicht dem bei der Geburt zugewiesenen
Geschlecht entsprechen?
Hier zeigt die Analyse deutlich, dass die Norm der Zweigeschlechtlichkeit in den
Schulbüchern nicht hinterfragt wird, sondern ohne Problematisierung reprodu-
ziert wird. Vor allem durch das Aussehen von Personen wird in Englischbüchern
Die Ordnung der Geschlechter in Schulbüchern 253

Geschlecht als binäre Kategorie konstruiert. Dabei vermeiden die Darstellungen


jeglichen Spielraum bei der geschlechtlichen Zuschreibung, z. B. durch Codes – alle
Mädchen haben lange und alle Jungen kurze Haare. Die tatsächlich einzige Figur,
deren Aussehen nicht ausschließlich weibliche Attribute beinhaltet, ist Vanessa
aus Notting Hill Gate 1 (vgl. Edelhoff 2007).
In den Biologiebüchern sieht die Bilanz ähnlich aus5. Das Thema der Entwicklung
von Menschen und auch der Sexualorgane wird entlang unhinterfragter Katego-
rien von Männlichkeit oder Weiblichkeit präsentiert. Geschlechtliche Identität ist
ebenso eindeutig männlich oder weiblich und kongruent mit allen wiederum in
sich kongruenten Entwicklungen. Intersexualität wird nur in einem Biologiebuch
in einem Glossar erklärt. Über den Umgang mit Intersexualität innerhalb der ge-
sellschaftlichen Norm der Zweigeschlechtlichkeit, die Menschenrechtsverletzungen
und oft als Folter bezeichneten Eingriffe, wird wiederum kein Wort verloren. Im
gleichen Buch wird außerdem der Begriff Transvestit als „Mann, der sich meistens
aufgrund seiner sexuellen Neigung wie eine Frau kleidet und verhält“ (Bergau 2011,
S. 61) erklärt und durch ein Foto visualisiert. Thematisiert wird also ausschließlich
eine Form des geschlechtlichen Ausdrucks, der zwar als Teil von Trans* begriffen
werden kann, aber eben nur einen Ausschnitt darstellt und häufig nicht als Kritik
an der dominierenden binären Geschlechterordnung interpretiert wird.

2.2 Empirische Ergebnisse zur Repräsentation und


Darstellung weiblicher und männlicher Personen

Im Gegensatz zu früheren Schulbuchstudien (Barz 1982; Borries, 1982) zeigte die


vorliegende Analyse von Englischbüchern, dass weibliche und männliche Personen
auf Bildern quantitativ ähnlich präsent sind. Sprachlich hingegen werden in allen
Schulbüchern Frauen und Mädchen oft nicht explizit benannt, die Verwendung
geschlechtergerechter Sprache, selbst im Sinne neutraler Formulierung oder Dop-
pelnennung, hat sich noch nicht durchgesetzt.
Wie werden aber nun in den Schulbücher die beiden naturalisierten Geschlechter
dargestellt? Werden Vorstellungen ‚typischer‘ oder ‚normaler‘ Frauen und Männer
vermittelt oder vielfältige Geschlechterbilder angeboten? Die Untersuchung von
Geschlechterstereotypen zeigt dabei eine große Bandbreite des Umgangs damit,
die hier daher auch nur punktuell illustriert werden kann. Problematisch erschei-
nen beispielsweise folgende Fragestellungen einer Übung, die in Biologie heute
entdecken zu finden sind:

5 Zum Diskurs über Zweigeschlechtlichkeit in der Biologie siehe Voß (2010).


254 Melanie Bittner

„Welche Spiele werden gerne von Mädchen, welche häufig von Jungen gespielt? Welche
dieser Spiele haben etwas mit den späteren Aufgaben von Frauen und Männern zu
tun?“ (Jütte und Kähler 2008, S. 259)

An anderen Stellen finden sich deutlich subtilere Reproduktionen von Stereotypen.


Beispielsweise wird in Prisma Biologie 7/8 geschlechterstereotypes Verhalten in
Beziehungen reproduziert, wenn ein Mädchen an zwei Stellen stark beziehungso-
rientiert dargestellt wird, während der Junge unabhängiger ist und auch anderen
Interessen nachgehen will (vgl. Bergau 2011, S. 51, 58). In manchen Büchern gibt es
auch die stereotypisierende Tendenz, Lust und Erregung eher mit Männlichkeit als
mit Weiblichkeit in Verbindung zu bringen (vgl. Bartels-Eder 2011, S. 253; Arnold
2010; Form 2011).
Gleichzeitig gibt es viele Beispiele, wo Stereotype vermieden werden. In Englisch-
büchern sind Techniknutzung sowie MINT-Schulfächer nicht einseitig männlich
konnotiert. Bei der Darstellung von Sport und Hausarbeit finden sich Versuche,
Stereotype zu durchbrechen, gerade wenn es um Fußball als Hobby von Mädchen
geht. Auch in den erfreulicherweise mittlerweile in Biologiebücher enthaltenen
Unterkapiteln zu Geschlechterstereotypen, werden die Schüler_innen oft angeregt,
Annahmen im Stil von „typisch männlich – typisch weiblich?“ zu hinterfragen.
Die Aufgaben sind aber wiederum zum Teil sehr offen und unspezifisch und ma-
chen nicht deutlich, warum Stereotype problematisch sind. Auch geben sie keine
Gegenbeispiele oder Daten zur Begründung an die Hand. Abschließend seien dazu
einige Beispiele, in denen Geschlechterstereotype explizit in Frage gestellt werden:
In einem Biologiebuch werden Stereotype, nach denen bei Frauen „nein“ eigentlich
„vielleicht“ bedeutet und „vielleicht“ als „ja“ interpretiert werden sollte, oder nach
denen Männer nur Sex ohne Gefühle wie Zuneigung oder Liebe wollen, eindeutig
als „dumme Sprüche“ benannt (Hausfeld 2011, S. 244). In Biosphäre 1 und in Erleb-
nis Naturwissenschaften 1 werden Stereotype grundsätzlich hinterfragt, indem die
Konstruktion von Normalität durch Klischees aufgezeigt wird und auch dadurch
entstehende Ausschlussmechanismen kritisiert werden.
Bezüglich der Darstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit in Schulbü-
chern ist die Lage also ambivalent. Es gibt gute Beispiele, aber immer noch viele
Ansatzpunkte für die Überarbeitung, um Stereotypisierungen zu vermeiden und
kritisch in Frage zu stellen.
Die Ordnung der Geschlechter in Schulbüchern 255

2.3 Empirische Ergebnisse zu Heteronormativität und


der Darstellung vom Homo- und Bisexualität

Die in den untersuchten Schulbüchern vertretene Annahme der natürlichen Zwei-


geschlechtlichkeit und auch die Vorstellung einer Differenz zwischen Frauen und
Männern ist konzeptuell eng verknüpft mit dem Konzept der Heteronormativität
(vgl. Wagenknecht 2007; s. a. Klenk i. d. B.). Sie setzt nämlich voraus, dass es zwei
Geschlechter gibt, die sich, so die Norm, begehren. Sind Schulbücher auch hetero-
normativ und wie äußert sich das? Wie werden Homosexualität und Bisexualität
dargestellt?
Hier beschränkt sich die Darstellung der Forschungsergebnisse auf Biologiebü-
cher, denn in den untersuchten Englischbüchern gibt es schlicht keine schwulen,
lesbischen oder bisexuellen Menschen. Alle Paare oder angedeuteten Flirts entspre-
chen der heterosexuellen Norm. Auch werden im Sexualerziehungsunterricht in
den meisten Biologiebücher der 5. Klasse Homo- und Bisexualität überhaupt nicht
thematisiert, in den analysierten Büchern ab der siebten Jahrgangsstufe jedoch
durchgehend. Allerdings werden in keinem untersuchten Biologiebuch alle sexuellen
Identitäten gleichwertig behandelt. Heterosexualität nimmt den deutlich größten
Raum ein und dominiert implizit das vermittelte Wissen über Sexualität. Gerade
bei der Definition von Begriffen, die im Zentrum des Sexualkundeunterrichts
stehen, werden heteronormative Vorstellungen sichtbar: Pubertät zeichnet sich so
eben nicht durch entstehendes Begehren, sondern durch heterosexuelles Begehren
aus. Homosexualität wird dabei implizit fast schon pathologisiert:

„Für die persönliche Reifung ist es wichtig, dass sich Jugendliche mit Gleichaltrigen
zusammenfinden. Zunächst finden sich Gruppen, die nur aus Mädchen oder Jungen
bestehen. […] Nach und nach zeigen die Jungen und Mädchen Interesse für einander.
Anfangs ist das Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht recht unsicher. […]
Im Laufe der Zeit entsteht aber ein natürliches Verhältnis zum andern Geschlecht.“
(Beyer 2008, S. 151)

Auch bei der Definition von Geschlechtsverkehr wird Heteronormativität konst-


ruiert. So vermittelt folgende typische Definition ein sehr enges Verständnis von
Sexualität, das Schwule und Lesben und deren Sexualität völlig ausblendet:

„Geschlechtsverkehr: Sex, Liebe machen. Der steife Penis gleitet in die Scheide.
Beim Geschlechtsverkehr gelangen Spermien des Mannes in die Scheide der Frau.“
(Bartels-Eder 2011, S. 277)
256 Melanie Bittner

Zudem lässt sich feststellen, dass Homosexualität und Bisexualität in den vorhan-
denen Glossaren zwar häufig erklärt werden, nicht jedoch Heterosexualität, obwohl
es sich ebenso um einen Fachbegriff handelt.
Ergänzend dazu sei auf Paar-Abbildungen in den Schulbüchern verwiesen. So
ist in allen fünf Büchern, in denen Homosexualität thematisiert wird, ein Bild eines
schwulen Paars abgebildet (vgl. Budde 2011; Cieplik 2011; Arnold 2010; Bergau
2011; Berger 2011). In nur zwei Büchern werden wiederum lesbische Paare gezeigt
(vgl. Berger 2011; Bergau, 2011). Homosexualität wird hier vor allem als Schwulsein
konzipiert und Lesben werden dabei marginalisiert.
Die Diskriminierung von Lesben, Schwulen und Bisexuellen in Deutschland wird
schließlich in keinem der untersuchten Biologiebücher explizit benannt wird. Diese
wird höchstens verharmlosend als „Vorbehalte“ (Bergau 2011, S. 63) thematisiert.
Häufig wird zwar Toleranz eingefordert, aber eben nicht auf das rechtlich eindeutig
geregelte und politisch hart erkämpfte, Diskriminierungsverbot im Allgemeinen
Gleichstellungsgesetz (AGG) hingewiesen. Diskriminierung aufgrund von Homo-
oder Bisexualität wird entweder als Problem einer nun überwundenen Vergangenheit
präsentiert (vgl. Bergau 2011, S. 61) oder auch in „fremde Staaten“ (Berger 2011, S.
214) verwiesen, wo besonders dramatische Folgen wie die Todesstrafe angespro-
chen werden. Beide Aspekte sind wichtig und sollen nicht verschwiegen werden.
Allerdings muss auch die aktuelle Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft
Deutschlands thematisiert werden. Sehr deutlich wird das an der Erklärung des
Begriffs ‚schwul‘, das in einem Glossar als „[ursprünglich] ein Schimpfwort für
männliche Homosexuelle“ (Bergau 2011, S. 61) definiert wird. Die Verwendung
von „schwul“ als Beleidigung der Vergangenheit zu beschränken, vernachlässigt
gänzlich, dass das Wort gerade von Jugendlichen sehr häufig als Schimpfwort
verwendet wird (vgl. Klocke 2012, S. 46 f.).

3 „Homosexualität ist in unserer Gesellschaft kein


Tabuthema mehr.“6 – Ein Fazit

Die vorliegende Schulbuchanalyse zeigt, dass für Trans* oder Inter* in elf der zwölf
untersuchten Schulbücher kein Bewusstsein besteht: die Entwicklung einer eindeu-
tigen geschlechtlichen Identität in Passung mit eindeutigen Körpern innerhalb der
binären Kategorien Weiblichkeit und Männlichkeit wird unhinterfragt vermittelt.
Geschlechterstereotypen wird punktuell entgegen gehalten, aber sie werden auch re-

6 Berger 2011, S. 214


Die Ordnung der Geschlechter in Schulbüchern 257

gelmäßig hergestellt. Außerdem wird Heteronormativität durchgängig reproduziert.


Lesben, Schwule und Bisexuelle werden gar nicht oder nur am Rande dargestellt.
Die Schüler_innen erfahren nahezu nichts über Diskriminierung aufgrund des
Geschlechts oder der Sexualität oder über Antidiskriminierung. Die Ergebnisse
zeigen außerdem, dass die Genderforschung und Theorien von Geschlecht als
sozialer Konstruktion völlig ignoriert werden.
Derzeit hängt die angemessene Thematisierung von Gender und LSBTI in der
Schule also stark von den jeweiligen Lehrer_innen ab. Sie ist noch nicht in den Main-
stream des Schulalltags integriert und Schulbücher könnten diesen Prozess fördern,
wenn die Schulbuchverlage Antidiskriminierung und Vielfalt als Qualitätskriterien
für alle ihre Publikationen etablieren würden. In erster Linie müssen jedoch die
Ministerien adressiert werden, die rechtlich dazu verpflichtet sind, tatsächliche
Gleichstellung im Bildungsbereich umzusetzen. Geeignete Maßnahmen sind die
Etablierung von Gender und LSBTI als verbindliche Themen in Lehrplänen aller
Fächer und im Rahmen der Aus- und Weiterbildung von Lehrer_innen. Weiterhin
ist die ideelle Unterstützung und finanzielle Absicherung von außerschulischen
Aufklärungsprojekten und die Entwicklung und Verbreitung von Unterrichtsma-
terialien für verschiedene Fächer und alle Jahrgangsstufen nötig.
Aber auch Schulen und Schulleitungen können konstruktiv mit den derzeitigen
Mängeln umgehen: So können Lehrer_innen und Schüler_innen, die sich outen oder
sich mit Gender oder LSBTI beschäftigen wollen, ermutigt und unterstützt werden.
Ein entschiedenes und konsequentes Eingreifen bei Beleidigungen, Diskriminierung
oder Mobbing trägt zu einem wertschätzenden Schulklima bei und schafft für mehr
Menschen einen sicheren und anregenden Ort des Lernens. Die Lehrkonferenzen
können bei der Auswahl von Schulbüchern Rückmeldungen an die Verlage geben
und Vorschläge zur Verbesserung machen. Schulleiter_innen können Weiterbildung
für das Kollegium anbieten oder die Teilnahme an externen Seminaren fördern.
Und Lehrer_innen können Expert_innen aus Aufklärungsprojekten einladen und
im Unterrichtsalltag einen kritischen Umgang mit Schulbüchern pflegen. Denn
Schulbücher sind machtvolle „Konstruktionen und zugleich Konstrukteure sozialer
Ordnungen und gesellschaftlichen Wissens“ (Lässig 2010, S. 77).
258 Melanie Bittner

Literatur
Adamietz L (2010) Geschlecht als Erwartung: Das Geschlechtsdiskriminierungsverbot als
Recht gegen Diskriminierung wegen der sexuellen Diskriminierung und der Geschlecht-
sidentität. Nomos, Baden-Baden
Arnold K (2010) Fokus Naturwissenschaften Gymnasium 5/6. Cornelsen, Berlin
Autonomes Lesben- und Schwulenreferat an der Universität zu Köln (2011) „Und das ist
Homostadt.“Schwullesbische Lebensweisen in NRW‘s Schulbüchern: Eine Studie im
Rahmen der Aktionswoche gegen Sexismus und Homophobie an der Universität zu Köln.
Baer A (2010) Der Schulbuchmarkt. In: Fuchs E. et al. (Hrsg.) Der Schulbuchmarkt. Klink-
hardt, Bad Heilbrunn, S 68-82
Bartels-Eder M, Darge E, Dröge E, Heise S, Jütte M, Kleesattel W, Pätzelt C, Rach J, Reinold
U, Schwanewedel J, Werner K-H (2011) Natur und Technik Biologie 5/6. Cornelsen, Berlin
Barz M, Roloff M (1976) Familie und Frauenrolle und ihre Darstellung in Lesewerken der
Grundschule (unveröffentlichte Examensarbeit)
Barz, M (1982) Gleiche Chancen in Lesebüchern der Grundschule? In: Brehmer I (Hrsg.)
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Que(e)r durch den Schulalltag?
Annäherung an eine machtkritische Lesart von
Differenz am Beispiel eines Schülerinterviews
Bettina Kleiner

What can be heard and what can be seen are, after all,
primary lessons in any school. And once we understand
that these domains of saying and showing are regulated
and yet open to a number of interventions, then it would
seem that, pedagogically, saying and showing are the first
elements in any political education.
Butler 2006a (S. 534)

Einen Aufsatz im Rahmen eines Sammelbandes zum Thema „Selbstbestimmung


und Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“1 zu schreiben, stellt für
mich eine widersprüchliche Angelegenheit dar. Der Gegenstand meines Dissertati-
onsprojekts2 zu den schulischen Erfahrungen lesbischer, schwuler, bisexueller und
transidentischer Jugendlicher lässt sich zwar unter dieser Überschrift einordnen
und ich teile das im Abstract zu dem Band formulierte Anliegen, zu einer vertie-
fenden Auseinandersetzung über LSBTI bezogene Themen in der pädagogischen
Theorie und Praxis beitragen zu wollen. Jedoch existieren in meiner von Judith
Butlers gesellschaftskritischer Theorie geprägten Perspektive die Begriffe Selbstbe-
stimmung, Akzeptanz und Vielfalt vor allem als Gegenstände der Kritik: Sie stellen
m. E. die Verhaftung der Subjekte mit Macht und Normen, die hierarchische und
gewaltförmige Verfasstheit gesellschaft licher Verhältnisse und das Produzieren
von Unterscheidungen im Rückgriff auf Differenzordnungen nicht genügend in
Rechnung.

1 Dieses Thema war im Call for Papers für diesen Band als Titel des Bandes angegeben.
2 Kleiner B (im Ersch.) Subjekt. Bildung. Heteronormativität. Artikulationen schulischer
Differenzerfahrungen durch lesbische, schwule, bisexuelle und trans* Jugendliche.
Dissertation, Universität Hamburg

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_21, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
262 Bettina Kleiner

Mein Anliegen ist es nun, mit einer durch die Subjekttheorie Judith Butlers infor-
mierten Perspektive eine machtkritische und performative Lesart von Differenz an
Auszügen aus einem Interview meines Dissertationsprojekts zu versuchen3. Aus den
Ergebnissen werden Implikationen für pädagogisches Handeln abgeleitet, die nicht
allein auf eine verstärkte Sichtbarkeit von LSBTI in der Pädagogik zielen, sondern
auf eine Art der pädagogischen und organisationsbezogenen Thematisierung von
Differenz(ordnungen), die anvisiert, dass weniger „Gewalt gegen andere und gegen
mich selbst“ (Mecheril und Plößer 2012, S. 143) ausgeübt wird.

1 Differenzordnungen als Matrizes der Subjektivation

In der vorliegenden Analyse von Interviewauszügen steht die Frage nach Effekten
der symbolisch-diskursiven Differenzordnung Heteronormativität in schulischen
Interaktionen im Mittelpunkt. Mit Judith Butlers Theorie der Subjektkonstitution
und Performativität4 (Butler 1997; 2001; 2006), die die „theoretische Brille“ für meine
Untersuchung darstellt, lässt sich die (Re)Produktion von Differenzen performativ
denken (vgl. Plößer 2010, S. 218). „Performativ“ bedeutet in diesem Zusammenhang,
dass ich Differenzen nicht als vorhanden voraussetze (`Menschen sind verschieden
bzw. verschiedenen Gruppen zuzuordnen´), sondern dass ihre Herstellung (`Warum
und mit welchen Effekten werden Menschen in unterschiedliche (Gruppen) aufge-
teilt?´) im Mittelpunkt der Untersuchung steht. Aufgrund der geforderten Kürze
des Aufsatzes wird der theoretische Ansatz vorab knapp und damit sehr kompakt
erläutert. Selbstverständlich lässt sich der leichter zugängliche empirische Teil (2)
aber auch unabhängig davon lesen.

3 Auszüge aus diesem Interview sind unter einer anderen Fragestellung ausführlicher
rekonstruiert in einem Aufsatz veröffentlicht, den ich 2012 zusammen mit Hans-Chris-
toph Koller verfasst habe (Kleiner und Koller 2013).
4 Der Begriff Performativität leitet sich vom englischen to perform her, das sich in etwa
mit den deutschen Verben „aufführen, ausführen, vollziehen“ übersetzen lässt. Butler
erklärt, stark vereinfacht beschrieben, Performativität sprechakttheoretisch und be-
zeichnet damit (sprachliche) Handlungen, die das bewirken, was ausgesprochen wird,
wie z. B. bei der Eheschließung, wenn der Pastor ein Paar zu „Mann und Frau erklärt“.
In ihrer Subjekttheorie bezieht sie den Begriff auf das Hervorbringen von Körpern und
Identitäten. Auch diese werden performativ erzeugt, und zwar indem das wiederholte
Vollziehen oder Aufführen körperlicher und sprachlicher Handlungen sozialen Normen
und Vorgaben folgt. Erst durch das Zitieren solcher Vorgaben (wie sie u. a. in Medien,
z. B. Frauenzeitschriften und Männermagazinen auftauchen) entsteht die Illusion von
Männlichkeit oder Weiblichkeit.
Que(e)r durch den Schulalltag? 263

Die Entstehung von Subjekten kann mit Butler als Effekt von Anrufungen und
Diskursen verstanden werden, die performativ aufgenommen und zitiert – aber
auch transformiert – werden können (Butler 2001, S.10 ff.). Butlers Verständnis
der Anrufung rekurriert auf Althussers Ideologietheorie (1977), wobei die „An-
rufungsszene“ bei Butler eine zentrale Rolle für die Subjektkonstitution spielt. In
dieser materialisiert sich die Ideologie in der sprachlichen Anrede: Das (wiederholte)
Adressiert-werden als jemand, z. B. als Junge, setzt das Zum – Jungen – Werden in
Gang. Das Individuum wird so über das ordnungsgemäße Zitieren von Normen
zum geschlechtlichen Subjekt (Butler 1997, S. 29). Die Anrufung transportiert also
einen Auftrag, nämlich das zu werden, als das man angesprochen ist. Damit weitet
Butler Austins sprachphilosophisches Verständnis performativer Sprechakte (Austin
2002) auf die subjektkonstituierende Macht der Sprache aus (vgl. Tervooren 2006,
S.18). Durch wiederholte performative Akte werden demnach soziale Tatsachen
hervorgebracht, wobei die Kraft von Anrufungen in der regulierten Re-Zitation von
diskursiven Vorgaben und zu Normen verdichteten Aussagen und Bedeutungen
liegt(exemplarisch Butler 1997, S. 29). Darin liegt nun aber auch ein Handlungs-
potenzial: Im Interpretieren, Abwandeln oder Re-kontextualisieren der Zitate liegt
die Möglichkeit zur Veränderung (Butler 2006, S. 28ff.; 159f.). Auch wenn Anru-
fungen eine Identifizierung mit der Benennung oder dem Akt nahelegen, hängen
ihre konkreten Effekte wesentlich von den Reaktionen der Angesprochenen ab:
Ob diese sich damit identifizieren, die Bezeichnung zurückweisen oder aber die
intendierte Wirkung gar scheitern lassen, ist offen. Dabei wird das Handeln der
Subjekten nicht als selbstbestimmtes Handeln angenommen, sondern bleibt mit
den sie hervorbringenden Diskursen und Normen verstrickt (Butler 2001, S.8).
Das Subjekt wird von Butler als „sprachliche Gelegenheit des Individuums“
(Butler 2001, S. 15) verstanden, denn Individuen werden sozial verständlich, soweit
sie mit Benennungen und identitätslogischen Titeln (wie Frau, Migrant_in, Lesbe,
Trans*mann, Weiße, Schwarze) in die Sprache eingeführt werden. Diese im Zuge
von Selbstpräsentationen und Zuschreibungen geäußerten Bezeichnungen werden
durch hierarchisch und binär organisierte Differenzordnungen hervorgebracht,
die gesellschaftliche Normen transportieren und die Matrizes bilden, innerhalb
derer (an)erkennbare Subjektpositionen5 um den Preis von Ausschlüssen anderer

5 Subjektpositionen bezeichnen einzelne sprachliche Klassifikationen oder identitäre


Bezeichnungen, mit deren Hilfe Individuen in gesellschaftliche Verhältnisse eingeordnet
werden – und zwar in privilegierte oder marginalisierte Positionen (Butler 2001, S. 15
ff.). Subjekte besetzen in der Regel viele Subjektpositionen gleichzeitig. Butler betont
die Ambivalenz solcher klassifizierender Bezeichnungen: Zum einen sind diese eine
Bedingung der sozialen Handlungsfähigkeit, zum anderen gehen damit aber immer
Beschränkungen, Festlegungen und Ausschlüsse einher.
264 Bettina Kleiner

hervorgebracht werden. Konkreter formuliert, sind dort Subjektpositionen in


einem „binären Raster der Differenz organisiert, innerhalb dessen die anerkannte
Position (,Heterosexualität‘, ‚Männlich-Sein‘, ‚Weiß-Sein‘, ‚gesund‘) durch die
gleichzeitige Produktion einer anderen verworfenen Position (‚Homosexualität‘,
‚Weiblich-Sein‘, ‚Schwarz-Sein‘, ‚behindert‘) gestützt wird.“ (Mecheril und Plößer
2012, S. 137). Die Herstellung von Identität, so die Autor_innen weiter, erweise sich
auch deshalb als machtvoll, weil den Subjekten auferlegt wird, sich im Kontext von
Differenzordnungen darzustellen (ebd., S. 137).
Am Beispiel von Butlers Heteronormativitätskritik wird weiter deutlich, dass
das erzwungene Ideal einer „kohärenten“ Geschlechtsidentität (1991, S. 38) auf
einem Verweisungszusammenhang, also auf der lückenlosen „Vernähung“ von
sex-gender und Begehren, beruht: Im Rahmen der heterosexuellen Matrix oder
Hegemonie (Butler 1997, S. 40; 1991) sind nur weiblich identifizierte Frauen, die
Männer begehren und männlich identifizierte Männer, die Frauen begehren, ohne
weiteres sozial lesbar. Diese „Lesbarkeit“ schließt ein, dass Identität im Kontext der
Geschlechterordnung glaubwürdig in Szene gesetzt werden muss. Butlers Kritik
gilt nun vor allem der Gewaltförmigkeit solcher Ordnungen, in deren Rahmen
eindeutige Identitäten nur um den Preis des Ausschlusses anderer möglicher Sub-
jektpositionen (in Form imaginärer Identifizierungen und ganz „realer“ anderer
Subjekte) zu haben sind.
Ziel einer performativen – machtkritischen – Lesart von Differenz ist es folglich,
die Hervorbringung von hierarchischen Differenzen zu rekonstruieren und damit
einhergehende Einordnungen und Ausschlüsse in Frage zu stellen.

2 Effekte von Heteronormativität am Beispiel


eines Schülerinterviews

Den Gegenstand der folgenden Abschnitte bildet die Rekonstruktion von Auszügen
aus dem Interview mit dem Jugendlichen Jannes*6. Das Interview ist ein Bestand-
teil des empirischen Materials meines Dissertationsprojekts, für das ich zwischen
2008 und 2010 mittels episodischer Interviews lesbische, schwule, bisexuelle und
trans*geschlechtliche Jugendliche zu ihren Schul- und Unterrichtserfahrungen
befragt habe. Die Wahl der Interviewpartner_innen ist der untersuchungsleiten-
den Vorannahme geschuldet, dass von ihnen Dinge gesagt werden können, die

6 Der Name ist selbstverständlich ein Pseudonym. „Jannes“ ist zum Zeitpunkt des Inter-
views 19 Jahre alt und hat bis zum Realschulabschluss eine Gesamtschule besucht.
Que(e)r durch den Schulalltag? 265

im heteronormativen Diskursrahmen einem „normativen Schweigemechanismus


unterliegen“ (Motschenbacher 2012, S. 106). Im Zuge von sequenzanalytischen
Rekonstruktionen werden die Interviewtexte mit Hilfe erzähltheoretischer und
gesprächsanalytischer Ansätze auf Subjektivations- und Bildungsprozesse unter
den spezifischen Bedingungen der Institution Schule befragt.

Homophobe Sprüche und das Erleben von


(symbolischer) Gewalt

Im Interviewverlauf gehen den hier untersuchten Passagen für das Verständnis der
Interpretation wichtige Informationen voraus: Zum einen wird schon zu Anfang
des Interviews angedeutet, dass Jannes ein Referat gehalten habe, das sich auf ei-
nen Bravo-Artikel über Gewalt an Schulen bezog. Diese Information stellt in den
folgenden Segmenten immer wieder einen wichtigen Referenzpunkt für verschie-
dene Ausführungen dar, denn der Klassenvortrag war nach Jannes Aussagen mit
dem Ziel verbunden, sich die Angst vor den Übergriffen der Mitschüler_innen zu
nehmen. Als Beispiel für diese angedeuteten Übergriffe führt Jannes Sprüche an,
mit denen er im Sportunterricht drangsaliert wurde:

(…) und kamen dann halt echt teilweise so blöde Sprüche im


Sport, keine Ahnung, wie ÄH, ‚willst nicht zu den Mädchen
gehen?‘ ‚Schwuchtel‘ hier, ‚Schwuchtel‘ da. Also, deswegen.
Deswegen hab ich speziell auch dieses Thema genommen.

Mit der Aufforderung „‚willst nicht zu den Mädchen gehen?‘“ wird Geschlecht
relevant gesetzt und Jannes als geschlechtlich uneindeutig platziert. Das als Be-
schimpfung zu verstehen gegebene „Schwuchtel“ weist auf die Homophobie der
Aggressor_innen hin, die diesen Ausdruck in der Öffentlichkeit des Sportunterrichts
zur Degradierung nutzen. Die abwertende Bezeichnung setzt (Homo-)Sexualität
in der Schüler_innen-Interaktion relevant und weist dem Bezeichneten damit eine
abweichende Sexualität und untergeordnete Position zu. In der Praxis des – zu-
nächst verbalen – Ausgrenzens materialisiert sich die Dominanz der Sprechenden,
die sich in ihrer heterosexuellen und männlichen Normalität bestätigen, indem sie
eine Abgrenzung zu Weiblichkeit und (marginalisierter) Männlichkeit vornehmen.
In den folgenden Sequenzen beschreibt Jannes, dass er in der siebten, achten und
neunten Klasse mit Sprüchen drangsaliert worden sei. Diese seien so verletzend
gewesen, dass er über einen möglichen Schulabgang ohne Abschluss nachgedacht,
sich dann aber für eine andere Strategie entschieden habe. In diesem Zusam-
266 Bettina Kleiner

menhang ist wichtig zu erwähnen, dass Jannes sich nach eigener Aussage zum
Zeitpunkt der Sprüche gar nicht mit Homosexualität auseinandergesetzt hatte.
Auf die Frage der Interviewerin nach einer Situation, die im Zusammenhang mit
den Sprüchen als prägnant erinnert wird, wird schließlich folgende episodenhafte
Erzählung angeführt:

I: mhm. Wenn du so an diese Zeit vorher denkst, denkst mit


den Sprüchen. Gibt’s da sowas, so ne Situation, die du
erlebt hast, die für dich besonders prägnant war?
J: Ja. Ähm, wir hatten, ähm (..) nicht direkt son Sportfest,
sondern die Parallelklassen ham dann immer gegeneinan-
der Brennball oder so gespielt. Das war einmal im Jahr.
Und das war dann in der siebten Klasse da mussten die
ganzen Jungs sich dann aus allen Klassen in einem Um-
kleideraum umziehen [I: mhm] also, oben und unten. Und
ähm (..) ich war dann oben mit n paar anderen und, ähm,
dann ¿ng das dann halt auch an, und dann ham die mich,
ähm (.) irgendwie in den Duschraum auch eingesperrt,
weil die gesagt ham ‚Nee, wir wollen nicht, dat du dich
hier umziehst.‘ Und, ähm, ich war dann erst, ich saß dann
erst mal da drin, weil ich voll am Heulen [I: mhm] ich
war auch n Stück weit irgendwo verängstigt wenn du jetzt
raus gehst, was passiert, was machst du? [I: mhm mhm]
Bis mein Sportlehrer dann kam und ich einfach gegangen
bin (…)

Die Szene, von der hier die Rede ist, findet in der 7. Klasse zum Zeitpunkt eines
klassenübergreifenden Sportereignisses in einem Umkleideraum statt. Mit der Äu-
ßerung „dann fing das dann halt auch an“ wird der Verlauf einer für den Erzähler
Jannes unangenehmen Situation eingeleitet, um diese anschließend unvermittelt in
den Höhepunkt zu überführen, womit der Erzähler die Plötzlichkeit des Überfalls
in der Erzählung „performativ aufführt“. Jannes wird von den Mitschüler_innen in
den Duschraum eingesperrt, wobei er die Begründung des Übergriffs in direkter
Redewiedergabe anführt: „‚Nee, wir wollen nicht, dat du dich hier umziehst.‘“
Der Pronomengebrauch in der Passage deutet die sukzessive Ausgrenzung des
Erzählers aus der Gemeinschaft an: Während mit dem ‚wir‘ im ersten Redezug
noch eine Gemeinschaft entworfen wird, die ihn einschließt, zeigt sich in der
folgenden Gegenüberstellung von ‚ich‘ und ‚die‘ seine Isolierung aus dieser. In der
zuletzt angeführten Rede der Angreifer bezieht sich das ‚wir‘ nur noch auf den
„Chor“ (vgl. Butler 1997, S. 311) der homophoben Gleichgesinnten, dem Jannes als
ausgegrenztes Subjekt gegenübersteht.
Que(e)r durch den Schulalltag? 267

Die Eskalation der Situation wird zunächst fast bagatellisierend angeführt, bevor
Gefühle der Angst und des Ausgeliefertseins artikuliert werden. Diese drücken
sich besonders in der erzählerischen Ausgestaltung der Szene aus; die Opferposi-
tion spiegelt sich in der (Re)Konstruktion eines inneren Dialoges zwischen zwei
Stimmen, die Ratlosigkeit vermittelt. Beendet wird das Eingesperrtsein schließlich
dadurch, dass der Sportlehrer kommt und vermutlich – das wird hier nicht aus-
geführt – Jannes in der Dusche findet. Dieser sei nach Hause gegangen und habe
die Situation damit verlassen.
In dieser kurzen dichten Erzählung präsentieren sich nicht nur die Verletzung
und momentane Machtlosigkeit des Erzählers, sondern auch Hinweise auf die
hier wirksame Ordnung. So passiert die Szene im Umkleideraum, einem Ort, an
dem sich (wie in Toiletten) die symbolische zweigeschlechtliche Ordnung mani-
festiert: Umkleidekabinen können als Orte der Normierung bezeichnet werden,
die Eindeutigkeit verlangen und in die ungehindert nur Einlass findet, wer in der
Zwei-Geschlechterordnung als eindeutig durchgeht. Das aggressive Ausschließen
von Jannes scheint notwendig, um die Geschlechterordnung aufrechterhalten zu
können. In der Begründung der Angreifenden drückt sich deren Selbstverständnis
als gate keeper für den Umkleideraum aus: Sie bestimmen, wem der Zugang zur
Zone der Jungen gewährt oder verweigert wird. Die dem Übergriff vorangegan-
genen Etikettierungen als „Schwuchtel“ und uneindeutiger Junge werden hier zur
Legitimierung für die gewaltsame Ausgrenzung.

Die Wendung gegen die verletzenden Bedingungen

In den im Interviewtext folgenden Segmenten leitet der Erzähler wieder zu seinem


Referat über und beschreibt die Reaktionen von Eltern, Lehrer_innen und Direktor
auf das Öffentlich-Werden des Übergriffs zwei Jahre danach. Jannes’ Schulzeit
zerfällt in der Interviewerzählung in die Zeit vor und nach dem Referat. Danach,
so wird wiederholt angeführt, sei es „anders und schöner“ in der Schule gewesen.
Im zehnten Interviewsegment gelingt es der Interviewerin mit einer Frage nach
Jannes’ Klassenvortrag zum Thema Gewalt eine kurze Erzählung zu motivieren:

I: Und wie hast du‘s dann gemacht?


J: Ähm, ja wir ham halt über dieses Thema Mobbing gespro-
chen, und, ähm, dann meinte ich halt so, ja, Homosexu-
elle werden ja oft gemobbt. Und, ähm, dann meinte mein
Lehrer so, ja, und dann hab ich einfach nur gesagt, ja,
so wie ich. [I: Hmhm] Da war er natürlich erstmal still
und alle habn total verwirrt geguckt, weil, ich denke,
268 Bettina Kleiner

im ersten Moment wussten sie auch nicht, wie sie das


aufnehmen sollten, so. Meint der das jetzt ernst oder
ist das wieder so ne, son ironischer Spruch von Jannes?
[I: Hmhm] Und, ähm, dann meinte ne Klassenkameradin so
‚Wie? Wie du?‘ Da hab ich gesagt ‚Ja, ich bin schwul.‘ Ja,
und dann, halt raus, ich hab, ich musste erst, also, im
ersten Moment musste ich lachen und grinsen [I: Hmhm.
Hmhm] Also, es war dann aber irgendwie, wo ich mich froh
drüber gefühlt hab, auch selber zu sagen, irgendwo [I:
Hmhm] Na, ja.

Zwei Jahre nach dem Übergriff wird der Klassenvortrag über Gewalt an Schulen
zum Anlass, eigene Erfahrungen mit Mobbing schrittweise einzuführen. Erst auf
die Nachfrage des Lehrers bezieht Jannes die zunächst allgemein angesprochenen
Themen Mobbing und Homosexualität auf sich. Die Formulierungen „Homosexu-
elle werden ja oft gemobbt“, „ja, so wie ich“ sind auffällig vage gehalten – es bleibt
unklar, ob hier auf Mobbing oder auf Homosexualität oder auf beides referiert wird.
Die uneindeutige Referenz (die im Interview an mehreren Stellen erfolgte) könnte
u. a. auf eine Verstrickung der beiden Themen in Jannes Biographisierung der
Schulzeit hinweisen. Erst auf das ungläubige Nachfragen der Mitschülerin erklärt
er öffentlich und knapp seine Homosexualität: „Ja, ich bin schwul“.
Mit dem Bekunden der Homosexualität auf der „Bühne“ des Klassenraums
verschiebt der Erzähler den Signifikanten „Schwuchtel“ zu dem von der Homose-
xuellenbewegung geprägten „schwul“. Im gleichen Zug nimmt er den „Sprüchen“
die Spitze: Mit dem Zur-Sprache-Bringen seiner Identifizierung wird diese für
die anderen (an)erkennbar und tritt damit in den als geschützt eingeschätzten
Klassenraum ein. Jannes rekontextualisiert den Signifikanten, indem er ihn von
eher informellen Schüler-Interaktionen in den offiziellen Unterrichtsdiskurs über-
führt. Dabei hat er die Gelegenheit, das Wort zum einen – implizit – auszustellen
als eines, das ihn ehemals verletzt hat („Homosexuelle werden ja oft gemobbt“),
zum anderen aber auch, es neu aufzuführen als eines, mit dem er sich nun positiv
„schwul“ identifiziert. Nicht zuletzt wird mit seinem Outing Heterosexualität als
Norm im Klassendiskurs erkennbar.
Die Voraussetzungen dafür, dass Jannes Vorgehen gelingen kann, sind erstens die
Anwesenheit eines als parteilich eingeschätzten Lehrers, zweitens der „Diskurs, der
dem ‚Ich‘ vorhergeht und es ermöglicht“ (vgl. Butler 1997, S. 310), nämlich der der
Homosexuellenbewegung und drittens, die Situation des Klassenvortrags. Jannes
nutzt dort die Konventionen des Unterrichtsgesprächs, um ein für ihn prekäres
Thema zu behandeln: In diesem Rahmen wird es möglich, dass er seine Stimme
mit Autorität anreichert. Unterricht zeigt sich in der prägnanten Erzählung als
Que(e)r durch den Schulalltag? 269

ein von verschiedenen Machtverhältnissen durchzogenes Feld, das Asymmetrien


beinhaltet, in dem Positionen aber gestaltbar sind.
Im vorliegenden Auszug orientieren sich zwar alle Figuren am diskursiv struk-
turierten Rahmen eines Unterrichtsgesprächs, jedoch nimmt Jannes für kurze Zeit
die Rolle des Lehrenden ein. Auch wenn ihm die Fehlaneignung von schwul gelingt,
begibt er sich damit gleichzeitig in eine Position der eindeutigen Zugehörigkeit,
die zunächst andere Optionen der Identität und des Begehrens einschränkt. Diese
Beschränkung zeigt sich in einer Passage zum Abschluss des Interviews, in der
Jannes schildert, dass er einen Vertrauenslehrer aufgrund von Irritationen bezogen
auf seine Geschlechtsidentität um Rat fragt.

Identität um welchen Preis?

Jannes gibt zunächst an, dass er an sich Veränderungen bemerkt hat, die darin
bestehen, dass er seine Kleidung und sein Verhalten „immer weiblicher“ empfin-
det, was offensichtlich ambivalente Gefühle auslöst: Die empfundene Weiblichkeit
steht in seiner Wahrnehmung im Widerspruch zu seinem Outing und der damit
verbundenen Position als schwuler Junge:

Und nun hab ich mich ihm anvertraut, weil ich einfach nicht
wusste, ob das normal ist oder ((B: Hmhm)) ob ich irgendwie,
ähm, weiß ich nicht, ob ich jetzt, ob ich vielleicht auch
irgendwie im falschen Körper bin, weil ich mich ja jetzt
schon geoutet hab, dachte ich auch teilweise, ähm, so [un-
verständlich] bist du eigentlich gar kein Mann, irgendwie.
Keine Ahnung.

Jannes öffentlich gemachte Homosexualität stiftet nun Irritation in Bezug auf


seine Geschlechtsidentität, denn mit der Identifizierung als „Schwuler“ geht eine
Festlegung auf eine männliche Identität einher, die im Widerspruch zu dem sub-
jektiv empfunden Weiblich-Werden steht. Jannes „Irritation“ lässt sich im Rekurs
auf die soziale Ordnung verstehen, die vorgibt, was als normal und erwartbar
gilt (vgl. Hoffarth et al. 2013, S. 61): „Normalität“ bezogen auf Geschlecht und
Geschlechtsidentität, das vermittelt sich in in Jannes Beschreibung Beschreibung,
bedeutet Kohärenz und Konsistenz. Zu einem körperlich männlichen Geschlecht
gehört folglich eine männliche Geschlechtsidentität und ein männliches Verhalten,
bzw. eine männliche Inszenierung. Im erzählten Text präsentiert sich ein Moment
des Konflikts zwischen den Gefühlen des Erzählers und diesen heteronormativen
Diskursen. Der Konflikt wird von Jannes auf den eigenen Körper und die eigene
270 Bettina Kleiner

Identität bezogen und individualisiert. Die Geschlechterordnung und damit die


Struktur treten in den Hintergrund. Die typische Metapher „im ‚falschen‘ Körper“
betont die Ebene des individuellen Unbehagens mit dem eigenen Körper, blendet
aber heteronormative Zweigeschlechtlichkeit als (gewaltförmigen) Hintergrund
des Konflikts aus (vgl. Hoenes 2007, S. 195).

3 Weniger Gewalt gegen andere und gegen mich


selbst ausüben

Die größte Herausforderung, die sich in dem Interview bezogen auf Jannes Schulzeit
rekonstruieren lässt, liegt in der von ihm als überraschend erlebten Ausgrenzung
durch andere Schüler_innen. Seine Welt-, Anderen- und Selbstverhältnisse (Koller
2012, S. 16ff.; S. 58) geraten durch die homophoben Anrufungen als Schwuchtel und
Junge, der nicht in die Geschlechterordnung passt, in eine massive Krise. Dass eine
Auseinandersetzung mit Homosexualität für Jannes zum Zeitpunkt der Sprüche
und Angriffe gar nicht aktuell war, wirft die Frage nach dem Anlass für die Gewalt
gegen ihn auf, die auf der Grundlage des Interviewgesprächs nicht beantwortet
werden kann. Deutlich wird jedoch, dass die Defizit- und Differenzkonstrukti-
onen, die ihm zugeschrieben werden, so anschlussfähig sind, dass sich mehrere
Schüler_innen zusammenfinden, die ihn drangsalieren, wobei die Übergriffe von
ihm zunächst gar nicht artikuliert werden können.
Erst im Zuge des Klassenvortrags zwei Jahre später gelingt es dem Erzähler, den
Signifikanten schwul strategisch geschickt positiv zu besetzen und den Übergriff
durch seine Mitschüler_innen anzuklagen. Der Rückgriff auf bestimmte Voraus-
setzungen oder Ressourcen ermöglicht ihm dieses Handeln7.
Die Verstrickung von Verletzung und Identifizierung, die Bestandteil dieses
Vorgehens ist, zeigt sich im Interviewverlauf an verschiedenen Textstellen auf der
Ebene der Deixis8: Weil streckenweise sowohl auf Mobbing als auch auf Outing
ausschließlich mit dem Pronomen „das“ und dem Platzhalter „das Thema“ ver-
wiesen wird, verschwimmen die Bezugnahmen, woraus ich abgeleitet habe, dass

7 Daraus lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt meiner Datenauswertung ableiten, dass Ju-
gendliche unter schlechteren Bedingungen – bspw. wenn ihnen gar keine Unterstützung
zur Verfügung steht, wenn sie keine Möglichkeiten finden, sich zu artikulieren oder
wenn sie mehrfach diskriminiert werden, weniger Möglichkeiten haben, widerständige
Handlungsweisen zu entwickeln.
8 Deixis:Zeigefunktionen im Text, bspw. hier, jetzt, dort, das, der etc.
Que(e)r durch den Schulalltag? 271

Mobbing und Outing in Bezug auf die Biographisierung der Schulzeit gar nicht
zu trennen sind.
Auch wenn Jannes Outing während des Klassenvortrags einen Ort schafft, aus
dem Kritik und Einspruch möglich werden, zeigt sich, dass seine „eindeutige“
Identifizierung aus einem Zwang resultiert und Beschränkungen nach sich zieht
(vgl. Butler 1997, S. 308). Vor allem durch die immer wieder erfolgenden Übergriffe
entstand die Notwendigkeit, sich öffentlich zu bekennen, wobei er zu dem verlet-
zenden Übergriff zurückkehren muss. Der Preis für die Verbesserung seiner Lage
ist, dass er sich als Klassenschwuler positioniert und dies zu einem Zeitpunkt, zu
dem er „noch gar keine Erfahrungen“ hat und seine Lebenssituation vermutlich
eher von Suchbewegungen bezogen auf Geschlechtsidentität und Begehren ge-
prägt ist. Jannes im vertraulichen Gespräch vorgenommenes Sprechen über sein
körperliches Unbehagen deutet darüber hinaus an, dass dem öffentlichen Outing
auch eine normalisierende Komponente innewohnt: Während Schwulsein im
Unterricht thematisiert werden konnte und letztlich in eine Rückführung in die
Klassengemeinschaft (und -ordnung) mündet, sind Verunsicherungen bezogen
auf Geschlechtsidentität dort nicht ohne Weiteres sagbar. Beide Positionierun-
gen – schwul und zu weiblich – reagieren auf die entsprechenden verletzenden
Anrufungen: Die eine kann öffentlich resignifiziert werden, die andere wird im
informellen Raum verhandelt. Im Hinblick auf Judith Butlers Theorie stellt sich
in diesem Zusammenhang die Frage, wer in einer heteronormativen Gesellschaft
überhaupt eine „richtige“ und eindeutige Männlichkeit oder Weiblichkeit verkörpern
kann. Diese Perspektive verweist auf die Notwendigkeit, mit solchen begrenzenden
gesellschaftlichen Vorstellungen von Geschlecht und Begehren zusammenhängende
Geschlechternormen in Frage zu stellen (Butler 2009, S. 9 ff.).
Bezogen auf pädagogisches Handeln legen diese Ergebnisse nah, dass es nicht
allein um das Befördern einer erhöhten Akzeptanz von LGBTI Jugendlichen in der
Schule gehen kann, zumal Akzeptanz und Toleranz Ausdruck einer hierarchischen
und asymmetrischen Kommunikation sind, die vom Gutdünken der Gewährenden
abhängt (Diehm 2010, S. 127). Vielmehr müsste Schule zum einen den Auftrag
annehmen, Lehrpläne, Lehrmaterial sowie Unterrichtsdiskurse auf heteronor-
mative Ausschlüsse zu befragen. Zum anderen wären auf verschiedenen Ebenen
Lebens- und Begehrensweisen jenseits von Heterosexualität und rigider Zweige-
schlechtlichkeit selbstverständlich anzusprechen, ohne damit neue Eindeutigkeiten
und Festschreibungen zu erzeugen. Solche Lebens- und Begehrensweisen stellen
in informellen und institutionellen schulischen Interaktionen aber bisher meist
marginalisierte Positionen und Themen dar (vgl. Sielert und Timmermanns 2011).
Dagegen werden Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit nicht unbedingt als
Klassifizierungen sichtbar und sind in der Regel mit dem Gefühl von Normalität
272 Bettina Kleiner

besetzt und damit privilegiert. So können Versuche des „selbstverständlichen“


Sprechens über bspw. Homosexualität, Trans*, Mehrfachzugehörigkeiten, un-
eindeutige oder veränderliche Identitäten zunächst vielerorts doch als deutliche
„Ausnahmen“ oder „Auffälligkeiten“ wahrgenommen werden und rufen als solche
möglicherweise Irritationen in pädagogischen Interaktionen hervor. Eine macht-
kritische Thematisierung von Differenz in der Lehre, so auch Hoffarth et al. (2013),
habe ein deutliches Irritationspotenzial für alle beteiligten Subjekte, weil sie ihre
Wahrnehmungen, Selbstverständnisse und Identifizierungen in Frage stellen kann.
Irritationen können jedoch Bildungsmöglichkeiten eröffnen – auch wenn diese
nicht linear produzierbar sind (vgl. ebd. 2013, S. 54).
So hat ein aktueller Aufsatz von HDC (2014) Schüler_innengespräche über ei-
nen deutungsoffenen Kurzfilm mit einem trans*Protagonist_en zum Gegenstand,
der Konflikte mit normativen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit
thematisiert. In Decke-Cornills Analyse der Gruppendiskussionen wird deutlich,
dass dieser Film sowohl Normalisierungsversuche als auch kritische Reflexionen
bei den Schüler_innen auslöst, wobei am Ende eine gewisse Beunruhigung bleibe,
die keine schlechte Voraussetzung für kritische Verhandlungen von Normativität
darstelle (ebd.). Lehre zum Thema Differenz sollte sich also auf der Ebene päd-
agogischer Maßnahmen mit der Spannung zwischen Lehrkonzepten und deren
(möglicherweise irritierender) Bearbeitung durch Jugendliche, Schüler_innen
und Student_innen auseinandersetzen bzw. Umgangsweisen mit verschiedenen
Reaktionen entwickeln. Dies setzt formelle Rahmungen voraus, in denen Bildungs-
gelegenheiten angeboten werden können, braucht aber auch das Eingeständnis von
Unklarheiten und das Kommunizieren von Irritationen (vgl. Hoffarth et al. 2013,
S.70), folglich eine offene Gesprächskultur.
Solche Veränderungen sind, bezogen auf Schule, im Unterricht und – darauf
weist Florian Klenk in seinem Beitrag hin – Fachkulturübergreifend auf der Ebe-
ne der Professionalisierung von Lehrenden anzusiedeln. Darüber hinaus müssen
strukturelle und organisationale Rahmenbedingungen von Unterricht und Lehre
einbezogen werden (Gomolla 2009; Cameron und Kourabas 2013), ohne die Ver-
suche der differenzsensiblen Lehre auf halber Strecke steckenbleiben.

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Sexuelle Diversität als Schamgrenze der
Sexualaufklärung im Biologieunterricht!?
Sara Blumenthal

Sexuelle Diversität als Schamgrenze der Sexualaufklärung

Einleitung

Zahlenspiele bezüglich sexueller Diversität1sind aus einer sozialkonstruktivistischen


Perspektive2, wie auch mangels verlässlicher Statistiken, mit Vorsicht zu betrachten
(vgl. Fuge 2008, S. 8). Konservativ geschätzt sind von den etwa 25 Jugendlichen
einer Schulklasse ein bis drei sexuell gleichgeschlechtlich orientiert oder werden
sich gleichgeschlechtlich orientieren. Hinzu kommt eine noch höhere Anzahl von
Jugendlichen, welche gleichgeschlechtliche sexuelle Erfahrungen gemacht hat
oder noch machen wird (vgl. ebd.). Zudem wird, statistisch gesehen, jede Schule
von eine_r Schüler_in besucht, die aus medizinischen Gesichtspunkten nicht als
typisch männlich oder weiblich aufgefasst wird oder wurde (vgl. Pschyrembel
in Timmermann 2008, S. 261). Dies gilt auch für Jugendliche, die sich als trans*
identifizieren, sich als situativ oder dauerhaft nicht mit dem Geschlecht, welches
ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, identifizieren oder dies noch tun werden
(vgl. Chebout und Sauer in Bittner 2012, S. 9). In Berlin sieht der Rahmenlehrplan
in der Doppeljahrgangsstufe 7/8 im Fach Biologie das Thema „Sexualität und
sexuelle Orientierung“ vor, wobei homo- und heterosexuelle Beziehungen und
Transsexualität als „Inhalte und mögliche Kontexte“ angeführt werden (vgl. Senats-
verwaltung für Bildung, Jugend und Sport 2006, S. 28f, S. 35). Zur pädagogischen
Unterstützung der Förderung sozialer Kompetenz von Schüler_innen hinsichtlich
sexueller Diversität wird Lehrenden in Berlin der Ratgeber „Lesbische und schwule

1 Der Begriff sexuelle Diversität fast eine Spannbreite sexueller Orientierungen (lesbisch,
schwul, bi, hetero) und sexueller Identitäten (Inter*, Trans*, Mann, Frau).
2 Der Artikel beruht auf einer Datenerhebung der Autorin im Rahmen der 2014 im
Springer VS Verlag erscheinenden Dissertation „Verschwiegen bis heiter – Eine pä-
dagogische Ethnographie des Schamaffekts in der schulischen Sexualaufk lärung der
Sekundarstufe I“.

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_22, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
276 Sara Blumenthal

Lebensweisen. Handreichung für die weiterführenden Schulen. Handreichung für


den fächerverbindenden und fachübergreifenden Unterricht in der Sekundarstu-
fe I und II der Berliner Schule für die Fächer Biologie, Deutsch, Englisch, Ethik
Geschichte/Sozialkunde, Latein, Psychologie“ (Fuge 2008) angeboten. Doch wie
wird sexuelle Diversität in der Sexualaufklärung konkret umgesetzt und welche
Funktion hat der sozialregulative Affekt Scham diesbezüglich?

1 Sexuelle Scham als tradiertes Regulativ


sozialer Ordnungen

Scham zeigt über ein bewusstes oder auch unbewusstes negatives Empfinden,
welches in einer negativen Evaluation des Selbst begründet ist, an, dass die sozia-
len Beziehungen zu anderen gefährdet sind (vgl. Scheff und Retzinger 2000, S. 1).
Daher stellt der Affekt Scham auch ein entscheidendes Moment bei der Analyse
gesellschaftlicher Ordnungsprozesse dar. Das bewusste oder auch unbewusste
Schamerleben fungiert über eine imaginierte oder tatsächlich drohende soziale
Ausgrenzung oder Abwertung als soziale Sanktion (vgl. Wertenbruch und Rött-
ger-Rössler 2011, S. 245). Dem Schamempfinden vorauseilende schamvermeidende
Verhaltensweisen, wie etwa das Einhalten sozialer Konventionen oder Schweigen,
tragen entsprechend wesentlich zu gesellschaftlicher Konformität bei. Der altgrie-
chische Stamm des Worts Scham belegt dabei, das Schamregeln historisch immer
auch soziale Beziehungen im Bereich „des Sexuellen“ betreffen (vgl. Laser in Kalbe
2002, S. 4). So steht das homerische aidos für Phallus und Ehrfurcht, das spätere
griechische aischyne für Unehre (vgl. ebd).
Welches Sexualverhalten, sexuellen Orientierungen oder Identitäten überhaupt
als solche angesehen und als normal oder unnormal bewertet werden, ist nicht nur
kulturell, sondern auch historisch und im Laufe einer Biographie wandelbar und
hiermit sozial konstruiert (vgl. Timmermanns 2008, S. 262; vgl. Seidman, 2010,
S. 43f.). Die Identitätszuschreibungen hetero- und homosexuell etwa entstammen
den westlichen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts und werden als Signifikanten
einer sozialen Ordnung und ihrer Abweichung geschaffen wurden (vgl. ebd., S.
47). Fußend auf Judith Butlers Konzept der „heterosexuellen Matrix“ (1990), hat
Michael Warner (1991) den Begriff Heteronormativität als kritischen Analysebe-
griff gesellschaftlich dominierender sozialer Macht- und Herrschaftsverhältnisse
geprägt. Heteronormativität wird als generatives Prinzip einer „natürlichen Über-
einstimmung“ eines biologischen mit einem sozialen Geschlecht gedacht. Sexu-
elles Begehren kann mittels dieses Begriffs als soziales Konstrukt innerhalb einer
Sexuelle Diversität als Schamgrenze der Sexualaufklärung 277

„vergeschlechtlichten Asymmetrie zwischen sexuellem Subjekt (männlich) und


gewähltem Objekt (weiblich)“ analysiert werden (Hennessy in Wagenknecht 2007,
S. 18). Diesem Aspekt Rechnung tragend wird im Folgenden die sozialregulative
Funktion von Scham bezüglich sexueller Diversität mit einem Ausschnitt aus der
zugrunde liegenden empirischen Untersuchung dargelegt.

2 Sexuelle Diversität in der Sexualaufklärung im


Rahmen des gymnasialen Biologieunterrichts der 8a
bei Frau A.

Das Erkenntnisinteresse der dem Beitrag zugrunde liegenden Studie beruht auf
der Wirkmächtigkeit des sprachlichen und körperlichen Ausdrucks von Scham
in Kommunikationsprozessen. Dazu wurde die im Biologieunterricht durchge-
führte Sexualaufklärung einer Klasse der achten Jahrgangsstufe an einem Berliner
Gymnasium im Jahr 2010 mittels verschiedener Verfahren untersucht. Die teil-
nehmende Beobachtung der Klasse 8a erfolgte insgesamt über 14 Schulstunden,
hiervon fünf Schulstunden zu Sexualaufklärung. Der Sexualaufklärungsunterricht
wurde mit einer Videokamera gefilmt. Audioaufnahmen des Interviews und der
Gruppendiskussionen mit den Schüler_innen sowie Feldnotizen liegen zudem
vor. Zu der im Folgenden dargelegten Unterrichtssequenz werden Ausschnitte
aus dem Expert_inneninterview mit der Lehrerin und „geschlechtshomogenen“
Gruppendiskussionen mit den Schüler_innen diskutiert.3

2.1 Der Sex-Ed Test bei Frau A.

Der Sex-Ed Test wird als Einleitung der Sexualaufklärung von Frau A. mit der
Klasse durchgeführt.4 Im Klassenraum anwesend sind 13 Schüler_innen. Sally,

3 Bei Kategorien sexueller Orientierungen und Identitäten handelt es sich nicht um durch
den Körper vorgegebene Größen. Vielmehr sind sexuelle Orientierungen und Identitäten
Gegenstände individueller und kultureller, historisch und im Laufe einer Biographie
wandelbarere Zuschreibungen und hiermit sozial konstruiert (vgl. Timmermann 2008,
S. 262).
4 Die Schüler_innen sollen durch melden sämtliche umgangssprachliche Begriffe für
„Geschlechtsverkehr, Penis und Vagina“ nennen, die sie kennen, ohne zu lachen. Das
Bestehen des Tests wird von der Lehrerin als Bedingung der Durchführung der Sexu-
alaufklärung angekündigt.
278 Sara Blumenthal

Rachel, Kim, Laura, Kayessa, Nina, Michaela, Tim und Nils sitzen in der ersten
und zweiten Reihe. George, Ronald, Tom und Peter sitzen in der letzten Reihe,
wobei Peter alleine an einem Tisch sitzt. Der Unterrichtsverlauf wird mit einer
Kamera gefilmt. Ich platziere mich seitlich der Kamera und mache mir Notizen.
Die Lehrerin steht vor der Tafel, an welcher die Schüler_innen Begriffe aus dem
Bereich der Sexualität anschreiben. Diese werden nun besprochen.

Frau A.: Wer benutzt so ´ne Vibratoren?


George: Mädchen und Schwule.
Frau A.: Wie, wieso? Ok. Mädchen, klar.
George: Oder Schwule.
Frau A.: Oder Schwule. Warum Schwule?
Junge: Äh. Weil die sich´s meistens in n´ Arsch machen. (…)5
Frau A.: Was ist da, ok, das, das das schwule Pärchen oftmals
Analverkehr haben ist mehr oder weniger bekannt,
aber ist das, äh, ausschließlich so?
Junge.: Nö!
Frau A.: Ist im Prinzip auch ´ne sexuelle Vorliebe wenn beide
Pärchen oder beide Geschlechtspartner das gerne
machen, dann machen das auch Hetero-Pärchen, von
daher.
Im weiteren dreht sich das Gespräch um Sexualpraktiken ho-
mosexueller Männer.
Frau A.: Es gibt auch noch Stellung „69“.
Junge: Ja.
Frau A.: Ist das wieder nur für, für
Nils: Nein. Auch für Lesben.
Peter: Für andere Paare aber auch.
Frau A.: Für schwule Pärchen, für lesbische Pärchen.
Ronald: Bisexuelle, Transsexuelle.

Im Rahmen des Sex-Ed Tests werden Wörter aus dem Bereich der Sexualität ge-
sammelt und besprochen. Die Lehrerin fragt, wer Vibratoren benutzt und nicht
etwa, wofür Vibratoren benutzt werden und gibt somit eine identitätsbezogene
Diskursebene vor. Ausgehend davon, dass der Schüler sich hier nicht als schwul
identifiziert, liegt in seiner Antwort „Mädchen und Schwule“ eine klare Distan-
zierung vom Gebrauch eines Vibrators. Die Antwort kann weiter so interpretiert
werden, dass der Schüler unter „benutzen“ „in den eigenen Körper einführen“
versteht, da er sonst heterosexuelle Männer, die einen Vibrator benutzen, um ihre

5 (…) steht für einen unverständlichen Redebeitrag.


Sexuelle Diversität als Schamgrenze der Sexualaufklärung 279

Partnerin zu penetrieren, mit einschließen müsste. Sprachliche Schamindikatoren


haben insgesamt die Funktion, sich von der schambesetzten Thematik zu distan-
zieren oder sie zu verdecken bzw. ihre Thematisierung zu verzögern (vgl. Schröder
1999, S. 2ff.). Die Antwort des Schülers kann somit als Schamvermeidungsstrategie
verstanden werden, da sie distanziert und verallgemeinert formuliert ist (ebd., S.
12). Diese Interpretation wird dadurch gestützt, dass sich auch in der Reaktion der
Lehrerin mit einem Stottern ein sprachlicher Schamindikator abbildet (vgl. Lewis
in Scheff 1988, S. 401).
Auf das weitere Nachfragen der Lehrerin, warum Schwule einen Vibrator ver-
wenden, umschreibt ein Schüler Analverkehr als Grund. Nicht nur der Gebrauch
des Vibrators, sondern auch Analverkehr wird von dem Schüler hier nur homo-,
nicht aber heterosexuellen Personen zugeschrieben. Diese restriktive Perspektive
auf die Diversität von Sexualpraktiken nimmt die Lehrerin auf, indem sie nach-
fragt, ob Analverkehr ausschließlich eine schwule Sexualpraktik ist. Als ein Schüler
dies verneint, führt sie aus, dass die Frage, wer Analverkehr hat, nicht anhand der
sexuellen Orientierung beantwortet werden kann. Indem die Lehrerin darlegt,
dass die Lustorientierung und der Konsens auch heterosexueller Partner_innen
entscheidend dafür ist, ob Analverkehr praktiziert wird, bricht sie die binäre
Ordnung hetero/homo auf und verweist auf Gemeinsamkeiten im menschlichen
Sexualleben. Bei der Thematisierung der Stellung „69“ deutet die Lehrerin sexuelle
Diversität in Form einer Nachfrage, verzögert durch einen erneuten sprachlichen
Schamindikator, an. Ein Schüler unterbricht sie indem er ausführt, dass die Stellung
„69“ auch für „Lesben“ sei. Indem Ronald abschließend „Bisexuelle, Transsexuelle“
als für diese Stellung in Frage kommende Akteur_innen ergänzt, wird deutlich,
dass die Schüler bereits Vorwissen über sexuelle Diversität haben und dieses auch
in den Unterricht einbringen.
Eine Unterrichtsbeteiligung der Mädchen bleibt in der vorliegenden Sequenz
aus. Indem die Perspektive der Mädchen auf sexuelle Lust und sexuelle Diversität
im Unterricht alleine durch ihr Schweigen ausgedrückt wird, bleibt die Definiti-
onsmacht bezüglich dieser Themen bei der Lehrkraft und den Schülern.

2.2 Thematisierung von Homosexualität in der


Gruppendiskussion mit den Jungen der 8a

In der Nachfolge der Sexualaufklärung bei Frau A. wurden geschlechtshomogene


Gruppendiskussionen mit den Schüler_innen durchgeführt. Das Erkenntnisinte-
resse hierbei war, die Perspektive der Schüler_innen auf die zu interpretierenden
280 Sara Blumenthal

Unterrichtssequenzen einzuholen. Der präsentierte Ausschnitt stammt aus dem Ende


der Gruppendiskussion mit den Jungen. Hier wurde folgende Nachfrage gestellt:

Forscherin: Ich hab noch zwei Fragen. Was ist mit dem Thema
Homosexualität?
Peter: Ähhh
Max: Ähhh
Peter: Äh ja, ok. Scherz. Ja also, wenn die Schwulen
schwul sein woll´n, dann bitteschön, aber bitte
nicht irgendwie in der öffentlichen U-Bahn.
(Peter lacht kurz auf.)
George: Warum, wie, hä?
Peter: Weil
George: Wie meinst du das?
Peter führt aus, dass er zwei „Homos“ unabsichtlich in der
U-Bahn dabei beobachtet hat, wie der eine dem anderen in den
Schritt gefasst hat.
Nils: Ja ok, das ist wirklich-6
George: Aber normale Paare-
(Alle reden durcheinander)
Nils: Ich hab´ nichts gegen Homosexuelle (…)
George: Aber ich verstehe, also Normale, also Heteros,
knutschen doch auch in der U-Bahn, also da
dürfte-
Peter: Ja, aber das ist n´ Unterschied, weil, wenn,
die, meistens Homos, die machen das richtig
krass.

In den Gruppendiskussionen reagieren Peter und Max zunächst mit einem sprachli-
chen Schamindikator, dem Verzögerungslaut „ähhh» auf das Thema Homosexualität.
Peter setzt mit dem Schamindikator eine klare Distanzierung zur Homosexualität
von Männern. Indem er formuliert, dass „die Schwulen“ schwul sein können, wenn
sie wollen, verdeutlicht Peter dabei, dass männliche Homosexualität für ihn die
relevante soziale Differenz darstellt. Vor dem Hintergrund der Sprecherposition
des Schülers als „männlich“ liegt die Interpretation nahe, dass es sich hier um
eine performative Aufführung der Heteronormativität des Schülers handelt. Die
Ausgrenzung und Abwertung sexueller Diversität dient somit der Festigung einer
eigenen, etablierten sozialen Position.

6 - steht für einen unvollendeten Satz.


Sexuelle Diversität als Schamgrenze der Sexualaufklärung 281

In die Abgrenzung zum Schwulsein eingeflochten ist gleichsam eine vorgescho-


bene Akzeptanz homosexueller Männer. Das Kernargument der Abwertung von
„Schwulen“ durch den Schüler ist nicht die sexuelle Orientierung an sich, sondern
ein Pochen auf eigene verletze Schamgefühle durch die Zurschaustellung von Sexu-
alität durch „die Schwulen“. Historisch gesehen ist gerade diese „Verweigerung einer
öffentlichen, legitimen, d. h. bekannten (…)“ Existenz ein wesentlicher Bestandteil
der Diskriminierung von Homosexualität (Bourdieu 2005, S. 202).
Wie schon im Unterrichtsgespräch, erfolgt die Thematisierung von Homose-
xualität hier genitalzentriert. Foucault schreibt zum Konzept von Homosexualität
seit dem 19. Jahrhundert „Nichts von all dem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität.
Sie ist überall in ihm präsent: allen seinen Verhaltensweisen unterliegt sie als hin-
terhältiges und unbegrenzt wirksames Prinzip; schamlos steht sie ihm ins Gesicht
und auf den Körper geschrieben (…) weniger als Gewohnheitssünde denn als
Sondernatur“ (Foucault 1977, S. 47). Der Schüler greift somit auf einen tradierten
Diskurs zurück, indem „Homosexualität“ auf die sexuellen Aspekte verengt und
hierdurch abgewertet wird. Sexuelle Scham wird funktionalisiert, um Homosexualität
zu stigmatisieren. Die Lehrerin reflektiert dieses Muster, indem sie im Interview
bezüglich sexueller Diversität formuliert, dass alles, was von den Schüler_innen
nicht als normal angesehen wird, als „versaut“ wahrgenommen wird und nimmt
hiermit eine Diversitäts-freundliche Haltung ein.
Auch George und Nils distanzieren sich in der Gruppendiskussion, unter anderem
durch kritisches Nachfragen, von Peters Haltung gegenüber Homosexuellen. Vor
allem George veranlasst durch eine erstaunt wirkende Nachfrage, dass Peter sich
erklären muss. Allerdings liegt auch in diesen Nachfragen eine deutliche Distanz
gegenüber Homosexualität, da George Heteros als „Normale“ und somit implizit
homosexuelle Menschen als nicht-normal bezeichnet und Letztere hierdurch
sozial ausgrenzt. Da Scham über soziale Ausgrenzung fungiert, besteht somit
eine Anschlussfähigkeit zum anschließenden Vorgehen Peters, Homosexualität
gegenüber Heterosexualität erneut anhand des Schamthemas Sexualverhalten in
der Öffentlichkeit abzuwerten.

2.3 Thematisierung von Homosexualität in der


Gruppendiskussion mit den Mädchen der 8a

Wie auch mit den Jungen, wurde in der Nachfolge der Sexualaufklärung bei Frau A.
eine Gruppendiskussionen mit den Schülerinnen durchgeführt, um ihre Perspektive
auf die zu interpretierenden Unterrichtssequenzen einzuholen. Die Thematisierung
282 Sara Blumenthal

von Homosexualität fand dabei ebenfalls am Ende der Gruppendiskussion, auf


meine Nachfrage hin, statt.

Forscherin: Wie ist n´ das mit der Ganzen Homosexualitäts-


thematik?
Kim: Das ist eigentlich total normal.
Rachel: Ich ¿nd´s total egal. Also ich hab´ auch, also
ich hab´ mich auch mit jemandem befreundet die
schwul ist, also.
Nina: Ich auch.
Kim: Unsere Nachbarn sind schwul. (…) Ich hab´ über-
haupt nichts dagegen.
Laura: Ja, die besten Freunde von meiner Mutter sind
schwul, meine Patentante ist lesbisch. Und?
Rachel: Also wenn jemand jetzt darüber was zu sagen
hat, ¿nd ich das auch ein bisschen so feige und
so, weil man darf ja selbst wählen, für sich,
ob man jetzt hetero- ist oder homosexuell.
Laura: Immer wenn jemand jetzt irgendwas gegen Ho-
mosexuelle sagt, dann denk ich mir immer ja,
die sind bloß zu feige um zuzugeben, ja, dass
das was ganz Normales ist. (…)
Forscherin: Mhm. Und, äh, ¿ndet ihr, hättet ihr darüber
jetzt auch noch in der Sexualaufklärung was
reden sollen, oder?
Kim: Ähm, ich ¿nd´, dass davon. Also, ich ¿nd, jeder
(.) kennt diese Thema (.) gut genug. Ich ¿nd
das wäre überÀüssig gewesen. Es war gut so (.)
wie wir das gemacht haben.
Laura: Also ich ¿nd´ es gibt wichtigere Themen, also.
Kim: Das kennt ja mittlerweile jeder, aber-
Nina: Ich fand´s gut.
Mädchen: Wo, worüber will man reden?

Zur Thematisierung sexueller Diversität in der Sexualaufklärung verdeutlicht die


Gruppendiskussion mit den Mädchen, dass dem Thema Homosexualität entge-
gen des Diskussionsverlaufs in der Jungengruppe nicht die Funktion zukommt,
die eigene Geschlechteridentität aufzuwerten. Stattdessen etabliert sich in der
Mädchengruppe ein Normalisierungsdiskurs bezüglich Homosexualität. Die
Mädchen verweisen positiv auf offen homosexuell lebende Mitmenschen und
problematisieren deren Diskriminierung. Dass die Mädchen formulieren, dass es
wichtigere Themen gibt und sie schon genug über Homosexualität wissen, kann
Sexuelle Diversität als Schamgrenze der Sexualaufklärung 283

allerdings auch so interpretiert werden, dass eine positive Identifikation mit dem
Thema Homosexualität seitens der Mädchen darauf beschränkt ist, dass es normal
ist, wenn „andere“ homosexuell sind und sie das Thema im Unterricht und für
sich vermeiden möchten. Ein Bewusstsein für das eventuelle Vorhandensein nicht
geouteter LGBT7-Schüler_innen in der Klasse scheint ebenfalls nicht vorhanden
zu sein. Daher kann auch die ausbleibende Unterrichtsbeteiligung der Mädchen
zu dem Thema als schambedingte Vermeidungsstrategie interpretiert werden.

2.4 Thematisierung von Homosexualität in dem


Expertinneninterview mit der Lehrerin der 8a

Neben den Gruppendiskussionen mit den Schüler_innen wurde in der Nachfolge


der Sexualaufklärung bei Frau A. ein Expertinneninterview mit der Lehrerin
geführt. Der Umgang mit Homosexualität in der Sexualaufklärung wurde, wie
auch in den Gruppendiskussionen mit den Schüler_innen, durch eine Nachfrage
meinerseits thematisiert.

Forscherin.: Mhm. Genau. Und wie is´ das mit der ganzen
Homosexualitätsthematik.
Frau A.: Da hätt´ ich, da hätt´ ich gern drüber gespro-
chen, generell über so sexuelle Identität und
was es denn für Möglichkeiten im Sexualleben
gibt und das es nicht nur ein Mann eine Frau
Ding gibt. Das hätte man auch über die Ge-
schichte und Tiergesellschaften aufziehen kön-
nen und, und über menschliche Gesellschaften
an verschiedenen Orten der Erde. Weil ich die
so´n bisschen aus dieser engstirnigen Sichtwei-
se rausholen wollte. „Es gibt nur das und das
ist richtig und alles andere ist versaut.“ Das
ärgert mich immer, so ´ne Engstirnigkeit, auch
bei vielen Erwachsenen und das, das ¿nde ich
auch ein Anliegen der Sexualkunde, das man da
offener wird, nicht nur für „Oh, was es alles
für versaute Dinge gibt“, sondern was normal
ist kann man doch gar nicht aus der Sichtweise
einer Person in einer Gesellschaft festlegen
(…).

7 LGBTI steht für lesbisch, gay, bi-, trans- und intersexuell.


284 Sara Blumenthal

Forscherin: Mhm. Mhm.


Frau A.: Aber das wollten die Schüler ja leider auch
nicht so wirklich, die hatten da kein Inter-
esse dran. Ich glaub die hatte n´ befürchtet,
dass sie dann sagen müssen ob sie homosexuell
sind oder nicht und dieses, ähm, Coming-Out
ist natürlich wieder jedem selbst überlassen.
Forscherin: Mhm.
Frau A.: (…) Hätt´ ich gern gemacht, aber wollten die
Schüler nicht.
Forscherin: (…) Oder möchtest du noch was hervorheben, oder
loswerden was für dich da besonders relevant
war, bei der Sexualaufklärung?
Frau A.: Ja, also ich hab auch wieder viel gelernt und
unter ander´m die Sachen, das man an einige
Sachen vorsichtiger ´ran gehen muss. Für an-
dere, für die Homosexualität zum Beispiel ´ne
andere Herangehensweise zu überlegen um da auch
wirklich drüber sprechen zu können. (…) Dafür
ist es zu wichtig im Prinzip, was sich wieder
schwer mit dem Lehrplan vereinbaren lässt.

Die Lehrerin reflektiert selbstkritisch, dass sie dem Thema sexueller Diversität mehr
Raum in der Sexualaufklärung hätte geben können. Indem sie wiederholt darauf
verweist, dass die Schüler_innen nicht an dem Thema interessiert seien und die
Vertiefung des Themas Homosexualität auf Grund der Lehrpläne schwer umsetzbar
sei, distanziert sie sich aber auch von ihrer Verantwortung für die Realisierung ent-
sprechender Unterrichtsinhalte (vgl. hierzu auch Schmidt/Schondelmayer i. d. B.).
Das bei der Besprechung sexueller Diversität seitens der Lehrerin im Unterricht
sprachliche Schamindikatoren auftreten, verweist zudem darauf, dass die Scham
der Schüler_innen und die der Lehrerin sich bezüglich der Thematisierung sexueller
Diversität gegenseitig bedingen. Insofern kann die nebensächliche Behandlung des
Themas sexuelle Diversität, welches durch die Rahmenlehrpläne vorgeschrieben ist,
sowie auch die Vermeidung der Übernahme der Verantwortung für die Inhalte der
Sexualaufklärung bei Frau A. als Schamvermeidungsstrategie interpretiert werden.
Sexuelle Diversität als Schamgrenze der Sexualaufklärung 285

Fazit

Wie die vorliegende Interpretation der sozialregulativen Funktion von Scham in


der Sexualaufklärung gezeigt hat, wird sexuelle Diversität beschränkt auf Homo-
sexualität im Unterricht behandelt – hierbei werden soziale Aspekte von Homose-
xualität ausgeklammert. Die reduktionistische und sexualisierte Darstellung von
Homosexualität lässt sich dabei als Folge und somit zugleich als reproduzierendes
Prinzip eines schamhaften Umgangs mit sexueller Diversität interpretieren. Die
Lehrerin wiederum problematisiert, obwohl grundsätzlich diversitätsfreundlich
orientiert, die reduktionistische Darstellung von Homosexualität im Unterricht
nicht und ergreift auch keine Maßnahmen bezüglich der ausbleibenden Unterrichts-
beteiligung der Schülerinnen. Weiter zeigt sie im Unterricht wie auch im Interview
sprachliche Schamindikatoren. In der Gruppendiskussion mit den Schülern wird
deutlich, dass diese die negative Abgrenzung zu Homosexualität verwenden, um
ihre Positionierung als heterosexuelle, männliche Akteure zu festigen. Die Lehrerin
reflektiert im Interview sowohl mit Bezug auf die Schüler_innen als auch auf sich
selbst nur bedingt Schamgrenzen. Daher lässt sich anhand der Unterrichtssequenz
schlussfolgern, dass Lehrende für die Umsetzung einer diversitätsgerechten Sexu-
alaufklärung besonders über die Dynamik von Scham geschult werden müssen
(vgl. hierzu Blumenthal/Damrow 2015).

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286 Sara Blumenthal

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Que(e)r durch die Fachkulturen
Perspektiven einer transdisziplinären
Dekonstruktion von Geschlecht und Sexualität
Florian Cristobal Klenk

„Wenn ich ein bestimmtes Gender habe, werde ich dann


noch als Teil des Menschlichen betrachtet werden? […]
Werde ich leben können, wenn ich in bestimmten Formen
begehre? Wird mein Leben einen Platz haben und wird es
für die anderen, auf die ich in meiner sozialen Existenz
angewiesen bin, anerkennbar sein?“
Butler 2009 (S. 11)

1 Einleitung

Die im Zitat gestellte Frage nach den Anerkennungsmöglichkeiten vielfältiger


sozialer Existenzen und Lebensformen ist in einer heterogenen und zugleich von
Hierarchien geprägten Gesellschaft, wie es die unsere ist, von zentraler Bedeu-
tung. Dies gilt explizit auch hinsichtlich der mit dem Lehrberuf einhergehenden
Gestaltungsverantwortung gegenüber dieser vielseitigen und queeren Gesellschaft.
Das Thema der Anerkennung durchzieht hierbei nicht nur Judith Butlers Werk,
sondern berührt ebenfalls zentrale Aspekte geschlechtssensibler Pädagogik. Der
Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten der Anerkennung kommt daher in
diesem Beitrag eine gewichtige Rolle zu. Darin wird erarbeitet, welche Aspekte der
aktuellen pädagogischen Geschlechterforschung, die durch die gängige Fokussierung
des Diskurses auf interaktionstheoretische Ansätze aus dem Blick geraten, relevant
sind, damit zukünft ige Lehrer_innen zur Anerkennung vielfältiger sexueller und
geschlechtlicher Lebensweisen in Schulen beitragen können. Die Frage nach den
Bedingungen der Anerkennung ist nach Butler zugleich immer auch die Frage nach
dem „Ort der Macht, durch die das Menschliche verschiedenartig erzeugt wird“
(ebd., S. 11). Diesem Ort wird jedoch weder in unserem essentialistisch geprägten
Alltagsverständnis von Geschlecht und sexueller Orientierung noch in den ak-
tuell favorisierten differenztheoretischen und konstruktivistischen Ansätzen der

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_23, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
288 Florian Cristobal Klenk

pädagogischen Geschlechterforschung ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt.


Von einer machtanalytischen Perspektive ausgehend werden daher im Folgenden
verbreitete gendersensible pädagogische Ansätze für die Lehramtsausbildung vor-
gestellt und daraufhin befragt, ob sie es angehenden Lehrer_innen ermöglichen,
sich kritisch mit diesem Ort der Macht auseinanderzusetzen, darin konstruierte
Hierarchien zu erkennen und diese im Rahmen ihrer Möglichkeiten umzuarbeiten.
Ferner wird skizziert, welche Impulse Butlers Schriften für eine Erweiterung der
vorgestellten Ansätze bieten.

2 Heteronormativität

Die Frage danach, wie angehende Lehrkräfte zu einer erhöhten Anerkennung viel-
fältiger Lebensweisen beitragen können, ist – will man Butler folgen – zwangsläufig
an die Frage nach dem Warum geknüpft. Warum werden bestimmte Lebensformen
und Existenzweisen nicht als gleichwertig anerkannt? Welche Diskurse erzeugen
die wirkmächtigen Bedingungen, die das geschlechtliche und sexuelle ‚Ich‘ als
‚anders‘ konstituieren und hierarchisieren?
Ein hegemonialer und zugleich selten angezweifelter Diskurs, der unser Den-
ken, Fühlen und Wahrnehmen in fast allen Lebensbereichen organisiert, ist nach
Butler die heterosexuelle Matrix (vgl. Butler 1991). Das heterosexuelle System der
Zweigeschlechtlichkeit wird unter dem Terminus der Heteronormativität subsu-
miert und bezeichnet wesentliche, im Alltag meist unhinterfragte und als natürlich
angenommene Aspekte der Sexualität und Geschlechtlichkeit. Heteronormativität
meint nicht allein die Formen der Sexualität zwischen Mann und Frau, sondern die
zur Norm stilisierte heterosexuelle Begehrensform als die richtige Begehrensform
und die folglich dichotome Geschlechtereinteilung, die als Grundlage unserer
Gesellschaft fungiert – sei es im Recht, in der Paarbildung, in der Schule und im
Unterricht. „[D]as diskursive Regime hegemonialer Heterosexualität [bringt] nor-
mative Annahmen über ‚gesunde‘ Körperlichkeit und angemessenes Sozialverhalten
sowie normalisierende Identitätszuschreibungen hervor, die allesamt den vorherr-
schenden Glauben an die Natürlichkeit, Eindeutigkeit und Unveränderbarkeit von
Geschlecht und sexueller Orientierung fundieren“ (Hartmann et al. 2007, S. 9).
Wollen Lehrkräfte ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung gerecht werden
und zur Anerkennung vielfältiger geschlechtlicher sowie sexueller Lebensweisen
beitragen, erscheint es notwendig, sich mit den normativen binär-geschlechtlichen
und heterosexuellen Diskursen, die ein essentialistisches Identitätsverständnis
generieren, wie auch den hierüber marginalisierten Individuen kritisch aus-
Que(e)r durch die Fachkulturen 289

einanderzusetzen. Eine bloße Aufzählung unterschiedlicher Lebensformen und


Existenzweisen kann jedoch „nicht ausreichend sein, um bestehende Macht- und
Herrschaftsverhältnisse bewusst zu machen und an deren Verschiebung bzw. Abbau
zu arbeiten“ (Hartmann 2002, S. 273).

3 Genderkompetenz:
Wissen – Wollen – Können überdenken

Gemäß der geltenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und der im


Grundgesetz verankerten Prinzipien, die besagen, dass jeder Mensch „das Recht
auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer
verletzt“ (Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Art. 2 Abs. 1) besitzt,
haben Lehrer_innen den gesellschaftlichen – und durch die spezifischen Schul-
gesetze der Länder ebenfalls pädagogischen – Auftrag, zur Anerkennung der
Werteordnung des Grundgesetzes beizutragen. So wird im Hessischen Schulgesetz
formuliert, dass „die Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der
Achtung und Toleranz, der Gerechtigkeit und Solidarität zu gestalten“ (§ 2 Abs. 4
Hessisches Schulgesetz i.d.F.v. 2005) sind und es eine fachübergreifende Aufgabe
ist, diese Prinzipien auch an Schüler_innen zu vermitteln. Diesen Prinzipien fol-
gend werden Lehrer_innen bereits in der ersten Ausbildungsphase Kompetenzen
vermittelt, die eine reflektierte Auseinandersetzung und einen professionellen
Umgang mit den Kategorien Geschlecht und sexueller Orientierung ermöglichen
sollen. Die hierbei präferierten Ansätze zur Vermittlung von Genderkompetenz
orientieren sich jedoch häufig – und dies trifft auch auf das aktuelle Grundgesetz
und die jeweiligen Schulgesetze zu – am System der Zweigeschlechtlichkeit.1 Obwohl
in den mit Genderkompetenz verknüpften Zugängen zumeist nicht explizit von
einer biologisch determinierten Zweigeschlechtlichkeit ausgegangen wird, zeigt
sich bei genauer Betrachtung, dass diese Ansätze dennoch in latenter Form das
kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit tradieren. Genderkompetenz wird
in aktuell favorisierten Ansätzen der Lehramtsausbildung zwar als Reflexions-
kompetenz verstanden, die sich aus der Kombination der Aspekte Wissen, Wollen
und Können zusammensetzt (vgl. Budde und Venth 2010, S. 23). In den wenigsten

1 Das Verhältnis von Staat, Rechtsordnung und Macht sowie die damit einhergehenden
Einschränkungen, aber auch Ermöglichungsstrukturen hinsichtlich Geschlecht, sexueller
Orientierung und weiterer Kategorien kann an dieser Stelle nicht erschöpfend erörtert
werden. Vergleiche hierzu exemplarisch Haberler et al. 2012).
290 Florian Cristobal Klenk

Fällen impliziert dies jedoch eine an konkreten (Unterrichts-) Inhalten orientierte


Reflexion heteronormativer Diskursformationen.
Unter Wissen wird überwiegend ein Wissen über „geschlechterbezogene ge-
sellschaftliche Strukturdaten (Gender-Facts, z. B. Zugang zu Bildung und Beruf,
ökonomische Situation)“ (Horstkemper 2013, S. 31) oder ein Wissen über grund-
legende theoretische Erkenntnisse der Frauen- und Geschlechterforschung gefasst.
Das Sex-Gender-Verhältnis2 wird dabei zumeist rein theoretisch untersucht oder
tritt hinter die Vermittlung von ausgewählten, heteronormativen Strukturdaten
zurück. Damit wird zwar ein egalitäres Geschlechterverständnis zwischen Männern
und Frauen angestrebt, die historisch-kulturellen Diskursformationen, die unsere
Denk- und Wahrnehmungsmuster von Geschlecht, sexueller Orientierung und
Identität prägen, werden jedoch weder inhaltlich noch fachübergreifend themati-
siert. Dies bedingt, dass Individuen negiert werden, die nicht in das heterosexuelle
System der Zweigeschlechtlichkeit passen (z. B. trans* und intersexuelle Menschen),
und trägt dazu bei, dass bestehende Machtverhältnisse fortgeschrieben werden.
Die Kategorie Wollen bezeichnet die persönliche Einstellung der Lehrperson,
sich aktiv für die Gleichstellung der Geschlechter einzusetzen und zielt nicht selten
darauf ab, sich für Anliegen des Gender Mainstreamings (GM) auf schulpolitischer
Ebene zu engagieren. Entgegen der im Gender-Manifest3 explizit formulierten
Kritik an dichotomen Geschlechterarrangements wird GM oft als schulpolitische
Strategie aufgefasst, die lediglich auf der Gleichstellung von Jungen und Mädchen
fußt. „Zum Zweck der Operationalisierbarkeit geschieht [somit] eine Komplexi-
tätsreduktion auf eine duale Geschlechterordnung“ (Frey et al. 2006, S. 2), die das
heterosexuelle System der Zweigeschlechtlichkeit fortschreibt und keinen Raum
für dynamische Subjektverständnisse zulässt.

2 Im Sex-Gender-Verhältnis werden Fragen nach der geschlechtlichen und sexuellen De-


terminationsmacht der Biologie und Gesellschaft aufgeworfen, die bis heute weder durch
die Biologie, noch durch die Sozialwissenschaften eindeutig beantwortet werden. Unter
sex wird das biologische und anatomische Geschlecht gefasst, welches selbst wiederum
anhand unterschiedlicher, nicht zwingend übereinstimmender Merkmale erfasst werden
kann (Morphologie, Chromosomen, Hormone, Gonaden etc.). Gender bezeichnet das
soziale Geschlecht, die Geschlechtsidentität, aber auch das psychologische Geschlecht
oder Geschlechterverhältnis.
3 Das Gender Manifest (Frey et al. 2006) ist eine 2006 veröffentliche Schrift mehrerer
Autor_innen, die in der pädagogischen Geschlechterforschung tätig sind. Im Manifest
sprechen sich die Autor_innen für eine Rückbesinnung auf den kritischen Gehalt des
Genderbegriffs aus und kritisieren die häufig beobachtete Reproduktion heteronormati-
ver Machtverhältnisse innerhalb der genderorientierten Bildungs- und Beratungsarbeit
(http://www.geschlechterdialoge.de/dokumente/GenderManifest01_2006.pdf).
Que(e)r durch die Fachkulturen 291

Können meint schließlich spezifische Unterrichtsstrategien, die eine didak-


tisch-methodische Implementierung gendersensibler Aspekte zulassen und z. B.
schulischen Geschlechterterritorien entgegenwirken sollen. Besonders in den (natur-
wissenschaftlichen) Fachdidaktiken lässt sich häufig noch ein differenzorientierter
Ansatz finden, der Fragen nach einem jungen- oder mädchengerechten Zugang
stellt, implizite Stereotype (re)produziert und das System der Zweigeschlechtlichkeit
dramatisiert. Die (fach-)didaktische Relevanz dekonstruktivistischer Ansätze wird
hingegen erst allmählich erkannt. Impulse hierfür geben der Band Geschlecht und
Didaktik (vgl. Mörth und Hey 2010), der das Konzept vielfältiger Lebensweisen (vgl.
Hartmann 2002) aufgreift, sowie Beiträge des Handbuchs Geschlechterforschung
und Fachdidaktik (vgl. Kampshoff und Wiepcke 2012).
Ferner avancieren aktuell die Schlagwörter Individualisierung und Binnendiffe-
renzierung (vgl. Horstkemper 2013, S. 33) zu methodisch-didaktischen Leitlinien.
So sinnvoll diese sein mögen, fällt bei der Lektüre doch auf, dass ihnen häufig
implizite heteronormative Strukturen zugrunde liegen. So schreibt Horstkemper
beispielsweise lediglich von „Menschen beiderlei Geschlechts“ (ebd., S. 41) und von
bestimmen Mädchen und Jungen (vgl. ebd., S. 33). Diese Schreibweise verschleiert
zudem, dass Individualität und Identität nicht unabhängig vom hegemonialen
heteronormativen Diskurs zu betrachten sind und von dieser Macht gerahmt
werden. So macht das angeführte Verständnis individueller Zugänge die Macht-
strukturen nicht zum Thema und kann daher auch nicht den diskursiven Rahmen
überschreiten. Damit soll nicht angedeutet werden, dass man diesem Rahmen
entfliehen könnte. Vielmehr muss dieser diskursive Rahmen – sowie das eigene
Verhaftet-Sein mit diesem Rahmen – selbst thematisiert werden. Geschieht dies
nicht, reproduzieren Individualisierung und Binnendifferenzierung unkritisch
die dichotome und hierarchisierende Struktur der heterosexuellen Matrix und die
gewünschten individuellen Förderungen bleiben lediglich so differenziert, wie es
die diskursiven Machstrukturen zulassen.

4 Doing gender ≠ doing sex

Ein in Zusammenhang mit dem Begriff der Genderkompetenz zu betrachtender


Zugang ist der von West und Zimmerman geprägte Ansatz des doing gender (vgl.
West und Zimmerman 1987). Während Doing-Gender-Ansätze bereits breiten
Anklang in der empirischen (Schul-) Forschung gefunden haben und in ihrer Re-
levanz für den zukünftigen Unterricht vermittelt werden (vgl. Faulstich-Wieland
et al. 2004), geschieht dies mit Butlers Theorie erst zögerlich. Zudem erfolgt häufig
292 Florian Cristobal Klenk

eine undifferenzierte Gleichsetzung von Konstruktion und Dekonstruktion, die


dekonstruktivistischen Theorien nicht gerecht wird. Dass eine empirische Anwen-
dung poststrukturalistischer Zugänge im Kontext der Schule durchaus möglich ist,
belegen Monika Jäckles Forschungen zu schulischen Subjektivationsprozessen (vgl.
Jäckle 2008). Auch Bettina Kleiners Beitrag in diesem Band verdeutlicht anhand
exemplarischer Interviewanalysen, dass Butlers Theorie für empirische Forschungen
nutzbar gemacht werden kann und Heteronormativität in Schulen eine aktuelle
Bildungsherausforderung darstellt.
Vielfach gilt Butler jedoch als zu abstrakt, zu theoretisch und damit als „in ih-
rer gesellschaftspolitischen Dimension zahnlos“ (Schütze 2010, S. 59). Dabei wird
oft übersehen, dass ihr Performativitätskonzept sehr wohl Analogien zum doing
gender zulässt: „Beide Ansätze – ,doing gender‘ und Performativität – betonen
die Herstellung von Geschlecht als Tun: der eine als Aktivität von Subjekten, der
andere als Effekt von mit Subjekten gleichursprünglichen Diskursen“ (Hartmann
2012, S. 160). Doing-Gender-Ansätze legen allerdings den Fokus auf die Frage, wie
Geschlechtlichkeit in alltäglichen Interaktionen hergestellt wird, weniger auf die
Frage, warum sich diese Herstellungspraxen manifestiert haben. Obgleich diese
Ansätze hinsichtlich der Gendersensibilisierung zukünftiger Lehrkräfte durchaus
relevant sind, formuliert sich in den letzten Jahren doch zunehmend Kritik an dieser
Zugangsweise (vgl. Moser und Rendtorff 2004; Schütze 2010).
So stellt sich die in der pädagogischen Rezeption vorherrschende Fokussierung
auf doing gender Prozesse und der damit verbundene Versuch eines undoing gender4
(vgl. Hirschauer 2001) in der schulischen Umsetzung häufig als prekär dar. Die
Engführung des Untersuchungsgegenstandes sowie die darin vernachlässigte Frage
nach dem Zusammenhang von Machtstruktur und Identitätsentwicklung führt
dazu, dass sich diese Ansätze zumeist in einer Zwickmühle zwischen Dramatisie-
rung und Entdramatisierung von Geschlecht befinden, Inter- und Transidentitäten
marginalisieren sowie das System der Zweigeschlechtlichkeit reifizieren (vgl. Maxim
2009, S. 49). Obwohl West und Zimmerman sex als „a determination made through
the application of socially agreed upon biological criteria for classifying persons
as females oder males“ (West und Zimmerman 1987, S. 127) begreifen, wird es an-
gehenden Lehrer_innen im Rahmen pädagogischer Doing-Gender-Ansätze nicht
ermöglicht, sich kritisch mit der Entstehung dieser sozialen Vereinbarungskriterien
auseinanderzusetzen. Die – mit Butler gesprochen – vernachlässigte Frage nach
dem Ort der Macht, bedingt, dass interaktionstheoretische Ansätze implizit am
System der Zweigeschlechtlichkeit festhalten und angehenden Lehrkräften keinen

4 Undoing gender beschreibt – vereinfacht formuliert – die Möglichkeiten des Aktualisie-


rens/ Dramatisierens als auch des Absehens/Neutralisierens der Kategorie Geschlecht.
Que(e)r durch die Fachkulturen 293

Einblick in die diskursiven Konstruktionsprozesse des biologischen Geschlechts


ermöglichen. So verwundert es nicht, dass doing gender Prozesse von Lehramts-
studierenden häufig lediglich als in Interaktionen getroffene Zuschreibungen oder
Dramatisierungen bestimmter Gender-Merkmale begriffen werden, die letztendlich
doch zwischen biologischen Jungen und Mädchen stattfinden. Geschlecht (gen-
der) als soziale Konstruktion zu begreifen bedeutet – und dies merke ich immer
wieder in Seminareinheiten zu diesem Thema – nicht unbedingt, Geschlecht (sex),
Zweigeschlechtlichkeit und heterosexuelles Begehren als soziale Konstruktion zu
verstehen (doing gender ≠ doing sex).

5 Disziplin- und Geschlechtergrenzen

Vor diesem Hintergrund bleibt zu fragen, ob es genügt, Geschlecht und sexuelle


Orientierung lediglich auf der Ebene von Interaktionsprozessen zu reflektieren,
oder ob es sich nicht als sinnvoller erweist, diese Kategorien anhand fachspezi-
fischer Inhalte und unter Berücksichtigung der damit verbundenen – historisch
gewachsenen – Machtstrukturen zu dekonstruieren. „Weil sich ein solcher Diskurs
notwendigerweise an den Rändern dessen bewegt, was wir denken können, muss in
ihm das Wissen selbst thematisch werden und damit auch diejenigen Strukturen,
die in unserem Alltagswissen über Geschlecht als selbstverständlich und offenbar
gelten“ (Maxim 2009, S. 281).
Zu diesem selbstverständlichen Wissen zählt insbesondere auch das biologische
Wissen über Geschlecht und Sexualität. Demzufolge sind angehende Lehrer_innen
vor die Anforderung gestellt, das Sex-Gender-Verhältnis auch anhand naturwis-
senschaftlicher Wissensbestände zu reflektieren.5 Wenn dadurch Dualismen wie
Natur/Kultur, Hetero/Homo, Sex/Gender dekonstruiert werden, ist die Zugangsweise
zwangsläufig queer und zugleich transdisziplinär. Sie reflektiert nicht nur unser
Alltagsverständnis einer stabilen Identität – wie es die Queer Theory tut –, sondern
hinterfragt ebenso die Objektivitätsansprüche der jeweiligen Unterrichtsfächer.
Zugleich muss ein solcher Zugang quer zu den Fachkulturen verlaufen, um die
damit einhergehenden Hierarchien möglichst nicht zu reproduzieren.
Dass eine solche kritische und selbstreferenzielle Reflexion zum Prozess einer
queer- und genderreflektierten Arbeit gehört und eine Reflexion fachkultureller
Selbstverständnisse einschließt, verdeutlichen die Forschungen Katharina Willems

5 Für ein solches Vorhaben bieten sich beispielsweise aktuelle Arbeiten aus der genderin-
formierten Biologie an (vgl. Ebeling und Schmitz 2006; Palm 2008; Voß 2013).
294 Florian Cristobal Klenk

(2010). Unter Rückgriff auf das Bourdieu‘sche Habitus-Konzept zeigt sie auf, wie
tief zweigeschlechtliche Ordnungs- und Bewertungsmuster in die jeweiligen schu-
lischen Fachkulturen und deren Abgrenzung untereinander eingeschrieben sind.
Betitelt als „doing gender while doing discipline“ (ebd., S. 20) legt sie dar, wie sich
Zweigeschlechtlichkeit in die Unterrichtsfächer Physik und Deutsch einschreiben
und umgekehrt die Disziplingrenzen selbst Zweigeschlechtlichkeit stabilisieren.
Sie plädiert dafür, dass ein degendering der Fächer „bei einem Hinterfragen der
fachkulturellen Konstruktionen, weniger beim vermeidenden Umgang mit den
doing-gender-Prozessen“ (ebd. S.20 f.) ansetzen müsste.
Mit Rückgriff auf die Evaluationsergebnisse des G-MINT6 Projekts an der TU
Darmstadt lässt sich die von Willems untersuchte Problematik zwischen Fachkultur
und Zweigeschlechtlichkeit in Hinblick auf die Lehramtsausbildung verdeutlichen. Es
zeigt sich hierbei, dass für viele Lehramtsstudierende eine Diskrepanz zwischen der
Gendersensibilisierung innerhalb der Grundwissenschaften und einer weitgehenden
Ignoranz der Gender-Problematik in ihren jeweiligen (MINT) Fachwissenschaften
und -didaktiken besteht. Dies bedingt, dass heteronormativ gefärbte fachkulturelle
Strukturen und Inhalte von den meisten Studierenden nicht als solche erkannt
werden. Durch die Ausbildung in den jeweiligen Fachdisziplinen wird ihnen häufig
ein unkritisches Professionsverständnis hinsichtlich des eigenen Faches vermittelt.
Dies hat zur Folge, dass für Lehramtsstudierende die „Reflexion des naturwissen-
schaftlichen Denkens und Handelns unter Berücksichtigung gesellschaftlicher
Bezüge […] nicht zum Aufgabenbereich der naturwissenschaftlichen Disziplinen“
gezählt wird (Götschel und Bauer 2005, S. 221). Dieses Fachverständnis erzeugt eine
Distanz zur Genderthematik und suggeriert, dass naturwissenschaftliche Fächer
– da sie als objektiver gelten – auch genderfrei(er) seien. Ferner verstärkt die fach-
spezifische Ausbildung in den MINT-Fächern die im Alltag erfahrene Vorstellung
einer natürlichen und durch biologische Forschungen belegten heterosexuellen
Zweigeschlechtlichkeit, die nicht selten als Legitimationsinstanz für bestehende
Hierarchien und Diskriminierungen benutzt wird und durch Doing-Gender-An-
sätze nur unzureichend in Frage gestellt werden kann.
Diese Ausführungen implizieren, dass eine Reflexion und Umstrukturierung
von Fachdisziplinen und fachkulturellen Selbstverständnissen – inklusive der
darin formulierten Objektivitätsansprüche – in der Lehramtsausbildung notwen-

6 Das Projekt „Verbesserung der Unterrichtsqualität in den MINT-Fächern (G-MINT)“


zielt auf eine Gendersensibilisierung zukünftiger Lehrkräfte bezüglich der MINT-Un-
terrichtsfächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) ab. Der
Fokus richtet sich hierbei auf die Erweiterungen der persönlichen wie auch beruflichen
Handlungsoptionen zukünftiger Schüler_innen (vgl. Technische Universität Darmstadt
(o.J.)).
Que(e)r durch die Fachkulturen 295

dig werden, sollen bestehende Ungleichheiten abgebaut werden. Es genügt nicht,


angehende Lehrkräfte für doing gender Prozesse in Unterrichtsinteraktionen zu
sensibilisieren oder durch Gender-Facts auf die Geschlechterproblematik hinzu-
weisen. Vielmehr bedarf es der kritischen und dekonstruktiven Analyse konkreter
Fachinhalte und -kulturen unter Berücksichtigung historischer und gesellschaftlicher
Wechselverhältnisse. Dies würde verdeutlichen, dass es aufgrund der diskursiven
Machstrukturen, die unseren Welt- und Selbstbezug rahmen, „keinen natürlichen
Zugang zur Natur“ gibt (Schütze 2010, S. 31).

6 Perspektiven für die Lehramts(aus)bildung


„Wenn ich immer von Normen konstituiert werde, die
nicht von mir stammen, dann muss ich verstehen können,
wie diese Konstituierung erfolgt.“
Butler 2009 (S. 31)

Butlers Ausführung aufgreifend und bezugnehmend auf Hartmanns Pädagogik der


vielfältigen Lebensweisen (vgl. ebd. 2002) avancieren die kritisch-dekonstruktive
Analyse der Diskursformationen sowie deren Aktualisierung durch performati-
ves Zitieren zu einer zentralen Bildungsaufgabe für (angehende) Lehrer_innen.
Eine Relevanz hierfür ergibt sich insbesondere aus der konstitutiven Rolle, die
den Diskursformationen für unseren Welt- und Selbstbezug hinsichtlich sexu-
eller und geschlechtlicher Identität zukommt. Gendersensible Pädagogik ist vor
diesem Hintergrund aufgefordert, sich an die für die Subjektgenese konstitutiven
Machtstrukturen zu erinnern und eine transdisziplinäre Analyse der diskursiv
generierten Wissensbestände, die sich um das Sex-Gender-Verhältnis drehen, nicht
zu scheuen. Anstatt in der Lehramts(aus)bildung auf undoing gender und Vermei-
dungsprozesse zu setzen, gilt es, durch die Re- und Dekonstruktion fachspezifi-
scher Diskursformationen ein reflexives Bewusstsein für die Machtwirkungen des
heteronormativen Systems zu gewinnen und ein verantwortungsvolles Verhältnis
zu deren Wiederholungen einzunehmen.
Lehrer_innen kommt dabei als Multiplikator_innen eine besondere Position
in der ritualisierten Repetition bestehender Normen zu. Die Frage lautet nicht, ob
oder ob nicht wiederholt wird, sondern wie Lehrer_innen diese durch Konventio-
nen gefestigten Normen wiederholen (vgl. Butler 1991, S. 217). Ein performativer
Sprechakt „funktioniert […] nur, wenn dazu berechtigte Personen in angemesse-
nen Konstellationen performativ adressieren. Anders gesagt: Konventionen und
Autorität sind die sozialen Bedingungen der Möglichkeit für Performativa“ (Villa
296 Florian Cristobal Klenk

2011, S. 64). Lehrer_innen treten durch ihre Berufswahl in eine historisch-kulturell


gewachsene Machtposition ein, die ihren Sprechakten nicht nur Gehör, sondern auch
Gewicht verleiht. Die soziale Wirkmacht für die Bezeichneten ist somit wesentlich
höher, wenn eine Lehrkraft sagt, „es gibt nur zwei Geschlechter“, und wenn diese
Aussage zudem in naturwissenschaftliche Diskurse eingebettet wird. Angesichts
dieser sprachlichen und sozialen Wirkungsmacht, die mit der gesellschaftlichen
Position der Lehrkraft und den naturwissenschaftlichen Fächern einhergeht, ergibt
sich eine Relevanz der hier aufgezeigten, (selbst-)kritischen und Hierarchien dekon-
struierenden Sensibilisierungsmöglichkeiten. Dennoch: „Ohne Analyse der Inhalte
von Geschlechterkonstruktionen im Kontext macht- und herrschaftskritischer
Konzepte erschöpft sich der Gehalt der Untersuchungen in einem formalistischen
Antiessentialismus. Relevant ist nur, was schon vorher gewusst wurde: Geschlecht
hat keine Essenz. Wem diese Aussage unter welchen Bedingungen was bedeutet,
bleibt unklar“ (Schütze 2010, S. 45). Will man dies vermeiden und zugleich am
Begriff der Genderkompetenz festhalten, bedarf es folglich einer Erweiterung der
Aspekte Wissen, Wollen und Können.
Wissen umfasst dann nicht mehr nur ein theoretisches Wissen über Sexualität
und Geschlecht, sondern beinhaltet ebenso die in aktuellen Ansätzen vernachlässigte
Analyse und Dekonstruktion ausgewählter historischer und aktueller Inhalte, die
den hegemonialen Diskurs der Heteronormativität verfestigen. Dies gilt gerade
dann, wenn diese Diskurse naturwissenschaftliche Unterrichtsinhalte und alltäg-
liche Selbstverständlichkeiten hinsichtlich Geschlecht und sexueller Orientierung
berühren. Dekonstruktion bedeutet hierbei nicht Destruktion oder bloße Rekons-
truktion, sondern zielt darauf ab, den Bauplan der Konstruktion nachzuvollziehen
und zu hinterfragen, wozu die jeweilige Konstruktion dient, was sie bedingt und
anderseits marginalisiert. Sie nimmt den „inhärenten gewaltsam-hierarchischen
Charakter zum Ausgangspunkt der Frage nach dem Ausgeschlossenen und wendet
sich von Vorstellungen eines Ursprungs“ (Hartmann 2002, S. 82) ab. Dekonstruk-
tion kann so auch als eine (selbst-)reflexive Denkbewegung und kritische (Grund-)
Haltung gegenüber bestehenden Machtstrukturen verstanden werden. Es kann
hierbei nicht um eine Art Genealogie der Heteronormativität gehen, sondern um
die transdisziplinäre Dekonstruktion hierarchisierender und ausgrenzender Nor-
men anhand exemplarischer Unterrichts- und Fachinhalte, die Denk-, Wahrneh-
mungs- und Wissensmuster generieren, in die fachkulturellen Selbstverständnisse
eingeschrieben sind und die das heterosexuelle System der Zweigeschlechtlichkeit
stabilisieren. Eine kritische Reflexion und Dekonstruktion anhand konkreter Inhalte
ist somit ein Versuch, „den Spuren dessen nachzugehen, was uns bildet“ (Maxim
2009, S. 281). Ein theoretisches Wissen ist dafür die Voraussetzung, denn es offe-
riert die Möglichkeit, die analysierten Wissensbestände in „ihrer Komplexität und
Que(e)r durch die Fachkulturen 297

Unabgeschlossenheit zu interpretieren“ (ebd. S. 281). Im Umkehrschluss bedeutet


dies auch, dass z. B. eine fundierte Re- und Dekonstruktion biologischer Diskurse
anhand ausgewählter Unterrichtsinhalte und Themen dazu beitragen kann, die von
den meisten Studierenden als zu komplex empfundenen poststrukturalistischen
Theorien in ihrer unterrichtspraktischen Relevanz zu erkennen und zu verstehen.
Zugleich wird ihnen konkretes Material angeboten, das sie für die Schule und den
Unterricht didaktisch aufbereiten können (vgl. Götschel 2015).7
Wollen bedeutet dann nicht mehr nur, sich auf schulpolitischer Ebene für die
Anliegen von Jungen und Mädchen zu engagieren, sondern sich kritisch und re-
flektierend mit liebgewonnen – nicht nur, aber auch heteronormativen – Denk- und
Handlungsoptionen zu befassen und diese durch Dekonstruktion sowohl für sich
selbst als auch für zukünftige Schüler_innen zu erweitern. Damit geht einher, dass
auch ein neues Verständnis zum eigenen Unterrichtsfach und der Lehrprofessio-
nalität zu entwickeln ist. Aufgabe wird es sein, transdisziplinär gemeinsam mit
den Fachwissenschaften und Fachdidaktiken danach zu suchen, wie ein solches
kritisch-dekonstruktives Professionsverständnis an angehende Lehrer_innen
vermittelt werden kann und welche (Unterrichts-)Inhalte sich hierfür besonders
eignen. Im Projekt G-MINT wird derzeit der Versuch unternommen, diesen fach-
übergreifenden Dialog exemplarisch mit der Informatik, Politikdidaktik und der
Chemie anzustoßen. Dies vermittelt angehenden Lehrer_innen, dass Genderkom-
petenz als ein systematischer Bestandteil guten Unterrichts und fachspezifischer
Professionalität zu verstehen ist und keine zusätzliche Belastung darstellen muss.
Das hier aufgezeigte transdisziplinäre Professionsverständnis kann somit
ebenfalls die aktuell zu beobachtende Diskrepanz zwischen Fachwissenschaft und
Gender-Thematik entschärfen. Dies trägt dazu bei, dass Können nicht mehr nur
Vermittlung von Fachwissen anhand jungen- oder mädchengerechter Zugänge
bedeutet, sondern methodisch-didaktischen Handlungsoptionen impliziert, die es
Schüler_innen ermöglichen, ein kritisches Verständnis und reflexives Verhältnis
hinsichtlich der verwendeten Unterrichtsmaterialien und der damit einherge-
henden heteronormativen Aspekte zu entwickeln. Hartmanns Vorschlag einer
kritisch-dekonstruktiven Pädagogik, die Kritik nicht als Opposition zur Macht
begreift, sondern sich in einer dekonstruktiven und selbstkritischen Weise aus den
jeweils diskursiven Rahmenbedingungen heraus entwickelt, kann ein angemessener
Ansatz für ein solches Möglichkeitsräume eröffnendes Professions- und Bildungs-
verständnis sein. „Eine Art kritische Professionalität mag demzufolge darin liegen,

7 Wie eine solche Re- und Dekonstruktion anhand konkreter biologischer Inhalte in-
nerhalb der Lehramtsausbildung praktisch gestaltet werden kann und welche Literatur
sich für dieses Vorhaben anbietet, verdeutlicht der Beitrag „Geschlechtervielfalt in der
Lehramtsausbildung“ von Helene Götschel (2015).
298 Florian Cristobal Klenk

sich für die Produktionsweisen von Normalität zu sensibilisieren und über das
zum Thema machen von Normalitätsvorstellungen und Ausschlussmechanismen
diese Sensibilisierung auch den pädagogischen Adressat_innen zu ermöglichen“
(Hartmann 2013, S. 273).

7 Fazit

Will man den hier aufgezeigten Perspektiven folgen und die Dimensionen der Gen-
derkompetenz in einem poststrukturalistischen Sinn erweitern, ist ein konstruktiver
Dialog erforderlich, der zwischen den Disziplinen stattfindet und zugleich über
diese hinausgeht. Solange sich angehende Lehrer_innen ‚eigentlich‘ als Natur- oder
Geisteswissenschaftler_innen begreifen und der Anspruch auf Durchsetzung der
fachkulturellen Wahrheitskonstruktionen vor dem der (kritisch-dekonstruktiven)
Bildung ihrer Schüler_innen steht, geht auf beiden Seiten Potential verloren, zur
Anerkennung vielfältiger Lebensweisen beizutragen. Ferner wird die Vermittlung
eines selbstkritischen Professionsverständnisses verspielt, das sich positiv auf die
Unterrichtsqualität, das Interesse sowie die Studien- und Berufswahlprozesse
zukünftiger Schüler_innen auswirken kann. Die hier aufgezeigten Ansätze tragen
somit ebenfalls dazu bei, die immer wieder von Seiten der Politik geforderte und
seit 30 Jahren nur mäßig erfolgreiche (differenzorientierte) Nachwuchsförderung
in den MINT-Fächern um eine neue Dimension zu erweitern. Die transdisziplinäre
Vermittlung eines kritisch-dekonstruktiven Bildungs- und Professionsverständnisses
erscheint vor diesem Hintergrund als relevante und sinnvolle Ergänzung zu den
aktuell in der Lehramtsausbildung und Fachdidaktik favorisierten pädagogischen
Ansätzen.
Die hier vorgestellte dekonstruktivistische Perspektive eröffnet angehenden
Lehrkräften zudem die Möglichkeit, einen reflexiven und verantwortungsvollen
Umgang mit den sie bedingenden Verhältnissen zu entwickeln. Dadurch werden
sie in die Lage versetzt, den im Grundgesetz und den Schulgesetzen spezifizierten
Prinzipien der Achtung und Toleranz zu folgen und die Bedingungen der Aner-
kennung so umzuarbeiten, dass sie der gelebten sexuellen und geschlechtlichen
Vielfalt gerechter werden. Mit Butler gesprochen bedeutet dies, anhand konkreter
Gegenstände und über Disziplingrenzen hinausgehend die Bestimmungen zu
hinterfragen, „von denen das Leben eingeschränkt wird, um so die Möglichkeit
anderer Lebensweisen zu eröffnen; […] nicht um die Differenz als solche zu feiern,
sondern um für ein Leben, das sich den Modellen der Anpassung widersetzt, inte-
grative Bedingungen zu schaffen, die es schützen und erhalten“ (Butler 2009, S. 13).
Que(e)r durch die Fachkulturen 299

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III.3
Lebensphasen und -kontexte
Alter(n)
Anders Altern
Zur aktuellen Lebenslage von Schwulen und
Lesben im Alter1
Marco Pulver

Altern Schwule und Lesben anders? Was ist das Besondere an der Situation ho-
mosexueller Senioren? Brauchen sie spezielle Beratungs-, Freizeit- oder Wohnan-
gebote? Wäre es nicht besser, die Bedürfnisse homosexueller Senioren_innen in
die Strukturen herkömmlicher Altenarbeit zu integrieren? Solche und ähnliche
Fragen begegnen mir oft beispielsweise auf Tagungen und Fachkongressen zum
Thema alternative Wohnformen, zu denen ich als Referent eingeladen werde, um
das intergenerative Wohnprojekt „Lebensort Vielfalt“ der Schwulenberatung Berlin
vorzustellen2. Viele Fragende wundern sich vor allem darüber, dass die Sexuali-
tät einen so großen Stellenwert im Kontext der Bewältigung von Problemen des
Alterns haben soll. Im vorliegenden Beitrag möchte ich die besondere Situation
älterer homosexueller Menschen beleuchten und in diesem Kontext auch auf die
oben erwähnten Fragen eingehen.
Die Frage, wie sich Menschen im Alter verändern, wie Menschen mit dem
Älterwerden umgehen, was es bedeutet alt zu werden oder alt zu sein, beschäftigt
Philosophen und Forscher seit jeher. Dass Menschen – abhängig von ihrer Biographie
und der historisch-gesellschaft lichen Lage – das Alter zum Teil sehr unterschiedlich
erleben und Alter darüber hinaus als soziale Konstruktion verstanden werden muss,
ist eine Erkenntnis, die sich erst allmählich im letzten Jahrhundert durchgesetzt
hat. In entsprechenden Untersuchungen über das Alter wurde zunehmend auch
das Geschlecht als wichtige Variabel erfasst3.
Die sexuelle Identität blieb bis vor kurzem weitgehend unberücksichtigt. Bis
heute sind wissenschaft liche Studien über das Leben von älteren Transidenten,

1 Der Beitrag bezieht sich, wenn nicht anders angegeben, auf Menschen im Alter über
65 Jahre. Auf die Situation älterer queer bzw. transident lebender Menschen wird im
vorliegenden Beitrag nicht explizit eingegangen.
2 Zum Lebensort Vielfalt siehe unten oder http://www.lebensort-vielfalt.de/
3 Vgl. bspw. Perrig-Chiello und Höpflinger 2000

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_24, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
304 Marco Pulver

Schwulen und Lesben noch immer rar4. Einerseits fehlte seitens der Wissenschaft
lange das Interesse, die Situation dieser Bevölkerungsgruppen genauer zu er-
kunden. Andererseits ist es schwierig, relevante Daten und Fakten empirisch zu
erfassen. Unter anderem ist ein Grund dafür, dass viele ältere Schwule und Lesben
ihre Homosexualität nicht offen leben und `Informanten´ schwer zu finden sind.
Hinzu kommen Definitionsprobleme, die empirische bzw. statistische Erhebungen
erschweren, denn viele Männer und Frauen, die homosexuelle Kontakte haben,
würden sich deshalb noch lange nicht als schwul bzw. lesbisch bezeichnen wollen5,
womöglich auch nicht als bisexuell verstehen, obwohl sie vielleicht in bestimmten
Lebensphasen homosexuell gelebt haben.
Die Frage, wie viele homosexuelle Senioren_innen in Deutschland leben, lässt
sich aufgrund der oben genannten Probleme nur grob schätzen. Die Schätzungen
fallen außerdem unterschiedlich aus, je nach dem ob der Bevölkerungsanteil ho-
mosexueller Menschen höher oder niedriger angesetzt wird (i. d. R. zwischen 2 und
10 %). Das Niedersächsische Sozialministerium veröffentliche z. B. eine Schätzung
von bis zu 1,8 Millionen homosexueller Senior_innen im Alter über 60 Jahre. Allein
für Berlin kursiert seit längerem die Zahl von ca. 60 Tsd. homosexuellen Männern
und Frauen im Alter über 65 Jahre6.
Differenzierte Aussagen über die Situation schwuler und lesbischer Senior_in-
nen beruhen zurzeit auf vereinzelten, kleineren und meist qualitativ angelegten
Studien oder auf Beobachtungen und Gesprächen in sozialpädagogischen Kon-
texten7. Aus solchen Quellen geht aber sehr deutlich hervor, dass sich offenbar ein
Großteil der älteren Lesben und Schwulen, vor allem die Ältesten unter ihnen, für
ihre Homosexualität schämen und oftmals kein oder nur ein partielles Coming
Out vollzogen haben. Schließlich haben sie ihre Jugend und einen Großteil ihres
Erwachsenenlebens in einer Gesellschaft verbracht, in der Homosexualität krimi-
nalisiert, pathologisiert und verachtet wurde.

4 Allerdings beschäftigen sich zunehmend Abschlussarbeiten sozialpädagogischer


Fachhochschulen mit der Situation homosexueller Senioren und Seniorinnen; vgl. ins-
besondere Gille 2003; Wernicke 2007; Müller 2010. Einige wenige empirische Erhebungen
gibt es zu speziellen Aspekten: vor allem zu sozialen Beziehungen/Einsamkeit (Buba und
Weiß 2003) und zu Wohnwünschen (Landeshauptstadt München 2004, S. 35f). Zu den
Ergebnissen einer Befragung von älteren Lesben im Rhein-Main-Gebiet von 2005/2006
siehe Schmauch 2010 bzw. Schmauch et al. 2007. Weiterführend siehe Bochow 2006;
Sdun 2009; Wittig 2009; Stümke 1998.
5 Vgl. z. B. Plötz 2005, S. 6ff.; dieselbe 2006, S. 11f
6 Vgl. Wittig 2009, S.13
7 Vgl. Zum Alltag sozialpädagogischer Arbeit mit schwulen Senioren, Sechting 2012
Anders Altern 305

Eine Darstellung zur Diskriminierungsgeschichte der Homosexualität sprengt


den Rahmen des vorliegenden Beitrags. Daher beschränke ich mich hier auf das
Wesentliche: Der § 175 StGB, der in den alten Bundesländern erst 1994 im Zuge der
Rechtsangleichung mit der DDR endgültig außer Kraft gesetzt wurde, stellte seit
1871 sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe. Der Paragraph wurde
im nationalsozialistischen Deutschland verschärft und hatte in dieser verschärften
Fassung in der Bundesrepublik noch bis 1969 bestand. (Homo-)sexualität bei Frauen
wurde gesellschaftlich weniger Bedeutung beigemessen, sie galt als „weniger aggressiv“
und weniger gefährlich und blieb daher ohne strafrechtliche Konsequenzen. Noch
bis heute denken viele Menschen, wenn von Homosexuellen die Rede ist, in erster
Linie an Männer. Homosexualität war von 1968-92 in der International Classification
of desease als neurotische Störung und damit offiziell als Krankheit klassifiziert8.
Viele der „jüngeren Alten“ fühlen sich inzwischen überwiegend akzeptiert
– Lesben womöglich noch eher als Schwule: Eine Befragung von 214 lesbischen
Frauen im Jahr 2006 erbrachte, dass sich immerhin 82 % der befragten Frauen in
den letzten fünf Jahren überwiegend respektiert fühlten9. Andererseits existieren
internationale Studien, die nahe legen, dass homosexuelle Männer und Frauen
aufgrund verinnerlichter Ablehnung der eigenen sexuellen Orientierung sowie
tatsächlicher Diskriminierungserfahrungen im Alltag höheren psychischen und
physischen Belastungen ausgesetzt sind10. Lesbische Frauen wären vergleichsweise
stärker von generalisierten Angststörungen und bestimmten Süchten betroffen,
homosexuelle Männer hätten ein zwei bis acht mal so hohes Risiko für Suizidalität
und Depression wie heterosexuelle Männer (ebd.).
Bei vielen älteren homosexuellen Menschen, die mir im Rahmen meiner sozi-
alpädagogischen Tätigkeit begegnen, sitzt die Angst vor Ächtung und Diskrimi-
nierung sehr tief.

Soziale Teilhabe, Isolation und Einsamkeit

Sind deshalb Schwule und Lesben im Alter prinzipiell einsame, traurige Gestal-
ten? – Dieser Mythos begegnet mir seit meiner Jugend. Meine Mutter warnte mich
davor, eben so, als `alte, einsame Tunte zu enden, wenn ich mir das Schwulsein

8 Zur Geschichte der Ächtung bzw. Kriminalisierung der Homosexualität vgl. u. a.


Lähnemann 2013; Stümke 1989
9 Vgl. Schmauch et al. 2007
10 Vgl. Plöderl et al. 2009
306 Marco Pulver

nicht rechtzeitig abgewöhnen würde´. Ich wollte ihr nicht glauben und sah außer-
dem keine Möglichkeit für mich, anders als schwul zu leben. Heute leite ich die
Seniorenarbeit in der Schwulenberatung Berlin. Hier begegnen mir täglich ältere
Männer in ganz unterschiedlichen Lebenslagen. Die meisten älteren Männer, die
ich treffe, suchen und finden Wege, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen
und Gemeinsamkeit und Geselligkeit in einem für sie zufriedenstellenden Maße
zu erleben. In der Regel ist es nicht ihr Wunsch, einen möglichst großen Bekann-
tenkreis zu haben oder ständig unter Menschen zu sein. Viele ältere homosexuelle
Männer und Frauen sind im Gegenteil gewohnt, viel Zeit mit sich selbst zu ver-
bringen. Um sich nicht so allein zu fühlen, genügt den meisten, gelegentlich einen
guten Freund bzw. eine Freundin zu treffen. Gelingt es außerdem – zum Beispiel
über eine Beratungsstelle – den Zugang zu einer Gesprächs- oder Freizeitgruppe
zu finden und an deren Aktivitäten teilzunehmen, ist meist auch der weitergehende
Bedarf an Austausch gedeckt11.
Gerade für Ältere sind Orte, an denen Homosexualität selbstverständlich ist und
wo sie sich mit anderen Schwulen und Lesben austauschen können, sehr wichtig
(vgl. z. B. Schmauch 2010, S. 28). Oft sind allerdings die kommerziellen Angebote
eher auf Jüngere ausgerichtet. In den meisten Städten und Regionen besteht ein
außerordentlicher Mangel an geeigneten Treffpunkten, in denen es zum Gedan-
kenaustausch, zur gemeinsamen Freizeitgestaltung und zum Kennenlernen gerade
auch älterer Schwuler und Lesben kommen könnte (Sdun 2009).
Schwierig wird es, wenn sich die Isolation bzw. der Rückzug aus dem sozialen
Leben nicht allein auf den versteckten Umgang mit der Homosexualität zurück-
führen lässt, sondern auch auf geringe Einkünfte. Gerade ältere Lesben sind häufig
in der Situation, mit einer minimalen Rente auskommen zu müssen12. Zudem
hindern viele Senior_innen auch psychische oder körperliche Beeinträchtigungen
bzw. Mobilitätseinschränkungen daran, das Haus zu verlassen und sich unter
Menschen zu begeben.
Auf die besondere Problematik der HIV-Infektion vieler schwuler Männer im
Alter kann ich im vorliegenden Beitrag nicht ausführlich eingehen. Ich möchte nur
darauf hinweisen, dass diese Erkrankung trotz der inzwischen guten Therapierbar-
keit die Lebensqualität in mehrfacher Hinsicht beeinträchtigt und das Risiko, in
gesundheitliche und soziale Notlagen zu geraten, stark erhöht. Selbst in schwulen
Senioren-Freizeitgruppen ist das Thema bis heute meist noch tabuisiert und viele

11 In den meisten Städten und Regionen besteht allerdings ein außerordentlicher Mangel
an geeigneten Treffpunkten für ältere homosexuelle Menschen, an denen es zum
Gedankenaustausch, zur gemeinsamen Freizeitgestaltung und zum Kennenlernen
kommen könnte (Schmauch 2010, S. 28; Sdun 2009).
12 Vgl. Sdun 2009
Anders Altern 307

Betroffene fühlen sich somit mehrfach diskriminiert – aufgrund des Alters, der
Homosexualität und der HIV-Infektion.
Für ältere Homosexuelle, die sich aus den genannten Gründen sehr einsam füh-
len, gibt es seit einigen Jahren – allerdings nur in (meist großstädtischen) Regionen
Deutschlands – die Möglichkeit, ehrenamtliche Besuchsdienste in Anspruch zu
nehmen, die von schwulen oder lesbischen Einrichtungen bzw. Verbänden orga-
nisiert werden13. Ältere homosexuelle Menschen nutzen außerdem zunehmend
spezifische Internetportale zum Austausch bzw. zum Chatten und Kennenlernen.
Besonders beliebt bei älteren Männern ist schon seit einigen Jahren das Portal „Gay
Royal“, für lesbische Frauen gibt es „Lesarion“. Für einige homosexuelle Senioren
ist, wie ich aus Beratungsgesprächen weiß, die Aussicht, bequem, von zu Hause
aus neue, auch erotische Kontakte anzubahnen, sogar das Hauptmotiv, sich doch
noch mit neuen Technologien zu beschäftigen, sich einen Computer anzuschaffen
und den Umgang mit dem Internet zu erlernen14. Viele ältere Lesben und Schwule
sind inzwischen auch über die Freizeitaktivitäten von Selbsthilfegruppen, die sich
in den letzten Jahren vor allem in Ballungszentren, aber auch in vielen kleineren
Städten Deutschlands gegründet haben, informiert15. Beliebt sind Ausflüge, aber
auch Gesprächskreise und Treffen zum gemeinsamen Frühstück oder zum Kaffee
und Kuchen wie z. B. schon traditionell jeden Samstagnachmittag im Sub-Cafe in
München. An solchen Treffen und Aktivitäten nehmen vor allem die alleinstehenden
Männer und Frauen teil. Wie viele Schwule und Lesben im Alter über 65 wiede-
rum in einer festen Partnerschaft leben, ist aufgrund der oben schon erwähnten
statistischen bzw. Definitionsprobleme ungewiss. Allerdings gibt es inzwischen
einige Untersuchungen, die nahe legen, dass ein gutes Drittel der Gesamtgruppe
einen festen Freund bzw. eine feste Freundin haben und meist auch mit dem
Partner oder der Partnerin zusammen wohnen16. Es gibt auch Hinweise darauf,

13 In Berlin organisiert RuT für frauenliebende Frauen den ehrenamtlichen Besuchsdienst


„Zeit für Dich“ (http://www.lesbischeinitiativerut.de/). Die Schwulenberatung Berlin
koordiniert im sogenannten „Mobilen Salon“ zurzeit den Besuch von etwa 30 schwulen
Senioren. Die Beratungsstelle für schwule Männer des Sub e. V. in München unterhält
das so genannte „schwule Patenprojekt“. In anderen Städten und Regionen sind ehren-
amtliche Besuchsdienste zurzeit in Planung.
14 Manche ältere Frau hat erst über Internet-Chats ihr lesbisches Coming Out erlebt; vgl.
hierzu Watzlawik 2002
15 Eine bundesweite Übersicht über Freizeitgruppen und andere speziell für schwule und
lesbische Senioren entwickelte Angebote fehlt leider. Allerdings geben die Webseiten www.
gay-web.de oder www.lesben.org und www.lesbenundalter.de Hinweise auf bestehende
Gruppen und aktuelle Termine bzw. Veranstaltungen in vielen Städten Deutschlands.
16 Ergebnisse von Befragungen weisen z. T. sogar einen noch höheren Prozentsatz an
Partnerschaften bei älteren Schwulen und Lesben aus (Stümke 1998, S. 228; Baas und
308 Marco Pulver

dass Lesben wiederum noch häufiger als Schwule in Lebenspartnerschaften und


Partnerbeziehungen integriert sind und seltener allein leben17.
Es erstaunt mich immer wieder, wenn mir im Rahmen meiner Beratungstätigkeit
schwule Paare, bei denen die Partner 85 Jahre oder älter sind, erzählen, dass sie sich
schon seit ihrer frühen Jugend kennen, lieben und zusammenwohnen. Schließlich
war es doch bis zu den 80er Jahren sehr mutig, mit einem anderen Mann zusam-
menzuleben. Wie ich aus Beratungsgesprächen weiß, geben auch heute noch einige
ältere Schwule, die mit ihrem Freund zusammenwohnen, gegenüber Nachbar_innen
vor, beim Mitbewohner handle es sich um einen Verwandten oder Untermieter.
Gerade auch als Paar fürchten einige ältere Männer Klatsch und Tratsch und
gehen daher anderen Menschen lieber aus dem Weg. Erst wenn Nachbar_innen
von sich aus offen auf das Paar zugehen, wird die Zurückhaltung von Seiten des
Paares gelockert und mitunter entstehen freundschaftliche Beziehungen. In einem
mir bekannten Fall hat beispielsweise ein Nachbarehepaar eines schwulen Paares
– es handelte sich um einen 86- und einen 92jährigen Mann -, dabei geholfen,
den Kontakt zur Schwulenberatung Berlin aufzunehmen, weil sie das Paar dabei
unterstützen wollten, sich über geeignete Pflegedienste zu informieren. Das Paar
hatte keine weiteren Freunde oder Bekannten mehr, was für die Situation älterer
Paare wohl nicht ganz untypisch ist. Nach meiner Einschätzung stellt es eher die
Ausnahme dar, wenn ein Partner z. B. aufgrund seines ehemaligen Berufs, noch
mit 70 kulturell oder politisch aktiv ist und entsprechende Kontakte pflegt. In allen
anderen Fällen, von denen ich erfahre, verbringen die Partner_innen den gesamten
Tag fast ausschließlich mit sich selbst. Häufig haben sie einen Hund, um den sie sich
gemeinsam kümmern. Nach dem Tod eines Partners bzw. einer Partnerin fällt es
den Betroffenen in der Regel sehr schwer, neue Freunde und Bekannte zu gewinnen.
Wie viele Männer und Frauen in einer solchen Situation Selbsthilfegruppen oder
die Beratungs- bzw. Gruppenangebote schwuler und lesbischer Einrichtungen
nutzen, lässt sich schwer abschätzen. Allerdings kommt es nicht selten vor, dass
mir ältere Männer in Beratungsgesprächen davon erzählen, wie schwer es ihnen
gefallen ist, eine solche „schwule“ Einrichtung aufzusuchen und sich zu einem
offenen Gespräch zu entschließen. Manchmal erzählt ein älterer Mensch, er habe
ein Inserat der Beratungsstelle Monate oder gar Jahre lang mit sich herumgetra-
gen, bevor er sich traute, den Gesprächsbedarf über sein Schwulsein anzumelden.
In solchen Beratungsgesprächen erfahren manche homosexuelle Senioren und
Seniorinnen, die in ihrem Leben häufig gehänselt, verlacht und beleidigt wurden,

Buba 2001; Grossmann et. al 2000


17 Vgl. Buba und Weiß 2003, S. 175
Anders Altern 309

zum ersten Mal eine Situation, in der sie das Gefühl entwickeln können, wirklich
ernst genommen und respektvoll behandelt zu werden.
Meine Erfahrung ist, dass Berater älterer schwuler Männer die Standards kli-
entenzentrierter Beratung besonders ernst nehmen müssen. Diese Klientengruppe
nimmt z. B. Verspätungen des Beraters zuweilen sehr persönlich und es kann
passieren, dass wegen einer vermeintlichen Respektlosigkeit wie z. B. einer kurzen
Verspätung kein Gespräch mehr zustande kommt18.
In Beratungsgesprächen mit Älteren geht es nicht selten um die Sehnsucht nach
einem Freund bzw. einer Freundin und um die Enttäuschungen und Einschrän-
kungen, die das Leben unter dem Verbot und der Ächtung der Homosexualität mit
sich brachten. Manche ältere Klient_innen haben aus Angst, mit einem Freund bzw.
einer Freundin eher aufzufallen, auf die Erfahrung einer Partnerschaft verzichtet.
Häufig fühlen sie sich regelrecht betrogen um eine Jugend, in der sich Liebe und
Sexualität nicht frei entfalten konnten. Auch im Gesprächskreis `Anders Altern´ der
Schwulenberatung Berlin19 sitzen ältere Männer von denen viele ihr Schwulsein im
Alltag verbergen. Einige haben erst durch die Unterstützung aus dem Gesprächs-
kreis den Mut gefunden, ihre Ehefrau und Kinder über ihre Homosexualität zu
informieren. Viele wissen in einer solchen Situation nicht, ob sie dennoch weiterhin
mit der ehemaligen Partnerin zusammenleben sollen, um wenigstens nach Außen
den Schein zu wahren. Bei denen, die sich für eine klare, auch räumliche Trennung
von der Ehefrau entschließen, ist häufig auch der Kontakt zum Rest der Familie,
zu Kindern oder Enkelkindern gestört. Über ältere frauenliebende Frauen gibt
es ähnliche Berichte20. Bei Nachbar_innen, Ärzt_innen und in der Öffentlichkeit
wollen homosexuelle Senior_innen meist nicht „auffallen“. Der einfachste Weg
nicht aufzufallen ist, Menschen generell aus dem Weg zu gehen. So wundert es
nicht, wenn eine als repräsentativ geltende Studie in Nordrhein-Westfalen über die
Einsamkeit schwuler Männer zu dem Ergebnis kommt, dass ca. 50 % der befragten
Älteren teilweise oder sogar sehr isoliert leben 21.
Der verschämte Umgang mit der eigenen Homosexualität und die damit verbun-
dene Angst vor Diskriminierung, die viele homosexuelle Senioren und Seniorinnen
daran hindert, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten oder schwule bzw.
lesbische Freizeitangebote wahrzunehmen, ist nach meiner Erfahrung vor allem bei
den heute über 70jährigen verbreitet. Betroffen ist somit gerade jene Altersgruppe,
die häufig wegen Pflegebedürftigkeit auf die Unterstützung von anderen Menschen

18 Vgl. Pulver 2007, S. 115ff.


19 http://www.schwulenberatungberlin.de/wir-helfen/gruppenangebote/
20 Wortmann 2005, S.84ff.
21 Buba und Weiß 2003, S. 198.
310 Marco Pulver

noch stärker angewiesen ist. Angehörige dieser Generation sind auch besonders
skeptisch, was den gesellschaftlichen Wandel der Haltung gegenüber Schwulen und
Lesben angeht. Zuweilen stoße ich bei meinen ältesten Klienten auf große Ängste
vor wieder aufkeimenden schwulenfeindlichen Bewegungen: `Ich solle bloß nie-
mandem von meiner Homosexualität erzählen´, warnte mich erst kürzlich wieder
ein 87jähriger pflegebedürftiger Mann. `Er sei sicher, dass die toleranten Zeiten
bald wieder vorbei wären´. Aber auch schon die über 60jährigen sind in der Regel
der Ansicht, dass Schwule und Lesben in der Öffentlichkeit keine Verhaltensweisen
an den Tag legen sollten, mit denen sie sich als homosexuell zu erkennen geben.
`Schwule und Lesben, die z. B. mit ihren Partnern und Partnerinnen auf der Straße
Hand in Hand gehen oder sich küssen, würden ihre Umgebung provozieren und
seien selber Schuld, wenn sie daraufhin angegriffen würden´, so die fast einhellige
Meinung im Gesprächskreis `Anders Altern´.
Es liegt auf der Hand und ist auch eine Erfahrung meiner inzwischen über
zehnjährigen Berufspraxis, dass homosexuelle Männer und Frauen, die mit der-
artigen Einstellungen und Ängsten in Pflegeeinrichtungen oder Heime umziehen
müssen, selten in der Lage sind, gute Kontakte zu anderen Bewohner_innen und
Pfleger_innen aufzubauen. Sie fühlen sich fremd, unverstanden, als Außensei-
ter_innen und fürchten sich davor, dass sich das Gerücht ihrer Homosexualität
im Haus verbreiten könnte. Vor dieser Situation haben auch die „jungen Alten“
große Angst, vor allem jene, die bereits einen Großteil der Freund_innen und
den Kontakt zur Familie verloren haben. Sie befürchten, z. T. zu recht, eines Tages
in Heime abgeschoben zu werden, die auf homosexuelle Bewohner_innen nicht
eingestellt bzw. nicht vorbereitet sind.

Wohnen – am liebsten mit „Gleichgesinnten“ in einem Haus

Viele ältere Schwule und Lesben wünschen sich deshalb alternative Wohnfor-
men, in denen Homosexualität selbstverständlich gelebt werden kann. Und sie
wünschen sich verständnisvolle und hilfsbereite, am liebsten „gleichgesinnte“
Menschen in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld 22. Lesbische Frauen haben sich
seit den 90er Jahren, z. T. schon früher, darum gekümmert, Möglichkeiten für
ein gemeinschaftliches Wohnen im Alter zu realisieren 23. So gelang es z. B. einer
kleinen Gruppe von Frauen, einen Frauenwohnstift (SAPPhO) zu gründen, der

22 Zu den Wohnwünschen älterer Lesben vgl. Schmauch et. al. 2007, S. 21


23 Vgl. bspw. Brambach 2013
Anders Altern 311

inzwischen über fünf Häuser in verschiedenen Städten Deutschlands verfügt. Je


nach den Bedingungen vor Ort und entsprechend den Interessen der jeweiligen
Hausgemeinschaft wird das Wohnen unterschiedlich gestaltet. Im Vordergrund steht
immer der Wunsch, mit anderen Frauen in Kontakt zu sein und sich gegenseitig
zu unterstützen24. Charakteristisch für lesbische Wohnprojekte ist, dass Frauen in
der Regel unter sich bleiben wollen. In dieser Hinsicht offener konzipiert sind zwei
größere Wohnprojekte für Schwule und Lesben, die in den letzten Jahren in Köln
und Berlin realisiert wurden. Nachdem zunächst in Köln mit der „Villa Anders“25
ein schwul-lesbisches Wohnhaus entstand, das alte Menschen allerdings weniger
im Fokus hat, eröffnete im Jahr 2012 das bundesweit erste schwule Wohnprojekt,
das sowohl konzeptionell als auch baulich vor allem auf die Bedürfnisse der äl-
teren Generation ausgerichtet ist. Es handelt sich um den „Lebensort Vielfalt“ in
Berlin-Charlottenburg26. Den Mieter_innen dieses Hauses ist wichtig, dass keine
anonymen Wohnverhältnisse entstehen und dass sich gegenseitig bei Bedarf unter
die Arme gegriffen wird27. Sie organisieren gemeinsam Freizeitaktivitäten, treffen
sich zweimal monatlich zu einem Mieterplenum und haben mehrere Interessenzirkel
und Arbeitsgemeinschaften gegründet: z. B. eine Nachbarschafts-AG, die sich unter
anderem darüber Gedanken macht, wie Nachbar_innen, die erkrankt sind, noch
besser als bisher unterstützt werden können. Die pflegebedürftigen Mieter_innen
sind in die Hausgemeinschaft vollkommen integriert.
Zuweilen wird kritisiert, dass im Lebensort Vielfalt schwule Männer weitgehend
unter sich bleiben: `Ist da nicht ein Art Ghetto entstanden? Und wie ist das zu verein-
baren mit modernen seniorenpolitischen Konzepten? Wäre es nicht besser – so eine
Frage, die mir nicht selten begegnet – die herkömmlichen Senioreneinrichtungen
würden sich stärker für gesellschaftliche Randgruppen öffnen und interessieren?´
– Sicher, es wäre schön, wenn Homosexualität und queere Lebenswelten auch in
herkömmlichen Alteneinrichtungen künftig stärker integriert würden. Aber abge-
sehen davon, dass diese Integration bisher eben noch in den Kinderschuhen steckt:
Hat denn das herkömmliche Alten- und Pflegeheim überhaupt noch Zukunft? Macht

24 Ältere lesbische Frauen leben auch oft in einer Hausgemeinschaft mit heterosexuellen
Frauen wie z. B. im Hexenhaus in Berlin (vgl. www.frauenwohnprojekte.de), dem
Berliner Lesben- und Frauenprojekt „Offensives Altern e. V.“ oder in den zahlreichen
Beginehäusern bzw. –höfen, die es inzwischen in vielen deutschen Städten gibt. Die
Häuser stehen zumeist Frauen aller Altersgruppen offen (vgl. Haarbusch 2005).
25 www.villa-anders-koeln.de
26 Ein ausführlicher Rückblick auf das erste Jahr „Wohnen und Leben in einem Mehrge-
nerationenhaus“ bzw. im Lebensort Vielfalt geben Pulver und Schmidt 2012
27 In diesem Kontext fällt häufig der Begriff der „Wahlfamilie“. (vgl. hierzu eher skeptisch
Wernicke 2008)
312 Marco Pulver

es Sinn, wenn hundert pflegebedürftige Menschen in einem Haus leben? Sollen


weiterhin Häuser gebaut werden, in denen nur Alte wohnen und betreut werden?
Ist es nicht sowieso höchste Zeit, neue Wohn- und Pflegeformen zu entwickeln, in
denen Alt und Jung zusammen leben, wo nachbarschaftliche Hilfe, ehrenamtliches
Engagement und professionelle Unterstützung viel stärker als bisher Hand in Hand
gehen? – Im Lebensort Vielfalt wird genau diese neue Form des Wohnens erprobt.
Und dass hier schwule Männer – zusammen mit einigen heterosexuellen und
lesbischen Nachbarinnen – weitgehend unter sich wohnen dürfen, ist wichtig und
gut so. Denn, so der Soziologe Rüdiger Lautmann in einem Beitrag zum Leben-
sort Vielfalt: „Hier in der Niebuhrstraße ist die Randgruppe der Mittelpunkt, das
sonst Normale eine Minderheit (…). Hier genießen wir (Schwulen) (…) Freiheit:
entlastet von den traditionellen Schweigepflichten, von neugierigen Blicken, vom
Nicht-ernst-genommen-Werden – frei dazu, anders zu sein, uns selbst auszudrücken
und neue Utopien zu entwickeln“28. Zu wünschen bleibt, dass der Lebensort Vielfalt
den vielen Menschen aus allen Ländern, die ihn seit der Eröffnung besuchen, Mut
macht, eigene, neue Modelle des Miteinander-Lebens- und Wohnens zu entwickeln
und zu erproben. In Deutschland ist dies aufgrund der prognostizierten Verände-
rungen unserer Bevölkerungsstruktur dringend erforderlich.
Die oben erwähnte Wohngemeinschaft für ältere, pflegebedürftige schwule
Männer im Lebensort Vielfalt ist ein Modellprojekt – über Deutschlands Grenzen
hinaus. Nicht nur deshalb, sondern auch, weil die Situation schwuler und lesbischer
Senior_innen, die pflegebedürftig sind, besonders prekär ist, möchte ich das Thema
an dieser Stelle etwas vertiefen.

Schwule und lesbische Senior_innen mit Pflegebedarf

Viele Menschen, die älter werden, haben Angst davor, eines Tages pflegebedürftig
zu werden, zumal wenn sie – wie viele homosexuelle Senioren und Seniorin-
nen – befürchten müssen, dass sie nicht auf Freunde oder Familie als Pflegende
zählen können. Ältere homosexuelle Männer und Frauen befürchten vor allem,
dass ein Umzug in ein Pflegeheim unumgänglich werden könnte und dass sie
sich gegenüber Pfleger_innen und Mitbewohner_innen verstellen bzw. ihre Ho-
mosexualität verstecken müssten29. Aber wie ergeht es den älteren und zurzeit

28 Lautmann 2012
29 Vgl. hierzu Landeshauptstadt München, Koordinierungsstelle für gleichgeschlechtliche
Lebensweisen 2004
Anders Altern 313

pflegebedürftigen Schwulen und Lesben tatsächlich? Wie ergeht es denen, die von
ambulanten Pflegediensten in ihrer eigenen Wohnung versorgt werden? Wie ist
die Situation in herkömmlichen Pflege- und Altenheimen? Eine aktuell laufende
Studie zur Situation von pflegebedürftigen Schwulen und Lesben ist zurzeit leider
noch nicht abgeschlossen30. Die folgende Darstellung beruht deshalb vor allem auf
Beobachtungen und Berichten einzelner Betroffener und Angehöriger sowie enga-
gierter Pfleger_innen31. Von ihnen wird insbesondere die Situation in stationären
Einrichtungen kritisiert. Hier sind Lesben und Schwule zurzeit offenbar schlecht
versorgt, selbst dann, wenn die medizinische- bzw. Grundpflege zufriedenstellend
ist. Denn in der Regel setzen die Mitarbeiter_innen in Pflegeeinrichtungen, sofern
sie nicht selbst schwul oder lesbisch sind, eine heterosexuelle Durchschnittsbio-
graphie bei zu pflegenden Menschen fraglos voraus. Weder die Pfleger_innen noch
die Einrichtungen insgesamt sind in der Mehrheit darauf eingestellt, dass sie auch
schwule und lesbische Menschen betreuen (vgl. auch Scheffler und Schröder i. d. B.).
Als z. B. ein Praktikant des Netzwerks `Anders Altern´ im Jahr 2012 Kontakt
zum Leitungspersonal zahlreicher Berliner Seniorenwohnheime und Pflegeeinrich-
tungen aufnahm, um diese über kostenlose Beratungs- und Freizeitangebote für
schwule Senior_innen zu informieren, wurde er häufig darauf hingewiesen, `dass
es „dieses Problem“ in dem jeweiligen Haus nicht geben würde. Homosexuelle
bzw. Homosexualität käme dort gar nicht vor. Ein weiterer Kontakt zwischen dem
Netzwerk Anders Altern und der jeweiligen Einrichtung war nicht gewünscht´. Bei
dieser Grundhaltung bleiben die homosexuellen Bewohner_innen unerkannt und
es zeigt sich niemand, der über seine Situation befragt werden könnte.
Zum Glück ist Pflege meist ambulant in der eigenen Wohnung durchführbar
und der Umzug in ein Pflegeheim oft selbst bei größerem Pflegeaufwand vermeid-
bar. Nach meiner Erfahrung sind ältere schwule Männer mit Pflegebedarf, die
in ihrer eigenen Wohnung wohnen, eher enttäuscht über die Unzuverlässigkeit
vieler Pflegedienste oder den häufigen Wechsel der Pfleger_innen, als dass sie
sich über Schwulenfeindlichkeit beschweren würden. Dennoch erkundigen sich
homosexuelle Senioren_innen oft nach „geeigneten“ Pflegediensten. Viele wün-
schen sich Pfleger_innen, die selbst schwul bzw. lesbisch sind. Lesbische Frauen

30 Bei der zurzeit laufenden Studie über „Die Lebenssituation von gleichgeschlechtlich lie-
benden Frauen und Männern in der ambulanten und teil-/stationären Altenpflege“ handelt
es sich um ein Promotionsprojekt am Institut für Public Health und Pflegeforschung der
Universität Bremen unter Leitung von Heiko Gerlach und Markus Schupp. Vgl. http://
www.ipp.uni-bremen.de/pages/projekte/projektBeschreibung.php?SPRACHE=de&pro-
jektId=139.
Über homosexuelle Männer und Frauen in der ambulanten Pflege vgl. Franke 2003
31 Vgl. beispielsweise Klein (2003) und Gerlach (2010)
314 Marco Pulver

möchten zumindest von Frauen gepflegt werden. Wenn wegen eines besonders
hohen Pflegebedarfs oder wegen einer dementiellen Störung die ambulante Pflege
in der eigenen Wohnung nicht mehr länger möglich ist, bietet sich in vielen Fällen
als Alternative zur stationären Unterbringung ein Umzug in eine Pflege-Wohn-
gemeinschaft an. Wohngemeinschaften erscheinen als eine besonders geeignete
Form der Unterbringung für pflegebedürftige Lesben und Schwule, weil hier mit
verhältnismäßig wenig Aufwand Voraussetzungen geschaffen werden können,
homosexuelle Identitäten bzw. Lebensweisen auch bei Pflegebedürftigkeit und
Krankheit zu erhalten und zu stützen.
Zurzeit sind mehrere Wohngemeinschaften für homosexuelle Männer und Frauen
in Planung32. Bereits eröffnet ist die oben schon erwähnte Wohngemeinschaft im
Lebensort Vielfalt. Die Männer, die dort wohnen, waren vorher oft in herkömmli-
chen Pflegeeinrichtungen untergebracht und lebten hier zum Teil ausschließlich mit
Frauen zusammen. Die Homosexualität war im besten Falle bedeutungslos. In der
WG im Lebensort Vielfalt gewinnt das Schwulsein seine einstige Bedeutung wieder
zurück. Der offene Umgang mit der eigenen Homosexualität trägt zur Steigerung
des Selbstwertgefühls bei und wird zu einem wichtigen Faktor bei der Bewältigung
der schwerwiegenden Verluste, mit denen sich die Bewohner im Hinblick auf
ihre körperlichen und anderen Einschränkungen tagtäglich konfrontiert sehen.
Mit anderen Worten: Die Normalität des Schwulseins zu erhalten ist besonders
wichtig in einer Situation, in der das Leben aufgrund von Krankheit zunehmend
an Normalität einbüßt. Und in sofern ist es durchaus sehr bedeutsam, dass an
den Flurwänden und in den Zimmern der Bewohner der erwähnten WG selbst-
verständlich Bilder von (nackten) Männern hängen oder dass sich die Bewohner
für Männerbesuche nicht schämen müssen. Dadurch, dass Homosexualität in der
WG selbstverständlich bzw. Normalität ist, entsteht für die Bewohner schnell das
Gefühl, wirklich ein neues Zuhause gefunden zu haben.
Die erwähnte Wohngemeinschaft ist leider noch eine große Ausnahme. Wie ich
oben schon ausgeführt habe, sieht die Realität in den herkömmlichen Einrichtungen
anders aus. Hier fühlen sich homosexuelle Bewohner und Bewohnerinnen selten
heimisch. Um diese Situation zu ändern, engagieren sich schon seit vielen Jahren
einige schwule und lesbische Pflegeexpert_innen bei Behörden und Verbänden
für eine Verbesserung der Pflegesituation von Lesben, Schwulen und transidenten
Menschen33. Durch diesen sehr engagierten Einsatz gelingt es allmählich, das The-

32 So Markus Schupp in einem Vortrag über „Altenpflege für Schwule in Deutschland“


(Bildungsakademie Waldschlösschen am 21.7.2013)
33 Deutschlandweit vertreten u. a. Heiko Gerlach (Hamburg), Markus Schupp (Köln)
und Bea Trampenau (Hamburg) in relevanten Gremien, bei Behörden und in vielen
Publikationen die Interessen schwuler und lesbischer pflegebedürftiger Menschen.
Anders Altern 315

ma Homosexualität bzw. sexuelle Vielfalt in die Curricula der Altenpflegeschulen


einzufügen oder entsprechende Informationsbroschüren für Beschäftigte in der
Altenpflege zu verbreiten34. Allerdings gestaltet es sich bisher äußerst schwierig,
Pflegeanbieter für die Problematik zu interessieren: „Es gibt Wichtigeres“, ist der
übliche Tenor. Tatsächlich kämpfen viele Heime ums Überleben. Denn wer will heute
schon in einem herkömmlichen Altenheim leben? Zu oft gab es in der Vergangenheit
Reportagen über die vielen trostlosen oder gar skandalösen Zustände in Alten- und
Pflegeheimen, in denen Menschen zuweilen mehr verwahrt als gepflegt werden.
Solange aber keine alternativen Wohnformen im Alter bereit stehen, erscheint es
notwendig, die existierenden Alten- und Pflegeeinrichtungen wenigstens für eine
gut durchdachte Öffnung zu mehr Vielfalt zu interessieren. Wie das künftig gelin-
gen soll, wird zurzeit unter anderem in einem „Bündnis für Fachkräftesicherung
in der Altenpflege“ diskutiert, das im Rahmen der Berliner „Aktion für sexuelle
Vielfalt“ gegründet wurde und dem sich bereits viele Wohlfahrtsverbände und
Gesundheitseinrichtungen angeschlossen haben35. Hier sollen Maßnahmen ent-
wickelt und beschlossen werden, die künftig ein der Vielfalt der Lebensentwürfe
adäquates Angebot in der Altenpflege sichern sollen. In der Diskussion sind Fort-
bildungsmaßnahmen für Pfleger_innen, aber auch die Möglichkeit der freiwilligen
Zertifizierung von Altenheimen und Pflegeeinrichtungen36. Diese Entwicklung
zeigt, dass allmählich auch in der Politik, in den zuständigen Verwaltungen und
innerhalb der Wohlfahrtsverbände die besondere Situation von älteren Schwulen
und Lesben reflektiert und anerkannt wird37. Der Berliner Senat beispielsweise hat

Sie kämpfen auf diese Weise für die Verwirklichung der Grundsätze kultursensibler
Pflege im weitesten Sinne, hier verstanden als eine Form der Pflege, die die Vielfalt von
Lebensweisen respektive sexuellen Identitäten berücksichtigt. Vgl. die zahlreichen Pu-
blikationen von Heiko Gerlach zum Thema Homosexualität in der Pflege; z. B. Gerlach
2010, ders. 2011.
34 Vgl. z. B. Hessisches Ministerium für Arbeit, Familie und Gesundheit 2010
35 vgl. Bündnis für Fachkräftesicherung in der Altenpflege. www.dienstleistungsmetro-
pole-berlin.de/de/downloads/20130515_Einladung_Pflegebuendnis.pdf. Zugegriffen:
22.Januar 2014
36 Im Oktober 2005 wurde in Hamburg das Seniorenzentrum Hagenbeckstraße als das
erste lesbenrespektierende Altersheim in Deutschland zertifiziert. Das Zertifikat wur-
de überreicht vom Hamburger Facharbeitskreis anders altern und dem Lesbenverein
Intervention e. V. (Trampenau 2006)
37 (…) nicht nur in Berlin: z. B. organisierte auch die Arbeiterwohlfahrt Düsseldorf im
November 2012 eine Veranstaltung mit dem Titel „AWO trifft Generation Stonewall“,
um mit Lesben und Schwulen über Voraussetzungen für eine zielgruppenspezifische
Unterstützung im Alter zu diskutieren und passende Angebote zu entwickeln (www.awo-
duesseldorf.de/ueber-uns/news/2012/12/awo-trifft-generation-stonewall/. Zugegriffen:
22.Januar 2014
316 Marco Pulver

die besonderen Bedürfnisse homosexueller Senioren bereits in seinen Leitlinien zur


Seniorenpolitik festgeschrieben38. Dennoch: Die meisten regionalen und überregi-
onalen Gremien der Seniorenarbeit sind noch immer weit davon entfernt, sexuelle
Vielfalt und die damit verbundenen Lebensweisen zu berücksichtigen bzw. das
Thema offen anzusprechen. Für eine weitere Einflussnahme auf die Entwicklung
seniorenpolitischer Entscheidungen auf Länder- und Bundesebene wurde von
lesbischen Frauen bereits im November 2009 ein Dachverband Lesben und Alter
gegründet39. Das schwule Pendant ist seit 2012 in Planung.40

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38 Vgl. Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (2012, S. 28f.)


39 www.lesbenundalter.de
40 An der Planung beteiligen sich seit 2012 unter anderem die Bildungsakademie
Waldschlösschen, das Netzwerk Anders Altern/Schwulenberatung Berlin, das RUBICON
in Köln sowie weitere Einrichtungen und engagierte Einzelpersonen.
Anders Altern 317

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Leitlinien als Impuls für Veränderungen im
gesellschaftlichen Umfeld
Wahrnehmung älterer LSBT-Menschen und die
Wirkung der Berliner Seniorenleitlinien
Ute B. Schröder und Dirk Scheffler
„Bei uns gibt es dieses Problem nicht“
Einleitung

Ältere lesbische, schwule, bi* und trans* (LSBT) Menschen sind in unserer Ge-
sellschaft wenig sichtbar und werden kaum gesehen. Es gibt fast keine öffentlichen
Vorbilder und meist noch weniger Beispiele im privaten Umfeld, gerade auch
dann, wenn diese Menschen nicht mehr aktiv im Arbeitsleben stehen. Diese
Unsichtbarkeit führt u. a. Pulver (i. d. B.) auf die erlebte Diskriminierung noch
in der jüngeren deutschen Geschichte zurück. Eine damit verbundene Angst vor
Ablehnung und Stigmatisierung verhindert häufig ein Outing (Pulver 2007). Ge-
sellschaft lich und gesetzlich hat sich in den letzten Jahren einiges zugunsten einer
Gleichstellung verändert, u. a. durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz
(2006). So hebt bspw. Pechriggl (2008, S. 40) hervor, dass eine Gesetzgebung ‚expi-
zite Form‘ ist und „positiv normativ (und nicht mehr nur im negativen Sinne eines
grundrechtlichen Schutzes gegen Diskriminierung) von der Mehrheit anerkannt
(wird)“. Jedoch stehen in den öffentlichen Diskursen in der Regel Jugendliche oder
familiäre Themen mehrheitlich im Fokus – LSBT im Alter ist (fast) kein Thema.
Im Zuge des demografischen Wandels und der Angst vor der „Altenplage“ und
„Rentnerschwemme“2 (Kramer 2008, S.18) gibt es starke Bemühungen, Alter mit
politischen Mitteln umzudefinieren und in der öffentlichen Wahrnehmung po-
sitiv zu besetzen (ebd.). Alte sind nun ‚Kompetenzträger‘, sind mit ‚fünfzig jung‘
und die Bundesagentur für Arbeit konstatiert das „Ende des Jugendwahns“ (zit.
n. Kramer ebd., S. 21). Damit einhergehend ist die Tendenz zu beobachten, Alter
differenzierter wahrzunehmen. Nun gibt es bspw. Diskussionen über kultursensible

1 Zitate aus Interviews, wie bspw. diese Aussage, sind im Text in Anführungszeichen
gesetzt.
2 Nach Kramer (2008, S. 18) „Unwörter der Jahre 1995/96“.

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_25, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
320 Ute B. Schröder und Dirk Scheffler

Angebote der Altenpflege, über die Zunahme psychischer Erkrankungen gerade


bei älteren Menschen, Altersarmut und eben auch manchmal die Wahrnehmung
von nicht-heterosexuellen Lebensweisen im Alter. Eine dieser Initiativen sind
die Berliner Leitlinien der Seniorenpolitik von 2005, die in einer „Vorreiterrolle“3
„gleichgeschlechtliche Lebensweisen“ als politische Zielgruppe bzw. Handlungsfeld
für eine Landespolitik beschreiben. Seit 2013 gibt es eine neue Auflage, die die
Leitlinien von 2005 weiterschreibt.
Im Zuge der Abgeordnetenhausinitiative „Berlin tritt ein für die Selbstbestim-
mung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“4 hatten wir5 unter anderem den Auftrag, die
Wahrnehmung der Berliner Seniorenleitlinien in Gremien der Altenpolitik und in
Senioren- und Pflegeeinrichtungen zu untersuchen (Scheffler et al. 2012). Außerdem
führten wir eine Studie zur „Wirksamkeit von Strategien gegen Homophobie“ in
sechs Berliner kommunalen Verwaltungen durch (Scheffler und Schröder 2012)6.
Hierbei interessierten uns Zielgruppen, Maßnahmen und strategische Ansätze der
Bezirksverwaltungen, entsprechend auch die Frage nach älteren LSBT. Im Folgenden

3 Zitat aus dem Interview mit Vertreter_innen des Landesseniorenbeirats.


4 Die im April 2009 vom Berliner Abgeordnetenhaus beschlossene Initiative „Berlin tritt ein
für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“ (vgl. Drucksache 16/1966 und
16/2291) wurde in den Jahren 2010 und 2011 mit dem Ziel umgesetzt, einen umfassenden
Prozess der Auseinandersetzung mit Homophobie in der Gesellschaft zu initiieren und
einen positiven Wandel hin zu Toleranz, Akzeptanz und Respekt vor sexueller Vielfalt
zu bewirken. Die insgesamt 23 Abgeordnetenhausbeschlüsse wurden sechs Handlungs-
feldern zugeordnet: 1. Bildung und Aufklärung stärken; 2. Diskriminierung, Gewalt und
vorurteilsmotivierte Kriminalität bekämpfen, 3. Wandel der Verwaltung vorantreiben,
4. Erkenntnisgrundlagen verbessern, 5. Dialog fördern, 6. Rechtlicher Gleichstellung
zum Durchbruch verhelfen.
5 Das centrum für qualitative evaluations- und sozialforschung (www.ces-forschung.de)
sowie die e-fect dialog evaluation consulting (www. e-fect.de) eG wurden im Juni 2010
von der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen mit der Gesamtevaluation
ausgewählter Handlungsfelder beauftragt (vgl. Scheffler et. al 2012). Auftrag der
Gesamtevaluation war, die Zielerreichung und Nachhaltigkeit des Maßnahmenpakets
aus Sicht der Zielgruppen zu bewerten und Fortschritte bei der Selbstbestimmung und
Akzeptanz sexueller Vielfalt aufzuzeigen. Forschende waren die Herausgeber_innen
des Bandes und Scheffler D (vgl. auch Einleitung i. d. B.).
6 Die Studie hatte die Aufgabe, die „Wirksamkeit von Strategien und Methoden zur
Bekämpfung von homophoben Diskriminierungen und zur Förderung der Akzeptanz
sexueller Vielfalt“ zu untersuchen (vgl. Scheffler und Schröder 2012). In sechs Berliner
Bezirksverwaltungen wurden übergreifend Handlungsstrategien identifiziert, deren
Wirksamkeit untersucht und Empfehlungen abgeleitet. Zusätzlich wurde ermittelt,
inwieweit LSBT-Nicht-Regierungsorganisationen diese Strategien wahrnehmen und
bei der Umsetzung von Strategien und Methoden Kooperationen mit den Bezirksver-
waltungen bestehen.
„Bei uns gibt es dieses Problem nicht“ 321

möchten wir kurz einige Ergebnisse aus den Erhebungen vorstellen, die sich zum
einen auf das Bild bzw. die Wahrnehmung von älteren LSBT-Menschen beziehen,
zum anderen auf den Umgang mit dem Instrument der Seniorenleitlinien. Vorab
sollen jedoch die Leitlinien von 2005 einer kurzen Analyse im Hinblick auf die Art
und Weise der Sichtbarmachung von älteren LSBT unterzogen werden.

Good will – well? done. Sichtbarkeit durch politische


Willensbekundung – Seniorenleitlinien 2005

Als Ziel der Schrift „Politik für Seniorinnen und Senioren – Berliner Leitlinien
2005“7 (im Folgenden Seniorenleitlinien genannt) wird die Einflussnahme der
Landesregierung auf den gesellschaftlichen Diskurs um das Alter genannt. Es soll
ein „neues, realistischeres und differenzierteres Bild vom Alter“ (S. 6) zugunsten
eines „Kompetenzansatzes“ (S. 4) statt eines „Defizitansatzes“ (S. 4) angestoßen
werden. Mit dem politisch formulierten Grundsatz wird ein gesellschaftlicher
Wertewandel im Hinblick auf die Wahrnehmung des Alters angestrebt. Über die
politische Landesverwaltung ‚Soziales‘ soll sowohl auf die weiteren landespolitischen
Ressorts Einfluss genommen werden, aber auch auf die kommunalen Verwaltungen,
Interessenverbände und Auftragnehmer.
In den Seniorenleitlinien gibt es insgesamt zehn Kapitel. Im sechsten Kapitel mit
der Bezeichnung: „Spezielle Zielgruppen der Politik für Seniorinnen und Senioren“
(S. 40-47) sind vier unterschiedliche Gruppen von älteren Menschen zusammenge-
fasst: „6.1 Alt werden in der Fremde – Menschen mit Migrationshintergrund“; „6.2
Gleichgeschlechtliche Lebensweisen im Alter“; „6.3 Ältere Menschen mit Behinde-
rungen“; „6.4 Ältere Menschen mit psychischen Erkrankungen“. Bemerkenswert
ist, dass eine Landesregierung in 2005 gleichgeschlechtliche Lebensweisen im Alter
als ein Handlungsfeld identifiziert und damit in eine breitere offizielle und damit
öffentliche Wahrnehmung rückt. Kritisch zu sehen ist, dass durch die Benennung
als „spezielle Zielgruppe“ die Leitlinien gleichgeschlechtliche Lebensweisen als
etwas ‚Spezielles‘ und damit abseits des Normalen hervorheben8. Das Dilemma,

7 Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz (2005) (Hrsg).


8 Das Gleiche gilt auch für die anderen hier genannten Kategorien bzw. die Einteilung ist
jeweils generell zu hinterfragen. Am Auffälligsten ist, dass vorausgesetzt wird, dass sich
Menschen mit Migrationshintergrund, die vermutlich über die Hälfte ihrer Lebenszeit
in Deutschland verbracht haben, noch „in der Fremde“ fühlen.
322 Ute B. Schröder und Dirk Scheffler

das sich durch den Diskurs um LSBT9 zieht, zeigt sich auch hier. Durch eine ‚Spe-
zialbehandlung‘ werden gleichgeschlechtliche Lebensweisen von den ‚normalen,
heterosexuellen‘ Älteren abgegrenzt und damit stigmatisiert. Andererseits erfordert
eine Enttabuisierung das Sichtbarmachen von Vorurteilen, Diskriminierungen,
diskriminierten Gruppen und fordert damit zu einer spezifischen Nennung her-
aus10. Auffällig ist weiterhin, dass „gleichgeschlechtliche Lebensweisen“ in guter
alter (heteronormativer) Tradition in das Umfeld von ‚Krankheit‘ und ‚Fremdheit‘
gestellt werden. ‚Spezielle Zielgruppen‘ könnten bspw. auch arme oder christliche
alte Menschen sein, die besonders berücksichtigt werden müssten. ‚Geschlechts-
spezifische Aspekte des Alterns‘ sind immerhin unter Kapitel 2 „Demografische
und sozioökonomische Determinanten des Alters aufgeführt – ein Verdienst
jahrzehntelanger feministischer- und Gleichstellungspolitik11.
Wie aufgezeigt, lässt sich bereits aus der Stellung im Bericht und der Wortwahl
zwar der gute Wille herauslesen, der aber dennoch unter einer nicht reflektierten
Heteronormativität leidet. Heteronormativität soll dabei im Anschluss an Klapeer
(i. d. B.; vgl. auch Pechriggl (2008); Ziegler (2008)) nicht als „Norm der/ zur Zweige-
schlechtlichkeit und Heterosexualität“ (Klapeer i. d. B.) verstanden werden, sondern
als dynamische, machtkritische ‚Lesarbeit‘ im historischen Wandel bzw. geht es
darum, dem „Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit die Selbstverständlichkeit zu
rauben“ (Ziegler 2008, S 17). So diskutiert Klapeer weiter, dass sich perspektivisch
Diversitätskonzepte nicht mehr nur an einer additiven Sichtweise orientieren soll-
ten – „LGBTIQs als hinzuzufügende, bisher ausgeschlossene ‚Minderheitengruppe‘
fassen“ -, sondern „Normalitäten grundsätzlich in Frage zu stellen sind“ (i. d. B.,
Hervorh.i.O). In den Seniorenleitlinien von 2005 wird diese ‚hinzuzufügende‘
Sichtweise sehr deutlich.
Ähnlich wie die verstärkten Bemühungen im Bereich der Altenpolitik parallel
mit der steigenden Zahl von alten und hochalten Menschen einhergehen, wird die
Rubrik „gleichgeschlechtliche Lebensweisen“ im ersten Satz mit der Nennung der
Anzahl von lesbischen und schwulen Menschen eingeführt: „In Berlin leben ca.

9 Das Dilemma bezieht sich nicht nur auf LSBT, sondern auf alle Gruppen, die im jewei-
ligen kulturellen Kontext als ‚anders‘ gelten und damit nicht der herrschenden Norm
entsprechen.
10 vgl. dazu i. d. B.: Einleitung; Kleiner.
11 Natürlich ist auch die Formulierung „gleichgeschlechtliche Lebensweisen“ zu hinterfra-
gen, denn die hier implizierte Öffnung ist nur bedingt, denn alle Menschen, die sich als
nicht-hetero fühlen, aber sich dennoch nicht als „gleichgeschlechtlich“ verstehen, sind
ausgeschlossen wie bspw. trans*, bi* oder inter* Menschen. Zudem fragt sich die_der
Leser_in, ob sich auch alleinlebende Menschen als „gleichgeschlechtlich“ lebend ver-
stehen?
„Bei uns gibt es dieses Problem nicht“ 323

40.000 homosexuelle Männer und Frauen, die älter als 65 Jahre sind“ (ebd., S. 42).
Implizit verweist dies auf ein Wechselverhältnis von Handlungs- bzw. Rechtferti-
gungsschemata in dem Sinne ‚erst wenn die Anzahl eine kritische Zahl erreicht,
ist Handeln geboten‘. Oder auch: ‚da es eine große Anzahl von lesbischen und
schwulen Alten gibt, können wir handeln‘. Impliziert ist die Einstellung, diskrimi-
nierende Strukturen nicht grundsätzlich zu hinterfragen, sondern erst dann, wenn
eine kritische Masse erreicht ist. Einen Einblick ob und wie LSBT-Menschen in
Senioren- und Pflegeeinrichtungen wahrgenommen werden, geben die Ergebnisse
unserer Fragebogenerhebung im Folgenden wider.

„Bei uns gibt es dieses Problem nicht“ – LSBT in Senioren


und Pflegeeinrichtungen

Im Jahr 2010 entwickelte ein freier Träger der LSBTI-Community Berlin (vgl.
auch Pulver i. d. B.) ein kostenloses Qualifizierungsangebot zur Sensibilisierung
von Pflegekräften für die Bedürfnisse von lesbischen und schwulen Menschen in
der Betreuung. Sehr erstaunt waren sie, als die Mehrheit der Einrichtungen, die
sie kontaktierten, ihnen mitteilten „wir haben dieses Problem nicht“ (Scheffler,
Schondelmayer, Schröder 2012, S. 19)12. Bedeutsam an diesem Sachverhalt ist, dass
die gefragten Pflegeeinrichtungen nicht nur keine Sensibilität und kein Interesse
vermittelten, daran etwas zu ändern, wichtiger ist vielmehr, dass schwule und
lesbische Bedürfnisse als „Problem“ interpretiert werden. Die Anforderungen
einer diesbezüglichen differenzierten Pflege werden als Abweichung vom Norma-
len wahrgenommen, die Schwierigkeiten erzeugt, denen man nicht zu begegnen
wünscht. Die Frage ist, ob diese Haltung die Betreuungslandschaft prägt? Eine
Fragebogenbefragung im Jahr 2011 (Scheffler et al 2012, S. 17ff.)13 von Leitungs-

12 Diese Erfahrung ist kein Einzelfall. Bei einer Tagung der Schwulen ALTERnative NRW,
RUBICON, Schwules Netzwerk NRW (2005) wird bspw. Folgendes beschrieben: „Paul
berichtet von der vor ca. 2 Jahren im Rubicon gegründeten Gruppe, die mit ca. 10 Männern
sich bereit erklärte, älteren Schwulen ihre Hilfe anzubieten. Es wurden damals 600 Flyer
an sämtliche sozialen Institute und Einrichtungen (Kirche und Wohlfahrtsverbände)
versendet, um auf sich aufmerksam zu machen. Endlich nach einem Jahr! hat die Arbeit
jetzt gefruchtet. Betreut werden nun von der Gruppe 12 Männer, die teilweise in einem
Altenheim wohnen. Interessanterweise ist auch die Leitung eben dieser Einrichtung
jetzt aufmerksam geworden und sagte eine enge Zusammenarbeit zu“ (S. 21).
13 Im Zeitraum von Mitte Oktober bis Ende Dezember 2011 führte die e-fect eG im Kontext
der Gesamtevaluation der Abgeordnetenhausinitiative (s. o.) eine Fragebogenbefragung
durch. Dies war eine nach Art der Einrichtung (ambulant/stationär) und Stadtbezirken
324 Ute B. Schröder und Dirk Scheffler

kräften in 31 stationären Einrichtungen (20 %) und 28 Ambulanten Diensten


(18 %) in Berlin gibt dazu einige Hinweise. Dabei wurden folgende Themengebiete
abgefragt: Inwieweit wird die sexuelle Orientierung in der Arbeit mit Senior_innen
als bedeutsam wahrgenommen? Werden bereits Maßnahmen für LSBT-Senior_in-
nen umgesetzt oder sind in Planung? Inwieweit finden die Berliner Leitlinien für
Seniorenpolitik, der Diversity-Ansatz oder die kultursensible Pflege Anwendung
in der Betreuung? Folgt man der in den Leitlinien implizierten Begründung, dass
erst dann gehandelt wird, wenn die Zielgruppe tatsächlich zahlenmäßig relevant
existiert, zeigt die Fragebogenbefragung, dass Bedarf vorhanden ist. In einem Vier-
tel der stationären Einrichtungen und der Hälfte der Ambulanten Hilfen ist den
Leitungskräften bekannt, dass sie LSBT-Menschen betreuen. Angegeben werden bis
zu fünf Personen pro Einrichtung, im Durchschnitt sind das bei den Ambulanten
Diensten deutlich mehr Menschen (Durchschnitt 2,13 Personen) als im stationären
Bereich (Durchschnitt 1,45 Personen). Wird die von Pulver (i. d. B.) anschaulich
geschilderte Angst, offen mit der eigenen Orientierung umzugehen bedacht, liegt die
Dunkelziffer vermutlich noch viel höher. Selbstverständlich begrenzt sich lesbisch,
schwul, trans* und bi* nicht auf die sexuelle Orientierung, sondern beeinflusst das
gesamte Leben und Erleben. Dennoch werden im öffentlichen Verständnis häufig
nicht-heterosexuelle Lebensformen im Kontext von sexueller Orientierung und
Sex wahrgenommen.
Ein Hinweis darauf, dass Sexualität generell in der Öffentlichkeit ein umstrittenes
Thema ist und das Zeigen von von der Heteronormativität abweichenden Lebensfor-
men die Ablehnung von öffentlich sichtbarer Sexualität verstärken kann, bestätigt
auch das Ergebnis einer für die Berliner Bevölkerung repräsentativen Befragung
(Scheffler, Schondelmayer, Schröder 2012, S. 23ff.): Demnach missfällt das Küssen
von Hetero-Paaren in der Öffentlichkeit 9 % Prozent der Berliner Bevölkerung; das
Küssen von gleichgeschlechtlichen Paaren in der Öffentlichkeit jedoch doppelt so
vielen, nämlich 18 % der Berliner_innen über 18 Jahren!
Da Sex zwar ein Tabu-Thema im Alter ist (bspw. Schupp 2008), aber ggf. einen
Anschluss bietet für die Sensibilisierung nicht-heterosexueller Orientierungen,
wurden in der Befragung der Senior_innen-Einrichtungen die Leitungskräfte
danach gefragt: ‚Wie häufig Sexualität im Alter ein Thema im Alltag ihrer Ein-
richtung ist (z. B. im Kolleg_innenkreis, bei Dienstbesprechungen im Kontakt
mit den Bewohner_innen)‘. In stationären Einrichtungen ist das Thema deutlich

geschichtete Zufallsauswahl von 176 Einrichtungen aus einer Grundgesamtheit von


940 Senior_innen-Einrichtungen in Berlin. Die postalisch umgesetzte standardisierte
Fragebogenbefragung umfasste 18 Fragen für stationäre Einrichtungen und 16 Fragen
für Ambulante Dienste. Durch die geschichtete Zufallsauswahl der Einrichtungen ist
von einer Repräsentativität der Stichprobe auszugehen.
„Bei uns gibt es dieses Problem nicht“ 325

unterrepräsentiert. In 13 % der Einrichtungen wird es nie angesprochen, in 68 %


wenige Male im Jahr und immerhin in 20 % einmal/ mehrmals im Monat. Bei den
Ambulanten Diensten gibt es eine größere Anzahl von Einrichtungen, die sich
mit dem Thema Sexualität im Alter häufiger beschäftigen (einmal/ mehrmals im
Monat = 38 %) und nur sehr wenige Einrichtungen, die dies nicht berücksichtigen
(4 %). Typisch ist auch hier, dass die Mehrheit der Einrichtungen dies nur marginal
thematisieren (61 %).
Spezifische Bedürfnisse von lesbischen, schwulen, bisexuellen, transidenten
Senor_innen werden in stationären Einrichtungen in der Pflege fast überhaupt
nicht (94 % verneinen die Frage), in ambulanten Einrichtungen dagegen in einem
Drittel der Fälle berücksichtigt (29 %). Maßnahmen wie Fortbildungen, Informati-
onsmaterialien und Ansprechpersonen für LSBT-Bewohner_innen sind sehr selten
in stationären Einrichtungen. Etwas häufiger werden sie bei Ambulanten Hilfen
angeboten: 18 % führen Fortbildungen durch, 29 % geben an, Ansprechpersonen für
LSBT-Bewohner_innen zu haben. Allerdings werden keine Informationsmaterialien
zur Verfügung gestellt. Eine perspektivische Entwicklung spezifischer Angebote für
das Folgejahr wird nur in sehr wenigen Fällen berichtet (jeweils unter 10 %). Quali-
tätsstandards für die Arbeit mit LSBT-Senior_innen existieren vereinzelt (stationär
3 %/ ambulant 7 %), jedoch ist bei einem Viertel der stationären Einrichtungen das
Thema Gegenstand der Ausbildung von Pflegekräften.
Im Kontrast zu der geringen Verbreitung spezifischer Angebote und Quali-
tätsstandards steht, dass die stärkere Berücksichtigung individueller Bedürfnisse
aufgrund der sexuellen Orientierung in der Arbeit mit Senior_innen von etwa der
Hälfte der Leitungskräfte theoretisch befürwortet wird (stationär = 45 %/ ambulant
= 54 %). Diese Diskrepanz von Theorie und Praxis (vgl. auch Schondelmayer et. al
2013), die sich ganz besonders in stationären Einrichtungen zeigt, verdeutlicht sich
auch im Folgenden: Die Berliner Leitlinien für Seniorenpolitik und der Diversi-
ty-Ansatz sind über der Hälfte der Leitungskräfte von stationären Einrichtungen
bekannt. Und damit deutlich bekannter als in den ambulanten Einrichtungen14.
Die Empfehlungen der Seniorenleitlinien sind allerdings nur noch in einem guten
Drittel sowohl der stationären als der ambulanten Einrichtungen bekannt (beide
36 % Bekanntheit).
Etwas weniger als die Hälfte der Leitungskräfte in stationären und ambulanten
Einrichtungen geben an, nach einem Konzept der „kultursensiblen Pflege bzw. Alten-

14 Sind Ihnen die Berliner Leitlinien für die Seniorenpolitik aus dem Jahr 2005 bekannt? Ja:
Stationär =58 %/ zu ambulant = 32 %: Kennen Sie die Empfehlungen der Leitlinien zur
Berücksichtigung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen bei der Arbeit mit Senior_innen?
Ja: Stationär = 36 %/ zu ambulant 36 %. Ist Ihnen der Diversity-Ansatz (Wertschätzung
von Vielfalt) bekannt? Ja: stationär= 61 %/ zu ambulant = 46 %.
326 Ute B. Schröder und Dirk Scheffler

arbeit“ zu arbeiten. Angesichts der geringen Wahrnehmung und Berücksichtigung


spezifischer Bedürfnisse von LSBT-Senior_innen und der lediglich vereinzelten
Verbreitung von Qualitätsstandards und Fortbildungen für das Personal, scheint
das Verständnis und die Praxis einer kultursensiblen Pflege nicht-heterosexuelle
Lebensweisen stationär fast gar nicht und ambulant nur teilweise wahrzunehmen
und zu berücksichtigen15.
Wie aufgezeigt trifft die von der NGO erlebte Aussage für Betreuungs- und Pfle-
geeinrichtungen nicht zu, dass es „dieses Problem nicht gibt“, vielmehr zeigt sich
sehr deutlich, dass eine LSBT gerechte Betreuung und Pflege stationär fast gar nicht
existiert und im ambulanten Bereich lediglich in einem Drittel der Einrichtungen
praktiziert wird. Dabei geht es nicht nur um die Wahrnehmung kultursensibler
Bedürfnisse von LSBT-Senior_innen, sondern auch darum, „Hilfe und Pflege für
homosexuelle Menschen so zu gestalten, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
in den Einrichtungen der Altenhilfe und Altenpflege dabei nicht nur an „Sexualität“
denken würden, sondern auch unterschiedliche Ansätze in der Lebensweise ho-
mosexueller Menschen respektierten und berücksichtigten“ (Raabe 2004). Obwohl
die Hälfte der befragten Leitungskräfte eine stärkere Thematisierung spezifischer
Bedürfnisse von LSBT-Senior_innen rein theoretisch für notwendig hält, passiert
in der Praxis der Einrichtungen fast nichts. Die Verantwortung hierfür wird wenn,
dann dem Ausbildungsbereich ‚zugeschoben‘ bzw. bleibt unerfüllt. Theoretische
Konzepte wie bspw. die Berliner Seniorenleitlinien sind über der Hälfte der Befragten
zwar bekannt, werden aber in der eigenen Praxis nur wenig umgesetzt. Allerdings
scheint sich insgesamt eine differenziertere Wahrnehmung der Betreuungsbedürf-
nisse von Senior_innen zu entwickeln, denn fast die Hälfte der Befragten geben an,
nach einem Konzept der kultursensiblen Pflege zu arbeiten. Zu fragen bzw. weiter
zu untersuchen bleibt, was unter dem Begriff „kultursensible Pflege“ verstanden
wird und welche Konsequenzen dies tatsächlich für die Praxis hat. Immerhin gibt
es in 55 % der stationären Einrichtungen und in 32 % der Ambulanten Dienste eine
Beschwerdestelle nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz – ein Erfolg für
die praktische Realisierung einer gesetzlichen Vorgabe.

15 Die Orientierung einer kultursensiblen Pflege lediglich an „Herkunftskulturen“ ist nach


Ansicht der Autor_innen vom Verständnis her zu eingeschränkt. Erste Beispiele für ein
weiter gefasstes Verständnis sind vorhanden wie z. B. der Ansatz der „kultursensiblen
Versorgung“ (pBIA) mit seiner Philosophie: Die täglichen physischen und psychischen
Bedürfnisse des Individuums unter Berücksichtigung der Andersartigkeit (wahrzuneh-
men). http://www.kultursensiblepflege.de/Texte/pBIA%20-%20das%20multiethnische%20
Pflegemodell.pdf. Zugegriffen am 30.04.2014.
„Bei uns gibt es dieses Problem nicht“ 327

Es ist (k)ein Thema? – Kommunale Politiker_innen mit dem


Arbeitsschwerpunkt Senior_innenarbeit

Strategien gegen Homophobie in den kommunalen


Verwaltungen

In der Studie „Zur Wirksamkeit von Strategien und Methoden zur Bekämpfung von
homophoben Diskriminierungen zum Schutz und zur Förderung der Akzeptanz
sexueller Vielfalt“ (Scheffler und Schröder 2012), durchgeführt im Jahr 2011, wurden
in sechs Berliner Stadtbezirken insgesamt vier Bezirksbürgermeister_innen, sechs
Stadträt_innen des Bereichs ‚Jugend‘, vier Stadträt_innen des Bereichs ‚Soziales‘16
und sechs Querschnittsbeauftragte (4 Integrationsbeauftragte, 2 Gleichstellungs-
beauftragte) in ca. halbstündigen, narrativ-leitfadengestützten Interviews befragt17.
Die Studie weist insgesamt auf, dass zum Thema sexuelle Vielfalt keine im Sinne
einer langfristigen, systematischen Ziel-Mittel-Analyse vorhandenen Strategien in
den Bezirken und Bezirksverwaltungen zu finden sind. Eine Studie zum Umgang
mit Vielfalt in der Berliner Verwaltung zeigt folgende Diskrepanz auf: “Während
die Mehrheit der Personalverantwortlichen angab, zwischen Mitarbeitenden mit
verschiedenen sexuellen Identitäten bestünde ein „offener Umgang“ und es gebe keine
Probleme, bestehen laut den Aussagen des Fachbereichs für gleichgeschlechtliche
Lebensweisen, der LADS, in der Verwaltung dieselben Vorurteile und Vorbehalte
wie in der restlichen Gesellschaft. Zudem sei nach wie vor nicht im Bewusstsein der
Verwaltungsmitarbeitenden präsent, dass die Gleichberechtigung von Menschen
unterschiedlicher sexueller Identität seit 2004 in Berlin gesetzlich verankert ist“
(Landesstelle für Gleichbehandlung gegen Diskriminierung, Senatsverwaltung
für Integration, Arbeit und Soziales 2011, S. 65). Dennoch gibt es verschiedene
kommunale Aktivitäten bzw. sind Strategien in Planung, was perspektivisch ein
systematischeres Handeln vermuten lässt. Die Mehrheit der Maßnahmen zielt auf
Sensibilisierung, Aufklärung, Wissensvermittlung und das Zeigen einer akzeptie-
renden Haltung in der Öffentlichkeit ab. Verbreitet sind Maßnahmen wie bspw. das
Hissen der Regenbogenflagge, die Verbreitung von Informationsmaterialien und

16 Die Aufgabengebiete der Stadträt_innen wechseln in ihrer Kombination jeweils von


Wahlperiode zu Wahlperiode. Aus Anonymitätsgründen werden hier nicht die spezifi-
schen Bezeichnungen angegeben, sondern der interessierende Schwerpunkt – ‚Jugend´
bzw. ‚Soziales´. Zum Schwerpunkt ‚Soziales´ gehört u. a. der Bereich Altenarbeit mit
seinen verschiedenen Aufgabengebieten.
17 Der qualitative Teil der Studie wurde angelehnt an die dokumentarische Methode nach
Bohnsack (2014) ausgewertet.
328 Ute B. Schröder und Dirk Scheffler

die Teilnahme an Veranstaltungen. Hauptzielgruppe sind Kinder und Jugendliche.


Hier gibt es in allen Bezirken verschiedene Aktivitäten, wie bspw. die Schulung von
Multiplikator_innen, Bereitstellen von Beratungsangeboten, Angebote in Jugend-
freizeiteinrichtungen und es gibt Bemühungen, mit Schulen zu kooperieren. In der
Mehrzahl der kommunalen Verwaltungen wird das eigene Arbeitsfeld außer Acht
gelassen. Lediglich in einem Bezirk gibt es, übergreifend über Jugend- und Sozialamt,
einen strategischen Ansatz, ein Diversity Leitbild in der Verwaltung zu verankern,
in einem anderem Bezirk wird im Jugendamt eine dreijährige Diversity-Gesamtstra-
tegie geplant, die alle Beschäftigten einbeziehen soll. Auch wenn in vier Bezirken
der Einsatz für die Akzeptanz sexueller Vielfalt von den Befragten als „Tradition“
bezeichnet wird, hat dies keine Handlungskonsequenz für alle Bereiche zur Folge.
Im Fokus von Aktivitäten stehen auch hier einerseits Kinder- und Jugendliche
bzw. Öffentlichkeitsarbeit, zum anderen wird sowohl für die Verwaltungsarbeit
als auch das kommunale Umfeld ein Normalitätskonzept zugrunde gelegt. Dies
verlangt kein Handeln aufgrund der Annahme, dass LSBT-Menschen insgesamt
akzeptiert sind und als normales Erscheinungsbild von allen Menschen gesehen
werden (vgl. auch weiter unten). Generell ist festzustellen, dass LSBT- Senior_innen
sehr selten im Blickfeld der kommunalen Arbeit sind. Nur zwei der sechs befragten
Querschnittsbeauftragten sehen LSBT-Senior_innen als Zielgruppe. Von den vier
befragten Stadträt_innen Soziales setzt sich ein_e Stadtrat_rätin explizit für die
öffentliche Präsenz sexueller Vielfalt im Alter ein, die drei weiteren befürworten
kleinere Aktivitäten, in die sie aber nicht selbst involviert sind.

Wahrnehmung und Handlungskonzepte von


Sozialstadträt_innen

Die gemeinsame, übergreifende Handlungsorientierung aller befragten Sozialstadt-


rät_innen ist die Relevanzsetzung über die Orientierung an einer sozialpolitischen
Dringlichkeit. Eine Handlungsnotwendigkeit wird dann definiert, wenn ein ‚Be-
darf‘ für ein Thema wahrgenommen wird. Wie die folgenden Interviewausschnitte
beispielhaft zeigen, wird kein sozialpolitischer Handlungsbedarf bezogen auf LSBT
im Alter gesehen:

S1: Also, mhm, ich will mal damit anfangen dass wi:r im Be-
zirk und als Bezirksamt bisher keine, sozusagen gemein-
sam entwickelte und abgesprochene geschlossene Strategie
haben. Das muss man so ganz klar sagen, ähm, sicherlich
auch deshalb weil wir (.)sag ich mal, Anlass gegeben,
nicht unbedingt massiven öffentlich wahrnehmbaren Druck
hatten.
„Bei uns gibt es dieses Problem nicht“ 329

S2: Also mein Punkt ist ja, dass ich ¿nde, dass in der Groß-
stadt Berlin und in unserem Bezirk, also Innenstadtbezirk
vielleicht noch mehr, homosexuelle Männer und Frauen
dermaßen zur Normalität gehören, dass ich jetzt in der
allgemeinen Öffentlichkeit überhaupt keinen Bedarf mehr
sehe.

Der nicht vorhandenen sozialpolitischen Relevanz liegen zwei Erklärungsmuster


zugrunde. Zum einen wird argumentiert, dass aufgrund einer hohen „Population“18
von homosexuellen Menschen, die auch in der Öffentlichkeit sichtbar sind, diese
zur Normalität gehören und demzufolge kein Handlungsbedarf besteht. Zum
anderen ist es kein Thema, weil angenommen wird, dass ältere LSBT-Menschen
nur in bestimmten Gebieten leben, eher im „Innenstadtbereich“, weniger in einem
„ländlichen Bezirk“ (S3) und es keine „schwierigen Ereignisse“ bzw. „Notstand“
(S1) gibt. Somit bestimmen zum einen die Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit von
LSBT den wahrgenommen Bedarf. Weitergehend wird auf die Artikulation von
‚Betroffenen‘ gewartet:

S3: Und ansonsten gestalten das Leben in den Kiezclubs eh-


renamtliche Beiräte aus den Seniorinnen und Senioren
heraus. Und deswegen denke ich mal, weil die ja auch in
allen Regionen verstreut sind hier, sind sie auch immer
ein guter Seismograf für Themen, weil aus ihnen heraus
Themen für die Einrichtung, aber auch für die Arbeit
erwachsen. Und das Thema ist eben, auch auf Nachfrage
kein Thema gewesen. (.) Bisher. (.)

Solange dies nicht geschieht, erfolgt auf der Basis eines ‚reagierenden Handlungs-
verständnisses‘ keine Eigenthematisierung. Allerdings ist, wie Pulver (i. d. B. und
2007) aufzeigt, die aktive Einforderung von Rechten seitens LSBT-Senior_innen
aufgrund von Tabuisierungen und Ängsten weitgehend marginal.
In den zitierten Passagen zeigt sich, dass sexuelle und geschlechtliche Vielfalt
vor dem Hintergrund eines ‚integrativen Normalitätskonzepts‘ verhandelt wird –
sexuelle Vielfalt ist Bestandteil des Alltags und damit Selbstverständlichkeit. So
kann die Orientierung an „Normalität“ auch als ‘bürgerlich-tolerante‘ Haltung
charakterisiert werden, bei der es weder eine negative Einstellung noch Berüh-
rungsängste zu lesbisch, schwulen, bi- und transgeschlechtlichen Lebensweisen
gibt (vgl. auch Scheffler, Schmidt, Schondelmayer 2012, S. 15f.). Sexuelle und ge-

18 Auszüge aus den Interviews werden im Folgenden im Text mit Anführungszeichen


gekennzeichnet.
330 Ute B. Schröder und Dirk Scheffler

schlechtliche Vielfalt wird als Normalität gesehen, mit der selbstverständlich und
damit vorurteilsfrei umgegangen wird. Die Normalität dieser toleranten Haltung
kann allerdings dazu führen, diese bspw. im Arbeitsalltag nicht mehr zu hinter-
fragen (z. B. bezüglich Sprache sensibel zu sein und diese zu reflektieren), deren
Umsetzung im eigenen Handeln zu überprüfen bzw. wie aufgezeigt, das Thema
als nicht relevant für sozialpolitisches Handeln wahrzunehmen. So gehört zum
Beispiel aus Sicht verschiedener Stadträt_innen in der Verwaltung der Umgang
mit Menschen mit gleichgeschlechtlicher Lebensweise „ein Stück weit zur tägli-
chen Arbeit einfach dazu“ und wird dementsprechend „in vielen Fällen auch gar
nicht als was Besonderes oder so registriert“. Aufgrund des alltäglichen Umgangs
wird geschlussfolgert, dass es für die Mitarbeitenden „normal“ ist, mit lesbischen,
schwulen und transgeschlechtlichen Menschen in Kontakt zu sein, und aus der
Normalität wird automatisch ein toleranter und akzeptierender Umgang der Mit-
arbeitenden abgeleitet. Eine tolerante Haltung kann aber auch damit einhergehen,
auszugrenzen, ohne dies zu bemerken bzw. nur scheinbar zu integrieren (ebd. S. 16).
So werden bspw. in einem Interview lesbische und schwule Menschen als „Mitbür-
ger“ bezeichnet, während von heterosexuellen Menschen als „Bürger“ gesprochen
wird. Oder in allen Interviews mit den Stadträt_innen sprechen diese in Bezug
auf LSBT als ‚nicht vorhandenes‘ „Problem“, woran bereits an der Formulierung
‚Problem‘ deutlich wird, dass LSBT implizit nicht selbstverständlich ist, denn es
erfolgt eine sprachliche Abgrenzung. Damit wird bereits im Sprachgebrauch eine
Differenzierung getroffen, die implizit ‚normale‘ und ‚nicht normale‘ Lebensweisen
unterscheidet.
Obwohl bei allen interviewten Stadträt_innen eine gemeinsam geteilte Orien-
tierung an der sozialpolitischen Dringlichkeit und ein integratives Verständnis von
Normalität vorliegen, ergibt sich daraus keine identische Handlungskonsequenz.
Während drei Sozialsstadträt_innen dem Thema LSBT im Alter keine Aufmerksam-
keit schenken, da sie keinen Bedarf dafür sehen, sieht eine vierte Sozialstadträt_in
zwar auch keinen Bedarf, setzt sich aber dennoch auf verschiedenen Ebenen in
ihrem Arbeitsbereich für die Sichtbarkeit von LSBT im Alter ein. Grund dafür ist,
dass ihre zentrale Handlungsorientierung eine ‚politisch-gestaltende‘ ist. Sie hat
das Anliegen, aus einem „akzeptierenden Bereich“ heraus, Einfluss zu nehmen mit
dem Ziel, „Interessenlagen“ aufzugreifen und sich „positiv dem Thema zu nähern“.

S1: Also ich ¿nde, das ist etwas neben den aufklärerischen
Aspekten von denen Frau Meier gesprochen hat. Ich ¿nde
dieses sozusagen – dass es ein hohes Maß an Normali-
tät gibt und dass man ¿nde ich, auch gut beraten ist
in der Kommunalpolitik, dafür zu sorgen, dass es diese
Normalität auch hat. Akzeptanz, Toleranz ¿nde ich, kann
„Bei uns gibt es dieses Problem nicht“ 331

man vor allem dann erreichen, wenn man aufklärt und es


sozusagen als Normalität neben vielen anderen Sachen
mit vermittelt. Auch sich selber so verhält. Was nicht
heißt, dass das alles sozusagen immer konÀiktfrei ist,
dass das alle akzeptieren und so, ist auch logisch(…)

Normalität ist aus dieser Sicht nicht von vornherein gegeben, sondern muss über
politisches Handeln erzeugt bzw. langfristig gesichert werden.

Wahrnehmungen und Handlungskonzept des


Landesseniorenbeirats (LSBB)19

In der bereits genannten Gesamtevaluation der Abgeordnetenhausinitiative wurden


nicht nur Senioren- und Pflegeeinrichtungen, sondern auch zwei Vertreter_innen
des Landesseniorenbeirats als politisches Gremium für die Interessenvertretung von
Senior_innen interviewt (2012, S. 19ff.). Obwohl LSBT hier kein zentrales Thema
ist, vielmehr die Themen Armut und Mobilität große Relevanz besitzen, sind die
Berliner Leitlinien zur Seniorenpolitik dennoch selbstverständliches „Arbeitsma-
terial“. Sie sind (politisches) Handlungs- und Legitimationsinstrument, indem sie
den Akteur_innen eine Orientierung geben, welche Themen relevant und politisch
zu verfolgen sind. Gleichzeitig dienen sie als Grundlage, um politische Beschlüsse
„einzufordern“ und „anzumahnen“. Außerdem sind die Leitlinien, neben anderen
„einschlägigen“ Materialien, „Informationshilfen“. Sie werden gezielt zu Rate gezogen,
wenn Themen Aktualität bekommen. Auch haben diese eine ‚Erinnerungsfunktion‘,
denn durch die Benennung von Themenfeldern bleiben diese „im Blick“ und geben
Anstoß für Nachfragen in politischen Gremien. Weiterhin nehmen die Berliner
Seniorenleitlinien mit der Thematisierung von „gleichgeschlechtlichen Lebensweisen
im Alter“ aus Sicht der Befragten eine „Vorreiterrolle“ ein, denn „bis heute“ sind in
„meinungsbildenden Strukturen“ sexuelle Vielfalt bei Seniorinn_innen kaum ein
Thema. Allerdings wird auch angemahnt, dass die Leitlinien in „allen Bereichen der
politischen und kommunalen Handlungsebene“ (Senioren- und Pflegeeinrichtungen,
Bezirksverwaltungen, Senatsverwaltungen, Seniorengremien etc.) noch zu wenig
beachtet und in konkrete Praxis überführt werden. Eine Einforderung der Rechte
seitens LSBT Senior_innen ist aufgrund der eigenen Erfahrungen der Akteur_innen
eher unwahrscheinlich. Grund dafür ist aus ihrer Sicht, dass Homosexualität und
Transgeschlechtlichkeit bei Senior_innen generell „Tabuthemen“ sind. Das hat zur
Folge, dass das Thema bei heterosexuellen Senior_innen, aber auch bei politischen

19 www.landessenioren-beirat.de
332 Ute B. Schröder und Dirk Scheffler

Akteur_innen kaum wahrgenommen wird. Aufgrund der Tabuisierung gibt es eine


große Hemmschwelle bei LSBT-Senior_innen sich öffentlich (bzw. auch generell)
zu outen und sich beispielsweise explizit für die Interessen von LSBT-Senior_innen
politisch einzusetzen. Die Konsequenz ist ein Mangel an Protagonist_innen – zum
Beispiel im LSBB und in den bezirklichen Seniorenvertretungen.

Welche Entwicklungen stehen an? – Schlussbemerkungen

Von ihrer Zielstellung her gehen die Seniorenleitlinien von 2013 über das in 2005
formulierte Anliegen hinaus. 2005 hieß es, sie sollen zum Dialog anregen: „Anstoß
geben zu einer intensiven politischen Erörterung“ (S. 3). In 2013 werden damit zwei
„ambitionierte Ziele“ (S. 5) verfolgt: zum einen sollen sie das politische Handeln
leiten: sie (sollen) „Richtschnur der Politik für ältere Menschen (…) sein“, zum
anderen sollen sich die Angesprochenen sowie „junge Menschen als so genannte
Alte von morgen“ (2013, S. 5) aktiv an der Realisierung der Leitlinien beteiligen:
„sie sollen als Einladung verstanden werden, die Leitlinien mit Leben zu füllen“
(ebd.). Je ambitionierter das Ziel ist, umso wichtiger werden die Formulierung
der Problematiken und das dahinter stehende Verständnis. Denn bereits mit der
Formulierung der Leitlinien wird ein Bild entworfen, das die gesellschaftliche Art
und Weise der Wahrnehmung der dort genannten Themen beeinflusst.
Die Leitlinien von 2013 zeigen einen großen Fortschritt. In siebzehn gleichbe-
rechtigten Kapiteln wird eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungsfelder genannt.
Diese sind jeweils in zwei Abschnitte unterteilt: einmal der Bestandsaufnahme
sowie Ziele und konkrete Vorhaben des Senats. Diese verweisen auf den Willen,
tatsächlich zu Handeln. Die Bezeichnung „gleichgeschlechtliche Lebensweisen“
ist ersetzt durch „Ältere Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlecht-
liche Menschen“, bezieht damit alle Lebensformen ein und steht als Themenfeld
sogar an achter Stelle. Auch Inhalt und Formulierungen im Kapitel selbst zeigen
einen überraschenden Fortschritt. Zwar wird noch der zahlenmäßige Eyecatcher
von 40.000 über 65jährigen Lesben und Schwulen genannt, jedoch steht er nicht
mehr an der allerersten Stelle und gleich im Anschluss, im ersten Abschnitt, wird
in die Thematik trans- und intergeschlechtliche Menschen eingeführt. Insgesamt
zeigen die Leitlinien eine erfrischende Weiterentwicklung der Orientierung.
Von der ursprünglich ‚additiven Sichtweise‘ (Klapper, i. d. B.) hin zu einer Politik
des Selbstverständnisses. Ältere LSBT werden nicht mehr als Minderheit, deren
Integration gefördert werden sollte, eingestuft, sondern als selbstverständlicher
Bestandteil der Bevölkerung, der entsprechend berücksichtigt werden muss.
„Bei uns gibt es dieses Problem nicht“ 333

Während die Senatsverwaltung hiermit auf der Ebene der politischen Forderung
eine Vorreiterrolle einnimmt, ist weiter darauf hinzuwirken, dass tatsächliche
Veränderungen der Wahrnehmung und des Handelns auf allen Ebenen selbstver-
ständlich werden. Sinnvoll ist die Entwicklung von längerfristigen Strategien mit
überprüfbaren Zielen, Meilensteinen und Leitbildern, an denen sich Aktivitäten und
Maßnahmen messen lassen. Insgesamt ist die Etablierung einer Diverstiy-Kultur
notwendig, in der die Selbstverständlichkeit (nicht nur) sexueller und geschlecht-
licher Vielfalt Bestandteil ist, ohne unterzugehen. Dabei kann eine machtkritische
Auseinandersetzung alternatives Denken anregen, denn bereits den Konzepten
von Akzeptanz und Toleranz liegt eine „hierarchische und asymmetrische Kom-
munikation“ zugrunde, die „vom Gutdünken der Gewährenden abhängt (Diehm
2010, S. 127 zit. n. Kleiner i. d. B.). Diskriminierung zu erkennen, ernst zu nehmen
und zu bekämpfen gelingt insbesondere dann, wenn das Thema als relevant für die
eigene Lebens- und Arbeitspraxis wahrgenommen wird. So können beispielsweise
in der Verwaltung Bedürfnisse von Mitarbeiter_innen und Kund_innen besser
erkannt, als auch eine größere Handlungssicherheit im Hinblick auf Vielfalt ge-
wonnen werden. Dennoch ist auch sensibel mit der teilweise vorhandenen Angst
vor Veränderungen und ‚Anderem‘ umzugehen. Wichtig ist für Veränderungen,
Ressourcen bereit zu stellen und zu erkennen, dass Wirkungen auch anhand wenig
aufwändiger Maßnahmen erreicht werden können. So hebt bspw. Kleiner (i. d. B.)
hervor, dass bereits die „machtkritische Thematisierung von Differenz (…) ein
deutliches Irritationspotential für alle beteiligten Subjekte (besitzt), weil sie ihre
Wahrnehmungen, Selbstverständnisse und Identifizierungen in Frage stellen kann“.
Weiterführend ist die Herausforderung nicht nur, „wie Differenz(en) und Vielfalt
jenseits von Hierarchie, Normierung und Ausschluss artikuliert werden können“
(Klapeer, i. d. B.), sondern welche neuen Handlungskonzepte und -orientierungen
sich anschließen und Praxis werden. Bereits das Hinterfragen von vermeintlichen
Realitäten, die Ergründung von Zwischenräumen, die kritische Reflexion des eigenen
Handelns und Umfelds sind geeignet, vermutlich starre ‚Realitäten‘ zu verändern.

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„Bei uns gibt es dieses Problem nicht“ 335

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Queer und Alter(n) – zum Forschungsstand
Ralf Lottmann und Rüdiger Lautmann

Die gesellschaft liche Sichtbarkeit von LSBTI ist in den letzten vier Jahrzehnten
kontinuierlich angestiegen. Immer mehr Aktivist_innen, Künstler_innen, Perso-
nen des öffentlichen Lebens verbargen nicht länger ihr So-Sein. In der Aids-Krise
wurden zahlreiche Aspekte des Homosexuellseins diskutiert, und man gewöhnte
sich an das Besondere. Schwul, lesbisch, bi – damit wird heute keine Existenz mehr
erschöpfend beschrieben. Dadurch, dass LSBTI individuelles Profi l gewonnen
haben, haben sich auch ihre Lebensweisen biographisiert.
Früher schien es, als verschwänden ältere Schwule aus dem Blick, weil sie an
den Orten der Subkultur nicht auftauchten. In Pflege- und Altenheimen verbargen
Lesben ihr Sosein, sodass niemand von ihrer Existenz wusste – das ist in der Ko-
horte älterer LSBTI-Erwachsener immer noch oft mals der Fall. Eine alt gewordene
Generation von Frauen und Männern, die sich nach den 1960er Jahren emanzipie-
ren konnten, lebt auch im Alter ihren Lebensstil. Doch wird nun die Lebensphase
Alter immer öfter Gegenstand der Diskussion und Emanzipation – explizit auch
aus LSBTI-Perspektive. Entsprechend erweitert ist die Forschung zum Altern von
LSBT (dazu: de Vries und Croghan 2013).

Die Herausforderung

„[D]ie Lebensbedingungen von Menschen, die in gleichgeschlechtlichen Partner-


schaften alt werden“, wurden erstmals 2006 in einem Altenbericht der Bundesregie-
rung erwähnt. Zugleich seien, so der Fünfte Altenbericht, diese Lebensbedingungen
„bislang nur wenig untersucht“ (BMFSFJ 2006, S. 180). Doch hatte dieser nur die
Paarbeziehungen in den Fokus genommen. Trotz der vermehrten Forschung zu
diesem Themenfeld liegen insgesamt immer noch wenige fundierte Studien vor. Die
bisherigen Untersuchungen haben zumeist eher kleine Stichproben (Reimann und

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_26, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
338 Ralf Lottmann und Rüdiger Lautmann

Lasch 2006, S.14). International sieht es nur wenig besser aus (Fredriksen-Goldsen
und Muraco 2010, S.403f.). Dabei ist die Betroffenengruppe auch quantitativ keines-
wegs belanglos. Nach einer amtlichen Schätzung leben allein in Berlin mindestens
40.000 lesbische und schwule Menschen, die älter als 60 Jahre sind (Senatsverwaltung
für Bildung, Jugend und Sport 2002). Für andere Großstädte im Bundesgebiet mag
der Bevölkerungsanteil niedriger liegen, ohne aber selbst in Kleinstädten jemals zu
verschwinden. Nachfolgend skizzieren wir die Themenfelder rund um das Thema
Queer und Alter(n); fokussiert werden die besonderen Bedarfe der Zielgruppe in
den Bereichen Pflege und Wohnen.

Soziale und demografische Kennzeichen der älteren LSBTI

Die Literatur zu Alter(n) und Homosexualität operiert bislang mit herkömmlichen


Schätzungen über die Häufigkeit von Homosexualität. So wird davon ausgegangen,
dass vier % der Deutschen im Alter von 60 Jahren und älter schwul oder lesbisch
seien, also mehrere Hunderttausend (Wortmann 2005, S. 29ff.). Keine Daten gibt
es für nichtheterosexuelle ältere Menschen, die nicht die deutsche Staatsangehö-
rigkeit haben. Für Transgender zeigt sich eine Entwicklung, wonach diese Bevöl-
kerungsgruppe aus der quantitativen Minimalität heraustritt: Seit 1981 haben sich
die Anträge auf Umwandlung des Personenstandes verzehnfacht, bei anhaltend
steigender Tendenz (Zapf 2013). Für die Altersverteilung liegen keine Zahlen vor –
ebenso nicht wie für ältere Intersexuelle, zu denen statistischen Angaben weitgehend
fehlen. Zu den Intersexuellen werden in der Literatur bislang vor allem Probleme
im gesellschaftlichen Umgang mit der Geschlechtseindeutigkeit bearbeitet (Bora
2012). Bei den Schwulen überschreitet der Singleanteil bei den über 55-Jährigen mit
54 % den der älteren Gesamtbevölkerung deutlich (siehe Tabelle 1). Hinsichtlich
der Anzahl pflegebedürftiger Schwuler und Lesben in Deutschland gibt es bislang
nur vage Schätzungen. Knapp 35.000 schwule Männer und 72.000 lesbische Frauen
sollen in Deutschland im Sinne des SGB XI pflegebedürftig sein (Sdun 2009, S. 55ff.).
Wenn bereits die Anzahl an Schwulen, Lesben, Bi- und Intersexuellen für die
Altersgruppe der Älteren nur pauschal geschätzt werden kann, dann sind Angaben
zu den soziostrukturellen Kennzeichen umso gewagter. Weil die Grundgesamtheit
unbekannt ist, kann es nur Schätzungen geben. Nach der amtlichen Statistik gibt
es 67.000 gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften, zu 57 % unter Männern
(Statistisches Bundesamt 2012). Jedoch wurden diese nicht nach Altersgruppen
getrennt ausgewiesen. Zudem wissen wir dann noch nichts über Singles oder andere
Lebensformen von LSBTI-Erwachsenen.
Queer und Alter(n) – zum Forschungsstand 339

Einige Online-Befragungen im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche


Aufklärung (BZgA), z. B. von Bochow et al. (2009), erreichten eine hohe Anzahl
an Befragten. Hierbei konnten mitunter signifikante Unterschiede bei soziodemo-
grafischen Merkmalen wie Wohnortgröße oder Bildungshintergrund festgestellt
werden. Doch betreffen diese zumeist nur schwule und bisexuelle Männer. In
Tabelle 1 fassen wir Daten der BZgA-Studie aus 2006 und der EMIS-Studie aus
2010 zusammen. Bis auf die Anzahl Älterer beziehen sich alle Angaben auf das
Gesamtsample. Die Gruppe der Älteren beginnt in dieser Studie – interessanter-
weise – bereits bei über 44 Jahren. Aufgrund der dürftigen empirischen Befundlage
haben wir diese Studien einbezogen.

Tabelle 1 Soziodemografische Daten zu schwulen und bisexuellen Männern12


BZgA-Studie 20061 EMIS-Studie 20102
Sample insgesamt 3.846 (schwul); 550 (bi) 54.387
Anzahl Älterer (44+) (in %) 20 (schwul); 30 (bi) 20
Anteil Großstädte >500.000 (in %) 45 41
Anteil Alleinlebender (in %) 52 45
Anteil mit Partner lebend (in %) 26 25 (Partner) 6 (Partnerin)
Anteil Singles (in %) 54 (schwul); 39 (bi)
Bildungshintergrund (in %):
Abitur (und höher in BZgA-Studie) 49 (schwul); 46 (bi) 31 (plus 28 FH-Reife)
mittlere Reife 30 (schwul); 30 (bi) 31
Hauptschulabschluss 16 (schwul); 18 (bi) 10
Berufliche Angaben (in %):
in Rente/Pension 3 (schwul); 4 (bi) 3,3
frühverrentet 4 (schwul); 3 (bi)
arbeitslos 13 (schwul); 8 (bi) 5,5
berufstätig 80 (schwul); 84 (bi) 56,2 Vollzeit; 5,4 Teilzeit

Die jüngste und älteste Altersgruppe weisen im Übrigen die höchsten Anteile von
Befragten auf, bei denen niemand im sozialen Umfeld weiß, dass eine schwule oder
bisexuelle Lebensweise besteht. Die Altersgruppe der über 44-Jährigen weist die
größte „Szenenähe“ auf (Bochow et al. 2009).
Eine erkenntnisreiche Studie explizit zum Alter(n) lesbischer Frauen ist die
Untersuchung von Braukmann und Schmauch (2007). An dieser Studie nahmen

1 Bochow et al. 2009


2 Bochow et al. 2012
340 Ralf Lottmann und Rüdiger Lautmann

214 Frauen im Alter von 50 bis 73 Jahren teil, mit überwiegend hoher Bildung. 29 %
der Befragten sind Rentnerinnen. Der Umfang der Erwerbsarbeit ist in etwa ähnlich
verteilt wie in den vorangegangenen Studien. Auch gleichen sich die Angaben zu
der Einkommensverteilung und zur Wohnortgröße. Für uns interessant sind die
(etwas groben) Angaben zum Gesundheitszustand. 15,5 % der Befragten geben
an, ihnen gehe es „sehr gut“, 55,9 % „ziemlich gut“, 23 % sagten „es geht“, 5,2 %
„ziemlich schlecht“ und 0,5 % der lesbischen Frauen geht es „sehr schlecht“. 4,7 %
von ihnen benötigt Unterstützung im Haushalt, 2,4 % bei der Mobilität, 1,4 % bei
der Körperpflege und 4,7 % bei Sonstigem. Hinsichtlich des Coming-outs geben die
Befragten an, dass 27,1 % von ihnen „völlig offen“ leben, 59 % „weitgehend offen“,
10 % „wenig offen“ und 3,8 % „nicht offen“. Zum Familienstand geben 46,9 % der
Befragten an, dass sie ledig sind, geschieden oder verwitwet sind 43,7 %. 62,6 % sind
kinderlos und 14,7 % haben Enkelkinder (Braukmann und Schmauch 2007, S. 6ff.).
Eine britische Untersuchung aus dem Jahr 2011 bestätigt die Angaben zur
Wohn- und Lebenssituation von Schwulen, Lesben und Bisexuellen im höheren
Erwachsenenalter. Der Vergleich von 1.050 Heterosexuellen mit 1.036 lesbischen,
schwulen und bisexuellen Menschen über 55 ergab, dass LSBler signifikant eher
Single sind (40 % bei LSBler zu 15 % bei Heterosexuellen) oder allein leben (41 %
zu 28 %). Seltener hatten sie Kinder oder waren in regelmäßigem Kontakt mit ihrer
biologischen Familie. Die Studie betont, dass diese Ergebnisse gleichsam Risiko-
faktoren für die Inanspruchnahme von Hilfe- und Unterstützungsleistungen im
Alter sind (Stonewall 2012). Weitere internationale Studien stützen insbesondere
die Ergebnisse zum Alleinleben, zu eigenen Kindern und zum relativ großen
Freundschaftsnetzwerk über die sog. Wahlfamilie (Hughes und Kentlyn 2011, S. 437;
Beeler et al. 1999; Grossman et al. 2001). Bereits früher wiesen US-amerikanische
Altersstudien darauf hin, dass geschlechtsspezifische soziodemografische Unter-
schiede – ebenso wie bei heterosexuellen Frauen und Männern – auch zwischen
Schwulen und Lesben bestehen. Ältere lesbische Erwachsene erhalten, verglichen
mit älteren schwulen Männern, ein niedrigeres Einkommen, haben eine höhere
Wahrscheinlichkeit für eine Lebenspartnerschaft, verfügen über ein größeres
soziales Netzwerk und leben seltener allein (Grossman et al. 2000; Beeler et al.
1999, S. 36ff.; Quam und Whitford 1992). Wie heterosexuelle Ältere sind ältere
Homosexuelle mit Partner/in weniger einsam und berichten über einen besseren
Gesundheitszustand (Grossman et al. 2000).
Queer und Alter(n) – zum Forschungsstand 341

Die unterschiedliche Lebenslage älterer LSBT*I

Die Besonderheit älterer Menschen mit lesbischer oder schwuler Identität (‚LSBT‘)
schreibt sich aus der im 20. Jh. dramatisch verlaufenen Entwicklung von gender
und Sexualformen her. Wer in den Jahrzehnten zwischen 1930 und 1960 aufwuchs,
war mit scharf kontrastierten Geschlechterrollen konfrontiert, die den Frauen die
Autonomie vorenthielt und den Männern eine bestimmte Maskulinität vorschrieb
(Hagemann-White 1984). Da sowohl Lesben wie Schwule sich diesen Stereotypien
vielfach verweiger(te)n, griffen sie zu Lügen, Scheinheiraten und anderen Informati-
onskontrollen, die ihnen das Stigmamanagement aufzwang und ihre Lebensführung
erschwerte. Daher erscheint es als sinnvoll, sowohl hinsichtlich der Praxis als auch
künftiger Forschung den sozialen und historischen Kontext bei Befragten, Bewoh-
ner_innen oder Patienten zu berücksichtigen. So werden in US-amerikanischen
Untersuchungen LSB-Befragte in ‚pre-Stonewall‘ (45+ Jahre), ‚gay liberation era‘
(30-44 Jahre) und ‚gay rights era‘ (>30 Jahre) unterschieden. Ihre (Kompensations-)
Strategien hinsichtlich der sexuellen Identität, inklusive Coming-out-Prozess und
(politische und familiale) Einstellungen, differieren nach Kohorte und jeweiligem
sozialen und historischen Kontext (vgl. Parks 1999; Muraco et al. 2008). Für um
1930 geborene Frauen ist es nicht ungewöhnlich, dass sie die lesbische Liebe erst
mit über 60 Jahren entdecken (Plötz 2013, S. 29; vgl.Broschatz 2010). Für trans- und
intersexuelle ältere Menschen sind ähnliche Ergebnisse erwartbar (Hughes und
Kentlyn 2011). Mit der ‚gay liberation‘-, ‚era‘- bzw. ‚Stonewall-Generation‘ (Rei-
mann und Lasch 2006) kommt jetzt eine quantitativ bedeutsame Gruppe Älterer
erstmals in die nachberufliche Phase, in der sie sich ganz selbstverständlich outen
und ihren Lebensstil nicht mehr – wie vorherige Generationen – verheimlichen
wollen. LSB-Erwachsene seien sexuell aktiv (Van de Ven et al. 1997); dadurch wird
ein gay-friendly-Angebot für sie plausibel. Dementsprechend wird die Forderung
lauter, dass die Regeldienste der Altenhilfe offener sein und differenziertere Al-
tenhilfestrukturen etabliert werden sollen (vgl.Reimann und Lasch 2006, S. 16f.).
Ältere und hochaltrige Menschen mit LSBTI-Biographie in Deutschland tragen
Lasten, die aus der politischen Geschichte unseres Landes herrühren. Erst 1994
verschwand endgültig die Diskriminierung aus dem Strafgesetzbuch; die Angst
vor einer drohenden Strafe bzw. Erpressbarkeit hat die Generation der heutigen
schwulen Alten unaufhebbar geprägt (Reimann und Lasch 2006, S. 14). Die extreme
Verfolgung in der NS-Zeit lastet unvergessen auf der Gruppe als ganzer. Noch in
der frühen Bundesrepublik blieb der § 175 StGB in der von den Nationalsozia-
listen verschärften Form bis 1969 in Kraft; die Zahl der strafrechtlich Verfolgten
zwischen 1949 und 1969 entspricht der zwischen 1933 und 1945 (vgl. Lautmann
2011). In der DDR wurden zwar mildere Strafmaße verhängt, doch erfasste der 1968
342 Ralf Lottmann und Rüdiger Lautmann

eingeführte Paragraph 151 StGB auch lesbische Kontakte, und die Staatssicherheit
unterband konsequent alle Möglichkeiten der Selbstartikulation und -organisation.
Die Lebbarkeit lesbischer Existenz war seit jeher starker Restriktion unterworfen,
das betrifft auch heute noch selbst jüngere Frauen (Hänsch 2003, S. 235ff.). Vor
diesem Hintergrund von Verfolgung und Diskriminierung ist vor allem älteren
Homosexuellen ein hohes Maß an sozialer Isolation und Ausgrenzung lebensge-
schichtlich eingeschrieben.
Stigmatisierung und Kriminalisierung der Homosexualität haben besonders die
Älteren dem Einfluss negativer Stressoren ausgesetzt. Sie haben zu Brüchen und
Traumatisierungen geführt, die individuell und kollektiv wirksam sind (Bochow
2005, Lautmann 2012). Die unterbliebene Identitätsentwicklung und brüchige
Selbstbehauptung lässt die Lebensphase Alter als ungesichert erscheinen und treibt
die Senior_innen erneut in Zwänge des Verschweigens und der unerwünschten
Anpassung. Für trans- und intersexuelle Ältere zeigen sich diese Belastungsfak-
toren in erheblichem Ausmaß. Für bisexuelle Ältere und vormals verheiratete
Homo- und Bisexuelle gilt Ähnliches, und zwar auch dann, wenn sie ihr Begehren
unterdrückt und auf eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft verzichtet haben
(Beeler et al. 1999, S.45).
Für die Jüngeren unter den schwulen Alten kommen die Belastungen aus der
Aids-Krise hinzu. Seit den frühen 1980er Jahren hat die HIV-Infektion nicht nur die
Überlebenden bedroht und beeinträchtigt, sondern diese auch oftmals eines großen
Teils des Freundeskreises beraubt. Die damals schutzlos dem Erkrankungsrisiko
ausgesetzte Kohorte rückt jetzt ins Seniorenalter ein. Sie leidet in höherem Maße
und vorzeitig an altersbedingten Krankheiten (Brennan-Ing et al. 2014).
Auf homo-, bi- sowie vor allem trans- und intersexuelle Alte trifft mithin in
besonderem Maße zu, was bereits allgemein für ältere Menschen gilt: Sie haben
geradezu buchstäblich „kritische Lebensereignisse“ zu bewältigen. Durch die unver-
hoffte (Teil-)Anerkennung der LSBT-Existenzweisen in der deutschen Gesellschaft
haben frühere Rückzüge, Verheimlichungen und Appeasement-Kompromisse ihren
beschwichtigenden Wert verloren. Ältere LSBT-Erwachsene sind herausgefordert, zu
ihrer Eigenart selbstbewusst zu stehen, sich also so zu verhalten, wie es ihr ganzes
bisheriges Leben hindurch verpönt war. Sich nunmehr gegenüber ihrer Verwandt-
schaft, ihren Kolleg_innen und Nachbar_innen zu öffnen, bedeutet verschleierte
Aspekte des Selbst in die Wahrhaftigkeit zu überführen. Wenn das gewagt wird,
verändert sich das vorhandene Netzwerk: Einige Beziehungen erlöschen, andere
vertiefen sich.
In diesen Generationen waren dauerhafte Partnerschaften viel seltener als heute.
Das Coming-out erfolgte weniger offen und im Lebensverlauf später als heute (Parks
1999), ihre Lebensgemeinschaften waren weder rechtlich noch gesellschaftlich
Queer und Alter(n) – zum Forschungsstand 343

anerkannt, eine eingegangene Ehe und Eigenfamilie blieb brüchig. Innerhalb der
subkulturellen Szenen, nicht nur in der Barkultur, wo Jugendlichkeit das maßge-
bende Attraktivitätsmerkmal bildet, kamen und kommen sie sich als unerwünscht
vor (Franke 2003, S. 34). Das hat sich zur These einer doppelten Stigmatisierung
verdichtet: Unerwünscht als ‚Alte‘ in ihrer Subkultur, und als ‚Schwule‘ im ge-
sellschaftlichen Mainstream (Kling und Kimmel 2006; Fox 2007). Illusionär die
Annahme, LSBTI-Menschen könnten durch die langen Jahre der Diskriminierung
zu Experten des Copings geworden sein und hätten so der Altersdiskriminierung
(Ageism) der Gesellschaft mehr entgegenzusetzen als ihre heterosexuellen Gleich-
altrigen (skeptisch: Geißdörfer 2011, S. 15; auch Quam und Whitford 1992, S.368).
Mögliche sozialarbeiterische oder gerontopsychologische „Interventionen“ sind
daher nicht ohne Weiteres über sexuelle Orientierungen hinweg übertragbar. Doch
gibt es gerade aufgrund der biografischen Erfahrungen und erworbenen Strategien
als LSBTI-ler auch spezifische Ressourcen, die insbesondere im Hinblick auf die
LSBTI-Community besondere Chancen und Potenziale eröffnen (vgl.BMFSFJ
2006, S. 180f.). Auf zu berücksichtigende Aspekte in der Sozialarbeit und Altenhilfe
von älteren LSBTI-Erwachsenen in der Praxis geben vor allem US-amerikanische
Untersuchungen erste Antworten, auf die wir im Folgenden eingehen. Dabei sei
explizit auf die zusammenfassende Darstellung von Fredriksen-Goldsen und
Muraco (2010) verwiesen.

Besondere Bedarfe älterer und pflegebedürftiger LSBT*I

Es zeigen sich nicht nur in der Gestaltung von Partnerschaften, sondern auch in
der Frage, wie LSBTI ihr eigenes Altern und die Möglichkeit eines Pflegeereignisses
erleben, Besonderheiten. Diese ergeben sich für ältere LSBTI vor allem aus den
unterschiedlichen Lebensstilen. Weil oft keine Eigenfamilie vorhanden ist und
die Bezüge zur Verwandtschaft gekappt oder reduziert worden sind (Reimann
und Lasch 2006,S. 19; Bochow et al. 2009) geraten sie eher in eine gefährliche und
auch kostentreibende Isolation. Die Voraussetzungen für eine zufriedenstellende
soziale Integration als hilfebedürftiger LSBTI-Mensch sind – wie auch bei anderen
Bevölkerungsgruppen mit Minderheitserfahrungen zu beobachten ist – häufig
nicht gegeben (Muraco et al. 2008; vgl. Wortmann 2005, S. 35ff.; Holstein und
Minkler 2003).
Für heterosexuelle ältere Menschen sind im Falle von Hilfe- und Pflegebedürf-
tigkeit die eigenen Familienmitglieder mit Abstand die primäre Ansprechpersonen
– sowohl sozioemotional als auch für die pflegerische Versorgung (Haberkorn 2009,
344 Ralf Lottmann und Rüdiger Lautmann

S. 86ff.). In Deutschland ist die Hilfe über Partner_innen, Kinder und Verwandte
aufgrund von familialen Werten und kulturellen Normen – im Vergleich zu ande-
ren Ländern – stärker ausgeprägt als die Pflege über Dritte (Lottmann et al. 2012;
Haberkorn 2009,S. 96; 113ff.). Über 80 % der Unterstützung werden von nahen
Familienmitgliedern übernommen (Mayer 2006, S. 30). Diese Möglichkeit steht
LSBTI-Senior_innen häufig nicht zur Verfügung (Bochow et al. 2009; Grossman
et al. 2007, S.16).
Zahlreiche Studien belegen eine ausgesprochen hohe Bereitschaft von Schwulen
und Lesben, Betreuung und Pflege von Freund_innen zu übernehmen. Ein Drittel
von ihnen engagiert sich bei Krankheit und Behinderungen, 61 % übernehmen
Freundschaftsdienste, und vor allem schwule Männer sind in hohem Maße in der
Betreuung von HIV-infizierten Männern involviert (Grossman et al. 2007, S.17).
89 % der älteren schwullesbischen Erwachsenen haben mindestens drei Freund_in-
nen, an die sie sich im Falle eines ‚ernsten Problems‘ wenden könnten, wobei dies
eher den sozioemotionalen Beistand meint (Beeler et al. 1999, S.38; Grossman et
al. 2000). Sie erhalten emotionale, instrumentelle und finanzielle Unterstützung
über die sog. Wahlfamilie, den/die gleichgeschlechtlichen Partner_innen, LSBT-
Freund_innen, heterosexuellen Freund_innen sowie LSBTI-Beratungsstellen. In
einem geringeren Maße erhalten sie diese Art der Hilfe von Geschwistern, erweiterter
Familie oder erwachsenen Kindern (Hughes und Kentlyn 2011, S. 438; Reimann
und Lasch 2006, S. 19).
Doch selbst ein durchschnittliches eher großes soziales Netzwerk kann die
pflegerische Versorgung von LSBTI oftmals nicht gewährleisten. Denn es bleibt
unüblich, dass nicht-familiäre Kontaktpersonen im Bereich der pflegerischen
und persönlichen Versorgung oder bei chronischen (Alters-)Erkrankungen tätig
werden, wenn diese kein sehr intimes Verhältnis zum Pflegebedürftigen haben
(Grossman et al. 2007, S.18). Wie stark LSBTI-Ältere auf die Community und ihren
Freundeskreis im Falle von Betreuungs- und Pflegebedürftigkeit zählen können,
ist nur wenig erforscht. Der Studie von Grossman et al. (2007) zufolge, hängt die
Bereitschaft für pflegerische Versorgungsleistungen für LSBTl-Erwachsene vor
allem von der zu erwartenden Belastung, dem persönlichen Nutzen und dem Bil-
dungsniveau der Befragten ab. Viele homosexuelle ältere Erwachsene machen sich
Sorgen, wer die Pflege oder Betreuung im Falle gesundheitlicher Beeinträchtigungen
übernehmen werde (Grossman et al. 2007, S.16). So gibt es auch in Deutschland
zahlreiche Berichte von Betroffenen über erlebtes Unwohlsein und Unverständnis
in regulären Pflege- und Betreuungseinrichtungen (vgl. Gerlach 2002). Sogar eine
Gefahr der Verwahrlosung wird gesehen, nämlich sich aufgrund der inadäquaten
Versorgungs- und Beratungssituation völlig zurückziehen (ebd.).
Queer und Alter(n) – zum Forschungsstand 345

Hinsichtlich der physischen und psychischen Bedürfnisse wird gewarnt, dass


mehr als die Hälfte der älteren LSB-Erwachsenen keine Unterstützungsangebote
vorfinden, die für die Begleitung des Alter(n)sprozesses hilfreich wären (McFarland
und Sanders 2003,S. 73f.). Barrieren für die Inanspruchnahme von Service- und
Hilfeleistungen sind finanzielle Unsicherheiten und Diskriminierungserfahrungen
(Hash und Netting 2007). Richard und Brown (2006) postulieren aufgrund einer
Studie mit 25 älteren Lesben, dass diese aufgrund empfundener Vorurteile seltener
formale Hilfeleistungen in Anspruch nehmen (ebd., S.49).
Eine spezifische Vulnerabilität schafft die offene oder verdeckt wirkende Ho-
mophobie (Jüngst 2004; Jäck 2003; Kammerer 2003; Paul 2001). Für die Lebens-,
Pflege- und Betreuungsqualität von LSBTI ist die Möglichkeit wichtig, offen zu leben
(Hughes und Kentlyn 2011). Die Lebensphase Alter wird von Homosexuellen umso
besser bewältigt, je stärker sie eine schwule bzw. lesbische Identität ausgebildet haben
(Friend 1990, S. 109 f.). Dem haben, wie gezeigt, in der Generation der heute älteren
Lesben und Schwulen aber viele Hindernisse entgegengestanden (vgl.Brotman et al.
2003). Daraus resultierten ein erhöhtes Ausmaß an Hoffnungslosigkeit, niedrigem
Selbstwert, Beruhigungsmittelgebrauch, Mangel an sozialer Unterstützung durch
Angehörige, Suizidversuchen im sozialen Umfeld, brüchiger Geschlechtsrollen-
konformität und HIV-Infekten (Plöderl et al. 2009 S.32f.). Sofern internalisierte
Homophobie das Selbstgefühl beeinträchtigt, kann sie auch jetzt noch abgebaut
werden, und dies vermutlich am ehesten in einer LSBT-(freundlichen)Einrichtung.
Das Angenommensein, z. B. als alternder Schwuler oder alternde Lesbe, ist in den
Regeldiensten der offenen und stationären Altenhilfe alles andere als eine Selbst-
verständlichkeit, zumal dort Begehren, Sexualität – insbesondere nichtnormative
Formen und Praxen – häufig tabuisiert werden (Sdun 2009, S. 111ff.; Brotman et
al. 2003, S.196ff.; Calmbach und Rauchfleisch 1999; Gerlach 2002). Eine offene und
stationäre Altenhilfe muss für diese durch den Lebensstil bedingte Ausgangslage
von schwullesbischen Pflege- und Betreuungsbedürftigen erst sensibilisiert werden
(Sdun 2009, S. 114; Jackson et al. 2008; Weakland und Herr 1992, S. 40ff.). Auch der
Fünfte Altenbericht hat unterstrichen, dass hier den Einrichtungen der Community
eine erhöhte Bedeutung zukommt (BMFSFJ 2006, S. 180). Die Sensibilisierung von
Pflege kräften wird damit zu einem Ziel der Pflegeforschung (dazu unten).
Aus den vorhandenen Bedürfnissen ergibt sich der Bedarf nach spezifischen
Einrichtungen für LSBTI-Erwachsenen im Alter (Pulver i. d. B.). Die individuelle
Bewältigung der Marginalisierung im Lebenslauf ist die eine Seite, der Fortbestand
eines homophoben Kontexts die andere. Das betonen beispielsweise van Voorhis
und Wagner gerade mit Bezug auf die Literatur zur Sozialen Arbeit (2002, S. 353).
Selbst dort, wo Belastungen äußerlich nicht sichtbar, wo die kritischen Lebenserfah-
rungen produktiv verarbeitet worden sind, besteht häufig der Wunsch, die letzten
346 Ralf Lottmann und Rüdiger Lautmann

Lebensabschnitte in einem Kreis Gleichgesinnter zu verbringen (Brambach 2013;


Pulver i. d. B.). Wohlgemerkt: Keineswegs verspüren alle LSBTI-Erwachsenen einen
solchen Wunsch, aber eine relevante Teilgruppe von ihnen; in der Erhebung mit
lesbischen Frauen, mochten z. B. 20 % nur mit Lesben und weitere 13 % nur mit
Frauen zusammenwohnen (Schmauch 2010, S. 29). Dieser Anteil dürfte in dem
Maße ansteigen, wie passende Wohn- und Pflegeprojekte wahrnehmbar realisiert
werden. Denn bislang werden die bereits vorhandenen Sozialdienste für LSBTI
noch nicht vollständig ausgenutzt (vgl. u. a. Brennan-Ing et al. 2014).

LSBT*I-Community und -Pflegekräfte

Aufgrund der Besonderheiten im Lebensstil kommt den Einrichtungen der LSB-


TI-Community also eine erhöhte Bedeutung zu (vgl. BMFSFJ 2006, S. 180). Dabei
muss das Angenommensein als LSBTI im Alter als Grundvoraussetzung gelten.
Denn eine höhere Zufriedenheit bei Unterstützungsleistungen im Falle von Be-
treuungsbedarf ergibt sich, wenn die Betreuenden und Pflegenden Menschen sind,
die von der jeweiligen sexuellen Orientierung des Gegenübers wissen und über
Kenntnisse von schwullesbischen Lebensstilen verfügen (Grossman et al. 2007;
Franke 2003; McFarland und Sanders 2003, S. 73ff.).
Soziale und pflegerische Unterstützungsleisten sollten, insbesondere in kri-
senhaft erlebten Situationen, im LSBTI-Umfeld angesiedelt sein oder mit den
entsprechenden Einrichtungen eng kooperieren (Jacobs et al. 1999). Die Ergän-
zung einer sozio-emotionalen Unterstützung durch die LSBTI-Community (also
Beratungsstellen, Besuchsdienste, Selbsthilfegruppen etc.) ist unerlässlich und
vitalisierend – auch hinsichtlich der Annahme der jeweiligen sexuellen Orien-
tierung (Fredriksen-Goldsen und Muraco 2010, S. 401). Zudem berücksichtigen
Sozialarbeiter_innen bei ihren Beratungsleistungen individuelle, rechtliche und
organisatorische Ebenen (Stichwörter: Besuchsrechte, Erbschaften) innerhalb und
außerhalb der LSBTI-Community (Hash und Netting 2007, Reimann und Lasch
2006, S.19f.). Einer Studie von Comerford et al. (2004) mit 15 älteren Lesben zu-
folge sollte von ihnen Heterosexualität nicht stets vorausgesetzt werden, sondern
Offenheit für die Vielfalt von Lebensentwürfen gewährleistet sein (ebd., S. 433). An
die Adresse von Praktiker_innen und Politik geht u. a. die Forderung von Cronin
et al. (2010), besondere Bedarfe und Unterschiede von älteren LSBTI-Erwachsenen
nicht zu negieren, nach dem Motto „Alte wie alle anderen“, sondern die sexuelle
Dimension der Persönlichkeit in Altenhilfe und Sozialarbeit stärker sichtbar zu
machen und auch als Chance für differenziertere und kultur- wie biografiesen-
Queer und Alter(n) – zum Forschungsstand 347

sible Hilfestrukturen zu nutzen (ebd., S.425ff.). Spezifische Altenarbeitsstruktu-


ren (entstanden aus der Initiative der LSBTI-Community) sind ein Beitrag, das
gezielte Anwerben von schwulen oder lesbischen Pflegekräften im Rahmen von
Diversity-Strategien in Mainstream-Regeldiensten ist eine weitere Möglichkeit zur
Öffnung der Versorgungsstrukturen, die zudem flächendeckend umgesetzt werden
sollten (vgl. Brotman et al. 2010). Hier besteht bei den Pflegekräften bundesweit
ein Defizit. Pflegeanbieter_innen mit einer entsprechenden Zielgruppenausrich-
tung gibt es kaum, obwohl bekannt ist, dass es für die Klienten einen erheblichen
Unterschied macht, ob das Sozialarbeits- und Pflegepersonal wenigstens teilweise
einen LSBTI-Hintergrund besitzt. Mit dem zunächst im Bereich der AIDS-Hilfen
als Reflexionskategorie beschriebenen Begriff des „queer professionalism“ könn-
ten auch in anderen Bereichen der Sozialen Arbeit „Normalisierungspraxen und
normative Identitätskonstruktionen kritisch analysiert“ (Schütte-Bäumner 2010,
S. 77) werden. In der Praxis der Altenhilfe bewähren müsste sich Idee, als „queer
professional“ die überkommene Denkweise zu hinterfragen und die Verwobenheit
zwischen Sexualität, Identitäten und Professionalität einerseits, Machtkomplexen
und normativen Regulierungen andererseits zu berücksichtigen (Schütte-Bäumner
2007, S. 239ff.).
Um den spezifischen Biografien und Bedarfen älterer LSBTI-ler gerecht zu werden,
müssten die Mitarbeiter_innen in den entsprechenden Einrichtungen und sozialen
Diensten Empathie gegenüber der Minderheitensituation zeigen und sich Kenntnisse
über spezifische Lebenszusammenhänge aneignen. Einschlägige Wissensbestände
sind beispielsweise: verspätetes Coming-Out, Doppelleben, Scheinehen, Ängste
vor Ablehnung von außen, Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen und verin-
nerlichte Homophobie (vgl. Rauchfleisch et al. 2002, S.73; Van de Ven et al. 1997).
Bereits vor einem Jahrzehnt wurde in der US-Fachliteratur bemerkt, dass les-
bisch-schwule Themen in den Fachmedien der Sozialen Arbeit fehlen (van Voorhis
und Wagner 2002). Mit den vorhandenen Strategien könne kein Empowerment
bei Homosexuellen geleistet werden (ebd., S.353). Wenig später wurde auch für
Deutschland festgestellt, in der Sozialen Arbeit bestehe noch weithin „ein unprofes-
sionelles Verhältnis zur Homosexualität und gegenüber lesbischem und schwulem
Klientel“, und zwar aufgrund von „Vorurteilen, fehlendem Wissen und Unsicherheit“
(Schmauch 2003, S. 6). Hinzukommt, dass schwullesbische Sozialarbeiter_innen
„meist keine Möglichkeit zur offenen Reflexion spezifischer Berufsrollenaspekte“
haben (ebd.). Zudem verschweigen sie häufig ihre Lebensweise, um im Kollegium
nicht diskriminiert zu werden (Plötz 2013, S. 28). Es finden sich nur wenige Ar-
tikel zur Berufstätigkeit, die meisten über das Arbeitsfeld und die Probleme der
Klientel. Andernorts wird versucht diese Forschungslücke zu schließen, wie neuere
Veröffentlichungen zeigen (aus GB: Fish 2012, Brown und Cocker 2011; für USA:
348 Ralf Lottmann und Rüdiger Lautmann

Morrow 2006, Mallon 2008). Ältere LSBTI-Erwachsene bieten ein Beispiel für
Intersektionalität, d. h. Mehrfachdiskriminierung. Auch hier gelten insbesondere
die älteren Lesben als seltener betrachtet, sind geringer erforscht, und Hilfen für
sie sind unterentwickelt (Hash und Netting 2009). Es werden strukturelle Ände-
rungen verlangt (Landers et al. 2010). Untermauert wird das durch den Ende 2011
veröffentlichten Report von Karen Fredriksen-Goldsen et al.; danach erfordern die
speziellen Lebens- und Gesundheitslagen von LSBT-Alten ein Tätigwerden von
Public Health. Wie erste Studien zeigen, wirkt sich ein spezielles Training positiv
auf die Soziale Arbeit mit LSBT-Älteren aus (Porter & Krinsky 2013).

Wohn- und Pflegeeinrichtungen für Minderheiten

Ein geläufiger Vorbehalt besagt, die auf bestimmte Minderheiten spezialisierten


Pflegeeinrichtungen widersprächen der Idee einer integrierten Gesellschaft. Dem
steht ein wachsender Trend entgegen, die Einrichtungen auf unterschiedliche
Interessen zuzuschneiden. Für jüdische Mitbürger_innen war dies immer schon
unangefochten. Seit geraumer Zeit werden Sonderinteressen für Migrant_innen
angemeldet. In Stockholm beispielsweise betreibt eine große Wohnungsgesellschaft
spezielle Häuser für Finnen, Ungarn und Iraner (Anwar 2012). Vergleichbar sind
die Lage und der Bedarf älterer Homosexueller, zumindest in der Kohorte der vor
1950 Geborenen, die in gewöhnlichen Heimen von ihren Altersgenossen ausge-
grenzt werden. So werden Curricula in der Altenpflege hinsichtlich der Maßgaben
für eine kultursensible Pflege er- und überarbeitet, und auch deutsch-türkische
Pflegedienste sind bereits ein fester Bestandteil der ambulanten Versorgung in
Großstädten (BMFSFJ 2005).
Wohnprojekte für Menschen ‚mit besonderem Hintergrund‘ sind selten und
haben bislang kaum Aufmerksamkeit gefunden. So liegen auch hierzu nur wenige
wissenschaftliche Erkenntnisse zu ihrer Organisation vor – zumal für Einrichtun-
gen mit hohem Grad an Partizipation und mit einer Integration an verschiedenen
Exklusionslinien. Die Studie von Braukmann und Schmauch (2007) hat ergeben,
dass die im Rhein-Main-Gebiet lebenden lesbischen Frauen über 50 Jahre sich von
den Regeldiensten der Altenhilfe nicht wahrgenommen fühlen. Die Forscherinnen
empfehlen ein Bündel von politischen und pflegerischen Maßnahmen wie die
Aufnahme einer Antidiskriminierungsklausel in die Leitbilder pflegerischer Ein-
richtungen, entsprechende Weiterbildungsmaßnahmen für das (Pflege-)Personal
oder geeignete Angebote bei den Besuchs- und Begleitdiensten und der Wohn-
beratung (Knijff 2008; Braukmann und Schmauch 2007). Die Untersuchung von
Queer und Alter(n) – zum Forschungsstand 349

Bochow (2005, N = 30) fokussierte die Lebenssituation homosexueller Männer,


ihre soziale und gesundheitliche Situation sowie die Wünsche schwuler Männer
hinsichtlich möglicher Wohnmodelle (der Zukunft). Ansonsten finden sich Studien
kleineren Formats, die als Abschlussarbeiten mit Lokalbezug geschrieben sind
(z. B. Geißdörfer 2011).
Eine Münchner Befragung (N = 2513, Unterforsthuber und Franz 2004) wirft
ein Schlaglicht auf die Erwartungen und Einschätzungen, die bei Schwulen, Lesben
und Bisexuellen unterschiedlicher Jahrgänge zu den stationären Einrichtungen für
Alte bestehen. Über 90 % der Befragten verneinten, dass die vorhandenen Einrich-
tungen im Umgang mit Homosexuellen kompetent sind. Drei von vier Befragten
wünschten sich eine Wohnform für hetero- und homosexuelle Menschen, wobei
die Einrichtung ihr Angebot erkennbar auf die Kundengruppe der Homosexuellen
ausrichten soll (ebd., S. 5). Solche Zahlen beruhen nicht auf einer repräsentativen
Stichprobe und sie sind auch nicht ganz aktuell; in der Tendenz aber dürfte es sich
an anderen Orten und heute ebenso verhalten. Bochows Untersuchungen stützen
die Annahme, dass Homosexuelle (hier: schwule Männer) befürchten, im Alter
wieder die sexuelle Orientierung und den Lebensstil verstecken oder leugnen zu
müssen (Bochow 2008; Bochow 2005: 348ff.). Generell müssen wir davon ausgehen,
dass – auch wenn die Studien zwischen stationären und ambulante Hilfen sowie
Einrichtungen oft nicht differenzieren – die Ergebnisse sowohl für die stationäre
Pflegeeinrichtungen, Betreutes Wohnen und heimähnliche Unterbringungen
gelten, wie für ambulante Dienste und (niedrigschwellige) formelle und informelle
Unterstützungsleistungen. Auch wenn zahlreiche der befragten Männer spezifi-
sche Angebote aus Angst vor einem ‚Schwulen-Ghetto‘ ablehnen, so wünschte
sich die Mehrheit der Befragten sehr wohl Angebote „für homosexuelle Männer,
die in das bestehende institutionelle System eingebettet werden sollten“ (Bochow
2008, S. 16). Mit diesem Wunsch geht die Forderung einher, entsprechend sen-
sibilisiertes Personal in diesen Angeboten vorzufinden. Die Angebote könnten
so das Selbstbewusstsein als LSBTI nicht nur in dieser Altersphase stärken und
Veränderungen in der Gesamtgesellschaft anstoßen. Zudem dürften spezifische
Einrichtungen auf ältere LSBTI-Erwachsene sehr positive Wirkung entfalten. Der
ehemalige Altenheimleiter Frieling-Sonnenberg meinte, sie würden „ […] sich
über einen längeren Zeitraum sehr stabilisieren, wenn sie auf andere Menschen
treffen, die einen ähnlichen Lebensstil haben, ähnliche Lebensgeschichten, ähnli-
che Sprachcodes – also einen verwandten sozialen Erfahrungshintergrund haben“
(zit. bei Gerlach 2002, S. 5).
Einen wesentlichen Beitrag für die Abmilderung der sozialen Ausgrenzung
leistet bereits die LSBTI-Community, der seit der Emanzipationsbewegung der
1960er Jahre eine in besonderem Maße zugeschriebene Integrationskraft beige-
350 Ralf Lottmann und Rüdiger Lautmann

messen wird (Dannecker und Reiche 1974:, S. 74). Die besonderen Lebenslagen
und Bedürfnisse homosexueller Älterer sowie das Älterwerden von LSBTI wurden
schon relativ früh in von der Community entwickelten Projekten aufgegriffen.
Insbesondere das lesbische Projekt ‚Safia (Selbsthilfe allein lebender Frauen im
Alter) e. V.‘ ist hier zu nennen (vgl.Wortmann 2005, S. 31f.). Weitere Projekte sind
die Wohngemeinschaft ‚rosa ALTERnative‘ in München oder die ‚Villa anders‘
in Köln-Ehrenfeld (Sdun 2009, S. 129ff.). Allerdings wurden viele dieser Projekte
eingestellt, waren nur bedingt für pflege- oder betreuungsbedürftige Ältere geeignet
oder nicht explizit für die ältere Generation konzipiert. Vor diesem Hintergrund
ist der in 2012 eröffnete ‚Lebensort Vielfalt‘ in Berlin-Charlottenburg interessant
(hierzu Pulver i. d. B.). Das Forschungsprojekt „Gleichgeschlechtliche Lebensweisen
im Alter“ (GLESA) untersucht derzeit dieses Wohn- und Pflegeprojekt u. a. unter
der Fragestellung, inwiefern der ‚Lebensort Vielfalt‘ einen Beitrag für neue Wege
in der Altenhilfe und der pflegerischen Versorgung leisten kann und Pflegekräfte
für besondere Bedarfe der Klientel sensibilisiert werden können (siehe: http://www.
ifaf-berlin.de/projekte/glesa/).
Trotz zahlreicher Studien vor allem in den USA klaffen offensichtliche For-
schungsdefizite. Die Bedarfe von älteren und hochaltrigen LSBTI-Erwachsenen
bleiben undifferenziert und oftmals unkonkret, bedingt durch die Kleinförmigkeit
der Studien, eine hinsichtlich der älteren Bevölkerungsgruppe unspezifische Aus-
richtung sowie durch die eher geringen Fallzahlen. Ist die Studienlage zu älteren
schwulen und bisexuellen Männern noch einigermaßen ausführlich, so ist dies
bei lesbischen älteren Frauen nicht mehr gegeben. Angesichts der Tatsache, dass
Alter(n) „weiblich ist“, muss auch zu diesem Thema eine stärkere Forschungsakti-
vität angestrebt werden (Foemer 2002). Die groß angelegte Generali-Altersstudie
(Generali Zukunftsfonds 2013) enthielt nichts über ältere Lesben und Schwule,
nichts über die Älteren mit Migrationshintergrund – obwohl bei über viertausend
Befragten eine Analyse möglich gewesen wäre. Trans- und intersexuelle ältere
Menschen wurden bislang noch gar nicht zum Gegenstand der Forschung. Die
dürftige Befundlage empirischer Daten zum Bereich Altern und sexuelle Orien-
tierung wirft Probleme für die planende Sozialpolitik und die Soziale Arbeit auf.
Auf diesem Gebiet sind sowohl qualitative als auch quantitative Untersuchungen
in höchstem Maße wünschenswert.
Queer und Alter(n) – zum Forschungsstand 351

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IV
Bildungsbausteine
Anregungen aus der Praxis für die Praxis –
Bildungsbausteine für die schulische und
außerschulische Bildung
Klaus Steinkemper

Bildungsbausteine, das sind bewährte und in der Praxis angewendete Methoden


und Übungen, die Wissen nicht nur kognitiv, sondern erfahrungsorientiert und
auf einer sozial-emotionalen Ebene vermitteln. In diesem Kapitel finden Sie eine
Auswahl von elf Übungen, die allesamt von Praktiker_innen der pädagogischen
Arbeit zum Themenbereich sexuelle Orientierung und/oder Geschlechtsidentitäten
entwickelt, ausprobiert, angepasst und hier zur Verfügung gestellt wurden. Aus
eigener Erfahrung als Trainer kann ich bestätigen, dass durch die vorgestellten
Übungen vielfältige Zugänge zum Thema ermöglicht werden.
Vorangestellt sei, dass die Übungen in einen Rahmen, ein Konzept bzw. Ge-
samtablaufplan eingebettet sein sollten, so dass vielfältige Lebensweisen vorstellbar
und lebendig werden. Eine Methode einfach so anzuwenden, ist keinesfalls ratsam,
denn es braucht sichere und nachvollziehbare Rahmendbedingungen. Mit einer
Methode allein ist es nicht getan. Auch auf die Auswertung der Übungen legen
Praktiker_innen großen Wert, um den Teilnehmer_innen zu ermöglichen, den
Inhalt der Übung mit dem eigenen Leben bzw. ihrem Arbeitsbereich in Verbindung
zu bringen. Voraussetzungen dafür sind Sicherheit und Vertrauen innerhalb der
Gruppe und zu Ihnen als Leiter_innen. Ein Leitspruch, der sich in meiner Praxis
bewährt hat, ist: Erst das Ziel, dann die Methode. Machen Sie sich klar, was Sie
erreichen wollen, und wählen Sie dann passende, auch alternative Methoden bzw.
Übungen (Plan B) für die Erreichung des Ziels aus. In diesem Sinne möchten wir
Sie hier animieren, die eine oder andere Übung auszuprobieren, sie für Ihre Be-
dingungen anzupassen und daraus neue zu entwickeln.
Die einzelnen Übungen werden nach derselben Struktur vorgestellt. Neben der
grundlegenden Beschreibung finden Sie auch Empfehlungen basierend auf den
Erfahrungen, die sich in der Praxis ergeben haben. Darüber hinaus beinhalten

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5_27, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
358 Klaus Steinkemper

die Bildungsbausteine jeweils thematisch passende weiterführende Links oder


Literaturhinweise1.
Berlin, im Mai 2014
Klaus Steinkemper

Anregungen aus der Praxis für die Praxis


Weiterführende Literatur und Links
Eine ausführliche Literaturliste hat der pro familia Landesverband NRW zusam-
mengestellt (Stand Oktober 2013). Er kann hier heruntergeladen werden: http://
www.profamilia.de/fileadmin/landesverband/lv_nordrhein-westfalen/nrw-sexu-
alpaedagogik/Literatur_Homosexualitaet__Stand_10-2013_.pdf

Zusätzlich empfehle ich Ihnen folgende Materialien:

Bpb Bundeszentrale für politische Bildung (2011) Entscheidung im Unterricht – Coming-Out


im Klassenzimmer. Unterrichtsmaterialien für die Haupt- und Berufsschule
Pohl F (2008) K.L.A.R Literaturkartei: „Bist du schwul, oder was?“. Verlag an der Ruhr,
Mühlheim a. d. Ruhr
Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Ber-
lin (ZtG) (2011) Was ist eigentlich NORMAL?! Normalität befragen – am Beispiel der
Erfahrungen von Kindern aus Regenbogenfamilien. https://www.gender.hu-berlin.de/
rainbowchildren. Zugegriffen: 16.05.2014 (auch schon für Grundschule geeignet)

Weitere Links (siehe hierzu auch Hinweise im Text):


www.queerformat.de
http://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/sexuelle_vielfalt.html
www.bksl.de
http://www.berlin.de/lb/ads/gglw/isv/index.html

1 Auf alle hier angegebenen Links und Internetangaben wurde im Mai 2014 zugegriffen.
Dies wird aus Gründen der Lesbarkeit nicht mehr explizit bei den einzelnen Verweisen
im Text angegeben.
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 359

X Handreichung „Queere Themen in Unterricht und Schule –


8 Fragen und Antworten“
1. Welches Ziel, welches Anliegen hat die Übung?
Die Berliner Bildungsinitiative Queerformat bietet Beratungen und Fortbildungen
zu Themen rund um sexuelle und geschlechtliche Vielfalt und Diversity. Lehrkräfte
werden darin unterstützt, in ihrem Unterricht und in der Schule lesbische, schwule,
bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Lebensweisen sichtbarer zu machen. Dass
dies wichtig ist, zeigt eine aktuelle Berliner Studie2, die belegt, dass die Themati-
sierung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt durch Lehrkräfte einen positiven
Einfluss auf die Einstellungen der Schüler_innen gegenüber LGBTI3 hat. Diese
Handreichung soll es erleichtern, sich mit LGBT im Unterricht auseinanderzusetzen.

2. Inwiefern hat es sich bewährt?


Bei der Vorbereitung auf queere Schul- oder Unterrichtsprojekte sind Lehrkräfte
manchmal mit eigenen Unsicherheiten, Irritationen und Fragen zu LGBTI-Lebens-
weisen konfrontiert. Queerformat hat Fragen, die von Pädagog_innen in ihren
Veranstaltungen immer wieder gestellt werden, in dieser Handreichung (Anhang)
zusammengetragen und beantwortet.

3. Für welche Zielgruppe ist sie geeignet?


Lehrer_innen, die Schul- oder Unterrichtsprojekte zu LGBTI-Lebensweisen planen
oder durchführen.

4. Besonderheiten und worauf bei der Durchführung geachtet


werden sollte
Die Handreichung dient als Grundlage für die Auseinandersetzung mit der eigenen
Haltung bzgl. LGBTI- Themen im Unterricht. Es kann auch als Grundlage für die
Diskussion im Kollegium oder auch als Argumentationshilfe z. B. für Elternabende
verwendet werden.

Verweise und vertiefende Informationen:


Bildungsinitiative Queerformat, Kluckstr. 11, 10785 Berlin, www.queerformat.de, Tel.
030-2153742

2 Klocke U (2012) Akzeptanz sexueller Vielfalt an Berliner Schulen. Eine Befragung zu


Verhalten, Einstellungen und Wissen zu LSBT und deren Einflussvariablen. Senatsver-
waltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, Berlin
3 LGBTI: Abkürzung aus dem Englischen: Lesbian, Gay, Bisexual, Trans*, Intersexual
360 Klaus Steinkemper

Anhang: Handout, entwickelt von QUEERFORMAT

1. Kann ich in meinen Unterricht queere Themen integrieren, ohne


dass jemand Ärger macht?
Berliner Lehrkräfte sind durch die „Allgemeine[n] Hinweise zu den Rahmen-
plänen für Unterricht und Erziehung in der Berliner Schule A V 27: Sexualer-
ziehung“ sowie entsprechende Vorgaben in den jeweiligen Rahmenlehrplänen
sogar verpflichtet, LGBTI Themen in den Unterricht einzubringen. In Berliner
Schulen soll hiernach fächerübergreifend Sexualerziehung in allen Fächern
unterrichtet werden. Gleichgeschlechtliche Lebensweisen und Geschlechterrol-
len sind ein Teil des ganzheitlichen Verständnisses von Sexualität, das diesen
Richtlinien zugrunde liegt.
Darüber hinaus wird im Berliner Schulgesetz der Schutz vor Diskriminierung
aufgrund der sexuellen Identität benannt. Diskriminierendes Verhalten beginnt
nicht erst bei körperlicher oder verbaler Gewalt: Schon das Nicht-Benennen von
sexueller und geschlechtlicher Vielfalt wirkt sich unterschwellig diskriminie-
rend aus, denn die Schüler_innen lernen dadurch, dass LGBTI Lebensweisen
als weniger wertvoll erachtet werden.
Sowohl die A V 27 „Sexualerziehung“ als auch das Schulgesetz sind Grundlagen
Ihres pädagogischen Auftrags und nützen Ihnen somit als Argumentationshilfen
gegenüber Kolleg_innen und Eltern.
2. Ist es notwendig, die LGBTI Themen extra zu benennen?
LGBTI Lebensweisen sind in der Schule immer noch wenig sichtbar. Schü-
ler_innen gehen oft selbstverständlich davon aus, dass alle Mitschüler_innen
oder alle Personen in den Unterrichtsmaterialien heterosexuell seien, solange sie
keine anderen Informationen von sich preisgeben. Im Unterricht können diese
heteronormativen Annahmen exemplarisch hinterfragt werden. Es ist wichtig,
vielfältige Lebensweisen als Querschnittsthema zu begreifen und in die tägliche
Arbeit mit einfließen zu lassen. Dadurch unterstützen Sie alle jungen Menschen
in ihrer Identitätsentwicklung und stärken sie im Umgang mit sozialer Vielfalt.
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 361

3. Werde ich dann von den Schüler_innen und Kolleg_innen selbst


für lesbisch oder schwul gehalten, wenn ich queere Lebensweisen
thematisiere?
Da Lehrkräfte queere Lebensweisen in der Regel selten thematisieren, wird
denjenigen, die das tun, mitunter tatsächlich unterstellt, selbst etwas mit die-
sem Thema zu tun zu haben. Dies sollte aber niemanden abschrecken, denn die
aktive Thematisierung in einem positiven und auf Gleichwertigkeit fußenden
Sinne zielt ja gerade darauf ab, Schule zu einem Ort zu machen, an dem sich
alle Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechts-
identität wohl fühlen können.
Homophobie ist in Schulen noch immer allgegenwärtig. Sie äußert sich,
indem Menschen, die schwul oder lesbisch sind oder dafür gehalten werden,
als ‚anders‘ dargestellt, ausgelacht, beschimpft oder ausgegrenzt werden. Viele
Kinder und Jugendliche zeigen keine Solidarität mit Lesben und Schwulen, um
nicht in den Ruf zu gelangen, selbst lesbisch oder schwul zu sein. Im Gegenteil:
Um die eigene Position nicht zu gefährden, greifen sie manchmal selbst auf Dis-
kriminierungsstrategien zurück und grenzen sich von Lesben und Schwulen ab.
Als Lehrkraft haben Sie die Möglichkeit, das Schulklima positiv zu beein-
flussen, z. B. indem Sie diese Ab- und Ausgrenzung nicht mitmachen, sondern
sich solidarisch mit LGBTI zeigen. Voraussetzung dafür ist die Reflexion der
eigenen Werte und Normen und der eigenen Vorstellungen von Geschlecht
und Sexualität. Überlegen Sie, welche Einstellungen Sie zu LGBTI haben und
welche Haltung Sie an Jugendliche weiter vermitteln wollen. Wenn sexueller und
geschlechtlicher Vielfalt wertschätzend begegnet wird, dann kann die Unterstel-
lung einer nicht zutreffenden sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität
nicht mehr verletzend wirken.
362 Klaus Steinkemper

4. Wie kann ich in der Klasse eine Offenheit gegenüber LGBTI Themen
erreichen?
Persönliche Begegnungen mit offen lebenden lesbischen, schwulen, bisexuellen,
trans- und intergeschlechtlichen Personen können sehr wertvoll für alle Schü-
ler_innen und das Klima in der Klasse und der Schule sein. Ermöglichen Sie
den Kontakt und laden Sie Bildungsträger für Workshops ein. Organisationen,
die Sie ansprechen können, finden sie z. B. hier: www.bksl.de.
Themen sexueller und geschlechtlicher Vielfalt werden häufig auf den Aspekt
von Sexualität reduziert. Dabei geht es doch um eine komplexe Darstellung
und Sichtbarmachung von vielfältigen Lebensweisen. Es bieten sich somit auch
Verknüpfungen mit weiteren Themen an, wie z. B. mit Menschen- und Kin-
derrechten, geschichtlichen und aktuellen Geschehnissen zu Verfolgung und
Diskriminierung, historischen Verdiensten von LGBTI Personen und queerer
Emanzipationsgeschichte.
5. Wie reagiere ich, wenn die Schüler_innen mit blöden Sprüchen und
Bemerkungen anfangen?
Tabuisierte Themen in der Klasse zu behandeln, wird sehr wahrscheinlich dazu
führen, dass negative Bemerkungen fallen. Wichtig ist, hier entschieden gegen
die Verknüpfung von sexuellen Orientierungen oder Geschlechtsidentitäten mit
etwas Negativem einzugreifen. So ist z. B. unter Jugendlichen die Gleichsetzung
des Wortes ‚schwul‘ mit ‚doof‘ weit verbreitet und erfolgt oft reflexartig. Sie
wirkt jedoch unabhängig von der zugrunde liegenden Intention negativ auf
alle LGBTI Jugendlichen sowie auch auf alle anderen, die diese Verknüpfung
hören und verinnerlichen.
In der Regel ist eine sofortige Reaktion auf negative Ausdrucksweisen am wir-
kungsvollsten. Es ist hilfreich, wenn Sie die Diskriminierung klar benennen und
damit eindeutige Botschaften an die Schüler_innen senden. Sie können z. B. Ihre
Ablehnung erklären, Ihr Unverständnis äußern oder interessiert nachfragen
und so eine Diskussion fördern. Manchmal kann es helfen, im Gespräch einen
persönlichen Bezug zu anderen, Ihnen selbst oder den Schüler_innen bekannten
Menschen herzustellen. Weitere Möglichkeiten finden Sie in der Broschüre:
„Schwule Sau!“, „Du Transe!“, „Kampflesbe“- Was tun bei Beschimpfungen
und diskriminierenden Äußerungen?“ der Bildungsinitiative Queerformat
(http://www.queerformat.de/fileadmin/user_upload/news/130419_In-
foblaetter_03.pdf).
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 363

6. Sind „lesbisch“ und „schwul“ Schimpfwörter?


„Lesbisch“ und „schwul“ sind inzwischen positive Bezeichnungen für die
jeweiligen Lebensweisen. Beide Begriffe wurden ursprünglich als negative
Fremdbezeichnungen verwendet, um gleichgeschlechtlich orientierte Men-
schen abzuwerten. Erst im Zuge lesbisch-schwuler Emanzipationsbewegungen
wurden diese Worte als positive Selbstbezeichnungen angenommen, um ihnen
die diskriminierende Schärfe zu nehmen. Gleichzeitig werden sie gerade unter
Jugendlichen noch immer oft abwertend als Schimpfwort benutzt, indem z. B.
„schwul“ als Synonym für ein herabsetzendes Wort benutzt wird. Gerade des-
halb hat es eine positive Signalwirkung, wenn Sie als Pädagog_in die Worte
lesbisch und schwul ganz selbstverständlich als Beschreibungen im Kontext
von gleichgeschlechtlicher Liebe verwenden. Auch die Wörter bisexuell, trans-
geschlechtlich, transsexuell, intergeschlechtlich, intersexuell und heterosexuell
sind korrekte Bezeichnungen, die verwendet werden können.
7. Was soll ich darauf antworten, wenn Jugendliche mich fragen, was
Lesben und Schwule eigentlich im Bett machen?
Es ist wichtig, den Jugendlichen als Pädagog_in Offenheit zu signalisieren, und
Sexualität nicht zu tabuisieren. Respektieren Sie aber dabei Ihre eigenen und
die Grenzen der Schüler_innen. Hinter der Frage nach dem Sex bei Lesben
und Schwulen verbirgt sich oftmals nicht nur Unwissenheit, sondern auch eine
Reduzierung von nicht-heterosexuellen Lebensformen auf Sexualität. So lohnt
es sich unter Umständen konstruktiv verunsichernd zurückzufragen, was denn
eigentlich Heterosexuelle im Bett machen.
Die Frage verrät bei den Fragenden sicherlich auch einen gewissen Grad an
Unwissenheit und gibt Auskunft über gesellschaftliche Normvorstellungen von
Sexualität. Als „richtiger Sex“ gilt häufig nur Penetration. Diese Variante ist aber
nur eine von unzähligen Möglichkeiten sexueller Praktiken – und kann darüber
hinaus auf verschiedene Arten, z. B. mit verschiedenen Körperteilen praktiziert
werden. Die individuellen Vorlieben beim Sex sind so unterschiedlich wie die
Menschen selbst – das ist bei Lesben, Bisexuellen und Schwulen nicht anders als
bei Heterosexuellen. Wichtig ist, dass es allen Beteiligten gefällt und niemand
etwas tut, was das eigene Empfinden oder das der anderen Person verletzt.
364 Klaus Steinkemper

8. Wie reagiere ich, wenn ich gefragt werde, wie die Genitalien von
trans- oder intergeschlechtlichen Menschen eigentlich aussehen?
Körper von trans- und intergeschlechtlichen Menschen sind genauso vielfältig
wie alle anderen Körper auch.
Es existieren Vorstellungen davon, wie „richtige Frauen“ und „richtige
Männer“ aussehen sollen. Diese normierten Bilder werden der Vielfalt von
Körpern jedoch nicht gerecht. Menschen haben große, runde, hagere Körper,
mit großen, kleinen oder keinen Brüsten, sind mehr oder weniger behaart etc.
Prinzipiell ist es daher wichtig, im Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen
eine Offenheit für die Verschiedenheit von Körpern und die Vielfalt von Ge-
schlechtern herzustellen.
In der derzeitigen biologischen und medizinischen Forschung werden immer
mehr Faktoren entdeckt, die für die Entwicklung von Geschlechtsmerkmalen
eine Bedeutung haben sollen. Diese Geschlechtsmerkmale lassen sich nicht in
ein Schema von ausschließlich zwei Geschlechtern fassen, vielmehr wird in-
zwischen ein kontinuierlicher Übergang zwischen „männlich“ und „weiblich“
angenommen. Über die biologischen (körperliche) Aspekte hinaus gehören
zum Menschen als geschlechtliches Wesen auch die Aspekte des psychischen
und sozialen Geschlechts. Entscheidende Grundlage für respektvolle zwischen-
menschliche Begegnungen ist, die Selbstdefinition von Personen hinsichtlich ihres
Geschlechts ernst zu nehmen, auch wenn in ihrer Geburtsurkunde aufgrund
biologischer Merkmale etwas anderes eingetragen wurde.
Als transgeschlechtlich bezeichnen sich Personen, für die ihr gelebtes Ge-
schlecht keine zwingende Folge des bei der Geburt zugewiesenen Geschlechts ist.
Manche Menschen verändern ihren Körper durch Operationen oder Hormone,
um ihren Körper ihrer eigenen gefühlten Geschlechtsidentität mehr anzuglei-
chen. Dies kann auch, muss aber nicht die Genitalien betreffen.
Als intergeschlechtlich bezeichnen sich Personen, die mit biologischen
Merkmalen geboren wurden, die nicht eindeutig dem weiblichen oder männ-
lichen Geschlecht zugeordnet werden können. Da das biologische Geschlecht
vielfältig ist und neben der Ebene der äußeren und inneren Organe z. B. noch die
chromosomale und hormonelle Ebene umfasst, kann die Intergeschlechtlichkeit
unsichtbar oder sichtbar sein.
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 365

X„Biografisches Erzählen“ – open space

1. Welches Ziel, welches Anliegen hat die Übung?


Biografisches Erzählen bedeutet: Menschen berichten über ihre tatsächlichen
Erfahrungen und Erlebnisse als Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und Queers.
Diese Methode wird regelmäßig in Workshops von SchLAu eingesetzt. SchLAu
steht für Schwul Lesbisch Bi Trans* Aufklärung und ist das länderübergreifende
Netzwerk von derzeit 35 lokalen Aufklärungsgruppen aus Nordrhein-Westfalen,
Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Hessen und Schleswig-Holstein. Die Gruppen
besuchen ehrenamtlich Schulen, Jugendzentren und andere Bildungseinrichtungen
in ihrer Stadt oder ihrem Landkreis.

2. Inwiefern hat es sich bewährt?


Das Biographische Erzählen ist die zentrale Methode in der Aufklärungsarbeit von
SchLAu Projekten. Im Zentrum aller SchLAu Workshops steht die direkte Begeg-
nung zwischen Jugendlichen und Aufklärer_innen. Es geht darum, nicht mehr über
Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und Queers (im Folgenden LGBT*Q) zu reden,
sondern mit ihnen. Je nach Teamzusammensetzung kann so autobiografisch über
lesbische, schwule, bisexuelle und trans* Lebensweisen und Wirklichkeiten erzählt
werden. Dies ist auch in den Qualitätsstandards der SchLAu Aufklärungsprojekte
verankert. Sehr häufig bekommen die Aufklärer_innen ein positives Feedback von
den Teilnehmer_innen. Insbesondere die Offenheit und Ernsthaftigkeit, mit der
die Aufklärer_innen die gestellten Fragen beantwortet haben, wird hervorgehoben.
Viele Jugendliche sind erstaunt, wie wenige ihrer Vorurteile stimmen. Auch freuen
sie sich darüber, offen über die Themen Liebe, Sexualität, sexuelle Orientierungen,
Lebensentwürfe und Geschlechtsidentitäten zu sprechen.

3. Für welche Zielgruppe ist sie geeignet?


Jugendliche ab 12 Jahren, in Schule oder Jugendarbeit, auch in der Erwachsenen-
bildung leicht modifiziert einsetzbar.

4. Wie wird die Übung durchgeführt?


Die Teilnehmer_innen schreiben Fragen an die Aufklärer_innen anonym auf
Moderationskarten. So gelingt es, dass alle Teilnehmer_innen ihre Fragen stellen
können und nicht nur wenige selbstbewusste Wortführer_innen. Beispiele für
tatsächlich gestellte Fragen: Wie haben eure Angehörigen auf euer Coming-Out
reagiert? Wie fühlt es sich an trans* zu sein? Wie/wann seid ihr dazu gekommen,
homosexuell oder trans* zu sein? Wart ihr schon mal hetero?
366 Klaus Steinkemper

Die Fragen werden anschließend von den Aufklärer_innen unter Rückgriff auf
die eigene LGBT*Q Biografie und eigene Erfahrungen beantwortet. Die Aufklä-
rer_innen müssen also bereit sein, Teile ihrer persönlichen Biografie preiszugeben
und wissen, wo ihre Grenzen liegen. Dazu gehört z. B. auch, dass nur respektvoll
gestellte Fragen beantwortet werden. Den Teilnehmer_innen muss bewusst sein,
dass die Aufklärer_innen LGBT*Q Personen sind und dass sie bereit sind, von ih-
ren persönlichen Erfahrungen zu berichten. Die dafür notwendige Offenheit sollte
sowohl explizit geäußert werden, als sich auch in der Haltung der Aufklärer_innen
widerspiegeln. Es gibt Themenblöcke, die seit vierzehn Jahren SchLAu-Aufklärungs-
praxis in fast jedem Workshop angesprochen werden: Bewusstwerden der eigenen
sexuellen Orientierung und/oder Geschlechtsidentität, Coming Out und Reaktionen
darauf von Familie und Freund_innen, Diskriminierungserfahrungen, Beziehun-
gen und Partnerschaft, Gründe für Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit.
In den letzten Jahren rücken auch die Themen Regenbogenfamilien sowie Trans*
und Inter* ins Interesse der Jugendlichen. Zentral für die Durchführung ist die
Darstellung von Homo- und Bisexualität als Lebensweisen, die der häufig von der
Gesellschaft vorgenommenen Reduktion auf Sexualität entgegentritt.

5. Welche wichtigen Punkte gibt es für die Auswertung?


Vorurteile basieren auch auf Unkenntnis. Deshalb ist es Ziel der Methode, eine
Begegnung zu ermöglichen und lebensnahe Eindrücke von LGBT*Q zu ver-
mitteln. Dabei ist wichtig, dass durch die autobiographischen Erzählungen
der Aufklärer_innen nicht einfach alte Vorurteile über LGBT*Q durch neue
ersetzt werden, sondern dass die Aufklärer_innen auf die Vielfältigkeit von
LGBT*Q Lebensweisen und Erfahrungen hinweisen. Der Abbau von Vorurtei-
len wirkt ganz direkt auch als Gewaltprävention und stärkt die Zivilcourage.
Weiteres Ziel der Methode ist es, die sexuelle und geschlechtliche Selbstbestim-
mung der Teilnehmer_innen zu stärken. Durch Begriffsklärungen bekommen die
Jugendlichen oft zum ersten Mal einen begrifflichen Rahmen für ihre eigene sexuelle
Identität. Die wertschätzende Betonung der Vielfalt möglicher Lebensentwürfe
schafft Akzeptanz für die eigene wie für andere Identitäten und sensibilisiert für
einen respektvollen Umgang.

6. Besonderheiten und worauf bei der Durchführung geachtet


werden sollte
Zeitlicher Umfang mind. 30 Min., je nach Interesse und Fragen der Teilnehmer_in-
nen kommt es vor, dass die Methode deutlich länger dauert.
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 367

Verweise und vertiefende Informationen:


Grundlage der Arbeit ist der speziell für SchLAu-Workshops konzipierte Metho-
denkoffer „SchLAue Kiste“. Dieser setzt inhaltlich auf eine handlungsorientierte
Auswahl geschlechtergerechter und antidiskriminierungspädagogischer Methoden,
die den Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, Gender, homo- und
transphobem Mobbing sowie Mehrfachzugehörigkeiten methodisch erfahrbar
und sichtbar machen. Alle SchLAu-Gruppen arbeiten nach einheitlichen Quali-
tätsstandards.
Diese Methode wurde von SchLAu Bielefeld zur Verfügung gestellt. SchLAu
Bielefeld ist Mitglied im Landesnetzwerk SchLAu NRW.

www.schlau.schwur.net / www.schlau-nrw.de
www.bksl.de (Hier finden sich alle Aufklärungsprojekte deutschlandweit)

X„Çigdem ist lesbisch. Vera auch! Sie gehören zu uns.


Jederzeit!“
1. Welches Ziel, welches Anliegen hat die Übung?
Das Plakat „Çigdem ist lesbisch. Vera auch! Sie gehören zu uns. Jederzeit!“ 4 bietet
eine gute Gelegenheit, lesbische Lebensweisen zu thematisieren, gerade auch bei
Schüler_innen mit Migrationshintergrund. Die Teilnehmer_innen sollen sich mit
dem Thema lesbische/ gleichgeschlechtliche Lebensweisen auseinandersetzen sowie
Informationen und Fakten zum Thema sammeln.

2. Inwiefern hat es sich bewährt?


Das Plakat ist vielseitig verwendbar. Sie können das Plakat und das Begleitmaterial
in verschiedenen Fächern (Deutsch, Sozialkunde, Philosophie, ggf. Biologie, Sport,
Kunst) einsetzen sowie im fächerübergreifenden Unterricht oder bei Projekttagen.
Es kann in vielfältige Themen eingebunden werden, z. B.:

t Gleichgeschlechtliche Lebensweisen, Vorurteile gegenüber Lesben


t verschiedene Lebensentwürfe von Frauen
t Coming-out
t sexuelle Selbstbestimmung (vs. Heterosexualität als Norm, Zwangsheirat)

4 Das Plakat und auch andere Varianten/ Motive finden Sie im Online-Tool: http://www.
berlin.de/imperia/md/content/lb_ads/gglw/veroeffentlichungen/infopaket_unterrichts-
material.pdf?start&ts=1182436492&file=infopaket_unterrichtsmaterial.pdf
368 Klaus Steinkemper

t Homosexualität und Religion (Christentum, Islam, Judentum)


t Diskriminierung von Menschen auf Grund verschiedener Merkmale (Geschlecht,
Alter, ethnische Herkunft, Religion, sexuelle Identität), Gleichberechtigung
t Zusammenleben in der Schule und der Gesellschaft, Mobbing

An der Vielfalt der thematischen Bezüge sehen Sie, dass es bei der Behandlung
lesbischer Lebensweisen im Unterricht vielleicht gar nicht oder nur am Rande um
Fragen der Sexualerziehung gehen wird. Da in der Sexualerziehung generell die Ko-
operation von Elternhaus und Schule besonders wichtig ist, könnte es auch sinnvoll
sein, auf einem Elternabend über das Thema zu sprechen. Im Übrigen empfiehlt
auch der Landeselternausschuss, das Plakat und das Begleitmaterial einzusetzen.

3. Für welche Zielgruppe ist sie geeignet?


Jugendliche ab 14 Jahren

4. Wie wird die Übung durchgeführt?


Schritt 1 – Diskussion zum Plakat
Zeigen Sie das Plakat und diskutieren Sie mit der Gruppe anhand folgender Leit-
fragen:

a. Beschreibe einmal genau, was auf dem Plakat zu sehen ist.


b. Kannst du erkennen, wer Çigdem und Vera sind? Falls ja, warum? Falls nein,
warum nicht?
c. Falls das Plakat eine Botschaft verkündet, wie könnte diese lauten?
d. Warum haben die Produzent_innen des Plakats dieses Plakat gemacht und was
wollen sie damit erreichen?
e. Wie denkst du über dieses Plakat bzw. diese Plakate?

Anschließend erarbeiten die Schüler_innen in einer Partner_innenarbeit, welche


Fragen sie selbst Çigdem und Vera stellen würden. Diese werden durch die ein-
zelnen Paare vorgestellt. Die Fragen können auf Karteikarten geschrieben und an
der Tafel gesammelt werden. Danach folgt eine Diskussion, ggf. eine Klärung der
Fragen, falls möglich.
Im Verlauf einer Diskussion, die durch die Leitfragen angestoßen wird, werden
gewiss eine Reihe von Aspekten angesprochen, die in den Hinweisen zum Infor-
mationspaket (siehe Online-Tool) sowie in den häufig gestellten Fragen genannt
werden. Hinzu kommt noch das Thema der Gestaltung und Motivation des Plakats.
Es dürfte weitgehend Konsens darüber bestehen, dass eben nicht erkennbar ist, wer
Çigdem und Vera sind (ein guter Anknüpfungspunkt für Fragen zu Vorurteilen
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 369

über das Aussehen von Lesben). Es ist sicher ergiebig, mit den Schüler_innen
herauszuarbeiten, warum es für die Botschaft des Plakats auch kontraproduktiv
wäre, könnte man die beiden eindeutig identifizieren. Bei einem Austausch über
die Motivation der Plakatmacher_innen können wiederum mögliche Vorurteile
im Gespräch erörtert werden – wie z. B. dass es doch gar keine lesbischen Musli-
ma gibt oder dass das Thema für Jugendliche irrelevant sei. Auch voreilige oder
unreflektierte Meinungen tragen dazu bei, den Austausch über die verschiedenen
Themen des Plakats zu initiieren.

Schritt 2 – Fragebogen (siehe unten)


Der Fragebogen wird ausgeteilt und in Einzel- oder Paararbeit von den Teilneh-
mer_innen bearbeitet. Bei der Einleitung ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass
auch viele Erwachsene nicht alle Fragen beantworten können und im Anschluss
offene Fragen erläutert werden. Wenn alle mit der Beantwortung der Fragen fertig
sind, werden gemeinsam die Lösungen und Hintergrundinformationen erklärt.
Der Schüle_innenarbeitsbogen soll einen spielerischen Abschluss der Beschäf-
tigung mit dem Plakat ermöglichen. Einige Fragen auf dem Arbeitsbogen sind ein-
fache Wissensfragen, andere hingegen sollen die Schüler_innen zum Nachdenken
und vielleicht auch zum Schmunzeln anregen. Das Lösungswort des Fragebogens
ist: „Çigdem gehört dazu!“ Hinweise zu den Fragen finden Sie im Online-Tool. Bitte
informieren Sie sich vorher über die richtigen Antworten!
Außerdem fügen Sie auf der Rückseite Adressen lokaler und überregionaler
Informationsprojekte usw. zum Thema LGBTI Lebensweisen ein. Wichtig ist, dass
unbedingt beide Seiten (der Fragebogen und die Adressen) an alle Schüler_innen
verteilt werden, damit jede_r die Möglichkeit bekommt, sich zu informieren, ohne
das im Klassenverband laut kundtun zu müssen.

5. Welche wichtigen Punkte gibt es für die Auswertung?


Bei der Arbeit mit dem Plakat wird es nötig sein, sich mit verschiedenen Vorur-
teilen von Schüler_innen gegenüber Lesben (und Schwulen), möglicherweise auch
gegenüber Migrant_innen auseinanderzusetzen. Es ist sicherlich angebracht, ihnen
mit rationalen Argumenten und Fakten zu begegnen. Allerdings reicht eine solche
Widerlegung durch vernünftige Argumente meistens nicht, um Personen, die ein
Vorurteil haben, davon zu überzeugen, dass ihre Ansichten falsch oder zumindest
sehr verallgemeinernd sind. Daher ist ein handlungs- und erfahrungsorientierter
Unterricht vorteilhaft, um bei Schüler_innen eine nachhaltig differenzierte Ein-
stellung zum Thema „Umgang mit Vielfalt“ zu ermöglichen. Durch Rollenspiele,
aber auch Gespräche untereinander, können Jugendliche zu einer neuen bzw.
anderen Perspektive gelangen. Sich in andere Menschen und ihre Lebenssituation
370 Klaus Steinkemper

hineinzuversetzen („Wie würde ich mich fühlen, wenn mich andere ausgrenzen
für etwas, für das ich nichts kann?“), kann mehr bei Jugendlichen bewirken als
pauschale Appelle an ihre Einsicht und ihr Verhalten.

6. Besonderheiten und worauf bei der Durchführung geachtet


werden sollte
Wenn Sie den Fragebogen in der Klasse einsetzen und auf dessen Rückseite die
Adressen von Beratungsstellen abgedruckt sind, wissen alle, die sich angesprochen
fühlen, wo sie ggf. Unterstützung und Gleichgesinnte finden. Recherchieren Sie
dazu im Vorfeld oder nehmen Sie Kontakt zu lokalen Beratungsstellen auf.

Verweise und weiterführende Informationen:


Die Beschreibung der Übung basiert auf dem Material zur Plakataktion bzw. dem
Infopaket „Çiğdem ist lesbisch. Vera auch! Sie gehören zu uns. Jederzeit!“ der Se-
natsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin (2005). Siehe: http://www.
berlin.de/imperia/md/content/lb_ads/gglw/veroeffentlichungen/infopaket_unter-
richtsmaterial.pdf?start&ts=1182436492&file=infopaket_unterrichtsmaterial.pdf
Ausführliche Hinweise, häufig gestellte Fragen und weitere methodische Varian-
ten, z. B. mit Rollenspielen, finden sich in der Online-Fassung: Die Methode wurde
in gekürzter Fassung als „Hurra, es ist eine Lesbe!“ im Buch „Sexualpädagogik der
Vielfalt“5 dargestellt.

5 Truider E, Müller M, Timmermanns S, Bruns-Bachmann P, Koppermann C (Hrsg)


(2012) Sexualpädagogik der Vielfalt. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 371

Das Plakat und auch andere Varianten/Motive finden Sie im o. g. Online-Tool.


372 Klaus Steinkemper

Anhang

Ein kleiner Fragebogen zu Çiğdem & Vera … nicht immer ganz


ernst gemeint
(Die jeweils richtigen Lösungsbuchstaben ergeben einen Satz.)

1. Was heißt CSD?


A Christliche Solidaritätsdemo B Cineasten suchen Demoskopen
C Christopher Street Day D Charismatische Schwulendemo

2. Welche der folgenden Großstädte hatte keinen schwulen Bürgermeister?


A Berlin E Hamburg
F Paris I New York

3. Welche der folgenden Frauen ist nicht lesbisch?


D Hella von Sinnen (Comedy-Künstlerin) H Jil Sander (Modeschöpferin)
E Ulrike Folkerts (Tatortkommissarin) G Steffi Graf (Tennisspielerin)

4. Bis wann war Homosexualität zwischen Männern in der Bundesrepublik


Deutschland verboten?
A 1949 C 1989
B 1955 D 1969

5. Wie heißt der englische Begriff dafür, wenn jemand sich anderen
gegenüber als lesbisch oder schwul zu erkennen gibt?
E Coming out G Coming by
F Coming off H Going away

6. Wie heißt die „Homo-Ehe“ offiziell?


K Homosexuellenpartnerschaft M eingetragene Lebenspartnerschaft
L Ehe light N warme Ehe

7. Welches Symbol hängt an vielen Lesbenkneipen?


AF eine Lindenbaumfahne HU eine weiße Fahne
GE eine Regenbogenfahne KO eine gelbe Fahne
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 373

8. Klaus Wowereit, der Regierende Bürgermeister von Berlin, beendete


eine Rede vor seiner Wahl 2001 mit dem Satz: „Ich bin schwul,…“.
Wie ging der Satz weiter?
MÄ ich kann ja auch nix dafür BÖ das macht ja nix
HÖ und das ist auch gut so DÜ das geht keinen was an

9. Frauen sind lesbisch, weil…


RT sie Frauen begehren KU sie keinen abbekommen haben
LT sie Männer doof finden DT das jetzt modern ist

10. Es gibt viele Begriffe dafür, wenn Frauen Frauen lieben. Welcher der
folgenden Begriffe bezeichnet etwas grundlegend anderes?
AT lesbisch sein CH Homosexualität
BE gleichgeschlechtlich lieben DA Transsexualität

11. Wie groß wird von Wissenschaftler_innen der Anteil der


Homosexuellen in der Bevölkerung angegeben?
W unter 1% Y 50%
X 2-3 % Z 5-10%

12. Wie nennt man eigentlich die Menschen, die das andere Geschlecht
lieben?
A metrosexuell I peripher
E monogam U heterosexuell

Lösungssatz:__________________________________________
(Der Lösungssatz lautet: „Çiğdem gehört dazu“)
374 Klaus Steinkemper

X „Früh Gelernt“
1. Welches Ziel, welches Anliegen hat die Übung?
Diese Übung eröffnet den Teilnehmer_innen die Möglichkeit, einen biografischen
und emotionalen Zugang zum Thema LGBT*I Lebensweisen zu finden. Sie reflektie-
ren über die unterschiedlichen gesellschaftlichen Normierungen und Bewertungen
von nicht-heterosexuellen Lebensweisen.

2. Inwiefern hat es sich bewährt?


Die Übung „Früh gelernt“ ist Teil des Moduls „Sexuelle Vielfalt als Thema in der
JuleiCa-Ausbildung“6. Sie kann aber unabhängig davon mit Jugendlichen und jungen
Erwachsenen durchgeführt werden. Ziel des Moduls ist die Information und Sensi-
bilisierung für die Situation von schwulen, lesbischen, bi und trans* Jugendlichen.
Vermeintliche Kleinigkeiten in der alltäglichen Sprache können entscheidend
sein, wenn es darum geht, in der Jugendgruppe eine Atmosphäre zu schaffen, in
der Jugendliche sich akzeptiert fühlen – akzeptiert, wie sie sind und sein wollen in
der Lebenshase der ersten geschlechtlichen Orientierung, auch und gerade wenn
sie für sich eine nicht-heterosexuelle Identität finden und erproben.

3. Für welche Zielgruppe ist sie geeignet?


Jugendliche und (junge) Erwachsene

4. Wie wird die Übung durchgeführt?


Teilen Sie den Teilnehmer_innen mit, dass diese Übung uns ermöglicht, Botschaften
über lesbische, schwule und bisexuelle Menschen in den Blick zu nehmen, die wir
schon sehr früh (als Kinder und Jugendliche) vermittelt bekamen. Erläutern Sie kurz,
dass die Übung erst in Einzelarbeit stattfindet und anschließend in 3er-Gruppen
fortgeführt wird. Lesen Sie den Teilnehmer_innen die Fragen des Arbeitsblatts
„Früh gelernt“ nacheinander vor (nicht alle auf einmal!) und bitten Sie sie, sich
zu jeder Frage Notizen zu machen. Dann bitten Sie alle, sich die eigenen Notizen
noch einmal anzuschauen und eine Auswahl zu treffen über die Inhalte, die sie
auch in die Kleingruppendiskussion einbringen möchten. Anschließend werden
die Teilnehmer_innen gebeten, sich in 3er-Gruppen ca. 25 Minuten über die Fragen
und die damit verbundenen biografischen Erfahrungen auszutauschen.

6 Ausbildung zur ehrenamtlichen Jugendleiter_in: siehe bspw.: www.juleica.de


Anregungen aus der Praxis für die Praxis 375

5. Welche wichtigen Punkte gibt es für die Auswertung?


In der abschließenden ca. 10-15 Min. Plenumsdiskussion können Sie den Teilneh-
mer_innen noch einmal die Gelegenheit geben, markante Diskussionsinhalte aus
den Kleingruppengesprächen zu veröffentlichen, um die Übung abzurunden. Es
geht nicht darum, die Gespräche der Kleingruppen zu wiederholen.

6. Besonderheiten und worauf bei der Durchführung geachtet


werden sollte
Dauer: 60 Minuten (20 min. Einzelarbeit, 25 min. Kleingruppenarbeit, 15 min.
Plenumsdiskussion). Ab 6 Teilnehmer_innen. Material: Vorbereitetes Arbeitsblatt
mit Fragen, Stifte, Papier.
Die Übung kann in verschiedenen Zusammenhängen eingesetzt werden und
eignet sich auch für die Arbeit mit Erwachsenen.

Verweise und weiterführende Informationen:


Die Methode „Früh gelernt“ wurde der Handreichung „Ergänzungslieferung
zum Praxishandbuch JuleiCa-Ausbildung in Berlin – Sexuelle Vielfalt als Thema
in der JuleiCa-Ausbildung“ entnommen. Das Fortbildungsmodul für das JuleiCa
Praxishandbuch wurde von QUEERFORMAT erstellt und ist ein Kooperations-
produkt von der Bildungsinitiative QUEERFORMAT, dem Sozialpädagogischen
Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg und dem Landesjugendring Berlin e. V.
Die gesamte Handreichung mit Darstellung des gesamten Moduls kann hier he-
runtergeladen werden:

http://www.queerformat.de/fileadmin/user_upload/news/Juleica-Modul_Sexuelle_Vielfalt.pdf
Bildungsinitiative Queerformat, Kluckstr. 11, 10785 Berlin, www.queerformat.de, Tel.
030-2153742

Anhang: Fragebogen

1. Wann habe ich zum ersten Mal wahrgenommen, dass es eine andere sexuelle
Orientierung gibt als die heterosexuelle? (5 Min.)
376 Klaus Steinkemper

2. Woran erinnere ich mich: Was habe ich über lesbische / schwule und bisexuelle
Menschen gelernt? Von wem und/oder aus welcher Quelle? (5 Min.)

3. Wie habe ich gelernt, dass von mir erwartet wird, heterosexuell zu sein? (5 Min.)

4. Gab es in meiner Kindheit oder Jugend Menschen, die lesbisch, schwul oder
bisexuell lebten? An was erinnere ich mich in Bezug auf diese Menschen? (5 Min.)

Quelle Fragebogen: Adapted from: Adams M, Bell LA, P Griffin (2007) Teaching For Diver-
sity And Social Justice. New York/ London (2nd Edition), S. 202f. Fragebogen übersetzt und
adaptiert von: KomBi – Kommunikation und Bildung; www.kombi-berlin.de

X„Gemeinsamkeiten und Unterschiede“

1. Welches Ziel, welches Anliegen hat die Übung?


Die Übung verfolgt folgende Ziele: Vorurteile aufdecken, auf eine Diskussion über
Geschlechterrollen und sexuelle Orientierungen vorbereiten.

2. Inwiefern hat es sich bewährt?


Bei dieser Übung geht es um Vorurteile gegenüber „Anderen“. Sie bietet sich zur
Vorbereitung an, wenn mit Jugendlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede
zwischen verschiedenen Lebensweisen thematisiert werden sollen.

3. Für welche Zielgruppe ist sie geeignet?


Jugendliche in Schule, Jugendarbeit oder andere Kontexte
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 377

4. Wie wird die Übung durchgeführt?


An eine Flipchart oder Pinnwand/ Whiteboard werden vier Spalten gezeichnet.
Die Spalten erhalten die Überschriften „heterosexuelle Frauen“/ „heterosexuelle
Männer“/ „lesbische Frauen“ /„schwule Männer“. Der Reihe nach wird ein Umschlag
gezogen und die Aussage (s. u.), die darin viermal vorhanden ist, wird vorgelesen.
Die Person ordnet die Aussage einer oder mehreren oder keiner Spalte zu und
begründet die Entscheidung.

5. Welche wichtigen Punkte gibt es für die Auswertung?


Die Auswertung sollte während des Zuordnungsprozesses erfolgen. Wenn viele
Aussagen allen vier Spalten zugeordnet werden, sollte die Frage aufkommen, warum
dann überhaut Unterschiede gemacht werden. Andernfalls sollte darüber gespro-
chen werden, warum bestimmte Eigenschaften/ Bilder bestimmten Geschlechtern/
sexuellen Orientierungen zugeordnet werden. Fragen können zum Beispiel sein:
Welche Erfahrungen hast du? Kennt jemand entgegengesetzte Beispiele? Wo hast
du das schon einmal gehört?
Die meisten Menschen werden zu Heterosexuellen erzogen, weil Eltern und
Umfeld davon ausgehen, dass das die Norm ist. Manche Menschen stellen in ihrer
Jugend fest, dass sie nicht zu dieser Norm gehören (wollen) und haben ein sog.
„Coming Out“, andere erst viel später im Leben, unter Umständen nach einer Ehe
und/oder, wenn sie schon Kinder haben. Weisen Sie im Verlauf der Übung darauf
hin, dass die sexuelle Orientierung eines Menschen nichts Statisches ist und dass
sie sich auch mehrmals im Leben ändern kann.

6. Besonderheiten und worauf bei der Durchführung geachtet


werden sollte
Zeit: ca. 30 Minuten. Ab 6 Teilnehmer_innen ab 14 Jahren. Material: jeweils vier
gleiche Kärtchen mit derselben Aussage in einem Umschlag, eine Pinnwand oder
Flipchart/ Whiteboard, Klebeband/ Pins/ Magnete.
Achten Sie darauf dass lebensweltliche Bezüge hergestellt werden. Nicht alle
Lesben, Schwule oder Trans* sind weiß, deutsch und christlich sozialisiert. Zeigen
Sie gesellschaftliche Verschiedenheit auf, indem Sie Bilder, Argumente oder positive
Umgangsweisen aus den Kontexten benutzen, die den Jugendlichen unter Umstän-
den vertrauter sind als Ihnen selbst. Es sollte vermieden werden, Homosexualität
als „deutsches“ und Homophobie als „migrantisches“ Phänomen erscheinen zu
lassen. Es ist nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, dass in Ihrer Klasse, Ju-
gendgruppe etc. homosexuelle Jugendliche und auch in Ihrem Kollegium LGBT*I
Kolleg_innen dabei sind. Das heißt, dass Sie damit rechnen müssen, von einer
Realität innerhalb der Gruppe zu sprechen. Achten Sie darauf, dass Sie durch Ihre
378 Klaus Steinkemper

Formulierungen nicht Anwesende als „Ausnahme von der Regel“ darstellen und
damit eine scheinbare Normalität herstellen. Sie könnten die einzige Person sein,
die als Vertrauensperson in Frage kommt!

Verweise und weiterführende Informationen:


Diese Methode wurde von GLADT e. V. im Projekt „HeJ – Handreichungen für
emanzipatorische Jungenarbeit“ als Handreichung „Homosexualität und Homo-
phobie – eine Handreichung für die Arbeit (nicht nur) mit Jungen“ veröffentlicht.
Sie kann frei eingesetzt, weiterentwickelt und weiterempfohlen werden. Download:
http://hej.gladt.de/archiv/2010-04-06%20HR%202%20-%20Homosexualitaet%20
und%20Homophobie.pdf

GLADT e. V., Kluckstr. 11, 10785 Berlin. www.gladt.de / info@gladt.de, Tel. 030-26556633

Anhang: Vorschläge für Aussagen


… können gut kochen … benutzen oft Schimpf- … haben meistens AIDS
wörter

… können gute Eltern sein … können treu sein … tratschen zu viel

… haben keine Ahnung von … denken immer und … sind nicht zufrieden mit
Technik überall an Sex dem eigenen Körper

… sind sensibler als andere … achten nur auf das … sind unsportlich
Äußere
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 379

X „Pronomenrunde“
1. Welches Ziel, welches Anliegen hat die Übung?
Die Übung sensibilisiert für das Anliegen, davon auszugehen, dass es mehr als nur
die zwei Geschlechter Mann/ Frau gibt und die Geschlechtsidentität eines Menschen
von der wahrgenommenen oder in Ausweisdokumenten ausgewiesenen abweichen
kann. Daher gilt es, keine Vorannahmen zu treffen. Die Respektierung der Geschlecht-
sidentität durch korrekte Anrede im gefühlten Geschlecht ist ein Menschenrecht.

2. Inwiefern hat es sich bewährt?


Bisher hat sich die Übung in allen Kontexten bewährt. Selbst wenn das Thema Ge-
schlechtsidentität nicht im Mittelpunkt steht, schafft die Pronomen-Runde Trans*/
Inter*-Offenheit. Anfängliche Irritationen und geringe Widerstände lassen sich fast
immer durch das eigene Beispiel und die Angabe der Gründe, warum die Vorstel-
lungsrunde auf diese Weise vorgenommen wird, überwinden. Das Bewusstmachen
von Geschlechtsidentitäten jenseits des Zweigeschlechtersystems gelingt jedoch ohne
explizite Auswertung der Übung nur in Runden, in denen sich ebensolche identi-
fizierte (trans*/ inter*/ genderqueere/ non-gender) Personen befinden. Als Einstieg
ist sie insbesondere bei Trans*/ Inter*/ Gender & Diversity Trainings und allen
Veranstaltungen zur sexuellen und geschlechtlichen Identität ein guter „eye opener“,
der direkt ins Thema führt und das Praktische mit dem Inhaltlichen verbindet.

3. Für welche Zielgruppe ist sie geeignet?


Jugendliche ab 16 Jahren und (junge) Erwachsene

4. Wie wird die Übung durchgeführt?


Die Pronomen-Runde wird eingesetzt bei der Vorstellung/ Begrüßung in Gruppen:
jede_r wird aufgefordert neben seinem_ihrem Namen und anderen kontextrele-
vanten Informationen auch das gewünschte Pronomen/ die gewünschte Anrede zu
nennen. Personalpronomina bzw. Anreden können geschlechtlich eindeutig sein
(„er“/ „sie“), nicht vergeschlechtlicht („ich“/ „du“) oder als bewusste Neologismen
Identitäten zwischen den Geschlechtern oder über die Kategorie Geschlecht hinaus
zum Ausdruck bringen (z. B. „per“). Mit der Methode wird geschlechtliche Vielfalt
thematisiert und bewusst gemacht, dass sich vom äußeren Erscheinungsbild nicht
automatisch auf die empfundene Geschlechtsidentität schließen lässt.

5. Welche wichtigen Punkte gibt es für die Auswertung?


Wichtig ist, mit eigenem Beispiel voran zu gehen: z. B. „Mein Name ist Helma, bitte
verwendet sie“; „Ich heiße Fronck und habe kein bevorzugtes Pronomen – Ihr könnt
380 Klaus Steinkemper

Euch für er oder sie entscheiden, beide Pronomina mischen oder darauf verzichten“;
„Ich heiße Maria und möchte als er angesprochen werden;“ oder „Mein Name ist
Gab und mir wäre es recht, wenn ihr Pronomina nach Möglichkeit vermeidet und
lieber meinen Namen oder du verwendet.“

Geeignete Auswertungsfragen:
t War es das erste Mal, dass Du mit der Frage nach dem Wunschpronomen
konfrontiert wurdest?
t Fiel es Dir schwer, Dich für ein Pronomen zu entscheiden?
t Warum denkst Du, ist die Pronomen-Frage wichtig?

Geeignete weiterführende Fragen in der anschließenden Diskussion:


t Was hat das in Dir ausgelöst, über Dein Wunsch-Pronomen nachzudenken und
Dich frei entscheiden zu können/ müssen?
t Konntest Du Dich eindeutig entscheiden oder hättest Du gerne mehrere/ andere
Pronomina zur Verfügung?
t Hat sich Dein Wunsch-Pronomen ggf. in der Vergangenheit schon mal verän-
dert für Dich?
t Könnte es sich in Zukunft für Dich verändern?
t Ist es Dir schon mal (öfter) passiert, dass Du nicht mit dem gewünschten Pro-
nomen angeredet wurdest?
t Warum ist das Deiner Meinung nach passiert?
t Wie reagierst Du, wenn Du nicht mit dem gewünschten Pronomen angeredet
wurdest – was löst das in Dir aus?

6. Besonderheiten und worauf bei der Durchführung geachtet


werden sollte
Materialaufwand: keiner
Zeitaufwand: übliche Vorstellungsrunden plus ca. zusätzliche 30 Sekunden pro
Teilnehmende_m_r und 2-5 Minuten zur Einführung der Methode. Für Auswer-
tung entsprechend der Anzahl der Teilnehmer_innen genug Zeit lassen, damit
sich alle äußern können.
Teilnehmer_innen-Anzahl: unbeschränkt
Die Übung verbindet die Vorstellungsrunde und Namensnennung mit einem bei-
läufigen Sensibilisierungsprozess, weil so deutlich wird, dass nicht automatisch von
Namen und vom Aussehen auf die Geschlechtsidentität und gewünschte Anrede
geschlossen werden kann. Der Einsatz der Pronomen-Runde signalisiert Trans*/
Inter*-Offenheit und sensibilisiert für zwischengeschlechtliche oder nicht-ge-
schlechtliche Identitäten.
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 381

Die Übung wird in Kontexten, in denen es nicht primär um das Thema Ge-
schlechtsidentität geht, in der Regel nicht diskutiert. Sie kann natürlich diskutiert
werden. Dabei ist darauf zu achten, dass Cis-Menschen (also Menschen, die sich
mit der Geschlechtsidentität ihres bei Geburt zugewiesenen Geschlechtes identi-
fizieren) ggf. zum ersten Mal in ihrem Leben mit Fragen konfrontiert werden, die
stark an emotional besetzte Identitätsfragen gekoppelt sind. Entsprechend sind
in der Diskussion Irritationen, Emotionen, Widerständen Raum zu geben, die
gründlich aufgearbeitet werden müssen.

Verweise und weiterführende Informationen:


Die Übung Pronomen-Runde wurde in der Praxis bei TransInterQueer e. V. entwi-
ckelt (www.transinterqueer.org). Sie wird seit Vereinsgründung 2006 standardmäßig
bei allen Vorstellungs- und Begrüßungsrunden eingesetzt. In der vorliegenden
Version wurde sie von Arn Sauer (arn.sauer@transinterqueer.org) strukturiert
aufgeschrieben und für den professionellen Trainingskontext adaptiert. Sie eignet
sich auch und gerade für den Einsatz bei Cis-Menschen.

X„Geschlechterwerkstatt“

1. Welches Ziel, welches Anliegen hat die Übung?


Ziel der Methode „Geschlechterwerkstatt“ ist zu verdeutlichen, warum und wie die
Zugehörigkeit zum sozialen Geschlecht (gender, s. u.) konstruiert wird. Grundlegend
ist die Überzeugung, dass das biologische Geschlecht (sex), mit dem ein Mensch
geboren wurde, durch eine dazu gehörige Geschlechterrolle (soziales Geschlecht,
gender) ausgekleidet wird. Dieses Auskleiden ist ein sozialer Vorgang und erfolgt
durch Sozialisationsinstanzen wie Eltern, Kindergarten, Schule, Medien usw.
Die Methode hat das Ziel, das scheinbar Selbstverständliche zu hinterfragen und
Zwischenräume, Varianten und Alternativen zu herkömmlichen Geschlechtszu-
gehörigkeiten – wie Mann oder Frau – zu eröffnen.

2. Inwiefern hat es sich bewährt?


Die Übung wurde mehrfach in Trainingskontexten durchgeführt, in denen es um
die Thematik Transgeschlechtlichkeit ging. Durch diese Übung entwickeln die
Teilnehmer_innen Empathie und eine Vorstellung davon, was es bedeutet, den
Prozess der Geschlechtsangleichung anzugehen, mit all den Fragen und Begrün-
dungszwängen in den Begutachtungen, insbesondere der Frage, wie sie sich sicher
sein können, dem anderen Geschlecht anzugehören. Die Übung kann jedoch auch
382 Klaus Steinkemper

dazu dienen, die Diskussion über sex und gender (biologisches und soziales Ge-
schlecht) anzuregen. Inwiefern sind gender-Rollen konstruiert? Wie sinnvoll sind
bestimmte Geschlechterkonstruktionen und wem nützen sie?

3. Für welche Zielgruppe ist sie geeignet?


Erwachsene, z. B. Verwaltungsmitarbeitende, Mitarbeitende in Krankenkassen
oder Mitarbeitende von Beratungsstellen, ärztliche und psychologische Psycho-
therapeut_innen usw.

4. Wie wird die Übung durchgeführt?


Zuerst teilen Sie die Gruppe in mehrere Kleingruppen mit 3-4 Personen ein oder
überlassen Sie die Einteilung der Gruppe. Wichtig sind kleine Gruppen für eine
vertrauliche und intime Atmosphäre. Anschließend geben Sie den Zeitrahmen von
ca. 10-15 Minuten vor. Stellen Sie den Gruppen folgende Aufgabe: „Beschreibe den
anderen in deiner Kleingruppe dein Geschlecht, ohne dabei körperliche Merkmale
zu nutzen.“ Erläutern Sie anhand von Beispielen, was also nicht geht: „Ich bin eine
Frau, weil ich Kinder bekommen kann“ oder „Ich bin ein Mann, weil ich eine tiefe
Stimme habe“. All dies sind körperliche Merkmale, Fähigkeiten oder Gegebenheiten.
Nach der vereinbarten Zeit bitten Sie die Kleingruppen um eine Rückmeldung
darüber, was ihnen eingefallen ist. Fassen Sie die Aussagen zusammen. Hier kommen
oft Aussagekategorien wie „Klischees“, „Abgrenzungen zum anderen Geschlecht“
oder „absurde, nicht lösbare Übung“. Manchmal steigen die Teilnehmer_innen in
biographische Erzählungen ein, mit teilweise auch schmerzhaften Erinnerungen
(„…weil ich so erzogen wurde…“). Gehen Sie behutsam auf die Teilnehmer_innen
ein, gewähren Sie Schutz und unterstützen Sie die Äußerungen auf geeignete Weise.

5. Welche wichtigen Punkte gibt es für die Auswertung?


In der Auswertung sollten Sie erfragen, mit welchen Strategien die Teilnehmer_innen
die Übung durchgeführt haben. Sprechen Sie dabei unbedingt an, inwiefern es nötig
war, Stereotype und Rollenklischees zu benutzen. Hinterfragen Sie, inwiefern es
überhaupt Sinn macht, die Welt in zwei Geschlechter mit den jeweils „typischen“
Merkmalen einzuteilen.
Wenn Sie die Thematik Transgeschlechtlichkeit behandeln, ist diese Übung
wertvoll, um den Teilnehmer_innen zu verdeutlichen, vor welcher Aufgabe trans-
geschlechtliche Menschen in Gutachtensituationen stehen, wenn sie den begut-
achtenden Personen deutlich machen sollen, dass sie auf jeden Fall dem „ande-
ren“ Geschlecht angehören, obwohl ihr Körper eine andere Sprache spricht. Von
ähnlichen Erfahrungen berichten Menschen nach ihren ersten Begegnungen mit
Trans*Menschen. Die Übung verdeutlicht die Verwirrung, die Trans* auslösen
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 383

können bzw. dass diese Verwirrung dann gern (als Abwehr) auf die Trans*Men-
schen übertragen wird („nicht ich bin verwirrt, sondern mit meiner_m Gegenüber
stimmt was nicht…“).
Weisen Sie darauf hin, dass transgeschlechtliche Menschen oft nicht darauf ver-
zichten können, zunächst auf Klischees zurückzugreifen, wenn sie anfangen, sich in
ihrer Geschlechtsidentität zu bewegen. Das Finden einer persönlich angemessenen
Ausdrucksweise und Darstellung der Geschlechterdarstellung ist ein Prozess, in
dem transgeschlechtliche Menschen unterstützt werden sollten.

6. Besonderheiten und worauf bei der Durchführung geachtet


werden sollte
Anschlussmöglichkeit: Aufstellung im Geschlechterkontinuum
Fügen Sie der Übung eine Aufstellung an, wenn Sie noch etwas Zeit haben (mind.
20 Minuten zusätzlich). Markieren Sie im Raum eine Skala (z. B. mit Klebeband)
und kennzeichnen Sie die Enden der Skala mit „100 % männlich“ bzw. „100 %
weiblich“ oder den Geschlechtersymbolen. Bitten Sie die Teilnehmer_innen darum,
sich in ihrer momentanen Verfassung auf der Skala zu platzieren. Verdeutlichen
Sie, dass die Geschlechtszugehörigkeit nicht bipolar-statisch (d. h. entweder Mann
oder Frau und das bleibt immer so) ist, sondern ein veränderbarer Punkt in einem
Kontinuum (d. h. im Laufe des Lebens sind Veränderungen möglich und zwischen
100 % Mann und 100 % Frau gibt es Zwischenstufen). Dies sollten Sie vorher schon
thematisiert und erläutert haben. Bitten Sie die Teilnehmer_innen um ein Statem-
ent, indem sie den Satz fortsetzen: „Ich stehe hier, und das ist auch gut so, weil…“
Eine weitere Möglichkeit besteht darin, die Teilnehmer_innen einzuladen sich zu
überlegen, in welchem Abstand zum Klebeband sie stehen wollen, je nachdem, wie
wichtig das Geschlecht bzw. die Thematik gerade ist (nah dran= wichtig, weiter
weg = nicht so wichtig).

Anschließend werten Sie die Aufstellungsübung aus. Mögliche Fragen:


t Wie hast du dich auf deiner Position gefühlt?
t Wie hast du dich in Bezug auf die anderen Teilnehmer_innen gesehen?
t Was hat dich überrascht?
t Hat sich die Positionierung im Laufe deines Lebens schon verändert?
t Wie erlebst du das Geschlechtskontinuum bei dir und anderen in deinem Alltag?

Dauer der Übung: Geschlechterwerkstatt 45-60 Minuten, je nach Intensität der


Auswertung und Größe der Gruppe auch länger. Geschlechterkontinuum: weitere
20-30 Minuten
384 Klaus Steinkemper

Die Übung sollte eingebettet sein in die Thematik Transgeschlechtlichkeit. Sie


sollte nicht als erste Übung der Thematik eingesetzt werden. Die Durchführenden/
Leiter_innen der Übung sollten unbedingt ihre eigene geschlechtliche Identität
reflektiert haben und dies thematisieren können.

Verweise und weiterführende Informationen:


Die Übungen „Geschlechterwerkstatt“ und „Geschlechterkontinuum“ wurden
von den Trainer_innen Mari Günther und Klaus Steinkemper zur Verfügung ge-
stellt. Sie wird u. a. im Rahmen der LADS7 Akademie eingesetzt. Kontakt: info@
mari-guenther.de bzw. info@klaus-steinkemper.com
Die LADS Akademie bietet im Rahmen der „Initiative Selbstbestimmung und
Akzeptanz sexueller Vielfalt“ u. a. zweitägige Diversity Trainings mit dem Schwer-
punkt auf „Sexuelle Identität“ für Akteur_innen aus der Berliner Verwaltung
und Zivilgesellschaft an. Mehr Infos mit zahlreichen Hinweisen, Downloads und
Empfehlungen unter: http://www.berlin.de/lb/ads/gglw/isv/index.html

X „Zum ersten Mal verliebt“


1. Welches Ziel, welches Anliegen hat die Übung?
Diese Übung sensibilisiert die Teilnehmer_innen für die familiäre und gesell-
schaftliche Unterstützung von heterosexuellen Partnerschaften und die mangelnde
Unterstützung und die aus ihr resultierende Unsichtbarkeit von lesbischen und
schwulen Partnerschaften.

2. Inwiefern hat es sich bewährt?


Die Übung „Zum ersten Mal verliebt“ ist Teil des Moduls „Sexuelle Vielfalt als
Thema in der JuleiCa-Ausbildung“. Ziel des Moduls ist die Information und Sen-
sibilisierung der ehrenamtlichen Jugendgruppenleiter_innen für die Situation von
schwulen, lesbischen, bi und trans* Jugendlichen im Jugendverband, in der Schule,
in allen Bereichen der Gesellschaft.
Vermeintliche Kleinigkeiten in der alltäglichen Sprache können entscheidend
sein, wenn es darum geht, in der Jugendgruppe eine Atmosphäre zu schaffen, in
der Jugendliche sich akzeptiert fühlen – akzeptiert, wie sie sind und sein wollen in

7 LADS: Landesstelle für Gleichbehandlung gegen Diskriminierung (Berlin), Senatsver-


waltung für Arbeit, Integration und Frauen
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 385

der Lebensphase der ersten geschlechtlichen Orientierung, auch und gerade wenn
sie möglicherweise für sich eine nicht-heterosexuelle Identität finden und erproben.

3. Für welche Zielgruppe ist sie geeignet?


Jugendliche und (junge) Erwachsene

4. Wie wird die Übung durchgeführt?


Teilen Sie den Teilnehmer_innen mit, dass diese Übung ermöglicht, einige der
Botschaften in den Blick zu nehmen, die unsere Umwelt uns vermittelt, und zu
sehen, wie diese Botschaften unsere Liebesbeziehungen unterstützen oder nicht
unterstützen.
Bitten Sie die Teilnehmer_innen zunächst, eine Tabelle mit zwei Spalten („J“
und „N“) zu zeichnen. Sollten die Teilnehmer_innen schon älter als 16 Jahre sein,
bitten Sie sie, sich gedanklich in die Zeit zurückzuversetzen, als sie 16 Jahre alt
waren. Dafür können möglichst konkrete Anknüpfungsimpulse hilfreich sein,
wie z. B. „Erinnere dich ganz konkret an deine Lebensumstände, wo und mit wem
hast du gewohnt, wie sah dein Zimmer aus, mit wem bist du zur Schule gegangen,
wer waren deine besten Freund_innen, welche Hobbies und Interessen hattest du
damals, welche Musik, Bücher und Filme haben dir gefallen.“
Danach bitten Sie die Teilnehmer_innen sich vorzustellen, sie hätten sich vor
drei Monaten zum ersten Mal ernsthaft verliebt und führten nun eine glückliche
Liebesbeziehung mit einer anderen Person, die exemplarisch in der Übung den
Namen Alex erhält. Diese Vorstellung geschieht weiterhin aus der Perspektive, 16
Jahre alt zu sein.
Teilen Sie die Teilnehmer_innen nun in zwei gleichgroße Gruppen. Bitten Sie
die erste Gruppe, sich vorzustellen, Alex hätte dasselbe Geschlecht wie sie selbst
(d. h. sie wären in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft). Die zweite Gruppe
stellt sich vor, Alex hätte ein anderes Geschlecht (d. h. sie wären in einer verschie-
dengeschlechtlichen Partnerschaft). Achtung: Vermeiden Sie bei der Einführung in
die Übung die Verwendung der Begriffe „heterosexuell“, „lesbisch“ oder „schwul“,
denn es soll hier zunächst ganz konkret um die Liebe zwischen zwei Menschen
gehen, ohne dieser Liebe bereits ein Label zu geben.
Erklären Sie, dass Sie nun eine Reihe von Fragen stellen werden: Wenn eine Frage
mit „ja“ beantwortet werden kann, notieren die Teilnehmer_innen ein Kreuz in der
„J“-Spalte. Kann eine Frage nicht eindeutig mit „ja“ beantwortet werden, kommt
das Kreuz in die „N“-Spalte (für „nein“ oder „nicht genau wissen“ bzw. „neutral“).
Lesen Sie nun die Fragen vor (siehe Anhang). Am Schluss zählen alle Teilneh-
mer_innen ihre Kreuze in den jeweiligen Spalten zusammen. Dann bitten Sie alle
Teilnehmer_innen aufzustehen. Wer alle 20 Fragen mit „Ja“ beantwortet hat, darf
386 Klaus Steinkemper

sich setzen. Es wird weiter der Reihe nach in absteigender Folge nach den Ja-Stim-
men gefragt. Wer die Anzahl der auf der eigenen Karte notierten Ja-Stimmen hört,
darf sich setzen.
Bitten Sie die Teilnehmer_innen nach der Übung, sich zunächst paarweise 5-10
Minuten über ihre Ergebnisse und ihre Erfahrungen während der Übung auszu-
tauschen. Die Paare sollten dabei gruppenübergreifend zusammengesetzt sein.

5. Besonderheiten und worauf bei der Durchführung geachtet werden


sollte
Dauer: 20-30 Minuten. Ab 8 Teilnehmer_innen. Material: Vorbereitete Fragen,
Stifte, Papier
Im großen Plenum können Sie den Teilnehmer_innen abschließend noch mal
Gelegenheit geben, markante Diskussionsinhalte aus den Paargesprächen zu
veröffentlichen oder Fragen an die Leitung zu stellen, um die Übung abzurunden.

Verweise und weiterführende Informationen:


Die Übung „Zum ersten Mal verliebt“ wurde der Handreichung „Ergänzungslie-
ferung zum Praxishandbuch JuleiCa-Ausbildung in Berlin – Sexuelle Vielfalt als
Thema in der JuleiCa-Ausbildung“ entnommen. Das Fortbildungsmodul für das
JuleiCa Praxishandbuch wurde von QUEERFORMAT erstellt und ist ein Koope-
rationsprodukt von der Bildungsinitiative QUEERFORMAT, dem Sozialpädagogi-
schen Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg und dem Landesjugendring Berlin
e. V. Die gesamte Handreichung mit Darstellung des gesamten Moduls kann hier
downgeloadet werden:

http://www.queerformat.de/fileadmin/user_upload/news/Juleica-Modul_Sexuelle_Vielfalt.pdf
Bildungsinitiative Queerformat, Kluckstr. 11,10785 Berlin, www.queerformat.de, Tel. 030-
2153742

Anhang: Fragebogen zur Übung: „Zum ersten Mal verliebt“

1. Kannst du mit deinen Eltern oder mit nahen Verwandten über deine Beziehung
mit Alex sprechen?

2. Kannst du Alex zu dir nach Hause einladen?


Anregungen aus der Praxis für die Praxis 387

3. Kannst du Alex zu Familienfesten wie Geburtstagen, Hochzeiten oder Silves-


terparties mitbringen?

4. Ist es für deine Familie in Ordnung, wenn du ihren Freund_innen Alex als deine
Partnerin bzw. deinen Partner vorstellst?

5. Werden Bekannte, die über deine Beziehung Bescheid wissen, dich zum Baby-
sitten engagieren?

6. Denkst du, dass deine Freund_innen deine neue Beziehung akzeptieren?

7. Würdest du mit Alex zu deiner Schulabschlussfeier oder Party im Jugendclub


gehen?

8. Kannst du deinen Freund_innen erzählen, was du am Wochenende gemacht


hast und mit wem?

9. Kannst du händchenhaltend mit Alex über den Schulhof gehen?

10. Wird über Deine Form der Liebe im Unterricht gesprochen?

11. Kannst du mit deinem besten Freund bzw. deiner besten Freundin im Zug über
deine Liebesbeziehung mit Alex sprechen?

12. Wenn ihr mit einer Gruppe von Freund_innen ausgeht: Hast du das Gefühl,
du kannst Alex umarmen und küssen?

13. Kannst du darauf vertrauen, wegen deiner sexuellen Orientierung von anderen
nicht dumm angemacht oder körperlich verletzt zu werden?

14. Kannst du mit dem_der Leiter_in deiner Jugendgruppe in deinem Jugendclub


oder deiner Gemeinde sprechen, wenn du mal Probleme in deiner Beziehung hast?

15. Zeigen Liebesszenen im Fernsehen oder Kino üblicherweise Beziehungen wie


eure?

16. Wie sieht es mit den Liedtexten deiner Lieblingsmusik aus – geht es in ihnen
um deine Form der Liebe?
388 Klaus Steinkemper

17. Weißt du von Lehrer_innen, Trainer_innen, Jugendleiter_innen oder Freund_in-


nen deiner Eltern, die die gleiche sexuelle Orientierung haben wie du?

18. Kennst du Gleichaltrige, die die gleiche sexuelle Orientierung haben wie du?

19. Kennst du 10 Prominente, die die gleiche sexuelle Orientierung haben wie du?
Denke an die Musikwelt, Popstars, an Sport, Politik und Persönlichkeiten aus dem
Fernsehen.

20. Kannst du später mit Alex eine Ehe schließen, falls ihr das möchtet?

XRollenspiel zur Thematik „Pflege und soziale Betreuung


von älteren gleichgeschlechtlich liebenden Menschen“
1. Welches Ziel, welches Anliegen hat die Übung?
Ziel ist insgesamt das Wahrnehmen von LSBT-Lebenswelten und deren Bedeutung
für die soziale Arbeit und Pflege durch Wissensvermittlung sowie die Sensibilisie-
rung für Biografien von Menschen mit anderen Lebensentwürfen. Insbesondere
gelten die Zielsetzungen:

t Perspektivenwechsel
t Erweiterung der Lösungsvielfalt
t Ausprobieren von sozialen Verhalten und Artikulationen
t Irritationen der eigenen Gewohnheiten
t Selbst-/ Fremdreflexion

2. Inwiefern hat es sich bewährt?


Für das Thema Pflege und soziale Betreuung von älteren gleichgeschlechtlich
liebenden Menschen (Lesben, Schwulen, Bisexuellen) und Transgender hat sich
die Form eines Ein-Tagesseminars oder Module als Inhouse-Veranstaltungen als
praxistauglich sinnvoll erwiesen. Da ältere LSBT meist für die Teilnehmer_innen
in ihrem Berufsalltag nicht wahrnehmbar sind, erhalten sie über Filmbeiträge,
Diskussion über Abbildungen sowie Einzelfalldarstellungen einen konkreten
Zugang zu deren Lebenssituationen.
Parallel dazu eignet sich der Einsatz des angeleiteten Rollenspiels. Eine problemhaft
vermutete oder erlebte Situation kann durch das rollenhafte Einnehmen und/ oder
Reflektieren verschiedener Sichtweisen zu adäquaten Lösungsstrategien führen. Die
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 389

Übernahme einer (neuen/ anderen) Rolle führt oft zur Erweiterung der Perspektiven-
vielfalt für alle Teilnehmer_innen. Beispiel: Ausprobieren einer geschlechtersensiblen
Sprache in Anamnesesituationen. Oder: Ausprobieren bzw. Suchen nach Lösungs-/
Handlungsstrategien bei vermuteten Problemen der direkten Pflege.
Nicht nur die Protagonist_innen, sondern alle Teilnehmer_innen sind durch
Rollenübernahmen, sowie evtl. durch aktive Beobachtungsrollen involviert. Die
Reflexionen der Beteiligten über ihre erlebten bzw. beobachteten Rollen werden
aktiv genutzt.
Angeleitete Rollenspiele werden insbesondere gut angenommen, wenn ent-
weder eine konkrete problemhaft vermutete oder erlebte Situation als Erfahrung
von Teilnehmer_innen beigetragen wird, eine vertrauensvolle Atmosphäre in der
Gruppe besteht oder es sich um Menschen (z. B. Schüler_innen und Student_innen)
handelt, die mit dieser Methode eher vertraut sind.
Als Hemmnis gegenüber Rollenspielen wird bei einigen Teilnehmer_innen ein
Druck wahrgenommen, einer vermeintlichen sozialen Erwartung zu entsprechen
bzw. evtl. nicht zu entsprechen (sozialer und/ oder professioneller Statuserhalt),
insbesondere da es sich häufig um die Auseinandersetzung mit Stereotypen und
Tabuthemen wie andere Lebensentwürfe, Sexualität, Homo-/ Bi- und/ oder Trans-
sexualität, aber auch Sexismus, Rassismus u. ä. handelt.

3. Für welche Zielgruppe ist sie geeignet?


Pflegekräfte, Sozialarbeiter_innen, Sozialpädagog_innen, Mediziner_innen, Haus-
wirtschaftskräfte, Verwaltungsangestellte, Senior_innenberater_innen, un- und
angelernte Kräfte sowie Schüler_innen und Student_innen im Sozial-, Gesund-
heits- und Pflegebereich.

4. Wie wird die Übung durchgeführt?


Entwickeln Sie eine beispielhafte Situation, die im Rollenspiel nachempfunden wer-
den soll. Sie können auch anhand von Praxisbeispielen der Teilnehmer_innen ein
Rollenspiel entwickeln. Folgende Fragen können Ihnen dabei Orientierung geben:
Wer ist beteiligt (d. h. welche Rollen können gespielt werden)? Wie ist die Situation?
Was geschieht? Welches Problem, welcher Konflikt taucht auf? Was soll geschehen?
Bitten Sie die Teilnehmer_innen, sich für eine Rolle zu entscheiden. Erläutern
Sie die Aufgabe, die im Rollenspiel umgesetzt werden soll, z. B. „Wie reagieren Sie?“
oder „Welche Möglichkeiten ergeben sich jetzt?“ oder „Wie könnte die Diskussion
im Team verlaufen?“ usw. Diejenigen, die keine Rolle einnehmen, werden beobach-
ten und ihre Beobachtungen bei der Auswertung der gespielten Szene einbringen.
Geben Sie den Beteiligten ca. 10 Minuten Zeit, um sich in die Rolle einzufinden und
das Szenario zu entwickeln. Dann bitten Sie die Spielenden, ab jetzt in der Rolle zu
390 Klaus Steinkemper

agieren. Die Beteiligten entwickeln nun im Spiel eine Szene, die erfahrungsgemäß
eine eigene Dynamik aufnimmt. Die Szenen dauern meistens nur ein paar Minuten.
Warten Sie das Ende der Szene ab und gehen Sie dann in die Auswertung.

Mögliche Szenarien/Themen für Rollenspiele:


t Ein neuer Anamnesebogen wird getestet, der auch nach der (früheren) Lebens-
situation der Bewohner_innen bzw. Patient_innen abfragt. Im Team regt sich
Widerstand. Wie könnte die Diskussion verlaufen?
t Ein Patient will sich nicht von den Altenpfleger_innen waschen lassen und reagiert
auf ihre Pflegeversuche aggressiv. Er wolle nur einen Mann. Wie reagieren Sie?
t Eine Patientin mit Demenz ohne weitere Angehörige ruft ständig nach ihrer
Frau. Wie reagieren Sie?

5. Welche wichtigen Punkte gibt es für die Auswertung?


Werten Sie zuerst die gerade erlebte Szene aus. Befragen Sie dazu die Beteiligten
in ihren Rollen, d. h. sie sind im Moment noch nicht wieder sie selbst, sondern
versuchen, die Frage aus der Rolle heraus zu beantworten.

Beispielhafte Auswertungsfragen:
t Wie hast du die Situation in deiner Rolle erlebt?
t Wie hast du dich in deiner Rolle gefühlt?
t Wie hast du die anderen Beteiligten in deiner Rolle wahrgenommen?
t Welche Art von Unterstützung hättest du dir gewünscht? Von wem?
t An die Beobachtenden: Was ist euch beim Betrachten des Rollenspieles auf-
gefallen?

Schließen Sie nun noch Fragen an, die es ermöglichen, das Erlebte in den Alltag zu
übertragen. Ziel des Rollenspiels ist ja, alternative Sichtweisen und Lösungswege
für Probleme zu entwickeln. Geben Sie den Teilnehmer_innen Zeit und Raum, die
Bedeutung des Rollenspiels zu reflektieren.

Vorschläge für Transferfragen:


t Welche Aspekte im Rollenspiel waren neu für dich?
t Wie lassen sich die Erfahrungen aus dem Rollenspiel in den Alltag übertragen?
t Welche alternativen Lösungen möchtest du in der Zukunft ausprobieren?
t Was wurde bei der Bearbeitung der Fragestellung bzw. Problemformulierung
als hilfreich empfunden?
t Was wird nächste Woche für dich durch das Rollenspiel anders sein?
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 391

6. Besonderheiten und worauf bei der Durchführung geachtet werden


sollte
Achten Sie darauf, dass die Rollenspielenden ihre Rolle wieder ablegen, bevor sie in
die Diskussion zum Transfer in den Alltag gehen. Erinnern Sie sie daran, dass sie
„nur“ in einer Rolle agiert haben, die entsprechende Gefühle, Gedanken und Fragen
ausgelöst hat. Nun können sie aber wieder sie selbst sein und die Rolle abschütteln.
Je nach Themeninhalt ist beim angeleiteten Rollenspiel ein Zeitaufwand von
mind. 30-60 Minuten einzuplanen, damit sich hilfreiche alternative Lösungsansätze
entwickeln können. Teilnehmer_innen-anzahl von 8 bis 15.
Voraussetzungen für das angeleitete Rollenspiel sind die grundsätzliche Bereit-
schaft sich auf die Methode einzulassen, ein vertrauensvoller und respektvoller
Umgang aller Teilnehmer_innen sowie die Rückversicherung, dass alle die Me-
thode verstanden haben. Es eignen sich sowohl vorbereitete Rollenspiele als auch
Rollenspiele, die aus konkreten Situationen/ Erlebnissen der Teilnehmer_innen an
Ort und Stelle entwickelt werden.
Bei Schüler_innen der Pflege sollten zuvor die Themenbereiche der Biografie-
arbeit, der Sexualität und das Berufsverständnis (Haltung, Reflexion) bearbeitet
worden sein, um das professionelle Grundverständnis der Pflege für die eigene
Auseinandersetzung mit den LSBT-Lebensweisen nutzen und übertragen zu können.

Verweise und weiterführende Informationen:


Diese Methode wurde zur Verfügung gestellt von Heiko Gerlach – systemischer
Therapeut und Berater (SG), Dipl. Pflegewirt, Altenpfleger – freier Fortbildner
und Konzeptentwickler für die Bereiche: Pflege und soziale Betreuung von älteren
Lesben, Schwule und Bisexuelle, kultursensible Pflege, Menschen mit Demenz,
Sexualität in der Pflege und Pflegeorganisation.
Die Übung ist eingebettet in einen Methodenmix, bestehend aus Lehrgespräch,
Vortrag, Gruppenarbeit, Filmbeiträge, Einzelfalldarstellungen, Kreativarbeit mit
Bildern und Zeichnungen usw.

Kontakt: www.heiko-gerlach.de, Email: info@heiko-gerlach.de

X „Zwischenräume“
1. Welches Ziel, welches Anliegen hat die Übung?
Die Teilnehmer_innen setzen sich mit der Eindeutigkeit und Uneindeutigkeit von
geschlechtlichen und sexuellen Identitäten auseinander. Annahme und Interpre-
392 Klaus Steinkemper

tation von Merkmalen, Signalen und Präsentationen hinsichtlich geschlechtlicher


und sexueller Identitäten werden dabei thematisiert und hinterfragt.

2. Für welche Zielgruppe ist sie geeignet?


Jugendliche ab 14 Jahre und Erwachsene

3. Wie wird die Übung durchgeführt?


Als Vorbereitung kleben Sie auf dem Fußboden mit Klebeband ein gleichseitiges
Kreuz sowie ein Kreis rundherum. An den Enden der einen Linie werden die Karten
mit den Bezeichnungen „Mann“ bzw. „Frau“ und an den Enden der anderen Linie
die Karten mit den Bezeichnungen „heterosexuell“ bzw. „homosexuell“ gelegt.
Danach legt oder hängt die Leitung die Bilder von verschiedenen Personen im
Raum gut sichtbar aus.
1. Schritt: Die Teilnehmer_innen erhalten folgende Aufgabe: „Schaut euch die Bilder
in Ruhe an, Kommentiert sie noch nicht, sondern betrachtet sie nur. Wähle dir dann
ein Bild aus, bei dem du dir sicher bist, dass du einen Mann oder eine Frau siehst
und von dem/ der du sicher sagen kannst, dass sie/ er homo- oder heterosexuell ist.
Nimm dieses Bild an dich (und falls es schon eine andere Person genommen hat,
dann nimm dir kein anderes, sondern merke dir, bei wem dein Bild ist“.
Die Teilnehmer_innen sollen sich nun folgendermaßen zu Kleingruppen mit
3-4 Personen zusammen finden: „Halte dein ausgewähltes Bild sichtbar vor dich.
Gehe nun – ohne zu reden – durch den Raum, und achte dabei darauf, welche
Bilder der anderen Teilnehmer_innen dich ansprechen. Findet euch sodann zu
dritt oder viert zusammen.“
Die Kleingruppen haben 20 Minuten Zeit, um sich gegenseitig ihre Bilder vor-
zustellen und zu begründen, warum sie dieses Bild als eindeutig männlich oder
weiblich sowie als eindeutig homo- oder heterosexuell ausgewählt haben.
Im Plenum werden nun aus den Kleingruppen die Bilder vorgestellt und mit-
hilfe der Leitung auf die passende Stelle der Kreislinie gelegt: „schwuler Mann“,
„heterosexueller Mann“, „lesbische Frau“, „heterosexuelle Frau“.
Stellen Sie nun bei der Zu- und Einordnung der Bilder folgende Fragen:

t Woran habt ihr es festgemacht, dass es sich eindeutig um eine Frau oder einen
Mann handelt?
t Woran habt ihr es festgemacht, dass es sich eindeutig um eine Lesbe oder einen
Schwulen handelt?
t Woran habt ihr es festgemacht, dass es sich eindeutig um eine heterosexuelle
Frau oder um einen heterosexuellen Mann handelt?
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 393

Die Leitung weist darauf hin, wenn die Teilnehmer_innen von sichtbaren Merkmalen
(Kleidung, Schminke, Schmuck, Handgröße oder Kehlkopf etc.) und Körperhaltung
sowie Mimik auf das Vorhandensein unsichtbarer körperlicher Merkmale (Penis,
Vagina, Brüste etc.) schließen und hinterfragt die Folgerichtigkeit der Schlüsse.

2. Schritt: Die Teilnehmer_innen werden erneut aufgefordert, sich die Bilder an-
zusehen. Sie erhalten nun die Aufgabe: „Schaut euch die Bilder nochmals in Ruhe
an. Wähl dir jetzt ein Bild aus, bei dem du dir nicht sicher bist, dass du einen Mann
oder eine Frau siehst und von dem du nicht sagen kannst, dass sie/ er homo- oder
heterosexuell ist. Nimm dir dieses Bild (und falls es schon eine andere Person
genommen hat, dann merke dir, bei wem dein Bild ist).“ Im Plenum werden nun
die ausgewählten Bilder vorgestellt und auf eine passende Stelle im Kreuz gelegt.
Die Leitung stellt beim Auflegen der Bilder folgende Fragen:
t Warum kannst du nicht bestimmen, ob es sich bei der Person um einen „Mann“
oder eine „Frau“ handelt?
t Warum kannst du nicht bestimmen, ob die Person heterosexuell ist?
t Warum kannst du nicht bestimmen, ob die Person homosexuell ist?

Die Leitung weist darauf hin, dass die Geschlechtspräsentation sowie die körperlichen
Merkmale uneindeutig sein können. Diese Uneindeutigkeit verursacht bei vielen
Menschen Verunsicherung. Das muss jedoch nicht heißen, dass alle Menschen in
allen Fällen sich selbst bzw. andere eindeutig zuordnen müssen bzw. wollen. An
dieser Stelle sollte sich eine dichotome Darstellung von Geschlechtsrepräsentati-
onen bzw. Begehrensbeschreibungen hin zu einem Kontinuum mit vielfältigen
Selbstdefinitionen öffnen.

4. Welche wichtigen Punkte gibt es für die Auswertung?


Im Diskussionsprozess ist es wichtig herauszuarbeiten und zuzulassen, dass es un-
terschiedliche Lesarten und Wahrnehmungen von Personen gibt. Abbildungen von
Menschen, deren geschlechtliche Präsentation nicht als eindeutig wahrgenommen
wird oder die den Stereotypen von homo- und heterosexuell nicht entsprechen,
werden und sollen Zuordnungsschwierigkeiten und Irritationen hervorrufen. Diese
Irritationen sind ausdrücklich gewünscht und werden von der Leitung genutzt, um
geschlechtliche und sexuelle Vielfalt zu thematisieren.
Am Ende können noch folgende Fragen im Plenum diskutiert werden:

t Welchen Sinn hat die Einteilung in „Frauen“ und Männer“, „Homosexuelle“


und „Heterosexuelle“?
394 Klaus Steinkemper

t Was würde passieren, wenn wir diese Einteilung nicht hätten und sich immer
mehr Menschen nicht definieren würden?
t Was wäre dann in deinem Leben anders?

5. Besonderheiten und worauf bei der Durchführung geachtet


werden sollte
Zeit: mindestens 45 Minuten. Material: Klebeband, Bildersammlung mit min-
destens 30 Bildern von Einzelpersonen in ähnlicher Größe; Karten mit folgenden
Bezeichnungen: „Frau“, „Mann“, „heterosexuell“, „homosexuell“
Die Bilder sollten möglichst verschiedene geschlechtliche und sexuelle Iden-
titäten, Altersgruppen, „Hautfarben“, körperliche Erscheinungen, Stylings und
Tätigkeiten zeigen, damit auch die Unterschiedlichkeit innerhalb einer Kategorie
deutlich wird. Es sollte nicht zu lange über einzelne Bilder gesprochen werden,
sonst kann die Methode uninteressant werden. Im Arbeits- und Reflexionsprozess
der Übung können auch Funktion und Wirkungsweisen von Stereotypen und
Vorurteilen erläutert werden. Eventuell bietet sich im Anschluss eine Übung zu
Normierungen und Diskriminierung an.
Bei dieser Übung besteht die Herausforderung sowohl für die Leitung als auch
für die Teilnehmer_innen darin, Uneindeutigkeiten sowie nicht zugeordnete Bilder
auszuhalten und verschiedene Sichtweisen und Einordnungen der Bilder zuzulassen.
Denn das, was wir nicht wissen, ersetzen bzw. ergänzen wir meistens automatisch
durch eigene Annahmen, persönliche Rückschlüsse und Erfahrungen.
An dieser Stelle eröffnen sich zwei Varianten des weiteren Umgangs:

Variante 1: Die Leitung gibt die „Wahrheit“ über einzelne Personen nicht preis, sie
kennt deren Selbstdefinition u. U. gar nicht. Die Leitung sollte Uneindeutigkeit als
Alltagsrealität anerkennen und insofern einen Umgang damit vermitteln.

Variante 2: Die Leitung kennt die Selbstdefinition der Personen auf den Bildern
und einige Eckdaten aus ihrem Leben und lässt diese in die Diskussion einfließen.
In dieser Spielvariante werden also die Selbstdefinitionen der Personen auf den
Bildern bekannt gemacht.

Verweise und weiterführende Informationen:


Nach einer Idee von ABqueer e. V., Sanderstr. 15, 12047 Berlin. Tel. 030-92250844

www.abqueer.de / info@abqueer.de
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 395

Diese Methode wurde im Buch „Sexualpädagogik der Vielfalt“8 veröffentlicht und


für diese Publikation überarbeitet.

X„Dein / Ihr Standort“

1. Welches Ziel, welches Anliegen hat die Übung?


Weg von der verbalsprachlichen Analyse erleben die Teilnehmer_innen durch
Aufstellung im Raum, wie sie mit ihren Erfahrungen und Perspektiven im Ver-
hältnis zu den Anderen stehen, welche Spannungen sich daraus ergeben können,
dass „Allianzen“ möglich sind, wie es sich „am Rand“/ „im Zentrum“ anfühlt.

2. Inwiefern hat es sich bewährt?


Die Übung ist hinsichtlich des thematischen Zuschnitts der Fragen sehr flexibel,
und daher leicht auf andere Kontexte übertragbar. Auch der zeitliche Rahmen ist
flexibel, von 20 bis 45 Minuten; die Feedbacks der Teilnehmer_innen sind meistens
sehr gut, da die unterschiedlichen „Standbilder“ oft visuell sehr eindrücklich sind,
und aus ihnen sehr konkrete Schilderungen eigenen Erlebens und/ oder eigener
Einschätzungen entstehen. Den Teilnehmer_innen wird von Vornherein angebo-
ten, auch mit einem Stuhl „wandern“ zu können, um allen eine für sie physisch
angenehme Teilnahme an der Methode zu ermöglichen.

3. Für welche Zielgruppe ist sie geeignet?


Abhängig von der Qualität/ dem thematischen Zuschnitt der Fragen ab ca. 16
Jahren geeignet; die Teilnehmer_innen im Projekt StandUp (siehe unten) waren
bislang v. a. Erwachsene, die als Mitarbeitende bestimmter beruflicher Umfelder
(Journalismus, Verwaltung, Pflege, NGOs) an Fortbildungen zu Diskriminierungs-
feldern/ Empowerment teilgenommen haben. Die Übung wurde auch in angeleiteten
Gruppen (z. B. Coming-Out, Männer mit psychiatrischen Diagnosen) angewendet
und hat sich auch dort bewährt.

4. Wie wird die Übung durchgeführt?


Die Teilnehmer_innen sind eingeladen, sich auf einer gedachten Linie von 1 bis 10
im Raum zu positionieren. Position 1 steht für: „Keine Erfahrung/ Noch nie erlebt/

8 Truider E, Müller M, Timmermanns S, Bruns-Bachmann P, Koppermann C (Hrsg)


(2012) Sexualpädagogik der Vielfalt. Beltz Juventa: Weinheim/ Basel
396 Klaus Steinkemper

Nein“ und Position 10 für: „Viel Erfahrung/ Sehr häufig erlebt/ Ja“, die Positionen
dazwischen sind Abstufungen.
Die Leitung trägt bis zu ca. 5-8 Statements aus dem Themenfeld (z. B.) „Dis-
kriminierung“ vor. Die Statements beziehen sich zunächst auf eigene (erlebte)
Diskriminierungserfahrungen der Teilnehmer_innen, dann auf bezeugte/ ausge-
übte Diskriminierungen der Teilnehmer_innen und anschließend auf Strategien
zur Unterstützung im Diskriminierungsfall. Sie lauten z. B.: „Ich habe schon
(rassistische) Diskriminierung erfahren.“ – „Ich erkenne Diskriminierungen sehr
schnell.“ -– „Beobachte ich eine Diskriminierung, greife ich ein.“ Die Leitung greift
das nach jedem Statement neu entstehende „Standbild“ auf, und stellt Fragen an
die Gruppe oder einzelne Teilnehmende, z. B. „Möchten Sie erzählen, was Sie auf
diese Position gebracht hat?“, „Wie sieht die Gruppe von Ihrer Position aus?“, „Mit
welcher Position würden Sie gern tauschen und warum?“ etc.
Zeitpunkt: Nach dem ersten Kennenlernen, Vorstellungsrunde (und ggf. kurzer
Einführung ins Thema), besonders zu diesem frühen Zeitpunkt geeignet, um
t in Bewegung zu kommen
t sich nicht nur verbalsprachlich/ rational zu beteiligen, sondern physisch
Knackpunkte: Falls schon vor/ während der Durchführung ersichtlich wird, das
einzelne Fragen nur einzelne Teilnehmende auf eine der „extremen“ Positionen
verweisen (ist z. B. nur eine Person Of Color unter den Teilnehmer_innen oder
nur eine geoutete Trans* Frau), ist die Leitung gefragt, die daraus mitunter ent-
stehende Spannung (sowohl für die „Gruppe“ als auch für die „abseits stehende“
Einzelperson) aushaltbar zu machen.

5. Welche wichtigen Punkte gibt es für die Auswertung?


Ein wichtiger Punkt für die Diskussion ist die „Selbstanalyse“ des eigenen Stand-
orts durch die Teilnehmer_innen: Was hat sie dorthin geführt, wie wird der eigene
Standort bewertet/ erlebt, wie werden Standortwechsel bewertet/ erlebt, wie die
Nähe/ der Abstand zur Gruppe/ Einzelnen.
Geeignete Auswertungsfragen können z. B. sein:
t „Was bleibt Ihnen besonders in Erinnerung aus den Standbildern“?
t „An welchen Positionen haben Sie sich besonders wohl/ unwohl gefühlt?“
t „Wie haben Sie Ihre Positionierung in Bezug auf die anderen Teilnehmer_innen
empfunden?“
t „Welche konkreten Situationen aus Ihrem Leben oder Ihren Erfahrungen fallen
Ihnen ein?“
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 397

6. Besonderheiten und worauf bei der Durchführung geachtet werden


sollte
Der Materialaufwand ist minimal, es genügen zwei Zettel an den Außenpositionen 1
und 10 zur räumlichen Markierung bzw. Orientierung, sowie vorbereitete Statements
gemäß der thematischen Ausrichtung der Fortbildung. Die Teilnehmer_innenan-
zahl sollte 10 nicht überschreiten, 7 bis 10 Personen erscheinen besonders geeignet.

Verweise und weiterführende Informationen:


Die Methode wurde zur Verfügung gestellt von Leo Yannick Wild, StandUp,
Antidiskriminierungsprojekt der Schwulenberatung Berlin gGmbH, Beratung
und Unterstützung im Diskriminierungsfall für schwule und bisexuelle Männer,
MSM, trans* Menschen und Menschen mit HIV und Aids. http://www.schwulen-
beratungberlin.de/wir-helfen/diskriminierung/ (für das komplette Angebot der
Schwulenberatung siehe: www.schwulenberatungberlin.de)
V
Anhang
Die Autor_innen

Katharina Bager ist Rechtsreferendarin am Kammergericht Berlin


und wissenschaft liche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für öffentliches
Recht und Geschlechterstudien der Juristischen Fakultät an der
Humboldt Universität zu Berlin. Dort arbeitet sie schwerpunkt-
mäßig zu Rechtspolitik, Rechtserzeugung und Antidiskriminie-
rungsrecht.

Melanie Bittner studierte Erziehungswissenschaft und Gender


Studies. Sie ist freiberufl ich als Beraterin für Gender, Diversity
und Antidiskriminierungskultur tätig. Sie ist Doktorandin am
Institut für Soziologie der Universität Freiburg.

Sara Blumenthal, Jahrgang 1981, studierte Erziehungswissenschaf-


ten an der Freien Universität Berlin und Gender Studies an der La
Trobe University Melbourne, Australien. Nach der Promotion an
der Graduiertenschule Languages of Emotion der FU-Berlin und
einem Aufenthalt als Short-term visiting scholar bei Prof. Elaine
Hatfield an der University of Hawaii, USA, veröffentlicht sie ihre
ethnographische Dissertation über die sozialregulative Funktion
von Scham in der Sexualaufk lärung im Juli 2014 bei VS Springer.
Sie ist seit Januar 2013 Projektkoordinatorin des demokratie-
pädagogischen Schulprojekts RespAct in Berlin.

F. Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher


Vielfalt, DOI 10.1007/978-3-658-02252-5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
402 Die Autor_innen

Zülfukar Çetin promovierte am Institut für Soziologie der Frei-


en Universität in Berlin. Zu seinen Schwerpunkten gehören u.a.
Queer Politik und Theorie, Heteronormativität, Intersektionalität,
Diskriminierung, Antidiskriminierung, Rassismus, Antirassismus
sowie kritische Migrationsforschung. Derzeit lehrt er in Berlin an
der Alice Salomon Hochschule und der Evangelischen Hochschule.
Seit Juli 2012 ist er Fachbeiratsmitglied der Bundesstiftung Magnus
Hirschfeld. Kontakt: cetin@ash-berlin.eu

Anna Lena Göttsche studierte Rechtswissenschaften in Hamburg


und Alicante, Spanien. Von 2008 – 2013 war sie wissenschaft-
liche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und
Geschlechterstudien der Juristischen Fakultät der Humboldt-Uni-
versität zu Berlin mit den Arbeitsschwerpunkten Grund- und
Menschenrechte, Antidiskriminierungsrecht, Rechtssoziologie und
Rechtserzeugung. Seit 2013 ist sie Promotionsstipendiatin der Hein-
rich-Böll-Stift ung und promoviert zum Thema Genitaleingriffe.

Maike Groen ist studierte Sozialwissenschaft lerin und arbeitet


zurzeit als wissenschaft liche Mitarbeiterin an der Georg-Au-
gust-Universität Göttingen, Institut für Erziehungswissenschaft .
Ihr Promotionsvorhaben behandelt Geschlechtsidentität bei Viel-
spielerinnen, wobei der Fokus auf Performanz und Performativität
von Geschlecht im Rahmen von E-Sport-Events liegt. In den Jahren
nach ihrem universitären Abschluss war Maike Groen zunächst
in der politischen Jugendbildungsarbeit tätig. Ihre Schwerpunkte
dort waren emanzipatorische Mädchenarbeit, Sexualpädagogik und
Prävention sexueller Gewalt. Ihre derzeitigen Arbeitsschwerpunkte
sind Sozialisation, Identität und digitale Medien, Geschlechterfor-
schung, sowie Reproduktion sozialer Ungleichheit.
Die Autor_innen 403

Anja Karrasch, Jahrgang 1968. Studium der Kunstgeschichte,


Neuen Geschichte und Politologie an der Freien Universität Berlin.
Ausbildung zur Redakteurin an der Berliner Journalistenschule.
Weiterbildungen in den Bereichen Public Relations, Projektma-
nagement und Online-Marketing. Seit 1998 als PR-Expertin für
Unternehmen und Institutionen aus Kultur und Wirtschaft tätig
wie Galerie Eigen + Art Berlin, Universität der Künste Berlin,
The American Dream GmbH. Als Journalistin schrieb sie u.a. für
Spiegel Online, Berliner Zeitung, Die Zeit über Themen zu Kultur
und Gesellschaft. 2010 gründete sie Karrasch.PublicRelations &
Portraitjournalismus und setzt PR-Konzepte für Kunden um, die
werteorientierte Produkte und Dienstleistungen anbieten bspw.
Kinder im Kiez GmbH, Presseabteilung der Staatsministerin für
Migration, Flüchtlinge und Integration. Spezialisiert ist sie auf
das Texten für sämtliche Kommunikationskanäle und das Genre
Portraitjournalismus mit Artikeln über Persönlichkeiten und
Institutionen, die ihren Beitrag für ökonomische und ökologische
Nachhaltigkeit sowie soziale Verantwortung leisten.

Conny Hendrik Kempe-Schälicke Jahrgang 1966. Studium der


Japanologie, Biologie und Informatik an der FU Berlin und TU
Berlin. Seit 2000 als Lehrkraft am Oberstufenzentrum Lise Meitner
in Berlin-Neukölln tätig, bietet dort seit 2009 eine AG gegen Ho-
mophobie (heute AG für Vielfalt) für Schüler_innen an. Seit 2010
Abordnung mit halber Stelle in die Berliner Senatsverwaltung für
Bildung, Jugend und Wissenschaft zur Umsetzung von Maßnahmen
im Rahmen der Initiative „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung
und Akzeptanz sexueller Vielfalt“ und seitdem dort zuständig
für die Querschnittsthemen und Diversity-Dimensionen sexuelle
Orientierung, Geschlechtsidentität, Geschlecht und Gender Main-
streaming. Ehrenamtlich seit 1988 für LGBTIQ im Sport tätig.

Christine M. Klapeer, Dr.in, Studium der Politikwissenschaften


und einer Fächerkombination aus Zeitgeschichte, Gender Studies
und Politischer Philosophie an der Universität Innsbruck; derzeit
als Universitätsassistentin für den Bereich Sexualitäten, Geschlech-
terverhältnisse und Körperpolitik am „Institut für Internationale
Entwicklung“ der Universität Wien tätig. Forschungsschwerpunkte:
Postkoloniale, queere und feministische Perspektiven auf Hete-
ronormativität, Sexualität(en) und Identität(en); Konzepte und
Theorien (sexueller) Staatsbürger*innenschaft; ‚Entwicklung/szu-
sammenarbeit‘ und transnationale LGBTIQ-Aktivismen und Poli-
tiken; dissidente Sexualitäten/Identitäten in der Entwicklung/sfor-
schung.
404 Die Autor_innen

Bettina Kleiner, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbe-


reich Bildungs- und Transformationsforschung an der Universität
Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaften. Promoviert zu
Differenzerfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen und
trans*Jugendlichen im Kontext von Subjektivation und Bildung.
Publikationen und Arbeitsschwerpunkte im Bereich Film- und
Literaturdidaktik aus queertheoretischer Perspektive und zu
Subjektivation und Bildung im Rahmen von Heteronormativität.
2012 Organisation und Durchführung der Tagung „Reproduktion
von Ungleichheiten im Schulalltag. Judith Butlers Konzept der
Subjektivation in der erziehungswissenschaftlichen Forschung“
sowie Herausgabe des gleichnamigen Tagungsbandes zusammen
mit Nadine Rose (2014).

Florian Cristobal Klenk Jahrgang 1987. Studium der Germanis-


tik, Philosophie und Pädagogik an der Technischen Universität
Darmstadt (Abschluss: Erstes Staatsexamen, Lehramt an Gym-
nasien). Seit November 2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Institut für Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik an der
Technischen Universität Darmstadt. Tätig im Projekt „Verbesse-
rung der Unterrichtsqualität in den MINT-Fächern (G-MINT)“.
Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Gender und Queer Studies,
genderinformierte (MINT) Fachdidaktik, Biographiearbeit und
Dekonstruktive Pädagogik. Promotionsvorhaben zu queeren
Bildungsperspektiven in der Lehramtsausbildung.

Constanze Körner, Jahrgang 1973, studierte an der Freien Uni-


versität Musikethnologie, Publizistik- und Kommunikationswis-
senschaften. Für den Lesben- und Schwulenverband Berlin-Bran-
denburg (LSVD) e.V. engagiert sie sich seit 2002 ehrenamtlich und
seit 2005 arbeitet sie dort hauptberuflich als Leiterin des Projektes
Regenbogenfamilien. 2013 eröffnete sie im Rahmen ihrer Tätigkeit
beim LSVD Deutschlands erstes Regenbogenfamilienzentrum in
Berlin Schöneberg.
Die Autor_innen 405

Thomas Kugler, Dipl.-Soz.päd., leitet seit 1993 als Bildungsreferent


bei der Einrichtung KomBi - Kommunikation und Bildung - Fort-
bildungen für pädagogische Fachkräfte und ist seit 2009 auch für
die Berliner Bildungsinitiative QUEERFORMAT tätig. Seine The-
menschwerpunkte sind Diversity Education, Geschlechtsbewusste
Pädagogik, Menschenrechtsbildung und Inklusionspädagogik,
jeweils mit einer Vertiefung der Themen geschlechtliche und
sexuelle Vielfalt. 2003 qualifizierte er sich zum Diversity-Trainer
durch eine Ausbildung beim Northern Ireland Council for Eth-
nic Minorities und dem Centre Européen Juif d’ Information.
Stephanie Nordt und Thomas Kugler arbeiten seit 2000 zu den
Themen Gender, Diversity und Sexuelle Identität als Trainingsteam
zusammen. Sie sind Mitverfasser_innen des 2006 veröffentlichten
Gender-Manifests.

Rüdiger Lautmann, Jahrgang 1935, Dr. phil., war von 1971 bis
2010 Prof. für Soziologie an der Universität Bremen. Lebt jetzt in
Berlin. Arbeitsgebiete: Recht und Kriminalität, Geschlecht und
Sexualität. Einige einschlägige Buchpublikationen: Gesellschaft
und Homosexualität (1977); Homosexualität. Handbuch der The-
orie- und Forschungsgeschichte (Hrsg. 1993); Nationalsozialisti-
scher Terror gegen Homosexuelle (Mithrsg. 2002); Soziologie der
Sexualität (2002); Was ist Homosexualität? Forschungsgeschichte,
gesellschaftliche Entwicklungen und Perspektiven (Mithg. 2014).

Elaine Lauwaert, Jahrgang 1979, Studium der Sozialen Arbeit


und der Theaterpädagogik an der FH Dortmund (Bachelor) und
der Gender Studies an der Universität Bielefeld (Master). Derzeit
Promovend_in an der Ruhr Universität Bochum im Bereich Gen-
der Studies zu „Politischen Strategien von Trans*- Bewegungen
nach 1945. Mitarbeit u.a. bei der Organisation der „Aktionstage
Gesellschaft Macht Geschlecht – Für geschlechtliche und sexuelle
Selbstbestimmung“ Uni Bielefeld 2013, des CSDs Bielefeld 2014
und im „Facharbeitskreis Zeitgeschichte“ der Arcus Stiftung.
Referent_in und Aktivist_in zu Trans*- spezifischen Themen
und Fragestellungen.
406 Die Autor_innen

Ralf Lottmann, Jahrgang 1971, Dr. phil., studierte Soziologie in


Bremen und Berlin (Diplom) und den Europäischen Masterstudien-
gang Gerontologie in Amsterdam. Nach Tätigkeiten im Bereich der
Prävention und bei ambulanten Pflegediensten in Berlin ist er seit
2004 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag
beschäftigt und arbeitet dort zu den Themenfeldern Senioren- und
Gesundheitspolitik. 2012 promovierte er an der TU Dresden zur
nachberuflichen Bildung in Deutschland und den USA. Seit 2013
ist er zudem wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Alice-Salo-
mon-Hochschule Berlin im IFAF-Projekt „Gleichgeschlechtliche
Lebensweisen und Selbstbestimmung im Alter“ (www.ifaf-berlin.
de/projekte/glesa/).

Birgit Möller, Dr., arbeitet an der Klinik für Kinder- und Ju-
gendpsychiatrie, -psychosomatik und –psychotherapie am Uni-
versitätsklinikum Münster. Sie ist Leiterin der Sprechstunde und
Forschungsgruppe „Variationen der geschlechtlichen Entwicklung
im Kindes- und Jugendalter“ sowie „Kinder körperlich kranker
Eltern“.

Timo O. Nieder, Dr., ist Psychologischer Psychotherapeut, Ver-


haltens- und Sexualtherapeut (DGfS) sowie EFS/ESSM certified
Psycho-Sexologist (ECPS). Er arbeitet klinisch und wissenschaftlich
am Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie des
Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, ist dort Lehrkoor-
dinator und stellv. Sprecher des Interdisziplinären Transgender
Versorgungscentrum Hamburg, einem multidisziplinären Ver-
sorgungsangebot für Transgender-Menschen. Er beteiligt sich am
European Network for the Investigation of Gender Incongruence
(ENIGI). Er ist Mitglied der World Professional Association for
Transgender Health (WPATH) und Gründungsmitglied der Europe-
an Professional Association for Transgender Health (EPATH: epath.
eu). Gemeinsam mit Prof. Dr. Bernhard Strauß aus Jena leitet er
eine Arbeitsgruppe zur Entwicklung einer AWMF-S3-Leitlinie zur
Diagnostik, Beratung und Behandlung bei Geschlechtsdysphorie.
Die Autor_innen 407

Stephanie Nordt, Dipl.-Soz.päd., leitet seit 1999 als Bildungsrefe-


rentin bei KomBi - Kommunikation und Bildung Fortbildungen
für pädagogische Fachkräfte und ist seit 2009 auch für die Berliner
Bildungsinitiative QUEERFORMAT tätig. Ihre Themenschwer-
punkte sind Diversity Education, Geschlechtsbewusste Pädagogik,
Menschenrechtsbildung und Inklusionspädagogik, jeweils mit
einer Vertiefung der Themen geschlechtliche und sexuelle Viel-
falt. 2005 schloss sie den postgradualen berufsqualifizierenden
Zusatzstudiengang Gender-Kompetenz an der Freien Universität
Berlin mit dem Diploma Supplement Gender-Kompetenz ab.
Stephanie Nordt und Thomas Kugler arbeiten seit 2000 zu den
Themen Gender, Diversity und Sexuelle Identität als Trainingsteam
zusammen. Sie sind Mitverfasser_innen des 2006 veröffentlichten
Gender-Manifests.

Ines Pohlkamp lebt in Bremen, Dipl. Sozialarbeitswissenschaften/


Sozialpädagogik; Internationale Kriminologie (Master), Referentin
für intersektionale Bildung, queer-feministische Mädchenarbeit,
geschlechter- und sexualitätssensible Pädagogik und Social Ju-
stice, Dissertation zum Thema: Diskriminierung und Gewalt
gegen geschlechtlich nonkonforme Personen (Abgabe 12/2013),
Mitarbeiterin im Gender Institut Bremen, Politische Bildungsre-
ferentin im Tagungshaus Bredbeck. Kontakt: pohlkamp@gend-
erinstitut-bremen.de

Marco Pulver, promovierter Erziehungswissenschaftler, Jahr-


gang 1961, lehrte bis 2008 an der Freien Universität Berlin am
Fachbereich Erziehungswissenschaften und Psychologie. Mit-
begründer und Teamleiter des Netzwerk Anders Altern bei der
Schwulenberatung Berlin. Mitinitiator des Lebensort Vielfalt in
Berlin-Charlottenburg.
408 Die Autor_innen

Juana Remus, Ass. Jur., Jahrgang 1979, Studium der Rechtswissen-


schaften an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie der Karlsu-
niversität Praha. Bereits während ihres Studiums Beschäftigung mit
medizinethischen Fragestellungen, 2006 Beginn der Dissertation
an der Universität Bremen zu Genitalverändernden Eingriffen an
intersexuellen Minderjährigen. Seit dem beschäftigt sie sich mit
Fragen der Konstruktion von Geschlecht durch Recht und Medizin
sowie mit der Umsetzung von Kinderrechten im Allgemeinen.
Seit 2013 unterrichtet Juana Remus im Rahmen der Law Clinic
Grund- und Menschenrechte an der Humboldt-Universität zu
Berlin, sie ist an der Durchführung von Studientagen zum Thema
„Feministische Rechtswissenschaft“ beteiligt.

Prof. Dr. Hertha Richter-Appelt ist Psychologische Psychothera-


peutin und Psychoanalytikerin. Sie ist stellvertretende Direktorin
des Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie
am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Zudem ist sie
Gründungsmitglied des European Network for the Investigation
of Gender Incongruence (ENIGI) und leitet die Hamburger For-
schergruppe Sexualität und Geschlecht. Sie ist zweite Vorsitzende
der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, stellvertretende
Gleichstellungsbeauftragte der Medizinischen Fakultät der Uni-
versität Hamburg und Mitglied der World Professional Association
for Transgender Health (WPATH).

Dirk Scheffler, Dr. rer. nat., Dipl.-Psych., Gründungsgesellschafter


und geschäftsführender Vorstand der e-fect dialog evaluation
consulting eG, Berlin/Trier (www.e-fect.de, seit 2011), Studium
der Psychologie mit den Schwerpunkten Organisations- und
Umweltpsychologie, Universität Trier. Schwerpunkte: Bildung
für nachhaltige Entwicklung, Umwelt- und Klimaschutzhan-
deln, Antidiskriminierung, unternehmerische Selbstständigkeit
und Promotion zu Handlungsstrategien interdisziplinärer For-
schungskooperation in DFG-Sonderforschungsbereichen. Kontakt:
scheffler@e-fect.de

Friederike Schmidt, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin


an der AG1 Allgemeine Erziehungswissenschaft der Universität
Bielefeld. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen: Praxeologische
Perzeptionsforschung, Differenz/ Differenzkonstruktionen, His-
torisch-pädagogische Anthropologie des Essens, Rekonstruktive
Sozialforschung
Die Autor_innen 409

Claudia Schmitt, Jahrgang 1983. Diplompädagogin, Sexualwis-


senschaftlerin (Master of Arts), zertifizierte Sexualpädagogin
(gsp), staatlich anerkannte Erzieherin und Kinderpflegerin sowie
Starke Eltern - Starke Kinder®-Kursleiterin, Entwicklungspsycho-
logische Beraterin für junge Eltern nach dem Ulmer Modell und
PEKiP®-Gruppenleiterin. Frau Schmitt arbeitet hauptberuflich als
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sonderpädagogik
der Goethe-Universität Frankfurt und als Pädagogische Fachbe-
raterin bei der Stadt Maintal. Außerdem ist sie Lehrbeauftragte
am Lehrstuhl für Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen der
Universität Würzburg. (www.claudia-schmitt.com). – Arbeits-
und Interessenschwerpunkte: Analyse, Konzeptualisierung und
Weiterentwicklung einer pädagogischen Elternberatung; Kon-
zepte und Ansätze von Sexualpädagogik mit dem Fokus u.a. auf
kindliche Sexualität.

Anne-Christin Schondelmayer, Jun.-Prof. Dr phil, Jahrgang


1977, Erziehungswissenschaftlerin. Diplom-Pädagogik Studium
in Trier und an der FU Berlin. Wissenschaftliche Mitarbeiterin
im Arbeitsbereich Interkulturelle Erziehungswissenschaft an der
FU Berlin, von 2005-2009. Promotion zur Rekonstruktion Inter-
kultureller Handlungskompetenz im Handeln von Auslandskor-
respondent_innen und Entwicklungshelfer_innen in Südafrika
und Kenia (2009). Vertretung der Juniorprofessur Interkulturelle
Erziehungswissenschaft an der FU Berlin (2010). Freiberufliche
Tätigkeit als Evaluatorin (Evaluation der ISV), Moderatorin und
Dozentin. Seit 2012 Juniorprofessorin für Interkulturelle Pädagogik
an der TU Chemnitz.

Arne Schröder, M.A., Medienwissenschaftler. Studierte bis 2008


Medien- und Kommunikationswissenschaften, Soziologie und
Geschlechterforschung an der Georg-August-Universität Göt-
tingen. Arbeitete und lehrte im Anschluss an der Universität
Göttingen. Seit 2009 Doktorand an der Ruhr-Universität Bo-
chum, Thema der Dissertation sind Identitätskonstruktionen in
avatarbasierten virtuellen Spielwelten. Nach einem Stipendium
der Hans-Böckler-Stiftung arbeitete er unter anderem als wis-
senschaftlicher Mitarbeiter an der Göttinger Graduiertenschule
Gesellschaftswissenschaften. Seine Arbeitsschwerpunkte sind:
Medialität des Spiels, Konstruktion von vergeschlechtlichten
und sexuellen Identitäten in Fernsehserien und Computerspielen,
soziales Handeln im Online-Spiel.
410 Die Autor_innen

Ute B. Schröder, Jg. 1967, Dipl.-Päd., Studium der Erziehungs-


wissenschaften an der Freien Universität Berlin. Weitergehende
Qualifizierungen in den Bereichen Qualitative Sozialforschung,
Sozialmanagement und Evaluation. Seit 2012 Wissenschaftlerin
und Genossenschaftsmitglied bei der e-fect eG (www.e-fect.de),
2005 bis 2012 Geschäftsführerin beim centrum für qualiative
evaluations- und sozialforschung e.v. (www.ces-forschung.de);
Forschungs- und Evaluationsprojekte für verschiedene Vereine,
Organisationen und staatliche Einrichtungen bspw. Bundesanstalt
für Arbeitsschutz u. Arbeitsmedizin; Bundesministerium für Bil-
dung und Forschung; Senat für Integration, Arbeit und Soziales.
Kontakt: schroeder@e-fect.de

Klaus Steinkemper, Jahrgang 1972. Studium der Sozialarbeit an


der KFH Paderborn. Tätigkeit als Sozialarbeiter in der Beratung,
der Prävention/Aufklärung (Themengebiete HIV/Aids, Sexual-
pädagogik. LGBT), und im Betreuten Wohnen für Menschen
mit HIV/Aids und psychischen Beeinträchtigungen. Erneutes
Studium der Erwachsenenpädagogik an der Humboldt Universität
zu Berlin. Weiterbildungen zum Mediator, Coach und Diversity
Trainer. Seit 2011 selbständiger Trainer, Mediator und Coach.
Themenschwerpunkte: Kommunikation, Konfliktmanagement,
Kultur, Diversity, LGBT. Tätig für Kunden aus der Wirtschaft,
der Wissenschaft, dem Non-Profit-Bereich und der Verwaltung.

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