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Selbstbestimmung
und Anerkennung
sexueller und
geschlechtlicher Vielfalt
Lebenswirklichkeiten, Forschungs-
ergebnisse und Bildungsbausteine
Herausgeber
Friederike Schmidt Ute B. Schröder
Bielefeld, Deutschland Berlin, Deutschland
Anne-Christin Schondelmayer
Chemnitz, Deutschland
Springer VS
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung,
die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zu-
stimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Über-
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www.springer-vs.de
Inhalt
II Biografische Erzählungen
Anja Karrasch
„Bei uns gibt es dieses Problem nicht“ – Leitlinien als Impuls für
Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld. Wahrnehmung älterer
LSBT-Menschen und die Wirkung der Berliner Seniorenleitlinien . . . . . . . . . 319
Ute B. Schröder und Dirk Scheffler
IV Bildungsbausteine
V Anhang
Die Autor_innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
Selbstbestimmung und Anerkennung
sexueller und geschlechtlicher Vielfalt
Lebenswirklichkeiten, Forschungsergebnisse
und Bildungsbausteine – Einleitung
Friederike Schmidt, Anne-Christin Schondelmayer und Ute B. Schröder
Einleitung
Ist sexuelle Vielfalt schon ein „alter Hut“? Leben Lesben und Schwule nicht bereits
gleichberechtigt in Deutschland? Und hat nicht 2014 eine Trans*Person den Grand
Prix gewonnen? Muss es also überhaupt noch ein Buch wie das vorliegende geben?
Festzustellen ist, dass sexuelle Vielfalt auf der einen Seite – beginnend mit der zweiten
Reform des §175 im Jahr 19731 und schließlich mit der gesetzlichen Aufhebung des
Strafbestands der Homosexualität im Jahr 1994 – in der Öffentlichkeit zunehmend
sichtbarer wird. Neben dieser wachsenden ‚Normalität‘ sind jedoch auf der anderen
Seite Abwertungen sowie tätliche Angriffe aufgrund sexueller Orientierungen und/
oder geschlechtlicher Mehrfachzugehörigkeiten immer noch allgegenwärtig und
für manche Personen auch ein selbstverständlicher Teil ihrer Alltagserfahrung.2
Dies zeigt sich nicht nur anhand von gewalttätigen und offenen Übergriffen, son-
Das vorliegende Buch bietet einen Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis,
zwischen Alltagswelten, konkretem Handeln, Empathie, Reflexion und Wissen-
schaft. Sowohl in der Praxis als auch in der Theorie ist es von Vorteil, verschie-
dene Blickwinkel einzunehmen und unterschiedliche Perspektiven zu erproben,
um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Neugierde, Offenheit, Umdenken, das
scheinbar Normale hinterfragen, das Selbstverständliche nicht selbstverständ-
lich nehmen, Vorurteile und Diskriminierungen zu erkennen, sind dafür gute
Voraussetzungen. Dieses Buch möchte dafür Anregungen bieten. Bereits die hier
vertretenen Autor_innen spiegeln eine große Vielfalt wider. Sie sind etablierte_r
Wissenschaftler_innen und Praktiker_innen oder stehen noch am Anfang ihre_r
Berufslaufbahn. Sie sind Vertreter_innen von NGO`s, Lehrer_innen, Sozialpä-
dagog_innen, Psycholog_innen, Mediziner_innen, Jurist_innen, Sozial- und
Erziehungswissenschaftler_innen. Die Auseinandersetzung mit sexueller Vielfalt
8 www.queerformat.de
9 siehe: www.ces-forschung.de und www.e-fect.de. Die Studien sind online abrufbar unter:
http://www.berlin.de/imperia/md/content/lb_ads/gglw/isv/bericht_gesamtevaluation_
isv_final_bf.pdf?start&ts=1337178962&file=bericht_gesamtevaluation_isv_final_bf.pdf
und http://www.berlin.de/imperia/md/content/lb_ads/gglw/isv/bericht_evaluation_
ah2u3_hf_bildung_bf.pdf?start&ts=1353324466&file=bericht_evaluation_ah2u3_hf_
bildung_bf.pdf; zuletzt abgerufen: 22.5.2014).
Einleitung 15
ist Aufgabe ihres Arbeitsalltags. Die Annäherung an das Thema erfolgt auf ver-
schiedenen Ebenen: analytisch, praktisch und biografisch. Entsprechend variieren
die hier versammelten Beiträge nach Herangehensweise, Aussage und Art und
Weise der Auseinandersetzung.
Das Fachbuch gliedert sich in die folgenden vier Themenbereiche: Perspekti-
ven auf geschlechtliche und sexuelle Vielfalt (I); Biografische Erzählungen (II);
Lebensphasen und Kontexte (III); Erfahrungen aus der Praxis für die Praxis –
Bildungsbausteine (IV).
Das Kapitel I Perspektiven auf geschlechtliche und sexuelle Vielfalt greift
aktuelle Diskurse aus vorwiegend theoretischer Perspektive zu den Themen He-
teronormativität, Mehrfachdiskriminierung, Intersexualität und Pädagogik auf.
Der Beitrag Vielfalt ist nicht genug! Heteronormativität als herrschafts- und
machtkritisches Konzept zur Intervention in gesellschaftliche Ungleichheiten von
Christine Klapeer führt in die komplexe Theoriegeschichte des Konzepts und
Begriffs der Heteronormativität ein und diskutiert die vielfältigen, oftmals auch
widerstreitenden Genealogien, Rezeptionslinien und Bedeutungen. Sie untersucht
die Einflüsse und Konsequenzen der Ansätze von Michael Warner und Judith
Butler und tritt für die (Re-)politisierung des Konzepts der Heteronormativität
als gesellschaftliches Analyseinstrument ein.
Anhand einer Studie von binationalen homosexuellen Paaren geht Zülfukar Çetin
den Verschränkungen von Homophobie und Rassismus als Praxen verschiedener
Formen von Diskriminierung nach. Er arbeitet in seinem Beitrag Zusammen- und
Wechselwirkungen von Heteronormativität und (antimuslimischem) Rassismus
am Beispiel von Mehrfachdiskriminierungen binationaler schwuler Paare in Berlin
heraus, dass gerade Menschen, die in mehrfacher Hinsicht ‚anders‘ sind als die
Mehrheitsgesellschaft, sichtbaren und unsichtbaren Formen verschiedenster Arten
von Diskriminierung auf unterschiedlichen Ebenen ausgesetzt sind.
Intergeschlechtlichkeit tritt in den unterschiedlichsten Formen auf und wird von
den Menschen individuell erlebt. Die Gemeinsamkeit ist, dass intergeschlechtliche
Menschen die normative Annahme von Mann und Frau in Frage stellen und damit
verunsichern. Dies führt auch heute noch zu Pathologisierung, medizinischem
‚Handlungsbedarf‘, rechtlicher und allgemeiner Diskriminierung, wie Juana Remus
in ihrem Beitrag Inter*Realitäten: Variabilität und Uneindeutigkeit des Geschlechts
als Herausforderung für Recht und Gesellschaft aufzeigt.
Ines Pohlkamp richtet ihr Augenmerk auf die gängigen hetero-hegemonialen
Annahmen zu Geschlecht und Sexualität und setzt sich in ihrem Beitrag Queer-
dekonstruktive Perspektiven auf Sexualität und Geschlecht in Pädagogik und Bil-
dung mit den vorherrschenden Bildern in der sozialen Arbeit und der Pädagogik
16 Friederike Schmidt, Anne-Christin Schondelmayer und Ute B. Schröder
auseinander. Sie plädiert für eine Sensibilisierung und Infragestellen von Norma-
lisierungsprozessen und eine Veränderung des pädagogischen Blicks.
Für einen selbstverständlichen, angstfreien und ungezwungenen Umgang mit
sexueller und geschlechtlicher Vielfalt sind nicht nur theoretisches Verstehen,
Akzeptanz und Anerkennung wichtig, sondern auch ein emotionaler Bezug.
Uneindeutigkeiten von Geschlecht und Lebensformen können, wie unsere Inter-
views zeigen, Unsicherheiten und Ängste im Umgang miteinander auslösen. Ein
kleiner Schritt, diese Barrieren zu überwinden, kann durch das Kennenlernen von
persönlichen Geschichten möglich werden: Beim Lesen einer Biografie kann ich
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu meiner eigenen Lebensgeschichte entdecken.
Ich sehe Vertrautes und kann mich identifizieren oder lerne Neues kennen. In dem
Kapitel II Biografische Erzählungen vermittelt Anja Karrasch anhand von vier
Porträts Einblicke in Lebensgeschichten, Wünsche, Träume und Vorstellungen
von Menschen, die jenseits einer heteronormativen Ordnung positioniert sind.
Trotz ihrer individuellen Lebensgeschichten ist allen der Wunsch gemeinsam, dass
ihre Form zu leben, gleichberechtigt mit den vorherrschenden Vorstellungen von
Geschlecht und Begehren gesellschaftlich anerkannt wird. Um dies zu erreichen,
waren und sind zwei der Gesprächspartner_innen politisch aktiv, während die
interviewten Paare ‚Normalität‘ primär durch ihren selbstbewussten Umgang mit
sich und ihrem Umfeld herstellen. Diese Einblicke in Lebensrealitäten von LSBT-
TIQ spiegelt nur einen sehr kleinen Ausschnitt von heterogen Lebenskonzepten
und -bedingungen wider und soll an dieser Stelle vor allem dafür sensibilisieren,
dass Biografien komplex sind und weder allein durch Geschlechtsidentitäten und
Begehrensformen, noch durch Leiden geprägt sind10.
Das Kapitel III Lebensphasen und -kontexte vereint Beiträge zu den Le-
bensphasen Kindheit, Jugend und Alter sowie zu den Kontexten von Familie und
pädagogischer Praxis. Der Abschnitt Kindheit, Jugend und Familie (III.1) setzt
sich mit Familienmodellen, der geschlechtlichen Entwicklung von Kindern in den
ersten sechs Lebensjahren, juristischen und medizinischen Aspekten auseinander
und untersucht die Darstellung und den Umgang mit sexueller und geschlechtlicher
Vielfalt in verschiedenen Medien. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den Lebens-
wirklichkeiten und Auseinandersetzungen von Trans* Kindern bzw. -Familien.
Der Begriff Familie unterliegt seit je her einem Wandel im Kontext der Ver-
änderung von gesellschaftlichen, normativen und wertbezogenen Vorstellungen
und Anschauungen. Die rechtliche Stärkung von LSBTTIQ und eine sich langsam
abzeichnende Akzeptanz haben in den letzten beiden Jahrzehnten in Deutschland
dazu geführt, dass Regenbogenfamilien entstehen konnten. Als Regenbogenfamilie
werden Familienkonstellationen verstanden, in denen lesbische, schwule, trans*
oder bisexuelle Eltern mit Kindern leben. Welche Familienmodelle gelebt werden,
wie rechtliche Bedingungen sind und welche Beratungs- und Unterstützungsmög-
lichkeiten es gibt, zeigt Constanze Körner in ihrem Beitrag Regenbogenfamilien
– Kinderwunsch und Familienleben im Kontext von LSBT-Lebensweisen auf.
Ob und wann intergeschlechtliche und trans* Kinder und – Jugendliche über ihren
eigenen Körper bestimmen können, welches ‚Wohl‘ und welche Wertvorstellungen
bei Entscheidungen zum Tragen kommen und welche rechtlichen Regelungen bzw.
Lücken es gibt, darüber geben Katharina Bager und Anne Lena Göttsche in ihrem
Beitrag Kinder, Eltern, Staat – Rechtliche Konflikte im Zusammenhang mit minder-
jährigen Inter* und Trans* Personen einen Überblick. Deutlich wird, dass vieles,
was von Mehrheitsangehörigen als ‚normal‘erlebt wird, von Personen, die aufgrund
ihrer sexuellen und/oder geschlechtlichen Orientierung von dem Normalitätsmus-
ter abweichen, als diskriminierend erlebt wird. Der Raum Schule stellt in diesem
Zusammenhang keine Ausnahme, sondern vielmehr einen signifikanten Ort dar,
an dem Diskriminierungserfahrungen von Kindern und Jugendlichen stattfinden.
Claudia Schmitt setzt sich in ihrem Beitrag Entwurf einer sexuell-geschlecht-
lichen Personagenese der ersten sechs Lebensjahre mit dem Spannungsfeld einer
modellhaften Vorstellung kindlicher Entwicklung auf der einen Seite und der
Berücksichtigung und Anerkennung spezifischer individueller Entwicklungen
von Kindern auf der anderen Seite auseinander. Sexualität ist aus ihrer Sicht ein
wichtiger Aspekt kindlicher Entwicklung, der interdisziplinär betrachtet werden
sollte und auch in der erziehungswissenschaftlichen Perspektive nicht fehlen darf.
Ein Angebot zur Unterstützung, Beratung und Orientierung von Kindern, Ju-
gendlichen, Erwachsenen und Elternteilen, die sich als schwul, lesbisch, bisexuell,
transgender, transsexuell, transident, transgeschlechtlich bzw. intergeschlechtlich,
Zwitter/ intersexuell verstehen, stellt das Projekt QUEER LEBEN dar. Ein besonde-
res Augenmerk liegt auf der Stärkung und Unterstützung von Familien, in denen
sich eines ihrer Mitglieder o. g. Personenkreis zuordnet. Im Gespräch Einblicke
ins „Trainingslager für geschlechtliche Identitäten“ arbeiten Klaus Steinkemper, ein
Mitinitiator des Projektes, und Mari Günther, die fachliche Leiterin des Projektes,
18 Friederike Schmidt, Anne-Christin Schondelmayer und Ute B. Schröder
Dieser Band ist durch verschiedene Instanzen und Personen möglich geworden,
denen wir an dieser Stelle herzlich danken möchten: Der Senatsverwaltung für
Bildung, Jugend und Wissenschaft, namentlich Conny Hendrik Kempe-Schälicke,
für die finanzielle Unterstützung. Verena Walterbach, Katrin Viezens und Sarah
Dietrich für Korrekturarbeiten.
22 Friederike Schmidt, Anne-Christin Schondelmayer und Ute B. Schröder
Literatur
Castro Varela M/ Dhawan N (2007): Migration und die Politik der Repräsentation. In: Bro-
den A/ Mecheril P (Hrsg.): Re-Präsentationen: Dynamiken der Migrationsgesellschaft.
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Honneth A (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte.
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Prengel A (2006): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Inter-
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Scheffler D, Schondelmayer AC, Schröder UB (2012) Gesamtevaluation zur Initiative
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Scheffler D, Schmidt F, Schondelmayer AC (2012) Bildung und Aufklärung zu Diversity
stärken. Ergebnisbericht zur Evaluation der Zielerreichung der Initiative: „Berlin tritt
ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“- Handlungsfeld Bildung
und Aufklärung stärken. http://www.berlin.de/imperia/md/content/lb_ads/gglw/isv/
bericht_evaluation_ah2u3_hf_bildung_bf.pdf?start&ts=1353324466&file=bericht_
evaluation_ah2u3_hf_bildung_bf.pdf und http://www.ces-forschung.de/index.php/
publikationen/evaluationsberichte. Zugegriffen: 22. April 2014
Scheffler D, Schröder UB (2012) Studie über die Wirksamkeit von Strategien und Methoden
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Zugegriffen: 10. April 2014
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Erschienen in Arranca # 28. [Online abrufbar unter: http://arranca.org/ausgabe/28/
performing-the-gap; letzter Abruf: 31.05.2014].
Walgenbach K; Dietze G; Hornscheidt A; Palm K (2007) (Hrsg.): Gender als interdepen-
dente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität.
Opladen: Verlag Barbara Budrich
I
Perspektiven auf geschlechtliche und
sexuelle Vielfalt
Vielfalt ist nicht genug!
Heteronormativität als herrschafts- und
machtkritisches Konzept zur Intervention in
gesellschaftliche Ungleichheiten
Christine M. Klapeer
Der Begriff der ‚Heteronormativität‘ ist aus gegenwärtigen gender- und queerpoli-
tischen Diskursen und Praxen nicht mehr wegzudenken: Nicht nur innerhalb der
akademischen Queer und Gender Studies scheint der Begriff der Heteronormativität
beinahe zum selbstverständlichen Bestandteil eines wissenschaft lichen (Analyse-)
Instrumentariums geworden zu sein, auch innerhalb ausgewählter bewegungspoliti-
scher Kontexte1 und gar in manchen ‚offiziellen‘ Politikbereichen2 wird mittlerweile
mit dem Begriff der ‚Heteronormativität‘ operiert. Eine genauere Definition oder
analytische Klärung, wie der Begriff konzeptuell und methodologisch verwendet
oder gefasst wird, findet jedoch – trotz der Komplexität und Vielschichtigkeit an
theoretischen Rezeptionslinien sowie der Vielfalt an theoretischen und politischen
Debatten– oft nur bedingt statt. Für den Begriff der Heteronormativität hat sich
daher bereits die beinahe schon als statisch zu bezeichnende Definition durchgesetzt,
dass es sich dabei um ein Konzept zur Beschreibung der (gesellschaft lichen) Norm
der/zur Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität handle, von der insbesondere
jene Lebensweisen bzw. Personen ‚betroffen‘ sind, die diesen Normen eben nicht
entsprechen (können oder wollen) – Lesben, Schwule, Trans* und Intersex* Per-
sonen und Queers.3
Auch wenn diese Beschreibung nicht falsch ist, so impliziert sie doch die Gefahr
einer methodologischen und politischen Verengung des Konzepts der Heteronor-
mativität sowie einer Ausblendung der komplexen geopolitischen Interdependenz
heteronormativer Geschlechter- und Sexualitätskonzepte mit der Geschichte der
‚Aufklärung‘ sowie der Etablierung ‚moderner‘ (und auf koloniale Denksysteme
und Ausbeutung basierenden) Nationalstaaten im ‚Globalen Norden‘. Darüber
hinaus wird durch eine solche Definition auch das vielfältige und dynamische
‚Archiv‘ an durchaus widerstreitenden, theoretischen und politischen Konzepten
zu Wirkungs- und Funktionsweisen von sexuellen und geschlechtlichen Normen/
Normierungen eingeebnet sowie die Umstrittenheit der (genauen)Bedeutung von
Heteronormativität selbst unsichtbar gemacht. Konflikte und Auseinandersetzungen
um das Konzept der Heteronormativität beziehen und bezogen sich in der Ver-
gangenheit u. a. darauf, wie das Verhältnis bzw. die Verwobenheit von Geschlecht
und Sexualität im Detail erfasst und beschrieben werden kann, welche analytischen
Konsequenzen sich aus einer stärkeren Miteinbeziehung von feministischen Analysen
zur Geschlechterungleichheit und zu gesellschaftlich instituierten Geschlechter-
differenzen ergeben und inwiefern sexuelle und geschlechtliche Normen stets im
Kontext anderer Herrschaftsverhältnisse und daher nur in ihrer Interdependenz
mit u. a. rassialisierten, nationalistischen und Klassen- und Körperdiskursen zu
analysieren sind (vgl. Hartmann und Klesse 2007; Erel et al. 2007). D. h. die Ver-
wendung und die konzeptionellen methodologischen Implikationen des Begriffs
Heteronormativität waren und sind folglich selbst Gegenstand politischer und
theoretischer Auseinandersetzungen, weshalb es auch nicht eine ‚einzige‘ oder
‚wirkliche‘ Definition des Konzepts geben kann oder soll. Im Gegenteil kann und
soll das Konzept der Heteronormativität selbst als dynamisch betrachtet werden,
das auch gerade durch unterschiedliche Interventionen und Formen der Kritik
seine politische Stärke und Analysekraft gewinnt. ´
Der folgende Beitrag soll dementsprechend einen ersten Einblick in die komplexe
Theoriegeschichte der Verwendung und Deutung des Begriffs Heteronormativität
geben und die vielfältigen, oftmals auch widerstreitenden, Genealogien und Rezep-
tionslinien aufzeigen, die seine Ausgestaltung und seinen Einsatz geprägt haben.
Gleichzeitig intendiere ich mit diesem Beitrag jedoch keineswegs eine deskriptive
Wiedergabe dieser vielfältigen Geschichte(n) rund um Heteronormativität, sondern
ich verstehe meine Überlegungen selbst als eine Form der kritischen Intervention.
Denn mein Beitrag zielt vor allem auch auf eine Stärkung jener Traditionen ab, die
Heteronormativität als herrschafts- und machtkritisches Konzept zur Analyse von
und Intervention in gesellschaftliche Ungleichheiten deuten und einsetzen und damit
auch stärker innerhalb feministischer, queerer und rassismuskritischer Politiken
verorten. Insofern geht es mir im folgenden Beitrag auch um eine Einmischung
in jene sexualitäts- und genderpolitischen Diskurse und Strategien, welche unter
dem Label der ‚Vielfalt‘ und ‚Diversity‘ oftmals für eine höchste, ‚befriedete‘ und/
oder entpolitsierende Version von Heteronormativität als Legitimierung eines
‚toleranzpluralistischen Integrationskonzepts‘ eintreten.
2 Heteronormativität im Widerstreit:
Welche Heteronormen? Welche theoretischen
Prämissen? Welcher analytische Fokus?
Auch wenn Michael Warner in seiner Initialschrift „Fear of a queer Planet“ (War-
ner 1991; 1993) einige feministische Arbeiten rezipiert sowie auf die Bedeutung
des Zusammenspiels von Geschlecht und Sexualität für das Funktionieren eines
heteronormativen Ordnungssystems hingewiesen hatte, waren seine Überlegungen
durch eine unterkomplexe und sehr partielle Rezeption bereits existierender les-
bisch-/feministischer und geschlechterkritischer Analysen zu den Wirkungs- und
Funktionsweisen von Heterosexualität geprägt (vgl. Jackson 1999; 2006). Auch
innerhalb aktueller heteronormativitätskritischer Diskurstraditionen kann immer
wieder eine derartige Marginalisierung des umfangreichen feministischen und
lesbisch-feministischen ‚Archivs‘ beobachtet werden, das gleichsam ‚vollgestopft‘ ist
mit Analysen zum Verhältnis von (Hetero-)Sexualität und ungleichen Geschlech-
terverhältnissen. Feministisch-lesbische Theoretikerinnen wie Adrienne Rich (1989
[1980]), Audre Lorde (1984), oder Monique Wittig (1992b [1981]; 1992c [1982]; 1992d
[1989]) legten etwa bereits in den 1970er und 1980er Jahren jene generalisierte Kritik
an einer ‚Hetero-Kultur‘ vor, wie sie Michael Warner in seinem Beitrag von 1991
intendierte. Sie zeigten auf, dass das System der Geschlechterungleichheit und die
damit verbundene, geschlechtliche Arbeitsteilung sowie Formen der strukturellen
und personellen Gewalt gegen und Diskriminierung von Frauen untrennbar mit
einer institutionalisierten Form der Heterosexualität bzw. auch mit Rassismus
und Klassenungleichheit verbunden sei bzw. durch diese wiederum immer neu
eingesetzt und legitimiert werde.
Adrienne Rich (1989 [1980]) sprach in ihrem bekannten Aufsatz „Zwangshe-
terosexualität und lesbische Existenz“ bereits von der politischen „Institution He-
terosexualität als einem der Brückenköpfe der Männerherrschaft“ welche „auf alle
[…] Bereiche“ wie u. a. auf „Mutterschaft, geschlechtsspezifische Rollenverteilung,
Beziehungen und gesellschaftliche Vorschriften für Frauen“ einwirke und gleichzeitig
auch den „Erfordernissen des Industriekapitalismus“ entgegenkäme (Rich 1989
[1980], S. 245f., auch S. 250f.). „Zwangsheterosexualität“ bedeutet daher nach Rich
folglich, dass jede weibliche Person nicht nur gezwungen werde „heterosexuell“ zu
sein, sondern „eine heterosexuelle Frau zu sein: sie muß sich entsprechend anziehen
und die von einer ‚richtigen‘ Frau erwarteten feminine, ehrerbietige Rolle spielen“
32 Christine M. Klapeer
(ebd., S. 257; Hervorh. i. Org.). Mit dieser Analyse zeigte Rich daher bereits die
Interdependenz von ungleichen Geschlechterverhältnissen und einer Norm bzw.
einem Zwang zur Heterosexualität auf. Für sie war Heterosexualität daher auch
eine „Ideologie“ und ein „alles durchdringende[s] Machtgefüge“, das von der patri-
archalen Organisation von Gesellschaften nicht zu trennen sei (ebd., S. 251; S. 254).
Für Rich ging es daher – analog zu Michael Warners Forderung – ebenfalls nicht
um eine Anerkennung einer „lesbischen Existenz“ als andere „sexuelle Vorliebe“
einer vermeintlichen Minderheit, sondern um eine vollständige Zerstörung dieser
„aufgezwungene[n], inszenierte[n], organisierte[n], von Propaganda gestützte[n]
und mit Gewalt aufrechterhaltene[n] Form der Sexualität“ (ebd.,S. 263). Rich
intendierte daher die Veränderung der „sozialen Beziehungen der Geschlechter“,
um alle Frauen vom „Zwang zur Heterosexualität“ und der dadurch gestützten
Geschlechterungleichheit und sexuellen Verobjektivierung zu befreien (ebd.).
In einer queeren Rezeption des Konzepts von Heteronormativität gerät jedoch
oftmals genau dieses unmittelbare Zusammenspiel von Geschlechterhierarchien
und/als Heteronormativität aus dem Blick, da wie etwa die feministisch-queere
Theoretikerin Stevi Jackson (2006) betont, der Fokus meist vorwiegend auf einer
Kritik und Analyse der dichotomen und naturalisierenden Logik von Hetero-/
Homosexualität und dem System der Zweigeschlechtlichkeit liege. Auch wenn für
Jackson (1999, S. 161) frühe lesbisch-feministische und queere Arbeiten von der
gemeinsamen Intention ausgehen, dass die „Unvermeidbarkeit und Natürlichkeit
und Normativität von Heterosexualität“ in Frage zu stellen und derart auch das
problematische Verhältnis der Homo-/Hetero-Dichotomie mit der Idee einer
Geschlechterbinarität zu kritisieren sei, würden queere Analysen jedoch oftmals
„Gender Hierachien“ und das System „männlicher Dominanz“ nur bedingt
angreifen. Aber, so Jackson, „what is fundamental to heterosexuality, […] what
sustains it as an identity and an institution […] is gender hierarchy. Its ‚inside‘
workings are not simply about guarding against the homosexual other, but about
maintaining male domination“ (ebd., S. 174). Jackson (1999) stellt daher auch dem
Konzept der Heteronormativität den Begriff des „Heteropatriarchats“ zur Seite,
um damit – ähnlich wie in dem früheren lesbisch-feministischen Konzept des
„Heterosexismus“ − die Verwobenheit von heteronormativen Geschlechter- und
Sexualitätskonzepten mit einer androzentrischen bzw. patriarchalen Organisation
von Gesellschaft entlang der Dichotomie privat/ politisch zu verbinden. Denn
es gehe ja auch darum zu zeigen, dass (‚moderne‘) Vorstellungen von Sexualität
immer vergeschlechtlicht sind bzw. Sexualität(n) und jegliche sexuellen Identi-
fizierungen6 ohne Referenz auf die Geschlechterdifferenz nicht gedacht werden
können (Jackson 2006), bzw. dass auch umgekehrt, wie etwa Chrys Ingraham
(1994, S. 275) betont, Geschlecht/er vorstellungen als „heterogender“ dechiffriert
werden müssen.
In diesem Kontext wäre/ist es folglich auch besonders fruchtbar, aktuelle
Überlegungen zur Heteronormativität von Gesellschaft verstärkt mit jenen his-
torischen feministischen Arbeiten zu verbinden, welche sich mit der spezifischen
Genese von Zweigeschlechtlichkeit und der Herausbildung von ‚modernen‘, polaren
Geschlechtscharakteren im Kontext europäischer, bürgerlich-kapitalistischer Na-
tionalstaaten beschäftigt haben (vgl. Honegger 1991; Hausen 2001 [1976]).Claudia
Honegger (1991) und Karin Hausen (2001 [1976]) zeigen in ihren historischen
Untersuchungen auf, inwieweit sich Ende des 18. Jahrhunderts jene „spezifisch
neue Qualität“ der verwissenschaftlichten Geschlechterunterscheidung etablierte,
in der von bestimmten Körpermerkmalen auf bestimmte „Geschlechtscharaktere“
und Eigenschaften geschlossen und somit „Wesensmerkmale in das Innere des
Menschen“ verlagert wurden (Hausen 2001 [1976], 166). Und gerade diese physio-
logische und psychologische Ontologisierung der Geschlechterverhältnisse und
von Geschlechterungleichheit steht in einem untrennbaren Wechselverhältnis mit
der Konstruktion von ‚sexueller Devianz‘ als Kennzeichnung von Pathologisierung
und letztlich Systematisierung der Abweichung von diesem bipolaren Modell der
Geschlechterungleichheit (vgl. Honegger 1991; Hacker 1987). Stevi Jackson(1999:
2006) plädiert folglich dafür, dass heteronormativitätskritische Analysen sich
vermehrt mit konkreten Prozessen und Manifestationen eines „doing[s] of hetero-
sexuality“ und deren Bedeutung für die Organisierung und Aufrechterhaltung von
Geschlechterungleichheit beschäftigen sollte, da Heterosexualität selbst – etwa im
Gegensatz zu früheren lesbisch-feministischen Arbeiten – ein eher marginalisiertes
Feld innerhalb queerer Forschungen darstelle.
dieser Annahmen fundamental in Frage: Auch wenn sich Butler selbst innerhalb
eines feministischen Theoriekontextes positioniert, folgt sie in ihrer Analyse des
Verhältnisses von Geschlechter- und sexuellen Normen den methodologischen
Prämissen von Gayle Rubin (1999 [1984]). Diese argumentierte in ihrem, für die
queere Theoriebildung prägenden, Aufsatz „Thinking Sex“ dafür, dass feministische
Theorien nicht den geeigneten methodologischen und theoretischen Rahmen für
die Analyse der strukturierenden und stratifizierenden Bedeutung von Sexualität
darstellen, da (Hetero-)Sexualität darin nicht als eigenständige Kategorie, sondern
quasi als ‚Begleiterscheinung‘ eines patriarchalen Gesellschaftssystems gefasst
wird. Rubin trat dafür ein, Sexualität und Geschlecht zwar in ihrer Verwobenheit
zu untersuchen, aber als distinkte Kategorien zu fassen (ebd.). Diesen Prämissen
folgend, hat sich Judith Butlers (1991) Modell der „heterosexuellen Matrix“ innerhalb
der Queer/Gender Studies mittlerweile als breit rezipiertes Referenzmodell für die
Erklärung und theoretische Untermauerung des Konzepts der Heteronormativität
etabliert. Auch wenn Judith Butler (1991) in „Das Unbehagen der Geschlechter“
selbst nicht den Begriff der Heteronormativität verwendete, kommt mittlerweile
keine heteronormativitätskritische Analyse ohne Verweis auf Butlers Arbeiten aus;
frühere oder andere (feministische) Herangehensweisen werden/wurden in diesem
Kontext nur mehr partiell und äußerst unterkomplex weitergeführt oder rezipiert
– auch wenn sie, wie etwa die Arbeiten der französischen Sprachtheoretikerin
Monique Wittig (1992a) –, ebenfalls Geschlecht und Sexualität als eigenständige
Analysekategorien gefasst und äußerst elaborierte Analysen vorgelegt haben.
Gleichzeitig kommt Judith Butlers Modell der „heterosexuellen Matrix“ eine hohe
analytischen Erklärungskraft und politische Schärfe zu mit welcher Kritiken an
der vermeintlichen ‚Natürlichkeit‘ von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität
pointiert formuliert werden können.
In ihrem 1991 (auf Deutsch7) erschienenen Buch „Das Unbehagen der Geschlech-
ter“ versuchte Butler die Bedeutung von Sexualität/Begehren für die Konstituierung
und Normierung einer hierarchisch organisierten Geschlechterdifferenz nochmals
neu und anders aufzuschlüsseln und analytisch zu entwirren. Für die Analyse der
spezifischen Verschränkung von Begehren/Sexualität und Geschlecht innerhalb eines
hegemonialen (‚westlichen‘) Geschlechterdiskurses führte Butler (1991) den Begriff
der „heterosexuellen Matrix“ ein (Butler 1991). Butler identifiziert innerhalb dieses
Diskurses ein „hegemoniales diskursives Modell der Geschlechter-Intelligibilität“,
das spezifische Regeln für die Formierung von kulturell ‚sinnvollen‘, also intelligib-
len Geschlecht/skörpern vorgibt (ebd.,S. 119f.). Die „heterosexuelle Matrix“ steht
7 Das Original erschien bereits 1990 unter dem Titel „Gender Trouble. Feminism and the
Subversion of Identity“.
Vielfalt ist nicht genug! 35
nach Butler also für ein „Raster der kulturellen Intelligibilität“, welche Folgendes
verlangt: Damit ein (Geschlechts-)Körper in unseren Gesellschaften als „sinnvoll“
und anerkannt erachtet wird, muss er ein stabiles Körpergeschlecht (sex) haben, das
durch ein entsprechendes sozial-kulturelles Geschlecht bzw. die entsprechende Ge-
schlechtsidentität (gender) sowie „durch die zwanghafte Praxis der Heterosexualität“
in einer hierarchischen und gegensätzlichen Form zum Ausdruck gebracht wird
(ebd. S. 220). D. h. ‚Weiblichkeit‘ bzw. ‚Frau-Sein‘ ebenso wie ‚Männlichkeit‘ bzw.
Mann-Sein‘ konstituiert sich in Butlers Modell (erst) durch ein gegengeschlechtliches
Begehren, womit das sozio-kulturelle Geschlecht/die Geschlechtsidentität (gender),
das Körpergeschlecht (sex) und Begehren/Sexualität (desire) in einer Art „Matrix“
miteinander verbunden werden und sich jeweils voneinander ableiten lassen (müs-
sen). Konkret bedeutet dies, dass die „heterosexuelle Fixierung des Begehrens […]
die Produktion von diskreten, asymmetrischen Gegensätzen zwischen ‚weiblich‘
und ‚männlich‘“ instituiert und produziert, welche dann als ‚natürliche‘ Folge
oder Ausdruck des männlichen oder weiblichen Geschlechtskörpers erscheinen
(Butler 1991,S. 38). Nur wenn ein Körper diesen Bedingungen der „Kohärenz“ und
„Kontinuität“ entspricht – sex, gender und Begehren sich demnach voneinander
ab/herleiten lassen – wird er als intelligibles Geschlecht ‚anerkannt‘.
Diese normierende und regulierende „heterosexuelle Matrix“ kann nach Butler
auch als eine Form der „normativen Gewalt“ analysiert werden, da sie spezifische
Regeln der/zur Vergeschlechtlichung und des (sexuellen) Begehrens vorgibt und
dabei alles von diesen Regeln Abweichende ausschließt, verleugnet und/oder zu
verworfenen Wesen – sogenannten „Abjekten“ – macht (Butler 1995, S. 23). Die
Konstituierung sogenannter ‚intelligibler‘, also ‚sinnhafter‘ (Geschlechter-)Subjekte
wird also erst „durch die Kraft des Ausschlusses und des Verwerflichmachens“ (ebd.)
von solchen Existenzen oder Begehrensformen ermöglicht, welche aus dem Raster
kultureller Intelligibilität ‚herausfallen‘, darin nicht ‚denkbar‘ sind und/oder diesem
nicht entsprechen können oder wollen. Butlers politische und theoretische Intention
bei der Analyse des Zwangscharakters einer heterosexuellen Geschlechterbinarität
liegt also darin, den konstitutiven Charakter von nicht-normativen Geschlechtern/
Sexualitäten für die Aufrechterhaltung und Re-Produktion des gewaltvollen Sys-
tems der Zwangsheterosexualität aufzuzeigen. Denn derart wird erst sichtbar, dass
beispielsweise die „Ablehnung (Verwerfung) […] von Homosexualität im Rahmen
einer eindeutigen und fixen heterosexuellen Identität […] den paradoxen Effekt
[hat], dass das was man nicht ist, genau das charakterisiert, was man ist“ (Villa
2003, 52f.). Durch die normative Gewalt des epistemischen Regimes der Hetero-
sexualität wird also „nicht bloß“ nur der „Bereich intelligibler Körper“ erzeugt,
sondern auch ein „Bereich der undenkbaren, verworfenen, nicht-lebbaren Körper“
(Butler 1995, S. 16) hergestellt, welche das „konstitutive Außen“ der heterosexuellen
36 Christine M. Klapeer
8 Z. B. wurden das Gesäß und die Geschlechtsteile der aus Südafrika kommenden Sara
oder Saartjie Baartman unter dem Titel ‚Hottentot Venus‘ in einer extrem rassistisch-se-
xualisierten Weise ‚ausgestellt‘; nach ihrem Tod wurden ihre Körperteile als sexualisierte
‚Zeichen‘ ‚minderwertiger weiblicher Wildheit‘ im Museum von Paris ‚archiviert‘ (vgl.
Nnaemeka 2005).
9 Z. B. die Konstruktion des ‚Schwarzen Vergewaltigers‘ als Gefahr für weiße Frauen; die
Legitimität von sexualisierter Gewalt an den ‚kolonialisierten‘ Frauen. (vgl. Stoler 2002;
McClintock 1995).
40 Christine M. Klapeer
An das obige Zitat von Stevi Jackson (1999: S. 181) anschließend, möchte ich am Ende
dieses Beitrages für eine stärkere Re-Politisierung des Konzepts der Heteronorma-
tivität plädieren und derart auch für eine stärkere macht- und herrschaftskritische
Einbettung von Analysen und Forderungen nach sexueller und geschlechtlicher
Vielfalt. Dies impliziert für mich zum einen die grundlegende Einsicht, dass Hetero-
und Homosexualität keineswegs als (gleichberechtigte) ‚sexuelle Orientierungen‘
interpretiert werden (können), sondern dass zum einen die konstitutive Funktion
der (‚Erfindung‘ von) Homosexualität für die Aufrechterhaltung eines Systems der
heterosexuellen Geschlechterdifferenz und der Herausbildung/Re-Produktion
vergeschlechtlichter Subjekte in den Blick genommen wird. Dies beinhaltet jedoch
auch die Anerkennung und Benennung der normativen Gewalt, die mit diesen
Normen einhergehen. Wenn Heterosexualität, also gleichsam auf die Definition
eines ‚Abjekts‘ – eines sexuellen, geschlechtlichen ‚Anderen‘ – angewiesen ist, um
überhaupt ‚sinnvoll‘ zu sein, impliziert eine politisierte Heteronormativitätskritik
daher auch die fundamentale Forderung nach der Destabilisierung und letztlich
auch Ent-Privilegisierung heterosexueller Geschlechterverständnisse und -lebens-
weisen − sowohl auf individueller Ebene (Identitäten), als auch auf institutioneller
und struktureller Ebene. Stevi Jacksons (2006; 1999) Forderung nach einer stärkeren
Beschäftigung mit und Intervention in „doing heterosexuality“-Prozesse kann
daher um die Forderung nach (feministischen) Eingriffen in und Kritiken an der
Fortschreibung von „heterogender“-Selbstverständlichkeiten (Ingraham 1994) ergänzt
werden. Eine radikale (Selbst-)Untersuchung und eine bewusste De-Zentrierung
der heterosexuellen Privilegien von Cis-Menschen scheint nämlich nicht unbedingt
zum Kern aktueller ‚Diversitätspolitiken‘ zu gehören.
Vielfalt ist nicht genug! 41
heteronormativer Normen und Privilegien. Daraus folgt auch die Benennung von
Ungleichheiten in unseren Gesellschaften und eine Auseinandersetzung mit der In-
terdependenz und Abhängigkeit von heteronormativen Denkweisen und Strukturen,
mit rassistischen, klassenspezifischen und körpernormierenden Herrschafts- und
Machtverhältnissen. Die Herausforderung, die sich dabei wohl stellt ist jene, wie
Differenz(en) und Vielfalt jenseits von Hierarchie, Normierung und Ausschluss
und Vereindeutigungswünschen artikuliert werden können.
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Zusammen- und Wechselwirkungen von
Heteronormativität und (antimuslimischem)
Rassismus
Am Beispiel von Mehrfachdiskriminierungen
binationaler schwuler Paare in Berlin
Zülfukar Çetin
Heteronormativität und (antimuslimischer) Rassismus
Einleitung
Dieser Beitrag, basiert auf der Studie „Homophobie und Islamophobie. Intersek-
tionale Diskriminierungen am Beispiel binationaler schwuler Paare1 in Berlin“
(Çetin 2012)2.
In meiner qualitativen Forschung gehe ich der Frage nach, welche Erfahrun-
gen binationale schwule Paare mit Diskriminierungen in ihrer Lebensgeschichte
machen und gemacht haben und wie sie diese wahrnehmen, verarbeiten und mit
ihnen umgehen. Diese wurden auf der Basis ausgewählter biographisch-narrati-
ver Interviews mit Männern, die in einer binationalen schwulen Partnerschaft in
Berlin leben, rekonstruiert. Untersuchungsgegenstand waren zum einen schwule
Männer, die aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind oder von einer
Migrant_innen3-Familie in Deutschland abstammen. Die Homosexualität und die
„ausländische“ Herkunft bzw. „unvereinbare“ religiöse oder kulturelle Zugehörig-
keit bilden meistens die (fiktiven) „Gründe“ für strukturelle und institutionelle
Diskriminierungen. Während die ausländischen bzw. als ausländisch angesehenen
Interviewpartner rassistische Diskriminierungen in der weißen Mehrheitsgesell-
schaft erleben, sind sie nicht selten gleichzeitig homophoben Diskriminierungen
ausgesetzt. In diesem Zusammenhang war das Ziel der Studie, institutionelle
und strukturelle Diskriminierungen im biographischen Verlauf der untersuchten
ausländischen oder als ausländisch angesehenen schwulen Männer aufzuzeigen.
Zum anderen wurden auch mehrheitsdeutsche Schwule, die in einer (Lebens-)
Partnerschaft mit einem ausländischen oder als ausländisch angesehenen Schwulen
leben, Teil der Analyse. Aufgrund der (zugeschriebenen) kulturellen, nationalen oder
religiösen Herkunft ihres ausländischen oder als ausländisch angesehenen Partners
erfahren auch sie durch ihre Familie und Verwandten sowie den Freundes- und
Bekanntenkreis Diskriminierungen.
In diesem Beitrag zeige ich anhand empirischen Materials auf, wie Diskriminie-
rung auf Ausschlussmechanismen basiert. Die Kategorisierungen als Schwuler oder
rassifizierende Einstufungen nach der Staatsangehörigkeit oder angenommenen
Religionszugehörigkeit fungieren dabei als Instrument des Ausschließens. Men-
schen werden hierbei als Repräsentant_innen der positiv oder negativ bewerteten
Zugehörigkeitsdimensionen angesehen. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass
Diskriminierungen auch Inklusionsmechanismen beinhalten können. So erfahren
beispielsweise als türkisch angesehene Schwule auch positive Diskriminierungen
bzw. positive Rassismen4 , wenn sie als Opfer des Islam oder der türkischen Kultur
3 In diesem Beitrag schreibe ich die Bezeichnung „Migrant_innen“ immer kursiv, denn
diese Bezeichnung stellt ein Potenzial rassistischer Zuschreibungen dar und ich möchte
mich durch diese kursive Schreibweise von dieser Fremdzuschreibung distanzieren.
4 An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich die Begriffe „positive
Diskriminierung und positive Rassismen“ nicht im Sinne von „Positiven Maßnahmen“
vom Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verwende. Bei den positiven
Maßnahmen des AGG handelt es sich um „[die Zulässigkeit] einer unterschiedlichen
Behandlung aufgrund der zugeschriebenen […] ethnischen Herkunft, des Geschlechts,
der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen
Orientierung, wenn durch „geeignete und angemessene Maßnahmen bestehende Nachteile
wegen eines der genannten Gründe verhindert oder ausgeglichen werden sollen“ (vgl.
Heteronormativität und (antimuslimischer) Rassismus 47
Für die Analyse des Rassismus als eine soziale Konstruktion setzt Miles (vgl. Miles
1989) an, zunächst die ökonomische Struktur und die politischen Herrschafts-
verhältnisse der Gesellschaften in einem engen historischen Kontext zu erörtern.
Des Weiteren sieht er einen wichtigen Aspekt in der Ausgrenzungspraxis, die Ras-
sismus durch die Benachteiligung bei der Verteilung geringer gesellschaftlicher
Ressourcen und in sozialen Institutionen erst sichtbar und wirksam macht. Hin-
sichtlich der sozialen Bedeutungs- und Rassenkonstruktion (vgl. ebd.) geht Miles
von Zuschreibungen bestimmter biologischer und kultureller Eigenschaften aus.
Diese Bedeutungszuschreibungen fungieren als Erkennungsmerkmal bestimmter
hergestellt werden. (Foucault 1973, S. 68) Der Diskurs, der normierend und regulierend
funktioniert, erzielt in erster Linie die Herstellung und Strukturierung von Realitäten.
In Bezug auf meine Studie geht es immer darum, wer spricht, also wer definiert, regelt,
strukturiert und re-produziert, sowie darum, über wen gesprochen wird, das heißt, wer/
was definiert, geregelt, konstruiert und re-produziert wird. Die sprachlichen Praxen
zeigen den produktiven Charakter des Diskurses und der Macht des Diskurses. Ich habe
in meiner Studie versucht zu zeigen, wie Identitäten beispielsweise hergestellt werden,
wenn von sogenannten Schwulen, Männern, Frauen, Migrant_innen, Europäer_innen,
Muslim_innen, Deutschen und Nicht-Deutschen die Rede ist.
Heteronormativität und (antimuslimischer) Rassismus 49
Gruppen. Status und Herkunft der Gruppen werden als natürlich und unverän-
derlich konstruiert, so dass die „Andersheit“ von Menschen/Menschengruppen
als eine ihnen immanente Gegebenheit erscheint. Die als „anders“ konstruierten
Menschengruppen müssen mit zusätzlichen, negativ bewerteten (biologischen oder
kulturellen) Merkmalen markiert und so dargestellt werden, als riefen sie negative
Folgen für andere hervor (vgl. ebd.). Zurzeit wird in Mittel- und Westeuropa eine
muslimische Community konstruiert, die vor allem als verschlossen, unveränder-
bar, statisch, sexistisch, fanatisch, bzw. fundamentalistisch gilt. So wird zunächst
ein als selbstverständlich angesehenes gegensätzliches Verhältnis zwischen einem
„weiß europäischen Wir“ und „nicht-weiß-europäischen Anderen“ hergestellt und
dadurch die heteronormativen westlichen Gender- und Geschlechterverhältnisse
legitimiert und unsichtbar gemacht (vgl. Pühretmayer 2000, S. 93).
Der Heteronormativität als Teil der Herrschaftsverhältnisse, wie die der rassis-
tischen, macht deutlich, dass Heterosexualität als selbstverständlich, unhinterfragt
und grundlegend gilt und normierend wirkt. In rassistischen Verhältnissen wird
das Weiß-sein beispielsweise als Norm und Grundlage einer „europäischen“ Iden-
tität angesehen, in ähnlicher Weise wird die Heterosexualität in heteronormativen
Verhältnissen für die unveränderbare Norm gehalten und als Bedingung für die
Basis menschlicher Beziehungen verstanden. So werden alle anderen Formen der
Sexualitäten als Gegensatz zu Heterosexualität betrachtet, sie werden pathologisiert,
abgewertet und immer als erklärungswürdig betrachtet (vgl. Klapeer i. d. B.). Durch
die Unterstützung der biologisch-medizinischen Diskurse zwingt Heteronorma-
tivität die Individuen, sich selbst über eine geschlechtlich und sexuell bestimmte
Identität zu definieren, wobei die Mannigfaltigkeit möglicher Identitäten hierar-
chisch angeordnet ist und im Zentrum der Norm die kohärenten heterosexuellen
Geschlechter Mann und Frau stehen oder Homo- und Heterosexuell.
Ich verstehe Homophobie als Folge eines heteronormativen Diskurses. Sie ist die
Praxis bzw. Praktizierung von Heteronormativität. Wie oben ausgeführt, basiert
Heteronormativität auf Naturalisierung und Selbstverständlichkeit der dichotomen
Zwangsgeschlechterordnung. Dadurch erzeugt sie u. a. diskriminierende Hand-
lungen, die als Homophobie oder Homofeindlichkeit verstanden werden können.
In diesem Zusammenhang ist es von großer Relevanz darauf hinzuweisen, dass
die Heteronormativität und die daraus resultierenden diskriminierenden sozialen
Verhältnisse, wie. z. B. Frauen-, Schwulen-, Lesbenfeindlichkeit oder Transphobie,
nicht milieu- oder kulturspezifisch sind, sondern ein globales Problem, das überall
in unserer Welt existiert. Wenn Homophobie als Praxis der Heteronormativität
verstanden wird, stellt sich u. a. die Frage, wer als homophob gilt, bzw. wer als
homophob bezeichnet wird. Es geht mir aber dabei nicht darum Homophobe zu
definieren und festzustellen, wer genau sie sind, sondern der Fokus meiner Betrach-
tung liegt darauf, wie beispielsweise bestimmte Menschengruppen als homophob
zusammengefasst und deklariert werden. Eine Praxis der westlichen rassistischen
Diskurse der letzten Jahre ist, muslimisch angesehenen Migrant_innen Homophobie
zuzuschreiben und sich dadurch von eigener Homophobie zu entlasten:
Die Ursachen der Homophobie werden in den letzten Jahren auf die religiöse
und kulturelle Zugehörigkeit der vermeintlichen Täter_innen von Homophobie
zurückgeführt. Demnach ist derjenige homophob, der jung, männlich und musli-
misch ist. Jungen männlichen Muslimen wird unterstellt, die sicheren Lebensräume
der Schwulen, Lesben und Trans*Menschen zu bedrohen. Im Zusammenhang
mit (antimuslimischem) Rassismus wird meistens Menschen mit (imaginiertem)
islamischem Hintergrund potentielle Homophobie und Frauenfeindlichkeit zuge-
schrieben. Aus europäischer Perspektive scheint der Islam eine Religion zu sein,
die die Unterdrückung der Frauen, die Ausgrenzung der Homosexuellen und die
Ausübung der Gewalt im Namen Gottes verlangt (vgl. Erdem 2009). Ob muslimi-
52 Zülfukar Çetin
Methodisches Vorgehen
Für meine Studie habe ich insgesamt mit zehn ausländischen und fünf deutschen
schwulen Männern biographisch-narrative Interviews geführt. Aus 15 Interviews
habe ich sechs Fälle analysiert. Alle sechs Interviews wurden nach der Methode
von Fritz Schütze (1983) einzelfallorientiert textanalytisch ausgewertet und in ihrer
Eigenheit rekonstruiert. Das biographisch-narrative Interview gibt den Interview-
partnern die Möglichkeit, ihre Geschichte selbst zu gestalten und ihre Themen
selbst auszuwählen. In den Interviews haben die Befragten ihre Erfahrungen mit
Coming-out, Migration, Partnerschaft und Erfahrungen mit Diskriminierungen
erzählt.
Nach dem Prinzip der Minimalen und Maximalen Kontrastanalyse konnte ich
die Diskriminierungserfahrungen der Interviewpartner in ihrer Biographie und
in verschiedenen Lebensabschnitten herausarbeiten.
t Typ I (Arda und Ali): Schwule Männer aus der Türkei, die mit einem deutschen
Schwulen in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben.
t Typ II (Can und Hamid): Sie sind in der Bundesrepublik als Kinder binationaler
Familien – Can als Sohn einer deutschen und katholischen Mutter und eines
türkischen und muslimischen Vaters, Hamid als Sohn einer deutschen, zum
Islam konvertierten Mutter und eines muslimischen Pakistani – aufgewach-
sen. Hamid ist mit Frank verpartnert und Can lebt mit einem weiß-deutschen
Schwulen, der kein Interview für die Studie geben konnte.
t Typ III (Kai und Frank): Weiß-Deutsche Schwule, die eine Partnerschaft mit
einem ausländischen oder als ausländisch angesehenen Schwulen haben. Kai
lebt mit Arda in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft und Frank lebt mit
Hamid ohne eine eingetragene Lebenspartnerschaft zusammen.
Typ I „Ich bin dort [in der Türkei] schwul und hier habe ich
migrantischen Status“
Diese Interviewpartner sind in der Türkei sozialisiert. Die Entscheidung der
Migration nach Deutschland hängt u. a. auch mit erfahrenen homophoben Diskri-
minierungen am Herkunftsort zusammen. Insgesamt lassen sich aus der Analyse
der Interviews folgende Diskriminierungen erkennen:
Homophobie: In der Türkei war vor allem institutionelle Homophobie durch das
Militär ausschlaggebend. Diese Erfahrungen führten zu Existenzangst der Inter-
viewpartner. Als schwule Türken werden sie in Deutschland als exotisch wahrge-
nommen und sind dadurch von so genannter positiver Diskriminierung betroffen.
10 Für die Ergebnisse der maximalen Kontrastanalyse verweise ich auf mein Buch bzw.
den Beitrag in der Zeitschrift Journal der Psychologie (Çetin 2013).
11 Dieser Befreiungsschein vom Militärdienst beinhaltet ein psychiatrisches Attest über
„psychosexuelle Störung“ des Interviewpartners.
54 Zülfukar Çetin
Rassismen: Der Rassismus bezieht sich besonders auf die türkische Herkunft der
Interviewpartner. Interessant ist, dass die beiden Merkmale „schwul und türkisch“ als
eine „besondere“ Konstellation vorgestellt wird. Neben dieser so genannten positiven
Diskriminierung werden individuelle Eigenschaften und äußere Erscheinung der
Interviewpartner mit dem Islam verbunden, das heißt, dass die Interviewpartner
orientalisiert, exotisiert und rassifiziert werden. Bürokratische Komplikationen,
Arbeitslosigkeit, schlecht bezahlte Jobs oder Nicht-Anerkennung vorhandener
Qualifikationen führen zu Ausgrenzung, Ausschluss und ungleicher Verteilung
der materiellen und immateriellen Ressourcen. Diese sind unter institutionellem
Rassismus (z. B. Staatsangehörigkeit) einzuordnen. Auf der sozialen Ebene zeigt
sich Rassismus dadurch, dass die Freundschaften des weiß-deutschen Partners nach
der Gründung der Partnerschaft entweder reduziert oder abgebrochen wurden.
Soziale Herkunft bzw. sozialer Status: Die Interviewpartner sind nach der Migration
vom sozialen Abstieg betroffen. Die in Deutschland nicht anerkannten Qualifika-
tionen bewirken, dass sie als aberkannte Akademiker im Gastronomiebereich als
Küchenhilfe arbeiten oder arbeitslos werden, was in der Partnerschaft ein ökono-
misches Ungleichgewicht auslöst.
Ich bin dort [in der Türkei] schwul und hier habe ich migran-
tischen Status. Hier (Deutschland) ist auch nicht meine Heimat,
weil ich denke, dass ich mehr verdient habe, als sie (die
Deutschen) mir geben. Denn ich habe hier einen migrantischen
Status. (Interview mit Arda, Zeile 430 ff.)
Heteronormativität und (antimuslimischer) Rassismus 55
Typ II „schwul sein, die wissen alle, aber, das ist so Tabuthema“
Diese sind schwule Männer, die von binationalen Eltern abstammen, wobei ein
Elternteil deutscher Herkunft ist, und in Deutschland interkulturell sozialisiert
sind. Im Folgenden werden einige Diskriminierungserfahrungen dieser Interview-
partner veranschaulicht:
[…] weil Frank da sehr unsensibel war in der Hinsicht und mich
unter Druck gesetzt […] Auf jeden Fall habe ich, ähm, viele
Diskussion geführt, und der hat mich als Heuchler beschimpft,
was mir auch nochmal noch mehr Schuldgefühle aufgetan hat.
Weil ich dachte, ich bin unehrlich meinem Vater gegenüber,
aber ich kann auch wieder nicht ehrlich sein, weil das auch
was Schlechtes ist. Also ich hatte, der .onÀikt war riesig,
und die Beziehung drohte eigentlich auseinander zu fallen.
Weil mir wurde es zu viel, und ich wusste nicht, was ich ma-
chen sollte, dann hab ich überlegt, dass ich Frank loswerden
muss. Also ich kann diese Beziehung nicht fortführen […] Und
ja ich muss weiter leben, und das Verstecken wie vorher mit
Frank geht einfach nicht […] ja dann war’s eigentlich kurz
davor […] und dann irgendwann kam so´n Pünktchen in mich,
wo ich mir dachte, das der Punkt vielleicht gekommen ist
[…] wenn ich mein Leben leben werde, wer weiß, wie lange es
noch ist, aber wenn es länger ist als mein bisheriges, dann
möchte ich nicht diesen Leidensweg weiter gehen und ich muss
´n Bruch schaffen. Ich muss da irgendwie aufbrechen, hatte
aber große Angst. Dann hab ich Frank gesagt, das ist alles
egal, ich werde es meinem Vater sagen, egal, was passiert.
(Interview mit Hamid, Zeile 156-174)
Das schlimmste, was passiert ist, ist so, das war 2005, da
hatte ich meine Ausbildungsprüfung in Berlin Ost, und da
hatte ich so total alles Rot angezogen, mein T-Shirt rot,
weiße Hose, es war schöner Tag im Sommer, und ich war ziem-
lich gut gelaunt gewesen, und ja, dann kamen so zwei Frauen
und sie schauten, alles Rot, und dann haben sie gesagt, jaa,
was suchst du denn hier, du bist Türke und so, weißt du denn
überhaupt, wo du bist und so, also solche Diskriminierung
hatt’ ich schon. (Interview mit Can, Zeile 1082-1087)
Soziale Herkunft bzw. sozialer Status: Auch hier erleiden die Interviewpartner, vor
allem Can, partnerschaftliche Konflikte auf Grund ökonomischer Hierarchien.
[…] die Mutter von Uwe hat mich Anfangs total, also sie war
total kühl gewesen, weil ich ja Ausländer war, weil ich ja
Türke bin oder so, und die war erste Mal total schockiert,
als Uwe mich bei ihr vorgestellt hat, und heute eigentlich
hab ich ganz wenig mit der Familie von Uwe zu tun […] die
Mutter ist anders und die mag mich auch nicht […] und ich
weiß auch nicht, wieso sie mich nicht mag, ob es daran liegt,
dass ich Ausländer bin oder ich weiß es nicht […]also ich
denke mal, sie akzeptiert die Beziehung zwischen mir und Uwe
nicht. (Interview mit Can, Zeile 427-435)
Typ III „das war ’ne ziemlich harte Erfahrung, also sich durch diese ganzen
Behörden da durchzukämpfen“
Diese sind schwule Männer, die aus Deutschland bzw. einer mehrheitsdeutschen
Familie stammen.
reagierten auf deren Coming-out negativ und hatten Schwierigkeiten, mit der
Homosexualität ihrer Söhne umzugehen.
Rassismen: Diese Interviewpartner sind vor allem mit institutionellen und struk-
turellen Rassismuserfahrungen ihrer Partner konfrontiert, worunter auch die
Partnerschaft leidet. Die Erfahrungen mit der Ausländerbehörde, mit der deut-
schen Botschaft oder mit der Polizei seitens des ausländischen oder als ausländisch
angesehenen Partners wirken sich auf die Paarbeziehung bzw. auf den Alltag des
Paares negativ aus:
Fazit
12 Das Konzept der Dominanzgesellschaft lehnt sich an das von Birgit Rommelspacher
(1995) entwickelte Konzept der Dominanzkultur an. Das Konzept der Dominanzkultur
geht davon aus, dass sich die Gesellschaft nicht aus einer begrenzten Anzahl von
Perspektiven heraus analysieren lässt, sondern dass unterschiedliche Machtdimensionen
die gesellschaftlichen Strukturen und das konkrete Zusammenleben bestimmen, und
im Sinne eines Dominanzgeflechts miteinander verwoben sind (Rommelspacher 2006,
S. 3)
Heteronormativität und (antimuslimischer) Rassismus 59
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Heteronormativität und (antimuslimischer) Rassismus 61
Johanna1 hatte sich im Oktober 2010 für die Einstellung in den Polizeivollzugs-
dienst beworben. Bei der Einstellungsprüfung erzielte sie ein so gutes Ergebnis,
dass klar war, dass die Bewerbung erfolgreich sein würde: Sie musste nur noch zur
ärztlichen Untersuchung.
Dort gab Johanna an, dass sie aufgrund einer operativen Entfernung der Eierstö-
cke auf die Einnahme von Hormonen angewiesen sei, wobei bei einer kurzfristigen
Unterbrechung der Hormonsubstitution keinerlei lebensbedrohliche Erkrankungen
bzw. Auswirkungen zu erwarten seien. Auch habe sie keine Gebärmutter.
Der Polizeiarzt entschied, dass Johanna polizeidienstuntauglich sei, so dass
die Einstellung der Abiturientin ablehnt wurde. Die Polizei begründete ihre Ent-
scheidung damit, dass Johanna sehr wahrscheinlich XY-Chromosomen habe und
wegen eines nicht intakten Hormonsystems eine verminderte Knochenstabilität zu
erwarten sei, die gerade im Polizeidienst zu Verletzungen führen könne. Auch sei
fraglich, ob Johanna den psychischen Belastungen des Polizeidienstes gewachsen
sei, beispielsweise wenn sie einen Kinderwunsch entwickeln würde. Schließlich
sei sie fortpflanzungsunfähig.
Der Einwand Johannas, sich mit ihrer Fortpflanzungsunfähigkeit ausreichend
beschäft igt zu haben, wird im nachfolgenden Gerichtsverfahren vor dem VG
Ansbach nicht vertieft. Auch die von Johannas Ärztin vorgelegten Studien, wo-
nach kein größeres Risiko für eine verminderte Knochendichte besteht, sofern die
Medikamente eingenommen werden, sind rechtlich unerheblich. Das VG Ansbach
entscheidet vielmehr, die Nichteinstellung Johannas sei rechtmäßig. Insbesondere
sei Johanna nicht aufgrund einer Behinderung oder der sexuellen Identität oder
1 Der Name der hier beschriebenen Person ist der Autorin nicht bekannt, der wiedergegebene
Sachverhalt und die mitgeteilten Argumente beruhen auf der Gerichtsentscheidung des
VG Ansbach vom 14.07.2011 – AN 1 E 11.01005, veröffentlicht in juris.
Inter*?
die normative Annahme der Zweigeschlechtlichkeit (vgl. Dietze 2003). 3 Auch der
Begriff „DSD“ wird von Betroffenen kritisiert, da sich im Begriff „Disorder“ und
in seiner deutschen Übersetzung „Störung“ abermals eine negative und pathologi-
sierende Betrachtung der körperlichen Varianz verbirgt (vgl. Thomas 2007, S. 188).
Obschon körperliche Unterschiede der einzelnen „intersexuellen“ Menschen
sich unterscheiden, eint sie, dass ihre körperliche Verfasstheit in der Medizin als
behandlungsbedürftig unter diesem Begriff zusammengefasst wird, weil sie nicht
der gängigen Vorstellung von „männlich“ oder „weiblich“ entsprechen. Dennoch
nutzen intergeschlechtliche Menschen den Begriff „intersexuelle Menschen“ als
Selbstbezeichnung.4 Daneben sind aber auch Selbstbeschreibungen wie interge-
schlechtlich5, zwischengeschlechtlich6, Zwitter oder Hermaphrodit gebräuchlich.
Dabei ist zu beachten, dass intergeschlechtliche Menschen nicht zwingend ein
drittes Geschlecht abbilden, sondern sehr vielfältige Identitäten aufweisen und
unterschiedliche Leben führen. So fühlen sich einige als vollwertige Männer oder
Frauen mit einer kleinen oder großen Besonderheit, andere wiederum sehen sich
als etwas außerhalb der engen zweigeschlechtlichen Ordnung. Nicht zu verwechseln
sind intergeschlechtliche Menschen mit Trans*, deren körperliche Variation rein
biologisch einem der gesellschaftlich anerkannten Geschlechter zuordenbar ist.7
3 Dietze G (2003), stellt dar, dass die Thematisierung von Intergeschlechtlichkeit und die
Problematisierung des Zweigeschlechtersystems als gesellschaftliche Norm die „vierte
anti-universalistische Herausforderung“ der Kategorie gender darstellt.
4 Vgl. „Bundesverband Verein Intersexuelle Menschen e. V.“, http://www.intersexuelle-
menschen.net. Zugegriffen: 26. April 2014]
5 Vgl. ebd.
6 Vgl. den schweizerischen Blog „zwischengeschlecht.org“, http://zwischengeschlecht.
org. Zugegriffen: 26. April 2014
7 Zum Begriff Trans* auch in Abgrenzung zu anderen Begrifflichkeiten wie transsexuell,
Transgender etc. (vgl. Franzen und Sauer 2010, S. 7).
66 Juana Remus
„Bei der Geschlechtsangleichung in die weibliche Richtung sind drei Ziele zu verfolgen.
Zur Angleichung des äußeren Genitales an den weiblichen Aspekt bedarf es einer
Klitorisreduktionsplastik und der Konstruktion von kleinen Labien. Zum dritten
muss gewährleistet sein, dass später ein normaler Geschlechtsverkehr möglich sein
wird.“ (zit. n. de Silva 2007, S. 178).
Darin zeigt sich neben dem paternalistischen Ansatz der Medizin auch der hetero-
normative Aspekt des Behandlungskonzepts: Es ist undenkbar, dass ein erfülltes
(Un)eindeutigkeit im Recht
Medizinische Eingriffe sind grundsätzlich nur mit Einwilligung der von dem
medizinischen Eingriff betroffenen Person möglich. Ohne Einwilligung begeht
der_die Arzt_Ärztin eine nach den §§ 223 ff. StGB strafbare Körperverletzung und
68 Juana Remus
Penisschaftes und des Hodens noch der Bildung von Neovulva und Neoklitoris.
Auch die bei „Frau-zu-Mann-Transsexuellen“ vormals für erforderlich gehaltene
Angleichung an das Erscheinungsbild des männlichen Geschlechts durch operative
Entfernung von Gebärmutter, Eierstöcken und Eileitern sowie eine Brustverklei-
nerung wird Dank des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes nur noch auf
expliziten Wunsch der Trans* vorgenommen.
Auch wenn das Bundesverfassungsgericht den Zwang zu chirurgischen Maß-
nahmen zur rechtlichen Anerkennung des Personenstandsgesetzes für verfassungs-
widrig befunden und damit abgeschafft hat, so ist der Gedanke der Eindeutigkeit
eines Geschlechtskörpers weiterhin im Alltagswissen und damit im rechtlichen
Diskurs verankert. Die körperliche Uneindeutigkeit wird nach wie vor als abnormal
und wenig erstrebenswert angesehen. Erst kürzlich entschied das Bundessozial-
gericht12, dass die Kosten für eine Operation, die das Geschlecht einer Person eher
verundeutlicht als verdeutlicht, nicht gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V durch die
Krankenkasse zu erstatten sind. In dem entschiedenen Fall nahm die Antragstellerin
bereits Hormonpräparate zur Vermännlichung ein und wollte nunmehr mittels
eines chirurgischen Eingriffes die Herausbildung eines Minipenis bei gleichzeitiger
Erhaltung und Vergrößerung der vorhandenen Schamlippen erreichen. Das Bun-
dessozialgericht entschied, dass eine Person keinen Anspruch auf die Herstellung
eines körperlichen Zustands mit beidgeschlechtlichen Merkmalen habe, da von
den Erstattungsleistungen der Krankenkasse nur eine solche Behandlung erfasst
sei, die „zumindest auf die Annäherung an einen regelhaften Zustand – also dem
körperlichen Zustand einer Frau bzw. eines Mannes – gerichtet ist“.13 Zwar nimmt
das Bundessozialgericht zur Kenntnis, dass es „Menschen mit beidgeschlechtlichen
Merkmalen bisweilen bereits von Geburt an gibt“;14 in solchen Fällen bestehe aber
lediglich ein Anspruch auf Krankenbehandlung, „die darauf gerichtet ist, den
betroffenen Versicherten einem geschlechtlichen Regeltypus anzugleichen, nicht
aber darauf, den Zustand des Beidgeschlechtlichen zu vertiefen“.15 Angesichts der
Vielfalt geschlechtlicher Körper ist die in dem Urteil deutlich werdende Abwertung
unverständlich. Die bloße Abweichung von einer vermeintlichen Norm wie bei
intergeschlechtlichen Kindern führt zu Behandlungsbedürftigkeit und -fähig-
keit, ohne weitere Angaben machen zu müssen. Es erscheint daher angesichts der
rechtlichen Marginalisierung und Abwertung nicht verwunderlich, dass gerade die
Biomedizin, die maßgeblich an der (im wahrsten Sinn des Wortes) Normierung
Personenstandsrechtlicher Handlungsbedarf
17 Die Abkürzung CEDAW steht für Concluding observations of the Committee on the
Elimination of Discrimination against Women
18 Bt-Drs. 16/5807.
19 Der Parallelbericht ist hier zu finden http://intersex.schattenbericht.org/public/
Schattenbericht_CEDAW_2008-Intersexuelle_Menschen_e_V.pdf
20 CEDAW, Concluding observations of the Committee on the Elimination of Discrimination
against Women, Germany, 10 February 2009, CEDAW/C/DEU/CO/6, Nr.61, 62.
72 Juana Remus
21 § 22 Abs. 3 PStG lautet seit 1.11.2013: „Kann ein Kind weder dem weiblichen noch dem
männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine
solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen.“
22 Presseeinladung des BMFSFJ zum 1.2.2013, siehe http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/
veranstaltungen,did=195876.html
Inter*Realitäten 73
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Queer-dekonstruktive Perspektiven auf
Sexualität und Geschlecht
Ines Pohlkamp
1 Der Begriff Cis-Frauen meint jene Personen, denen bei der Geburt ein weibliches
Geschlecht zugewiesen wurde und die dies als Geschlechtsidentität, Geschlechtskörper und
Selbstbezeichnung beibehalten haben. Cis (lat.) meint diesseits (der Geschlechterbinarität).
2 Transfrauen ist eine Selbstbezeichnung jener Personen, denen bei der Geburt
kein weibliches Geschlecht zugewiesen wurde und die sich geschlechtlich als Frau
repräsentieren, fühlen, leben. Trans (lat.) meint hier über die binären Geschlechtergrenzen
hinaus.
3 Feminisierte Männer meint jene Personen, die sich in der Repräsentation ihrer
Männlichkeit explizit weibliches Verhalten, Aussehen, Gestik, Stimme etc. integrieren
und Weiblichkeit repräsentieren. Oft wird dies stereotyp mit der Idee der Homosexualität
gekoppelt.
4 Petitionstext unter: https://www.openpetition.de/petition/online/zukunft-verantwortung-
lernen-kein-bildungsplan-2015-unter-der-ideologie-des-regenbogens, letzter Abruf 22.
April 2014.
5 Vgl. Bild zur Reportage von Schmitz (2014): Das Wort des Jahres. In: Süddeutsche
Zeitung 8./9. Februar 2014, S. 3.
Queer-dekonstruktive Perspektiven auf Sexualität und Geschlecht 77
1 Eingeschrieben: Hetero-hegemoniales
Alltagsverstehen in Pädagogik und Bildung
6 Diese und folgende Einschätzungen und Beobachtungen stammen aus Fortbildungen mit
Praktiker_innen, aus Facharbeitskreisen mit Expert_innen, aus Auseinandersetzungen
mit Wissenschaftler_innen der Pädagogik und Sozialer Arbeit und aus Erfahrungen
in der wissenschaftlichen Lehre mit Studierenden der Erziehungswissenschaften, der
Pädagogik und der Sozialen Arbeit.
78 Ines Pohlkamp
2 Auseinandersetzen:
Normativitätskritik und Trans-Diversität
„Die Sorge aus den Normalitätszonen herauszufallen, die Angst davor, in eine
Randposition zu geraten, aus der ein Entkommen nicht mehr möglich ist, diese
Denormalisierungsangst treibt die Subjekte um. Ihre Aufgabe ist es, sich – möglichst
selbstverantwortlich – immer wieder aufs Neue in den einzelnen Normalitätsfeldern
zu positionieren“ (Waldschmidt 2003: S. 195f).
Soziale Normen rund um Geschlecht und Sexualität sind dabei Grundpfeiler der
Entstehung von Subjektivität und der Partizipation in der Leistungsgesellschaft
(Butler 1997, Waldschmidt 2003). Geschlechtliche und sexuelle Normativität
meint die strikte und rigide Annahme der aufeinander verweisenden Existenz der
Zweigeschlechtlichkeit und der daraus folgenden Hetero-, Homo- und Bisexualität.
Diskussionen um pädagogische und bildnerische Konzepte zu Vielfalt bewegen
sich bislang auffallend häufig innerhalb dieser Matrix und weisen nur selten über
diese Maßgabe hinaus. Ein Grund hierfür liegt in der Anziehungskraft der „Nor-
malitätszonen“ in einer auf Leistung fixierten Gesellschaft, die ein Normalsein zum
Standard und zum Glücksversprechen erheben. Dann zählt die reale Anzahl und die
Kombination aus der Anzahl der Schwulen, der Transgender, der Cis-Frauen, der
Cis-Männer, der Lesben, der Migrant_innen, der Alten, der sozial Unterklassierten
Queer-dekonstruktive Perspektiven auf Sexualität und Geschlecht 81
etc. als Beweis für Diversität. Das heißt, normative Diversität meint die schlichte
Zählbarkeit und Vielfalt eindeutiger sozialer Zugehörigkeiten.
Demgegenüber schlage ich als Arbeitsbegriff Trans-Diversität vor, um aus dem
Dilemma der identitären, zählbaren Zugehörigkeiten herauszubrechen und um
hegemoniale Perspektiven innerhalb einer sozialen Gruppe benennen und kri-
tisieren zu können. Trans-Diversität impliziert eine weitestgehende Offenlegung
der Interessen, die hinter Diversitätsansprüchen liegen. Sie gibt darüber hinaus
jenen Positionen, die noch keine Stimme, keine Eindeutigkeit und keine Konstanz
als soziale Zugehörigkeit besitzen, einen Freiraum, der immer mitgedacht wird.
Trans-Diversität ist die alltägliche Diskontinuität der sozialen Vielfalt in sozialen
Ungleichheitsverhältnissen. Für die Praxis bedeutet dies, dass Normativitätskritik
und Trans-Diversität nicht die Anzahl und Kombinationen sichtbarer oder belegbarer
Vielfalt meinen, sondern dass sie das Vergessen der Dominanz von dualistischen
Hierarchien, normativen Entsprechungen und beruhigenden Versprechungen der
„Normalitätszonen“ ausschließen. Trans-Diversität als Ausdruck für die alltägliche
Diskontinuität der sozialen Vielfalt bedeutet, sich der Selbstverständlichkeiten
bewusst zu werden, sie zu destabilisieren und zugleich gesellschaftliche Ungleich-
heitsverhältnisse zu berücksichtigen, um mit Lust auf (neue) Begegnung(en) in die
pädagogische Praxis einzutauchen.
3 Entselbstverständlichen:
Paradigmen queer-dekonstruktiver Praxis
Wesentlich für eine queer dekonstruktive Praxis ist eine Bereitschaft der Fachkraft
zur reflexiven Auseinandersetzung mit dem eigenen Gewordensein und den ge-
sellschaftlichen Verhältnissen, in denen sie_er lebt. Die häufig gestellte skeptische
Frage lautet: Warum sollte ich mich überhaupt mit den Themen auseinandersetzen,
wenn doch eigentlich nur die Gefahr besteht, von Kolleg_innen oder vom Klientel
als „abgerückt“, „speziell“ oder sogar als „verrückt“ abgestempelt zu werden? Die
Erfahrung zeigt außerdem, dass jene Fachkräfte, die diesen ersten Schritt der
persönlich-professionellen Auseinandersetzung gegangen sind, im Umgang mit
den Themenbereichen und im direkten Kontakt häufig zunächst angestrengt und
überfordert agieren. Denn plötzlich, so wird vielen klar, ist Geschlecht und Sexualität
in allen Interaktionen, Inhalten und Herangehensweisen sichtbar. Dies kann sogar
82 Ines Pohlkamp
zur egalitären Utopie als Motor mit Blick auf die pädagogischen Ziele, die realistisch
genug sind, um an den Lebenswelten des Klientels anzuknüpfen.
„Pädagogische Arbeit basiert in der Regel (…) auf der un- bzw. kaum hinterfragten
Annahme einer eindeutigen, kohärenten, identitären Zugehörigkeit hinsichtlich
Geschlecht (Frau oder Mann) und Sexualität (Hetero-, Homo- oder Bisexualität),
aber auch hinsichtlich Alter, Nationalität/Kultur und körperlicher/geistiger ‚Unver-
sehrtheit‘“ (Tuider 2004, S. 179)
84 Ines Pohlkamp
hinweisen. Dabei setzt das utopische Denken eine fundierte Haltung der Kritik an
heteronormativen Geschlechterverhältnissen voraus. Balancieren bedeutet deshalb,
sich zwischen dem nötigen Ernst und dem Spaß an der Vermittlung nicht entschei-
den zu müssen. Queer-dekonstruktive Erziehung, Bildung, Pädagogik und Soziale
Arbeit als Antidiskriminierungsarbeit setzt an der Instabilität und Uneindeutigkeit
an, ohne dabei die Balance zu verlieren.
4 Entschleunigen
„Abschied [zu] nehmen von Paradigmen der Entwicklung und Sozialisation im Sinne
einer zielgerichteten Vorbereitung auf eine erwachsene Identität, die einen Fahrplan
von Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter als normative Entwicklungslinie
[unterstellt]“ (Hartmann 2004, S. 30f).
Bis heute ist es aber genau diese Geradlinigkeit der Entwicklung und Sozialisation,
die zumeist in Pädagogik, Sozialer Arbeit, Erziehung und Bildung den Ablauf,
die Mittel und die Ziele bestimmt. Sie ist außerdem eine Grundlage der eigenen
Zufriedenheit mit der Praxis und eine Messlatte der eigenen Erfolge. Temporäre
Geradlinigkeit ist die Hoffnung darauf, dass alles, was passiert, planbar bleibt. Im
beschleunigten Alltag ist so das Normative das Willkommene, weil es nicht aufhält,
nicht irritiert, nicht stört. Das Leben aber funktioniert nur selten nach Plan. Weder
bei den Fachkräften noch bei dem Klientel. Deshalb ist es wichtig, dem normativen,
beschleunigten Alltagsverstehen, ein Entschleunigen gegenüberzustellen. Denn erst
ein Sich-Zeit-nehmen, Innehalten, Wahrnehmen, Bedeutungen-erkennen, Hinter-
fragen und Reflektieren eröffnet Wege in eine normativitätskritische Pädagogik,
Bildung, Erziehung und Soziale Arbeit. Eine Präzisierung der eigenen Wahrneh-
mung ermöglicht queer-dekonstruktive Perspektiven: Entselbstverständlichungen
sozialer Normen, mit Widersprüchen und Identitätskritik umgehen lernen, lokale
und brüchige Subjektkonstituierungen erkennen und benennen, Differenzen er-
kennen (können) ohne zu dramatisieren und zu diskriminieren, Normativität und
Normalisierungsprozesse erkennen und Kritik äußern können sowie dichotomes
Verstehen der Welt durch plurales Verstehen zu erweitern. Hetero-hegemoniales
Alltagsverstehen von Sexualität und Geschlecht als ein Ausdruck der Schnell-
lebigkeit und der Anpassung kann so aus den Grundpfeilern gelöst und weiter
in Bedeutungsbewegung gehalten werden. Queer-dekonstruktive Perspektiven
auf Konzepte, Interaktionen und Themen können dann als gewinnbringende
Spannungsfelder bis in allgemeine pädagogische Auseinandersetzungen wirken.
Hierfür aber braucht es entschleunigte Advokat_innen, die sich sicher sind, dass
jetzt der richtige Zeitpunkt ist, für heteronormativitätskritische, intersektionale
Ansätze zu streiten.
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II
Biografische Erzählungen
100 Prozent dazugehören
Anja Karrasch
Jonathans Zimmer ist nicht mehr sein Zimmer. Anstelle seines Hochbetts stehen
da nun ein Doppelbett und eine Kommode. Als Kleinfamilie lebten Paul, sein Sohn
Jonathan und Tom 13 Jahre lang zusammen in einer großen Altbauwohnung. Vor
einigen Wochen ist der 17-jährige ausgezogen.
Jonathan steht vom großen Esstisch auf. Er will wieder los, zieht die Camou-
flage Jacke über den dunkelblauen Kapuzenpulli und sucht noch ein paar Sachen
zusammen. Seitdem er ausgezogen ist, kommt er einmal in der Woche bei Paul
und Tom zum Essen und Reden vorbei. Jonathan wohnt jetzt bei seiner Mutter,
weil das Pendeln zwischen zwei Wohnungen zunehmend belastend für ihn war.
Er macht bald Abitur und ist froh, dass er nicht ständig schauen muss, wo er seine
Sachen hat. „Für mich war mein Aufwachsen immer klassisch. Entweder ich fahre
zu Papa oder zu Mama. Das war immer mein Gedanke. Ich hatte auch, als ich klein
war, nie das Gefühl, meine Familie sei anders als andere. Es war eher so, dass unser
Familienleben besser funktioniert hat, wenn ich es mit denen von Freunden vergli-
chen habe,“ sagt er. Sein Vater lebt mit einem Mann zusammen. Das ist Jonathans
Realität, über die er nicht diskutieren möchte. Entweder die Leute kommen damit
klar und wenn nicht, dann kann er sie nicht ernst nehmen. „Es kommt einfach
nur auf die Menschen an und es ist komplett egal, welche Vorlieben sie haben.“
Als sein Vater so alt war wie Jonathan, hatte er Freundinnen, aber er fand auch
Männer gut. Das war in den 80er Jahren. Paul wuchs im Ruhrgebiet auf und damals
waren alternative Lebensmodelle die absolute Ausnahme. Das Thema Homosexualität
war Tabu und erst Jahre später fand Paul den Mut, seiner Familie zu sagen, dass
er schwul ist. Sie reagierte so, wie er es erhofft hatte, mit Interesse und Akzeptanz.
Bevor er sich entschied, nur mit Männern zusammen zu sein, lernte er Jonathans
Mutter während des Studiums in Ostdeutschland kennen. Sie verloren sich aus
den Augen, trafen sich später wieder und verliebten sich. Eineinhalb Jahre nach
Jonathans Geburt trennte sich Paul wegen seines ersten langjährigen Partners von
ihr. „Dass ich Vater geworden bin, ist das größte Glück in meinem Leben. Nach
der Trennung begann eine schwierige Zeit, da es Verletzungen gab und damit auch
Streit, aber wir waren uns unserer großen Verantwortung Jonathan gegenüber
bewusst und uns war klar, dass wir beide für ihn präsent sein wollten“, erinnert
sich der 45-jährige. Dafür waren sie bereit, neue Wege zu gehen. Die Familie zog
mit seinem neuen Lebensgefährten in eine WG, damit Jonathan sich weiterhin
liebevoll aufgehoben fühlen konnte. Ein Gefühl, das sie selbst in ihren Familien
erlebt hatten. Auch in dieser dramatischen Lebenssituation reagierte das familiäre
Umfeld nicht mit Ablehnung. „Wie damals, als ich mit Mitte zwanzig meiner Familie
von meiner Homosexualität erzählt habe, war ich wieder in der Situation, darauf
zu hoffen, dass die Familie von Jonathans Mutter mich weiter akzeptiert und das
war dann auch so“, erzählt der studierte Sozialpädagoge. Als Jonathan vier Jahre
alt war, lernte er Tom kennen. Die WG löste sich auf und Jonathan pendelte von
da an zwischen den Wohnungen seiner Eltern.
Für Tom war von Anfang an klar, dass er kein zweiter Vater ist, sondern eine
zusätzliche Bezugsperson. „Wir waren uns einig, dass ich mich erziehungstech-
nisch nur dort einklinke, wo es um unser gemeinschaftliches Leben geht“, sagt er.
Er beschreibt seine Beziehung zu Jonathan als freundschaftlich und erzählt von
einem Restaurantbesuch mit dem damals Sechsjährigen, der es liebte, sich nach
dem Essen in Restaurants auf Stühle oder eine Bank zu legen und dort zu schlafen.
Er fand es toll, einfach dabei zu sein und den Geräuschen und Gesprächen zu lau-
schen. Diesmal gingen sie allein zum Essen. Das hatte sich Jonathan gewünscht,
da der Unternehmer zuvor beruflich viel unterwegs gewesen war. Während ihres
vertrauten Zusammenseins sagte der kleine Junge zu ihm: „Wir sind Freunde.“
Das war auch für Tom die Position, mit der er sich identifizieren konnte. Auch
wenn er manchmal traurig darüber war, für Jonathan nicht der erste Ansprech-
partner zu sein: „Das tat schon ab und zu weh.“ Aber es gab Bereiche, für die war
er zuständig, wie regelmäßig mit ihm zum Schwimmen zu gehen. Jonathan täglich
vom Kindergarten oder von der Schule abzuholen, dafür fühlten sich die Eltern
verantwortlich. Während der Kindergartenzeit wurde Paul von den Erzieherinnen
auf seine Lebenssituation angesprochen, da Jonathan in der Gruppe von zwei Vätern
100 Prozent dazugehören 93
erzählt hatte. „Die Pädagoginnen haben sehr darauf geachtet, ob ein Kind in einer
besonderen Situation ist, die in der Gruppe aufgearbeitet werden muss. Für mich
war es ein gutes Gefühl zu sehen, dass die Erzieherinnen so sensibel reagierten“,
erinnert er sich und erzählt schmunzelnd von dem Buch „König und König“, das
sie ihm empfahlen. In der Geschichte hat eine alte Königin keine Lust mehr zu
regieren und möchte, dass endlich ihr Sohn übernimmt. Da der zukünftige König
heiraten muss, wird eine Frau für ihn gesucht. Prinzessinnen aus allen Ländern
werden vorgeführt, aber der Prinz verliebt sich in den Bruder einer Prinzessin.
Am Ende gibt es eine Männerhochzeit und die Königin kann endlich faul in ihrem
Liegestuhl liegen. Jonathan kann sich daran nicht mehr erinnern und sagt grinsend:
„Ich habe Schwerter gebaut und Ritter gespielt.“
„Mein Papa lebt auch nicht mit seinem besten Freund zusammen“
Tom erzählt, dass er Angst hatte, dass Jonathan sich wehren muss gegen Vorurteile
und dumme Sprüche. Einmal, als Jonathan zwölf Jahre alt war, waren wie so oft
seine Freunde bei ihnen zu Besuch. Es war ein großer Tumult im Flur und dann
fragte ihn ein Junge: „Wieso lebst Du eigentlich mit Paul zusammen? Mein Papa
lebt auch nicht mit seinem besten Freund zusammen.“ Danach war es sehr still
und der 47-jährige antwortete: „Es hat etwas mit Liebe zu tun.“ Dem Paar war es
wichtig, dass auch die Eltern von Jonathans Freunden über ihre Lebenssituation
informiert waren und sie machten es zum Thema, wenn die Jugendlichen das Wort
„schwul“ in ihrer Alltagssprache als Schimpfwort benutzen. „Das hatte nichts
mit uns zu tun, aber das Psycho-Mobbing hat schon zugenommen. Wenn man
extrem sensibel ist, kann das schon krass sein. Deswegen braucht man ein starkes
Selbstbewusstsein, um sich abzugrenzen, ob es Schwulsein oder irgendwas anderes
ist“, meint Jonathan. Dennoch sieht er einen Fortschritt hin zu mehr Akzeptanz.
Allein auf seiner Schule gibt es mindestens zehn Leute, von denen bekannt ist, dass
sie schwul oder lesbisch sind, erzählt Jonathan und auch in der Politik und in den
Medien sei das Thema ja inzwischen präsent.
Der Wunsch nach Normalität und Selbstverständlichkeit ist für Tom ein wichtiger
persönlicher Aspekt. Seine Kindheit und Jugendzeit verbrachte er in einer Kleinstadt
im katholisch geprägten Münsterland. Schon während der Pubertät spürte er, dass
er Männer liebt. Mit 25 Jahren, nach vielen abgebrochenen Anläufen, traute er sich
94 Anja Karrasch
seiner Familie davon zu erzählen. „Es war eine hochdramatische Situation, weil
ich große Angst vor der Reaktion meiner Eltern hatte. Ich kannte andere Familien,
da war der Kontakt komplett abgebrochen.“ Seine Mutter weinte und sein Vater
stellte viele Fragen. „Er wollte zum Beispiel wissen, ob ich auch Frauenkleider tra-
ge“, was er verwundert verneinte. Seine Familie stand hinter ihm, denn ihr ging
es immer darum, dass Menschen als Menschen wahrgenommen werden. Es gab
keine Ressentiments gegenüber anderen Verhaltensmustern. Aber das traditionelle
Rollenbild von Mann und Frau war zu dieser Zeit noch unantastbar und so fühlte
er sich durch sein Schwulsein anders – und gleichzeitig normal, da er ein Leben
inmitten der Gesellschaft führte und führen wollte. „Ich wollte immer zu den 100
Prozent gehören und ich wünsche mir sehr, dass unser Lebensmodell als normal
akzeptiert wird“, sagt Tom. Vor drei Jahren erlebten sie, dass dies bereits Realität
ist. Zu Jonathans Konfirmation hatten sie gemeinsam mit seiner Mutter alle drei
Familien zu einer großen Familienfeier eingeladen. Es war das erste Mal, das alle
zusammen waren. Es wurde ein schönes Fest und war für sie der Beweis, dass sie
tatsächlich eine glückliche Familie sind.
„Ich kann stolz darauf sein, wer ich bin“
Anja Karrasch
Die großen Fenster der Maisonette Wohnung geben den Blick auf den januargrauen
Himmel frei. Am Schreibtisch im Wohnzimmer sitzt Klaus und bereitet das Fest zu
seinem 69. Geburtstag vor. Jahrzehntelang war der Buchhändler politisch aktiv in
der Schwulenszene gewesen und hatte sich für eine bessere und gleichberechtigte
Zukunft engagiert. Seit anderthalb Jahren lebt er in einem Mehrgenerationenhaus.
Als die Schwulenberatung in seinem Wohnort 2003 ein Netzwerk für neue
Lebensformen im Alter gründete, gehörte Klaus zu den Ersten, die sich ehren-
amtlich engagierten. Er war mit 58 Jahren arbeitslos geworden. Sein Arbeitgeber
hatte Konkurs angemeldet. Von einem Tag auf den anderen hatte Klaus viel Zeit
und beim Arbeitsamt sagte man ihm, er sei nicht mehr vermittelbar. Einmal in
der Woche traf sich Klaus mit anderen zum Gedankenaustausch, woraus sich die
Idee des gemeinsamen Wohnens entwickelte. „Es war uns ein wichtiges Anliegen,
ein Mehrgenerationenprojekt zu gründen, ohne eine vorherrschende sexuelle
Orientierung“, sagt er. Im Sommer 2012 wurde das modernisierte, fünfstöckige
Haus eröff net. Hier leben alte und junge, schwule und heterosexuelle Männer mit
lesbischen und heterosexuellen Frauen zusammen. Der Name des Hauses ist Pro-
gramm. Seitdem wohnt auch Klaus in einer der 24 Wohnungen des rosa verputzten
Gebäudes. „Es gibt natürlich Probleme und Konflikte. Wie überall. Im Großen
und Ganzen funktioniert das Zusammenleben gut. Man streitet sich, diskutiert
viel, aber wir finden auch Konsens“, erzählt er ruhig und mit wachem Blick. Diese
Formen der Auseinandersetzung des Umgangs miteinander haben Klaus auf seinem
Lebensweg immer wieder begleitet. Als bekennender homosexueller Mann war er
während der 70er Jahre in der politischen schwulen Szene aktiv gewesen und hatte
die ersten großen Schwulen-Demos mitorganisiert. Zuvor war er Mitte der 60er
Jahre aus der Provinz in die Großstadt gekommen, wo er nach vielen negativen
Erfahrungen aus seinem familiären und berufl ichen Umfeld zum ersten Mal das
Gefühl hatte, frei leben zu können.
Klaus wuchs auf in einem kleinen Ort am Neckar. Anders als die Jungen in seinem
Alter spielte er besonders gern mit Mädchen und kaum konnte er lesen, verschlang
er jedes Buch, was ihm in die Hände geriet, später auch gezielt zum Thema Ho-
mosexualität. Schwule Autoren wie Jean Genet, James Baldwin oder Oscar Wilde
waren für ihn als Jugendlicher und erwachsener Mann wichtige Vorbilder und
Mutmacher. Seine Mutter war streng katholisch und reagierte auf alles ablehnend,
was von den herrschenden Wert- und Moralvorstellungen abwich. Klaus schuf sich
früh eine eigene Welt, in der die Literatur eine große Rolle spielte. „Dass ich anders
war, bezog sich auf alle Lebensbereiche. Anstatt Fußball zu spielen, habe ich lieber
in der Ecke gesessen und ein Buch gelesen“, erinnert er sich. Dies machte ihn zum
Außenseiter, auch in seiner Familie. Erst mit der Pubertät veränderte sich sein
Kontakt zu gleichaltrigen Jungen. Klaus wurde bewusst, dass er in den Freund,
mit dem er in der Freizeit viel zusammen war, verliebt war. „Ich hatte das Glück,
bei ihm auf Gegenliebe zu stoßen. Wir hatten eine mehrjährige Freundschaft, aus
der dann eine Liebesbeziehung wurde. Darüber war ich sehr glücklich.“ Mit dem
Freund hat er immer noch Kontakt, der einen anderen Weg wählte, im Ort blieb,
eine Banklehre machte, heiratete und Sparkassendirektor wurde. Zu seiner Homo-
sexualität bekennt er sich bis heute nicht. Klaus schildert amüsiert ein gemeinsames
Erlebnis, als er vor drei Jahren mit ihm zusammen in seinem Heimatort an einem
Kirchweihfest teilnahm und es einen Karaoke-Abend gab, den ein junges schwules
Paar mit dem Lied “Er gehört zu mir“ von Marianne Rosenberg gewann. Der eine
war der Sohn des Schuldirektors, der andere der Sohn des evangelischen Pastors
und die beiden 18-jährigen standen ganz selbstverständlich Hand in Hand auf
der Bühne. „Mein Freund ist völlig ausgerastet und wollte das nicht akzeptieren
und meinte, man könne sich doch als Schwuler in der Öffentlichkeit nicht so zur
Schau stellen. Da gibt es inzwischen einen richtigen Generationenkonflikt. Und
dem Schicksal bin ich entgangen durch meine Entscheidung wegzugehen. Es gibt
beides, die junge Generation von Schwulen, die mehr und mehr akzeptiert werden
und die alten schwulen Zausel in meinem Alter“, sagt er lächelnd. Aufgrund seines
ehrenamtlichen Engagements hat Klaus viel Kontakt mit älteren Schwulen, bei
denen diese alte Angst als Homosexueller erkannt zu werden immer noch da ist.
„Trotz der zunehmenden Liberalität und Offenheit gibt es immer noch die alten
Urängste. Und das hat mit dem Reaktionen des Umfelds von damals zu tun, die
durchweg negativ waren.“
„Ich kann stolz darauf sein, wer ich bin“ 97
Ein ausschlaggebender Grund dafür war der Paragraf 175 des StGB1, der Homo-
sexuelle kriminalisierte, indem dieser nicht nur sexuelle Handlungen zwischen
Personen männlichen Geschlechts unter Strafe stellte, sondern auch kleine Gesten
wie Händchenhalten oder einen Kuss. Nach dem Realschulabschluss absolvierte
Klaus eine Verlagslehre und ging anschließend mit 20 Jahren zur Bundeswehr.
Zur Marine, weil er ein Buch von Jean Genet gelesen hatte, in dem es auch um die
Seefahrt und Matrosen ging. In der Realität war dann alles weniger romantisch.
Im Gegenteil. Er musste um jeden Preis verhindern, dass seine sexuelle Neigung
öffentlich wurde. Dennoch verliebte er sich in einen Zeitsoldaten, der kurz vor
seiner Entlassung stand und zum Studium in die Großstadt wollte. Als er zu Klaus
sagte: „Komm doch mit,“ gab es für ihn kein Zögern mehr. Dort war das Ausleben
der Homosexualität zwar freier möglich, aber auch hier bestimmte die vorherr-
schende Verurteilung den Umgang der Schwulen untereinander. Anonymität zu
wahren war sehr wichtig, um nicht aufzufallen. Es gab nur wenige Treffpunkte, die
überwiegend sexuell orientiert waren und jeder Kontakt, der darüber hinausging,
war kaum möglich. „Ich habe sehr damit zu kämpfen gehabt, da ich das anfangs
nicht verstanden habe. Warum sagt er mir nur seinen Vornamen? Warum weiß ich
nicht, wo er wohnt? Es war die Angst, zu viel von sich preiszugeben, sodass man ihn
identifizieren und damit anzeigen kann. Es war sehr schwer sich kennenzulernen“,
berichtet Klaus von den ersten Jahren. Immer noch ist die Verletzung spürbar, als
er erlebte, dass jemand die Straßenseite wechselte, mit dem er zuvor eine Affäre
gehabt hatte. Das waren die extremen Fälle, die ihm klar machten, welch enormer
Druck auf den Schwulen lastete. Das größte Kompliment in der schwulen Szene
damals sei gewesen: „Hey Mann, Dir sieht man es ja überhaupt nicht an.“
Der Besuch eines Kinos, wo der Film von Rosa von Praunheim „Nicht der Ho-
mosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ uraufgeführt wurde,
brachte die entscheidende Wende in seinem Leben. Bereits die 1969 erfolgte Libera-
lisierung des Paragrafen 175, der die praktizierte männliche Homosexualität unter
1 Der § 175 des Strafgesetzbuchs (StGB), der seit 1871 homosexuelle Handlungen zwischen
Männern unter Strafe stellte, wurde im nationalsozialistischen Deutschland verschärft
und hatte in dieser verschärften Fassung in der Bundesrepublik Deutschland noch bis
1969 Bestand. Von 1969 bis 1994 existierte er in abgemilderter Form weiter, bis er im
Zuge der Rechtsangleichung mit der DDR 1994 endgültig außer Kraft gesetzt wurde.
98 Anja Karrasch
Erwachsenen nicht mehr unter Strafe stellte, hatte ein öffentliches schwules Leben in
Deutschland langsam möglich gemacht. Der Paragraf 175 wurde erst 1994 im Zuge
der Wiedervereinigung abgeschafft. Der Film thematisierte das damalige Leben
vieler Schwuler in der Subkultur und forderte sie auf, ihre Angst zu überwinden
und sich zu ihrer Homosexualität zu bekennen, um solidarisch und kämpferisch für
eine bessere und gleichberechtigte Zukunft anzutreten. „Es gab Listen im Foyer des
Kinos, in denen man sich mit Name, Anschrift und Unterschrift eintragen konnte,
um sich mit dem Film zu solidarisieren. Gefährlich war es nicht mehr, aber immer
noch anrüchig. Gleichzeitig war es ein befreiender Schritt“, erinnert sich Klaus. In
den nächsten Monaten traf er sich mit anderen Schwulen, um über ihre Situation
zu diskutieren und gründete mit ihnen im Frühjahr 1972 in einer Fabriketage ein
schwules Zentrum. „Wir orientierten uns an der schwarzen Bürgerrechtsbewegung
in Amerika und wandelten deren Slogan „Black is beautiful“ um in „Schwul ist cool“.
Damit wurde dieser Begriff als Bezeichnung für Homosexualität im Bewusstsein
etabliert und war Ausdruck unseres neuen Selbstbewusstseins.“ Die 70er Jahre,
immer im Verein mit seinen Freunden, wurde die Zeit seiner positiven Erfahrungen.
Das politische Engagement, der Mut mit der Organisation von Schwulendemos in
die Öffentlichkeit zu gehen und das Coming-out gegenüber seinem Arbeitgeber
waren prägende Erlebnisse. Klaus hatte eine Buchhändlerlehre gemacht und bekam
einen Job bei einer großen Buchhandlung. Anders als seine schwulen Mitstreiter,
die in ihren Betrieben und am Arbeitsplatz diskriminiert wurden, reagierte sein
Chef positiv und beförderte ihn zum Abteilungsleiter und übertrug ihm später die
Leitung einer Filiale. „Das hat mich unheimlich aufgebaut und aus dem Gefühl
der Unterlegenheit entwickelte sich ein Bewusstsein dafür, dass ich stolz darauf
sein kann, wer ich bin.“
Nach dem Tod der Mutter brach sein Vater das Schweigen
Ein Foto an der Wand neben dem Bücherregal in seinem Wohnzimmer zeigt ihn
mit seinem damaligen Freund, Händchen haltend mit rotem Schal und Stirnband,
während einer Schwulendemo. Sie wirken unbeschwert als Vertreter einer neuen
Generation, die ihre Liebe nicht mehr versteckte. „Dieser Freund war sehr wichtig
für mich. Er war in der Großstadt aufgewachsen und hatte ein ganz anderes Selbst-
bewusstsein als ich. Seine Familie wusste, dass er schwul ist. Jeden Sonntag sind wir
zu ihnen in ihr idyllisches Reihenhaus zum Mittagessen gefahren.“ Während dieser
Zeit war der Kontakt zu seiner eigenen Familie abgebrochen und erst Mitte der 80er
Jahre, als die Aids-Krise die schwule Szene erschütterte, riefen seine Schwestern
und auch sein Vater besorgt an, um zu erfahren, wie es ihm ginge. In der großen
„Ich kann stolz darauf sein, wer ich bin“ 99
Wohngemeinschaft, in der er damals lebte, starben einige seiner Freunde und durch
die Krankheit verlor Klaus mehrfach einen Lebenspartner. Bis dahin war in seiner
Familie nie offen über seine Homosexualität gesprochen worden. Erst nach dem Tod
seiner Mutter 1998 brach zu seinem Erstaunen sein Vater das Schweigen. Nach der
Beerdigung, im Kreis der Familie am Abendbrottisch, fragte er ihn: “Wie geht es
Dir eigentlich? Du bist doch schwul, nicht wahr? Warum hast Du denn nie etwas
gesagt?“ Klaus hatte es mit Rücksicht auf seine Mutter getan, von der er wusste,
dass es ihr wehgetan hätte, einen schwulen Sohn zu haben.
Die Erkenntnis darüber, wie einflussreich ein einzelner Mensch in der Familie
sein kann, beschäftigt ihn noch heute. Sich mit anderen darüber und Themen wie
Sexualität, Partnerschaft und Beruf auszutauschen, ist immer noch Teil seines
Lebens. Darüber ist Klaus sehr froh, auch über den Kontakt mit jüngeren Mitbe-
wohnern. Sein Nachbar ist Ende dreißig, kocht gern und hat oft Freunde zum Essen
zu Besuch. „Da ist immer eine Menge los und reißt mich aus meinem Trott heraus.“
Die traumatische Erfahrung, während der 90er Jahre mehrere Partner an Aids zu
verlieren, machte es schwer für ihn, sich wieder auf eine Beziehung einzulassen.
Aber die Sehnsucht nach einer Partnerschaft ist geblieben. Wenn er nebenan ins
Café geht und ein älteres schwules Paar sieht, das sich tief in die Augen schaut,
dann ist er immer ein bisschen neidisch.
Ein Leben für die Freiheit
Anja Karrasch
Als sich Samira mit 21 Jahren das erste Mal in eine Frau verliebte, dachte sie nicht
daran, lesbisch zu sein, sondern erlebte diese Liebe als eine tiefe Verbindung zu einem
besonderen Menschen. Zu dieser Zeit lebte die zierliche Frau als politische Aktivistin
im Untergrund in ihrem arabischen Geburtsland. Aus politischen Gründen floh
Samira 1985 nach Deutschland und trat schließlich aus ihrer Partei aus, da sie ihre
Liebe zu Frauen nicht akzeptierte. Seit 1997 berät die Diplom-Psychologin in einer
Beratungsstelle Lesben, Schwule, Bisexuelle und Trans*Menschen1 (LSBIT), die
rassistische, sexistische, homophobe und transdiskriminierende Erfahrungen erlebt
haben. Sie forscht ebenfalls zum Thema Gewalt- und Mehrfachdiskriminierungen
von lesbischen, bisexuellen Frauen und Trans*Menschen.
Es ist Freitagvormittag in den hellen Räumen der Beratungsstelle in der vierten
Etage eines Hinterhofs. Zu dieser Zeit findet keine Beratung statt und Samira nimmt
sich Zeit für ein Gespräch. Menschen aus allen Altersgruppen kommen hierher, um
zu lernen, mit diskriminierenden Erfahrungen aufgrund ihrer sexuellen Identität,
ihres Geschlechts und ihrer Herkunft umzugehen. Auch für Familienmitglieder
und Freund_innen bietet Samira mit ihrem Team Veranstaltungen an, um sie zu
stärken und für die Probleme zu sensibilisieren, mit denen LSBIT konfrontiert sind.
„Damit sie lernen, sich auf die Wünsche und Gefühle des anderen einzulassen und
nicht ihre eigenen Ideen durchzusetzen und enttäuscht sind, wenn ihre Angehörige
oder Freund_in nicht das macht, was sie für richtig halten. Wir arbeiten in beide
Richtungen“, erklärt Samira. Was es im Alltag oft schwierig macht, auf abfällige
Bemerkungen zu reagieren, ist die mehrfach begründete Ablehnung, weil jemand
1 Transgender wird als Oberbegriff für alle Personen verstanden, für die das gelebte
Geschlecht keine zwingende Folge des bei Geburt zugewiesenen Geschlechts ist. Als
Transgender bezeichnen sich Personen, die ihre Geschlechtsidentität jenseits der binären
Geschlechterordnung leben und damit die Geschlechterdichotomie Frau/ Mann in Frage
stellen (Quelle: Transgender Netzwerk Berlin).
eine Migrationsbiografie hat und gleichzeitig lesbisch, schwul oder trans* ist. Um
diese meist subtile Mehrfachdiskriminierung besser zu verstehen, führte sie 2012
gemeinsam mit anderen Wissenschaftler_innen eine Studie zu diesem Thema durch.
„Die Erfahrung der Mehrfachdiskriminierung ist sehr komplex. Oft bringen die
Menschen Erfahrungen mit, dass sie als Kind schon negativ bewertet wurden und
dann kommt auch noch ihre von der Norm abweichender Geschlechtsausdruck
oder sexuelle Lebensweise hinzu“. Ein interessantes Ergebnis ihrer Studien ist,
dass Einzelerfahrungen zunächst oft gar nicht als diskriminierend erlebt, sondern
verdrängt werden. Beispielsweise verneinte die Mehrheit der Befragten, dass sie
Diskriminierung erfahren haben, gaben aber an anderer Stelle an, oft Witze über
ihre Lebensweise oder abwertende Handbewegungen erlebt zu haben.
Auch Samira erinnert sich erst nach einigem Nachdenken an eine Situation, in
der sie eine Mehrfachdiskriminierung erlebte. Die 55-jährige lebt mit ihrer Frau
in einer Regenbogenfamilie zusammen. Sie haben einen 12-jährigen Sohn, mit
dem sie zu einer Zahnorthopädie ging, da er eine Zahnspange brauchte. Von der
Sprechstundenhilfe wurde sie gefragt, wer sie sei und als sie antwortete: „Mein
Sohn ist hier zur Behandlung. Ich warte auf ihn“, ging die Sprechstundenhilfe zur
Zahnärztin. Auch sie fragte: „Entschuldigen Sie bitte, warum sind sie hier?“ Im
weiteren Gespräch wurde deutlich, dass die Ärztin dachte, Samira wolle ihren Pa-
tienten entführen. „Ich kann es mir nur so erklären, dass meine schwarzen Haare
und meine dunklere Hautfarbe bei ihr diese Assoziation von Entführung und
Kriminalisierung ausgelöst hat. Sie hätte ja auch einfach zugeben können, dass sie
an die Möglichkeit nicht gedacht hat, dass mein Sohn zwei Mütter haben könnte.
Das war eine mehrfache Diskriminierung, wo du weißt, dass mehrere Faktoren eine
Rolle spielen, aber dir nicht klar ist, welche im Vordergrund stehen, also worum
geht es hier eigentlich?“, schildert sie die Situation. Bei ihrer Arbeit berichten die
Ratsuchenden oft, dass sie wenige Vorbilder und Unterstützer_innen haben. Sie
selbst hat in ihrem Leben immer Menschen und eine Gemeinschaft an ihrer Seite
gehabt, die sie dabei unterstützt haben, ihren eigenen Weg zu gehen. In ihrem
Geburtsland war es ihre Partei, auch wenn sie ablehnend auf ihre Liebe zu Frauen
reagierte. Samira war schon im Exil in Deutschland, als sie sich deshalb entschied,
aus der Partei auszutreten. Ihr Outing führte zu heftigen Diskussionen innerhalb
der Frauengruppe, in der sie aktiv war. „In unserer Frauengruppe wurde darüber
diskutiert, dass ich lesbisch bin und was das für sie selbst bedeutet. Die Mehrheit
Ein Leben für die Freiheit 103
der Frauen hat sich hinter mich gestellt und angefangen auch über ihre eigenen
Beziehungen zu sprechen, wo sie sich frei fühlen und wo nicht“, erzählt Samira.
Sie begann Deutsch zu lernen und Psychologie zu studieren und zog um in eine
große Stadt, wo sie in einer Wohngemeinschaft mit 13 Frauen lebte. Zum ersten Mal
hatte sie das Gefühl, frei leben zu können. „Das war unterstützend für mich, raus
zu kommen aus diesen engen Zusammenhängen, wie ich sie vorher erlebt hatte.
Ich konnte mir eher vorstellen ins kalte Wasser zu springen und zu schauen, wo es
Ressourcen für mich gibt. Hier hatte ich meine erste offene lesbische Beziehung.“
Trotzdem sie sich von dem Leben in ihrem Geburtsland verabschiedet hatte, blieb
der Kontakt zu ihrer Familie bestehen. Bei ihrem Vater konnte sie sich vor seinem
Tod vor 23 Jahren nicht outen, aber ihre Mutter kam sie dreimal in Deutschland
besuchen, als sie bereits mit ihrer deutschen Freundin zusammenlebte. Samira
sagte ihr beim zweiten Treffen, dass sie ihre Freundin liebt. Ihre Mutter war nicht
erstaunt, sondern hatte es bereits bei ihrem ersten Besuch gespürt. Obwohl sie
religiös und Homosexualität für sie eine Sünde war, unterstützte sie ihre Tochter.
„Du bist zu selbstständig für Männer. Ich kann mir vorstellen, dass sie mit dir nicht
klarkommen und dass du auch keinen Mann brauchst“. Ihre Mutter war überzeugt
davon, dass sie trotzdem ins Paradies kommen wird, da ihre vielen guten Taten
die Sünde, in der sie lebt, überwiegen würden. „Wir sehen uns dann“, sagte sie zu
Samira. Für sie war das Wichtigste, dass ihre Tochter glücklich ist und dass sie es
war, hatte sie bei ihren Besuchen mit eigenen Augen gesehen.
Persönlich hat Samira ihr Glück gefunden. In politischer Hinsicht wünscht sie
sich, dass die Gesellschaft offener wird gegenüber anderen Lebensentwürfen, die
von den herrschenden Vorstellungen von Geschlechterrollen und -merkmalen
abweichen. „Wir haben schon sehr viel erreicht in unserer Gesellschaft, aber es gibt
auch noch viel zu tun“, sagt sie. Zum Beispiel würde das Thema sexuelle Vielfalt
in der Schule zu wenig thematisiert, da viele Lehrer_innen unsicher sind und sich
damit überfordert fühlen. Eine Studie zeigt, dass ein angemessener Umgang mit
Mobbing und Diskriminierung zu mehr Akzeptanz für sexuelle Vielfalt bei den
Schüler_innen beitragen kann. Samira erlebt durch ihren Sohn, der in die 7. Klasse
104 Anja Karrasch
Seit 15 Jahren sind Anna und Karla ein Paar. Unzertrennlich, immer noch verliebt
und ihr größter Wunsch ist es, miteinander alt zu werden. Das war nicht immer so.
Als vor siebeneinhalb Jahren ihr Sohn Kolja auf die Welt kam, geriet ihre symbio-
tische Beziehung ins Wanken. Sie waren kurz davor sich zu trennen und schafften
es dennoch, sich als Paar und Mütter neu zu finden.
Anna und Karla lernten sich Ende der 90er Jahre in einer Zahnarztpraxis kennen.
Beide spürten sofort, dass sie eine besondere Anziehungskraft verband. Karla arbei-
tete dort als Zahnarzthelferin und Anna kam eines Morgen als Schmerzpatientin
in die Praxis. „Karla war sehr entzückend zu mir“, erinnert sich die 44-jährige mit
einem feinen Lächeln. Zunächst kam sie als Patientin wieder, und als Karla ihr
wegen Schmerzen in der Schulter anbot, zu ihr nach Hause zur Shiatsu Behandlung
zu kommen, zögerte Anna keine Sekunde. Behutsam näherten sie sich einander,
und es dauerte fünf Monate, bis sie sich zum ersten Mal küssten. Sie wurden un-
zertrennlich. Das Handy wurde ihr unverzichtbarer Draht zueinander, wenn sie
nicht zusammen sein konnten. „Ich hatte nie ein Handy gehabt, aber dann brauchte
ich es, damit ich Anna immer anrufen konnte“, erzählt Karla. Mit siebzehn Jahren
hatte sie sich zum ersten Mal in eine Frau verliebt, während eines Ostseeurlaubs mit
ihrem Vater. Auch Männer fand sie interessant, verlor aber schnell das Interesse,
wenn sie erobert waren. „Ich habe geflirtet, mit Männern und Frauen, aber zu mehr
ist es oft nicht gekommen, weil ich immer so schüchtern war“. Erst mit 27 Jahren
hatte Karla ihre erste feste Beziehung mit einer Frau, die acht Jahre lang dauerte.
Als sie in die Brüche ging, fiel sie in ein tiefes Leidenstal, aus dem sie sich langsam
herausarbeitete. Für Anna war sie wieder bereit, sich neu auf die Liebe einzulassen.
Mit ihr zusammen ein Kind zu bekommen, gehörte für Karla nicht dazu. Aber
Anna hatte einen großen Kinderwunsch: „Ich hatte schon zwei Schwangerschaften
aus Beziehungen mit Männern nicht zugelassen, weil ich nicht alleinerziehend sein
wollte. Aber ich wollte nicht kinderlos von dieser Welt gehen und wünschte mir,
dass mein Kind in einer normalen Familie aufwächst und für mich sind wir ja eine
normale Familie“, sagt Anna. Für sie war Karla die dritte Frau, mit der sie eine
Liebesbeziehung hatte und fühlte sich ihr so nah, dass sie sich ein Leben mit ihr
vorstellen konnte. Aber Karla dachte an Trennung, um für Anna den Weg frei zu
machen für eine Beziehung, in der ihr Kinderwunsch erfüllt werden könnte. Ein
Traum brachte die entscheidende Wendung. Eines Nachts träumte die 51-jährige,
dass ihre Partnerin zusammen mit einem Kind auftaucht, einem kleinen Jungen
mit Annas roten Haaren. Sie nahm es als ein Zeichen und blieb.
In ihrem Freundeskreis machten sie sich auf die Suche nach einem Samenspender,
da sie wollten, dass ihr Kind Kontakt zu seinen leiblichen Vater hat und weiß, woher
seine anderen 50 Prozent kommen. Das war nicht so einfach, da auch die Partnerin
einverstanden sein sollte. Schließlich wurden sie fündig und beide erzählen mit
viel Humor von dem Tag, an dem alles zusammenpasste. Anna hatte ihre frucht-
baren Tage, die sie mittels eines Teststäbchens gemessen hatte. Und Knud, der
Samenspender, hatte Zeit: „Es war ein Sonntag, der 22. Januar 2006 und wir riefen
bei Knud und seiner Frau an und kündigten unseren Besuch an, um den Samen
abzuholen. Als wir ankamen, mussten wir feststellen, dass sie ihn im Kühlschrank
gelagert hatten, was gar nicht ging, weil dann die Samen absterben“. Also schickte
das Paar Anna und Karla bei minus 18 Grad noch einmal spazieren und fünfzehn
Minuten später konnten sie noch einen „frischen“ Becher mit nach Hause nehmen.
Anna wurde auf Anhieb schwanger. Da Karla schon einmal schmerzhaft erlebt
hatte, dass sie nach der Trennung von ihrer letzten Partnerin auch den Kontakt zu
deren Tochter verloren hatte, entschieden sie sich dafür zu heiraten, um durch eine
Adoption ihres Kindes durch Karla das gemeinsame Sorgerecht zu ermöglichen.
„Rein bürokratisch gab es vonseiten der Ämter eine große Unsicherheit, wer für die
Adoption zuständig ist. Es war dann so, dass uns das Jugendamt zur Adoptivstelle
geschickt hat, die feststellte, dass in unserem Fall das Jugendamt entscheidet“,
berichtet Karla von den bürokratischen Hürden, die sie überwinden mussten. Als
ihr Sohn Kolja auf die Welt kam, war alles perfekt organisiert, aber womit sie nicht
gerechnet hatten, war der Bruch, der die Geburt für ihre Beziehung bedeutete. „Ich
war ja gespannt, was für eine Mutter Anna wird, aber dass sie dann eine richtige
Glucke wird, damit hatte ich nicht gerechnet. Mit dem Moment der Geburt stand
ich draußen. Es war eine neue Bindung, die sie mit Kolja einging. Ich wollte dabei
sein und Anna fühlte sich kontrolliert“. Während Karla ihre Gefühle schildert, hört
Eine ganz normale Familie 107
Anna aufmerksam zu und antwortet ruhig, die neue Situation sei sehr anstrengend
für sie gewesen. Erst gestern hatten sie über diese Zeit noch einmal gesprochen, was
sie auch während der schwierigen Zeit nach der Geburt immer wieder getan hatten.
Dadurch blieben sie auch in dieser Krise miteinander verbunden und schafften es,
ihre Beziehung neu zu ordnen und sich ihre Bereiche in der Familie und bei der
Erziehung ihres Sohnes zu schaffen. Karla ist wichtig, dass Kolja gut isst und Anna
achtet darauf, dass er warm genug angezogen ist. Oder beim Skiurlaub fährt Karla
mit ihm auch riskante Pisten hinunter, während Anna auf den einfacheren Hängen
allein unterwegs ist. Für Kolja, der inzwischen siebeneinhalb Jahre alt ist, heißen
sie beide Mama, aber „neulich im Gespräch meinte er, ich sei ja eher seine Halb-
mama, weil man mit mir alles machen kann wie Skifahren und Spielen. Und seine
andere Mama sei zum Kuscheln da“, erzählt Karla amüsiert und findet es natürlich,
dass er eine besondere Beziehung zu Anna hat. „Für ihn ist ganz klar, sie ist seine
Mama, da sie ihn auf die Welt gebracht hat“. Ihre große Liebe und das Verständnis
füreinander trägt sie durch die Höhen und Tiefen des familiären Alltags. Damit
das so bleibt, wollen Anna und Karla wieder mehr Zeit allein verbringen. Bald wird
Karlas Nichte zweimal im Monat vorbeikommen, um auf Kolja aufzupassen. Und
im Sommer wird er das erste Mal ein paar Tage ohne sie bei seiner Oma verbringen,
da das Paar gemeinsam beruflich unterwegs sein wird. Ihre Familien akzeptieren
ihre Art zu leben. Nur Karlas Bruder hat einmal ihren Vater gefragt, ob er nicht in
der Erziehung etwas falsch gemacht hätte, da auch Karlas Schwester lesbisch ist. Er
reagierte mit Unverständnis und stellte klar: „Ich liebe meine Töchter, wie sie sind,
und mit wem sie sich entschieden haben zusammen zu leben, das ist ihre Sache“.
den anderen Kindern erklärte, dass er woanders wohnt. Kolja sieht ihn zwei- bis
dreimal im Jahr, und wenn er möchte, kann er jederzeit mit ihm telefonieren. Für
seine Zukunft wünschen sich Anna und Karla, dass er seinen Weg findet und seine
Talente nutzt: „Ich möchte, dass er eine Stetigkeit im Leben bekommt. Dazu gehört,
durchzuhalten, auch wenn es schwierig wird. Es war toll zu sehen, wie viel er dieses
Jahr von seinem Skilehrer gelernt hat. Eben wieder aufzustehen, wenn er hinfällt“,
sagt Anna. Was wäre, wenn Kolja Männer lieben würde, wenn er groß ist? Karla
hat sich diese Frage auch schon gestellt. „Dann wäre es halt so. Wir nehmen es
dann, wie es ist. Von mir wünsche ich mir, dass, egal wohin sein Weg geht, ich die
Gelassenheit habe auszuhalten und anzuerkennen, für was er sich entscheidet und
nicht einzugreifen“. Die Ruhe, die beide ausstrahlen, lässt daran keinen Zweifel.
Einleitung
Wenn in einer Familie mindestens ein Elternteil lebt, das sich als lesbisch, schwul,
bisexuell oder transident versteht, dann wird diese Familie als Regenbogenfamilie
bezeichnet (Gerlach 2010, S.18). Der Regenbogen steht für die Emanzipationsbe-
wegung der Homosexuellen. Die Vielfalt, die durch den Regenbogen ausgedrückt
werden soll, spiegelt sich dabei auch in der Vielfalt von Regenbogenfamilien im
Kontext von LSBT-Lebensweisen wider.
Den Begriff der Regenbogenfamilie selbst gibt es noch nicht sehr lange. Erst 2009
fand das Wort Eingang in den Duden. Auch ist anzumerken, dass die alltägliche
Wahrnehmung und Anerkennung von Regenbogenfamilien noch in den Kinder-
schuhen steckt. So lassen sich die relevanten gesellschaft lichen und rechtlichen
Entwicklungen auf die letzten beiden Jahrzehnte in Deutschland zurückführen.
Diese haben dazu geführt, dass Regenbogenfamilien auf unterschiedlichsten Wegen
entstehen und teilweise Anerkennung fi nden konnten. Während Homosexualität
und auch Transsexualität noch vor wenigen Jahren in den überwiegenden Fällen an
Kinderlosigkeit gebunden war, entscheiden sich heute immer mehr LSBT-Personen
dafür, selber leibliche Kinder zu bekommen oder Kinder bei sich aufzunehmen, um
mit ihnen als Familie zu leben. Die Wege, wie Regenbogenfamilien entstehen, und
auch die Dynamiken, die hierbei entfacht werden, sind dabei sehr unterschiedlich.
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass das deutsche Familienrecht nicht
darauf ausgelegt ist, dass es in einer Familie gleichgeschlechtliche Eltern gibt und
es in einer Regenbogenfamilie auch mehr als zwei Eltern geben kann. Wiederholt
hat der Gesetzgeber in Deutschland jedoch in den letzten Jahren vom Bundesver-
fassungsgericht die Aufforderung erhalten, Lesben und Schwule in einer Eingetra-
genen Lebenspartnerschaft mit heterosexuellen Ehepaaren gleichzustellen. Diese
Gleichstellungsdiskussionen werden von konservativer Seite jedoch insbesondere
dann torpediert, wenn es um Familie und Kinder geht. Vernachlässigt wird dabei,
dass diese Eltern selbstredend Verantwortung für ihre Kinder übernehmen und
Kinder in diesen Familien, wie die Studie von Martina Rupp zur „Lebenssituation
von Kindern in Eingetragenen Lebenspartnerschaften“ aus dem Jahr 2009 zeigt,
in einem liebevollen Umfeld aufwachsen und hier Chancen und Möglichkeiten
erhalten, tolerante und beziehungsfähige Menschen zu werden. So kommt es, wie
die Untersuchung eindrücklich dokumentiert, bei der Erziehung von Kindern nicht
auf das Geschlecht der Eltern und die Familienkonstellation an. Von Relevanz ist
vielmehr die Beziehungsqualität in der Familie (Rupp 2009, S. 306).
1 http:berlin.lsvd.de/projekte/regenbogenfamilien
Regenbogenfamilien 113
Viele Regenbogenfamilien sind dadurch entstanden, dass sich Eltern aus einer
heterosexuellen Beziehung gelöst haben und dann über ein so genanntes spätes
Coming Out eine neue gleichgeschlechtliche Beziehung führen: „Die meisten
Kinder, die bei ihren lesbischen Müttern, schwulen Vätern oder auch in einer
gleichgeschlechtlichen Partnerschaft aufwachsen, sind Kinder aus einer vorherigen
heterosexuellen Partnerschaft oder Ehe“ (Kläser 2011, S. 92). Das Konzept von
gleichgeschlechtlicher Partnerschaft und Familie war im Kontext von Verfolgung
und Diskriminierung vor den 1990er Jahren nur schwer lebbar. Mit der rechtlichen
und gesellschaftlichen Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen,
insbesondere mit der Einführung der Eingetragenen Lebenspartnerschaft 2001
und der Einführung der Stiefkindadoption für leibliche Kinder in Eingetragenen
Lebenspartnerschaften 2005, hat sich jedoch das Selbstverständnis bei Homose-
xuellen, als Familie leben zu können und zu wollen, geändert. In Beratungen im
Regenbogenfamilienzentrum, aber auch bei Kinderwunschzentren, die bei der Um-
setzung eines Kinderwunsches bei lesbischen Frauen unterstützen, ist ein ständiger
Anstieg von Kinderwunschberatungen seit einigen Jahren zu verzeichnen. Doch
obwohl eine rechtliche und gesellschaftliche Anerkennung von gleichgeschlecht-
lichen Partnerschaften inzwischen weitgehend stattgefunden hat, bekennen sich
nach wie vor viele Männer und Frauen zu ihrer Homosexualität (oder auch seltener
Transsexualität) häufig erst, nachdem sie eine heterosexuelle Beziehung gelebt und
in dieser Beziehung Kinder bekommen haben. Nicht selten werden in die neuen
gleichgeschlechtlichen Partnerschaften weitere gemeinsam gewünschte Kinder
geboren: Patchworkfamilien entstehen.
Regenbogenfamilien in Mehrelternmodellen
Pflegefamilien
2009 die von Martina Rupp durchgeführte und vom Bundesministerium für Justiz
beauftragte Studie zur „Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen
Partnerschaften“ erschien, war es schwierig, auf wissenschaftlicher Ebene gegen
die vielen Mythen, Vorurteile und Diskriminierungen vorzugehen, die in unserer
Gesellschaft manifestiert sind und weiterhin vielerorts geglaubt und verbreitet
werden. Zu diesen Mythen und Vorurteilen zählt, dass nicht-heterosexuellen Eltern
die Erziehungsfähigkeit fehlt und Kinder sich in diesen Familien negativ psycho-
sexuell und sozialkognitiv entwickeln. Bereits in den älteren amerikanischen und
nun auch in der deutschen Studie von Rupp konnte dies deutlich widerlegt werden:
„Das Erziehungsverhalten gleichgeschlechtlicher Lebenspartner(innen) zeichnet
sich durch Fürsorglichkeit und Zugewandtheit aus. Die Beziehung der Kinder und
Jugendlichen zum leiblichen Elternteil und zum Partner des Vaters bzw. zur Partnerin
der Mutter ist vergleichbar mit der Beziehungsqualität in anderen Familienformen“
(Rupp 2009, S. 309). So schreibt auch Kläser: „Denn homosexuelle Eltern bemühen
sich häufig stärker um ein stabiles Familienleben und um eine positive Beziehung zu
den Kindern, da ihre Kinder in der Regel Wunschkinder sind“ (Kläser 2011, S. 110).
Zur sozialkognitiven Entwicklung von Kindern in Regenbogenfamilien schreibt
Kläser weiter: „Sie haben in der Regel gute Kontakte zu Gleichaltrigen, sie sind sozial
angepasst und integriert wie andere Kinder auch.“ (ebd., S. 111). Dabei weist er auf
besonders positive Auswirkungen der Entwicklung dieser Kinder hin: „Zum einen
erfahren Kinder Respekt, Sympathie und Toleranz gegenüber der multikulturellen
Gesellschaft und Umwelt, in der sie und andere leben. Zum anderen lernen die Kinder
häufig flexible (unterschiedliche) Interpretationen des Geschlechtsrollenverhaltens
kennen und haben somit die Möglichkeit, diese später in persönlichen und intimen
Beziehungen zu integrieren (egalitäre Rollenaufteilung). Des Weiteren entwickeln
die Kinder ein Verständnis dafür, dass Familien auf der Basis von Liebe, eigenen
Lebensentwürfen und freier Wahl aufgebaut sind“ (ebd.). Als weitere, verbreitete
Annahme gegenüber Regenbogenfamilien lässt sich noch die Vorstellung nennen,
dass Kinder in diesen Familien unzureichend männliche oder weibliche Vorbil-
der haben und die sexuelle Identität der Kinder gefährdet sei. An dieser Stelle ist
sicherlich Kläsers Unterscheidung der sexuellen Identität in Geschlechtsidentität,
Geschlechterrollenverhalten und Geschlechtspartnerorientierung weiterführend.
So stellt er fest, dass „[…]Kinder mit homosexuellen Eltern ebenso wie Kinder aus
anderen Familien eine Geschlechtsrollenidentität und ein Rollenverhalten ent-
wickeln, das ihrem biologischen Geschlecht entspricht. Denn Lesben leben ihren
Kindern eine weibliche und Schwule ihren Kindern eine männliche Identität vor.
Ebenso sind neben der Kernfamilie die Einflüsse der sozialen Umwelt sehr groß.
Somit haben die Kinder beispielsweise im Bekannten- und Freundeskreis ihrer
Eltern die Möglichkeit, die jeweils fehlenden Identifikationsfiguren (Frauen oder
Regenbogenfamilien 117
Für die meisten Regenbogenfamilien ist es sehr wichtig, dass sie sich vernetzen
und austauschen, damit sie Erfahrungen und Informationen weitergeben und vor
allem sich gegenseitig kennenlernen können. Dies gilt für die Eltern und für die
Kinder, um ein starkes Selbstbewusstsein zu entwickeln, ein Leben als Regenbo-
genfamilie zu führen. Insbesondere für die Kinder ist es förderlich, im Prozess des
Aufwachsens Kontakt mit anderen Kindern zu haben, die mit LSBT-Eltern leben.
Das Regenbogenfamilienzentrum in Berlin ist dabei Deutschlands erste Anlaufstelle
dieser Art, wo sich Regenbogenfamilien in einem geschützten Raum treffen können.
So machen Diskriminierungserfahrungen oder Ängste vor Diskriminierungen
im Umfeld der Regenbogenfamilien wie auch die besondere juristische Situation
und der teilweise unsichere Umgang mit diesen Familien in den Institutionen, in
denen sie sich bewegen (Kindergarten, Schule, Ärzte, Behörden usw.), solch eine
Anlaufstelle notwendig. Dieser geschützte Raum bietet ihnen neben den üblichen
Angeboten eines Familienzentrums (psycho-soziale Beratung bis hin zu unter-
schiedlichen Gruppen für Schwangere, Väter, Eltern und Kinder oder Pflegefamilien)
die Möglichkeit, ohne weitere Erklärungen als Familie so zu sein, wie sie sind. Das
Regenbogenfamilienzentrum bietet dabei auch Multiplikator_innen die Option,
sich über Regenbogenfamilien zu informieren und fortzubilden.
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118 Constanze Körner
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Kinder, Eltern, Staat
Rechtliche Konflikte im Zusammenhang mit
minderjährigen Inter*- und Trans*Personen
Katharina Bager und Anna Lena Göttsche
1 Einleitung
Die Annahme, dass es ‚das männliche‘ und ‚das weibliche‘ Geschlecht und auch nur
diese beiden gibt, dass sie sich durch ihre körperlichen Merkmale auf natürliche
Weise voneinander unterscheiden, und dass jeder Mensch (nur) einem der beiden
Geschlechter eindeutig und für sein gesamtes Leben angehört, ist Teil eines nicht
hinterfragten Alltagswissens; sie prägt unsere Intimbeziehungen, unsere Gesellschaft,
unsere gesamte Wahrnehmung und dementsprechend auch unser Rechtssystem.1
Es gibt Menschen, die diese Annahme widerlegen: Deren Geschlechtszugehö-
rigkeitsempfinden sich nicht innerhalb dieses binären Systems der Zweigeschlecht-
lichkeit bewegt und/oder von dem Geschlecht abweicht, das ihnen bei Geburt
zugewiesen wurde. Zu ihnen gehören u. a. Trans*- und Inter*Personen2. Ihnen
widmet sich dieser Beitrag mit dem Schwerpunkt rechtlicher Konfl iktkonstellationen
minderjähriger Trans* und Inter* im Verhältnis zu ihren Erziehungsberechtigten
sowie im Verhältnis zum Staat.
2 Grundlagen
Primär sind Grundrechte als Abwehrrechte zum Schutz vor nicht gerechtfertigten
staatlichen Eingriffen konzipiert.11 Diese Abwehrrechte können, wenn beispielsweise
Grundrechte anderer Personen entgegenstehen, eingeschränkt werden. Ein Grund-
rechtseingriff muss jedoch gerechtfertigt sein, also insbesondere in angemessenem
Verhältnis zur Grundrechtseinschränkung stehen.12
2.2 Elternrecht
Das natürliche Elternrecht13 ist ein „Recht“ der Eltern, nicht des Kindes.14 Es schützt
die Eltern vor staatlichen Eingriffen, richtet sich dabei aber nicht gegen das Kind.15
Vielmehr ist es in sich durch das Kindeswohl begrenzt. Die Begrenzung ergibt sich
aus der Zielsetzung der Norm: Elterliche Pflege und Erziehung soll dazu dienen,
dass sich das schutz- und hilfsbedürftige Kind zu einer eigenverantwortlichen Per-
sönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft entwickeln kann.16 Dies bedingt,
mit zunehmendem Alter, ein Heranführen des Kindes an die Selbstständigkeit:
Beteiligung an Entscheidungen, Rücksichtnahme auf Bedürfnisse und Wünsche,
Eröffnen bestimmter Bereiche selbstverantwortlichen Handelns.17
20 § 51 Abs. 1 ZPO iVm §§ 107 ff. BGB; § 3 Abs. 1 TSG, 298 StPO sowie §§ 107ff. BGB.
21 Veit 2011, § 1626 Rn. 24.
22 Ein nicht legitimierter Eingriff in die körperliche Integrität, auch wenn durch medizini-
sches Personal ausgeführt, ist eine Körperverletzung im straf- und haftungsrechtlichen
Sinne. Vgl. hierzu BGH, NJW 1972, 335 (336).
23 Kolbe 2010, S. 160.
24 BGH, NJW 1972, 335 (337); NJW 1964, 1177 (1177).
25 Huber 2012, § 1626Rn. 65.
26 Beispielsweise die Wahl eines Glaubensbekenntnisses mit 14 nach § 5 RelKErzG oder
die Einwilligung in die Adoption gemäß der §§ 1746 Abs. 1, 1750 Abs. 3 BGB.
Kinder, Eltern, Staat 123
ein Heileingriff zur Verbesserung des Wohlbefindens des_r Patient_in – nicht der
Eltern – vorzunehmen ist.54
Neben dem gesellschaftlich und medizinisch begründeten Zwang, ein Kind schon zu
Beginn seines Lebens in das herrschende Zweigeschlechtersystem einzupassen, stellt
auch das Recht diese Anforderung.58 In der Praxis haben sich einige Standesämter
scheinbar flexibel gezeigt und immerhin eine spätere Eintragung des Geschlechts
ermöglicht.59 Schwieriger wird eine flexible Handhabung mit der seit November
2013 geltenden Neufassung des Personenstandsgesetzes.60
Bezüglich der Namensgebung hat das BVerfG bereits Ende 2008 klargestellt,
dass für den Zwang, einem Neugeborenen einen das Geschlecht eindeutig erkennen
lassenden Vornamen zu geben, keine gesetzliche Grundlage existiert und auch das
Kindeswohl nicht als Grund für den Zwang zum geschlechtseindeutigen Vornamen
herangezogen werden könne.61 Mit der seit 2010 geltenden Verwaltungsvorschrift62
kam der Gesetzgeber dieser Vorgabe nach und hob den faktischen Zwang zu einem
(zumindest ergänzenden) eindeutig männlichen oder weiblichen Vornamen auf. Die
neuere Rechtsprechung verlangt nur, dass Eltern ihren Kindern keine erkennbar
gegengeschlechtlichen Namen geben.63 Mit der Wahl eines geschlechtsneutralen
Vornamens können mehr Optionen für zwischengeschlechtlich geborene Kinder
und ihre spätere Entwicklung offengehalten werden.64
3.3 Inter*Schüler_innen
Der Begriff Trans* wird als weit gefasster Oberbegriff für verschiedene Identitäten
und Lebenssachverhalte verstanden, die mit einem Unbehagen hinsichtlich der
zugewiesenen Geschlechtseigenschaften einhergehen.66 Dieses Unbehagen kann
sich auf vielfältige Weise äußern, temporär oder dauerhaft sein und mit dem drin-
genden Wunsch nach hormoneller/chirurgischer Behandlung verbunden sein oder
nicht. Im rechtlichen Kontext hingegen findet sich bislang überwiegend ein eng
verstandener Begriff der „Transsexualität“,67 dem in Anlehnung an die medizinische
Definition68 Menschen zugeordnet werden, die sich – geschlechterbinär gedacht
– „dem anderen“ als dem bei ihrer Geburt zugewiesenen Geschlecht zugehörig
empfinden.69 Dieses enge Begriffsverständnis entspricht der Eigenart des Rechts,
vereinfachende Kategorien zu schaffen, um Lebenssachverhalte erfassen zu können,
birgt jedoch die Gefahr, „den Transsexuellen an sich zu konstruieren“ 70 und hier-
durch Trans*Personen rechtliche Anerkennung und Handlungsmöglichkeiten zu
verweigern.71 Zudem manifestiert die gängige Definition sprachlich („dem anderen
Geschlecht“) die bislang strikt zweigeschlechtlich strukturierte Rechtsordnung.
65 In manchen Schulgesetzen geregelt, z. B. § 64a SchulG Berlin, Art. 85a SchulG Bayern
(BayEUG).
66 Franzen und Sauer 2010,S. 7f.
67 Vgl. das „Transsexuellengesetz“ (TSG); die Rechtsprechung (z. B. EGMR, NJW-RR 2004,
289; BVerfG, NJW 2011, 909; BFH, BeckRS 2007, 25012808); die juristische Literatur,
z. B. Wielpütz (2012); anders: Adamietz 2006, S. 368.
68 Transsexualität ist als Störung der Geschlechtsidentität in der Liste zur internationalen
Klassifikation von Krankheiten der WHO (ICD 10 F 64.0) verzeichnet.
69 Vgl. z. B. § 1 Abs. 1 Nr. 1 TSG; Ulsenheimer 2010, § 128 Rn. 4. Abweichend von der
WHO-Definition wird ein dauerhaftes Bedürfnis nach medizinischer Angleichung als
konstituierendes Merkmal für Transsexualität im Rechtskontext nicht mehr voraus-
gesetzt, vgl. BVerfGE 115, 1 (4f.); BeckRS 2011, 46019, Rn. 29f.
70 Vgl. Adamietz 2006, S. 377 f.
71 Unbestritten fühlen sich Personen(-gruppen) jedoch gerade diesem Begriff zugehörig,
vgl. z. B. http://www.transsexuell.de/wegweiser-begriffe.shtml (Zugegriffen: 15.8.2013).
130 Katharina Bager und Anna Lena Göttsche
Bereits im frühen Kindesalter kann das Empfinden vorhanden sein, „im falschen
Körper“ zu leben.72 Äußert sich dies mit fortschreitendem Alter durch Leidensdruck
oder dem Wunsch nach psychologischer Beratung, hormoneller bzw. chirurgischer
Behandlung zur Änderung der Geschlechtsmerkmale, kann eine verwirrende
Situation für Kind, Eltern und schulisches Umfeld entstehen. Die Rechtslage ist hier
teilweise untrennbar mit ethischen und medizinischen Fragestellungen verbunden.
Die Rechtsordnung trifft keine Aussage über den „richtigen“ Zeitpunkt für hormonel-
le oder chirurgische geschlechtsangleichende Maßnahmen.73 Auch die einschlägigen
medizinischen Leitlinien geben keine festen Altersgrenzen vor, sondern verlangen
die sorgfältige Prüfung jedes Einzelfalles.74 Diese erfordert einen individuellen
Abwägungsprozess, der einerseits berücksichtigt, dass bei einem frühen Behand-
lungsbeginn der Leidensdruck der_s Minderjährigen gelindert werden kann (bei
einem Behandlungsbeginn vor Einsetzen der Pubertät kann die für Trans*Perso-
nen oft als sehr schmerzlich empfundene Ausprägung der Geschlechtsmerkmale
unterbunden werden); der andererseits aber auch das Risiko einer Fehldiagnose
aufgrund der evtl. im (vor-)pubertären Alter noch bestehenden Unsicherheit der
Geschlechtsidentität nicht außer Acht lässt.75
Rechtlich ungeklärt sind auch Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Ein-
willigungsfähigkeit minderjähriger Patient_innen ergeben sowie die Frage danach,
inwiefern Minderjährige Behandlungsverträge mit einem Krankenhaus abschließen
können. Relevant werden sie insbesondere dann, wenn die minderjährige Person
eine Behandlung wünscht, die Eltern aber ihre Zustimmung verweigern.
72 Vgl. z. B. Krege 2011, S. 1449. Zur Entwicklung der Geschlechtsidentität bei Minderjähri-
gen: Richter-Appelt 2012, S. 23f. Die den o. g. Kriterien des ICD Katalogs entsprechende
Diagnose „Transsexualismus“ kann jedoch erst bei Erwachsenen gestellt werden (vgl.
Bosinski 2003, S. 716). Bei Minderjährigen können nur „Geschlechtsidentitätsstö-
rungen“ (ICD 10 F 64.2.) oder eine „sexuelle Reifungskrise“ (ICD 10 F 66.0) anhand
patholgisierender Kriterien diagnostiziert werden.
73 Auch die ursprüngliche Fassung des TSG, die für die Personenstandsänderung eine
Mindestaltersgrenze von 25 Jahren vorsah, enthielt keine Mindestaltersgrenze für die
geschlechtsangleichende medizinische Behandlung. Zu beachten ist allerdings, dass
Maßnahmen, die zur Sterilität eines_r Minderjährigen führen, nach Maßgabe des §
1631 c BGB unzulässig sind.
74 Vgl. z. B. Meyer et al. (2001) und Becker (1997).
75 Vgl. hierzu die Ethischen Grundsätze und Empfehlungen bei DSD der Arbeitsgruppe
Ethik im Netzwerk Intersexualität 2008, S. 241f.
Kinder, Eltern, Staat 131
Das TSG regelt Voraussetzungen und Rechtsfolgen von Anträgen auf gerichtliche
Änderung des Vornamens oder der Anpassung des Geschlechtseintrags im Per-
sonenstandsregister. Seit Einführung des reformbedürftigen Gesetzes erklärte das
81 BVerfGE 115,1; BVerfG NJW 2007, 900; 2008, 3117; 2011, 909. Ausführlich: Adamietz
(2012) sowie dies. 2006, S. 368f.
82 BVerfG, NJW 1982, 2061; NJW 1993, 1517.
83 Aufgrund der Modifikationen durch das BVerfG gelten derzeit für beide Verfahren
die gleichen Voraussetzungen: Nach den §§ 1, 8 TSG müssen sich die Antragstellenden
„aufgrund ihrer transsexuellen Prägung dem anderen, als dem im Geburtseintrag“
vorgesehen Geschlecht zugehörig fühlen und seit „mindestens drei Jahren unter dem
Zwang“ stehen, diesen Vorstellungen entsprechend zu leben.
84 Vgl. die §§ 104 Abs. 1 Nr. 1, 1629 BGB.
85 Nach dem Zivilrecht sog. beschränkt Geschäftsfähige, vgl. §§ 106, 2 BGB.
86 So auch Spickhoff 2011, § 3 Rn. 2 und Augstein 2012, § 3 Rn. 1.
87 Antwort des Senats von Berlin auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion Berlin, vom
16. März 2012, Drucksache 17/10 194, Anlage, S. 2. Aus der Statistik geht nicht hervor,
ob die Minderjährigen durch ihre Sorgeberechtigten vertreten wurden.
88 §§ 3 Abs. 1 S. 1 und 4 Abs. 2 TSG.
Kinder, Eltern, Staat 133
4.3 Trans*Schüler_innen
Alle Schulen haben sich der Aufgabe verpflichtet, ihre Schüler_innen zu selbststän-
digen Persönlichkeiten zu erziehen, welche unter anderem die Gleichberechtigung
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140 Katharina Bager und Anna Lena Göttsche
„Früher war alles besser.“ Selbst beim Thema Geschlecht war scheinbar alles klar.
Es gab Jungen und Mädchen und aus diesen wurden selbstverständlich Männer und
Frauen – fraglos in dieser Reihenfolge. Sonst nichts, keine Grautöne dazwischen1.
Zumindest nicht im rechtlichen Sinne. Doch Intersexualität etwa ist keineswegs
eine Entdeckung oder gar Erfindung der vergangenen Jahre. Die Natur war va-
riationsreicher, flexibler und entwicklungsoffener als so manche vorherrschende
gesellschaft liche Norm, Vorgabe und entsprechende Regularien. Obwohl es bereits
vor über 200 Jahren im Allgemeinen Preußischen Landrecht einen so genannten
Zwitterparagrafen für die Rechte von intersexuellen Menschen gab (vgl. Klöppel
2005, S. 173), mussten wieder etliche Jahrzehnte vergehen bis von dieser vermeint-
lichen Eindeutigkeit bzw. der dichotomen Klassifi kation in männlich und weiblich
abgerückt werden konnte. Am 1. November 2013 trat eine Änderung des Perso-
nenstandsgesetzes (PStG) Paragraph 22 in Kraft, welcher Eltern die Möglichkeit 2
eröff net, für das eigene Kind zunächst die geschlechtliche Einordnung offen zu
lassen. Es wird somit auf juristischer und politischer Ebene nicht mehr gänzlich an
3 An dieser Stelle sei auf das bestehende Spannungsfeld hingewiesen, welches im Arti-
kel immer mitgedacht wird. Wie behutsam mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu
kindlicher Sexualität vorzugehen ist, gerade bei der entsprechenden Thematisierung in
der pädagogischen Praxis, zeigte sich beispielsweise im Jahre 2007 an der Sexualaufklä-
rungsbroschüre für Eltern der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
„Körper, Liebe, Doktorspiele“, welche aufgrund des öffentlichen Drucks schließlich aus
dem Vertrieb genommen wurde.
Entwurf einer sexuell-geschlechtlichen Personagenese 145
Die Frage nach der kindlichen Sexualität kann nicht gänzlich ohne die „frühe
bürgerliche sexuelle Revolution, die den Sex als einen Teil des Charakters und der
Identität konzipierte“ (Schmidt 2012, S. 69), und der Psychoanalyse gedacht und be-
schrieben werden. Die psychoanalytischen Konzepte zur infantilen Sexualität dürfen
keinesfalls vorschnell als veraltet abgetan werden, wurzeln doch gerade auf diesen
Wissensbeständen die heutigen, bedeutsamen Vorstellungen von der Entwicklung
und Bedeutung kindlicher Sexualität. So wurde mit Freud erstmalig ein positiver und
nicht ausschließlich ein medizinisch-problematisierter Blick auf Kindersexualität
möglich (vgl. Sigusch 2005, S. 189). Überhaupt beförderte die Psychoanalyse „die
Überwindung des Dualismus von Körper und Seele“ (Quindeau 2012, S. 32) und
erweiterte somit maßgeblich das Repertoire an möglichen Denkansätzen.
Die Aspekte des menschlichen Sexualverhaltens im engeren Sinne, dementspre-
chend die sexuelle Fähigkeit, Motivation und Leistung (vgl. Haeberle 2005, S. 79),
sind nie starr festgelegt und höchst individuell. Dem sozialkonstruktivistischen
Ansatz von John Gagnon und William Simon (1986, 2000) folgend, welcher auf
einer symbolisch-interaktionistischen Betrachtung gründet, wird das angeborene
Potenzial zu Sexualverhalten von drei Hauptfaktoren lebenslang wechselseitig
beeinflusst. So konstatieren sie, dass „sexuelle Skripte auf drei analytisch un-
terscheidbaren Ebenen existieren: auf jener der kulturellen Szenarien (Paradig-
men-Ansammlung jener sozialen Normen, die sexuelles Verhalten beeinflussen), auf
jener der interpersonellen Skripte (wo sich soziale Konventionen und persönliches
Begehren treffen müssen) und auf der intrapsychischen Skripte (der Bereich der
Selbst-Herstellung)“ (ebd. 2000, S. 71, Hervorhebungen getilgt). Entscheidend ist
die Frage der Herstellung und Wandlung der individuellen Skripte, welche grund-
sätzlich zur Bedeutungsentfaltung einer Ausformung „soziogenetische (…) [und/
oder] ontogenetische Signifikanz“ (ebd., S. 70) bedürfen. Sexuelles Verhalten wird
von den Autoren dabei als eine Form sozialen Handelns aufgefasst. Wird diesem
Ansatz gefolgt, unterliegt das sexuelle Verhalten einem lebenslangen Prozess und
stellt ein komplexes Zusammenspiel von Lern- und Entwicklungsaufgaben dar.
Diese wiederum unterliegen dem vorgegebenen kulturellen und gewachsenen
Zeitgeist und müssen durch das Individuum im kommunikativen Sozialisations-
146 Claudia Schmitt
Nach Spitz (1988) kann von einem klaren Zusammenhang zwischen der Mut-
ter-Kind-Beziehung und dem „genital play“4 (Spitz 1988, S. 82) ausgegangen wer-
den. Je besser die Beziehung zwischen Mutter und Kind, desto mehr autoerotische
Betätigungen seien bei dem Heranwachsenden zu beobachten, welche aus psycho-
analytischer Sicht, vorausgesetzt es werde ein angemessenes Maß gefunden, für die
Persönlichkeitsbildung und Sozialbeziehungen zu befürworten ist (vgl. ebd., S. 82
ff.). Die Relevanz einer Eltern-Kind-Bindung bekräftigen auch Masters und John-
son (1993) in ihren Ausführungen (vgl. ebd., S. 141). Kinsey (1988) beschreibt auf
Grundlage von Beobachtungen geschulter Erwachsener und erinnerter Situationen
von interviewten Personen ein Vorkommen von Orgasmen bei Säuglingen ab dem
fünften Lebensmonat über alle Lebensalter hinweg (vgl. ebd., S. 76-79). Masters und
Johnson (1993) sprechen von „sexuellen Reflexe[n]“ (Masters und Johnson 1993, S.
140), welche bereits pränatal bei beiden Geschlechtern durch Ultraschallstudien zu
beobachten sind. Beispielsweise beim Stillen, Baden oder während der Wickelsituation,
so Masters und Johnson (1993), sind aufgrund verschiedener physischer, angenehmer
Reize klitorale Erregung und Vaginalbefeuchtung bei Mädchen bzw. eine Erektion bei
Jungen zu beobachten. Die zunächst noch zufälligen und auf sich selbst bezogenen
Eigenaktivitäten von Säuglingen entwickeln sich bei kleinen Kindern zu spezifischen
Betätigungen der Lustsuche bis hin zu körperlichen, sinnlichen Entdeckungen mit
Gleichaltrigen. Besonders bekannt sind hier die sogenannten „Doktor-“ oder auch
„Vater-Mutter-Kind-Spiele“. Im Kindergartenalter ist auch die Lust an sexualisierter
und damit häufig verpönter Sprache zu beobachten (vgl. ebd., S. 140 ff.). Über den
Wissensstand von Kindern im Krippen- und Kindergartenalter zum Thema Sexualität
gibt es bislang kaum verlässliche Studien. Gemäß den Wissenschaftlerinnen Volbert
und Homburg (1996) äußern zweijährige Kinder Fragen zu Geschlechtsunterschieden.
Im dritten Lebensjahr werden Geschlechtszuordnungen mit äußeren Merkmalen
begründet. Erst mit etwa fünf Jahren erfolgt dies bei Kindern aufgrund genitaler
Unterschiede. Ein Jahr zuvor stehen dennoch bereits die Themen Schwangerschaft
und Geburt im Vordergrund; bei Grundschulkindern kommen dann Fragen zur
Empfängnis und des Geschlechtsverkehrs hinzu. Obwohl die meisten Eltern nur
Fragen beantworten und von sich aus nur selten explizit über sexuelle und geschlecht-
liche Themen sprechen, kommt ihnen doch eine Schlüsselrolle zu, wenn es um das
Sexualwissen ihrer Kinder geht (vgl. ebd. 1996, S. 210-223).
4 Ein Begriff von Spitz für die beobachtbare Aktivität des Kindes im ersten Lebensjahr,
aufgrund des noch nicht zielgerichteten, ungeplanten Handlungsvollzuges bzw. der
nachfolgenden Masturbation im Kleinkind- und Vorschulalter. Volbert (2005) unter-
scheidet wiederum zwischen auto-erotischer Betätigung von Kleinkind und Säugling
und sozio-sexuellen Verhaltensweisen von Kindergarten- und Grundschulkindern (vgl.
Volbert 2005).
148 Claudia Schmitt
Dieser These folgend und der damit verbundenen Annahme, dass sich sexuelle
und geschlechtliche Entwicklung vor allem in nicht-sexuellen Bereichen vollzieht
(vgl. ebd., S. 67), kann ein differenzierteres Bild gezeichnet werden. Es braucht eine
sexuelle Entwicklungspädagogik um etwaige Lern- und Erziehungsaufgaben daraus
ableiten zu können. Die Frage ist, wann ein Kind welches sexuelle Wissen sowie
welche Kompetenzen und Haltungen gemäß seiner Entwicklung lernt und wo es
gegebenenfalls individuell im Lernkreislauf zu Schwierigkeiten kommen könnte.
Die nachfolgende Grafik folgt dem heterologen Modell unter Beachtung der
Skripttheorie und den hier bisher erwähnten Untersuchungen. Sie bezieht sich
außerdem auf die vier bedeutsamen Erfahrungsbereiche nach Schmidt (2012) so-
wie dem „pädagogischen Ternar“ (Willmann 1909, S. 95) bzw. in der vorliegenden
gefassten Form der „Trinität des Lernens“ (Prange 2005, S. 62) mit den Begrifflich-
keiten Wissen, Kompetenzen und Haltungen.
Tabelle Exemplarische Meilensteine der kindlichen Sexual- und Geschlechtsentwicklung in den ersten sechs Lebensjahren:
Begriffe grund- den unter- über Bewusst- Ge- die positive Körpertei- Körper- positives
für unter- legende eigenen schiedliche eigene sein für schlechts- eigene Ge- Haltung le und ihre gefühle Körper-
schiedliche Wünsche Wünschen Arten von Bezie- die Vielfalt bezeich- schlechts- zum Funktio- einordnen bild
Gefühle und Be- autonom Beziehun- hungen von Bezie- nungen zugehö- eigenen nen und
und Stim- dürfnisse nachkom- gen und die hungen rigkeit biologi- darüber
mungen äußern men zu Familie benennen schen und sprechen
können; sprechen sozialen
Selbst- Geschlecht
wirksam-
Entwurf einer sexuell-geschlechtlichen Personagenese
keit
Bedürfnis zwischen Respekt Freund- neue Be- Anerken- erste Vor- Ge- positive Grund- Körperun- den
nach Pri- guten und gegenüber schaften ziehungen nung von stellung schlecht- Ge- lagen der terschiede eigenen
vatsphäre schlechten dem Ja aufbauen Vielfalt zur Ge- errollen schlechtsi- mensch- erkennen Körper
Geheim- und Nein und schlechts- erkennen dentität lichen als schüt-
nissen anderer aufrecht stabilität/ Fortpflan- zenswert
unter- erhalten -konstanz zung begreifen
scheiden
Eigene Grafik in Anlehnung an das Konzept von Schmidt (2012) und das Rahmenkonzept der WHO und BZgA (vgl. WHO-Regionalbüro für
Europa und BZgA 2011, S. 41-54)
149
150 Claudia Schmitt
Diese Skizze ist als ein erster Entwurf einer sexuell-geschlechtlichen Entwicklungs-
pädagogik gedacht und knüpft bewusst an das europäische Rahmenkonzept der
WHO und BZgA aus dem Jahre 2011 an.
Zweifellos ist die Darstellung lediglich als grobe, prototypische Orientierung
und heuristisches Konstrukt gedacht und sollte deshalb nicht als unveränderbare
Einteilung verstanden werden. Die kindliche Sexualität ist bis heute noch nicht
genug erforscht, um scheinbar unumstößliche Fakten liefern zu können. Die
Übersicht soll aber eine Chance und Möglichkeit bieten erste Anhaltspunkte für
eine emanzipatorische Sexualerziehung von Vorschulkindern aus pädagogischer
Sicht zu ziehen. Denn „eine der wichtigsten pädagogischen Grundregeln lautet:
Der erzieherischen Behandlung hat die Erfassung der Persönlichkeit voranzuge-
hen“ (Moor 1974, S. 277). Es gilt demnach immer „erst [zu] verstehen, dann [zu]
erziehen“ (ebd., S. 277).
5 Fachliche Konsequenzen
Eltern dürfen sich noch mehr als bisher, auch und gerade im Bereich der Sexual-
erziehung, als signifikant Andere (vgl. Hechler 2010, S. 60 ff.) verstehen und so
die „Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit“ (Tomasello 2002, S. 117) erzieherisch
nutzen. Das erzieherische Verhältnis liefert nur einen kleinen Baustein. Doch
„Erziehung ist eine spezifische, kommunikative Praxis, mit dem Zweck, auf andere
Praxen unspezifisch vorzubereiten“ (Prange 1997, S. 132). Deshalb lohnt es sich,
diese im Sinne des Kindes und der ganzen Familie noch genauer in den Blick zu
nehmen. Allerdings soll nicht der Eindruck erweckt werden, hier werde von einem
kausalen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang ausgegangen. Eine Garantie für
das Erreichen der Erziehungs- bzw. Lernziele kann es bei einem Menschen nicht
geben. Auch darf der pädagogische Einfluss keineswegs überschätzt werden. Und
dennoch, in Anlehnung an das Axiom von Watzlawick (2011) kann vorausgesetzt
werden, dass ein Kind nicht nicht erzogen werden kann. Aus diesem Gesichtspunkt
ableitend, gilt es die erziehungswissenschaftliche Erforschung der kindlichen
Sexualität in all den unterschiedlichen Facetten und der bestehenden Diversität
weiter voranzutreiben.
Wie beschrieben, ist der Prozess der Aneignung einer individuellen Bedürf-
nis-, Körper-, Beziehungs- und Geschlechtsgeschichte in den ersten Lebensjahren
insbesondere in nicht-sexuellen Situationen durchdrungen (vgl. Schmidt 2012, S.
67). Deshalb sollte in der Erziehungswissenschaft eine größere und ganzheitliche
Vorstellung davon entwickelt werden, wann und was ein Kind an Wissen, Kom-
petenzen und Haltungen benötigt und wie diesem im pädagogischen Sinne positiv
und gewinnbringend begegnet werden kann. Dies schließt explizit die sexuelle
und geschlechtliche Entwicklung mit ein. Dies ist aber letztendlich nur möglich,
wenn das komplexe Zusammenspiel aus „bio-psycho-sozial“ genauer untersucht,
verstanden und vermittelt wird.
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Willmann O (1909) Aristoteles als Pädagoge und Didaktiker. Reuther &Reichard, Berlin
Einblicke ins „Trainingslager für
geschlechtliche Identitäten“
Klaus Steinkemper im Gespräch mit Mari Günther
über „QUEER LEBEN“
Klaus Steinkemper
Das Projekt QUEER LEBEN in Berlin dient der umfassenden und angemessenen
Begleitung und Unterstützung von Menschen, die ihre queere sozio-sexuelle Identität
leben, ausprobieren oder suchen. Damit sind insbesondere Kinder, Jugendliche,
Erwachsene und Elternteile angesprochen, die sich als schwul, lesbisch, bisexuell,
transgender, transsexuell, transident, transgeschlechtlich bzw. intergeschlechtlich,
Zwitter/ intersexuell beschreiben. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der
Stärkung und Unterstützung von Familien, in denen sich eines ihrer Mitglieder
o. g. Personenkreis zuordnet.
Das vorrangige Ziel des Projektes ist die Schaff ung eines stützenden und fördern-
den Rahmens für die sozio-sexuelle Entwicklung einer_eines jeden_jeder Einzelnen,
Würde und Selbstbestimmung. Das Projekt stellt sich gegen diskriminierende und
pathologisierende Strukturen und Tendenzen und setzt sich mit diesen auseinander.
Mari Günther
ist systemische Therapeutin und Dipl. Gemeindepädagogin. Sie hat das Beratungs-
und Betreuungsangebot QUEER LEBEN aufgebaut und ist dort fachliche Leitung
seit 2009. Gleichzeitig arbeitet sie auf folgenden Gebieten zum Thema Trans- und
Intergeschlechtlichkeit: Mitarbeit am Runden Tisch „zur Verbesserung der Versor-
gungslage von trans- und intergeschlechtlichen Menschen in Berlin“, Aufbau eines
interdisziplinären Qualitätszirkels „Trans- und Intergeschlechtlichkeit“, anerkannt
von der Ärztekammer Berlin, Fortbildungen und Coachings, Psychotherapie in
eigener Praxis für Familien-, Paar-, Einzelne mit dem Schwerpunkt geschlecht-
liche Identität, Mitglied im Fachbeirat der „Bundesstiftung Magnus Hirschfeld“,
Mitarbeit in AWMF- Leitlinien Arbeitsgruppe „Behandlungsempfehlungen Ge-
schlechtsdysphorie“, Anleitung einer Selbsthilfegruppe für transgeschlechtliche
Menschen und deren Angehörige.
Klaus Steinkemper
ist Erwachsenenpädagoge und Sozialarbeiter und arbeitet als selbständiger Trainer,
Coach, Moderator und Mediator in Berlin und ganz Deutschland. Themenschwer-
punkte: Konfliktmanagement, Kommunikation, Kultur, Antidiskriminierung,
LGBTI, HIV/Aids. Von 2002 bis 2010 bei der Schwulenberatung Berlin beschäftigt,
war er ein Initiator des Projektes QUEER LEBEN.
Interview
Klaus Steinkemper (KS): Ich freue mich, mit dir über QUEER LEBEN1 zu spre-
chen. Ich verfolge das Projekt, seit wir uns kennen, und staune, wie groß es
mittlerweile geworden ist und wie viel Anklang es gefunden hat. Hättest du das
anfangs erwartet, dass es so einen großen Zulauf findet?
Mari Günther (MG): Also 2007 haben wir uns kennen gelernt und da war das noch
ganz schön in der Inkubationsphase. Das hätte ich nicht gedacht, dass es so groß
wird und vor allem, dass es sich so schnell entwickelt.
MG: Das ging 2005 los. Da wurde der Runde Tisch2 ins Leben gerufen und parallel
dazu hab ich eine Selbsthilfegruppe angeleitet. Es gab 2004 den ersten Kongress
der Senatsverwaltung, wo für mich zum ersten Mal überhaupt was Schriftliches
zu diesem Thema auftauchte. Ein weiterer wichtiger Aspekt war, dass ich damals
noch in der Jugendhilfe gearbeitet habe mit schuldistanzierten Kindern. Ich war
da geoutet – das war damals in diesem Jugendamtsbezirk schon auch ´ne Num-
mer. Manchmal wurden uns Kinder vermittelt, die das mit der Schule nicht so
genau nahmen und mit ihrem Geschlecht auch nicht. Und hinzu kam, dass ich
in einer Einzelfallbetreuung auch einen transgeschlechtlichen Mann mit seinem
Kind betreut habe, der war sozusagen die Mutter. Da ging es um die Frage, wie
er Unterstützung kriegen kann. Ich hab gemerkt, wie fürchterlich belastet er ist
mit den geschlechtsangleichenden Maßnahmen und wie wenig er den Kopf frei
hatte für Erziehungsfragen. Das war ein Auslöser zu überlegen, was kann man
da machen? Bei dem Runden Tisch wurde deutlich, dass es zwar psychologische
und beraterische Angebote gab, aber kein längerfristig intensiver begleitendes
Angebot für Transmenschen. Das war die Ausgangssituation. Und natürlich die
Erfahrungen aus der Selbsthilfegruppe, wenn ältere Transmenschen erzählt haben,
wie sie aufgewachsen sind und wie es war, als sie jung waren. Da fielen immer mal
solche Sätze wie: Ach wenn es damals irgendwas gegeben hätte, wo ich mich hätte
hinwenden können, dann wäre mein Leben vielleicht ein bisschen glücklicher
und mit weniger Unbill verlaufen. Ich hätte mich vielleicht eher geoutet. Ich hätte
mehr glückliche Jahre gehabt‘. Das waren die Stränge, die da hin führten. Und
dann haben wir uns während des Runden Tisches kennen gelernt und angefangen
konzeptionell zu überlegen.
KS: Es sollte also ein neues Angebot mit einer festen Finanzierung, einer Regel-
finanzierung durchgesetzt werden?
MG: Die Frage war: Wie können Betreuungen im Rahmen des KJHG3, aber auch im
Rahmen der Eingliederungshilfe nach SGB XII4 arrangiert werden? Die Schwulen-
beratung Berlin5 hatte eine Zulassung für Jugendhilfe, nutzte sie aber nicht. Aber
Erwachsene haben sich damals schon bei der Schwulenberatung gemeldet. Diese
wurden dann im Betreuten Wohnen oder der Einzelfallhilfe irgendwie begleitet.
Das war schon mal so’ n Anfang, dass da vereinzelt Menschen hingefunden hatten.
MG: Das gab es so noch nicht. So richtig los ging’s dann ab 2009, wie ich mich
erinnern kann. Ich hab mich da auch gefragt, warum hat´s so lange gedauert? Die
Hilfeinstrumente gab es, die Menschen gab es auch, aber es ging nicht gleich los.
Ich habe im Rückblick den Eindruck, dass es von vornherein eine Mutfrage war
zu sagen: ‚Jawoll, das muss jetzt hier her!‘ Und es gab und gibt auch immer noch
keine sicheren Aussagen über den Anteil von Transmenschen an der Bevölkerung,
so dass ein Hilfebedarf begründet werden könnte. Außerdem wollten wir ein
Angebot konzipieren, das wirklich für alle Altersstufen da ist. Es ist ja eine relativ
schmale Zielgruppe. Wir wollten die Altersspanne möglichst weit haben, damit
man auch genügend Menschen beieinander kriegt. Wir wollten Jugendhilfe und
Eingliederungshilfe gemeinsam machen. Dafür kam dann noch ein zweiter Träger
hinzu, ein Jugendhilfeträger, Trialog e. V.
KS: Die Entstehungsphase war also ganz schön langwierig und beinhaltete viel
Abstimmungsbedarf. Hatte das mit der sozialpsychiatrischen Landschaft in
Berlin zu tun oder auch damit, innerhalb des Trägers einen Platz zu finden, der
da vielleicht ein bisschen zögerlich war und nicht wusste, wollen wir oder wollen
wir nicht.
MG: Ja, aber ich glaube, die Schwulenberatung hat auch nicht gleich verstanden,
was das neue Angebot für sie bedeutet. In der Zeit ging es auch darum, wie wir uns
nennen. Wir wurden ja auch nicht „trans leben“, sondern „queer leben“. Wir haben
uns deutlich gesagt, dass es nicht darum geht, eine weitere Schublade zu öffnen
und zu füllen, sondern darum Menschen einzuladen, die ein Thema mit ihrer
geschlechtlichen Identität haben. Wir wollten dabei auch offen sein hinsichtlich
dessen, wie sie das beantworten. Gerade im Umgang mit Kindern und Jugendlichen
ist es ja immer möglich, dass Kinder ein geschlechterrollenabweichendes Verhalten
zeigen, aber das auch irgendwann wieder einstellen. Dann hätten diese ja gleich
wieder rausfliegen müssen, wenn wir sagen, wir sind nur trans. Deswegen ging es
darum, ein möglichst breit gefächertes Angebot zu haben, um einen großen Perso-
nenkreis einzuladen und die Menschen nicht gleich auf eine bestimmte Diagnose
festzulegen, denn Transsexualität ist ja noch eine Diagnose6.
KS: Wie ist denn im Moment die Situation, jetzt, Ende 2013? Was ist daraus
geworden?
MG: Wenn ich noch mal anknüpfe, was sich die Schwulenberatung da eingehandelt
hat, haben sie mittlerweile gemerkt, dass es ein Thema ist, was auch viele Kol-
leg_innen in der Schwulenberatung beschäftigt. Sie sagen, es ist eigentlich nicht
mehr zeitgemäß, auf eine bestimmte, festgelegte sexuelle Orientierung abzustellen,
sondern ein offeneres Angebot zu machen. Jüngere lassen sich immer weniger in
bestimmte Schubladen einordnen. Das macht auch Verunsicherung bei einigen
schwulen Mitarbeitern, die ihr Begehren in der Gesellschaft gegen Widerstände
behaupten mussten und zwar auf der Grundlage ihrer Identität, nämlich: ‚Ich bin
ein Mann, ich stehe auf Männer, bin demzufolge schwul‘. Jetzt sind sie mit queeren
Menschen konfrontiert, die ihr Begehren formulieren ohne auf eine fixe Identität
zurück zu greifen. Dann löst sich die Frage von schwul, lesbisch, bi irgendwie auf
und das, glaube ich, ist manchmal eine Verunsicherung.
KS: Nun ist ja das queere bzw. trans* Thema generell etwas mehr aus dem Wind-
schatten von schwulen und lesbischen Themen getreten. Es ist in Medien und
im Fernsehen präsenter, in der Wissenschaft auch, es gibt Kinofilme über die
Trans-Thematik, so dass das Thema nicht nur in der schwul-lesbischen Community
angekommen ist, sondern auch in der Gesellschaft. Was heißt angekommen, es
ist noch lange nicht so weit, wie die schwulen und lesbischen Belange, aber auf
dem Weg dahin. Es werden Sensibilisierungstrainings dazu angeboten, der Senat
in Berlin bietet dazu jetzt ein eigenes Projekt an „Trans* in Arbeit“7, Studien
werden veröffentlicht, und all das trägt zu mehr Präsenz in der Gesellschaft bei.
MG: Das schon, aber das sollte deutlich gesehen werden: In bestimmten Teilen
oder Schichten der Gesellschaft wird dieses Thema mehr ventiliert. Zum einen auf
der emanzipatorischen, politischen Antidiskriminierungsebene, dann gibt es aber
auch die Ebene der Freakshow bzw. mehr oder weniger gelungenen Fernsehbeiträge.
Und es gibt auch noch breite Bevölkerungsschichten, in denen es noch lange nicht
angekommen ist, die das als irgendwas Absurdes betrachten.
KS: Wie erlebst du denn heute die Lebensrealität der Menschen, die ihr unterstützt,
sowohl die Familien in der Kinder- und Jugendhilfe aber auch die Erwachsenen
in der Beratung oder der Eingliederungshilfe?
MG: Das ist sehr durchwachsen. Wenn ich mir anschaue, mit welchen Themen,
Fragen und Problemen die Menschen zu uns kommen, ist eine ziemlich unter-
schiedliche Gewichtung zu erkennen – vor allem bei älteren Transmenschen, die
ihre innere Selbsterkenntnis, in einem anderen Geschlecht zu sein, in der Zeit
hatten, bevor das Internet populär wurde. Das heißt, dass diese Gruppe jahre-,
teilweise jahrzehntelang nur mit sich beschäftigt sein konnte und niemanden hatte,
mit dem sie darüber reden konnte. Ich habe den Eindruck, dass sich bei ihnen die
Begleiterscheinungen oder psychischen Beeinträchtigungen deutlich verfestigt ha-
ben oder noch prägnanter geworden sind. Aber bei der Generation, die ihr inneres
Coming Out hatte und dann relativ schnell Zugang zum Internet, wo sie feststellen
konnten, ich bin nicht die_der einzige oder manchmal auch durch Fernsehen oder
Internetinformationen darauf gekommen sind, ‚ach, das könnte auch für mich
zutreffen´, da habe ich den Eindruck, die kommen deutlich leichter und auch auf
einer psychischen Funktionsebene besser ins Leben als diese andere Generation.
KS: Also der Gedanke, ich bin nicht die_der einzige, sondern rund um mich
herum in Berlin, in Deutschland und in der Welt gibt es viele andere Menschen
wie mich, trägt zu einer Form von psychischer Stabilisierung oder zu leichterer
Identitätsfindung bei? Heute ist es viel leichter, als es vor dem Internet möglich war?
MG: Unbedingt. Es gibt zwar immer noch keine Role Models in der Öffentlichkeit,
aber es entsteht viel schneller das Gefühl, ich kann da was draus machen. Andere
haben es auch schon geschafft. Das ist bei der älteren Generation weniger der Fall.
Das heißt aber nicht, dass es so klar aufgeteilt ist. Auch heute erlebe ich Jugendli-
che aus beispielsweise sehr restriktiven Elternhäusern, die fast noch die gleichen
Symptome zeigen und genauso verunsichert sind. Das hat auch immer etwas damit
zu tun, ob diejenigen in Familien groß geworden sind, wo sie irgendwann mal die
Chance hatten, etwas darüber zu sagen und wo dies auf relativ freundlichen Boden
fiel oder ob sie es nur einmal probiert haben und es Ärger gab. Da sind selbst fünf-,
sechsjährige Kinder, wenn diese das retrospektiv berichten, so schlau zu sagen,
das spreche ich hier lieber nie wieder an. Sie verlieren dann die nächsten zwanzig
Jahre keinen Ton darüber und versuchen, irgendwie ihr Leben hinzukriegen. Für
diese Menschen ist es ganz wichtig, in Gruppenangebote reinzukommen, andere
kennen zu lernen, sich mit ihnen zu verabreden, um gemeinsam rauszugehen und
in der Gruppe einmal im Leben das Gefühl zu haben: ‚Wir sind jetzt hier gerade
die Mehrheit in dieser Gruppe. Ich kann mich entspannt bewegen, weil rechts und
links, vor und hinter mir auch so Leute wie ich laufen und ich bin überhaupt nicht
alleine und ich kann viel mutiger sein‘. Das beschreiben sie als Schlüsselerfahrungen.
Bei uns laufen sich Transmenschen und Menschen, die sich als queer beschreiben,
aller Altersstufen über den Weg und haben sich was zu sagen. Es gibt ältere Trans-
menschen, die Patenschaften anbieten. Es gibt so ´ne neugierige, offene Haltung
und die Generationen reden miteinander, weil sie was ganz Verbindendes haben.
KS: Das hört sich nach Begegnung und auch nach Solidarität untereinander
an. Erfahrungen werden weiter gegeben, die Menschen beschäftigen sich mit
ähnlichen Fragen und es finden auf einer Art Augenhöhe Begegnungen statt?
MG: Das funktioniert auch. Es gibt es natürlich auch, dass sich manche untereinander
nicht leiden können und es gibt auch Menschen, die Schwierigkeiten haben, queere
Selbstbeschreibungen zu akzeptieren. Für diese ist das Eingeständnis der eigenen
Transgeschlechtlichkeit ein so hohes Gut: ‚Ich war am falschen Ufer, jetzt bin ich
Einblicke ins „Trainingslager für geschlechtliche Identitäten“ 161
endlich am richtigen Ufer angekommen.‘ Die halten das nicht aus, wenn jemand
sich queer beschreibt und behauptet, die Ufer gibt es eigentlich gar nicht. Das ist
manchmal ganz schön spannungsgeladen. Aber ich finde, manchmal entstehen
auch Denkanregungen: ‚Vielleicht muss ich ja nicht unbedingt, wenn ich mich
schon aus dem einen Klischee – z. B. aus der typischen Frauenrolle – gelöst habe,
zwangsläufig in das andere Klischee komplett wieder einreiten; vielleicht kann ich
mir da mehr innere Freiheitsgrade suchen‘.
KS: Verstehe ich das richtig, dass ihr queer als Kontinuum zwischen Geschlechter-
rollen, Geschlechteridentitäten, auch zwischen sexuellen Orientierungen versteht?
Als etwas Fließendes, was sich verändern kann im Laufe des Lebens, was nicht
so fixiert ist auf entweder-oder? Wie versteht ihr queer?
MG: Mal ganz bündig gesagt: Alles, was nicht hetero- und homonormativ ist,
würden wir als queer beschreiben. Also Identitätsbeschreibungen, die vom klassi-
schen männlich-weiblich abweichen und auch von den klassischen Begehrensbe-
schreibungen, die eben differenzierter ausfallen und die teilweise auch was Fluides
haben. Einerseits gehen wir davon aus, dass die Identitätsentwicklung – auch die
der Geschlechtsidentität – im Leben immer weiter geht und nicht ohne weiteres
abgeschlossen ist. Zum anderen ist das auch für die Betreuungsarbeit ein wichtiger
Aspekt, weil manche Transmenschen sich sehr an der Frage reiben, ob das, was sie
jetzt sind, das richtige ist: ‚Bin ich jetzt hier wirklich richtig und ist das jetzt meine
Identität, die auch so bleiben kann?‘ Manchmal haben sie das Gefühl, vielleicht
ist es ja doch alles ganz anders. Wir arbeiten immer damit, dass Identitäten auch
etwas Vorläufiges haben dürfen und dass man sich die innere Freiheit der Verän-
derbarkeit geben darf. Möglicherweise verändern sie sich gar nicht mehr, aber der
Druck ist ein bisschen weniger, denn ich muss jetzt nicht tausend prozentig sicher
sein. Dieser Druck entsteht aber auch durch das medizinische System ringsum.
Viele Gutachter_innen,, Therapeut_innen und Ärzt_innen stellen immer wieder
diese Gretchenfrage: ‚Sind Sie sich denn jetzt auch ganz sicher, dass es das jetzt ist?
Und Hauptsache, wir machen hier nichts falsch und Hauptsache, Sie sagen in ein
paar Jahren nicht, es war vielleicht doch die falsche Entscheidung‘. Durch unseren
Ansatz wird diese queere Sichtweise hingegen immer mehr etabliert.
KS: Das ist schon eine andere Perspektive auf Transidentität als jene, welche die
Medizin auf das Thema wirft. Da entstehen sicher auch Spannungen der Defi-
nition und vielleicht Spannungen in der Zusammenarbeit. Zumal ihr ja einen
ergebnisoffenen Ansatz habt und sagt: Das muss nicht so sein, dass sich jemand
absolut sicher ist, angekommen zu sein, sondern sich auf der Suche befindet.
162 Klaus Steinkemper
MG: Darin wollen wir ja unterstützen! Wir nennen uns gerne auch das ‚Trainings-
lager für geschlechtliche Identitäten‘. Hier kann etwas ausprobiert werden, es kann
Rückschläge geben, es wird aus Fehlern gelernt – dann wird ein neuer Anlauf
genommen. Das ist im Austausch mit den sozialpsychiatrischen Einrichtungen,
die mit der ganzen Masse an Menschen zu tun haben, ein recht entspanntes Ver-
hältnis. Die verstehen das ganz gut oder vielleicht verstehen sie es auch nur bis zu
dem Punkt: ‚Ok, da sind welche, da kann man die hinschicken‘. In der Jugendhilfe
gibt es manchmal eher bedenkenträgerische Jugendamtsmitarbeiter_innen, die
glauben, wenn ich jetzt den_die Jugendliche_n im Wunschgeschlecht anspreche,
diagnostiziere ich ja vielleicht schon oder lege etwas fest, was ja gar nicht festgelegt
werden darf, weil ja erst der Doktor im weißen Kittel bestimmten muss, ob das so
richtig ist oder nicht. Manche Mediziner_innen oder Psychotherapeut_innen, die
in den Begutachtungen oder Pflichttherapien unterwegs sind, sind immer noch auf
diese traditionelle Transsexualitätsdiagnose abgestellt, in der es heißt: ‚dass man
sich dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen muss und dass die Zugehörigkeit
zu dem anderen Geschlecht Ausdruck im Wunsch finden muss, sich operieren zu
lassen‘. Das ist ein diagnostisch-therapeutischer Zirkelschluss. Nur wer die OP ha-
ben will, bekommt auch diese Diagnose. Das macht die ganze Geschichte natürlich
sehr engstirnig. Diese Diagnose ist wohl Ende der 70er Jahre entstanden, als erster
Versuch, dieses Phänomen zu erfassen und vor allem eine Leistungspflicht der
Krankenkassen anzukoppeln. Sie hat aber mit der Lebensrealität und dem Selbst-
empfinden der Menschen heutzutage immer weniger zu tun, weil die Lebensfelder
und die Selbstbeschreibungen viel umfangreicher sind und viel bunter als so ’ne
schmale trennscharfe Diagnose. Dann gibt es Klient_innen, die versuchen, in den
Gutachtensituationen diese klassische Transe zu spielen, was einfach fürchterlich ist.
Da hilft vor allem viel reden, immer wieder reden. Es geht vor allem darum, dass die
Diagnostiker_innen und Mediziner_innen regelmäßig Kontakt mit Transmenschen
haben und dadurch ganz persönliche Berührungsängste abbauen. Transmenschen
sind Leute, die auch leben und denken und arbeiten können. Die sind gar nicht so
verrückt, wie manche Gutachter_innen das in ihrem Unterbewussten immer noch
befürchten. Die sind möglicherweise ziemlich normal.
KS: Mich interessiert die Thematik der Kinder und Jugendlichen und die der
Eltern oder Erziehenden. Wie finden denn Kinder oder deren Eltern zu euch?
MG: Bei den Jüngeren sind es die Eltern, die uns im Internet finden oder, wenn
sie Glück haben, in einer Beratungsstelle oder bei schwul-lesbischen Angeboten
landen und zu uns vermittelt werden. Die Jugendlichen haben in der Regel alles
auf dem Schirm, was es im Netz gibt. Die haben sich vielleicht zwei, drei Jahre
Einblicke ins „Trainingslager für geschlechtliche Identitäten“ 163
festgelesen, bevor sie sich outen. Sie sind informiert, haben aber das Problem, nicht
unterscheiden zu können, was die Informationen wert sind. Das ist oft auch Teil
der Beratungsgespräche mit Jugendlichen, die zu erden und einen Realitätsbezug
herzustellen. Eltern kommen ganz oft mit der Frage: „Können Sie mir eine Bestä-
tigung geben, dass das, was ich mache richtig ist?“ Sie wollen oft unterschwellig
eine Bestätigung. Sie formulieren das nicht so plakativ, aber erzählen dann oft mit
so ‘nem Rechtfertigungston. Da ist es wichtig zu beruhigen und sie zu bestätigen:
‚Sie machen das Richtige und sie müssen sich dafür auch nicht rechtfertigen. Selbst
wenn Ihr Kind erst seit gestern trans wäre und Sie heute entschieden haben, es
zu unterstützen, ist das völlig in Ordnung.‘ Dann geht es in der Beratung viel um
Informationen: was für das eigene Kind in die Wege geleitet werden kann, welche
Verantwortung zu übernehmen ist und ganz viel Outingplanungen für den Be-
reich Schule oder Kita: ‚Wie machen wir das am besten; wen binden wir ein; wer
bekommt eine Vorinformation; machen wir das in der Klasse offen oder machen
wir lieber einen Elternabend‘ usw. Oder wenn es eine unsägliche Mobbingsituation
gibt: ‚Wechseln wir lieber die Schule und fangen dort neu an?‘ Und dann natürlich
auch so heiße Themen: ‚Wie sagen wir es den Großeltern, den Schwiegereltern und
der Verwandtschaft auf dem Dorf? Und was machen wir mit unserem Kind, wenn
Weihnachten ansteht und wir gemeinsam hinfahren? Wie erklären wir das?‘ Das
sind sehr intensive Gespräche, wo auch deutlich wird, dass die Eltern zwar für sich
ein sicheres Gefühl haben, was sie für ihr Kind tun, das aber nach außen noch gar
nicht erklären könnten. Die brauchen noch viel Wissen und auch Support, dass es
eine Normenvielfalt gibt, in die ihr Kind reingehört. Da muss viel Selbstbewusst-
sein gefördert werden.
Manchmal müssen Eltern auch ein bisschen gebremst werden, weil sie von der
Identitätsidee ihres Kindes so begeistert sind und auch überlegen, ob sie damit
vielleicht ins Fernsehen kommen. Dann geht es darum, das zurück zu schrauben.
Nur weil sie z. B. ihrem transweiblichen Kind den weiblichen Spielraum eröffnen,
ist es nicht sinnvoll, ihm den männlichen Spielraum deswegen abzuschneiden.
Sondern dieser sollte auch erhalten bleiben. Es gibt wiederum Fälle, da müssen
Eltern das richtig Maß finden: wie viel kümmern, wie viel Sonderstatus das Kind
haben sollte; ab wann es aber auch um Normalität geht: z. B. zu sagen: „Du kannst
zwar trans sein wie du willst, aber deinen Teller räumst du trotzdem ab.“ Einfache
Erziehungsfragen eben. Oder bei Jugendlichen: Müssen die Eltern alles wissen?
Denn Hormonbehandlung und Psychotherapie, das müssen die Eltern alles ent-
scheiden. Aber auf der anderen Seite kommen die Jugendlichen in eine Phase, wo
sie kein Bock auf ihre Eltern haben. Das gibt dann so’ n Spannungsfeld von Nähe
und Distanz. Da können die Eltern gut begleitet werden. Es geht auch um solche
Informationen, dass, wenn die gegengeschlechtliche Hormontherapie stattfindet,
164 Klaus Steinkemper
es keine einfache Fortpflanzung mehr gibt und sie sich überlegen sollten, ob es für
sie sinnvoll ist, reproduktionsfähiges Gewebe einzulagern usw.
MG: Das können wir für Berliner Familien anbieten, die mit ihren Kindern und den
Erziehungsdingen zurechtkommen. Andererseits haben wir Jugendwohngruppen,
wenn schnell deutlich wird, dass die Jugendlichen in ihrer Familie nicht verbleiben
können. Das kann auch schwule Jugendliche betreffen, die in ihren Familien mit
entsprechendem sozio-kulturellen Hintergrund nicht akzeptiert werden, aber
auch transgeschlechtliche Jugendliche. Auch transgeschlechtliche Jugendliche aus
anderen Bundesländern, aus dem ländlichen Raum, wo es in dem Dorf oder in der
Kleinstadt keine gute Idee ist, Transgeschlechtlichkeit auszuprobieren – sie werden
eher an uns vermittelt, an die Großstadt.
KS: Das ist hier in Berlin eine besonders komfortable Situation, um Rollen aus-
zuprobieren, um eine Identität zu suchen und vielleicht auch zu finden.
MG: Ja. Die Jugendlichen haben die besondere Chance, dass sie zu einem Träger
kommen, wo sie wirklich so genommen werden, wie sie sind – außer mit schlechtem
Benehmen natürlich (lacht). Aber dass sie sich ausprobieren können, dass sie Zeit
haben, dass sie sich nicht festlegen müssen, dass sie aber, wenn sie sich entscheiden,
genau die Unterstützung bekommen, die sie brauchen – und die ist dann auch sehr
zielgerichtet. Wir sind nicht Teil des Case Managements, sondern wir machen´s.
Wir kennen die richtigen Personen und die Abläufe, haben die Informationen, die
alle Beteiligten brauchen. Wir lotsen die jungen und auch die älteren Menschen
durch die geschlechtsangleichenden Schritte durch, weil wir wissen, dass es genau
die Phase ist, wo die Menschen hochvulnerabel sind und wo das Suizidalitätsrisi-
ko erheblich hoch ist und in der auch abhauen, wegrennen, auf der Straße leben,
Drogen nehmen usw. Themen sind.
KS: Was ist die Signalwirkung von QUEER LEBEN? Was sollte die Welt über
euch wissen?
MG: Wir nehmen uns die Freiheit, Entscheidungen unserer Klient_innen zu ak-
zeptieren und begleiten sie bei deren Findung. Das ist gerade im medizinischen
Bereich noch lange nicht gang und gäbe. Wir haben den Vorteil, dass wir die Sprache
derer sprechen, die trans sind oder die sich queer beschreiben. Wir kennen deren
Einblicke ins „Trainingslager für geschlechtliche Identitäten“ 165
Lebensrealitäten und Notwendigkeiten. Und auf der anderen Seite kennen wir
auch die Sprache der Mediziner_innen und sind da auch ein Übersetzungsbüro.
Wir wissen, es gibt Richtlinien und Vorschriften, die beachtet werden müssen.
Aber die haben so gut wie gar nichts mit dem richtigen Leben zu tun. Da braucht
es eine Übersetzungsleistung, damit die Klient_innen gut damit zurechtkommen
und dass aber auch die Gutachter_innen und Therapeut_innen z. B. immer besser
verstehen, dass sie den Menschen trotzdem Gutes tun, auch wenn diese nicht direkt
in die Diagnosen passen, mal ganz grob gesagt.
MG: Nein, das gibt es nicht. Wenn ich es richtig raus bekommen habe, gibt es das
in ganz Europa nicht. Es gibt kein Betreuungsprojekt, in dem die Menschen über
einen längeren Zeitraum sozialpädagogisch betreut werden. Und schon gar nicht
von auch transgeschlechtlichen Mitarbeitern. Also genau diese Kombination gibt
es meines Wissens nicht. Ich muss schon sagen, dass durch QUEER LEBEN in den
letzten Jahren auch einige Arbeitsplätze für Transmenschen entstanden sind. Deren
biografisches Erfahrungswissen ist genauso wichtig wie anderes Fachwissen. Das
sind alles Arbeitswerkzeuge.
KS: Vielleicht inspiriert das Interview einige Leser_innen zu schauen: Wie könnte
das Projekt auf meine lokalen Gegebenheiten adaptiert werden. Worauf müssen
Menschen besonders achten wenn sie auch, vielleicht in einem anderen Maßstab
oder mit anderen Schwerpunkten, in dieses Thema einsteigen möchten?
MG: Ich kann es mir teilweise noch nicht richtig vorstellen. Natürlich gibt es auch
in anderen Ballungsräumen breit gefächerte queere, schwule, lesbische Szenen und
damit auch Lebensräume, in denen Transmenschen sich recht geschützt auspro-
bieren können. In solchen Gegenden können vergleichbare Angebote adaptiert
werden. Wichtig ist, dass von vornherein professionelle Transmenschen mit ein-
gebunden sind. Denn sie kennen die dortigen Lebensrealitäten besser. Sie können
gut einschätzen, was der richtige Ansatz sein kann. Und für die Klient_innen ist es
ein wichtiges Signal, dass sie da gut aufgehoben sind, wenn auch Ihresgleichen da
sind. Denn sie machen schon öfter mal die Erfahrung, dass sie zu irgendwelchen
Beratungsangeboten kommen und die Berater_innen meinen, sie machen das mal
ebenso mit, weil sie das im Vorabendfernsehen gesehen haben. Dann werden sie
teilweise entweder mit schlechten oder mit ganz falschen Informationen versorgt,
haben wieder ein Frustrationserlebnis, verstecken sich wieder einige Jahre, bevor
sie den nächsten Anlauf nehmen usw. Das muss unbedingt verhindert werden.
166 Klaus Steinkemper
KS: Das Wichtigste ist deiner Meinung nach die Beteiligung der Transmenschen?
MG: Ja, wobei das nicht heißt, dass nur Transmenschen das machen sollten, weil auch
manchmal ein professioneller Blick mit etwas Abstand zum Thema hilfreich und
sinnvoll ist. Aber sie sollten maßgeblich mitgestalten dürfen, weil es ansonsten ganz
schnell wieder in Richtung Fremdbestimmung geht. Da können Transmenschen ja
lange Lieder von singen. Und dann nehmen sie die Hilfe auch nicht an. Wie das im
ländlichen Raum funktionieren kann, das kann ich mir noch gar nicht vorstellen.
Da geht viel über das Internet, da muss es eine gute online Beratung geben für die
Menschen vor Ort. Und vielleicht sogar aufsuchende Angebote. Und es braucht
immer noch deutliche Schutzräume. Ich glaube, dass die Gefahr, diskriminiert
zu werden, diese Erfahrung verkraften zu müssen, auch in den nächsten Jahren
ein großes Thema bleiben wird. Und dafür wird auch Unterstützung nötig sein.
KS: Wir kommen zum Schluss. Es gibt sicher Fragen, die ich nicht gefragt habe,
Aspekte, die ich nicht beleuchtet habe. Möchtest du noch etwas loswerden?
MG: Ja. Wir reden über Menschen, die in der Gesellschaft schlecht behandelt werden
und die auch schlecht wegkommen, denen es teilweise richtig schlecht geht. Und
es klingt so, als ob die Arbeit, die wir machen, fürchterlich anstrengend ist. Wenn
ich mir aber anschaue, wie viele goldene Momente es gibt, wie oft Leute sagen: ‚Oh,
ist das klasse! Das habe ich geschafft!‘ oder ‚Warum denke ich das jetzt erst?´, die
davon berichten, wie sie ihr Leben auf die Reihe kriegen, wie sie selbstbewusst wer-
den, wie sie strahlen wie ein Honigkuchenpferd, dafür ist diese Arbeit fürchterlich
dankbar. Da kann ich allen nur raten, wenn du einen geilen Job haben willst, dann
mach so was. Also es ist großartig.
MG: Ja! Ich glaube, dass man da was Gutes tut. Man nutzt zwar recht pathologisie-
rende Systeme, aber mit etwas Geschick für eine gute ent-pathologisierende Arbeit.
Kinder und Jugendliche mit
Geschlechtsdysphorie
Möglichkeiten der medizinischen Versorgung
im Rahmen einer interdisziplinären
Spezialsprechstunde
Timo O. Nieder , Hertha Richter-Appelt und Birgit Möller1
Timo O. Nieder, Hertha Richter-Appelt und Birgit Möller
Zusammenfassung
1 Gekürzte und überarbeitete Version eines Übersichtsartikels aus der Zeitschrift Praxis
der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie (Möller, Nieder et al., 2014, 63, 6).
Einleitung
Unmittelbar nach der Geburt eines Kindes findet in der Regel eine folgenreiche
Zuweisung statt: Anhand der äußeren Erscheinung der Genitalien wird das Neuge-
borene als entweder männlich oder weiblich „bestimmt“2. Diese Einschätzung führt
dazu, dass Eltern und andere Bezugspersonen Erwartungen im Hinblick auf das
für das jeweilige Geschlecht typische Erleben und Verhalten des Kindes aufbauen:
Das Kind soll sich seinem Geschlecht entsprechend erleben (Geschlechtsidentität,
z. B. Ich erlebe mich als Junge.) und verhalten (Geschlechtsrolle, z. B. Ich spiele am
liebsten mit Autos.). Für einen Großteil der Kinder führen diese Erwartungen nicht
zu einem spezifischen Leidensdruck. Allerdings entwickeln nicht alle Kinder und
Jugendlichen ein Geschlechtsidentitätserleben bzw. Geschlechtsrollenverhalten,
das mit den körperlichen Merkmalen von Geschlecht übereinstimmt.
Kinder und Jugendliche, die mit Phänomenen rund um das fortgesetzte Erleben
von Geschlechtsdysphorie3 im Kindes- und Jugendalter professionelle Hilfe suchen,
2 Anders verhält es sich seit Frühjahr 2013 beim Vorliegen eines uneindeutigen Genitale
bzw. bei einer möglichen Intersexualität. Im Gesetz zur Änderung personenstands-
rechtlicher Vorschriften (PSTRÄndG; nachzulesen unter http://npl.ly.gov.tw/pdf/8244.
pdf) vom 07. Mai 2013 heißt es im §22, Absatz 3: „Kann das Kind weder dem weiblichen
noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall
ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen.“ (vgl. dazu auch Bager
et al., i. d. B.)
3 Der Begriff der Geschlechtsdysphorie leitet sich aus dem englischen Begriff „gender
dysphoria“ ab. Dabei kann problematisiert werden, dass sich in der deutsche Übersetzung
aufgrund der Vereinheitlichung der Begriffe Sex und Gender im deutschen Geschlecht
der Fokus auf das psychosoziale Geschlecht (Gender) verliert, den der englische Begriff
vorsieht. Zudem hat der Begriff der Dysphorie in der deutschen Psychopathologie eine
eigenständige Tradition und beschreibt u. a. missmutige Menschen, die sich stumpf-brü-
tend zurückziehen und gereizte Impulsdurchbrüche zeigen. Zuletzt ist fraglich, inwiefern
insbesondere bei Kindern der Leidensdruck, der dem Begriff Dysphorie inhärent ist,
zwangsläufig vorzuliegen hat. So wird im Zusammenhang mit der 11. Revision der ICD
Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie 169
stellen sowohl aus klinischer als auch aus ethischer Sicht eine Herausforderung
dar. Infolge von Berichterstattungen über zunächst pubertätsunterdrückende
und später die gewünschte Pubertät induzierende Hormonbehandlungen wurde
der Druck der Hilfe suchenden Kinder bzw. Jugendlichen und ihren Eltern für die
Mitarbeitenden interdisziplinärer Spezialsprechstunden spürbarer.
Das Zentrum der kontroversen und zum Teil hitzig geführten Debatte, innerhalb
der verschiedene Akteure aus dem Gesundheitsbereich unterschiedliche Positionen
einnehmen, besteht letztlich aus folgenden Kernfragen:
Nach Steensma (2013) lässt sich das Erleben und Verhalten von Kindern in Bezug
zum Geschlecht grob in drei Gruppen unterscheiden, die wie folgt charakterisiert
werden können (vgl. Tab. 1):
Die zuverlässige Identifikation der Persisters stellt die notwendige Grundlage einer
etablierungswürdigen Versorgungspraxis für die Behandlung von Kindern bzw.
Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie dar. Zwei Ziele stehen dabei im Vordergrund:
1. Das Risiko einer falsch-positiven Zuordnung zur Gruppe der Persisters gilt es
ebenso gut wie möglich auszuschließen wie
2. das Risiko eines falsch-negativen Ausschlusses betreffender Jugendlicher von einer
Hormonbehandlung, mit der die ursprüngliche Pubertät unterdrückt und die
Entwicklung der gewünschten sekundären Geschlechtsmerkmale induziert wird.
Die empirische Basis zur Unterscheidung zwischen den Persisters und den Desisters
ist begrenzt. Allerdings liefern die wenigen Nachuntersuchungen Hinweise darauf,
welche Variablen zur diagnostischen und klinischen Differenzierung beitragen
können. Als ein relevanter Faktor wird die Ausprägung der Geschlechtsdysphorie
in der Kindheit erachtet. Wallien und Cohen-Kettenis (2008) sowie Drummond et
al. (2008) fanden, dass sich die Persisters intensiver geschlechtsdysphorisch erlebten.
Zudem zeigten sie offener geschlechtsrollennonkonforme Verhaltensweisen als die
Desisters. In einer qualitativen Nachuntersuchung identifizierten Steensma et al.
(2011) motivationale Unterschiede. Während die Persisters davon sprachen, das
andere Geschlecht zu sein (z. B. „Ich bin ein Mädchen!“), stand für die Gruppen
der Desisters vielmehr der Wunsch im Raum, wie das andere Geschlecht sein zu
wollen (z. B. „Ich wäre gerne ein Mädchen!“). Der Leidensdruck bei den Persisters
resultierte hauptsächlich direkt aus der Diskrepanz zwischen Körper und Erleben,
während die Desisters vorwiegend darunter litten, aufgrund ihres Körpers nicht
dem Erleben entsprechend wahrgenommen zu werden (s. o.).
Versorgungsstrategie
Diagnostik
Behandlung
Therapeutische Rahmenbedingungen
Bei Kindern mit Themen rund um ihr Geschlechtsidentitätserleben bzw. ihre Ge-
schlechtsdysphorie geht es häufig zunächst um eine Beratung der Eltern. Da nur bei
einem geringen Prozentsatz die Geschlechtsdysphorie bis ins Jugendalter anhält,
werden die Eltern zunächst über den gegenwärtigen Wissenstand hinsichtlich der
Entwicklungsverläufe aufgeklärt (s. o.). Dies ist vor allem im Hinblick auf die Frage
eines Rollenwechsels und mögliche Schwierigkeiten, in die ursprüngliche Rolle
zurückzukehren, von Bedeutung. Viele Eltern kommen in die Sprechstunde mit
Fragen, Ängsten und Unsicherheiten bezüglich der Entwicklung des individuellen
Geschlechtsidentitätserlebens ihres Kindes. Sie wollen wissen, ob ihr Kind noch
„normal“ ist oder ihr Vorgehen, das geschlechtsvariante Verhalten zu akzeptieren
176 Timo O. Nieder, Hertha Richter-Appelt und Birgit Möller
bzw. unterstützen „richtig“ ist. Viele fühlen sich verunsichert, wollen Bestätigung,
dass sie nichts „falsch“ machen oder die Geschlechtsdysphorie durch ihr Verhalten
womöglich induziert haben. Manche sorgen sich um die Zukunft ihres Kindes und
befürchten, dass es niemals glücklich werden könne.
Die Aufklärung bzw. das Nachdenken über die vielfältigen Möglichkeiten
der Entwicklung bzw. Lebensgestaltung jenseits binärer Vorstellungen von Ge-
schlecht und Identität, Rollenverhalten etc. als lebenslangen Prozess erleben viele
Eltern als hilfreich und entlastend. Im Beratungsverlauf geht es darum, die Eltern
zu unterstützen, Ängste und Unsicherheiten in Bezug auf das Nichtwissen bzw.
Nicht-Vorhersehenkönnen des weiteren Entwicklungsverlaufs aushalten zu lernen,
und Wege zu finden, wie die Eltern ihr Kind bestmöglich auf dem individuellen
Weg unterstützen können. Neben einer akzeptierenden und fürsorglichen Haltung
im Umgang mit der Geschlechtsdysphorie geht es auch darum, das Kind vor nega-
tiven sozialen Reaktionen zu schützen. So ist es z. B. für viele Kinder wichtig, dass
das soziale Umfeld über die besondere Situation informiert ist, oder ein möglicher
Rollenwechsel mit den Erziehenden, Lehrenden etc. gut vorbereitet wird. Sind ne-
gative soziale Reaktionen unvermeidlich, sollte darüber nachgedacht werden, wie
das Kind bzw. der oder die Jugendliche geschützt werden kann (z. B. Rollenwechsel
ausschließlich im familiären Rahmen).
Für manche Eltern ist die Anerkennung der Geschlechtsdysphorie ihres Kindes
mit einem schmerzlichen Prozess des Abschiednehmens oder Schuldgefühlen ver-
bunden. Manchmal werden eigene schmerzliche Erfahrungen oder Themen berührt.
Eine Begleitung der Eltern oder ggf. Überweisung an Psychotherapeut_innen ist
in diesem Fall hilfreich und ermöglicht den Eltern, in ihrer Elternfunktion ihrem
Kind weiterhin unterstützend zur Verfügung zu stehen. Neben einer individuel-
len Behandlung haben sich auch Gruppensitzungen mit Eltern (Di Ceglie et al.
2006), als sinnvoll erwiesen. Viele Eltern wünschen sich Kontakt und Austausch
mit anderen Eltern in ähnlicher Situation. Es gibt zahlreiche Einrichtungen und
Betroffenenverbände, die in den letzten Jahren gegründet wurden und den Eltern
zur Kontaktaufnahme empfohlen werden (u. a. http://www.trans-kinder-netz.de/).
Hormonbehandlung
Psychotherapeutische Behandlung
Es ist davon auszugehen, dass die Versorgungs- und Behandlungspraxis von Kin-
dern und Jugendlichen mit ausgeprägter, persistierender Geschlechtsdysphorie
weiterhin Thema kontroverser Debatten sein wird. Ein Teil der Annahmen, die
Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie 179
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Zwischen Selbstbestimmung und
gesellschaftlichem Zwang
Diskurstheoretische Medienanalyse
zum Fall „Alex“1
Elaine Lauwaert
Das Feld der Diskurse um Körper, Geschlecht, Sexualität und damit verbunden
die Frage nach dem Verhältnis von Selbstbestimmung versus Reglementierung,
erweist sich als stark umkämpft und steht häufig im Mittelpunkt des medialen Öf-
fentlichkeitsinteresses. Zu nennen wäre hier z. B. die Diskussion über die Frage der
Beschneidung von Jungen*2 im Judentum und Islam (Cetin et. al 2012), der Bericht
des Deutschen Ethikrates zur Lebenssituation von Intersex*-Menschen (Deutscher
Ethikrat 2012) oder das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Verfassungswid-
rigkeit der Forderung nach einer geschlechtsangleichenden Operation als Voraus-
setzung für eine Personenstandsänderung nach dem Transsexuellengesetz (TSG)
(Bundesverfassungsgericht 2011). Das grundgesetzlich geschützte Recht auf freie
Entfaltung der Persönlichkeit und körperliche Unversehrtheit steht hierbei in einem
Spannungsverhältnis z. B. zu Rechten der Eltern gegenüber ihren minderjährigen
Kindern (bspw. Baader und Goettsche, i. d. B.), staatlicherseits ausgesprochenen
Verboten und Geboten (bspw. Remus, i. d. B.) oder aber weltanschaulichen oder
religiösen Traditionen und Moralvorstellungen.
1 Dieser Buchbeitrag basiert auf einer im November 2012 an der Universität Bielefeld
abgegebenen MA – Arbeit der Verfasser_in zur Erlangung des akademischen Grades
Master of Arts (M.A.)
2 Im Rahmen dieses Beitrags wird der Versuch der Anwendung einer „gendersensiblen“
Schreibweise unternommen: Der Appendix „*“ weist darauf hin, dass Geschlecht im
Rahmen dieser Arbeit als soziale Konstruktion, die immer wieder performativ herge-
stellt und reproduziert wird, verstanden werden soll. Der Unterstrich „_“ fungiert als
ein Symbol einer Leerstelle „als Platzhalter für geschlechtliche Geltungsansprüche und
Möglichkeiten, die in der zweigeschlechtlich strukturierten Sprache nicht repräsentiert
sind“ (Schirmer 2010, S. 15).
Exemplarisch zeigen sich diese Konflikte am Beispiel des Trans*3 Kindes „Alex“4
aus Berlin, welches für sich in Anspruch nimmt, ein Mädchen* zu sein und als
solches anerkannt zu werden – obwohl diese Selbstzuordnung dem bei der Geburt
festgelegten Geschlecht „männlich“ nicht entspricht. Die Reaktionen des sozialen
Umfeldes auf diesen Schritt gipfelten in dem Versuch des Jugendamtes mit Unterstüt-
zung des Vaters* von Alex*, eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie zu erreichen.
Durch mediale Berichterstattung, die damit verbundene Sensibilisierung der
Öffentlichkeit und die Gefahr des Imageverlustes für die beteiligten Psychiater_innen
der Berliner Charité gelang es, die Zwangseinweisung von „Alex“ zu verhindern. Die
Medien fungierten hierbei einerseits als ein zivilgesellschaftliches Korrektiv gegen-
über der Justiz, andererseits aber auch teilweise als Instanz der erneuten Integration
von „Alex“ in die bipolare Zweigeschlechtlichkeit und damit als Verhinderer einer
Auseinandersetzung über normative Zweigeschlechtlichkeit als solches.
Die hier deutlich werdenden Diskurse nachzuzeichnen, sie auf ihre Qualität der
Systemkritik oder -stabilisation hin zu prüfen sowie daraus resultierend Möglich-
keiten einer heteronormativitätskritischen Medienberichterstattung und Pädagogik
zu entwickeln, wird im Fokus dieses Beitrags stehen.
Zentral erscheint unter diesem Blickwinkel die Auseinandersetzung mit den
Fragen: Wer sprechen darf; wer gehört wird und wessen Rede nicht gehört wird
(vgl. Hornscheidt 2012, S. 220 ff.). Sprechen die Medien über „Alex“ mit ihr oder
wird ihr die Möglichkeit eingeräumt selbst zu sprechen? Kann „Alex“ gehört werden
oder muss sie „stumm“ bleiben?
Hierzu wird zu Beginn kurz die „Fallgeschichte“ von „Alex“ skizziert, um daran
anknüpfend die in den Medien deutlich werdenden Diskurse zu den Komplexen
„Selbst- und Fremdbild“, „Familie und soziales Umfeld“ sowie „Normalität und
Pathologie“ in den Fokus der Aufmerksamkeit zu stellen. Im abschließenden Fazit
soll der Versuch unternommen werden, Möglichkeitsräume einer medialen Be-
5 Berücksichtigt für diesen Beitrag wurden acht Artikel aus der „taz“ (koa 2012; Oestreich
2012 a-g), einer aus der „Berliner“ Zeitung (Beyerlein 2012), einer aus dem „Spiegel“
(Kullmann 2012), einer aus dem „Freitag“ (Nowak 2012a), zwei aus der Jungle World
(Nowak 2012b; Sona 2012), einer aus dem „Neuen Deutschland“ (Schubert 2012) und
einer aus dem „CSD Magazin“ (Siebenbaum 2012).
184 Elaine Lauwaert
Mitte Januar 2012 wandte sich die Mutter* von „Alex“ an die Medien, um auf
die geplante „Zwangseinweisung ihrer Tochter*“ aufmerksam zu machen, worauf-
hin sich ein Solidaritäts-Bündnis: Aktionsbündnis „Alex“ gründete (Oestreich
2012d). Diesem gehörten verschiedenste Gruppen und Organisationen u. a. aus
Trans*- Kontexten oder dem Umfeld der „Psychiatriekritik“ an (ebd.). Eine eigens
eingerichtete Online-Petition erhielt großen Zulauf und mehrere Demonstrationen
wurden organisiert. Schließlich erklärte erstens die Berliner Charité öffentlich,
„Alex“ nicht gegen ihren Willen aufnehmen zu wollen (Charité 2012). Zweitens
distanzierte sich der Leiter* des Instituts für Sexualwissenschaft und Medizin, Prof.
Dr. med. Dr. phil. Klaus M. Beier (Charité Berlin) von Handlungsempfehlungen
für die Therapie von Trans*-Kindern und Jugendlichen, die in einem von ihm
herausgegebenem Buch formuliert werden (Oestreich 2012 d)6.
Der Versuch des Jugendamtes der Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht für
„Alex“ zu entziehen, scheiterte im September 2012. Das zuständige Gericht legte
fest, dass „Alex“ wie von ihr und der Mutter* gewünscht am Institut für Sexualfor-
schung und forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
zu begutachten sei. Parallel hierzu solle eine endokrinologische Untersuchung
hinsichtlich des Hormonstatus erfolgen, welche die Voraussetzung dafür darstellt,
mit einer eventuellen Hormonumstellung beginnen zu können (Inka 2012).
Bei der Analyse der verschiedenen Zeitungsbeiträge zum Fall „Alex“ lassen sich
unterschiedliche Diskursebenen unterscheiden, die sich von verschiedenen Blickwin-
keln aus mit den Thematiken Geschlecht, Körper, aber auch Sexualität beschäftigen
und sich dabei im Spannungsfeld zwischen individuellen Handlungsmöglichkei-
ten und gesellschaftlichen Anforderungen bewegen. Untersuchen lässt sich hier
die Dimension von Selbst- vs. Fremddefinition, die Position des Familien- und
Freund_innenkreises zu „Alex“, sowie drittens der Blickwinkel von Institutionen.
Dabei ist jeweils zu fragen, inwieweit die hier auftretenden Diskurse in Bezug auf
2.1 „Weil ich ein Mädchen bin“ versus „Weil ich ein Mädchen
sein will“ – Betrachtungen zu Selbst- und Fremdbildern
7 Berücksichtigt für diesen Beitrag wurden acht Artikel aus der „taz“ (koa 2012; Oestreich
2012 a-g), einer aus der „Berliner“ Zeitung (Beyerlein 2012), einer aus dem „Spiegel“
(Kullmann 2012), einer aus dem „Freitag“ (Nowak 2012a), zwei aus der Jungle World
(Nowak 2012b; Sona 2012), einer aus dem „Neuen Deutschland“ (Schubert 2012) und
einer aus dem „CSD Magazin“ (Siebenbaum 2012).
186 Elaine Lauwaert
Die Frage, wer das Recht hat zu definieren, welches Geschlecht einer Person zukommt;
wie stark auf deren Selbstverständnis rekurriert wird und ob und wenn ja, wo diesem
Grenzen gesetzt werden, spielt eine zentrale Rolle bei den in den Zeitungsbeiträgen
(s. o.) beobachteten Diskursen um Geschlecht, Körper und Sexualität von „Alex“.
Gleichzeitig spielt die Frage mit hinein, wo das Selbstbestimmungsrecht des Kindes
beginnt und das Erziehungsrecht der Eltern endet. Welche körperlichen Eingriffe
sind möglich und nötig und wann kann von einem Eingriff in die körperliche
Unversehrtheit ausgegangen werden, wenn Behandlungen unterbleiben? (vgl. z. B.
Remus; Bager und Göttsche, i. d. B.).
„Alex‘“ Geschlecht wird nach Oestreich zu einer Art „Kampffeld“ (2012a) – ihre
Person wird in den Medien zu einem Symbol, „zu einem Wesen, das uns alle vor
die Frage stellt, was eigentlich normal sein soll“ (Beyerlein 2012). Während „Alex“
selbst am liebsten als normal akzeptiert werden würde, „ein Kind unter vielen sein
möchte“ (ebd.).
Im Fall „Alex“ erscheinen das Jugendamt, die jeweils zuständigen Gerichte sowie
die Berliner Charité als relevante Instanzen, die als Ermöglicher oder Verhinderer
von weiteren Entwicklungsschritten von „Alex“ fungier(t)en.
Die Frage, ob es sich bei Trans*-Sein um eine „Störung“, eine „Krankheit“, etwas
„Pathologisches“, „Behandlungsbedürftiges“ oder vielmehr um eine, neben anderen
gleichberechtigt stehende Form des Geschlechtsselbstverständnisses handelt, spitzt
sich in den Diskussionen zu: Ob und wenn ja, wo „Alex“ begutachtet werden soll?
Ob sie Hormone erhalten darf? Wenn ja zu welchem Zeitpunkt? Es geht darum,
wer die Definitionsmacht darüber erhält festzulegen, welches Geschlecht auf „Alex“
zutrifft bzw. „ob Alex zur Frau werden darf“ (Kullmann 2012, S. 135) oder in einem
gesellschaftlich männlich* konnotierten Körper verbleiben muss.
Die üblicherweise nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stehende Ebene des se-
xuellen Begehrens erlangt hier eine zentrale Bedeutung. Sie erhält die Funktion als
Unterscheidungskriterium zu fungieren: Zwischen „echten“ Trans*-Kindern und
188 Elaine Lauwaert
Beim Blick auf die im Fall „Alex“ deutlich werdenden Diskurse lässt sich als Ober-
thema der Versuch von „Alex“ aufzeigen, selbst definieren zu können, welchem
Geschlecht sie angehört und wie sie leben möchte. Von Seiten der Journalist_innen,
der Familienmitglieder und der beteiligten Institutionen werden unterschiedlichste
Strategien der Relativierung, der Infragestellung, der Negierung von „Alex“ Position
vorgenommen, wie aufgezeigt werden konnte. Die Norm der Zweigeschlechtlich-
keit und die Forderung nach Übereinstimmung zwischen „sex“ und „gender“
erscheint für den Großteil der beteiligten Akteur_innen als unwidersprochenes
und unhinterfragbares Prinzip. Das Postulat, dass alle Menschen unverlierbar
(Konstanzannahme) und aus körperlichen Gründen (Naturhaftigkeit) entweder das
eine oder das andere Geschlecht sind (Dichotomizität) (Hirschauer 1996, S. 243),
konnte hingegen für den Kontext des Falls „Alex“ nicht aufrechterhalten werden.
An die Stelle der „Naturhaftigkeit“ (ebd.) treten Aushandlungsprozesse zwischen
individuellem Selbstverständnis und der Wahrnehmung durch Andere. Es werden
Wege aufgezeigt wie ein „Wechsel“ von dem einen gesellschaftlich anerkannten
Geschlecht zu dem anderen vollzogen werden kann. Es erfolgt damit eine „Rein-
tegration“ von potentiell heteronormativitäts-destabilisierenden Geschlechtsver-
hältnissen in das System der Zweigeschlechtlichkeit, allerdings um den Preis der
Aufgabe der Vorstellung einer von „Natur“ aus gegebenen Übereinstimmung von
„sex“ und „gender“. In den Zeitungsbeiträgen der „taz“ (vgl. Oestreich 2012 a–g;
koa 2012), der „Berliner Zeitung“ (Beyerlein 2012), des „Freitag“ (Nowak 2012a), der
„Jungle World“ (Sona 2012; Nowak 2012b), des „Neuen Deutschlands“ (Schubert
2012) und des CSD Magazins (Siebenbaum 2012) lassen sich klare Positionierun-
gen zu Gunsten des Blickwinkels von „Alex“ und ihrer Mutter erkennen und die
Berichterstattung über die Proteste gegen die geplante Einweisung von „Alex“
nehmen einen großen Raum ein. Dagegen wird im Beitrag des Spiegels (Kullmann
2012) der Versuch unternommen, den Fokus auf innerfamiliäre Dynamiken zu
lenken. Hier erscheint die Thematik Trans*-Sein als individuelles Schicksal eines
Kindes. Gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse, die Einfluss auf die
Zwischen Selbstbestimmung und gesellschaftlichem Zwang 189
Als Kennzeichen „moderner“ Gesellschaften lässt sich laut Degele et al. (2002),
neben einer „zunehmenden Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche
oder Teilsysteme auf gesamtgesellschaftlicher Ebene“ (ebd. S. 139), eine immer
stärkere Individualisierung der Gesellschaft beobachten. Diese ist mit größeren
Handlungsspielräumen und einer vermehrten Anzahl an Möglichkeiten verbun-
den (vgl., ebd.). Das Mehr an akzeptierten Möglichkeiten kann einerseits zu einer
Verschiebung des „Radius der Ausgrenzung und Normierung“ (ebd., S. 149) und
zu einer Integration ehemals widerständigen Potentials seitens des Staates führen.
Dies kann aber andererseits auch mit einer Schrumpfung des Handlungsspielraums
derjenigen, die nicht in die neuen „Normalitätsschemata“ hineinpassen einhergehen
(ebd.). Gesellschaftlich propagierte „Toleranz“ und Maßnahmen zum Abbau von
Diskriminierungen müssen unter einem solchen Blickwinkel als Praxen verstanden
werden, „die Abweichungen bis zu einem gewissen Ausmaß ‚managen‘ und unter
bestimmten Bedingungen integrieren“ (Mayrhofer 2012, S. 71; Hervorh. i. O.) sollen.
Dies berücksichtigend ist zu fragen, welche Strategien erfolgversprechend dafür
erscheinen, Räume zu schaffen, die es Trans*- Personen ermöglichen, in ihrem
Geschlechtsselbstverständnis anerkannt zu werden und als gleichberechtigter Teil
der Gesellschaft fungieren zu können – ohne in ein bipolar-zweigeschlechtliches
Gesellschaftssystem `zwangsintegriert´ zu werden. Sollte perspektivisch darauf
hingewirkt werden, Geschlecht zu dethematisieren oder zu neutralisieren (vgl. z. B.
Heinz und Nadai 1998) oder wäre nicht vielmehr der Versuch zu unternehmen,
Geschlecht bewusst anders zu gestalten, da eine „vollständig ungeschlechtliche Welt
aus einer gegenwärtigen Perspektive heraus in der Tat utopisch zu sein“ (Schirmer
2010, S. 411) scheint?
Dies berücksichtigend erscheinen mir folgende Aspekte als zentrale Kriterien
für eine heteronormativitätskritische Medienberichterstattung und/oder einen
trans* sensiblen Umgang im Kontext von Pädagogik (vgl. auch Abschnitt Bil-
dungsbausteine; i. d. B.):
190 Elaine Lauwaert
Literatur
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Jugendkultur im Binärsystem?
Perspektiven auf Gender und sexuelle Identitäten
in Online-Spielen
Maike Groen und Arne Schröder
Spielen ist elementarer Bestandteil in der Entwicklung von Kindern und Jugendli-
chen. Hier lernen Kinder kulturelle Verhaltensweisen, erproben Handlungsmög-
lichkeiten, entwickeln Lösungsstrategien, erarbeiten sich (gemeinsam) Regeln und
erkunden neue Perspektiven. So können sie Selbstwirksamkeit erfahren (vgl. Krotz
2008). Die Nutzung von Computerspielen hat in den letzten Jahren insbesondere bei
Jugendlichen weiter zugenommen (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund
Südwest 2012). Sie bieten jungen Menschen die Möglichkeit, voller Fantasie in eine
andere Welt einzutauchen, mit vielfältigen Reizen und Lernmöglichkeiten. Diese
Form des Spielens erfüllt damit auch eine Funktion in der Suche nach Ganzheits-
und Subjektivitätserfahrungen.
Daten und Rechenoperationen von Computerspielen basieren auf dem Binärsys-
tem, in dem alle Zustände als Mengen von Nullen und Einsen beschreibbar sind.
Betrachten wir die Darstellungsformen und Handlungen von populären Computer-
spielen, so kann der Eindruck entstehen, das Prinzip der binären Unterscheidung
wäre gewissermaßen zum allgemeinen Prinzip der Kategorienbildung erhoben
worden. Denn viele Spiele reproduzieren die bekannten binären Oppositionen
von Geschlechtlichkeit und von Begehrensformen. Kategorien wie männlich und
weiblich erscheinen dann als Zustände, die weder Zwischenschritte noch ein Über-
schreiten der ihnen zugeordneten Eigenschaften und Handlungsweisen kennen.
Doch ebenso wie auf der Grundlage des binären Systems in der Datenverarbeitung
komplexe Systeme umgesetzt werden, fi nden sich auch im Korpus der Computer-
spiele facettenreiche Möglichkeitsräume, die die engen Grenzen der dichotomen
Zuschreibung zu durchbrechen vermögen.
Online-Spiele erfordern neben regelbezogenen Spielhandlungen die soziale
Interaktion mit anderen Spielenden. Die hieraus entstehende Funktion der Spiel-
umgebung als sozialer Raum bleibt in der medienpädagogischen Thematisierung
von Spielen häufig unberücksichtigt, obwohl für die Spielenden Interaktions- und
Nahezu alle Jugendlichen haben die Möglichkeit, sich unabhängig von Erziehungs-
berechtigten im Internet zu bewegen. Für diese Generation finden Informations-
annäherung und Entwicklung kaum noch unabhängig von Online-Medien statt.
82 % der Jugendlichen besitzen einen eigenen Computer oder Laptop (vgl. MPFS
2012, S. 30f.). Spielen gehört dabei zu den Hauptbeschäftigungen von Jugendlichen
am Computer (ebd., S. 14). Es prägt die jugendliche Lebenswelt aber auch außer-
halb der eigentlichen Spielzeit, durch Austausch in Foren über die Spielwelt oder
als Gesprächsthema mit Freund_innen. Neben zahlreichen Foren und Fan-Seiten
gibt es Spiele-Portale, die eine dezidierte Verbindung von sozialen Netzwerken
und Computerspielen sind. So zählt die Electronic Sports League (ESL), Europas
größte Liga für professionelles Computerspielen, beispielsweise über eine Million
registrierte deutsche Spieler_innen. Die Website versteht sich selbst als „Social
Gaming Network“ und stellt den kommunikativen Aspekt von Online-Spielen
besonders in den Vordergrund (vgl. Mazari und Flierl 2009, S. 71). Hierbei ist be-
achtenswert, dass in Studien mit den dort engagierten Jugendlichen ein niedrigeres
Suchtrisiko festgestellt wurde, als bei Vielspielenden vermutet wurde. Die erhöhte
Medienkompetenz sowie die Anforderung der sozialen Interaktion wirken diesem
anscheinend entgegen (vgl. Adamus 2009).
Die Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb von Online-Spie-
len ermöglichen es, zu einer jugendkulturellen Gruppe dazuzugehören, sowie
Anerkennung durch andere zu erfahren. In Spielen wie World of Warcraft können
Spieler_innen mediale und reale Räume als gleichberechtigte Teile ihrer Umwelt
wahrnehmen und erhalten dadurch einen spielerischen Zugang zu Lebensmodellen
und Teilidentitäten (Schorb 2009, S. 91). Waldemar Vogelgesang (2005) sieht in den
genannten Möglichkeiten ein Potential dafür, dass „Rollen und Identitäten, und
zwar ganz gleich ob nationale, geschlechtsspezifische oder personale, durch das
Spiel reflexiver und – vielleicht – veränderbarer“ (ebd., o. S.) werden.
Jugendkultur im Binärsystem? 195
Bereits ein kurzer Blick auf die Geschichte der Video- und Computerspielforschung
zeigt, dass Handlungsstrukturen und Charaktere in den Spielen überwiegend ste-
reotypen Bildern folgen. In zahlreichen Veröffentlichungen wird die sexualisierte
Darstellung insbesondere weiblicher Spielcharaktere problematisiert. Tracy L. Dietz
(1998) schreibt in ihrer Studie zu Konsolenspielen, dass es nur eine geringe Anzahl
von Spielen mit weiblichen Charakteren gibt. Dabei werden oftmals stereotype
Vorstellungen von Weiblichkeit durch die Art der Einbettung in die Handlung
und die visuelle Darstellung reproduziert. Eine häufige Rolle der weiblichen Cha-
raktere ist die Position des „Damsel in Distress“ (ebd., S. 434): Sie werden durch
den Antagonisten der Handlung bedroht und geraten in eine Situation, aus der sie
nur durch die Aktionen der Hauptfigur des Spiels wieder befreit werden können.
Klassische Beispiele für diese einfache Konfiguration sind Videospiele wie Donkey
Kong und Super Mario.
In der Darstellung sind weibliche Charaktere häufig sexualisiert. Sie fallen
durch knappe und dysfunktionale Kleidung sowie eine starke Akzentuierung
sekundärer Geschlechtsmerkmale auf. Sara M. Grimes (2003) beobachtete in ihrer
Untersuchung von Spielen mit weiblichen Hauptfiguren einen Zusammenhang
zwischen visueller Darstellung und Rollenzuschreibung: „The more sexualized
the character is visually (…), the more her character adheres to and is submitted
to stereotypical notions about gender roles and ideals“ (ebd., o. S.). Ein großer
Teil der Computer- und Konsolenspiele scheint an eine männlich-heterosexuelle
Zielgruppe gerichtet zu sein.
Ein genderinklusives Spieldesign wird nun nicht dadurch erreicht, dass für
andere Spiele explizit Spielerinnen adressiert und diese zugleich durch die Schaf-
fung einer Spielrichtung von „girl games“ auf bestimmte Spielformen festlegt
werden. Denn durch die Orientierung an einem Status Quo geschlechtsspezifischer
Spielpräferenzen werden die entstandenen Nischen weiblich besetzter Spielräu-
me festgeschrieben (vgl. Deuber-Mankowsky 2007). Beispielsweise herrscht die
196 Maike Groen und Arne Schröder
Die virtuellen Welten von Online-Spielen sind Orte der Begegnung. Diese soziale
Komponente hat für die meisten Spielenden einen höheren Stellenwert als Spielin-
halte, Narration und Ästhetik (vgl. Keilhauer 2011).
1 Als Casual Games werden Spiele bezeichnet, denen ein einfaches und schnell erlernbares
Spielprinzip zugrunde liegt, so dass sie in Bezug auf Spielzugang und –dauer weniger
voraussetzungsvoll sind.
Jugendkultur im Binärsystem? 197
Die verbreitete Vorstellung der einsamen Nerds geht damit an der Lebensrealität
der Spieler_innen vorbei. Die im Zusammenhang mit dem Spiel geknüpften Kon-
takte erweitern das Beziehungsgeflecht der Spielenden in der Regel (vgl. Schiano
et al. 2011) und sind nicht abgespalten von sozialen Beziehungen außerhalb der
Spielwelten. Dazu gehört auch, dass die Grenze zwischen Online- und Offline-Welt
häufig überschritten wird, beispielsweise durch Gildentreffen2 oder persönliche
Verabredungen, oder dadurch, dass gemeinsam mit Schulfreund_innen gespielt
wird. Jugendliche verknüpfen ihre Welten offensichtlich (vgl. Vogelgesang 2005),
und fliehen nicht, wie oftmals unterstellt wird, von einer in die andere.
Diese Ebene der sozialen Interaktion wird im Folgenden anhand von zwei
verbreiteten Online-Spielen veranschaulicht.
2 Bei vielen Online-Spielen ist es üblich, im Spiel Gruppen zu bilden, in denen gemeinsam
gespielt wird. Einige dieser Clans oder Gilden veranstalten auch persönliche Treffen
außerhalb des Spiels.
3 Avatare sind stellvertretende Verkörperungen (vgl. Klevjer 2006) in der virtuellen Welt,
über die Spielende mit Objekten und Charakteren innerhalb eines Spiels interagieren.
198 Maike Groen und Arne Schröder
4 Beispielhaft sei hier das nahezu obligatorische „gl hf“ („good luck, have fun“) am Anfang
eines Spiels genannt.
200 Maike Groen und Arne Schröder
debattiert wird. Hier ist zu beobachten, wie die vom Mainstram abgewertete, klas-
sische „geek masculinity“ (vgl., ebd., S. 111ff.) sich selbst durch eine Herabsetzung
von Homosexualität und allem Weiblichen erhöht.
Ähnliche Erfahrungen machen auch andere Spielerinnen, sobald sie als Frauen
wahrgenommen werden. Taylor beschreibt als einen der zentralen Coping-Mecha-
nismen von Frauen, das eigene Geschlecht zu verbergen. Andere passen sich an das
in der Spielumwelt vorherrschende hegemoniale Männlichkeitsbild übertrieben
an, indem sie entweder den Klischees entsprechen oder männlich konnotierte Ver-
haltensweisen übernehmen und ebenfalls andere diskriminieren (vgl., ebd. 121f.).
Um dem etwas entgegen zu setzen, haben sich die „Girls of StarCraft“ zusam-
mengeschlossen, ein offener Verbund von StarCraft-interessierten Frauen_Trans,
der unter Anderem für Frauen und Trans* StarCraft-Turniere organisiert. Die
Mitglieder intervenieren außerdem – oft erfolgreich – bei besonders offensivem
Sexismus in der Szene.
Einige der erfolgreichsten und berühmtesten StarCraft-Spielerinnen sind Trans-
frauen. Diese erleben Unterstützung von Turnierveranstaltern und Plattformen,
die diskriminierende Äußerungen sanktionieren. In der StarCraft-Community
gibt es von regelmäßigen transphoben Beleidigungen und Zwangs-Outings bis
zu breiten solidarischen Fangemeinden unterschiedliche Reaktionen. Jedoch ist
bereits die bloße Präsenz von offen transidentitären Spieler_innen bemerkenswert.
StarCraft bietet durch die Zusammensetzung der Profi-Ligen eine begrenzte
Sichtbarkeit nicht-hegemonialer Formen von Männlichkeit und Weiblichkeit im
Rahmen der Spielumgebung. Dabei werden konstant Normen etabliert, die auf
Rücksichtnahme und Toleranz hinwirken sollen.
Fazit
Die Relevanz von Computerspielen in der Lebenswelt von Jugendlichen ist evident.
Für die pädagogische Praxis ist das Kennen und Verstehen der Zusammenhänge,
die im Alltag so vieler Jugendlicher eine hohe Bedeutung einnehmen, eine Be-
reicherung. Dazu ist es erforderlich, sich mit den spezifischen Bedingungen des
Gegenstands der Computerspiele vertraut zu machen.
In den vorangegangenen Abschnitten wurde gezeigt, dass Online-Spiele mehr
sind, als durch die Spielinhalte erkennbar ist. Die Spielwelt als ästhetische und
narrative Rahmung der Spielhandlungen ist ein Referenzsystem, in das soziale
Konstruktionen eingeschrieben sind. Hierdurch entstehen Ausschlüsse auf der
Ebene der Inhalte und Darstellungsweisen. Spielen ist aber eine Praxis, die über
Jugendkultur im Binärsystem? 201
die Rezeption von Inhalten weit hinausgeht. Die Regeln und Konventionen, nach
denen innerhalb der Spiele Handlungen ausgeführt werden können, müssen in
einer Betrachtung von Spielenden berücksichtigt werden. Das Spezifische des
Online-Spiels ist die Verbindung von regelbasierten Spielhandlungen mit sozialer
Interaktion. Sie funktionieren als soziale Räume und bieten Kommunikationswege
wie persönliche Nachrichten, Chat oder Sprachverbindungen an.
In Gaming-Communities sind sexistische und homophobe Äußerungen viel-
fach anzutreffen. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass nicht-normative
Identitäten in diesen Communities nicht vorhanden sind. Wenn beispielsweise
Spielerinnen oder schwule Spieler diese Räume betreten, erleben sie eine Kommu-
nikationskultur, in der diskriminierende Sprachpraxen akzeptiert und dominant
sind – eine Konsequenz dessen ist, dass einige sich bemühen, die eigene Verortung
hinauszuzögern oder ein Passing als männlich oder heterosexuell zu erreichen. Sie
erleben aber auch Kommunikationssituationen, in denen Identitätszuordnungen
nicht aufgrund von visuellen Markierungen des eigenen Körpers stattfinden. Über
getrennte Chatkanäle und das System der Gilden bzw. Clans können die Spielenden
sich ein Umfeld suchen oder herstellen, in dem sie sich frei bewegen können. Trotz
einer hegemonialen Kommunikationskultur etablieren sich so innerhalb der Spiele
Räume, in denen Umgangsformen nach eigenen Regeln definiert und erprobt werden
können. Durch das Engagement vieler Spieler_innen gelingt es, inklusive Ansätze
auch in offiziellen Spielzusammenhängen auf die Agenda zu setzen.
Noch haben Spiele, die die Sichtbarkeit nicht-normativer Identitäten erhöhen und
Ausschlüsse vermeiden, Seltenheitswert. Die aktiven Communities in Online-Spielen
tragen aber einen großen Teil dazu bei, Facettenreichtum und Vielschichtigkeit
der Spieler_innengemeinschaft aufzuzeigen. Online-Welten und -Communities
sind Räume der Auseinandersetzung, in denen Sichtbarkeit und Anerkennung der
Vielfalt erkämpft werden. Pädagogik, die jugendliche Spielende in ihrer Lebenswelt
ernst nehmen will, muss diese spezifischen Bedingungen reflektieren.
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Jugendkultur im Binärsystem? 203
1 Passagen aus Teil 1 und 2 dieses Artikels wurden bereits veröffentlicht in: SFBB und
Bildungsinitiative QUEERFORMAT (2012) und für diese Ausgabe aktualisiert.
2 Der von uns gewählte Begriff Trans* schließt alle Menschen ein, die eine andere ge-
schlechtliche Identität besitzen und ausleben oder darstellen als jene, die ihnen bei der
Geburt zugeordnet wurde.
3 Eine Studie aus Australien (3134 befragte queere Jugendliche) belegt, dass 85 % der
befragten Jugendlichen sich bis zum Alter von 15 Jahren ihrer sexuellen Gefühle bereits
bewusst waren. 60 % wussten schon bis zum Alter von 13 Jahren um ihre sexuellen
Gefühle, 26 % sogar bis zum Alter von 10 Jahren. 10 % der Befragten gaben an, schon
immer gewusst zu haben, zu wem sie sich sexuell hingezogen fühlen. 20 % der befragten
Jugendlichen, die sich selbst als „gender questioning“ bezeichneten, gaben an, es schon
immer gewusst zu haben. (L. Hillier e. a., Australian Research Centre in Sex, Health
and Society, La Trobe University, Writing Themselves In 3., 2010).
4 Takacs 2006
5 Schupp 1999
6 Klocke 2012
Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der Kinder- und Jugendhilfe 209
und dies nicht nur von ihren Mitschüler_innen sondern auch vom Schulpersonal
einschließlich der Lehrkräfte.7
Die Konfrontation mit Homo- und Transphobie bleibt für LGBT-Jugendliche nicht
ohne Folgen. Die Diskrepanz zwischen den eigenen Gefühlen und Wünschen und
den verinnerlichten Moralvorstellungen und der Ablehnung durch die Außenwelt
führt bei vielen zu psychosozialen Belastungen. Das häufigste in Studien genannte
Problem ist Einsamkeit. LGBT-Jugendliche weisen im Vergleich zu heterosexuellen
Jugendlichen zudem überproportional häufig Lernprobleme, Konzentrationsstö-
rungen, Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie psychosomatische Probleme wie
Ess- und Schlafstörungen, Angst und Schuldgefühle, mangelnde Selbstakzeptanz,
Vermeiden sozialer Situationen, Depressionen und Suizidversuche auf.8
Der wohl alarmierendste Befund aller Studien ist das erhöhte Suizidrisiko von
LGBT-Jugendlichen: 44,9 % der von Biechele et al. befragten schwulen Jugendlichen
hatten bereits einen Suizid in Erwägung gezogen, 19,2 % hatten ernsthaft daran
gedacht, sich umzubringen; 8,7 % der Befragten hatten sogar schon einen oder
mehrere Suizidversuche hinter sich. Das Suizidrisiko der jungen Lesben, Schwulen
und Bisexuellen, die 1999 in der Berliner Studie9 befragt wurden, war viermal höher
als das ihrer heterosexuellen Peers. Eine Studie aus Österreich10 von 2006 ermittelte
sogar eine sechsfach erhöhte Suizidversuchsrate bei schwulen Jungen. Eine Befra-
gung von 90 Trans*Personen zwischen 16 und 26 Jahren in Frankreich11 ergab, dass
69 % der Befragten schon über Suizid in Zusammenhang mit ihrer Transidentität
nachgedacht hatten. 34 % hatten bereits einen oder mehrere Suizidversuche hinter
sich. Die meisten taten dies im Alter von 12 bis 17 Jahren.
Ein US-amerikanischer Report diagnostiziert Jugendobdachlosigkeit als ein
Problem, von dem LGBT-Jugendliche überproportional häufig betroffen sind.
Etwa 35 % der ca. 12.000 obdachlosen Jugendlichen im US-Bundesstaat Illinois
identifizieren sich selbst als lesbisch, schwul, bisexuell oder Transgender. Diese
Jugendlichen finden oft nur schwer Zugang zu Obdachloseneinrichtungen, da
die Anbieter diesen Zielgruppen in der Regel ignorant, ängstlich und unwissend
begegnen12. Auch eine Reihe weiterer Studien aus Großbritannien weist darauf hin,
Der normative Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe bietet mittlerweile zahlreiche
Möglichkeiten, das Thema sexuelle Vielfalt in die pädagogische Praxis zu integrieren.
Gleichzeitig verpflichtet er die pädagogischen Einrichtungen, LGBT-Jugendliche
eintritt von 2004 dazu auf, Vielfalt in der pädagogischen Arbeit auf der Grundlage
gleicher Rechte aktiv zu berücksichtigen und Benachteiligungen abzubauen. In
seiner Neufassung, die 2014 erscheinen wird, wird das Berliner Bildungsprogramm
voraussichtlich auch explizit auf geschlechtliche und sexuelle Vielfalt eingehen.
In den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe werden vielfältige Lebens-
weisen trotz dieser normativen Vorgaben bisher allerdings noch zu wenig berück-
sichtigt.17 Selbst spezifische Problemlagen von LGBT-Jugendlichen, wie z. B. Verlust
des Elternhauses, Obdachlosigkeit und das eklatant erhöhte Suizidrisiko, werden
von den entsprechenden Fachstellen bisher kaum zur Kenntnis genommen. The-
men wie Geschlecht, Sexualität und Lebensformen sind oft noch stark tabuisiert,
obwohl diese gerade im Jugendalter eine zentrale Rolle spielen18. Zusätzlich wirkt
im pädagogischen Alltag ein heteronormatives Verständnis, das häufig zu einer
Nicht-Wahrnehmung vielfältiger geschlechtlicher und sexueller Entwicklungen
führt. Da sich LGBT-Jugendliche in der Regel nicht als solche zu erkennen geben,
herrscht unter den pädagogischen Fachkräften zumeist die Annahme, dieses Thema
spiele in der eigenen Einrichtung keine Rolle und sei deshalb auch nicht relevant.
Von den etwa 800 Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe, die im Rahmen einer
kommunalen Studie von 2011 befragt wurden, gaben knapp 60 % an, dass sie in
ihrem Arbeitsbereich keine lesbischen oder schwulen Jugendlichen kennen.19 Die
Vorbehalte von pädagogischen Fachkräften, Sexualität bzw. sexuelle Identität zum
Thema zu machen, bestehen zum einen in der Befürchtung, etwas Intimes von
sich preisgeben zu müssen. Zum anderen gibt es die Sorge, selbst mit dem Thema
Homosexualität in Verbindung gebracht zu werden. Heterosexuelle fürchten, selbst
für lesbisch bzw. schwul gehalten zu werden, lesbische bzw. schwule Fachkräfte
befürchten, geoutet zu werden.20
Zusammenfassend können die wichtigsten Ergebnisse der kommunalen Be-
fragung, die das Sozialreferat der Stadt München 2011 durchführte, wie folgt
dargestellt werden21:
t Die Lebenslagen schwuler und lesbischer Jugendlicher sind in der Kinder- und
Jugendhilfe zu wenig bekannt, das spezifische Fachwissen fehlt. Es fehlen ausfor-
mulierte Qualitätsstandards, Interventionsformen bei homophoben Ereignissen
sind weitgehend nicht bekannt.
17 Perels 2006
18 SFBB/Bildungsinitiative QUEERFORMAT 2012
19 Vgl. Landeshauptstadt München 2011, S. 20
20 Vgl. Perels und Kirsi 2006, S. 56
21 Sozialreferat der Stadt München 2011
Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der Kinder- und Jugendhilfe 213
t In der Kinder- und Jugendhilfe gibt es so gut wie keine Angebote für schwule,
lesbische oder transgender Jugendliche, sie kommen in der Öffentlichkeitsarbeit
der Einrichtungen nicht vor und sind stark von Unsichtbarkeit betroffen.
t Die Fachkräfte scheinen dem Thema insgesamt jedoch recht positiv gegenüber
zu stehen, die meisten haben persönliche Kontakte zu Lesben und Schwulen
und halten diese Kontakte auch für sehr wichtig in Bezug auf ihren beruflichen
Umgang mit der Zielgruppe.
t Dennoch: Betrachtet man die sehr hohen Werte bei den Fragen nach Belastun-
gen und Homosexuellenfeindlichkeit bedeuten die durchaus selbstkritischen
Ergebnisse der Kinder- und Jugendhilfe, dass die schwierigen Lebenssituatio-
nen schwul-lesbischer Kinder und Jugendlicher mehr in den Blick genommen
werden müssen.
Vielfalt vertraut zu machen. Das Berliner Parlament gab dabei nicht nur für den
Bereich Schule, sondern auch für die Kinder- und Jugendhilfe vor, Schlüsselperso-
nen in Steuerungsfunktionen und pädagogische Fachkräfte aus der Praxis sowie
in der Ausbildung zu den Themen Diversity, Antidiskriminierung und Akzeptanz
sexueller und geschlechtlicher Vielfalt zu schulen. Zur praktischen Umsetzung die-
ser Maßnahmen im Bereich der Berliner Kinder- und Jugendhilfe beauftragte das
landeseigene Sozialpädagogische Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg (SFBB)
die Bildungsinitiative QUEERFORMAT23 im März 2010, ein Qualifizierungskonzept
für die Umsetzung der Initiative „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzep-
tanz Sexueller Vielfalt“ (ISV) für die Kinder- und Jugendhilfe zu entwickeln und im
Sinne der von Abgeordnetenhaus und Senat vorgegebenen Top-Down-Strategie
umzusetzen.
In der Folge fanden in enger Zusammenarbeit mit den Berliner Jugendämtern
– insbesondere in den beiden Modellbezirken Mitte und Pankow – zahlreiche In-
formationsveranstaltungen für Schlüsselpersonen in Gremien und Fortbildungen
für pädagogische Fachkräfte aus der Praxis statt. Für die Arbeit der Fachkräfte
wurden außerdem pädagogische Materialien entwickelt. Die Teilnehmenden der
Fortbildungen arbeiteten in allen Feldern der Kinder- und Jugendhilfe, z. B. Jugend-
arbeit, Jugendsozialarbeit, Hilfen zur Erziehung, Jugendberufshilfe, Erziehungs-
und Familienberatung, eine besonders starke Nachfrage zeigte sich unerwartet im
Bereich der Kindertagesbetreuung. Leitungen und Fachkräfte aus Kindertagesein-
richtungen zeigten sehr großes Interesse an den Fortbildungen und pädagogischen
Materialien, weil sie in ihrer täglichen Arbeit häufig mit Fragen geschlechtlicher
und sexueller Vielfalt zu tun haben. Regelmäßig wird in diesen Seminaren auf den
Titel der Ausschreibung Bezug genommen, der nicht geschlechtsrollenkonformes
Verhalten von Kindern, gleichgeschlechtliche Elternpaare oder Fragen von Transi-
dentität bei Kindern exemplarisch als Aufhänger nimmt: „Murat spielt Prinzessin,
Alex hat zwei Mütter und Sophie heißt jetzt Ben … Sexuelle Vielfalt – schon ein
Thema in der Kita?!“
der Entwicklung von Materialien und Lehransätzen für das Handlungsfeld Bildung
und Aufklärung stärken zugrunde gelegt werden sollen. Die Bildungsinitiative
QUEERFORMAT wendet daher einen Diversity-Ansatz an, der die Menschen-
rechtsbildung24, die Pädagogik der Vielfalt25 und die Lebensformenpädagogik 26
verbindet. Dieser fachliche Ansatz bietet in Anlehnung an die so genannte Trias
der Menschenrechtsbildung im Lernen über, durch und für die Menschenrechte
eine Kombination von Wissensvermittlung, Reflexion und Handlungsorientierung.
Zielstellung für die Fortbildung sind entsprechend die Wissenserweiterung, die
Sensibilisierung und die Erweiterung der pädagogischen Handlungskompetenz.
Konzept und Methodik der Fortbildungsveranstaltungen folgen diesem Dreischritt,
der im Seminar auch mit der Formel Kopf, Herz und Hand vorgestellt und im Ab-
laufplan visualisiert wird: Während die Seminarinhalte durch Wissensvermittlung
(z. B. Inputs) auf der kognitiven Ebene transportiert werden, werden sie auf der
reflexiven Ebene vor allem durch erfahrungsbezogenes Lernen (etwa in Form von
Übungen zum Perspektivwechsel) verankert und auf der Handlungsebene auf die
eigenen Gestaltungsmöglichkeiten in der pädagogischen Arbeit bezogen.
Bei der schriftlichen Abfrage von Erwartungen der Seminarteilnehmenden zeigt
sich, dass sie Wünsche aus allen drei Zielbereichen äußern. Für die Wissensvermitt-
lung („Kopf“) stehen beispielsweise folgende Erwartungen ans Seminar: Erweiterung
des Wissensspektrums, Hintergrundwissen, aktueller Stand zum Thema „Queer“,
Erhellung. Wünsche, die sich auf das Ziel Sensibilisierung („Herz“) beziehen, werden
folgendermaßen formuliert: Neue Impulse, erweiterte Sichtweisen, mehr Bewusst-
sein zum Thema „Queer“, Blickwinkelerweiterung. Für den Praxisbezug („Hand“)
wünschen sich die Fachkräfte beispielsweise, LGBT-Jugendliche unterstützen und
ihre Signale deuten zu können sowie pädagogische Materialien und bestehende
Angebote der Jugendhilfe für LGBT-Jugendliche kennenzulernen. Gefragt sind
auch Methoden zur Diskriminierungsprävention und Interventionsstrategien, um
mit Ausgrenzung umgehen zu können.
Das Seminarkonzept stößt auf hohen Zuspruch, wie die Auswertung der schrift-
lichen Befragung zum Seminarende zeigt. Unabhängig vom Veranstaltungsformat
bewerten 87 % der Teilnehmenden im ersten Jahr der Umsetzung die Fortbildungen
als mindestens gut: 55 % finden ihre Fortbildung im Gesamturteil „sehr gut“ und
32 % finden sie „gut“.27 Auf die Frage, was ihnen im jeweiligen Bereich besonders gut
gefallen habe, antworten die Teilnehmenden in der schriftlichen Evaluation wie folgt:
Wissensvermittlung
t Begriffsklärung zum Thema Geschlechtervielfalt
t Fachwissen zur psychosozialen Situation queerer Jugendlicher
t Seminarstruktur und Methodenvielfalt
Reflexion
t Möglichkeit, die eigenen Haltungen und deren Ursachen zu reflektieren
t Eingesetzte Sensibilisierungsübungen (Perspektivwechsel, biografischer Zugang)
Handlungsorientierung
t Möglichkeit, eigene Fragen und Themen aus der Praxis einzubringen und im
kollegialen Austausch zu diskutieren
t Vorstellung pädagogischer Materialien (Methoden, Medien, Literatur etc.)
t Vorstellung spezifischer Serviceleistungen (Beratungsstellen und Treffpunkte)
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Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt –
(k)ein pädagogisches Thema?
Pädagogische Perspektiven und Erfahrungen
mit LSBTI
Friederike Schmidt und Anne-Christin Schondelmayer
Einleitung
Wenngleich sich in der Pädagogik das Postulat der Anerkennung von Vielfalt weit-
gehend durchgesetzt hat, zeigt die theoretische Debatte und die pädagogische Praxis,
dass diese Prämisse unterschiedlich gefasst und umgesetzt wird. Im Hinblick auf
die tätigen Fachkräfte stellt sich dabei insbesondere die Frage, wie Pädagog_innen
gesellschaft liche Heterogenität wahrnehmen, welche Kenntnis sie davon haben,
welche Relevanz sie den verschiedenen Dimensionen von Heterogenität zusprechen
und ferner, welchen praktischen Umgang sie in ihrer Arbeit entwickeln. Hieran
anknüpfend werden in diesem Beitrag Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung
präsentiert, in der Pädagog_innen aus der Schule und der Kinder- und Jugendhilfe
zu ihren Erfahrungen mit LSBTI befragt wurden. Auf Basis offener Interviews und
Gruppendiskussionen wird ersichtlich, dass die interviewten Fachkräfte spezifische
pädagogische Relevanzen gegenüber LSBTI entfalten sowie bestimmte Handlungs-
optionen und -schwierigkeiten im Umgang mit der Thematik wahrnehmen.
Gesellschaft liche Heterogenität und deren Anerkennung sind aus dem pädagogischen
Diskurs nicht mehr wegzudenken, ja bestimmen diesen mindestens seit Comenius
und dessen Anspruch der Bildung für alle. In den vergangenen Jahrzehnten ist diesem
Aspekt wieder verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt worden. Dazu haben unter-
schiedliche disziplinäre Stränge sowie gesellschaft liche Veränderungen beigetragen.
Als relevante Strömungen der Pädagogik sind u. a. die Interkulturelle Pädagogik,
Pädagogische Praxis ist von vielerlei Aspekten geprägt und beeinflusst. Strukturelle
Rahmenbedingungen, die Interaktionen der pädagogischen Adressat_innen, der
Eltern und der Kolleg_innen sowie das soziale Umfeld des pädagogischen Gegen-
übers und das Handeln der Pädagog_innen bedingen, was handlungspraktisch
möglich ist bzw. nicht. Wird die Analyse auf das Verhalten der pädagogischen
Fachkräfte verengt, kommt deren Wahrnehmungs- und Handlungspraxis eine
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt – (k)ein pädagogisches Thema? 225
bedeutende Rolle zu (vgl. Schmidt 2012). Pädagogische Praxis beruht dabei, und
das wird insbesondere im Zusammenhang von Vielfalt und deren Anerkennung
sichtbar, nicht nur auf der Basis konkret erlernten Wissens, bspw. durch ein
Studium oder eine Fortbildung, sondern ist von internalisierten Haltungen und
Wertvorstellungen, von unhinterfragten Selbstverständlichkeiten und praktisch
erworbenen Wissensbeständen sowie Erfahrungen geprägt und strukturiert (vgl.
Schondelmayer 2010).
Die zumeist impliziten Wissens- und Erfahrungsbestände der Pädagog_innen
werden, obwohl stets individuell ausgeprägt, sozial gebildet und entwickelt. Die
Handlungsorientierung einer einzelnen pädagogischen Fachkraft in Bezug auf
sexuelle und geschlechtliche Vielfalt lässt sich so auch als Stellvertreterin bzw. als
Typus möglicher Wahrnehmungs- und Handlungsoptionen in einem sozialen Feld
begreifen. Denn selbst wenn pädagogische Praxis einzelfallbezogen und situativ
erfolgt, bedeutet dies nicht, dass Pädagog_innen voluntaristisch über ihre jeweilige
Handlungspraxis verfügen (können). Diese soziale Bedingtheit pädagogischer
Praxis tritt auch in der im Weiteren präsentierten Untersuchung der Erfahrungen
von Pädagog_innen mit LSBTI zutage.
Die Studie ist Teil einer umfassenden Evaluation einer politischen Kampagne,
die der Berliner Senat zur Anerkennung von LSBTI in verschiedenen Gesellschafts-
bereichen in den Jahren 2010 bis 2011 lanciert hat („Berlin tritt ein für Selbstbe-
stimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“; s. a. Einleitung der Herausgabe). Im
Rahmen der Evaluation der Initiative wurden u. a. qualitative Untersuchungen zu
den Orientierungen und zur Handlungspraxis von Fachkräften von Schule und
Jugendhilfe zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt erhoben. Dazu wurden vier
Gruppendiskussionen mit Fachkräften aus pädagogischen Einrichtungen sowie vier
offene Interviews mit Lehrer_innen und Referendar_innen geführt. Das empirische
Material wurde mittels einer komparativen Analyse auf Basis des Verfahrens der
dokumentarischen Methode (vgl. Bohnsack 2008) ausgewertet.
Im Folgenden werden einige Ergebnisse der Studie vorgestellt. Rekonstruiert
werden zum einen die Relevanzsetzung, die Pädagog_innen bezüglich dem The-
ma der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt entfalten (2.1), zum anderen ihre
Erfahrungen im Umgang mit LSBTI (2.2.) sowie ihre zugrundeliegende Haltungen
und Einstellungen (2.3).
226 Friederike Schmidt und Anne-Christin Schondelmayer
Dass das Thema der sexuellen Vielfalt von den interviewten pädagogischen Fach-
kräften von Schule und Kinder- und Jugendhilfe generell als bedeutsam erkannt
wird, wird an verschiedenen Stellen der Interviews und Gruppendiskussionen
deutlich1. In Bezug auf den eigenen pädagogischen Kontext fällt jedoch auf, dass
die pädagogische Relevanz des Themas eingeklammert wird. Im Vergleich der
erhobenen Gespräche lassen sich zwei Muster rekonstruieren, entlang derer die
Pädagog_innen ihre Relevanzsetzungen in Bezug auf das Thema der sexuellen und
geschlechtlichen Vielfalt entfalten: Zum einen beziehen sich die Pädagog_innen
auf die Adressat_innen ihrer Arbeit, zum anderen verweisen sie auf andere päda-
gogische Handlungsfelder/-bereiche.
die Plakate und so //mmh// ooh da will ich mal hin und
so Häuser und so;
(Interview Lehrerin)
AF: ähm gab=s da ein Feuerzeug wo auch ähm es ist von GLADT
gewesen. hau- auch so ne ich glaub Schwulen oder Lesben
Organisation, als //mmh// ich dann gesagt habe das
Feuerzeug hat hat n total süßen Spruch drauf gehabt,
ähm auf türkisch, den ich dann übersetzt habe hab //
mhm// aber auch dazu gesagt, aber da steht auch www.
gladt.de, und GLADT //mhh// ist halt eine Organisation,
was für Schwule und Lesben ist; na was haben die alle
angefangen? (.) die haben dann angefangen dieses GLADT
abzukratzen.
(Gruppendiskussion Sozialpädagog _ innen)
AF: und dann eben auch grade, wenn man dann in Bezirken
vielleicht arbeitet wo eben denn auch grade sozusagen ähm
man viele Schüler //mmh// hat die halt sozusagen ähm aus
so so Eltern haben aus der Türkei //mmh// oder aus den
muslimischen Ländern, dass es da auch sonne Hemmung ist
ja ähm die ähm die also einige befreien ja ihre Kindern
vom //mmh// Biologieunterricht weil sie nicht möchten,
dass die Kinder das //mmh// sozusagen dort vermittelt
bekommen //okay mmh// wie sehr darf ich es [LSBTI] dann
im //mmh// Deutschunterricht einÀießen lassen.
(Interview Referendarin)
Deutlich wird hier, dass die Pädagogin einen negativen Bezug auf LSBTI nicht nur
bei ihren Adressat_innen, sondern auch in deren familiärem und sozialem Umfeld
wahrnimmt. In diesem Falle verweist die Referendarin AF auf Eltern, die als aus der
Türkei stammend oder als „aus den muslimischen Ländern“ beschrieben werden,
und begründet damit deren Haltung gegenüber sexueller und geschlechtlicher
Vielfalt.2 Vor diesem Hintergrund schränkt die Lehrerin AF die Relevanz für die
Adressat_innen und damit auch für die eigene Arbeit deutlich ein. Unklar bleibt
dabei, ob die Pädagogin selbst ein Interesse an einer Thematisierung sexueller
und geschlechtlicher Vielfalt hat. Im Fokus ihrer Erklärungen stehen vielmehr die
Adressat_innen, welche bestimmen, was sie „darf“.
Pädagogische Zuständigkeiten
Die komparative Analyse der Interviews und Gruppendiskussionen weist zudem
auf eine Konzentration der Pädagog_innen auf den Aspekt der pädagogischen
Zuständigkeit hin, vor deren Hintergrund Relevanzen bezüglich LSBTI teils ergän-
zend zum ersten Muster, teils losgelöst davon entfaltet werden. Dieses Muster der
Relevanzsetzung findet sich dabei nur bei Fachkräften aus dem Kontext Schule3.
Exemplarisch sei hier auf eine Grundschulpädagogin verwiesen, die LSBTI als
eine für die „Grundschulleute (.) ganz schwierige Sache“ erfasst. Neben einer ge-
nerellen Auslagerung in andere pädagogische Felder wird LSBTI aber auch in den
Zuständigkeitsbereich anderer Handlungsbereiche der gleichen Institution gerückt.
Beispielsweise wird das Thema als „Oberstufenthema“ begriffen. Teils dokumentiert
sich diese Auslagerung der Thematik allerdings auch darin, dass LSBTI als Thema
anderer Fächer begriffen wird, wie an einem Auszug eines Interviews mit einer
Lehrerin ersichtlich wird:
Deutlich wird hier eine Bearbeitung von LSBTI aus der eigenen pädagogischen
Praxis ausgeschlossen. Die Thematik wird vielmehr in den Zuständigkeitsbereich
des Faches Biologie eingeordnet, worin sich ein spezifisches Verständnis des The-
mas LSBTI dokumentiert. Es wird unter dem Aspekt von Sexualität, also unter der
Perspektive von Körper, Körperlichkeit und Begehren erfasst. Der an anderer Stelle
des Interviews folgende Hinweis der Pädagogin, dass LSBTI nicht „im Rahmen
der Sexualerziehung“ bearbeitet wird, bringt diese Fokussierung ebenfalls zum
Vorschein. Der Umstand, dass das Thema LSBTI nicht als relevanter Aspekt des
Die Referendarin konstatiert, dass die pädagogische Zuständigkeit für die The-
matik LSBTI grundlegend ungeklärt ist. Es „rutscht [in] son Niemandsverant-
wortungsland“. Begründet wird dies damit, dass es zwar einen pädagogischen
Ort der Bearbeitung der Thematik gibt („Biologie“), dieser reiche aber nicht aus.
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt – (k)ein pädagogisches Thema? 231
Zum einen seien die Schüler_innen sexuell aufgeklärt, zum anderen würden die
„psychischen“ Aspekte sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in diesem Fach nicht
erfasst, so AF. Die Pädagogin spricht sich schließlich dafür aus, dass LSBTI in den
Lehrplan bzw. in ein Schulkonzept („niedergeschrieben“) aufgenommen werden
sollen. Dieser Verweis dokumentiert, dass es sich bei dem Thema nicht um etwas
handelt, dem Lehrer_innen eigenständig eine Relevanz zuschreiben und in ihre
Arbeit integrieren. Vielmehr muss dies von anderer Stelle delegiert werden.
Wenngleich die pädagogische Relevanz von LSBTI für die interviewten Päda-
gog_innen und deren Handlungsbereiche weitgehend ungeklärt ist, wird deutlich,
dass die befragten Fachkräfte mit diesem Thema in ihrem pädagogischen Alltag
an verschiedenen Stellen konfrontiert sind. Eine dominante Erfahrung, die sie in
Bezug auf LSBTI machen, sind dabei sind dabei Formen und Momente der Dis-
kriminierung. Die pädagogischen Adressat_innen wählen wiederholt homophobe
Beschimpfungen („schwule Sau“) oder reagieren in anderer Form abwertend
gegenüber dem Thema LSBTI. Der häufig von den Fachkräften gewählte Umgang
gegenüber LSBTI-Diskriminierung ist dabei der des Verbots. Die Pädagog_innen
untersagen homophobe Äußerungen („unterbinde ich=s“), räumen allerdings
teilwise auch ein, dass sie nicht jeder Äußerung und Diskriminierung nachgehen
können. Zugleich setzen die Pädagog_innen auf Aufklärung und Begriffsklärung:
KF: ja das kommt häu¿g von Schülern die sagen wir so um (.)
sich damit hervortun wollen, die haben mal gehört, und
dann geht=s (.) geht=s weiter in die //mhm// Richtung
aber was dahinter steckt, (.) ist ihnen ganz oft //mhm//
nicht klar.aber dann geht=s wirklich eigentlich nur da-
rum m:::anche Begriffe zu klären, (2)
(Interview Grundschullehrerin)
Die Darstellung der Lehrerin macht deutlich, dass sie die homophoben Äußerungen
der Schüler_innen als Verhalten interpretiert, durch das diese Aufmerksamkeit
erreichen wollen („hervortun“). Zugleich verweist sie darauf, dass die Schüler_innen
bei der Wahl ihrer „Begriffe“, womit sie indirekt homophobe Äußerungen meint,
nicht wissen, was sie jeweils äußern („ist ihnen nicht ganz […] klar“). Beschimp-
fungen und Negativäußerungen gegenüber LSBTI werden so nicht als Dokument
gesehen, in dem Homophobie transportiert und stabilisiert wird. Damit einherge-
hend werden diese Äußerungen auch nicht als Anlass gesehen, den homophoben
232 Friederike Schmidt und Anne-Christin Schondelmayer
Gehalt der geäußerten Begriffe näher mit den Schüler_innen zu bearbeiten. Das
Thema wird zudem nicht innerhalb der Lebenserfahrung der Schüler_innen selbst
verortet („die haben mal gehört“).
Über Diskriminierungen hinaus diskutieren die Pädagog_innen Situationen,
in denen sie mit dem Thema LSBTI durch die Kinder und Jugendlichen selbst
konfrontiert sind – sei es, dass sich diese selbst als LSBTI begreifen und als solche
positionieren oder aber als solche von den Fachkräften identifiziert werden; sei
es, dass Teile des familiären Hintergrund als LSBTI-Personen wahrgenommen
werden oder sich selbst entsprechend definieren. Exemplarisch sei hier auf eine
Pädagogin verwiesen, die von einem „kleenen Jungen“ in ihrer pädagogischen
Einrichtung erzählt:
BF: der is also wirklich dit sieht man schon dass der schwul
is er jibt dit och zu schon ja also dass er Jungs ganz
toll ¿ndet und wenn wir=n Film gucken also den fand er
ganz toll und die Mädchen nich und die Kinder wissen dis
(.) und die (.) kommen natürlich diese Sprüche ne, und und
und äh (.) Spitzen aber es ist noch fast so liebenswürdig
also die würden den nie ständig äh ja eh (.) fass mich
nicht an oder dass dis jetzt über ihre Persönlichkeit
geht sondern dis is einfach nur und da ansetzen und wie
mach ich dis
(Gruppendiskussion Sozialpädagog _ innen)
Auch andere Fachkräfte der Schule und der Kinder- und Jugendhilfe verweisen auf
Adressat_innen, angesichts derer sie mit dem Thema LSBTI in ihrem pädagogischen
Alltag konfrontiert sind:
Am: wir ham ja dit Glück wir ham ja jemanden der sich geoutet
hat dit heißt sozusagen wenn bei uns =n schwulenfeind-
licher Spruch kommt oder so äh ähm und äh äh äh und
dieses (.) Mädel oder dieser dieser Junge oder junge Mann
is dit ja inzwischen hat eben so=n standing da kannste
sag=n geh doch ma zu Alex und unterhalt dich ma mit Alex
darüber und da passiert dann och wat
(Gruppendiskussion Sozialpädagog _ innen)
Der Sozialpädagoge AM verweist hier auf einen Transjugendlichen, der sich in der
pädagogischen Einrichtung „geoutet“ hat. In der Einleitung dieser Praxiserfahrung
(„wir ham ja dit Glück“) wird der Jugendliche „Alex“ als Option, als Möglichkeit
präsentiert, die sich der Einrichtung in Bezug auf das Thema LSBTI bietet. Die
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt – (k)ein pädagogisches Thema? 233
Deutlich dokumentiert sich hier ein Wissen um die Begrenztheit des eigenen Wis-
sens und Könnens im Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Zugleich
wird ein Bedarf an Hilfe und Unterstützung in Bezug auf das eigene pädagogische
Handeln deutlich. LSBTI-Personen werden dabei aufgerufen, ihre Bedürfnisse zu
äußern und deutlich zu machen, wie sie ‚richtig‘ behandelt werden wollen. Zugleich
wird eine „allgemeine Regelung“ gewünscht. Das gegenseitige Verstehen und eine
gegenseitige „Offenheit“ werden als Idealkonstruktion entworfen. Doch auch über
den konkreten Umgang mit LSBTI-Personen hinaus fehlt ein Wissen darüber, wie
das Thema der sexuellen Vielfalt in den Alltag integriert werden kann. Vielfach
mangelt es an Ansatzpunkten, diese Thematik in der pädagogischen Praxis auf-
zugreifen und zu integrieren:
mit LSBTI kritisch reflektieren. Die Qualifizierung hat eine „Schärfung des Blicks“
sowie eine „Sensibilisierung“ bezüglich der Thematik LSBTI erreicht:
Zugleich wird im Material deutlich, dass eine Vernachlässigung und ein Aus-
klammern von LSBTI auf eine implizite, nicht hinterfragte heteronormative
Orientierung zurückgeführt werden kann, wie das folgende Praxisbeispiel einer
Grundschullehrerin verdeutlicht. Im Laufe des Interviews macht die Pädagogin
deutlich, dass sie Themen wie das eigene Geschlechts- und das damit verbundene
Rollenverständnis im Zusammenhang von ,sozialem Lernen‘ in ihrem Unterricht
aufgreift und bearbeitet. Dazu stellt sie den Schulkindern die Aufgabe, zu klären,
was es heißt, ein Junge bzw. ein Mädchen zu sein. Die Klasse wird dabei in Mädchen
und Jungen unterteilt, bei der die Jungen sich mit dem „Mädchensein“, die Mädchen
wiederum mit dem „Jungensein“ beschäftigen sollen. Leitende Fragen werden u. a.
bezüglich der Vorstellungen der Schüler_innen über ihren Traummann bzw. -frau
gestellt. Entgegen ihrer zuvor getroffenen Aussage, dass sich die Pädagogin in ihrem
Unterricht nicht mit dem Thema der sexuellen Orientierung auseinandersetzt, wird
deutlich, dass dieses Teil ihres Unterrichts ist. Heterosexualität stellt dabei jene
Wahrnehmungs- und Beurteilungsfolie dar, entlang derer die aufgeworfenen Fragen
bearbeitet werden. Die Jungen sollen klären, wie ihre Traumfrau aussieht; während
sich die Mädchen mit der Frage nach ihrem Traummann auseinandersetzen sollen.
Alternativen Entwürfen sexueller Orientierung wird hier keine Relevanz eingeräumt.
Damit einhergehend wird ausschließlich von einem binären Geschlechtermodell
ausgegangen, in dem das biologische Geschlecht auf das soziale Geschlecht verweist
und in einem unauflöslich miteinander verschränkten Verhältnis mit der sexuellen
Orientierung am Gegengeschlecht gedacht wird (Mädchen > Jungen, Jungen >
Mädchen). Deutlich tritt hier eine heteronormative Orientierung zutage, die den
236 Friederike Schmidt und Anne-Christin Schondelmayer
Blick, die Perspektive und Umgang der Pädagogin mit dem Themenkomplex der
sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Zugehörigkeit bestimmt.
In dem empirischen Material wird schließlich ersichtlich, dass vor dem Hinter-
grund einer unreflektierten heteronormativen Orientierung darauf verzichtet wird,
LSBTI als Thema im pädagogischen Alltag zu integrieren, selbst wenn konkrete
Ideen dazu vorliegen:
In der Art und Weise, wie die Lehrerin über die Optionen spricht, LSBTI in ihrem
Unterricht aufzugreifen, zeigt sich eine Distanz zur Thematik. Hier sei u. a. auf die
allgemeine Formulierung „man“ sowie auf die Aneinanderreihung unterschied-
licher, scheinbar beliebiger („dieses“) sexueller und geschlechtlicher Liebes- und
Lebensformen hingewiesen. In der Formulierung „vielleicht auch noch“ deutet sich
zudem an, dass eine Aufnahme der Thematik LSBTI in ihrem Unterricht für AF
als wenig praktikabel, wenig praktikabel, nahezu absurd erscheint. Gängige Praxis
ist die Thematisierung der „normalen“, sprich der heterosexuellen, „Liebe“, die als
Normvorstellung nicht in Frage gestellt und damit weiter als geltende Selbstver-
ständlichkeit fortgeschrieben wird.
Es ist allerdings auch darauf zu verweisen, dass sich in den Interviews und
Gruppendiskussionen in Einzelfällen eine heteronormativ-kritische Orientierung
dokumentiert, die wiederum einen differenten pädagogischen Zugriff auf LSBTI
bedingt. Statt LSBTI gänzlich auszuklammern und/oder Ideen zur Integration des
Themas im pädagogischen Alltag zu verwerfen, ist der Blick dieser Pädagog_innen
auf Möglichkeiten ausgerichtet, wie diese Thematik in der pädagogischen Praxis
aufgenommen und bearbeitet werden kann. Spezifisch für eine heteronormativ-kri-
tische Orientierung ist dabei eine wiederholte Bezugnahme auf die Lebens- und
Problemlagen von Adressat_innen, die als LSBTI-Personen definiert werden:
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt – (k)ein pädagogisches Thema? 237
AM: also ich hab nen Schüler bei dem ich ähm:m (.) so (.)
überlege ob des ob es sein könnte dass er schwul is, //
hmhmm// weil äh er sich so also im Umgang mit anderen
mit anderen Jungs (2) also sich da teilweise an die ran-
wirft; äh in Situationen in denen es unpassend is […]
ja und da hab ich das Gefühl das könnte sein dass der
(.) dass er schwul is, der is halt ara- also arabischer
Abstammung und seine Familie is also er is sonst also
er is=n Förderzentrum für Lernen insofern haben die sag
ich mal sowieso ä:äh f::f Erfahrungen mit Versagen sach
ich mal al- schulisch, //hmhmmm// und der so in ner
Familie ähm:m hat er Schwierigkeiten; also seine sein
Bruder is an ner Grundschule er is parallel dazu an ner
am Förderzentrum //hmhmm// und wird so als Versager in
ner Familie gesehen, also das schwarze Schaf (.) wird
auch äh nich akzeptiert; seine Meinung wird nich akzep-
tiert er wird von den Eltern auch (.) ä:äh (.) regelmäßig
runtergemacht; da wird gesagt ey äh du hast gar nix zu
sagen; der Bruder eben wie gesagt auch, und da hat der
halt wenig Freiraum sag ich mal sich zu entfalten, //
hmhmmm// wenn jetzt so was hinzukäme dass er auch noch
auch noch schwul is sozusagen
(Interview Referendar)
In der Aussage des Referendars wird deutlich, dass er nicht nur auf der Suche nach
einer unmittelbaren Interventionsmöglichkeit bei diskriminierendem Verhalten
238 Friederike Schmidt und Anne-Christin Schondelmayer
ist, sondern dass er insgesamt daran interessiert ist, in seiner Klasse und Schule
ein Klima der Akzeptanz und Wertschätzung zu schaffen. Im Rahmen einer hete-
ronormativ-kritischen Orientierung umfasst dies den Versuch, das Thema sexuelle
Vielfalt auch über die konkreten Lebenssituationen von Schüler_innen hinaus in
den pädagogischen Alltag zu integrieren.
3 Fazit
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240 Friederike Schmidt und Anne-Christin Schondelmayer
Schule ist ein Ort, an dem sich viele Menschen begegnen, miteinander umgehen
und arbeiten. Es gibt, wie im Straßenverkehr, Regeln, angefangen mit der Haus-
ordnung, dem Schulgesetz des Bundeslandes bis hin zu Kinder- und Menschen-
rechten. Daher schildere ich, auf einem kleinen Umweg, zunächst einen Fall aus
dem Straßenverkehr: Eine Person liegt bewusstlos auf dem Gehweg. Die Menschen
eilen vorbei, nur einzelne zögern, endlich bleibt jemand stehen und nimmt sich
der hilflosen Person an.
Laut einer aktuellen EuroTest-Befragung des ADAC und des DRK (Resch 2013)
kannten nur 33 % der Befragten alle erforderlichen Erstmaßnahmen am Unfallort.
Nur rund 18 % wussten, was sie wirklich tun müssen. Ich empfehle Ihnen, besser
keinen Unfall im Straßenverkehr zu haben und biege gleichzeitig wieder auf die
Hauptstraße ein:
Hier zeigt sich eine interessante Analogie der Zahlen zu den Befunden einer Studie
von Ulrich Klocke an der Humboldt-Universität zu Berlin, die 2012 veröffentlicht
wurde. Dort wurden Einstellungen und Wissen von Berliner Schüler_innen und
Lehrkräften zu sexueller Identität untersucht. Ebenso wurde die Bekanntheit der
Berliner Rahmenplan-Vorgaben zur Sexualerziehung, die die Thematisierung von
verschiedenen sexuellen Orientierungen seit 2001 fächerübergreifend vorgeben,
erforscht. Nur 33% der Lehrkräfte wissen von der Existenz dieser Vorgaben und
nur 15% meinten, ihren Inhalt zu kennen (Klocke 2012, S.89). Die Leidtragenden
dieser Unkenntnis, also unsere Unfallopfer, sind die Kinder und Jugendlichen –
und besonders diejenigen, die Identitäten jenseits der Norm entwickeln -, aber auch
diejenigen, die unabhängig von ihrer Identität, als abweichend wahrgenommen
werden und daher ebenfalls potentielle Mobbingopfer sind. Ein Zehntel der befrag-
ten Neunt- und Zehntklässler_innen fühlen sich sexuell zum gleichen Geschlecht
hingezogen (ebd. S. 25). In jeder Klasse müsste demnach mindestens eine lesbische,
schwule oder bisexuelle Person bekannt sein. Wie ergeht es diesen Personen aber
in der Schule? Laut Klocke (ebd.) verwendeten 62% aller Sechstklässler_innen nach
Angaben von Mitschüler_innen in den vergangenen zwölf Monaten „schwul“ oder
„Schwuchtel“ als Schimpfwort. „Lesbe“ wird von 40% aller Sechstklässler_innen
als Schimpfwort verwendet. Die Hälfte der Schüler_innen macht sich über nicht
geschlechtskonformes Verhalten lustig; z. B. einen Jungen, „der sich wie ein Mäd-
chen verhalten hat“ (Klocke 2012, S. 87). Neun von zehn Lehrkräften wissen nicht,
dass Lesben und Schwule häufiger als andere versuchen, sich das Leben zu nehmen
(ebd. S.67). Nur jede fünfte Lehrkraft interveniert konsequent, also immer bei
homophobem Verhalten. Etwa ein Viertel der Lehrkräfte lachen mit, wenn Witze
über Schwule oder Lesben gemacht werden (ebd. S.54).
Auch Erfahrungen von Referent_innen aus Fortbildungsveranstaltungen zur
Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt für Lehrkräfte und pädagogische
Fachkräfte zeigen1: Je mehr Schüler_innen über sexuelle Identität wissen, desto
mehr positive Einstellungen haben sie gegenüber Vielfalt und desto solidarischer
verhalten sie sich gegenüber Lesben und Schwulen. Schwule, lesbische, bisexuelle und
trans* Jugendliche, aber auch gleichgeschlechtliche Lebensweisen im Allgemeinen
sind meist nicht sichtbar im (Schul-)Alltag. Lehrkräfte verstecken sich oft hinter
dieser fehlenden Sichtbarkeit. Dies äußert sich z. B. in Aussagen wie: „Da haben
wir kein Problem mit an unserer Schule.“ An Grundschulen ist das Abwehrver-
halten der Lehrkräfte häufig besonders ausgeprägt, da die Meinung herrscht, dass
„die Kinder ja noch nicht betroffen sind“ (vgl. auch den Beitrag von Schmidt und
Schondelmayer i. d. B.). Dass Transgeschlechtlichkeit aber schon im Kindesalter
auftritt (Brill und Pepper 2011) und auch sexuelle Orientierung sich schon im Alter
von weniger als zehn Jahren zeigen kann (Hillier 2010), dass Eltern, Freunde und
Verwandte LSBTI sind und sein können, wird nicht beachtet oder als Einzelfall
abgetan. Die Berührungsängste sind groß und noch größer ist das fehlende Wissen.
Diskriminierendes Verhalten wird eher erduldet, wenn die diskriminierte Gruppe
nicht anwesend zu sein scheint.
Von welchen ‚Unfällen‘ in der Schule ist hier nun die Rede? Es sind die o. g. ho-
mophobe Beschimpfungen und die fehlende Sichtbarkeit von gleichgeschlechtlichen
Lebensweisen, die sich auf verschiedene Arten zeigt: Das Gros der Lehrkräfte lebt
selbstverständlich Heterosexualität als Modell vor. Fragen und Bemerkungen, die
sich auf gegengeschlechtliche Partner_innen beziehen, sind die Regel. Homose-
xualität wird meist als `Abweichung´, als etwas Anderes, Spezielles gesehen und
vielfach lediglich im Biologieunterricht der Sekundarstufe thematisiert (Bittner
2012 u. i. d. B.). So, wie People of Colour sich ebenfalls kaum in Unterrichtsmate-
1 Die Aussagen stützen sich auf Erfahrungen aus den Fortbildungen zur Akzeptanz se-
xueller und geschlechtlicher Vielfalt für Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte aus
Berliner Schulen im Zeitraum 2011 – 2013. Sie sind nicht empirisch untermauert.
Erste-Hilfe-Maßnahmen am Unfallort Schule 243
rialien und im Schulalltag wiederfinden (und wenn, dann oft nur in exotischen
und diskriminierenden Darstellungen), ergeht es Schwulen, Lesben, Bisexuellen,
trans- und intergeschlechtlichen Menschen (Bittner 2012 u. i. d. B.).
Auf dem Schulgelände wird nicht selten geküsst, umarmt und Händchen
gehalten. In 5-10 % der Fälle müssten es gleichgeschlechtliche Paare sein. In der
beobachteten Realität, so Berliner Ansprechpersonen für die Akzeptanz sexueller
Vielfalt (zumeist Lehrkräfte), geht der Anteil gegen Null. Die Verletzungen, die
aus dieser Wirklichkeit entstehen, sind vielfältig und können Ausdruck finden in
Schuldistanz, Krankheiten, Leistungsabfall oder gar Suizidversuchen2. Der Kieler
Sexualpädagoge Uwe Sielert berichtete auf dem 8.Ganztagsschulkongress 2012 in
Berlin in einem Workshop, dass ihm ‚bei seiner Arbeit mit obdachlosen Jugend-
lichen aufgefallen wäre, wie ungewöhnlich hoch der Prozentsatz homosexueller
Jugendlicher gewesen ist‘. Die Schulsprecherin einer Schule aus Schleswig-Holstein
forderte im gleichen Workshop, dass „der Wahnsinn an deutschen Schulen“ in
Bezug auf das homophobe Klima ein Ende haben müsse. Damit bleibt zu konsta-
tieren: Homophobes Verhalten und Unwissen über sexuelle und geschlechtliche
Identität sind nach wie vor Alltag in unseren Schulen.3 Würden Sie sich an einer
solchen Schule outen?
1. Ansprechperson:
Jede Schule benötigt mindestens eine Kontaktperson, die relevante Adressen und
Materialien kennt, ihr Wissen ins Kollegium trägt und sich regelmäßig mit anderen
Kontaktpersonen in Fachgesprächen austauscht, Kolleg_innen sensibilisiert und zu
Fortbildungen motiviert. In Berlin gibt es diese Funktion seit dem Schuljahr 2012/13.
Darüber hinaus erweist es sich als förderlich für ein anerkennendes Schulklima,
wenn bekannt ist, dass es lesbische und schwule Lehrkräfte an der Schule gibt.
2. Intervention:
Pädagogisches Personal sollte konsequent intervenieren bei diskriminierenden
Äußerungen wie z. B. „schwule Aufgabe“, „Transe“, „Kampflesbe“, aber auch bei
sexistischen Aussagen wie „du Mädchen“. Bei anderen Beschimpfungen wie „du
Jude“, „Hurensohn“, „ich fick deine Mutter“, „Türke“, „Kanake“, „Kartoffel“, „fette
Sau“, „du bist ja behindert“ erscheint dies weitgehend selbstverständlich. Darüber
hinaus trägt es zu positiveren Einstellungen bei Schüler_innen zu LSBTI bei, wenn
Gewalt und Mobbing im Leitbild der Schule geächtet werden.
3. Sichtbarkeit:
In den Schulhäusern fehlen Bilder und Plakate, die auch gleichgeschlechtliche
Lebensweisen und Menschen mit verschiedenen körperlichen Merkmalen und
Kleidung zeigen5. Im Unterricht fehlen entsprechende Aufgabenstellungen, Tex-
te und Grafiken. Möglichkeiten hierzu sind vielfach vorhanden. Beispielsweise
können im IT-Unterricht Word-Texte über Regenbogen- und andere Familien-
formen erstellt und formatiert werden. Warum wird die Homo- und Bisexualität
bekannter Schriftsteller_innen meist nicht erwähnt, während wir in der Regel die
(Ehe-) Partner_innen historischer Persönlichkeiten kennen? Warum werden im
Sozialkunde- und Politikunterricht keine Menschenrechtsverletzungen an LSBTI
behandelt? Die Bundeszentrale für politische Bildung stellt zahlreiche Materialien
zum Stichwort Homosexualität bereit6.
5. Umfassende Sexualerziehung:
Sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität, Familie und verschiedene Lebenswei-
sen müssen von Beginn an selbstverständlich in jedem Fach thematisiert werden.
Es gibt in jeder Schule Regenbogenfamilien und Kinder mit scheinbar gegenge-
schlechtlichem Äußeren und Rollenverhalten. Einige Kinder wissen schon mit zwölf
Jahren, dass sie sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlen (vgl. z. B. Lauwaert
i. d. B.). Homo- und Bisexualität sind hier nicht als Abweichung, sondern als Teil
der vielfältigen Möglichkeiten zu sehen. Die Marginalisierung der Sexualität und
vielfältiger Lebensweisen auf den Biologie- oder bestenfalls den Ethikunterricht
macht diese zum Sonderfall und trägt zu Ausgrenzung bei (Bittner 2012 u. i. d. B.)
6. Externe Unterstützung:
Lehrkräfte können LSBTI-Aufklärungsprojekte einladen. Diese gibt es bundes-
weit7, oft nach dem Peer-Konzept. So sprechen Jugendliche mit Jugendlichen und
Berührungsängste können abgebaut werden.
Fazit
Schon diese sechs Maßnahmen – vorausgesetzt die Schulleitung trägt sie mit –
schaffen ein Schulklima, das Schule weniger zu einem konstanten Unfallort macht,
sondern zu einem Lernort mit Chancen für alle Kinder und Jugendlichen, unab-
hängig von ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität.
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Zugegriffen: 13. Januar 2014
Die Ordnung der Geschlechter
in Schulbüchern
Heteronormativität und Genderkonstruktionen in
Englisch- und Biologiebüchern
Melanie Bittner
Die Untersuchung von Gender in Schulbüchern beginnt Ende der 1970er Jahre.
Sie geht von der durch die zweite westdeutsche Frauenbewegung hervorgegangene
Frauenforschung aus und fällt in eine Phase generell politisch motivierter Schul-
buchforschung (vgl. Hunze 2003). Mit der Weiterentwicklung der Frauenforschung
zur Geschlechterforschung und den Gender Studies verändern sich die Analyse-
kategorien, die in Schulbuchstudien verwendet werden. Stehen in den 1970er und
-80er Jahren Frauen, Sexismus oder Geschlecht im Zentrum der empirischen Un-
tersuchungen (vgl. Barz 1976; Borries 1982; Barz 1982; Glötzner 1982; Ohlms 1984;
Zumbühl 1982), konzentrieren sich neuere Studien stärker auf sexuelle Identität oder
Heteronormativität (vgl. Ziemen 2010; Autonomes Lesben- und Schwulenreferat an
der Universität zu Köln 2011) sowie andere soziale Ungleichheiten als Geschlecht
(vgl. Höhne et. al 2005; Osterloh 2008) bzw. auf Geschlecht im Zusammenhang mit
anderen Ungleichheiten (vgl. Markom und Weinhäuptl 2007; Hamann 2009). Zu
LSBTI in Schulbüchern gibt es insgesamt weiterhin deutlich weniger empirische
Forschung als zu Geschlecht. Die einzelnen Studien sind weniger umfangreich,
zumal es sich zumeist um Abschlussarbeiten (vgl. Ziemen 2010) oder Projekte
Studierender (vgl. Autonomes Lesben- und Schwulenreferat an der Universität zu
Köln 2011) handelt. Forschungspolitisch werden hier die wenigsten Ressourcen
investiert. Dieses Forschungsdesiderat greift die im Weiteren präsentierte Unter-
suchung von Schulbüchern auf.
Schule ohne Schulbücher ist auch nach der Etablierung neuer Medien für die
meisten Schulformen und Fächer schwer vorstellbar. Natürlich gibt es auch Leh-
rer_innen, die wenig oder nicht damit arbeiten, doch Unterrichtsalltag wird nach
wie vor stark von Schulbüchern geprägt. Sie bieten Orientierung und stellen eine
Arbeitserleichterung bei der Vorbereitung des Unterrichts dar. Häufig scheinen
sie gar die Kenntnis des anzuwendenden Lehrplans oder geltender Richtlinien zu
250 Melanie Bittner
1 Diese Thesen wurden bei der Vorstellung der Studie im Rahmen der Fachtagung „Sexuelle
Identität und Gender: (K)Ein Thema in Schulbüchern“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, der
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und des Lesben- und Schwulenver-
bands Deutschland (LSVD) von vielen Lehrer_innen und Expert_innen formuliert und
diskutiert.
2 Viele Hinweise dazu finden sich in dem Praxisheft, das im Anschluss an die hier vor-
gestellte Studie von der GEW herausgegeben wurde (vgl. Göbel 2013)
Die Ordnung der Geschlechter in Schulbüchern 251
3 In Frankreich führte eine Änderung des Lehrplans für Sexualerziehung und deren
Umsetzung in neuen Biologiebüchern zu Beginn des Schuljahrs 2011 dazu, dass die
Rolle von Gesellschaft und Erziehung nun auch bei der Entwicklung zu Frauen und
Männern thematisiert wird. Während dies einerseits Massenproteste auslöst, weisen
andere darauf hin, dass dies dem Stand der Genderforschung entspreche und begrüßen
die neuen Bücher (Ulrich, 2011). Der größte Niederländische Schulbuchverlag hat 2010
verkündet, dass auch schwule und lesbische Paare mit Kindern selbstverständlich als
Familien in den Lehrmaterialien dargestellt werden sollen (o. A. 2010). In Polen führte
die Zulassung eines Schulbuchs, in dem Homosexualität als Krankheit dargestellt wird,
zu öffentlichen Protesten des Arbeitskreises für Diversity (o. A. 2010).
4 Online verfügbar unter http://www.gew.de/Binaries/Binary88533/Schulbuchanalyse_web.
pdf. Zugegriffen: 17. Februar 2014
252 Melanie Bittner
Ein konstruktivistischer Genderbegriff umfasst viel mehr als nur die Darstellung
von Frauen und Männern oder die Machtverhältnisse zwischen Frauen und Män-
nern. Ein Verständnis von Geschlecht als sozialer Konstruktion beinhaltet, dass
die binäre Einteilung von Menschen in weiblich und männlich gesellschaftlich
gemacht ist (vgl. Wetterer 2010). Wird in Schulbüchern die Alltagstheorie der
Zweigeschlechtlichkeit reproduziert oder findet auch gendertheoretisches Wissen
Einzug? Wie werden Inter* und deren gewaltvollen Erfahrungen mit der Norm der
Zweigeschlechtlichkeit dargestellt? Und wie sind Trans* repräsentiert, also Men-
schen mit geschlechtlichen Identitäten, die nicht dem bei der Geburt zugewiesenen
Geschlecht entsprechen?
Hier zeigt die Analyse deutlich, dass die Norm der Zweigeschlechtlichkeit in den
Schulbüchern nicht hinterfragt wird, sondern ohne Problematisierung reprodu-
ziert wird. Vor allem durch das Aussehen von Personen wird in Englischbüchern
Die Ordnung der Geschlechter in Schulbüchern 253
„Welche Spiele werden gerne von Mädchen, welche häufig von Jungen gespielt? Welche
dieser Spiele haben etwas mit den späteren Aufgaben von Frauen und Männern zu
tun?“ (Jütte und Kähler 2008, S. 259)
„Für die persönliche Reifung ist es wichtig, dass sich Jugendliche mit Gleichaltrigen
zusammenfinden. Zunächst finden sich Gruppen, die nur aus Mädchen oder Jungen
bestehen. […] Nach und nach zeigen die Jungen und Mädchen Interesse für einander.
Anfangs ist das Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht recht unsicher. […]
Im Laufe der Zeit entsteht aber ein natürliches Verhältnis zum andern Geschlecht.“
(Beyer 2008, S. 151)
„Geschlechtsverkehr: Sex, Liebe machen. Der steife Penis gleitet in die Scheide.
Beim Geschlechtsverkehr gelangen Spermien des Mannes in die Scheide der Frau.“
(Bartels-Eder 2011, S. 277)
256 Melanie Bittner
Zudem lässt sich feststellen, dass Homosexualität und Bisexualität in den vorhan-
denen Glossaren zwar häufig erklärt werden, nicht jedoch Heterosexualität, obwohl
es sich ebenso um einen Fachbegriff handelt.
Ergänzend dazu sei auf Paar-Abbildungen in den Schulbüchern verwiesen. So
ist in allen fünf Büchern, in denen Homosexualität thematisiert wird, ein Bild eines
schwulen Paars abgebildet (vgl. Budde 2011; Cieplik 2011; Arnold 2010; Bergau
2011; Berger 2011). In nur zwei Büchern werden wiederum lesbische Paare gezeigt
(vgl. Berger 2011; Bergau, 2011). Homosexualität wird hier vor allem als Schwulsein
konzipiert und Lesben werden dabei marginalisiert.
Die Diskriminierung von Lesben, Schwulen und Bisexuellen in Deutschland wird
schließlich in keinem der untersuchten Biologiebücher explizit benannt wird. Diese
wird höchstens verharmlosend als „Vorbehalte“ (Bergau 2011, S. 63) thematisiert.
Häufig wird zwar Toleranz eingefordert, aber eben nicht auf das rechtlich eindeutig
geregelte und politisch hart erkämpfte, Diskriminierungsverbot im Allgemeinen
Gleichstellungsgesetz (AGG) hingewiesen. Diskriminierung aufgrund von Homo-
oder Bisexualität wird entweder als Problem einer nun überwundenen Vergangenheit
präsentiert (vgl. Bergau 2011, S. 61) oder auch in „fremde Staaten“ (Berger 2011, S.
214) verwiesen, wo besonders dramatische Folgen wie die Todesstrafe angespro-
chen werden. Beide Aspekte sind wichtig und sollen nicht verschwiegen werden.
Allerdings muss auch die aktuelle Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft
Deutschlands thematisiert werden. Sehr deutlich wird das an der Erklärung des
Begriffs ‚schwul‘, das in einem Glossar als „[ursprünglich] ein Schimpfwort für
männliche Homosexuelle“ (Bergau 2011, S. 61) definiert wird. Die Verwendung
von „schwul“ als Beleidigung der Vergangenheit zu beschränken, vernachlässigt
gänzlich, dass das Wort gerade von Jugendlichen sehr häufig als Schimpfwort
verwendet wird (vgl. Klocke 2012, S. 46 f.).
Die vorliegende Schulbuchanalyse zeigt, dass für Trans* oder Inter* in elf der zwölf
untersuchten Schulbücher kein Bewusstsein besteht: die Entwicklung einer eindeu-
tigen geschlechtlichen Identität in Passung mit eindeutigen Körpern innerhalb der
binären Kategorien Weiblichkeit und Männlichkeit wird unhinterfragt vermittelt.
Geschlechterstereotypen wird punktuell entgegen gehalten, aber sie werden auch re-
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Die Ordnung der Geschlechter in Schulbüchern 259
What can be heard and what can be seen are, after all,
primary lessons in any school. And once we understand
that these domains of saying and showing are regulated
and yet open to a number of interventions, then it would
seem that, pedagogically, saying and showing are the first
elements in any political education.
Butler 2006a (S. 534)
1 Dieses Thema war im Call for Papers für diesen Band als Titel des Bandes angegeben.
2 Kleiner B (im Ersch.) Subjekt. Bildung. Heteronormativität. Artikulationen schulischer
Differenzerfahrungen durch lesbische, schwule, bisexuelle und trans* Jugendliche.
Dissertation, Universität Hamburg
Mein Anliegen ist es nun, mit einer durch die Subjekttheorie Judith Butlers infor-
mierten Perspektive eine machtkritische und performative Lesart von Differenz an
Auszügen aus einem Interview meines Dissertationsprojekts zu versuchen3. Aus den
Ergebnissen werden Implikationen für pädagogisches Handeln abgeleitet, die nicht
allein auf eine verstärkte Sichtbarkeit von LSBTI in der Pädagogik zielen, sondern
auf eine Art der pädagogischen und organisationsbezogenen Thematisierung von
Differenz(ordnungen), die anvisiert, dass weniger „Gewalt gegen andere und gegen
mich selbst“ (Mecheril und Plößer 2012, S. 143) ausgeübt wird.
In der vorliegenden Analyse von Interviewauszügen steht die Frage nach Effekten
der symbolisch-diskursiven Differenzordnung Heteronormativität in schulischen
Interaktionen im Mittelpunkt. Mit Judith Butlers Theorie der Subjektkonstitution
und Performativität4 (Butler 1997; 2001; 2006), die die „theoretische Brille“ für meine
Untersuchung darstellt, lässt sich die (Re)Produktion von Differenzen performativ
denken (vgl. Plößer 2010, S. 218). „Performativ“ bedeutet in diesem Zusammenhang,
dass ich Differenzen nicht als vorhanden voraussetze (`Menschen sind verschieden
bzw. verschiedenen Gruppen zuzuordnen´), sondern dass ihre Herstellung (`Warum
und mit welchen Effekten werden Menschen in unterschiedliche (Gruppen) aufge-
teilt?´) im Mittelpunkt der Untersuchung steht. Aufgrund der geforderten Kürze
des Aufsatzes wird der theoretische Ansatz vorab knapp und damit sehr kompakt
erläutert. Selbstverständlich lässt sich der leichter zugängliche empirische Teil (2)
aber auch unabhängig davon lesen.
3 Auszüge aus diesem Interview sind unter einer anderen Fragestellung ausführlicher
rekonstruiert in einem Aufsatz veröffentlicht, den ich 2012 zusammen mit Hans-Chris-
toph Koller verfasst habe (Kleiner und Koller 2013).
4 Der Begriff Performativität leitet sich vom englischen to perform her, das sich in etwa
mit den deutschen Verben „aufführen, ausführen, vollziehen“ übersetzen lässt. Butler
erklärt, stark vereinfacht beschrieben, Performativität sprechakttheoretisch und be-
zeichnet damit (sprachliche) Handlungen, die das bewirken, was ausgesprochen wird,
wie z. B. bei der Eheschließung, wenn der Pastor ein Paar zu „Mann und Frau erklärt“.
In ihrer Subjekttheorie bezieht sie den Begriff auf das Hervorbringen von Körpern und
Identitäten. Auch diese werden performativ erzeugt, und zwar indem das wiederholte
Vollziehen oder Aufführen körperlicher und sprachlicher Handlungen sozialen Normen
und Vorgaben folgt. Erst durch das Zitieren solcher Vorgaben (wie sie u. a. in Medien,
z. B. Frauenzeitschriften und Männermagazinen auftauchen) entsteht die Illusion von
Männlichkeit oder Weiblichkeit.
Que(e)r durch den Schulalltag? 263
Die Entstehung von Subjekten kann mit Butler als Effekt von Anrufungen und
Diskursen verstanden werden, die performativ aufgenommen und zitiert – aber
auch transformiert – werden können (Butler 2001, S.10 ff.). Butlers Verständnis
der Anrufung rekurriert auf Althussers Ideologietheorie (1977), wobei die „An-
rufungsszene“ bei Butler eine zentrale Rolle für die Subjektkonstitution spielt. In
dieser materialisiert sich die Ideologie in der sprachlichen Anrede: Das (wiederholte)
Adressiert-werden als jemand, z. B. als Junge, setzt das Zum – Jungen – Werden in
Gang. Das Individuum wird so über das ordnungsgemäße Zitieren von Normen
zum geschlechtlichen Subjekt (Butler 1997, S. 29). Die Anrufung transportiert also
einen Auftrag, nämlich das zu werden, als das man angesprochen ist. Damit weitet
Butler Austins sprachphilosophisches Verständnis performativer Sprechakte (Austin
2002) auf die subjektkonstituierende Macht der Sprache aus (vgl. Tervooren 2006,
S.18). Durch wiederholte performative Akte werden demnach soziale Tatsachen
hervorgebracht, wobei die Kraft von Anrufungen in der regulierten Re-Zitation von
diskursiven Vorgaben und zu Normen verdichteten Aussagen und Bedeutungen
liegt(exemplarisch Butler 1997, S. 29). Darin liegt nun aber auch ein Handlungs-
potenzial: Im Interpretieren, Abwandeln oder Re-kontextualisieren der Zitate liegt
die Möglichkeit zur Veränderung (Butler 2006, S. 28ff.; 159f.). Auch wenn Anru-
fungen eine Identifizierung mit der Benennung oder dem Akt nahelegen, hängen
ihre konkreten Effekte wesentlich von den Reaktionen der Angesprochenen ab:
Ob diese sich damit identifizieren, die Bezeichnung zurückweisen oder aber die
intendierte Wirkung gar scheitern lassen, ist offen. Dabei wird das Handeln der
Subjekten nicht als selbstbestimmtes Handeln angenommen, sondern bleibt mit
den sie hervorbringenden Diskursen und Normen verstrickt (Butler 2001, S.8).
Das Subjekt wird von Butler als „sprachliche Gelegenheit des Individuums“
(Butler 2001, S. 15) verstanden, denn Individuen werden sozial verständlich, soweit
sie mit Benennungen und identitätslogischen Titeln (wie Frau, Migrant_in, Lesbe,
Trans*mann, Weiße, Schwarze) in die Sprache eingeführt werden. Diese im Zuge
von Selbstpräsentationen und Zuschreibungen geäußerten Bezeichnungen werden
durch hierarchisch und binär organisierte Differenzordnungen hervorgebracht,
die gesellschaftliche Normen transportieren und die Matrizes bilden, innerhalb
derer (an)erkennbare Subjektpositionen5 um den Preis von Ausschlüssen anderer
Den Gegenstand der folgenden Abschnitte bildet die Rekonstruktion von Auszügen
aus dem Interview mit dem Jugendlichen Jannes*6. Das Interview ist ein Bestand-
teil des empirischen Materials meines Dissertationsprojekts, für das ich zwischen
2008 und 2010 mittels episodischer Interviews lesbische, schwule, bisexuelle und
trans*geschlechtliche Jugendliche zu ihren Schul- und Unterrichtserfahrungen
befragt habe. Die Wahl der Interviewpartner_innen ist der untersuchungsleiten-
den Vorannahme geschuldet, dass von ihnen Dinge gesagt werden können, die
6 Der Name ist selbstverständlich ein Pseudonym. „Jannes“ ist zum Zeitpunkt des Inter-
views 19 Jahre alt und hat bis zum Realschulabschluss eine Gesamtschule besucht.
Que(e)r durch den Schulalltag? 265
Im Interviewverlauf gehen den hier untersuchten Passagen für das Verständnis der
Interpretation wichtige Informationen voraus: Zum einen wird schon zu Anfang
des Interviews angedeutet, dass Jannes ein Referat gehalten habe, das sich auf ei-
nen Bravo-Artikel über Gewalt an Schulen bezog. Diese Information stellt in den
folgenden Segmenten immer wieder einen wichtigen Referenzpunkt für verschie-
dene Ausführungen dar, denn der Klassenvortrag war nach Jannes Aussagen mit
dem Ziel verbunden, sich die Angst vor den Übergriffen der Mitschüler_innen zu
nehmen. Als Beispiel für diese angedeuteten Übergriffe führt Jannes Sprüche an,
mit denen er im Sportunterricht drangsaliert wurde:
Mit der Aufforderung „‚willst nicht zu den Mädchen gehen?‘“ wird Geschlecht
relevant gesetzt und Jannes als geschlechtlich uneindeutig platziert. Das als Be-
schimpfung zu verstehen gegebene „Schwuchtel“ weist auf die Homophobie der
Aggressor_innen hin, die diesen Ausdruck in der Öffentlichkeit des Sportunterrichts
zur Degradierung nutzen. Die abwertende Bezeichnung setzt (Homo-)Sexualität
in der Schüler_innen-Interaktion relevant und weist dem Bezeichneten damit eine
abweichende Sexualität und untergeordnete Position zu. In der Praxis des – zu-
nächst verbalen – Ausgrenzens materialisiert sich die Dominanz der Sprechenden,
die sich in ihrer heterosexuellen und männlichen Normalität bestätigen, indem sie
eine Abgrenzung zu Weiblichkeit und (marginalisierter) Männlichkeit vornehmen.
In den folgenden Sequenzen beschreibt Jannes, dass er in der siebten, achten und
neunten Klasse mit Sprüchen drangsaliert worden sei. Diese seien so verletzend
gewesen, dass er über einen möglichen Schulabgang ohne Abschluss nachgedacht,
sich dann aber für eine andere Strategie entschieden habe. In diesem Zusam-
266 Bettina Kleiner
menhang ist wichtig zu erwähnen, dass Jannes sich nach eigener Aussage zum
Zeitpunkt der Sprüche gar nicht mit Homosexualität auseinandergesetzt hatte.
Auf die Frage der Interviewerin nach einer Situation, die im Zusammenhang mit
den Sprüchen als prägnant erinnert wird, wird schließlich folgende episodenhafte
Erzählung angeführt:
Die Szene, von der hier die Rede ist, findet in der 7. Klasse zum Zeitpunkt eines
klassenübergreifenden Sportereignisses in einem Umkleideraum statt. Mit der Äu-
ßerung „dann fing das dann halt auch an“ wird der Verlauf einer für den Erzähler
Jannes unangenehmen Situation eingeleitet, um diese anschließend unvermittelt in
den Höhepunkt zu überführen, womit der Erzähler die Plötzlichkeit des Überfalls
in der Erzählung „performativ aufführt“. Jannes wird von den Mitschüler_innen in
den Duschraum eingesperrt, wobei er die Begründung des Übergriffs in direkter
Redewiedergabe anführt: „‚Nee, wir wollen nicht, dat du dich hier umziehst.‘“
Der Pronomengebrauch in der Passage deutet die sukzessive Ausgrenzung des
Erzählers aus der Gemeinschaft an: Während mit dem ‚wir‘ im ersten Redezug
noch eine Gemeinschaft entworfen wird, die ihn einschließt, zeigt sich in der
folgenden Gegenüberstellung von ‚ich‘ und ‚die‘ seine Isolierung aus dieser. In der
zuletzt angeführten Rede der Angreifer bezieht sich das ‚wir‘ nur noch auf den
„Chor“ (vgl. Butler 1997, S. 311) der homophoben Gleichgesinnten, dem Jannes als
ausgegrenztes Subjekt gegenübersteht.
Que(e)r durch den Schulalltag? 267
Die Eskalation der Situation wird zunächst fast bagatellisierend angeführt, bevor
Gefühle der Angst und des Ausgeliefertseins artikuliert werden. Diese drücken
sich besonders in der erzählerischen Ausgestaltung der Szene aus; die Opferposi-
tion spiegelt sich in der (Re)Konstruktion eines inneren Dialoges zwischen zwei
Stimmen, die Ratlosigkeit vermittelt. Beendet wird das Eingesperrtsein schließlich
dadurch, dass der Sportlehrer kommt und vermutlich – das wird hier nicht aus-
geführt – Jannes in der Dusche findet. Dieser sei nach Hause gegangen und habe
die Situation damit verlassen.
In dieser kurzen dichten Erzählung präsentieren sich nicht nur die Verletzung
und momentane Machtlosigkeit des Erzählers, sondern auch Hinweise auf die
hier wirksame Ordnung. So passiert die Szene im Umkleideraum, einem Ort, an
dem sich (wie in Toiletten) die symbolische zweigeschlechtliche Ordnung mani-
festiert: Umkleidekabinen können als Orte der Normierung bezeichnet werden,
die Eindeutigkeit verlangen und in die ungehindert nur Einlass findet, wer in der
Zwei-Geschlechterordnung als eindeutig durchgeht. Das aggressive Ausschließen
von Jannes scheint notwendig, um die Geschlechterordnung aufrechterhalten zu
können. In der Begründung der Angreifenden drückt sich deren Selbstverständnis
als gate keeper für den Umkleideraum aus: Sie bestimmen, wem der Zugang zur
Zone der Jungen gewährt oder verweigert wird. Die dem Übergriff vorangegan-
genen Etikettierungen als „Schwuchtel“ und uneindeutiger Junge werden hier zur
Legitimierung für die gewaltsame Ausgrenzung.
Zwei Jahre nach dem Übergriff wird der Klassenvortrag über Gewalt an Schulen
zum Anlass, eigene Erfahrungen mit Mobbing schrittweise einzuführen. Erst auf
die Nachfrage des Lehrers bezieht Jannes die zunächst allgemein angesprochenen
Themen Mobbing und Homosexualität auf sich. Die Formulierungen „Homosexu-
elle werden ja oft gemobbt“, „ja, so wie ich“ sind auffällig vage gehalten – es bleibt
unklar, ob hier auf Mobbing oder auf Homosexualität oder auf beides referiert wird.
Die uneindeutige Referenz (die im Interview an mehreren Stellen erfolgte) könnte
u. a. auf eine Verstrickung der beiden Themen in Jannes Biographisierung der
Schulzeit hinweisen. Erst auf das ungläubige Nachfragen der Mitschülerin erklärt
er öffentlich und knapp seine Homosexualität: „Ja, ich bin schwul“.
Mit dem Bekunden der Homosexualität auf der „Bühne“ des Klassenraums
verschiebt der Erzähler den Signifikanten „Schwuchtel“ zu dem von der Homose-
xuellenbewegung geprägten „schwul“. Im gleichen Zug nimmt er den „Sprüchen“
die Spitze: Mit dem Zur-Sprache-Bringen seiner Identifizierung wird diese für
die anderen (an)erkennbar und tritt damit in den als geschützt eingeschätzten
Klassenraum ein. Jannes rekontextualisiert den Signifikanten, indem er ihn von
eher informellen Schüler-Interaktionen in den offiziellen Unterrichtsdiskurs über-
führt. Dabei hat er die Gelegenheit, das Wort zum einen – implizit – auszustellen
als eines, das ihn ehemals verletzt hat („Homosexuelle werden ja oft gemobbt“),
zum anderen aber auch, es neu aufzuführen als eines, mit dem er sich nun positiv
„schwul“ identifiziert. Nicht zuletzt wird mit seinem Outing Heterosexualität als
Norm im Klassendiskurs erkennbar.
Die Voraussetzungen dafür, dass Jannes Vorgehen gelingen kann, sind erstens die
Anwesenheit eines als parteilich eingeschätzten Lehrers, zweitens der „Diskurs, der
dem ‚Ich‘ vorhergeht und es ermöglicht“ (vgl. Butler 1997, S. 310), nämlich der der
Homosexuellenbewegung und drittens, die Situation des Klassenvortrags. Jannes
nutzt dort die Konventionen des Unterrichtsgesprächs, um ein für ihn prekäres
Thema zu behandeln: In diesem Rahmen wird es möglich, dass er seine Stimme
mit Autorität anreichert. Unterricht zeigt sich in der prägnanten Erzählung als
Que(e)r durch den Schulalltag? 269
Jannes gibt zunächst an, dass er an sich Veränderungen bemerkt hat, die darin
bestehen, dass er seine Kleidung und sein Verhalten „immer weiblicher“ empfin-
det, was offensichtlich ambivalente Gefühle auslöst: Die empfundene Weiblichkeit
steht in seiner Wahrnehmung im Widerspruch zu seinem Outing und der damit
verbundenen Position als schwuler Junge:
Und nun hab ich mich ihm anvertraut, weil ich einfach nicht
wusste, ob das normal ist oder ((B: Hmhm)) ob ich irgendwie,
ähm, weiß ich nicht, ob ich jetzt, ob ich vielleicht auch
irgendwie im falschen Körper bin, weil ich mich ja jetzt
schon geoutet hab, dachte ich auch teilweise, ähm, so [un-
verständlich] bist du eigentlich gar kein Mann, irgendwie.
Keine Ahnung.
Die größte Herausforderung, die sich in dem Interview bezogen auf Jannes Schulzeit
rekonstruieren lässt, liegt in der von ihm als überraschend erlebten Ausgrenzung
durch andere Schüler_innen. Seine Welt-, Anderen- und Selbstverhältnisse (Koller
2012, S. 16ff.; S. 58) geraten durch die homophoben Anrufungen als Schwuchtel und
Junge, der nicht in die Geschlechterordnung passt, in eine massive Krise. Dass eine
Auseinandersetzung mit Homosexualität für Jannes zum Zeitpunkt der Sprüche
und Angriffe gar nicht aktuell war, wirft die Frage nach dem Anlass für die Gewalt
gegen ihn auf, die auf der Grundlage des Interviewgesprächs nicht beantwortet
werden kann. Deutlich wird jedoch, dass die Defizit- und Differenzkonstrukti-
onen, die ihm zugeschrieben werden, so anschlussfähig sind, dass sich mehrere
Schüler_innen zusammenfinden, die ihn drangsalieren, wobei die Übergriffe von
ihm zunächst gar nicht artikuliert werden können.
Erst im Zuge des Klassenvortrags zwei Jahre später gelingt es dem Erzähler, den
Signifikanten schwul strategisch geschickt positiv zu besetzen und den Übergriff
durch seine Mitschüler_innen anzuklagen. Der Rückgriff auf bestimmte Voraus-
setzungen oder Ressourcen ermöglicht ihm dieses Handeln7.
Die Verstrickung von Verletzung und Identifizierung, die Bestandteil dieses
Vorgehens ist, zeigt sich im Interviewverlauf an verschiedenen Textstellen auf der
Ebene der Deixis8: Weil streckenweise sowohl auf Mobbing als auch auf Outing
ausschließlich mit dem Pronomen „das“ und dem Platzhalter „das Thema“ ver-
wiesen wird, verschwimmen die Bezugnahmen, woraus ich abgeleitet habe, dass
7 Daraus lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt meiner Datenauswertung ableiten, dass Ju-
gendliche unter schlechteren Bedingungen – bspw. wenn ihnen gar keine Unterstützung
zur Verfügung steht, wenn sie keine Möglichkeiten finden, sich zu artikulieren oder
wenn sie mehrfach diskriminiert werden, weniger Möglichkeiten haben, widerständige
Handlungsweisen zu entwickeln.
8 Deixis:Zeigefunktionen im Text, bspw. hier, jetzt, dort, das, der etc.
Que(e)r durch den Schulalltag? 271
Mobbing und Outing in Bezug auf die Biographisierung der Schulzeit gar nicht
zu trennen sind.
Auch wenn Jannes Outing während des Klassenvortrags einen Ort schafft, aus
dem Kritik und Einspruch möglich werden, zeigt sich, dass seine „eindeutige“
Identifizierung aus einem Zwang resultiert und Beschränkungen nach sich zieht
(vgl. Butler 1997, S. 308). Vor allem durch die immer wieder erfolgenden Übergriffe
entstand die Notwendigkeit, sich öffentlich zu bekennen, wobei er zu dem verlet-
zenden Übergriff zurückkehren muss. Der Preis für die Verbesserung seiner Lage
ist, dass er sich als Klassenschwuler positioniert und dies zu einem Zeitpunkt, zu
dem er „noch gar keine Erfahrungen“ hat und seine Lebenssituation vermutlich
eher von Suchbewegungen bezogen auf Geschlechtsidentität und Begehren ge-
prägt ist. Jannes im vertraulichen Gespräch vorgenommenes Sprechen über sein
körperliches Unbehagen deutet darüber hinaus an, dass dem öffentlichen Outing
auch eine normalisierende Komponente innewohnt: Während Schwulsein im
Unterricht thematisiert werden konnte und letztlich in eine Rückführung in die
Klassengemeinschaft (und -ordnung) mündet, sind Verunsicherungen bezogen
auf Geschlechtsidentität dort nicht ohne Weiteres sagbar. Beide Positionierun-
gen – schwul und zu weiblich – reagieren auf die entsprechenden verletzenden
Anrufungen: Die eine kann öffentlich resignifiziert werden, die andere wird im
informellen Raum verhandelt. Im Hinblick auf Judith Butlers Theorie stellt sich
in diesem Zusammenhang die Frage, wer in einer heteronormativen Gesellschaft
überhaupt eine „richtige“ und eindeutige Männlichkeit oder Weiblichkeit verkörpern
kann. Diese Perspektive verweist auf die Notwendigkeit, mit solchen begrenzenden
gesellschaftlichen Vorstellungen von Geschlecht und Begehren zusammenhängende
Geschlechternormen in Frage zu stellen (Butler 2009, S. 9 ff.).
Bezogen auf pädagogisches Handeln legen diese Ergebnisse nah, dass es nicht
allein um das Befördern einer erhöhten Akzeptanz von LGBTI Jugendlichen in der
Schule gehen kann, zumal Akzeptanz und Toleranz Ausdruck einer hierarchischen
und asymmetrischen Kommunikation sind, die vom Gutdünken der Gewährenden
abhängt (Diehm 2010, S. 127). Vielmehr müsste Schule zum einen den Auftrag
annehmen, Lehrpläne, Lehrmaterial sowie Unterrichtsdiskurse auf heteronor-
mative Ausschlüsse zu befragen. Zum anderen wären auf verschiedenen Ebenen
Lebens- und Begehrensweisen jenseits von Heterosexualität und rigider Zweige-
schlechtlichkeit selbstverständlich anzusprechen, ohne damit neue Eindeutigkeiten
und Festschreibungen zu erzeugen. Solche Lebens- und Begehrensweisen stellen
in informellen und institutionellen schulischen Interaktionen aber bisher meist
marginalisierte Positionen und Themen dar (vgl. Sielert und Timmermanns 2011).
Dagegen werden Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit nicht unbedingt als
Klassifizierungen sichtbar und sind in der Regel mit dem Gefühl von Normalität
272 Bettina Kleiner
Literatur
Althusser L (1977) Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen
Theorie. VSA, Hamburg
Austin JL (2002) Zur Theorie der Sprechakte. Reclam, Stuttgart
Que(e)r durch den Schulalltag? 273
Einleitung
1 Der Begriff sexuelle Diversität fast eine Spannbreite sexueller Orientierungen (lesbisch,
schwul, bi, hetero) und sexueller Identitäten (Inter*, Trans*, Mann, Frau).
2 Der Artikel beruht auf einer Datenerhebung der Autorin im Rahmen der 2014 im
Springer VS Verlag erscheinenden Dissertation „Verschwiegen bis heiter – Eine pä-
dagogische Ethnographie des Schamaffekts in der schulischen Sexualaufk lärung der
Sekundarstufe I“.
Scham zeigt über ein bewusstes oder auch unbewusstes negatives Empfinden,
welches in einer negativen Evaluation des Selbst begründet ist, an, dass die sozia-
len Beziehungen zu anderen gefährdet sind (vgl. Scheff und Retzinger 2000, S. 1).
Daher stellt der Affekt Scham auch ein entscheidendes Moment bei der Analyse
gesellschaftlicher Ordnungsprozesse dar. Das bewusste oder auch unbewusste
Schamerleben fungiert über eine imaginierte oder tatsächlich drohende soziale
Ausgrenzung oder Abwertung als soziale Sanktion (vgl. Wertenbruch und Rött-
ger-Rössler 2011, S. 245). Dem Schamempfinden vorauseilende schamvermeidende
Verhaltensweisen, wie etwa das Einhalten sozialer Konventionen oder Schweigen,
tragen entsprechend wesentlich zu gesellschaftlicher Konformität bei. Der altgrie-
chische Stamm des Worts Scham belegt dabei, das Schamregeln historisch immer
auch soziale Beziehungen im Bereich „des Sexuellen“ betreffen (vgl. Laser in Kalbe
2002, S. 4). So steht das homerische aidos für Phallus und Ehrfurcht, das spätere
griechische aischyne für Unehre (vgl. ebd).
Welches Sexualverhalten, sexuellen Orientierungen oder Identitäten überhaupt
als solche angesehen und als normal oder unnormal bewertet werden, ist nicht nur
kulturell, sondern auch historisch und im Laufe einer Biographie wandelbar und
hiermit sozial konstruiert (vgl. Timmermanns 2008, S. 262; vgl. Seidman, 2010,
S. 43f.). Die Identitätszuschreibungen hetero- und homosexuell etwa entstammen
den westlichen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts und werden als Signifikanten
einer sozialen Ordnung und ihrer Abweichung geschaffen wurden (vgl. ebd., S.
47). Fußend auf Judith Butlers Konzept der „heterosexuellen Matrix“ (1990), hat
Michael Warner (1991) den Begriff Heteronormativität als kritischen Analysebe-
griff gesellschaftlich dominierender sozialer Macht- und Herrschaftsverhältnisse
geprägt. Heteronormativität wird als generatives Prinzip einer „natürlichen Über-
einstimmung“ eines biologischen mit einem sozialen Geschlecht gedacht. Sexu-
elles Begehren kann mittels dieses Begriffs als soziales Konstrukt innerhalb einer
Sexuelle Diversität als Schamgrenze der Sexualaufklärung 277
Das Erkenntnisinteresse der dem Beitrag zugrunde liegenden Studie beruht auf
der Wirkmächtigkeit des sprachlichen und körperlichen Ausdrucks von Scham
in Kommunikationsprozessen. Dazu wurde die im Biologieunterricht durchge-
führte Sexualaufklärung einer Klasse der achten Jahrgangsstufe an einem Berliner
Gymnasium im Jahr 2010 mittels verschiedener Verfahren untersucht. Die teil-
nehmende Beobachtung der Klasse 8a erfolgte insgesamt über 14 Schulstunden,
hiervon fünf Schulstunden zu Sexualaufklärung. Der Sexualaufklärungsunterricht
wurde mit einer Videokamera gefilmt. Audioaufnahmen des Interviews und der
Gruppendiskussionen mit den Schüler_innen sowie Feldnotizen liegen zudem
vor. Zu der im Folgenden dargelegten Unterrichtssequenz werden Ausschnitte
aus dem Expert_inneninterview mit der Lehrerin und „geschlechtshomogenen“
Gruppendiskussionen mit den Schüler_innen diskutiert.3
Der Sex-Ed Test wird als Einleitung der Sexualaufklärung von Frau A. mit der
Klasse durchgeführt.4 Im Klassenraum anwesend sind 13 Schüler_innen. Sally,
3 Bei Kategorien sexueller Orientierungen und Identitäten handelt es sich nicht um durch
den Körper vorgegebene Größen. Vielmehr sind sexuelle Orientierungen und Identitäten
Gegenstände individueller und kultureller, historisch und im Laufe einer Biographie
wandelbarere Zuschreibungen und hiermit sozial konstruiert (vgl. Timmermann 2008,
S. 262).
4 Die Schüler_innen sollen durch melden sämtliche umgangssprachliche Begriffe für
„Geschlechtsverkehr, Penis und Vagina“ nennen, die sie kennen, ohne zu lachen. Das
Bestehen des Tests wird von der Lehrerin als Bedingung der Durchführung der Sexu-
alaufklärung angekündigt.
278 Sara Blumenthal
Rachel, Kim, Laura, Kayessa, Nina, Michaela, Tim und Nils sitzen in der ersten
und zweiten Reihe. George, Ronald, Tom und Peter sitzen in der letzten Reihe,
wobei Peter alleine an einem Tisch sitzt. Der Unterrichtsverlauf wird mit einer
Kamera gefilmt. Ich platziere mich seitlich der Kamera und mache mir Notizen.
Die Lehrerin steht vor der Tafel, an welcher die Schüler_innen Begriffe aus dem
Bereich der Sexualität anschreiben. Diese werden nun besprochen.
Im Rahmen des Sex-Ed Tests werden Wörter aus dem Bereich der Sexualität ge-
sammelt und besprochen. Die Lehrerin fragt, wer Vibratoren benutzt und nicht
etwa, wofür Vibratoren benutzt werden und gibt somit eine identitätsbezogene
Diskursebene vor. Ausgehend davon, dass der Schüler sich hier nicht als schwul
identifiziert, liegt in seiner Antwort „Mädchen und Schwule“ eine klare Distan-
zierung vom Gebrauch eines Vibrators. Die Antwort kann weiter so interpretiert
werden, dass der Schüler unter „benutzen“ „in den eigenen Körper einführen“
versteht, da er sonst heterosexuelle Männer, die einen Vibrator benutzen, um ihre
Forscherin: Ich hab noch zwei Fragen. Was ist mit dem Thema
Homosexualität?
Peter: Ähhh
Max: Ähhh
Peter: Äh ja, ok. Scherz. Ja also, wenn die Schwulen
schwul sein woll´n, dann bitteschön, aber bitte
nicht irgendwie in der öffentlichen U-Bahn.
(Peter lacht kurz auf.)
George: Warum, wie, hä?
Peter: Weil
George: Wie meinst du das?
Peter führt aus, dass er zwei „Homos“ unabsichtlich in der
U-Bahn dabei beobachtet hat, wie der eine dem anderen in den
Schritt gefasst hat.
Nils: Ja ok, das ist wirklich-6
George: Aber normale Paare-
(Alle reden durcheinander)
Nils: Ich hab´ nichts gegen Homosexuelle (…)
George: Aber ich verstehe, also Normale, also Heteros,
knutschen doch auch in der U-Bahn, also da
dürfte-
Peter: Ja, aber das ist n´ Unterschied, weil, wenn,
die, meistens Homos, die machen das richtig
krass.
In den Gruppendiskussionen reagieren Peter und Max zunächst mit einem sprachli-
chen Schamindikator, dem Verzögerungslaut „ähhh» auf das Thema Homosexualität.
Peter setzt mit dem Schamindikator eine klare Distanzierung zur Homosexualität
von Männern. Indem er formuliert, dass „die Schwulen“ schwul sein können, wenn
sie wollen, verdeutlicht Peter dabei, dass männliche Homosexualität für ihn die
relevante soziale Differenz darstellt. Vor dem Hintergrund der Sprecherposition
des Schülers als „männlich“ liegt die Interpretation nahe, dass es sich hier um
eine performative Aufführung der Heteronormativität des Schülers handelt. Die
Ausgrenzung und Abwertung sexueller Diversität dient somit der Festigung einer
eigenen, etablierten sozialen Position.
Wie auch mit den Jungen, wurde in der Nachfolge der Sexualaufklärung bei Frau A.
eine Gruppendiskussionen mit den Schülerinnen durchgeführt, um ihre Perspektive
auf die zu interpretierenden Unterrichtssequenzen einzuholen. Die Thematisierung
282 Sara Blumenthal
allerdings auch so interpretiert werden, dass eine positive Identifikation mit dem
Thema Homosexualität seitens der Mädchen darauf beschränkt ist, dass es normal
ist, wenn „andere“ homosexuell sind und sie das Thema im Unterricht und für
sich vermeiden möchten. Ein Bewusstsein für das eventuelle Vorhandensein nicht
geouteter LGBT7-Schüler_innen in der Klasse scheint ebenfalls nicht vorhanden
zu sein. Daher kann auch die ausbleibende Unterrichtsbeteiligung der Mädchen
zu dem Thema als schambedingte Vermeidungsstrategie interpretiert werden.
Forscherin.: Mhm. Genau. Und wie is´ das mit der ganzen
Homosexualitätsthematik.
Frau A.: Da hätt´ ich, da hätt´ ich gern drüber gespro-
chen, generell über so sexuelle Identität und
was es denn für Möglichkeiten im Sexualleben
gibt und das es nicht nur ein Mann eine Frau
Ding gibt. Das hätte man auch über die Ge-
schichte und Tiergesellschaften aufziehen kön-
nen und, und über menschliche Gesellschaften
an verschiedenen Orten der Erde. Weil ich die
so´n bisschen aus dieser engstirnigen Sichtwei-
se rausholen wollte. „Es gibt nur das und das
ist richtig und alles andere ist versaut.“ Das
ärgert mich immer, so ´ne Engstirnigkeit, auch
bei vielen Erwachsenen und das, das ¿nde ich
auch ein Anliegen der Sexualkunde, das man da
offener wird, nicht nur für „Oh, was es alles
für versaute Dinge gibt“, sondern was normal
ist kann man doch gar nicht aus der Sichtweise
einer Person in einer Gesellschaft festlegen
(…).
Die Lehrerin reflektiert selbstkritisch, dass sie dem Thema sexueller Diversität mehr
Raum in der Sexualaufklärung hätte geben können. Indem sie wiederholt darauf
verweist, dass die Schüler_innen nicht an dem Thema interessiert seien und die
Vertiefung des Themas Homosexualität auf Grund der Lehrpläne schwer umsetzbar
sei, distanziert sie sich aber auch von ihrer Verantwortung für die Realisierung ent-
sprechender Unterrichtsinhalte (vgl. hierzu auch Schmidt/Schondelmayer i. d. B.).
Das bei der Besprechung sexueller Diversität seitens der Lehrerin im Unterricht
sprachliche Schamindikatoren auftreten, verweist zudem darauf, dass die Scham
der Schüler_innen und die der Lehrerin sich bezüglich der Thematisierung sexueller
Diversität gegenseitig bedingen. Insofern kann die nebensächliche Behandlung des
Themas sexuelle Diversität, welches durch die Rahmenlehrpläne vorgeschrieben ist,
sowie auch die Vermeidung der Übernahme der Verantwortung für die Inhalte der
Sexualaufklärung bei Frau A. als Schamvermeidungsstrategie interpretiert werden.
Sexuelle Diversität als Schamgrenze der Sexualaufklärung 285
Fazit
Literatur
Bittner M (2012) Geschlechterkonstruktionen und die Darstellung von Lesben, Schwulen,
Bisexuellen, Trans* und Inter* (LSBTI) in Schulbüchern. Gewerkschaft Erziehung und
Wissenschaft, Frankfurt a. M.
Blumenthal S, Damrow M (2015) Vorschläge für eine „schambewusste Sexualaufklärung“ im
Biologieunterricht der Sekundarstufe I. In: Lücke M, Huch S (Hrsg.) (im Erscheinen)
Transcript-Verlag
Bourdieu P (2005) Die männliche Herrschaft. Suhrkamp, Frankfurt a. M.
Butler J (1990) Gender Trouble: Feminism and the subversion auf identity. Routledge, New York
Foucault M (1977) Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Suhrkamp Verlag,
Frankfurt a. M.
Fuge M (Hrsg) (2008) Lesbische und schwule Lebensweisen: Handreichung für den fächer-
verbindenden und fachübergreifenden Unterricht in der Sekundarstufe I und II der Ber-
liner Schule, für die Fächer Biologie, Deutsch, Englisch, Ethik, Geschichte/Sozialkunde,
Latein, Psychologie. Landesinstitut für Schule und Medien (2.Aufl). Landesinstitut für
Schule und Medien, Ludwigsfelde-Struveshof
286 Sara Blumenthal
1 Einleitung
2 Heteronormativität
Die Frage danach, wie angehende Lehrkräfte zu einer erhöhten Anerkennung viel-
fältiger Lebensweisen beitragen können, ist – will man Butler folgen – zwangsläufig
an die Frage nach dem Warum geknüpft. Warum werden bestimmte Lebensformen
und Existenzweisen nicht als gleichwertig anerkannt? Welche Diskurse erzeugen
die wirkmächtigen Bedingungen, die das geschlechtliche und sexuelle ‚Ich‘ als
‚anders‘ konstituieren und hierarchisieren?
Ein hegemonialer und zugleich selten angezweifelter Diskurs, der unser Den-
ken, Fühlen und Wahrnehmen in fast allen Lebensbereichen organisiert, ist nach
Butler die heterosexuelle Matrix (vgl. Butler 1991). Das heterosexuelle System der
Zweigeschlechtlichkeit wird unter dem Terminus der Heteronormativität subsu-
miert und bezeichnet wesentliche, im Alltag meist unhinterfragte und als natürlich
angenommene Aspekte der Sexualität und Geschlechtlichkeit. Heteronormativität
meint nicht allein die Formen der Sexualität zwischen Mann und Frau, sondern die
zur Norm stilisierte heterosexuelle Begehrensform als die richtige Begehrensform
und die folglich dichotome Geschlechtereinteilung, die als Grundlage unserer
Gesellschaft fungiert – sei es im Recht, in der Paarbildung, in der Schule und im
Unterricht. „[D]as diskursive Regime hegemonialer Heterosexualität [bringt] nor-
mative Annahmen über ‚gesunde‘ Körperlichkeit und angemessenes Sozialverhalten
sowie normalisierende Identitätszuschreibungen hervor, die allesamt den vorherr-
schenden Glauben an die Natürlichkeit, Eindeutigkeit und Unveränderbarkeit von
Geschlecht und sexueller Orientierung fundieren“ (Hartmann et al. 2007, S. 9).
Wollen Lehrkräfte ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung gerecht werden
und zur Anerkennung vielfältiger geschlechtlicher sowie sexueller Lebensweisen
beitragen, erscheint es notwendig, sich mit den normativen binär-geschlechtlichen
und heterosexuellen Diskursen, die ein essentialistisches Identitätsverständnis
generieren, wie auch den hierüber marginalisierten Individuen kritisch aus-
Que(e)r durch die Fachkulturen 289
3 Genderkompetenz:
Wissen – Wollen – Können überdenken
1 Das Verhältnis von Staat, Rechtsordnung und Macht sowie die damit einhergehenden
Einschränkungen, aber auch Ermöglichungsstrukturen hinsichtlich Geschlecht, sexueller
Orientierung und weiterer Kategorien kann an dieser Stelle nicht erschöpfend erörtert
werden. Vergleiche hierzu exemplarisch Haberler et al. 2012).
290 Florian Cristobal Klenk
5 Für ein solches Vorhaben bieten sich beispielsweise aktuelle Arbeiten aus der genderin-
formierten Biologie an (vgl. Ebeling und Schmitz 2006; Palm 2008; Voß 2013).
294 Florian Cristobal Klenk
(2010). Unter Rückgriff auf das Bourdieu‘sche Habitus-Konzept zeigt sie auf, wie
tief zweigeschlechtliche Ordnungs- und Bewertungsmuster in die jeweiligen schu-
lischen Fachkulturen und deren Abgrenzung untereinander eingeschrieben sind.
Betitelt als „doing gender while doing discipline“ (ebd., S. 20) legt sie dar, wie sich
Zweigeschlechtlichkeit in die Unterrichtsfächer Physik und Deutsch einschreiben
und umgekehrt die Disziplingrenzen selbst Zweigeschlechtlichkeit stabilisieren.
Sie plädiert dafür, dass ein degendering der Fächer „bei einem Hinterfragen der
fachkulturellen Konstruktionen, weniger beim vermeidenden Umgang mit den
doing-gender-Prozessen“ (ebd. S.20 f.) ansetzen müsste.
Mit Rückgriff auf die Evaluationsergebnisse des G-MINT6 Projekts an der TU
Darmstadt lässt sich die von Willems untersuchte Problematik zwischen Fachkultur
und Zweigeschlechtlichkeit in Hinblick auf die Lehramtsausbildung verdeutlichen. Es
zeigt sich hierbei, dass für viele Lehramtsstudierende eine Diskrepanz zwischen der
Gendersensibilisierung innerhalb der Grundwissenschaften und einer weitgehenden
Ignoranz der Gender-Problematik in ihren jeweiligen (MINT) Fachwissenschaften
und -didaktiken besteht. Dies bedingt, dass heteronormativ gefärbte fachkulturelle
Strukturen und Inhalte von den meisten Studierenden nicht als solche erkannt
werden. Durch die Ausbildung in den jeweiligen Fachdisziplinen wird ihnen häufig
ein unkritisches Professionsverständnis hinsichtlich des eigenen Faches vermittelt.
Dies hat zur Folge, dass für Lehramtsstudierende die „Reflexion des naturwissen-
schaftlichen Denkens und Handelns unter Berücksichtigung gesellschaftlicher
Bezüge […] nicht zum Aufgabenbereich der naturwissenschaftlichen Disziplinen“
gezählt wird (Götschel und Bauer 2005, S. 221). Dieses Fachverständnis erzeugt eine
Distanz zur Genderthematik und suggeriert, dass naturwissenschaftliche Fächer
– da sie als objektiver gelten – auch genderfrei(er) seien. Ferner verstärkt die fach-
spezifische Ausbildung in den MINT-Fächern die im Alltag erfahrene Vorstellung
einer natürlichen und durch biologische Forschungen belegten heterosexuellen
Zweigeschlechtlichkeit, die nicht selten als Legitimationsinstanz für bestehende
Hierarchien und Diskriminierungen benutzt wird und durch Doing-Gender-An-
sätze nur unzureichend in Frage gestellt werden kann.
Diese Ausführungen implizieren, dass eine Reflexion und Umstrukturierung
von Fachdisziplinen und fachkulturellen Selbstverständnissen – inklusive der
darin formulierten Objektivitätsansprüche – in der Lehramtsausbildung notwen-
7 Wie eine solche Re- und Dekonstruktion anhand konkreter biologischer Inhalte in-
nerhalb der Lehramtsausbildung praktisch gestaltet werden kann und welche Literatur
sich für dieses Vorhaben anbietet, verdeutlicht der Beitrag „Geschlechtervielfalt in der
Lehramtsausbildung“ von Helene Götschel (2015).
298 Florian Cristobal Klenk
sich für die Produktionsweisen von Normalität zu sensibilisieren und über das
zum Thema machen von Normalitätsvorstellungen und Ausschlussmechanismen
diese Sensibilisierung auch den pädagogischen Adressat_innen zu ermöglichen“
(Hartmann 2013, S. 273).
7 Fazit
Will man den hier aufgezeigten Perspektiven folgen und die Dimensionen der Gen-
derkompetenz in einem poststrukturalistischen Sinn erweitern, ist ein konstruktiver
Dialog erforderlich, der zwischen den Disziplinen stattfindet und zugleich über
diese hinausgeht. Solange sich angehende Lehrer_innen ‚eigentlich‘ als Natur- oder
Geisteswissenschaftler_innen begreifen und der Anspruch auf Durchsetzung der
fachkulturellen Wahrheitskonstruktionen vor dem der (kritisch-dekonstruktiven)
Bildung ihrer Schüler_innen steht, geht auf beiden Seiten Potential verloren, zur
Anerkennung vielfältiger Lebensweisen beizutragen. Ferner wird die Vermittlung
eines selbstkritischen Professionsverständnisses verspielt, das sich positiv auf die
Unterrichtsqualität, das Interesse sowie die Studien- und Berufswahlprozesse
zukünftiger Schüler_innen auswirken kann. Die hier aufgezeigten Ansätze tragen
somit ebenfalls dazu bei, die immer wieder von Seiten der Politik geforderte und
seit 30 Jahren nur mäßig erfolgreiche (differenzorientierte) Nachwuchsförderung
in den MINT-Fächern um eine neue Dimension zu erweitern. Die transdisziplinäre
Vermittlung eines kritisch-dekonstruktiven Bildungs- und Professionsverständnisses
erscheint vor diesem Hintergrund als relevante und sinnvolle Ergänzung zu den
aktuell in der Lehramtsausbildung und Fachdidaktik favorisierten pädagogischen
Ansätzen.
Die hier vorgestellte dekonstruktivistische Perspektive eröffnet angehenden
Lehrkräften zudem die Möglichkeit, einen reflexiven und verantwortungsvollen
Umgang mit den sie bedingenden Verhältnissen zu entwickeln. Dadurch werden
sie in die Lage versetzt, den im Grundgesetz und den Schulgesetzen spezifizierten
Prinzipien der Achtung und Toleranz zu folgen und die Bedingungen der Aner-
kennung so umzuarbeiten, dass sie der gelebten sexuellen und geschlechtlichen
Vielfalt gerechter werden. Mit Butler gesprochen bedeutet dies, anhand konkreter
Gegenstände und über Disziplingrenzen hinausgehend die Bestimmungen zu
hinterfragen, „von denen das Leben eingeschränkt wird, um so die Möglichkeit
anderer Lebensweisen zu eröffnen; […] nicht um die Differenz als solche zu feiern,
sondern um für ein Leben, das sich den Modellen der Anpassung widersetzt, inte-
grative Bedingungen zu schaffen, die es schützen und erhalten“ (Butler 2009, S. 13).
Que(e)r durch die Fachkulturen 299
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III.3
Lebensphasen und -kontexte
Alter(n)
Anders Altern
Zur aktuellen Lebenslage von Schwulen und
Lesben im Alter1
Marco Pulver
Altern Schwule und Lesben anders? Was ist das Besondere an der Situation ho-
mosexueller Senioren? Brauchen sie spezielle Beratungs-, Freizeit- oder Wohnan-
gebote? Wäre es nicht besser, die Bedürfnisse homosexueller Senioren_innen in
die Strukturen herkömmlicher Altenarbeit zu integrieren? Solche und ähnliche
Fragen begegnen mir oft beispielsweise auf Tagungen und Fachkongressen zum
Thema alternative Wohnformen, zu denen ich als Referent eingeladen werde, um
das intergenerative Wohnprojekt „Lebensort Vielfalt“ der Schwulenberatung Berlin
vorzustellen2. Viele Fragende wundern sich vor allem darüber, dass die Sexuali-
tät einen so großen Stellenwert im Kontext der Bewältigung von Problemen des
Alterns haben soll. Im vorliegenden Beitrag möchte ich die besondere Situation
älterer homosexueller Menschen beleuchten und in diesem Kontext auch auf die
oben erwähnten Fragen eingehen.
Die Frage, wie sich Menschen im Alter verändern, wie Menschen mit dem
Älterwerden umgehen, was es bedeutet alt zu werden oder alt zu sein, beschäftigt
Philosophen und Forscher seit jeher. Dass Menschen – abhängig von ihrer Biographie
und der historisch-gesellschaft lichen Lage – das Alter zum Teil sehr unterschiedlich
erleben und Alter darüber hinaus als soziale Konstruktion verstanden werden muss,
ist eine Erkenntnis, die sich erst allmählich im letzten Jahrhundert durchgesetzt
hat. In entsprechenden Untersuchungen über das Alter wurde zunehmend auch
das Geschlecht als wichtige Variabel erfasst3.
Die sexuelle Identität blieb bis vor kurzem weitgehend unberücksichtigt. Bis
heute sind wissenschaft liche Studien über das Leben von älteren Transidenten,
1 Der Beitrag bezieht sich, wenn nicht anders angegeben, auf Menschen im Alter über
65 Jahre. Auf die Situation älterer queer bzw. transident lebender Menschen wird im
vorliegenden Beitrag nicht explizit eingegangen.
2 Zum Lebensort Vielfalt siehe unten oder http://www.lebensort-vielfalt.de/
3 Vgl. bspw. Perrig-Chiello und Höpflinger 2000
Schwulen und Lesben noch immer rar4. Einerseits fehlte seitens der Wissenschaft
lange das Interesse, die Situation dieser Bevölkerungsgruppen genauer zu er-
kunden. Andererseits ist es schwierig, relevante Daten und Fakten empirisch zu
erfassen. Unter anderem ist ein Grund dafür, dass viele ältere Schwule und Lesben
ihre Homosexualität nicht offen leben und `Informanten´ schwer zu finden sind.
Hinzu kommen Definitionsprobleme, die empirische bzw. statistische Erhebungen
erschweren, denn viele Männer und Frauen, die homosexuelle Kontakte haben,
würden sich deshalb noch lange nicht als schwul bzw. lesbisch bezeichnen wollen5,
womöglich auch nicht als bisexuell verstehen, obwohl sie vielleicht in bestimmten
Lebensphasen homosexuell gelebt haben.
Die Frage, wie viele homosexuelle Senioren_innen in Deutschland leben, lässt
sich aufgrund der oben genannten Probleme nur grob schätzen. Die Schätzungen
fallen außerdem unterschiedlich aus, je nach dem ob der Bevölkerungsanteil ho-
mosexueller Menschen höher oder niedriger angesetzt wird (i. d. R. zwischen 2 und
10 %). Das Niedersächsische Sozialministerium veröffentliche z. B. eine Schätzung
von bis zu 1,8 Millionen homosexueller Senior_innen im Alter über 60 Jahre. Allein
für Berlin kursiert seit längerem die Zahl von ca. 60 Tsd. homosexuellen Männern
und Frauen im Alter über 65 Jahre6.
Differenzierte Aussagen über die Situation schwuler und lesbischer Senior_in-
nen beruhen zurzeit auf vereinzelten, kleineren und meist qualitativ angelegten
Studien oder auf Beobachtungen und Gesprächen in sozialpädagogischen Kon-
texten7. Aus solchen Quellen geht aber sehr deutlich hervor, dass sich offenbar ein
Großteil der älteren Lesben und Schwulen, vor allem die Ältesten unter ihnen, für
ihre Homosexualität schämen und oftmals kein oder nur ein partielles Coming
Out vollzogen haben. Schließlich haben sie ihre Jugend und einen Großteil ihres
Erwachsenenlebens in einer Gesellschaft verbracht, in der Homosexualität krimi-
nalisiert, pathologisiert und verachtet wurde.
Sind deshalb Schwule und Lesben im Alter prinzipiell einsame, traurige Gestal-
ten? – Dieser Mythos begegnet mir seit meiner Jugend. Meine Mutter warnte mich
davor, eben so, als `alte, einsame Tunte zu enden, wenn ich mir das Schwulsein
nicht rechtzeitig abgewöhnen würde´. Ich wollte ihr nicht glauben und sah außer-
dem keine Möglichkeit für mich, anders als schwul zu leben. Heute leite ich die
Seniorenarbeit in der Schwulenberatung Berlin. Hier begegnen mir täglich ältere
Männer in ganz unterschiedlichen Lebenslagen. Die meisten älteren Männer, die
ich treffe, suchen und finden Wege, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen
und Gemeinsamkeit und Geselligkeit in einem für sie zufriedenstellenden Maße
zu erleben. In der Regel ist es nicht ihr Wunsch, einen möglichst großen Bekann-
tenkreis zu haben oder ständig unter Menschen zu sein. Viele ältere homosexuelle
Männer und Frauen sind im Gegenteil gewohnt, viel Zeit mit sich selbst zu ver-
bringen. Um sich nicht so allein zu fühlen, genügt den meisten, gelegentlich einen
guten Freund bzw. eine Freundin zu treffen. Gelingt es außerdem – zum Beispiel
über eine Beratungsstelle – den Zugang zu einer Gesprächs- oder Freizeitgruppe
zu finden und an deren Aktivitäten teilzunehmen, ist meist auch der weitergehende
Bedarf an Austausch gedeckt11.
Gerade für Ältere sind Orte, an denen Homosexualität selbstverständlich ist und
wo sie sich mit anderen Schwulen und Lesben austauschen können, sehr wichtig
(vgl. z. B. Schmauch 2010, S. 28). Oft sind allerdings die kommerziellen Angebote
eher auf Jüngere ausgerichtet. In den meisten Städten und Regionen besteht ein
außerordentlicher Mangel an geeigneten Treffpunkten, in denen es zum Gedan-
kenaustausch, zur gemeinsamen Freizeitgestaltung und zum Kennenlernen gerade
auch älterer Schwuler und Lesben kommen könnte (Sdun 2009).
Schwierig wird es, wenn sich die Isolation bzw. der Rückzug aus dem sozialen
Leben nicht allein auf den versteckten Umgang mit der Homosexualität zurück-
führen lässt, sondern auch auf geringe Einkünfte. Gerade ältere Lesben sind häufig
in der Situation, mit einer minimalen Rente auskommen zu müssen12. Zudem
hindern viele Senior_innen auch psychische oder körperliche Beeinträchtigungen
bzw. Mobilitätseinschränkungen daran, das Haus zu verlassen und sich unter
Menschen zu begeben.
Auf die besondere Problematik der HIV-Infektion vieler schwuler Männer im
Alter kann ich im vorliegenden Beitrag nicht ausführlich eingehen. Ich möchte nur
darauf hinweisen, dass diese Erkrankung trotz der inzwischen guten Therapierbar-
keit die Lebensqualität in mehrfacher Hinsicht beeinträchtigt und das Risiko, in
gesundheitliche und soziale Notlagen zu geraten, stark erhöht. Selbst in schwulen
Senioren-Freizeitgruppen ist das Thema bis heute meist noch tabuisiert und viele
11 In den meisten Städten und Regionen besteht allerdings ein außerordentlicher Mangel
an geeigneten Treffpunkten für ältere homosexuelle Menschen, an denen es zum
Gedankenaustausch, zur gemeinsamen Freizeitgestaltung und zum Kennenlernen
kommen könnte (Schmauch 2010, S. 28; Sdun 2009).
12 Vgl. Sdun 2009
Anders Altern 307
Betroffene fühlen sich somit mehrfach diskriminiert – aufgrund des Alters, der
Homosexualität und der HIV-Infektion.
Für ältere Homosexuelle, die sich aus den genannten Gründen sehr einsam füh-
len, gibt es seit einigen Jahren – allerdings nur in (meist großstädtischen) Regionen
Deutschlands – die Möglichkeit, ehrenamtliche Besuchsdienste in Anspruch zu
nehmen, die von schwulen oder lesbischen Einrichtungen bzw. Verbänden orga-
nisiert werden13. Ältere homosexuelle Menschen nutzen außerdem zunehmend
spezifische Internetportale zum Austausch bzw. zum Chatten und Kennenlernen.
Besonders beliebt bei älteren Männern ist schon seit einigen Jahren das Portal „Gay
Royal“, für lesbische Frauen gibt es „Lesarion“. Für einige homosexuelle Senioren
ist, wie ich aus Beratungsgesprächen weiß, die Aussicht, bequem, von zu Hause
aus neue, auch erotische Kontakte anzubahnen, sogar das Hauptmotiv, sich doch
noch mit neuen Technologien zu beschäftigen, sich einen Computer anzuschaffen
und den Umgang mit dem Internet zu erlernen14. Viele ältere Lesben und Schwule
sind inzwischen auch über die Freizeitaktivitäten von Selbsthilfegruppen, die sich
in den letzten Jahren vor allem in Ballungszentren, aber auch in vielen kleineren
Städten Deutschlands gegründet haben, informiert15. Beliebt sind Ausflüge, aber
auch Gesprächskreise und Treffen zum gemeinsamen Frühstück oder zum Kaffee
und Kuchen wie z. B. schon traditionell jeden Samstagnachmittag im Sub-Cafe in
München. An solchen Treffen und Aktivitäten nehmen vor allem die alleinstehenden
Männer und Frauen teil. Wie viele Schwule und Lesben im Alter über 65 wiede-
rum in einer festen Partnerschaft leben, ist aufgrund der oben schon erwähnten
statistischen bzw. Definitionsprobleme ungewiss. Allerdings gibt es inzwischen
einige Untersuchungen, die nahe legen, dass ein gutes Drittel der Gesamtgruppe
einen festen Freund bzw. eine feste Freundin haben und meist auch mit dem
Partner oder der Partnerin zusammen wohnen16. Es gibt auch Hinweise darauf,
zum ersten Mal eine Situation, in der sie das Gefühl entwickeln können, wirklich
ernst genommen und respektvoll behandelt zu werden.
Meine Erfahrung ist, dass Berater älterer schwuler Männer die Standards kli-
entenzentrierter Beratung besonders ernst nehmen müssen. Diese Klientengruppe
nimmt z. B. Verspätungen des Beraters zuweilen sehr persönlich und es kann
passieren, dass wegen einer vermeintlichen Respektlosigkeit wie z. B. einer kurzen
Verspätung kein Gespräch mehr zustande kommt18.
In Beratungsgesprächen mit Älteren geht es nicht selten um die Sehnsucht nach
einem Freund bzw. einer Freundin und um die Enttäuschungen und Einschrän-
kungen, die das Leben unter dem Verbot und der Ächtung der Homosexualität mit
sich brachten. Manche ältere Klient_innen haben aus Angst, mit einem Freund bzw.
einer Freundin eher aufzufallen, auf die Erfahrung einer Partnerschaft verzichtet.
Häufig fühlen sie sich regelrecht betrogen um eine Jugend, in der sich Liebe und
Sexualität nicht frei entfalten konnten. Auch im Gesprächskreis `Anders Altern´ der
Schwulenberatung Berlin19 sitzen ältere Männer von denen viele ihr Schwulsein im
Alltag verbergen. Einige haben erst durch die Unterstützung aus dem Gesprächs-
kreis den Mut gefunden, ihre Ehefrau und Kinder über ihre Homosexualität zu
informieren. Viele wissen in einer solchen Situation nicht, ob sie dennoch weiterhin
mit der ehemaligen Partnerin zusammenleben sollen, um wenigstens nach Außen
den Schein zu wahren. Bei denen, die sich für eine klare, auch räumliche Trennung
von der Ehefrau entschließen, ist häufig auch der Kontakt zum Rest der Familie,
zu Kindern oder Enkelkindern gestört. Über ältere frauenliebende Frauen gibt
es ähnliche Berichte20. Bei Nachbar_innen, Ärzt_innen und in der Öffentlichkeit
wollen homosexuelle Senior_innen meist nicht „auffallen“. Der einfachste Weg
nicht aufzufallen ist, Menschen generell aus dem Weg zu gehen. So wundert es
nicht, wenn eine als repräsentativ geltende Studie in Nordrhein-Westfalen über die
Einsamkeit schwuler Männer zu dem Ergebnis kommt, dass ca. 50 % der befragten
Älteren teilweise oder sogar sehr isoliert leben 21.
Der verschämte Umgang mit der eigenen Homosexualität und die damit verbun-
dene Angst vor Diskriminierung, die viele homosexuelle Senioren und Seniorinnen
daran hindert, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten oder schwule bzw.
lesbische Freizeitangebote wahrzunehmen, ist nach meiner Erfahrung vor allem bei
den heute über 70jährigen verbreitet. Betroffen ist somit gerade jene Altersgruppe,
die häufig wegen Pflegebedürftigkeit auf die Unterstützung von anderen Menschen
noch stärker angewiesen ist. Angehörige dieser Generation sind auch besonders
skeptisch, was den gesellschaftlichen Wandel der Haltung gegenüber Schwulen und
Lesben angeht. Zuweilen stoße ich bei meinen ältesten Klienten auf große Ängste
vor wieder aufkeimenden schwulenfeindlichen Bewegungen: `Ich solle bloß nie-
mandem von meiner Homosexualität erzählen´, warnte mich erst kürzlich wieder
ein 87jähriger pflegebedürftiger Mann. `Er sei sicher, dass die toleranten Zeiten
bald wieder vorbei wären´. Aber auch schon die über 60jährigen sind in der Regel
der Ansicht, dass Schwule und Lesben in der Öffentlichkeit keine Verhaltensweisen
an den Tag legen sollten, mit denen sie sich als homosexuell zu erkennen geben.
`Schwule und Lesben, die z. B. mit ihren Partnern und Partnerinnen auf der Straße
Hand in Hand gehen oder sich küssen, würden ihre Umgebung provozieren und
seien selber Schuld, wenn sie daraufhin angegriffen würden´, so die fast einhellige
Meinung im Gesprächskreis `Anders Altern´.
Es liegt auf der Hand und ist auch eine Erfahrung meiner inzwischen über
zehnjährigen Berufspraxis, dass homosexuelle Männer und Frauen, die mit der-
artigen Einstellungen und Ängsten in Pflegeeinrichtungen oder Heime umziehen
müssen, selten in der Lage sind, gute Kontakte zu anderen Bewohner_innen und
Pfleger_innen aufzubauen. Sie fühlen sich fremd, unverstanden, als Außensei-
ter_innen und fürchten sich davor, dass sich das Gerücht ihrer Homosexualität
im Haus verbreiten könnte. Vor dieser Situation haben auch die „jungen Alten“
große Angst, vor allem jene, die bereits einen Großteil der Freund_innen und
den Kontakt zur Familie verloren haben. Sie befürchten, z. T. zu recht, eines Tages
in Heime abgeschoben zu werden, die auf homosexuelle Bewohner_innen nicht
eingestellt bzw. nicht vorbereitet sind.
Viele ältere Schwule und Lesben wünschen sich deshalb alternative Wohnfor-
men, in denen Homosexualität selbstverständlich gelebt werden kann. Und sie
wünschen sich verständnisvolle und hilfsbereite, am liebsten „gleichgesinnte“
Menschen in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld 22. Lesbische Frauen haben sich
seit den 90er Jahren, z. T. schon früher, darum gekümmert, Möglichkeiten für
ein gemeinschaftliches Wohnen im Alter zu realisieren 23. So gelang es z. B. einer
kleinen Gruppe von Frauen, einen Frauenwohnstift (SAPPhO) zu gründen, der
24 Ältere lesbische Frauen leben auch oft in einer Hausgemeinschaft mit heterosexuellen
Frauen wie z. B. im Hexenhaus in Berlin (vgl. www.frauenwohnprojekte.de), dem
Berliner Lesben- und Frauenprojekt „Offensives Altern e. V.“ oder in den zahlreichen
Beginehäusern bzw. –höfen, die es inzwischen in vielen deutschen Städten gibt. Die
Häuser stehen zumeist Frauen aller Altersgruppen offen (vgl. Haarbusch 2005).
25 www.villa-anders-koeln.de
26 Ein ausführlicher Rückblick auf das erste Jahr „Wohnen und Leben in einem Mehrge-
nerationenhaus“ bzw. im Lebensort Vielfalt geben Pulver und Schmidt 2012
27 In diesem Kontext fällt häufig der Begriff der „Wahlfamilie“. (vgl. hierzu eher skeptisch
Wernicke 2008)
312 Marco Pulver
Viele Menschen, die älter werden, haben Angst davor, eines Tages pflegebedürftig
zu werden, zumal wenn sie – wie viele homosexuelle Senioren und Seniorin-
nen – befürchten müssen, dass sie nicht auf Freunde oder Familie als Pflegende
zählen können. Ältere homosexuelle Männer und Frauen befürchten vor allem,
dass ein Umzug in ein Pflegeheim unumgänglich werden könnte und dass sie
sich gegenüber Pfleger_innen und Mitbewohner_innen verstellen bzw. ihre Ho-
mosexualität verstecken müssten29. Aber wie ergeht es den älteren und zurzeit
28 Lautmann 2012
29 Vgl. hierzu Landeshauptstadt München, Koordinierungsstelle für gleichgeschlechtliche
Lebensweisen 2004
Anders Altern 313
pflegebedürftigen Schwulen und Lesben tatsächlich? Wie ergeht es denen, die von
ambulanten Pflegediensten in ihrer eigenen Wohnung versorgt werden? Wie ist
die Situation in herkömmlichen Pflege- und Altenheimen? Eine aktuell laufende
Studie zur Situation von pflegebedürftigen Schwulen und Lesben ist zurzeit leider
noch nicht abgeschlossen30. Die folgende Darstellung beruht deshalb vor allem auf
Beobachtungen und Berichten einzelner Betroffener und Angehöriger sowie enga-
gierter Pfleger_innen31. Von ihnen wird insbesondere die Situation in stationären
Einrichtungen kritisiert. Hier sind Lesben und Schwule zurzeit offenbar schlecht
versorgt, selbst dann, wenn die medizinische- bzw. Grundpflege zufriedenstellend
ist. Denn in der Regel setzen die Mitarbeiter_innen in Pflegeeinrichtungen, sofern
sie nicht selbst schwul oder lesbisch sind, eine heterosexuelle Durchschnittsbio-
graphie bei zu pflegenden Menschen fraglos voraus. Weder die Pfleger_innen noch
die Einrichtungen insgesamt sind in der Mehrheit darauf eingestellt, dass sie auch
schwule und lesbische Menschen betreuen (vgl. auch Scheffler und Schröder i. d. B.).
Als z. B. ein Praktikant des Netzwerks `Anders Altern´ im Jahr 2012 Kontakt
zum Leitungspersonal zahlreicher Berliner Seniorenwohnheime und Pflegeeinrich-
tungen aufnahm, um diese über kostenlose Beratungs- und Freizeitangebote für
schwule Senior_innen zu informieren, wurde er häufig darauf hingewiesen, `dass
es „dieses Problem“ in dem jeweiligen Haus nicht geben würde. Homosexuelle
bzw. Homosexualität käme dort gar nicht vor. Ein weiterer Kontakt zwischen dem
Netzwerk Anders Altern und der jeweiligen Einrichtung war nicht gewünscht´. Bei
dieser Grundhaltung bleiben die homosexuellen Bewohner_innen unerkannt und
es zeigt sich niemand, der über seine Situation befragt werden könnte.
Zum Glück ist Pflege meist ambulant in der eigenen Wohnung durchführbar
und der Umzug in ein Pflegeheim oft selbst bei größerem Pflegeaufwand vermeid-
bar. Nach meiner Erfahrung sind ältere schwule Männer mit Pflegebedarf, die
in ihrer eigenen Wohnung wohnen, eher enttäuscht über die Unzuverlässigkeit
vieler Pflegedienste oder den häufigen Wechsel der Pfleger_innen, als dass sie
sich über Schwulenfeindlichkeit beschweren würden. Dennoch erkundigen sich
homosexuelle Senioren_innen oft nach „geeigneten“ Pflegediensten. Viele wün-
schen sich Pfleger_innen, die selbst schwul bzw. lesbisch sind. Lesbische Frauen
30 Bei der zurzeit laufenden Studie über „Die Lebenssituation von gleichgeschlechtlich lie-
benden Frauen und Männern in der ambulanten und teil-/stationären Altenpflege“ handelt
es sich um ein Promotionsprojekt am Institut für Public Health und Pflegeforschung der
Universität Bremen unter Leitung von Heiko Gerlach und Markus Schupp. Vgl. http://
www.ipp.uni-bremen.de/pages/projekte/projektBeschreibung.php?SPRACHE=de&pro-
jektId=139.
Über homosexuelle Männer und Frauen in der ambulanten Pflege vgl. Franke 2003
31 Vgl. beispielsweise Klein (2003) und Gerlach (2010)
314 Marco Pulver
möchten zumindest von Frauen gepflegt werden. Wenn wegen eines besonders
hohen Pflegebedarfs oder wegen einer dementiellen Störung die ambulante Pflege
in der eigenen Wohnung nicht mehr länger möglich ist, bietet sich in vielen Fällen
als Alternative zur stationären Unterbringung ein Umzug in eine Pflege-Wohn-
gemeinschaft an. Wohngemeinschaften erscheinen als eine besonders geeignete
Form der Unterbringung für pflegebedürftige Lesben und Schwule, weil hier mit
verhältnismäßig wenig Aufwand Voraussetzungen geschaffen werden können,
homosexuelle Identitäten bzw. Lebensweisen auch bei Pflegebedürftigkeit und
Krankheit zu erhalten und zu stützen.
Zurzeit sind mehrere Wohngemeinschaften für homosexuelle Männer und Frauen
in Planung32. Bereits eröffnet ist die oben schon erwähnte Wohngemeinschaft im
Lebensort Vielfalt. Die Männer, die dort wohnen, waren vorher oft in herkömmli-
chen Pflegeeinrichtungen untergebracht und lebten hier zum Teil ausschließlich mit
Frauen zusammen. Die Homosexualität war im besten Falle bedeutungslos. In der
WG im Lebensort Vielfalt gewinnt das Schwulsein seine einstige Bedeutung wieder
zurück. Der offene Umgang mit der eigenen Homosexualität trägt zur Steigerung
des Selbstwertgefühls bei und wird zu einem wichtigen Faktor bei der Bewältigung
der schwerwiegenden Verluste, mit denen sich die Bewohner im Hinblick auf
ihre körperlichen und anderen Einschränkungen tagtäglich konfrontiert sehen.
Mit anderen Worten: Die Normalität des Schwulseins zu erhalten ist besonders
wichtig in einer Situation, in der das Leben aufgrund von Krankheit zunehmend
an Normalität einbüßt. Und in sofern ist es durchaus sehr bedeutsam, dass an
den Flurwänden und in den Zimmern der Bewohner der erwähnten WG selbst-
verständlich Bilder von (nackten) Männern hängen oder dass sich die Bewohner
für Männerbesuche nicht schämen müssen. Dadurch, dass Homosexualität in der
WG selbstverständlich bzw. Normalität ist, entsteht für die Bewohner schnell das
Gefühl, wirklich ein neues Zuhause gefunden zu haben.
Die erwähnte Wohngemeinschaft ist leider noch eine große Ausnahme. Wie ich
oben schon ausgeführt habe, sieht die Realität in den herkömmlichen Einrichtungen
anders aus. Hier fühlen sich homosexuelle Bewohner und Bewohnerinnen selten
heimisch. Um diese Situation zu ändern, engagieren sich schon seit vielen Jahren
einige schwule und lesbische Pflegeexpert_innen bei Behörden und Verbänden
für eine Verbesserung der Pflegesituation von Lesben, Schwulen und transidenten
Menschen33. Durch diesen sehr engagierten Einsatz gelingt es allmählich, das The-
Sie kämpfen auf diese Weise für die Verwirklichung der Grundsätze kultursensibler
Pflege im weitesten Sinne, hier verstanden als eine Form der Pflege, die die Vielfalt von
Lebensweisen respektive sexuellen Identitäten berücksichtigt. Vgl. die zahlreichen Pu-
blikationen von Heiko Gerlach zum Thema Homosexualität in der Pflege; z. B. Gerlach
2010, ders. 2011.
34 Vgl. z. B. Hessisches Ministerium für Arbeit, Familie und Gesundheit 2010
35 vgl. Bündnis für Fachkräftesicherung in der Altenpflege. www.dienstleistungsmetro-
pole-berlin.de/de/downloads/20130515_Einladung_Pflegebuendnis.pdf. Zugegriffen:
22.Januar 2014
36 Im Oktober 2005 wurde in Hamburg das Seniorenzentrum Hagenbeckstraße als das
erste lesbenrespektierende Altersheim in Deutschland zertifiziert. Das Zertifikat wur-
de überreicht vom Hamburger Facharbeitskreis anders altern und dem Lesbenverein
Intervention e. V. (Trampenau 2006)
37 (…) nicht nur in Berlin: z. B. organisierte auch die Arbeiterwohlfahrt Düsseldorf im
November 2012 eine Veranstaltung mit dem Titel „AWO trifft Generation Stonewall“,
um mit Lesben und Schwulen über Voraussetzungen für eine zielgruppenspezifische
Unterstützung im Alter zu diskutieren und passende Angebote zu entwickeln (www.awo-
duesseldorf.de/ueber-uns/news/2012/12/awo-trifft-generation-stonewall/. Zugegriffen:
22.Januar 2014
316 Marco Pulver
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318 Marco Pulver
Ältere lesbische, schwule, bi* und trans* (LSBT) Menschen sind in unserer Ge-
sellschaft wenig sichtbar und werden kaum gesehen. Es gibt fast keine öffentlichen
Vorbilder und meist noch weniger Beispiele im privaten Umfeld, gerade auch
dann, wenn diese Menschen nicht mehr aktiv im Arbeitsleben stehen. Diese
Unsichtbarkeit führt u. a. Pulver (i. d. B.) auf die erlebte Diskriminierung noch
in der jüngeren deutschen Geschichte zurück. Eine damit verbundene Angst vor
Ablehnung und Stigmatisierung verhindert häufig ein Outing (Pulver 2007). Ge-
sellschaft lich und gesetzlich hat sich in den letzten Jahren einiges zugunsten einer
Gleichstellung verändert, u. a. durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz
(2006). So hebt bspw. Pechriggl (2008, S. 40) hervor, dass eine Gesetzgebung ‚expi-
zite Form‘ ist und „positiv normativ (und nicht mehr nur im negativen Sinne eines
grundrechtlichen Schutzes gegen Diskriminierung) von der Mehrheit anerkannt
(wird)“. Jedoch stehen in den öffentlichen Diskursen in der Regel Jugendliche oder
familiäre Themen mehrheitlich im Fokus – LSBT im Alter ist (fast) kein Thema.
Im Zuge des demografischen Wandels und der Angst vor der „Altenplage“ und
„Rentnerschwemme“2 (Kramer 2008, S.18) gibt es starke Bemühungen, Alter mit
politischen Mitteln umzudefinieren und in der öffentlichen Wahrnehmung po-
sitiv zu besetzen (ebd.). Alte sind nun ‚Kompetenzträger‘, sind mit ‚fünfzig jung‘
und die Bundesagentur für Arbeit konstatiert das „Ende des Jugendwahns“ (zit.
n. Kramer ebd., S. 21). Damit einhergehend ist die Tendenz zu beobachten, Alter
differenzierter wahrzunehmen. Nun gibt es bspw. Diskussionen über kultursensible
1 Zitate aus Interviews, wie bspw. diese Aussage, sind im Text in Anführungszeichen
gesetzt.
2 Nach Kramer (2008, S. 18) „Unwörter der Jahre 1995/96“.
möchten wir kurz einige Ergebnisse aus den Erhebungen vorstellen, die sich zum
einen auf das Bild bzw. die Wahrnehmung von älteren LSBT-Menschen beziehen,
zum anderen auf den Umgang mit dem Instrument der Seniorenleitlinien. Vorab
sollen jedoch die Leitlinien von 2005 einer kurzen Analyse im Hinblick auf die Art
und Weise der Sichtbarmachung von älteren LSBT unterzogen werden.
Als Ziel der Schrift „Politik für Seniorinnen und Senioren – Berliner Leitlinien
2005“7 (im Folgenden Seniorenleitlinien genannt) wird die Einflussnahme der
Landesregierung auf den gesellschaftlichen Diskurs um das Alter genannt. Es soll
ein „neues, realistischeres und differenzierteres Bild vom Alter“ (S. 6) zugunsten
eines „Kompetenzansatzes“ (S. 4) statt eines „Defizitansatzes“ (S. 4) angestoßen
werden. Mit dem politisch formulierten Grundsatz wird ein gesellschaftlicher
Wertewandel im Hinblick auf die Wahrnehmung des Alters angestrebt. Über die
politische Landesverwaltung ‚Soziales‘ soll sowohl auf die weiteren landespolitischen
Ressorts Einfluss genommen werden, aber auch auf die kommunalen Verwaltungen,
Interessenverbände und Auftragnehmer.
In den Seniorenleitlinien gibt es insgesamt zehn Kapitel. Im sechsten Kapitel mit
der Bezeichnung: „Spezielle Zielgruppen der Politik für Seniorinnen und Senioren“
(S. 40-47) sind vier unterschiedliche Gruppen von älteren Menschen zusammenge-
fasst: „6.1 Alt werden in der Fremde – Menschen mit Migrationshintergrund“; „6.2
Gleichgeschlechtliche Lebensweisen im Alter“; „6.3 Ältere Menschen mit Behinde-
rungen“; „6.4 Ältere Menschen mit psychischen Erkrankungen“. Bemerkenswert
ist, dass eine Landesregierung in 2005 gleichgeschlechtliche Lebensweisen im Alter
als ein Handlungsfeld identifiziert und damit in eine breitere offizielle und damit
öffentliche Wahrnehmung rückt. Kritisch zu sehen ist, dass durch die Benennung
als „spezielle Zielgruppe“ die Leitlinien gleichgeschlechtliche Lebensweisen als
etwas ‚Spezielles‘ und damit abseits des Normalen hervorheben8. Das Dilemma,
das sich durch den Diskurs um LSBT9 zieht, zeigt sich auch hier. Durch eine ‚Spe-
zialbehandlung‘ werden gleichgeschlechtliche Lebensweisen von den ‚normalen,
heterosexuellen‘ Älteren abgegrenzt und damit stigmatisiert. Andererseits erfordert
eine Enttabuisierung das Sichtbarmachen von Vorurteilen, Diskriminierungen,
diskriminierten Gruppen und fordert damit zu einer spezifischen Nennung her-
aus10. Auffällig ist weiterhin, dass „gleichgeschlechtliche Lebensweisen“ in guter
alter (heteronormativer) Tradition in das Umfeld von ‚Krankheit‘ und ‚Fremdheit‘
gestellt werden. ‚Spezielle Zielgruppen‘ könnten bspw. auch arme oder christliche
alte Menschen sein, die besonders berücksichtigt werden müssten. ‚Geschlechts-
spezifische Aspekte des Alterns‘ sind immerhin unter Kapitel 2 „Demografische
und sozioökonomische Determinanten des Alters aufgeführt – ein Verdienst
jahrzehntelanger feministischer- und Gleichstellungspolitik11.
Wie aufgezeigt, lässt sich bereits aus der Stellung im Bericht und der Wortwahl
zwar der gute Wille herauslesen, der aber dennoch unter einer nicht reflektierten
Heteronormativität leidet. Heteronormativität soll dabei im Anschluss an Klapeer
(i. d. B.; vgl. auch Pechriggl (2008); Ziegler (2008)) nicht als „Norm der/ zur Zweige-
schlechtlichkeit und Heterosexualität“ (Klapeer i. d. B.) verstanden werden, sondern
als dynamische, machtkritische ‚Lesarbeit‘ im historischen Wandel bzw. geht es
darum, dem „Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit die Selbstverständlichkeit zu
rauben“ (Ziegler 2008, S 17). So diskutiert Klapeer weiter, dass sich perspektivisch
Diversitätskonzepte nicht mehr nur an einer additiven Sichtweise orientieren soll-
ten – „LGBTIQs als hinzuzufügende, bisher ausgeschlossene ‚Minderheitengruppe‘
fassen“ -, sondern „Normalitäten grundsätzlich in Frage zu stellen sind“ (i. d. B.,
Hervorh.i.O). In den Seniorenleitlinien von 2005 wird diese ‚hinzuzufügende‘
Sichtweise sehr deutlich.
Ähnlich wie die verstärkten Bemühungen im Bereich der Altenpolitik parallel
mit der steigenden Zahl von alten und hochalten Menschen einhergehen, wird die
Rubrik „gleichgeschlechtliche Lebensweisen“ im ersten Satz mit der Nennung der
Anzahl von lesbischen und schwulen Menschen eingeführt: „In Berlin leben ca.
9 Das Dilemma bezieht sich nicht nur auf LSBT, sondern auf alle Gruppen, die im jewei-
ligen kulturellen Kontext als ‚anders‘ gelten und damit nicht der herrschenden Norm
entsprechen.
10 vgl. dazu i. d. B.: Einleitung; Kleiner.
11 Natürlich ist auch die Formulierung „gleichgeschlechtliche Lebensweisen“ zu hinterfra-
gen, denn die hier implizierte Öffnung ist nur bedingt, denn alle Menschen, die sich als
nicht-hetero fühlen, aber sich dennoch nicht als „gleichgeschlechtlich“ verstehen, sind
ausgeschlossen wie bspw. trans*, bi* oder inter* Menschen. Zudem fragt sich die_der
Leser_in, ob sich auch alleinlebende Menschen als „gleichgeschlechtlich“ lebend ver-
stehen?
„Bei uns gibt es dieses Problem nicht“ 323
40.000 homosexuelle Männer und Frauen, die älter als 65 Jahre sind“ (ebd., S. 42).
Implizit verweist dies auf ein Wechselverhältnis von Handlungs- bzw. Rechtferti-
gungsschemata in dem Sinne ‚erst wenn die Anzahl eine kritische Zahl erreicht,
ist Handeln geboten‘. Oder auch: ‚da es eine große Anzahl von lesbischen und
schwulen Alten gibt, können wir handeln‘. Impliziert ist die Einstellung, diskrimi-
nierende Strukturen nicht grundsätzlich zu hinterfragen, sondern erst dann, wenn
eine kritische Masse erreicht ist. Einen Einblick ob und wie LSBT-Menschen in
Senioren- und Pflegeeinrichtungen wahrgenommen werden, geben die Ergebnisse
unserer Fragebogenerhebung im Folgenden wider.
Im Jahr 2010 entwickelte ein freier Träger der LSBTI-Community Berlin (vgl.
auch Pulver i. d. B.) ein kostenloses Qualifizierungsangebot zur Sensibilisierung
von Pflegekräften für die Bedürfnisse von lesbischen und schwulen Menschen in
der Betreuung. Sehr erstaunt waren sie, als die Mehrheit der Einrichtungen, die
sie kontaktierten, ihnen mitteilten „wir haben dieses Problem nicht“ (Scheffler,
Schondelmayer, Schröder 2012, S. 19)12. Bedeutsam an diesem Sachverhalt ist, dass
die gefragten Pflegeeinrichtungen nicht nur keine Sensibilität und kein Interesse
vermittelten, daran etwas zu ändern, wichtiger ist vielmehr, dass schwule und
lesbische Bedürfnisse als „Problem“ interpretiert werden. Die Anforderungen
einer diesbezüglichen differenzierten Pflege werden als Abweichung vom Norma-
len wahrgenommen, die Schwierigkeiten erzeugt, denen man nicht zu begegnen
wünscht. Die Frage ist, ob diese Haltung die Betreuungslandschaft prägt? Eine
Fragebogenbefragung im Jahr 2011 (Scheffler et al 2012, S. 17ff.)13 von Leitungs-
12 Diese Erfahrung ist kein Einzelfall. Bei einer Tagung der Schwulen ALTERnative NRW,
RUBICON, Schwules Netzwerk NRW (2005) wird bspw. Folgendes beschrieben: „Paul
berichtet von der vor ca. 2 Jahren im Rubicon gegründeten Gruppe, die mit ca. 10 Männern
sich bereit erklärte, älteren Schwulen ihre Hilfe anzubieten. Es wurden damals 600 Flyer
an sämtliche sozialen Institute und Einrichtungen (Kirche und Wohlfahrtsverbände)
versendet, um auf sich aufmerksam zu machen. Endlich nach einem Jahr! hat die Arbeit
jetzt gefruchtet. Betreut werden nun von der Gruppe 12 Männer, die teilweise in einem
Altenheim wohnen. Interessanterweise ist auch die Leitung eben dieser Einrichtung
jetzt aufmerksam geworden und sagte eine enge Zusammenarbeit zu“ (S. 21).
13 Im Zeitraum von Mitte Oktober bis Ende Dezember 2011 führte die e-fect eG im Kontext
der Gesamtevaluation der Abgeordnetenhausinitiative (s. o.) eine Fragebogenbefragung
durch. Dies war eine nach Art der Einrichtung (ambulant/stationär) und Stadtbezirken
324 Ute B. Schröder und Dirk Scheffler
14 Sind Ihnen die Berliner Leitlinien für die Seniorenpolitik aus dem Jahr 2005 bekannt? Ja:
Stationär =58 %/ zu ambulant = 32 %: Kennen Sie die Empfehlungen der Leitlinien zur
Berücksichtigung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen bei der Arbeit mit Senior_innen?
Ja: Stationär = 36 %/ zu ambulant 36 %. Ist Ihnen der Diversity-Ansatz (Wertschätzung
von Vielfalt) bekannt? Ja: stationär= 61 %/ zu ambulant = 46 %.
326 Ute B. Schröder und Dirk Scheffler
In der Studie „Zur Wirksamkeit von Strategien und Methoden zur Bekämpfung von
homophoben Diskriminierungen zum Schutz und zur Förderung der Akzeptanz
sexueller Vielfalt“ (Scheffler und Schröder 2012), durchgeführt im Jahr 2011, wurden
in sechs Berliner Stadtbezirken insgesamt vier Bezirksbürgermeister_innen, sechs
Stadträt_innen des Bereichs ‚Jugend‘, vier Stadträt_innen des Bereichs ‚Soziales‘16
und sechs Querschnittsbeauftragte (4 Integrationsbeauftragte, 2 Gleichstellungs-
beauftragte) in ca. halbstündigen, narrativ-leitfadengestützten Interviews befragt17.
Die Studie weist insgesamt auf, dass zum Thema sexuelle Vielfalt keine im Sinne
einer langfristigen, systematischen Ziel-Mittel-Analyse vorhandenen Strategien in
den Bezirken und Bezirksverwaltungen zu finden sind. Eine Studie zum Umgang
mit Vielfalt in der Berliner Verwaltung zeigt folgende Diskrepanz auf: “Während
die Mehrheit der Personalverantwortlichen angab, zwischen Mitarbeitenden mit
verschiedenen sexuellen Identitäten bestünde ein „offener Umgang“ und es gebe keine
Probleme, bestehen laut den Aussagen des Fachbereichs für gleichgeschlechtliche
Lebensweisen, der LADS, in der Verwaltung dieselben Vorurteile und Vorbehalte
wie in der restlichen Gesellschaft. Zudem sei nach wie vor nicht im Bewusstsein der
Verwaltungsmitarbeitenden präsent, dass die Gleichberechtigung von Menschen
unterschiedlicher sexueller Identität seit 2004 in Berlin gesetzlich verankert ist“
(Landesstelle für Gleichbehandlung gegen Diskriminierung, Senatsverwaltung
für Integration, Arbeit und Soziales 2011, S. 65). Dennoch gibt es verschiedene
kommunale Aktivitäten bzw. sind Strategien in Planung, was perspektivisch ein
systematischeres Handeln vermuten lässt. Die Mehrheit der Maßnahmen zielt auf
Sensibilisierung, Aufklärung, Wissensvermittlung und das Zeigen einer akzeptie-
renden Haltung in der Öffentlichkeit ab. Verbreitet sind Maßnahmen wie bspw. das
Hissen der Regenbogenflagge, die Verbreitung von Informationsmaterialien und
S1: Also, mhm, ich will mal damit anfangen dass wi:r im Be-
zirk und als Bezirksamt bisher keine, sozusagen gemein-
sam entwickelte und abgesprochene geschlossene Strategie
haben. Das muss man so ganz klar sagen, ähm, sicherlich
auch deshalb weil wir (.)sag ich mal, Anlass gegeben,
nicht unbedingt massiven öffentlich wahrnehmbaren Druck
hatten.
„Bei uns gibt es dieses Problem nicht“ 329
S2: Also mein Punkt ist ja, dass ich ¿nde, dass in der Groß-
stadt Berlin und in unserem Bezirk, also Innenstadtbezirk
vielleicht noch mehr, homosexuelle Männer und Frauen
dermaßen zur Normalität gehören, dass ich jetzt in der
allgemeinen Öffentlichkeit überhaupt keinen Bedarf mehr
sehe.
Solange dies nicht geschieht, erfolgt auf der Basis eines ‚reagierenden Handlungs-
verständnisses‘ keine Eigenthematisierung. Allerdings ist, wie Pulver (i. d. B. und
2007) aufzeigt, die aktive Einforderung von Rechten seitens LSBT-Senior_innen
aufgrund von Tabuisierungen und Ängsten weitgehend marginal.
In den zitierten Passagen zeigt sich, dass sexuelle und geschlechtliche Vielfalt
vor dem Hintergrund eines ‚integrativen Normalitätskonzepts‘ verhandelt wird –
sexuelle Vielfalt ist Bestandteil des Alltags und damit Selbstverständlichkeit. So
kann die Orientierung an „Normalität“ auch als ‘bürgerlich-tolerante‘ Haltung
charakterisiert werden, bei der es weder eine negative Einstellung noch Berüh-
rungsängste zu lesbisch, schwulen, bi- und transgeschlechtlichen Lebensweisen
gibt (vgl. auch Scheffler, Schmidt, Schondelmayer 2012, S. 15f.). Sexuelle und ge-
schlechtliche Vielfalt wird als Normalität gesehen, mit der selbstverständlich und
damit vorurteilsfrei umgegangen wird. Die Normalität dieser toleranten Haltung
kann allerdings dazu führen, diese bspw. im Arbeitsalltag nicht mehr zu hinter-
fragen (z. B. bezüglich Sprache sensibel zu sein und diese zu reflektieren), deren
Umsetzung im eigenen Handeln zu überprüfen bzw. wie aufgezeigt, das Thema
als nicht relevant für sozialpolitisches Handeln wahrzunehmen. So gehört zum
Beispiel aus Sicht verschiedener Stadträt_innen in der Verwaltung der Umgang
mit Menschen mit gleichgeschlechtlicher Lebensweise „ein Stück weit zur tägli-
chen Arbeit einfach dazu“ und wird dementsprechend „in vielen Fällen auch gar
nicht als was Besonderes oder so registriert“. Aufgrund des alltäglichen Umgangs
wird geschlussfolgert, dass es für die Mitarbeitenden „normal“ ist, mit lesbischen,
schwulen und transgeschlechtlichen Menschen in Kontakt zu sein, und aus der
Normalität wird automatisch ein toleranter und akzeptierender Umgang der Mit-
arbeitenden abgeleitet. Eine tolerante Haltung kann aber auch damit einhergehen,
auszugrenzen, ohne dies zu bemerken bzw. nur scheinbar zu integrieren (ebd. S. 16).
So werden bspw. in einem Interview lesbische und schwule Menschen als „Mitbür-
ger“ bezeichnet, während von heterosexuellen Menschen als „Bürger“ gesprochen
wird. Oder in allen Interviews mit den Stadträt_innen sprechen diese in Bezug
auf LSBT als ‚nicht vorhandenes‘ „Problem“, woran bereits an der Formulierung
‚Problem‘ deutlich wird, dass LSBT implizit nicht selbstverständlich ist, denn es
erfolgt eine sprachliche Abgrenzung. Damit wird bereits im Sprachgebrauch eine
Differenzierung getroffen, die implizit ‚normale‘ und ‚nicht normale‘ Lebensweisen
unterscheidet.
Obwohl bei allen interviewten Stadträt_innen eine gemeinsam geteilte Orien-
tierung an der sozialpolitischen Dringlichkeit und ein integratives Verständnis von
Normalität vorliegen, ergibt sich daraus keine identische Handlungskonsequenz.
Während drei Sozialsstadträt_innen dem Thema LSBT im Alter keine Aufmerksam-
keit schenken, da sie keinen Bedarf dafür sehen, sieht eine vierte Sozialstadträt_in
zwar auch keinen Bedarf, setzt sich aber dennoch auf verschiedenen Ebenen in
ihrem Arbeitsbereich für die Sichtbarkeit von LSBT im Alter ein. Grund dafür ist,
dass ihre zentrale Handlungsorientierung eine ‚politisch-gestaltende‘ ist. Sie hat
das Anliegen, aus einem „akzeptierenden Bereich“ heraus, Einfluss zu nehmen mit
dem Ziel, „Interessenlagen“ aufzugreifen und sich „positiv dem Thema zu nähern“.
S1: Also ich ¿nde, das ist etwas neben den aufklärerischen
Aspekten von denen Frau Meier gesprochen hat. Ich ¿nde
dieses sozusagen – dass es ein hohes Maß an Normali-
tät gibt und dass man ¿nde ich, auch gut beraten ist
in der Kommunalpolitik, dafür zu sorgen, dass es diese
Normalität auch hat. Akzeptanz, Toleranz ¿nde ich, kann
„Bei uns gibt es dieses Problem nicht“ 331
Normalität ist aus dieser Sicht nicht von vornherein gegeben, sondern muss über
politisches Handeln erzeugt bzw. langfristig gesichert werden.
19 www.landessenioren-beirat.de
332 Ute B. Schröder und Dirk Scheffler
Von ihrer Zielstellung her gehen die Seniorenleitlinien von 2013 über das in 2005
formulierte Anliegen hinaus. 2005 hieß es, sie sollen zum Dialog anregen: „Anstoß
geben zu einer intensiven politischen Erörterung“ (S. 3). In 2013 werden damit zwei
„ambitionierte Ziele“ (S. 5) verfolgt: zum einen sollen sie das politische Handeln
leiten: sie (sollen) „Richtschnur der Politik für ältere Menschen (…) sein“, zum
anderen sollen sich die Angesprochenen sowie „junge Menschen als so genannte
Alte von morgen“ (2013, S. 5) aktiv an der Realisierung der Leitlinien beteiligen:
„sie sollen als Einladung verstanden werden, die Leitlinien mit Leben zu füllen“
(ebd.). Je ambitionierter das Ziel ist, umso wichtiger werden die Formulierung
der Problematiken und das dahinter stehende Verständnis. Denn bereits mit der
Formulierung der Leitlinien wird ein Bild entworfen, das die gesellschaftliche Art
und Weise der Wahrnehmung der dort genannten Themen beeinflusst.
Die Leitlinien von 2013 zeigen einen großen Fortschritt. In siebzehn gleichbe-
rechtigten Kapiteln wird eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungsfelder genannt.
Diese sind jeweils in zwei Abschnitte unterteilt: einmal der Bestandsaufnahme
sowie Ziele und konkrete Vorhaben des Senats. Diese verweisen auf den Willen,
tatsächlich zu Handeln. Die Bezeichnung „gleichgeschlechtliche Lebensweisen“
ist ersetzt durch „Ältere Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlecht-
liche Menschen“, bezieht damit alle Lebensformen ein und steht als Themenfeld
sogar an achter Stelle. Auch Inhalt und Formulierungen im Kapitel selbst zeigen
einen überraschenden Fortschritt. Zwar wird noch der zahlenmäßige Eyecatcher
von 40.000 über 65jährigen Lesben und Schwulen genannt, jedoch steht er nicht
mehr an der allerersten Stelle und gleich im Anschluss, im ersten Abschnitt, wird
in die Thematik trans- und intergeschlechtliche Menschen eingeführt. Insgesamt
zeigen die Leitlinien eine erfrischende Weiterentwicklung der Orientierung.
Von der ursprünglich ‚additiven Sichtweise‘ (Klapper, i. d. B.) hin zu einer Politik
des Selbstverständnisses. Ältere LSBT werden nicht mehr als Minderheit, deren
Integration gefördert werden sollte, eingestuft, sondern als selbstverständlicher
Bestandteil der Bevölkerung, der entsprechend berücksichtigt werden muss.
„Bei uns gibt es dieses Problem nicht“ 333
Während die Senatsverwaltung hiermit auf der Ebene der politischen Forderung
eine Vorreiterrolle einnimmt, ist weiter darauf hinzuwirken, dass tatsächliche
Veränderungen der Wahrnehmung und des Handelns auf allen Ebenen selbstver-
ständlich werden. Sinnvoll ist die Entwicklung von längerfristigen Strategien mit
überprüfbaren Zielen, Meilensteinen und Leitbildern, an denen sich Aktivitäten und
Maßnahmen messen lassen. Insgesamt ist die Etablierung einer Diverstiy-Kultur
notwendig, in der die Selbstverständlichkeit (nicht nur) sexueller und geschlecht-
licher Vielfalt Bestandteil ist, ohne unterzugehen. Dabei kann eine machtkritische
Auseinandersetzung alternatives Denken anregen, denn bereits den Konzepten
von Akzeptanz und Toleranz liegt eine „hierarchische und asymmetrische Kom-
munikation“ zugrunde, die „vom Gutdünken der Gewährenden abhängt (Diehm
2010, S. 127 zit. n. Kleiner i. d. B.). Diskriminierung zu erkennen, ernst zu nehmen
und zu bekämpfen gelingt insbesondere dann, wenn das Thema als relevant für die
eigene Lebens- und Arbeitspraxis wahrgenommen wird. So können beispielsweise
in der Verwaltung Bedürfnisse von Mitarbeiter_innen und Kund_innen besser
erkannt, als auch eine größere Handlungssicherheit im Hinblick auf Vielfalt ge-
wonnen werden. Dennoch ist auch sensibel mit der teilweise vorhandenen Angst
vor Veränderungen und ‚Anderem‘ umzugehen. Wichtig ist für Veränderungen,
Ressourcen bereit zu stellen und zu erkennen, dass Wirkungen auch anhand wenig
aufwändiger Maßnahmen erreicht werden können. So hebt bspw. Kleiner (i. d. B.)
hervor, dass bereits die „machtkritische Thematisierung von Differenz (…) ein
deutliches Irritationspotential für alle beteiligten Subjekte (besitzt), weil sie ihre
Wahrnehmungen, Selbstverständnisse und Identifizierungen in Frage stellen kann“.
Weiterführend ist die Herausforderung nicht nur, „wie Differenz(en) und Vielfalt
jenseits von Hierarchie, Normierung und Ausschluss artikuliert werden können“
(Klapeer, i. d. B.), sondern welche neuen Handlungskonzepte und -orientierungen
sich anschließen und Praxis werden. Bereits das Hinterfragen von vermeintlichen
Realitäten, die Ergründung von Zwischenräumen, die kritische Reflexion des eigenen
Handelns und Umfelds sind geeignet, vermutlich starre ‚Realitäten‘ zu verändern.
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Queer und Alter(n) – zum Forschungsstand
Ralf Lottmann und Rüdiger Lautmann
Die gesellschaft liche Sichtbarkeit von LSBTI ist in den letzten vier Jahrzehnten
kontinuierlich angestiegen. Immer mehr Aktivist_innen, Künstler_innen, Perso-
nen des öffentlichen Lebens verbargen nicht länger ihr So-Sein. In der Aids-Krise
wurden zahlreiche Aspekte des Homosexuellseins diskutiert, und man gewöhnte
sich an das Besondere. Schwul, lesbisch, bi – damit wird heute keine Existenz mehr
erschöpfend beschrieben. Dadurch, dass LSBTI individuelles Profi l gewonnen
haben, haben sich auch ihre Lebensweisen biographisiert.
Früher schien es, als verschwänden ältere Schwule aus dem Blick, weil sie an
den Orten der Subkultur nicht auftauchten. In Pflege- und Altenheimen verbargen
Lesben ihr Sosein, sodass niemand von ihrer Existenz wusste – das ist in der Ko-
horte älterer LSBTI-Erwachsener immer noch oft mals der Fall. Eine alt gewordene
Generation von Frauen und Männern, die sich nach den 1960er Jahren emanzipie-
ren konnten, lebt auch im Alter ihren Lebensstil. Doch wird nun die Lebensphase
Alter immer öfter Gegenstand der Diskussion und Emanzipation – explizit auch
aus LSBTI-Perspektive. Entsprechend erweitert ist die Forschung zum Altern von
LSBT (dazu: de Vries und Croghan 2013).
Die Herausforderung
Lasch 2006, S.14). International sieht es nur wenig besser aus (Fredriksen-Goldsen
und Muraco 2010, S.403f.). Dabei ist die Betroffenengruppe auch quantitativ keines-
wegs belanglos. Nach einer amtlichen Schätzung leben allein in Berlin mindestens
40.000 lesbische und schwule Menschen, die älter als 60 Jahre sind (Senatsverwaltung
für Bildung, Jugend und Sport 2002). Für andere Großstädte im Bundesgebiet mag
der Bevölkerungsanteil niedriger liegen, ohne aber selbst in Kleinstädten jemals zu
verschwinden. Nachfolgend skizzieren wir die Themenfelder rund um das Thema
Queer und Alter(n); fokussiert werden die besonderen Bedarfe der Zielgruppe in
den Bereichen Pflege und Wohnen.
Die jüngste und älteste Altersgruppe weisen im Übrigen die höchsten Anteile von
Befragten auf, bei denen niemand im sozialen Umfeld weiß, dass eine schwule oder
bisexuelle Lebensweise besteht. Die Altersgruppe der über 44-Jährigen weist die
größte „Szenenähe“ auf (Bochow et al. 2009).
Eine erkenntnisreiche Studie explizit zum Alter(n) lesbischer Frauen ist die
Untersuchung von Braukmann und Schmauch (2007). An dieser Studie nahmen
214 Frauen im Alter von 50 bis 73 Jahren teil, mit überwiegend hoher Bildung. 29 %
der Befragten sind Rentnerinnen. Der Umfang der Erwerbsarbeit ist in etwa ähnlich
verteilt wie in den vorangegangenen Studien. Auch gleichen sich die Angaben zu
der Einkommensverteilung und zur Wohnortgröße. Für uns interessant sind die
(etwas groben) Angaben zum Gesundheitszustand. 15,5 % der Befragten geben
an, ihnen gehe es „sehr gut“, 55,9 % „ziemlich gut“, 23 % sagten „es geht“, 5,2 %
„ziemlich schlecht“ und 0,5 % der lesbischen Frauen geht es „sehr schlecht“. 4,7 %
von ihnen benötigt Unterstützung im Haushalt, 2,4 % bei der Mobilität, 1,4 % bei
der Körperpflege und 4,7 % bei Sonstigem. Hinsichtlich des Coming-outs geben die
Befragten an, dass 27,1 % von ihnen „völlig offen“ leben, 59 % „weitgehend offen“,
10 % „wenig offen“ und 3,8 % „nicht offen“. Zum Familienstand geben 46,9 % der
Befragten an, dass sie ledig sind, geschieden oder verwitwet sind 43,7 %. 62,6 % sind
kinderlos und 14,7 % haben Enkelkinder (Braukmann und Schmauch 2007, S. 6ff.).
Eine britische Untersuchung aus dem Jahr 2011 bestätigt die Angaben zur
Wohn- und Lebenssituation von Schwulen, Lesben und Bisexuellen im höheren
Erwachsenenalter. Der Vergleich von 1.050 Heterosexuellen mit 1.036 lesbischen,
schwulen und bisexuellen Menschen über 55 ergab, dass LSBler signifikant eher
Single sind (40 % bei LSBler zu 15 % bei Heterosexuellen) oder allein leben (41 %
zu 28 %). Seltener hatten sie Kinder oder waren in regelmäßigem Kontakt mit ihrer
biologischen Familie. Die Studie betont, dass diese Ergebnisse gleichsam Risiko-
faktoren für die Inanspruchnahme von Hilfe- und Unterstützungsleistungen im
Alter sind (Stonewall 2012). Weitere internationale Studien stützen insbesondere
die Ergebnisse zum Alleinleben, zu eigenen Kindern und zum relativ großen
Freundschaftsnetzwerk über die sog. Wahlfamilie (Hughes und Kentlyn 2011, S. 437;
Beeler et al. 1999; Grossman et al. 2001). Bereits früher wiesen US-amerikanische
Altersstudien darauf hin, dass geschlechtsspezifische soziodemografische Unter-
schiede – ebenso wie bei heterosexuellen Frauen und Männern – auch zwischen
Schwulen und Lesben bestehen. Ältere lesbische Erwachsene erhalten, verglichen
mit älteren schwulen Männern, ein niedrigeres Einkommen, haben eine höhere
Wahrscheinlichkeit für eine Lebenspartnerschaft, verfügen über ein größeres
soziales Netzwerk und leben seltener allein (Grossman et al. 2000; Beeler et al.
1999, S. 36ff.; Quam und Whitford 1992). Wie heterosexuelle Ältere sind ältere
Homosexuelle mit Partner/in weniger einsam und berichten über einen besseren
Gesundheitszustand (Grossman et al. 2000).
Queer und Alter(n) – zum Forschungsstand 341
Die Besonderheit älterer Menschen mit lesbischer oder schwuler Identität (‚LSBT‘)
schreibt sich aus der im 20. Jh. dramatisch verlaufenen Entwicklung von gender
und Sexualformen her. Wer in den Jahrzehnten zwischen 1930 und 1960 aufwuchs,
war mit scharf kontrastierten Geschlechterrollen konfrontiert, die den Frauen die
Autonomie vorenthielt und den Männern eine bestimmte Maskulinität vorschrieb
(Hagemann-White 1984). Da sowohl Lesben wie Schwule sich diesen Stereotypien
vielfach verweiger(te)n, griffen sie zu Lügen, Scheinheiraten und anderen Informati-
onskontrollen, die ihnen das Stigmamanagement aufzwang und ihre Lebensführung
erschwerte. Daher erscheint es als sinnvoll, sowohl hinsichtlich der Praxis als auch
künftiger Forschung den sozialen und historischen Kontext bei Befragten, Bewoh-
ner_innen oder Patienten zu berücksichtigen. So werden in US-amerikanischen
Untersuchungen LSB-Befragte in ‚pre-Stonewall‘ (45+ Jahre), ‚gay liberation era‘
(30-44 Jahre) und ‚gay rights era‘ (>30 Jahre) unterschieden. Ihre (Kompensations-)
Strategien hinsichtlich der sexuellen Identität, inklusive Coming-out-Prozess und
(politische und familiale) Einstellungen, differieren nach Kohorte und jeweiligem
sozialen und historischen Kontext (vgl. Parks 1999; Muraco et al. 2008). Für um
1930 geborene Frauen ist es nicht ungewöhnlich, dass sie die lesbische Liebe erst
mit über 60 Jahren entdecken (Plötz 2013, S. 29; vgl.Broschatz 2010). Für trans- und
intersexuelle ältere Menschen sind ähnliche Ergebnisse erwartbar (Hughes und
Kentlyn 2011). Mit der ‚gay liberation‘-, ‚era‘- bzw. ‚Stonewall-Generation‘ (Rei-
mann und Lasch 2006) kommt jetzt eine quantitativ bedeutsame Gruppe Älterer
erstmals in die nachberufliche Phase, in der sie sich ganz selbstverständlich outen
und ihren Lebensstil nicht mehr – wie vorherige Generationen – verheimlichen
wollen. LSB-Erwachsene seien sexuell aktiv (Van de Ven et al. 1997); dadurch wird
ein gay-friendly-Angebot für sie plausibel. Dementsprechend wird die Forderung
lauter, dass die Regeldienste der Altenhilfe offener sein und differenziertere Al-
tenhilfestrukturen etabliert werden sollen (vgl.Reimann und Lasch 2006, S. 16f.).
Ältere und hochaltrige Menschen mit LSBTI-Biographie in Deutschland tragen
Lasten, die aus der politischen Geschichte unseres Landes herrühren. Erst 1994
verschwand endgültig die Diskriminierung aus dem Strafgesetzbuch; die Angst
vor einer drohenden Strafe bzw. Erpressbarkeit hat die Generation der heutigen
schwulen Alten unaufhebbar geprägt (Reimann und Lasch 2006, S. 14). Die extreme
Verfolgung in der NS-Zeit lastet unvergessen auf der Gruppe als ganzer. Noch in
der frühen Bundesrepublik blieb der § 175 StGB in der von den Nationalsozia-
listen verschärften Form bis 1969 in Kraft; die Zahl der strafrechtlich Verfolgten
zwischen 1949 und 1969 entspricht der zwischen 1933 und 1945 (vgl. Lautmann
2011). In der DDR wurden zwar mildere Strafmaße verhängt, doch erfasste der 1968
342 Ralf Lottmann und Rüdiger Lautmann
eingeführte Paragraph 151 StGB auch lesbische Kontakte, und die Staatssicherheit
unterband konsequent alle Möglichkeiten der Selbstartikulation und -organisation.
Die Lebbarkeit lesbischer Existenz war seit jeher starker Restriktion unterworfen,
das betrifft auch heute noch selbst jüngere Frauen (Hänsch 2003, S. 235ff.). Vor
diesem Hintergrund von Verfolgung und Diskriminierung ist vor allem älteren
Homosexuellen ein hohes Maß an sozialer Isolation und Ausgrenzung lebensge-
schichtlich eingeschrieben.
Stigmatisierung und Kriminalisierung der Homosexualität haben besonders die
Älteren dem Einfluss negativer Stressoren ausgesetzt. Sie haben zu Brüchen und
Traumatisierungen geführt, die individuell und kollektiv wirksam sind (Bochow
2005, Lautmann 2012). Die unterbliebene Identitätsentwicklung und brüchige
Selbstbehauptung lässt die Lebensphase Alter als ungesichert erscheinen und treibt
die Senior_innen erneut in Zwänge des Verschweigens und der unerwünschten
Anpassung. Für trans- und intersexuelle Ältere zeigen sich diese Belastungsfak-
toren in erheblichem Ausmaß. Für bisexuelle Ältere und vormals verheiratete
Homo- und Bisexuelle gilt Ähnliches, und zwar auch dann, wenn sie ihr Begehren
unterdrückt und auf eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft verzichtet haben
(Beeler et al. 1999, S.45).
Für die Jüngeren unter den schwulen Alten kommen die Belastungen aus der
Aids-Krise hinzu. Seit den frühen 1980er Jahren hat die HIV-Infektion nicht nur die
Überlebenden bedroht und beeinträchtigt, sondern diese auch oftmals eines großen
Teils des Freundeskreises beraubt. Die damals schutzlos dem Erkrankungsrisiko
ausgesetzte Kohorte rückt jetzt ins Seniorenalter ein. Sie leidet in höherem Maße
und vorzeitig an altersbedingten Krankheiten (Brennan-Ing et al. 2014).
Auf homo-, bi- sowie vor allem trans- und intersexuelle Alte trifft mithin in
besonderem Maße zu, was bereits allgemein für ältere Menschen gilt: Sie haben
geradezu buchstäblich „kritische Lebensereignisse“ zu bewältigen. Durch die unver-
hoffte (Teil-)Anerkennung der LSBT-Existenzweisen in der deutschen Gesellschaft
haben frühere Rückzüge, Verheimlichungen und Appeasement-Kompromisse ihren
beschwichtigenden Wert verloren. Ältere LSBT-Erwachsene sind herausgefordert, zu
ihrer Eigenart selbstbewusst zu stehen, sich also so zu verhalten, wie es ihr ganzes
bisheriges Leben hindurch verpönt war. Sich nunmehr gegenüber ihrer Verwandt-
schaft, ihren Kolleg_innen und Nachbar_innen zu öffnen, bedeutet verschleierte
Aspekte des Selbst in die Wahrhaftigkeit zu überführen. Wenn das gewagt wird,
verändert sich das vorhandene Netzwerk: Einige Beziehungen erlöschen, andere
vertiefen sich.
In diesen Generationen waren dauerhafte Partnerschaften viel seltener als heute.
Das Coming-out erfolgte weniger offen und im Lebensverlauf später als heute (Parks
1999), ihre Lebensgemeinschaften waren weder rechtlich noch gesellschaftlich
Queer und Alter(n) – zum Forschungsstand 343
anerkannt, eine eingegangene Ehe und Eigenfamilie blieb brüchig. Innerhalb der
subkulturellen Szenen, nicht nur in der Barkultur, wo Jugendlichkeit das maßge-
bende Attraktivitätsmerkmal bildet, kamen und kommen sie sich als unerwünscht
vor (Franke 2003, S. 34). Das hat sich zur These einer doppelten Stigmatisierung
verdichtet: Unerwünscht als ‚Alte‘ in ihrer Subkultur, und als ‚Schwule‘ im ge-
sellschaftlichen Mainstream (Kling und Kimmel 2006; Fox 2007). Illusionär die
Annahme, LSBTI-Menschen könnten durch die langen Jahre der Diskriminierung
zu Experten des Copings geworden sein und hätten so der Altersdiskriminierung
(Ageism) der Gesellschaft mehr entgegenzusetzen als ihre heterosexuellen Gleich-
altrigen (skeptisch: Geißdörfer 2011, S. 15; auch Quam und Whitford 1992, S.368).
Mögliche sozialarbeiterische oder gerontopsychologische „Interventionen“ sind
daher nicht ohne Weiteres über sexuelle Orientierungen hinweg übertragbar. Doch
gibt es gerade aufgrund der biografischen Erfahrungen und erworbenen Strategien
als LSBTI-ler auch spezifische Ressourcen, die insbesondere im Hinblick auf die
LSBTI-Community besondere Chancen und Potenziale eröffnen (vgl.BMFSFJ
2006, S. 180f.). Auf zu berücksichtigende Aspekte in der Sozialarbeit und Altenhilfe
von älteren LSBTI-Erwachsenen in der Praxis geben vor allem US-amerikanische
Untersuchungen erste Antworten, auf die wir im Folgenden eingehen. Dabei sei
explizit auf die zusammenfassende Darstellung von Fredriksen-Goldsen und
Muraco (2010) verwiesen.
Es zeigen sich nicht nur in der Gestaltung von Partnerschaften, sondern auch in
der Frage, wie LSBTI ihr eigenes Altern und die Möglichkeit eines Pflegeereignisses
erleben, Besonderheiten. Diese ergeben sich für ältere LSBTI vor allem aus den
unterschiedlichen Lebensstilen. Weil oft keine Eigenfamilie vorhanden ist und
die Bezüge zur Verwandtschaft gekappt oder reduziert worden sind (Reimann
und Lasch 2006,S. 19; Bochow et al. 2009) geraten sie eher in eine gefährliche und
auch kostentreibende Isolation. Die Voraussetzungen für eine zufriedenstellende
soziale Integration als hilfebedürftiger LSBTI-Mensch sind – wie auch bei anderen
Bevölkerungsgruppen mit Minderheitserfahrungen zu beobachten ist – häufig
nicht gegeben (Muraco et al. 2008; vgl. Wortmann 2005, S. 35ff.; Holstein und
Minkler 2003).
Für heterosexuelle ältere Menschen sind im Falle von Hilfe- und Pflegebedürf-
tigkeit die eigenen Familienmitglieder mit Abstand die primäre Ansprechpersonen
– sowohl sozioemotional als auch für die pflegerische Versorgung (Haberkorn 2009,
344 Ralf Lottmann und Rüdiger Lautmann
S. 86ff.). In Deutschland ist die Hilfe über Partner_innen, Kinder und Verwandte
aufgrund von familialen Werten und kulturellen Normen – im Vergleich zu ande-
ren Ländern – stärker ausgeprägt als die Pflege über Dritte (Lottmann et al. 2012;
Haberkorn 2009,S. 96; 113ff.). Über 80 % der Unterstützung werden von nahen
Familienmitgliedern übernommen (Mayer 2006, S. 30). Diese Möglichkeit steht
LSBTI-Senior_innen häufig nicht zur Verfügung (Bochow et al. 2009; Grossman
et al. 2007, S.16).
Zahlreiche Studien belegen eine ausgesprochen hohe Bereitschaft von Schwulen
und Lesben, Betreuung und Pflege von Freund_innen zu übernehmen. Ein Drittel
von ihnen engagiert sich bei Krankheit und Behinderungen, 61 % übernehmen
Freundschaftsdienste, und vor allem schwule Männer sind in hohem Maße in der
Betreuung von HIV-infizierten Männern involviert (Grossman et al. 2007, S.17).
89 % der älteren schwullesbischen Erwachsenen haben mindestens drei Freund_in-
nen, an die sie sich im Falle eines ‚ernsten Problems‘ wenden könnten, wobei dies
eher den sozioemotionalen Beistand meint (Beeler et al. 1999, S.38; Grossman et
al. 2000). Sie erhalten emotionale, instrumentelle und finanzielle Unterstützung
über die sog. Wahlfamilie, den/die gleichgeschlechtlichen Partner_innen, LSBT-
Freund_innen, heterosexuellen Freund_innen sowie LSBTI-Beratungsstellen. In
einem geringeren Maße erhalten sie diese Art der Hilfe von Geschwistern, erweiterter
Familie oder erwachsenen Kindern (Hughes und Kentlyn 2011, S. 438; Reimann
und Lasch 2006, S. 19).
Doch selbst ein durchschnittliches eher großes soziales Netzwerk kann die
pflegerische Versorgung von LSBTI oftmals nicht gewährleisten. Denn es bleibt
unüblich, dass nicht-familiäre Kontaktpersonen im Bereich der pflegerischen
und persönlichen Versorgung oder bei chronischen (Alters-)Erkrankungen tätig
werden, wenn diese kein sehr intimes Verhältnis zum Pflegebedürftigen haben
(Grossman et al. 2007, S.18). Wie stark LSBTI-Ältere auf die Community und ihren
Freundeskreis im Falle von Betreuungs- und Pflegebedürftigkeit zählen können,
ist nur wenig erforscht. Der Studie von Grossman et al. (2007) zufolge, hängt die
Bereitschaft für pflegerische Versorgungsleistungen für LSBTl-Erwachsene vor
allem von der zu erwartenden Belastung, dem persönlichen Nutzen und dem Bil-
dungsniveau der Befragten ab. Viele homosexuelle ältere Erwachsene machen sich
Sorgen, wer die Pflege oder Betreuung im Falle gesundheitlicher Beeinträchtigungen
übernehmen werde (Grossman et al. 2007, S.16). So gibt es auch in Deutschland
zahlreiche Berichte von Betroffenen über erlebtes Unwohlsein und Unverständnis
in regulären Pflege- und Betreuungseinrichtungen (vgl. Gerlach 2002). Sogar eine
Gefahr der Verwahrlosung wird gesehen, nämlich sich aufgrund der inadäquaten
Versorgungs- und Beratungssituation völlig zurückziehen (ebd.).
Queer und Alter(n) – zum Forschungsstand 345
Morrow 2006, Mallon 2008). Ältere LSBTI-Erwachsene bieten ein Beispiel für
Intersektionalität, d. h. Mehrfachdiskriminierung. Auch hier gelten insbesondere
die älteren Lesben als seltener betrachtet, sind geringer erforscht, und Hilfen für
sie sind unterentwickelt (Hash und Netting 2009). Es werden strukturelle Ände-
rungen verlangt (Landers et al. 2010). Untermauert wird das durch den Ende 2011
veröffentlichten Report von Karen Fredriksen-Goldsen et al.; danach erfordern die
speziellen Lebens- und Gesundheitslagen von LSBT-Alten ein Tätigwerden von
Public Health. Wie erste Studien zeigen, wirkt sich ein spezielles Training positiv
auf die Soziale Arbeit mit LSBT-Älteren aus (Porter & Krinsky 2013).
messen wird (Dannecker und Reiche 1974:, S. 74). Die besonderen Lebenslagen
und Bedürfnisse homosexueller Älterer sowie das Älterwerden von LSBTI wurden
schon relativ früh in von der Community entwickelten Projekten aufgegriffen.
Insbesondere das lesbische Projekt ‚Safia (Selbsthilfe allein lebender Frauen im
Alter) e. V.‘ ist hier zu nennen (vgl.Wortmann 2005, S. 31f.). Weitere Projekte sind
die Wohngemeinschaft ‚rosa ALTERnative‘ in München oder die ‚Villa anders‘
in Köln-Ehrenfeld (Sdun 2009, S. 129ff.). Allerdings wurden viele dieser Projekte
eingestellt, waren nur bedingt für pflege- oder betreuungsbedürftige Ältere geeignet
oder nicht explizit für die ältere Generation konzipiert. Vor diesem Hintergrund
ist der in 2012 eröffnete ‚Lebensort Vielfalt‘ in Berlin-Charlottenburg interessant
(hierzu Pulver i. d. B.). Das Forschungsprojekt „Gleichgeschlechtliche Lebensweisen
im Alter“ (GLESA) untersucht derzeit dieses Wohn- und Pflegeprojekt u. a. unter
der Fragestellung, inwiefern der ‚Lebensort Vielfalt‘ einen Beitrag für neue Wege
in der Altenhilfe und der pflegerischen Versorgung leisten kann und Pflegekräfte
für besondere Bedarfe der Klientel sensibilisiert werden können (siehe: http://www.
ifaf-berlin.de/projekte/glesa/).
Trotz zahlreicher Studien vor allem in den USA klaffen offensichtliche For-
schungsdefizite. Die Bedarfe von älteren und hochaltrigen LSBTI-Erwachsenen
bleiben undifferenziert und oftmals unkonkret, bedingt durch die Kleinförmigkeit
der Studien, eine hinsichtlich der älteren Bevölkerungsgruppe unspezifische Aus-
richtung sowie durch die eher geringen Fallzahlen. Ist die Studienlage zu älteren
schwulen und bisexuellen Männern noch einigermaßen ausführlich, so ist dies
bei lesbischen älteren Frauen nicht mehr gegeben. Angesichts der Tatsache, dass
Alter(n) „weiblich ist“, muss auch zu diesem Thema eine stärkere Forschungsakti-
vität angestrebt werden (Foemer 2002). Die groß angelegte Generali-Altersstudie
(Generali Zukunftsfonds 2013) enthielt nichts über ältere Lesben und Schwule,
nichts über die Älteren mit Migrationshintergrund – obwohl bei über viertausend
Befragten eine Analyse möglich gewesen wäre. Trans- und intersexuelle ältere
Menschen wurden bislang noch gar nicht zum Gegenstand der Forschung. Die
dürftige Befundlage empirischer Daten zum Bereich Altern und sexuelle Orien-
tierung wirft Probleme für die planende Sozialpolitik und die Soziale Arbeit auf.
Auf diesem Gebiet sind sowohl qualitative als auch quantitative Untersuchungen
in höchstem Maße wünschenswert.
Queer und Alter(n) – zum Forschungsstand 351
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IV
Bildungsbausteine
Anregungen aus der Praxis für die Praxis –
Bildungsbausteine für die schulische und
außerschulische Bildung
Klaus Steinkemper
1 Auf alle hier angegebenen Links und Internetangaben wurde im Mai 2014 zugegriffen.
Dies wird aus Gründen der Lesbarkeit nicht mehr explizit bei den einzelnen Verweisen
im Text angegeben.
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 359
4. Wie kann ich in der Klasse eine Offenheit gegenüber LGBTI Themen
erreichen?
Persönliche Begegnungen mit offen lebenden lesbischen, schwulen, bisexuellen,
trans- und intergeschlechtlichen Personen können sehr wertvoll für alle Schü-
ler_innen und das Klima in der Klasse und der Schule sein. Ermöglichen Sie
den Kontakt und laden Sie Bildungsträger für Workshops ein. Organisationen,
die Sie ansprechen können, finden sie z. B. hier: www.bksl.de.
Themen sexueller und geschlechtlicher Vielfalt werden häufig auf den Aspekt
von Sexualität reduziert. Dabei geht es doch um eine komplexe Darstellung
und Sichtbarmachung von vielfältigen Lebensweisen. Es bieten sich somit auch
Verknüpfungen mit weiteren Themen an, wie z. B. mit Menschen- und Kin-
derrechten, geschichtlichen und aktuellen Geschehnissen zu Verfolgung und
Diskriminierung, historischen Verdiensten von LGBTI Personen und queerer
Emanzipationsgeschichte.
5. Wie reagiere ich, wenn die Schüler_innen mit blöden Sprüchen und
Bemerkungen anfangen?
Tabuisierte Themen in der Klasse zu behandeln, wird sehr wahrscheinlich dazu
führen, dass negative Bemerkungen fallen. Wichtig ist, hier entschieden gegen
die Verknüpfung von sexuellen Orientierungen oder Geschlechtsidentitäten mit
etwas Negativem einzugreifen. So ist z. B. unter Jugendlichen die Gleichsetzung
des Wortes ‚schwul‘ mit ‚doof‘ weit verbreitet und erfolgt oft reflexartig. Sie
wirkt jedoch unabhängig von der zugrunde liegenden Intention negativ auf
alle LGBTI Jugendlichen sowie auch auf alle anderen, die diese Verknüpfung
hören und verinnerlichen.
In der Regel ist eine sofortige Reaktion auf negative Ausdrucksweisen am wir-
kungsvollsten. Es ist hilfreich, wenn Sie die Diskriminierung klar benennen und
damit eindeutige Botschaften an die Schüler_innen senden. Sie können z. B. Ihre
Ablehnung erklären, Ihr Unverständnis äußern oder interessiert nachfragen
und so eine Diskussion fördern. Manchmal kann es helfen, im Gespräch einen
persönlichen Bezug zu anderen, Ihnen selbst oder den Schüler_innen bekannten
Menschen herzustellen. Weitere Möglichkeiten finden Sie in der Broschüre:
„Schwule Sau!“, „Du Transe!“, „Kampflesbe“- Was tun bei Beschimpfungen
und diskriminierenden Äußerungen?“ der Bildungsinitiative Queerformat
(http://www.queerformat.de/fileadmin/user_upload/news/130419_In-
foblaetter_03.pdf).
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 363
8. Wie reagiere ich, wenn ich gefragt werde, wie die Genitalien von
trans- oder intergeschlechtlichen Menschen eigentlich aussehen?
Körper von trans- und intergeschlechtlichen Menschen sind genauso vielfältig
wie alle anderen Körper auch.
Es existieren Vorstellungen davon, wie „richtige Frauen“ und „richtige
Männer“ aussehen sollen. Diese normierten Bilder werden der Vielfalt von
Körpern jedoch nicht gerecht. Menschen haben große, runde, hagere Körper,
mit großen, kleinen oder keinen Brüsten, sind mehr oder weniger behaart etc.
Prinzipiell ist es daher wichtig, im Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen
eine Offenheit für die Verschiedenheit von Körpern und die Vielfalt von Ge-
schlechtern herzustellen.
In der derzeitigen biologischen und medizinischen Forschung werden immer
mehr Faktoren entdeckt, die für die Entwicklung von Geschlechtsmerkmalen
eine Bedeutung haben sollen. Diese Geschlechtsmerkmale lassen sich nicht in
ein Schema von ausschließlich zwei Geschlechtern fassen, vielmehr wird in-
zwischen ein kontinuierlicher Übergang zwischen „männlich“ und „weiblich“
angenommen. Über die biologischen (körperliche) Aspekte hinaus gehören
zum Menschen als geschlechtliches Wesen auch die Aspekte des psychischen
und sozialen Geschlechts. Entscheidende Grundlage für respektvolle zwischen-
menschliche Begegnungen ist, die Selbstdefinition von Personen hinsichtlich ihres
Geschlechts ernst zu nehmen, auch wenn in ihrer Geburtsurkunde aufgrund
biologischer Merkmale etwas anderes eingetragen wurde.
Als transgeschlechtlich bezeichnen sich Personen, für die ihr gelebtes Ge-
schlecht keine zwingende Folge des bei der Geburt zugewiesenen Geschlechts ist.
Manche Menschen verändern ihren Körper durch Operationen oder Hormone,
um ihren Körper ihrer eigenen gefühlten Geschlechtsidentität mehr anzuglei-
chen. Dies kann auch, muss aber nicht die Genitalien betreffen.
Als intergeschlechtlich bezeichnen sich Personen, die mit biologischen
Merkmalen geboren wurden, die nicht eindeutig dem weiblichen oder männ-
lichen Geschlecht zugeordnet werden können. Da das biologische Geschlecht
vielfältig ist und neben der Ebene der äußeren und inneren Organe z. B. noch die
chromosomale und hormonelle Ebene umfasst, kann die Intergeschlechtlichkeit
unsichtbar oder sichtbar sein.
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 365
Die Fragen werden anschließend von den Aufklärer_innen unter Rückgriff auf
die eigene LGBT*Q Biografie und eigene Erfahrungen beantwortet. Die Aufklä-
rer_innen müssen also bereit sein, Teile ihrer persönlichen Biografie preiszugeben
und wissen, wo ihre Grenzen liegen. Dazu gehört z. B. auch, dass nur respektvoll
gestellte Fragen beantwortet werden. Den Teilnehmer_innen muss bewusst sein,
dass die Aufklärer_innen LGBT*Q Personen sind und dass sie bereit sind, von ih-
ren persönlichen Erfahrungen zu berichten. Die dafür notwendige Offenheit sollte
sowohl explizit geäußert werden, als sich auch in der Haltung der Aufklärer_innen
widerspiegeln. Es gibt Themenblöcke, die seit vierzehn Jahren SchLAu-Aufklärungs-
praxis in fast jedem Workshop angesprochen werden: Bewusstwerden der eigenen
sexuellen Orientierung und/oder Geschlechtsidentität, Coming Out und Reaktionen
darauf von Familie und Freund_innen, Diskriminierungserfahrungen, Beziehun-
gen und Partnerschaft, Gründe für Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit.
In den letzten Jahren rücken auch die Themen Regenbogenfamilien sowie Trans*
und Inter* ins Interesse der Jugendlichen. Zentral für die Durchführung ist die
Darstellung von Homo- und Bisexualität als Lebensweisen, die der häufig von der
Gesellschaft vorgenommenen Reduktion auf Sexualität entgegentritt.
www.schlau.schwur.net / www.schlau-nrw.de
www.bksl.de (Hier finden sich alle Aufklärungsprojekte deutschlandweit)
4 Das Plakat und auch andere Varianten/ Motive finden Sie im Online-Tool: http://www.
berlin.de/imperia/md/content/lb_ads/gglw/veroeffentlichungen/infopaket_unterrichts-
material.pdf?start&ts=1182436492&file=infopaket_unterrichtsmaterial.pdf
368 Klaus Steinkemper
An der Vielfalt der thematischen Bezüge sehen Sie, dass es bei der Behandlung
lesbischer Lebensweisen im Unterricht vielleicht gar nicht oder nur am Rande um
Fragen der Sexualerziehung gehen wird. Da in der Sexualerziehung generell die Ko-
operation von Elternhaus und Schule besonders wichtig ist, könnte es auch sinnvoll
sein, auf einem Elternabend über das Thema zu sprechen. Im Übrigen empfiehlt
auch der Landeselternausschuss, das Plakat und das Begleitmaterial einzusetzen.
über das Aussehen von Lesben). Es ist sicher ergiebig, mit den Schüler_innen
herauszuarbeiten, warum es für die Botschaft des Plakats auch kontraproduktiv
wäre, könnte man die beiden eindeutig identifizieren. Bei einem Austausch über
die Motivation der Plakatmacher_innen können wiederum mögliche Vorurteile
im Gespräch erörtert werden – wie z. B. dass es doch gar keine lesbischen Musli-
ma gibt oder dass das Thema für Jugendliche irrelevant sei. Auch voreilige oder
unreflektierte Meinungen tragen dazu bei, den Austausch über die verschiedenen
Themen des Plakats zu initiieren.
hineinzuversetzen („Wie würde ich mich fühlen, wenn mich andere ausgrenzen
für etwas, für das ich nichts kann?“), kann mehr bei Jugendlichen bewirken als
pauschale Appelle an ihre Einsicht und ihr Verhalten.
Anhang
5. Wie heißt der englische Begriff dafür, wenn jemand sich anderen
gegenüber als lesbisch oder schwul zu erkennen gibt?
E Coming out G Coming by
F Coming off H Going away
10. Es gibt viele Begriffe dafür, wenn Frauen Frauen lieben. Welcher der
folgenden Begriffe bezeichnet etwas grundlegend anderes?
AT lesbisch sein CH Homosexualität
BE gleichgeschlechtlich lieben DA Transsexualität
12. Wie nennt man eigentlich die Menschen, die das andere Geschlecht
lieben?
A metrosexuell I peripher
E monogam U heterosexuell
Lösungssatz:__________________________________________
(Der Lösungssatz lautet: „Çiğdem gehört dazu“)
374 Klaus Steinkemper
X „Früh Gelernt“
1. Welches Ziel, welches Anliegen hat die Übung?
Diese Übung eröffnet den Teilnehmer_innen die Möglichkeit, einen biografischen
und emotionalen Zugang zum Thema LGBT*I Lebensweisen zu finden. Sie reflektie-
ren über die unterschiedlichen gesellschaftlichen Normierungen und Bewertungen
von nicht-heterosexuellen Lebensweisen.
http://www.queerformat.de/fileadmin/user_upload/news/Juleica-Modul_Sexuelle_Vielfalt.pdf
Bildungsinitiative Queerformat, Kluckstr. 11, 10785 Berlin, www.queerformat.de, Tel.
030-2153742
Anhang: Fragebogen
1. Wann habe ich zum ersten Mal wahrgenommen, dass es eine andere sexuelle
Orientierung gibt als die heterosexuelle? (5 Min.)
376 Klaus Steinkemper
2. Woran erinnere ich mich: Was habe ich über lesbische / schwule und bisexuelle
Menschen gelernt? Von wem und/oder aus welcher Quelle? (5 Min.)
3. Wie habe ich gelernt, dass von mir erwartet wird, heterosexuell zu sein? (5 Min.)
4. Gab es in meiner Kindheit oder Jugend Menschen, die lesbisch, schwul oder
bisexuell lebten? An was erinnere ich mich in Bezug auf diese Menschen? (5 Min.)
Quelle Fragebogen: Adapted from: Adams M, Bell LA, P Griffin (2007) Teaching For Diver-
sity And Social Justice. New York/ London (2nd Edition), S. 202f. Fragebogen übersetzt und
adaptiert von: KomBi – Kommunikation und Bildung; www.kombi-berlin.de
Formulierungen nicht Anwesende als „Ausnahme von der Regel“ darstellen und
damit eine scheinbare Normalität herstellen. Sie könnten die einzige Person sein,
die als Vertrauensperson in Frage kommt!
GLADT e. V., Kluckstr. 11, 10785 Berlin. www.gladt.de / info@gladt.de, Tel. 030-26556633
… haben keine Ahnung von … denken immer und … sind nicht zufrieden mit
Technik überall an Sex dem eigenen Körper
… sind sensibler als andere … achten nur auf das … sind unsportlich
Äußere
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 379
X „Pronomenrunde“
1. Welches Ziel, welches Anliegen hat die Übung?
Die Übung sensibilisiert für das Anliegen, davon auszugehen, dass es mehr als nur
die zwei Geschlechter Mann/ Frau gibt und die Geschlechtsidentität eines Menschen
von der wahrgenommenen oder in Ausweisdokumenten ausgewiesenen abweichen
kann. Daher gilt es, keine Vorannahmen zu treffen. Die Respektierung der Geschlecht-
sidentität durch korrekte Anrede im gefühlten Geschlecht ist ein Menschenrecht.
Euch für er oder sie entscheiden, beide Pronomina mischen oder darauf verzichten“;
„Ich heiße Maria und möchte als er angesprochen werden;“ oder „Mein Name ist
Gab und mir wäre es recht, wenn ihr Pronomina nach Möglichkeit vermeidet und
lieber meinen Namen oder du verwendet.“
Geeignete Auswertungsfragen:
t War es das erste Mal, dass Du mit der Frage nach dem Wunschpronomen
konfrontiert wurdest?
t Fiel es Dir schwer, Dich für ein Pronomen zu entscheiden?
t Warum denkst Du, ist die Pronomen-Frage wichtig?
Die Übung wird in Kontexten, in denen es nicht primär um das Thema Ge-
schlechtsidentität geht, in der Regel nicht diskutiert. Sie kann natürlich diskutiert
werden. Dabei ist darauf zu achten, dass Cis-Menschen (also Menschen, die sich
mit der Geschlechtsidentität ihres bei Geburt zugewiesenen Geschlechtes identi-
fizieren) ggf. zum ersten Mal in ihrem Leben mit Fragen konfrontiert werden, die
stark an emotional besetzte Identitätsfragen gekoppelt sind. Entsprechend sind
in der Diskussion Irritationen, Emotionen, Widerständen Raum zu geben, die
gründlich aufgearbeitet werden müssen.
X„Geschlechterwerkstatt“
dazu dienen, die Diskussion über sex und gender (biologisches und soziales Ge-
schlecht) anzuregen. Inwiefern sind gender-Rollen konstruiert? Wie sinnvoll sind
bestimmte Geschlechterkonstruktionen und wem nützen sie?
können bzw. dass diese Verwirrung dann gern (als Abwehr) auf die Trans*Men-
schen übertragen wird („nicht ich bin verwirrt, sondern mit meiner_m Gegenüber
stimmt was nicht…“).
Weisen Sie darauf hin, dass transgeschlechtliche Menschen oft nicht darauf ver-
zichten können, zunächst auf Klischees zurückzugreifen, wenn sie anfangen, sich in
ihrer Geschlechtsidentität zu bewegen. Das Finden einer persönlich angemessenen
Ausdrucksweise und Darstellung der Geschlechterdarstellung ist ein Prozess, in
dem transgeschlechtliche Menschen unterstützt werden sollten.
der Lebensphase der ersten geschlechtlichen Orientierung, auch und gerade wenn
sie möglicherweise für sich eine nicht-heterosexuelle Identität finden und erproben.
sich setzen. Es wird weiter der Reihe nach in absteigender Folge nach den Ja-Stim-
men gefragt. Wer die Anzahl der auf der eigenen Karte notierten Ja-Stimmen hört,
darf sich setzen.
Bitten Sie die Teilnehmer_innen nach der Übung, sich zunächst paarweise 5-10
Minuten über ihre Ergebnisse und ihre Erfahrungen während der Übung auszu-
tauschen. Die Paare sollten dabei gruppenübergreifend zusammengesetzt sein.
http://www.queerformat.de/fileadmin/user_upload/news/Juleica-Modul_Sexuelle_Vielfalt.pdf
Bildungsinitiative Queerformat, Kluckstr. 11,10785 Berlin, www.queerformat.de, Tel. 030-
2153742
1. Kannst du mit deinen Eltern oder mit nahen Verwandten über deine Beziehung
mit Alex sprechen?
4. Ist es für deine Familie in Ordnung, wenn du ihren Freund_innen Alex als deine
Partnerin bzw. deinen Partner vorstellst?
5. Werden Bekannte, die über deine Beziehung Bescheid wissen, dich zum Baby-
sitten engagieren?
11. Kannst du mit deinem besten Freund bzw. deiner besten Freundin im Zug über
deine Liebesbeziehung mit Alex sprechen?
12. Wenn ihr mit einer Gruppe von Freund_innen ausgeht: Hast du das Gefühl,
du kannst Alex umarmen und küssen?
13. Kannst du darauf vertrauen, wegen deiner sexuellen Orientierung von anderen
nicht dumm angemacht oder körperlich verletzt zu werden?
16. Wie sieht es mit den Liedtexten deiner Lieblingsmusik aus – geht es in ihnen
um deine Form der Liebe?
388 Klaus Steinkemper
18. Kennst du Gleichaltrige, die die gleiche sexuelle Orientierung haben wie du?
19. Kennst du 10 Prominente, die die gleiche sexuelle Orientierung haben wie du?
Denke an die Musikwelt, Popstars, an Sport, Politik und Persönlichkeiten aus dem
Fernsehen.
20. Kannst du später mit Alex eine Ehe schließen, falls ihr das möchtet?
t Perspektivenwechsel
t Erweiterung der Lösungsvielfalt
t Ausprobieren von sozialen Verhalten und Artikulationen
t Irritationen der eigenen Gewohnheiten
t Selbst-/ Fremdreflexion
Übernahme einer (neuen/ anderen) Rolle führt oft zur Erweiterung der Perspektiven-
vielfalt für alle Teilnehmer_innen. Beispiel: Ausprobieren einer geschlechtersensiblen
Sprache in Anamnesesituationen. Oder: Ausprobieren bzw. Suchen nach Lösungs-/
Handlungsstrategien bei vermuteten Problemen der direkten Pflege.
Nicht nur die Protagonist_innen, sondern alle Teilnehmer_innen sind durch
Rollenübernahmen, sowie evtl. durch aktive Beobachtungsrollen involviert. Die
Reflexionen der Beteiligten über ihre erlebten bzw. beobachteten Rollen werden
aktiv genutzt.
Angeleitete Rollenspiele werden insbesondere gut angenommen, wenn ent-
weder eine konkrete problemhaft vermutete oder erlebte Situation als Erfahrung
von Teilnehmer_innen beigetragen wird, eine vertrauensvolle Atmosphäre in der
Gruppe besteht oder es sich um Menschen (z. B. Schüler_innen und Student_innen)
handelt, die mit dieser Methode eher vertraut sind.
Als Hemmnis gegenüber Rollenspielen wird bei einigen Teilnehmer_innen ein
Druck wahrgenommen, einer vermeintlichen sozialen Erwartung zu entsprechen
bzw. evtl. nicht zu entsprechen (sozialer und/ oder professioneller Statuserhalt),
insbesondere da es sich häufig um die Auseinandersetzung mit Stereotypen und
Tabuthemen wie andere Lebensentwürfe, Sexualität, Homo-/ Bi- und/ oder Trans-
sexualität, aber auch Sexismus, Rassismus u. ä. handelt.
agieren. Die Beteiligten entwickeln nun im Spiel eine Szene, die erfahrungsgemäß
eine eigene Dynamik aufnimmt. Die Szenen dauern meistens nur ein paar Minuten.
Warten Sie das Ende der Szene ab und gehen Sie dann in die Auswertung.
Beispielhafte Auswertungsfragen:
t Wie hast du die Situation in deiner Rolle erlebt?
t Wie hast du dich in deiner Rolle gefühlt?
t Wie hast du die anderen Beteiligten in deiner Rolle wahrgenommen?
t Welche Art von Unterstützung hättest du dir gewünscht? Von wem?
t An die Beobachtenden: Was ist euch beim Betrachten des Rollenspieles auf-
gefallen?
Schließen Sie nun noch Fragen an, die es ermöglichen, das Erlebte in den Alltag zu
übertragen. Ziel des Rollenspiels ist ja, alternative Sichtweisen und Lösungswege
für Probleme zu entwickeln. Geben Sie den Teilnehmer_innen Zeit und Raum, die
Bedeutung des Rollenspiels zu reflektieren.
X „Zwischenräume“
1. Welches Ziel, welches Anliegen hat die Übung?
Die Teilnehmer_innen setzen sich mit der Eindeutigkeit und Uneindeutigkeit von
geschlechtlichen und sexuellen Identitäten auseinander. Annahme und Interpre-
392 Klaus Steinkemper
t Woran habt ihr es festgemacht, dass es sich eindeutig um eine Frau oder einen
Mann handelt?
t Woran habt ihr es festgemacht, dass es sich eindeutig um eine Lesbe oder einen
Schwulen handelt?
t Woran habt ihr es festgemacht, dass es sich eindeutig um eine heterosexuelle
Frau oder um einen heterosexuellen Mann handelt?
Anregungen aus der Praxis für die Praxis 393
Die Leitung weist darauf hin, wenn die Teilnehmer_innen von sichtbaren Merkmalen
(Kleidung, Schminke, Schmuck, Handgröße oder Kehlkopf etc.) und Körperhaltung
sowie Mimik auf das Vorhandensein unsichtbarer körperlicher Merkmale (Penis,
Vagina, Brüste etc.) schließen und hinterfragt die Folgerichtigkeit der Schlüsse.
2. Schritt: Die Teilnehmer_innen werden erneut aufgefordert, sich die Bilder an-
zusehen. Sie erhalten nun die Aufgabe: „Schaut euch die Bilder nochmals in Ruhe
an. Wähl dir jetzt ein Bild aus, bei dem du dir nicht sicher bist, dass du einen Mann
oder eine Frau siehst und von dem du nicht sagen kannst, dass sie/ er homo- oder
heterosexuell ist. Nimm dir dieses Bild (und falls es schon eine andere Person
genommen hat, dann merke dir, bei wem dein Bild ist).“ Im Plenum werden nun
die ausgewählten Bilder vorgestellt und auf eine passende Stelle im Kreuz gelegt.
Die Leitung stellt beim Auflegen der Bilder folgende Fragen:
t Warum kannst du nicht bestimmen, ob es sich bei der Person um einen „Mann“
oder eine „Frau“ handelt?
t Warum kannst du nicht bestimmen, ob die Person heterosexuell ist?
t Warum kannst du nicht bestimmen, ob die Person homosexuell ist?
Die Leitung weist darauf hin, dass die Geschlechtspräsentation sowie die körperlichen
Merkmale uneindeutig sein können. Diese Uneindeutigkeit verursacht bei vielen
Menschen Verunsicherung. Das muss jedoch nicht heißen, dass alle Menschen in
allen Fällen sich selbst bzw. andere eindeutig zuordnen müssen bzw. wollen. An
dieser Stelle sollte sich eine dichotome Darstellung von Geschlechtsrepräsentati-
onen bzw. Begehrensbeschreibungen hin zu einem Kontinuum mit vielfältigen
Selbstdefinitionen öffnen.
t Was würde passieren, wenn wir diese Einteilung nicht hätten und sich immer
mehr Menschen nicht definieren würden?
t Was wäre dann in deinem Leben anders?
Variante 1: Die Leitung gibt die „Wahrheit“ über einzelne Personen nicht preis, sie
kennt deren Selbstdefinition u. U. gar nicht. Die Leitung sollte Uneindeutigkeit als
Alltagsrealität anerkennen und insofern einen Umgang damit vermitteln.
Variante 2: Die Leitung kennt die Selbstdefinition der Personen auf den Bildern
und einige Eckdaten aus ihrem Leben und lässt diese in die Diskussion einfließen.
In dieser Spielvariante werden also die Selbstdefinitionen der Personen auf den
Bildern bekannt gemacht.
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Anregungen aus der Praxis für die Praxis 395
Nein“ und Position 10 für: „Viel Erfahrung/ Sehr häufig erlebt/ Ja“, die Positionen
dazwischen sind Abstufungen.
Die Leitung trägt bis zu ca. 5-8 Statements aus dem Themenfeld (z. B.) „Dis-
kriminierung“ vor. Die Statements beziehen sich zunächst auf eigene (erlebte)
Diskriminierungserfahrungen der Teilnehmer_innen, dann auf bezeugte/ ausge-
übte Diskriminierungen der Teilnehmer_innen und anschließend auf Strategien
zur Unterstützung im Diskriminierungsfall. Sie lauten z. B.: „Ich habe schon
(rassistische) Diskriminierung erfahren.“ – „Ich erkenne Diskriminierungen sehr
schnell.“ -– „Beobachte ich eine Diskriminierung, greife ich ein.“ Die Leitung greift
das nach jedem Statement neu entstehende „Standbild“ auf, und stellt Fragen an
die Gruppe oder einzelne Teilnehmende, z. B. „Möchten Sie erzählen, was Sie auf
diese Position gebracht hat?“, „Wie sieht die Gruppe von Ihrer Position aus?“, „Mit
welcher Position würden Sie gern tauschen und warum?“ etc.
Zeitpunkt: Nach dem ersten Kennenlernen, Vorstellungsrunde (und ggf. kurzer
Einführung ins Thema), besonders zu diesem frühen Zeitpunkt geeignet, um
t in Bewegung zu kommen
t sich nicht nur verbalsprachlich/ rational zu beteiligen, sondern physisch
Knackpunkte: Falls schon vor/ während der Durchführung ersichtlich wird, das
einzelne Fragen nur einzelne Teilnehmende auf eine der „extremen“ Positionen
verweisen (ist z. B. nur eine Person Of Color unter den Teilnehmer_innen oder
nur eine geoutete Trans* Frau), ist die Leitung gefragt, die daraus mitunter ent-
stehende Spannung (sowohl für die „Gruppe“ als auch für die „abseits stehende“
Einzelperson) aushaltbar zu machen.
Rüdiger Lautmann, Jahrgang 1935, Dr. phil., war von 1971 bis
2010 Prof. für Soziologie an der Universität Bremen. Lebt jetzt in
Berlin. Arbeitsgebiete: Recht und Kriminalität, Geschlecht und
Sexualität. Einige einschlägige Buchpublikationen: Gesellschaft
und Homosexualität (1977); Homosexualität. Handbuch der The-
orie- und Forschungsgeschichte (Hrsg. 1993); Nationalsozialisti-
scher Terror gegen Homosexuelle (Mithrsg. 2002); Soziologie der
Sexualität (2002); Was ist Homosexualität? Forschungsgeschichte,
gesellschaftliche Entwicklungen und Perspektiven (Mithg. 2014).
Birgit Möller, Dr., arbeitet an der Klinik für Kinder- und Ju-
gendpsychiatrie, -psychosomatik und –psychotherapie am Uni-
versitätsklinikum Münster. Sie ist Leiterin der Sprechstunde und
Forschungsgruppe „Variationen der geschlechtlichen Entwicklung
im Kindes- und Jugendalter“ sowie „Kinder körperlich kranker
Eltern“.