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Edition Rechtsextremismus

Herausgegeben von
F. Virchow, Düsseldorf, Deutschland
A. Häusler, Düsseldorf, Deutschland
Die „Edition Rechtsextremismus“ versammelt innovative und nachhaltige Beiträge
zu Erscheinungsformen der extremen Rechten als politisches, soziales und kultu-
relles Phänomen. Ziel der Edition ist die Konsolidierung und Weiterentwicklung
sozial- und politikwissenschaftlicher Forschungsansätze, die die extreme Rechte
in historischen und aktuellen Erscheinungsformen sowie deren gesellschaftlichen
Kontext zum Gegenstand haben. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei transnatio-
nalen Entwicklungen in Europa.

Herausgegeben von
Fabian Virchow Alexander Häusler
Düsseldorf, Deutschland Düsseldorf, Deutschland
Wolfgang Frindte • Daniel Geschke
Nicole Haußecker • Franziska Schmidtke
(Hrsg.)

Rechtsextremismus und
„Nationalsozialistischer
Untergrund“
Interdisziplinäre Debatten,
Befunde und Bilanzen
Herausgeber
Wolfgang Frindte Nicole Haußecker
Friedrich-Schiller-Universität Jena Friedrich-Schiller-Universität Jena
Deutschland Deutschland

Daniel Geschke Franziska Schmidtke


Friedrich-Schiller-Universität Jena Friedrich-Schiller-Universität Jena
Deutschland Deutschland

Edition Rechtsextremismus
ISBN 978-3-658-09996-1 ISBN 978-3-658-09997-8 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-658-09997-8

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbi-


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Lektorat: Jan Treibel, Stefanie Loyal

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Kapitel 1

Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien


der Rechtsextremismusforschung von 1990 bis 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
Wolfgang Frindte, Daniel Geschke, Nicole Haußecker
und Franziska Schmidtke

Kapitel 2 Unschärfen, Befunde und Perspektiven

Sonderfall Ost – Normalfall West? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99


Über die Gefahr, die Ursachen des Rechtsextremismus zu verschleiern
Matthias Quent

Trends und Ursachen des Rechtsextremismus in Ostdeutschland . . . . . . 119


Heinrich Best
6 Inhaltsverzeichnis

Rechtsextremismus und pauschalisierende Ablehnungen . . . . . . . . . . . . . 131


Alte Probleme mit neuen Herausforderungen
Kurt Möller

Ideologien der Ungleichwertigkeit und Rechtsextremismus


aus der Sicht der Theorie eines identitätsstiftenden politischen
Fundamentalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Wolfgang Frindte und Daniel Geschke

Kapitel 3 „Nationalsozialistischer Untergrund“

Nicht vom Himmel gefallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195


Die Thüringer Neonaziszene und der NSU
Stefan Heerdegen

Uwe Böhnhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213


Rekonstruktion einer kriminellen Karriere
Heike Würstl

Der Verfassungsschutz und der NSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225


Dirk Laabs

Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter


nach dem NSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Thomas Grumke

Fallbeispiel Grass Lifter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277


Künstlerische Interventionen zum NSU im öffentlichen Raum in Sachsen
Franz Knoppe und Maria Gäde
Inhaltsverzeichnis 7

Kapitel 4 Gesellschaftliche Reaktionen

Rechtsextremismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
Herausforderungen für die ganze Gesellschaft
Anetta Kahane

„Lügenpresse“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
„Rechtsextremismus“ und „Rassismus“ in den Medien
Britta Schellenberg

Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt


in Brandenburg (1990-2008). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
Zur Problematik der statistischen Erfassung politisch
motivierter Kriminalität
Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz

Demokratieferne Rebellionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359


Pegida und die Renaissance völkischer Verschwörungsphantasien
Samuel Salzborn

Lachen gegen den Ungeist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367


Zum Potenzial des politischen Kabaretts am Beispiel der Thematisierung
des „NSU“-Diskurses
Frank Schilden

Kapitel 5 Prävention und Intervention

Rechtsextremismus und pauschalisierende Ablehnungen . . . . . . . . . . . . . 389


Grundlagen und Möglichkeiten der Prävention
Kurt Möller

Demokratieförderung und Rechtsextremismusprävention


in den Bundesländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403
Eine vergleichende Analyse der Landesstrategien
Franziska Schmidtke
8 Inhaltsverzeichnis

Deradikalisierung als Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425


Theorie und Praxis im nationalen und internationalen Vergleich.
Trends, Herausforderungen und Fortschritte
Daniel Köhler

Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen . . . 443
Die lokale politische Kultur als begünstigender Faktor
für die Herausbildung von Rechtsextremismus
Reiner Becker

Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee . . . . . . . . . . . . . . . . 463


Wolfgang Beutel, Kurt Edler, Mario Förster und Hermann Veith

Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481


Eine Studie zu den Erfahrungen von Betroffenen rechter Gewalt
Daniel Geschke und Matthias Quent

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507
Vorwort

Deutschland ist ein Einwanderungsland

Deutschland ist ein Einwanderungsland und laut Grundgesetz, Artikel 16a, Absatz
1, auch ein Land, in dem politisch Verfolgte Asylrecht genießen. Am 21.01.2015
stellte der Bundesinnenminister Thomas de Maizière den Migrationsbericht 2013
mit den Worten vor: „Der Bericht macht deutlich, dass Deutschland im Hinblick
auf die Zuwanderung gut aufgestellt ist“ (Quelle: bmi.bund.de). Das scheinen die
Demonstrantinnen und Demonstranten, die seit Herbst 2014 auf die Straße gehen,
um als „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegi-
da) zu demonstrieren, offenbar ganz anders zu sehen. Auf den Plakaten, die die
Pegida-Leute (und wie sie alle heißen) mit sich führten, wurde nicht nur gegen
den Islam und gegen eine verfehlte Einwanderungs- und Asylpolitik gehetzt. Die
Leute sollen auf die Straße gehen, weil sie – so liest man auf der Facebook-Sei-
te von Sügida (dem südthüringer Pegida-Ableger) – die „Schnauze voll haben,
von den Lügenmärchen und den etablierten Parteien“. Auch von „Lügenpresse“,
„Lügenpropaganda“ oder von deutschen Spitzenpolitikern, die ihr eigenes Volk
verachten, ist auf den Facebook-Seiten der Pegida-Bewegungen die Rede. Nun
werden bekanntlich Begriffe wie „Systemmedien“ oder „Lügenpresse“ gern von
den rechtspopulistischen und rechtsextremen Szenen gebraucht, um die scheinbare
„Gleichschaltung“ der Massenmedien im heutigen Deutschland zu kritisieren. Die
Herkunft dieser Begriffe sollte auch den Pegida-Anhängern bekannt sein: In den
1920er Jahren nutzten die Nationalsozialisten diese Begriffe, um die linke und die
ausländische Presse zu diffamieren. Mit anderen Worten: Die patriotisch-euro-
10 Vorwort

päischen Protagonisten1 wissen, was sie sagen und tun. Es geht ihnen nur vorder-
gründig um den Kampf gegen eine „Islamisierung des Abendlandes“. Tatsäch-
lich stellen sie die demokratische Verfasstheit dieses Landes und seinen Status
als Einwanderungsland in Frage und sind insofern die eigentliche Bedrohung der
Zivilisation.
Auch wenn die Demonstrationsbereitschaft dieser Leute rapide abgenommen
hat und sich Anfang 2015 in vielen Teilen Deutschlands ein breiter Widerstand
gegen die islamfeindliche Pegida-Bewegung formierte und Tausende für mehr
Weltoffenheit auf die Straße gingen, bleibt die Frage: Was wollen die „patriotisch-
europäischen“ Islamgegner und wer sind sie? Verweisen die Demonstrationen gar
auf neue Formen des Rechtsextremismus und Rechtspopulismus? Wie sehen diese
neuen Formen aus und was kann man dagegen tun?
Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigen sich die Beiträge des vorliegenden
Sammelbandes.
Die Bewegungen, die sich entweder Pegida, Nögida, Dügida, Sügida oder mit
anderen recht kuriosen Namen bezeichnen, könnten eigentlich aus Sicht der Sozial-
wissenschaftlerinnen und -wissenschaftler als analytische Sternstunde betrachtet
werden. Nun scheint sichtbar zu werden, was bisher im scheinbaren Dunkel ano-
nymer Befragungen verschwand. Die 5-6% Antisemiten in Deutschland oder die
5-7% Rechtsextreme oder die 17-22% Ausländerfeinde, wie aus einschlägigen so-
zialwissenschaftlichen Analysen abzuleiten war, gibt es in Deutschland schon seit
Jahren. Aber so richtig wahrgenommen wurden sie selten. Denn: so genau scheint
man es dennoch nicht zu wissen, wenn man sich nur auf herkömmliches sozialwis-
senschaftliches Instrumentarium (also auf Befragungen) verlässt. Jetzt kann man
sie sehen, kann auf Facebook ihre Vorlieben oder Hobbys anschauen usw. Also:
Das, was sich da auf den Pegida- oder Sügida-Demonstrationen zeigt, ist nicht neu.
Parallel dazu stieg die Anzahl rassistischer Angriffe auf Flüchtlingsunterkünf-
te 2014 stark an (Dernbach, 2015). Im Vergleich zum Vorjahr 2013, hat sich die
Zahl der Angriffe mehr als verdreifacht; allein 67 Angriffe ereignete sich zudem
im letzten Quartal 2014. Unter den insgesamt 150 registrierten Attacken waren
Brand- und Sprengstoffanschläge, Angriffe auf deren Bewohner und volksverhet-
zende Parolen.
Nun gilt es allerdings auch zu differenzieren: Unter den Pegida-„Wutbürgern“
waren nicht nur Rechtsextremisten, Rechtspopulisten oder Anhänger der AfD.
Auch Menschen, die sich bedroht fühlen oder Angst vor etwas haben, das sie

1 Personenbezogene Bezeichnungen werden im vorliegenden Band der besseren Lesbar-


keit wegen, wenn nicht anders hervorgehoben, in der männlichen Form wiedergege-
ben.
Vorwort 11

kaum aus eigener Erfahrung kennen, nahmen an den Pegida-Demonstrationen


teil. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wird nicht nur von „randständigen“
Personengruppen geäußert, sondern Àndet sich auch in der „stabilen Mitte“, wie
Wilhelm Heitmeyer und Kollegen oder Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar
Brähler in ihren repräsentativen Studien seit 2002 bis 2014 zeigen konnten.
In welchem Verhältnis stehen nun aber die gruppenbezogene Menschenfeind-
lichkeit, der Rechtspopulismus und Rechtsextremismus? Auch um diese Frage
geht es im vorliegenden Band.

Theoretische Unschärfen und der Rechtsextremismus


in der Mitte der Gesellschaft

Rechtsextremistische Orientierungen setzen sich nach Heitmeyer et al. (1992) aus


einer Ideologie der Ungleichheit bzw. Ungleichwertigkeit und der GewaltafÀni-
tät (bis hin zu gewalttätigem Handeln) zusammen. Beide Dimensionen wurden in
einschlägigen Publikationen (auf die im vorliegenden Band ausführlich eingegan-
gen wird) durch Subdimensionen mit verschiedenen Facetten untergliedert und
operationalisiert. Leserinnen und Leser werden sich erinnern, nach anfänglicher
Euphorie und umfangreicher Rezeption gerieten in den 1990er Jahren sowohl die
Heitmeyersche Rechtsextremismus-DeÀnition als auch der von ihm und Kollegen
vorgelegte Erklärungsansatz in die Kritik. Nicht zuletzt angesichts der ungelösten
DeÀnitionsprobleme wurde von einigen Forschern mit überwiegend politikwis-
senschaftlicher Ausrichtung Anfang der 2000er Jahre eine „KonsensdeÀnition“
vorgeschlagen. Rechtsextreme Einstellung solle in sechs Dimensionen gemessen
werden: „Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur“, „Chauvinismus“, „Aus-
länderfeindlichkeit“, „Antisemitismus“, „Sozialdarwinismus“ und „Verharmlo-
sung des Nationalsozialismus“. Die auf dieser Basis entwickelte Skala zur Messung
von rechtsextremen Einstellungen wurde in mehreren Studien eingesetzt, zuletzt
in den Mitte-Studien von Decker, Kiess und Brähler (2014), in der Studie der
Friedrich-Ebert-Stiftung „Fragile Mitte – Feindselige Zustände“ (Zick & Klein,
2014) und im Thüringen-Monitor 2014 (Best, Niehoff, Salheiser & Salomo, 2014).
Die „KonsensdeÀnition“ lehnt sich zwar an der o. g. Rechtsextremismus-DeÀnition
von Heitmeyer und Mitarbeitern an, greift aber nur eine der zwei Dimensionen –
die „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ auf. Auch im Langzeit-Projekt Gruppen-
bezogene Menschenfeindlichkeit (Heitmeyer, 2002 bis 2012) sollte von Anfang
an – vergleichbar mit der o. g. „KonsensdeÀnition“ – „nur“ eine der Dimensionen
empirisch beobachtet werden, die in der ursprünglichen Rechtsextremismus-De-
Ànition genannt sind – eben die Facetten (oder Elemente) der Ideologie der Un-
12 Vorwort

gleichwertigkeit. Sowohl die Befunde der Mitte-Studien als auch und besonders
die Ergebnisse aus dem Projekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF)
haben die scheinbare Unterscheidung zwischen den brutalen Rechtsextremisten
einerseits und der angeblich humanen Bevölkerung andererseits aufgelöst und auf
grundsätzliche Gefährdungen der deutschen Gesellschaft aufmerksam gemacht.
Die Erweiterung der wissenschaftlichen Perspektive war wichtig und notwendig,
hatte aber auch zur Folge – und das ist die These der Herausgeberinnen und Her-
ausgeber – dass die Gefährdung der Gesellschaft durch die sich in den letzten zwei
Jahrzehnten neu organisierenden rechtsextremen Milieus und Bewegungen nicht
primär im Fokus der wissenschaftlichen Analyse und Erklärung stand. Auf ein
politisches Problem dieser Fokussierung verweist Anetta Kahane:

„Das Konzept der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit hat den entschei-


denden Vorteil, dass es deutlich macht, dass GMF nicht ausschließlich ein unter
Rechtsextremisten verbreitetes Phänomen ist, sondern – die statistischen Erhebun-
gen zeigen das – in allen gesellschaftlichen Gruppen vorkommt. Zugleich kann dies
allerdings zu einer Entpolitisierung des Kampfes gegen den Rechtsextremismus füh-
ren“ (Kahane, 2012, S. 307f.).

Müssen die Rechtsextremismusforscherinnen und -forscher vor diesem Hinter-


grund möglicherweise ihre analytischen Instrumente schärfen?

Der Nationalsozialistische Untergrund

Im November 2011 wurde die rechtsterroristische Gruppierung Nationalsozialis-


tischer Untergrund (NSU) aufgedeckt. Fast 14 Jahre waren Mundlos, Böhnhardt
und Zschäpe untergetaucht. Zuvor waren die drei in der rechtsextremen Jenaer
Jugendszene und im rechtsextremen „Thüringer Heimatschutz“ aktiv, nahmen an
rechtsextremen Demonstrationen in Jena, Dresden und anderswo teil und bauten
Bomben. Gefahndet wurde nach den drei Personen noch bis Anfang der 2000er
Jahre. Seit dem 6. Mai 2013 Àndet in München der Prozess zu den Mordtaten des
Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) statt. Angeklagt sind Beate Zschäpe,
die einzige Überlebende des Mordtrios, sowie vier mutmaßliche Helfer und Unter-
stützer des NSU. Die Anklage gegen Beate Zschäpe lautet Mittäterschaft in zehn
Mordtaten, schwere Brandstiftung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Ver-
einigung. Ermordet wurden – so die Anklage – acht türkischstämmige und ein
griechischer Kleinunternehmer sowie eine Polizistin. Am 7.6.2014 schreibt DER
SPIEGEL, dass seit Bekanntwerden der NSU-Morde rund 700 Tötungsverbrechen
Vorwort 13

durch die Ermittlungsbehörden auf ein rechtsextremes Tatmotiv überprüft werden


(Baumgärtner, Röbel & Winter, 2014, S. 34). DER SPIEGEL fragt in diesem Zu-
sammenhang: „Gab es weitere Mörderbanden nach dem Muster des NSU? Oder
gehen womöglich noch mehr Taten auf das Konto der Rechtsextremen Uwe Mund-
los, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe?“ (Baumgärtner, Röbel & Winter, 2014,
S. 34). Nach den Recherchen des Opferfonds CURA der Amadeu Antonio Stiftung
kamen seit 1990 bis 2013 184 Menschen durch die Folgen menschenfeindlicher
Gewalt ums Leben (Erkol & Winter, 2013). Die nach dem November 2011 be-
kannt gewordenen Fahndungspannen, das Vernichten von Akten bei Polizei und
Verfassungsschutz, die möglichen rechtsextremen Unterstützerinnen und Unter-
stützer des Terror-Trios und dessen Kontakte zum Verfassungsschutz beschäftigen
noch immer Untersuchungsausschüsse auf Länder- und Bundesebene. Und so ist es
nicht verwunderlich, dass die Morde des NSU, seine Vernetzung mit inländischen
und ausländischen rechtsextremen Bewegungen und die Kontakte des NSU zum
Verfassungsschutz schließlich und noch immer irritieren, verstören, hilÁos und
wütend machen können.
Gegenwärtig arbeiten in Hessen, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen
parlamentarische Untersuchungsausschüsse zu den zahlreichen noch ungeklärten
Fragen wie etwa den Umständen des Mords an der Polizistin Michèle Kiesewetter
oder den auffälligen Verbindungen des hessischen Verfassungsschutzes zu dem
Mord an Halit Yozgat in Kassel. Der politische Wille für die notwendige Auf-
klärung ist allerdings begrenzt. In Hessen konnte der Ausschuss nur gegen den
Willen der schwarz-grünen Regierung eingesetzt werden, die argumentierte, der
Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags hätte bereits alle Fragen ge-
klärt. Aber ist das wirklich so?
Nein, der Vorhang ist nicht geschlossen; nach wie vor sind viele Fragen offen.
Das zeigen die in diesem Band versammelten Beiträge.

Überblick über die Inhalte dieses Sammelbandes

Ein großer Teil dieser Beiträge geht auf die 27. Jahrestagung Friedenspsychologie
zurück, die Ende Juni 2014 unter dem Titel „Nationalsozialistischer Untergrund,
Rechtsextremismus und aktuelle Beiträge der Friedenspsychologie“ in Jena an der
Friedrich-Schiller-Universität stattfand. Um die damals angestoßenen Debatten
weiterzuführen und nach Antworten auf die vielen offenen Fragen zum Rechtsex-
tremismus, zum Rechtspopulismus und zum NSU zu suchen, bieten die Buchbei-
träge sehr vielfältige Anregungen aus theoretischen, empirischen und praktischen
Perspektiven. Diese Perspektiven sind keinesfalls vollständig. Wie könnten sie
14 Vorwort

das auch sein. Überdies dokumentieren die Beiträge auch die Vielfalt, die Unter-
schiedlichkeit und manche Widersprüchlichkeit in und zwischen den Sicht- und
Handlungsweisen im Umgang mit dem Rechtsextremismus.
Im Kapitel 1 legen die Herausgeberinnen und Herausgeber ein zusammen-
fassendes, quantitatives und qualitatives Review der deutschsprachigen und
internationalen psychologischen und sozialwissenschaftlichen Forschung zum
Rechtsextremismus in den Jahren 1990 bis 2013 vor. Aufbauend auf wissen-
schaftstheoretischen Grundlagen werden wissenschaftliche Publikationen zum
Rechtsextremismus in ihrem Umfang und ihren theoretischen und empirischen
Inhalten gesichtet und jeweils zentrale Forschungsfragen, DeÀnitionsansätze, er-
klärende Theoriegebäude und Untersuchungsdesigns beispielhaft dargestellt und
DeÀzite aufgezeigt.
Das Kapitel 2 behandelt „Unschärfen, Befunde und Perspektiven“ der gegen-
wärtigen und künftigen Rechtsextremismusforschung. Im ersten Beitrag dieses
Kapitels zeigt Matthias Quent quellenreich auf, dass der Rechtsextremismus im
Osten Deutschlands eine Geschichte hat, die bereits vor 1989 begann, aber weder
ein originär ost- noch ein einzig westdeutsches Phänomen darstellt. Monokausale
Erklärungsansätze, in denen von einem „Sonderfall Ost“ und einem „Normalfall
West“ die Rede ist, sind zwar populär, aber unzureichend.
Kurt Möller beschäftigt sich in seinem Beitrag „Rechtsextremismus und pau-
schalisierende Ablehnungen – alte Probleme mit neuen Herausforderungen“
zunächst mit dem schon erwähnten Problem der begrifÁichen Unschärfen, um
anschließend die wichtigsten Befunde der letzten Jahre über das Ausmaß rechts-
extremer Tendenzen in Deutschland und deren Entwicklungen zu analysieren.
Letztlich – so Kurt Möller – ist der Rechtsextremismus ein strukturelles und kein
konjunkturelles Problem.
Heinrich Best nimmt die Befunde des Thüringen-Monitors, eine seit 2000 jähr-
lich stattÀndende repräsentative Bevölkerungsbefragung zur politischen Kultur im
Freistaat Thüringen, zum Anlass, um die bereits im Beitrag von Matthias Quent
aufgeworfene Frage zu beantworten, ob es sich beim Rechtsextremismus im inner-
deutschen Vergleich um ein speziÀsch ostdeutsches Phänomen handelt. Die Befun-
de, die der wissenschaftliche Leiter des Thüringen-Monitors präsentiert, scheinen
einer solchen Antwort zumindest nicht zu widersprechen.
Im vierten und letzten Beitrag dieses zweiten Kapitels präsentieren Wolfgang
Frindte und Daniel Geschke eine neue sozialpsychologische Theorie – die „Theo-
rie eines identitätsstiftenden politischen Fundamentalismus“ -, mit der eine er-
weiterte theoretische, empirische und potentiell auch praktische Perspektive auf
rechtsextreme Tendenzen verbunden ist. Rechtsextremismus wird zunächst als
Triple-Phänomen (Dreikomponenten-Ansatz) konzipiert: als fundamentalistische
Vorwort 15

Ideologie (der Ungleichwertigkeit), durch die Gewaltpotentiale (Gewaltakzeptanz,


-bereitschaft und -handeln) und negative Gruppenemotionen legitimiert werden
können. Die soziale Identität als IdentiÀkation mit relevanten (rechtsextremen)
Bezugsgruppen fungiert dabei als Mediator zwischen diversen Kontextbedingun-
gen und der fundamentalistischen Ideologie der Ungleichwertigkeit, den Gewalt-
potentialen und den Gruppenemotionen. Um diese Mediatorfunktion empirisch
nachzuweisen, greifen die Autoren schließlich auf Sekundäranalysen eigener Stu-
dien zurück, die im Zeitraum von 1998 bis 2011 durchgeführt wurden.
Kapitel 3 widmet sich dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ und vor allem
auch seinem gesellschaftlichen, historischen und institutionellen Kontext aus ver-
schiedenen Perspektiven: historisch, entwicklungssoziologisch, journalistisch-kri-
minalistisch, politikwissenschaftlich, sozialkonstruktivistisch und künstlerisch.
Zunächst analysiert Stefan Heerdegen als Mitarbeiter der Mobilen Beratung in
Thüringen „MOBIT“, einer Beratungsstelle zum praktischen Umgang mit extrem
rechten Erscheinungsformen, in seinem Text den Kontext der Entstehung und der
späteren Taten des NSU. Er beschreibt die Thüringer neonazistische, extrem rechte
und Kameradschaftsszene der 1990er Jahre und führt auch für die nachfolgenden
Jahre die personelle und strukturelle Einbindung des NSU-Trios in neonazistische
Netzwerke wie den „Thüringer Heimatschutz“ oder „Blood & Honour“ detailliert
aus. Sein Beitrag verweist auf die Kontinuität in rechter Ideologie, Organisierung
und Gewalt bis zur Mordserie des NSU und sieht in letzterer keine wirklich über-
raschende oder neue Qualität.
Im zweiten Text dieses Kapitels fokussiert Heike Würstl aus einer biograÀe-
forschenden, entwicklungssoziologischen Perspektive auf den individuellen Wer-
degang eines Kernmitglieds des NSU. Im Rahmen dieser lebenslauforientierten
Rechtsextremismusforschung versucht sie anhand objektiver Lebensdaten von
Uwe Böhnhardt zu erklären, welche individuellen, familiären, historischen und
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seinen Weg zum rechtsextremen Mörder
erklären können. Sie konstatiert im theoretischen Rahmen eines Desintegrations-
ansatzes (Anhut & Heitmeyer, 2007) Böhnhardts individuelle Unfähigkeit, seine
vielfältigen AnerkennungsdeÀzite zu kompensieren. Die rechtsextreme Ideologie
und die vermeintliche Verantwortung der Nichtdeutschstämmigen für sein Schei-
tern ermöglichten es ihm demnach, ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten und
die Gewaltexzesse des NSU vor sich selbst zu rechtfertigen.
Im dritten Abschnitt „Der Verfassungsschutz und der NSU“ beschäftigt sich
der Journalist Dirk Laabs mit dem Umgang staatlicher Behörden mit rechtster-
roristischen Bedrohungen. Akribisch recherchiert (vgl. auch Aust & Laabs, 2014)
dokumentiert er – u. a. mittels zahlreicher Zitate aus den Untersuchungsberich-
ten verschiedener NSU-Ausschüsse und durch historische Referenzen –, dass das
16 Vorwort

Bundesamt und auch die Landesämter für Verfassungsschutz keinesfalls „auf dem
rechten Augen blind“ waren. Im Gegenteil: auf Grund zahlreicher V-Männer und
Spitzel waren sie bestens informiert und rechter Terror wurde bereits vor und in
den 90er Jahren antizipiert und für möglich gehalten. Er beschreibt auch die Kon-
kurrenz zwischen verschiedenen Behörden (wie den Bundes- und Landeskrimi-
nalämtern und den Verfassungsschutzbehörden), welche sich bis hin zur Sabotage
polizeilicher Arbeit bei der Verfolgung der Rechtsterroristen auswuchs; und auch
das Versagen der Thüringer Justiz. Für die Verfassungsschützer ging dabei (und
geht teilweise bis heute) „Quellenschutz vor Strafverfolgung“, wodurch nicht nur
die neonazistische Szene deutschlandweit gestärkt, sondern auch die Festsetzung
der Rechtsterroristen des NSU mehrfach verhindert wurde. Ohne die Unterstüt-
zung rechtsextremer Strukturen durch die Verfassungsschutzbehörden und die
gezielte Ignoranz zahlreicher Hinweise auf den NSU hätte die militante Neonazi-
szene viel früher kontrolliert oder zerschlagen und die Morde des NSU vielleicht
sogar verhindert werden können. Nicht zuletzt beschreibt Laabs auch für die Zeit
nach dem AufÁiegen des NSU die systematische Aktenvernichtung und damit kri-
minelle Verschleierung der staatlichen Verwicklung in rechtsextreme Strukturen,
welche bisher kaum personelle Konsequenzen hatte. Sein Beitrag verweist auf vie-
le offene Fragen zur Verbindung von staatlichen Behörden und Rechtsextremen.
Die Opfer des NSU, ihre Angehörigen und auch die Gesellschaft insgesamt haben
ein Recht auf die Aufklärung dieser Fragen, wobei zum Erhellen der Wahrheit ein
langer Atem gefragt ist.
Im vierten Text dieses Kapitels analysiert Thomas Grumke aus einer politikwis-
senschaftlichen Perspektive „Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter
nach dem NSU“. Er beschreibt sehr detailliert die Strukturen und das Personal die-
ser Ämter und führt aus, wie sich ihr Image im Laufe der NSU-Affäre von einem
„Frühwarnsystem der Demokratie“ bis hin zu einer „Gefahr für die Demokratie“
entwickelt hat. Die Verantwortlichen entziehen sich der Verantwortung und deren
Inkompetenz ist nicht nur individuell, sondern auch strukturell bedingt, z. B. gibt es
keine einheitlichen Personalauswahl-, Ausbildungs- und Fortbildungsstandards und
einen eklatanten Mangel an sozialwissenschaftlicher Analysekompetenz innerhalb
der für den Rechtsextremismus zuständigen Ämter. Eine penible Untersuchung von
analytischen Fehlern und fachlichen und praktischen Versäumnissen staatlichen
Handelns hält er für dringend geboten, hier sieht er die verschiedenen Untersu-
chungsausschüsse in der PÁicht. Er mahnt, dass, wenn man die Verfassungsschutz-
behörden für ein zentrales Element der wehrhaften Demokratie hält, man diese
demnach auch in einen entsprechenden personellen und materiellen Stand verset-
zen müsse. Ernüchternd konstatiert er aber, dass deren strukturelle Neuausrichtung
oder Neujustierung bisher überhaupt nicht in Sicht ist. Da Rechtsextremismus ein
Vorwort 17

gesamtgesellschaftliches Problem ist, sieht er auch alle in der PÁicht, damit erfolg-
reich umzugehen: „Aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger sind das Fundament einer
demokratischen Kultur und so der beste Verfassungsschutz“.
Im fünften und letzten Abschnitt des dritten Kapitels beschreiben Franz Knop-
pe und Maria Gäde als Kunstaktivisten und Mitglieder der Gruppe „Grass Lifter“
(also die, die das Gras ausgraben) ihre „Künstlerische(n) Interventionen zum NSU
im öffentlichen Raum in Sachsen“. Auf einer system- und kommunikationstheore-
tischen Perspektive aufbauend fragten sie sich zunächst, wie die sächsische Bevöl-
kerung und lokale Behörden nach der Aufdeckung des NSU damit umgingen, dass
die Rechtsterroristen jahrelang unter ihnen gelebt hatten und identiÀzierten hier
sehr starke Verdrängungsmechanismen. Um diese zu durchbrechen, zur ReÁexion
anzuregen und Diskurse auszulösen führten sie – inspiriert u. a. von den groß-
artigen „THE YES MEN“ um Andy Bichlbaum (vgl. http://theyesmen.org) – vier
verschiedene, sehr symbolkräftige und medienwirksame künstlerische Interven-
tionen im öffentlichen Raum durch. Im Text beschreiben sie diese Kunstaktionen,
unterlegt mit aussagekräftigen Bildern, sowie deren Logik und Grundprinzipien,
ihre künstlerischen Motivationen, Ansätze, Taktiken, Prinzipien, Theorien und
gruppendynamischen Prozesse, sowie die gesellschaftlichen Reaktionen darauf.
Mit einem Schmunzeln nimmt man als Leser oder Leserin erfreut zur Kenntnis,
wie es ihnen durch diese relativ unaufwändigen künstlerischen Aktionen gelungen
ist, das vor Ort herrschende politische Meinungsvakuum mit künstlerischen Mit-
teln zu füllen und somit einen Beitrag zum Umkonstruieren unserer immer sozial
konstruierten Realität zu leisten.
In Kapitel 4 werden gesellschaftliche Reaktionen zum Rechtsextremismus aus
verschiedenen Perspektiven vorgestellt. Hier kommen Praktikerinnen und Prakti-
ker zu Wort, die Medienberichterstattung und Reaktionen von Politikerinnen und
Politikern auf diese werden analysiert und das Potenzial des politischen Kabaretts
diskutiert. Dabei werden aktuelle Bezüge hergestellt, z. B. was Satire ist und darf –
im Hinblick auf die Mohammed-Karikaturen – und welche Protestmotivation hin-
ter der Teilnahme an Pegida-Demonstrationen steckt. Die Problematik der statisti-
schen Erfassung politisch motivierter Kriminalität wird anhand ofÀzieller Zahlen
und erweiternder Fallanalysen von Todesopfern rechtsextremer Gewalt diskutiert.
Annetta Kahane eröffnet das vierte Kapitel als Praktikerin, schildert verschie-
denste Szenen aus dem Osten und dem Westen Deutschlands und versucht damit
ein Bild zu zeichnen, was Rechtsextremismus heute ist und wie er entstand. Die
Gefahr sieht sie vor allem in der Synthese von nationalrevolutionären militanten
und populistisch rassistischen Bewegungen, die in Deutschland probiert wird.
Deshalb sollte die erste Praxis die des Schutzes von Minderheiten sein sowie die
Zusammenarbeit von allen gesellschaftlichen Bereichen.
18 Vorwort

Britta Schellenberg analysiert in ihrem Artikel die mediale Thematisierung


von Rechtsextremismus und Rassismus sowie die Debattenbeiträge von Akteuren,
die an der Medienberichterstattung Kritik üben und setzt diese in Beziehung zu
ihren jeweiligen Normvorstellungen und Problemwahrnehmungen. Dafür betrach-
tet sie den konkreten Fall „Mügeln“ und die öffentliche Debatte darüber. Ziel der
empirischen Analyse ist es, problematische Strukturen jenseits des Neonazismus
aufzuzeigen, die grundlegende Herausforderungen für eine demokratische Aus-
einandersetzung und die Strategieentwicklung im Bereich „Rechtsextremismus“
und „Rassismus“ markieren.
Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz widmen sich im
darauffolgenden Beitrag der Frage des tatsächlichen Ausmaßes rechter Gewalt,
speziell anhand der Zahl der Todesopfer. Dafür stellen sie Auszüge aus ihrem For-
schungsprojekt vor und erläutern anhand einiger Beispiele, welche Fälle nicht sta-
tistisch in dem Bereich „Politisch motivierter Kriminalität – rechts“ erfasst werden
aber anhand verschiedener Gutachten eindeutig als solche zu kategorisieren sind.
Letztlich kommen sie zu dem Schluss, dass das staatliche DeÀnitionssystem „Poli-
tisch motivierte Kriminalität“ (PMK) gegenüber älteren an „Staatsschutz“ und
„Extremismus“ orientierten DeÀnitionsansätzen politischer Gewalt bzw. Krimina-
lität und den entsprechenden polizeilichen Erfassungssystemen unzweifelhaft eine
deutliche Verbesserung darstellt, aber das Erkennen entsprechender Motivlagen
weiterhin erhebliche Anforderungen an die Analysekompetenz der Polizei stellt.
Samuel Salzborn geht der hochaktuellen Frage nach, welche Protestmotivation
hinter der Teilnahme an Pegida-Demonstrationen zu identiÀzieren ist – nämlich
Egoismus und Demokratieferne – und diskutiert in diesem Kontext die jüngsten
empirischen Ergebnisse. Danach geht er auf das Weltbild der Verschwörungsängs-
te und auf Strategien des Umgangs damit ein und postuliert, nicht den Forderungen
der Demonstrantinnen und Demonstranten nachzugeben, sondern ihnen mit aller
Entschiedenheit entgegenzutreten. Abschließend kommt er zu dem Fazit, dass der
rassistische Ruf gegen eine „Islamisierung des Abendlandes“ in Wahrheit der Ruf
nach einer antidemokratischen und autoritären Lösung eines Problems ist, das nur
in den Ängsten und Phantasien seiner Anhänger besteht.
Das vierte Kapitel wird dann mit dem Beitrag von Frank Schilden abgeschlos-
sen, der zum Ziel hat, den Mythos der alles dürfenden Satire mindestens zu relati-
vieren, zu erklären und in den entsprechenden Kontext zu rücken, um dann auf das
Politische Kabarett näher einzugehen. Aus linguistischer Perspektive wird eine
besondere Spielart kabarettistischer Vorträge am Beispiel der Thematisierung des
„NSU“ aufgezeigt. Eine ReÁexion über das aufklärerische und didaktische Poten-
zial von Kabarett schließt den Beitrag ab.
Vorwort 19

Das Kapitel 5 stellt Analysen und Überlegungen zu Prävention und Intervention


im Kontext von Rechtsextremismus vor. Dabei verschmelzen theoretische Über-
legungen zur Angemessenheit von Prävention mit der Analyse konkreter Präven-
tionsmodelle.
Kurt Möller eröffnet das fünfte Kapitel und verbindet seine im Kapitel 2 dar-
gelegten Überlegungen nun mit Empfehlungen für eine praktische Ausgestaltung,
wie sie etwa im neu aufgelegten Bundesprogramm „Demokratie leben!“ angestrebt
sind. Dafür zeichnet er Grundzüge des biograÀschen Aufbaus rechtsextremer Hal-
tungen nach, um vor diesem Hintergrund Schlussfolgerungen für eine nachhaltig
wirksame Bearbeitung zu formulieren.
Daran anschließend stellt Franziska Schmidtke Vergleichsaspekte der von den
Bundesländern formulierten Programme zur Auseinandersetzung mit Rechtsext-
remismus und Demokratieförderung vor. Sie erläutert die inhaltliche Bandbreite
der verschiedenen Programme und überprüft kritisch die Verknüpfung von inhalt-
lichen Zielen und strukturellen Umsetzungen, sowie die Wirkfähigkeit der Pro-
gramme.
Daniel Köhler greift aus der Vielfalt von Präventionsmaßnahmen die Ansät-
ze der „Deradikalisierung“ heraus. Er erklärt die theoretischen Hintergründe der
Methode und analysiert vor dem Hintergrund internationaler Vergleichsfälle die
praktische Umsetzung in Deradikalisierungsprogrammen. Diese ordnet er sche-
matisch und formuliert so Trends und Herausforderungen, die insbesondere der
Weiterentwicklung und wissenschaftlichen Fundierung der deutschen Projekt-
landschaft dienen können.
Reiner Becker formuliert in seinem Beitrag ein Plädoyer für die Einbeziehung
der politischen Kultur im sozialen Nahraum bei der Erforschung der Ursachen
für die Herausbildung einer rechtsextremen Szene. Er erläutert kenntnisreich Ebe-
nen und Wirkungsweisen der politischen Kultur für die Entwicklung rechtsextre-
mer Haltungen und leitet daraus Anforderungen für Maßnahmen der Prävention
und Intervention ab. Schließlich untermauert er seine Argumentation durch einen
Praxisbericht aus Hessen und zeigt anhand dessen die Bedeutung tradierter Vor-
urteilsstrukturen auf.
Auch Wolfgang Beutel, Kurt Edler, Mario Förster und Hermann Veith ver-
binden ihre Fürsprache, hier für den Ansatz der Demokratiepädagogik als prä-
ventionswirksame Idee, mit konkreten Projektbeispielen. Sie entfalten die theo-
retischen Grundlagen der Demokratiepädagogik vor dem Hintergrund einer
DeÀzitanalyse der Institution Schule und zeigen anhand von Praxisprojekten die
vielfältige Einsetzbarkeit des Konzepts in verschiedenen Schulformen auf. Dieser
Blick wird zudem ergänzt und erweitert durch eine Initiative des Kompetenzzen-
trums Rechtsextremismus an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, in der alle
20 Vorwort

Bildungsbereiche aufgenommen sind und damit der Wirkungsbereich von Demo-


kratiepädagogik weiter ausgebaut wird.
Daniel Geschke und Matthias Quent wenden sich schließlich der bisher wis-
senschaftlich unterbelichteten Opferperspektive zu und präsentieren eine quantita-
tive Untersuchung zur sekundären Viktimisierung von Opfern rechter Gewalt. Sie
zeigen systematische Schwachpunkte im Umgang der Polizei mit den Betroffenen
rechter Gewalt auf und tragen damit nicht nur zu einem wissenschaftlichen, son-
dern auch gesellschaftlich dringend notwendigen Diskurs bei.
Schlussendlich wollen wir, die Herausgeberinnen und Herausgeber, uns bei all
jenen bedanken, die am Zustandekommen des nun vorliegenden Band beteiligt
waren. Unser Dank gilt natürlich zu allererst den Autorinnen und Autoren der fol-
genden Beiträge. Außerdem danken wir Lukas Erhard, Marius Meyer und Stepha-
nie Wohlt für die gründliche und schnelle Hilfe bei der manchmal nicht leichten
Korrekturarbeit am Manuskript.
Bei der Stiftung für Technologie, Innovation und Forschung des Freistaates
Thüringen bedanken wir uns für die Ànanzielle Unterstützung bei der Publikation
des vorliegenden Buches.
Das Buch erscheint als Band in der Reihe „Edition Rechtsextremismus“, die
von Fabian Virchow und Alexander Häusler betreut und herausgeben wird. Ihnen
danken wir für die Bereitschaft, auch unser Buch in dieser Reihe herauszubringen.
Mit Springer VS und dem Verlag für Sozialwissenschaften verbindet uns eine
lange und gute Zusammenarbeit. Auch diesmal hat sich der Bund bewährt. Unser
besonderer Dank gilt deshalb Herrn Jan Treibel und Frau Stefanie Loyal für die
Hilfe beim Fertigstellen des Endmanuskripts.
Wir hoffen, dass sich die Leserinnen und Leser dieses Buches sowohl von der
Pluralität der folgenden Beiträge als auch von den Differenzen zwischen den ein-
zelnen Beiträgen anregen lassen, um im Sinne der gelebten Demokratie die theo-
retische und praktische Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus und dem
Rechtspopulismus fortzusetzen.

Wolfgang Frindte, Daniel Geschke,


Nicole Haußecker & Franziska Schmidtke
Jena, im März 2015
Vorwort 21

Literatur
Anhut, R. & Heitmeyer, W. (2007). Desintegrationstheorie – ein Erklärungsansatz. Univer-
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Segen und Fluch der Komplexität. In W. Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände 10. Ber-
lin: Suhrkamp.
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Zick, A. & Klein, A. (2014). Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstel-
lungen in Deutschland 2014. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.
Kapitel 1
Ein systematisierender Überblick
über Entwicklungslinien
der Rechtsextremismusforschung
von 1990 bis 2013
Wolfgang Frindte, Daniel Geschke, Nicole Haußecker
und Franziska Schmidtke

1 Ausgangssituation

Ist der Rechtsextremismus ein „Phänomen“ (Zick, 2004, S. 263), das der psycho-
logischen und sozialwissenschaftlichen Beobachtung zugänglich ist, aber aus
unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven erklärt werden kann? Ist der
Rechtsextremismus gar ein „Forschungsfeld“ (Neidhardt, 2002, S. 781), das zwar
theoretisch und methodisch schwach ausdifferenziert ist, aber disziplinübergrei-
fend beforscht wird? Oder ist der Rechtextremismus ein „Modethema“ (Butter-
wegge, 2000, S. 13), dessen Erforschung Konjunktur- und Dramatisierungszyklen
folgt?
Die Antworten auf diese Fragen bestimmen letztlich auch, ob die „Rechtsex-
tremismusforschung“ einen eigenständigen Status als Forschungsfeld oder For-
schungsprogramm in den Sozialwissenschaften1 und der Psychologie besitzt oder
besitzen sollte. Um Antworten auf diese und andere Fragen zu Ànden, wurden
sozialwissenschaftliche und psychologische Publikationen, die im Zeitraum von
1990 bis 2013 zum Thema „Rechtsextremismus“ erschienen sind, analysiert. Basis
der Analyse sind a) die Datenbanken zur psychologischen Fachliteratur PsycINFO
(mit dem Schwerpunkt auf angloamerikanischen Publikationen) und PSYNDEX

1 Zu den Sozialwissenschaften werden hier all jene Wissenschaften zugerechnet, die


sich im weitesten Sinne mit der Erforschung des gesellschaftlichen Zusammenlebens
beschäftigen, wie Soziologie, Politikwissenschaft, Kulturwissenschaft, Kommunika-
tionswissenschaft, Pädagogik.

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
26 Wolfgang Frindte et al.

(deutsch- und anderssprachige Publikationen aus dem deutschsprachigen Raum),


b) die Datenbank WISO (das Portal für Wirtschaftswissenschaften und Sozialwis-
senschaften, in dem überwiegend deutschsprachige Publikationen erfasst werden)
und c) die (englischsprachige) interdisziplinäre Datenbank Web of Science. Aus-
geklammert aus den folgenden Analysen wurden zunächst (aus arbeitsorganisato-
rischen Gründen) all jene Arbeiten, die sich ausschließlich mit Interventions- und
Präventionsprogrammen im Kampf gegen den Rechtsextremismus beschäftigen.2
Einen Überblick über den aktuellen Stand entsprechender Programme Àndet sich
im Kapitel 4 dieses Bandes.
Ausgangspunkt für die folgende Analyse ist die – im weitesten Sinne an La-
katos (1971, 1974), Herrmann (1983, S. 252) und Kuhn (1976) angelehnte – Auf-
fassung, dass Forschungsprogramme jene Menge von Folgerungen umfassen, a)
die sich aus der Festlegung sinnvoll zu bearbeitender Probleme ergeben, b) mit der
Wahl bestimmter Problemlösungen und c) geeigneter Methoden verbunden sind
und d) innerhalb von Wissenschaftsgemeinschaften getroffen werden.

2 Publikationen in den deutschsprachigen


Datenbanken WISO und PSYNDEX

Zwischen Anfang 1990 und Ende 2013 verweist die sozialwissenschaftliche Daten-
bank WISO insgesamt auf ca. 4800 wissenschaftliche Publikationen (in Fachzeit-
schriften und Büchern; Suche am 18.02.2014) zum Suchbegriff „rechtsextrem“; in
der psychologischen Datenbank PSYNDEX werden für diesen Zeitraum (Suchbe-
fehl „rechtsextrem“, 18.02.2014) 460 themenbezogene Publikationen ausgewiesen
(siehe Abbildung 1).

2 Interventions- und Präventionsprogramme lassen sich – nach Herrmann (1983, S. 274)


auch als „technologische Programme“ bezeichnen, mit denen primär ein für die nicht-
forschende Praxis unmittelbar nutzbares operatives (Hintergrund-) Wissen erarbeitet
wird. Insofern scheint die folgende Ausklammerung derartiger Programme zunächst
durchaus gerechtfertigt zu sein. Psychologische Ansätze zu Präventions- und Interven-
tionsansätzen gegen Rechtsextremismus finden sich u. a. in Ahlheim (2007), Becker
und Palloks (2013), Borstel und Wagner (2006), Elverich (2011), Frindte und Preiser
(2007), Glaser und Pfeiffer (2013), Melzer und Serfain (2013), Molthagen u. a. (2008),
Rieker (2009), Schoeps u. a. (2007).
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 27

Abbildung 1 Psychologisch und sozialwissenschaftlich relevante Publikationen zum


Rechtsextremismus in den Jahren 1990 bis 2013.

Während in den Sozialwissenschaften insgesamt eine relativ stabile und hohe Pu-
blikationsrate zum Rechtsextremismus zu beobachten ist, liegt diese Rate in der
Psychologie – erwartungsgemäß, disziplintypisch und verständlicherweise – auf
niedrigerem Niveau und scheint überdies in den 2000er Jahren leicht rückläuÀg
zu sein. Auffallend sind außerdem die relativ hohen Publikationsspitzen – sowohl
bei PSYNDEX als auch bei WISO – in den Jahren 1993 und 1994. Weitere Spitzen
zeigen sich bei WISO auch zu Beginn, in der Mitte und am Ende der 2000er Jahre.
Die folgende Abbildung 2 illustriert die im Zeitraum 1990 bis 2012 vom Verfas-
sungsschutz erfassten und berichteten rechtsextremistisch motivierten Straf- und
Gewalttaten (nach Verfassungsschutzbericht, 1990 – 2012).
28 Wolfgang Frindte et al.

Abbildung 2 Rechtsextremistische Straf- und Gewalttaten 1991 bis 2012 (Quelle: Ver-
fassungsschutz).

In den Jahren 1992 und 1993 verzeichnet der Verfassungsschutz einen bedeut-
samen Anstieg an rechtsextremistischen Straf- und Gewalttaten. Rückblickend
verweist Andreas Klärner (2008, S. 26ff.) u. a. darauf hin, dass der parteiförmige
Rechtsextremismus in den 1990er Jahren erheblich an Relevanz eingebüßt habe.
An Stelle dessen gewannen vor allem jugendkulturelle rechtsextreme Tendenzen
an Bedeutung.

„Von Ostdeutschland aus breitete sich eine Welle fremdenfeindlicher Gewalt über
ganz Deutschland aus, und die Täter stammten in erster Linie aus diesen neuen Ju-
gendkulturen“ (Klärner, 2008, S. 27).

Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die z. T. pogromähnlichen Ausschrei-


tungen gegen Unterkünfte von Flüchtlingen und Vertragsarbeitern im September
1991 in Hoyerswerda, im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen (vgl. z. B. Richter
& Schmidtbauer, 1993), sowie gegen Wohnhäuser türkischstämmiger Deutscher
im Oktober 1991 in Hünxe, im November 1992 in Mölln und im Mai 1993 in So-
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 29

lingen. Die in der o. g. Abbildung 1 erkennbaren Publikationsspitzen in den Jahren


1993 und 1994 könnten somit u. U. eine wissenschaftliche Reaktion auf die 1992
und 1993 erfolgte Eskalation des gewalttätigen Rechtsextremismus sein.
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre öffnete sich die NPD für Angehörige
der verbotenen Neonazi-Organisationen und für Anhänger rechtsextremer Skin-
headgruppen. Auch Anhänger der Neuen Rechten propagierten in dieser Zeit
rechtspopulistische Losungen. Insgesamt – so Klärner (2008, S. 29) – gewann der
Rechtsextremismus in den 1990er Jahren an Breite und Vielfalt. Nicht nur die
demokratische Öffentlichkeit reagierte auf diese Entwicklungen (z. B. durch Mas-
sendemonstrationen und „Lichterketten“ im Übergang von 1992 zu 1993, vgl. auch
Kleger, 1996). Auch für die Sozialwissenschaften und die Psychologie wurde der
Rechtsextremismus zunehmend zum Gegenstand wissenschaftlicher Analysen.
Auch wenn ein Vergleich zwischen den Zeiträumen 1990 bis 2000 und 2001 bis
2012 nur bedingt möglich ist, da der Verfassungsschutz im Jahre 2001 ein neues
Verfahren zur Zählung entsprechender Straftaten einführte3, lassen sich die in der
Abbildung 2 erkennbaren Schwankungen nach 2000 relativ gut erklären: Nachdem
es im Jahre 2000 zu einer Folge aufsehenerregender Gewalttaten gekommen war
(Ermordung von Alberto Adriano im Juni 2000, Handgranatenattentat in Düs-
seldorf im Juli 2000, Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge im Oktober
2000), die deutsche Zivilgesellschaft sich gegen den Rechtsextremismus zur Wehr
zu setzen versuchte und Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung einen Antrag
zum Verbot der NPD beim Bundesverfassungsgericht eingereicht hatten, verrin-
gerte sich in den Jahren 2001 bis 2003 die Anzahl der registrierten rechtsextremen
Straf- und Gewalttaten. Im März 2003 scheiterte das NPD-Verbotsverfahren; 2004
gelang der NPD der Einzug in den sächsischen Landtag. Und seit 2004 registriert
der Verfassungsschutz wieder ein rasantes Ansteigen rechtsextremistischer Straf-
und Gewalttaten.

3 „Die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren des Bundes und der Län-
der (IMK) hat am 10. Mai 2001 die Einführung des neuen Definitionssystems „Poli-
tisch motivierte Kriminalität“ rückwirkend zum 1. Januar 2001 beschlossen (vgl. auch
den Beitrag von Feldmann, Kopke und Schultz in diesem Band). Zentrales Erfassungs-
kriterium des neuen Meldesystems ist die politisch motivierte Tat. Als politisch moti-
viert gilt eine Tat insbesondere dann, wenn die Umstände der Tat oder die Einstellung
des Täters darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund ihrer
politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion,
Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung, Behinderung oder ihres äußeren
Erscheinungsbildes bzw. ihres gesellschaftlichen Status richtet“ (Verfassungsschutz-
bericht, 2001, S. 35).
30 Wolfgang Frindte et al.

Die unterschiedlichen Entwicklungen der wissenschaftlichen Publikationen


zum Thema „Rechtsextremismus“ und die Entwicklung der rechtsextremistischen
Straf- und Gewalttaten in den Zeiträumen von 1990 bis 2000 und von 2001 bis
2013 legen es nahe, das Forschungsfeld des Rechtsextremismus im deutschspra-
chigen Raum für die Zeiträume 1990 bis 2000 und 2001 bis 2013 zunächst ge-
trennt zu betrachten.

2.1 Schwerpunkte der sozialwissenschaftlichen und


psychologischen Publikationen zum Rechtsextremismus
zwischen 1990 und 2000

Um die mögliche Vielfalt der aufzuÀndenden sozialwissenschaftlichen und psy-


chologischen Publikationen nach Schwerpunkten ordnen zu können, wurden fol-
gende Raster genutzt: Erstens wurde nach wissenschaftlichen Arbeiten mit Über-
blickscharakter gesucht; eine zweite Suchstrategie richtete sich auf Publikationen,
in denen der Untersuchungsgegenstand „Rechtsextremismus“ und seine DeÀni-
tionsmerkmale diskutiert werden; drittens wurde nach dominierenden Theorie-
bzw. Forschungsansätzen gefahndet, mit denen die Beschaffenheiten (Qualität
und Quantität)4, mögliche Ursachen und Folgen rechtsextremer Entwicklungen er-
klärt bzw. untersucht werden; viertens schließlich werden – vor dem Hintergrund
des ökosystemischen Ansatzes von Uri Bronfenbrenner (1979) – die wissenschaft-
lichen Publikationen danach geordnet, welche Rahmenbedingungen für rechts-
extreme Tendenzen jeweils im Fokus der empirischen Forschung stehen (mikro-,
meso- oder makrosystemische Bedingungen). 5
Tabelle 1 liefert zunächst einen beispielhaften Überblick über die Publikations-
schwerpunkte in den Datenbanken PSYNDEX und WISO für die Jahre von 1990
bis 2000. Die Erläuterungen folgen in den anschließenden Abschnitten.

4 Der Begriff Beschaffenheit wird hier in Anlehnung an Hegel benutzt: „Aber ferner
gehört die Beschaffenheit zu dem, was das Etwas an sich ist“ (Hegel, 1986, S. 134).
5 Eine solche Gliederung – angelehnt an Bronfenbrenner (1979) – ist im Umgang mit
den verschiedenen Konzeptionen zur Erklärung des Rechtsextremismus nicht unüb-
lich (siehe z. B. Birzer, 1996; Frindte, 1999; Grumke, 2001; Zick, 2004).
Tabelle 1 Schwerpunkte der sozialwissenschaftlichen und psychologischen Publikationen zum Rechtsextremismus (1990 bis 2000).
Überblicks- Begriffsdebatten: Dominierende Theo- Makro-soziale Meso-soziale Mikro-soziale
arbeiten „Rechtsextremis- rie- und Forschungs- Rahmenbedingungen Bedingungen und individuelle
mus“ – ein un- ansätze für rechtsextreme Ten- Bedingungen
scharfer Begriff denzen
z. B.: Dünkel DeÀnitionsvor- Sozialisations- und Ost-West-Vergleiche Sozialisations- Täteranalysen
& Geng, 1999; schläge Desintegrations- z. B. Frindte, Jabs & einÁüsse Müller, 1997; Wil-
Frindte, 1999; z. B.: Friedrich, theorie Neumann, 1992; Maaz, z. B. Ettrich, Krau- lems, Eckert, Würtz
Jaschke, 1994; 1992; Heitmeyer Heitmeyer, 1989; 1993; Oesterreich, 1993; se & Jahn, 1995; & Steinmetz, 1993
Jäger, 1993; u. a., 1992; Jasch- Heitmeyer u. a., 1992; Pollmer, Reissig & HeÁer, Boehnke
Otto & Merten, ke, 1994; Melzer & Heitmeyer & Müller, Schubarth, 1992 & Butz, 1999;
1993; Wasmuth, Schubarth, 1995; 1995 Hopf, Rieker,
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …

1997; Zick, Pilz, 1994 Sanden-Marcus &


1997 Schmidt, 1995
31
32

Tabelle 1 (Fortsetzung)
Überblicks- Begriffsdebatten: Dominierende Theo- Makro-soziale Meso-soziale Mikro-soziale
arbeiten „Rechtsextremis- rie- und Forschungs- Rahmenbedingungen Bedingungen und individuelle
mus“ – ein un- ansätze für rechtsextreme Ten- Bedingungen
scharfer Begriff denzen
Generelle Kritik Kritik an der Desinte- Geschlechterunterschiede Bewegungsfor- Autoritarismus als
am Rechtsextre- grationstheorie z. B. Birsl, 1994; Knapp, schung individuelle Disposi-
mis-mus-Begriff z. B. Bommes & 1993; Niebergall, 1995; z. B. Jaschke, tion für rechtsextre-
z. B. Butterwegge, Scherr, 1992; Eckert Rippl & Seipel, 1999; 1993; Hellmann, me Orientierungen
2000; Teo, 1993 & Willems, 1996; Rommelspacher, 1993; 1995, 1998; Wil- z. B. Funke, Frindte,
Götz, 1997; König, Stenke, 1993; Utzmann- lems, 1996 Jacob & Neumann,
1997, 1998; Pfahl- Krombholz, 1994; 1999; Hopf, 1993;
Traughber, 1998; Volmerg, Bensch & Oesterreich, 1993;
Scherr, 1996; Schu- Kirchhoff, 1995; Watts, Seipel, Rippl &
mann & Winkler, 1996 Schmidt, 1995
1997; Willems u. a., Zusammenhänge von me-
1996; Winkler, 1996 dialer Berichterstattung
und Rechtsextremismus
z. B. Brosius & Esser,
1996; Funk & Weiß,
1995; Jäger & Link,
1993; Lüdemann, 1995;
Ohlemacher, 1993, 1999;
Ruhrmann, Kollbeck &
Möltgen, 1996; Scharf,
1993; Willems, 1996
Wolfgang Frindte et al.
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 33

2.1.1 Überblicksarbeiten

Überblicke über den Stand der sozialwissenschaftlichen und psychologischen


Rechtsextremismusforschung im Zeitraum von 1990 bis 2000 Ànden sich u. a. in
Benz (1994), Deutsches Jugendinstitut (1995), Dünkel und Geng (1999), Falter,
Jaschke und Winkler (1996), Frindte (1999), Heiland und Lüdemann (1996), Institut
für Sozialforschung (1994), Jaschke (1994), Jäger (1993), Kowalsky und Schroeder
(1994), Mecklenburg (1996), Otto und Merten (1993), Schubarth und Stöss (2000),
Wahl (1993), Wasmuth (1997) und Zick (1997). Uli Jäger (1993) hebt z. B. folgende
Konzeptionen hervor, die in den Sozialwissenschaften und der Psychologie zur
Erklärung des Rechtsextremismus herangezogen werden: a) „Sozialpsychologi-
sche Ansätze“, die sich — folgt man dem Autor — um die zentrale Annahme
einer zunehmenden Individualisierung der Jugendlichen (Beck, 1986; Heitmey-
er et al., 1992; siehe ausführlicher unten) gruppieren, durch die die Jugendlichen
einerseits aus den sozialen Einbettungen in traditionelle soziale Gruppen aus-
scheren, andererseits aber infolge einer bleibenden Sehnsucht nach Gemeinschaft
u. U. ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gemeinschaften über abstrakte Kriterien und
Kategorien (wie Nation, Kultur, Rasse etc.) zu deÀnieren suchen; wobei sie sich in
diesen DeÀnitionsversuchen auf die DeÀnitionsangebote rechtsextremer Parteien
und Institutionen zu stützen vermögen. b) „Individualpsychologische Ansätze“,
die als Fortführung und Reformulierung des Ansatzes von der „authoritarian per-
sonality“ (Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson & Sanford, 1950) zu verstehen
seien. c) „Gesellschaftskritische Ansätze“, nach denen jugendlicher Rechtsextre-
mismus auch Ausdruck der gegenwärtigen jugendlichen Protestbewegungen sei.
d) „Ökonomische Ansätze“, die davon ausgehen, dass die Verschlechterung von
Existenzbedingungen durch tatsächliche oder drohende Arbeitslosigkeit und der
damit verbundene Mangel an materiellen Gütern rechtsextreme Einstellungen be-
fördern können. e) „Politische Ansätze“, in deren Mittelpunkt die Frage nach dem
schwindenden Vertrauen der Jugendlichen in etablierte politische Parteien und In-
stitutionen stehe. f) „Historische Ansätze“, in denen es u. a. um die Herausbildung
obrigkeitsstaatlicher politischer Systeme in Deutschland gehe.
Auffallendes Merkmal der Überblicksarbeiten (siehe Tabelle 1) ist, dass die
verschiedenen Konzeptionen meist zwar ausführlich dargestellt, mögliche Bezüge
zwischen den Konzeptionen aber in der Regel nicht thematisiert bzw. hergestellt
werden.
34 Wolfgang Frindte et al.

2.1.2 „Rechtsextremismus“ – ein unscharfer Begriff6

Neben politikwissenschaftlichen DeÀnitionen, in denen Rechtsextremismus als


Gegensatz zum demokratischen Verfassungsstaat bestimmt wird (z. B. Backes,
1989; Kowalsky, 1993), wurden im Beobachtungszeitraum zahlreiche soziolo-
gisch-psychologische DeÀnitionsvorschläge vorgelegt (z. B. Friedrich, 1992; Heit-
meyer et al., 1992; Jaschke, 1994; Melzer & Schubarth, 1995; Pilz, 1994) und auch
generelle Kritik am Rechtsextremismus-Begriff geübt (z. B. Butterwegge, 2000;
Teo, 1993, 1995). C hristoph Butterwegge (2000) präferiert z. B. den Rassismus-
Begriff, der die Vorteile habe, gesellschaftliche Strukturzusammenhänge und
historische Kontinuitäten seit dem Mittelalter (Kolonialismus) zu erfassen, ohne
ModiÀkationen und Ausdifferenzierungen (biologisch bzw. kulturell begründete
Spielarten des Rassismus) zu ignorieren (in diesem Sinne auch Teo, 1993). Bom-
mes und Scherr (1992) kritisieren die „homogenisierende Rede vom Rechtsextre-
mismus“ bei Heitmeyer und meinen damit die zu starke begrifÁiche Einengung
auf einen jugendtypischen Rechtsextremismus, der Parteien und Organisationen
außer Acht lasse.
Ulrich Druwe (1996) hat verschiedene Studien der Rechtsextremismusfor-
schung hinsichtlich des jeweils gewählten Begriffs untersucht. In den dreizehn
von ihm ausgewerteten Studien fand er elf verschiedene Bezeichnungen für das
Phänomen, die wiederum mit insgesamt 42 verschiedenen Bedeutungen versehen
waren, so dass von einer Rechtsextremismusforschung mit einem gemeinsamen
Untersuchungsgegenstand nicht die Rede sein könne.
Versuche, Rechtsextremismus über einzelne Merkmale zu bestimmen, sind da-
bei nicht selten. So versteht Siller (1997, S. 13) z. B. den Rechtsextremismus als
„Konglomerat von antidemokratischen, nationalistischen, rassistischen, autoritä-
ren, antisemitischen u.ä. Ideologien, Einstellungs- und/oder Handlungsmustern“.
An der Nützlichkeit solcher DeÀnitionen durch Aufzählung sind sicher Zweifel
angebracht, da für die Anzahl und die Beziehung zwischen den Merkmalen, mit
denen Rechtsextremismus beschrieben wird, kaum hilfreiche Kriterien angegeben
werden (vgl. Winkler, 2001). Es stellt sich also die Frage, welche der jeweils auf-
gezählten Merkmale eine Person tatsächlich besitzen muss, um als rechtsextrem
zu gelten.

6 Mit „unscharf“ ist hier zunächst, im Sinne von Frege (1998, S. 70; zit. n. Seising, 2011,
S. 150) die Abwesenheit einer „vollständigen und endgültigen“ Definition gemeint.
Fraglich ist allerdings, ob eine solche endgültige Definition generell möglich und im
speziellen Falle des Rechtsextremismus auch nötig ist.
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 35

Schlussendlich: Rechtsextremismus als monolithisches Gebäude erscheint im


Zeitraum von 1990 bis 2000 vor allem als Konstruktion (der Wissenschaftler, Poli-
tiker, der Medien, der Alltagsdiskurse; Frindte et al., 1994). Thomas Kliche (1996)
fragt deshalb, „ob es wissenschaftlich nicht sinnvoller wäre, das Konzept ,des‘
Rechtsextremismus zugunsten dadurch überzeugender zu erfassender ,Rechtsext-
remismen‘ aufzugeben“ (Kliche, 1996, S. 70).

Zugespitzt: „ErÀndet sich diese Gesellschaft also ,ihren‘ überaus funktionalen


Rechtsextremismus gerade selbst – unter tatkräftiger Mitwirkung der sozialwissen-
schaftlichen Deutungsindustrie“ (Kliche, 1996 S. 77)?

2.1.3 Dominierende Theorie- und Forschungsansätze

Dominanz der Desintegrationstheorie von Heitmeyer: Neben den o. g. Ausein-


andersetzungen über den Begriff von Rechtsextremismus dominierten in diesem
Jahrzehnt vor allem Arbeiten, in denen auf der Basis der von Heitmeyer und Kol-
leg/innen vorgelegten Sozialisations- und Desintegrationstheorie rechtsextreme
Tendenzen als Folge von individuellen Deprivationsproblemen betrachtet wer-
den (Heitmeyer, 1989, 1993; Heitmeyer et al., 1992; Heitmeyer & Möller, 1995).
Rechtsextremistische Orientierungen setzen sich nach Heitmeyer et al. (1992) aus
einer Ideologie der Ungleichheit bzw. Ungleichwertigkeit und der GewaltafÀnität
(bis hin zu gewalttätigem Handeln) zusammen. Beide Dimensionen werden durch
Subdimensionen mit verschiedenen Facetten untergliedert und operationalisiert.
Zur theoretischen Erklärung derartiger rechtsextremer Tendenzen haben Heit-
meyer und Mitarbeiter (1992) eine Desintegrationstheorie auf der Grundlage von
Becks „Risikogesellschaft“ (Beck, 1986) entwickelt. Die Autoren konstatieren
„ein generalisiertes Auftreten von Individualisierungsschüben, die im Kern aus
der Arbeitsmarktdynamik resultieren“ (Heitmeyer et al., 1992, S. 16). Diese Indi-
vidualisierungsschübe bewirken, dass „die klassischen gemeinsamen Erfahrungs-
und Deutungszusammenhänge intergenerationell weitergebender intermediärer
Instanzen damit an Wirksamkeit einzubüßen scheinen“ (Heitmeyer et al., 1992,
S. 16-17).

„Kollektive Handlungs- und Durchsetzungsformen verlieren an Bedeutung. Stabile


Solidaritätsbindungen werden sowohl überÁüssig als auch unerreichbar“ (Heitmeyer
et al., 1992, S. 19).
36 Wolfgang Frindte et al.

Als Folge werden Vereinzelungs-, Ohnmachts- und Handlungsunsicherheitserfah-


rungen beschrieben, die einer Orientierung an nationalen Kategorien Vorschub
leisten. Dies betrifft nach Heitmeyer vor allem diejenigen, denen der Übergang zu
einer autonomieorientierten Identität nicht gelingt, „weil sie nicht in ausreichen-
dem Maße Ressourcen und Bezugspunkte der Identitätsbildung zur Verfügung
haben“ (Heitmeyer et al., 1992, S. 32).
Kritik an der Desintegrationstheorie: Nach anfänglicher Euphorie und um-
fangreicher Rezeption gerieten in den 1990er Jahren sowohl die Heitmeyersche
Rechtsextremismus-DeÀnition als auch der von ihm und Kollegen vorgelegte Er-
klärungsansatz in die Kritik (z. B. Bommes & Scherr, 1992; Eckert & Willems,
1996; König, 1997, 1998; Pfahl-Traughber, 1998; Scherr, 1996; Schumann &
Winkler, 1997; Winkler, 1996). Diese Kritik bezog sich auf die zu wenig differen-
zierende Konzeption, die der Heterogenität des Untersuchungsfeldes nicht gerecht
werde.
König (1997) kritisierte das ausschließlich soziologische Verständnis des ju-
gendlichen Rechtsextremismus, den Heitmeyer auf soziale und ökonomische Des-
integrationsprozesse zurückführt, anhand eines Fallbeispiels aus der Bielefelder
Rechtsextremismus-Studie. Hopf (1994) konnte dagegen anhand der Daten einer
Untersuchung von Melzer, Schröder und Schubarth (1992), in der etwa 1500 west-
deutsche und 1300 ostdeutsche Jugendliche im Alter zwischen 15 und 24 Jah-
ren verglichen wurden, die Plausibilität der sogenannten Deprivationsthese, nach
der kumulierende Beeinträchtigungen in der sozialen Lage der Jugendlichen eine
wichtige Voraussetzung für ausländerfeindliche und rechtsextreme Einstellungen
darstellen, bestätigen.
Eckert und Willems (1996) bezweifeln die Erklärungskraft des Desintegra-
tionskonzepts. Auch die Ergebnisse von Hoffmann-Lange (1996) scheinen diese
Zweifel zu bestätigen: Die Befunde bestätigen zwar, dass erlebte soziale Benach-
teiligung und soziale Unzufriedenheit zu erhöhter sozialer Desorientierung füh-
ren, diese wiederum aber nur geringen EinÁuss auf ausländerfeindliche Einstel-
lungen haben; im Osten noch weniger als im Westen Deutschlands (Beta = 0.19
im Westen und Beta = 0.12 im Osten)7. Der EinÁuss von Normlosigkeit als einer
anderen möglichen Folge aus einer anomietheoretischen Perspektive hat dagegen
im Osten weitaus größeres Gewicht (Beta = 0.22 im Westen und Beta = 0.32 im
Osten). Da die formale Schulbildung ebenfalls in die Regressionsgleichung auf-
genommen wurde, diese auch ein starker Prädiktor ist (Beta = 0.31 im Westen

7 Beta-Werte sind standardisierte Regressionskoeffizienten, die Werte von +1,0 bis –1,0
einnehmen können und den Zusammenhang zwischen unabhängigen und abhängigen
Variablen wiedergeben.
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 37

und Beta = 0.23 im Osten), aber zudem auch ein starker Prädiktor für soziale Des-
orientierung, lässt sich vermuten, dass der tatsächliche EinÁuss von Desintegration
noch erheblich kleiner ist. Die multiple Regression klärt allerdings auch nur 26 %
Varianz der abhängigen Variable ausländerfeindliche Einstellungen auf (17 % in
der West- und 28 % in der Oststichprobe).
Gegen eine einfache Desintegrationsthese spricht auch ein Befund von Sturz-
becher (1997), der empirisch zeigen konnte, dass die Eltern sowohl gewaltberei-
ter wie auch fremdenfeindlicher Jugendlicher eine bessere Ànanzielle Situation
angeben als die von anderen Jugendlichen. Held, Horn, Leiprecht und Marvakis
(1991) und Held, Horn und Marvakis (1996) kommen zu Ergebnissen, die sogar
nahelegen, dass gerade diejenigen Personen höhere Fremdenfeindlichkeit äußern,
die bzgl. Erwerbsarbeit nicht benachteiligt sind. Auch lässt sich in ihren Unter-
suchungen kein Zusammenhang zwischen Fremdenfeindlichkeit und erlebter
gesellschaftlicher Bedrohung und Unzufriedenheit mit der Wohn-, Arbeits- und
Freizeitsituation nachweisen. Daraus folgernd charakterisieren die Autoren Rechts-
extremismus und Fremdenfeindlichkeit als „Wohlstandschauvinismus“, verbunden
mit einer „ÜberidentiÀkation mit den ‚deutschen‘ Wirtschaftsinteressen.“
Kritisch gegenüber der Desintegrationstheorie von Heitmeyer und Mitarbei-
tern äußert sich auch Birgit Rommelspacher (1992, 1993, 1995). Mit dem von ihr
geprägten Konzept der Dominanzkultur versucht Rommelspacher grundlegende
Widersprüche, die die Dynamik moderner Gesellschaften bestimmen, zu erklä-
ren. Wesentliches Merkmal dieser Widersprüche scheint die Dialektik zwischen
egalitären und demokratischen Konzepten und Bestrebungen einerseits und Do-
minanzansprüchen in Folge ethnischer oder sozialer Herkunft, Geschlecht, Leis-
tungsfähigkeit oder sexueller Orientierung andererseits zu sein. Die jeweiligen
Dominanzansprüche werden durch hierarchische Gesellschaftsstrukturen geför-
dert und reproduziert. Der Rechtsextremismus gehöre dabei zu den radikalisierten
und politisierten Formen, besagten Widerspruch einseitig zugunsten zunehmen-
der Hierarchisierung, also durch ideologisch begründete Dominanz ausgewählter
sozialer Gruppierungen gegenüber anderen Gruppierungen, zu lösen.8 Mit dieser
Auffassung wendet sich Rommelspacher explizit gegen sozialwissenschaftliche
Analysen, in denen ausschließlich nach intrapsychischen und/oder sozialen Kon-
Áikten bzw. ökonomischen Benachteiligungen innerhalb der Mehrheitsgesellschaft
als Ursachen für Rechtsextremismus gefahndet wird. Auch Heitmeyers Arbeiten
stehen somit im Fokus ihrer Kritik.

8 Ähnliche Prozesse werden auch in der Theorie der sozialen Dominanz (Sidanius &
Pratto, 1999) beschrieben, auf die später noch eingegangen wird.
38 Wolfgang Frindte et al.

Kontrovers zur Desintegrationstheorie von Heitmeyer und Mitarbeitern scheint


auch der Ansatz zu stehen, der von Norbert Götz (1997) vorgestellt und empirisch
geprüft wurde. Götz kritisiert die der Desintegrationstheorie zugrundeliegende
„Modernisierungsverlierer-Hypothese“ und geht von der These aus, dass Rechts-
extreme nicht – wie in der Desintegrationstheorie behauptet, Verlierer, sondern
Gegner der reÁexiven Moderne seien (Götz, 1997, S. 397ff.). Um diese These zu
explizieren, greift Götz auf den Ansatz des postmaterialistischen Wertewandels
(nach Inglehart, 1977) und auf neuere Erkenntnisse der Autoritarismusforschung
(Altemeyer, 1988; Oesterreich, 1993) zurück. Die empirischen Daten, mit denen
Götz seinen Ansatz zu begründen sucht, stammen aus einer Studie zum Rechts-
extremismus, die Richard Stöss (1993) in Berlin durchführte. Die Befunde sind
nicht vollständig überzeugend, verweisen aber durchaus darauf, dass rechtsextrem
orientierte Personen offenbar einerseits von den gesellschaftlichen Bedingungen
einer reÁexiven Moderne9 intellektuell und emotional überfordert sind und ande-
rerseits dies durch eine „unzeitgemäße Komplexitätsreduktion und Wirklichkeits-
konstruktion“ (Götz, 1997, S. 407) zu kompensieren versuchen.

2.1.4 Rahmenbedingungen für rechtsextreme Tendenzen

A Makro-soziale Bedingungen

Ost-West-Vergleiche:
Ein besonderer empirischer Fokus lag zunächst auf Ost-West-Vergleichen, um in
den Folgen der politischen und wirtschaftlichen Wende in Ostdeutschland mög-
liche Wirkfaktoren für rechtsextreme Tendenzen ausÀndig zu machen (kaum eine
Studie im Zeitraum von 1990 bis 2000 verzichtete auf derartige Vergleiche; als
Auswahl z. B. Aschwaden, 1995; Friedrich, 1992, 1993; Frindte, Jabs & Neumann,
1992; Maaz, 1993; Melzer, 1992; Melzer & Schubarth, 1992; Oesterreich, 1993;
Pfahl-Traughber, 2000; Seidenstuecker, 1993).
Auch Pollmer, Reissig und Schubarth (1992) berichten Ost-West-Befunde über
Zusammenhänge von subjektiven BeÀndlichkeiten, Erwartungen für die Zukunft,
Wertorientierungen, politischen Orientierungen, Rechtsextremismus, Ausländer-
feindlichkeit, Aggressivität und Gewaltbereitschaft. Die in diesen und ähnlichen
Studien erfolgte Fokussierung auf die Untersuchung von Jugendlichen, jungen Er-
wachsenen und Jugendkulturen dürfte ebenfalls eine Konsequenz aus dem Des-

9 Der Begriff der reflexiven Moderne ist eng mit den Arbeiten von Ulrich Beck und
Anthony Giddens verknüpft, die damit den Übergang von einer ersten Moderne zu
einer zweiten Moderne zu beschreiben versuchen (vgl. Beck, Giddens & Lash, 1996).
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 39

integrationsansatz von Heitmeyer sein (z. B. Frindte, 1999; Heitmeyer & Möller,
1995).

Geschlechterunterschiede10:
Dass ausgeprägte fremdenfeindliche Vorurteile und rechtsextreme Gewaltbereit-
schaft nicht nur ein Männerproblem sind, von Frauen aber fremdenfeindliche
Einstellungen subtiler bzw. geschlechterrollenspeziÀsch geäußert werden, konnte
ebenfalls in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen werden (z. B. Birsl, 1994;
Geng, 1998; Hopf u. a., 1995; Knapp, 1993; Niebergall, 1995; Rippl, Boehnke, Hef-
ler & Hagan, 1998; Rippl & Seipel, 1999; Rommelspacher, 1993; Siller, 1994; Sten-
ke, 1993; Utzmann-Krombholz, 1994; Volmerg, Bensch & Kirchhoff, 1995; Watts,
1996). Dieser Umstand wurde mit zuverlässiger Konstanz in allen zugänglichen
empirischen Untersuchungen des Zeitraums von 1990 bis 2000 repliziert, so bei
Birsl, Busche-Baumann, Bons und Kurzer (1995), Held et al. (1996), Hoffmann-
Lange (1996), Melzer und Schubarth (1995), Oesterreich (1993), Schumann und
Winkler (1997), Sturzbecher, Dietrich und Kohlstruck (1994), Sturzbecher (1997).
Wenn man die Befunde genauer betrachtet, so bekommt man jedoch den Eindruck,
dass die Differenzen speziÀscher Dimensionen gar nicht so stark ausgeprägt sind,
so v. a. der Bereich Ausländerfeindlichkeit bei Schubarth und Melzer (1993) und
Utzmann-Krombholz (1994). Sehr viel erheblicher dagegen sind die Unterschie-
de zwischen Männern und Frauen, wenn rechtsextrem motivierte Straftaten (vgl.
Willems et al., 1993) oder das Wahlverhalten rechter Parteien (vgl. Falter, 1994)
betrachtet werden: In diesen Fällen sind Männer viel häuÀger vertreten.
Zusammenhänge von medialer Berichterstattung und Rechtsextremismus (z. B.
Brosius & Esser, 1996; Funk & Weiß, 1995; Jäger & Link, 1993; Jäger, 1997; Lü-
demann, 1995; Ohlemacher, 1993, 1996, 1998, 1999; Ruhrmann, Kollbeck & Mölt-
gen, 1996; Scharf, 1993; Willems, 1996):
Bezüglich des EinÁusses der medialen Berichterstattung stellt Willems (1996)
im Zusammenhang mit den ausländerfeindlichen Pogromen in Deutschland An-
fang der neunziger Jahre fest, dass die Welle der Gewalt ihren ersten Kulmina-
tionspunkt nach der ausführlichen medialen Berichterstattung über die Brandan-
schläge und die Belagerung des Asylbewerberheimes in Hoyerswerda erreichte.
Auch Brosius und Esser (1996) unterstreichen die Bedeutung von spektakulären
Schlüsselereignissen und weisen in einer Zeitreihenanalyse nach, dass in einer
ersten Phase der ausländerfeindlichen Ausschreitungen (Hoyerswerda und Ros-
tock) tatsächlich eine Anstiftungswirkung von der medialen Berichterstattung des

10 Selbstverständlich könnten Geschlechterunterschiede als Sozialisationseinflüsse auch


unter der nachfolgenden Rubrik „Meso-soziale Bedingungen“ abgehandelt werden.
40 Wolfgang Frindte et al.

Fernsehens ausging (vgl. auch Ohlemacher, 1998, S. 5). Für eine zweite Phase,
die durch Taten von Einzelnen gegen schon seit langer Zeit in Westdeutschland
lebende Ausländer charakterisiert war, bei denen auch Opfer ums Leben kamen
und sich die Bevölkerung mittels Demonstrationen und Lichterketten zu Wort mel-
dete, konnten dagegen keine Nachahmungseffekte gezeigt werden. Ohlemacher
(1998, S. 15) macht sogar nach diesen Ereignissen einen negativen Trend in den
Gewalttaten gegen Fremde aus. Stereotypisierungen in der Medienberichterstat-
tung und die Reduzierung des Rechtsextremismus auf ein Randgruppenproblem in
Verbindung mit dramatisierenden Elementen in der medialen Darstellung werden
zudem häuÀg kritisiert (z. B. Hundseder, 1992, 1993; Jäger, 1999; Lamnek, 1990;
Ohlemacher, 1996; Scharf, 1993).

B Meso-soziale Bedingungen

Sozialisationseinflüsse:
Zusammenhänge zwischen schulischer und familiärer Sozialisation einerseits und
rechtsextremen Orientierungen andererseits ließen sich empirisch relativ gut nach-
weisen (z. B. Ettrich, Krause & Jahn, 1995; HeÁer, Boehnke & Butz, 1999; Hopf,
Rieker, Sanden-Marcus & Schmidt, 1995). Nahezu alle quantitativen Untersu-
chungen betonen, dass ein hoher Zusammenhang dergestalt besteht, dass vorran-
gig Hauptschüler bzw. Personen, die über einen Hauptschulabschluss als höchsten
formalen Bildungsabschluss verfügen, ausgeprägte rechtsextreme Orientierungen
aufweisen (Hoffmann-Lange, 1996; Klein-Allermann u. a., 1995; Melzer & Schub-
arth, 1995; Schumann & Winkler, 1997; Sturzbecher, Dietrich & Kohlstruck, 1994;
Sturzbecher, 1997).
HeÁer und Boehnke (1995) belegen in ihrer Untersuchung die Relevanz der
Variablen Schulerfolg und Schultyp zur Vorhersage von fremdenfeindlichen Ein-
stellungen. Die Befunde zeigen, dass Schulerfolg und die damit einhergehende
positivere Selbsteinschätzung und ein höheres Maß elterlicher Kontrolle dazu ge-
eignet waren, Ressourcen sozialen Kapitals zu schaffen, die ein Hineingleiten in
deviante Subkulturen und ein Ausleben unterschwellig vorhandener Traditionen
von Gewalt und Rechtsextremismus verhinderten.
Noack und Wild (1999) zeigen allerdings auch, dass sich hinter dem Schul-
typ als „soziale Adresse“ eine ganze Menge weiterer Variablen verbergen kön-
nen. Teils spiegele die besuchte Schule per Selektion die Zugehörigkeit zu sozialen
Schichten und damit die Bildung sowie die Ànanzielle und beruÁiche Situation der
Eltern wider; teils gehe der Schultyp mit Variationen in der zu Hause erfahrenen
Erziehung einher.
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 41

Auf eine nicht unwichtige Sozialisationsinstanz, auf den EinÁuss jugendlicher


Cliquen und Milieus, machen die Arbeiten von Bohnsack, Loos, Schäffer, Städt-
ler und Wild (1995), Farin und Seidel-Pielen (1993a,b), Geng (1998), Wetzels und
Enzmann (1999) aufmerksam.

Bewegungsforschung:
Im Kontext der o. g. kritischen Auseinandersetzung mit der Desintegrationstheorie
entwickelte sich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre auch eine kontroverse De-
batte um den Rechtsextremismus als soziale Bewegung (vgl. zum Überblick auch
Schroeder, 2003, S. 113ff.). Basierend auf politikwissenschaftlichen und soziologi-
schen Theorien sozialer Bewegungen verweist z. B. Jaschke auf das rechtsextreme
Protestverhalten als „eine sich zur sozialen Bewegung formierende modernisie-
rungskritische Reaktion auf zwei fundamentale Veränderungen der Gesellschaft –
auf Ethnisierungsprozesse und auf Individualisierungsschübe“ (Jaschke, 1993,
S. 105, zit. n. Schroeder, 2003, S. 114; vgl. auch Hellmann, 1998; Leggewie, 1994;
Willems, 1996). Eine lesenswerte Zusammenfassung der sozial- und politikwis-
senschaftlichen Ansätze, mit denen der Rechtsextremismus als soziale Bewegung
charakterisiert werden kann, Àndet sich bei Rucht (1995) und Koopmans (1995).
Rucht deÀniert soziale Bewegungen folgendermaßen:

„Soziale Bewegungen sind ein besonderer Typus von Kollektiven, nämlich auf ge-
wisse Dauer gestellte Netzwerke von Gruppen und Organisationen, die sozialen
Wandel mit Mitteln des Protests herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen
wollen. Die Gemeinsamkeit dieser Zielsetzung ist für kollektive Identität nicht hin-
reichend. Armeen und Friedensbewegungen mögen gleichermaßen an der Verhütung
von Kriegen interessiert sein, aber sie bilden deshalb kein übergreifendes Kollektiv.
Erst wer sich einer Bewegung als einem sozialen Zusammenhang, charakterisiert
durch bestimmte Träger sowie bestimmte Handlungs- und namentlich Protestfor-
men, zurechnet und dies möglichst praktisch bezeugt, teilt somit die kollektive Iden-
tität der Bewegung“ (Rucht, 1995, S. 11).

In diesem Sinne lassen sich soziale Bewegungen auch als soziale Milieus (Hell-
mann, 1995, S. 73) oder als Deutegemeinschaften (Frindte, 1998; S. 84ff.) verste-
hen. Deutegemeinschaften sind jene sozialen Gemeinschaften von Menschen, die
die Welt in interindividuell ähnlicher Weise beobachten, beurteilen und darüber
kommunizieren. Deutegemeinschaften erzeugen normativen Druck auf jene, die
sich den jeweiligen Gemeinschaften zugehörig fühlen und sich mit den Bedeu-
tungsräumen identiÀzieren. Nicht Fakten, sondern dieses Zugehörigkeitsgefühl
und die entsprechende IdentiÀkation erzeugen einen normativen Zwang, Gescheh-
nisse so zu beobachten und zu beurteilen, wie es die vermeintlichen prototypi-
42 Wolfgang Frindte et al.

schen Mitglieder der Gemeinschaft tun oder tun könnten. Deutegemeinschaften


sind in diesem Sinne Meinungsmacher, Mythenmacher, Allmachtsvertreter. Sie
erheben den Anspruch, mit normativer Kraft die Welt zu interpretieren und zu
verändern. In diesem Sinne versuchen Deutegemeinschaften konkurrierende Deu-
tungen von Welt zu unterdrücken und/oder aus dem gesamtgesellschaftlichen
und globalen Diskurs zu vertreiben, um an deren Stelle ihre eigenen Welt- und
Lebensbegründungen zu etablieren. In gewissem Sinne lassen sich Deutegemein-
schaften mit dem Gruppenkonstrukt vergleichen, das in der Theorie der sozialen
Identität (SIT) von Henri Tajfel, John C. Turner und anderen genutzt wird (Tajfel
& Turner, 1986; weitere verwandte Ansätze sind die Self-Categorization Theory,
Turner, Hogg, Oakes, Reicher & Wetherell, 1987; das Social Identity Model of
Deindividuation Phenomena, Reicher, Spears & Postmes, 1995). Auf diese sozial-
psychologische Betrachtung sozialer Bewegungen haben Simon (1995) und Zick
und Wagner (1995) aufmerksam gemacht. Simon weist in diesem Sinne darauf hin:

„Aus sozialpsychologischer Perspektive setzt sich eine soziale Bewegung aus Per-
sonen zusammen, die sich nicht als Individuen, sondern als Vertreter einer sozialen
Kategorie bzw. Gruppe verstehen, und die gemeinschaftlich einen sozialen Wandel
herbeiführen wollen. Selbst-Interpretation als Gruppenmitglied (d. h. Priorisierung
des kollektiven Selbst gegenüber dem individuellen Selbst) wird damit zur ent-
scheidenden sozialpsychologischen Grundlage sozialer Bewegungen“ (Simon, 1995,
S. 53).

Allerdings betont Ruud Koopmans auch die zum damaligen Zeitpunkt (1995) noch
vorhandenen empirischen DeÀzite der Bewegungsforschung in der Analyse des
Rechtsextremismus:

„Eine … Herausforderung für die Bewegungsforschung ist die Welle von Gewalt
gegen Ausländer und Asylanten, die Deutschland seit ein paar Jahren überschwemmt.
Zwar hat dieses Phänomen eine Reihe von sozialwissenschaftlichen Arbeiten ausge-
löst, aber ich kenne keine Studie, die systematisch mit einer bewegungstheoretischen
Perspektive arbeitet“ (Koopmans, 1995, S. 96).

C Mikro-soziale und individuelle Bedingungen

Täteranalysen
In ihrer vielfach zitierten Analyse fremdenfeindlicher Gewalttäter zeigen Wil-
lems et al. (1993), dass fremdenfeindliche Straftaten in neun von zehn Fällen als
Gruppentat verübt werden. Dabei spielen subkulturelle Skinheadgruppen wie auch
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 43

unterschiedliche Freundes- und Freizeitcliquen die dominierende Rolle. Die Auto-


ren verweisen auch darauf, dass „politische Vorstellungen, Motive und Strategien“
von geringerem EinÁuss sind als „ausgeprägte fremdenfeindliche Feindbilder und
Vorurteile. [...] Daneben gibt es jedoch auch jene Skins, die sich über die eigene
fremdenfeindliche und rechtsorientierte Gruppe hinaus auch für rechtsextremis-
tische Parteien und Ideologien interessieren und hier auch aktiv werden“ (Wil-
lems et al., 1993, S. 175). In diesem Zusammenhang identiÀzieren die Autoren
fünf zentrale Motive für rechtsextreme Gewalttaten: a) Action-Motive im Sinne
expressiv-hedonistischer Gewalt, b) Geltung in der Gruppe, c) fremdenfeindliche
Gewalt als Resultat allgemeiner Frustration und Orientierungslosigkeit, d) Auslän-
der- und Fremdenfeindlichkeit und e) politisch-rechtsradikale Motivation. Die im
Rahmen dieser Analyse ebenfalls durchgeführte Tatverdächtigenstudie erbrachte
überdies keinen Hinweis darauf, dass Diskontinuitäten formaler Familienstruktu-
ren der Herkunftsfamilie (Eltern geschieden, getrennt lebend, wiederverheiratet,
Eltern(teile) verstorben) als EinÁussfaktor auf fremdenfeindliche Straftaten ange-
sehen werden müssen. Für die Straftäter (Gerichtsaktenanalyse) beschrieben die
Autoren drei Konstellationen, die gehäuft auftraten: a) intakte Familienverhältnis-
se ohne Auffälligkeiten, b) formal intakte, unauffällige Familien mit starken Kon-
Áikten zwischen Eltern und Jugendlichem, oft im Zusammenhang mit nicht erfüll-
ten Leistungserwartungen der Eltern und c) „zerrüttete Familienverhältnisse“. Da
keine dieser Konstellationen besonders hervorgehoben wurde, ergibt sich somit ein
Abbild der verschiedenen familiären Varianten, wie sie auch in der „Normalbe-
völkerung“ auftreten, ohne dass die Kinder fremdenfeindliche Straftäter werden.
Dem widersprechen Heitmeyer und Möller (1995). In ihrer Analyse von Ge-
walttätern mit fremdenfeindlicher bzw. rechtsextremistischer Motivation sprechen
sie von einem signiÀkanten Unterschied im Vergleich zur übrigen Bevölkerung
(Heitmeyer & Möller, 1995, S. 43), und dies allein bereits für Merkmale der forma-
len Familienstruktur. In der vertiefenden Interviewstudie mit rechtsextremen Ge-
walttätern stellen sie fest, dass mehr als die Hälfte der befragten jungen Menschen
(25 von 45) aus so genannten ‚broken-home‘-Verhältnissen stammen (Heitmeyer
& Möller, 1995, S.125).

Autoritarismus als individuelle Disposition für rechtsextreme Orientierungen


In mehreren Untersuchungen wird bei der Erklärung rechtsextremistischer Dis-
positionen Jugendlicher in den 1990er Jahren auch auf ein revidiertes Autorita-
rismuskonzept11 rekurriert. Man könnte fast behaupten, der „Autoritarismus“

11 In seiner Arbeit „The Fortieth Anniversary of ‚The Authoritarian Personality‘“ ver-


weist Jos Meloen (1991) auf nachhaltige Resonanz des Konzepts der “autoritären
44 Wolfgang Frindte et al.

entwickelte sich in den 1990er Jahren zu einem der beliebtesten Konzepte der
Rechtsextremismusforschung; operationalisiert als Facette des Rechtsextremismus
oder als unabhängige Variable zur Erklärung rechtsextremer Orientierungen. Das
Revival des Autoritarismuskonzepts hängt natürlich auch mit der fälschlichen An-
nahme zusammen, vor allem der ostdeutsche Rechtsextremismus ließe sich durch
die nachweisbaren Zusammenhänge zwischen rechtsextremen Einstellungen und
autoritären Überzeugungen auf den nachhaltigen EinÁuss der gesellschaftlichen
Strukturen aus DDR-Zeiten zurückführen (siehe auch den Beitrag von Quent in
diesem Band). Spätestens seit den fremdenfeindlichen Gewaltaktionen zu Beginn
der 1990er Jahre in Deutschland ist dieses Erklärungskonzept dann auch wieder
in den Blickpunkt der deutschen massenmedialen und sozialwissenschaftlichen
Diskurse gerückt. Das zeitliche Zusammenfallen der Wende in der DDR mit dem
AufÁammen fremdenfeindlicher Gewalt wurde vor allem in außerwissenschaft-
lichen Kreisen kausal interpretiert: Diesem Erklärungsmuster zufolge sei das
autoritäre politische System der DDR der Nährboden für die Ausbildung auto-
ritärer Persönlichkeiten und für rechtsextreme Tendenzen (so z. B. Maaz, 1990,
1993; Pfeiffer, 1999). Stellmacher, Petzel und Sommer (2002) haben insgesamt
19 empirische Studien ausÀndig gemacht, in denen in den 1990er Jahren autori-
täre Überzeugungen in Ost- und Westdeutschland verglichen wurden. In 13 der 19

Persönlichkeit“ (Adorno et al., 1950). Die empirischen Replikationsversuche sind


mittlerweile – ebenso wie die kritischen Auseinandersetzungen mit der Theory of Aut-
horitarian Personality (TAP) – kaum noch zu überschauen (zusammenfassend Alte-
meyer, 1996; Oesterreich, 1996, 2005a; Stone, Lederer & Christie, 1993). Ein innova-
tiver Schritt in der Autoritaritarismusforschung gelang erst in den 1980er Jahren. Die
Veröffentlichung von Bob Altemeyers erstem Buch „Right-wing Authoritarianism“
(1981) gilt dabei als Zäsur und Beginn der modernen Autoritarismusforschung. Alte-
meyer stützt sich in seiner sparsamen theoretischen Konzeption auf lerntheoretische
Erklärungen zur Entstehung von Autoritarismus (Bandura, 1979). Sein größerer Ver-
dienst liegt aber vor allem in der einfacheren Operationalisierung autoritärer Überzeu-
gungen: Altemeyer reduzierte auf der Basis einer Vielzahl zweifellos konkurrenzloser
Experimente und Fragebogenstudien das ursprüngliche Konzept der TAP mit seinen
neun Dimensionen auf drei Subdimensionen: Konventionalismus (ein hoher Grad des
Festhaltens an sozialen Konventionen, die als von der Gesellschaft und den etablier-
ten Autoritäten geteilt wahrgenommen werden), autoritäre Unterwürfigkeit (ein ho-
hes Maß an Unterordnung unter Autoritäten, die als rechtmäßig in der Gesellschaft
wahrgenommen werden) und autoritäre Aggression (gegen Personen oder Gruppen
gerichtete allgemeine Aggressivität, die als von den etablierten Autoritäten sanktio-
niert wahrgenommen werden). Right-Wing-Authoritarianism ist nach Altemeyer eine
Persönlichkeitseigenschaft bzw. eine individuelle Differenzvariable, nach der Men-
schen sich mehr oder weniger Autoritäten unterwerfen, gegen Außenseiter vorgehen
und sich beständig konventionellen Normen anpassen (Altemeyer, 1996, S. 8).
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 45

Studien wurden Unterschiede gefunden; allerdings waren in sieben Studien nur


Unterschiede bezüglich einzelner Items oder einzelner Subskalen erkennbar. Zwei
weitere Studien, in denen generelle Unterschiede berichtet werden, fanden zwar si-
gniÀkante, aber nur relativ geringe Differenzen. In den drei verbleibenden Studien
werden zwar relativ große Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen berich-
tet (Dalbert, 1993; Schoebel, 1997; Lederer, 2000). Die Untersuchungen stützten
sich aber entweder auf relativ kleine Stichproben (Dalbert, 1993) oder auf eine
nur geringe Anzahl von Items (Schoebel, 1997). Und auch Gerda Lederers (2000)
Befunde sind mit Vorsicht zu genießen, da die Daten mit einem Jahr Verzögerung
zwischen Ost und West erhoben wurden. Stellmacher, Petzel und Sommer (2002,
S. 99) konstatieren deshalb, dass eine generell unterschiedliche Autoritarismus-
neigung zwischen ost- und westdeutschen Personen nur selten festgestellt wurde.
Unabhängig von vermeintlichen oder tatsächlichen Ost-West-Unterschieden in
den autoritären Überzeugungen dürfte das Autoritarismuskonzept durchaus einen
hohen Erklärungswert besitzen. Seipel et al. (1995) zeigen z. B. mittels Struktur-
gleichungsmodellierung (N = 200), dass Gefühle starker politischer Machtlosigkeit
gepaart mit ausgeprägtem Autoritarismus die Bereitschaft erhöhen, rechtspopulis-
tische Parteien zu wählen. Funke et al. (1999) belegen den engen Zusammenhang
zwischen den Facetten einer Ideologie der Ungleichwertigkeit (im Sinne der von
Heitmeyer und Kollegen vorgelegten Rechtsextremismus-DeÀnition, s. o.) und au-
toritären Einstellungen. Auch Hopf (1993) kann auf der Grundlage qualitativer
Interviews nachweisen, dass es deutliche Zusammenhänge zwischen autoritären
Dispositionen und rechtsextremen Orientierungen zu geben scheint.

2.1.5 Zwischenfazit

Die vor mehr als zehn Jahren von Friedhelm Neidhardt in einer Sammelrezension
einschlägiger wissenschaftlicher Beiträge zum Forschungsfeld Rechtsextremis-
mus (u. a. Boehnke, Fuß & Hagan, 2002; Funke, 2002; Neumann, 2001; Neumann
& Frindte, 2002; Wahl, 2002; Würtz, 2000) getroffenen Feststellungen dürften
den damaligen Status des Forschungsfeldes Rechtsextremismus für den Zeitraum
von 1990 bis 1999/2000 auch insgesamt gut beschreiben. In seinem Fazit stellt
Neidhardt (2002) u. a. fest, a) die von Heitmeyer (1992) vorgelegte DeÀnition von
Rechtsextremismus bestimme in beachtlichen Teilen die konzeptionelle Ausrich-
tung des Forschungsfeldes (Neidhardt, 2002, S. 781), biete aber b) einen Ausgangs-
punkt, um auch nach den „individuellen Bedingungen von Rechtsextremismus“
(Neidhardt, 2002, S. 783) zu fahnden; c) trotzdem existiere im Forschungsfeld
Rechtsextremismus ein „DeÀzit an Theorie“ und ein „narrativer Überschuss mit
46 Wolfgang Frindte et al.

gelegentlichen Ansätzen zu Ad-hoc-Theoretisierungen“ (Neidhardt, 2002, S. 782);


d) eine sehr große Praxisnähe vieler Beiträge fördere „die Tendenz zu subjekti-
ven Befangenheiten, die sich leicht in eine kollektive Befangenheit methodischer
und theoretischer Borniertheit“ (Neidhardt, 2002, S. 782) umsetze; e) die „auf-
fälligste Forschungslücke“ (Neidhardt, 2002, S. 783) verbinde sich mit der Frage,
„wann wird Fremdenfeindlichkeit gewalttätig – und wann werden die vorhandenen
Gewaltpotenziale fremdenfeindlich?“ (Neidhardt, 2002, S. 783); f) auch hinsicht-
lich der sozialen Kontexte (familiäre, schulische und mediale EinÁüsse), in denen
Rechtsextremismus entstehe und gefördert werde, sei die Forschung unbestimmt
(Neidhardt, 2002, S. 783f.); außerdem bestehe g) eine „extreme Deutschlastigkeit
des Forschungsfeldes“ (Neidhardt, 2002, S. 782)12; und h) eine theoretische Fun-
dierung des Forschungsfeldes Rechtsextremismus scheine „am ehesten in den so-
zialpsychologischen Beiträgen vorhanden“ (Neidhardt, 2002, S. 782).
Versucht man dennoch aus den durchaus vielfältigen empirischen Befunden ein
Erklärungsmuster abzuleiten, so ließe sich wohl formulieren: Die in den meisten
sozialwissenschaftlichen und psychologischen Studien zwischen 1990 und 2000
aufgezeigten Befunde lassen einen komplexen Zusammenhang zwischen rechtsex-
tremen Tendenzen, wahrgenommener individueller und sozialer Bedrohung (z. B.
in Folge von gesellschaftlichen und ökonomischen Umbrüchen und Modernisie-
rungsprozessen), Orientierungslosigkeit, Desintegration und autoritären Über-
zeugungen auf der Seite der rechtsextremen Akteure und Mitläufer vermuten.

2.2 Schwerpunkte der sozialwissenschaftlichen und


psychologischen Publikationen zum
Rechtsextremismus zwischen 2001 und 2013

Um wiederum die Vielfalt der sozialwissenschaftlichen und psychologischen Pu-


blikationen zum Thema aus diesem zweiten Zeitraum ordnen zu können, wurde
zunächst das bereits vorgestellte Raster angelegt, das auch für die Einordnung der
Publikationen aus dem Zeitraum 1990 bis 2000 genutzt wurde. Allerdings erwies
sich dieses Raster als nicht trennscharf genug. Zahlreiche Publikationen im Zeit-
raum 2001 bis 2013 ließen sich nicht eindeutig den verschiedenen Ordnungsclus-
tern zuordnen. Auf die Gründe wird noch eingegangen. Tabelle 2 bietet zunächst
wieder einen beispielhaften Überblick, der in den anschließenden Abschnitten er-
läutert wird

12 Verwiesen werden muss allerdings auf die vergleichende Übersichtsarbeit von Gress,
Jaschke & Schönekäs (1990).
Tabelle 2 Schwerpunkte der sozialwissenschaftlichen und psychologischen Publikationen zum Rechtsextremismus (2001 bis 2013).
Überblicks- Begriffs-debatten: Dominierende Makro-soziale Meso-soziale Mikro-soziale und
arbeiten „Rechtsextremis- Theorie- und Rahmenbedingungen Bedingungen individuelle Bedin-
mus“ – noch immer Forschungsansätze für rechtsextreme gungen
ein unscharfer Tendenzen
Begriff

z. B.: Boehnke, DeÀnitions- Dominanz der Gruppen-bezogenen Sozialisationsein- Sozial-psycho-


Fuß und Hagan, diskussionen Studien zur Menschen-feindlichkeit Áüsse logische Ansätze
2002; Frindte z. B. Decker u. a., Gruppenbezogenen z. B. Heitmeyer, 2012, z. B. Decker, Kiess in den Studien zur
& Neumann, 2010; Decker, Kiess Menschenfeind- „Mitte-Studien“ De- & Brähler 2012; Gruppen-bezogenen
2002; Klärner & Brähler, 2012; lichkeit cker, Kiess & Brähler oder im „Thü- Menschen-feindlich-
& Kohlstruck, Frindte & Neu- Heitmeyer, 2002 2012 ringen-Monitor“ keit
2006; Möller & mann, 2002; Fuchs, bis 2012 „Thüringen-Monitor“ (Best & Salheiser, z. B. Autoritarismus-
Schuhmacher, 2003; Glaser, 2012; Beobachtet wird Best & Salheiser, 2012 2012) Konzept (Zick, Hö-
2007; Schneider, Grumke, 2011, 2013; „nur“ eine der vermann & Krause,
2001; Schroeder, Heitmeyer, 2002; Dimensionen aus 2012), Theorie der
2003; Stöss, Hirscher & Jesse, der ursprünglichen sozialen Dominanz
2010; Quent, 2013; Klärner & Rechts-extremis- von Sidanius und
2012; Zick und Kohlstruck, 2006; mus-DeÀnition – Pratto (Küpper &
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien …

Küpper, 2009 Klemm, Stobl & die Ideologie der Zick, 2008), Glauben
Würtz, 2006; Quent, Ungleich-wertigkeit an die gerechte Welt
2013; Stöss, 2010; (Dalbert, Zick &
Zick & Küpper, Krause, 2010), erwei-
2009 terte Kontakttheorie
nach Pettigrew
(Christ & Wagner,
2008; Asbrock u. a.,
2012a,b).
47
48

Tabelle 2 (Fortsetzung)
Überblicks- Begriffs-debatten: Dominierende Makro-soziale Meso-soziale Mikro-soziale und
arbeiten „Rechtsextremis- Theorie- und Rahmenbedingungen Bedingungen individuelle Bedin-
mus“ – noch immer Forschungsansätze für rechtsextreme gungen
ein unscharfer Tendenzen
Begriff

z. B.: Boehnke, Bemühungen um „Mitte-Studien“ Zusammenhänge von Soziologische Einstellungs-Verhal-


Fuß und Hagan, methodischen Decker, Brähler medialer Bericht-er- Bewegungs-for- tens-Modelle Theory
2002; Frindte Konsens & Geißler, 2006; stattung und Rechtsext- schung of coercive actions
& Neumann, Decker & Brähler, Decker & Brähler, remismus Grumke, 2013; Frindte & Neumann,
2002; Klärner 2006, 2008; Decker, 2008; Decker u. a., z. B. Brosius & Klärner, 2008; 2002; Neumann,
& Kohlstruck, Weißmann, Kiess 2010; Decker, Kiess Scheufele, 2001; Esser, Klärner & Kohl- 2001
2006; Möller & & Brähler, 2010; & Brähler, 2012 Scheufele & Brosius, struck, 2006;
Schuhmacher, Decker, Kiess & 2002; Geschke, Sassen- Pfeiffer, 2002;
2007; Schneider, Brähler, 2012; Best berg, Neidhardt, 2004; Rucht, 2002
2001; Schroeder, & Salheiser, 2012; Weiß & Spallek, 2002
2003; Stöss, Kreis, 2007 Medien als Anbieter Täteranalysen
2010; Quent, von Gelegenheitsstruk- Frindte & Neumann,
2012; Zick und turen 2002; Wahl, 2002
Küpper, 2009 z. B. Klärner, 2008;
Udris, 2007, 2011
Wolfgang Frindte et al.
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 49

2.2.1 Überblicksarbeiten

Überblicke über den Stand der sozialwissenschaftlichen und psychologischen


Rechtsextremismusforschung im Zeitraum von 2001 bis 2013 Ànden sich u. a. in
Backes (2003), Boehnke et al. (2002), Braun, Geisler und Gerster (2009), Büchel,
Glück, Hoffrage, Stanat & Wirth (2009), Frindte und Neumann (2002), Goldberger
(2013), Klärner und Kohlstruck (2006), Lamnek, Fuchs und Wiederer (2002), Möl-
ler und Schuhmacher (2007), Quent (2012), Schneider (2001), Schroeder (2003),
Stiehm (2012), Stöss (2010), Virchow (2012), Wenzler, (2001), Zick (2004), Zick
und Küpper (2009).13 Andreas Zick (2004) z. B. ordnet die sozialwissenschaftli-
chen und psychologischen Erklärungsmodelle in die oben bereits genutzten, von
Uri Bronfenbrenner (1979) eingeführten Unterscheidungsebenen (Mikro-, Meso-,
und Makrosysteme) ein. Auf der Mikroebene verortet Zick Modelle, die individu-
elle Voraussetzungen rechtsextremer Einstellungen und Handlungen untersuchen.
Zu Modellen auf der Mesoebene rechnet Zick vor allem den schon erwähnten Des-
integrationsansatz von Heitmeyer und Mitarbeitern. Makroebene ist für Zick jene
Ebene, auf der wichtige Interventions- und Präventionsansätze zu Ànden sind, die
aber auch auf den anderen Ebenen Wirkung erzielen können.

2.2.2 „Rechtsextremismus“ – noch immer ein unscharfer Begriff

Auch im Zeitraum 2001 bis 2013 setzen sich die sozialwissenschaftlichen und psy-
chologischen Diskussionen und Auseinandersetzungen um den Rechtsextremis-
mus-Begriff fort (z. B. Decker, Weißmann, Kiess & Brähler, 2010; Decker, Kiess &
Brähler, 2012; Frindte, Neumann, Hieber, Knote & Müller, 2001; Frindte & Neu-
mann, 2002; Fuchs, 2003; Glaser, 2012; Grumke, 2012, 2013; Heitmeyer, 2002;
Hirscher & Jesse, 2013; Klärner & Kohlstruck, 2006; Klemm, Stobl & Würtz,
2006; Kumiega, 2013; Neidhardt, 2002; Quent, 2013; Stöss, 2010; Zick, 2004;
Zick & Küpper, 2009). Einig sind sich die meisten Autoren in der Abgrenzung

13 Auch der Bericht über die Herbsttagung des Bundeskriminalamts (2012) enthält eine
Reihe von interessanten Überblicksarbeiten, etwa den Beitrag von Armin Pfahl-Traug-
hber (2012a) über den Forschungsstand und die Forschungslücken zum Phänomen des
Rechtsextremismus. Pfahl-Traughber (Pfahl-Traughber, 2012a, S. 43) stellt u. a. fest,
„…dass die Forschung bezogen auf die gewaltorientierten Bereiche eher unterentwi-
ckelt und hinsichtlich der legalen Bereiche eher gut entwickelt ist. Eine Ausnahme
stellen hier die Untersuchungen zu fremdenfeindlicher Gewalt dar, welche in den
1990er Jahren entstanden, insofern aber auch schon wieder veraltet sind“.
50 Wolfgang Frindte et al.

des sozial- bzw. politikwissenschaftlichen Rechtsextremismus-Begriffs von ver-


fassungsrechtlichen DeÀnitionen.14
Eine Ausnahme in dieser Abgrenzung bilden die Vertreter der „vergleichen-
den Extremismusforschung“ (Hirscher & Jesse, 2013). Die theoretischen Grundla-
gen einer solchen Extremismusbetrachtung wurden bereits 1989 von Uwe Backes
(1989) gelegt (vgl. auch Backes & Jesse, 1993). Die Prämissen, Konsequenzen und
methodischen Instrumentarien der darauf aufbauenden „vergleichenden Extremis-
musforschung“ sind in den Wissenschaftlergemeinschaften nicht unumstritten, da
sie eine Gleichsetzung von Linksextremismus und Rechtsextremismus nahelegen
und so von der besonderen Problematik und Gefährlichkeit des Rechtsextremis-
mus abzulenken scheinen (vgl. z. B. Butterwegge, 2010; Decker et al. 2006; Falter,
2013; Forum für kritische Rechtsextremismusforschung, 2011; Neugebauer, 2000;
Salzborn, 2011).
Ruud Koopmans (2001) kritisiert die öffentlichen Diskussionen über den
vermeintlich einheitlichen „Rechtsextremismus“ und plädiert dafür, zwischen
Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus zu differenzieren. Aus seiner Sicht
handelt es sich beim Rechtsextremismus um die Verknüpfung von „klassischen“,
„genuin rechtsextremistischen Zielen wie Verherrlichung des Naziregimes und
die Leugnung seiner Verbrechen, Antisemitismus, die Ablehnung der deutschen
Nachkriegsgrenzen, Demokratiefeindschaft sowie militante Angriffe gegen linke
Gruppierungen“ (Koopmans, 2001, S. 472). Quasi als Oberbegriff fungiert aus der
Sicht Koopmans der „Rechtsradikalismus“, der sich vor allem auf fremdenfeind-
liche Einstellungen und Aktionen beziehe. Aktionen mit genuin rechtsextremisti-
schen Zielsetzungen würden nur einen Bruchteil der rechtsradikalen Aktivitäten
ausmachen. Diese Aktivitäten stünden aber viel seltener im Fokus der (medialen)
Öffentlichkeit.
Für Andreas Zick (2004, S. 265) ist die o. g. von Heitmeyer und Mitarbeitern
(Heitmeyer et al., 1992) entwickelte Bestimmung des Rechtsextremismus die
„bekannteste und psychologisch interessanteste DeÀnition“. Klemm et al. (2006)
ergänzen die zwei im Heitmeyerschen Ansatz bestimmenden Dimensionen des
Rechtsextremismus (Ideologie der Ungleichwertigkeit und Gewaltakzeptanz) um

14 Der Begriff Rechtsextremismus aus der verfassungsrechtlichen Perspektive ist geprägt


durch die Staatsrechtslehre, das Grundgesetz sowie einschlägige Gerichtsurteile, etwa
die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot der Sozialistischen Reichspar-
tei (SRP) oder der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) in den 1950er-Jah-
ren. In dieser Tradition basiert die Vorstellung von „Extremismus“ auf dem politischen
Konzept der „wehrhaften Demokratie“, das die Bedrohung der freiheitlichen demo-
kratischen Grundordnung über Verfassungsfeindlichkeit definiert (vgl. ausführlich
Decker u. a., 2010, S. 10ff.).
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 51

eine dritte, die sie „Idealistisch-autoritäre Staatsauffassung“ nennen (Klemm et


al., 2006, S. 118). Zu dieser dritten Dimension gehören aus Sicht der Autoren die
Zustimmung zu Zentralismus und dem Führerprinzip, eine völkische Auffassung
von Nation und eine positive Einstellung zum „Dritten Reich“.
Marek Fuchs (2003) sieht dagegen eine Konzeption von Rechtsextremismus,
die neben der Einstellungsdimension (zur Ideologie der Ungleichwertigkeit) auch
die GewaltafÀnität einschließt, für nicht geeignet an, um das Rechtsextremismus-
potential Jugendlicher zu untersuchen. Decker, Brähler und Geißler (2006), De-
cker und Brähler (2008) und Decker et al. (2010, 2012) halten den Rechtsextre-
mismus-Begriff zwar auch für problematisch, arbeiten aber dennoch mit ihm und
unterscheiden zwischen rechtsextremen Einstellungen und tatsächlich gezeigtem
Verhalten (Decker et al., 2010, S. 17). In ihren Studien erfassen sie aber nur rechts-
extreme Einstellungen.
Ähnlich verfahren auch Best und Salheiser im „Thüringen-Monitor“ (2012; vgl.
auch Best, Dwars, Salheiser & Salomo, 2013), indem sie Rechtsextremismus als
Einstellungsmuster deÀnieren, das „durch die Überzeugung einer unterschiedli-
chen Wertigkeit von Menschen in Abhängigkeit von askriptiven Merkmalen, wie
Nationalität, Hautfarbe oder ethnischer Herkunft, sowie einem auf diesen Un-
gleichwertigkeitsvorstellungen aufbauenden Gesellschaftsbild“ (Best & Salheiser,
2012, S.79) gekennzeichnet ist. Die empirischen Befunde von Best und Salheiser
weisen auch auf einen schwachen Zusammenhang zwischen politischer Selbst-
einstufung auf einer Links-Rechts-Skala und der empirisch erhobenen Rechts-
extremismusafÀnität in der Thüringer Bevölkerung hin. Die Gruppe der rechts-
extremen Einstellungsträger/-innen setzte sich 2012 zu ähnlichen Anteilen aus
sich selbst politisch rechts, mittig und links einordnenden Thüringern zusammen
(vgl. auch den Beitrag von Best in diesem Band). Dies belege die theoretische und
empirische Unzulänglichkeit des Rechtsextremismus-Begriffes und habe Folgen
für die Präventionsarbeit (vgl. auch Quent, 2013, S. 8). Diese Befunde scheinen
also darauf hinzudeuten, dass zwischen den wissenschaftlichen Begriffen zum
Rechtsextremismus und den verschiedenen Operationalisierungsversuchen einer-
seits und der politischen Praxis andererseits, in der Rechtsextremismus auftritt
und sich entfalten kann, gravierende Differenzen bestehen bzw. bestehen können.
Darauf machen auch Klärner und Kohlstruck (2006, S. 14) aufmerksam, wenn sie
vorschlagen, Rechtsextremismus auf zwei Ebenen zu beobachten, nämlich als dis-
kursive Konstruktion und als soziale bzw. politische Praxis.
Wenn nun aber der Begriff „Rechtsextremismus“ nach wie vor „umstritten und
unklar“ (z. B. Stöss, 2010; Strobl, Lobermeier & Heitmeyer, 2012; u. v. a.) und un-
scharf ist, so ist zu fragen, ob ein unscharfer Begriff den Strukturkern liefern kann,
um das dazugehörige Forschungsfeld bestimmen zu können. Sicher nicht; es kann
52 Wolfgang Frindte et al.

eher davon ausgegangen werden, dass Begriffe, wie Rechtsextremismus, Rechtsra-


dikalismus etc., nicht nur im Kontext einer, wie auch immer elaborierten, Theorie,
zu bestimmen sind, sondern auch die sich verändernden gesellschaftlich-politi-
schen Kontexte reÁektieren, auf die sie sich beziehen sollen und in denen sie ge-
braucht werden. Insofern sind diese und ähnliche Begriffe und ihre Bedeutungen
auch historischen und situativen Veränderungen unterworfen.
Bemühungen um methodischen Konsens: Ungeachtet der auch im Zeitraum
2001 bis 2013 ungelösten DeÀnitionsprobleme wurde von einigen Forschern mit
überwiegend politikwissenschaftlicher Ausrichtung (angeregt von Oskar Nieder-
mayer und Richard Stöss) 2001 und 2004 eine „KonsensdeÀnition“ vorgeschlagen,
auf deren Basis eine Skala zur Messung von rechtsextremen Einstellungen ent-
wickelt wurde, die in mehreren Studien (Best & Salheiser, 2012; Best et al., 2013;
Decker & Brähler, 2006, 2008; Decker et al. 2012; Decker, Weißmann, Kiess &
Brähler, 2010) eingesetzt wurde. Die KonsensdeÀnition lautet:

„Der Rechtsextremismus ist ein Einstellungsmuster, dessen verbindendes Kennzei-


chen Ungleichwertigkeitsvorstellungen darstellen. Diese äußern sich im politischen
Bereich in der AfÀnität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Ein-
stellungen und einer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung des Nationalsozialismus.
Im sozialen Bereich sind sie gekennzeichnet durch antisemitische, fremdenfeind-
liche und sozialdarwinistische Einstellungen“ (Kreis, 2007, S. 13).

Rechtsextreme Einstellung solle in sechs Dimensionen mit je fünf Items, also ins-
gesamt dreißig Items gemessen werden. Die Dimensionen wurden deÀniert als
„Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur“, „C hauvinismus“, „Ausländer-
feindlichkeit“, „Antisemitismus“, „Sozialdarwinismus“ und „Verharmlosung des
Nationalsozialismus“. Aus den von Joachim Kreis (2007) mitgeteilten Berichten
über die Tagungen, auf denen die KonsensdeÀnition erarbeitet wurde, lässt sich
nicht entnehmen, auf welchen theoretischen Prämissen oder Konzeptionen diese
DeÀnition aufbaut. Zum einen lehnt sie sich an der o. g. Rechtsextremismus-DeÀ-
nition von Heitmeyer und Mitarbeitern an; zum zweiten greift sie aber nur eine der
in dieser DeÀnition hervorgehobenen zwei Dimensionen auf (und vernachlässigt
den Gewaltaspekt); zum dritten ist die „KonsensdeÀnition“ eine DeÀnition durch
Aufzählung, ohne dass ein Kriterium angegeben wird, ob die Aufzählung vollzäh-
lig, hinreichend oder nur beispielhaft erfolgt.
Einen anderen, keinesfalls uninteressanten Zugang wählt Thomas Grumke
(2011). Mit dem Ziel, den Rechtsextremismus in den USA zu analysieren, greift
er auf die zivilisationstheoretische Untersuchung fundamentalistischer Bewegun-
gen in der Moderne von Shmuel Eisenstadt (1998) zurück. Eisenstadts Ausgangs-
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 53

punkt ist die Annahme, dass fundamentalistische Bewegungen durchaus modern


sein können, obwohl sie antimoderne und antiaufklärerische Ideen verkünden. In
dieser Paradoxie sieht Grumke (2011) nun eben auch Parallelen zwischen Funda-
mentalismus und (US-amerikanischem) Rechtsextremismus. Als Projekt und Pro-
dukt der Moderne betreibe – so Grumke (2011, S. 153) – der Rechtsextremismus
unter Rückgriff auf traditionelle Elemente der (amerikanischen) politischen Kultur
eine extreme Komplexitätsreduktion und suspendiere so jegliche PÁicht zur Be-
gründung. An die Stelle des bloßen Bewahrenwollens trete die Platzierung neuer,
eigener, umgedeuteter politischer Mythen (wie „Rasse“ oder „Nation“). Ideolo-
gisch sei der (amerikanische) Rechtsextremismus – wie auch der Fundamentalis-
mus15 – grundsätzlich antimodern, schöpfe aber in organisatorischer Hinsicht die
Mittel der Moderne voll aus. Und noch einmal auf Eisenstadt (1998, S. 84) zurück-
greifend bezeichnet Grumke (Grumke, 2011) den (amerikanischen) Rechtsextre-
mismus als militante Ideologie, die grundlegend in eine hochmoderne Struktur
eingebunden ist und so quasi die Kehrseite der Moderne darstellt.
Sehr bewusst haben wir den amerikanischen Bezug der Grumkeschen Analyse
in Klammern gesetzt, sehen wir doch durchaus Parallelen zum deutschen bzw.
europäischen Rechtsextremismus. Den Rechtsextremismus insofern als funda-
mentalistische Strömung zu konzeptualisieren und auf diese Weise empirisch zu-
gänglich zu machen, könnte eine innovative sozialwissenschaftliche Herausforde-
rung sein (vgl. den Beitrag von Frindte und Geschke in diesem Band).16

15 Der Ausdruck „Fundamentalismus“ kam im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts


in Gebrauch und bezieht sich seitdem vor allem auf eine strenge und ausschließliche
Auslegung der (zunächst christlichen) Wurzeln einer Religion. Zwischen 1910 und
1915 erschien eine Reihe von Schriften unter dem Titel „The Fundamentals“, in denen
die Rückbesinnung auf die Grundlagen der christlichen Religion gefordert wurde.
1919 fanden dazu Konferenzen der World’s Christian Fundamentals Association statt.
Allerdings hat sich die Verwendung des Begriffs Fundamentalismus in den letzten
Jahrzehnten sowohl im Alltag als auch im wissenschaftlichen Kontext stark erweitert.
In der Umgangssprache wird der Begriff nicht selten unscharf zur Bezeichnung von
konservativen und u. U. gewalttätigen Gruppierungen und Bewegungen benutzt. Im
wissenschaftlichen Kontext hat sich überdies in den letzten Jahren auch eine Begriffs-
verwendung etabliert, die sich nicht nur auf den „religiösen Fundamentalismus“ be-
schränkt (vgl. auch Meyer, 2011).
16 Uwe Backes macht darauf aufmerksam, dass die Idee, den Rechtsextremismus als fun-
damentalistische Ideologie zu begreifen, so neu allerdings auch wieder nicht sei. Ba-
ckes (2006) verweist z. B. auf die Arbeiten von Thomas Meyer (1989) oder Christian
Jäggi und David J. Krieger (1991), in denen u. a. auch der Rechtsextremismus als Form
eines säkularen Fundamentalismus beschrieben wird.
54 Wolfgang Frindte et al.

2.2.3 Dominierende Theorie- und Forschungsansätze

Dominanz der Studien zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (Heitmey-


er, 2002 bis 2012): Auch im Zeitraum 2001 bis 2013 dominierten wieder Arbeiten
von Wilhelm Heitmeyer und Kollegen das Forschungsfeld. Das groß angelegte
Forschungsprojekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF), das von
Wilhelm Heitmeyer geleitet wurde, hatte das Ziel, den „klimatischen“ Zustand
der Bundesrepublik durch jährliche Befragungen zu eruieren. Nicht zuletzt vor
dem Hintergrund der in den 1990er Jahren und im Übergang zum neuen Jahrtau-
send beobachtbaren menschenfeindlichen Stimmungen und z. T. zerstörerischen
Gewalttendenzen stellt Heitmeyer im ersten Bericht zur Langzeitstudie (die von
2002 bis 2012 durchgeführt wurde) u. a. fest, dass es von höchstem Interesse sei,
„welches Ausmaß an Ideologien von Ungleichwertigkeit … existiert und wie es
sich im Zeitverlauf entwickelt“ (Heitmeyer, 2002, S. 19; Hervorh. im Original).
Das heißt, mit dem Projekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sollte von
Anfang an – vergleichbar mit der o. g. „KonsensdeÀnition“ – „nur“ eine der Di-
mensionen empirisch beobachtet werden, die in der ursprünglichen Rechtsextre-
mismus-DeÀnition genannt sind – eben die Facetten (oder Elemente) der Ideologie
der Ungleichwertigkeit (vgl. Heitmeyer, 2008, S. 36ff.; auch Klemm et al., 2006)17.
Die Absicht dieser Fokussierung beschreibt Heitmeyer im letzten Bericht zum
Projekt: „…die ‚beruhigende‘ Unterscheidung zwischen den brutalen Rechtsextre-
misten einerseits sowie der angeblich humanen Bevölkerung andererseits aufzu-
lösen und somit den oberÁächlichen Konsens im Lande bewusst zu irritieren und
zu stören“ (Heitmeyer, 2012, S. 322).
In der ersten repräsentativen Erhebung wurden sechs Elemente der gruppen-
bezogenen Menschenfeindlichkeit operationalisiert und analysiert: Rassismus,
Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Heterophobie, Etabliertenvorrechte und
Sexismus (Heitmeyer, 2002, S. 20). Zehn Jahre später umfasste das Syndrom der
Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zwölf Facetten bzw. Elemente: Sexis-
mus, Homophobie, Etabliertenvorrechte, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Is-
lamfeindlichkeit, Antisemitismus, Ablehnung von Behinderten, Abwertung von
Obdachlosen, Abwertung von Sinti/Roma, Abwertung von Asylbewerbern und
Abwertung von Langzeitarbeitslosen (Heitmeyer, 2012, S. 17). Mit der Untersu-
chung dieser Facetten und ihren wechselseitigen Zusammenhängen etablierte sich

17 Susanne Johansson (2011, S. 278) kritisiert allerdings in einer sehr umfangreichen


Rezension (sie bezieht sich auf die Bände 1 bis 8 zum Projekt; Heitmeyer, 2002-2010),
dass das Verhältnis zwischen den Syndromen der Gruppenbezogenen Menschenfeind-
lichkeit und des Rechtsextremismus unbestimmt bleibe.
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 55

das Projekt zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit innerhalb der sozial-


wissenschaftlichen und psychologischen Erforschung von Stereotypen, Vorurtei-
len und Diskriminierungen (vgl. auch Zick, Hövermann & Krause, 2012, S. 64).
Mit der Konzentration auf nur eine der Dimensionen des ursprünglichen
Rechtsextremismuskonzepts wird allerdings – anders als mit der o. g. „Konsens-
deÀnition“ – innerhalb des Projekts Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
keine neue Auffassung von Rechtsextremismus vertreten. „Rechtsextremismus“
in seiner ursprünglichen DeÀnition durch Heitmeyer und Mitarbeiter – also als
Verknüpfung von Ideologie(n) der Ungleichwertigkeit und GewaltafÀnität – spielt
im Projekt der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit durchaus noch eine ge-
wichtige Rolle (vgl. auch Grau, 2010; Zick, Küpper & Legge, 2009). Küpper und
Zick (2008) gehen z. B. davon aus, dass „Gewalt als Mittel der Durchsetzung und
Demonstration von Machtansprüchen, Kontrolle und Dominanz … eine extreme
Form der Herstellung von Ungleichwertigkeit“ (Küpper & Zick (2008), S. 116) sein
kann. Die empirischen Befunde, die die beiden Autoren präsentieren, scheinen das
zu belegen. Soziale Dominanzorientierung und mangelnde Anerkennung erweisen
sich als starke Prädiktoren für Gewaltakzeptanz und Gewaltbereitschaft. Neben
solchen und ähnlichen empirischen Befunden aus dem Projekt Gruppenbezoge-
ne Menschenfeindlichkeit wird in den entsprechenden Publikationen auch immer
nach Möglichkeiten gesucht, die Ergebnisse mit Fallbeispielen zu illustrieren,
die auf rechtsextreme Entwicklungen in Deutschland verweisen (z. B. Heitmeyer,
2003, S. 187ff.; Heitmeyer, 2010, S. 178ff.; Heitmeyer, 2012; S. 245ff.).
Gefährdungen des friedlichen Zusammenlebens zwischen Angehörigen unter-
schiedlicher Religionen, Ökonomisierung des Sozialen, Abwertung von Homose-
xuellen und Obdachlosen, Demokratieentleerung, soziale Desintegrationsprozesse
sind die Stichworte, mit denen Heitmeyer (2012) die empirischen Befunde be-
nennt, die zeigen, wie stark Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit die Grund-
lagen der deutschen Gesellschaft zu bedrohen scheint.
„Mitte-Studien“: Auch die repräsentativen Studien, die Elmar Brähler, Oliver
Decker und Mitarbeiter im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in den
Jahren 2006, 2008, 2010 und 2012 zum rechtsextremen Potential in der „Mitte
der Gesellschaft“ durchführten, sollen auf grundsätzliche Gefährdungen der deut-
schen Gesellschaft aufmerksam machen (Decker et al., 2006; Decker & Brähler,
2008; Decker et al., 2010; Decker et al., 2012). Methodische Grundlage dieser Stu-
dien sind die o. g. „KonsensdeÀnition“ und die darauf aufbauenden Operationali-
sierungen. Das heißt, rechtsextreme Tendenzen werden in diesen Studien mittels
der sechs, bereits erwähnten, Dimensionen beschrieben: „Befürwortung einer
rechtsautoritären Diktatur“, „C hauvinismus“, „Ausländerfeindlichkeit“, „Antise-
mitismus“, „Sozialdarwinismus“ und „Verharmlosung des Nationalsozialismus“.
56 Wolfgang Frindte et al.

Auch die zur Erfassung dieser Dimensionen eingesetzten Skalen gehen auf die
Diskussionen zurück, in denen über die „KonsensdeÀnition“ verhandelt wurde.
Im Jahre 2012 konstatieren Decker et al. (2012) u. a., dass knapp 16 Prozent der
Ostdeutschen ein „geschlossenes rechtsextremes Weltbild“ (S. 114) haben und dass
dies der höchste in den „Mitte-Studien“ bisher gemessene Wert sei. Vor allem
junge Ostdeutsche Àelen durch zunehmend hohe Zustimmungswerte auf. Verant-
wortlich machen die Autoren die nach wie vor vorhandenen „Strukturprobleme in
Ostdeutschland“ (Decker et al., 2012).

2.2.4 Rahmenbedingungen für rechtsextreme Tendenzen

Das in Anlehnung an Bronfenbrenner (1979) genutzte Schema zur Beschreibung


der Rahmenbedingungen für rechtsextreme Tendenzen scheint zwar geeignet zu
sein, um eben diese Rahmenbedingungen zu ordnen; für die Einordung wissen-
schaftlicher Publikationen zum Rechtsextremismus im Zeitraum von 2001 bis
2013 erwies es sich jedoch als zu starr. Dies vor allem deshalb, weil sich in diesem
Zeitraum zahlreiche Studien Ànden lassen, in denen sowohl makro-, meso- als
auch mikro-soziale Bedingungen untersucht wurden. Trotzdem soll dieses Sche-
ma zunächst beibehalten werden.

A Makro-soziale Bedingungen

Makro-soziale Bedingungen spielen vor allem in den Studien zur Gruppenbezo-


genen Menschenfeindlichkeit (z. B. Heitmeyer, 2012), den Mitte-Studien (Decker
et al. 2012) oder im Thüringen-Monitor (Best & Salheiser, 2012) eine zentrale
Rolle. Untersucht wurden in diesen, aber auch in anderen Studien, z. B. die nach
wie vor vorhandenen Ost-West-Unterschiede in den rechtsextremen Tendenzen
(z. B. Decker et al. 2012; Krüger, Fritzsche, Pfaff & Sandring, 2003; Landua, Ha-
rych & Schutter, 2002; Oepke, 2005; Schroeder, 2003), regionale Besonderheiten
(z. B. Gabriel, Grastdorf, Lakeit, Wandt & Weyand, 2004; Geyer, 2002; Held et
al., 2008), der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit bzw. Prekarisierung und
rechtsextremen Einstellungen (Decker et al. 2012; Sommer, 2010), Unterschiede
zwischen Männern und Frauen (z. B. Birsl, 2012; Fromm & Kernbach, 2002; Köt-
tig, 2004) oder zwischen Stadt und Land (Best & Salheiser, 2012, S. 92ff.; Held et
al., 2008; Neumann, 2001).
Auch Zusammenhänge von medialer Berichterstattung und Rechtsextremis-
mus sind unter diesem Aspekt wieder erwähnenswert (vgl. z. B. Brosius, 2002;
Dollase, 2002; Erb, 2002; König, 2008; Schellenberg, 2005).
Friedhelm Neidhardt fragt – sicher etwas polemisch:
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 57

„Auf welchen Wegen und mit welchem Erfolg erreicht der in Organisationen und
Parteien verfasste Rechtsradikalismus, dessen Strukturen und Programme jeder
Verfassungsschutzbericht ausführlich beschreibt, eine Basis gewaltbereiter junger
Leute? Welche Medien spielen dabei eine Rolle?“ (Neidhardt, 2002, S. 784).

Zwei Jahre später formuliert er die in den o. g. Fragen steckende These expliziter:

„Auch bei der Mobilisierung rechtsextremistischer Aktionen könnten Medien durch-


aus gegen ihren Willen zum Beispiel zu einer ‚discursive opportunity structure‘ (Ko-
opmans 1996; 2001) zugunsten derer beitragen, die sie scharf kritisieren, nämlich
Informationen, ‚Frames‘ und Positionen bekannt zu machen, die sich zum Beispiel
zur Rechtfertigung von Gewalt und zur Stigmatisierung von Fremden verarbeiten
lassen“ (Neidhardt, 2004, S. 337).

Brosius und Scheufele (2001) untersuchen, unter welchen Bedingungen die Be-
richterstattung der Medien einer Ausbreitung fremdenfeindlicher Straftaten Vor-
schub leistet. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass es unter bestimmten Be-
dingungen zu massiven Anstiftungseffekten durch die Berichterstattung kommen
kann. Schon die Berichterstattung über Gewalt durch Ausländer könne zu aus-
länderfeindlichen Straftaten führen (vgl. auch Esser, Scheufele & Brosius, 2002).
HäuÀg wird in der Medienberichterstattung das Handeln der Migranten selbst für
das „Ausländerproblem“ verantwortlich gemacht und negativ bewertet (Pfetsch
& Weiß, 2000). Das kann dazu führen, dass in bestimmten Gruppen die Gewalt-
bereitschaft gegenüber Ausländern/ Migranten wächst (Scheufele, 2002). So wird
die Berichterstattung von verschiedenen Rezipientengruppen unterschiedlich auf-
genommen und löst Reaktionen von ausländerfeindlicher Wut bis zu Angst vor
rechtsextremer Gewalt aus (Oemichen, Horn & Mosler, 2005).
Unter diesem Aspekt ist auch der o. g. Hinweis von Neidhardt auf die „discursi-
ve opportunity structure“ im Sinne von Koopmans zu verstehen: Verbreitungsme-
dien (im Luhmannschen Sinne) eröffnen Möglichkeitsräume (Frindte, 1998, 1999;
Geschke, Sassenberg, Ruhrmann & Sommer, 2010) oder stellen Frames bereit,
wie Wirklichkeit interpretiert werden kann. Diesbezüglich wurden verschiedenste
Aspekte der Berichterstattung in Inhalts- und Rezeptionsanalysen untersucht, wie
z. B. ereignisorientierte Thematisierung (z. B. Weiß & Spallek, 2002), Skandali-
sierung, Emotionalisierung und Stereotypisierung mit deren Wirkpotentialen und
Wirkungen (vgl. z. B. Matthes & Marquardt, 2013; Oemichen et al., 2005). Die
Rezipientenanalysen der „ARD/ZDF Studie“ (vgl. Oemichen et al., 2005) zeigen,
dass eine moderate Emotionalisierung zum einen durchaus bedeutsam sein kann,
da sie eine IdentiÀkation mit den Opfern ermöglicht und dazu anregt, sich inten-
58 Wolfgang Frindte et al.

siver mit dem Thema zu beschäftigen. Zum anderen können solche Berichterstat-
tungsmuster aber auch die Rezipienten emotional überwältigen und stark emo-
tionale, fremdenfeindliche Reaktionen auslösen (vgl. auch Schellenberg, 2005).
Pfeiffer, Jansen, Stegmann und Tepper (2002) untersuchten die Rechtsextremis-
mus-Berichterstattung in deutschen Tageszeitungen und kritisierten zum einen die
stereotype Darstellung der Rechtsextremen, die verwirrte Einzeltäter oder außer-
halb der Gesellschaft stehende Extremisten zeigt, statt das gesamtgesellschaftliche
Problem zu fokussieren. Zum anderen stellten sie fest, dass der Rechtsextremismus
im Osten den Lesern „in unangemessenem Maße als größeres Problem vermittelt
wird, jener im Westen hingegen vernachlässigt wird“ (Pfeiffer et al., 2002, S. 277;
vgl. auch Oemichen et al., 2005 für TV-Berichterstattung). Über die deutsche Be-
richterstattung hinaus, stellt Udris (2007) in den Schweizer Leitmedien von 1960
bis 2007 fest, dass auch diese von Skandalisierung und Event-Inszenierungen ge-
prägt ist und somit „punktualistisch respektive ereignisorientiert und höchst vola-
til“ (Udris, 2007, S. 3).
„Discursive opportunity structures“ oder „diskursive Gelegenheitsstrukturen“
bezeichnen die politischen Strukturen bzw. die Diskurse über solche Strukturen,
durch die sich Möglichkeiten ergeben, soziale Bewegungen zu mobilisieren (vgl.
auch Klärner, 2008; Udris, 2011). Das Konzept der Gelegenheitsstrukturen ver-
weist zunächst auf einen unscharfen Begriff (vgl. auch Klärner, 2008, S. 52), der
aus der soziologischen Bewegungsforschung stammt (siehe auch weiter unten).
Diese Perspektive steht nicht unbedingt konträr zur Rechtsextremismusauffassung
von Heitmeyer und Kollegen, sie offeriert aber u. a. einen Ansatz, um den EinÁuss
der Verbreitungsmedien in der Rechtsextremismusforschung neu zu bestimmen
(vgl. auch Braun & Koopmans, 2010; Weiß & Spallek, 200218): Verbreitungsme-
dien können u. U. Möglichkeitsräume (oder discursive opportunity structures) er-
öffnen, an die sich Rechtsextreme anzuschließen vermögen und durch die sie sich
in ihren Ideologien und Handlungsbereitschaften bestätigt sehen. Dabei sind für
den Zeitraum 2001 bis 2013 vor allem die wissenschaftlichen und journalistischen
Analysen über die Bedeutung des Internets im Kontext von Rechtsextremismus
und Rechtspopulismus hervorzuheben (vgl. z. B. Busch, 2005; Braun & Hörsch,
2004; Frindte, Jacob & Neumann, 2002; Fromm & Kernbach, 2001; Holtz & Wag-
ner, 2008; Parker, 2002; Pfeiffer, 2004, 2009; Reissen-Kosch, 2013; Wojcieszak,
2011). In einem Review liefert Daniels (2013) einen Überblick über Studien der
letzten 15 Jahre, die sich mit Internet und Rassismus beschäftigen.

18 Die Arbeit von Weiß und Spallek (2002) dürfte für künftige inhaltsanalytische Unter-
suchungen der Berichterstattung über Rechtsextremismus besonders paradigmatisch
sein.
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 59

Unbedingt erwähnenswert ist auch der aktuelle Sammelband von Michael Hal-
ler (2013) über den „Rechtsterrorismus in den Medien“. Norwegische und deutsche
Medienfachleute (Journalisten und Wissenschaftler) diskutieren in diesem Band, wie
Journalisten mit den Mordtaten von Anders Behring Breivik in Norwegen und denen
des Nationalsozialistischen Untergrunds in Deutschland umgegangen sind. Aus kom-
munikations- und medienrechtlicher Perspektive betrachtet Kujath (2013) die Medien-
öffentlichkeit im „NSU-Prozess“ (siehe auch ausführlich Kapitel 3 in diesem Band).

B Meso-soziale Bedingungen

Auch meso-soziale Bedingungen (wie SozialisationseinÁüsse oder rechtsextreme


Milieus und Szenen) werden als Prädiktoren für rechtsextreme bzw. fremdenfeind-
liche Einstellungen in den Mitte-Studien (Decker et al. 2012) oder im Thüringen-
Monitor (Best & Salheiser, 2012) untersucht.
Vor allem aber in dem sehr umfassenden Forschungsbericht über rechtsextreme
Orientierungen und rechtsextreme Szenen von Möller und Schuhmacher (2007)
spielen diese meso-sozialen Bedingungen eine wichtige Rolle. Die zentralen Er-
gebnisse dieses in seiner Anlage einzigartigen Forschungsprojekts zeigen u. a.,
dass rechtsextreme Orientierungen und Symboliken zunehmend in unterschied-
liche Jugendkulturen einwandern, rechtsextreme Haltungen immer stärker auch
öffentlich akzeptiert werden, der Anteil der Gewaltbereiten im rechtsextremen
Spektrum sich in den 2000er Jahren vervielfacht hat und Gefühle eigener Des-
integration und Missachtung, das Erleben von Konkurrenz mit Migranten und das
Aufwachsen in einem menschenfeindlich geprägten Umfeld zu den Bedingungen
gehören, unter denen rechtsextreme Tendenzen wahrscheinlich werden (vgl. auch
Wippermann, Zarcos-Lamolda & Krafeld, 2004).
Auch auf die soziologische Bewegungsforschung ist an dieser Stelle noch einmal
zu verweisen: Nachdem diese Perspektive bereits im Zeitraum von 1990 bis 2000
von mehreren Autoren in die Diskussion eingeführt wurde (s. o.), gewinnt sie im
Zeitraum von 2001 bis 2013 vor allem in den Politik- und Sozialwissenschaften stark
an EinÁuss (vgl. z. B. Grumke, 2013; Klärner, 2008; Klärner & Kohlstruck, 2006;
Pfeiffer, 2002; Pfahl-Traughber, 2003; Rucht, 2002). Innerhalb dieser Forschungs-
Community wird der Rechtsextremismus als soziale Bewegung betrachtet (was er
trivialer Weise auch ist), um die Vielfalt relativ autonomer rechtsextremer Strömun-
gen beobachten zu können. In diesem Sinne schreibt z. B. Thomas Grumke:

„In der Tat sind die eher partikularen Ansätze der Parteien- und Wahlforschung oder
der Jugend- und Gewaltforschung kaum in der Lage, das komplexe, heterogene und
mittlerweile sich internationalisierende Phänomen (des Rechtsextremismus, die Ver-
fasser) voll zu erfassen“ (Grumke, 2013, S. 29).
60 Wolfgang Frindte et al.

Und indem er sich auf Rucht (2002) bezieht, sieht Grumke (Grumke, 2013) in der
Bewegungsforschung ein Analysepotential, das C hancen für stärker integrative
Sichtweisen und Interpretationen des Rechtsextremismus zu liefern vermag. Aus
der Sicht der Bewegungsforschung ist der Rechtsextremismus nicht vorrangig als
Ideologie mit GewaltafÀnität zu betrachten, sondern als Ensemble von Gruppen
und Organisationen, die sich über Symbole, Idole und Slogans deÀnieren, Protest
mobilisieren, praktizieren und provozieren, um auf diese Weise einen grundsätz-
lichen gesellschaftlichen Wandel zu initiieren (vgl. Klärner, 2008, S. 39ff.). Aus
sozialpsychologischer Perspektive nicht unbedeutend ist die Annahme, dass sich
soziale Bewegungen nicht durch verbindliche und kodiÀzierte Programme, son-
dern durch eine kollektive Identität auszeichnen, mit der sie sich nach innen und
außen abzugrenzen versuchen (vgl. auch Grumke, 2013, S. 30; Pfeiffer, 2013). In-
sofern bietet die soziologische Bewegungsforschung durchaus interessante inter-
disziplinäre Anschlussmöglichkeiten; besonders neu sind die vorgelegten wissen-
schaftlichen Ansätze – aus sozialpsychologischer Sicht – allerdings nicht.

C Mikro-soziale und individuelle Bedingungen

Sozialpsychologische Ansätze in den Studien zur Gruppenbezogenen Menschen-


feindlichkeit:
Die im Projekt vorrangig präferierten sozialwissenschaftlichen Erklärungen
und Annahmen über die Ursachen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit
stammen – sieht man von den soziodemograÀschen Prädiktoren, wie Geschlecht,
Alter, Bildung, Einkommen einmal ab – vor allem aus der etablierten sozialpsy-
chologischen Vorurteilsforschung.
Zu diesen Erklärungen gehören das Autoritarismus-Konzept (Altemeyer, 1988;
hier z. B. Heitmeyer & Heyder, 2002; Zick et al., 2012), die Theorie der sozialen
Dominanz von Sidanius und Pratto (1999; hier z. B. Küpper & Zick, 2008), die
Konzeption vom Glauben an die gerechte Welt (Lerner, 1980; hier z. B. Dalbert,
Zick & Krause, 2010) und die erweiterte Kontakttheorie nach Pettigrew (1998a;
hier z. B. Christ & Wagner, 2008; Asbrock, Christ, Duckitt & Sibley, 2012a).
Ulrich Wagner (2013) hebt vereinfachend zwei psychologische Erklärungsmuster
für Rechtsextremismus hervor: ein persönlichkeitspsychologisches und ein sozial-
psychologisches. Aus persönlichkeitspsychologischer Perspektive seien vor allem
Autoritarismusneigung und Dominanzorientierung als Prädiktoren für rechtsextre-
me Tendenzen interessant (siehe oben). Von sozialpsychologischem Interesse seien
dagegen die sozialen Bedingungen, in denen rechtsextreme Tendenzen entstehen
bzw. sich entfalten. Zu diesen Bedingungen gehören Prozesse in und zwischen Grup-
pen (Tajfel, 1978) oder gruppenbezogene Emotionen und deren Verhaltensfolgen.
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 61

Zwar dürfte die Einschätzung von Bornewasser (1994), dass der „Fremde“ kein
Forschungsthema in der Psychologie sei, kaum noch auf den gegenwärtigen For-
schungsstand der Sozialpsychologie zutreffen, betrachtet man nur allein die ex-
pansive Entwicklung der Vorurteilsforschung. Eine genuin psychologische Rechts-
extremismusforschung gibt es im deutschsprachigen Raum allerdings bisher nicht.
Überdies: Während autoritäre Überzeugungen in diesem Kontext bereits sehr gut
untersucht und in ihrem EinÁuss auf rechtsextreme Tendenzen weitgehend bestä-
tigt sind (siehe z. B. Best & Salheiser, 2012), Ànden sich im deutschsprachigen
Raum, außer der o. g. von Küpper und Zick (2008), kaum einÁussreiche Studien, in
denen die Variable Soziale Dominanzorientierung als Erklärung für rechtsextre-
me Tendenzen (im Sinne der ursprünglichen DeÀnition von Heitmeyer und Kolle-
gen; also als Kopplung von Ideologien der Ungleichwertigkeit und GewaltafÀnität)
geprüft und bestätigt wurde.
Zu den wenigen sozialpsychologischen Rechtsextremismus-Studien gehören
u. a. die Arbeiten von Klein und Simon (2006), Neumann (2001), Frindte und Neu-
mann (2002), Menschik-Bendele und Ottomeyer (1998) und Neumann und Frindte
(2002). Während sich die Studie von Klein und Simon (2006) zur Funktion der
sozialen Identität in die neueren Ansätze der Bewegungsforschung (siehe unten)
einordnet, versucht Neumann (2001) die von Heitmeyer und Mitarbeitern vorge-
legte Rechtsextremismus-DeÀnition sozialpsychologisch zu speziÀzieren, indem
er zwei international renommierte Theorieansätze (die Einstellungs-Verhaltens-
Modelle von Ajzen und Fishbein (1980) und die Theory of coercive actions von
Tedeschi und Felson (1995)) miteinander verknüpft.
Auch Frindte und Neumann (2002) greifen auf die Rechtsextremismus-DeÀni-
tion von Heitmeyer zurück, speziÀzieren diese DeÀnition auf der Basis eigener, vo-
rausgehender Befunde (Frindte, 1999) und verknüpfen diese SpeziÀkation mit dem
General Affective Agression Model von Anderson, Deuser und DeNeve (1995).
Trotz dieser vereinzelten Studien kann man sich nicht des Eindrucks erweh-
ren, dass die in der Rechtsextremismus-DeÀnition von Heitmeyer hervorgehobe-
nen zwei Dimensionen in der Psychologie (vor allem in der Sozialpsychologie)
zwei unterschiedliche Forschungsfelder und –traditionen markieren; zum einen
das Feld der Vorurteilsforschung und zum anderen das Feld der Aggressions- und
Gewaltforschung.
Täteranalysen: Frindte und Neumann (2002) haben in einem interdisziplinären
Projekt und in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Jugendinstitut München (vgl.
Wahl, 2002) fremdenfeindliche Gewalttäter (durchgehend männlich und zwischen
1970 und 1983 geboren) in 21 bundesdeutschen Haftanstalten interviewt. In dem
Projekt sollten die situativen und biograÀschen Bedingungen für fremdenfeind-
liches Gewalthandeln junger Menschen untersucht werden, um Vorschläge für
62 Wolfgang Frindte et al.

potentielle Prävention und Intervention ableiten zu können. Insgesamt wurden 101


Täter mittels leitfadengestütztem Interview und Fragebogen befragt. Im Ergebnis
kommen Frindte und Neumann (2002) u. a. zu dem Schluss, dass es sich bei den
Gewalttätern um multipel kriminelle und in hohem Maße aggressionsgewöhnte
und -bereite junge Männer handelt. Eine gezielt politische Funktion tritt bei die-
sen Tätern eher hinter eine jugendkulturelle maskuline Stärkepräsentation zurück.
Das gilt für ost- und westdeutsche Akteure gleichermaßen; die Täter- und Tatbe-
lastung ist allerdings bei den Gewalttätern aus den neuen Bundesländern – rela-
tiv zur Bevölkerungszahl – höher. Ostdeutsche unterscheiden sich von westdeut-
schen Tätern auch dadurch, dass sie die Taten häuÀger sowohl aus einer positiven
Grundstimmung heraus begehen als auch während der Tat positive Emotionen wie
Freude eine größere Rolle spielen als bei westdeutschen Tätern. Darüber hinaus
waren die Taten ostdeutscher Jugendlicher häuÀger mit einer erhöhten vor der Tat
bestehenden Aggressionsbereitschaft verbunden.
Helmut Willems, der schon 1993 gemeinsam mit Eckert, Würtz und Steinmetz
(Willems et al., 1993, s. o.) eine ausführliche Täteranalyse durchgeführt hat, ver-
öffentlichte 2003 eine auf Nordrhein-Westfalen bezogene Analyse zu Täter- und
OpferproÀlen (Willems & Steigleder, 2003), in der u. a. eine vereinfachte Grup-
pierung von rechten Gewalttätern präsentiert wurde: der „Mitläufer“, der deviante
„Schlägertyp“, der „Ethnozentrist“ und der „rechtsradikale Täter“. Rechtsextreme
Ideologien spielen, dieser Analyse zur Folge, vor allem bei den „rechtsradikalen
Tätern“ eine gewaltlegitimierende Rolle (vgl. auch Gamper & Willems, 2006;
Krüger, 2008).
„Nationalsozialistischer Untergrund“: Im November 2011 wurde die rechts-
terroristische Gruppierung Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) aufgedeckt.
Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe werden zehn Morde zugerechnet, die sie in den
fast 14 Jahren im Untergrund begangen haben sollen. Dabei wurden sechs tür-
kische Staatsangehörige, zwei türkischstämmige Deutsche, ein Grieche und eine
deutsche Polizistin getötet. Zuvor waren die drei in der rechtsextremen Jenaer Ju-
gendszene und im rechtsextremen „Thüringer Heimatschutz“ aktiv, nahmen an
rechtsextremen Demonstrationen teil und bauten Bomben. Im Januar 1998 war
es Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe gelungen, in den Untergrund abzutauchen.
Gefahndet wurde nach ihnen noch bis Anfang der 2000er Jahre. Die nach dem
November 2011 bekannt gewordenen Fahndungspannen, das Vernichten von Ak-
ten bei Polizei und Verfassungsschutz, die möglichen rechtsextremen Unterstützer
des Terror-Trios und dessen Kontakte zum Verfassungsschutz beschäftigen noch
immer (also zum Zeitpunkt, an dem dieses Review geschrieben wurde) diverse
Untersuchungsausschüsse auf Länder- und Bundesebene.
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 63

Die besondere Tragik dieser Pannen liegt darin, dass die Fahnder offenbar jah-
relang nicht auf die Idee kamen, die zehn Morde könnten einen rechtsextremen
Hintergrund haben und auf das Konto des gesuchten Nazi-Trios gehen. Lange Zeit
ging die Polizei von der Annahme aus, es handele sich um Verbrechen der organi-
sierten Kriminalität oder gar um Ehrenmorde. Die Sonderkommissionen der Poli-
zei hießen dann auch Soko Halbmond oder Soko Bosporus. Über Jahre wurden
auch Angehörige der Mordopfer als mögliche Täter oder Mitwisser verdächtigt.
Und in den Medien, auch in jenen, die sich als Qualitätsmedien verstehen, wie die
Frankfurter Allgemeine Zeitung oder die Neue Züricher Zeitung, schrieb man von
„Döner-Morden“ und von „Döner-Mördern“ (Spiegel Online ,4.7.2012).
An der Brutalität der Morde, die vom Nationalsozialistischen Untergrund ver-
übt wurden, kommt seit seiner Aufdeckung auch die Rechtsextremismusforschung
nicht vorbei (z. B. Backes, 2013; Baumgärtner & Böttcher, 2012; Fuchs & Goetz,
2012; Gensing, 2012, Pfahl-Traughber, 2012b; Röpke & Speit, 2013; Schmincke &
Siri, 2013; Staud & Radke, 2012; Sundermeyer, 2012; Wetzel, 2013).
Der Rechtsextremismus in Deutschland entstand nicht über Nacht und bildete
sich auch nicht erst nach 1989 aus. Tatsache ist aber auch, dass nach der Wende
in der DDR die rechtsextremistischen Gewalt- und Straftaten in ganz Deutsch-
land sprunghaft angestiegen waren (siehe auch den Beitrag von Quent in diesem
Band). So kommt Gensing (2012) zu der Schlussfolgerung, dass die Pogrome in
Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda in den Jahren 1991 und 1992 und die da-
bei deutlich gewordene Legitimierung von Gewalt gegen Migranten durch Staat
und Bevölkerung zu den Sozialisationserfahrungen der neuen Neonazis gehören.
Auch Stephan Lessenich (2013) fragt zunächst nach dem „Braunen Osten?“. Si-
cher, die Studien zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (z. B. Heitmeyer,
2012) oder die „Mitte-Studien“ (Decker et al., 2012) zeigen die nach wie vor vor-
handenen Ost-West-Unterschiede in den rechtsextremen Tendenzen. Aber worauf
verweisen diese Unterschiede? Auf „die ‚böhsen Onkelz‘ von der SED, die in den
Köpfen und Seelen der Ostdeutschen noch heute ihr Unwesen treiben“? (Lesse-
nich, 2013, S. 141). Lessenich sieht das analytischer: Mit der politisch-medialen
Debatte über die NSU-Morde sei der Rechtsextremismus erneut zum Instrument
der deutsch-deutschen Gesellschaftspolitik geworden. „Wie dem auch sei: Aus
soziologischer Warte allemal Stoff und Grund genug, der alltagspraktischen und
mikropolitischen Aufarbeitung der Vereinigungsfolgen genauer nachzugehen“
(Lessenich, 2013, S. 142).
64 Wolfgang Frindte et al.

2.2.5 Zwischenfazit

Im Zeitraum 1990 bis 2000 dominierten relativ geschlossene, umfassende und


exklusive Forschungsansätze das Forschungsfeld. Ausgehend von diesen (bzw.
besonders einem) Forschungsansatz wurde versucht, die verschiedenen Facetten
von Rechtsextremismus zu erklären (und empirisch zu begründen). Vor allem
die Sozialisations- und Desintegrationstheorie von Heitmeyer und Mitarbeitern
(Heitmeyer, 1989; Heitmeyer et al., 1992; Heitmeyer & Müller, 1995) und die im
Rahmen dieser Theorie entwickelte Rechtsextremismus-DeÀnition bestimmten
in diesem Zeitraum die Erforschung rechtsextremer Tendenzen. Konkurrierende
Ansätze (z. B. das Modell des Rechtsextremismus-Syndroms von Melzer, 1992;
bzw. Melzer & Schubarth, 1995) oder kritische Einwände (z. B. Eckert & Willems,
1996; Leggewie, 1998) haben vor allem die dezidiert makrosoziologische Fokus-
sierung des Heitmeyerschen Ansatzes als zwar notwendige, aber nicht hinreichen-
de Erklärungsperspektive hervorgehoben.
Im Zeitraum von 2001 bis 2013 Ànden sich in den Sozialwissenschaften und
der Psychologie zwar auch dominante Theorieansätze zur Erklärung des Rechts-
extremismus. Augenscheinlich etablieren sich aber zunehmend Forschungsweisen,
in denen ausgehend vom Phänomen des Rechtsextremismus theoretische Konzep-
tionen (und deren empirische Begründungen) entwickelt wurden, mit denen ihre
Konstrukteure verschiedene und z. T. auch diverse Partial-Theorien (bzw. Theo-
rien mittlerer Reichweite, Merton, 1957) zu systematisieren und zu integrieren ver-
suchen. Prototypisch Ànden derartige Integrationen im Projekt Gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit statt. Neben makrosoziologisch wichtigen Konzepten und
Variablen wurden im Verlauf des Langzeitprojekts mikrosoziologische und so-
zialpsychologische Theorien (z. B. das Autoritarismus-Konzept, die Theorie der
sozialen Dominanz, s. o.) genutzt, um Struktur und Bedingungen des Syndroms
der Gruppenbezogen Menschenfeindlichkeit zu erklären (und empirisch zu be-
gründen).
Auch die schon mehrfach erwähnte soziologische Bewegungsforschung (z. B.
Klärner, 2008) greift in der Erforschung des Rechtsextremismus auf diverse so-
ziologische, kommunikationswissenschaftliche und sozialpsychologische Partial-
Theorien zurück (z. B. die Dominanztheorie von Rommelspacher, 1995, 2006; der
Framingansatz, Entman, 1993; die Theorie der sozialen Identität, Tajfel & Turner,
1979).
In Anlehnung an McGuire (1986) könnten die Forschungsweisen im Zeitraum
1990 bis 2000 auch als divergente Forschungsstile bezeichnet werden; die For-
schungsweisen im Zeitraum von 2001 bis 2013 wären dagegen eher als konver-
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 65

gente Forschungsstile zu nennen.19 Die mit konvergenten Forschungsstilen ein-


hergehenden Bemühungen, diverse Partial-Theorien zu integrieren, dürften auch
ein weiterer Grund sein, warum sich das ursprünglich für die Beobachtung des
Zeitraums von 1990 bis 2000 angelegte Raster, mit dem die aufgefundenen wis-
senschaftlichen Publikationen geordnet werden sollten, für den Zeitraum von 2001
bis 2012 als zu starr erwiesen hat.
Im Ergebnis eines konvergenten Forschungsstils, in dem z. B. das Autoritaris-
mus-Konzept, Diskriminierungsansätze und makrosoziologische Konzeptionen
verknüpft, operationalisiert und als mögliche Ursachen für rechtsextreme Tenden-
zen geprüft werden, lassen sich dann Aussagen treffen, wie die folgenden aus dem
„Thüringen-Monitor 2012“:

„Über diese Analyse können als wichtigste Ursachen für rechtsextreme Einstellun-
gen autoritäre Orientierungen, ein niedriger Bildungsabschluss, die empfundene
Diskriminierung der Ostdeutschen, der verfestigte Eindruck, keinen EinÁuss auf
die Regierung zu haben, und, in geringerem Maß, die politische Eigenkompetenz-
zuschreibung benannt werden. Gemeinsam können diese EinÁussgrößen 44 Prozent
der beobachteten rechtsextremen Einstellungen unter der Thüringer Bevölkerung er-
klären“ (Best & Salheiser, 2012, S. 92; vgl. auch Decker et al., 2012).

Im Zeitraum 2001 bis 2013 hat gegenüber dem vorangehenden Jahrzehnt auch
eine weitere Verschiebung in den Forschungsperspektiven stattgefunden: Wenn
zwischen 1990 bis 2000 die rechtsextremen Tendenzen vor allem als Folge einer
wahrgenommenen individuellen und sozialen Bedrohung interpretiert und analy-
siert wurden, so scheint sich im Zeitraum 2001 bis 2013 die Forschung vor allem
auf die Bedrohungspotentiale zu richten, die vom Rechtsextremismus ausgehen.
Zumindest sind das die zentralen Botschaften, die sich aus den Ergebnissen der
großen repräsentativen Studien ableiten lassen (Best & Salheiser, 2012; Decker et
al., 2012; Heitmeyer, 2012). Und ein weiteres Merkmal scheint aus unserer Sicht
die sozialwissenschaftlichen Forschungsperspektiven im besagten Zeitraum zu
charakterisieren: Wie im Zeitraum 1990 bis 2000 spielt auch im nachfolgenden

19 William J. McGuire (1986) beschreibt in diesem Überblicksartikel die Entwicklung


der sozialpsychologischen Einstellungsforschung und unterscheidet dabei zwei For-
schungsstile, einen „convergent-style“ und einen „divergent-style“: „The … convergent
stylist typically started off with a phenomenon to be explained …and cast a wide
theoretical net to ensnare as many relevant independent variables as possible, bringing
a wide variety of explanatory notions convergently to bear on the phenomenon to be
explained“ (McGuire, 1986, S. 99). “A divergent stylist starts off with a theory … and
applies it divergently across a series of studies to a variety of … phenomena” (McGui-
re, 1986, S. 100).
66 Wolfgang Frindte et al.

Jahrzehnt die Identitätsproblematik eine zentrale Rolle; etwa wenn auf das Identi-
Àkationspotential der rechtsextremen Gruppierungen, Milieus oder Bewegungen
verwiesen wird (vgl. auch Klein, 2003).

3 Internationale Anregungen und Publikationen


in englischsprachigen Datenbanken
(PsycINFO und Web of Knowledge)

3.1 Internationale Vergleiche im deutschsprachigen Raum

Eine erste Erweiterung der o. g. Suchstrategien nach wissenschaftlichen Publika-


tionen zum Forschungsfeld „Rechtsextremismus“ geht wiederum auf eine kriti-
sche Einschätzung von Friedhelm Neidhardt (2002) zurück. Neidhardt moniert in
seinem bereits erwähnten umfangreichen Review u. a. die mangelnde Internationa-
lisierung der Rechtsextremismusforschung.
Die Frage ist, ob sich das im Zeitraum 2001 bis 2013 verändert, verbessert
hat. Ja, es hat sich etwas zum Positiven im deutschsprachigen Raum verändert:
Erschienen sind z. B. eine sehr ausführliche Buchpublikation, die von der Fried-
rich-Ebert-Stiftung (FES) herausgegeben wurde (Langenbacher & Schellenberg,
2011), in der Wissenschaftler aus Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Frankreich,
Großbritannien, Italien, den Niederlanden, aus Norwegen, Polen, Schweden, der
Schweiz, aus Spanien und Ungarn die Strukturen und die Entwicklung des Rechts-
extremismus und Rechtspopulismus in Europa analysieren. Vergleiche zwischen
den rechtsextremistischen Entwicklungen in Europa Ànden sich auch bei Backes
(2013), Greven und Grumke (2006), Melzer und Serfain (2013), Münch und Glaser
(2011) und Stöss (2010; ebenfalls von der FES herausgegeben). Und gleichfalls von
der FES herausgegeben wurde auch die Studie von Grumke und Klärner (2006),
in der ein Vergleich zwischen den rechtsextremen Entwicklungen in Deutschland
und Großbritannien versucht wird. Auch auf die umfangreiche Studie zum Rechts-
extremismus in den USA von Thomas Grumke (2001) ist zu verweisen.
Unbedingt erwähnenswert ist auch die europäische Vergleichsstudie „Die Ab-
wertung der Anderen. Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz,
Vorurteilen und Diskriminierung“ von Zick, Küpper und Hövermann (2011; und:
wiederum von der FES herausgegeben). Hier handelt es sich um Befunde einer
Meinungsumfrage, bei der jeweils ca. 1.000 Bürger in Deutschland, Großbri-
tannien, Frankreich, den Niederlanden, Italien, Portugal, Polen und Ungarn zur
Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit befragt wurden. Ähnlich wie im o. g.
Langzeitprojekt „Deutsche Zustände“ (Heitmeyer 2002 bis 2012) stand in dieser
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 67

Umfrage neben Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Sexismus, Homophobie auch


das Ausmaß der Islamfeindlichkeit im Analysefokus. Das heißt, es geht nicht ex-
plizit um rechtsextreme Tendenzen, eher um verschiedene Facetten der „Ideologie
der Ungleichwertigkeit“.

3.2 Publikationen in Web of Science und PsycINFO

Internationale Arbeiten, die sich dezidiert dem „Rechtsextremismus“, respektive


„right-wing extremism“ widmen, sind rar. Zumindest ist die Suche danach nicht
einfach. Der Grund dafür liegt auf der Hand und hat vor allem mit der schon mehr-
fach hervorgehobenen begrifÁichen Diversität zu tun (vgl. auch Grumke, 2001,
S. 18). Im angloamerikanischen Sprachraum wird besagtes Phänomen z. B. als
radical right (Bell, 1963) benannt oder als extreme right (Ebata, 1997; Lipset &
Raab, 1978), als racist right (Ridgeway, 1990), als far right (Coppola, 1996), oder
als survivalist right (Lamy, 1996).
In der Datenbank Web of Science sind für den Zeitraum 1990 bis 2013 im-
merhin 171 wissenschaftliche Publikationen zum Rechtsextremismus vermerkt
(Suchbefehl: „right-wing extremism“) und ca. 360 zum Stichwort „racist right“.
Dabei handelt es sich um politikwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche und
psychologische Arbeiten20, die u. a. a) Überblicksarbeiten darstellen (Lundberg,
2011), b) sich u. a. mit den PersönlichkeitsproÀlen rechtsextremer Aktivisten be-
schäftigen und dabei auch auf die Funktion autoritärer Überzeugungen verweisen
(Van Hiel, 2012), c) Deprivationserfahrungen, Anomie und Wertorientierungen als
Prädiktoren für rechtsextreme Orientierungen thematisieren (z. B. Heyder & Gass-
ner, 2012), d) rechtspopulistische und rechtsextreme Bewegungen und Parteien in
Europa und Übersee behandeln (Arter, 2010; Guterl, 2008; Veugelers, 2000) und e)
auf die Rolle von Online-Medien und Sozialen Netzwerken für rechtsextreme Be-
wegungen hinweisen (Caiani & Wagemann, 2009; Crilley, 2001; Holtz & Wagner,
2009; Wojcieszak, 2011).

20 Diese psychologischen Publikationen werden fast alle auch in der Datenbank PsycIN-
FO aufgeführt.
68 Wolfgang Frindte et al.

In der englischsprachigen, psychologischen Datenbank PsycINFO Ànden sich


für den Zeitraum 1990 bis 2013 unter dem Suchbegriff „right-wing extremism“
nur 40 Publikationen, von denen wiederum 18 Arbeiten sich mit rechtsextremen
Tendenzen in Deutschland beschäftigen (z. B. Frindte et al. 1996; Hagan et al.
1999; Oesterreich 2005b). Erwähnenswert ist aber die Studie von Michael und
Minkenberg (2007), in der rechtsextreme Tendenzen in den USA mit solchen in
Deutschland verglichen werden.
Die Recherche in PsycINFO wurde deshalb erweitert: Statt des Suchbefehls
„right-wing extremism“ wurde in einem zweiten Schritt der Suchbegriff „Hate
Crime“ gesucht. Die Suche mittels des Suchbefehls „Hate Crime“ hängt mit einer
Orientierung der deutschen Rechtsextremismus-Forschung seit 2000 im Hinblick
auf internationale Forschungen zusammen (vgl. auch C oester 2008; Jennes und
Grattet 2002; Seehafer 2003).
Auffallend ist zunächst, dass die Anzahl der Publikationen, die unter dem
Schlagwort „Hate crime“ nachweisbar sind, nach 2001 stark ansteigt. Dieser An-
stieg von psychologischen Arbeiten zum Stichwort „Hate Crime“ scheint mit einer
Erweiterung dieses Forschungsfeldes verbunden zu sein. Nach 2001 werden unter
dem Stichwort „Hate Crime“ – neben Überblicksarbeiten (z. B. Bleich 2007; Ellis
und Hall 2010) – auch Publikationen aufgeführt, in denen fremdenfeindliche Ge-
walt (per deÀnitionem also Rechtsextremismus) gegenüber Arabern bzw. Musli-
men untersucht (z. B. Disha et al. 2011) oder TäterproÀle (McDevitt et al. 2002)
erarbeitet werden. Diese Studien sind für die Rechtsextremismus-Forschung inso-
fern interessant, weil sie zum einen die im deutschsprachigen Raum – zumindest
für den Zeitraum von 2001 bis 2013 – vernachlässigte Gewaltdimension in den
Blick nehmen und zum anderen auf die emotionale Beteiligung rechtsextremer
GewaltafÀnitäten aufmerksam machen (vgl. auch Backes, 2013; Schneider, 2001).

4 Schlussfolgerungen

Im Verlauf des Zeitraums von 2001 bis 2013 hat sich in den deutschen Sozial-
wissenschaften und der Psychologie durchaus ein differenziertes Forschungsfeld
zum Rechtsextremismus entwickelt, a) das sich durch ein wissenschaftlich artiku-
liertes Problemverständnis auszeichnet (auch wenn hinsichtlich einer DeÀnition
dieses Problems, also des Rechtsextremismus, kein Konsens zu erkennen ist), b)
sich auf empirisch bewährte theoretische Erklärungsansätze (zur Problemlösung)
zu stützen vermag, c) mit wissenschaftlich bewährten und geeigneten Methoden
bearbeitet wird und d) von etablierten und konkurrierenden Wissenschaftlerge-
meinschaften bestimmt wird.
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 69

Das so ausgezeichnete (bzw. wahrgenommene) Forschungsfeld zum Rechtsex-


tremismus lässt sich in Anlehnung an Theo Herrmann (1979) durchaus als Do-
main-Programm bezeichnen21; d. h. sozialwissenschaftliche und psychologische
Rechtsextremismusforschung fokussiert zunächst auf einen Problembereich, der
als relevant und beobachtbar angesehen wird und für den geeignete theoretische
Erklärungskonzeptionen gesucht werden.
Als geeignet für eine derartige Suche bieten sich – wie bereits erwähnt – zu-
mindest zwei Wege an: ein divergenter und/oder ein konvergenter Forschungsstil.
Ein divergenter Forschungsstil stützt sich auf eine weitgehend empirisch bestätigte
theoretische Konzeption. Eine solche Theorie-Konzeption ist der Interpretations-
rahmen, aus dem sich die methodischen Entscheidungen zur Erforschung des je-
weiligen „Untersuchungsgegenstandes“ ableiten lassen. Mit anderen Worten: Die
Theorie-Konzeption liefert das Bezugssystem, um zu prüfen, ob die Ergebnisse
der methodischen Entscheidungen inhaltlich valide sind. Darin liegt der Vorteil
eines divergenten Forschungsstils.
Aber auch die Nachteile ergeben sich daraus: Es lässt sich eben nur das empi-
risch erforschen, was im Rahmen der Theorie-Konzeption beobachtbar ist. Das,
was nicht im Rahmen der dominierenden Theorie-Konzeption bestimmt ist (z. B.
die Gewalt-Dimension als Teil des Rechtsextremismus-Konzepts), wird nicht be-
obachtet bzw. in DeÀnitionskämpfen als nicht beobachtbar behauptet. Das heißt,
dann, wenn divergente Forschungsstile ein Forschungsfeld dominieren, konkur-
rieren Wissenschaftlergemeinschaften um die „richtigen“ Sichtweisen auf den
„Untersuchungsgegenstand“. Derartige DeÀnitionskämpfe prägten u.E. auch die
Rechtsextremismusforschung im Zeitraum von 1990 bis 2000.
Ein konvergenter Forschungsstil hat dagegen den Vorteil, offen für vielfältige
Theorie-Konzeptionen zu sein, die sich zur Erklärung des „Untersuchungsgegen-
standes“ anbieten. Die Probleme dabei liegen allerdings auch in dieser Offenheit
bzw. im notwendigen Referenzrahmen, innerhalb dessen eine systematische Aus-

21 Domain-Programme lassen sich dadurch charakterisieren, dass bestimmte Problem-


felder mit einem relativ stabilen (indisponiblen) Kern von Annahmen existieren, mit
denen quasi Regeln vorgegeben werden, wie etwas verstanden werden soll. Derartige
Regeln (oder Konstruktionen) sind weder wahr noch falsch. Als Beispiel: Wenn sich
Sozialwissenschaftler dem Problemfeld oder dem Forschungsgebiet „Rechtsextremis-
mus und Fremdenfeindlichkeit“ zuwenden, dann bedeutet das, dass sie – implizit oder
explizit – einen Komplex von Annahmen akzeptieren und verwenden, den man mit
dem Etikett „Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“ beschreiben kann (vgl.
auch Herrmann, 1979, S. 201). Dazu gehört u. a., dass es so etwas wie Rechtsextre-
mismus und Fremdenfeindlichkeit gibt, dass Rechtsextremismus und Fremdenfeind-
lichkeit interindividuell variieren können, dass wir zu wenig über diese Variationen
wissen, aber mehr darüber wissen sollten etc.
70 Wolfgang Frindte et al.

wahl der zu integrierenden Partial-Theorien möglich wird: In der o. g. „Konsens-


deÀnition“ des Rechtsextremismus, an der sich u. a. die „Mitte-Studien“ (z. B.
Decker et al., 2012) und die Erhebungen des „Thüringen-Monitor“ (Best & Sal-
heiser, 2012; Best et al., 2013) orientierten, wurden rechtsextreme Einstellungen
durch sechs Dimensionen beschrieben („Befürwortung einer rechtsautoritären
Diktatur“, „Chauvinismus“, „Ausländerfeindlichkeit“, „Antisemitismus“, „Sozial-
darwinismus“ und „Verharmlosung des Nationalsozialismus“). Hinter jeder dieser
Dimensionen stehen ganz unterschiedliche Theorie-Konzeptionen. Ein Kriterium
bzw. ein übergeordneter Referenzrahmen für diese sechs (und nicht z. B. acht oder
sechsundsechzig) Dimensionen lässt sich aus den Publikationen nicht entnehmen.
Wie also weiter?

1. Trotz der zahlreichen deutschsprachigen Überblicksarbeiten zur Rechtsextre-


mismusforschung und der im Zeitraum von 2001 bis 2013 erfolgten theoreti-
schen Integrationsbemühungen gibt es bisher keinen ernsthaften Versuch, die
zahlreichen empirischen Befunde aus nicht minder zahlreichen Einzelstudien
miteinander zu vergleichen. Im deutschsprachigen Bereich wurden zwischen
1990 und 2013 mehr als 5.200 Arbeiten zum Rechtsextremismus publiziert.
Davon sind schätzungsweise 30 Prozent empirische Studien. Aufgrund der
Unbestimmtheit des Rechtsextremismus-Begriffs werden – aus unserer Sicht –
die abhängigen und unabhängigen Variablen in diesen Studien sehr divers be-
stimmt und operationalisiert. Notwendig wäre deshalb eine fundierte und pro-
fessionelle, empirisch gestützte Metastudie.
2. Wenn sich die deutsche Rechtsextremismusforschung im Zeitraum 2001 bis
2013 vorrangig als Domain-Programm mit konvergentem Forschungsstil zu
etablieren suchte, ein Referenzrahmen bzw. ein Kriterium für die Auswahl der
zu integrierenden Theorie-Ansätze aber offenbar nicht eindeutig zu erkennen
ist, dann ist zu fragen, ob und wie sich sozialwissenschaftliche bzw. psycholo-
gische Rechtsextremismus-Studien künftig etablieren können. Ein Weg könnte
darin bestehen, die Dimension der Gewalt nicht aus dem Auge zu verlieren und
die Befunde der vor allem angloamerikanischen „Hate Crime“-Forschung zu
berücksichtigen. Dies hätte auch den Vorteil, emotionale Komponenten rechts-
extremer Tendenzen in der Forschung stärker zu berücksichtigen. Damit ließen
sich rechtsextreme Tendenzen tatsächlich auf der Basis der sozialpsychologi-
schen Einstellungsforschung und dem klassischen „Dreikomponenten-Modell“
von Rosenberg und Mitarbeitern (1960) folgend hinsichtlich ihrer kognitiven,
affektiven und konativen Komponenten erforschen. Das heißt, mit dieser Kon-
sequenz wird für die Rückbesinnung auf die ursprünglich von Heitmeyer und
Mitarbeitern (1992) vorgeschlagene Rechtsextremismus-DeÀnition plädiert. In
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 71

dieser DeÀnition (s. o.) wird Rechtsextremismus als Komplex aus einer Ideolo-
gie der Ungleichheit bzw. Ungleichwertigkeit und der GewaltafÀnität (bis hin
zu gewalttätigem Handeln) verstanden. Beide Dimensionen werden durch Sub-
dimensionen mit verschiedenen Facetten untergliedert und operationalisiert.
Für weitere Forschungen ließen sich für die Operationalisierung der Ideologie
der Ungleichwertigkeit die im Projekt Gruppenbezogene Menschenfeindlich-
keit untersuchten Einstellungselemente bzw. -facetten nutzen. Zur Erforschung
der Gewaltdimension wären die Ergebnisse der o. g. „Hate-Crime“-Forschung
einzubeziehen. Und die mittlerweile umfangreiche Forschung zu „Intergroup
Emotions“ (z. B. Mackie, Smith & Ray, 2008) böte genügend Ansätze, um die
emotionale Komponente genauer zu bestimmen.
3. Wie weiter oben schon gewürdigt, ist der Zugang, den Thomas Grumke (2011)
wählt, um sich begrifÁich dem Rechtsextremismus über den Vergleich mit dem
Fundamentalismus zu nähern, gar nicht so abwegig. Fundamentalismus und
Rechtsextremismus sind antimodern und modern zugleich. Antimodern sind
die Inhalte, modern ihre Organisationsformen. Heinrich Schäfer (2008) macht
einen interessanten Vorschlag, um auch von einem Fundamentalismus im „sä-
kularen Gewande“ sprechen zu können. Er schlägt einen „formalen Fundamen-
talismusbegriff“ vor, um „sowohl religiöse als auch säkulare Bewegungen auf
Fundamentalismus hin überprüfen“ (Schäfer, 2008, S. 24) zu können. Gemäß
dieser DeÀnition ist „eine soziale beziehungsweise religiöse Bewegung dann
fundamentalistisch, wenn sie: 1. ihre speziÀsche religiöse, ethnische oder ideo-
logische Orientierung absolut setzt – gleich ob es sich um die Bibel, den Koran,
den Mahdi, den Heiligen Geist, das serbische Volk, das Ariertum, den Markt
oder sonst etwas handelt und 2. expansiv um die Kontrolle eines ihr übergeord-
neten gesellschaftlichen Machtzentrums kämpft“ (Schäfer, 2008). Antimoder-
ne Inhalte (im religiösen Fundamentalismus ist das z. B. die absolute Geltung
religiöser Gebote und Verbote; im Rechtsextremismus z. B. die Verabsolutie-
rung von „Rasse“ oder „Nation“) werden – und auch darauf hat Grumke (2011)
verwiesen – durch den Rückgriff auf religiöse und politische Mythen legiti-
miert, mittels moderner Organisations- und Kommunikationsformen transpor-
tiert und durch Gewalt oder Gewaltandrohung durchgesetzt.
4. Wird Rechtsextremismus als fundamentalistische Ideologie beschrieben, so
bieten auch die zahlreichen (sozial-) psychologischen Studien, in denen nach
Prädiktoren für fundamentalistische Einstellungen gefahndet wird, profunde
Hinweise für entsprechende Rechtsextremismus-Studien (vgl. z. B. die Meta-
analyse von McCleary, Quillivan, Foster & Williams, 2011).
5. Um den Ausgangspunkt und einen theoretischen Rahmen zu Ànden, mit denen
eine (und nicht ausschließliche) Fokussierung auf neue Fragestellungen in der
72 Wolfgang Frindte et al.

Rechtsextremismusforschung möglich ist, lohnt sich ein Blick auf die weiter
oben formulierte Vermutung über die zwei Forschungsperspektiven in den
Zeiträumen 1990 bis 2000 bzw. von 2001 bis 2013: In beiden Dekaden (1990
bis 2000 und 2001 bis 2013) wurden rechtsextreme Tendenzen nicht nur unter
dem Bedrohungsaspekt untersucht und erklärt (wahrgenommene Bedrohung
und Desintegration z. B. durch gesellschaftliche und ökonomische Umbrüche
und Modernisierungsprozesse als mögliche Bedingungen für rechtsextreme
Tendenzen, bzw. Bedrohungspotentiale, die vom Rechtsextremismus ausge-
hen), sondern auch die Identitätsproblematik spielte eine zentrale Rolle; etwa
wenn auf das IdentiÀkationspotential der rechtsextremen Gruppierungen, Mi-
lieus oder Bewegungen verwiesen wird. Ausgehend vom Konzept der sozialen
bzw. kollektiven Identität könnte ein möglicher Referenzrahmen markiert wer-
den, innerhalb dessen der missing link zu Ànden ist, durch den makro-, meso-
und mikrosoziale Bedingungen vermittelt auf rechtsextreme Ideologien und die
damit verbundenen Gewaltpotentiale EinÁuss nehmen.
Ein systematisierender Überblick über Entwicklungslinien … 73

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Zick, A., Hövermann, A. & Krause, D. (2012). Die Abwertung von Ungleichwertigen. Er-
klärung und Prüfung eines erweiterten Syndroms der Gruppenbezogenen Menschen-
feindlichkeit. In W. Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 10 (S. 64 – 86). Berlin:
Suhrkamp.
Kapitel 2
Unschärfen, Befunde und Perspektiven

„Die Mehrheit der Menschen, die rechtsextremen Aussagen zustimmt,


wählt übrigens klassische Parteien und nicht die NPD. Ausländerfeindlichkeit ist
die Einstiegsdroge zum Rechtsextremismus“
(Elmar Brähler, Chismon 9/2005, S. 7).
Sonderfall Ost – Normalfall West?

Über die Gefahr, die Ursachen des Rechtsextremismus


zu verschleiern

Matthias Quent

Ist der sich nach der deutschen Vereinigung konjunkturell vor allem durch brutale
Gewalttaten in das öffentliche Bewusstsein drängende Rechtsextremismus eine
Spätfolge der Sozialisation und der politischen Kultur in der ehemaligen DDR?
Rostock-Lichtenhagen, Wahlerfolge der NPD, NSU und „PEGDIA“: So zuverläs-
sig, wie der innovationsfähige Rechtsextremismus (zum Innovationsbegriff: Koll-
morgen & Quent, 2014) Wege Àndet, sich als Bewegung am Leben zu erhalten, sei-
ne Feinde einzuschüchtern und zu provozieren, so zuverlässig wird auch versucht,
seine Ursachen im Vergangenen zu verorten. Am Beispiel der Debatte um den
„Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) werden in diesem Beitrag öffentliche
Argumentationsweisen der diskursiven Darstellung des Rechtsextremismus als
eine Folgeerscheinung der DDR diskutiert und diesen Diskussionssträngen einige
Befunde der empirischen Forschung gegenübergestellt.
In der autobiograÀschen Erzählung „Eisenkinder“ thematisiert Sabine Renne-
fanz (2013) das Narrativ des „braunen Ostens“:

„Verwahrlosung, höhere Gewaltbereitschaft und fremdenfeindliche Einstellungen


waren im Kern schon vor 1989 in der DDR stärker ausgeprägt als in der Bundes-
republik‘, schreibt Klaus Schroeder im Tagesspiegel. Auch er führt das Neonazi-
Potenzial auf die Vollerwerbstätigkeit der Mütter und die Einbindung in ‚staatliche
Institutionen‘ zurück. Staatliche Institutionen, das klingt, als wären Kinderkrippen
Gefängnisse gewesen. Ausbildungslager für kleine Neonazis. Das Tora-Bora des Os-
tens.“ (Rennefanz, 2013, S. 6)

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
100 Matthias Quent

„Die DDR sei schuld, die autoritäre Erziehung, sagten die Kollegen, außerdem wisse
man ja, dass im Osten der Rechtsextremismus Mainstream sei, eine Aufarbeitung der
Nazi-Zeit habe nie stattgefunden. Mich machte das wütend.“ (Ebd., S. 7)
„Aus dem Osten kamen nur Nazis, Stasi-Leute und Arbeitslose.“ (Ebd.)
„Dönermorde, so wurden die Verbrechen verniedlichend genannt. Türken unterei-
nander meucheln sich, so klang das. Jetzt war es ein Problem der Ostdeutschen.
Wieder hatte es nichts mit den Westdeutschen zu tun. In den folgenden Tagen achtete
ich darauf, und mir Àel ein Muster auf. Es gab immer wieder den gleichen ReÁex:
Taucht ein Problem in Ostdeutschland auf, wird es gleich zum ‚typisch ostdeutschen‘
Thema. Gibt es in Westdeutschland ein Problem, ist es gesamtdeutsch.“ (Ebd.)

Anhand dieser (und weiterer) Beispiele drückt die in der ehemaligen DDR ge-
borene Autorin ihr Unbehagen mit der Etikettierung der neuen Bundesländer als
Hort des Rechtsextremismus aus – ohne die brutale Virulenz zu verharmlosen, mit
der der Rechtsextremismus dort sichtbar wurde. Nicht in der DDR-Sozialisation,
sondern in der Entsicherung, Orientierungs- und Kontrolllosigkeit der Wendejahre
sieht die Autorin die ausschlaggebenden Gründe für Wut und abweichendes Ver-
halten der „verlorenen Generation“ (DER SPIEGEL, 46/1991) der Wendejugend.
Rennefanz, ein Jahr nach dem NSU-Terroristen Uwe Mundlos geboren, wendet
sich nach der Vereinigung einer christlichen Sekte zu; zufällig, wie sie rückbli-
ckend sagt – also eine Frage der Gelegenheit:

„Nicht nur die anderen, die sich den Schädel rasierten und die Deutschlandkarte
in den Grenzen von 1939 aufhängten, waren empfänglich für einfache Wahrheiten.
Auch ich sehnte mich nach Übersichtlichkeit, nach Einfachheit, nach einer Heimat.
Ich hätte wahrscheinlich auch Islamistin, Scientologin oder vielleicht, unter beson-
deren Umständen, Neonazi werden können. Es war nur eine Frage, wer mich zuerst
ansprach.“ (Rennefanz, 2013, S. 121)

Es spricht in der Tat einiges dafür, dass für Individuen systematische Zufälle aus-
schlaggebend dafür sein können, sich einer rechten Clique anzuschließen. Denn
welche Gelegenheitsstrukturen und Sozialisationsinstanzen sich dem Einzelnen
anbieten, ist für ihn zunächst kaum zu beeinÁussen: In welchem Ort oder Stadtteil
mit Kontakt zu welchen Cliquen wächst man auf, welcher wohnortnahe Jugend-
treffpunkt wird genutzt, wer ist einÁussreich in der Peergroup? Dennoch sind diese
Gelegenheits- und Sozialisationsstrukturen politisch erzeugt, schließlich sind die
Wohn- und Versorgungsqualität sowie Infrastruktur und Ausrichtung der Jugend-
arbeit das Resultat sozioökonomischer Entwicklungen und politischer Entschei-
dungen. Bereits Birgit Rommelspacher (2006) identiÀziert Zufälligkeit als einen
Sonderfall Ost – Normalfall West? 101

Faktor für das Verständnis von Einstiegsprozessen in rechtsextreme Gruppierun-


gen und resümiert:

„Wie ‚zufällig‘ auch immer die Einzelnen in die Szene hineingerutscht sein mögen,
je mehr sie sich involvieren lassen und sich selbst engagieren, desto mehr stellt sich
die Frage, warum sie in dieser Szene bleiben und was das SpeziÀsche am Rechts-
extremismus ist, das ihn für die Jugendlichen so attraktiv macht“ (Rommelspacher,
2006, S. 570).

Eng damit verknüpft sind die Fragen, wie Akteure der rechtsextremen Szene sich
radikalisieren oder deradikalisieren; welche Faktoren eine Eskalation politischer
Gewaltbereitschaft begünstigen und was dazu führt, dass aus dem gleichen Akti-
vistenstamm NPD-Politiker, Rechtsterroristen, politisch Inaktive oder Aussteiger
hervorgehen. Die Bedeutung der Prägung von Einstellungen und Werten durch
familiäre EinÁüsse und sozialpsychologische Variablen (vor allem Autoritaris-
mus) darf dabei nicht vernachlässigt werden. Denn: „Dem Individuum obliegt ein
politischer Entscheidungs- und Handlungsspielraum darüber, wie Erfahrungen,
Wahrnehmungen, die eigene Sozialisation und speziÀsche Situationen verarbeitet
werden“ (Quent, 2012a, S. 72).
Mit der Aufdeckung des – medial häuÀg wahlweise als Jenaer oder Zwickauer
Terrorzelle bezeichneten – NSU hat die Debatte um das „braune Erbe“ der DDR
wieder an Fahrt gewonnen. Die Thüringer Allgemeine (Debes, 2013) titelte zum
Beispiel: „War die Revolution 1989 für die NSU-Morde mitverantwortlich?“ und
die Süddeutsche Zeitung meinte zu wissen: „Die Spurensuche führt zu Tugenden,
die schon die erste deutsche Diktatur zusammenhielten: Überhöhung der Gemein-
schaft, Einordnung in autoritäre Denkmuster […]“ (von Bullion, 2011).
Diese Beispiele stehen symptomatisch für zahlreiche und notwendige Versuche,
die komplexen Ursprünge des NSU in seinem zeitlichen Entstehungskontext zu
betrachten. In der Debatte um das Trio hat sich die bundesdeutsche Öffentlich-
keit jedoch vor allem in ihren Vorurteilen vom „braunen Osten“ bestätigt gese-
hen, meint der Soziologe Stephan Lessenich (2013) und beobachtet, dass sich das
Deutungsangebot, nach dem die „neuen Nazis die mentale Saat des untergegange-
nen Arbeiter- und Bauernstaats aufgehen lassen“ (Lessenich, 2013, S.141), wieder
wachsender Beliebtheit erfreur. Gesellschaftspolitisch ist dieser Diskurs hochpro-
blematisch, weil die Betonung des Sonderfalls Ost die Abgrenzung gegenüber dem
vermeintlichen Normalfall West impliziert, in dem keine speziÀschen begünsti-
genden Faktoren des Rechtsextremismus zu Ànden seien – zumindest keine, die
der Erwähnung wert wären, und die folglich auch nicht genannt, diskutiert oder
gar aufgearbeitet werden müssten. Dann dürfte allerdings beispielsweise die west-
102 Matthias Quent

deutsche Stadt Dortmund heute keine „Hochburg der autonomen Nationalisten“


(Luzar & Sundermeyer, 2010) sein. Mit besonderem Nachdruck wiederlegt auch
die Existenz von Rechtsterrorismus in der BRD vor 1989 das Bild.

Rechtsextremismus in der alten BRD

In beiden Teilen des getrennten Deutschlands existierten bereits zwischen 1945


und 1990 rechtsextreme Orientierungen, Organisationen, Gewalt und rechts-
extremer Terror. Für die alte Bundesrepublik liegen dazu ausführliche Darstel-
lungen vor (zum Beispiel Greiffenhagen, 1981; Heitmeyer, 1988; Hirsch, 1989;
zusammenfassend: Botsch, 2012; Stöss, 2010). Allein zwischen 1979 und 1988
töteten Rechtsterroristen in der BRD 27 Menschen (Rosen, 1990, S. 49), davon
13 beim Münchner Oktoberfestattentat im September 1980. Im Kontext der Ge-
nese einer neonazistischen Szene in den 1970er Jahren entwickelten sich rechts-
terroristische Strukturen, zum Beispiel die „Nationalsozialistische Kampfgruppe
Großdeutschland“, die zeitweise über 400 Personen umfassende paramilitärische
Kampfgruppe „Wehrsportgruppe Hoffmann“, die „Hepp-Kexel-Gruppe“ oder die
„Deutschen Aktionsgruppen“ um Manfred Roeder (Pfahl-Traughber, 2001, S. 85).
In den 1960er Jahren zog die NPD als neu gegründete Sammelpartei alter und
neuer Nazis in mehrere Landesparlamente ein – vor dem gesellschaftspolitischen
Hintergrund der ersten Wirtschaftskrise der Bundesrepublik und Tendenzen einer
politischen Polarisierung der Gesellschaft durch die Große Koalition. 1969 war
die NPD mit 4,3 Prozent der Stimmen einem Einzug in den Deutschen Bundestag
so nah wie nie wieder. Die Wahlen leiteten eine Trendwende ein, in deren Folge
die NPD bis Mitte der 1990er Jahre in der parlamentarischen Bedeutungslosigkeit
versank.
Die SINUS-Studie (1981) über rechtsextremistische Einstellungen bei den
Deutschen unter dem Titel „5 Millionen Deutsche: Wir sollten wieder einen Füh-
rer haben …“ lieferte erstmalig empirisches Material über das rechtsextreme Ein-
stellungspotenzial in der damaligen Bundesrepublik. Der Befund, nach dem mehr
als 13 Prozent der westdeutschen Bevölkerung über ein rechtsextremes Weltbild
verfügte, erregte große öffentliche und wissenschaftliche Beachtung. Ab Mitte der
1980er Jahre gewannen DIE REPUBLIKANER mit offen ausländerfeindlicher
Programmatik an Bedeutung; 1989 konnten sie erst- und einmalig in das Europäi-
sche Parlament einziehen.
Sonderfall Ost – Normalfall West? 103

Rechtsextremismus in der DDR

Aufgrund der Zensur in der DDR ist die Quellenlage hierzu weitaus bescheidener.
Ab 1989 erschienen die ersten ausführlichen Darstellungen zum Rechtsextremis-
mus in der DDR. Ergebnisse einer Studie des Zentralinstituts für Jugendforschung
Leipzig von 1988 konnten erst nach dem Fall der Mauer publiziert werden. Sie
erlauben einen Einblick in die Mentalitäten junger DDR-Bürger und deren Einstel-
lungen gegenüber Faschismus, Nationalismus und Migration. Durch eine Wieder-
holung der Befragung im Jahr 1990 lassen sich Veränderungen in der Wendezeit
identiÀzieren. 1988 stimmten 12 Prozent der befragten Schüler und 15 Prozent der
Lehrlinge der Aussage zu: „Der Faschismus hatte auch seine guten Seiten“. 1990
waren die Werte nur leicht erhöht (Schüler: 14 Prozent, Lehrlinge unverändert).
Deutlicher war die Zunahme chauvinistischer Einstellungen von 12 auf 23 Prozent
unter den Schülern und von 15 auf 20 Prozent unter den Lehrlingen, welche die
Einschätzung teilten, dass „[d]ie Deutschen schon immer die Größten in der Ge-
schichte [waren]“ (Heinemann, Schubarth & Brück, 1992, S. 20ff.). 1988 stimmten
44 Prozent der Schüler, 67 Prozent der Lehrlinge und 20 Prozent der Abiturienten
der Aussage „Deutschland den Deutschen!“ zu. Zwischen 12 (Abiturienten) und 46
(Lehrlinge) Prozent forderten „Ausländer raus!“ (Heinemann et al., 1992, S. 87).
Ein menschenfeindliches Fundament war bereits in der DDR vorhanden. Be-
kannt sind Schlägereien, nazistische und antisemitische Aktionen sowie Schmie-
rereien und Friedhofsschändungen (Quent, 2012b). Darüber hinaus gab es terro-
ristische Anschläge mit zumindest vermutetem „faschistischem“ Hintergrund, vor
allem gegen die sowjetische Besatzungsarmee. Die umfassende Aufarbeitung der
rechtsextremen Gewalt und der möglichen Verquickung der Staatssicherheit in
rechtsextreme Terrorgruppen der BRD (zum Beispiel des Rechtsterroristen und
Stasiagenten Odfried Hepp) steht noch aus.
In den 1970er Jahren traten die neuen subkulturell geprägten Rechtsextremen
in der DDR sichtbar in Erscheinung. Dafür ernteten sie bei ihren „Kameraden“
in der BRD Staunen und Anerkennung. Mitte der 1980 Jahre wurde in der neo-
nazistischen Publikation „Klartext“ – dem Organ der 1992 verbotenen Partei „Na-
tionalistische Front“ – über offene Verharmlosung des Nationalsozialismus durch
Fangruppen ostdeutscher Fußballvereine berichtet:
104 Matthias Quent

„Berlin (Ost): Nach dem Pokalspiel Union Berlin – C hemie Leipzig zogen Fan-
gruppen durch die geteilte Stadt. In Sprechchören forderten sie die Freiheit für
Deutschland. Unter Absingen der Nationalhymne und anderer nationalistischer Lie-
der bewiesen sie, dass nicht alle Jugendliche der Zone auf das ‚Gefasel‘ der dort
Herrschenden hereinfallen. (Genau wie hier in der ‚BRD‘) Erstaunlich für unsere
teilnehmenden Kameraden war die sehr gute Kenntnis von alten nationalsozialis-
tischen KampÁiedern, – und die außerordentliche Zurückhaltung der Ostpolizei!“
(Fromm, 1993, S. 72)

Wie in der BRD entwickelten sich in der DDR nicht konforme Jugendkulturen.
Die Punks und Skinheads differenzierten sich mit der Zeit aus – zum Beispiel
in die antirassistischen „Red-Skins“, vorgeblich unpolitische „Oi-Skins“, rechte
Skinheads und die am stärksten politisierten „Faschos“. Letztere distanzierten
sich zum Teil vom Skinlook und legten stattdessen auf ein diszipliniertes Äußeres
Wert und stellten das Politische in ihren Werten vor das Subkulturelle. Die rechten
Skinheads in der DDR waren überaus antisemitisch und ausländerfeindlich einge-
stellt. Dies wird unter anderem in ihren Gesängen deutlich. Beliebt war in Bezug
auf das NS-Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar zum Beispiel der Slogan:

„Hast du Hunger, ist dir kalt, dann geh zurück nach Buchenwald. Dort werden wir
uns ein Süppchen kochen, aus JudenÁeisch und Russenknochen. Ofen sieben, Klap-
pe acht – ach, wie hat das Spaß gemacht!“ (Heinemann et al., 1992, S. 43)

OfÀziell gab es so etwas in der DDR nicht. Noch im August 1989 behauptete die
staatliche DDR-Nachrichtenagentur ADN, Vorstellungen über neonazistische Ten-
denzen in der DDR seien „purer Unsinn“ (Siegler & Bittermann, 1991, S. 37).
Diese kategorische Abwehr geht auf den ideologischen Legitimationsmythos
der DDR und ihr orthodox-kommunistisches Faschismusverständnis in Kategorien
der 1930er Jahre zurück, welches freilich erweitert und als Monopolgruppentheo-
rie ausdifferenziert wurde. Dahinter stand die Vorstellung, der Faschismus sei „die
offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten
imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ (Dimitrov, 1935). Mit Bodenre-
form und Enteignungen, so die SED-Logik, seien die Wurzeln des Faschismus in
der DDR beseitigt worden – im Gegensatz zur BRD, wo der Kapitalismus jederzeit
wieder unmaskiert seinen faschistischen Charakter hätte offenbaren können.
Mit der realen Gestalt des Nationalsozialismus als Massenbewegung hatte die-
se Sicht wenig gemein. Auch die nicht seltenen rechtsextremen, rassistischen und
antisemitischen Vorfälle in der DDR führten nicht zu einer Revision dieser Per-
spektive. Nach dem Überfall von rechtsextremen Skinheads auf ein inofÀzielles
Punkkonzert in der Ostberliner Zionskirche im Oktober 1987 unter den Augen der
Sonderfall Ost – Normalfall West? 105

Volkspolizei, die nicht eingriff, wurde erstmals in der DDR-Presse über das The-
ma berichtet; mehrere der Angreifer wurden in der DDR verurteilt. Der Auszug
einer Anklageschrift bringt das Paradox der Verurteilung von etwas, das es nicht
geben darf, auf den Punkt:

„Wie die Anklageschrift weiter hervorhebt, wurden während der Ausschreitungen


von den Rowdys immer wieder Parolen aus der Nazizeit ausgestoßen, was in der
DDR, wo der Faschismus mit all seinen Wurzeln ausgerottet ist, unter Strafe steht.“
(Schumann, 1990, S. 47)

Im Umgang mit neonazistischen Jugendgruppen, die in den 1970er Jahren in West


wie Ost entstanden, wirkte sich die Antifaschismusdoktrin der DDR direkt aus:
Politische Tatmotive blieben unaufgeklärt, rechtsextreme Straftäter wurden als
„Rowdys“ abgeurteilt. Gegen solche wurden in den ausgehenden 1980er Jahren
zum Teil empÀndliche Freiheitsstraften verhängt. Durch den hohen Sanktions-
druck waren die einzukalkulierenden Kosten für Rechtsextreme in der DDR hoch.
Konventionelle Wege, um politisch abweichende Meinungen öffentlich zu artiku-
lieren, beispielsweise in Form von Kundgebungen oder Publikationen, standen den
Rechtsextremen in der DDR so gut wie nicht zur Verfügung. Für diese Jugend-
lichen, erörtern Bergmann und Erb (1994, S. 94), „stellten Gewaltaktionen bereits
zu DDR-Zeiten ein zentrales Handlungsschema dar. [… ] Eine hohe Gewaltakzep-
tanz und -bereitschaft war also bereits in der DDR erworben worden.“ Durch diese
Militanz, so Schumann (1990, S. 36), unterschied sich der Ost-Rechtsextremismus
von anderen „Gegenkulturen in dieser Altersgruppe“.
Inwieweit die Inhaftierung von Rechtsextremen deren Resozialisierung diente,
ist fragwürdig, wie die folgenden Fälle veranschaulichen:

„Jene, die mit dem Gesetz kollidierten, erhielten in der Szene die Aura eines Märty-
rers. Bezeichnend sich die Beobachtungen, die Oliver im Jugendstrafvollzug Ichters-
hausen machte. Er war 1988 zu zweieinhalb Jahren verurteilt worden, weil er mit
vier Freunden den jüdischen Friedhof in der Schönhäuser Allee in Berlin verwüstet
hatte. Nach seiner Entlassung antwortete er im Mai 1990 auf die Frage, ob er nicht
befürchte, von Skins oder Neonazis als rechter Heroe vereinnahmt zu werden: ‚Das
wurden wir schon im Gefängnis. Da saßen Leute, die haben sich alle Presseaus-
schnitte über uns an die Wand gepinnt. Da waren wir die dicken Vorbilder, die es den
Juden mal gezeigt haben.‘“ (Ebd.)

In einem 1990 erschienenen Leserbrief an die „Junge Welt“ gaben zwei inhaftierte
Ost-Nazis, die sich als Repräsentanten dort einsitzender „Glatzen“ präsentierten,
Einblicke in ihr Selbstverständnis als verfolgte Idealisten:
106 Matthias Quent

„Wir sind zwei Knaster, die im Jugendhaus Halle einsitzen. Beide, knapp 19 Jahre
alt, haben wir zwar keine Neger und Punks geklatscht, aber Schwule. Da wir bei-
de Deutsche sind, können wir homosexuelle Personen nicht tolerieren. Immer mehr
Ausländer überschwemmen Deutschland, vergewaltigen deutsche Frauen, doch das
wird in den Medien totgeschwiegen. Über uns Skins wird gehetzt, wir werden ge-
hasst und gejagt. Trotz allem wird eine Glatze nie aufgeben, sich für ihre Ideale und
Ziele einzusetzen. Naumann und Braun im Namen aller einsitzenden Glatzen des
Jugendhauses Halle.“ (Ebd.)

Ein beteiligter Skin des Überfalls auf die Zionskirche in Berlin, für den er zu
einer dreijährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde, schilderte ebenfalls, sein Ge-
fängnisaufenthalt habe bestärkend auf seine politischen Überzeugungen und seine
emotionale Ablehnung gewirkt:

„Seit dem Knast habe ich einen dermaßen Haß auf dit ganze System hier, dermaßen
Haß auf alles was rot ist oder links ist. Das hat sich so reingefressen, also das ist im
Prinzip extrem“ (Heinemann et al., 1992, S. 53).

Spätestens mit dem Gefängnisaufenthalt, resümieren die Autoren des Buches „Der
Antifaschistische Staat entlässt seine Kinder“, begriff der Skin, „daß in der DDR
Skinhead zu sein, mehr ist als nur Mode und Protest“ (ebd.). Nach der Haftentlas-
sung setzte der Gewalttäter seine politische Karriere in der NPD fort (ebd.).
Derartige Beispiele ließen sich fortsetzen – die Dunkelziffer der Rechtsext-
remen in Ost- und Westdeutschland, welche Gefängnisse auf einer höheren Ra-
dikalisierungsebene verlassen als betreten haben, dürfte erheblich sein. Gefäng-
nisaufenthalte wurden gezielt dazu genutzt, um Netzwerke zu knüpfen und um
straffälligen Szeneangehörigen das Gefühl zu vermitteln, sie seien gesellschaft-
lich ausweglos isoliert, während einzig die rechtsextreme Szene Verständnis, Ka-
meradschaft und Unterstützung aufbringen würde. Das war auch die wichtigste
Aufgabe der 1979 in der alten Bundesrepublik gegründeten „Hilfsorganisation für
nationale politische Gefangene und deren Angehörige“ (HNG), die im September
2011 verboten wurde. Seitdem wird die Unterstützungsarbeit unter dem Namen
„Gefangenenhilfe“ mit ofÀziellem Sitz in Schweden weitergeführt – auch für Be-
schuldigte im NSU-Prozess.
Im Rahmen des Häftlingsfreikaufs wurde auch eine unbekannte Zahl inhaf-
tierter DDR-Nazis von der BRD freigekauft: darunter 1974 der aus Pößneck stam-
mende Rechtsextremist Uwe Behrendt. Im Westen suchte er Kontakt zu rechts-
extremistischen Organisationen und zur paramilitärischen „Wehrsportgruppe
Hofmann“. Im Dezember 1980 erschoss Behrendt in Erlangen den Rabbiner Shlo-
mo Lewin und dessen Frau Frieda Poeschke. Ein Jahr später beging der mithil-
Sonderfall Ost – Normalfall West? 107

fe der palästinensischen Fatah in den Libanon geÁohene Behrendt Suizid. Einige


der freigekauften DDR-Häftlinge fungierten als Vermittler zwischen Ost-Nazis
und der BRD-Szene (Bergmann & Erb, 1994, S. 84). Gründungsmitglieder des
„Thüringer Heimatschutz“ unterhielten beispielsweise Kontakte zum führenden
West-Neonazi Arnulf Priem, der in der DDR wegen neofaschistischer Betätigung
verhaftet und 1968 von der BRD freigekauft wurde.
In der DDR waren die Skingruppen spätestens ab 1988 untereinander städte-
übergreifend vernetzt, wie aus einem Bericht der Kriminalpolizei von 1990 her-
vorgeht (Schumann, 1990, S. 142ff.). Die Kripo attestierte der Szene zudem „repu-
blikweite konspirative Vernetzungen“ und ein „starkes Bestreben […], Waffen zu
erlangen, sich wehrsportlich zu trainieren, um erforderlichenfalls nicht einsichtige
‚Andersdenkende‘ zu disziplinieren sowie mit diesen Mitteln in einem National-
sozialistischen Deutschland zu agieren“ (ebd.). Nach den polizeilichen Erkennt-
nissen rekrutieren sich die „Personen der neofaschistisch orientierten Szene […]
aus allen Klassen und Schichten der Bevölkerung der DDR“. Bildungsweg und
QualiÀkation, Familie der Eltern und allgemeine Lebensumstände entsprachen
dem Querschnitt dessen, was in der Gesellschaft anzutreffen war (ebd.) – auch
Professorenkinder: zum Beispiel der Jenaer Uwe Mundlos, der bereits ab 1988,
knapp 15-jährig, mit kurz geschorenen Haaren, Bomberjacke und Springerstiefeln
in die Schule kam und im Werkunterricht Hakenkreuze ritzte. Die DDR kritisierte
er in der Schule öffentlich und stellte ihr die „guten Seiten“ des „Dritten Reichs“
entgegen.
Der vorhandene Rechtsextremismus in der DDR zeigte sich bis zu deren Ende.
Als die Bevölkerung ihrer Wut und ihrem Frust über das SED-Regime bei den
Montagsdemonstrationen vielerorts Luft machten und das Ende der DDR einläu-
teten, witterten auch rechtsextreme Gruppen Morgenluft. 1989 traten zum Beispiel
bei den Leipziger Demonstrationen massiv und offen rechtsextreme Gruppen auf
und verteilten unter anderem Materialien von NPD, DVU, REPUBLIKANERN
und der 1995 verbotenen FAP (Heinemann et al., 1992, S. 49; Schumann, 1990,
S. 93).

„Viele Möglichkeiten“

Unmittelbar nach der Wende agierten größere subkulturelle rechte Skingruppen


überall im Osten. Allein in Thüringen fanden zahlreiche rechtsextreme Konzer-
te mit bis zu 700 Teilnehmern statt. Rechte Skinbands, die aus der BRD zu den
Auftritten in die neuen Länder kamen, schätzen die Auftrittsmöglichkeiten sowie
fehlende öffentliche wie behördliche Sanktionen. Der Journalist Rainer Fromm
108 Matthias Quent

interviewte in dieser Phase die neonazistische Skinband „Kraftschlag“, die 1992


das Album „Live in Weimar“ veröffentlichte, auf dessen Cover ein Reichsadler mit
Hakenkreuz abgebildet ist. Auf der indizierten Platte des im thüringischen Wei-
mar aufgezeichneten Konzertes singen Band und Publikum unter anderem Zeilen
wie „Gegen Rassenvermischung“, „Sieg Heil!“, „Deutschland den Deutschen –
Ausländer raus!“, „Deutschland erwache“, „Scheiß auf die 6-Millionenlüge – Ju-
den raus!“, „Radikal für Deutschland ist das Gebot der Zeit, sammelt euch auf
der Straße, seid zum Rassenkrieg bereit“ und „Deutsche Frau halt dein Blute rein
vor dem Ausländerschwein“ (Kraftschlag, 1992). Im Interview mit Rainer Fromm
äußerte sich die Band „begeistert“ über einen Auftritt in Thüringen:
„Wir würden jederzeit wieder dort spielen.“ Der Unterschied zwischen neuen
und den alten Bundesländern sei,

„[d]a [im Osten, MQ] kann man seine Musik viel freier der Öffentlichkeit präsentie-
ren, die fragen da nicht so dumm. [...] In den neuen Bundesländern gibt es viele Mög-
lichkeiten für Konzerte. Dort kriegt man fast jeden Saal. Hier blocken die meisten
ab, das ist drüben anders. Da kriegen wir Hallen bis zu 2000 Personen. Das ist auch
billiger“ (Fromm, 1993, S. 106).

Neben Rechtsrockbands warben verschiedene rechtsextreme Parteien um die


Gunst der jungen Neonazis im Osten, so auch die NPD. Deren damaliger Bundes-
vorsitzender Günther Decker bereiste den Freistaat Thüringen im Februar 1992
erstmals anlässlich von Demonstrationen in Gera. Um lokale Parteistrukturen auf-
zubauen, übernahmen westdeutsche Kreisverbände der NPD „Patenschaften“ für
die NPD-Zusammenschlüsse im Osten. Verbände aus Hessen und Bayern sicher-
ten zum Beispiel den Ànanziellen, logistischen und ideologischen Aufbau der Par-
tei in Thüringen. Verbal stand die NPD der Skinszene kaum an Radikalität nach.
Die „Infozeitung“ des Thüringer Landesverbandes titelte 1992: „Asylbetrüger und
Invasoren vergiften unser Trinkwasser“ (Fromm, 1993, S. 60).
In den Folgejahren proÀtierten die Rechtsextremen von „Legitimationsgewin-
nen“ (Willems, zitiert in: Funke, 2012, S. 14) im Zuge der bundesweiten Gewalt-
eskalation gegen Asylsuchende in den Jahren 1991 bis 1993. Mit der medial und
politisch aufgeheizten Stimmung in der sogenannten Asyldebatte wurde den rech-
ten Gewaltgruppen ein neues Angriffsziel präsentiert, welches

„im Gegensatz zu bisherigen Opfern (Polen, Vietnamesen, Russen) noch weniger


integriert und noch weiter außerhalb der ‚span of sympathy‘ […] lag und in den man
die ‚Ursachen‘ für die wahrgenommenen sozialen Missstände direkt und erfolgreich
angreifen konnte“ (Bergmann & Erb, 1994b, S. 89).
Sonderfall Ost – Normalfall West? 109

Parolen wie „Ausländer raus“ und „Deutsche zuerst“ boten Lösungsmöglichkei-


ten, die in Handlungen übersetzt werden konnten und für die Gewaltakteure dop-
pelt legitimiert erschienen: einerseits durch die Zustimmung in Teilen der Bevöl-
kerung, als deren ausführendes Organ sie sich fühlten und andererseits durch die
Radikalisierung ihrer Zuwanderungsfurcht zu einer generellen Überfremdungs-
angst (Bergmann & Erb, 1994b). Diese Bedingungen ermöglichten zu Beginn der
1990er die Konsolidierung des rechtsextremen Potenzials in den neuen Ländern
sowie in den folgenden Jahren den quantitativen Anstieg und die Radikalisierung
der Bewegung.
Rechtsextreme Parteien waren bei Wahlen bis in die Mitte der 1990er Jahre in
den westlichen Bundesländern erfolgreicher als in den östlichen. Erst mit der Bun-
destagswahl 1998 verschob sich der Schwerpunkt gen Osten. Dieser Verlagerung
folgten die rechtsextremen Parteistrukturen (beispielsweise Parteizentrale und
Verlag der NPD) und Organisationsschwerpunkte (Quent, 2012c). Nach der deut-
schen Vereinigung herrschte in einigen Teilen Deutschlands eine rassistische und
ausländerfeindliche „Pogromstimmung“, wie die Investigativjournalistin Andrea
Röpke vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages erläuterte (Deut-
scher Bundestag, 2013). Während 1990 380 Gesetzesverletzungen mit rechtsex-
tremistischem Bezug (davon 128 Gewaltdelikte) erfasst wurden, lag die Zahl 1991
um das Fünffache höher. Vor allem rechtsextremistische Brand- und Sprengstoff-
anschläge nahmen zu. 1991 und 1992 kam es zu massiven rassistischen Ausschrei-
tungen: Im sächsischen Hoyerswerda wurden im September 1991 vor Asylbewer-
berwohnheimen Molotowcocktails geworfen und Polizeibeamte mit Stahlkugeln
beschossen. Die Ausschreitungen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, wo
über 4.000 Gewalttäter und Unterstützer die Flüchtlingsunterkunft attackierten,
dauerten mehrere Tage an. Schlussendlich mussten die Asylsuchenden aus den
Unterkünften evakuiert werden. Somit hatte der rassistische Mob sein Ziel, ‚die
Ausländer zu vertreiben‘, erreicht. Im ganzen Bundesgebiet folgten Nachahmungs-
taten mit mehreren Todesopfern. Am 23. November 1992 wurden im schleswig-
holsteinischen Mölln Brandanschläge auf zwei bewohnte Mehrfamilienhäuser
verübt, in deren Folge drei Menschen starben, mehrere Personen erlitten zum Teil
schwere Verletzungen. 1993 wurde in Solingen ein von türkischen Migranten be-
wohntes Mehrfamilienhaus angezündet – zwei Frauen und drei Kinder kamen ums
Leben.
Nach der deutschen Vereinigung wurden rechtsextreme Orientierungen in Ost
und West systematisch erhoben und verglichen: Die erste bundesweite Messung
rechtsextremer Einstellungen im vereinigten Deutschland stellte im Frühjahr 1994
in Westdeutschland ein mehr als doppelt so großes rechtsextremistisches Einstel-
lungspotenzial fest als im Osten. Erst bei einer Folgeuntersuchung 1998 wurden
110 Matthias Quent

mehr rechtsextremistische Einstellungen im Osten gemessen (Stöss, 2000, S. 30).


Die repräsentativen Erhebungen der Leipziger Forschungsgruppe um Elmar Bräh-
ler und Oliver Decker weisen in den Jahren 2002, 2004 und 2006 höhere Pro-
zentwerte von Befragten mit „geschlossenem rechtsextremen Weltbild“ in den
westlichen Bundesländern gegenüber den östlichen aus (Decker, Kiess & Brähler,
2012, S. 54). Zuletzt wussten die Autoren zu berichten, dass die „HäuÀgkeit von
Menschen mit geschlossenem rechtsextremen Weltbild […] sich 2014 nicht sig-
niÀkant zwischen Ost- und Westdeutschland [unterscheidet]“ (Decker, Kiess &
Brähler, 2014, S. 57). Empirisch gesicherte Unterschiede lassen sich wiederholt vor
allem hinsichtlich der deutlich höheren Ausländerfeindlichkeit in Ostdeutschland
beobachten (ebd., S. 61).
Der Exkurs zeigt, dass der Rechtsextremismus auch nach 1990 weder im Wahl-
verhalten noch auf der Ebene der Einstellungen eine originär ostdeutsche Erschei-
nung ist. Dennoch bestehen ostdeutsche Besonderheiten.

Differenzierung ist vonnöten

Die eingangs zitierten Aussagen zum Rechtsextremismus als Folgeerscheinung


der DDR-Sozialisation sind symptomatisch für viele häuÀg zu kurz greifende Zu-
ordnungen und Interpretationen. Sie repräsentieren den Versuch, Ursachen von
Rechtsextremismus und rassistischer Gewalt unter dem Vorsatz der Aufarbeitung
zu historisieren bzw. die Verantwortung dafür einem überlebten Gesellschaftssys-
tem zuzuschreiben. Welchen Erklärungswert hat die These vom kausalen Zusam-
menhang von DDR-Diktatur und Naziterror für die Genese des NSU, des moder-
nen Rechtsextremismus und für die Beschaffenheit des gegenwärtigen Diskurses
tatsächlich?
Differenzierung ist vonnöten. Wendeerfahrungen und -folgen, wie „politische
Umwälzung“ und „Schulreform“, die unter anderen von der Mutter des NSU-Ter-
roristen Böhnhardt als Ursachen für die Radikalisierung ihres Sprösslings verant-
wortlich gemacht werden (zitiert in: Debes, 2013), liegen nicht in der Beschaffen-
heit des diktatorischen Systems der DDR begründet. Vielmehr sind sie Ausdruck
gesellschaftlicher Transformationsprozesse und der damit einhergehenden Verun-
sicherungen. Deren Auswirkungen auf die Gesellschaftsmitglieder hängen nicht
primär mit der vorherigen Verfasstheit einer (Teil-)Gesellschaft zusammen, son-
dern mit den sozioökonomischen Rahmenbedingungen, der Steuerung, Modera-
tion und Anerkennung des Wandels und des neuen Systems. Empirisch messbar
verschob sich die übergroße Rechtsextremismusbelastung in den Mentalitäten der
Bevölkerung erst dann in die neuen Länder, als klar wurde, dass die von Hel-
Sonderfall Ost – Normalfall West? 111

mut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ ausblieben. Wie Individuen


Transformation wahrnehmen und bewerten, hängt dabei auch mit sozialisierten
Deutungs- und Verarbeitungsweisen zusammen.
Wird, wie mit dem Verweis auf die „DDR-Diktatur“ angedeutet, ein Kausalver-
hältnis behauptet zwischen persönlichen Erfahrungen („Töpfchen-These1“), poli-
tischen EinÁüssen („verordneter Antifaschismus“, vgl. unter anderem Heitmann,
1997, S. 93) und den Ausprägungen politischer Einstellungen und Verhaltenswei-
sen, werden systembedingte SozialisationseinÁüsse für die Bevölkerung der ehe-
maligen DDR bis 1989/1990 betont. Diese, so die Annahme, ließen sich auf die
Prägung des Alltags durch die diktatorische Gesellschaftsordnung zurückführen
und führten in der Nachwendegesellschaft dazu, dass Ostdeutsche häuÀger Af-
Ànitäten zum Rechtsextremismus zeigten als Westdeutsche. Dem sozialisations-
theoretischen Ansatz folgend habe die DDR-Sozialisation mentale Deformation
zur Folge, welche sich in antidemokratischen Einstellungen, Fremdenfeindlichkeit,
Autoritarismus und fehlender Eigeninitiative äußere. Bürger in den neuen Bundes-
ländern seien demnach aufgrund ihrer Sozialisation in der DDR deutlich autori-
tärer geprägt als im Westen Deutschlands (als Überblick: Bulmahn, 2000).
Empirisch ist diese Annahme bereits mehrfach widerlegt. So ist die Tendenz zu
autoritären Orientierungen in den alten und neuen Bundesländern ähnlich (Som-
mer, 2010). Regionale Unterschiede in der Verbreitung rechtsextremer Einstellung
resultieren nicht aus der Herkunft aus einem ost- oder westdeutschen Bundesland,
sondern sind unter anderem auf die aktuelle sozioökonomische Lage im nahen
Wohn- und Lebensumfeld zurückzuführen. Unter der Wohnbevölkerung wirt-
schaftlich abdriftender Regionen sind – unabhängig von den Ost-West-Variablen –
rechtsextreme Einstellungen stärker ausgeprägt als in stabilen und prosperierenden
Gegenden. Unterschiede in den politischen Mentalitäten können sich demzufolge
erst dann auÁösen, wenn sich die Lebensbedingungen in West- und Ostdeutsch-
land angleichen (Quent, 2012a).
Wenn es nicht um mögliche Ursachen persönlicher Einstellungs- und Verhal-
tensdispositionen in der Vergangenheit (also vor 1989) geht, sondern wie im von

1 Schochow (2013) fasst die Diskussion um die überspitzt als „Töpfchen-These“ bezeich-
nete Debatte zusamen. Zugrunde liegt eine These von C hristian Pfeiffer: „Ostdeut-
sche, so der Kriminologe Christian Pfeiffer in einem viel beachteten Spiegel-Artikel
zehn Jahre nach der friedlichen Revolution, wurden langfristig von einer DDR-spezifi-
schen Erziehungslogik geprägt. Man sei nämlich in DDR-Krippen und -Kindergärten
‚nur wenig auf die Bedürfnisse der Kinder eingegangen und habe zu wenig Raum für
deren Entfaltung gelassen.‘ Diese Kälte führe später zu Fremdenfeindlichkeit“ (ebd.,
S. 175). Kindergartenkinder in der DDR mussten nach Pfeiffer immer gemeinsam aufs
Töpfchen gehen, woraus ihre autoritäre Prägung erwachsen sei.
112 Matthias Quent

Brigitte Böhnhardt aufgeworfenen Beispiel um Folgen sozialer Wandlungsprozes-


se, die sich bei ihrem Auftreten unmittelbar auf die biograÀsche Lage der Indivi-
duen auswirken, ist von situativen Effekten die Rede: Reaktionen, die in der gesell-
schaftlichen Lage begründet liegen – und nicht in der Sozialisation der Personen.
‚Gelernte‘ (oder eben auch nicht gelernte) Deutungsweisen und Mechanismen zur
Verarbeitung von krisenhaften Situationen können beim Eintreten einer solchen
‚Krise‘ aktiviert oder neu adaptiert werden. ‚Verlierer‘ kapitalistischer Moderni-
sierung weisen – nach individueller und milieuspeziÀscher Lage – unterschiedli-
che Verarbeitungsmuster der eigenen Desintegration auf. Dazu kann die Unterstüt-
zung autoritärer, abwertender und rechtsextremer Axiome der Politik zählen – im
Osten und im Westen. Darauf hinzuweisen ist vor allem deswegen relevant, weil
die Transformation der bundesdeutschen Gesellschaft keineswegs abgeschlossen,
sondern eher ein Dauerprozess ist.

Problematische Entlastung

Der Verweis auf die „braunen Ursprünge“ des Rechtsextremismus im DDR-System


fungiert diskursiv entlastend gegenüber den aktuellen Ungleichheitsmechanismen,
welche heute die Entstehung des Rechtsextremismus begünstigen. Die Bedeutung
speziÀscher, in der DDR vermittelter politischer Mentalitäten prägte die Soziali-
sation der Jugendgeneration, zu der Mitglieder und Unterstützer der NSU-Gewalt-
gruppe gehörten. Für die Generation der heute unter 25-Jährigen hat sie dagegen
allenfalls Bedeutung durch die Vermittlung und Weitergabe von Erfahrungen und
Werten der Eltern- und Großelterngeneration. Dies bedeutet allerdings nicht, dass
jene gesellschaftlichen Momente, die Rechtsextremismus als individuelle Bewälti-
gungsstrategie begünstigen, ebenfalls verschwunden sind:

„Wahrgenommene Desintegration, Deprivation und Anerkennungsprobleme bilden


den Nährboden für eine Ideologie der Ungleichwertigkeit, in deren Folge Angehöri-
ge schwacher Gruppen abgewertet und/oder in diskriminierender Weise behandelt
werden“ (Mansel & Spaiser, 2010, S. 74).

Diese objektiv erfahrenen oder subjektiv erlebten Gefährdungen des eigenen so-
zialen Status haben in den vergangenen 20 Jahren nicht an Bedeutung verloren:
Die Differenz der höheren Arbeitslosenquote im Osten nimmt im Zeitverlauf
gegenüber dem Westen kaum ab, vielmehr sind Parallelentwicklungen zu beob-
achten. Es zeichnet sich ein erhöhtes Risiko dafür ab, dass sich auch Menschen in
den westlichen Bundesländern nicht mehr als geachtete und wertvolle Mitglieder
Sonderfall Ost – Normalfall West? 113

der Gesellschaft erfahren oder wahrnehmen. Sowohl in Ost- als auch in West-
deutschland und innerhalb der Landesteile hat sich die soziale Ungleichheit zwi-
schen 1993 und 2004 deutlich verschärft (Heitmeyer, 2009, S. 26). Neuere Ansätze
plädieren daher für eine mikroregionale Differenzierung, beispielsweise zwischen
abgehängten und prosperierenden Regionen, welche in Ost- und Westdeutsch-
land anzutreffen sind. Deren sozioökonomische Lage wirkt sich auf die Virulenz
rechtsextremer Einstellungen, Wahlergebnisse rechtsextremer Parteien sowie Ge-
ländegewinne informeller rechtsextremer Gruppen aus (Grau & Heitmeyer, 2013;
Legge, Reinecke & Klein, 2009; Marth, Grau & Legge, 2010; Quent, 2012a).
Weder die Wende- noch die DDR-Sozialisationserfahrungen können als maß-
geblich für die Eskalation der Gewalt des NSU im Untergrund ab 2000 angesehen
werden. Die Mitglieder und Unterstützer der Gewaltgruppe teilen ihre Transfor-
mations- und Desintegrationserfahrungen mit zehntausenden Jugendlichen, von
denen sich zwar zahlreiche der rechtsextremen Szene angeschlossen haben, aber
niemand eine vergleichbare Mordserie zu verantworten hat. Tausende Rechts-
extreme gibt es noch heute – in Ost und West. Eine NeuauÁage rechtsextremen
Terrors kann nicht ausgeschlossen werden. Umso essenzieller ist es deshalb, die
wirklichen Faktoren für die Eskalation und Rechtsradikalisierung bis zum Kulmi-
nationspunkt Terrorismus zu erforschen und zu problematisieren.

Fazit

Es wurde beschrieben, dass Rechtsextremismus weder ein originär ost- noch


ein einzig westdeutsches Phänomen darstellt. Monokausale Erklärungsansätze
sind populär, aber ungenügend. Es lassen sich Besonderheiten im ostdeutschen
Rechtsextremismus identiÀzieren, die ihre Ursache im DDR-System haben und
die rechtsextreme Bewegung nach der Vereinigung bundesweit verändert haben:
Herausstechen dabei vor allem die hohe GewaltafÀnität der meist jugend- und sub-
kulturell geprägten Rechtsextremen. Unbenommen der notwendigen Differenzie-
rungen wurde gezeigt, dass der Fall der Mauer ein Möglichkeitsfenster öffnete, in
dem die Bedingungen für ein Erstarken des Rechtsextremismus außerordentlich
günstig waren. Gleichwohl müssen sowohl die jeweils handelnden Akteure als
auch die vorherrschenden politischen Gelegenheitsstrukturen betrachtet werden,
um das Auftreten unterschiedlicher Erscheinungsformen politischer Aktionsfor-
men, beispielsweise von Gewalt, zu erklären. Mit der Asyldebatte zu Beginn der
1990er Jahre verbesserten sich die Gelegenheitsstrukturen für die Rechtsextremen
bundesweit. Insbesondere die Sanktions- und Restriktionsarmut und -unfähigkeit,
die aus der Schwäche der staatlichen Strukturen in der Übergangszeit in den neuen
114 Matthias Quent

Bundesländern und der Unterstützung durch etablierte Strukturen aus den alten
Ländern resultierte, ermöglichte der rechtsextremen Szene eine nahezu ungehin-
derte Ausbreitung.
Über 20 Jahre nach der Vereinigung existieren in ost- und westdeutschen
Regionen etablierte rechtsextreme Strukturen, deren konkrete Gestalt variiert.
Permanente Anpassungserfordernisse an die Individuen durch gesellschaftliche
Modernisierungsprozesse und vor allem die in Folge der ansteigenden weltweiten
Fluchtmigrationsbewegungen neu entfachte Asyldebatte bieten der rechtsextremen
Szene vielfältige Anknüpfungspunkte. Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft
sind gut beraten, wenn sie die neuerliche Zunahme gewalttätiger und agitatorischer
Aktivitäten gegen ‚Fremde‘ als permanente Herausforderung für die Demokratie
ernst nehmen, anstatt den Rechtsextremismus als sozialen ‚Restmüll‘ der DDR zu
historisieren.
Sonderfall Ost – Normalfall West? 115

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Trends und Ursachen
des Rechtsextremismus in Ostdeutschland1
Heinrich Best

Seit den ersten Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung wird der Rechts-
extremismus als ein besonderes Problem Ostdeutschlands wahrgenommen. Ob-
wohl Westdeutschland keineswegs Immunität gegenüber rechtsextremen Tenden-
zen für sich beanspruchen kann, gibt es doch einige empirische Evidenz für die
Annahme, der Rechtsextremismus in Ostdeutschland sei sowohl seiner Quantität
als auch seiner Qualität nach ein speziÀsches Phänomen (vgl. Best, Salheiser &
Salomo, 2014). Dies betrifft die wiederholten Wahlerfolge rechtsextremer Parteien
und ihren Einzug in ostdeutsche Landtage, die im Vergleich zur gesamtdeutschen
Statistik in Ostdeutschland signiÀkant häuÀger dokumentierten Gewaltstraftaten
mit ausländerfeindlichen bzw. rassistischen Tatmotiven sowie die bei ostdeutschen
Befragten erhöhten Zustimmungswerte zu ausländerfeindlichen, nationalistischen
und diktaturafÀnen Positionen, die dem rechtsextremen Einstellungssyndrom
zugerechnet werden (vgl. von Berg, 1994; Borstel, 2012; Pfahl-Traughber, 2009;
Wagner, 2000). Jüngst haben islamfeindliche und europaskeptische soziale Bewe-
gungen und Parteien wie Pegida und AfD in Ostdeutschland ihre bisher größten
Mobilisierungs- und Wahlerfolge erzielt.
In den frühen neunziger Jahren galten ausgeprägte rechtsextreme Tendenzen
in Ostdeutschland jedoch als Paradox, denn in der DDR hatte die SED versucht,

1 Eine frühere Fassung dieses Beitrages wurde im Juli 2014 unter dem Titel „Trends and
Causes of Right Wing Extremism in East Germany“ auf dem Annual Scientific Mee-
ting of the International Society of Political Psychology (ISPP) in Rom präsentiert. Die
Übersetzung ins Deutsche besorgte Axel Salheiser.

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
120 Heinrich Best

ihren Herrschaftsanspruch mit dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu


legitimieren, in welcher der „Faschismus auf deutschem Boden“ im festen Bünd-
nis mit der Sowjetunion für immer besiegt worden sei. Dies blieb der Gründungs-
mythos der DDR und ihre Staatsräson bis zum Ende der SED-Herrschaft (vgl.
Ahbe, 2007; Danyel, 1999). Allerdings war im Westen bereits vor 1990 bekannt
gewesen oder zumindest vermutet worden, dass die Herrschaftspraxis der SED
der ofÀziellen Antifaschismus-Ideologie in wichtigen Bereichen wie z. B. der Re-
krutierung des eigenen Führungspersonals widersprach (vgl. Best, 2010; Best &
Salheiser, 2006; Salheiser, 2010). Als sich nach der Wende die Aktenschränke und
Archive Ostdeutschlands für die historische und soziologische Forschung öffne-
ten, bestätigten sich jene Vermutungen. So waren beispielsweise gut ein Sechstel
der SED-Parteisekretäre in Thüringen in den fünfziger Jahren ehemalige Mitglie-
der der NSDAP gewesen, ein weiteres Drittel ehemalige Mitglieder „faschistischer
Organisationen“ (vgl. Best, 2003; Meenzen, 2010). Entgegen der Propaganda der
SED überschattete die NS-Vergangenheit nicht nur die Bundesrepublik, sondern
auch die DDR-Gesellschaft und das SED-Regime selbst. Als Anfang 1990 die
ersten freien Volkskammerwahlen in der DDR vorbereitet wurden, sahen sich die
dafür zuständigen Behörden gezwungen, „faschistische Organisationen“ von der
Wahlteilnahme auszuschließen. Sie befürchteten offenbar ein erhebliches Gefähr-
dungspotential durch einen autochthonen Rechtsextremismus der DDR unter den
Bedingungen der neu gewonnenen demokratischen Freiheitsrechte und der Ein-
Áussnahme westdeutscher rechtsextremer Organisationen und Medien.
Die oberÁächliche EntnaziÀzierungspraxis in der DDR der späten vierziger
und frühen fünfziger Jahre (vgl. Kappelt, 1997) ist jedoch keine hinreichende
Erklärung dafür, dass seit den neunziger Jahren rechtsextreme Parteien in Ost-
deutschland Wahlerfolge erzielt haben und dass fremdenfeindliche, rassistische
und antidemokratische Einstellungen überdurchschnittlich häuÀg auftreten. Die
Rechtsextremismusforschung hat stattdessen eine Vielzahl weiterer Erklärungs-
ansätze hervorgebracht, bei denen sich grundsätzlich zwei Kausalfaktoren unter-
scheiden lassen:

• die Wahrnehmung kollektiver Diskriminierung und relativer Deprivation der


Ostdeutschen in Folge der Wiedervereinigung,
• der Fortbestand antidemokratischer, antipluralistischer und antikapitalistischer
Einstellungen und Normen, die sich vor allem auf eine Sozialisation im autori-
tären Sozialismus sowjetischer Prägung zurückführen lassen.

Wenn davon auszugehen ist, dass sowohl die Gründe für die relative Deprivation
als auch sozialistische Sozialisationsmuster weiterwirken bzw. reproduziert wer-
Trends und Ursachen des Rechtsextremismus in Ostdeutschland 121

den, dann können diese beiden Kausalfaktoren zur Erklärung der langfristigen
Entwicklung des ostdeutschen Rechtsextremismus nach der Wiedervereinigung
herangezogen werden.
Nachfolgend möchte ich untersuchen, inwieweit die gerade skizzierten Ansät-
ze geeignet sind, das Auftreten rechtsextremer Einstellungen in der ostdeutschen
Bevölkerung zu erklären. Besondere Aufmerksamkeit ist dabei der Frage zu wid-
men, inwieweit rechtsextreme Einstellungen mit der Bewertung der DDR und der
sozialistischen Ordnung verknüpft sind, weil die DDR ihrem Anspruch nach und
in der Vorstellung vieler Ostdeutscher bis heute als antifaschistisches und „linkes“
Gesellschaftsprojekt gilt. Als empirische Basis meiner Untersuchung dienen die
Daten des THÜRINGEN-MONITORs, einer jährlich stattÀndenden Repräsentativbefra-
gung der wahlberechtigten Bevölkerung des Freistaates Thüringen mit jeweils ca.
1.000 Befragten (vgl. Best, 2012; Best et al., 2013). Die Datenreihe des THÜRIN-
GEN-MONITORs dokumentiert die Anteile rechtsextrem eingestellter Thüringer und
Thüringerinnen von 2001 bis 2014 fast lückenlos, nur im Jahr 2009 fand keine Er-
hebung statt. Initiiert wurde die Befragung in Folge des Brandanschlages auf die
Synagoge in der Landeshauptstadt Erfurt im Jahr 2000. Von Seiten der Politik und
der Öffentlichkeit im Freistaat hat seitdem großes Interesse bestanden, die Ent-
wicklung rechtsextremer Einstellungen im weiteren Kontext der politischen Kultur
Thüringens wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Dies wurde auch besonders
deutlich nach dem Bekanntwerden der Verbrechen des „Nationalsozialistischen
Untergrundes“ (NSU), dessen (mutmaßliche) Mitglieder alle aus der thüringischen
Universitätsstadt Jena stammen. Wobei es aus wissenschaftlicher Perspektive nicht
unproblematisch ist, die ausländerfeindlich und rassistisch motivierten Gewaltex-
zesse des NSU mit den Einstellungen in der allgemeinen Bevölkerung in Bezug zu
setzen. Seit 2012 wird der THÜRINGEN-MONITOR unter meiner Leitung am Institut
für Soziologie der Friedrich Schiller-Universität Jena erstellt und ausgewertet.
Den Kern der indikatorengestützten Messung rechtsextremer Einstellungen
bieten im THÜRINGEN-MONITOR zehn Zustimmungsitems, die zu einer Rechtsext-
remismusskala verrechnet werden. Der Grundstein für dieses Messkonzept wurde
2001 gelegt, als eine Gruppe deutscher Sozialwissenschaftler und Sozialwissen-
schaftlerinnen eine „KonsensdeÀnition“ des Rechtsextremismus erarbeitete. Die
„KonsensdeÀnition“ besitzt mittlerweile quasi-ofÀziellen C harakter, da sie von
der wissenschaftlichen Forschung ausgehend auch Eingang in die politischen Pro-
gramme zur Bekämpfung des Rechtsextremismus auf Länder- und Bundesebe-
ne gefunden hat. Demnach ist Rechtsextremismus ein Einstellungssyndrom, das
Fremdenfeindlichkeit, Chauvinismus, die AfÀnität zur (nationalen) Diktatur, die
Verharmlosung des Nationalsozialismus, Antisemitismus und Sozialdarwinismus
umfasst. Jeder dieser sechs Dimensionen – oder besser: Facetten – des Rechtsex-
122 Heinrich Best

tremismus wurden Items aus einem umfangreichen und größtenteils bis dato be-
reits forschungserprobten Fragenkatalog zugeordnet. Die Mehrheit der deutschen
Befragungsstudien zu rechtsextremen Einstellungen seit 2001 folgen der Konsens-
deÀnition insofern, dass Items aus dem vereinbarten Fragenkatalog Verwendung
fanden, die Auswahl der einzelnen Indikatoren und deren jeweilige Anzahl vari-
ierte indessen beträchtlich. Im THÜRINGEN-MONITOR werden seit 2001 die gleichen
zehn Indikatoren zur Messung rechtsextremer Einstellungen genutzt (vgl. Tabelle
1). Während in anderen Studien teilweise auch fünfstuÀge Antwortskalen einge-
setzt werden, wurde für den THÜRINGEN-MONITOR eine vierstuÀge Antwortskala2
ohne Mittelkategorie gewählt. Die aus den zehn Items gebildete Summenskala
rangiert folglich zwischen 10 und 40 Punkten. Ab einem Punktwert von 26 wur-
den Befragte als rechtsextrem eingestuft, ab einem Punktwert von 30 dem „harten
Kern“ der Personen mit verfestigten rechtsextremen Einstellungen zugerechnet.

2 Antwortkategorien: „stimme voll und ganz zu“ (4 Punkte), „stimme überwiegend zu“
(3), „lehne überwiegend ab“ (2), „lehne völlig ab“ (1).
Trends und Ursachen des Rechtsextremismus in Ostdeutschland 123

Tabelle 1 Die Messung rechtsextremer Einstellungen im Thüringen-Monitor nach der


“KonsensdeÀnition” des Rechtsextremismus (Thüringen-Monitore 2001–2014;
Zustimmungswerte 2013)
Fremdenfeindlichkeit Zustimmung
(in %)
„Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem ge- 42
fährlichen Maße überfremdet.“
„Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszu- 44
nutzen.“
„Ausländer sollten grundsätzlich ihre Ehepartner unter den eigenen 21
Landsleuten auswählen.“
Sozialdarwinismus
„Es gibt wertvolles und unwertes Leben.“ 32
„Wie in der Natur sollte sich auch in der Gesellschaft immer der 31
Stärkere durchsetzen.“
Nationalismus und Chauvinismus
„Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches 45
Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland.“
„Andere Völker mögen Wichtiges vollbracht haben, an deutsche 41
Leistungen reicht das aber nicht heran.“
Verharmlosung des Nationalsozialismus
„Der Nationalsozialismus hat auch seine guten Seiten.“ 21
Antisemitismus
„Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an 15
sich und passen nicht so recht zu uns.“
Rechte Diktatur
„Im nationalen Interesse ist unter bestimmten Umständen eine 12
Diktatur die bessere Staatsform.“

Allerdings haben unsere eigenen Untersuchungen zur Validität und Reliabilität


einige Schwächen des Messinstrumentes offengelegt: So musste insbesondere die
Annahme zurückgewiesen werden, die zehn Items bildeten eine eindimensionale
Skala. Eine Hauptkomponentenanalyse wies zwei Faktoren aus, die ihrerseits wie-
derum auf die Existenz zweier Varianten des Rechtsextremismus hindeuteten: den
„Neo-Nationalsozialismus“ sowie den „Ethnozentrismus“. Als forschungsprakti-
sche Konsequenz dieser Erkenntnis wurde ein neuer gewichteter Mittelwertindex
berechnet, der die alte, auf der Eindimensionalitätsannahme beruhende Summen-
skala ablöst (vgl. Best & Salomo, 2014). Um die Vergleichbarkeit der Ergebnis-
se aus den älteren THÜRINGEN-MONITORen und anderen Studien zu gewährleisten,
soll an dieser Stelle zunächst die alte Summenskala interpretiert werden, die den
124 Heinrich Best

Rechtsextremismus als ein einheitliches Muster von Einstellungen und Ideologe-


men modelliert und abbildet.
Die Befragungen des THÜRINGEN-MONITORs zeigen, dass bestimmte Facetten
des Rechtsextremismus (nach der „KonsensdeÀnition“) hohe Zustimmungswerte
unter der Thüringer Bevölkerung erzielen. 2013 stimmten vier von zehn Befragten
fremdenfeindlichen und nationalistischen Aussagen zu, drei von zehn Befragten
stimmten sozialdarwinistischen Positionen zu, jeweils ein Fünftel unterstützte
Aussagen, in denen der Nationalsozialismus verharmlost und ethnisch homogene
Ehen gefordert werden. Jeweils mehr als ein Zehntel der Befragten zeigte AfÀni-
tät zu einer nationalen Diktatur und vertrat antisemitische Vorurteile. Nach Ad-
dition der einzelnen Zustimmungswerte zur Rechtsextremismusskala wurden ca.
zwölf Prozent der Befragten als rechtsextrem klassiÀziert; ein Wert, der bereits
2012 gemessen wurde. Ungefähr fünf Prozent der Befragten wurden entsprechend
ihrem Zustimmungsverhalten 2013 dem „harten Kern“ zugerechnet. Obwohl diese
Anteile gegenüber den Spitzenwerten in der ersten Dekade des Jahrhunderts auf
die Hälfte gesunken sind, werden sie dennoch mit Besorgnis betrachtet: Rechts-
extreme Einstellungen in der Bevölkerung mögen den Nährboden für Wahlerfolge
rechtsextremer Parteien bereiten oder ein gesellschaftliches Klima erzeugen, in
dem sich fremdenfeindliche und rassistische Gewalt Bahn bricht. Damit ist die
Suche nach dem Wesen und den Ursachen des Rechtsextremismus nicht nur von
akademischer oder theoretischer Bedeutung, vielmehr sollte die Forschung auch
wichtige Erkenntnisse liefern, die in die zivilgesellschaftliche Praxis (wie Landes-
programme und Aktionspläne gegen Rechtsextremismus), Demokratiepädagogik
sowie in den politischen Diskurs einÁießen können.
Eine umfassende und detaillierte Kausalanalyse zu rechtsextremen Einstel-
lungen ist möglich, weil der THÜRINGEN-MONITOR eine breite Auswahl soziodemo-
graphischer und sozialpsychologischer Variablen bietet, die als mögliche Ursachen
infrage kommen, und weil diese Variablen jedes Jahr erhoben wurden. Somit kann
auch eine valide, sinnvolle Datenakkumulation und -aggregation stattÀnden. Auf
der Basis eines Gesamtdatensatzes mit ca. 6000 Befragten aus den THÜRINGEN-
MONITORen 2001–2013 wurde eine Pfadanalyse berechnet, die die Rechtsextremis-
musskala als abhängige Variable und eine Vielzahl von Indikatoren als unabhängi-
ge Variablen einschließt (vgl. Tabelle 2). An dieser Stelle werden die Beta-Effekte
(B) solcher Erklärungs- bzw. Prädiktorvariablen dargestellt und interpretiert, die
direkt oder indirekt, also über andere Variablen vermittelt, auf die abhängige Va-
riable wirken und dabei auf dem höchsten SigniÀkanzniveau (p ” 0.001) eine subs-
tanzielle Effektstärke (B = • 0.075) aufweisen.
Trends und Ursachen des Rechtsextremismus in Ostdeutschland 125

Tabelle 2 Überblick angenommener Erklärungsfaktoren und ihr empirischer EinÁuss


auf rechtsextreme Einstellungen (Datenbasis: Thüringen-Monitore 2001–2013,
n=5.981; zur ModellspeziÀkation der Pfadanalyse vgl. Best et al., 2014, S. 157 f.).

Erklärungsfaktor Operationalisierung Beta-Effekte


direkt/indirekt
SoziodemograÀe – Geschlecht (weiblich) -
– Lebensalter (älter) -
– formales Bildungsniveau (niedriger) 0,189 / 0,200
Ökonomische Deprivation
Individuell – Arbeitslosigkeit oder -
– unsicher wahrgenommener Arbeitsplatz -
– subjektiv schlechte Ànanzielle Situation 0 / 0,147
– Eindruck, nicht den gerechten Anteil zu 0 / 0,093
erhalten
– Angst vor Statusverlust (ab 2007 er- 0,139 / 0,107
hoben)
Kollektiv – schlechte Bewertung der Thüringer -
Wirtschaft -
– negativer Vergleich Thüringens mit den -
alten
– und den neuen Bundesländern
Ostdeutsche Deprivation
Individuell – Bewertung der deutschen Einheit als -
nachteilig
Kollektiv – Wahrnehmung der Diskriminierung Ost- 0,151 / 0,154
deutscher durch Westdeutsche
Politische Entfremdung – geringe Eigenwirksamkeitsüberzeugung -
– geringes Vertrauen in politische Institu- -
tionen -
– Unzufriedenheit mit demokratischer
Praxis
Ostdeutsche Vergangenheit – positive DDR-Bewertung 0,152
(politische) Werte – Autoritarismus 0,461
Erklärte Varianz rechtsextremer Einstellungen 46 %
davon durch effektstärkstes Merkmal Autoritarismus 16 %

Zunächst zeigt die Analyse, dass die (objektive) soziale Situation der Befragten
wenig oder keinen EinÁuss auf das Antwortverhalten hat; einzig höhere formale
Bildung senkt tendenziell den Rechtsextremismus-Skalenwert. Überraschender-
weise hat Arbeitslosigkeit keinen signiÀkanten Effekt. Faktoren der subjektiven
Wahrnehmung sozialer Benachteiligung indessen erhöhen deutlich die Neigung
zu rechtsextremen Einstellungen: Dazu zählen die Angst, Verlierer der gesell-
126 Heinrich Best

schaftlichen Entwicklung zu werden; die Auffassung, im Vergleich zu anderen


weniger als den gerechten Anteil zu erhalten und die Meinung, dass Ostdeutsche
von Westdeutschen diskriminiert würden (vgl. Best et al., 2014, S. 154). Alle
diese Faktoren verweisen direkt oder indirekt auf den sozio-historischen Kon-
text Ostdeutschlands, auf die Position der Befragten in diesem Kontext und auf
ihre biographischen Erfahrungen in der postsozialistischen Gesellschaftstrans-
formation.
Von besonderer Bedeutung ist, dass rechtsextreme Einstellungen und eine
positive Bewertung der DDR positiv assoziiert sind (vgl. Best et al., 2014, S. 159).
Demnach sind Thüringer Rechtsextreme häuÀger als andere Befragte der Mei-
nung, dass die DDR mehr gute als schlechte Seiten hatte, ungeachtet des Wider-
spruchs zwischen dem legitimatorischen Antifaschismus der DDR einerseits und
der Verharmlosung des Nationalsozialismus als einer der zentralen DeÀnitions-
bestandteile des Rechtsextremismus andererseits. Bezüglich der Bewertung der
beiden unterschiedlichen historischen Diktaturen bildet sich in den Daten eine
starke positive Assoziation ab; offenbar sind in den Köpfen nicht weniger Befrag-
ter NS-Verharmlosung und DDR-Nostalgie nicht nur kompatibel, sondern mitei-
nander verknüpft. Eine Erklärung für diesen paradox anmutenden Befund liefert
möglicherweise eine weitere signiÀkante unabhängige Variable im Pfadmodell:
Autoritarismus, hier operationalisiert als (kumulative) Zustimmung zu den Aussa-
gen „Wer seine Kinder zu anständigen Bürgern erziehen will, muss von ihnen vor
allem Gehorsam und Disziplin verlangen.“ sowie „In diesen Zeiten brauchen wir
unbedingt eine starke Hand.“ Auf dieser Grundlage sind 46 Prozent der Befragten
als autoritär einzustufen. Der Faktor Autoritarismus hat mit Abstand den stärksten
EinÁuss aller unabhängigen Variablen im Modell. Beide deutschen Diktaturen ba-
sierten (neben all ihren Unterschieden) auf autoritären Prinzipien und setzten die-
se durch, womit eine Verbindung zwischen ihrer jeweiligen Verharmlosung bzw.
Idealisierung bei Teilen der Befragten plausibel erscheint.
Eine weitere paradoxale Assoziation zwischen den Bewertungen der beiden
deutschen Diktaturen manifestiert sich in der AfÀnität der entsprechenden Be-
fragten zur „sozialistischen Ordnung“ (vgl. Best et al., 2014, S. 160). 44 Prozent
der als rechtsextrem eingestuften Thüringer und Thüringerinnen befürworten eine
Rückkehr zum Sozialismus, unter nicht-rechtsextremen Befragten sind es ledig-
lich 14 Prozent. Der Anteil der DDR-Nostalgiker unter denen, die die „Rückkehr
zur sozialistischen Ordnung“ befürworten, beträgt 81 Prozent (gegenüber 42 Pro-
zent der Befragten insgesamt). Der Anteil derer, die den Nationalsozialismus ver-
harmlosen, unter denen, die die „Rückkehr zur sozialistischen Ordnung“ befür-
worten, beträgt 64 Prozent (gegenüber 11 Prozent der Befragten insgesamt; alle
Prozentangaben für 2013). Offenbar verschmelzen hier politische Positionen und
Trends und Ursachen des Rechtsextremismus in Ostdeutschland 127

Ideologeme miteinander, die im Diskurs traditionell als „typisch links“ oder „ty-
pisch rechts(-extrem)“ gelten.
Diese Inkonsistenz macht es auch plausibel, dass sich nur eine kleine Minderheit
der Befragten als rechtsextrem bezeichnet, wenn man sie zu einer Selbstpositionie-
rung im politischen Spektrum auffordert. Die große Mehrheit derer, die aufgrund
ihres Antwortverhaltens als rechtsextrem einzustufen sind, nämlich zwischen drei
Viertel und vier Fünftel der rechtsextremen Befragten, verortet sich selbst in der
politischen Mitte oder links der Mitte. In einigen Befragungswellen des THÜRIN-
GEN-MONITORs verorteten sich sogar mehr Rechtsextreme selbst im linken Flügel
des politischen Spektrums (einschließlich sehr weit links) als im rechten Flügel
(einschließlich sehr weit rechts). Es kann angezweifelt werden, dass solche wider-
sprüchlichen Selbstattributionen aus vorsätzlichen Falschpositionierungen resul-
tieren. Denn Personen, die sich selbst als rechts oder rechtsextrem einordnen und
die in der Befragung – tabubesetzte – rassistische oder neonazistische Positionen
offen vertreten, werden kaum wegen sozialer Erwünschtheit davor zurückscheuen,
sich selbst auch als rechts oder rechtsextrem zu bezeichnen. Vielmehr kann davon
ausgegangen werden, dass die Mehrheit der rechtsextrem Eingestellten sich selbst
als authentische Anhänger der politischen Mitte oder der politischen Linken auf-
fasst, weil in der Vorstellungswelt dieser Befragten heterophobe und autoritäre
Ideologeme mit egalitären Positionen verknüpft sind und sie das Gefühl haben,
einem Mainstream anzugehören.
Diese Annahme bestätigt sich auch in einer Faktorenanalyse der zehn Indi-
katoren der Rechtsextremismusskala. Wie bereits erwähnt wurde, konnten dabei
zwei Faktoren identiÀziert werden: „Neo-Nationalsozialismus“ und „Ethnozent-
rismus“. Der Faktor „Neo-Nationalsozialismus“ umfasst die Indikatoren des So-
zialdarwinismus, des (deutschnationalen) Chauvinismus, der Verharmlosung des
Nationalsozialismus, des Rassismus und teilweise auch des Antisemitismus. Der
Faktor „Ethnozentrismus“ umfasst hingegen Items, die sich auf die vermeintliche
Überfremdung Deutschlands durch massenhafte Zuwanderung, auf den vermeint-
lichen Missbrauch des Wohlfahrtsstaates durch Ausländer und auf die energische
Durchsetzung deutscher Interessen beziehen. Wenn die Items der DDR-Nostalgie
sowie der „Rückkehr zur sozialistischen Ordnung“ in die Faktorenanalyse einbe-
zogen werden, laden diese Variablen auf dem Faktor „Neo-Nationalsozialismus“.
DDR-Nostalgie und SozialismusafÀnität können demnach als Indikatoren für neo-
nationalsozialistische Einstellungen gelten.
In der Zusammenfassung dieser Befunde ist zunächst festzuhalten, dass der
Rechtsextremismus und insbesondere dessen neo-nationalsozialistische Ausprä-
gung eine signiÀkante „linke“ Komponente besitzen, wenn man die DDR und ihre
„sozialistische Ordnung“ als ein linkes Projekt betrachtet. Hinzu kommt die Tat-
128 Heinrich Best

sache, dass rechtsextrem eingestellte Befragte sich selbst mehrheitlich nicht als
rechtsextrem im politischen Spektrum verorten. Dies impliziert jedoch, dass der
öffentliche Diskurs gegen Rechtsextremismus – darunter staatliche Landespro-
gramme und Aktionspläne – einen großen Teil ihrer eigentlichen Zielgruppe ver-
fehlen: Die Mehrheit der Rechtsextremen nimmt sich selbst und ihre Einstellungen
nicht als rechtsextrem wahr. Manche von ihnen sehen sich sogar als „Antifaschis-
ten“; ungefähr ein Drittel erklärte in der Befragung 2013, dass sie sich vorstellen
könnten, an Demonstrationen gegen Neonazis teilzunehmen, fünf Prozent gaben
sogar an, dies bereits getan zu haben.
Eine weitere Frage war, ob es sich beim hier untersuchten Rechtsextremismus
im innerdeutschen Vergleich um ein speziÀsch ostdeutsches Phänomen handelt.
Eine solche Feststellung ist insofern gerechtfertigt, dass nur in Ostdeutschland das
gesellschaftliche und politische Regime des „Realsozialismus“ existierte, bis heu-
te in der kollektiven Erinnerung präsent ist und durch Sozialisationsmuster, (kol-
lektiv-)biographische Erfahrungen und normative Orientierungen fortwirkt (vgl.
Best et al., 2014, S. 163f.) Im Kollektivgedächtnis erscheint die sozialistische Ord-
nung als egalitär, homogen und autoritär – eine Assoziation, die sich auch für die
Repräsentation des Nationalsozialismus Ànden lässt. In diesem Sinne sind DDR-
Nostalgie und NS-Verharmlosung offensichtlich bei einigen (Ost-)Deutschen plau-
sibel miteinander assoziiert. Die Amalgamierung ultranationalistischer und rassis-
tischer Positionen mit Sympathien für die soziale Ordnung des „Realsozialismus“
verbindet den ostdeutschen Rechtsextremismus stärker mit der politischen Kultur
in anderen Ländern Mittel- und Osteuropas als mit der des Westens. In den Län-
dern Mittel- und Osteuropas ist die Verschmelzung linker und rechter Positionen
populär und bereitet einen Nährboden für rechtsextreme und „nationalkommu-
nistische“ Parteien und Bewegungen. Besonders in Russland treten faschistische
Kräfte auf, die sich als antifaschistisch maskieren (vgl. Kelimes, 2012). Sieben
Jahrzehnte nach dem Sieg über den Nationalsozialismus und zwei Jahrzehnte nach
dem Untergang des Kommunismus scheinen neue bedrohliche Gespenster in Mit-
tel- und Osteuropa umzugehen; beim genaueren Hinsehen erweisen sie sich jedoch
als Amalgame des Bekannten.
Trends und Ursachen des Rechtsextremismus in Ostdeutschland 129

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Rechtsextremismus
und pauschalisierende Ablehnungen

Alte Probleme mit neuen Herausforderungen

Kurt Möller

Rechtsextremismus ist in Deutschland – und nicht nur hier – ein gesellschaftli-


ches Problem, das mit unterschiedlichen Konjunkturen seit Jahrzehnten andauert
und bislang anscheinend nicht hinreichend in den Griff zu bekommen ist. Manch
eine(r) mag den Diskurs darüber kaum noch verfolgen, weil er/sie seine Beiträge
allzu häuÀg als NeuauÁage von bereits Bekanntem einstuft und die durch sie an-
geregte Bearbeitung der Rechtsextremismus-Problematik als wenig zielführend
wahrnimmt.
Ähnlich verhält es sich mit den öffentlichen und (inter)disziplinären Debatten
um die Verbreitung von weiteren, auch außerhalb des rechtsextremen Spektrums
schwelenden oder zu Tage tretenden Phänomenen wie feindselige Vorurteile
gegenüber (relativ) machtlosen Gruppierungen und ihren Angehörigen, auf sie zie-
lende Diskriminierung[sbereitschaft]en und damit verbundene Gewaltförmigkei-
ten. Auch diesbezüglich handelt es sich scheinbar um altbekannte Probleme, deren
hartnäckige Fortexistenz bzw. deren punktuelles und temporäres AufÁackern ein
demokratisches und friedvolles Zusammenleben zwar unterminieren, aber gerade
angesichts ihrer Verstetigungen im Alltag nicht selten fatalistisches Achselzucken
hervorrufen.
Wissenschaftlich betrachtet werfen diese Einschätzungen eine Reihe von Fra-
gen auf. Ohne sie selbst in Zweifel zu ziehen, ist in einem ersten Zugriff zumindest
zu klären, ob es sich eigentlich tatsächlich um ‚alte’ Probleme handelt oder ob
sich die augenscheinlich ‚alten’ Probleme nicht vielfach in erneuerter Gestalt dar-
stellen.

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
132 Kurt Möller

Um zur Klärung dieser Frage beizutragen, versucht der vorliegende Beitrag in


einem ersten Schritt, die in Rede stehenden Phänomene begrifÁich adäquat zu
fassen. Er informiert danach im zweiten Schritt über die wichtigsten Aspekte ihres
empirischen Ausmaßes sowie über ihre Entwicklung innerhalb der letzten Jahr-
zehnte und markiert im Zuge dessen alte und neue Herausforderungen, die sie in
sich bergen.

1 „Rechtsextremismus“, „Rechtsradikalismus“,
„Rassismus“, „Neonazismus“
„Menschenfeindlichkeit“, „Vorurteile“ oder was?

Die Vorstellungen von Gegenständen und das Sprechen über sie bestimmen be-
kanntlich deren Wahrnehmung, Deutung, Bewertung und Behandlung mit. Die
Phänomene, um die es hier geht, angemessen begrifÁich zu fassen, ist mithin eine
wesentliche Voraussetzung ebenso für die tragfähige Auseinandersetzung über sie
wie für den Umgang mit ihnen.
Indem wir den Problemkomplex ‚Rechtsextremismus’ schon am Anfang dieses
Beitrags begrifÁich eingeführt haben, gilt es nun zu bestimmen, was darunter zu
verstehen ist und wieso dieser Terminus gegenüber anderweitig ins Spiel gebrach-
ten Alternativbegriffen Vorteile besitzt.
Rechtsextremismus meint in der hier vorgeschlagenen Verwendung einen Kom-
plex von Phänomenen, der inhaltlich durch sechs Komponenten bestimmt wird:

• Nationalismus bzw. nationalen Chauvinismus,


• Antisemitismus,
• Fremden- bzw. Ausländerfeindlichkeit,
• Sozialdarwinismus bzw. Rassismus,
• die Befürwortung autoritärer politischer Strukturen und
• die Verharmlosung des Nationalsozialismus.1

1 Wenn in dieser Aufzählung die Formulierung „bzw.“ auftaucht, so weist sie darauf
hin, dass auch bei den Anhänger/innen der Konsensdefinition teilweise bei Teilas-
pekten nicht immer dieselben Begrifflichkeiten benutzt werden. Festzuhalten ist
diesbezüglich insbesondere: „Rassismus“ wird hier im Gegensatz zum weiter unten
ausgeführten Verständnis „rassismuskritischer“ Wissenschaftler/innen als Teilaspekt
von Rechtsextremismus verstanden und meint die abwertende Unterscheidung von
Menschen oder Menschengruppen entlang biologischer oder angeblich biologischer
(biologistischer) Differenzen. Manche Vertreter/innen der Konsensdefinition bevor-
zugen auf dieser Dimension den Begriff des „Sozialdarwinismus“, weil er über die
Rechtsextremismus und pauschalisierende Ablehnungen 133

Diese an die sog. „Konsens-Formel“ (vgl. Stöss, 2010, S. 57f.; Decker, Brähler &
Geißler, 2006, S. 20f.; Decker u. a., 2010, S. 18; Decker, Kiess & Brähler, 2014)
angelehnte DeÀnition hat den Vorteil, sich einer weitÁächigen Übereinstimmung
innerhalb der Rechtsextremismusforschung sicher sein zu können – dies selbst
dann, wenn man seine Problematiken einräumt. Zu diesen gehören: a) die Posi-
tionierung der mit ihm beschriebenen Phänomene auf einem deutlich markierten
Pol der an sich immer weniger aussagefähigen Rechts-Links-Topographie politi-
scher Positionen, b) eine damit unterstellte Bagatellisierung und erleichterte Aus-
blendung der Existenz mancher seiner Kernelemente auch z. B. in der ‚Mitte’ des
politischen Spektrums, c) die dem Begriff als Kompositum inhärente Nutzung des
„Extremismus“-Begriffs, der ohne den Zusatz „Rechts…“ auch zur Bezeichnung
gänzlich anders gelagerter politischer Phänomene wie vor allem Islamismus und
markante linke politische Positionen Anwendung Àndet und in Gefahr gesehen
werden kann, durch diese Begriffskomponente die Suggestion einer Gleichsetzbar-
keit mit derartigen Phänomenen zu befördern und die Normalisierungen rechtsex-
tremer Haltungen zu kaschieren, d) die sicherheitsbehördliche Verwendung dieses
Terminus in einer Weise, die eher staatsgefährdende Bestrebungen sowie stärker
Verfassungs- als Personenschutz in den Mittelpunkt rückt und in dieser Einseitig-
keit mit seinem oben benannten wissenschaftlichen Gebrauch nicht deckungsgleich
ist, e) eine gewisse Substanzlosigkeit der Bezeichnung selbst, die eher eine Veror-
tung politischer Positionierung (eben am äußersten ‚rechten’ Rand des politischen
Spektrums) als eine inhaltliche Qualität zum Ausdruck bringt (vgl. u. a. zu diesen
Kritikpunkten als Überblick die Beiträge in Forum, 2011). Wenn „Rechtsextremis-
mus“ sich dennoch als Leitbegriff der thematisch einschlägigen Forschung halten
kann, dann im Wesentlichen deshalb, weil der Terminus sich als theoretisch hinrei-

Bezugnahme auf Rassendifferenz hinausragt und auch die Ablehnung, Diskriminie-


rung oder gar Vernichtung von ‚unwertem Leben’ generell beinhaltet. Der Terminus
„Chauvinismus“ wird in der Konsensdefinition gegenüber „Nationalismus“ präferiert,
meint aber wie die gängige Verwendung dieses Begriffs eine übersteigerte Bezug-
nahme auf die ‚eigene’ Nation, die über Patriotismus und nationale Gesinnungen, die
nicht demokratiewidrig sind, hinausgeht. Als exklusiver Nationalismus propagiert und
betreibt er die Überhöhung der ‚eigenen’ Nation bei Abwertung (im Extremfall bis
hin zu Auslöschung) anderer Nationen und ihrer Angehörigen. Selbst als inklusiver
Nationalismus, der sich eine Integrationsfunktion für verschiedene Teilgruppierungen
einer Gesellschaft attestiert, erhebt er ein „Loyalitäts- und Deutungsmonopol“, das
allein die Nation zum allen anderen Integrationsbezügen (Sprache, Region etc.) über-
geordneten identitätsstiftenden Referenzpunkt stilisiert (vgl. Wehler, 1987, S. 508).
„Ausländerfeindlichkeit“ erscheint als ein überholter Begriff, weil das, was mit ihm
bezeichnet werden soll, häufig auch „fremd“ erscheinende (post)migrantische Perso-
nen(gruppierungen) mit deutscher Staatsangehörigkeit trifft.
134 Kurt Möller

chend abgeklärt und empirisch gut operationalisiert darstellt und zugleich auch im
öffentlichen Raum als Problematisierungsformel verstanden wird. Wer ihn vertritt,
argumentiert jedoch zumeist mit Recht, dass der normative Rechtsextremismus-
begriff mindestens soweit ergänzt werden muss, dass auch die Gegnerschaft zum
Republik-, Bundesstaats- und Sozialstaatsprinzip erfasst werden kann (vgl. z. B.
Jaschke, 1991), rekurriert aber daneben in erster Linie auf Heitmeyers, erstmals
1987 formuliertes Verständnis des „soziologischen Rechtsextremismus“. Danach
liegt Rechtsextremismus dann vor, wenn seine zwei Kernelemente, nämlich zum
ersten Ungleichheitsideologien (bzw. -vorstellungen ‚unterhalb’ ideologisch aus-
gearbeiteter Konzepte und Ungleichbehandlung[sforderung]en; vgl. Möller, 2000)
und zum zweiten Gewaltakzeptanz, zusammenÁießen. Erst in Verbindung mit Ge-
waltakzeptanz liegt nach dem hier vertretenen Verständnis im konkreten Fall bei
Ungleichheitsvorstellungen Rechtsextremismus – gleichsam ‚im Vollbild’ – vor.
Unter ‚Gewaltakzeptanz’ ist dabei eine Orientierung zu verstehen, die die aktive
Seite von Gewaltbetroffenheit – im analytischen Gegensatz dazu steht ‚Gewalter-
leiden’ als Opfer – bezeichnet. Im Einzelnen handelt es sich dabei um eine der
folgenden Gewaltformen:

• eigene Gewalttätigkeit,
• Bereitschaft zu eigener Gewalttätigkeit,
• Drohung mit Gewalt,
• Propagierung, Stimulation, Billigung oder Duldung fremdausgeübter Gewalt in
konkreten Situationen,
• generelle, d. h. auch: nicht nur die eigene Person betreffende Befürwortung von
Gewalt als Verhaltens- bzw. Handlungsoption.

Gewalt wird dabei nicht nur als die intentionale physische Schädigung von Perso-
nen oder Sachen verstanden. Eingeschlossen ist auch eine psychische Schädigung
von Menschen. Gewalt wird zudem nicht nur als personal ausagiert und verant-
wortet gesehen, sondern ihre Akzeptanz wird auch in ihren strukturellen bzw.
institutionellen (z. B. obrigkeitsstaatlich-repressiven) Aspekten einbezogen.
Rechtsextremismus wird auch aufgrund dieser deÀnitorischen Bestimmungen
nicht (nur) als eine Einstellung begriffen. Ebenso wenig wird er – umgekehrt –
auf eine politische Verhaltensweise reduziert. Rechtsextremismus wird vielmehr
als eine Haltung verstanden, innerhalb derer Orientierungsaspekte (Einstellungs-
momente, Ressentiments, Mentalitäten2 etc.) und Aktivitätsaspekte (Verhaltens-

2 Mit Theodor Geiger (1932, S. 77ff.) sind darunter zu verstehen „die nicht systemati-
sierten oder wenig systematisierten Gefühle, Gedanken und Stimmungen…, die die
Rechtsextremismus und pauschalisierende Ablehnungen 135

weisen, Handlungen) analytisch unterscheidbar sind und zusammenÁießen (vgl.


Möller, 2000; Möller & Schuhmacher, 2007).
Werden die Begriffe „Rechtsextremismus“ und „Rechtsradikalismus“ im öf-
fentlichen Diskurs heute noch oft als Synonyme verwendet, so ist darauf zu ver-
weisen, dass der „Radikalismus“-Begriff einen etymologischen und begriffs-
geschichtlichen Ballast mitschleppt, der ihn ungeeignet erscheinen lässt, das zu
bezeichnen, was er bezeichnen soll: Zum einen spricht die etymologische Herlei-
tung des Begriffs vom lateinischen „radix“ = die Wurzel gegen eine Bezeichnung
rechtsextremer Haltungen und Bestrebungen als radikal, kann doch die ihnen zu-
grundeliegende politische Ideologie gerade dahingehend kritisiert werden, dass
sie den Dingen nicht analytisch ‚an die Wurzel’ geht. Er wurde zum anderen im
19. Jahrhundert in erster Linie von strukturkonservativer Seite zunächst – etwa
im Vormärz – gegen Demokratiebewegungen überhaupt, später dann gegen die
‚gemeingefährlichen Bestrebungen der Socialdemokratie’ und ‚C ommunisten-
Verschwörungen’ eingesetzt und erst beim Aufkommen des Nationalsozialismus
auch auf politische Gegner von rechtsaußen angewendet. Wo der „Rechtsradika-
lismus“-Begriff dennoch in wissenschaftlichen Kontexten und/oder in Praxen der
Rechtsextremismus-Entgegnung auftaucht, wird er entweder als Kennzeichnung
für ein besonders aggressives und gewaltförmiges Auftreten der extremen Rech-
ten benutzt3 oder er wird – wie bei Stöss (vgl. 2010, S. 14) – als Übergangsbereich
zwischen demokratischer Mitte und Rechtsextremismus verstanden, wobei diesem
dann, anders als dem „Rechtsextremismus“, noch Verfassungskonformität zuge-
schrieben wird. Sein Gebrauch in der Forschung ist also hochgradig inkonsistent.

gegebene Gesellschaft, Klasse, Gruppe, Profession usw. aufweist“.


3 In diesem Sinne wird „Radikalisierung“ als Prozessbegriff auch in der neueren De-
batte um Tier(rechts)schutzaktivismus, vor allem aber um Islamismus (vgl. auch die
„Initiative Sicherheitspartnerschaft“ des BMI) und Terrorismus generell verwendet,
wobei der Begriff auch hier wenig Kontur gewinnt, wenn er z. B. wie bei McCauley
und Moskalenko (2011) als „eine erhöhte Bereitschaft, sich an politischen Konflikten
zu beteiligen“ (S. 219) definiert und auf verschiedene Formen und Richtungen politi-
schen Engagements bezogen wird (vgl. im Überblick auch das Heft von „Der Bürger
im Staat“ 4/2011). Der Terminus „De-)Radikalisierung“ erhält auch im neuen Bundes-
programm „Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Men-
schenfeindlichkeit“ einen prominenten Stellenwert. Fast will es scheinen, als würde er
‚hinterrücks’ den undifferenzierten „Extremismus“-Begriff in neuem Gewande erneut
einführen (wollen).
136 Kurt Möller

Als Begriffsalternative bringen sich des Weiteren aktuell und teils schon seit
längerem vor allem der „Rassismus“-Begriff und die Bezeichnung „Neonazismus“
ins Gespräch.4
Forscherinnen und Forscher, die den „Rassismus“-Begriff bevorzugen, argu-
mentieren, dass er eher in der Lage ist, die Gesamtheit jener Phänomene und Di-
mensionen zu erfassen, die ihres Erachtens das damit bezeichnete Problemfeld
real aufweist (vgl. dazu z. B. Kapalka & Räthzel, 1994; Rommelspacher, 1995; Me-
cheril u. a., 2010). Mit dem „Rechtsextremismus“-Begriff werde die weit über ex-
tremistische Kreise hinausreichende, „unsere ganze Lebensweise“ prägende „Do-
minanzkultur“ der Verwendung von „Kategorien der Über- und Unterordnung“
(Rommelspacher, 1995, S. 22) ausgeblendet. Vielfach angeregt durch Arbeiten
von marxistisch orientierten Denkern wie Balibar (1990), Hall (1994) und Miles
(1991) und mit Verweis auf seine Verwendung im französischsprachigen sowie
angelsächsischen Raum wird deshalb als übergeordneter Begriff für den Terminus
des („strukturellen“; Rommelspacher, 1995 und/oder auch „kulturellen“; Balibar,
1990) „Rassismus“ (franz.: „racisme“; engl.: „racism“) plädiert. „Rassismus(kri-
tische)“-Forschung hat aus dieser Sicht gesellschaftliche Praxen zum Untersu-
chungsgegenstand zu machen, die erkennbare Differenzen zwischen Menschen
über Abstammungsmerkmale und kulturell-territoriale Zugehörigkeiten konst-
ruieren, den so entstehenden Konstruktionen einheitliche und stabile mentalitäre
Eigenschaften zuschreiben, in dieser Weise über Prozesse des „othering“ (Said,
1995) eine(n) „Andere(n)“ produzieren und ihm/ihr als negativ betrachtete Eigen-
schaften bzw. Nicht-Zugehörigkeit zuordnen. Rassismuskritische Praxis gilt dem-
gemäß als gesellschaftliche, politische und „pädagogische Querschnittsaufgabe“
(Mecheril u. a., 2010, S. 168), nicht allein als Herausforderung für den Umgang mit
politisch Randständigen.
Entgegengehalten wird dem „Rassismus“-Begriff in dieser Fassung und For-
matierung nicht nur Moralismus, Essentialismus und Reduktionismus (vgl. dazu
selbstkritisch Mecheril u. a., 2010, S. 170ff.), sondern vor allem auch eine uferlose,
zumindest aber kaum noch zu operationalisierende Ausweitung der mit dem Be-
griff belegten Erscheinungen und ihrer Hintergründe.
Erheblich kleinformatiger nimmt sich der „Neonazismus“-Begriff aus. Mit
ihm werden neben Verharmlosungs- und Verherrlichungstendenzen des Natio-

4 Der Vorschlag, statt von „Rechtsextremismus“ von der „extremen Rechten“ zu


sprechen, weicht weder terminologisch noch inhaltlich stark vom klassischen
„Rechtsextremismus“-Begriff ab, auch wenn er inhaltlich argumentiert, indem er die
Rechte als krassen Widerpart der Durchsetzung der Ideale von Freiheit und Gleichheit
betrachtet (vgl. Hüttmann, 2011).
Rechtsextremismus und pauschalisierende Ablehnungen 137

nalsozialismus Ideologien der Ungleichwertigkeit, das Ziel der Errichtung einer


‚deutschen Volksgemeinschaft’ und diesem Ziel dienende Organisationen umfasst
(vgl. z. B. Kausch & Wiedemann, 2011). In diesem Zuschnitt wird mit ihm freilich
eine Differenzierung fallengelassen, die der (wissenschaftlich benutzte wie auch
behördlich-ofÀzielle, etwa vom Verfassungsschutz gebrauchte) „Rechtsextremis-
mus“-Begriff beinhaltet, wenn er neonazistische Bestrebungen dieser inhaltlichen
Ausrichtung als Sonderform rechtsextremen Denkens und Verhaltens auffasst.
Rechtsextremismusforschung nimmt, auch wenn sie sich der Konsens-Formel
verpÁichtet sieht, aus gegebenem Anlass (aktuelle Stichworte: Flüchtlingszuwan-
derung, Pegida) zunehmend auch weitere Aspekte der Ablehnung von Minderhei-
ten bzw. relativ machtloser Gruppierungen in den Blick wie etwa Islamfeindschaft,
Asylbewerberabwertung und Antiziganismus (vgl. z. B. Decker, Kiess & Brähler,
2014). Noch weiter stellt die Forschung zur sog. „Gruppenbezogenen Menschen-
feindlichkeit“ (GMF) ihren Fokus ein, wenn sie gegenwärtig 12 Facetten dieses
„Syndroms“ untersucht und als deren verbindenden „Kern“ die „Ideologie der
Ungleichwertigkeit“ ausmacht (vgl. v. a. Heitmeyer, 2002-2012; Zick, Küpper &
Hövermann, 2011; Mansel & Spaiser, 2013; Zick & Klein, 2014):

• Rassismus (im Sinne der o. g. engen Rassismus-DeÀnition),


• Fremdenfeindlichkeit,
• Antisemitismus,
• Antiziganismus,
• Islamfeindlichkeit,
• Sexismus,
• Reklamation von Etabliertenvorrechten,
• Abwertung von Menschen mit homosexueller Orientierung,
• Abwertung von wohnungslosen Menschen,
• Abwertung von behinderten Menschen,
• Abwertung von Langzeitarbeitslosen,
• Abwertung von Asylsuchenden.

Diese als relativ stabil verstandenen und zugleich negativ wertenden „feindseli-
gen“ „Einstellungen“ werden innerhalb der GMF-Forschung auch als stark affek-
tiv verankerte „Vorurteile“ verstanden, die die fälschliche Übertragung von wahr-
genommenen bzw. unterstellten Gruppeneigenschaften auf Individuen und eine
damit verbundene generelle Tendenz zur Abwertung eint (vgl. z. B. Klein, 2014;
Zick, Küpper & Heitmeyer, 2011).
138 Kurt Möller

Das begrifÁiche GMF-Konzept wirft allerdings eine Reihe von Fragen auf. Zu
den wichtigsten gehören die folgenden drei (zur detaillierteren Kritik vgl. Möller
u. a., 2015):

• Existieren die „Gruppen“, die als Adressaten der „Feindseligkeiten“ gelten, tat-
sächlich als soziale Einheiten mit essentieller Substanz oder werden sie nicht
vielmehr erst durch Prozesse der Konstruktion zu solchen erklärt? Müssten also
nicht einmal zunächst die Prozesse der Gruppierung, also der Herstellung von
Vorstellungen über bestimmte soziale Gebilde analysiert werden? Gibt es denn
die Homosexuellen oder die Muslime als jeweilige Gruppen überhaupt? Oder
sind sie nicht vielmehr Resultate von gruppierenden Konstruktionsleistungen,
in die bereits vorhandene, nicht zuletzt schon von Ablehnungen geprägte Vor-
stellungen eingehen?
• Sind es immer unmittelbar Menschen, die abgelehnt werden? Sind es nicht
auch abstraktere Zusammenhänge, etwa Religionen wie der Islam oder Weltan-
schauungen insgesamt, oder auch Lebenspraxen, etwa von Wohnungslosen, die
Gegenstand der Ablehnung werden?
• Können zentral gesetzte Begriffe wie „Feindlichkeit“ und „Abwertung“ über-
haupt hinreichend das Spektrum von Ablehnungen erfassen, das in negativen
Generalisierungen zum Ausdruck gelangt? Was ist z. B. mit Forderungen nach
Ungleichbehandlung bestimmter Gruppierungen, die sich von Ungleichwertig-
keitsunterstellungen absetzen (Etwa: „Ich habe nichts gegen Flüchtlinge. Sie
sind Menschen wie wir. Sie sollen nur nicht in meiner Wohngegend unterge-
bracht werden.“)?

Vor dem Hintergrund solcher Fragen entsteht die Herausforderung, zunächst ein-
mal die unterschiedlichen Ausdrucksformen von solchen Ablehnungen differen-
ziert zu erfassen, die auf Pauschalisierungen beruhen und eben sie auf Prozesse
ihrer biograÀschen Konstruktion sowie deren Kontextuierung zu untersuchen. Es
stellt sich mithin die zentrale Frage: Wie ist das Entstehen und die Entwicklung
(ggf. auch – was hier allerdings nicht das Thema ist – die Distanzierung) von pau-
schalisierenden Ablehnungskonstruktionen (PAKOs) zu erklären?
Doch verschaffen wir uns zunächst einen Überblick über das Ausmaß und zen-
trale Entwicklungen von Rechtsextremismus und darüber hinausgehenden Ableh-
nungsfacetten selbst.
Rechtsextremismus und pauschalisierende Ablehnungen 139

2 Entwicklungen und neue Herausforderungen


durch Rechtsextremismus und weitere Ablehnungs-
haltungen

Die Ausmaße und wichtigsten Entwicklungen des Rechtsextremismus in Deutsch-


land lassen sich unter Berücksichtigung von vier Dimensionen für die hier verfolg-
ten Zwecke hinreichend differenziert erfassen. Es handelt sich um das Wahlver-
halten (1), das rechtsextremistische Personenpotenzial (2), die Zahl der Straf- und
Gewalttaten (3) sowie rechtsextreme Einstellungsaspekte (4).
Hinsichtlich des Wahlverhaltens (1) weisen die Daten des statistischen Bundes-
amtes den Zuspruch zu rechtsextremen Parteien seit Bestehen der Bundesrepublik
Deutschland wie folgt aus:

Abbildung 1 Wahlergebnisse rechtsextremistischer Parteien (DRP, SRP, NPD, DVU,


REP, Pro deutschland) bei Landtags-, Bundestags- und Europawahlen zwi-
schen 1949 und 2014 (kumulierte Ergebnisse über 3%), eigene Darstellung.

Bemerkenswert sind im Zusammenhang dieser Daten zunächst vorrangig drei Punkte:


Zum Ersten zeigt sich, dass Rechtsextremismus seit 1949 ein andauerndes Pro-
blem darstellt. Zum Zweiten hat dieses Problem erkennbar unterschiedliche Kon-
junkturen durchlaufen. Zum Dritten dokumentieren die Diagramm-Balken eine
deutliche Verdichtung der Problematik bei gleichzeitiger Konsolidierung und mit
besonders hohen Ausschlägen in den letzten 25 Jahren.
140 Kurt Möller

Eine etwas genauere Wähleranalyse lässt zudem erkennen, dass es – anders


als zu Zeiten der Gründung der Republik und auch noch in der zweiten Hälfte der
1960er Jahre – längst nicht mehr die sog. „Ewiggestrigen“ sind, die die Proble-
matik tragen. Stärkste Wählergruppierung der extremen Rechten sind inzwischen
vielmehr junge Leute – größtenteils solche, die nicht mehr im Nationalsozialis-
mus, aber auch nicht mehr zu Zeiten der Existenz der DDR politisch sozialisiert
worden sind. Zwei Drittel von ihnen sind männlich. Die Dimension der Problema-
tik und ihre Folgen für die Zukunft der repräsentativen Demokratie werden vor
allem deutlich, wenn man erkennt: Hätten z. B. bei den letzten Landtagswahlen in
Ostdeutschland nur die jungen Männer zwischen 18 und 24 Jahren wählen dürfen,
hätte die NPD überall etwa den drei- bis vierfachen prozentualen Stimmerfolg
einfahren können und dort vielfach deutlich den (z. T. knapp verpassten) Einzug in
die Landtage geschafft.
Wer rechtsextrem wählt, muss nicht unbedingt in rechtsextreme Kreise invol-
viert sein oder rechtsextrem konturierte Kriminalität begangen haben. Obwohl
aus wissenschaftlicher Sicht zu Recht erhebliche methodische Bedenken gegen die
Datenerhebungsmethoden polizeilicher Stellen und gegen die Rechercheweisen
des Verfassungsschutzes und damit auch ihre Resultate geltend gemacht werden
können, ist in Ermangelung vergleichbarer (Langzeit-)Studien mit wissenschaftli-
chen Standards hier in Hinsicht auf das rechtsextreme Personenpotenzial und das
Aufkommen an Straf- und Gewalttaten, die als Verdachtsfälle von extrem rechter
Kriminalität berichtet werden, Folgendes festzuhalten:
Das rechtsextreme Personenpotenzial (2) nimmt nach einem vorübergehenden
Anstieg auf einen Höchstwert im Jahre 1993, einer folgenden leichten Abschwä-
chung und einem Wiederanstieg bis 1998 kontinuierlich ab (vgl. Abbildung 2). Re-
lativ besonders stark trifft der Abschwung die rechtsextremen Parteien. Zugleich
kommen jedoch zunehmend neue Organisationsformen auf: szeneförmige Zusam-
menschlüsse von Neonazis und (subkulturell) Gewaltbereiten, etwa in Gestalt von
sog. „freien Kameradschaften“ oder „autonomen Nationalisten“. Zusammen mit
der in den letzten Jahren beobachtbaren Bündelung parteigebundener bzw. partei-
naher Kräfte in der NPD sind sie für eine qualitative Verschiebung im rechtsext-
remen Personen- und Organisationsspektrum verantwortlich zu machen, die Ba-
gatellisierungs- und Entdramatisierungseinschätzungen, die auf den quantitativen
Niedergang des rechtsextremen Personen- und Organisationspotenzials verweisen,
entgegensteht: die Zunahme von Gewaltbereitschaft, die sich nicht allein an ver-
einzelten Aktionen und Straftaten, etwa bei der Mordserie des sog. „Nationalso-
zialistischen Untergrunds“ zeigt. Vielmehr wird sie inzwischen bei rund 45% der
extrem Rechten festgestellt. Der Löwenanteil (rund 75%-90%, je nach Szene bzw.
Organisation und Funktionsniveau unterschiedlich) des rechtsextremen Personen-
Rechtsextremismus und pauschalisierende Ablehnungen 141

potenzials, mehr noch seines gewaltbereiten Teils (rund 90%), ist männlich. Etwa
drei Viertel des Letzteren sind im Alter unter Mitte 20.

Abbildung 2 Rechtsextremistisches Personenpotenzial und rechtsextreme Organisa-


tionsformen 1985 – 2013, eigene Darstellung.

Werfen wir einen Blick auf die Entwicklung der Zahlen derjenigen, die diese Be-
reitschaften bereits in Taten umgesetzt haben oder in anderer Weise rechtsextrem
straffällig wurden (3), so ist zu registrieren (vgl. Abbildung 3), dass, entgegen der
in der Öffentlichkeit weit verbreiteten Ansicht, extrem rechte Kriminalität habe
ihren Zenit in den Jahren der Ereignisse von Mölln, Rostock-Lichtenhagen und
Solingen, also 1992/93, erreicht, erst danach bis weit hinein in die 2000er Jahre
weitere Gipfelpunkte erreicht wurden. Festzustellen ist für die letzten 10 Jahre
eine Stabilisierung auf einem Niveau von rechtsextremen Straftaten, das zwischen
15.000 und 20.000 Taten jährlich pendelt.
Die Zahlen der Gewalttaten hingegen entwickeln sich so, wie zumeist ange-
nommen wird: Sie haben ihren Höhepunkt 1993 erreicht. Im Laufe der 1990er
Jahre bis heute haben sie sich allerdings auf einem Niveau stabilisiert, das um etwa
das Vierfache (bei den rechtsextremen Straftaten insgesamt ist es das rund 10-fa-
che) die Anzahl entsprechender Taten in der zweiten Hälfte der 80er Jahre in der
BRD übertrifft (bei einem Bevölkerungszuwachs um etwa ¼ durch die Vereini-
gung 1990). Allein über 180 Mordopfer – und damit ein Vielfaches der Mordzah-
len des linken Terrorismus der RAF und seiner Nachfolgeorganisationen – haben
142 Kurt Möller

rechtsextreme Täter seitdem nach einer Zählung der Amadeu-Antonio-Stiftung zu


verantworten (vgl. http://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/chronik-der-ge-
walt/todesopfer-rechtsextremer-und-rassistischer-gewalt-seit-1990/). Ganz aktuell
ist ein erheblicher Anstieg der Übergriffe speziell auf Asylsuchende zu registrie-
ren: 150 Übergriffe in 2014 sind dreimal so viele wie 2013 und sechsmal so viele
wie in 2012 (vgl. BDrs. 18/3964). Auch bei den Tätern fallen Merkmalsballun-
gen auf, die sich zugespitzt formuliert mit den Adjektiven skizzieren lassen: jung,
männlich, eher ungebildet. GeograÀsch betrachtet sind die östlichen Bundesländer
überproportional belastet.

Abbildung 3 Rechtsextreme Straf- und Gewalttaten 1985 – 2013, eigene Darstellung.

Zahlen über Wahlerfolge, Personenzusammenschlüsse und Straf- und Gewalt-


taten rechtsextremer C ouleur vermögen allerdings nicht das abzubilden, was an
rechtsextrem konturiertem Alltagsverhalten praktiziert wird. Hierzu liegen Daten
in Bezug auf Jugendliche vor. Nach einer großen Studie mit insgesamt über 20.000
deutschen 15- bis 16-Jährigen (Baier u. a., 2009) zeigt z. B. mehr als ein Viertel der
Neuntklässler nach eigenem Bekunden rechtsextremes Verhalten; während etwa
nur ein Zehntel von ihnen als rechtsextreme Straftäter auffällt und ca. ein wei-
teres Zehntel Gewalt anwendet, ohne bereits gerichtsauffällig geworden zu sein,
drücken die anderen doch immerhin ihre Sympathie für rechtsextreme Positionen
durch gewaltverherrlichendes Verhalten – menschenverachtende Ausdrücke, Sym-
Rechtsextremismus und pauschalisierende Ablehnungen 143

bolverwendungen (z. B. Aufnäher) und Konsum von einschlägigen Musikstücken –


aus; Jungen sind dabei um ein Vielfaches mehr belastet als gleichaltrige Mädchen.
Den zeitlich umfassendsten Überblick über das Ausmaß und die Entwicklung
rechtsextremer Einstellungen vermag aktuell die repräsentative Leipziger Zeit-
reihen-Studie zu liefern. Sie registriert für 2014 die folgenden Zustimmungen zu
Rechtsextremismus-Facetten bei ab 14-Jährigen:

Tabelle 1 Elemente rechtsextremer Einstellung in Deutschland 2014 (in %). (Quelle: De-
cker, Kiess & Brähler, 2014, S. 38)

Gesamt Ost West


(N=503) (N=1.929)
Befürwortung Diktatur** 3,6 5,6 3,1
Chauvinismus** 13,6 15,8 13
Ausländerfeindlichkeit 18,1 22,4 17
Antisemitismus 5,1 4,5 5,2
Sozialdarwinismus* 2,9 4,6 2,5
Verharmlosung Nationalsozialismus 2,2 1,2 2,5
SigniÀkante Unterschiede nach Pearson: *< .05; **p< .01

Der Vergleich der Daten über einen Zeitraum von mehr als einem Jahrzehnt hin-
weg zeigt insgesamt einen Rückgang der Zustimmungswerte.

18,0
15,8
16,0

14,0

12,0 11,3
10,1 10,5
Anteil in %

10,0 9,1 7,9 9,0


9,7 8,2
9,8 7,6
8,0 8,6 7,4
8,1 8,3 5,6
6,0 7,5 7,6 7,3
6,6
4,0 5,2

2,0

0,0
2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014
Gesamt Ost West

Abbildung 4 Manifest rechtsextreme Einstellung im Zeitverlauf (Quelle: Decker, Kiess


& Brähler, 2014, S. 48)
144 Kurt Möller

Auch wenn manifest rechtsextreme Einstellungen aktuell im Rückgang beÀnd-


lich zu sein scheinen, verbleibt zum einen ein nicht unbedeutender Sockelsatz an
Menschen mit einem sog. geschlossenen rechtsextremen Weltbild, also mit Zu-
stimmungen zu allen der sechs Elemente von Rechtsextremismus, und zum an-
deren der Befund, wonach sich nach wie vor extrem rechte Einstellungsbestände
keineswegs nur bei den Sympathisantinnen und Sympathisanten rechtsextremer
und rechtspopulistischer Parteien Ànden, sondern auch bei den Anhängerinnen
und Anhängern der großen Volksparteien in etwa in dem Maße vertreten sind
wie es die in Tabelle 1 präsentierten Durchschnittswerte ausweisen. Zudem dürfte
fraglich sein, ob nicht gerade in jüngeren Generationen sich Effekte sozialer Er-
wünschtheit einstellen, wenn Befragungsstudien (wie z. B. auch die von Decker
u. a.) mit klassischen Items operieren wie beispielsweise „Der Nationalsozialismus
hatte auch seine guten Seiten“.
Nimmt man weitere GMF-Phänomene zusätzlich in den Blick, so zeigen sich
aktuell z. T. erhebliche Ablehnungsbestände innerhalb der west-, aber vor allem
innerhalb der ostdeutschen Bevölkerung (vgl. Tabelle 2).

Tabelle 2 Prozentuale Zustimmungen zu Facetten Gruppenbezogener Menschenfeind-


lichkeit in Deutschland 2014 (Quelle: Zick & Klein 2014, S. 73)

Gesamt Ost West


(n=1.915) (n=385) (n=1.483)

Abwertung langzeitarbeitsloser Menschen 47,8 55,4 46,3


Rassismus 8,7 11 8,1
Fremdenfeindlichkeit 20 26,9 18,2
Antisemitismus 8,5 11,6 7,8
Abwertung behinderter Menschen 4,1 4 4
Abwertung homosexueller Menschen 11,8 15,3 10,5
Abwertung wohnungsloser Menschen 18,7 22,9 17,1
Etabliertenvorrechte 38,1 41,6 37,6
Sexismus 10,8 10,2 10,9
Abwertung asylsuchender Menschen 44,3 52,8 42,2
Abwertung von Sinti und Roma 26,6 35,1 24,5
Islamfeindlichkeit 17,5 23,5 16

Zu denken gibt hier u. a. insbesondere, dass zum einen Ablehnungshaltungen wie


die in Tabelle 2 angeführten sich in erheblichem Ausmaß auch bei Personen Àn-
den, die sich selbst der politischen Mitte zurechnen und dass zum anderen jüngere
Menschen (16- bis 30-Jährige) in größerem Ausmaß antihomosexuelle, fremden-
Rechtsextremismus und pauschalisierende Ablehnungen 145

feindliche, islamfeindliche, rassistische und sexistische Haltungen besitzen als die


Gruppierung der 30- bis 60-Jährigen und noch stärker als die über 60-Jährigen
Langzeitarbeitslose ablehnen – offenbar aufgrund gerade bei ihnen stark ausge-
prägter ökonomistischer Einstellungen (vgl. Zick & Klein 2014, S. 75ff.). Hohe
Belastungen junger Menschen, speziell Jugendlicher von 15 bzw. 16 Jahren, stellt
auch die Studie von Baier u. a. (2009) fest: Danach sind bei über 40% von ihnen
ausländerfeindliche Einstellungen zu registrieren. Bei 12,7% dieser Gruppierung
Àndet sich außerdem Antisemitismus. Muslimfeindlichkeit weisen 37,7% auf.
Dabei sind die Jungen, vor allem unter den „sehr“ Ausländerfeindlichen und den
Personen mit antisemitischen Orientierungen doppelt so stark vertreten wie die
Mädchen (vgl. zum Komplex geschlechtsspeziÀscher Anfälligkeiten für und Aus-
prägungen von Rechtsextremismus zusammenfassend und im Überblick die Sam-
melbände von Birsl, 2011 und Claus u. a., 2010).
Alles in allem bleibt festzuhalten: Rechtsextremismus ist ein strukturelles und
kein konjunkturelles Problem. Das, was ihm auf entscheidende Weise Kontinuität
sichert, ist dabei weniger sein organisiertes Auftreten als seine Fortexistenz im
Bereich der Orientierungen – auch innerhalb der nachwachsenden Generation(en).
Die Orientierungen wiederum, also Einstellungen, Meinungen, Mentalitäten, poli-
tische Gestimmtheiten, einschlägig aufgeladene symbolische Repräsentationen
etc. scheinen sich in bestimmten Segmenten zu popularisieren und zu normali-
sieren. Gesellschaftlich kursierende Deutungsmuster mit Facetten pauschalisie-
render Ablehnungen wie Islamfeindlichkeit, (Hetero-)Sexismus u. a. stellen dabei
offensichtliche zusätzliche Begünstigungsfaktoren – und auch für sich genommen
dringlich zu bearbeitende Herausforderungen – dar. Insofern wird ein Abbau von
un- und antidemokratischen Tendenzen dieser Couleur solange erfolglos bleiben,
wie die Attraktivität dieser Orientierungen für die sie tragenden Subjekte nicht
entschlüsselt und durch funktionale Äquivalente ersetzt werden kann (vgl. dazu
Möller in diesem Band).
146 Kurt Möller

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Ideologien der Ungleichwertigkeit
und Rechtsextremismus aus der Sicht
der Theorie eines identitätsstiftenden
politischen Fundamentalismus
Wolfgang Frindte und Daniel Geschke

1 Ausgangspunkte und ein neuer Problemraum

Betrachtet man die verschiedenen Ansätze, Rechtsextremismus begrifÁich zu


fassen, so lassen sich zumindest drei „Suchstrategien“ (Klix, 1971, S. 644ff.) im
Sinne einer komplexen Problemlösung unterscheiden: A) Dominant sind im Zeit-
raum 2001 bis 2013 vor allem Strategien, mit denen der Problem- oder Suchraum
eingeschränkt wurde. Zu diesen Strategien gehören jene Ansätze, in denen auf
der Grundlage der „KonsensdeÀnition“ ausgewählte Dimensionen rechtsextremer
Einstellungen untersucht werden (z. B. Decker, Kiess & Brähler, 2012). Das heißt,
auf die Einbeziehung der Gewaltdimension zur Bestimmung und empirischen
Untersuchung rechtsextremer Phänomene wurde dabei verzichtet. Auch die Ansät-
ze, in denen auf den Rassismus-Begriff insistiert wurde (z. B. Butterwegge, 2000),
haben letztlich den Problemraum eingeschränkt. Rassismus ist sicher ein wichti-
ges Merkmal von Rechtsextremismus, aber nicht das hinreichende. Das gilt auch
für die Überlegungen, die Hate-Crime-Forschung in die Rechtsextremismus-For-
schung zu integrieren. Hass und Wut spielen in rechtsextremen Ausschreitungen
häuÀg, aber nicht immer eine tragende Rolle. B) Mit einer Erweiterung des Prob-
lemraums arbeiten schließlich jene Wissenschaftler, die sich der „vergleichenden
Extremismusforschung“ verschrieben haben (z. B. Backes & Jesse, 1993) – mit den
entsprechenden und kritisierten Folgen. C) Eine völlige NeudeÀnierung des Pro-
blemraums versucht hingegen die soziologische Bewegungsforschung (Klärner &
Kohlstruck, 2006).

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
150 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke

Diese dritte Suchstrategie hat aber auch ihre Tücken: Die Grenzen eines mög-
lichen Problemraums, um dem Rechtsextremismus empirisch auf die Spur zu
kommen, sind diffus und nur schwer zu erkennen. Klärner und Kohlstruck (2006)
machen auf diese Tücke aufmerksam, wenn sie schreiben:

„Der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich diese politischen wie kulturellen
Aktivitäten (des politischen Rechtsextremismus; W.F., D.G.) bringen lassen, ist der
Wille und Wunsch nach einer speziÀschen Antimoderne in der Moderne“ (Klärner
& Kohlstruck, 2006, S. 32).

In einem interessanten Beitrag beschreibt Richard Münch (1994) die antimoder-


nen Bewegungen als jene Gruppierungen, die sich wehren „gegen die AuÁösung
traditioneller Lebenswelten und Glaubensbestände durch die umfassende Öko-
nomisierung, Politisierung und Rationalisierung (Säkularisierung) des moder-
nen Lebens“ (S. 30). Als Beispiele nennt Münch u. a. kleinbürgerliche Schichten
(z. B. Bewegungen des Handwerks, die sich gegen die Industrie wehren), Arbei-
terschichten (die sich für Arbeitsplatzgarantien einsetzen), industrielle Schichten
(die sich gegen die wachsende ausländische Konkurrenz richten), Bildungsschich-
ten (die gegen die Verdrängung der Hochkultur durch die Massenkultur kämpfen)
usw.
Sicher mögen diese und andere Schichten nicht gegen den EinÁuss rechtsex-
tremer Tendenzen gefeit sein. Die „Mitte-Studien“ belegen das (z. B. Decker et
al., 2012). Ob Teile dieser Schichten aufgrund der von Münch (1994) genannten
Motive per se als rechtsextrem zu bezeichnen sind, dürfte aber bezweifelt werden.
Kurz und gut: Die Differenz von Moderne und Antimoderne scheint zunächst
nicht sonderlich hilfreich zu sein, um den Problemraum zu markieren, innerhalb
dessen der Rechtsextremismus verortet werden kann. Allerdings sprechen Klärner
und Kohlstruck (2006, S. 32) vom „Wunsch nach einer speziÀschen Antimoder-
ne in der Moderne“ (Hervorhebung, W.F., D.G.), der den kleinsten gemeinsamen
Nenner bezeichnet, durch den sich die verschiedenen rechtsextremen Bewegungen
auszeichnen. Diese SpeziÀk müsste also genauer bestimmt werden, um vielleicht
doch noch einen hilfreichen Problemraum zur Bestimmung des Rechtsextremis-
mus aufspannen zu können.
Anregungen zu einer solchen SpeziÀzierung fanden wir bei Thomas Grum-
ke (2001. Grumke analysiert den Rechtsextremismus in den USA und stützt sich
dabei auch auf die zivilisationstheoretische Untersuchung fundamentalistischer
Bewegungen in der Moderne von Shmuel Eisenstadt (1998). Die Ideologie (Eisen-
stadt spricht von „antimoderne(r) Einstellung“; 1998, S. 84) der fundamentalisti-
schen Bewegungen ist „… nicht einfach nur eine Reaktion traditioneller Gruppen
Ideologien der Ungleichwertigkeit und Rechtsextremismus … 151

auf die Verführung durch neue Lebensstile, sondern eine militante Ideologie, die
grundlegend in eine hochmoderne Struktur eingebunden ist“.
Auch hier spielt also der Widerspruch zwischen Moderne und Antimoderne
eine Rolle. „Die Grundideologie des Fundamentalismus“, so Eisenstadt (1998,
S.77), „ist antimodern, stellt eine Negation der Grundsätze der Moderne als Kultur
dar, jedoch nicht notwendigerweise ihrer technologischen und organisatorischen
Aspekte“. Eisenstadt illustriert diese Dialektik zwar überwiegend an Beispielen
des religiösen Fundamentalismus (im Islam, dem Judentum), verweist aber auch
auf Parallelen zwischen diesen Fundamentalismen und kommunistischen bzw. to-
talitären Regimes (z. B. Eisenstadt, 1998, S. 82f.). Die damit quasi angedeutete
Brücke zu politisch-fundamentalistischen Strömungen und Bewegungen könnte –
im Sinne der o. g. NeudeÀnierung des Problemraums – durchaus hilfreich sein,
einen neuen und differenzierten Blick auf den Rechtsextremismus zu werfen. Mit
der im Folgenden vorgestellten Theorie und den sich anschließenden drei empiri-
schen Sekundärstudien soll ein solcher Blick versucht werden.

2 Postulate einer Theorie eines identitätsstiftenden


politischen bzw. religiösen Fundamentalismus (TIF)

2.1 Absichten

Vorgestellt wird im Folgenden eine sozialpsychologische Theorie, mit der eine


neue und u. U. erweiterte empirische Perspektive auf rechtsextreme Tendenzen
verbunden ist. Mit dieser Theorie wird allerdings nicht der Anspruch erhoben,
generelle und über die sozialwissenschaftlichen Grenzen hinausgehende Erklä-
rungen des Rechtsextremismus Ànden zu wollen. Interdisziplinäre Anknüpfungs-
punkte und Anschlüsse sind indes erwünscht und angestrebt. Abbildung 1 illust-
riert die Grundstruktur der Theorie, die im Folgenden erklärt wird.
152 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke

Potentielle Potentielle
P rädiktoren Potentielle Kriterien
Mediatoren

Makro-soziale
Makro-soziale G ewaltbereitschaft,-
Bedingungen für
B edingungen für akzeptanz- und
recht sextreme
recht sextre me handeln
T endenzen
T endenzen

Soziale bzw.
Meso- soziale
Kollektive Identität Fundamentalistische
Bedingungen für
als Identifikation mit Ideologien der
recht sextreme
relevanten Ungleichwertigkeit
T endenzen
Bezugsgruppen

Mikro-soziale
Negative
Bedingungen für
Intergruppen-
recht sextreme
Emotionen
T endenzen

Abbildung 1 Grundstruktur der Theorie eines identitätsstiftenden politischen bzw. reli-


giösen Fundamentalismus (TIF).

2.2 Das Explanandum: Rechtsextremismus

Die potentiellen Kriterien des Problemraums, also die zu erklärenden Variablen,


bilden rechtsextreme Tendenzen. Damit sind fundamentalistische Ideologien (der
Ungleichwertigkeit) in Verbindung mit Gewaltpotentialen und negativen Gruppen-
emotionen gemeint.

Ad 1.

Rechtsextremismus ist eine Ideologie


Ideologien werden nach wie vor produziert und konstruiert. Ihre Lebendig-
keit verdanken sie der aktuellen Relevanz des Globalen und dem vielstimmi-
gen Reden über die Globalisierung. Ideologien im nachideologischen Zeitalter
weisen zumindest folgende Merkmale auf: Sie sind gruppenspeziÀsche soziale
Bezugssysteme, um Vergangenes zu analysieren, Diagnosen über Gegenwärti-
ges zu formulieren und Prognosen über Zukünftiges zu entwerfen. Ideologien
stellen somit Konstruktionen bereit, um die Unvorhersagbarkeit von Welt zu
reduzieren.
Ideologien der Ungleichwertigkeit und Rechtsextremismus … 153

Ideologien eignen sich offenbar als „Feste Punkte“, als übergreifende Bezugs-
systeme zur Orientierung in einer komplexen Welt (vgl. auch Jost, 2006). Auch
der Rechtsextremismus scheint in diesem Sinne geeignet zu sein, als übergrei-
fendes und gruppenspeziÀsches Bezugssystem zur Orientierung in einer kom-
plexen Welt zu fungieren.

Ad 2.

Rechtsextremismus ist eine fundamentalistische Ideologie


Ideologien wirken in den jeweiligen Gruppierungen und Gemeinschaften als
Facetten des kulturellen Systems. Diverse Gruppierungen und Gemeinschaften
gehen hausieren mit ihren Ideologien, die dem gemeinschaftsinternen Konsens
und/oder den Vorstellungen ihrer Wortführer entsprechend als normative Leit-
linien von Welt- und Lebensbegründungen zu gelten haben. In diesem Sinne
versuchen Gruppierungen und Gemeinschaften u. U., konkurrierende Ideolo-
gien zu unterdrücken und/oder aus dem gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu
vertreiben, um an deren Stelle ihre eigenen Welt- und Lebensbegründungen zu
etablieren.
Aus dieser Perspektive macht es durchaus Sinn vom „falschen Bewusstsein“
(Marx & Engels, MEW, Band 39, S. 97)1 zu sprechen, das durch Ideologie kons-
truiert wird. Falsches Bewusstsein spiegelt eine Ideologie dann wider, wenn
eine soziale Gemeinschaft a) die eigenen Leitideen oder Ideologien für allge-
mein gültig auch für andere, oder alle anderen sozialen Gemeinschaften er-
klärt, b) die Leitideen oder Ideologien anderer Gemeinschaften abwertet und c)
unter Umständen zu bekämpfen versucht. Dann wird Ideologie zum politischen
Fundamentalismus.
Rechtsextremismus ist eine fundamentalistische Ideologie im mehrfachen Sin-
ne: a) Rechtsextremismus richtet sich gegen die „Fundamente“, „die den Kern
der Moderne ausmachen und in den universellen Grundrechten ihren Ausdruck
Ànden“ (Meyer, 2011, S. 28). b) Rechtsextremismus tritt mit dem Anspruch auf,
die eigene Ideologie für allgemein gültig zu erklären. c) Diejenigen Gemein-
schaften, die sich nicht der rechtsextremen Ideologie unterordnen und die nicht

1 Fälschlicher Weise wird häufig angenommen, die Aussage von der Ideologie als „fal-
sches Bewusstsein“ sei von Marx und Engels bereits in der „Deutschen Ideologie“
(MEW, Bd. 3) getroffen worden. Tatsächlich taucht die Aussage vom „falschen Be-
wusstsein“ aber erst in einem Brief auf, den Engels am 14. Juli 1893 an Franz Mehring
geschrieben hat.
154 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke

den rechtsextremen Norm- und Wertvorstellungen entsprechen, werden abge-


wertet, diskriminiert und u. U. mit Gewalt bekämpft.

Ad 3.

Rechtsextremismus ist eine militante Ideologie


Die militante fundamentalistische Ideologie des Rechtsextremismus dient – eben-
so wie andere Fundamentalismen – als grundlegendes Bezugssystem, mit dem
sich die Anhänger identiÀzieren (im Sinne der sozialen Identität; Tajfel & Turner,
1986) und als soziale Bewegung (Rucht, 2002) bzw. soziale Milieus organisieren.
Über den Zusammenhang zwischen rechtsextremer fundamentalistischer Ideo-
logie (operationalisiert im Sinne der Ideologie der Ungleichwertigkeit, nach
Heitmeyer und Kollegen, Heitmeyer et al., 1992) und der Gewaltdimension gibt
es in der Literatur nach wie vor unterschiedliche Auffassungen und empirische
Befunde (z. B. Fischer, 2006; Fuchs, 2003; Giddens, 1997). Möglicherweise –
so ist auf der Basis bisheriger Studien zu vermuten – wirken rechtsextreme fun-
damentalistische Ideologien im Sinne der Ideologien der Ungleichwertigkeit
einerseits als Legitimationsinstanzen für Gewalttendenzen; andererseits entfal-
ten sie ihre Wirkung vor allem dann, wenn sie funktional für die IdentiÀkation
mit relevanten Bezugsgruppen sind.

Ad 4.

Rechtsextremismus ist eine fundamentalistische und militante Ideologie und


legitimierendes Bezugssystem für Gruppenemotionen
Dass rechtsextreme Aktionen, Tendenzen und Ideologien auf der Seite der Ak-
teure mit starken Emotionen verknüpft sein können, lässt sich nicht bezweifeln
(Frindte & Neumann, 2002; Möller & Schuhmacher, 2007; Willems, Eckert,
Würtz & Steinmetz, 1993; u. v. a.). Auch die „Hate-C rime“-Forschung macht
auf die Verknüpfung von rechtsextremen GewaltafÀnitäten und emotionale Be-
teiligung aufmerksam (vgl. z. B. Disha, Cavendish & King, 2011).
Frindte und Neumann (2002) fanden in ihren Interviews mit fremdenfeindli-
chen Gewalttätern Hinweise, dass die Gewalttaten der Interviewten von starken
Emotionen begleitet werden. Quantitativ überwiegen in den Schilderungen der
Interviewten eher negative Emotionen (57 %), während ein Viertel der Befrag-
ten eher positive Emotionen berichteten. Auch in der Benennung von Einzel-
emotionen steht Hass an erster Stelle. In der Rangreihe folgen nach Spaß und
Glück Wut, Ärger und Angst. Auffällig ist auch ein signiÀkanter Unterschied
zwischen ost- und westdeutschen Tätern. In neun von zehn westdeutschen Ta-
Ideologien der Ungleichwertigkeit und Rechtsextremismus … 155

ten lassen sich Aussagen negativer Emotionen Ànden, aber nur in weniger als
der Hälfte der ostdeutschen Fälle. Knapp 30 % der ostdeutschen Täter äußern
dagegen einen mit der Tat verbundenen positiven Affekt, während dies nur je-
der zehnte Westdeutsche beschreibt.
Wenn Emotionen Begleiterscheinungen rechtsextremer Aktionen und rechts-
extremer Ideologien sind und solche Aktionen und Ideologien in der Regel
durch Gruppen oder Gemeinschaften ausgeübt bzw. vertreten werden, so ist
zu vermuten, dass die beteiligten Akteure sich mit diesen Gruppenaktionen
und -ideologien identiÀzieren. Smith (1993) hat darauf aufmerksam gemacht,
dass unter solchen oder ähnlichen Umständen die Akteure weitgehend ähnliche
Emotionen („social emotions“ oder Intergruppengefühle) teilen. Intergruppen-
gefühle sind Emotionen, die in Intergruppenkontexten ausgelöst, von den Mit-
gliedern einer Ingroup geteilt und gegenüber den Mitgliedern einer Fremdgrup-
pe geäußert werden. Dazu gehören nach Smith (1993, S. 306) sowohl mildere
Gefühle, wie Furcht und Ekel, als auch starke negative Gefühle, wie Verach-
tung, Neid, Wut oder Hass.

Zwischenfazit:
In der Konsequenz von Ad 1 bis Ad 4 wird Rechtsextremismus als Triple-Phäno-
men (Dreikomponenten-Ansatz) konzipiert: als fundamentalistische Ideologie (der
Ungleichwertigkeit), durch die Gewaltpotentiale (Gewaltakzeptanz, -bereitschaft
und -handeln) und negative Gruppenemotionen legitimiert werden können.

2.3 Makro-Meso-Mikro-Prädiktoren

Wird Rechtsextremismus als fundamentalistische Ideologie mit Gewaltpotential


und verknüpften negativen Intergruppenemotionen begriffen, so bieten die in den
letzten 25 Jahren durchgeführten empirischen Studien zum Rechtsextremismus und
zum Fundamentalismus2 sowie die Hate-Crime-Forschung profunde Hinweise auf
mögliche Prädiktoren rechtsextremer Tendenzen. Dabei handelt es sich nicht nur
um individuelle Ursachen bzw. Prädiktoren, sondern, wie Miles Hewstone (2004)
in einem Vortrag im Wissenschaftszentrum für Sozialforschung feststellte:

2 McCleary und Kollegen (2011) analysierten 28 Studien, in denen psychologische Va-


riablen und deren Zusammenhänge mit fundamentalistischen Einstellungen unter-
sucht wurden. Besonders starke signifikante Zusammenhänge zeigten sich dabei mit
Autoritarismus, Ethnozentrismus, Militarismus und generellen Vorurteilen gegenüber
Homosexuellen. Die Parallelen zum Rechtsextremismus sind also auffallend.
156 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke

„Die Hauptursachen von Vorurteilen und Diskriminierung gegenüber Zuwanderern


scheinen wirtschaftliche Probleme bei einem gleichzeitigen Anstieg der Zuwande-
rerzahlen sowie Verhaltensweisen von Angehörigen politischer Eliten, die Minder-
heiten zu Sündenböcken machen, zu sein. Um diesen Zusammenhang noch näher zu
erforschen, bedarf es einer Analyse, in die Erkenntnisse aus den Wirtschafts- und
Politikwissenschaften, der Soziologie und der Sozialpsychologie einÁießen müssen“
(Hewstone, 2004, S. 8).

Eine solch interdisziplinäre Analyse, wie sie von Hewstone gefordert wird, kann
und soll an dieser Stelle nicht geleistet werden. Die sozialpsychologische Perspek-
tive, die mit der angestrebten Theorie eines identitätsstiftenden politischen bzw.
religiösen Fundamentalismus (TIF) eingenommen wird, schließt den EinÁuss
wirtschaftlicher, politischer und allgemeiner Faktoren auf rechtsextreme Tenden-
zen zwar nicht aus, betrachtet deren Wirkung aber (entsprechend dem methodo-
logischen Individualismus der Sozialpsychologie) als Folge individueller und/oder
gruppenspeziÀscher Wahrnehmungen, Bewertungen und Attributionen.
Für die Analyse dieser Prädiktoren wurde das an Pettigrews (1996) angelehnte
Mehrebenen-Konzept bereits eingeführt (siehe den Beitrag von Frindte et al. in
diesem Band), welches wir nun beispielhaft – und ohne Anspruch auf Vollständig-
keit – mit theoretischen Konzepten und empirischen Befunden unterlegen:
Ad 1. Auf Prädiktoren, die auf einer Makroebene angesiedelt sind, verweisen
die Befunde, in denen ökonomische und politische Kontextbedingungen als rele-
vante EinÁussfaktoren identiÀziert wurden (z. B. Vereinzelungs-, Ohnmachts- und
Handlungsunsicherheitserfahrungen in Folge individueller bzw. gruppenspeziÀ-
scher Desintegrationserscheinungen, z. B. Heitmeyer et al., 1992; Decker et al.,
2012) oder „Medien“ in ihrer Funktion als „Interpretationsrahmen“ oder „diskur-
sive Gelegenheitsstrukturen“ eine gewichtige Rolle spielen (z. B. Klärner, 2008;
Frindte & Haußecker, 2010).
Ad 2. Auf einer Mesoebene lassen sich jene sozialpsychologischen und soziolo-
gischen Prädiktoren verorten, die sich auf diverse SozialisationseinÁüsse beziehen
(z. B. HeÁer, Boehnke & Butz, 1999), das Agieren rechtsextremer Gruppierungen,
Milieus, Organisationen und Bewegungen und deren KonÁikte mit „gegnerischen“
Milieus etc. beschreiben (z. B. Möller & Schuhmacher, 2007), sich im Rahmen der
Bewegungsforschung als relevant zeigen (vgl. Grumke, 2013), bzw. im Allgemei-
nen auch als Bedingungen für Intergruppen-KonÁikte identiÀziert wurden (u. a.
die Integrated Threat Theory, Stephan & Stephan, 2000).
Ad 3. Auf der Mikroebene Ànden sich u. a. die psychologischen Prädiktoren,
die auf den EinÁuss von Selbstkonzept-Variablen (z. B. HeÁer & Boehnke, 1995),
auf die Rolle zentraler Wertorientierungen (z. B. Götz, 1997), auf „generalisierte
Ideologien der Ungleichwertigkeit und Rechtsextremismus … 157

Einstellungen“3 (wie Autoritarismus und Soziale Dominanzorientierung, vgl. z. B.


Duckitt & Sibley, 2010; Seipel, Rippl & Schmidt, 1995), auf die Verortung im
politischen Spektrum (Best et al., 2013) oder auf andere individuelle Prädiktoren
rechtsextremer Tendenzen verweisen.

2.4 Vermittlungsinstanzen oder Mediatoren

Ob und inwieweit die Prädiktoren fundamentalistische Ideologien (der Ungleich-


wertigkeit) beeinÁussen, hängt ganz entschieden davon ab, ob sich Personen mit
fundamentalistischen Gruppen, Gemeinschaften oder Bewegungen identiÀzieren
und mit diesen sozialen Gruppen, Gemeinschaften oder Bewegungen relevante
soziale Vorstellungen teilen.
Die damit angesprochenen sozialen Konstruktionen deÀniert Klandermans fol-
gendermaßen (2014):

„Social identity concerns the socially constructed cognitions of an individual about


his membership in one or more groups. Collective identity concerns cognitions
shared by members of a single group about the group of which they are a member”
(Klandermans, 2014, S. 3; Hervorh. Im Original).

Das heißt, wir haben es theoretisch zumindest mit zwei „Entitäten“, Beschaf-
fenheiten oder Konstruktionen zu tun, deren Differenzierung in der klassischen
Theorie der sozialen Identität (Tajfel & Turner, 1986) so explizit noch nicht vor-
genommen wurde, aber in neueren Arbeiten (vor allem im Kontext politischer Ak-
tionen und sozialer Bewegungen) eine wichtige Rolle spielt (z. B. Aroopala, 2012;
Klandermans, Sabucedo, Rodriguez & Weerd, 2002): a) die IdentiÀkation einer
Person mit relevanten sozialen Bezugsgruppen und b) die interindividuell mehr
oder weniger übereinstimmenden sozialen Konstruktionen der Mitglieder dieser
Bezugsgruppen. Die empirische Differenzierung beider Konstruktionen dürfte al-
lerdings – nicht zuletzt wegen den sehr unterschiedlichen Operationalisierungen –
nicht leicht sein (vgl. Ashmore, Deaux & McLaughlin-Volpe, 2004; Jackson &
Smith, 1999). Von diesen methodischen Schwierigkeiten und begrifÁichen Unter-
schieden sehen wir zunächst ab:

3 Autoritäre Überzeugungen und Soziale Dominanzorientierung werden in der sozial-


psychologischen Literatur in Anlehnung an Allport (1935) auch als generalisierte Ein-
stellungen (Six, 1996) oder als ideological beliefs bezeichnet (Jost, 2006).
158 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke

Ad 1. Unter sozialer Identität einer Person verstehen wir – im Sinne der Theorie
der sozialen Identität (SIT, Tajfel & Turner, 1986) – die Summe der IdentiÀka-
tionen mit bestimmten sozialen Kategorien (Gruppen, Gemeinschaften, Milieus
oder sozialen Bewegungen) und die mit diesen Kategorien assoziierten Werte und
Eigenschaften. Die soziale Identität einer Person konstituiert mit der personalen
Identität (die Summe der persönlichen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften)
das Selbstkonzept einer Person. IdentiÀkation mit sozialen Kategorien bedeutet
hier die subjektive Bedeutsamkeit diese Kategorien für die soziale Identität.
Ad 2. Entsprechend der SIT ist davon auszugehen, dass Menschen bestrebt sind,
eine positive soziale Identität zu erlangen. In Abhängigkeit vom sozialen Kontext
(und den Erfahrungen im Umgang mit den Kontextbedingungen) kann sich eine
Person mit unterschiedlichen sozialen Kategorien identiÀzieren und auf unter-
schiedlichen Abstraktionsniveaus selbst kategorisieren. Im Ergebnis der IdentiÀ-
zierungs- und Kategorisierungsprozesse wird eine positive Abgrenzung der Eigen-
gruppen (der relevanten Bezugsgruppen) zu relevanten Fremdgruppen angestrebt.
Die soziale Identität ist einerseits Ergebnis der Interaktion mit den sozialen Kon-
textbedingungen und fungiert andererseits als individuelles Bezugssystem, um
die soziale Umwelt (und die damit verbundenen Kontextbedingungen) danach zu
beurteilen und zu bewerten, inwieweit sie selbstwertdienlich oder selbstwertbeein-
trächtigend sind.
Ad 3. Die soziale Identität, die als Folge derartiger IdentiÀzierungs- und Ka-
tegorisierungsprozesse konstruiert wird, fungiert als Vermittler bzw. Mediator
zwischen den wahrgenommenen (selbstwertdienlichen bzw. selbstwertbeeinträch-
tigenden) Kontextbedingungen und den Bewertungs- und Handlungsstrategien im
Umgang mit diesen Kontextbedingungen (z. B. dann, wenn die Kontextbedingun-
gen die soziale Identität und somit auch das Selbstkonzept einer Person zu beein-
trächtigen bedrohen; vgl. auch Amiot, Terry & McKimmie, 2012).
Ad 4. Rechtsextremismus als fundamentalistische Ideologie (der Ungleichwer-
tigkeit), durch die Gewaltpotentiale (Gewaltakzeptanz, -bereitschaft und –handeln)
und negative Gruppenemotionen legitimiert werden können, betrachten wir in die-
sem Sinne als eine funktionale Ideologie. Funktional ist diese Ideologie deshalb,
weil sie (sozial geteilte) Bewertungs- und Handlungsstrategien im Umgang mit
den selbstwertdienlichen bzw. selbstwertbeeinträchtigenden Kontextbedingungen
nahelegt (die Prädiktoren auf makro-, meso- und mikrosozialer Ebene). Die sozia-
le Identität fungiert als Vermittler bzw. Mediator zwischen den wahrgenommenen
Kontextbedingungen und der fundamentalistischen Ideologie der Ungleichwertig-
keit, den Gewaltpotentialen und den Gruppenemotionen. Das heißt, welchen Ein-
Áuss die (in zahlreichen Studien nachgewiesenen) Prädiktoren auf die fundamen-
talistische Ideologie der Ungleichwertigkeit, die Gewaltpotentiale und negativen
Ideologien der Ungleichwertigkeit und Rechtsextremismus … 159

Gruppenemotionen haben, hängt nicht ausschließlich, aber im hohen Maße von


der IdentiÀkation mit relevanten Bezugsgruppen (und damit von Aspekten der so-
zialen Identität) ab.
Abbildung 2 illustriert diese Annahmen – ergänzt um mögliche Variablen,
durch die die Prädiktoren und das Explanandum operationalisiert werden kön-
nen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Die starken schwarzen Linien sollen die
angenommenen Mediatorprozesse verdeutlichen und die schwachen Linien zwi-
schen den Prädiktoren und dem Explanandum die durchaus ebenfalls zu vermu-
tenden direkten Relationen.

Potentielle
Potentielle Prädiktoren Potentielle Kriterien
Mediatoren

Wahrnehmung & Bewertungen Akzeptanz


ökonomischer Ko nt exte
Makro-soziale
Bedingungen;
Wahrnehmung & Bewertung gesellschaftlic he G ewaltpotentiale Bereitschaft
politischer K on texte Strukturen
und Proze sse
Wahrnehmung & Bewertung Handeln
medialer Kontexte

R assi sm us

Wahrnehmung und Bewertung


von Intergruppen-Wettbewerb F remden-
Meso- sozial e F undamenta- feindlichkeit
Soziale Identität als
Bedingungen: listische
Wahrnehmung und Bewertung Identifikation mit
Gruppen- und Ideologien der Antisemit ismus
von Intergruppen-Konflikte relevanten
Intergruppen- Ungleich-
Bezugsgruppen
Beziehungen wertigkeit
Isl amfeindlichkeit
Wahrnehmung und Bewertung
von Intergruppen-Bedrohungen
Abwertung von
Asy lbewerbern

Etablierten-
vorrechte
Auoritarismus

Soziale Dominanzorientierung Hass


Mikro-soziale
Bedingungen: Intergruppen-
Wertorientierungen Individuelle Wut
Emotionen
Dispositionen und
Orientierungen
Religiosität V erachtun g

Politische Or ie ntierung

Abbildung 2 Theorie eines identitätsstiftenden politischen bzw. religiösen Fundamenta-


lismus (TIF) mit Operationalisierungsmöglichkeiten.

Die Kernhypothese der TIF ist relativ simpel: Die soziale Identität als Iden-
tiÀkation mit relevanten Bezugsgruppen fungiert als Mediator zwischen den
Kontextbedingungen und der fundamentalistischen Ideologie der Ungleichwer-
tigkeit, den Gewaltpotentialen und den Gruppenemotionen.
160 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke

Dass die soziale Identität als Prädiktor z. B. für kollektive Aktionen zu wirken
scheint, lässt sich empirisch ziemlich gut belegen (vgl. z. B. C akal, Hewstone,
Schwär & Heath, 2011). Auch dass makro-soziale Belastungen (z. B. gruppenbezo-
gene relative Deprivation in Folge gravierender gesellschaftlicher Veränderungen)
das individuelle Erleben in Abhängigkeit von der sozialen Identität beeinÁussen,
ist empirisch nachweisbar (z. B. Grant, 2008). Problematisch dürfte unsere Kern-
hypothese aber dann sein, wenn – wie wir es tun – angenommen wird, auch der
EinÁuss mikro-sozialer Bedingungen (wie autoritäre oder sozial-dominante Über-
zeugungen) auf das Ausmaß rechtsextremer Tendenzen (fundamentalistische Ideo-
logie der Ungleichwertigkeit, Gewaltpotentiale und Gruppenemotionen) werde
über die IdentiÀkation mit relevanten Bezugsgruppen mediiert. Die empirischen
Befunde scheinen eher dafür zu sprechen, dass die IdentiÀkation mit relevanten
Bezugsgruppen (z. B. die IdentiÀkation mit der eigenen Nation als nationale Identi-
tät) individuelle Variablen, wie autoritäre Überzeugungen oder soziale Dominanz-
orientierung, beeinÁusst (z. B. Liu, Huang & McFedries, 2008) bzw. die nationale
Identität nicht als Mediator-, sondern als Moderatorvariable4 wirkt.
Die Kernhypothese ist somit noch teilweise empirisch unbestimmt. Deshalb
werden im folgenden Abschnitt die Datensätze eigener Studien genutzt, um empi-
rische Belege zu präsentieren, mit denen die TIF fundiert werden kann.

3 Empirische Belege

Bei den folgenden Auswertungen handelt es sich um Sekundäranalysen von Stu-


dien, die im Zeitraum von 1998 bis 2011 durchgeführt wurden. Insofern stehen
die diesen Studien ursprünglich zugrundeliegenden theoretischen Annahmen, die
darauf aufbauenden Operationalisierungen und die methodischen Realisierungen
nicht im direkten Zusammenhang mit der Konzeptualisierung der TIF und der o. g.
Kernhypothese. Dennoch enthalten die Datensätze dieser Studien Variablen, deren
Operationalisierung genutzt werden kann, um diese Kernhypothese zu prüfen.

4 Eine Mediatorvariable vermittelt den statistischen Zusammenhang zwischen zwei


anderen Variablen, und repräsentiert dabei den ablaufenden Prozess. Zum Beispiel:
Man nimmt an, dass Menschen mit zunehmendem Alter autoritärer werden, weil sie
nach und nach mehr Verantwortung übernehmen müssen. Eine weitere Annahme lau-
tet, dass höherer Autoritarismus mit höherer Ausländer-Ablehnung einhergeht. Somit
müsste höheres Alter (Prädiktor X) zu höherer Ausländer-Ablehnung führen (Krite-
rium Y), vermittelt über den ansteigenden Autoritarismus (Mediator Z) (vgl. Riepl,
29.06.2012). Eine Moderatorvariable beeinflusst die Art des Zusammenhangs zwi-
schen einer unabhängigen und einer abhängigen Variablen.
Ideologien der Ungleichwertigkeit und Rechtsextremismus … 161

In den Studien wird die soziale Identität, die in der Kernhypothese der TIF
als Mediator zwischen den Kontextbedingungen und der fundamentalistischen
Ideologie (der Ungleichwertigkeit) konzeptualisiert ist, in drei unterschiedlich abs-
trakten Operationalisierungen genutzt: a) als IdentiÀkation mit rechten C liquen
als unmittelbare Bezugsgruppe, b) als IdentiÀkation mit rechten Subkulturen und
Milieus als übergeordnete soziale Kategorie und c) als IdentiÀkation mit der eige-
nen Nation.
In dieser Reihenfolge werden die Studien auch vorgestellt.

3.1 Fremdenfeindliche Gewalttäter


(Frindte & Neumann, 2002)

Um empirische Belege und Illustrationen der Kernhypothese der TIF zu Ànden,


haben wir in einem ersten Schritt Interviews mit fremdenfeindlichen Straftätern,
die wir in den Jahren 1999/2001 bundesweit durchgeführt haben, einer Sekundär-
analyse unterzogen. Interviewt wurden 105 fremdenfeindliche männliche Straf-
täter. Diese Interviews wurden als qualitative, leitfadenorientierte und als standar-
disierte Befragungen durchgeführt (gemeinsam mit H. Willems und K. Wahl vom
Deutschen Jugendinstitut e.V., München; vgl. auch Frindte & Neumann, 2002).

3.1.1 Eine Auswahl aus den ursprüngliche Befunden

Die individuellen Sozialisationen der Straftäter bis zur eigentlichen fremdenfeind-


lichen Gewalttat verlaufen in der Regel mehrphasig: In der familiären Sozialisation
(meist typische broken-home-Konstellationen, Heimerfahrungen) wird Gewalt als
Hauptmittel zur Regulation alltäglicher Situationen erlebt und angeeignet. Eindeu-
tige ideologische Einstellungs- und Wertaneignungen passieren in diesem Kontext
kaum. Die schulische Sozialisation zeichnet sich durch zunehmendes Leistungs-
versagen, Schulabbruch und delinquentes Verhalten aus (86 % der Interviewten
Àelen bereits bis zur mittleren Schulzeit durch Gewaltanwendung auf; multiple
Delinquenz bei ca. 95 % der Interviewten vor der Strafmündigkeit). Eine Grup-
pensozialisation in jugendlichen C liquen beginnt relativ frühzeitig und nimmt
eine zentrale Rolle ein. Durch die Integration in jugendliche Cliquen beginnt eine
zunehmende, ideologisch rechtsextreme Sozialisation. Die IdentiÀkation mit der
Clique wird zum entscheidenden Bezugssystem für die individuelle Übernahme
fundamentalistischer Ideologien der Ungleichwertigkeit und die darauf basierende
Gewaltbereitschaft. Für die Sekundäranalyse greifen wir zunächst auf die quanti-
tativen Daten der standardisierten Befragung zurück.
162 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke

3.1.2 Methodische Vorbemerkungen

Die Interviews wurden in der Mehrzahl in den Justizvollzugsanstalten durchge-


führt und dauerten zwischen 3,5 und 8 Stunden. Für die nachfolgende Sekundär-
analyse relevant sind drei Variablen, die im standardisierten Fragebogen im Origi-
naldatensatz bereits als Operationalisierungen vorliegen, und zwar:

• Die Links-Rechts-Orientierung als politische Selbstkategorisierung auf einer


9-stuÀgen Skala (von 1 = linksradikal bis 9 = rechtsradikal).
• Fundamentalistische Ideologie der Ungleichwertigkeit (mit den Subskalen
„Manifester Antisemitismus“5 (C ronbach‘s Alpha6 = .87), „Ausländerfeind-
lichkeit“7 (Cronbach‘s Alpha = .83), „Führer-Gefolgschaft-Ideologien“8 (Cron-
bach‘s Alpha = .61), „Nationalistische Orientierungen“9 (C ronbach‘s Alpha =
.72). Mit den insgesamt 24 Items aus diesen vier Subskalen wurde zunächst eine
exploratorische Faktoranalyse mit Hauptkomponentenanalyse und Varimax-
Rotation gerechnet. Die Faktoranalyse extrahierte entsprechend dem Kaiser-
Guttman-Kriterium ƪ>1 einen Faktor, der 76,33 % Varianz aufklärt (Guttman,
1954), so dass eine eindimensionale Gesamtskala gebildet wurde (Cronbach’s
Alpha = .89).
• IdentiÀkation mit rechter Clique: Es handelt sich ebenfalls um eine eindimen-
sionale Skala, die nach Faktoranalyse (63,27 % Varianzaufklärung) aus den
Variablen „Die Clique bietet mir emotionale Unterstützung“, „Die Clique bietet
mir praktische Unterstützung“ und „Ich bin gut in der Clique integriert“ gebil-
det wurde (Cronbach’s Alpha = .71).

Für die folgenden Berechnungen wurden die so operationalisierten Variablen er-


folgreich auf Normalverteilung geprüft und anschließend z-transformiert.

5 Itembeispiel: „Es wäre besser für Deutschland, keine Juden im Land zu haben“.
6 Cronbach’s Alpha ist ein statistisches Maß für die Reliabilität (d. h. die Zuverlässigkeit)
einer Skala aus verschiedenen Items, das Werte zwischen 0 und 1 annehmen kann.
Es gibt an, inwiefern die verwendeten Items das gleiche dahinterliegende Konstrukt
messen, wobei hohe Werte (nahe 1) eine zuverlässige Messung signalisieren.
7 Itembeispiel: „In Deutschland sollten nur Deutsche leben“.
8 Itembeispiel: „Die Unterordnung unter eine Gemeinschaft ist wichtiger als die Ent-
faltung der Individualität“.
9 Itembeispiel: „Ein guter Deutscher muss bereit sein, alles für sein Vaterland zu geben“.
Ideologien der Ungleichwertigkeit und Rechtsextremismus … 163

3.1.3 Mediatoranalysen

Der Datensatz, der in der Interviewstudie mit fremdenfeindlichen Gewalttätern


erstellt wurde, ist insofern relevant, weil es sich um eine sehr exklusive Stichprobe
erwachsener fremdenfeindlicher Straftäter handelt. Die zwar begrenzte Anzahl
relevanter Variablen und deren Beziehungen zueinander sind im Hinblick auf die
Kernhypothese der TIF aus folgendem Grunde von Bedeutung: Sie erlauben die
Möglichkeit, mit der Variable IdentiÀkation mit der rechten Clique eine Media-
torvariable einzuführen, mit der der EinÁuss der Gruppen-IdentiÀkation als Teil
der sozialen Identität auf die Beziehung zwischen Links-Rechts-Orientierung und
Ideologie der Ungleichwertigkeit geprüft werden kann.
Vor dem Hintergrund dieser Frage haben wir folgende Ausgangsthese formu-
liert: Die Links-Rechts-Orientierung beeinÁusst/fördert Ideologien der Ungleich-
wertigkeit vor allem, wenn es identitätsfördernd ist, wenn also dadurch die Identi-
Àkation (mit rechten Cliquen) gestützt wird. Die IdentiÀkation mit rechten Cliquen
wird somit zum Vermittler, Mediator für die Beziehung zwischen Links-Rechts-
Orientierungen und Ideologien der Ungleichwertigkeit. Gerechnet wurde mit dem
Statistikprogramm SPSS und dem Skript „PROCESS“ von Andrew Hayes (2013;
www.afhayes.com).
Die Ergebnisse sind in der folgenden Tabelle und der anschließen Abbildung
wiedergegeben. Der Sobel-Z-Test ergab einen signiÀkanten indirekten Effekt der
Links-Rechts-Orientierung über IdentiÀkation mit C lique auf die Ideologie der
Ungleichwertigkeit, Z = 1.94, p < .05.
164 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke

Identifikation mit
C lique
(Index; z-Wer t)

.50*** .17*

.60*** F undamentalistische
L inks-Rechts-
Ideologie der
Orientierung
Ungleichwertigkeit
(z-Wert)
(.59***) (z-Wert)

Abbildung 3 Mediation der Beziehung zwischen Links-Rechts-Orientierung und fun-


damentalistischer Ideologie der Ungleichwertigkeit über die IdentiÀka-
tion mit rechter Clique (Anmerkung: Links-Rechts-Orientierung von 1 =
„linksradikal“ bis 9 = „rechtsradikal“).

Tabelle 1 Test auf indirekte Effekte und Bootstrapanalyse

Prädiktorvariable Z p BootLLCI BootULCI


Links-Rechts-Orientierung 1.9402 .05 .0161 .2031
Anmerkungen: Z = Z-Wert der Bootstrap-Analyse; p = SigniÀkanzniveau, BootLLC I =
untere Grenze des KonÀdenzintervalls (lower level conÀdence interval);
BootULCI = obere Grenze des KonÀdenzintervalls (upper level conÀdence
interval)

3.1.4 Fazit

Die direkte Wirkung des Prädiktors (hier die Links-Rechts-Orientierung) bleibt


auch in der Mediatoranalyse erhalten. Die Analyse macht aber auch auf den si-
gniÀkanten indirekten Wirkungspfad über den Mediator aufmerksam. Die
Links-Rechts-Orientierung beeinÁusst in der Stichprobe der fremdenfeindlichen
Gewalttäter die Ideologie der Ungleichwertigkeit vor allem dann, wenn es identi-
tätsfördernd ist, wenn also dadurch die IdentiÀkation (mit rechten Cliquen) ge-
stützt wird. Die IdentiÀkation mit rechten Cliquen fungiert somit als Vermittler
für die Beziehung zwischen Links-Rechts-Orientierungen und Ideologien der Un-
gleichwertigkeit.
Ideologien der Ungleichwertigkeit und Rechtsextremismus … 165

Auch in den qualitativen Interviews, die wir mit den fremdenfeindlichen Ge-
walttätern geführt haben, stießen wir immer wieder auf die herausragende Rolle
der IdentiÀkation mit der eigenen rechten Clique: So geben fast 80 % der Befrag-
ten im Interview an, dass sie durch ihre C lique ideologisch beeinÁusst wurden.
Dass diese Ideologisierung eine solche Wirksamkeit hat, könnte vor allem damit
zusammenhängen, dass die befragten Täter etwas erfahren, was sie bislang nur
eingeschränkt erlebt hatten: soziale Unterstützung und dies vor allem im emotio-
nalen Bereich. Zwei Drittel geben an, durch ihre Clique emotionale Unterstützung
zu erhalten, womit überwiegend ein Gefühl der Zugehörigkeit, der Akzeptanz und
Anerkennung verbunden ist. Somit schätzen auch 88 % der Täter ein, dass die
Clique eine große Bedeutung für ihr Leben habe (zum Vergleich: Mutter knapp
50 %, Väter: 30 %).
Auch die Taten waren überwiegend Gruppentaten. Die Mittäter entstammten
zumeist der eigenen Clique und nahmen aktiv an der Gewalttat teil. Für eine hohe
gruppeninterne Normierung spricht die hohe IdentiÀkation mit der Gruppe wäh-
rend des Tatverlaufs. Tatbegünstigend wirkte weiterhin, dass sich die Täter von
den Opfern zumeist als anonyme Cliquenmitglieder wahrgenommen fühlten.
Die Interviewergebnisse unterstreichen somit die Bedeutung, die die C lique,
aber auch übergeordnete soziale Kategorien (Skinhead, Rechter, Nazi etc.) für das
Verhalten der Täter besitzen. Diese IdentiÀkation mit der C lique und den über-
geordneten sozialen Kategorien scheint sich zumindest auf zwei Prozesse aus-
zuwirken: Einerseits fundiert sie die Übernahme gruppeninterner Normen und
andererseits fördert sie einen Zustand von Anonymität (Depersonalisation), der es
dem Gruppenmitglied leichter ermöglicht, ohne Rücksicht auf eventuelle perso-
nale Einwände der Gruppenmeinung und -handlung zu folgen (vgl. dazu Reicher,
Spears & Postmes, 1995).

3.2 Ausgangslagen und Entwicklungen rechtsextremer


Einstellungen bei jungen Menschen (Neumann, 2001)

3.2.1 Methodische Vorbemerkungen

Es handelt sich um eine Regionalstudie, die 1998/1999 im Auftrag des Thüringer


Ministeriums für Soziales und Gesundheit und in Zusammenarbeit mit dem Insti-
tut für Sozialpädagogik und Sozialarbeit Frankfurt/Main durchgeführt wurde. Im
Rahmen dieser Studie wurden mittels standardisierter Befragung fremdenfeind-
liche und rechtsextreme Einstellungen von Jugendlichen untersucht. Insgesamt
gingen in die Analyse 1.033 verwertbare Fragebögen ein. Das Alter der Befragten
166 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke

lag zwischen 12 und 23 Jahren mit einer Häufung bei 15 und 16 Jahren (M = 15.55;
SD = 1.77). Von den 1.033 Befragten waren 533 (52,0 %) weiblich und 492 (48,0 %)
männlich (bei 8 fehlenden Angaben). 460 (44,5 %) Befragte gingen in eine Regel-
schule, 401 (38,8 %) in ein Gymnasium und 172 (16,7 %) in eine Berufsschule.
Der in der Befragung eingesetzte standardisierte Fragebogen war zuvor bereits
in einer deutschlandweiten Studie (Frindte, 1999) getestet und erfolgreich einge-
setzt worden. Dieser Fragebogen enthielt u. a. folgende Skalen:

• „Fundamentalistische Ideologie der Ungleichwertigkeit“ mit den Subskalen


„Manifester Antisemitismus“, „Ausländerfeindlichkeit“, „Führer-Gefolgschaft-
Ideologien“, „Nationalistische Orientierungen“ (die Items der Subskalen sind
identisch mit jenen, die auch in der o. g. Studie mit den fremdenfeindlichen Ge-
walttätern eingesetzt wurden). Für die Reliabilität der Gesamtskala ergab sich
in der Regionalstudie ein Cronbach’s Alpha = .86.
• „Gewaltbereitschaft“ (Cronbach’s Alpha = .70).10
• „Allgemeine Gewaltbewertung“ (Cronbach’s Alpha = .89), bestehend aus einem
fünfstuÀgen semantischem Differential.11
• „Gewalthandeln“ (Cronbach’s Alpha = .61).12
• „Mangelnde emotionale Handlungskontrolle (in gewalthaltigen Situationen)“
mit zwei Items (r = .61), die aus der Copingskala von Carver, Scheier und Wein-
traub (1989) entnommen wurden.13
• „Autoritäre Überzeugungen“ – angelehnt an Funke (2005), Cronbach’s Alpha
= .72.14
• „Ablehnung der Demokratie“ (zwei Items; r = .67).15
• „Zufriedenheit mit der gesellschaftlichen Entwicklung“ (Single-Item).
• „Zufriedenheit mit sich selbst“ (als Aspekt des Selbstbildes, Single-Item).

10 Beispielitem: „Wenn es notwendig wäre, würde ich Gewalt anwenden“.


11 Beispiel: „Die Anwendung von Gewalt ist meiner Meinung nach… gut oder schlecht“.
12 Beispiel: „Haben Sie in den letzten 12 Monaten ... jemanden geschlagen oder verprü-
gelt?“.
13 Beispiel: „Ich gehöre zu denen, die sich vor Wut häufig nicht beherrschen können.“
14 Beispielitems: „Gehorsam und Achtung vor der Autorität sind die wichtigsten Tugen-
den, die Kinder lernen sollten“; „Die wahren Schlüssel zum guten Leben sind Ge-
horsam, Disziplin und Prinzipienfestigkeit“; „Was unser Land wirklich braucht, ist
eine starke, entschlossene Autorität, die uns sagt, was wir zu machen haben und wo es
langgehen muss“; „Was wir in unserem Land wirklich brauchen, ist eine anständige
Portion Recht und Ordnung anstatt mehr Bürgerrechte“.
15 Beispiel: „Die Idee der Demokratie ist gut.“ (umgekehrt codiert)
Ideologien der Ungleichwertigkeit und Rechtsextremismus … 167

• „Einschätzung der Ànanziellen Situation der eigenen Familie“ (Single-Item; 1


= „viel schlechter als der Durchschnitt“; 5 = „viel besser als der Durchschnitt“).
• „Links-Rechts-Orientierung“ (Single-Item: „Würden Sie sich eher als links
oder rechts bezeichnen?“, 1 = „links“, 5 = „rechts“).
• Außerdem wurden diverse soziodemograÀsche Merkmale (z. B. Alter, ange-
strebter Schulabschluss, Arbeitslosigkeit der Eltern) erhoben.

Für die Sekundäranalyse wurden aus den vorliegenden Items der Originalstudie
zwei weitere Skalen erstellt:

• Eine Skala zur Erfassung der „IdentiÀkation mit rechten Subkulturen und Mi-
lieus“ wurde gebildet, indem zunächst danach gefragt wurde, inwieweit sich die
befragten Personen mit „rechten Subkulturen“ (Faschos, Neonazis, Skinheads,
Hooligans, Nazi-Skins) identiÀzieren und zum anderen anzugeben war, inwie-
weit die Mitgliedschaft in solchen Subkulturen wichtig für die eigene Identität
ist („Mitgliedschaft spiegelt gut wieder, wer ich bin“). Aus diesen Angaben
wurde ein Index als Operationalisierung für die Skala „IdentiÀkation mit rech-
ten Subkulturen und Milieus“ gebildet.
• Eine einfaktorielle Skala „Gewalttendenzen gegenüber Ausländern“ wur-
de mit den folgenden Items erstellt: „Durch Gewalt kann man zeigen, dass
deutsche Jugendliche besser kämpfen können als Ausländer“, „Durch Gewalt
kann man Gerechtigkeit herstellen dafür, dass viele Deutsche arbeitslos sind,
während Ausländer nicht arbeitslos sind“, „Haben Sie in den letzten zwölf
Monaten Ausländer vorsätzlich geschlagen oder verprügelt?“ (Cronbach’s Al-
pha = .66).

3.2.2 Eine Auswahl aus den ursprünglichen Befunden

Rechtsextremistische Orientierungen setzen sich nach Heitmeyer et al. (1992) aus


einer Ideologie der Ungleichheit bzw. Ungleichwertigkeit und der GewaltafÀni-
tät (bis hin zu gewalttätigem Handeln) zusammen. Beide Dimensionen wurden in
einschlägigen Publikationen durch Subdimensionen mit verschiedenen Facetten
untergliedert und operationalisiert. Nach anfänglicher Euphorie und umfangrei-
cher Rezeption gerieten in den 1990er Jahren sowohl die Heitmeyersche Rechts-
extremismus-DeÀnition als auch der von ihm und Kollegen vorgelegte Erklärungs-
ansatz in die Kritik (vgl. den Abschnitt von Frindte et al. in diesem Buch).
Die von Neumann (2001) ermittelten Befunde verweisen darauf, dass die ur-
sprüngliche Annahme von zwei Dimensionen, durch die sich rechtsextreme Ten-
denzen auszeichnen, durchaus empirisch gehaltvoll und begründbar ist. Im Er-
168 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke

gebnis einer konÀrmatorischen Faktoranalyse16 zeigte sich ein Zweifaktormodell


mit korrelierten Faktoren als das Modell, das den empirischen Daten am besten
angepasst ist (Abbildung; siehe Neumann, 2001, S. 127).

Auslä nderfeindlichkeit

.87
F ührer-Gefolgsc hafts-
.64 Ideologie
Ideologie der
Ungleichwerti gkeit
.78 Nationalistische
Orientierungen
.87

Antisemit ismus

.50

G ewaltbewertung

.73

G ewaltdimension .81 G ewaltbereitschaft

.66
G ewalthandeln

Abbildung 4 Statistisches Modell „Rechtsextremismus – korrelierte Zweifaktorstruk-


tur“ (Ƶ2= 73,386; df=13; p=.000; NFI=.995; RMSEA=.067; CFI=.996).

Es handelt sich – wie weiter oben erwähnt – um eine normale Stichprobe von
Schuljugendlichen, so dass auch wir der Neumannschen Interpretation folgen wol-
len und seine Befunde als empirischen Beleg für die zweidimensionale Rechtsext-

16 Für diese konfirmatorische Faktoranalyse wurde eine Second-Order-Analyse auf der


Basis von Strukturgleichungsmodellen mit dem Programm LISREL 8.30 durchge-
führt. Es wurden drei Modelle spezifiziert, deren Passfähigkeit mit den empirischen
Daten getestet wurde: eine Einfaktorlösung, eine Zweifaktorlösung mit unabhängigen
Faktoren und eine Zweifaktorlösung mit korrelierten Faktoren.
Ideologien der Ungleichwertigkeit und Rechtsextremismus … 169

remismus-DeÀnition von Heitmeyer und Kollegen ansehen. In dieser Regionalstu-


die Ànden sich leider keine Variablen, die sich nutzen ließen, um auch die von uns
angenommene dritte Facette rechtsextremer Tendenzen zu operationalisieren – die
negativen Intergruppen-Emotionen (s. o.).
Dass die Akzeptanz und die Orientierung an fundamentalistischen Ideologien
der Ungleichwertigkeit und den damit verbundenen Gewaltpotentialen auch mit
starkem emotionalen Involvement einhergehen, lässt sich aber nicht bestreiten. Zu-
mindest Ànden sich im besagten Datensatz dafür gewisse Hinweise. Auf der Basis
der Copingskala von Carver et al. (1989) wurde nämlich eine Variable speziÀziert,
mit der die „mangelnde emotionale Handlungskontrolle“ im Fragebogen abgefragt
werden sollte. Wie die folgende Tabelle zeigt, korreliert diese Variable signiÀ-
kant positiv sowohl mit der Gesamtskala zur Erfassung der fundamentalistischen
Ideologie der Ungleichwertigkeit, mit den entsprechenden Subskalen „Manifes-
ter Antisemitismus“, „Ausländerfeindlichkeit“, „Nationalistische Orientierungen“
und „Führer-Gefolgschaft-Ideologien“ als auch mit den Gewaltfacetten (Gewalt-
bewertung, -bereitschaft und -handeln).
170

Tabelle 2 Korrelationen zwischen Ideologie der Ungleichwertigkeit, den dazugehörigen Facetten und emotionaler Handlungs-
kontrolle
Mangelnde Ideologie Ausländer- Antisemi- Nationalis- Führer- Gewalt- Gewalt-
emotionale der feindlichkeit tismus mus Gefolgschaft bereitschaft bewertung
Handlungs- Ungleich-
kontrolle wertigkeit
Ideologie der .20**
Ungleich-
wertigkeit
Ausländer- .15** .89**
feindlichkeit
Antisemi- .17** .89** .76**
tismus
Nationalis- .17** .85** .69** .65**
mus
Führer- .20** .705** .48** .53** .50**
Gefolgschaft
Gewalt- .22** .36** .30** .33** .32** .23**
bereit-schaft
Gewalt- .25** .56** .47** .50** .49** .40** .61**
bewertung
Gewalt- .24** .30** .23** .26** .27** .23** .56** .48**
handeln
Anmerkung: Die Korrelationen sind auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signiÀkant.
Wolfgang Frindte und Daniel Geschke
Ideologien der Ungleichwertigkeit und Rechtsextremismus … 171

Aus diesen Befunden zu schließen, dass die Zustimmungen zur Ideologie der Un-
gleichwertigkeit und zu ihren Facetten sowie zu den Gewaltdimensionen offenbar
mit geringerer emotionaler Handlungskontrolle einhergehen und somit emotional
negativ aufgeladen sind, ist sicher nicht unangebracht. Und vielleicht ist dieser
Befund auch ein zaghafter Hinweis auf die Verknüpfung der Ideologie- und der
Gewaltdimension mit den von uns vermuteten negativen Emotionen.

3.2.3 Mediatoranalyse – eine Prüfung der Kernhypothese der TIF

Um die Kernhypothese der TIF noch einmal in Erinnerung zu rufen: Die soziale
Identität als IdentiÀkation mit relevanten Bezugsgruppen fungiert als Mediator
zwischen den Kontextbedingungen und der fundamentalistischen Ideologie der
Ungleichwertigkeit, den Gewaltpotentialen und den Gruppenemotionen.
Um diese Hypothese am Datensatz der Regionalstudie aus den Jahren
1998/1999 zu prüfen, wurden zunächst die Variablen, die mit den o. g. Skalen bzw.
Items operationalisiert wurden, z-transformiert und auf Normalverteilung geprüft.
Anschließend wurden Mediatoranalysen gerechnet, auf die noch einzugehen sein
wird. Als unabhängige bzw. Prädiktorvariablen wurden dafür zunächst folgende
ausgewählt: Links-Rechts-Orientierung, autoritäre Überzeugungen, Ablehnung
der Demokratie, Unzufriedenheit mit der gesellschaftlichen Entwicklung, Zufrie-
denheit mit sich selbst, Ànanzielle Situation der eigenen Familie, Alter, angestreb-
ter Schulabschluss (Regelschule, Gymnasium, Berufsschule) und Arbeitslosigkeit
der Eltern. Die folgende Tabelle zeigt die Korrelationen zwischen den ausgewähl-
ten Prädiktoren und der Kriteriumsvariable Ideologie der Ungleichwertigkeit.
172

Tabelle 3 Korrelationen zwischen Ideologie der Ungleichwertigkeit und potentiellen Prädiktoren


Ideo- Links- Autor- Ab- Unzufrieden- Zufrieden- Finan- IdentiÀ- Alter Ange-
logie der Rechts- itaris- lehnung heit mit der heit mit zielle kation mit strebter
Ungleich- Orientie- mus der gesellschaft- sich selbst Situa- rechten Schulab-
wertig- rung (je Demo- lichen Ent- tion der Sub- schluss
keit höher desto kratie wicklung Familie kulturen
rechter)
Links-Rechts- .59**
Orientierung
(je höher desto
rechter)
Autoritarismus .69** .37**
Ablehnung der .14** .08* .10**
Demokratie
Unzufrieden- -.06 -.02 -.10** .03
heit mit der ge-
sellschaftlichen
Entwicklung
Zufriedenheit .11** .13** .11** -.03 -.09*
mit sich selbst
Finanzielle .06 .04 .04 .00 -,06 ,09*
Situation der
Familie
Wolfgang Frindte und Daniel Geschke
Tabelle 3 (Fortsetzung)
Ideo- Links- Autor- Ab- Unzufrieden- Zufrieden- Finan- IdentiÀ- Alter Ange-
logie der Rechts- itaris- lehnung heit mit der heit mit zielle kation mit strebter
Ungleich- Orientie- mus der gesellschaft- sich selbst Situa- rechten Schulab-
wertig- rung (je Demo- lichen Ent- tion der Sub- schluss
keit höher desto kratie wicklung Familie kulturen
rechter)
IdentiÀkation .52** ,47** .30** .16** .09* .15** .04
mit rechten Sub-
kulturen
Alter -.17** .02 -.14** -.02 .09* .03 -.03 .00

Angestrebter -.37** -.17** -.24** .11** .08* -.10* -.02 -.25** .18**
Schulabschluss
Arbeitslosigkeit .05 .00 .10** .02 -.02 -.01 -.24** .00 .05 .05
der Eltern
Ideologien der Ungleichwertigkeit und Rechtsextremismus …

Anmerkungen: ** Die Korrelationen sind auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signiÀkant; * Die Korrelationen sind auf dem Niveau von
0,05 (2-seitig) signiÀkant.
173
174 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke

Zur Vorprüfung wurde eine schrittweise Regressionsanalyse gerechnet, um die


Vorhersagekraft der ausgewählten Prädiktoren abschätzen zu können. Dabei er-
wiesen sich – siehe Tabelle 4 – nur ein Teil der ausgewählten Prädiktoren als signi-
Àkante Vorhersager für die fundamentalistische Ideologie der Ungleichwertigkeit.

Tabelle 4 Ergebnisse der Regressionsanalyse

R2 = .68 Standardisierte SigniÀkanzniveau


KoefÀzienten Beta
Autoritäre Überzeugungen .522 .000
Links-Rechts-Orientierung .364 .000
(je höher desto rechter)
Angestrebter Schulabschluss -.167 .000
Lebensalter der Befragten -.070 .001
Ablehnung der Demokratie .058 .006
Anmerkungen: Abhängige Variable: Ideologie der Ungleichwertigkeit

Die Zustimmung zu fundamentalistischen Ideologien der Ungleichwertigkeit


nimmt in der untersuchten Schülerstichprobe mit der Stärke autoritärer Überzeu-
gungen, der Demokratieablehnung und mit zunehmender Rechts-Orientierung zu
und mit der Höhe des angestrebten Schulabschlusses und dem Lebensalter ab.
Diese fünf Variablen wurden anschließend als Prädiktoren in die schon er-
wähnten Mediatoranalysen eingeführt. Die oben genannte Variable „IdentiÀkation
mit rechten Subkulturen und Milieus“ fungierte dabei als Mediatorvariable; die
Ideologie der Ungleichwertigkeit (Gesamtskala) bildete die abhängige bzw. Kri-
teriumsvariable. Gerechnet wurde wiederum mit dem Statistikprogramm SPSS
und dem Skript „PROCESS“ von Andrew Hayes (2013; www.afhayes.com).17 Die
folgende Abbildung und die anschließende Tabelle geben die Ergebnisse zusam-
menfassend wieder.

17 In der Berechnung folgten wir dem Hinweis von Hayes „If your IV has k categories,
construct k-1 dummy variables and then run INDIREC T or PROC ESS k-1 times.
With each run, make one dummy variable the IV and the other one(s) the covariate(s)”
(http://www.afhayes.com/macrofaq.html; 22.9.2014).
Ideologien der Ungleichwertigkeit und Rechtsextremismus … 175

Identifikation mit
recht en
Subkulturen
(Index; z-Wer t)
.35*** .20**
Fundamentalistische
L inks-Rec hts-
.33*** (.40***) Ideologie der
Orientierung
Ungleichwertigkeit
(z-Wert)
(z-Wert)
.12*
.45*** (.50***)
Autoritäre
Überzeugungen
(z-Wert) .08* (.10*)
.09*

Ablehnung der -.21** (-.26**)


Demokratie
(z-Wert) -.20**

-.03 n.s. (-.05 n.s.)


A ngestrebter
Schultyp
(z-Wert) -.06 n.s.

A lter
(z-Wert)

Abbildung 5 Mediation der Beziehungen zwischen fünf potentiellen Prädiktoren und


fundamentalistischer Ideologie der Ungleichwertigkeit über die IdentiÀka-
tion mit rechten Subkulturen.

Tabelle 5 Test auf indirekte Effekte und Bootstrapanalyse

Prädiktorvariable Z p BootLLCI BootULCI


Links-Rechts-Orientierung 5.8754 .0000 .2832 .3815
Autoritäre Überzeugungen 2.9184 .0035 .4070 .5052
Ablehnung der Demokratie -2.4193 .0155 -.0325 -.0048
Angestrebter Schultyp -3.4171 .0006 -.2899 -.1441
Alter 1.8907 .0687 -.0703 .0043
Anmerkungen: Z = Z-Wert der Bootstrap-Analyse; p = SigniÀkanzniveau, BootLLC I =
untere Grenze des KonÀdenzintervalls (lower level conÀdence interval);
BootULCI = obere Grenze des KonÀdenzintervalls (upper level conÀdence
interval)
Die Ergebnisse scheinen durchaus geeignet zu sein, die o. g. Kernhypothese der
TIF zu stützen. Der vermutete vermittelnde EinÁuss der Mediatorvariable „Identi-
Àkation mit rechten Subkulturen“ ist als indirekter Effekt nachweisbar. Die direk-
ten Pfade zwischen den Prädiktoren (bis auf die Altersvariable) und der funda-
176 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke

mentalistischen Ideologie der Ungleichwertigkeit werden schwächer, bleiben aber


noch signiÀkant.
Wie lassen sich diese indirekten Effekte erklären und einordnen?

• Die politische Selbsteinordnung im Links-Rechts-Spektrum ist in zahlreichen


Studien zum Rechtsextremismus als wichtige Erklärungsvariable genutzt und
bestätigt worden (z. B. Bauer-Kaase, 2001; Decker, Brähler & Geißler, 2006;
Weiss, Mibs & Brauer, 2002). Diese Selbsteinordnung wird aber offenbar in
ihrem EinÁuss auf die Zustimmung zu Ideologien der Ungleichwertigkeit teil-
weise durch die IdentiÀkation mit rechten Subkulturen oder Milieus vermittelt.
Zumindest legen das unsere Befunde nahe.
• Auch die autoritären Überzeugungen sind in zahlreichen Studien als robus-
te Prädiktoren für rechtsextreme und fremdenfeindliche Tendenzen nachge-
wiesen worden (s. o. und z. B. Frindte & Zachariae, 2005; Seipel et al., 1995;
Van Hiel & Mervielde, 2005; u. v. a.). Dass die autoritären Überzeugungen,
wie unsere Befunde zeigen, ebenfalls mit der IdentiÀkation mit rechten Sub-
kulturen zusammenhängen und von diesen teilweise in ihrer Wirkung auf die
Ideologie der Ungleichwertigkeit mediiert werden, scheint auf ähnliche Pro-
zesse zu verweisen, wie sie etwa von Feldman (2003), Oesterreich (1996) oder
Stellmacher (2004) beschrieben und empirisch nachgewiesen wurden. Autori-
täre Überzeugungen werden in diesen Arbeiten nicht ausschließlich als sta-
bile Persönlichkeitsvariablen, sondern als situations- bzw. gruppenspeziÀsche
Reaktionen konzipiert. Stellmachers (2004) Modell eines Autoritarismus als
Gruppenphänomen scheint dabei unseren Annahmen am nächsten zu kommen.
Die Grundannahme dieses Modells ist, dass dann, wenn sich Personen stark
mit relevanten Bezugsgruppen identiÀzieren und diese IdentiÀkation für den
Einzelnen bedrohlich sein kann (z. B. durch damit verbundene Abwertungen,
Stigmatisierungen etc.), vor allem Personen mit autoritären Prädispositionen
autoritäre Reaktionen zeigen. Stellmacher geht also von bedrohlichen Situatio-
nen und von einer Interaktion zwischen autoritären Reaktionen und der Identi-
Àkation mit sozialen Bezugsgruppen aus. Auch wir meinen, dass die autoritä-
ren Überzeugungen in ihrem EinÁuss auf die Ideologie der Ungleichwertigkeit
dann bedeutsam und funktional sind, wenn dadurch wichtige Aspekte der so-
zialen Identität (hier: die IdentiÀkation mit rechten Subkulturen und Milieus)
gefördert, unterstützt bzw. geschützt werden können.
• Die Ablehnung der demokratischen Grundordnung und der Demokratie ins-
gesamt ist Teil (und u. U. auch Bedingung oder Folge) rechtsextremer und frem-
denfeindlicher Bestrebungen (vgl. z. B. Best, et al., 2013; Klein & Heitmeyer,
2012). Im Datensatz der vorliegenden Regionalstudie erweist sich die Demo-
Ideologien der Ungleichwertigkeit und Rechtsextremismus … 177

kratieablehnung zum einen als Prädiktor für die Zustimmung zu Ideologien


der Ungleichwertigkeit; zum anderen scheint die Demokratieablehnung über
die IdentiÀkation mit rechten Subkulturen die Akzeptanz von Ideologien der
Ungleichwertigkeit zu befördern.
• Der angestrebte Schulabschluss spiegelt eine wichtige Bedingung in den Er-
klärungen von Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Ideologien der
Ungleichwertigkeit wider. Die zahlreichen empirischen Befunde weisen dar-
auf hin, dass Personen mit Hauptschulabschluss offenbar eher Ideologien der
Ungleichwertigkeit zustimmen als Personen mit gymnasialem Schulabschluss
(vgl. z. B. HeÁer & Boehnke, 1995; Sturzbecher, 1997). Die Ergebnisse der Me-
diatoranalyse zeigen aber auch, dass der EinÁuss des (angestrebten) Schulab-
schlusses auf derartige Ideologien kein ausschließlicher ist, sondern durch die
IdentiÀkation mit rechten Subkulturen vermittelt wird.
• Das Alter der Befragten hat indes keinen Effekt.

Bevor wir zu einem Zwischenfazit kommen, wollen wir aber noch eine zusätzliche
Frage stellen und nach empirischen Antworten suchen. Die naheliegende Frage
lautet: Lässt sich der indirekte Pfad von der IdentiÀkation mit rechten Subkultu-
ren über die Ideologie der Ungleichwertigkeit weiter verfolgen bis zur Gewalt-
bereitschaft?
Um diese Frage zu beantworten, wurde eine zweite Mediatoranalyse gerechnet.
In diese Analyse gingen die IdentiÀkation mit rechten Subkulturen (Index) nun
als Prädiktor (UV) und die Ideologie der Ungleichwertigkeit als Mediator ein,
um die Gewaltbereitschaft gegenüber Ausländern vorauszusagen (AV; Kriterium).
Die Analyse erfolgte wieder mit z-standardisierten Werten mit dem Statistikpro-
gramm SPSS und dem Skript „PROCESS“ von Andrew Hayes (2013; www.afhay-
es.com). Die Ergebnisse der statistischen Prüfungen sind in folgender Abbildung
und der anschließenden Tabelle dargestellt.
178 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke

Identifikation mit .28*** Gewaltbereitschaft


rechten Subkulturen gegen Ausländer
(Index; z-Wer t) (z-Wert)
(.60***)

.53*** .59***

Fundamentalistische
Ideologie
(der
Ungleichwertigkeit,
z-Wert)

Abbildung 6 Mediation der Beziehung zwischen IdentiÀkation mit rechten Subkulturen


und Gewaltbereitschaft gegenüber Ausländern über die fundamentalisti-
sche Ideologie der Ungleichwertigkeit

Tabelle 6 Test auf indirekte Effekte und Bootstrapanalyse

Mediatorvariable Z p BootLLCI BootULCI


Ideologie der Ungleichwertigkeit 12.67 .0000 .2696 .3535
Anmerkungen: Z = Z-Wert der Bootstrap-Analyse; p = SigniÀkanzniveau, BootLLCI
= untere Grenze des KonÀdenzintervalls (lower level conÀdence
interval); BootULC I = obere Grenze des KonÀdenzintervalls
(upper level conÀdence interval)

Die Ideologie der Ungleichwertigkeit fungiert als Mediator zwischen der IdentiÀ-
kation mit rechten Subkulturen und der Gewaltbereitschaft gegenüber Ausländern.

3.2.4 Fazit

Die nachfolgende Abbildung fasst die berichteten (signiÀkanten) Befunde der Se-
kundäranalyse aus dem Datensatz der Regionalstudie von 1998/1999 noch einmal
zusammen. Die als Prädiktoren für die Zustimmung zu Ideologien der Ungleich-
wertigkeit ausgewählten Variablen illustrieren ansatzweise die im eigentlichen
Modell der TIF konzipierten potentiellen Prädiktoren für fundamentalistische
Ideologien der Ungleichwertigkeit (vgl. Abbildung 2). Die Operationalisierung der
sozialen Identität als IdentiÀkation mit relevanten Bezugsgruppen (im Sinne eines
Ideologien der Ungleichwertigkeit und Rechtsextremismus … 179

potentiellen Mediators) mag man kritisieren; deutlich wird aber die postulierte
Vermittlungs- und Mediatorfunktion dieser operationalisierten Variable. Die so-
ziale Identität als IdentiÀkation mit rechten Subkulturen bzw. Milieus fungiert
zwar nicht als ausschließlicher Mediator zwischen den ausgewählten Prädiktoren
und der fundamentalistischen Ideologie der Ungleichwertigkeit, sondern vor allem
als partieller Mediator. Das heißt, neben dem vermittelnden Prozess über die Iden-
tiÀkation mit rechten Subkulturen Ànden möglicherweise noch andere mediieren-
de Prozesse statt, die hier nicht betrachtet wurden.

Identifikation mit Identifikation mit Gewaltbereitschaft


recht en Subkulturen rechten Subkulturen .28*** (.60***) gegen Ausländ er
(Index; z-Wer t) (Index; z-Wer t) (z-Wert)

.35*** .20**

Fundamentalistische .53***
Links-Rechts- .59***
Ideologie der
Orientierung .33*** (.40***) Ungleichwertigkeit
(z-Wert)
(z-Wert)
Fundamentalistische
Ideologie
.12* (der
.45*** (.50***) Ungleichwerti gkeit,
z-Wert)
A utoritäre
Überzeugungen
(z-Wert)
.08* (.10*)
.09*

Ablehnung der
Demokratie -.21** (-.26**)
(z-Wert)
-.20**

Angestrebter
Sch ultyp
(z-Wert)

Abbildung 7 Zusammenfassung der Mediatoranalysen

Wir nehmen aber an, dass diese partiellen Mediationen Hinweise darauf sind, dass
die geprüften Prädiktoren zunächst einmal in einem funktionalen oder instrumen-
tellen Verhältnis zu den operationalisierten Aspekten der sozialen Identität stehen
und über dieses Verhältnis die Zustimmung zu Ideologien der Ungleichwertig-
keit befördern. Die IdentiÀkation mit rechten Subkulturen fungiert darüber hinaus
über die Ideologie der Ungleichwertigkeit verstärkend auf die Gewaltbereitschaft
gegenüber Ausländern.
180 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke

3.3 Identifikation mit Deutschland –


Sekundäranalyse einer Teilstichprobe aus dem Projekt
„Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“

3.3.1 Hintergrund

Der Titel dieses Abschnitts ist etwas irreführend. Es geht im Folgenden nicht um
junge Muslime, sondern um junge Deutsche und deren Vorurteile und Ideologien
der Ungleichwertigkeit im Umgang mit Muslimen. Die Grundlage der folgenden
und letzten Sekundäranalyse bildet ein Projekt, in dem junge Muslime in Deutsch-
land in einer Panelstudie zu zwei Zeitpunkten interviewt und befragt wurden (vgl.
Frindte, 2013). Die Ergebnisse wurden mit den Befunden einer parallel durch-
geführten Panelstudie mit deutschen Nichtmuslimen im Alter zwischen 14 und
32 Jahren (erste Welle mit N = 200; zweite Welle mit N = 98) verglichen. Auf
den Datensatz dieser deutschen, nichtmuslimischen Teilstichprobe bezieht sich die
folgende Sekundäranalyse.

3.3.2 Methodische und empirische Vorbemerkungen

In der Panelstudie wurden auch Vorurteile von Nicht-Muslimen gegenüber Mus-


limen, Juden und Ausländern analysiert. Dies geschah mit einer einfaktoriellen
Skala, die aus folgenden Subskalen bestand: „Vorurteile gegenüber Juden und Is-
rael“18, „Vorurteile gegen Ausländer“19 und „Vorurteile gegenüber Muslimen“20.
In einer Faktoranalyse (Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation) zeigte
sich, dass diese drei Subskalen (erhoben in Welle 1) mit einer Varianzaufklärung
von 69,81% auf einem Faktor laden. Deshalb wurden alle drei Subskalen zu einer
Gesamtskala zusammengefasst und für die Operationalisierung der fundamenta-
listischen Ideologie der Ungleichwertigkeit genutzt (Cronbach‘s Alpha = .74). Die
mit dieser Skala operationalisierte Variable „Fundamentalistische Ideologie der
Ungleichwertigkeit“ ist das Kriterium, also die abhängige Variable, in den nach-
folgenden Mediatoranalysen. Als mögliche Prädiktoren für die Ideologie der Un-
gleichwertigkeit wurden die in folgender Tabelle aufgeführten Variablen mit den
angegebenen Items bzw. Skalen operationalisiert.

18 Beispielitem: „Es wäre besser, wenn die Juden den Nahen Osten verlassen würden“.
19 Beispielitem: „Es leben zu viele Ausländer in Deutschland.“
20 Beispielitem: „Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt wer-
den“.
Ideologien der Ungleichwertigkeit und Rechtsextremismus … 181

Tabelle 7 Reliabilität der Variablen

Variable Items Retest-Stabilitäta


fünfstuÀge Likertskala zwischen
Welle 1 &
Welle 2 bzw.
Cronbachs alpha
Mediennut- „In welchem Ausmaß nutzen Sie die folgenden ARD: .71**
zung – Einzeli- deutschen Fernsehsender, um sich über aktuelle
tems Ereignisse zu informieren (z. B. Nachrichten ZDF: .75**
oder Magazine)?“ Mit vier Unteritems: ARD,
ZDF, RTL, Sat.1; Antwortmöglichkeiten: 1 = RTL: .72**
„gar nicht“, …, 5 = „sehr häuÀg“)
Sat.1: .59**
Präferenzen für deutsches öffentliches Fernse- .76**
hen (ARD, ZDF)

Präferenzen für privates Fernsehen (RTL, Sat.1) .71**

Autoritäre Über- „Die Abkehr von der Tradition wird sich eines
zeugungen – Tages als fataler Fehler herausstellen.“
Skala mit sechs „Gehorsam und Achtung vor der Autorität sind
Items (gekürzte die wichtigsten Tugenden, die Kinder lernen Cronbachs Alpha:
RWA3D-Skala; sollten.“ .79
Funke, 2002)b „Was wir in unserem Lande anstelle von mehr
„Bürgerrechten“ wirklich brauchen, ist eine an-
ständige Portion Recht und Ordnung.“
„Tugendhaftigkeit und Gesetzestreue bringen
uns auf lange Sicht weiter, als das ständige
Infragestellen der Grundfesten unserer Gesell-
schaft.“
„Die wahren Schlüssel zum „guten Leben“ sind
Gehorsam, Disziplin und Tugend.“
„Was unser Land wirklich braucht, ist ein
starker, entschlossener Führer, der das Übel zer-
schlagen und uns wieder auf den rechten Weg
bringen wird.“
a Damit sind die Korrelationen zwischen den jeweils identischen Items oder Skalen von
Welle 1 und 2 gemeint (*: p < .05; **: p < .01).
b Aus forschungspraktischen (zeitlichen) Gründen konnten die Items zur Erfassung au-
toritärer Überzeugungen den Befragten nur in der zweiten Erhebungswelle vorgelegt
werden. Allerdings gehen wir davon aus, dass die damit gemessenen autoritären Über-
zeugungen als generalisierte Einstellungen nicht nur persönlichkeitsnahe, sondern
auch relativ zeitstabile Dispositionen darstellen (vgl. auch Duckitt, 2001; Frindte, 2013;
Frindte & Haußecker, 2010; Six, 1996).
182 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke

Mit Hilfe von Cross-Lagged-Regression Analysen (Cook & Campell, 1979) wurde
zunächst nach Wirkungszusammenhängen (Kausalitäten) zwischen diesen Prädik-
toren und der Ideologie der Ungleichwertigkeit gefahndet. Die Befunde zeigten, je
ausgeprägter die „Autoritären Überzeugungen“ sind und je häuÀger RTL und Sat.1
zur politischen Information genutzt werden, umso negativer sind die Einstellungen
gegenüber Muslimen.

Prädiktoren für Ideologie der Ungleichwertigkeit – Kausalanalysen (Cross- Lagged):


Deutsche Nicht-Muslime (Panelstichp robe; N = 97)

Prädiktoren Indikatoren für mögliche


(Welle 1) Ideologie der Ungleichwertigkeit
(Welle 2)

Autoritäre
Überzeugungen
.18*
Vorurteile gegenüber Juden,
Muslimen, Ausländer
Präferenzen für .15*
deutsches Privat-TV

Abbildung 8 Zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse der einzelnen Cross-Lag-


ged-Panel-Analysen für deutsche Nicht-Muslime. Anmerkungen: Es sind
nur signiÀkante Pfade dargestellt. Umgekehrte Pfade wurden der Über-
sichtlichkeit halber nicht aufgeführt.

Autoritäre Überzeugungen werden im Umgang mit unsicheren, ambivalenten Situ-


ationen gelernt (siehe auch Abschnitt 3.2.). In solchen Situationen orientieren sich
Menschen an sozialen Bezugssystemen bzw. Ideologien, die – nach Oesterreich
(1996) – Sicherheit bieten können. Oesterreich nennt diese Orientierung „Flucht in
die Sicherheit“. Hinter dieser Orientierung steht – psychologisch betrachtet – das
Grundmotiv nach Ordnung, Struktur und nach Vermeidung von Unsicherheit und
in zugespitzter Weise die Intoleranz gegenüber ambivalenten Situationen. Sicher-
heit in diesem Sinne können die Familie, die Freundesgruppe, die Religion, eine
(rechtsextreme) Partei oder eine Herrschafts- und Machtideologie bieten. Ob diese
oder andere soziale Instanzen als Schutz bietende Bezugssysteme in Frage kom-
men, hängt allerdings auch davon ab, ob und inwieweit sich eine einzelne Person
über jene Schutz gewährenden Instanzen informieren kann, die nicht zum sozialen
Nahraum dieser Person gehören. Und an dieser Stelle kommt der zweite Prädiktor
für Ideologien der Ungleichwertigkeit ins Spiel: die Mediennutzung, hier: die Präfe-
renzen für die deutschen, privaten Fernsehsender, um sich politisch zu informieren.
Ideologien der Ungleichwertigkeit und Rechtsextremismus … 183

Diese beiden Variablen, autoritäre Überzeugungen und Präferenzen für deut-


sches Privatfernsehen, wurden als Prädiktoren für die anschließenden Media-
toranalysen ausgewählt. Um Aspekte der sozialen Identität, als Mediator bzw.
Vermittler, zu operationalisieren, und somit erneut die Kernhypothese der TIF zu
prüfen, nutzten wir das Item „Deutscher/Deutsche sein, ist ein wichtiger Teil, von
dem, was ich bin“ (erhoben nur in Welle 2). Mit diesem Item sollte die IdentiÀka-
tion mit den Deutschen erhoben werden. Außerdem nutzten wir das folgende Item
zur Erfassung der Gewaltbereitschaft gegenüber dem Islam (erhoben nur in Welle
2): „Die Bedrohung der westlichen Welt durch den Islam rechtfertigt, dass sich die
westliche Welt mit Gewalt verteidigt“.

3.3.3 Mediatoranalyse

Gerechnet wurde wiederum mit dem Statistikprogramm SPSS und dem Skript
„PROCESS“ von Andrew Hayes (2013). Die Prädiktor-, Mediator- und Kriteriums-
variablen wurden zuvor z-transformiert. Die Ergebnisse Ànden sich in Abbildung
9 und Tabelle 8; auf die möglichen Interpretationen gehen wir weiter unten ein.

Identifikation mit
Deutschland
(Welle 2; Index; z-
Wert)
.28** .17*
Fundamentalistische
Autoritäre
.53*** (.59***) Ideologie der
Überzeugungen
Ungleichwertigkeit
(Welle 1; z-Wert)
(Welle 2; z-Wert)
.14 n.s.
.19* (.22*)
Präferenz für
deutsches
Privatfernsehen

Abbildung 9 Mediation der Beziehung zwischen autoritären Überzeugungen und Präfe-


renz für deutsches Privatfernsehen und fundamentalistischer Ideologie der
Ungleichwertigkeit über IdentiÀkation mit Deutschland.
184 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke

Tabelle 8 Test auf indirekte Effekte und Bootstrapanalyse

Mediatoren Z p BootLLCI BootULCI


Autoritäre Überzeugungen 1.5960 .0500 .0101 .1148
Präferenz für deutsches 1.0458 .0504 .0093 .1878
Privatfernsehen
Anmerkungen: Z = Z-Wert der Bootstrap-Analyse; p = SigniÀkanzniveau, BootLLC I =
untere Grenze des KonÀdenzintervalls (lower level conÀdence interval);
BootULCI = obere Grenze des KonÀdenzintervalls (upper level conÀdence
interval)

In einer weiteren Mediatoranalyse prüften wir, ob sich auch in diesem Fall der
indirekte Pfad von der IdentiÀkation mit Deutschland über die Ideologie der Un-
gleichwertigkeit weiter bis zur Gewaltbereitschaft verfolgen lässt?
In dieser Analyse (mit z-transformierten Werten aus der 2. Erhebungswelle)
fungierte die IdentiÀkation mit Deutschland als Prädiktor (UV) und die Ideologie
der Ungleichwertigkeit als Mediator, um die Gewaltbereitschaft gegenüber dem
Islam vorauszusagen (AV; Kriterium; siehe die Abbildung 10 und Tabelle 9).

Identifikation mit .13 n.s. (.24 *) Gewaltbereitschaft


Deutschland gegen dem Islam
(z-Wert) (z-Wert)

.19* .53**

Fundamentalistische
Ideologie (der
Ungleichwertigkeit,
z-Wert)

Abbildung 10 Vollständige Mediation der Beziehung zwischen IdentiÀkation mit


Deutschland und Gewaltbereitschaft gegen den Islam über fundamenta-
listische Ideologie der Ungleichwertigkeit.
Ideologien der Ungleichwertigkeit und Rechtsextremismus … 185

Tabelle 9 Test auf indirekte Effekte und Bootstrapanalyse

Mediatorvariable Z p BootLLCI BootULCI


Ideologie der Ungleichwertigkeit 2.1636 .0305 .0210 .2058
Anmerkungen: Z = Z-Wert der Bootstrap-Analyse; p = SigniÀkanzniveau, BootLLC I =
untere Grenze des KonÀdenzintervalls (lower level conÀdence interval);
BootULCI = obere Grenze des KonÀdenzintervalls (upper level conÀdence
interval)

Interpretation:
Auch in dieser dritten Sekundäranalyse Ànden wir empirische Hinweise, die die
Kernhypothese der Theorie eines identitätsstiftenden politischen Fundamentalis-
mus (TIF) zu stützen vermögen. Nicht nur die IdentiÀkation mit rechten Cliquen
oder mit rechten Subkulturen bzw. Milieus, auch die starke IdentiÀkation mit
Deutschland (im Sinne von „Deutschsein ist ein wichtiger Teil von mir“) spiegelt
zum einen wichtige Aspekte der sozialen Identität wider und wirkt zum anderen
als Mediator zwischen den potentiellen Prädiktoren (hier den autoritären Überzeu-
gungen und speziÀschen Fernsehpräferenzen) und der fundamentalistischen Ideo-
logie der Ungleichwertigkeit. Außerdem lässt sich auch in dieser Sekundäranalyse
ein Pfad von der IdentiÀkation mit Deutschland mediiert über die Ideologie der
Ungleichwertigkeit zur Gewaltbereitschaft gegenüber dem Islam nachweisen.
Dass die nationale Identität (als Deutsche bzw. Deutscher) Teil der sozialen
Identität sein kann, ist in verschiedenen Studien ausgiebig empirisch überprüft
worden (z. B. Esses, Wagner, Wolf, Preiser & Wilbur, 2006; Koschate, Hofmann
& Schmitt, 2012). Der EinÁuss der nationalen Identität auf Vorurteile gegenüber
Muslimen (z. B. Tausch, Spears & Christ, 2009) lässt sich ebenso nachweisen wie
der positive Zusammenhang zwischen starker IdentiÀkation mit der deutschen Na-
tion (im Sinne eines Nationalismus) und fremdenfeindlichen Vorurteilen (Schnö-
ckel, Dollase & Rutz, 1999). Auch im Thüringen-Monitor aus dem Jahre 2013
(Best et al., 2013, S. 105) erwies sich der Ethnozentrismus, also die Abwertung des
„Fremden“ bei gleichzeitiger Überhöhung der eigenen nationalen und ethnischen
Identität, als ein wichtiger Faktor für rechtsextreme Orientierungen.
Allerdings ist in diesem Kontext auch der häuÀg betonte Unterschied zwischen
nationalistischer und patriotischer IdentiÀkation mit der eigenen Nation nicht zu
vernachlässigen (vgl. z. B. Blank & Schmidt, 2003; Heyder & Schmidt, 2002). So
konnten Heyder und Schmidt (2002) in einer Erhebung im Rahmen des Projekts
„Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ empirisch belegen, dass durch natio-
nalistische IdentiÀzierungen auch antisemitische, fremdenfeindliche und islam-
feindliche Einstellungen verstärkt werden. Patriotische Einstellungen hingegen
reduzieren in dieser Studie die Abwertung von „Fremdgruppen“. Mummendey,
186 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke

Klink und Brown (2001) sehen im Patriotismus und im Nationalismus ebenfalls


unterschiedliche Formen der kollektiven Selbstbewertung. Soziale Vergleiche mit
anderen Nationen seien eng mit Nationalismus oder „blindem“ Patriotismus ver-
knüpft. Temporale Vergleiche der eigenen Nation zu unterschiedlichen Zeitpunk-
ten hingegen würden eher dem Muster eines „konstruktiven“ Patriotismus entspre-
chen. In Kommentaren zur Arbeit von Mummendey et al. (2001) bezweifeln z. B.
Hopkins (2001) und Condor (2001) allerdings die Angemessenheit der Unterschei-
dung von Patriotismus und Nationalismus auf der Basis der untersuchten sozialen
und temporalen Vergleichsprozesse. In Anlehnung an Billig (1995) können sowohl
der Patriotismus als auch der Nationalismus als ideologisch aufgeladene soziale
Konstruktionen betrachtet werden. Manchmal fördere – so Billig (1995) – eine
solche Konstruktion die soziale Diskriminierung, manchmal verhindere sie der-
artige Ablehnungen aber auch, je nachdem wie und zu welchem Zwecke sie von
politischen Eliten eingesetzt werden. IdentiÀkation mit der Nation schließe sowohl
temporale wie soziale (also Intergruppen-)Vergleiche ein und es sei fraglich, ob
eine Trennung zwischen beiden Vergleichsprozessen ökologisch valide sei, das
heißt, außerhalb eines sozialpsychologischen Experiments überhaupt anzutreffen
ist. Letztlich habe jedes Verweisen auf eine nationale Zugehörigkeit das Potential,
als nationalistisch oder patriotisch interpretiert zu werden.
Vielleicht, so ließe sich auf der Basis unserer Befunde vermuten, hängen Vor-
urteile gegenüber Fremden (also Ideologien der Ungleichwertigkeit) nicht primär
von der (nationalistischen versus patriotischen) IdentiÀkation mit der eigenen
(deutschen) Nation ab, sondern von anderen Prädiktoren (z. B. autoritären Über-
zeugungen) und deren Mediation bzw. Vermittlung durch die nationale Identität.

4 Schlussfolgerungen

Im Sinne von Thomas Meyer (2011, S. 63ff.) betrachten wir den Rechtsextremis-
mus als eine Form des Ethno-Fundamentalismus. Rechtsextremismus ist eine
militante Ideologie, die zur Grundlage von negativen Gefühlen und Gewaltbereit-
schaft gegenüber all jenen werden kann, die diese Ideologie nicht befürworten
bzw. ablehnen.
Die Prädiktoren, also die Aussagen über die Verursachung und Entwicklung,
des Rechtsextremismus sind komplex und vielfältig. Sie Ànden sich auf den mikro-,
meso- und makro-sozialen Strukturebenen; z. B. als Beschaffenheiten autoritärer
Überzeugungen oder als EinÁuss der medialen Berichterstattung. Entscheidend
für die Wirkung dieser und anderer Prädiktoren ist aber – nach unserer Auffas-
sung – die funktionale Passung mit der Suche, Fundierung und Stabilisierung der
Ideologien der Ungleichwertigkeit und Rechtsextremismus … 187

sozialen Identität: Sofern die entsprechenden Prädiktoren nützlich sind, um die


soziale Identität der betreffenden Akteure zu stützen, haben diese Prädiktoren ver-
mittelt über die entsprechenden Aspekte der sozialen Identität (bzw. der sozialen
IdentiÀkation mit relevanten Bezugsgruppen) auch einen fördernden EinÁuss auf
die Akzeptanz der fundamentalistischen Ideologie.
Das heißt, die in den diversen Studien nachgewiesenen Prädiktoren für Rechts-
extremismus wirken. Ihre Wirkung wird aber nur verständlich, wenn sie im Kon-
text der besagten funktionalen Passung mit den Bestrebungen nach positiver sozia-
ler Identität interpretiert werden. Mit der Kernhypothese der TIF haben wir diese
funktionale Passung zu beschreiben versucht: Die soziale Identität als IdentiÀka-
tion mit relevanten Bezugsgruppen fungiert als Mediator zwischen den Kontext-
bedingungen und der fundamentalistischen Ideologie der Ungleichwertigkeit und
den Gewaltpotentialen.21
Die diesen Analysen zugrundeliegenden Studien wurden allerdings nicht vor
dem Hintergrund der TIF konzipiert. Insofern haben unsere Illustrationen auch
ihre Grenzen, die sich u. a. in den Operationalisierungen der verschiedenen Prä-
diktoren und Mediatoren zeigen. Hier ist zukünftige Forschung gefragt.

21 Inwieweit mit der fundamentalistischen Ideologie der Ungleichwertigkeit und den Ge-
waltpotentialen auch spezifische (negative) Intergruppen-Emotionen verknüpft sind,
wie in der TIF angenommen, konnten wir auf der Grundlage der vorliegenden Sekun-
däranalysen nicht prüfen.
188 Wolfgang Frindte und Daniel Geschke

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Kapitel 3
„Nationalsozialistischer Untergrund“

„Man hat zu häuÀg den Eindruck, als falle Rassismus und Fremdenfeindlichkeit
durch Rechtsextremisten den Mitarbeitern mancher Sicherheitsorgane gar nicht
weiter auf, als sei das normal und werde durch unsere Verfassung nicht ausge-
schlossen. Das ist unmöglich und muss geändert werden.“

(Herta Däubler-Gmelin, 2013).


Nicht vom Himmel gefallen

Die Thüringer Neonaziszene und der NSU

Stefan Heerdegen

1 Einleitung

Die Mobile Beratung in Thüringen (MOBIT) berät seit dem Jahr 2001 engagierte
Einzelpersonen, Initiativen und Bündnisse, politische Mandatsträger, Vereine und
Verbände, aber auch staatliche Institutionen im möglichst widerständigen Umgang
mit extrem rechten Erscheinungsformen in Thüringen. Für die Beratungsnehmen-
den besteht der Mehrwert einer Beratung oft auch in der hohen Informiertheit der
Berater/innen. In Anbetracht der Differenziertheit und Schnelllebigkeit der extrem
rechten Szene hat Recherche für die Berater/innen einen hohen Stellenwert. Über
die Jahre hat sich so eine Fachexpertise in der Bewertung der Thüringer extrem
rechten bzw. neonazistischen Szene herausgebildet, die primär den Beratungsneh-
menden zur Verfügung gestellt wird. Mit dem vorliegenden Beitrag soll deutlich
werden, dass weder die Täter noch die Taten des sogenannten „Nationalsozialis-
tischen Untergrunds“ (NSU), soweit diese bisher bekannt sind, eine „neue Quali-
tät“ darstellen. Sie sind zwar individuell eigen, jedoch auch typische, originäre
Beispiele aus der Mitte der thüringischen extrem rechten Szene der 1990er Jahre.
In den Tagen nach dem 04. November 2011 wurden sukzessive neun Morde
an Migrant/innen, an einer Polizistin, Bombenanschläge und somit die Existenz
einer über dreizehn Jahre unentdeckt agierenden Neonazigruppe, deren Eigenbe-
zeichnung „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) lautete, bekannt. Vielen
Journalist/innen fehlte eine Idee eines adäquaten Umgangs; die Existenz neonazis-
tischen Terrors war schlicht nicht vorstellbar. Manche fragten, ob es sich überhaupt
um „Terror“ handelte, fehlten doch im Vergleich zu eingeübten Vorstellungen aus

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_6, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
196 Stefan Heerdegen

Zeiten der Roten-Armee-Fraktion öffentliche Bekennerschreiben. Hier zeigt sich


eine bräsige Haltung der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die sich nicht vorzustel-
len vermag, dass die Taten des NSU durchaus ihre öffentliche Wirkung innerhalb
der Migrant/innen-Communities1 hatten. Dabei handelt es sich bei den Taten des
NSU im Grunde um die konsequente Umsetzung ihrer extrem rechten Ideologie
(Gensing, 2012, S. 21ff). Andere wiederum wollten gern bestätigt bekommen, dass
es sich bei den ans Licht gekommenen Taten des NSU um eine neue, bisher nicht
gekannte Qualität extrem rechter Gewalt handelte, die weder die Öffentlichkeit,
noch staatliche Behörden so hätten ahnen können. Die NSU-Morde und -Anschlä-
ge weisen tatsächlich ihre eigenen SpeziÀka auf. Die Mobile Beratung in Thürin-
gen bemüht sich seit jenen Tagen in vielen Interviews deutlich zu machen, dass, bei
Kenntnis extrem rechter Ideologie, diese Taten tatsächlich nicht überraschen durf-
ten. Der vorliegende Beitrag setzt die Taten des NSU mit der extrem rechten Szene
insbesondere in Thüringen in Beziehung. Vor dem Hintergrund von ideologischer
Radikalität und praktischer Militanz behalten die Taten des NSU zwar ihre eigene
erschreckende Kontur, heben sich jedoch weitaus weniger vom gesellschaftlichen
Bild des aktuellen Neonazismus ab als oftmals angenommen. Sowenig mit der
Aufarbeitung des NSU-Komplexes Befasste an eine autonom arbeitende, exklu-
sive Zelle ohne Unterstützungsnetzwerk glauben (vgl. König & Haushold, 2014;
Oppermann, Hartmann & Högl, 2012), sowenig kann die terroristische Struktur
NSU ohne Beziehung zur neonazistischen Szene in Thüringen, im gesamten Bun-
desgebiet und zur internationalen Neonaziszene betrachtet werden.

2 Demokratiefeindlich, radikal und militant –


die Neonaziszene in Thüringen

Während die Täter/innen des NSU im Geheimen mutmaßlich ihre Anschläge und
Morde begingen, trat die Thüringer Neonaziszene öffentlich demokratiefeindlich
und menschenverachtend in Erscheinung.
Durch die 2000er Jahre hindurch fand in Thüringen jährlich eine Vielzahl von
Demonstrationen und Kundgebungen statt, bei denen auf den Transparenten der
unterschiedlichen beteiligten Gruppen, aber auch in den Redebeiträgen, immer
wieder die grundsätzliche Gegnerschaft zum „System“ bekundet wurde (vgl. Ab-
bildung 1). Hierbei bildeten in Parteien organisierte und parteiunabhängig agie-

1 Beispielsweise berichten Opfer des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße 2004,


dass sie gegenüber den polizeilichen Ermittlern aussagten, dass sie die Täter/innen in
Neonazi-Kreisen vermuten (Kölnische Rundschau, 2014).
Nicht vom Himmel gefallen 197

rende Neonazist/innen gemeinsam die extrem rechte bzw. neonazistische Szene in


Thüringen. Eine genaue Trennung in parteiunabhängiges und in Parteienspektrum
ist nur vereinzelt möglich.2

Abbildung 1 Neonazis bei einer Kundgebung am 16.04.2005 auf dem Erfurter Anger.
Anmerkungen: Auf dem Transparent ist zu lesen: „Das System ist der Fehler !!! Hartz IV
ein neuer Beweis ! Nationaler Widerstand Eisenach“. (Bildrechte: MOBIT)

Dabei ist die Ablehnung des „Systems“ nicht auf das politische System Demo-
kratie beschränkt. Nach extrem rechter Denkart ist eine Revision gesellschaft-
licher, humanistischer Werte, die sich seit der Französischen Revolution etab-
lierten, notwendig. Anschaulich wird das beispielsweise bei der Ablehnung des

2 Beispiele für Personalunionen sind Ralf Wohlleben (Aktivist der Kameradschaft „Na-
tionaler Widerstand Jena“ und stellvertretender NPD-Landesvorsitzender 2002-2008),
Patrick Wieschke (seit Ende der 1990er Jahre Führungsfigur der westthüringischen
Kameradschaftsszene und seit Anfang der 2000er Jahre in verschiedenen NPD-Äm-
tern, seit 2012 NPD-Landesvorsitzender) und Thorsten Heise (nach dem Verbot der
Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP) einer der bundesweit führenden Initia-
toren einer Organisierung in Kameradschaften, führte selbst die Kameradschaft Nort-
heim und die Kameradschaft Eichsfeld; auch er ist seit 2004 in diversen Funktionen
für die NPD aktiv).
198 Stefan Heerdegen

Gleichheitsgrundsatzes des Artikels 3 des Grundgesetzes. Über 200 Jahre nach


der Französischen Revolution mit ihrem Leitspruch „Freiheit, Gleichheit, Brüder-
lichkeit“ ist beispielsweise der Grundsatz der Gleichwertigkeit der Menschen zum
anerkannten Allgemeingut geworden. Es gehört heute zum Standard demokrati-
scher Verfassungen und Gesetzgebungen, die Menschenrechte, hier die Gleichheit
an Würde und Rechten, durchzusetzen. Die Neonaziszene geht hingegen von einer
Ungleichwertigkeit von Menschen aus (Heitmeyer, 1993, S. 13). Dieses rassistische
Wertigkeitsgefälle in der Weltsicht legitimiert Gewalttaten gegen Migrant/innen,
politisch Andersdenkende, Behinderte, Homosexuelle und weitere abgelehnte Be-
völkerungsgruppen.3 Übergriffe gegen sie erscheinen als weniger schwerwiegend
als gegen Angehörige der eigenen Gruppe. Gewalt gilt der neonazistischen Szene
generell als legitimes Mittel des politischen Kampfes (Röpke, 2004, S.40ff). Auch
hier zeigt sich die Ablehnung gesellschaftlicher, demokratischer Konventionen, in
diesem Fall des gewaltlosen Umgangs untereinander.
In Schriften, Aufdrucken auf Textilien, Reden oder in Songtexten Ànden sich
unzählige Belege für eine Befürwortung von Gewalt zur Durchsetzung von Zielen;
Militanz und rechter Terrorismus werden sogar gloriÀziert. Dies beginnt bei der
Verherrlichung des Vernichtungskriegs von Wehrmacht und Waffen-SS und reich-
te zum Zeitpunkt der Selbstenttarnung des NSU bis zu öffentlichen Sympathie-
bekundungen für die englische Terrorgruppe „Combat18“ oder den norwegischen
Attentäter Anders Behring Breivik.

2.1 Terroristische Traditionslinien

In den 1990er Jahren, der Zeit, in der sich der „Thüringer Heimatschutz“ (THS)
als Kameradschaftsnetzwerk bildete, und in der viele bis heute in die extrem rechte
Szene Eingebundene neonazistisch sozialisiert worden waren, konnten sich auch
Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe, ebenso wie jede/r andere Szenegänger/in an der
langen und vielfältigen Tradition rechten Terrors orientieren. Es erscheint müßig,
ohne eine Aussage der Überlebenden des Trios, Beate Zschäpe, die Bezugspunkte
zu Ànden, die bei der Bildung der NSU-Terrorzelle und für deren Vorgehensweise
tatsächlich eine Rolle spielten. Auf allgemeinere Aussagen kann aber der folgende
Abschnitt hinweisen.

3 In unzähligen RechtsRock-Songs werden Mord- und Pogromstimmungen gegenüber


diversen Gruppen besungen. Drastische Beispiele sind: Landser mit „Schlagt sie tot“,
Gigi und die braunen Stadtmusikanten mit „Anne Wand“ oder SKD mit „Hängt sie
auf!“.
Nicht vom Himmel gefallen 199

Bereits seit dem Ende des Ersten Weltkrieges existiert für die extreme Rechte
eine Tradition der Militanz bestehend aus Straßenschlachten, Freikorps und poli-
tischen Morden. Auch im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
gehörte Terror als Option politischen Handelns für die neonazistische Szene zum
Repertoire. Zu nennen sind: die „Wehrsportgruppe Hengst“ (1968-1971), die „Ak-
tion Widerstand“ (1970-1971), die „Volkssozialistische Bewegung Deutschlands“
(1971-1982), die „Wehrsportgruppe Hoffmann“ (1973-1980) und die „Deutschen
Aktionsgruppen“ (1980). Die Eigenbezeichnung „Deutsche Aktionsgruppen“
weist auf den Gedanken einer dezentralen Zellenstruktur statt großer, hierarchi-
scher Zusammenschlüsse hin. Obwohl tatsächlich nur eine Zelle bestehend aus
drei Personen Anschläge, teilweise mit Todesfolge, beging, bezifferte 1982 das
Bundesinnenministerium die Anzahl der Mitglieder auf 16 (Maegerle, 2014). Ge-
nerell war der Gedanke einer dezentralen Zellen-Struktur, abgekoppelt von der
extrem rechten Szene, hier nicht konsequent umgesetzt worden (vgl. Pfahl-Traug-
hber, 2012).
Auch in der Szene kursierende Texte belegen, dass die Vorgehensweise des
NSU-Trios keineswegs exklusiv ist. Die bereits 1978 veröffentlichten „Turner Dia-
ries“ von William L. Pierce (vgl. Sanders, Stützel & Tymanova, 2014) beschrei-
ben einen antisemitisch und rassistisch motivierten Überlebenskampf der „weißen
Rasse“. Wie Gideon Botsch (2012, S.109) schreibt, rezipierten deutsche Neonazis
Mitte der 1990er Jahre „angelsächsische Konzepte einer ‚leaderless resistance‘,
eines ‚führerlosen Widerstands‘“, dessen Gedanke durch die „Turner Diaries“ in
Form von einzelnen Einheiten in einem Netzwerk in die Neonazi-Szene einge-
führt war. Der US-amerikanische Rassist Louis Beam veröffentlichte 1992 einen
bereits 1983 geschriebenen Artikel in seiner Zeitschrift „The Seditionist“, in dem
er ein „cell system“, ein System aus einzelnen Zellen als einer hierarchischen Or-
ganisation überlegen darstellt (vgl. Beam, 1983). Konzept und Name waren also
spätestens seit Beginn der 1990er Jahre veröffentlicht und hatten in der extremen
Rechten Nordamerikas einen großen EinÁuss (Grumke, 2001, S. 90f).

2.2 Blood & Honour und der Terrorismus

In europäischen Kreisen des international agierenden Neonazi-Musiknetzwerks


Blood & Honour (B&H) verbreitet der norwegische Neonazi Erik Blücher unter
dem Pseudonym Max Hammer (Thomas, 2000) Überlegungen zu rechtem Terro-
rismus. In „The way forward“ propagiert er den terroristischen Kampf und Com-
bat18 als militanten Arm von Blood & Honour (apabiz, 2000; Hammer, 2000).
Im „Field Manual“ aus dem Jahr 2002 nutzt Blücher auch den Begriff „leader-
200 Stefan Heerdegen

less resistance“ (Hammer, 2002). Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jah-
re diskutierte die europäische Neonazi- bzw. Blood & Honour-Szene militante
Strategien (Sanders et al., 2014; Röpke, 2012, S. 51; Gensing, 2012, S.89). Nicht
nachgewiesen werden kann, ob und welche Texte Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt
und Beate Zschäpe selbst gelesen haben. Andrea Röpke (2012, S. 52) geht jedoch
von einem „intensiven Studium konspirativer Schriften (des Trios, Anmerkung
des Verfassers)“ aus. In Anbetracht der weitreichenden Vernetzung und zentralen
Einbindung der drei in den Thüringer Heimatschutz erscheint es schwer vorstell-
bar, dass sie den damaligen Strategiediskurs um Militanz, Terrorismus und ent-
sprechende Konzepte nicht wenigstens mittelbar erlebt hatten. Dies gilt auch für
andere damals schon in Thüringen aktive Neonazis, wie beispielsweise den heuti-
gen NPD-Landeschef Patrick Wieschke, Ralf Wohlleben und André Kapke. Alle
drei Neonazis prägten und prägen mit ihren legalen Aktivitäten die thüringische
extrem rechte Szene.

2.3 Neonazistische Gewalt und Militanz in Thüringen

Übergriffe auf Migrant/innen bzw. Menschen, die visuell nicht in die Vorstellung
der Neonazis vom Deutschen passen, sind in Thüringen belegt (ezra – Mobile Be-
ratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, siehe auch den
Text von Geschke & Quent in diesem Band).4 Damit ist die Schwelle von verbaler
Gewaltbefürwortung und -verherrlichung zur tatsächlichen Tat überschritten. Das
Spektrum reicht von Bedrohungen über Körperverletzungen bis hin zum Mord.
Die Wanderausstellung „Opfer rechter Gewalt in Deutschland seit 1990“ weist
in ihrer fünften Fassung derzeit 169 Morde, sechs davon in Thüringen, aus. Bei
einer neuen Fassung der Ausstellung dürfte ein weiterer Mord, der 2012 verübt
wurde, als siebte, belegte Tat in Thüringen aufgenommen werden (ezra – Mobile
Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, 2013). Es
lässt sich somit konstatieren, dass es auch außerhalb der NSU-Zusammenhänge
tödliche Gewalt in Thüringen gibt. Ein deutlicher Unterschied der Taten des NSU
im Vergleich zu den anderen Tötungsdelikten besteht jedoch in deren akribischer
Planung. Hier eskalierte nicht spontan die Gewalt. Die Morde des NSU-Trios wur-
den monate- bzw. jahrelang vorbereitet, dann verdeckt und kaltblütig ausgeführt.

4 Aufgrund des mehrfachen Trägerwechsels bei Thüringer Beratungsprojekten für Be-


troffene rechter Gewalt sind die Übergriffszahlen für manche Jahre nur begrenzt aus-
sagekräftig.
Nicht vom Himmel gefallen 201

2.4 Sprengstoff- und Waffenfunde

Durch die 2000er Jahre hindurch ist ebenfalls ein Interesse der neonazistischen
Szene in Thüringen an Waffen und Sprengstoff feststellbar. Bereits im Jahr 2000
verübten Mitglieder der „Kameradschaft Eisenach“ einen Sprengstoffanschlag auf
ein Imbissgeschäft eines türkischen Staatsangehörigen (Thüringer Landtag, 2001).
Zusammenhänge zum NSU sind bei dieser Tat zwar nicht erkennbar, jedoch lässt
diese Tat den Schluss zu, dass Anschläge auf von Migrant/innen geführte Ge-
schäfte kein exklusives Betätigungsfeld des NSU-Trios waren. Weitere Spreng-
stofffunde bzw. Funde von „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“
gab es nach Auskunft der Landesregierung im Jahr 1997 in Stadtroda, 2003 in
Ronneburg, 2008 in Wutha-Farnroda und 2011 in Berga (Thüringer Landtag,
2012). Neben Sprengstoff- und Bombenfunden sind auch wiederholt Schusswaffen
bei Angehörigen der extrem rechten Szene festgestellt worden. Beim damaligen
NPD-Bundesvorstandsmitglied Thorsten Heise (aktuell stellvertretender NPD-
Landesvorsitzender) aus Fretterode im Eichsfeld wurde bei einer Hausdurchsu-
chung des Bundeskriminalamtes im Jahr 2007 beispielsweise eine Pistole, eine
zerlegte Maschinenpistole sowie ein Maschinengewehr gefunden. Lediglich bei
dem Maschinengewehr aus der Zeit des zweiten Weltkriegs wären „kleinere Ver-
änderungen“ (Spiegel Online, 2012) nötig gewesen, um es wieder funktionsfähig
zu machen. Die anderen beiden Waffen waren also funktionsfähig bzw. die Waf-
fenteile vollständig vorhanden. Festzuhalten bleibt, dass Waffenfunde in der thü-
ringischen Neonaziszene sich nicht auf Schlagwaffen und Messer beschränken.
Die gefundenen Waffen sind nicht selten Schusswaffen, deren Besitz in Deutsch-
land keiner Privatperson erlaubt ist, sondern die vielmehr unter das Kriegswaffen-
kontrollgesetz fallen.

3 Thüringer Neonaziszene damals und heute

3.1 Der lange Schatten des „Thüringer Heimatschutzes“

Mitte der 1990er Jahre bildete sich die Organisationsstruktur „Anti-Antifa-Ostthü-


ringen“ heraus, die sich mit zunehmender Ausbreitung „Thüringer Heimatschutz“
(THS) nannte (Deutscher Bundestag, 2013). Nach Aussagen des Zeugen im Parla-
mentarischen Untersuchungsausschuss Tino Brandt (ehemalige FührungsÀgur des
THS) gehörte André Kapke als damaliger Kopf der Jenaer Kameradschaft eben-
falls zum Führungszirkel des THS. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wiederum
werden als Kapkes Stellvertreter, Zschäpe als Mitglied charakterisiert (Deutscher
202 Stefan Heerdegen

Bundestag, 2013). In Abstufungen gehören sie alle zum Kern des zwischenzeit-
lich auf ca. 120 Neonazist/innen angewachsenen Kameradschaftsnetzwerks THS.
Brandt sagte gegenüber dem Bundeskriminalamt (BKA) 2012 aus, dass der THS
eine Vernetzungsstruktur für fast ganz Thüringen darstellte (ausgenommen Mühl-
hausen und Nordhausen)5. Der „Thüringer Heimatschutz“ hat bis heute seine Auf-
lösung nicht erklärt, seine Kader traten Anfang der 2000er Jahre zunehmend als
NPD-Funktionäre auf. Daher kann davon ausgegangen werden, dass diejenigen
Neonazis, die in dieser Zeit bereits politisch aktiv waren, mit der Organisation, den
Protagonisten, aber auch den damaligen politischen, wie ideologischen Positionen
in Berührung gekommen sind. EinÁussreiche Führungspersonen, heute zumeist
mit NPD-Zugehörigkeit, entstammen in Thüringen der freien Kameradschaftssze-
ne und somit zumindest mittelbar dem Thüringer Heimatschutz. Das NSU-Mör-
der-Trio und die öffentlich und legal agierenden Personen der thüringischen ext-
rem rechten Szene haben dieselbe neonazistische Sozialisation der 1990er Jahre,
gehörten denselben Strukturen an.
Die extrem rechte Szene drückt bis heute gelegentlich ihre Verbundenheit zum
„Thüringer Heimatschutz“ aus. So wurde das bekannte Banner des THS beispiels-
weise 2006 anlässlich einer Rudolf-Heß-Gedenkdemonstration mitgeführt. Im
Jahr 2012, beim 10. sogenannten „Rock für Deutschland“ (RfD), einem seit 2003
in Gera stattÀndenden RechtsRock-Open-Air wurde sogar ein neu hergestelltes
Transparent als Bühnenhintergrund verwendet. Auch beim 12. sogenannten „Thü-
ringentag der nationalen Jugend“ (TdnJ) im Jahr 2013 in Kahla wurde es gezeigt
(Abbildung 2).

5 Brandt berichtet gegenüber dem BKA von den Mittwochsstammtischen im Gasthaus


„Zum Goldenen Löwen“ in Rudolstadt-Schwarza, zu dem nach und nach bis zu 100
Neonazist/innen zusammen kamen.
Nicht vom Himmel gefallen 203

Abbildung 2 Auf dem 12. sogenannten „Thüringentag der nationalen Jugend“ in Kahla
im Jahr 2013 drückt die extrem rechte Szene ihre Verbundenheit mit dem
Thüringer Heimatschutz aus. (Bildrechte: MOBIT)

Die Beispiele aus Gera und Kahla lassen den Schluss zu, dass nach dem öffentli-
chen Bekanntwerden des NSU durch das Zeigen dieses in Szenekreisen bekannten
Transparents eine versteckte Verbundenheit zu den NSU-Mitgliedern, die zuvor
auch THS-Mitglieder waren, zum Ausdruck kommt. Für diesen Schluss spricht
auch, dass in Kahla, das zum ehemaligen THS-Kerngebiet gehört, auch mehrere
Konzertbesucher mit „Freiheit-für-Wolle“-T-Shirts anwesend waren. Der wegen
„Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung“ verurteilte Martin Wie-
se (Pöhner, 2010) und ein weiterer Redner trugen dieses T-Shirt ebenfalls (siehe
Abbildung 3).
204 Stefan Heerdegen

Abbildung 3 Zur öffentlichen Bekundung der Solidarität mit Ralf „Wolle“ Wohlleben
trugen sowohl Redner als auch Helfer beim Kahlaer „Thüringentag der
nationalen Jugend“ T-Shirts mit der Aufschrift „Freiheit für Wolle“. (Bild-
rechte: MOBIT)

Mit „Wolle“ ist Ralf Wohlleben gemeint, der Weggefährte von Zschäpe, Mundlos
und Böhnhardt, der neben André Kapke die zweite FührungsÀgur in der Kame-
Nicht vom Himmel gefallen 205

radschaft Jena war und nun einer der Mitangeklagten im Münchner NSU-Prozess
ist. Zwischen 2002 und 2010 war Ralf Wohlleben NPD-Mitglied, zeitweise sogar
stellvertretender NPD-Vorsitzender in Thüringen (Gamma Redaktion Leipzig,
2012, S. 85). Wohlleben war 2002 beim ersten „Thüringentag der nationalen Ju-
gend“ Versammlungsleiter und blieb dem TdnJ auch in den Folgejahren als Redner
oder Mitorganisator verbunden. Wohlleben gehörte gemeinsam mit André Kapke
und Patrick Wieschke ebenfalls zum Organisationskreis des ersten sogenannten
„Fests der Völker“ 2005 in Jena (Röpke, 2005; Gensing, 2011). Dieses Rechts-
Rock-Event hatte gegenüber dem bereits erwähnten TdnJ und dem Geraer RfD
bei der Bandauswahl und den Rednern einen deutlichen Bezug zum verbotenen
Blood & Honour-Netzwerk (Röpke, 2005). In der Person Ralf Wohlleben kumu-
liert der Facettenreichtum der Thüringer extrem rechten Szene. Er personiÀziert
ihre Charakteristika, wie die unscharfen Grenzen zwischen NPD und Kamerad-
schaftsszene, die Sozialisierung im „Thüringer Heimatschutz“, die mittlerweile
deutschlandweit ausgeprägtesten Fähigkeiten zur Organisation von neonazisti-
schen Massenveranstaltungen und eben auch Ambitionen zu bzw. Verwicklungen
in militante und rechtsterroristischen Aktionen.

3.2 Die Bedeutung von Blood & Honour in Thüringen

Auf eine vollständige Darstellung des Blood & Honour-Netzwerkes, seine Aktivi-
täten, Protagonisten etc. wird hier verzichtet. Da dieses Neonazi-Netzwerk jedoch
einerseits beim Abtauchen des Jenaer Nazi-Trios eine entscheidende Rolle spielte
und andererseits auch ein zentraler Bestandteil der Geschichte der Thüringer ext-
rem rechten Szene darstellt, sollen dennoch einige Informationen einÁießen.
Thüringen hatte seit dem Jahr 1997 bis zum Verbot des Blood & Honour-Netz-
werkes im Jahr 2000 ebenso wie Sachsen eine aktive eigene Sektion. Der Sek-
tionsleiter Thüringens Marcel Degner aus Gera fungierte auch als Kassenwart
der Blood & Honour-Division Deutschland (Haskala Jugend- und Wahlkreisbüro
Katharina König (MdL), 2010; Schäfer, Wache & Meiborg, 2012, S. 35f). Auch
die Jugendorganisation der Blood & Honour-Division Deutschland „White Youth“
wurde in Gera gegründet (Haskala, 2010). Bereits Mitte der 1990er Jahre bewegte
sich Uwe Mundlos in der Sächsischen Neonaziszene und knüpfte Blood & Ho-
nour-Kontakte (Wellsow, 2012, S. 32f). Uwe Mundlos stellte die sächsischen Blood
& Honour-Aktivisten André Kapke und Ralf Wohlleben vor (Schäfer et al., 2012,
S. 35).
Abgesehen davon, dass mit Marcel Degner eine für die bundesdeutsche Struk-
tur Blood & Honour zentrale Figur aus Thüringen stammte, spielte das internatio-
206 Stefan Heerdegen

nal agierende (Skinhead)-Musik-Netzwerk innerhalb der Thüringer Neonaziszene


eine bedeutende Rolle. Da schon der britische Gründer von Blood & Honour, Ian
Stuart Donaldson in Musik das ideale Mittel sah, um Jugendlichen den Natio-
nalsozialismus näherzubringen (Langebach & Raabe, 2013, S. 8), verwundert es
nicht, dass auch die thüringische Sektion Konzerte veranstaltete und die Szene mit
Tonträgern versorgte (ebd., S. 8). Auch nach dem Verbot von Blood & Honour in
Deutschland am 12. September 2000 waren seine Strukturen in Thüringen weiter
aktiv. Beispielsweise steuerten thüringische RechtsRock-Bands über die Hälfte der
Beiträge auf dem im Jahr 2003 erschienenen Blood & Honour-Sampler „Trotz
Verbot nicht tot“ bei. Auch kam es am 25. November 2003 und am 07. März 2006
zu Hausdurchsuchungen wegen des illegalen Fortführens von Blood & Honour
in verschiedenen Orten in ganz Thüringen. Die Strategie, über das Medium Mu-
sik für Interessent/innen attraktiv zu sein und Zulauf für die thüringische extrem
rechte Szene zu organisieren, wird in Thüringen weiterhin unter Verzicht auf allzu
deutliche Hinweise auf Blood & Honour betrieben. Die Mobile Beratung in Thü-
ringen verzeichnet seit 2007 jährlich zwischen 18 und 28 RechtsRock-Konzerte
(MOBIT e.V., 2014). Darunter fallen auch Veranstaltungen im öffentlichen Raum
wie die bereits oben benannten Großveranstaltungen. Sympathiebekundungen für
das verbotene Netzwerk können sich Besucher des Geraer „Rock für Deutschland“
zuweilen nicht verkneifen. Sie erscheinen mit T-Shirts auf denen oberÁächlich be-
trachtet das typische Blood & Honour-Logo gedruckt ist. Erst beim genauen Lesen
merkt man, dass dort „Bart & Homer“ zu lesen ist. Auch ein vom Veranstalter,
dem NPD-Kreisverband Gera, eingesetzter Ordner trug im Jahr 2012 dieses T-
Shirt (siehe Abbildung 4).
Nicht vom Himmel gefallen 207

Abbildung 4 Zwölf Jahre nach dessen Verbot bekundet ein Ordner beim neonazisti-
schen sogenannten „Rock für Deutschland“ in Gera seine Sympathie für
das international agierende Musik-Netzwerk „Blood & Honour – Division
Deutschland“. (Bildrechte: MOBIT)

4 Fazit

Zusammengefasst lässt sich belegen, dass:

• die Täter/innen des selbsternannten Nationalsozialistischen Untergrunds ge-


meinsam mit wichtigen Szene-Funktionären in der thüringischen, neonazis-
tischen Kameradschaftsszene der 1990er Jahre, im Thüringer Heimatschutz,
sozialisiert und radikalisiert worden sind,
• Waffen, Sprengstoffe, Wehrsport, Übergriffe und Mordanschläge fester Be-
standteil des extrem rechten Aktionsrepertoires sind,
• extrem rechte Ideologie in ihrer Konsequenz eine militante, terroristische und
eliminatorische Komponente aufweist,
• Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt direkte Verbindungen zu Blood & Honour-
Strukturen hatten,
• in Strategiepapieren bzw. -diskussionen von Blood & Honour die Handlungs-
weise des NSU als „Führerloser Widerstand“ vorskizziert war.
208 Stefan Heerdegen

Das terroristische Vorgehen des NSU kann bei eingehender Betrachtung der
thüringischen extrem rechten Szene nicht überraschen. In der Bereitschaft zum
brutalem Agieren statt zu Argumentieren liegt der Unterschied zwischen der
NSU-Zelle, bestehend aus Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos, und der übrigen neo-
nazistischen Szene. Der Beitrag hat nachgewiesen, dass dafür notwendige inhalt-
liche und strukturelle Voraussetzungen nicht nur zur Zeit des Untertauchens des
Jenaer NSU-Trios vorhanden waren, sondern seither auch unabhängig von Bezie-
hungen zum Nationalsozialistischen Untergrund in Thüringen weiterhin gegeben
sind. Es existiert ein mörderisches Potential, bestehend aus der Ablehnung von
universeller Menschenwürde und Demokratie, ideologisierten, (potentiellen) Tä-
ter/innen, die physische Gewalt ausüben, dem Verschaffen und vorrätig halten von
Tatwaffen, einem funktionsfähigen Netzwerk und einer nicht erst seit dem NSU
erprobten Strategie.
Nicht vom Himmel gefallen 209

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210 Stefan Heerdegen

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Nicht vom Himmel gefallen 211

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Hamburg: VSA-Verlag.
Uwe Böhnhardt

Rekonstruktion einer kriminellen Karriere

Heike Würstl

1 Einleitung

Ziel der Abhandlung ist es, den Subjektwerdungsprozess von Uwe Böhnhardt,
einem der Kernmitglieder des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), näher
zu beleuchten. Wie der Aufsatztitel erkennen lässt, sind seine rechtsextremistischen
Gewalttaten in eine kriminelle Karriere eingebettet, die sich nicht ausschließlich
auf den Phänomenbereich der politisch motivierten Straftaten beschränkt. Böhn-
hardt steigt mit Straftaten, die einen geringen Grad an Sittlichkeitsverletzung im-
plizieren (Diebstähle, Einbrüche), in die Kriminalität ein. Der Schweregrad an
sittlicher VerwerÁichkeit steigert sich zunehmend und gipfelt schließlich in der
Ermordung von mindestens zehn Menschen.
Der Werdegang Böhnhardts fügt sich in die Ergebnisse lebenslauforientierter
Rechtsextremismusforschung ein, die eine hohe AfÀnität zwischen den Lebens-
läufen von Rechtsextremisten und Kriminellen, die mit unpolitischen Straftaten
auffallen, herausgefunden haben (vgl. z. B. Kraus & Mathes, 2010, S. 91) und die in
den Daten bestätigt fanden, dass fremdenfeindliche Gewalt zuerst Gewalt und erst
dann Fremdenfeindlichkeit ist (vgl. ebd., S. 92). Willems konstatiert beispielsweise
für das Phänomen der Fremdenfeindlichkeit: „Die durchgehende öffentliche The-
matisierung der fremdenfeindlichen Jugend-Gewalt als eine rechtsextremistische,
neonazistische oder faschistische Gewalt wird (...) durch die empirischen Daten
keineswegs gedeckt.“ (Willems, 1993, S. 99). Krüger kommt in ihrer biograÀschen
Untersuchung zu dem Ergebnis, dass „vermeintlich rechte Gewalttaten entweder
gar nicht oder nur teilweise durch rechte Einstellungen motiviert werden“ (Krüger,

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_7, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
214 Heike Würstl

2008, S. 16). Vielmehr seien es genutzte Gelegenheiten, um persönliche, soziale


und emotionale Bedürfnisse zu befriedigen.
An Hand der objektiven Lebensdaten von Uwe Böhnhardt werde ich aufzeigen,
welche biograÀschen Entscheidungen ihm innerhalb seines sozialen und histori-
schen Kontexts objektiv, d. h. unabhängig von deren subjektiv-intentionaler Reprä-
sentanz, zur Verfügung standen, welche er tatsächlich realisierte bzw. nicht rea-
lisierte und welche objektive Motivation hinter seinen Entscheidungen gestanden
haben könnte.1
Theoretisches Fundament meiner Darlegung bildet das Individuierungskonzept
der strukturalen Soziologie (vgl. Wagner, 2004a, 2004b; Oevermann, 1979, 2009).
Danach werden an das Subjekt zunächst von außen im Rahmen der sozialisatori-
schen Interaktion Strukturen herangetragen, die es ihm zunehmend ermöglichen,
sich selbst zu konstituieren und Strukturen selbstständig zu deuten. Im Verlauf
der Subjektwerdung muss es vier ontogenetisch bedingte Ablösungskrisen (Ge-
burt, Mutter-Kind-Bindung, ödipale Krise und Adoleszenz) meistern. Der Grad,
in dem dies gelingt, setzt Möglichkeiten und Grenzen für zukünftige biograÀsche
Entscheidungen.
Beginnen werde ich mit der Erörterung der familiären und historischen Kon-
textbedingungen. Sie sind nicht im Sinne einer Entscheidungsdetermination zu
verstehen. Vielmehr stecken sie den Entscheidungsraum ab, indem sie Handlungs-
alternativen eröffnen oder beschränken.

2 Generation, Herkunftsmilieu, Herkunftsfamilie

Uwe Böhnhardt wird 1977 in Jena (DDR) geboren. Sein Vater, Jahrgang 1944,
ist Ingenieur. Seine Mutter, 1948 geboren, erlernt den Beruf einer Unterstufen-
lehrerin und arbeitet im Bereich der Sonderschulpädagogik. Uwe Böhnhardt hat
zwei ältere Geschwister. Jan, der älteste Bruder, wird 1969 geboren, Peter, der
zweitälteste Bruder, 1971.
Uwe Böhnhardt gehört einer Generation an, deren Angehörige zum Zeitpunkt
ihrer Adoleszenz, die sie etwa zwischen 1992 und 1996 erleben, von den Er-
wachsenen sich selbst überlassen bleiben. Eltern, Lehrer und staatliche Akteure
beÀnden sich infolge der Transformation der ostdeutschen Gesellschaft in einer
Orientierungslosigkeit. Sie üben ihre Korrektivfunktion im Falle adoleszenzbe-
dingter Normenüberschreitung nur eingeschränkt aus, weil sie selbst nicht wissen,

1 Eine Darstellung der vollständigen Fallrekonstruktion des Subjektbildungsprozesses


von Uwe Böhnhardt findet sich in Würstl (2015).
Uwe Böhnhardt 215

was in der neuen Gesellschaft als richtig oder falsch gilt. Die Identitätsentwürfe
der heranwachsenden Generation gestalten sich infolgedessen diffus. Während
die sogenannte Wendegeneration (1970-1975 geboren) ihre Kindheit und Jugend
vollständig in der DDR erlebt, was größtenteils noch eine IdentiÀzierung als DDR-
Bürger zur Folge hat, ist die Phase der primären Sozialisation bei der hier in Frage
stehenden Generation fragmentiert. Jana Hensel, Jahrgang 1976, beschreibt sie in
ihrem Roman „Zonenkinder“ als „zwittrige Ostwestkinder“, die im Verschwinden
aufwuchsen, die weder Ostdeutsche noch Westdeutsche waren und deren Leben
aus Abschieden und Brüchen, aber nicht aus Übergängen, bestand (Hensel, 2003,
S. 74, 160). Die Generation Böhnhardts ist zu jung, um in das sozialistische System
verstrickt gewesen zu sein und zu alt, um nichts mehr mit der DDR zu tun gehabt
zu haben. Sie beÀndet sich damit in einer ähnlichen Lage wie ihre Großeltern nach
dem Krieg, die den Nationalsozialismus zwar miterlebten, aber zu jung waren,
um darin verwickelt gewesen zu sein (vgl. Bürgel, 2006, S. 171). Die sogenannte
Flakhelfer-Generation kennzeichnet einen Habitus des äußerlichen Mitmachens
bei innerer Gleichgültigkeit. Diese Indifferenz gegenüber gesellschaftlichen Er-
wartungen kennzeichnet auch die Generation Böhnhardts. Sie erlebt die Ent- und
Abwertung ostdeutscher BiograÀen, die Deklassierung der Ostdeutschen zu Bür-
gern zweiter Klasse und den darauffolgenden Rückzug ihrer Eltern in eine ro-
mantisierte Ostalgie. Dieses einschneidende Erlebnis lässt ihnen eine pessimisti-
sche Grundstimmung zu eigen werden und erschwert ihnen die Ablösung aus der
Herkunftsfamilie. Die Kinder der Einheitsverlierer rebellieren nicht gegen ihre
niedergeschlagenen Eltern, sondern solidarisieren sich mit ihnen. Ihr Generations-
habitus der Indifferenz bedeutet für die Eröffnung und Schließung zukünftiger
Handlungsräume eine schwache pÁichtenethische und solidarische Bindung an die
staatsbürgerliche Gemeinschaft.
Die Eltern von Böhnhardt sind Bildungsaufsteiger ins sozialistische Establish-
ment. Die Mutter gehört als Lehrerin dem (bürgerlich-) humanistischen Unter-
milieu an, welches durch Tugenden der protestantischen Ethik, durch gesellschaft-
liche Verantwortungsübernahme, Familien- und Traditionsbezogenheit und eine
stark ausgeprägte sozialistische Grundhaltung gekennzeichnet ist (vgl. Hofmann
2010, S. 11). Der Vater ist dem technokratischen Untermilieu angehörig. EfÀzienz-
und Erfolgsorientierung, Streben nach Perfektion und ein technokratisches Welt-
bild kennzeichnen dieses Submilieu (vgl. ebd.). Als Angehörige der sozialistischen
Funktionselite fühlen sich die Eltern der DDR verpÁichtet und verhalten sich des-
halb bis mindestens in die 1980er Jahre äußerlich systemloyal. Zumindest für den
Vater ist aufgrund seiner noch bürgerlichen Erziehung – er verlässt die Schule
noch vor der grundlegenden Schulreform 1959 – und seiner Zugehörigkeit zur
Schicht der ideologisch distanzierten technischen Intelligenz von einer nach innen
216 Heike Würstl

gekehrten systemskeptischen Haltung auszugehen. Nach der „Wende“ bricht das


Herkunftsmilieu der Eltern weg. Damit entfällt für Uwe Böhnhardt die privilegier-
te C hance, im Milieu der sozialistischen Elite zu verbleiben. Das sozialistische
Establishment rekrutierte sich ab Mitte/Ende der 1960er Jahre zunehmend aus
sich selbst (vgl. Geißler, 2008, S. 289).
Als Letztgeborenen kommt Uwe Böhnhardt in seiner Herkunftsfamilie die
Position des Benjamins zu, der von hohen Erwartungen der Eltern weitgehend ver-
schont bleibt und verwöhnt wird. Aufgrund des großen Altersabstands zu seinen
Brüdern wächst er eher als ein Einzelkind auf. Die Geschwister sind für ihn weder
Spielkameraden noch Konkurrenten, sondern tendenziell IdentiÀkations- und Be-
zugspersonen.

3 Lebenslauf

3.1 Kindheit

Uwe Böhnhardt wird 1984 im Alter von sechs Jahren eingeschult. 1988 stirbt der
mittlere Sohn von Familie Böhnhardt unter vermutlich ungeklärten Todesumstän-
den. Böhnhardt bleibt in der siebenten Klasse sitzen und muss sie wiederholen.
Ab 1992, da ist er 14 Jahre alt, fällt er zunächst mit kleinkriminellen Handlungen
auf. Er beginnt die Schule zu schwänzen. Im Frühjahr 1992 kommt er für wenige
Wochen ins Kinderheim, wird aufgrund fortgesetzter Devianz jedoch wieder nach
Hause geschickt. Nachdem er in der achten Klasse erneut sitzen bleibt, wechselt er
auf eine Lernförderschule. 1993 kommt er zum ersten Mal in Untersuchungshaft.
Bis zum Alter von zehn Jahren verläuft das Leben von Böhnhardt unauffällig.
Er wird altersgerecht mit sechs Jahren eingeschult, so dass von einem normalen
Entwicklungsstand auszugehen ist. Die Polytechnische Oberschule (POS) stellt
im zweigliedrigen DDR-Schulsystem den Normalfall dar. Die beiden wichtigs-
ten Charakteristika dieser Schulform sind eine starke ideologische Erziehung im
Sinne eines Freund-Feind-Schemas zwischen „sozialistischen Bruderstaaten“ und
„kapitalistischen Klassenfeinden“. Das zweite Merkmal ist die Fokussierung auf
naturwissenschaftliche Lehrinhalte, die für gut ausgebildete Arbeitskräfte im
Arbeiter- und Bauernstaat sorgt. Mit dem Besuch der POS stehen Böhnhardt in
der DDR alle Bildungswege offen.
1988 gibt es mit dem Tod seines Bruders einen gravierenden Einschnitt in sei-
nem Leben. Peter Böhnhardt, der mittlere der drei Geschwister, wird morgens tot
vor der Haustür der elterlichen Wohnung aufgefunden. Die genauen Todesumstän-
de gelten als nicht aufgeklärt. Todesursache ist eine Unterkühlung. Entscheidend
Uwe Böhnhardt 217

für die Persönlichkeitswerdung ist nicht der Tod an sich, sondern die subjektive
Repräsentanz dieses Ereignisses. Da die Sinninterpretationskompetenz – d. h. die
Fähigkeit, Ereignisse adäquat zu erfassen und zu deuten – von Uwe Böhnhardt
im Alter von zehn, fast elf Jahren noch nicht vollständig ausgebildet ist, bedarf er
der Deutungs- und Krisenlösungsunterstützung, vornehmlich seiner Eltern. Die
ungeklärten Todesumstände, die eine vollständige Verarbeitung des Ereignisses
innerhalb der Familie verhindern, lassen die Hypothese zu, dass der Tod nicht
adäquat bewältigt wurde und dass die sozialisatorischen Interaktionsbedingungen
spätestens ab diesem Zeitpunkt gestört sind.
Die Eltern artikulieren den Tod heute als vermeintlichen Sturz ihres Sohnes
von der Lobdeburg, einer Burgruine am Stadtrand Jenas. Auf ihr soll er mit Freun-
den umhergeklettert sein. Auch eine Fremdeinwirkung schließen sie nicht aus. Sie
berichten gegenüber einer Zeitung, ihr Sohn sei mit vielfachen Knochenbrüchen
und stark alkoholisiert aufgefunden worden. Freunde sollen ihn nach dem Sturz
von der Lobdeburg nach Hause geschafft und vor ihrem Wohnhaus abgelegt ha-
ben. An der Artikulation des Ereignisses durch die Eltern erscheint zweifelhaft,
wie und warum der im Sterben liegende Sohn durch seine Freunde transportiert
wurde. Man muss sich nur einmal vorstellen, dass ein schwerstverletzter Jugend-
licher – sagen wir mal, er wog 65-70 kg – durch seine Freunde mindestens einen
halben Kilometer durch ein Wohngebiet getragen wurde, ohne dass sie irgendwer
sah. Es war in der DDR auch nicht so, dass jeder 18-Jährige einen Pkw besaß, mit
dem der Schwerverletzte hätte gefahren werden können. Ein Transport mit einem
Moped erscheint nahezu unmöglich. Genauso unbeantwortet ist die Frage nach
dem Motiv der Ortsverlagerung. Warum haben seine Freunde nicht anonym den
Notarzt gerufen oder ihn in unmittelbarer Nähe zur Lobdeburg an eine gut ein-
sehbare Stelle gelegt, wo er hätte gefunden werden können? Letztendlich ist eine
empirisch fundierte abschließende Bewertung der Todesumstände nicht möglich,
weil die polizeilichen Akten für die Analyse nicht zur Verfügung stehen, vermut-
lich existieren sie auch gar nicht mehr. Jedenfalls wäre es in der Kriminalgeschich-
te nicht der erste Fall, indem Angehörige versuchen, die wahren Todesumstände zu
verheimlichen. Das kann aus den unterschiedlichsten Motiven geschehen: Scham,
moralische Mitschuld oder Ànanzielle Motive – um nur einige zu nennen.
Egal, ob die Eltern die wahren Todesumstände kannten oder ahnten oder ob die
Todesumstände tatsächlich ungeklärt blieben, in jedem Fall wird die traumatische
Verarbeitungskrise der Familie durch die Art und Weise des Todes verschärft. Der
Hang des technokratischen Milieus zum Pragmatischen, durch den Vater vertre-
ten, und die nahezu protestantische Ethik des bürgerlich-humanistischen Milieus,
welches die Mutter verkörpert, offerieren den Eltern eine inadäquate Bewälti-
gungsstrategie der Art „Augen zu und durch“. Sie werden mit starkem Engagement
218 Heike Würstl

ihren beruÁichen und gesellschaftlichen PÁichten nachkommen und der gemein-


samen emotionalen Verarbeitung des Traumas innerhalb der Familie wenig Raum
geben. Die Interaktion wird vom Schweigen der Eltern über den Tod geprägt sein.
Es ist zu erwarten, dass bei Uwe Böhnhardt SozialisationsdeÀzite infolge einer
inadäquaten Bewältigung auftreten werden.
Etwa zwei Jahre nach dem Tod des Bruders gibt es eine erste biograÀsche Auf-
fälligkeit. Uwe Böhnhardt bleibt in der sechsten Klasse sitzen. Dieses Ereignis
kann primär nicht mit einer Minderung in der Intelligenzleistung erklärt werden,
sondern deutet eher auf Probleme in der Subjektwerdung hin. Böhnhardts alters-
gerechte Einschulung und bis dato fehlende Schwierigkeiten mit dem Erreichen
des jeweiligen Klassenziels lassen keine kognitiven DeÀzite erkennen. Zwei Hypo-
thesen für die Motivation des schulischen Einbruchs liegen nahe. Er könnte Folge
der Transformation der ostdeutschen Gesellschaft und der daraus resultierenden
Verunsicherung der Eltern, die sich auf Böhnhardt ausgewirkt haben könnte, sein.
Dagegen spricht die durchgängige Beschäftigung der Eltern während der „Wende“.
Es sind keine biograÀschen Brüche in ihren Lebensläufen erkennbar. Der Vater
wird im neuen Gesellschaftssystem in seinem Berufsprestige und seinen Einkom-
mensmöglichkeiten eher noch aufgewertet. Eine zweite Hypothese würde dem bis-
herigen Rekonstruktionsverlauf folgen. Das Sitzenbleiben könnte durch das prog-
nostizierte SozialisationsdeÀzit, welches aus dem unbewältigten Tod des Bruders
innerhalb der Familie resultiert, motiviert sein. Das schulische Scheitern markiert
dann die individuelle Krise, in der sich Böhnhardt beÀndet und die er wegen un-
zureichender Befähigung zu autonomem Handeln nicht selbständig lösen kann. Er
verweigert sich der schulischen Leistungsethik und damit dem beruÁichen Bewäh-
rungsfeld der Mutter. Damit grenzt er sich einerseits von ihr ab, sichert sich aber
zugleich ihre Zuwendung und konterkariert damit seinen Ablösungswunsch. Die-
ser Ablösungswunsch ist Folge der vom Tod des Bruders belasteten pathologischen
familialen Interaktionsstruktur, aus der er ausbrechen will, und dem Voranschrei-
ten seiner Ontogenese. Kurz: Böhnhardt will raus aus seiner Familie, vornehmlich
aus seiner Mutterbindung, kann es aber nicht, weil ihm die Autonomiebefähigung
dafür fehlt.
An dieser Stelle des Lebenslaufs stellt sich die Frage, ob die familiale Inter-
aktion nicht schon vor dem Tod des Bruders gestört war und damit neben den
ungeklärten Todesumständen für ein Misslingen der Bewältigung des Traumas
sorgte. Der Lebenslauf von Uwe Böhnhardt bietet dafür keine Anhaltspunkte. Es
gibt jedoch einige Indizien in den familialen Kontextdaten, die dahingehend ge-
deutet werden können. Zum ersten besteht eine Hypothese hinsichtlich des großen
Altersabstands von Böhnhardt zu seinen Geschwistern (6 Jahre) in ehelichen Prob-
lemen. Dem dritten Kind wäre dann die Funktion zugekommen, die Beziehung der
Uwe Böhnhardt 219

Eltern durch die gemeinsame Erfahrung der PÁege eines Kindes zu verbessern.
Zum zweiten würde der Tod von Peter Böhnhardt, wenn es ein Selbstmord war,
dafür sprechen. Ein drittes Indiz ist der frühe Auszug des ältesten Sohnes im Alter
von 18 Jahren und seine gescheiterte Ehe.
Im September 1991 muss Böhnhardt aufgrund der Transformation des ostdeut-
schen Schulsystems die Schule wechseln. Er strebt nun den Realschulabschluss
an. Dass er sich für den Realschul- und gegen den Hauptschulabschluss entschei-
det, bekräftigt die These, dass das Sitzenbleiben nicht durch Intelligenzminderung
motiviert war, denn sonst wäre der Besuch der Hauptschule rationaler gewesen.
Durch den anvisierten Realschulabschluss ist Uwe Böhnhardt im Vergleich zum
vorgezeichneten DDR-Bildungsweg weder besser noch schlechter gestellt, was ihn
wahrscheinlich keine besonders positive oder negative Bindung an den neuen Staat
ausprägen lässt.
Ab 1992 wird Böhnhardt erneut auffällig. Er schwänzt die Schule und begeht
kriminelle Handlungen, die sich in ihrem Grad an Sittlichkeitsverletzung perma-
nent steigern. Er begeht zunächst Diebstähle, bricht Fahrzeuge auf und fährt in ge-
stohlenen Autos umher. Er prügelt sich und erpresst einen Jugendlichen. Ab 1995
fällt er mit politisch rechts motivierten Straftaten auf, die vor dem Hintergrund der
deutschen Geschichte als besonders verwerÁich gelten. Die Delinquenz lässt sich
als Ausdruck der Zuspitzung der beschriebenen Ablösungsproblematik deuten.
Insbesondere in seinen Spritztouren mit den gestohlenen Fahrzeugen fernab der
Heimat – er wurde beispielsweise einmal an der Ostsee oder in Österreich fest-
gestellt – manifestiert sich sein Wunsch, aus der Familie auszubrechen. Aufgrund
seines SozialisationsdeÀzits verfügt Böhnhardt nicht über genügend Autonomie,
um sich auf sozial adäquate Art und Weise aus seiner Herkunftsfamilie zu lösen.
Sein Dilemma besteht darin, dass er Autonomie nur erwerben kann, indem er sich
in der eigenständigen Krisenbewältigung einübt, woran ihn jedoch die starke Bin-
dung, insbesondere an seine Mutter, hindert. Die zunehmende Aggressivität in
seinen Handlungen kann als Folge seiner Verunsicherung und Frustration über
seine Ablösungsschwierigkeiten gedeutet werden. Die überwiegend gemeinschaft-
liche Tatbegehung lässt darauf schließen, dass sich Böhnhardt einer delinquenten
peer-group angeschlossen hat.
Im April 1992 kommt er für wenige Wochen in ein Kinderheim. Dieses Lebens-
datum offenbart das endgültige Scheitern der familialen Sozialisation. Böhnhardt
wird von der Mutter ins Heim abgeschoben. Er wehrt sich dagegen, indem er fort-
gesetzt die Schule schwänzt und weiterhin Straftaten begeht. Damit zeigt er, dass
er die Heimeinweisung auch subjektiv als Abschieben interpretiert. Er hätte die
Chance gehabt, im Heim seine eingeschränkte Autonomie zu erweitern und sei-
ne SozialisationsdeÀzite aufzuholen. Er wird jedoch aufgrund der devianten Vor-
220 Heike Würstl

kommnisse aus dem Heim verwiesen und kehrt in die Familie zurück. Nicht nur
die Familie, sondern auch die staatliche Jugendhilfe, die nach alternativen Betreu-
ungsangeboten hätte suchen können bzw. müssen, scheitert. Spätestens ab diesem
Zeitpunkt kann von einem endgültigen Bruch mit den Eltern, vor allem mit der
Mutter, ausgegangen werden.
Ende des Schuljahres 1991/92 bleibt Böhnhardt erneut sitzen. Er wechselt dar-
aufhin an eine Lernförderschule und wird ein weiteres Mal durch die Mutter ab-
geschoben und stigmatisiert. Die Mutter nimmt ihn nun unter die Fittiche ihres
Berufsstandes (Sonderpädagogen) und bindet ihn damit noch stärker an sich. Sie
macht ihren Sohn zum pädagogischen Fall, worin sich einmal mehr ihr Scheitern
als Mutter, aber auch als Pädagogin zeigt. Sie bringt ihrem Sohn gegenüber zum
Ausdruck, dass sie ihm nicht zutraut, sich auf einer Regelschule zu behaupten, was
der Entstehung von Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen abträglich ist und seine
Autonomieentwicklung weiter behindert. Böhnhardt reproduziert seine Fallstruk-
tur, indem er sich auch dieses Mal gegen das Abschieben in Form von Delinquenz
zur Wehr setzt. Er bricht in seine Schule ein und wird erwischt. Daraufhin wird
er von der Schule verwiesen und kommt kurz darauf zum ersten Mal in Unter-
suchungshaft.
Auch hier scheitern die staatlichen Behörden an ihm und geben ihn auf. Der Ju-
gendvollzug überstellt ihn in den Erwachsenenvollzug, weil er während der Unter-
suchungshaft erneut kriminelle Handlungen begeht (bastelt an einer Rohrbombe
mit und ist an der Misshandlung eines Mithäftlings beteiligt).
Zwischenfazit: Böhnhardts Chancen auf eine adäquate Bewältigung seines Ab-
lösungsproblems und der beginnenden Adoleszenzkrise sind als äußerst ungünstig
zu bewerten. Ihm stehen lediglich informelle, in seinem Fall deviante peer-group-
Cliquen unterstützend zur Seite. Seine Eltern sind Teil seines Problems und fallen
somit als Bewältigungsressource aus. Die staatlichen Behörden der Jugendhilfe
und des Jugendvollzugs haben ihn aufgegeben, das Herkunftsmilieu des sozia-
listischen Establishments, das ihm Solidarität hätte gewähren können, existiert
nicht mehr. Ihm bekannte formale Jugendorganisationen gibt es nach 1990 nicht
mehr und die in Westdeutschland typische Vereinsstruktur hat sich in Ostdeutsch-
land noch nicht etablieren können. Böhnhardt ist in dieser wichtigen Lebensphase
hochgradig desintegriert und ist in seiner Entwicklungskrise, zu deren adäquaten
Bewältigung ihm infolge seiner SozialisationsdeÀzite die Befähigung fehlt, auf
sich allein gestellt. Infolge seiner fragmentierten Schulkarriere und seiner Stigma-
tisierung als Sitzenbleiber und Förderschüler wird er kaum Anschluss an normale
peer-groups im Rahmen der Schule Ànden. Was bleibt, sind in erster Linie Wohn-
gebietscliquen, die in Jena-Lobeda, dem Wohnort von Böhnhardt, zu Beginn der
1990er Jahre vor allem rechtsorientiert sind, nachdem sie aus dem Stadtzentrum in
Uwe Böhnhardt 221

die Randgebiete verdrängt wurden (vgl. Thüringer Landtag, 2013, S. 181). Im Falle
Böhnhardt kommen auch Knastgruppierungen in Frage. Jaschke u. a. führen aus,
dass der Anteil an Rechtsextremen zwischen 1993 und 1995 in manchen Jugend-
haftanstalten Ostdeutschlands 30 bis 50 % betragen hat (vgl. Jaschke, Rätsch &
Winterberg, 2001, S. 101). D. h. Böhnhardt ist prädestiniert dafür, in eine rechte
Jugendclique zu gelangen.
Wie meistert Böhnhardt seine Adoleszenzkrise, nach deren Bewältigung die
Formierung seiner Persönlichkeitsstruktur vorläuÀg abgeschlossen ist? Die Ge-
sellschaft erwartet von ihm als Heranwachsenden, dass er die Sinnfrage für sich
gelöst hat und sich in den drei Bereichen individuelle Leistung/Erwerbsleben, El-
ternschaft und Gemeinwohl/Staatsbürgerschaft bewährt. Von einer gelungenen
Krisenbewältigung ist zu sprechen, wenn der Adoleszent in diesen drei Bewäh-
rungsfeldern einen Standpunkt gefunden hat, der sich von denen der Eltern absetzt
und als gesellschaftlich akzeptiert gilt.

3.2 Adoleszenz

Im Alter von 16 Jahren (1994) geht Böhnhardt eine sozio-erotische Beziehung mit
Beate Zschäpe ein. Zwischen 1993 und 1996 absolviert er ein Berufsvorberei-
tungsjahr (BVJ) und im Anschluss daran eine Lehrausbildung zum Hochbaufach-
arbeiter. Ab 1994/95 ist er Mitglied der Anti-Antifa Ostthüringen bzw. des Thü-
ringer Heimatschutzes (THS). Er nimmt an Veranstaltungen der rechten Szene
teil und begeht Propagandadelikte. Er wird verdächtigt, ab Oktober 1996 an der
Herstellung von Briefbombenimitaten und Bombenattrappen beteiligt gewesen zu
sein. 1997 wird er vom Wehrdienst ausgemustert.
Mit 16 Jahren geht Böhnhardt seine vermutlich erste längerfristige sozio-ero-
tische Beziehung ein, in der sich das Strukturmuster seiner Mutter-Kind-Bindung
reproduziert. Seine Partnerin Beate Zschäpe ist ihm hinsichtlich ihres Alters, ihrer
Reife und ihres Bildungsstandes überlegen. Sie ist wie seine Mutter stark pÁege-
risch orientiert. Zschäpe wollte Kindergärtnerin werden, bekam aber keinen Aus-
bildungsplatz. Zum Zeitpunkt des Kennenlernens absolviert sie eine Lehre zur
Gärtnerin. Sie entscheidet sich für einen Beruf in der LandschaftspÁege, nach-
dem ihr eine Ausbildung in der KinderpÁege verwehrt wurde. Es ist davon aus-
zugehen, dass Zschäpe die Partnerschaft dominiert. Das bedeutet für Böhnhardt
Einschränkungen in diesem Bewährungsfeld und eine tendenziell misslungene
Partnerschaftswahl. Er sieht Beate Zschäpe möglicherweise als die Mutter, die er
sich immer wünschte – die ihn akzeptiert und ihm die Geborgenheit gibt, die er bei
seiner Mutter nicht Ànden konnte.
222 Heike Würstl

Im beruÁichen Bewährungsfeld scheitert Böhnhardt. Es gelingt ihm nach einer


Berufsausbildung zum Hochbaufacharbeiter aufgrund seines Ablösungsproblems
nicht, eine längerfristige Anstellung zu Ànden. Er ist bis zu seinem „Abtauchen“
im Jahr 1998 mit Ausnahme weniger Wochen Beschäftigungszeit arbeitslos, was
auf der Folie seines Herkunftsmilieus mit Deprivationserfahrungen einherge-
hen muss. Mit seiner Ausmusterung vom Wehrdienst wegen psychisch bedingter
Nichteignung wird er ein weiteres Mal als geistiger „TiefÁieger“ stigmatisiert. Zu-
dem wird ihm die Möglichkeit genommen, sein Faible für Sprengstoff und Waffen
in eine sozial adäquate Form im Rahmen einer beruÁichen Beschäftigung bei der
Bundeswehr zu kanalisieren.
Im dritten Bewährungsfeld scheitert Böhnhardt ebenfalls. Er orientiert sich zu-
nächst an einem negativen Sinnentwurf, indem er sich einer rechtsextremen Grup-
pierung (Anti-Antifa/Thüringer Heimatschutz) zuwendet und politisch motivierte
Straftaten begeht. Der Sinnentwurf verfestigt sich über die Adoleszenz hinausge-
hend zu einem abweichenden, Sozialität zerstörenden Identitätsentwurf, der in der
Gründung des NSU und der Ermordung von zehn Menschen gipfelt.

4 Fazit

Uwe Böhnhardt ist in allen von Anhut und Heitmeyer vorschlagen Integrations-
dimensionen hochgradig desintegriert (vgl. Anhut & Heitmeyer, 2007).2 Bereits in
der Schule bekommt er als Sitzenbleiber keine personale Anerkennung. Auch in
seinem Beruf misslingt ihm eine seiner Herkunft adäquate soziale Positionierung.
Er Àndet nach seiner Berufsausbildung zum Baufacharbeiter keine längerfristige
Anstellung. Auch auf institutioneller Ebene ist Böhnhardt desintegriert. Er ist als
Vorbestrafter gelabelt. Die negativen Folgen von Etikettierungen sind durch die
kriminalsoziologische Forschung hinreichend untersucht worden. Der Ausschluss
vom Wehrdienst stellt vor dem Hintergrund der hegemonial-männlichkeitsorien-
tierten rechtsextremen Szene objektiv, d. h. unabhängig von der subjektiv-inten-
tionalen Bewertung des Ereignisses, ein weiteres AnerkennungsdeÀzit dar. Auf
sozio-emotionaler Ebene ist ebenfalls keine Integration erkennbar. Die emotionale

2 Nach dem Desintegrationsansatz bedarf es der Einbindung der Gesellschaftsmitglie-


der auf drei Ebenen, um soziale Integration zu sichern. Der Einzelne muss sozial-
strukturell eingebunden sein, damit er an den materiellen und kulturellen Gütern der
Gesellschaft teilhaben kann. Er muss institutionell integriert sein, was ihm ein Aus-
gleich konfligierender Interessen ohne Verletzung seiner Integrität ermöglicht. Auf
einer dritten Ebene bedarf es emotionaler Bindungen zwischen Personen, die vor einer
Orientierungslosigkeit und Identitätskrise schützen (vgl. Anhut & Heitmeyer, 2007).
Uwe Böhnhardt 223

Bindung zu den Eltern ist spätestens seit dem Abschieben ins Heim und auf die
Förderschule gestört. Die pathologische Familiensituation zeigt sich darin, dass
sich sämtliche Familienmitglieder auf unterschiedliche Weise der Familie entzie-
hen. Der mittlere Bruder durch den Tod, der älteste Bruder durch einen frühen
Auszug, der Vater durch häuÀge WanderausÁüge und selbst die Mutter Áüchtet sich
aus ihrer Mutterrolle in ihre beruÁiche Rolle als Lehrerin, indem sie ihren Sohn
Uwe zum pädagogischen Fall macht. Das Herkunftsmilieu der sozialistischen
Funktionselite existiert nicht mehr. Dass Böhnhardt aus der sozio-erotischen Be-
ziehung zu Beate Zschäpe, die strukturell eher an eine Mutter-Kind-Beziehung als
an eine gleichberechtigte Partnerschaftsbeziehung erinnert, Anerkennung erfährt,
scheint zweifelhaft.
Böhnhardt könnte diese AnerkennungsdeÀzite kompensieren, wenn er über die
entsprechenden individuellen und sozialen Kompetenzen verfügt. Infolge seines
SozialisationsdeÀzits und der damit eingeschränkten Autonomie zur Lebensbe-
wältigung kann er dies jedoch nicht. Stattdessen schiebt er die Verantwortung für
sein Scheitern den Nichtdeutschstämmigen zu. Die rechtsextreme Ideologie er-
möglicht ihm, ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten und die Gewaltexzesse
des NSU vor sich selbst zu rechtfertigen, von sich abzuspalten und nicht an einer
damit verbundenen Schuldproblematik zu scheitern.
224 Heike Würstl

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Der Verfassungsschutz und der NSU

Dirk Laabs

Als Uwe Mundlos im November 2011 in einem Wohnmobil in Eisenach tot auf-
gefunden wurde, war der Mann dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) seit
über 16 Jahren ein Begriff. Anfang 1995 hatte der junge Neonazi Thomas Richter
aus Sachsen-Anhalt dem Bundesamt das erste Mal von Mundlos berichtet. Richter
war kurz zuvor vom BfV als Informant geworben worden und wurde als Quelle
Corelli geführt. Corelli sprach ausführlich über das Treffen mit Uwe Mundlos, der
zu der Zeit gerade seinen Grundwehrdienst ableistete – so geht es aus dem „Treff-
bericht“ hervor, der vom BfV über das Gespräch angelegt worden ist.1 Der Soldat
Uwe Mundlos habe ihm von der „Kameradschaft Jena“ erzählt, der 30 Mitglie-
der angehörten und die sich vor allem auf „Anti-Antifa-Arbeit“ konzentriere. Das
BfV legte aufgrund der Meldung von Corelli eine Akte über Uwe Mundlos an. In
den folgenden Jahren sollten Mitarbeiter des BfV regelmäßig Neues von Mundlos
und seinen Freunden erfahren – von anderen Informanten, von der Polizei, durch
eigene Maßnahmen. Das BfV begleitete die extremistische Karriere des jungen
Thüringers über Jahre, ohne ihn und seine Komplizen zu stoppen oder stoppen zu
können.
Uwe Mundlos, Jahrgang 1973, geboren in Jena, hatte schon zu DDR-Zeiten mit
rechtsradikalen Tendenzen sympathisiert, radikalisierte sich weiter nach dem Fall

1 Zu Lebzeiten hatte Thomas Richter in Verhören durch das BKA bestritten, Quelle
dieser Meldung sein. Tatsächlich gibt es kaum einen V-Mann im NSU-Komplex, der
Meldung über Mundlos oder andere Mitglieder des NSU nach dem 04.11.2011 bestä-
tigt hat.

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_8, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
226 Dirk Laabs

der Mauer, besuchte diverse Neonazi-Konzerte, verprügelte andere Jugendliche.


Noch vor seiner Bundeswehrzeit lernte Mundlos ältere Skinheads aus Chemnitz in
Sachsen kennen. Die Skinheads waren als besonders brutal bekannt, in den Jahren
1991, 1992 schienen sie machen zu können, was sie wollen, sie griffen Discotheken
und Flüchtlingsheime an, diverse Anzeigen verliefen im Nichts. Doch 1993 griffen
Polizei und Justiz schließlich durch, einige von Mundlos‘ Freunden wurden zu
mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Uwe Mundlos schickte ihnen Briefe ins Ge-
fängnis, während er selber weiter durchs Land reiste und andere Neonazis kennen-
lernte – wie eben jenen Thomas Richter alias Corelli. In seinem Leben sollte Uwe
Mundlos ständig auf Spitzel verschiedener Verfassungsschutzbehörden treffen, die
dann über ihn berichteten.

Das BfV war nicht auf dem rechten Augen blind

Als Mitarbeiter des BfV 1995 zum ersten Mal von Uwe Mundlos hörten, bearbei-
tete das Amt die rechtsextremistische Szene in Ost-Deutschland bereits seit eini-
gen Jahren intensiv. Mit einer kurzen Verzögerung hatte das BfV auf die rechtsex-
tremistischen Pogrome, die Angriffe auf Migranten und Andersdenkende reagiert,
die seit 1990 zum deutschen Alltag gehörten. Die für die innere Sicherheit zu-
ständigen Akteure verstanden, dass man der organisierten, rechten Gewalt etwas
entgegensetzen musste – im Westen wie im Osten. Man entschied sich für einen
klassischen nachrichtendienstlichen Ansatz: das BfV gründete eine neue Abtei-
lung, die vor allem Informanten in der Szene rekrutieren wollte, man wollte sich so
einen Überblick verschaffen – wie organisiert liefen die Angriffe auf Flüchtlings-
heime ab? Es ging um Aufklärung, nicht notgedrungen um die Unterbindung der
Straftaten, die aus der Szene heraus begangen wurden. Die Führung des Amtes re-
krutierte für diese Aufgabe in den folgenden Jahren junge Mitarbeiter – man warb
sie von Landesämtern für Verfassungsschutz ab oder stellte sie neu an, bildete
sie dann in Kompaktkursen aus. Darunter waren Bewerber, die gerade die Schule
beendet hatten. Sehr junge und unerfahrene Agenten sollten also eine Szene auf-
klären, die sich dadurch auszeichnete, dass die Mitglieder, Mitläufer und Mitge-
rissenen ebenfalls blutjung waren – schon 15-jährige begingen schwere Straftaten,
überÀelen Migranten, verprügelten den „politischen Gegner“ oder warfen Brand-
Áaschen auf Flüchtlingsheime.
Die Rekruten des BfV wurden von einem jungen Chef geführt, damals gerade
34 Jahre alt, der vom Amt den Tarnnamen Lothar Lingen bekam. Vor dem NSU-
Untersuchungsausschuss des Bundestages beschrieb Lingen seine Motivation. Vor
allem die Angriffe auf Flüchtlingsheime hätten ihn aufgeschreckt.
Der Verfassungsschutz und der NSU 227

„Ich hatte also am Thema Rechtsextremismus deshalb großes Interesse, weil ich
einen Beitrag damals, Anfang der 90er-Jahre, leisten wollte zur Bekämpfung des
Rechtsextremismus. Mag sich vielleicht ein bisschen pathetisch anhören, aber die
Tatsache, dass ich hier eingesetzt war in der sehr gesellschaftsrelevanten Bekämp-
fung des Rechtsextremismus, war mir stets auch eine große Ehre.“2

Das BfV wurde damals von Eckart Werthebach als Präsident geführt, der das
Amt wieder stärken wollte, nachdem es vor allem von Agenten des Ministeriums
für Staatssicherheit der DDR unterwandert und vorgeführt worden war. Als der
Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von der RAF entführt wurde, hatte
Werthebach in einem Krisenstab des Innenministeriums gearbeitet. Ihn frustrierte
damals, dass eine kleine Zahl von Terroristen die Regierungsgeschäfte nahezu
zum Erliegen bringen konnte. Sein Rezept um Terrorismus in Zukunft wirkungs-
voller bekämpfen zu können: mehr und bessere menschliche Quellen zu „werben“,
Áankiert von wirkungsvolleren technischen Abhörmethoden. Daran hielte sich
auch die Abteilung von Lingen, wie er dem NSU-Ausschuss in Berlin erklärte:

„Ich habe mich damals für den Bereich Beschaffung beworben, weil dort – natürlich,
klar – ein Referatsleiter gesucht wurde und mich auch die Aufgabe gereizt hat, eben
V-Leute anzuwerben, um von ihnen Informationen zu bekommen. Das war damals
für mich Neuland, der ich fünf Jahre in der Auswertung gesessen habe. Wir haben
damals einen sehr großen Personalkörper gehabt. Wir hatten zwei ausgeprägt große
Werbungsreferate, und die Politik unserer Amtsleitung ging dahin, zunächst mal In-
formationen zu beschaffen, und das in der Breite, um dann später den Auswertungs-
bereich zu stärken. Die Abteilung 2 ist da innerhalb eines Jahres, anderthalb Jahren
um das Doppelte gewachsen.“

Die „Beschaffer“ in den „Werbungsreferaten“ rekrutierten die Informanten, die


von V-Mann-Führern abgeschöpft wurden; am Ende der Kette standen – und ste-
hen bis heute – die „Auswerter“, sprich die Analysten des BfV. Sie werteten über
Jahre zig Berichte von Informanten aus, lasen Skinzines und die Protokolle von
Abhör- und Observationsmaßnahmen, vergaben neue Aufträge zur Informations-
beschaffung. Nicht zuletzt durch das systematische Auswerten von Polizeiinfor-
mationen sammelten die BfV-Analysten einen riesigen Informationsschatz über
die rechtsextremistische Szene in Deutschland an. Da das BfV immer dann zu-
ständig ist, wenn rechte Gruppen überregional extremistisch tätig werden oder
wenn sie sich zu einer terroristischen Vereinigung entwickeln könnten, bekam das

2 Alle Zitate aus dem Protokoll der Aussage „Lothar Lingens“ vor dem NSU-
Untersuchungsausschuss des Bundestags, 5. Juli 2012.
228 Dirk Laabs

Amt von allen Landesämtern für Verfassungsschutz ebenfalls Informationen, um


die potenzielle Gefahr koordiniert bekämpfen zu können. Dazu gehörten auch Be-
richte der V-Personen, die von den Landesämtern geworben worden waren. Die
Mitarbeiter des BfV hatten so Zugriff auf eine sehr große Zahl von Spitzeln und
Informanten, die auch über die späteren Mitglieder des NSU berichteten. Warum
genau dieses Wissen nicht reichte oder nicht genutzt werden konnte, um den NSU
zu stoppen, ist ungeklärt. Eine gängige Erklärung, „die Behörden“ seien allesamt
auf dem „rechten Auge“ blind gewesen, gilt für das BfV keinesfalls.

Rechter Terror wurde antizipiert und für möglich gehalten

Nach spektakulären Terroranschlägen ist es nicht ungewöhnlich, dass eine Lesart


von interessierter Seite lanciert wird, die in etwa besagt, „diese Tat war unvorstell-
bar“, „niemand konnte das voraussehen“. Nach den Anschlägen vom 11. Septem-
ber 2001 wurde diese Sichtweise beispielsweise kolportiert, doch bald stellte sich
heraus, dass die Pläne – Flugzeuge als Waffen einzusetzen – der CIA seit Jahren
bekannt waren. Auch als nach der sogenannten Selbstenttarnung des NSU öffent-
lich wurde, wie die rechten Terroristen gemordet hatten, hieß es von staatlicher
Seite vorschnell, diese Art von Terror – gezielte Morde, ausgeführt wie Hinrich-
tungen – habe man sich nicht vorstellen können. Diese Sicht wurde von den Kri-
tikern der Behörden dankbar aufgegriffen – der Sicherheitsapparat habe in Gänze
versagt. Insbesondere der ermittelnden Kriminalpolizei wurde von verschiedenen
Seiten vorgeworfen, bei der Mordserie an Migranten nicht an rechtsradikale Täter
gedacht zu haben, Nazis diese Taten nicht zugetraut zu haben. Diese Sichtweise
überlagerte auch die Bewertung der Arbeit des zuständigen Inlandsgeheimdiens-
tes, des BfV. Die Rede war davon, das BfV habe analytisch versagt, die Bedrohung
nicht erkannt. Tatsächlich ist noch lange nicht abschließend geklärt, was das BfV
wann über den rechten Terror im neuen Jahrtausend wusste und an welcher Stelle
tatsächlich die entscheidenden Fehler gemacht wurden, wann und ob das Wissen
oder die Analyse nicht weit genug reichte.
Den entscheidenden Akteuren innerhalb des BfV war bewusst, dass es in den
1970er Jahren bis hin zum Oktoberfestattentat 1980 diverse Anschläge durch
verschiedene rechtsradikale Gruppen gegeben hat. Noch 1981 war eine rech-
te Terrorgruppe aktiv. Ende der 1980er Jahren kamen einige der Akteure dieser
Terrorphase frei. Das BfV konnte also nicht davon ausgehen, dass es nie wieder
rechtsextremistisch motivierte Anschläge in Deutschland geben würde. An diese
Erkenntnis knüpfte auch die neue Generation des BfV um Lothar Lingen an, wie
er vor dem Ausschuss des Bundestages erklärte.
Der Verfassungsschutz und der NSU 229

Weil rechter Terror immer vorstellbar war,


war das BfV kompromisslos bei der Wahl der Mittel

Eines der Haupteinsatzgebiete für die Abteilung Lingens in den frühen 1990er
Jahren waren die neuen Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen –
hier warben Lothar Lingen und andere zentrale Informanten, die über die Jahre für
das BfV und die Szene immer wichtiger wurden. Darunter jener Thomas Richter
aus Halle an der Saale, der über Uwe Mundlos berichtete (Corelli), dazu kamen
Ralf „Manole“ Marscher (Tarnname Primus), der in Zwickau lebte und Michael
See aus Thüringen (Tarnname Tarif) – See war zentralen Kadern der verbotenen
Freiheitliche Arbeiterpartei (FAP) besonders nah. Dazu gehörten Akteure, die sich
bereits als Extremisten betätigt hatten, zudem berichtete See über Kontakte mit
verurteilten Rechtsterroristen. Das BfV nimmt für sich in Anspruch, so geht es
jedenfalls aus den Aussagen der BfV-Mitarbeitern vor dem NSU-Ausschuss her-
vor, dass man die eigenen V-Männer „im Griff“ hatte; dass man sie, sobald sie
etwa Straftaten begingen, „abschaltete“, also nicht mehr mit ihnen als Informanten
zusammenarbeitete. Auch habe man nie verurteilte Gewalttäter als Quellen ge-
führt. Beide Behauptungen sind bei näherer Betrachtung nicht haltbar.
Das BfV wollte unbedingt mitbekommen, wann sich von der diffusen Szene
eine organisierte Terrorzelle abspalten würde. Um diese Informationen aus der ge-
waltbereiten rechten Szene zu bekommen, nahm die Führung des BfV daher viel
in Kauf. So galt der Informant Ralf Marschner als besonders gewaltbereit; Antifa-
schisten in Zwickau kannten und fürchteten ihn. Gegen den V-Mann Michael See
wurde wegen versuchten Totschlags ermittelt, er wurde schließlich wegen schwe-
rer Körperverletzung verurteilt, im Gefängnis radikalisierte er sich weiter. Er zog
scharfe Waffen und bedrohte damit politische Gegner – trotzdem wurde er nach
seiner Zeit im Gefängnis als Informant geworben.
Dieses Risiko zahlte sich – scheinbar – für das BfV aus. Vor allem Michael
See und Thomas Richter berichten ausführlich über die rechte Szene. Sie verrieten
Namen von Mitstreitern, Pläne für Aufmärsche und militante Aktionen. Das BfV
beobachtete in dieser Phase allerdings ebenfalls, dass Informanten anderer In-
landsgeheimdienste weniger zuverlässig waren. Das galt vor allem für Tino Brandt
aus Thüringen, Tarnname Otto, Kopf des „Thüringer Heimatschutzes“ (THS).
230 Dirk Laabs

Tino Brandt soll 1994 vom Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz (TLfV)
geworben worden sein. Er behauptete sogar in einem heimlich aufgenommenen
Gespräch, dass er sehr viel länger und schon als Minderjähriger dem Verfassungs-
schutz berichtet hatte – dafür gibt es jedoch keine Belege in den Akten des LfV
Thüringen.3
Brandt hatte mit Wissen des LfV Thüringen den „Thüringer Heimatschutz“ ge-
gründet. Durch die Beschäftigung mit dem THS stieß dann auch das Bundesamt
für Verfassungsschutz auf Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe, Ralf
Wohlleben und Holger Gerlach – alles mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer
des NSU, die gemeinsam in Jena aufgewachsen waren, inzwischen entweder tot
sind oder im Münchener NSU-Prozess angeklagt wurden.
Ralf Wohlleben und Beate Zschäpe können dabei als formale Gründungs-
mitglieder des THS gelten – sie beantragten im Februar 1995 unter dem Namen
„Interessengemeinschaft Thüringer Heimatschutz“ eine Demonstration durch
Jena – „zur Bewahrung Thüringer Idendität [sic] gegen die Internationalisierung
durch die EG“. Man wollte also gegen die „EG“, die Europäische Gemeinschaft,
demonstrieren, die sich damals allerdings schon EU nannte. Es ist das erste Mal,
dass der Name „Thüringer Heimatschutz“ auftaucht.
Zschäpe und Wohlleben wurden zu einem Gespräch bei der zuständigen Behör-
de geladen. Dort berichteten sie, dass man auch darüber nachdenke, eine Partei zu
gründen. Vor allem Beate Zschäpe konnte bei dem Treffen jedoch nicht verheim-
lichen, dass die Demonstration fremdenfeindliche Tendenzen haben könnte. Die
Thüringer Behörden, vor allem das Innenministerium, nahmen den Vorgang ernst.
Die Demonstration wurde verboten, das Landeskriminalamt eingeschaltet, Infor-
mationen zusammengetragen. Das Innenministerium erfuhr, das Tino Brandt eng
mit dem Anti-Antifa-Strategen Christian Worch aus Hamburg kooperiert, dass er
etwa von Worch Schriftsätze in Sachen Demonstrationsanmeldung übernommen
hat. Brandt wurde schnell als Kopf hinter der „Interessengemeinschaft Thüringer
Heimatschutz“ erkannt und so auch in einem Vermerk beschrieben. Kurz nach-
dem er V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes geworden war, hatte er also
begonnen, die Szene zu organisieren und strukturieren – und beides war den ent-
sprechenden Führungspersonen im Thüringer Innenministerium bekannt.
Die Reaktion der Thüringer Behörden auf die neue Gruppe um Brandt, Zschä-
pe, Wohlleben und andere ist durchaus typisch für die Bekämpfung der rechten
Szene – man nahm die Mitglieder, obwohl sie noch sehr jung waren, ernst, schalte-

3 Das BfV, so ergab die Beweisaufnahme des NSU-Untersuchungsausschusses des Bun-


destages, hat mindestens in einem Fall auch einen Minderjährigen in Thüringen als
V-Mann rekrutiert.
Der Verfassungsschutz und der NSU 231

te auch Behörden des Bundes ein, darunter auch das BfV – gleichzeitig verstrickte
man sich durch die Rekrutierung führender Neonazis als V-Männer indirekt als
Staat mit der Szene.
Die „Interessengemeinschaft“ und später der „Thüringer Heimatschutz“ wurde
ein behördlicher Vorgang und blieb es für viele Jahre. Fast nichts, was die jungen
Thüringer Neonazis in den nächsten Jahren machten, blieb unbemerkt. Die Be-
hörden betrieben einen gewaltigen Aufwand, um diese Szene aufzuklären – in den
Griff bekam man sie dennoch nicht. Im Gegenteil.

Wettstreit um Informanten – die „Operation Rennsteig“

Im Nachgang der Selbstenttarnung des NSU erinnerten Antifaschisten daran,


wie allein sie bei ihrem Kampf gegen die rechte Gewalt von den Behörden ge-
lassen worden seien. Niemand habe damals, Mitte der 1990er Jahre, die Gefahr
der rechten Szene erkennen wollen. Das stimmt für zwei der bekannten Mitglie-
der des NSU, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, in keinem Fall. Von Beginn
ihrer extremistischen Karriere an gerieten sie in das Visier verschiedener Behör-
den – tatsächlich ist erstaunlich, mit welchem großen Aufwand allein der junge
Uwe Böhnhardt von den Behörden beobachtet und verfolgt wurde. Durch sein
Engagement beim „Thüringer Heimatschutz“ wurde er für das BfV, den Thüringer
Verfassungsschutz und das Thüringer LKA interessant. Allerdings verfolgten die
Institutionen bei ihrem Umgang mit Böhnhardt und dem Heimatschutz mitnichten
die gleichen Ziele.
Die „Interessengemeinschaft Thüringer Heimatschutz“ nannte sich bald nur
noch „Thüringer Heimatschutz“. Ambitionen, eine Partei zu werden, hatte man
nicht mehr, Tino Brandt und die anderen verlegten sich stattdessen verstärkt auf
Anti-Antifa-Aktionen. Im Laufe des Jahres 1995 radikalisieren sich der THS und
seine Mitglieder rasant. Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt, Beate Zschäpe waren bei
vielen Aktionen des THS dabei – eine wurde auch vom BfV besonders beachtet:
Zum Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges wurde in Rudolstadt, dem
Heimatort von Tino Brandt, eine Gedenkveranstaltung am „Platz der Opfer des
Faschismus“ organisiert. Bereits am Morgen hatten Heimatschützer eine Bom-
benattrappe vor einem anderen Denkmal in dem Nachbarort Saalfeld abgestellt.
An einem Feuerlöscher waren Drähte und eine Armbanduhr montiert, davor ein
Schild abgestellt: „Vorsicht Sprengarbeiten“. Uwe Mundlos beschrieb die weiteren
Aktionen des Tages später in einem der Briefe, den er an einen Freund im Gefäng-
nis schrieb:
232 Dirk Laabs

„So hörte man …dass … Jugendliche sich früh am Morgen trafen, um in Rudolstadt
und Saalfeld irgendwelche Spinner die dort den ‚Opfern des Faschismus‘ gedenken
wollten zu stören. Leider waren sie etwas spät …, so dass sie keinen mehr trafen. Nun
was sollten sie machen, schnell nach Rudolstadt und dort dieses Pack schnappen (lei-
der auch hier zu spät). Also mussten sie sich wohl damit begnügen, den Gedenkstein
mit Eiern zu bewerfen und die Kränze zu zertreten, so wie Wurfzettel zu hinterlas-
sen, auf denen Verbesserungsvorschläge wie: Umbenennung des ‚Platzes der Opfer
des Faschismus‘ in ‚Rudolf-Heß-Gedenkplatz‘ standen.“

Später Àndet die Polizei Tausende von Flugblättern in der Stadt: „Deutsche lernt
wieder aufrecht zu gehen. Lieber sterben als auf Knien leben.“, „Schluss mit dem
Holocaust oder Deutscher willst Du ewig zahlen?“
Bei dieser Aktion wurden einige Freunde von Uwe Mundlos erwischt, wie er in
seinem Brief weiter schrieb:

„Leider … war die Kripo und die Bullerei vor Ort, so dass nicht allen die Flucht
gelang. … Dummer Weise hatte man gleich in der Nähe Beate und ihren jetzigen
Freund [Böhnhardt], Kapke und Hucke verhaftet. Nun versuchen die Deppen (Skla-
ven des Systems) uns damit im Verbindung zu bringen und das mit einer ganz schö-
nen Hartnäckigkeit.“

Die Thüringer Polizeibehörden nahmen den Vorfall in Rudolstadt in der Tat ernst –
das Landeskriminalamt wurde eingeschaltet, eine Ermittlungsgruppe („Lunte“)
wurde gegründet, die später in die Sonderkommission Rex („Soko Rex“) über-
führt wurde. Ab Ende 1995 ermittelte das LKA mit großem Aufwand gegen den
„Thüringer Heimatschutz“, deren Kopf V-Mann des Thüringer Verfassungsschut-
zes war. Doch auch das BfV und die Abteilung von Lothar Lingen waren durch die
Vorfälle in Rudolstadt und das folgende Ermittlungsverfahren hellhörig geworden.
Das geht aus dem Abschlussbericht des NSU-Ausschusses des Bundestages her-
vor, der die Geheimakten des BfV zusammenfasst und die Ermittlungen nach dem
Überfall von Rudolstadt als Ausgangspunkt der „Operation Rennsteig“ und damit
als Auslöser für eine neue Rekrutierungswelle beschreibt:
Der Verfassungsschutz und der NSU 233

„Am 5. Januar 1996 bat die Projekteinheit II 2 C (Unorganisierte Militante, ins-


besondere Skinheads) im Projektbereich II 2 (Neonazistische Aktivitäten) die Be-
schaffungsprojekteinheit um die Werbung einer Quelle‚ im Bereich der militanten
rechtsextremistischen Szene im Raum Rudolstadt/Saalfeld (Thüringen), die unter
dem Namen ‚Anti-Antifa Ostthüringen‘ auftritt. Begründet wurde der Wunsch zum
einen mit der Einleitung des Ermittlungsverfahrens im Herbst 1995 wegen Bildung
einer kriminellen Vereinigung, zum anderen mit Kontakten von führenden Aktivis-
ten der Gruppierung ins Ausland. Die durch eine Quelle des LfV Thüringen (ver-
mutlich „2045“ – Tino Brandt) beschafften Informationen seien nicht ausreichend.“4

Ehemalige V-Mannführer von Brandt behaupten hartnäckig, dass sie ihren In-
formanten unter Kontrolle gehabt hätten, und betonen, dass er eine Spitzenquelle
gewesen sei. Das Bundesamt für Verfassungsschutz sah das jedoch offenbar zu
Recht anders. Der Vorfall in Rudolstadt hatte gezeigt, dass Brandt offenbar von
den Bombenattrappen und geplanten Übergriffen wusste, den Thüringer Verfas-
sungsschutz jedoch nicht rechtzeitig gewarnt hat. Das BfV wollte deshalb Quellen
rekrutieren, um unabhängig von Tino Brandt zu werden. Verschiedene Inlands-
geheimdienste, der MAD, das BfV und das Landesamt für Verfassungsschutz in
Thüringen, wollten also den THS nicht stoppen, sondern unter anderem als Re-
servoir für neue Informanten benutzen. Für das BfV schienen insbesondere die
Kontakte des THS ins Ausland interessant gewesen zu sein – um welche Kontakte
es dabei genau ging, ist bislang nicht ausreichend beleuchtet worden. In diesem
Zusammenhang sind Beziehungen von Uwe Mundlos nach Belgien interessant, die
aber bislang von den Ermittlern ebenfalls nicht erhellt werden konnten.
Der Wunsch des BfV, Informanten zu werben, die von Brandt unabhängig be-
richten konnten, löste einen verdeckten Wettstreit zwischen Polizeibehörden und
Geheimdiensten aus – die einen wollten Strafanzeigen, die anderen Informanten.

Der THS hätte rechtzeitig zerschlagen werden können

Seit der sogenannten Selbstenttarnung des NSU im November 2011 wird konti-
nuierlich diskutiert, wie Rechtsextremisten effektiver bekämpft werden können.
Mit reformiertem Verfassungsschutz, ganz ohne Verfassungsschutz, nur mit den
Staatsschutzabteilungen der Polizei? Diese Frage kann an dieser Stelle nicht ab-
schließend geklärt werden, dennoch lässt sich über die Vorphase des NSU mit
Bestimmtheit eines feststellen: man hätte die Mitglieder der Gruppe allein mit
polizeilichen Mitteln aufhalten und die Strukturen zerschlagen können. Ob sich

4 S. 106
234 Dirk Laabs

Schlüsselmitglieder des THS im Gefängnis oder danach allerdings trotzdem in


den Untergrund begeben hätten, ist heute nicht mehr zu beantworten. Dass man
aber nichts in der Hand hatte, um etwa Uwe Böhnhardt zu stoppen, oder zu be-
haupten, Mundlos und Böhnhardt seien „nur kleine Lichter“ in der Szene gewesen
und daher nicht aufgefallen, wie es einige Zeugen vor verschiedenen Ausschüssen
behauptet haben, ist absurd. Die beiden wurden gleichsam in Jena zu den „üblichen
Verdächtigen“, die fast jeder Polizist und Geheimdienstler vor Ort kannte.
Auch dem Thüringer Landeskriminalamt (LKA) waren die beiden schnell ein
Begriff, als es im Jahr 1996 immer aktiver gegen den „Thüringer Heimatschutz“
vorging. Das LKA ermittelte gegen den THS wegen der Bildung einer kriminellen
Vereinigung. Telefone wurden abgehört, Treffen der Gruppe geÀlmt, Mitglieder
observiert. Das BfV forschte parallel zig Mitglieder des THS aus, um sie als In-
formanten zu rekrutieren. Mitglieder des „Heimatschutzes“ wiederum legten meh-
rere Bombenattrappen in Thüringen ab. Eine Bombenattrappe wurde im Jenaer
Stadion während eines Bundesligaspiels unter einer Tribüne platziert, eine andere
an eine Puppe gehängt, die von einer Autobahnbrücke baumelte und an der ein
„Judenstern“ befestigt war. Die rechte Szene war für einige der erfahrenen LKA-
Ermittler, die sich zuvor mit der organisierten Kriminalität beschäftigt hatten,
dennoch nicht schwer zu knacken – die Objekte der Fahndung, die jungen Neona-
zis, waren Amateure, blutige Anfänger. Bald verzeichneten die Ermittler so erste
Fahndungserfolge. Ein Neonazi belastete Uwe Böhnhardt, ein Mitglied des THS
bot sich zudem als Informant für die Polizei an und berichtete umfassend über den
„Thüringer Heimatschutz“. Er sagte gegen Tino Brandt aus, berichtete, dass der V-
Mann Heimatschützer zu einer schweren Körperverletzung angestiftet haben soll.
Nach wenigen Monaten Ermittlungsarbeit konnte das LKA Thüringen so ein
Dossier über den THS zusammenstellen, in dem Uwe Böhnhardt, Ralf Wohlle-
ben und Beate Zschäpe namentlich erwähnt wurden. Bereits im September 1996
wurde das Dokument an das BKA und die Bundesanwaltschaft geschickt. In dem
Dossier listet die Soko auf, dass der „Heimatschutz“ in gut einem Jahr 41 Straf-
taten begangen hatte, 80 Straftäter wurden ermittelt. Zu den Taten zählte das LKA
einen Sprengstoffanschlag auf das Flüchtlingsheim in Jena, durchschnittene Kabel
von Funkantennen der Polizei in Saalfeld, die Puppentorsi und Bombenattrappen.
In dem Dossier waren Seiten aus dem Buch „Der totale Widerstand“ abgelichtet,
das sich Tino Brandt bestellt hatte, auf den exemplarischen Seiten wurde erläutert,
wie man Eisenbahnschienen sabotiert und aus Wasserleitungen Rohrbomben baut.
Tino Brandt wurde mit dem lapidaren Satz zitiert: „Die Anti-Antifa kann man ru-
hig verbieten, damit rechnen wir, wir nennen uns dann anders und machen weiter.“
Als Ziele des „Heimatschutzes“ wurden mehrere Punkte aufgeführt:
Der Verfassungsschutz und der NSU 235

„Organisation des nationalen und sozialistischen Widerstandes, Zermürbung und


Aufsplitterung der Behörden durch laufende und wiederholte Versammlungsanmel-
dungen mit Durchfechtungen in allen Rechtsinstanzen, Anzeigen und Dienstauf-
sichtsbeschwerden gegen Amtsträger, InÀltrierung der Behörden von Gesinnungs-
genossen in Sicherheitseinrichtungen wie Bundeswehr, Polizei, öffent. Verwaltung
u. a.“

Diese Ziele leitet die Soko im Wesentlichen aus einer Ausgabe des Neonazi-Blat-
tes „Sonnenbanner“ ab, das der BfV-Informant Michael See mit herausgegeben
hatte. Das LKA zitiert mehrmals in der Präsentation für das BKA aus dem „Son-
nenbanner“:

„Wir haben nicht hundert diffuse politische Forderungen – Wir haben nur ein Ziel!
Die absolute Macht! … Politische Macht dient nur einem Zweck: Die Schaffung
eines starken freien Deutschlands, das sich in allen Bereichen von Staat und Gesell-
schaft an der Idee des nationalen Sozialismus orientiert. … Nationaler Sozialismus
ist kein politischer Gedanke, er ist eine Weltanschauung. … Die Härte der Ausein-
andersetzung, die Gefahren und die abverlangten und gebrachten Opfer machen uns
zu einer Elite…“

Die Ausrichtung des THS, die Gewaltbereitschaft der Mitglieder, das Ziel, in
Deutschland erneut einen NS-Staat zu schaffen – das alles war dem LKA, dem
BKA, der Bundesanwaltschaft mit diesem Dossier im September 1996 klar. Den-
noch konnte die Thüringer Szene sich weiter radikalisieren – auch weil V-Männer
geschützt und von den VS-Behörden Ànanziert wurden.

„Es besteht die Gefahr, dass Quellen sich gegenseitig zu


größeren Aktionen anstacheln“

Das Dossier des LKA macht zudem deutlich, dass Brandt der Kopf des THS war
und dabei wiederum Weisungen von Kai Dalek erhielt, einem Rechtsextremisten
aus Bayern, der für das dortige Landesamt für Verfassungsschutz arbeitete. Den
Beamten der Soko des LKA war zu diesem Zeitpunkt keineswegs bewusst, dass
drei der in ihrem Dossier aufgeführten SchlüsselÀguren – See, Brandt, Dalek – als
V-Männer für verschiedene Dienste arbeiteten. Dem Bundeskriminalamt dagegen,
ebenfalls Adressat des Dossiers, war dagegen schon seit längerem klar, dass die
militante Neonazi-Szene in Deutschland massiv von V-Männern unterwandert
war, die insbesondere für das BfV arbeiteten. Es gab deswegen eine Krisensitzung
der Präsidenten von BfV und BKA – als Ergebnis entstand ein „Thesenpapier“
236 Dirk Laabs

des Bundeskriminalamtes, das die Problematik nahezu allgemeingültig auf den


Punkt bringt:

„Es besteht die Gefahr, dass der Quellenschutz eine frühzeitige und vollständige
Information, die zur Gefahrenabwehr erforderlich ist, behindert.… Vertrauensperso-
nen (VP)/ Quellen des Verfassungsschutzes (VS) wirken massgeblich in führenden/
exponierten Positionen an der Vorbereitung von Veranstaltungen/ Versammlungen/
Aktionen mit. Es besteht die Gefahr, dass Quellen sich gegenseitig zu größeren Ak-
tionen anstacheln. Somit erscheint es fraglich, ob bestimmte Aktionen oder innova-
tive Aktivitäten dieser Quellen überhaupt in der späteren Form stattgefunden hätten.
Auch ist der ‚Brandstifter-Effekt‘ nicht unwesentlich, da statistisch nachweisbar ins-
besondere nach sog. ‚Gedenktagen‘ ein Ansteigen z. B. antisemitischer Straftaten zu
verzeichnen ist.“5

Das BKA formuliert in dem Papier an das Bundesamt eine Erwartungshaltung:


„Quellen in maßgeblichen Schlüsselpositionen der rechtsextremistischen Szene
könnten z. B. den Ablauf von Aktionen so steuern, dass keine umfangreichen Maß-
nahmen zur Gefahrenabwehr erforderlich werden.“ Das jedoch passiert nicht. Im
Gegenteil. Auch das Thesenpapier des BKA hält fest:

„… die Mehrzahl der Quellen sind nach dem Ergebnis der Ermittlungen [des BKA]
überzeugte Rechtsextremisten. Bei diesen entsteht der Eindruck, unter dem Schutz
des VS im Sinne ihrer Ideologie ungestraft handeln zu können und die Exekutive
nicht ernst nehmen zu müssen. Es besteht die Gefahr, dass die Quellen nicht voll-
ständig und umfassend berichten, sondern wesentliche Komplexe auslassen, eigene
Tatbeteiligungen beschönigend darstellen oder auch je nach Sachlage übertreiben,
wodurch gegebenenfalls der Eindruck strafrechtlicher Relevanz erweckt wird.“

Das BKA hat eine klare Forderung:

„In den Fällen, in denen die Quelle ‚aus dem Ruder läuft‘, sollte der VS auch die
Strafverfolgung vor den Schutz der Quelle stellen.“

Am Ende des Jahres 1996 hat man beim BKA schließlich genug, es wurde ein
Treffen zwischen den Präsidenten des BKA und des Bundesamtes vereinbart. In
einem Memo über das Gespräch heißt es:

5 Alle Zitate aus dem BKA-Thesenpapier vom 03.02.1997.


Der Verfassungsschutz und der NSU 237

„Die Exekutive [also das BKA] ist über Person und Tätigkeit von Quellen in der
Regel nicht unterrichtet. Es besteht die Gefahr, dass die Zusammenarbeit zwischen
Quellen und VS im Rahmen der Ermittlungsverfahren aufgedeckt wird und somit
ggf. die VS-Maßnahme ins Leere läuft oder Ermittlungsverfahren aufgrund falscher
Quellenmeldungen eingeleitet werden.“

Mit anderen Worten: Das BKA wollte auch wissen, wer Quelle ist, um sie besser
schützen zu können. Doch das BKA kritisierte weiter, dass das BfV seine V-Män-
ner an einer zu langen Leine führt – nicht nur werden die Quellen vor Durchsu-
chungen durch die Polizei gewarnt, sie behalten das Wissen nicht für sich:

„Es war festzustellen, dass diese Warnung innerhalb der Szene ‚an gute Kameraden‘
weitergegeben wird. Es besteht die Gefahr, dass Beweismittel vor Eintreffen der Ex-
ekutive vernichtet werden.“

Das BKA führt das Beispiel von Norbert Weidner an, einem führenden Mitglied
der FAP und Vordenker der Anti-Antifa-Bewegung – ebenfalls ein V-Mann:

„In dem Ermittlungsverfahren gegen Gary Rex Lauck u. a. gab der Vater des Be-
schuldigten Norbert Weidner als Zeuge an, er habe sich schon lange gewundert, wie
gut sein Sohn über polizeiliche und justizielle Maßnahmen informiert gewesen sei.
Insbesondere vor der Durchsuchung anlässlich des FAP-Verbots am 24.02.1995 habe
sein Sohn angegeben, eine Durchsuchung stünde bevor. In der Nacht vorher habe er
mittels Reißwolf zwei Abfallsäcke voller Unterlagen vernichtet.“

Eine weitere Quelle des BfV, ebenfalls sehr jung rekrutiert, war ebenfalls auffäl-
lig – Thomas Richter alias Corelli:

„Im Rahmen der Ermittlungen gegen die NSDAP-AO wurde das BfV absprache-
gemäß über eine bevorstehende Durchsuchung bei Thomas Richter aus Halle infor-
miert. Bei der Durchsuchung am 07.09.1994 wurde Richter nicht angetroffen und
blieb auch in der Folgezeit untergetaucht.“

Schließlich stehen die Quellen in einem zu engen Kontakt mit dem Bundesamt,
bemängelt das BKA. So der Neonazi Stephan Wiesel. Das BKA schreibt:
238 Dirk Laabs

„Zu der Aktion des Wiesel am 20.04.1996 in Bonn [anlässlich des Geburtstages von
Adolf Hitler] war der VS allgemein über die Überwachungsmaßnahme des BKA
unterrichtet. Wiesel machte telefonisch seinem Quellenführer den Vorwurf, nicht
vorher gewarnt worden zu sein. Dies deutet auf eben diese geübte Praxis hin.“

Der Mann, Wiesel, wurde an dem fraglichen Tag verhaftet. Die Polizei gestattet
ihm, mit seinem Anwalt zu telefonieren. Stattdessen telefonierte er dreimal mit
seinem Quellenführer, der „massiv auf das Aussageverhalten von Wiesel EinÁuss“
nahm, wie das Bundeskriminalamt später vermerkte. Die Forderung des BKA-
Präsidenten: „Bei bevorstehenden Exekutivmaßnahmen sollen Warnungen an die
Quellen unterbleiben.“ Aber auch dieser Forderung wird das BfV nicht nachkom-
men.
Das Papier des BKA macht unmissverständlich klar, dass das BfV V-Männer
vor Durchsuchungsmaßnahmen gewarnt und damit vor einer Strafverfolgung ge-
schützt hat. Im selben Zeitraum wird auch Tino Brandt von seinen Thüringer V-
Mannführern immer wieder vor Durchsuchungen angerufen. Und obwohl Brandt
wegen schwerem Landfriedensbruchs in erster Instanz verurteilt wurde, bleibt er
auf freien Fuß – die zweite Instanz wurde dann über Jahre verschleppt, so dass
er weiter aktiv in der Szene bleiben konnte. Der „Thüringer Heimatschutz“ radi-
kalisierte sich so weiter. Die Strafverfolgung wurde in Thüringen durch den Ver-
fassungsschutz behindert. Mehrere ehemalige und noch aktive Beamte des LKA
Thüringens haben das vor dem NSU-Ausschuss des Landtages in Erfurt beschrie-
ben. Ein Beamter, der beim BKA ausgebildet worden war, konnte sich damals
schlicht nicht vorstellen, dass es in Deutschland möglich war, dass ein Akteur wie
Tino Brandt V-Mann des Verfassungsschutzes ist. Er irrte.
Die Ermittlungen des BKA und die Beweisaufnahme durch verschiedene par-
lamentarische Untersuchungsausschüsse zeigt zudem: Das Bundesamt für Verfas-
sungsschutz stellt auch weiterhin den Quellenschutz über die Strafverfolgung. Das
BfV hat weder gegenüber dem BKA noch gegenüber dem Ausschuss des Bundes-
tages eine einzige ihrer zentralen Quellen enttarnt.

Auch die Justiz versagte in Thüringen

Die rechte Szene in Thüringen konnte sich auch weiter radikalisieren, weil sich
verschiedene Verfassungsschutzbehörden einmischten. Für die Polizei wurde die
Lage Ende 1996 noch komplizierter. Ohne erkennbare Gründe wurden Ermittler
aus der erfolgreichen Soko Rex abgezogen und versetzt. Vernetztes Wissen ging
verloren. Da das LKA zu dem Zeitpunkt wegen diverser Skandale unter großem
Der Verfassungsschutz und der NSU 239

öffentlichen Druck stand, wurde von Seiten der LKA-Leitung oftmals die Ermitt-
lungstaktik über den Haufen geworfen – ohne Konzept und oftmals Anlass wurden
bei Mitgliedern des „Heimatschutzes“ Hausdurchsuchungen durchgeführt. Man
wollte um jeden Preis der Presse Ermittlungserfolge und beschlagnahmte Gegen-
stände präsentieren. Auch als Reaktion auf diese Durchsuchungen verschärfte der
„Thüringer Heimatschutz“ und hier insbesondere die „Kameradschaft Jena“ ihren
Kampf. Briefbombenattrappen wurden Anfang 1997 an verschiedene Behörden in
Thüringen verschickt, weitere Bombenattrappen tauchten in der Stadt auf, schließ-
lich wurden in einer Attrappe einige Gramm TNT gefunden. Das LKA ermittelte,
zum Teil mit neuem Personal, weiter, und stieß abermals auf Hinweise, die Uwe
Böhnhardt belasteten. Man hatte bald genügend Beweise, um Böhnhardt für lange
Zeit ins Gefängnis zu bringen.
Doch zu der Geschichte der Auseinandersetzung der Behörden mit dem NSU
und seinen Vorläufern gehört auch, dass verschiedene Ebenen der Justiz ebenfalls
versagten. Obwohl klare Hinweise von Ermittlern der Polizei zusammengetragen
worden sind, dass die Kameradschaft Jena und der „Thüringer Heimatschutz“ zu-
sammengehörten, wurden die Ermittlungen in Sachen der verschiedenen Bom-
benattrappen und die gegen den THS nicht gebündelt. Die Ermittlungen liefen
nebeneinander her. Der zuständige Staatsanwalt erkannte die Zusammenhänge
und Strukturen nicht oder wollte sie nicht erkennen. Ende 1997 hatten sich genug
Beweise angesammelt, die gereicht hätten, ein Verfahren gegen den THS als kri-
minelle oder terroristische Vereinigung zu eröffnen. So sagt der Staatsanwalt Gerd
Michael Schultz vor dem NSU-Untersuchungsausschuss in Berlin:

„Wir konnten am Ende nach diversen Maßnahmen wie Beobachtungen, Observa-


tionen letzten Endes keinen Beweis dafür erbringen, keine konkreten Beweise, dass
eine Vereinigung, der „Thüringer Heimatschutz“ oder die Kameradschaft oder wer
auch immer, gegründet worden wäre mit dem Zweck, Straftaten zu begehen. Zwar
haben einzelne Mitglieder oder einzelne Leute, die wir den Vereinigungen zuordnen,
alleine oder gemeinsam Straftaten begangen. Aber dass diese Vereinigung jetzt zu
dem Zwecke gegründet worden war, Straftaten zu begehen, haben wir nicht feststel-
len können. Es gab öfter mal Beobachtungen, dass im Wald Kriegsspiele veranstaltet
wurden oder öfter mal Treffen von Rechten waren, aber unterm Strich hatten wir
keine Personen. Zum Beispiel bei diesen Kriegsspielen im Wald hatten wir keine
Namen.“6

6 Aussage von Gerd Michael Schultz in der 49. Sitzung des NSU-Untersuchungsaus-
schusses des Bundestages am 17.01.2013.
240 Dirk Laabs

Einige der damaligen Ermittler widersprechen dieser Sichtweise vehement. Der


Staatsanwalt hat zudem nicht einmal alle Beweismittel ausgewertet, als er das Ver-
fahren gegen den THS einstellte.
Derselbe Staatsanwalt war dagegen durchaus hartnäckig, als es um eines der
wichtigsten Mitglieder der Kameradschaft Jena und des THS ging – Uwe Böhn-
hardt. Böhnhardt war seit seiner Jugend kriminell, er stahl Autos, lieferte sich da-
bei Verfolgungsjagden mit der Polizei, er erpresste andere Jugendliche, schlug sie
zusammen (siehe auch Beitrag von Würstl in diesem Band). Böhnhardt verbrachte
einige Monate im Gefängnis und sollte 1993, da ein Richter eine hohe kriminelle
Energie bei ihm ausmachte, zu drei Jahren Haft verurteilt werden. Doch die Schöf-
fen überstimmten ihn. Böhnhardt kam auf Bewährung frei – er hielt sich zurück,
was seine kriminellen Aktivitäten anbelangte, Àel aber sofort als extremes Mit-
glied des „Heimatschutzes“ auf. Auch bei dem Überfall in Rudolstadt im Septem-
ber 1995 wurde er erwischt und festgenommen. Sein Zimmer in der Wohnung sei-
ner Eltern wurde durchsucht, es wurde eine Laser-Zielvorrichtung für eine Waffe
gefunden. Das LKA übernahm die Ermittlungen. Schon im Frühjahr 1996 wurde
Böhnhardt – nur auf Bewährung auf freiem Fuß – wegen dieses Fundes zu zwei
Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Waffenexperten des LKA und der
ehemalige Leiter der Soko Rex hatten ihn schwer belastet, der Staatsanwalt, der
auch gegen den THS ermitteln ließ, blieb an der Sache dran. Im Dezember 1996, in
der zweiten Instanz, wurde dieses Urteil jedoch, ohne Nennung von Gründen, vom
Landgericht in Gera aufgehoben. Ein ungewöhnlicher Vorgang. Die Hintergründe
dieser Entscheidung sind bis heute nicht aufgeklärt, der verantwortliche Richter
musste sich bislang nicht erklären.
Das Thüringer LKA konnte in dieser entscheidenden Phase wiederholt genug
Beweise gegen den THS oder einzelne Mitglieder sammeln – doch aus verschie-
denen Gründen blieben konkrete Anklagen und Urteile aus. Auch aufgrund der
Erfahrung des BKA mit dem BfV, die in dem geheimen Thesenpapier dargestellt
wurden, besteht in Thüringen ebenfalls der Verdacht, dass gezielt Verfahren sa-
botiert wurden, um geheimdienstliche Quellen zu schützen. Auch um diesem Ver-
dacht nachzugehen, wird vom Landtag Thüringen ein weiterer NSU-Ausschuss
eingesetzt.

Gesteuertes Abtauchen in den Untergrund?

Verschiedene Problemfelder überschnitten sich 1997 – in der Hochphase des


„Thüringer Heimatschutzes“ – in Thüringen. Mehrere Inlandsgeheimdienste kon-
kurrierten um Informanten in der rechten Szene, die Polizeiermittlungen wurden
Der Verfassungsschutz und der NSU 241

behindert, vorhandene Beweismittel aus verschiedenen Gründen nicht konsequent


genutzt, um die rechtsradikalen Strukturen mit Mitteln der Justiz zu zerschlagen.
Eine Führung durch das zuständige Innenministerium fehlte oder war von frag-
würdigen Motiven – dem Quellenschutz von mutmaßlich zentralen Informanten –
fehlgeleitet.
Nur vor diesem Hintergrund kann man das Untertauchen von Uwe Böhnhardt,
Uwe Mundlos und Beate Zschäpe verstehen. Im November 1997 sollen Observan-
ten des Thüringer Verfassungsschutzes Mundlos und Böhnhardt zu einer Garage
gefolgt sein. Böhnhardt war zuvor vom Mobilen Einsatzkommando (MEK) im
Auftrag des LKA beschattet worden, obwohl er inzwischen in zweiter Instanz für
den Handel mit Nazirock zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde und kurz
vor seinem Haftantritt stand. Wer dem Verfassungsschutz warum den Auftrag ge-
geben hat, die beiden jungen Neonazis zu beschatten, konnten die zuständigen
Untersuchungsausschüsse nicht endgültig klären. Erst im Januar 1998 wurde die
Garage vom LKA durchsucht. Der Einsatz begann mit Verzögerung, die zentralen
Zeugen erinnern den Ablauf höchst unterschiedlich. Fest steht inzwischen nur,
dass Böhnhardt mit seinem Auto davonfahren konnte, obwohl er bereits mitbe-
kommen hatte, dass man Rohrbomben in der Garage gefunden hatte, die ihm zu-
geschrieben wurden. Böhnhardt konnte so mit Uwe Mundlos und Beate Zschäpe
Áiehen. Dass man Uwe Böhnhardt und die anderen bewusst hat abtauchen lassen,
wird auch von ehemaligen Mitgliedern des Thüringer NSU-Ausschusses in Er-
furt noch immer nicht ausgeschlossen. Bis zum Schluss waren die Drei mit dem
V-Mann Tino Brandt in Kontakt. Die Verfassungsschutzbehörden bekamen auch
mit, dass sich zuvor ein harter Kern des THS traf, dessen Mitgliedern die Gesamt-
gruppe zu lasch war. Zu diesen überzeugten „Kadern“ gehörten auch Böhnhardt,
Brandt und Mundlos. Bis heute ist unklar, ob Brandt von diesen Treffen die ent-
scheidenden Details berichtet hat. Brandt, so viel steht fest, hat Böhnhardt, Mund-
los und Zschäpe auf der Flucht aktiv unterstützt und – wie er es zuvor auch getan
hatte – den Verfassungsschutz bewusst desinformiert und falsche Fährten gelegt,
mutmaßlich, um die Drei zu schützen.
Auch ohne die Hilfe von Brandt wussten die Verfassungsschutzbehörden schon
nach wenigen Wochen, dass Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe nach Chemnitz ge-
Áohen waren. Sie konnten dabei auf abgehörte Telefonate, Meldungen von V-Män-
nern und Informationen, die man bei der Polizei abgeschöpft hatte, zurückgreifen.
In C hemnitz lebte Thomas Starke, der Freund von Uwe Mundlos, sowie andere
Skinheads, mit denen die „Drillinge“, wie sie behördenintern genannt wurden, seit
langem befreundet waren. Den Verfassungsschutzbehörden wurde auch schnell
klar, wer die Drei konkret unterstützte – eben Starke und vor allem Jan Werner –
die Köpfe der sächsische „Blood and Honour“-Sektion. Auf thüringischer Seite
242 Dirk Laabs

half Ralf Wohlleben seinen Freunden, was dazu führte, dass ihm das LfV Thürin-
gen und das BfV wochenlang mit einem Flugzeug folgten.
Die Drillinge gerieten durch ihre Nähe zu Starke und Werner zuvor in das Vi-
sier vieler Behörden, die gar nicht nach ihnen suchten. Diverse Landeskriminal-
ämter und Geheimdienste waren aus verschiedenen Gründen an Jan Werner, Tho-
mas Starke und „Blood and Honour“ interessiert – es ging um Verfahren wegen
Handels mit Nazirock, Volksverhetzung und anderen Delikten. 1998, in dem Jahr,
in dem Böhnhardt und die anderen nach C hemnitz kamen, liefen daher diverse
Operationen der verschiedenen Polizei- und Verfassungsschutzeinheiten parallel.
Das LfV Sachsen hatte zudem mindestens zwei V-Männer in Chemnitz und da-
mit in der Nähe des „Trios“ platziert – deren Berichte wurden aber bislang auf
parlamentarischer Ebene nicht ausgewertet, unter anderem weil die Mehrheit der
Mitglieder des sächsischen NSU-Untersuchungsausschusses keine V-Mann-Akten
beantragt hatte, da ein NPD-Abgeordneter ebenfalls Mitglied des Ausschuss war.

„Falls es nicht bald einen radikalen weißen Gegenschlag in


Form einer Endlösung gibt…“

In Chemnitz und innerhalb der rechten Szene wurde zum Zeitpunkt der Ankunft
der Drillinge aus Jena die Anwendung von Gewalt vermehrt diskutiert. Thomas
Starke hatte Mundlos bereits einmal Sprengstoff besorgt, sein ideologischer Hin-
tergrund barg zusätzliche Sprengkraft in sich: gemeinsam mit den anderen aus
dem „Blood and Honour“-Widerstand folgte er nicht mehr nur einer reinen na-
tionalistisch-sozialistischen Lehre, der Rassismus stand nun im Vordergrund, der
zu dem Schlachtruf „Race before Nation“ verdichtet wurde. Die Anhänger von
„Blood and Honour“ folgten so dem Grundkonzept des „Weißen Arischen Wider-
stands“, das vor allem einen führerlosen Widerstand vorsah.
Dem BfV war in dieser Zeit durch diverse eigene und Fremdinformanten be-
wusst, was innerhalb der „Blood and Honour“-Bewegung diskutiert wurde: Ein
bewaffneter Kampf, „Widerstand“ gegen die „ZOG“ – „Zionist Occupied Go-
vernment“, Anschläge, Überfälle auf Banken. In diversen theoretischen Papieren
wurde immer wieder zum Kampf aufgerufen – im Geiste des „Weißen Arischen
Widerstands“. So hieß es in einem Text der Bewegung:
Der Verfassungsschutz und der NSU 243

„Wir wissen, und es ist wissenschaftlich erwiesen, daß die Flut farbiger Einwan-
derer – nicht jetzt, nicht morgen, aber sehr, sehr bald – die weißen Europäer zu
einer Minderheit werden lassen. Mit anderen Worten, wir werden das letzte bisschen
Kontrolle, das wird noch über unsere eigenen Länder haben, verlieren. ... Falls es
nicht bald einen radikalen weißen Gegenschlag in Form einer Endlösung gibt, um
dieses Problem zu bewältigen, wird die oben beschriebene dunkle Zukunft unser
Ende sein.…

Glauben wir wirklich an die grenzenlose Boshaftigkeit von ZOG [Zionist Occupied
Government] und das Entstehen eines Rassenkrieges? Stehen wir hinter dem Slogan
›Sieg oder Tod‹? Oder sind das bloß bedeutungslose Texte einer White Power-Rock
CD, die auf voller Lautstärke im Beisein einiger betrunkener Freunde gespielt wird
bei ein paar Flaschen Bier ... Unsere Slogans ... sind ernst gemeinte Worte und Auf-
rufe, zu den Waffen zu greifen. Dies ist ES, und diejenigen, die nicht bereit sind,
das ultimative Opfer zu erbringen, um die Zukunft unseres arischen Ursprungs zu
sichern, sollen jetzt aufhören zu lesen!“7

Angeblich, so ein Zeuge vor dem NSU-Ausschuss in Berlin, habe man diese Dis-
kussionen innerhalb des BfV nicht ernst genommen, weil man den Zielpersonen
in Chemnitz – etwa Jan Werner – Gewalt nicht zugetraut habe. Das erklärt jedoch
nicht, warum das BfV dennoch diesen großen Aufwand betrieb, um die Gruppe
„Blood and Honour“ aufzuklären und im Griff zu behalten. Vor allem Jan Werner
wurde über Jahre fast lückenlos abgehört, verschiedene Dienste konnten mithören
und in seinen vielen SMSen mitlesen, wie er Konzerte von „Blood and Honour“-
Bands organisierte und dabei Kontakte in ganz Europa knüpfte.
Auch Thomas Starke wurde abgehört, in seinem Fall vom LKA Thüringen, das
tatsächlich auf der Suche nach den Drillingen war. Bei Starke hätten die Ermittler
Anfang 1998 allein anhand von Telefonaten und Kurznachrichten mitverfolgen
können, dass er gerade drei „Kameraden“ in C hemnitz unterbrachte und dafür
diverse andere „Kameraden“ um Hilfe bat. Trotzdem geschah nichts.
Im Fall von Jan Werner fehlen allerdings zentrale Dokumente in den Akten.
So hatten die Verfassungsschutzbehörden durch V-Mann-Meldungen und Abhör-
maßnahmen mitbekommen, dass Werner auf der Suche nach Waffen war – für die
Drillinge, die „weitere Überfälle“ planen würden. Berichtet hat das ein V-Mann
des LfV Brandenburg – der Berliner Carsten Szczepanski alias Piatto. Szczepans-
ki durfte mit einer Sondergenehmigung das Gefängnis verlassen, um direkt in
Chemnitz, nahe an Jan Werner und den anderen Unterstützern des NSU, zu operie-
ren. Piatto konnte so präzise über die damaligen Pläne des Trios berichten – man
brauche Waffen, plane Überfälle. An seinem Fall werden nun abermals die strate-

7 Max Hammer: „The Way Forward“, aus dem Jahr 1997.


244 Dirk Laabs

gischen Interessen des BfV deutlich. Denn beim Bundesamt bekam man mit, dass
das LfV Brandenburg unsauber gearbeitet hatte – Piatto telefonierte mit einem
Handy, das auf das Innenministerium in Potsdam zugelassen war. Mit diesem
Handy geriet er in die Telefonüberwachung des LKA Thüringens, das auf der Su-
che nach den Drillingen war – just zu dem Zeitpunkt, als sich Jan Werner um Waf-
fen für die Drei – offenbar mit der Hilfe von Piatto – bemühte. Das BfV warnte
aber das LfV Brandenburg, dass das Handy von Piatto bald aufÁiegen könnte und
Piatto damit – von der Polizei – enttarnt wäre. Das Handy wurde abgeschaltet, die
Arbeit des LKA Thüringen damit sabotiert. Es war dem BfV also wichtiger, die
Quelle Piatto zu schützen, als zuzulassen, dass die Polizei das Umfeld des Trios
aufklärt und ihm näherkommt. Die Einstellung des BfV gegenüber den Drillingen
war ein dynamischer Prozess – mal nahm man die drei untergetauchten ernster,
mal waren andere Zielobjekte wichtiger. Unumstößlich war in jedem Fall die Re-
gel seitens des BfV, keine wichtige Quelle in der Szene durch eine Operation – und
sei es die Suche nach „Bombenbastlern“ – zu gefährden.
Zudem muss an dieser Stelle betont werden, dass das LKA Thüringen – in die-
sem Fall die zuständigen Zielfahnder – keineswegs heißen Spuren konsequent ge-
folgt wären. Man sei überlastet gewesen, erklärten die Zielfahnder später, habe
deswegen etwa die Telefonüberwachung nicht gründlich genug auswerten können.
Inzwischen lässt sich durch die erhaltenen Protokolle feststellen, dass Werner
einen engen Dialog mit Piatto führte. Im Spätsommer planten die beiden ein Tref-
fen in Brandenburg, nachdem sie sich zuvor über Waffen ausgetauscht hatten. Die
Protokolle, die Werners Telefonüberwachung in den Tagen vor, während und nach
diesem Treffen abbilden, sind jedoch verschwunden.
Piatto ist ein Beispiel dafür, dass V-Männer nicht per se lügen oder als Instru-
ment der Aufklärung nicht funktionieren können. Wegen Informanten wie ihm
wollen Verfassungsschutzbehörden auf das Mittel V-Mann nicht verzichten. Piatto
berichtete – unter großem Risiko – präzise über die Pläne des Trios und seiner
Unterstützer zu der Zeit. Er operierte direkt im Umfeld der wichtigsten Unter-
stützer, durch ihn waren die Verfassungsschutzbehörden so über die Pläne der
Drillinge informiert. Doch die Verfassungsschützer machten nichts aus den Infor-
mationen, reichten sie nicht an die Polizei weiter – darüber hinaus verbrannten sie
Piatto in der entscheidenden Phase. Er verriet den Zeitpunkt einer Lieferung von
Nazirock-CDs an die „Blood and Honour“-Sektion Sachsen. Die Lieferung wurde
von der Polizei gestoppt, die Akteure in Chemnitz und das Umfeld der Drillinge
wussten damit, dass Piatto ein Verräter ist. Er berichtete nie wieder über die drei
Áüchtigen Thüringer.
Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe lebten zweieinhalb Jahre in C hemnitz. In
dieser Zeit berichteten immer wieder V-Leute über sie, ihr Umfeld wurde obser-
Der Verfassungsschutz und der NSU 245

viert, Ermittler und Verfassungsschutzagenten waren ihnen sehr nah. Abermals


hatten die verschiedenen Verfassungsschutzbehörden und die Polizei jedoch kon-
träre Ziele. Innerhalb des Thüringer LKAs zog man nicht an einem Strang, die
Suche nach den Drillingen wurde immer wieder von LKA-Beamten selber sabo-
tiert. Das LfV Sachsen – im Auftrag des BfV – nutzte wiederum eine Operation,
die dafür gedacht war, Böhnhardt und die anderen zu Ànden, lieber dafür, die
C hemnitzer Szene aufzuklären und potenzielle Informanten auszumachen. Um
das eigentliche Ziel – die drei „Bombenbastler aus Jena“ zu Ànden – ging es, wenn
überhaupt, nur noch in zweiter Linie. Im Ergebnis konnten die „Bombenbastler“
im Sommer 2000 aus Chemnitz verschwinden, nachdem abermals das Fernsehen
über sie berichtet hatte, und ihnen der Boden zu heiß geworden schien. Im Jahr
zuvor hatten Böhnhardt und Mundlos bereits ihre erste – scharfe – Bombe in einer
Nürnberger Kneipe abgelegt, die explodierte und einen jungen Türken verletzte.
Während die mutmaßlichen Mitglieder des NSU die Bomben konstruierten, waren
sie unter großem Fahndungsdruck und mussten mehrmals die Wohnung wechseln.
Dass es ihnen trotzdem gelang, eine scharfe Bombe zu bauen, ist ein Indiz dafür,
dass sie Hilfe – sichere Räume, Bombenmaterial – aus ihrem Umfeld bekommen
haben. Doch etwaige Zeugen und potenzielle Mitverschwörer wie Jan Werner und
Thomas Starke schweigen zu diesem Punkt oder können vom zuständigen BKA
nicht überführt werden. Das fällt dem BKA allerdings auch deshalb schwer, weil
die Verfassungsschutzbehörden der Polizei wesentliche Informationen vorenthal-
ten.
Die Drillinge zogen schließlich Mitte 2000 nach Zwickau, ganz in die Nähe
eines anderen BfV-Spitzels: Ralf Marschner alias Primus. Wenig später begann
die Mordserie des NSU, bei der immer eine Ceska mit Schalldämpfer eingesetzt
wurde.

„Vor diesem Hintergrund sehe das BfV in der jüngeren


Entwicklung Ansätze für einen Rechtsterrorismus“

Dem BfV wurde regelmäßig vorgeworfen, dass das Amt rechten Terror auch in
der entscheidenden Phase – als das Morden des NSU begann – nicht für mög-
lich hielt. So wurde wiederholt in den verschiedenen Untersuchungsausschüssen
thematisiert, dass das BfV in seinen Jahresberichten nie die Möglichkeiten von
rechtem Terror betont hat – diese Berichte sollen also als Beleg herhalten, dass das
BfV rechten Terror tatsächlich nicht für möglich hielt. Der Inlandsgeheimdienst
kennt allerdings nicht nur eine Wahrheit – gegenüber der Öffentlichkeit oder dem
Parlament kommuniziert der Dienst selten sein ganzes Wissen oder eine Analyse,
246 Dirk Laabs

die auf alle Quellen zurückgreift. Da die heikelsten Informationen meist von V-
Männern stammen, werden die in den Schlüsselberichten ausgeklammert. Intern
und innerhalb der „Staatsschutzfamilie“ kommuniziert das BfV offener.
So war tatsächlich das BfV im Jahr 2000, tragischerweise nur wenige Tage
nach dem ersten Mord des NSU – der Blumenhändler Enver Simsek war in Nürn-
berg erschossen worden –, analytisch auf einer heißen Spur. Das BfV hatte Terror-
anschläge durch mehrere rechtsextremistische Einzeltäter oder Kleingruppen in
den Jahren zuvor registriert:

• Kay Diesner erschoss 1997 einen Polizisten, verletzte zwei weitere Menschen
schwer. Er bezog sich auf den „Weißen Arischen Widerstand“. In der deutschen
Szene kursierte ein Konzept:

„Wie aus dem in der FASC HISMUS-Schulungsbroschüre angeführten „Mein


Kampf“-Zitat hervorgeht, haben wir alle die PÁicht zum Widerstand – und zwar
zum Widerstand mit a l l e n Waffen! Es laufen Vorbereitungen, dem Staatsterror
gewappnet entgegentreten zu können. Widerstand regt sich, Deutscher Widerstand.
Wir wollen hier keinen neuen Verein gründen (der dann sowieso ganz schnell wieder
verboten würde). Der WEISSE ARISC HE WIDERSTAND DEUTSC HLAND ist
keine Organisation mit Vorsitzendem, Kassierer usw. Man kann ihm nicht „beitre-
ten“, bekommt auch keinen „Mitgliedsausweis“.“

• Der britische Neonazi David Copeland zündete 1999 mehrere Nagelbomben in


London. Er sagte umfassend aus:

„Frage der Polizei: Warum Angriff auf Schwarze und Asiaten?


C opeland: Weil ich sie nicht mag. Ich will, dass sie aus diesem Land verschwin-
den. Ich bin ein nationalsozialistischer Nazi [National Socialist Nazi]. Ich
glaube an die Herrenrasse ... Mein Ziel war politisch, ich wollte einen
Rassenkrieg in diesem Land.
Frage: Also, indem Sie Bomben in Brixton und in der Bricklane legten, hofften Sie
auf ...
Copeland: ... einen Gegenschlag.
Frage: .. von?
Copeland: „... den ethnischen Minderheiten. ... Es wäre nur ein Funken. Dieser Fun-
ken würde das ganze Land in Flammen setzen. Chaos, Zerstörung, Feuer,
das ist okay. Wenn Sie die Turner Diaries gelesen haben, naja, im Jahr
2000 beginnt die Revolution [tatsächlich im Jahr 1991, d.A.], und die Ras-
sengewalt wird die Straßen beherrschen, es gibt einen Rassenkrieg und
die Menschen werden die BNP wählen.“
Der Verfassungsschutz und der NSU 247

Copeland wird schließlich gefragt, was das ultimative Ziel ist: „Ein nationalsozia-
listischer Staat ... für dieses Land, für die ganze Welt. Die Arier würden die Welt
dominieren. Die weiße Rasse ist die Herrenrasse [und] die britischen Menschen
haben ein Recht auf eine ethnische Säuberung.“ Er bezieht sich damit – wie Wies-
ner – eindeutig auf das Konzept des „Weißen Arischen Widerstands“.

• In Schweden raubte eine dreiköpÀge Terrorgruppe, die sich ebenfalls auf den
„Weißen Arischen Widerstand“ berief, eine Bank aus. Einer der Täter erschoss
auf der Flucht zwei Polizisten mit ihren eigenen Waffen und nahm die Pistolen
anschließend mit.
• In Deutschland erschoss der Neonazi Michael Berger, bei dem auch eine psy-
chische Erkrankung festgestellt wurde, im Juni 2000 zwei Polizisten.
• Bei einem Bombenanschlag in Düsseldorf im Juli 2000, der sich unter ande-
rem gegen Auswanderer aus Russland zu richten schien und bei dem mehrere
Menschen schwer verletzt wurden, konnte ein rechter Hintergrund nicht aus-
geschlossen worden.

Das waren nur die spektakulärsten Vorkommnisse, es gab noch diverse andere
Vorfälle mit klarem rechtsterroristischem Bezug. Das BfV zog aus diesen Atten-
taten in Deutschland und Europa die richtigen Schlüsse. Die Analysten des BfV
stellten diese Anschläge bei einem Treffen aller Landeskriminalämter, des BKA
und der Verfassungsschutzbehörden in Eisenach vor. Sie betonten dort: „Den Waf-
fenfunden kommt vor der seit ca. eineinhalb Jahren geführten Gewaltdiskussion
[in der Szene] eine besondere Bedeutung zu. Auch wenn sich viele Rechtsextre-
misten – wenn auch aus taktischen Gründen – von der Anwendung von Gewalt
distanzieren, haben sich die Stimmen gehäuft, die Gewalt als Mittel zur Durch-
setzung politischer Ziele befürworten.“ Dann folgte ein Eigenlob: „Das BfV konn-
te Dank seiner operativen Arbeit – zum Teil in enger Zusammenarbeit mit den
Verfassungsschutzbehörden der Länder und dem MAD – eine ganze Reihe von
Hinweisen auf Waffen- und Sprengstoffbesitz in der rechtsextremistischen Sze-
ne gewinnen und die Strafverfolgungsbehörden informieren. Im Rahmen der sich
anschließenden Strafverfahren werden zumindest drei Gruppierungen in einem
frühen Stadium zerschlagen, noch bevor sie sich zu terroristischen Organisatio-
nen entwickeln oder schwere Gewalttaten verüben konnten.“ Eines der wichtigsten
Instrumente des BfV, um die erwähnten „Gruppierungen“ zu zerschlagen, waren
wiederum Informanten.
Ein Mitarbeiter des BfV bewertete die Entwicklung auf der Sicherheitskonfe-
renz noch vor einem anderen Hintergrund – die Gesetze, die eine terroristische
Vereinigung nach dem Vorbild der RAF deÀnieren, seien zu starr – sein Amt habe
248 Dirk Laabs

schon umgedacht, sagte der Mitarbeiter vom Bundesamt laut Protokoll: „Er ver-
weist darauf, dass die seit Jahren von den Verfassungsschutzbehörden benutzte
DeÀnition des Terrorismus weder eine zielgerichtete Vereinigung von mindestens
drei Personen noch ein Agieren aus dem Untergrund mit entsprechender Logistik
und Unterstützerszene zwingend voraussetze. Vor diesem Hintergrund sehe das
BfV in der jüngeren Entwicklung Ansätze für einen Rechtsterrorismus.“ Die an-
deren Teilnehmer stimmten nicht überein: „Demgegenüber sind die Vertreter der
LKÄ und des GBA gegen eine darin gesehene Ausweitung der bisherigen DeÀni-
tion des Rechtsterrorismus. Diese müsse sich – gerade auch wegen der Wirkung
auf die Öffentlichkeit – am Begriff der terroristischen Vereinigung im Sinne des §
129 a StGB orientieren. Ansonsten werde es zu vermeidbaren und kaum lösbaren
Abgrenzungsproblemen kommen.“
Mit anderen Worten: Die Landeskriminalämter und die Bundesanwaltschaft
hatten Angst vor der schlechten Presse. Rechter Terror sollte tabu bleiben. Der
Chef der Staatsschutzabteilung des BKA hatte zwar dafür Verständnis, „dass die
VS-Behörden bei ihrer Bewertung nicht nur die bisherige Rechtsprechung ..., son-
dern auch eine phänomenologische Sicht unter Einbeziehung der herausragenden
Fälle (terroristischer) Einzeltäter in Österreich (Briefbombenversender Fuchs) und
den USA (UNA-Bomber) einbeziehen.“ Und der Mann vom BKA betont zudem
selber, dass bestimmte „fremdenfeindliche Gewalttaten“ auf „ausländische Mit-
bürger“, „ängstigend“ und „terrorisierend“ wirken. Dennoch: Auch das BKA hielt
es nicht für nötig, die Gesetze und damit die Terrorismus-DeÀnition zu reformie-
ren. Also hieß es im Protokoll: „Ergebnis: Die Vertreter … stellen übereinstim-
mend fest, dass derzeit kein Rechtsterrorismus in Deutschland feststellbar ist.“
Die wichtigsten Akteure des deutschen Sicherheitsapparats standen an diesem
Tag in Eisenach an einem möglichen Wendepunkt – und entschlossen sich den-
noch weiterzumachen wie bisher, obwohl die Hinweise, dass der rechte Terroris-
mus nicht mit der RAF zu vergleichen war, immer offensichtlicher wurden. Die
bekannte Kleingruppe von militanten Neonazis, wie eben die Drillinge aus Jena,
hätte genau in das neu deÀnierte Raster gepasst. Sie hatte sich zwar in den Unter-
grund begeben, lebte illegal in Chemnitz, hatte dabei aber engen Kontakt zu be-
kannten rechten Akteuren und keinen Zugriff auf professionell gefälschte Papiere
wie etwa die RAF. Die Drillinge lebten bei weitem nicht so „tief“ im Untergrund
wie die Terroristen der RAF. Man hätte die Drillinge und ihre Unterstützer mit
noch mehr Argwohn verfolgen können und müssen. Dass man das beim BfV ent-
gegen der Aussage diverser Mitarbeiter des BfV nicht dennoch gemacht hat, ist
allerdings noch nicht abschließend geklärt.
Der Verfassungsschutz und der NSU 249

„DER NSU IST KEINE ABSTRAKTE SACHE“ –


Zahlreiche Hinweise auf den Nationalsozialistischen
Untergrund

Das BfV nahm die untergetauchten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe als Bedro-
hung lange sehr ernst, zudem hatte man im Jahr 2000 erkannt, dass auch von
Gruppen, die nicht besonders groß und streng organisiert sein müssen, eine aku-
te Terrorgefahr ausgehen kann. Im Jahr 2002 kommt schließlich eine weitere
Schlüsselinformation hinzu: Gut ein Jahr nach der Sicherheitskonferenz bekamen
verschiedenen Verfassungsschutzbehörden mit, dass eine Gruppe namens NSU
existiert. 2002 berichtete ein V-Mann dem LfV Mecklenburg-Vorpommern von
einem Brief, der in der Szene herumgeschickt wurde und dem Bargeld beigelegt
wurde. Eine Gruppe namens „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) hatte
ein Schreiben an mehrere rechte Blätter verschickt, in dem es hieß:

„ENTSC HLOSSENES, BEDINGUNGSLOSES HANDELN SOLL DER GA-


RANT DAFÜR SEIN, DAS DER MORGIGE TAG DEM DEUTSC HEN VOL-
KE GEHÖRT. JEDER KAMERAD IST GEFRAGT! AUC H DU ! ! ! GIB DEIN
BESTES – WORTE SIND GENUG GEWEC HSELT, NUR MIT TATEN KANN
IHNEN NAC HDRUC K VERLIEHEN WERDEN. DER NSU IST KEINE ABS-
TRAKTE SACHE. JEDER KAMERAD GEHÖRT DAZU SOFERN ER DEN
MUT FINDET ZU HANDELN UND SEINEN BEITRAG ZU LEISTEN. WIE
ERFOLGREICH DER NATIONALSOZIALISTISCHE UNTERGRUND IN DER
ZUKUNFT SEIN WIRD (,) HÄNGT AUCH VON DEINEM VERHALTEN AB.“

Wenig später wurde eine Anzeige in dem Skinzine „Der Weiße Wolf“ veröffent-
licht: „Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen ;-) Der Kampf geht wei-
ter…“ Der ehemalige Präsident des BfV Heinz Fromm hat vor dem NSU-Aus-
schuss in Berlin zugegeben, dass man die Anzeige durchaus registriert und einen
Vorgang zu einer Gruppe NSU angelegt hat.
Nur wenige Monate später tauchte der Name „NSU“ in einem anderen Zusam-
menhang erneut auf. Einer der wichtigsten V-Männer des BfV – Thomas Richter
alias Corelli – hatte seinem Kontakt-Agenten eine CD übergeben, auf der Dateien,
Fotos und ein Cover gespeichert waren. Auf dem Cover war eine Pistole zu se-
hen – und der Schriftzug NSU/ NSDAP. Der Begriff wurde bei den Verfassungs-
schutzbehörden abgespeichert. Schon der Vordenker der rechten Szene, Michael
Kühnen hatte gefordert, in „Mitteldeutschland“ einen „NS-Untergrund“ zu grün-
den. Das Konzept ist also den Verfassungsschutzbehörden ebenfalls seit Jahren
bekannt.
250 Dirk Laabs

Mitarbeiter des BfV haben inzwischen versucht, das Auftauchen der C D zu


relativieren – der V-Mann habe ständig Material in großem Umfang abgeliefert,
die NSU/ NSDAP-CD sei nur eine von vielen CDs gewesen. Allerdings gibt das
BfV inzwischen zu, dass das Cover und ein Text über die NSU nicht bereits ausge-
druckt, sondern lediglich als einzelne Dateien auf der CD gespeichert waren – das
bedeutet, die CD wurde vom BfV gründlich untersucht, die entscheidenden Datei-
en auch wahrgenommen. Das BfV gibt inzwischen auch zu, dass man anschlie-
ßend den V-Mann gezielt nach der Gruppe NSU/ NSDAP gefragt habe. Man hat
sich also für die neue Gruppe durchaus interessiert. Angeblich blieb die Befragung
von Corelli jedoch ohne Ergebnisse. Der V-Mann ist inzwischen verstorben – an
einem Zuckerschock in Folge einer nicht erkannten und therapierten Diabetes-
Erkrankung. Er kann also zu der CD und der Gruppe NSU/ NSDAP nicht mehr
befragt werden. Der Innenausschuss des Bundestages hat inzwischen einen Son-
derermittler eingesetzt, um den Fall zu untersuchen.8 Ob man beim BfV die CD
mit dem Brief des NSU in Verbindung gebracht hat, konnte bislang nicht geklärt
werden, würde aber naheliegen.
Der Fall Corelli macht mehrere Punkte klar.

• Das BfV arbeitet Spuren durchaus gründlich und mit logischer Konsequenz
auf. Von Desinteresse oder Schlamperei an dieser Stelle Àndet sich zunächst
keine Spur.
• Das BfV hatte die Existenz von Corelli weder gegenüber dem Bundestags-Aus-
schuss noch gegenüber dem BKA zugegeben. Er wurde durch die Arbeit eben
jenes Ausschusses bekannt. Auch die Existenz der CD im Archiv des BfV – die
zuvor zunächst in der rechten Szene aufgetaucht war – wurde nur bekannt, weil
das BKA gezielt nach diesem Beweismittel gefragt hatte. Das BfV blockiert
mithin die Aufklärung des NSU-Komplexes und gibt immer nur das zu, was so-
wieso bekannt geworden ist. Es ist also zulässig, davon auszugehen, dass aktive
und ehemalige Beamten des BfV auch weiter Wissen zurückhalten.

Als im Jahr 2003 zumindest den Analysten des BfV der NSU ein Begriff war,
spielte der ehemalige BfV-Vizepräsident Klaus-Dieter Fritsche gegenüber dem In-
nenministerium nun die Terrorgefahr von rechts herunter. In einem Schreiben an
den damaligen Innenminister Otto Schily beantwortete Fritsche, ob eine „Braune
Armee Fraktion“ existiere:

8 Zum Zeitpunkt des Redaktionsschluss lag sein Bericht noch nicht vor.
Der Verfassungsschutz und der NSU 251

„Bei einem Vergleich mit der RAF muss zumindest das wesentliche Merkmal dieser
terroristischen Bestrebungen berücksichtigt werden. Die RAF führte ihren bewaff-
neten Kampf aus der Illegalität heraus. Das heißt, die Gruppe lebte unter falscher
Identität, ausgestattet mit falschen Personaldokumenten und Fahrzeugdubletten in
konspirativen Wohnungen. Dies erforderte ein hohes Know-how und ein Sympathi-
santenumfeld, das bereit war, den bewaffneten Kampf aus der Illegalität zu unter-
stützen. Zur Finanzierung dieses Kampfes wurden Raubüberfälle begangen. Absich-
ten, einen Kampf aus der Illegalität heraus mit den damit verbundenen Umständen
zu führen, sind in der rechten Szene nicht erkennbar. Es gibt derzeit auch keine An-
haltspunkte, dass eine solche Gruppe ein Umfeld Ànden würde, das ihr einen solchen
Kampf ermöglicht. Die gewaltbejahenden Äußerungen in der rechten Szene sind in
letzter Zeit seltener geworden.“

Schließlich erwähnte Fritsche sogar die Drillinge:

„In der Presse wird angeführt, dass es im Rechtsextremismus sehr wohl ein poten-
tielles Unterstützerfeld gebe. Hierzu wird auf drei Bombenbauer aus Thüringen ver-
wiesen, die seit mehreren Jahren ‚abgetaucht‘ seien und dabei sicherlich die Unter-
stützung Dritter erhalten hätten. Dem ist entgegenzuhalten, dass diese Personen auf
der Flucht sind und – soweit erkennbar – seither keine Gewalttaten begangen haben.
Deren Unterstützung ist daher nicht zu vergleichen mit der für einen bewaffneten
Kampf aus der Illegalität.“

Abermals behaupten also zentrale Akteure vom BfV an dieser entscheidenden


Stelle, dass man die wesentlichen Informationen – Bestrebungen der rechte Szene,
Anschläge zu begehen, Existenz von Neonazis – wie den Drillingen – im Unter-
grund, die Überfälle begangen haben sollen, Auftauchen der Gruppe NSU, die den
Untergrund im Namen trägt – nicht zu einem Gesamtbild zusammengefügt habe.
Man hätte schlicht das Schicksal der abgetauchten Bombenbastler aus Jena „aus
den Augen“ verloren.
Dass man die Drillinge beim BfV plötzlich uninteressant fand, ist bislang je-
doch nichts weiter als eine Behauptung der durch den Berliner NSU-Ausschuss
befragten Zeitzeugen des BfV. Zumal das BfV 2003 zudem von ausländischen Ge-
heimdiensten gewarnt wurde, dass es eine aktive rechte Terrorgruppe in Deutsch-
land geben könnte.
252 Dirk Laabs

Das BfV und der Anschlag in der Keupstraße

Noch im Jahr 2004 – als die juristischen Anwürfe wegen der Bombenattrappen von
Jena gegen Mundlos und Zschäpe schon verjährt waren – erwähnte man die drei
explizit in einem „BfV-Spezial“-Bericht, in dem die Terrorgefahr von rechts ana-
lysiert wurde und dutzende rechtsextremistische, potenzielle Terroristen porträtiert
wurden. Unter ihnen waren diverse V-Männer, so dass das BfV geglaubt haben mag,
dass man die Szene im Griff hatte. So wurde ein möglicher Anschlag gegen die
Grundsteinlegung des jüdischen Gemeindehauses 2003 durch einen V-Mann ver-
raten, der die Gruppe wesentlich mitgeführt und radikalisiert hatte. Er berichtete je-
doch dem LfV Bayern und nicht dem BfV. Das LfV Bayern ließ das BfV über diese
Operation bis zur Enttarnung der Gruppe im Dunkeln – ein weiterer Beleg dafür,
wie viel Risiko die verschiedenen Verfassungsschutzbehörden bei der Bekämpfung
von rechtsgerichteten Terroristen eingingen und wie wenig man sich abstimmte.
Das „BfV-Spezial“ erschien nur Wochen nach einem Nagelbombenanschlag
in der Kölner Keupstraße im Juni 2004, bei dem Dutzende von Menschen verletzt
wurden und der im Ablauf den Anschlägen von London sehr ähnelte. Die ganze
Widersprüchlichkeit und Problematik der Arbeit des BfV wird auch in diesem
Fall deutlich.

• Stunden nach der Tat, am späten Abend, rief einer der führenden Beamten des
BfV bei der zuständige Leitzentrale an. Er brauche dringend die Nummer des
Mitarbeiters des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen, der für die Füh-
rung der V-Männer in dem Bundesland zuständig war. Der Anrufer kannte den
Mann bereits seit langem, sie hatten die wichtigsten Telefonnummern längst
ausgetauscht. Doch der BfV-Beamte schien den Kontakt so dringend zu brau-
chen, dass er versuchte umgehend eine weitere Nummer ausÀndig zu machen,
um den Mann des LfV NRW schnell erreichen zu können. Was gab es so Drin-
gendes in Sachen V-Männer zu besprechen? Die Teilnehmer des Telefonats sind
erkrankt oder wollen sich nicht erinnern.
• Das BfV hat den Anschlag in der Keupstraße als Fall gründlich bearbeitet,
ungefragt für die Kriminalpolizei eine Analyse geschrieben, darin auf den An-
schlag in London hingewiesen, Unterschiede und Parallelen der Fälle heraus-
gestellt. Zudem verwies das BfV auf einen anderen Anschlag in Köln aus dem
Jahr 2001, den die Polizei schon fast vergessen hatte und der später tatsächlich
dem NSU zugerechnet werden konnte. So weit, so konsequent. Das BfV schloss
nun aus dem Umstand, dass die Nagelbombe sehr fragil und auf einem Fahrrad
befestigt war jedoch, dass die Attentäter aus dem Umland kommen müssten.
Man präsentierte auch Verdächtige aus dem Kölner Großraum.
Der Verfassungsschutz und der NSU 253

Was nicht passierte – jedenfalls wurde dieser Vorgang bislang nicht offen gelegt:
Niemand in der Abteilung Rechtsterrorismus des BfV überprüfte nun systematisch
potenzielle rechtsextremistische Täter aus ganz Deutschland, die für den Anschlag
besonders in Frage kommen würden. Die Drillinge wären – da sie auch in diversen
Polizeidatenbanken als potenzielle Sprengstoffattentäter gespeichert waren – als
mögliche Verdächtige sofort auf dem Radar des BfV erschienen.

• In diesem Zusammenhang ist ebenfalls bemerkenswert, dass das BfV in eine


Falle der Kriminalpolizei tappte. Die überwachte die eigene Homepage, um zu
registrieren, wer besonders oft die Seite besucht, auf der die Videos der mut-
maßlichen Attentäter aus der Keupstraße zu sehen waren. Die Seite wurde so
häuÀg von Computern des BfV angesteuert, dass die Polizei eine Abordnung
dorthin schickte, um nachzufragen, was es mir der Obsession der BfV-Beamten
auf sich hatte.

Fest steht also: Es gab ein großes Interesse zentraler Personen innerhalb des BfV
an dem Anschlag in der Keupstraße, darunter ein Akteur, der vor allem mit der
V-Mann-Führung zu tun hatte. Man analysierte Aufnahmen von den Tätern, sogar
exzessiv. Man zog im BfV die richtigen Schlüsse, verglich das Attentat mit den
rassistischen Anschlägen in London. Aber abermals will man nicht auf Böhnhardt
und Mundlos als mögliche Verdächtige gekommen sein. Man wäre damit wie ein
Schlafwandler den Tätern dicht auf den Fersen gewesen – ohne es jedoch gemerkt
zu haben.
Auch dass auf den Tag genau ein Jahr nach dem Keupstraßenanschlag die Ces-
ka-Mordserie in Nürnberg weiter ging und ein Mann in Nürnberg erschossen wur-
de, will man beim BfV nicht mitbekommen haben. Genauso wenig wie den Fakt,
dass polizeiintern der Anschlag in Köln und die Mordserie aufgrund der Täter-
beschreibung in Verbindung gebracht worden sind – eine spektakuläre Erkenntnis,
denn so hatte man Videoaufnahmen von Verdächtigen, die auch hinter der Ceska-
Serie zu stecken schienen.
254 Dirk Laabs

„Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden,


die ein Regierungshandeln unterminieren“

Schließlich hatte das BfV auch mit dem letzten Mord der C eska-Serie indirekt
zu tun, bei dem die Verfassungsschutzgemeinde besonders exponiert wurde. Als
neuntes Opfer wurde ein junger Mann in seinem Internetcafé in Kassel im April
2006 erschossen.
Ein Jugendlicher wies die Polizei auf einen „richtigen Deutschen“ hin, der wäh-
rend oder kurz vor der Tat ebenfalls an einem Computer im Café gesessen hatte,
sich bislang aber nicht als Zeuge gemeldet hatte. Die Polizei konnte ihn ausÀndig
machen – es war ein V-Mannführer des LfV Hessens, Andreas Temme. Erst gab
er zu, am Tattag in dem Café gewesen zu sein, dann stritt er es ab. Er traf sich
mehrfach mit dem Präsidenten seines Amtes, dazu heimlich mit seiner C heÀn,
obwohl er schon unter einfachem Mordverdacht stand, man besprach, was zu tun
war. Erst später stellte sich heraus, dass seine Vorgesetzte ihn und seine Kollegen
wenige Wochen vor dem Mord im Internet-Café per E-Mail über die Ceska-Mord-
serie informiert hatte, beigefügt war ein Info-Blatt des BKA. Die CheÀn hatte ihre
Beamten in der Mail aufgefordert, sich unter den V-Leuten umzuhören: „Gibt es
Dinge, die VM [V-Männer] dazu sagen könnten?!“ Temme hat tatsächlich einen
V-Mann in der rechten Szene, der ausgerechnet im Umfeld des Trios eingesetzt ist.
Die Polizei drängte darauf, die V-Männer von Temme zu verhören, fünf Isla-
misten und eben jenen jungen Nazi, mit dem Temme zudem am Tattag ausführlich
telefoniert hat. Doch das LfV Hessen verweigerte der Polizei die Spitzel als Zeu-
gen zu vernehmen, der Geheimschutzbeauftragte des Amtes erklärte, dass „eine
Vernehmung und der damit einhergehende Verlust der Quellen das „größtmög-
liche Unglück für das Landesamt“ darstellen würde:

„…wenn solche Vernehmungen genehmigt würden, wäre es für einen fremden


Dienst ja einfach, den gesamten Verfassungsschutz lahm zu legen. Man müsse nur
eine Leiche in der Nähe eines V-Mannes bzw. eines V-Mann-Führers positionieren.“

Quellenschutz ist also wichtiger als die Aufklärung einer Mordserie, sobald das
„Staatswohl“ gefährdet ist. Andreas Temme und seine Kollegen beim LfV Hessen
wissen eindeutig mehr als sie zugeben, behalten es aber trotzdem für sich, denn
vieles deutet darauf hin, dass Temme dienstlich und nicht zufällig in dem Inter-
net-Café war.
Nach dem Mord von Kassel endete die Ceska-Mordserie – ohne dass sie von
der Polizei aufgeklärt wird. Da die Rolle Temmes früh publik wurde, wurde das
LfV Hessen vehement kritisiert, der Präsident musste gehen. Als Nachfolger kam
Der Verfassungsschutz und der NSU 255

ein Spitzenbeamter des BfV, Alexander Eisvogel, der das kleine, vergleichsweise
unbedeutende LfV Hessen für eine Zeit leitete. Er bedankte sich in einem Schrei-
ben persönlich bei Temme und bezog sich dabei auf ein Vieraugengespräch. Was
genau Eisvogel mit Temme besprach und warum das BfV einen seiner besten Mit-
arbeiter gleichsam zu Aufräumarbeiten nach Hessen schickte, ist bislang nicht be-
kannt. Der Untersuchungsausschuss des Landtages Hessen hat erst im Jahr 2015
seine Beweisaufnahme aufgenommen.
Anschließend – ab dem Jahr 2006 – will das BfV über seine diversen V-Männer
nichts mehr über ein NSU oder die Áüchtigen Drillinge gehört haben.
Der Kreis schließt sich dann erst ab dem 4. November 2011.
Zwei Männer überfallen eine Bank in Eisenach. Sie Áiehen auf Rädern, ver-
laden die Fahrräder in ein Wohnmobil und werden dabei gesehen. Sie verlassen
nicht die Stadt, sondern warten am Stadtrand. Dort werden sie von einer Polizei-
streife entdeckt. Die beiden Polizisten glauben, man habe auf sie geschossen. Kurz
darauf steht der Camper in Flammen. In dem Wrack werden später die Leichen
von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gefunden. Dazu Waffen, Beutegeld von
verschiedenen Überfällen, falsche Pässe, Rucksäcke. Darin wiederum DVDs mit
einem Film darauf, in dem sich der NSU zu zwei Bombenanschlägen und zehn
Morden bekennt. Diese DVDs jedoch werden von der Spurensicherung erst einen
Monat nach dem Brand in den Rucksäcken – in der Asservatenkammer – entdeckt.
Da war der Film schon lange in der Öffentlichkeit. Denn die DVDs wurden auch
an Parteien, Fernsehsender, muslimische Gemeinden geschickt – von mindestens
einem Helfer des NSU, und von, mutmaßlich, Beate Zschäpe, die bis zum Ende im
Untergrund geblieben ist. Sie lebte seit 2008 in der Zwickauer Frühlingsstraße, in
einer Wohnung, die wie ein sicheres Haus eingerichtet war, mit Kameras, Stahl-
türen, falschen Wänden, einem Archiv voller Waffen, Munition und Artikel über
die Ceska-Morde. Kurz nach dem Tod ihrer Freunde soll Zschäpe die Wohnung
in Brand gesteckt haben. Sie irrte anschließend durch Deutschland und stellte sich
dann, vier Tage später, in ihrer Heimatstadt Jena.
Beim Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln wusste man, was das bedeutet.
Die Details des Kampfes gegen die Rechtsextremisten, den man vor allem mit
Spitzeln, also mit der Hilfe von anderen Rechtsextremisten geführt hat, drohten
nun ans Tageslicht zu kommen, viele der noch aktiven Informanten waren in aku-
ter Gefahr, enttarnt zu werden.
So war es konsequenterweise der Experte für Rechtsterrorismus Lothar Lin-
gen, der am 8. November 2011 – vier Tage nach dem Tod von Uwe Böhnhardt
und Uwe Mundlos und nur wenige Stunden nachdem sich Beate Zschäpe in Jena
gestellt hatte – BfV-Akten über rechtsradikale V-Männer heraussuchen ließ, um
sie wenig später – teilweise – vernichten zu lassen. Auch hier ist unklar, welche
256 Dirk Laabs

Akten in welchem Umfang vernichtet worden sind, auch hier hält das Bundesamt
Informationen zurück.
Zudem sollte offenbar verschleiert werden, wie viele Informanten Lingens Ab-
teilung in den 1990er Jahren wirklich geworben hatte, denn es wurden ebenfalls
Akten aus den frühen Jahren der Abteilung geschreddert. So heißt es im Bericht
des NSU-Ausschusses des Bundestages:

„Ab dem 29. Dezember 2011 seien insgesamt 137 Akten aus dem Forschungs- und
Werbungsbereich vernichtet worden: Dabei habe es sich im Einzelnen gehandelt
um… Forschungs- und Werbungs-Vorgänge aus 1993-1994. Diese Forschungs- und
Werbungsvorgänge aus 1993-1994 seien nicht rekonstruierbar.“

Mit der Vernichtung der Akten war nicht ausschließlich Lothar Lingen betraut,
auch andere Akteure des BfV haben das Schreddern der Dokumente zu verant-
worten. Aber es war Lingens Abteilung, die diese Akten in den frühen 1990ern
angelegt hatte, gerade als das BfV sich immer intensiver mit gewaltbereiten Neo-
nazis auseinandersetzte.
Der Umstand, dass Lothar Lingen auch 2011 noch – fast zwanzig Jahre nach-
dem er begann, den Rechtsextremismus zu bekämpfen –, für militante Nazis zu-
ständig war, zeigt, dass es eine große personelle Kontinuität innerhalb des BfV
gibt, die es noch unglaubwürdiger macht, dass die Drillinge aus Jena einfach in
Vergessenheit geraten sein sollen und als Gefahr nicht mehr interessiert haben.
Warum kooperiert das BfV nicht rückhaltlos mit den Aufklärern?
Einer der Hauptverantwortlichen für den Kampf gegen den deutschen Terror,
der Ex-Vizepräsident des BfV, Klaus-Dieter Fritsche, sagte dazu in einer Sitzung
des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses:

„Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln


unterminieren. Es darf auch nicht so weit kommen, dass jeder Verfassungsfeind und
Straftäter am Ende genau weiß, wie Sicherheitsbehörden operativ arbeiten und wel-
che V-Leute und verdeckten Ermittler im Auftrag des Staates eingesetzt sind.“

Und genau darum scheint es auch im NSU-Komplex an zentralen Stellen gegangen


zu sein: Quellenschutz ging vor Strafverfolgung. Geklärt werden muss noch im-
mer: Hat das BfV das Puzzle – obwohl man dort fast alle zentralen Teile vorliegen
hatte – wirklich nicht zusammengesetzt? Und wenn das so ist – warum nicht?
Hier muss die Analyse ohne vorgefasste Meinung und frei von Klischees – „auf
dem rechten Auge blind“, „rechten Terror nicht für möglich gehalten“ – weiter-
gehen, um den NSU-Komplex komplett aufklären zu können. Vor allem müssen
Der Verfassungsschutz und der NSU 257

auch die Akten des Bundesamtes für Verfassungsschutz den Aufklärern aus den
verschiedenen Untersuchungsausschüssen ohne Restriktionen vorgelegt werden.
Nur danach sieht es nicht aus. Zu Erinnerung: Im Falle des Wissens des BND um
Adolf Eichmann darf der Auslandsgeheimdienst mit Segen der höchsten Gerichte
weiterhin Akten nur geschwärzt vorlegen. Und auch im Fall des Oktoberfestat-
tentats wurde erst fast 25 Jahre nach der Tat von Seiten der Exekutive zugegeben,
dass Ankläger und Nebenkläger bei weitem nicht alle Akten bekommen haben. Es
ist also ein langer Atem gefragt. Auch und gerade bei der Aufklärung des NSU-
Komplexes.
Prozesse und Strukturen
der Verfassungsschutzämter
nach dem NSU1

Thomas Grumke

1 Einleitung

“Too much Civil Service work consists of circulating information that isn’t relevant
about subjects that don’t matter to people who aren’t interested.”
(Satirische BBC Sitcom „Yes, Minister“: PREFACE)

In der C ausa NSU gaben und geben einige Verfassungsschutzämter von außen
betrachtet ein desolates Bild ab. Obwohl in diesem Kontext auch erhebliche Fehl-
leistungen auf Seiten von Polizei, Justiz und nicht zuletzt der politisch Verantwort-
lichen zu beklagen sind, scheint das ohnehin dubiose Image der „Schlapphüte“
in der Öffentlichkeit nahezu irreparabel. Der Fall vom „Frühwarnsystem der De-
mokratie“ zur, wie einige behaupten, Gefahr für die Demokratie ist dramatisch.
Von jeher sitzen die Ämter für Verfassungsschutz jedoch in einer imageschädi-
genden Falle: „Wenn den Diensten Schnitzer unterlaufen, heisst es, sie seien bis
zur Lächerlichkeit ineffektiv. Haben sie Erfolge, heisst es hingegen, sie seien eine
Bedrohung für die Bürgerrechte.“ (Gujer, 2012). „Der Verfassungsschutz“, den es
in Wirklichkeit in dieser Homogenität nicht gibt, ist weiterhin ein Mysterium für
weite Teile der Bevölkerung.
Eine penible Untersuchung von Fehlern und Versäumnissen staatlichen Han-
delns ist dringend geboten und wird durch die Untersuchungsausschüsse im Bund

1 Eine Fassung dieses Textes erscheint in Lange und Lanfer (2015, i.E.).

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_9, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
260 Thomas Grumke

und in den Ländern sowie im Zuge des Zschäpe-Prozesses geleistet werden. In


der öffentlichen und politischen Debatte dominieren im Moment Rechtsfragen,
Technikalitäten (z. B. Einsatz von V-Leuten, Verarbeitung von Daten) und Fra-
gen der Neuorganisation und der besseren Zusammenarbeit (z. B. Verhältnis des
Bundesamtes zu den Landesämtern, Austausch von Daten). Nach den Debatten
von 1992 (Pogrome von Rostock-Lichtenhagen) und 2000 („Aufstand der Anstän-
digen“) erscheint die jetzige Diskussion zudem manchmal wie ein Déjà-vu (vgl.
Grumke, 2011).
Es haben sich drei Varianten zur Zukunft des Verfassungsschutzes herausge-
bildet: Reformieren (vgl. Grumke & Pfahl-Traughber, 2010), abschaffen (vgl. Leg-
gewie & Meier, 2012; Wesel, 2012) oder „weiter so“. Immer mitgedacht werden
muss das bisherige und zukünftige Verhältnis zur Polizei, die in den meisten Ver-
fassungsschutzbehörden seit jeher stark personell vertreten ist, z. B. als Führer von
Quellen (V-Leuten) oder Observanten.
Bei einem öffentlichen Fachgespräch der SPD-Bundestagsfraktion am 1.
November 2012 unter dem Titel „Ein Jahr nach Entdeckung des NSU-Terrors“
mahnte der Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses, Sebastian Edathy,
eindringlich die „Grundversprechen“ des demokratischen Rechtsstaats an: Der
Schutz der Unversehrtheit aller hier lebenden Menschen und wenn dies nicht ge-
linge, die staatliche Aufklärung mit aller Kraft. Im Fall des NSU wurden beide
Grundversprechen gebrochen.
Die Kernhypothese dieses Aufsatzes lautet: Das nach wie vor bestehende Ent-
setzen über die neue Qualität der rechtsextremistisch motivierten Mordserie des
sog. „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) hat sich auch mehr als zwei
Jahre nach dessen Entdeckung nicht in eine neue Qualität des nachhaltigen Han-
delns in den Verfassungsschutzbehörden transformiert. Es darf nicht nur um struk-
turelle Fragen gehen, denn die beste Struktur ist nur so gut wie die in ihr han-
delnden Personen. Deshalb werden in diesem Artikel die Organisationsstrukturen
und die Arbeitsweise der Ämter für Verfassungsschutz kurz nachgezeichnet. Die
Kernfrage lautet: Welche Schritte sind notwendig, damit die Verfassungsschutz-
ämter wirklich einmal „Nachrichten-Dienstleister der wehrhaften Demokratie“
(Schreiber, 2010, S. 34) werden?
Wer die Verfassungsschutzbehörden nicht abschaffen will, sondern sogar für
ein zentrales Element der wehrhaften Demokratie hält, der muss diese auch in
einen entsprechenden personellen und materiellen Stand versetzen. Soll Extremis-
mus analysiert und nachhaltig bekämpft, oder weiterhin verwaltet werden?
Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU 261

2 Aufgaben und Struktur

“In government, many people have the power to stop things happening but almost
nobody has the power to make things happen. The system has the engine of a lawn
mower and the brakes of a Rolls Royce.”
(Yes, Minister: A REAL PARTNERSHIP)

I. Was die Aufgaben der Verfassungsschutzämter betrifft, so hat das Bundesverfas-


sungsgericht diese jüngst in seinem Urteil vom 24.04.2013 zur Vorratsdatenspei-
cherung noch einmal genau – vor allem in Abgrenzung zur Polizei – beschrieben:

„Die Rechtsordnung unterscheidet […] zwischen einer grundsätzlich offen arbei-


tenden Polizei, die auf eine operative Aufgabenwahrnehmung hin ausgerichtet und
durch detaillierte Rechtsgrundlagen angeleitet ist, und den grundsätzlich verdeckt
arbeitenden Nachrichtendiensten, die auf die Beobachtung und Aufklärung im Vor-
feld zur politischen Information und Beratung beschränkt sind und sich deswegen
auf weniger ausdifferenzierte Rechtsgrundlagen stützen können. Eine Geheimpoli-
zei ist nicht vorgesehen“ (BVerfGE, 1 BvR 1215/07, Rand-Nr. 122).

Der immer wieder geäußerten Forderung, doch den Verfassungsschutz komplett auf-
zulösen und deren Aufgaben der Polizei zuzuweisen, ist damit eine klare Absage
erteilt. Vielmehr ist es dringend geboten, die Behörden für Verfassungsschutz in den
Stand zu versetzen, die ihr obliegenden Aufgaben – also: die Beobachtung und Auf-
klärung von extremistischen Bestrebungen im Vorfeld zur politischen Information
und Beratung – auch adäquat erfüllen zu können. Doch wie sieht der Ist-Zustand aus?
II. Die Ämter für Verfassungsschutz sind entweder Abteilungen in den Innen-
behörden mit einer Ministerialdirigentin/en an der Spitze (i.d.R. Besoldungsgrup-
pe B7) oder Landesämter, also nachgeordnete Behörden der Innenressorts und
unter deren Fachaufsicht, mit einer/m Präsidentin/en an der Spitze (i.d.R. Besol-
dungsgruppe B4). Mit dem Stand 1. Dezember 2014 waren von den 17 Verfas-
sungsschutzämtern acht eine Abteilung und neun ein Landes- bzw. Bundesamt.
Diese Struktur ist Änderungen unterworfen, wie das Beispiel Berlin zeigt. Hier
wurde das Landesamt für Verfassungsschutz im Jahre 2000 nach einer Reihe von
Fehlleistungen de facto aufgelöst und als Abteilung in die Innenbehörde eingeglie-
dert. Hier oblag es dann ab Anfang 2001 der Abteilungsleiterin Claudia Schmid
das Amt personell und mental aus dem Kalten Krieg hin zu einem modernen Ver-
fassungsschutz zu führen. Aus Thüringen ist zu vernehmen, dass die neue Rot-
Rot-Grüne Landesregierung den Verfassungsschutz dort ebenfalls in das Innen-
ministerium eingliedern will.
262 Thomas Grumke

Der Verfassungsschutz handelt nicht im luftleeren Raum, sondern ist Akteur im


politischen Umfeld. Wie alle anderen Abteilungen der Ministerien bzw. alle nach-
geordneten Behörden, sind alle Verfassungsschützer dem Dienstherrn (hier: den
Innenministern und –senatoren) weisungsgebunden. Zudem sind die Leiter/innen
der Verfassungsschutzbehörden sogenannte „politische Beamte“, werden also di-
rekt von der politischen Leitung eingesetzt (und ggf. auch wieder abberufen). Wie
das im worst case aussehen kann, zeigt der Fall Helmut Roewer, von 1994 bis 2000
Präsident des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz. Durch einen massi-
ven politischen Eingriff wurde damals der amtierende Präsident Harm Winkler
abgesetzt und durch den aus dem Bundesministerium des Innern kommenden Roe-
wer ersetzt. Die Urkundenübergabe fand angeblich in einem Erfurter Wirtshaus
statt. Roewer selbst erinnerte sich an die genauen Umstände bei der Befragung
durch den Thüringer Untersuchungsausschuss nicht mehr, da er bei Übergabe des
„gelben Umschlags“ betrunken gewesen sei. Weder der bei Roewers Ernennung
amtierende Innenminister Schuster noch dessen Nachfolger Dewes konnten bei
ihrer Befragung sagen, wer wann warum Roewer diese hochrangige Stelle als
Leiter des Verfassungsschutzes Thüringen angeboten hatte und wie er ausgewählt
wurde (vgl. Thüringer Landtag, 2013, S. 277ff.). Die Amtsführung Roewers wurde
von einem ehemaligen Mitarbeiter als „selbstherrlich“ und „menschenverachtend“
bezeichnet (Thüringer Landtag, 2013, S. 288). Das ernüchternde Fazit des Zwi-
schenberichts des Untersuchungsausschusses lautet:

„Der Untersuchungsausschuss muss zur Kenntnis nehmen, dass die damalig Ver-
antwortlichen sich jeder Verantwortung für die Ernennung entziehen. Dies mag eine
Ursache darin haben, dass angesichts der bekanntgewordenen Umstände der späte-
ren Tätigkeit und der Amtsführung des Präsidenten und der öffentlich notwendiger-
weise geäußerten Kritik an der Arbeit des TLfV auch im Zusammenhang mit dem
Untersuchungsauftrag jeder eine Verbindung zur eigenen Person, und sei es auch nur
durch die Verantwortung für die Ernennung des in die Kritik geratenen Präsidenten,
vermeiden will“ (Thüringer Landtag, 2013, S. 508).

Die Kritik an mangelhafter Arbeit des Verfassungsschutzes – hier am Beispiel


Thüringen – muss also zwangsläuÀg verbunden werden mit einer ebenso schar-
fen Kritik an den jeweiligen Dienstherren, die die Arbeit ihrer gesamten Ressorts
schlussendlich verantworten. Die Verfassungsschutzbehörden sind insofern weder
dienstrechtlich noch organisatorisch eine Besonderheit gegenüber allen anderen
Abteilungen bzw. nachgeordneten Behörden der Innenressorts.
III. Nach dem Bekanntwerden des NSU im November 2011 ist viel von einer
strukturellen Neuausrichtung oder Neujustierung der Verfassungsschutzbehörden die
Rede. Bislang wurde im Bundesamt die einige Jahre zuvor getätigte Zusammenlegung
Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU 263

der Abteilungen Rechts- und Linksextremismus rückgängig gemacht, so dass der Be-
reich Rechtsextremismus nun wieder einen eigenständigen Bereich bildet. Der Bereich
Linksextremismus bildet jetzt mit dem sog. „Ausländerextremismus“ eine eigene Ab-
teilung, die als eine Art organisatorische Resterampe derjenigen Phänomenbereiche
anmutet, denen gegenwärtig eine niedrige (politische) Bedeutung zugemessen wird.
Eine ähnliche strukturelle Entwicklung hat sich in der Abt. Verfassungsschutz in
NRW vollzogen. Doch wie sieht es darüber hinaus mit einer Reform aus?
Eine Presseinformation des Bundesamtes für Verfassungsschutz vom 22. Februar
2013 zum Projekt „Reform des Verfassungsschutzes“ liest sich in diesem Zusam-
menhang wie ein Dokument der HilÁosigkeit. Circa 15 Monate nach Entdeckung
des NSU wird ein Projekt vorgestellt, „um das BfV für neue Herausforderungen
angemessen aufzustellen“ (Bundesamt für Verfassungsschutz, 2013). Schon der Ver-
lauf der Umsetzung ist als amtstypisch zu bezeichnen: Der Projektstart erfolgte am
3. September 2012 (zehn Monate nach NSU); das Reformkonzept wurde nach weite-
ren fünf Monaten am 1. Februar 2013 vom BMI gebilligt; am 22. Februar 2013 star-
tete die Umsetzungsphase. Kernthema dieser Reform ist denn auch keine personelle
Verstärkung, wie es mit der massenhaften Einstellung von Fachwissenschaftlern und
Fachwissenschaftlerinnen nach dem 11. September 2001 geschehen war, sondern
eine nicht näher bezeichnete „Konzentration auf das Wesentliche“ bzw. eine „Neu-
priorisierung“ mit dem Ziel, sich vor allem um gewaltorientierte Extremisten zu
kümmern. Obwohl sicher gut gemeint, gewährt ein weiterer geplanter Reformschritt
einen tiefen Einblick in das typische Dilemma nahezu aller Verfassungsschutzäm-
ter: „Um eine stärkere Anbindung der Arbeit des BfV an gesellschaftliche Entwick-
lungen zu gewährleisten, soll ein entsprechender Beirat eingerichtet werden.“ (vgl.
Bundesamt für Verfassungsschutz, 2013). Wie die Arbeit bislang losgelöst von ge-
sellschaftlichen Entwicklungen überhaupt stattÀnden konnte, ist erstaunlich, aber
doch systemimmanent. In den 14 „Arbeitspaketen“, die in einer gewaltigen Struktur
mit vier Hierarchiestufen und eigener Geschäftsstelle zu erledigen sind, dreht sich
denn auch lediglich das Paket 8 um wissenschaftliche Expertise (vgl. Abb.1).
In Ministerien Àndet allgemein – wenig überraschend – kein „herrschaftsfreier
Diskurs“ à la Jürgen Habermas statt. „Demgemäss hängt das Schicksal von vor-
geschlagenen Erneuerungen und Veränderungen mehr von der Einsicht der Vor-
gesetzten denn der Qualität der Argumente ab. Dessen eigene Handlungsoptionen
gelten aber in solchen hierarchischen Strukturen selbst als begrenzt, ist er doch –
eine Formulierung des Althistorikers Christian Meier aus einem ganz anderen Zu-
sammenhang nutzend – allenfalls Herr in den Verhältnissen und nicht Herr über
die Verhältnisse“ (Pfahl-Traughber, 2010, S. 27). Doch wer ist denn nun in den
Ämtern für Verfassungsschutz – abgesehen von den schon erwähnten Ministern –
Herr in den Verhältnissen und wer ist Herr über die Verhältnisse?
264 Thomas Grumke

Abbildung 1 Organigramm zur Umsetzung der Reform des BfV (Quelle: Bundesamt für
Verfassungsschutz, 2013).
Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU 265

3 Personal und Führung

“Reorganizing the Civil Service is like drawing a knife through a bowl of marbles.”
(Yes, Minister: THE WHISKEY PRIEST)

I. Zu Recht wird in allen Ämtern zwischen der Führungsebene und der Arbeits-
ebene unterschieden. Das soll auch hier so geschehen. Ein Blick auf die Führungs-
ebene, also den sog. „Höheren Dienst“ (von Amtsleiter/innen über Referatsleiter/
innen bis zu den Referent/innen), zeigt deutlich eine absolute Übermacht von Ju-
risten. Was die Behörden für Verfassungsschutz angeht, so sind diese i.d.R. Teil
der allgemeinen inneren Verwaltung. Beschäftigt sind hier in den Leitungsfunk-
tionen ebenfalls fast ausschließlich Verwaltungsjuristen, die im Zuge der Rota-
tion einige Jahre im Verfassungsschutz arbeiten und dann weiter ziehen. Vertiefte
Fachkenntnisse in den Extremismusbereichen werden nicht erwartet bzw. sollen
ggf. nach Antritt der Stelle erworben werden. Dieser eklatante Mangel an Fach-
verstand wurde im Bereich Islamismus schmerzlich nach dem 11. September 2001
deutlich und durch die Einstellung einer großen Anzahl von Islamwissenschaftler/
innen und Arabist/innen kompensiert. Diese wurden und werden jedoch fast aus-
schließlich im Angestelltenverhältnis auf der Arbeitsebene geführt und sind für
Leitungsaufgaben nicht vorgesehen. Um es noch einmal klar zu sagen: auch im
Jahre 2014 sind die Leitungen der Fachreferate oder -abteilungen „Rechtsextre-
mismus“ oder „Islamismus“ keineswegs Politik- oder Islamwissenschaftler, son-
dern (zumindest in den Ministerien) im Rahmen der üblichen Rotation alle paar
Jahre neue Verwaltungsjuristen, die vorher andere Themenbereiche des Hauses
vertreten haben und auch nach ihrer Zeit beim Verfassungsschutz wieder in einen
anderen Bereich wechseln werden. Wie in allen anderen Berufsgruppen auch sind
hier einige Personen besser motiviert und mit einer besseren Auffassungsgabe aus-
gestattet als andere.
Auch die Leitungen der Behörden für Verfassungsschutz bestehen nach wie
vor, trotz zahlreicher Wechsel im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex, über-
wiegend aus Juristinnen und Juristen. Wie Tabelle 1 zeigt, sind dies Stand Ende
2014 elf der 17 Behördenleitungen. Abzüglich der vier Polizisten bleiben lediglich
zwei Behördenleiter mit einer geisteswissenschaftlichen Ausbildung. Eine „Neu-
justierung“ fand auf dieser Ebene nach NSU nicht statt.
266

Tabelle 1 Personelle Stärke und Leitung der Verfassungsschutzämter des Bundes und der Länder (Stand: 1.12.2014, Quelle: eigene
Recherche)
Bundesland Behörde (Personal- Leitung Jurist/in
stärke)
Baden-Württemberg Landesamt (337) Beate Bube (seit 1.2008) ja
Bayern Landesamt (ca. 450) Dr. Burkhard Körner (seit 8.2008) ja
Berlin Abt. (188) Bernd Palenda (seit 11.2012) ja
Brandenburg Abt. (ca. 105) Carlo Weber (seit 6.2013) ja
Bremen Landesamt (ca. 46) Hans-Joachim von Wachter (seit ja
1.2008)
Hamburg Landesamt (154) Torsten Voß (seit 8.2014) nein Polizist
Hessen Landesamt (ca. 200) Roland Desch (seit 6.2010) nein Polizist
Mecklenburg-Vorpom- Abt. (85) Reinhard Müller (seit 4.2009) nein Polizist
mern
Niedersachsen Abt. (ca. 270) Maren Brandenburger (seit 3.2013) nein Politikwissensch.
Nordrhein-Westfalen Abt. (335) Burkhard Freier (seit 7.2012) ja
Rheinland-Pfalz Abt. (165) Hans-Heinrich Preußinger (seit ja
3.2009)
Saarland Landesamt (83) Dr. Helmut Albert (seit 1999) ja
Sachsen Landesamt (182) Gordian Meyer-Plath (seit 8.2012) nein Historiker
Sachsen-Anhalt Abt. (106) Jochen Hollmann (seit 9.2012) nein Polizist
Schleswig-Holstein Abt. (ca.100) Dieter Büddefeld ja
(seit 10.2011)
Thüringen Landesamt (ca. 100) Thomas Sippel (bis 7.2012; seitdem ja
vakant)
Bund Bundesamt (ca. 2700) Dr. Hans-Georg Maaßen (seit 8.2012) ja
Thomas Grumke
Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU 267

Auch in der zweiten und dritten Hierarchiestufe (je nach Größe der Behörde sind
dies Gruppen- und/oder Referatsleitungen) sind weit überwiegend Juristen anzu-
treffen: „…praktisch jeder, der etwas zu sagen hat, ist Jurist.“ (Musharbash, 2013).
Dies ist auch der Einstellungspraxis der Innenbehörden geschuldet, da nach wie
vor grundsätzlich nur Juristen für das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit vorgese-
hen sind. Die wenigen Ausnahmen der Beamten ohne juristisches Staatsexamen
werden als „Beamte besonderer Fachrichtung“ geführt, die eben nicht beliebig
im Rahmen der fortwährenden Rotation im gesamten Geschäftsbereich einsetz-
bar sind und daher auch nicht als für Führungspositionen qualiÀziert angesehen
werden. Dass in diesem System einige Innenminister, wie z. B. der Pädagoge Ralf
Jäger in Nordrhein-Westfalen, wohl nicht einmal verbeamtet, geschweige denn Re-
feratsleiter in ihren eigenen Häusern werden würden, ist ein erstaunlicher Fakt.
Wie u. a. Armin Pfahl-Traughber herausgearbeitet hat, kommt Verwaltungsju-
risten, die i.d.R. ihr gesamtes Berufsleben in der öffentlichen Verwaltung – und
hier zumeist in der inneren Verwaltung – verbracht haben, eine „besondere Prä-
gung“ (Pfahl-Traughber, 2010, S. 25) zu. So bemerkte Ralf Dahrendorf bereits in
den 1960er Jahren: „Man wird schwerlich sagen dürfen, dass Offenheit, Flexibili-
tät, Bereitschaft für neue und überraschende Situationen, Toleranz für marktar-
tig sich selbst steuernde Bereiche des sozialen Lebens, Skepsis gegenüber dem
Anspruch des Staates auf die sittliche Idee zum Rüstzeug des deutschen Juristen
gehören“ (zitiert n. Pfahl-Traughber, 2010).
Laut des ehemaligen Leiters der Schule für Verfassungsschutz, Hans-Jürgen
Doll, bedarf es zur Erhöhung der Analysekompetenz einer „Brechung des Juris-
tenmonopols“. Wieder Pfahl-Traughber (2010) folgend, der selbst zehn Jahre beim
Bundesamt für Verfassungsschutz gearbeitet hat, können so erstens „Entwicklun-
gen auf der Basis historischer, kultureller oder politischer Sachkompetenz besser
eingeschätzt werden“. Zweitens „führt eine interdisziplinäre Herangehensweise
bei der Einschätzung des extremistischen Gefahrenpotentials zu neuen Erkennt-
nissen und Perspektiven“. Drittens „können die Verfassungsschutzbehörden da-
durch eher mit dem analytischen Anspruch aus der Wissenschaft mithalten und
ihre Funktion als ‚Frühwarnsystem‘ besser erfüllen“ (S. 26).
Es ist unbestreitbar, dass Behörden im Allgemeinen und Verfassungsschutzbe-
hörden im Besonderen mit einer Vielzahl rechtlicher Fragen konfrontiert sind und
deshalb Juristen benötigen. Daher hat auch schon jedes mittelständische Unter-
nehmen eine Rechtsabteilung. Eine so starke Dominanz, wie sie in fast allen Be-
hörden auszumachen ist, kann aber weder bezogen auf die Analyse- noch auf die
Führungskompetenz als zwingend erforderlich gelten.
II. In den Verfassungsschutzämtern arbeiten nicht hunderte von Extremismus-
expertinnen und Extremismusexperten, die sich diese Aufgabe ausgesucht ha-
268 Thomas Grumke

ben bzw. in langjähriger Fachausbildung darauf vorbereitet wurden. Genau wie


in anderen Behörden arbeitet hier ein Querschnitt des öffentlichen Dienstes. Im
„gehobenen Dienst“, also bei den sog. Sachbearbeitern, sind dies i.d.R. Personen
mit einer Ausbildung an einer der Verwaltungsschulen oder –fachhochschulen der
Länder oder des Bundes. Wie der Name schon sagt, obliegt dieser Dienstgruppe
die Auswertungsarbeit in den Sachgebieten. Hier treffen sich die „offenen“ (Zei-
tung, Internet usw.) Erkenntnisse mit den „eingestuften“ (Quellenberichte, Obser-
vationsberichte, Telefonüberwachungen usw.) und werden systematisch zusam-
mengeführt. Hier wird oftmals entschieden, welche Informationen relevant sind
und welche nicht, was in Berichte einÁießt und was nicht, was die Leitung zu
sehen bekommt und was nicht. Doch auch in dieser Dienstgruppe ist eine große
Spreizung der QualiÀkationen und Motivationen zu verzeichnen.
Das Beispiel Sachsen zeigt, dass in der Vergangenheit in einigen Verfassungs-
schutzämtern zeitweise scheinbar wahllos ohne Berücksichtigung einer relevan-
ten QualiÀkation eingestellt wurde. Im Rahmen der Befragungen im Sächsischen
NSU-Untersuchungsausschuss am 19. April 2013 sagte der ehemalige Referats-
leiter Rechtsextremismus/-terrorismus im Landesamt für Verfassungsschutz aus,
dass bei dessen Neuaufbau auch Personal eingestellt wurde, das mit dem Arbeits-
feld vorher nie inhaltlich zu tun hatte (vgl. Julke, 2013). Es wurde deutlich,

„…dass Tischler, Handwerker, Verkäuferinnen, Leute, die auf Bauernhöfen arbeite-


ten, ‚Leute, die keinerlei Ahnung hatten‘ (so wörtlich), Informatiker und Maurer ein-
gestellt worden sind. Das Amt habe deren Vergangenheit geprüft, der Referatsleiter
eine Stunde mit ihnen geredet. Dann seien sie auf einen sechswöchigen Lehrgang
zum Bundesamt für Verfassungsschutz geschickt worden“ (Julke, 2013).

Vorher hatte sowohl die Parlamentarische Kontrollkommission in ihrem Ab-


schlussbericht als auch die Harms-Kommission (vgl. Harms, Heigl & Rannacher,
2013) die Analysefähigkeit des Sächsischen Landesamtes als mangelhaft bewertet,
ebenso wie die Schäfer-Kommission die des Thüringischen (s.u.). Der Bericht der
Harms-Kommission hat hierzu ein ganzes Kapitel dem Thema „Fortbildung“ ge-
widmet, denn es wird ernüchtert (und ernüchternd) festgestellt: „Angesichts der
Ànanziellen Rahmenbedingungen in Bund und Ländern, die einen eigentlich erfor-
derlichen Zuwachs an qualiÀziertem Personal – auch mit Studienabschluss – nicht
erwarten lassen, kommt der Fortbildung der Mitarbeiter ein ganz besonders hoher
Stellenwert zu“ (Harms et al., 2013, S. 41).
III. In einer Öffentlichen Anhörung des Haupt- und Innenausschusses im Land-
tag Nordrhein-Westfalen am 2. Mai 2013 sah Heinrich Amadeus Wolf, Professor
für Öffentliches Recht an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, den
Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU 269

dringend benötigten „politologischen Sachverstand“ in den Verfassungsschutz-


ämtern „meilenweit entfernt“. In seiner Stellungnahme zur Frage 27 „Inwieweit
sehen Sie die Notwendigkeit, die Aus- und Fortbildung sowie Personalführung
beim Verfassungsschutz – wie bei der Polizei – zu professionalisieren und dies
normativ zu verankern?“ antwortet Wolf: „Der Unterzeichner geht davon aus, dass
die Ausbildung schon gegenwärtig professionalisiert ist, es wäre schlimm, wenn
die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes NRW von Amateuren unterrichtet wür-
den.“ (Wolf, 2013, S.15)
Das Thema Fort- und Weiterbildung ist ebenso wie die Analysekompetenz ein
im Verfassungsschutzverbund schon seit langem diskutiertes Thema, das nun of-
fenbar auch die politische Debatte erreicht hat. In Nordrhein-Westfalen wird in
einem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Reform der Ausrichtung des
Verfassungsschutzes NRW und des Verfassungsschutzgesetzes NRW konsequent
umsetzen“ unter dem Punkt „Aus- und Fortbildung sowie Personalführung profes-
sionalisieren“ gefordert:

Bislang bestehen für Mitarbeiter des Verfassungsschutzes keine einheitlichen Per-


sonalauswahl-, Ausbildungs- und Fortbildungsstandards, sondern es wird ein Áexib-
les „Learning by Doing“ praktiziert. Das hohe Niveau der Polizeiausbildung muss
Ansporn sein, auch für alle im Land tätigen Mitarbeiter des Verfassungsschutzes
entsprechende Leitlinien und Qualitätskriterien zu entwickeln. Das Ziel bundeswei-
ter Standards ist zudem eine Aufgabe der Innenministerkonferenz. (Landtag NRW,
2013, S. 4).2

Im Moment obliegt die Aus- und Fortbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
der Verfassungsschutzbehörden der Schule für Verfassungsschutz (SfV) in Heim-
erzheim bei Bonn. In dieser alten BGS-Kaserne, intern auch „Heimlichheim“ ge-
nannt, Ànden neben der Ausbildung des nichttechnischen gehobenen Dienstes des
BfV durch die Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung3 auch die
Fortbildungen aller 17 Verfassungsschutzämter statt. Musharbash (2013) charakte-
risiert die Jugendherbergsatmosphäre in „Heimlichheim“ zutreffend:

2 Es muss erwähnt werden, dass es die FDP war, die zwischen 2005 und 2010 mit Ingo
Wolf den Innenminister stellte und diese richtig beschriebenen Mängel hätte abstellen
können.
3 Vgl. http://www.fhbund.de/nn_14908/DE/01__Studieninteressierte/20__Zentralbe-
reich__Fachbereiche/09__FB__ND/03__BfV/bfv__node.html?__nnn=true.
270 Thomas Grumke

„Der Dienst braucht die besten Experten zu sehr speziÀschen Phänomenen wie tür-
kischen Marxisten oder russischer Wirtschaftsspionage, aber er kann ihnen nur ein
Umfeld bieten, das eher an das Großstadtrevier im Vorabendprogramm erinnert als
an die spannungsgeladene amerikanische CIA-Serie Homeland.“

Trotz erheblicher Anstrengungen in den letzten Jahren, aus der SfV eine hoch-
schulähnliche Institution oder sogar einen Think Tank bzw. eine „Akademie“ zu
machen und trotz personeller Verstärkung ist diese auch in der Selbstdarstellung
eine Erweiterung vor allem des Bundesamtes für Verfassungsschutz, das auf der
spärlichen Webpräsenz noch einmal deutlich auf seine Dienstaufsicht hinweist.4
Noch einmal: eine reguläre Fachausbildung für den gehobenen Dienst hat le-
diglich das BfV. Die Landesämter für Verfassungsschutz entsenden ihre Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter mehr oder weniger konsequent lediglich zu Fortbildun-
gen zu allen Extremismusbereichen. Ansonsten gilt „learning on the job“.
IV. Im Fall Thüringen bezeichnet das sog. Schäfer-Gutachten (Schäfer, Wache
& Meiborg, 2012) die Quellenauswertung und Analyse im Fall NSU als „man-
gelhaft“ (Schäfer et al., 2012, S. 118f.). Die Folgen dieser mangelhaften Auswer-
tung waren gravierend: der Verlauf des Untertauchens des NSU, des anfänglichen
Spendensammelns in der Szene und der späteren Ansage, man brauche nun kein
Geld mehr, wurden nicht adäquat analysiert und eingeordnet (Schäfer et al., 2012,
S. 193ff.). Winfriede Schreiber, die ehemalige Leiterin des Verfassungsschutz
Brandenburg, bewertet dies so: „Wenn Extremisten abtauchen, liegt es eigent-
lich auf der Hand, sich zu fragen, wie sie sich Ànanzieren. Die Schrift war an der
Wand – aber sie ist nicht richtig gelesen worden.“ (zit. n. van der Kraats, 2013).
Gordian Mayer-Plath, langjähriger Mitarbeiter im Brandenburger Verfassungs-
schutz und heute Leiter des Landesamts in Sachsen, schlägt eine konkrete Lösung
für den von Schreiber beklagten analytischen Analphabetismus vor: Man brauche
nicht unbedingt mehr Verfassungsschützer, sondern bessere:

„Wir brauchen ein breiteres Spektrum an Mitarbeitern, vor allem mehr Geistes- und
Sozialwissenschaftler. Denn Extremisten arbeiten mit C hiffren. Die beziehen sich
auf bestimmte Weltanschauungen und Denkrichtungen, die manchmal nur ein Geis-
teswissenschaftler kennen kann. Ich will damit nicht sagen, dass der Verfassungs-
schutz ausschließlich aus Historikern bestehen sollte, plädiere aber für eine gesunde
Mischung. Nur mal angenommen, sie Ànden eine Webseite mit lauter Gedichten von
Ernst Niekisch. Da müssen Sie schon wissen, wer das war. Sonst Ànden Sie die Seite
nicht verdächtig“ (Machowecz, 2012).

4 Vgl. http://www.verfassungsschutz.de/de/das-bfv/akademie-fuer-verfassungsschutz.
Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU 271

Dieser eklatante Mangel an sozialwissenschaftlicher Analysekompetenz in den


Verfassungsschutzämtern wird seit langer Zeit beklagt (vgl. Grumke & Pfahl-
Traughber, 2010) und auch in den Ämtern diskutiert. Rechtsextremismus wird
jedoch, anders als Islamismus, in vielen Behörden nicht als komplexe gesellschaft-
liche Aufgabe verstanden, da hier z. B. keine Fremdsprachenkenntnisse nötig sind.
Wie aber der Fall NSU zeigt, kommt es auf analytische Details an. So kann die
Abwesenheit von Bekennerschreiben nicht verstanden werden, wenn Konzepte des
internationalen Rechtsextremismus wie leaderless resistance (vgl. Grumke, 1999)
unbekannt sind. Die für den Rechtsextremismus im 21. Jahrhundert entscheiden-
den Gebiete der neuen Medien (Internet, soziale Netzwerke etc.) und der Musik
werden zu oft mit Instrumenten und einem Ausbildungsstand des 20. Jahrhunderts
bearbeitet.
Hinzu kommt, dass oftmals die zuständigen Sachbearbeiter nicht dazu aus-
gebildet sind noch dazu im hierarchischen Ablauf dazu angehalten werden, die
richtigen Fragen zu stellen. Komplexe Speicherrichtlinien und zum Teil wenig
nutzerfreundliche Speichersoftware tun ihr Übriges, dass Daten heute ebenso un-
analysiert und unverknüpft verbleiben wie früher in den staubigen Registraturen.
Modernes Wissensmanagement weiß: Speichern ȴ Wissen ȴ Verstehen! Das Spei-
chern von Bedeutung ist eben nicht möglich und so kommt es auf die analytische
Leistung aller Personen an, die in den Verfassungsschutzbehörden mit Auswer-
tung zu tun haben.
Doch auch wenn Erkenntnisse irgendwo in der Behörde vorhanden sind, dann
ist entscheidend wo, wer sie mit einem aktuellen Sachverhalt zusammenführt und
vor allem, ob die Führungsebene und die Arbeitsebene hieran gemeinsam arbei-
ten. Es gilt, den entscheidenden Schritt über die Verwaltung von Informationen hi-
naus zur Analyse von Informationen zu gehen (vgl. Pfahl-Traughber, 2010, S. 25).
Nur so ist zu erklären, dass der Staatssekretär im BMI Klaus-Dieter Fritsche noch
am 11. August 2011 auf die schriftliche Frage der Abgeordneten Jelpke: „Ist die
Bundesregierung nach den Anschlägen in Norwegen bereit, die Ausrichtung der
Arbeit des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ) neu zu überden-
ken und die ausschließliche Konzentration auf „islamistischen Terrorismus“ auf-
zugeben folgendes antwortete: „Abgesehen vom islamistischen Terrorismus gibt
es derzeit keine Personen(gruppen), die terroristische Ziele in Deutschland aktiv
vertreten und verfolgen“ (Drs. 17/6812). Fritsche ist seit Januar 2014 Staatssekretär
im Bundeskanzleramt und Beauftragter für die Nachrichtendienste des Bundes. 5

5 Vgl. http://www.bundesregierung.de/
C ontent/DE/Biographien/biographie-klaus-die-
ter-fritsche.html.
272 Thomas Grumke

4 Fazit: Die De-Mystifizierung des Innenmysteriums

“Politician’s logic: We must do something. This is something. Therefore we must


do it.”
(Yes, Minister: PARTY GAME)

I. Der Fall des NSU ist de facto der 11. September des Rechtsextremismus in deut-
schen Ämtern und offenbart ähnliche analytische und fachliche Schwächen in
vielen zuständigen Verwaltungen, ohne dass hier (bisher) eine Verstärkung durch
Fachpersonal überhaupt in Erwägung gezogen wird – geschweige denn für Lei-
tungspositionen. Es besteht also nicht nur ein Informations- und Koordinations-
deÀzit zwischen den Behörden, sondern vor allem ein fachliches und analytisches
DeÀzit innerhalb der für den Rechtsextremismus zuständigen Ämter.
Pauschale Verurteilungen sind an dieser Stelle jedoch vollkommen fehl am
Platze, denn nicht alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller Verfassungsschutz-
behörden haben gleichermaßen in der Causa NSU versagt. Nicht selten zu hörende
Vorwürfe, „der“ Verfassungsschutz sei auf dem „rechten Auge blind“ und verfüge
über eine eigene, demokratieferne Mentalität, gehen am wahren Problem vorbei.
Es besteht eben keine Verfassungsschutz-Kultur oder –Mentalität und auch eine
Art corporate identity, wie sie die Polizei zweifellos pÁegt, ist hier nicht zu Ànden.
Die Arbeit wird vielmehr, wie gezeigt, politisch gelenkt vom zur Verfügung ste-
henden Personal nach bestem Wissen verrichtet. Zu beklagen ist, dass eben bisher
auf allen Ebenen so wenig Wert auf gesättigtes Fachwissen im Bereich Rechts-
extremismus gelegt wird und dies zur QualiÀkation für Führungspositionen kaum
relevant ist.
Anetta Kahane (2013) beklagt zudem eine „Kultur leidenschaftlicher Gleich-
gültigkeit“ in den Behörden. Und in der Tat mag es manchmal eine Kollision der
Sicherheit der eigenen Karriere mit der Inneren Sicherheit geben. Dies arbeitet
Musharbash (2013) schön in seinem Artikel zur Schule für Verfassungsschutz he-
raus:

„Auf eine sehr spezielle Art ist die Beamtenhaftigkeit eine Versicherung gegen ge-
meinschaftliche Rechtsbeugung. ‚Bevor ein Beamter seinen Pensionsanspruch ge-
fährdet, macht er lieber gar nichts‘, sagt ein Verfassungsschützer. Waterboarding
wäre beim Verfassungsschutz ganz und gar unvorstellbar. Doch das schützt weder
vor individuellen Fehlern noch vor kollektivem Versagen. […] Zwielichtig agiert ha-
ben möglicherweise einzelne Verfassungsschützer – der große Rest aber ist an einer
Aufgabe gescheitert, die er nur zu gerne bewältigt hätte“.
Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU 273

Wie der Harms-Bericht in Sachsen fordert, muss die „IdentiÀkation von DeÀziten
bei Wissen und Befähigung der Mitarbeiter und die Anpassung des Personalkör-
pers an die steigenden Herausforderungen des dienstlichen Alltags […] stärker als
bislang als Führungsaufgabe begriffen und wahrgenommen werden.“ (Harms et
al., 2013, S. 44). Berufsanfänger und Quereinsteiger sind zeitnah und umfassend
zu qualiÀzieren. Es muss der Grundsatz gelten: „Erst ausbilden, dann einsetzen“
(Harms et al., 2013, S. 45). Aber welcher Politiker möchte im Moment mit der
Forderung in Verbindung gebracht werden, den Verfassungsschutz personell und
materiell zu stärken?
II. Informierte, aufgeklärte und demokratische Bürgerinnen und Bürger treten
für die Demokratie und gegen ihre Gegner ein und tragen so dazu bei, unsere De-
mokratie und ihre Grundwerte zu schützen und zu stärken. In diesem Sinne sind
aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger das Fundament einer demokratischen Kultur
und so der beste Verfassungsschutz. Was Verfassungsschutzämter zu diesem Fun-
dament beitragen sollen und können muss politisch entschieden und gesellschaft-
lich akzeptiert werden.
Es bestehen unterschiedliche Handlungslogiken in den für die hier verhandelte
Frage relevanten Bereichen: Politik, Öffentlichkeit, Presse, Verwaltung (hier: Ver-
fassungsschutz). Diese gilt es herauszuarbeiten und in die Debatte einzubeziehen.
Das Phänomen Rechtsextremismus, das ein gesellschaftliches und kein primär
juristisches Problem ist, kann als solches nur gemeinsam nachhaltig bekämpft
werden. Den Verfassungsschutzämtern kann hier eine wichtige Rolle zukommen,
wenn die oben diskutierten Problemlagen offen angegangen und gelöst werden.
Zu denken gibt hier jedoch die Äußerung eines aktiven Verfassungsschutz-Mit-
arbeiters:

„‘Ich bin zum Verfassungsschutz gegangen, weil ich etwas gegen Nazis tun wollte‘,
sagt der Mann, der nur am Telefon sprechen möchte […] Umso überraschender wirkt
seine Resignation: ‚Wenn ich die Jahre in eine NGO gegen Rechts investiert hätte,
hätte ich wohl mehr erreicht‘“ (Musharbash, 2013).

Abschließend bleibt festzuhalten:

1. Die Ämter für Verfassungsschutz stehen nach Bekanntwerden des NSU unter
erheblichem Reformdruck.
2. Bisher ist jedoch keine neue Qualität im professionellen Handeln bzw. der Aus-
wertung des Rechtsextremismus zu erkennen.
3. Zentral ist in diesem Zusammenhang das Personal. Nach wie vor gibt es jedoch
weder auf der Arbeits- geschweige denn auf der Leitungsebene den systema-
274 Thomas Grumke

tischen Erwerb von Fachkompetenz hinsichtlich des Phänomens Rechtsextre-


mismus.
4. Eine Reform der Personalgewinnung oder Personalentwicklung ist, anders als
nach 9/11, nicht in Sicht. Nach wie vor gelten eine juristische Ausbildung und
die fortlaufende Rotation durch viele Stationen der allgemeinen inneren Ver-
waltung als Maßstab für eine gute Führungskraft, auch im Verfassungsschutz.
5. Eine Änderung dieser Praxis wird auch von der politischen Führung nicht ge-
fordert bzw. augenscheinlich für nötig gehalten. So wird auf allen Ebenen das
Phänomen weiter grundsätzlich nicht von Rechtsextremismusexperten, son-
dern von Autodidakten bearbeitet und gesteuert. Eine sehr große Streuung der
Arbeitsqualität ist also nicht überraschend, sondern systemimmanent.
Prozesse und Strukturen der Verfassungsschutzämter nach dem NSU 275

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276 Thomas Grumke

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am 2. Mai 2013“ vom 26.04.2013.
Fallbeispiel Grass Lifter

Künstlerische Interventionen zum NSU im öffentlichen


Raum in Sachsen

Franz Knoppe und Maria Gäde

1 Einführung

Wenn ein kleiner Ort täglich in überregionalen Medien erscheint, ist etwas Be-
sonderes passiert. Wenn an diesem Ort über das Besondere nichts in der Öffent-
lichkeit zu Ànden ist, wird es Zeit für die Kunst. Der Soziologe Niklas Luhmann
wusste über die Kunst zu sagen: „Kunst weist darauf hin, dass der Spielraum des
Möglichen nicht ausgeschöpft ist, und sie erzeugt deshalb eine befreiende Distanz
zur Realität“ (Luhmann, 2006, S. 160).
Der kleine Ort ist in diesem Fall Zwickau, eine Stadt in Westsachsen. Das be-
sondere Ereignis war die Aufdeckung des Nationalsozialistischen Untergrundes
(NSU), dessen drei Kern-Mitglieder Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate
Zschäpe über zehn Jahre in Zwickau gelebt haben. Es stellte sich die Frage, wie die
Zwickauer und auch die sächsische Bevölkerung nach Aufdeckung des NSU damit
umgingen, dass diese Rechtsterroristen jahrelang unter ihnen gelebt haben. Die
Frage, wie das Thema in der Öffentlichkeit behandelt und diskutiert wird, lag da-
mit sofort auf dem Tisch. Wir meinen Verdrängungsmechanismen zu beobachten,
sowohl bei der Bevölkerung, als auch bei Vertretern1 der Politik. Ein sichtbares
Zeichen war der Abriss des Hauses in der Frühlingsstraße 26, wo die Terroristen
bis zuletzt Unterschlupf suchten. Heute Ànden sich dort keine Zeichen mehr. Aus

1 Im Folgenden wird aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung nur die männli-
che Form verwendet. Es sind jedoch stets Personen männlichen und weiblichen Ge-
schlechts gleichermaßen gemeint.

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_10, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
278 Franz Knoppe und Maria Gäde

diesem Grund wollten und wollen wir, die Grass Lifter, mittels der Kunst das Be-
sondere an diesem Ort zeigen. Die Grass Lifter, das sind junge Erwachsene aus
Zwickau, Plauen, Berlin, der Schweiz und Österreich und wir arbeiten internatio-
nal von Nairobi über Stendal, Berlin bis Chemnitz. Die Künstlergruppe Àndet sich
projektbezogen zusammen, um mit künstlerischen Mitteln das politische Thema
NSU und Rechtsextremismus zu bearbeiten.
Dieser Beitrag entstand im Zusammenhang mit der Teilnahme an der 27. Jah-
restagung des Forums Friedenspsychologie. Wir möchten am Beispiel der Grass
Lifter untersuchen, wie künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum und
bezogen auf politische Prozesse funktionieren können. Wir reÁektieren unsere
eigenen Aktionen und öffnen die „Black Box“ einer Künstlergruppe. Wir beschrei-
ben unseren Ansatz, unsere Taktiken, Prinzipien, Theorien und gruppendynami-
sche Prozesse, um Funktionen offenzulegen, die für uns notwendig erscheinen, um
erfolgreich Aktionen durchzuführen. Mit diesem Beitrag wollen wir zeigen, wie
die noch relativ junge Form des Kunstaktivismus in lokalen und kommunalen Poli-
tikprozessen funktioniert und arbeiten kann. Unsere Herangehensweise ist konst-
ruktivistisch und zum Teil aus einer systemtheoretischen Perspektive geschrieben.
In der Rolle als Aktionskünstler fühlen wir uns der wissenschaftlichen Genauig-
keit verpÁichtet, ohne fachspeziÀsche Ansprüche zu erheben.
Wir wollen im ersten Schritt die Motivation und das von uns wahrgenommene
Problem als Ausgangspunkt für unsere Aktivitäten darlegen. Im zweiten Schritt
werden die Zielgruppe, Taktiken, Prinzipien und Theorien vorgestellt, die für uns
entscheidend bei der Umsetzung der verschiedenen Aktionen waren. Abschlie-
ßend werden wir die Wirkungen unserer künstlerischen Arbeit beschreiben und
die Ergebnisse zur Diskussion stellen.

2 Kunstaktivismus als friedenspsychologischer Beitrag

Wir betrachten psychologische Systeme als von der Gesellschaft externe Systeme,
die also Umwelt der Gesellschaft sind. Gesellschaft besteht aus Kommunikation
(Luhmann, 2006, S. 35). Als Künstlergruppe versuchen wir mit Artefakten (z. B.
MiniÀguren oder Auszeichnungen), Bildern und Storys kommunikative Prozesse
und Irritationen auszulösen, um langfristig psychologische Veränderungen zu er-
reichen. Ziel dieser Prozesse ist es nicht, wie beim Design die Dinge zu verbessern,
oder attraktiver zu machen, sondern das Gegenteil ist der Fall. Kunst ästhetisiert
die Dinge der Gegenwart, um das Dysfunktionale, Absurde, Unnütze an ihnen zu
enthüllen. „Die Gegenwart zu ästhetisieren [mit den Mitteln der Kunst] bedeutet
sie zu toter Vergangenheit zu machen“ (Groys, 2014, S. 90).
Fallbeispiel Grass Lifter 279

Auf der kommunikativen Ebene stellt Kunst damit den Konsens über den Dis-
sens in der Gegenwart her (Luhmann, 2000, S. 92f.). Unsere Kunst greift Erkennt-
nisse aus der Wissenschaft auf und wendet sie mit kreativen Techniken aus der
Aktionspraxis an (z. B. den Erfahrungen des Ansatzes des Globalen Lernens). Die
Plausibilität unserer Aktionen können wir nicht abschließend bewerten. Was wir
beitragen möchten, ist der Blick aus der Praxis zurück in die friedenspsychologi-
sche wissenschaftliche Arbeit.

3 Blinder Fleck unserer Aktionen

Die Taten des NSU zielten gegen Menschen mit Migrationsbiographie. Alle Morde
außer dem ungeklärten Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter waren rassis-
tisch motiviert. Hier sind Menschen betroffen und es werden kulturelle Gruppen
bedroht, die wir in unserer Zusammensetzung als Künstlergruppe nicht widerspie-
geln. Wir sind weder People of Colour noch erleiden wir schwerwiegende Diskri-
minierungserfahrungen in der Gesellschaft. Als Künstler ging es uns daher auch
nie darum, für die Opfer zu sprechen und diese zu vertreten. Unser Fokus besteht
darin, den Teil der Gesellschaft, in der die Täter ihr zu Hause wählten, zur ReÁe-
xion anzuregen und dort Diskurse auszulösen.

4 Motivation – Problembeschreibung

Am ersten Jahrestag der Aufdeckung der Verbrechen des NSU beobachteten wir,
wie ein Kamerawagen der DPA die verlassene grüne Wiese in der Frühlingsstraße
26 in Zwickau Àlmte, den Ort an dem der NSU zuletzt wohnte und seine Verbre-
chen wahrscheinlich plante.
An jenem Abend sendete die Tageschau Stellungnahmen von Politikern, Op-
ferverbänden und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren. Eine Stellungnahme
aus der Region Zwickau, z. B. von der Oberbürgermeisterin Dr. Pia Findeiß, gab
es nicht. Auch gab es keine öffentliche Veranstaltung in Zwickau, die an dem
symbolischen Datum die Taten in einen Kontext der Aufarbeitung, Aufklärung
oder Erinnerung setzte. Eine Kleinstadt, die monatelang im Fokus der Öffentlich-
keit stand und sich an das Synonym des NSU „Zwickauer Terrorzelle” gewöhnen
musste, fand am Jahrestag der Aufdeckung der Verbrechen keine Worte. Bewusst
oder unbewusst versuchten die politischen und zivilgesellschaftlichen Akteure der
Stadt, diesen aus unserer Sicht notwendigen Diskurs nicht zu benennen. Das war
der Ausgangspunkt, der Auslöser für die Idee, das Gras, das über die Sache wächst,
280 Franz Knoppe und Maria Gäde

auszugraben und den Zustand des Verdeckens symbolisch zur Vergangenheit zu


erklären.
Ähnlich wie in Mügeln (Schellenberg, 2014, S. 85; siehe auch den Beitrag von
Schellenberg in diesem Band) fanden es Politiker in Zwickau schwierig, die Ter-
rorzelle NSU mit ihrem Ort zu verbinden. Während in den Medien noch von der
“Zwickauer Terrorzelle” gesprochen wurde, distanzierten sich Politiker von der
Art der Zuschreibung und verwiesen auf die Herkunft der Täter, die aus Jena ka-
men (Decker, 2013). Das Problem Rechtsradikalismus wurde argumentativ gene-
ralisiert und als allgemeingesellschaftliches und als nicht Zwickau speziÀsches
Problem präsentiert. So wollten die politischen Akteure von Zwickau lokale Auf-
klärungsmöglichkeiten die speziÀsch zum NSU sind, auf eine allgemeingesell-
schaftlichere Ebene heben. Dazu gehörte der Vorschlag, dass ein Dokumentations-
zentrum aller Opfer rechter Gewalt in Zwickau gebaut werden sollte (Lasch, 2013).
Dieses wurde abgelehnt und damit konnten lokalspeziÀsche Problemlösungen, die
von anderen Akteuren vorgeschlagen wurden, mit dem Verweis auf die Ablehnung
des Dokumentationszentrums wegdiskutiert werden.
Dennoch kam es in Zwickau auch zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema
NSU. Kurz nach dem ersten Jahrestag gab es im sozio-kulturellen Zentrum „Gaso-
meter“ eine Podiumsdiskussion zum Thema. Im Jahr 2013 thematisierte der örtli-
che Kunstverein mit einer Ausstellung die „Existenz des NSU“ (Naumann, 2013).
Für uns waren die Reaktionen der Stadtoberen nicht ausreichend. Unsere Annah-
me ist es, dass solch eine Terrorzelle ein Umfeld brauchte, das sie stützte und in dem
sie sich organisieren konnte. Dieses Umfeld wiederum, so nehmen wir an, braucht
ebenfalls ein Umfeld, in dem es mit seiner Haltung nicht auffällt oder wo man lieber
wegschaut und solche Prozesse toleriert. Diesem Umfeld des Umfeldes der „Ter-
rorzelle“ bewusst zu machen, dass solche Taten unter uns nicht mehr möglich sein
dürfen, ist das langfristige Ziel unserer Aktionen. Wir wollen, dass die Bevölkerung
sich mit dem Geschehenen auseinandersetzt und anhaltende Formen der Aufklärung
zulässt. Da dies für zivilgesellschaftliche Initiativen nicht ohne Unterstützung der
lokalen politischen Verantwortlichen zu erreichen ist, leiten wir daraus unsere An-
spruchshaltung an die politischen Akteure in Zwickau, Chemnitz und Sachsen ab.
Diese Ausgangsituation war für uns entscheidend, aktiv zu werden. Nur waren
wir nicht gut genug in der Stadt vernetzt, um politische Entscheidungsträger dazu
zu bringen, etwas zu tun. Auch kam uns die Haltung in der Stadt eher so vor,
als wüsste niemand so genau wie er sich verhalten sollte. Wo waren also die, die
ebenfalls fanden, dass nicht einfach Gras über die Sache wachsen sollte? Für uns
kam also nur in Frage, mit einer symbolischen Aktion das Thema wieder auf die
Agenda zu setzen, denn dafür brauchten wir keine weiteren Unterstützer und große
Organisationsvorleistungen.
Fallbeispiel Grass Lifter 281

5 Der Weg zu den Kunstaktionen

Im Rahmen der Künstlergruppe Grass Lifter wurden bisher vier Aktionen durch-
geführt. Im Folgenden werden die Aktionen vorgestellt.

Tabelle 1 Überblick über die Aktionen

Aktion 06.05.2013 04.11.2013 06.05.2014 04.11.2014


Das Gras, das über War da was? Fragen Áiegen Goldener Hase
die Sache wächst Grass it up!
Anlass NSU Prozess- 2. Jahrestag Auf- 1. Jahrestag des 3. Jahrestag Auf-
beginn deckung NSU NSU-Prozess- deckung NSU
beginns
Maß- Symbolischer Figurenaufstel- Luftballonperfor- Negativ-Preis-
nahmen Spatenstich in die lungen mit utopi- mance mit Fragen übergabe „Gol-
GrasÁäche der schen Themen an zum NSU-Kom- dener Hase“ an
Frühlingsstr. 26, den Orten, wo die plex, die über den Verfassungs-
Zwickau, Über- Täter lebten. Sachsen gestreut schutz Sachsen
gabe des Grases wurden. und Online-Pe-
an die Oberbür- tition
germeisterin von
Zwickau

Wir orientieren uns am Standardwerk des Kunstaktivismus „Beautiful Trouble –


Handbuch für eine unwiderstehliche Revolution” (Boyd & Oswald, 2014)(Boyd
und Mitchell 2014). Darin werden Taktiken, Prinzipien und Theorien beschrieben,
die für erfolgreichen Kunstaktivismus Bedingung sein können. Wir halten uns im
Folgenden an die im Buch verwendete Terminologie.

5.1 Zielgruppe

Aus unserem Ansatz, das Umfeld des Umfeldes der Terrorzelle zur ReÁexion anzuregen,
leitet sich auch unsere Zielgruppe ab. Wir wollen Menschen erreichen, die im Sozial-
raum Zwickau und Chemnitz wohnen. Menschen, die die Welt vor allem über Massen-
medien beobachten und nur bedingt im politischen System mitwirken. Bei diesen Men-
schen wollen wir Diskurse und Diskussionen auslösen, die Teil einer Haltungsänderung
sein könnten. Da das Thema in der Stadt nicht besonders beliebt war und noch immer
nicht ist, wussten wir, dass das, was wir machen nicht so interessant sein würde, dass
diese Menschen zu uns strömen würden. Trotzdem wollten wir genau diese Menschen
erreichen. Erst danach wollten wir die politisch Verantwortlichen ansprechen. Unsere
Zielgruppe umfasste damit bis zu 327.000 Menschen (Landkreis Zwickau, 2015).
282 Franz Knoppe und Maria Gäde

Abbildung 1 Mögliche Antwort auf die Frage: Wie gesellschaftlich reagieren auf die
Terrorzelle NSU in Zwickau? (zweite Aktion: 04.11.2013 – War da was?
Grass it up!)
Fallbeispiel Grass Lifter 283

Abbildung 2 und 3 Prophetische Intervention im öffentlichen Raum (zweite Aktion:


04.11.2014 – War da was? Grass it up?).
284 Franz Knoppe und Maria Gäde

Wie können wir in Zukunft verhindern, dass solche Taten unter uns geplant wer-
den? Wie gehen wir mit dem Geschehen um? Wie muss eine Gesellschaft ausse-
hen, die solche Taten vermeiden kann?
Wir wissen als Künstler: Was die Menschen von der Gesellschaft und ihrer
Welt wissen, ist geprägt von den Massenmedien (Luhmann, 2004). Also mussten
wir unsere Geschichte in die Medien tragen, denn sie sind in der Lage, durch ihre
Annahmen neue Weltkonstruktionen zu ermöglichen und damit eine öffentliche
Meinung als Resultat ihrer eigenen Wirksamkeit zu verändern (Luhmann, 2006,
S. 498). Diese Vorannahmen beeinÁussten die Auswahl unserer Methoden, die wir
zur Umsetzung der Ziele brauchten.

5.2 Taktiken

Den Begriff Taktik kennen wir vor allem aus dem Sport, Spiel oder Militär. Aber
auch der Kunstaktivismus bedient sich verschiedener Taktiken, um zum Ziel zu
gelangen. Taktiken sind bestimmte kreative Formen, die helfen das Ziel zu errei-
chen. Diese Taktiken reichen von Streiks über Besetzungen bis hin zu Flashmobs
oder unsichtbaren Theatern. Einige dieser Taktiken haben sich im Laufe der Jahre
bereits bewährt, andere Formen sind noch weniger bekannt. Nicht selten werden
auch mehrere Taktiken miteinander kombiniert, abgewandelt oder es entstehen gar
neue Formen innerhalb einer Künstlergruppe oder Aktion.
Eine unser Herangehensweisen war die Taktik der prophetischen Intervention
(Boyd, 2014, S. 52). Damit versuchen Kunstaktivisten, eine gegenwärtige politi-
sche Situation in etwas Vergangenes zu transferieren, in dem sie durch eine Vision
oder Utopie etwas Neues entstehen lassen. Durch die gezielte und überspitzte Äs-
thetisierung von gegenwärtigen Prozessen und Systemen werden diese in die Ver-
gangenheit projiziert und ihrer aktuellen Bedeutung beraubt (Groys, 2014). Doch
was kommt dann?
Uns ging es nie darum, Antworten auf gesellschaftliche Prozesse zu geben oder
zu Ànden. Das überlassen wir der Gesellschaft vor Ort. Doch nachdem wir das
Gras ausgegraben haben, trafen wir auf einen starken Widerstand von Seiten der
Entscheidungsträger. Wir fühlten uns wie Nestbeschmutzer. Das wollten wir gar
nicht sein, wir wollten nur Fragen stellen, aber selbst das erschien zu viel. Was also
tun, dachten wir? Wir bastelten MiniÀguren. Bei unserer zweiten Aktion am zwei-
ten Jahrestag (04.11.2013) der Aufdeckung des NSU bauten wir alles so klein, dass,
wenn man es nicht wusste, die Figuren auch nicht aufÀelen. Das Konzept haben
wir uns beim Künstler Slinkachu (2012) abgeschaut. Weniger als Fragen stellen
konnten wir nicht. Diese zu wiederholen, hielten wir auch nicht für zielführend.
Fallbeispiel Grass Lifter 285

Deswegen versuchten wir, mit MiniÀguren Zukunftsszenarien darzustellen. Wir


wollten damit ironisch die AngriffsÁäche wegnehmen und uns als Personen der
Öffentlichkeit entziehen. Inhaltlich ging es darum, die aktuelle Weltsituation aus
der Perspektive der betroffenen Menschen zu betrachten. Das bestehende Problem
wird nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft abgeleitet. Das Grund-
konzept „von der Zukunft her führen“, das sich aus der „Theorie U“ (Scharmer,
2013) ableitet, Àndet sich im Kunstaktivismus (Boyd, 2014, S. 52) genauso wieder
wie in der Persönlichkeits- und Organisationentwicklung. Nun hatten wir nicht
die Zeit, mit mehr als 300.000 Menschen ReÁexionsprozesse durchzudeklinieren
und haben uns daher entschieden, positive Visionen erlebbar zu beschreiben. Wir
nannten diese Szenarien „realisierte Utopien“ (Grass Lifter, 2013) und beschrieben
mögliche Visionen, die aus diesem Gedankenexperiment entstanden. Diese sollten
so attraktiv und unangreifbar sein, dass sie einfach übernommen werden könnten.
Es ist umstritten, ob in der Frühlingsstr. 26 an die Taten erinnert werden soll.
Zudem wurde von den Stadtoberen die Angst geschürt, es könnte dort ein Wall-
fahrtsort entstehen. Wir entschieden wir uns dort eine Baustelle für einen „Raum
für Dialog“ zu eröffnen (siehe Abbildung 1). In der Polenzstr. 2, wo das Trio
ebenfalls wohnte, ließen wir symbolisch eine Flüchtlingsfamilie einziehen, die
von ihren Mitbewohnern willkommen geheißen wird (siehe Abbildung 2). Damit
spielten wir auf die Tatsache an, dass es in Zwickau über 7.000 leerstehende Woh-
nungen gibt und die Flüchtlinge vor Ort in einem abgewrackten Heim am Rande
der Stadt untergebracht sind. Die in der Utopie vorgeschlagene dezentrale Unter-
bringung sollte Zwickau wiederbeleben, da die Stadt stark von Abwanderung und
Überalterung betroffen ist. Sie soll zu einem lebendigen Ort gemacht werden, wo
wieder Kinder auf der Straße spielen und unterschiedlichste Gerüche das Wohnen
lebenswerter machen.
Taktisch wollten wir damit eine Identitätskorrektur (Bichlbaum, 2014a, S. 39)
erzeugen. Hinter dieser Taktik verbirgt sich die Idee, über das Ansehen einer Ins-
titution in der Öffentlichkeit zu berichten bzw. aus einer neuen Perspektive zu be-
leuchten. Kunstaktivisten erÀnden Botschaften und präsentieren diese der Öffent-
lichkeit. Dies funktioniert negativ wie positiv. So erließen beispielsweise erfundene
Entscheidungsträger nach der Naturkatastrophe in Haiti die Schulden, die dem
Land nach seiner Unabhängigkeit von Frankreich auferlegt wurden, um franzö-
sische Sklavenbesitzer für „ihren verlorenen Besitz“ zu entschädigen (Bichlbaum,
2014a, S. 41). Diese neue Perspektive ist für die jeweilige Institution (hier: Frank-
reich) meist nicht schmeichelhaft, weshalb sie versucht, genau diese Perspektive zu
vermeiden. Mit den MiniÀguren zeigten wir alternative positive Utopien zum ge-
sellschaftlichen Ist-Zustand der Stadt Zwickau und versuchten, die Diskussion von
einer offenen Fragehaltung zu bestimmten Möglichkeiten zu bewegen.
286 Franz Knoppe und Maria Gäde

In unserer vierten Aktion Goldener Hase wählten wir den Verfassungsschutz


(VS) als Aufhänger und konkrete Institution für eine Identitätskorrektur. Gleich-
zeitig kombinierten wir die Aktion mit einer Online-Petition an die Oberbürger-
meisterinnen von Chemnitz und Zwickau, sowie an den Ministerpräsidenten des
Freistaates Sachsen Stanislaw Tillich. Für uns hatte der VS in der Aufklärung der
NSU-Morde versagt. Das Versagen fand sich in diversen Landesämtern und im
Bundesamt wieder und füllt Ordner der Untersuchungsausschüsse. Da wir über
Zwickau hinaus das Thema stärker fokussieren wollten, entschieden für uns das
Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen als ProjektionsÁäche. Wir zeichneten
sie daher stellvertretend für den gesamten Verfassungsschutz mit dem Negativ-
preis „Goldener Hase” aus (siehe Abbildung 4).

Abbildung 4 Preisverleihung „Goldener Hase“ an und vor dem Verfassungsschutz Sach-


sen (vierte Aktion: 04.11.2014 – Goldener Hase).

Der goldene Hase steht dabei symbolisch für den Ausspruch: „Mein Name ist
Hase, ich weiß von nichts” und wurde z. B. für das Schreddern von Akten oder
das plötzliche Auftauchen von Akten symbolisch vergeben (Spiegel Online, 2013).
Am meisten entspricht der Preis jedoch der Grundhaltung und der Aussage des da-
Fallbeispiel Grass Lifter 287

maligen Vizepräsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz Peter Fritsche:


„Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln
unterminieren“ (Aust & Laabs 2014, S. 805). Fritsche ist mittlerweile Geheim-
dienstkoordinator im Bundeskanzleramt (vgl. Beitrag von Laabs in diesem Band).
Damit kehrten wir die Rolle des Verfassungsschutzes um. War er eben noch der
wissende Geheimdienst, der beobachtet und Informationen sammelt, die er gezielt
mitteilt, um die Verfassung zu schützen, wurde er zum nichtwissenden, schwei-
genden Akteur. Diese Rolle war für uns und viele andere die „gefühlte“ Wahrheit,
die es auszusprechen galt. Nun lobten (ästhetisierten) wir ihn für seine gezielte
Zurückhaltung von Informationen und die anscheinende Ohnmacht bezüglich der
Aufklärungsarbeit und skandalisierten damit den mangelnden Aufklärungswillen.
Eine weitere Funktion erfüllte der Preis als Aufhänger. Zu einer Preisverlei-
hung kann eingeladen werden und kommt man auch gern. Dem MDR reichte al-
lein das Bild vor Ort, inhaltliche Interviews wurden woanders erstellt. Der MDR
Sachsenspiegel berichtete ausführlich, die DPA und viele regionale Medien über-
nahmen die fertige Story. Obwohl der Verfassungsschutz nicht zu der eigentlichen
Preisverleihung erschien, lud er uns daraufhin zu einem Gespräch ein.

5.3 Prinzipien

Während die Taktik das Vorgehen einer Aktion bestimmt, sind es die Prinzipien,
die bestimmte Werte und Regeln beeinÁussen, die für eine erfolgreiche Umset-
zung von Aktionen beitragen. Insbesondere heterogene und dezentrale Gruppen,
wie es die Grass Lifter sind, bedienen sich gemeinsamer Prinzipien, die ein kol-
lektives Handeln überhaupt erst ermöglichen und langfristige Zusammenarbeit
sichern. Transparente Prinzipien ermöglichen es auch Außenstehenden, Aktionen
und deren Hintergründe besser nachvollziehen zu können. Wir schildern in diesem
Abschnitt Prinzipien, die wir für unsere Arbeit wichtig halten.
Das sicherlich relevanteste Prinzip für unseren gruppendynamischen Prozess
war Konsens statt Kompromiss. Als Künstler wollten wir möglichst klar eine
Botschaft senden. Wie auch immer der Empfänger damit umging, die Botschaft
musste klar sein. „Das Gras über der Sache symbolisch auszugraben“ war eine
Redewendung, die jeder sofort begriff. Schwieriger wurde es bei unserer zweiten
Aktion War da was? Grass it up!. Wir stellten an drei Orten utopische Szenarien
mithilfe von MiniÀguren nach. Damit wurden das Gesamtbild und die IdeenÀn-
dung komplexer.
288 Franz Knoppe und Maria Gäde

Abbildung 5 Symbolischer Spatenstich, um das Gras, das in der Frühlingsstraße 26 über


die NSU-Sache wächst, auszugraben (erste Aktion: 06.05.2013 – Das Gras,
das über die Sache wächst).

Jeder in der Gruppe brachte seine eigene Idee und Vorstellung ein. Geübt in ge-
waltfreier Kommunikation (vorausgesetzte gruppendynamische Technik), brauch-
te es neben Moderationsmethoden immer die Einsicht der Gruppe, einen kom-
promisslosen Konsens für eine Idee zu Ànden. Denn nur dann konnten wir „eine”
möglichst unmissverständliche Botschaft senden. Das unterscheidet Kunstaktivis-
mus vom reinen politischen Handeln. Kunstaktivisten suchen die ästhetische Idee,
um politisches Handeln zu irritieren, während das Politische den Kompromiss
zum Machterhalt sucht.
Eine Umsetzungsform als mögliches Design ästhetischer Ideen ist die Mög-
lichkeit, in Geschichten zu denken (Canning & Reinsborough, 2014a). Menschen
lieben und erinnern sich an Geschichten. Sie vermitteln komplexe Sinnzusammen-
hänge schneller als abstrakte Erzählungen.
Unser Name Grass Lifter bedeutet so viel wie die, die das Gras ausgraben. An
der Frühlingstraße wächst im wahrsten Sinne des Wortes eine Graswiese über die
NSU-Sache. So konnten wir mehr Aufklärung fordern, indem wir unseren Spaten
nahmen und das Gras an diesem Ort ausgruben. Diese Metapher war so eindeu-
Fallbeispiel Grass Lifter 289

tig wie klar. Wir versuchten auch in den darauffolgenden Aktionen, dieses Bild
immer wieder zu benutzen und verankerten es in unserem Gruppennamen. Die
zweite Aktion erschuf realisierte Utopien mittels MiniaturÀguren, über die dis-
kutiert werden konnte.

Abbildung 6 Fragen über den NSU-Komplex Áiegen symbolisch vom Zwickauer Haupt-
markt über ganz Sachsen (dritte Aktion: 06.05.2014 – Fragen Áiegen).

Bei der dritten Aktion ließen wir das ausgegrabene Gras und Fragen, die sich bei
der gesellschaftlichen Aufklärung des NSU ergeben, symbolisch an Luftballons
über Sachsen Áiegen. Bei der letzten Aktion, der Übergabe des goldenen Hasen,
dekonstruierten wir die Rolle des Verfassungsschutzes, indem wir ihm eine Meta-
pher zuschrieben und diese mittels einer Preisübergabe unterstützten. Die Funk-
tion solcher Bilder ist es, für Journalisten die Geschichten vorzubereiten und damit
eine Grundintention in die Medienbotschaften zu bauen. Diese können von den
Rezipienten leicht und schnell aufgefasst werden. Jede neue Geschichte erweitert
oder beschreibt die bestehende Geschichte der politisch Handelnden. Es gilt, dem
jeweiligen gültigen Narrativ eine bessere Erzählung gegenüberzustellen. Wir wol-
len mit unseren Geschichten Sinn erschaffen, der emotional verstanden wird.
Um Geschichten zu richtig zu erzählen hilft uns das Prinzip Zeigen ist besser
als erklären (Canning, Reinsborough & Buckland, 2014). Geschichten leben von
Bildern und Metaphern. Bilder sind sprachunabhängig und je nach Kontext und
Hintergrundwissen kann der Betrachter unterschiedliche Bedeutungen aus ein und
demselben Bild erfahren. Unsere Bilder sollten die Botschaft des Gesagten zusätz-
lich vermitteln. Gummistiefel und der Spaten unterstützen die Metapher, das Gras
über der Sache auszugraben. Dem Verfassungsschutz vorzuwerfen, dass er nicht
290 Franz Knoppe und Maria Gäde

genug bei der Aufklärung der NSU-Verbrechen mithilft, zeigte ein goldener Hase
für die Redewendung: „Mein Name ist Hase – Ich weiß von nichts”. So wurde der
jeweiligen Geschichte ein unterstützendes Bild bereitgestellt und eine vertraute
Situation kreiert, die sofort das Ziel einer Aktion erkennen lässt. Ein weiteres Bei-
spiel ist unsere zweite Aktion. Durch die Aufstellung und Ablichtung von unseren
MiniaturÀguren in verschiedenen Schauplätzen, konnten wir Situationen aufzei-
gen und brauchten nur noch wenige Wörter benutzen. Wir ließen Bilder erzählen,
um das Unsichtbare sichtbar zu machen (Bloch, 2014, S. 115ff). Zusätzlich wurden
weitere Informationen zu den Situationen in Form von Reden für Interessierte auf
unserer Homepage zur Verfügung gestellt.
Das Prinzip Mach das Unsichtbare sichtbar will Zusammenhänge sichtbar ma-
chen, die unmittelbar nicht sichtbar sind oder die tatsächlich unsichtbar bleiben
sollen. So ist beispielsweise die Gletscherschmelze auf Grund des Klimawandels
für Stadtbewohner erst einmal nicht sichtbar. Noch schwieriger wird es bei „kom-
munikativen“ Problemen wie Rassismus. Die Verbrechen des NSU sind in Sach-
sen nicht weiter öffentlich sichtbar. Es gibt selten Ausstellungen, geschweige denn
Dauerausstellungen, noch feste Orte der Erinnerung oder Aufarbeitung. Wir ver-
suchen daher, dieses Prinzip so wörtlich wie möglich umzusetzen. Das Gras in der
Frühlingstraße auszugraben und symbolisch ein „Bauloch“ zu hinterlassen oder
Fragen, die im NSU-Komplex entstehen, symbolisch mit Luftballons aufsteigen zu
lassen, sind Versuche das Unsichtbare für die Bevölkerung sichtbarer zu machen.

Abbildung 7 Preis „Goldener Hase“ mit Polizei: Dieses Bild wurde besonders gern von
Medien genutzt (vierte Aktion: 04.11.2014 – Goldener Hase).
Fallbeispiel Grass Lifter 291

Die Prinzipien Zeigen ist besser als erklären und das Unsichtbare sichtbar ma-
chen, werden unterstützt durch ein weiteres Prinzip: Nimm den Medien die Arbeit
ab (Bichlbaum, 2014b, S. 118ff). Viele Medien leiden unter Redakteur-, Zeit- und
Geldmangel. Für zivilgesellschaftliche Akteure kann es daher hilfreich sein, wenn
den Journalisten ein Großteil der Arbeit abgenommen wird. Dazu zählt eine Pres-
semitteilung mit fertigen Zitaten, Bilder der Aktion machen und die Aufbereitung
der Texte auf einer Homepage. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Bilder
und Texte, die Online sofort zur Verfügung standen, auch gerne rezipiert wurden.
Daneben gilt aber auch hier, den Journalisten nicht nur eine Geschichte, Texte und
Bilder zu liefern, sondern vor allem anlassbezogen zu agieren (Æ Agenda Setting,
siehe unten). Bei der zweiten und vierten Aktion wurden wir als Akteur dann be-
reits nachgefragt, ohne selbst einladen zu müssen.

5.4 Theorien

Theorien helfen, die Welt übersichtlicher zu beobachten und ihre Komplexität zu


verringern. Sie sind Grundlage für unser Handeln. Eine der zentralen Theorien ist
das sogenannte Agenda Setting. Dabei wird versucht, ein Thema auf die politische
Tagesordnung (policy-cycle) zu setzen. Das Problem wird benannt, formuliert und
als entscheidungsrelevant markiert. Eine besondere Rolle haben die Medien. Sie
selektieren in der Rolle der „Gate-Keeper“ Informationen und beeinÁussen mit
ihren Botschaften die politischen Akteure und Empfänger in ihrer Meinungsbil-
dung. Will man politische Entscheidungen herbeiführen, ist Agenda Setting, der
erste Schritt im policy-cycle (Bogumil & Jann, 2009, S. 25).
Dabei ist die Wahl des optimalen Zeitpunkts entscheidend. Es stehen folgende
Fragen im Vordergrund: Wann wird die Botschaft am besten gehört? Wann sind
die Medienbeobachter bereit, die Botschaft im Einklang mit ihren Relevanzkrite-
rien weiterzutragen? Dafür eignen sich insbesondere Jahrestage und symbolische
Daten, an denen relevante Ereignisse passiert sind. Das können Todestage, Un-
glücke, Eröffnungen (Fall der Mauer), Unterzeichnungen (Friedensvertrag) oder
Veröffentlichungen von medienrelevanten Büchern und Studien sein.
In unserem Fall haben wir uns den Beginn des NSU-Gerichtsprozesses in
München als symbolisches Datum für unsere erste Aktion ausgesucht. Nach-
dem am ersten Jahrestag der Aufdeckung des NSU in der Frühlingsstraße 26 in
Zwickau, wo die NSU-Terroristen zum Schluss wohnten, ein Kamerawagen einer
Agentur stand und das Gras Àlmte, wussten wir, der letzte Wohnort und damit die
Stadt Zwickau bleiben von überregionaler Bedeutung. So kam es dann auch. Am
06.05.2013, dem Tag des Prozessbeginns in München, informierten wir die Presse,
292 Franz Knoppe und Maria Gäde

dass wir das Gras, das über die NSU-Sache wächst, symbolisch ausgraben werden.
Wir zogen uns Gummistiefel an und gewappnet mit einem Spaten zogen wir zur
Wiese, um Spuren der Aufklärung zu hinterlassen. Der MDR Sachsen richtete
eine Live-Schaltung ein und regionale Pressevertreter waren vor Ort. Auch alle
anderen Aktionen fanden entweder am Jahrestag der Aufdeckung der Terrorzelle
oder am Jahrestag des Prozesses statt. Das Medieninteresse an den Jahrestagen
der Aufdeckung der NSU-Terrorzelle war generell größer, als an den Jahrestagen
des Prozessbeginns. Der richtige Zeitpunkt half uns ungemein, unsere Botschaft
an die Medien zu vermitteln und ihre Relevanz-Hürden für eine Berichterstattung
zu überspringen.
Neben dem richtigen Zeitpunkt stellt sich die Frage nach dem geeigneten Inter-
ventionspunkt (C anning & Reinsborough, 2014b, S. 170ff). Damit sind „neur-
algische Punkte“ gemeint, die ein System irritieren und destabilisieren können.
Für uns stellte sich also die Frage, wo wir den Hebel ansetzen sollten, um eine
möglichst größte Wirkung erzielen zu können. Wir entschieden uns bei den ersten
beiden Aktionen die Orte zu nehmen, an denen die NSU-Terroristen zuletzt wohn-
ten. Für uns symbolisierten sie genau das, was wir kritisierten: die Geschehnisse
wurden in der Frühlingsstraße 26 bewusst unkenntlich gemacht. So rief uns am
06.05.2013, als wir das Gras ausgraben wollten, die von öffentlicher Hand geführ-
te Wohnungsgesellschaft an und fragte was wir dort vorhaben. Als wir es ihnen
erzählten, meinten sie erschüttert, dass sie das Gras doch genau deswegen gesät
haben. Auch beim Verfassungsschutz wussten wir, dass er den Negativpreis nur
ungern öffentlich entgegennehmen würde. Also mussten wir nach Dresden fahren,
um Originalbilder vom Schauplatz (vgl. Abbildung 4) erzeugen zu können. Inter-
ventionspunkte müssen nicht nur Orte sein, es können auch bestimmte Personen,
ideologische Vorstellungen oder Entscheidungspunkte sein (Canning & Reinsbor-
ough, 2014b, S. 170), die den Schwachpunkt eines Systems präsentieren.
Doch selbst wenn Zeit- und Interventionspunkt richtig gesetzt sind, kann es
sein, dass die Botschaft nicht verstanden wird. Nur wenn die Logik der Aktion
(Boyd & Russel 2014, S. 170ff) richtig dargestellt ist, hat sie überhaupt eine Chan-
ce beachtet und wahrgenommen zu werden. Die Logik einer Kunstaktion sollte für
einen Unbeteiligten, z. B. zufällig vorbeilaufenden Passanten, sofort zu erkennen
sein. Das war in unseren Aktionen nicht sofort der Fall, aber auch nicht notwendig,
da wir meist an wenig frequentierten Orten aktiv wurden. Die Logik der Aktion
wurde deswegen für die medialen Beobachter so gebaut, dass diese die Botschaft
schnell kontextualisieren und ihren Beobachtern (Zuschauer, Leser) weitervermit-
teln konnten.
Zum Schluss stellt sich die Frage, welchem ethischen Ansatz folgen wir als
Künstlergruppe? Für die Autoren dieses Artikels steht fest, dass jede Handlung
Fallbeispiel Grass Lifter 293

und Entscheidung dem ethischen Imperativ folgen sollte: „Handle stets so, dass
die Anzahl der Möglichkeiten wächst.“ (Foerster & Pörksen, 2008, S. 36). Denn da
jede Entscheidung ein „Massenmord an Möglichkeiten“ ist (Grebe, 2011), so muss
die getroffene Entscheidung danach mehr Möglichkeiten zulassen als davor. Das
Gras, das über eine Sache gesät wird, folgt dem nicht, es schließt Entscheidungs-
räume. Die Entscheidung, sich aktiv mit dem NSU in Sachsen auseinanderzuset-
zen, folgt dagegen dem ethischen Imperativ.

6 Wirkungen

Unsere Aktionen funktionieren vor allem über die Medien. Das heißt, wir bringen
ein Thema, in unserem Fall die Aufklärung über den NSU in Sachsen, wieder auf
die tagespolitische Agenda. Wenn wir nach den Wirkungen fragen, unterscheiden
wir zwischen unmittelbaren (direkten) und mittelbaren (langfristigen) Wirkungen.
Unmittelbare Wirkungen konnten wir vor allem anhand von Medienartikeln
messen. So erreichten wir mit jeder Aktion durchschnittlich mehrere hundert-
tausend Menschen, allein über die klassischen Medien. Eine besondere Rolle
spielen sogenannte Anzeigenblätter bzw. Wochenblätter. Diese erreichen fast alle
Haushalte in der Zielregion. Unsere Story erschien mit Foto direkt auf der Ti-
telseite der Wochenblätter und landete damit in fast jedem Haushalt der Region
Zwickau. Im Durchschnitt gab es mehr als 9 Medienberichte pro Aktion. Dabei
sind Mehrfacherwähnungen (z. B. im Radio oder der lokalen Printpresse) nicht
berücksichtigt. Soziale Medien spielten lokal eine untergeordnete Rolle, erreich-
ten aber vor allem nationale und internationale Aufmerksamkeit. Weitere direkte
Rückmeldungen sind Leserbriefe, Mails oder Anrufe. Hier gab es eher wenige
Rückmeldungen, meist im einstelligen Bereich pro Aktion. Eher waren dann per-
sönliche Erwähnungen erlebbar, wie z. B. an der Supermarktkasse: „Sie sind doch
der Mann aus dem Fernsehen, na viel Spaß beim Ausgraben.” Direkte politische
Wirkungen haben wir in C hemnitz nach der vierten Aktion erreicht. Dort heißt
es in der Antwortmail der Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) auf unse-
ren „offenen Brief“: „Die von Ihnen angesprochenen Themen werden außerdem
von einer Arbeitsgruppe bearbeitet, die sich in Chemnitz mit Rechtsextremismus
beschäftigt. Für das Jahr 2015 hat sich die Arbeitsgruppe vorgenommen, einen
Vorschlag zu erarbeiten, wie mit der Aufarbeitung der Verbrechen des NSU in
Chemnitz umgegangen werden kann. Im Fokus steht auch, wie ReÁexionsprozesse
gestaltet werden können“ (Ludwig, per E-Mail an Franz Knoppe, 2014). In Zwi-
ckau haben wir eine direkte Wirkung durch die Gründung einer Arbeitsgruppe
erreicht. Die Teilnehmer sind Multiplikatoren aus der Zivilgesellschaft, die sich
294 Franz Knoppe und Maria Gäde

aus dem lokalen Bündnis für Demokratie Zwickau zusammengeschlossen haben,


um die richtige Form der Aufarbeitung für Zwickau zu suchen.
Mittelbare Wirkungen sind schwieriger zu beobachten. Diskussionen, die in
Wohnzimmern ausgelöst wurden, können schwer beobachtet werden, ebenso kön-
nen informelle Gespräche von Entscheidungsträgern nur über Hörensagen erahnt
werden. Sichtbare Zeichen, die wir beobachten konnten, sind eher unbewusste Dis-
kurserscheinungen und Formulierungen, bei denen schwer belegbar ist, dass sie
durch uns entstanden sind. So schreibt z. B. die Freie Presse in einem Artikel:
„Im NSU-Prozess und in Untersuchungsausschüssen wird versucht zu verhindern,
dass über den Fall selbst Gras wächst, ohne dass seine Details ausgeleuchtet sind“
(Eumann, 2014). Oder der ehemalige Landtagsabgeordnete in Sachsen Miro Jen-
nerjahn benutzt im Fall Mügeln für seinen Blogeintrag eine ähnliche Termino-
logie, wie wir ihn für unsere 2. Aktion benutzt haben. Aus „War da was? Grass it
up!“ (Grass Lifter, 2014) wird „Mügeln – war da was?“ (Jennerjahn, 2015). Auch
beobachten wir, dass das Thema in der Stadt offener angesprochen wird. Wurde in
einem früheren informellen Gespräch nach dem ersten Jahrestag (November 2012)
von Seiten des Theaters noch gesagt, dass dieses Thema nicht weiter behandelt
wird, so packt das Theater dieses „Heiße Eisen“ (Kohlschein, 2015) im Jahr 2015
nun an. Weitere mittelbare Wirkungen sind zwei Preise2, die wir für unsere Arbeit
erhielten. Diese sind hilfreich, um Aufmerksamkeit für das Thema zu erzielen und
unsere Botschaft mit verstärkter Reputation mitzuteilen. Abschließend lässt sich
sagen, dass wir mit relativ wenig Aufwand eine relativ hohe Außenwirkung er-
zielen konnten. Als rein ehrenamtliche arbeitende Künstler, die nur geringe Sach-
kosten gefördert bekommen, konnten wir mit unserem Thema eine Stimme bilden,
die Gehör Àndet.

7 Diskussion & Fazit

Aus Perspektive einer Künstlergruppe können wir an Orten, an denen ein Mei-
nungsvakuum besteht, also Akteure vor Ort ein Thema noch nicht oder kaum auf-
gegriffen haben, dieses Vakuum mit künstlerischen Mitteln füllen. Dabei ist der
Zeitpunkt entscheidend und die Frage muss richtig beantwortet werden, wann und
wie die Medien bereit sind, die anderslautende Botschaft zu transportieren. Das
Thema sollte kreativ in einer Geschichte verpackt werden, so dass die Botschaft

2 „Anerkennungspreis Förderpreis sächsischer Demokratiepreis 2013“ und Preisträger


des Wettbewerbes „Aktiv für Demokratie und Toleranz 2014“ der Bundeszentrale für
politische Bildung.
Fallbeispiel Grass Lifter 295

leicht transportiert werden kann und der Empfänger die Neuigkeit zur Situation
versteht und sich eine Meinung bilden kann. Dabei hilft es, wenn bestimmte Rah-
menbedingungen erfüllt werden. Die Geschichten und Bilder der Grass Lifter
konnten Zuschauer und Zuhörer gewinnen und somit eine Veränderung der Situa-
tion herbeiführen. Kunstaktionen in öffentlichen Räumen und Debatten sollen und
können eine neue Form darstellen, um gesellschaftliche Prozesse zu beschleuni-
gen und zum Schwingen zu bringen. Aus unserer Erfahrung werden Kunstaktio-
nen von Medien gern aufgenommen, da sie den Konsens über den Dissens eines
gesellschaftlichen Themas mit Geschichten und Bildern grifÀg transportieren
können. Kunstaktivismus unterscheidet sich damit kreativ von den ritualisierten
Protestformen, wie z. B. Demonstrationen oder Petitionen. Er kann am richtigen
Zeitpunkt, Ort und Entscheidungspunkt mit relativ wenigen Mitteln (Sachmittel,
Personal) durchgeführt werden. Der Protest gegen Rechts wird oft mit Linksext-
remismus gleichgesetzt. Der Kunstaktivismus bietet hier zusätzlich die C hance,
bestehende Links/Rechts Schemen zu durchbrechen und ein Stück der befreienden
Distanz zur unserer sozial konstruierten Realität zu schaffen3.

3 Für die wertvolle Kritik und Korrekturen die dazu beigetragen haben, dass wir diesen
Artikel so fertig stellen konnten, möchten wir Gundula Hoffmann, Nele Marie Wolf-
ram, Claudia Meier und Christian Landrock danken.
296 Franz Knoppe und Maria Gäde

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Fallbeispiel Grass Lifter 297

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Kapitel 4
Gesellschaftliche Reaktionen

„Juden, Roma und Sinti, ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Asyl-


bewerber brauchen nicht nur den Schutz von Polizei und Justiz, sondern die Unter-
stützung aller Menschen, um sich in Deutschland sicher fühlen zu können“
(Ignatz Bubis und Dieter Wunder, Gemeinsamer Aufruf des Zentralrates der
Juden in Deutschland und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft,
Frankfurt am Main, 9. Dezember 1992).
Rechtsextremismus

Herausforderungen für die ganze Gesellschaft

Anetta Kahane

Anlass dieser Zwischenbilanz ist die Enttarnung des NSU, auch wenn wir wissen,
es geht um mehr. Dennoch lässt sich an dem Beispiel NSU gut erklären, wie eine
ganze Gesellschaft versagt hat. Und ich meine die ganze Gesellschaft, Anwesende
ausdrücklich eingeschlossen. Es ist richtig, die Ordnungsbehörden zu kritisieren,
aber auch ein wenig billig, wenn wir es unterlassen, dabei auf uns selbst zu schauen
und auf das, was wir übersehen haben. Denn das ist eine Menge. Wir werden über
beides reden müssen.
Ich nehme an, dass Sie mich als Praktikerin eingeladen haben. Deshalb werde
ich Ihnen auch Praktisches berichten. Es ist nämlich eine Sache, über Rechtsex-
tremismus zu reden, um zu versuchen, ihn zu verstehen – und ich bin wirklich sehr
froh, dass ich Sie an dieser Stelle nicht auffordern muss, Rechtsextremismus als
Gegenstand der Wissenschaft ernst zu nehmen – eine andere Sache ist es jedoch,
praktisch zu handeln. Beide Seiten brauchen einander.
Als sich der Vorhang hob und im November 2011 Stück für Stück klar wurde,
was der NSU ist, welche Verbrechen er begangen hat, war der Schrecken groß.
Zehn Morde, Bombenanschläge, zahlreiche Banküberfälle – das alles war von
den Behörden und der Gesellschaft unentdeckt geblieben. Unentdeckt als Tat von
Nazis. Rechtsterrorismus galt als Horrorfantasie überdrehter Wichtigtuer oder als
ideologische Wahnvorstellung militanter Antifas. Doch dass Polizei und Verfas-
sungsschutz dabei eine derart fatale Rolle gespielt hatten, konnten sich selbst jene
nicht vorstellen, ohne als Verschwörungstheoretiker abgetan zu werden, die nun
endgültig die Realität abgeschüttelt hatten.

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_11, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
302 Anetta Kahane

Heute, zweieinhalb Jahre später, nach einer bewegenden Trauerfeier in Anwe-


senheit der Kanzlerin, nach Abschluss der ersten Untersuchungsausschüsse, nach
einem Rock-Fest in Jena, nach Versprechen von Polizei, Justiz und Verfassungs-
schutz, dass jetzt alles überprüft und verbessert würde, treffen wir uns hier um
nachzusehen, ob sich insgesamt in der Gesellschaft etwas verändert hat und ob
geschehen ist, was die Behörden versprochen haben. Zu PÀngsten 2014 fand eine
öffentliche Gedenkveranstaltung statt. Anlass war der 10. Jahrestag des Bomben-
anschlags auf die Kölner Keupstraße. 50.000 Menschen kamen unter dem Motto
Birlikte zusammen. Birlikte bedeutet Zusammenstehen – so wie in Nâz×m Hikmets
Gedicht: frei wie ein Baum und brüderlich wie ein Wald. Gauck hat dort geredet;
Udo Lindenberg, BAP, Clueso – sie alle waren gekommen. Wie ein gutes Jahr zu-
vor in Jena verurteilten die Redner alle Neonazis und besonders den NSU, und wie
dort beschworen sie das Miteinander. Unterschiedlich war nur die Selbstbetrach-
tung der Städte – in Jena ging es vor allem darum, den Ruf der Stadt wiederherzu-
stellen, in Köln spielte dieses Bedürfnis keine Rolle. In Jena wurde das Publikum
in Bussen herangefahren, in Köln kam, wer wollte. Dafür endete die Veranstal-
tung in Köln jäh: der Wetterdienst hatte eine Sturmwarnung herausgegeben und so
musste der Platz geräumt werden. Der Sturm kam übrigens tatsächlich, wir waren
mit unserem Team mittendrin.
Ich will Ihnen einige Szenen schildern, aus dem Westen wie aus dem Osten,
anhand derer ich versuchen will, ein Bild dessen zu zeichnen, was der Rechtsex-
tremismus heute ist und wie er entstand.

Zunächst die Schlaglichter aus dem Westen:

• Die erste Szene zeigt eine weitere Kundgebung für Abdullah Öcalan und
den deutschen Justizminister im Gespräch über den Brandanschlag 1992 auf
ein Wohnhaus in Mölln. Das Opfer wird nach der Tat gefragt. Ein wichtiger
Augenblick für den Minister: Ibrahim Arslan aus Mölln geht ihn auch an. Eine
Entschädigung wie ein Verkehrsopfer? Da ist der Minister beleidigt. Und be-
zeichnet den Ruf aus dem Publikum, der Staat habe den NSU mitÀnanziert, als
„Bullshit“.
• Der Bürgermeister von Köln hingegen sagt, die Opfer dürften auf Entschädi-
gung hoffen. Und begrüßt keinen einzigen der Anwesenden.
• BAP sitzt im Sturm in einer Getränkehandlung von Türken fest, und die einzige
Kommunikation mit den Gastgebern ist ein freundliches Kopfnicken, als diese
ihnen Getränke anbieten.
Rechtsextremismus 303

Zwei Schlussfolgerungen:

1. Dreißig Jahre Einwanderung – und noch immer sind die Einwanderer nicht Teil
der deutschen Gesellschaft. Diese Gesellschaft klebt am alten Konzept und ge-
staltet auch nicht ihre Zukunft. Wer jedoch nicht akzeptiert, dass ethnische und
kulturelle Vielfalt eine Tatsache ist, kann auch nicht über Diskriminierung und
Rassismus reden. Diese Abwehr ist eine Abwehr des Themas insgesamt. Weder
die Behörden noch die Gesellschaft haben sich wirklich auf ein Miteinander in
Vielfalt eingestellt. Der Korpsgeist hat sich nicht verändert, selbst wenn jetzt
einige Einwanderer mitspielen dürfen.
2. Rechtsextremismus ist auch ein Ost-West-Problem. Hier lebt der kalte Krieg
fort. Nach 1945 zeigten die Kommunisten auf den Westen. Zu Recht, gewiss.
Aber sie vergaßen die eigenen Mentalitäten und dass der Nationalsozialismus
nicht per Beschluss verschwindet. Der Westen seinerseits hielt sich in den
90er Jahren für geheilt. Als die Wende kam, war ‚68 durch die Institutionen
marschiert und nahm stirnrunzelnd zur Kenntnis, dass sich die DDR jetzt per
Mauerfall angeschlossen hatte. Die Konservativen sahen große Möglichkeiten,
die 68er lauter Unmöglichkeiten. Beide ignorierten zunächst den Rechtsex-
tremismus und Autoritarismus in der postkommunistischen Gesellschaft Ost-
deutschlands – nur um ihn etwas später von sich wegschauend ausschließlich
im Osten zu sehen. So wie damals die DDR auf den Westen, wies man jetzt mit
dem ZeigeÀnger auf den Osten – ebenfalls ohne zu bemerken, wie der eigene
Rechtsextremismus und Populismus wuchs. Wir sagten damals: „Wer im Osten
den Rechtsextremismus gewähren lässt, versaut auch die Preise im Westen.“

So konnte der NSU vom Osten aus im Westen wüten, denn dort hatte niemand
mit einer strukturierten Form der „Ostfolklore“ gerechnet. Trotz des versuchten
Anschlags in München auf den Synagogenbau durch Herrn Wiese, der ja auch aus
dem Osten kam. Auf der einen Seite die Türken isoliert und noch nicht angenom-
men und auf der anderen ein Rechtsextremismus, der sowohl unterschätzt als auch
allein auf den Osten bezogen wurde – diese Diskrepanz war ein zentrales Element
des Erfolgs des NSU. Beidem, Ost wie West, liegt eine gemeinsame Geschichte
zugrunde, die Schuldabwehr und Schuldumkehr zu einem festen Bestanteil der
Alltagskultur gemacht hat. Der Nationalsozialismus hat bis in die Familien hinein
eine tiefe Spur von Einstellungen und Mustern hinterlassen, die auf unterschied-
liche Weise bis heute fortwirken.
304 Anetta Kahane

Nun die Beispiele aus dem Osten:

• Kinder von Asylbewerbern werden von anderen beschimpft und geschlagen,


irgendwo in einer kleinen Stadt in Mecklenburg-Vorpommern. Die Lehrerin-
nen wehren sich gegen Vorwürfe der Eltern. Es gibt Ärger. Die Lehrer fordern
mehr Stunden, weil sie sonst den Anforderungen nicht gewachsen sind. Oder
die Kinder sollen in eine Sonderschule.
• Ein Dorf in Mecklenburg-Vorpommern ist fast überwiegend von Nazis be-
wohnt, die der Siedlerszene angehören. Ein Ehepaar organisiert ein Rockkon-
zert. Aus dem Erlös wollen sie eine Spende für die Schule im Nachbarort ma-
chen, um den Lehrern eine Fortbildung zu Ànanzieren, denn die meisten Kinder
aus Nazifamilien gehen in diese Schule. Die Schule lehnt die Spende ab: Es
gebe kein Problem mit Rechtsextremismus.
• In Fortbildungen für PÁegekräfte kommt es immer wieder zu Diskussionen.
Viele rechte Frauen drängen in soziale Berufe. Ihr Umgang mit Patienten oder
Kollegen, die nicht-deutscher Herkunft sind, ist oft unerträglich. Dies kommt
auch in den Fortbildungen zur Sprache. Thema sind dann aber „die Ausländer“
und nicht die Berufsethik oder das Problem rechtsextremer Frauen.

Der Rechtsextremismus selbst ist nur eine Seite des Problems, die wohl entschei-
dende aber ist der Umgang mit ihm. Neben den Schwächen von Behörden wie
Polizei, Justiz und Verfassungsschutz ist es vor allem die Reaktion der Gesell-
schaft, die die Bekämpfung des Rechtsextremismus schwer macht. In Ostdeutsch-
land gehört gerade ein Prozent der Wohnbevölkerung einer sichtbaren Minorität
an. Die Norm ist noch stärker als im Westen von völkischen Vorstellungen geprägt.

Schlussfolgerungen:

1. Nach der Einheit wurde es unter Helmut Kohl unterlassen, die „Ausländer“ als
Teil der Gesellschaft zu bezeichnen und zu verlangen, dass sich der Osten dar-
auf einstellt. Im Gegenteil: Anfang der 90er Jahre wurde rechte Gewalt quasi
belohnt, sowohl politisch durch den Asylkompromiss als auch gesellschaftlich,
indem Jugendarbeit mit akzeptierendem Ansatz über Jahre die rechte Szene
geradezu förderte.
2. Eine eigene persönliche Auseinandersetzung mit dem Erbe der DDR in Bezug
auf deren Umgang mit Rassismus und Antisemitismus fand kaum und erst sehr
spät statt. Ebenso wenig gab es eine Auseinandersetzung mit dem National-
sozialismus, der ja auch auf dem Boden Ostdeutschlands stattgefunden hatte.
Historische und politische Bildung einschließlich einer innergenerationellen
Rechtsextremismus 305

Debatte kamen nicht vor. Über die Zeit des Nationalsozialismus wurde einfach
ein Sprung gemacht. Das Erbe des einen wie des anderen blieb weitgehend un-
berührt. Dies ist ein ernstzunehmender Unterschied zum Westen. Stattdessen
hat sich im Osten der Status der ewigen Opfer festgesetzt. Opfer des „Hitlerfa-
schismus“, der Bomben, des Kommunismus, des Westens und der „Ausländer“.
Dieser Opferstatus und der sekundäre Autoritarismus, von dem Brähler und
Decker (Decker, Kiess & Brähler, 2012, 2014) sprechen, sind Seelenverwandte.
3. Der Mangel an Empathie – ja, teilweise ihre komplette Abwesenheit – hat ge-
wiss auch mit dem Mangel an Auseinandersetzung zu tun. KonÁikt- und Orga-
nisationsfähigkeit sind eine wichtige Voraussetzung für praktische Empathie in
Deutschland. Sie bedeuten, für etwas einzustehen und eine Haltung zu zeigen.
Die Bildungseinrichtungen im Osten haben auch den emanzipatorischen An-
satz übersprungen. Wer außerhalb der großen Städte mit nonkonformen oder
stark belasteten Themen wie Rechtsextremismus umgeht, Àndet in der Regel
wenig Unterstützung. Und kann nicht einmal sicher sein, von der Polizei ge-
schützt zu werden, wie der jüngste Fall aus Hoyerswerda zeigt.

Die aufgezählten Beispiele beschäftigen sich vor allem mit der Software, auf der
das Programm Rechtsextremismus läuft. Das Programm selbst wird im Folgenden
sicher noch ausführlich dargestellt werden. Es gibt viele Experten, die das staatli-
che Versagen im Fall NSU genau beschreiben können und jeden Kameradschafts-
führer in Deutschland mit Namen kennen. Darum geht es mir heute nicht. Die
Frage, die uns als Praktiker beschäftigt, ist vielmehr: Was können wir tun?
Eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus
impliziert, über Rassismus zu reden, ihn zu ächten, zu sanktionieren und Opfer zu
schützen. Und das mit allen Mitteln, die einer offenen Gesellschaft zur Verfügung
stehen.

Die Amadeu Antonio Stiftung hat vier Schwerpunkte:

1. Internet und Öffentlichkeitsarbeit


2. Gender und Rechtsextremismus
3. Antisemitismus als Querfronthema
4. Ländlicher Raum versus abgehängte Stadtteile

In diesen Themen spiegelt sich auch die Modernisierung des heutigen Rechtsex-
tremismus wider. Er ist ganzheitlicher, atomisiert seine Elemente und dockt an
bestehende Befunde an, er ist internationaler und auf seine Weise globalisierter
geworden. Er dringt in Bereiche wie grüne Landwirtschaft, sanfter Tourismus
306 Anetta Kahane

u.v.m. ein. Er ist gut organisiert und technisch Àt. Das Internet ist sein Medium.
Er ernährt sich vom Rassismus anderer abwertender Ideologien und bedient Popu-
listen. Er hebt auf neue Themen ab wie Islamismus oder beschwört die jüdische
Weltherrschaft. Er vernetzt sich international und globalisiert seine Begriffswelt.
Er ist querfrontfähig geworden. Er besteht nicht mehr auf geschlossene Weltbilder,
sondern kann sehr gut einzelne Facetten auffangen und nutzen. Er setzt innerhalb
Europas auch auf die traditionelle nationalistisch-antisemitische Karte und proÀ-
tiert dabei von einem Mangel an Aufarbeitung des Holocaust und der Kollabora-
tion in den jeweiligen Ländern, nach dem Motto „Wir hätten gegen die Juden und
ihr System zusammenhalten sollen“. Er ist anti-kapitalistisch.
Der Rechtsextremismus in Deutschland ist zugleich militant und sozialrevolu-
tionär (entsprechend seiner Genese im Osten) und elitär-bürgerlich, vulgärrassis-
tisch oder esoterisch. Beides mischt sich zurzeit, nachdem es zunächst einen Ost-
West-Unterschied gegeben hatte. Kameradschaften nach dem Modell „National
Befreite Zonen“ organisieren sich jetzt auch im Westen, und rechte Siedler mit
Ökohöfen gibt es auch im Osten.
Im europäischen Kontext bildet Deutschland eine Schnittmenge zwischen bei-
dem. Osteuropa ist nationalrevolutionär militant. Westeuropa hat populistische
und rassistische Bewegungen. In Deutschland wird die Synthese probiert.
Das kann sehr gefährlich werden. Deshalb ist die erste Praxis immer die des
Schutzes von Minderheiten. Migranten und Betroffene rechter Gewalt sollten nicht
weiter isoliert bleiben. Der Migrationsbereich, die Integrationsbeauftragten, das
hat der NSU gezeigt, müssen mit denen zusammenarbeiten, die sich mit Rechtsex-
tremismus beschäftigen. Wir müssen zusammen denken und zusammenarbeiten.
Eine ganz neue Praxis muss daraus werden und ein neues Selbstverständnis. Und
natürlich Druck auf die Politik, über deren Rolle an anderer Stelle gesprochen
werden wird.
Anders geht es nicht.
Rechtsextremismus 307

Literatur
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„Lügenpresse“?

„Rechtsextremismus“ und „Rassismus“ in den Medien

Britta Schellenberg

„Lügenpresse“ oder „ein Hort von Neonazis“ – das Spannungsfeld der Zuschrei-
bungen ist breit, wenn es um tatsächlich oder vermeintlich extrem rechte und ras-
sistische Vorfälle geht. Die „Pegida“1-Demonstrationen in Dresden und die Be-
richterstattung hierüber verdeutlichen das im Jahr 2014/15. Hinter ihnen steckt eine
komplexe langjährige Entfremdung von gemeinsamen Normvorstellungen. Ausge-
hend von einem konkreten Fall und der öffentlichen Debatte über ihn werden im
Artikel die mediale Thematisierung von „Rechtsextremismus“ und „Rassismus“
ebenso wie die Debattenbeiträge von Akteuren, die an der Medienberichterstat-
tung Kritik üben, betrachtet und in Beziehung zu ihren Normvorstellungen und
Problemwahrnehmungen untersucht. Zunächst wird die mediale Berichterstattung
über einen rassistischen und extrem rechten Übergriff in der sächsischen Klein-
stadt Mügeln (2007) in ihrem zeitlichen Verlauf nachgezeichnet. Dabei wird aufge-
zeigt, durch welche äußeren Impulse und Stilmittel sie bestimmt ist. Anschließend
werden die Akteure, die Kritik an „den Medien“ üben, in ihrer Positionierung zum
Vorfall und ihren Einschätzungen gegenüber der Medienberichterstattung darge-
stellt. Ziel der empirischen Analyse ist es, problematische Strukturen jenseits des
Neonazismus aufzuzeigen, die jedoch – wie aktuell „Pegida“ zeigt – grundlegende

1 „Pegida“ ist die Abkürzung für „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des
Abendlandes“. Seit Mitte Oktober 2014 demonstrierten sie – in Anlehnung an die bür-
gerbewegten Montagsdemonstrationen in der untergehenden DDR – jeden Montag in
Dresden.

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_12, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
310 Britta Schellenberg

Herausforderungen für eine demokratische Auseinandersetzung und die Strategie-


entwicklung im Bereich „Rechtsextremismus“ und „Rassismus“ markieren.

1 Der konkrete Fall2

In der sächsischen Kleinstadt Mügeln gab es im August 2007 pogromähnliche


Ausschreitungen gegen als „fremd“ deÀnierte Menschen indischer Herkunft.
Während des jährlich stattÀndenden Altstadtfestes in der sächsischen Kleinstadt
Mügeln wurde eine Gruppe, zu der sieben indische Migranten und zwei Deutsche
gehörten, physisch attackiert. Ein Großteil konnte sich in eine nahe gelegene Piz-
zeria Áüchten, die dann von etwa 40 bis 50 gewaltbereiten Neonazis angegriffen
wurde. Eine Menge von bis zu 200 Stadtbewohnern sammelte sich schaulustig vor
der Pizzeria. Zwei Polizisten schützten die inzwischen in der Pizzeria verbarri-
kadierten Inder vor der gewaltbereiten Menge bis Unterstützung von der Bereit-
schaftspolizei eintraf. Sie wurde auch angegriffen und konnte erst Stunden später
die öffentliche Ordnung wiederherstellen.
Im Nachgang des Übergriffs entfaltete sich ein öffentlicher KonÁikt über die
Tatmotive ebenso wie über den Verlauf des Geschehens. Der polizeiliche Staats-
schutz und die Staatsanwaltschaft stritten – trotz gegenteiliger Aktenlage3 – einen
„rechtsextremen“ Hintergrund ab und stellten „Fremdenfeindlichkeit“ als Motiv
infrage. Die lokale Politik und zunächst auch die Staatsregierung (C DU) teilten
diese Interpretation. In der Folge wurde der Fall von den staatlich Zuständigen
nicht zielführend bearbeitet, es kam in der polizeilichen Ermittlungsarbeit fast zu
einer Täter-Opfer-Umkehr. Andere Akteure, einige Bürger, zivilgesellschaftliche
Organisationen der Region und viele Medien, aber auch Bundes- und Regional-
politiker, thematisierten hingegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Rechts-
extremismus. So entfaltete sich eine kontroverse öffentliche Debatte über die
Bedeutung des „Rechtsextremismus“ und der „Fremdenfeindlichkeit“4 bzw. des

2 Die folgenden Ausführungen basieren auf den Ergebnissen meiner Dissertation und
der Folgestudie für die Heinrich-Böll Stiftung/Weiterdenken (vgl. Schellenberg,
2014a, 2014b).
3 Das Tatgeschehen nach Aktenlage habe ich übersichtlich in Schellenberg (2014b) re-
konstruiert.
4 Tatsächlich wurde vor allem die Bedeutung des „Rechtsextremismus“ und der „Frem-
denfeindlichkeit“ diskutiert, allerdings wird von zivilgesellschaftlichen Organisatio-
nen und einigen Medien der Begriff „Rassismus“ ebenfalls verwendet. Daher wird im
Folgenden immer wieder der Begriff „Fremdenfeindlichkeit“ benutzt. Heute wird der
passendere Begriff „Rassismus“ deutlich häufiger gebraucht.
„Lügenpresse“? 311

Rassismus. Später sind einschlägige Urteile gefallen, allerdings wurden nur weni-
ge Täter ermittelt, sie kamen weitgehend mit milden Strafen davon. Inzwischen ist
ein „fremdenfeindlicher“ Hintergrund amtlich verzeichnet und die Tatsache, dass
mindestens ein Teil der Täter dem Neonazi-Spektrum zuzuordnen ist, öffentlich
bekannt (vgl. Schellenberg, 2014b).

1.1 Direkt nach dem Vorfall: Die Kategorisierung durch


unterschiedliche Akteure

Der Vorfall wird von zivilgesellschaftlichen Organisationen der Region, den Op-
fern und einigen Bürgern, die den Übergriff beobachtet hatten, sofort als „ras-
sistisch“ bzw. „fremdenfeindlich“ und „rechtsradikal“ motiviert eingeschätzt.
Die Zeugen waren (zunächst) gegenüber Ermittlungsbehörden und auch Journa-
listen auskunftsbereit. Einen „fremdenfeindlichen“ und/oder „rechtsextremen“
Tathintergrund sahen auch fast alle Bundespolitiker, inklusive der Bundesregie-
rung (mindestens CDU5 und SPD), ebenso die sächsischen Parteien Die Grüne/
Bündnis 90, Die Linke und die SPD. Im Kontrast hierzu steht eine Gruppe, die
keinen rechtsextremen und auch weithin keinen fremdenfeindlichen Hintergrund
annahm: sächsische Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden, der Bürgermeister und
Stadtrat von Mügeln, Teile der Sächsischen Staatsregierung (C DU), die Tatver-
dächtigen und Bürger aus Mügeln sowie der bundesdeutschen radikalen Rechten,
inklusive der NPD. Sie kritisierten u. a. „die Medien“ für ihre angeblich „hysteri-
sche“ und „vorurteilshafte“ Berichterstattung über den Vorfall.

2 Die mediale Berichterstattung

Bereits die Anzahl der Beiträge in den untersuchten Medien, die den Vorfall the-
matisierten, verrät, dass der Fall die Medien interessiert hat. Die überregionalen
Tageszeitungen6 druckten im Zeitraum vom 20. August 2007, und damit bereits
ab dem ersten Tag nach dem Übergriff bis zum 1. Februar 2008 jeweils über 50

5 Für die CSU vertrat Peter Gauweiler eine dezidiert andere Position: Er beurteilte den
Vorfall als hysterische „Medienstory“ und stritt Rechtsextremismus und Fremden-
feindlichkeit als Tathintergrund ab.
6 Komplett erfasst wurden Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau,
Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel und die Welt. Weitere berücksichtigte Zeitungen
vgl. Literaturverzeichnis.
312 Britta Schellenberg

Artikel. Die Süddeutsche Zeitung publizierte sogar 94 Artikel in ihrer Print-Aus-


gabe. Hinzu kam eine aktuelle und ausführliche Berichterstattung in den Online-
Diensten. Von einigen Zeitungen wurden spezielle Informationsforen eingerichtet,
inklusive Bildmaterial.7
Die Berichterstattung zum „Fall Mügeln“ war in allen untersuchten Zeitun-
gen intensiv, wobei FAZ, FR und Die Welt nahezu gleich häuÀg berichteten,
während die TAZ eine leicht höhere, die SZ eine erheblich höhere Artikelanzahl
verzeichnete. Auch die überregionalen Wochenzeitungen berichteten. Im Spiegel
und insbesondere in der Zeit wurde der Fall häuÀg als bloße Referenz zum The-
ma „Rechtsextremismus“ oder „rassistische Gewalt“ genutzt – daher die deutlich
höhere Anzahl ihrer Artikel (print) gegenüber dem Focus. In den – tagesaktuel-
len – Online-Diensten wurde ähnlich intensiv wie in den Tageszeitungen (print
und online) berichtet. Die Zeit berichtete hier deutlich weniger. Die Mitteldeutsche
Zeitung ist eine Zeitung mit lediglich regionaler Reichweite, ihr Umfang ist deut-
lich kleiner als der der überregionalen Zeitungen und des Tagesspiegels – was die
geringere Artikel-Anzahl in dieser Zeitung erklären kann. Die Sächsische Zeitung
allerdings, deren Umfang ebenfalls deutlich schmaler ist, berichtete – als Zeitung
der betroffenen Region – am intensivsten.

2.1 Impulse und Problemanalyse im zeitlichen Verlauf

2.1.1 Phase 1: Ausländerhasser und Rechtsextreme

Der Vorfall wird den Medienvertretern durch Bürger, die Zeugen des Vorfalls wa-
ren, Engagierte aus der näheren Umgebung und zivilgesellschaftlichen Organisa-
tionen aus der Region bekannt. Berichtet wird von ausländerfeindlichen, rassisti-
schen und extrem rechten Rufen („Ausländer raus!“, „Hier kommt der nationale
Widerstand“) und dem aggressiven, gewalttätigen Verhalten gegen die als „fremd“
Stigmatisierten und die Polizei. Bereits am Tag nach dem Vorfall treffen die ersten
Journalisten in der Kleinstadt Mügeln ein und fotograÀeren die verletzten und ge-
schockten Gesichter der Opfer. Berichte über den Vorfall erscheinen unter stich-
wortartigen Überschriften wie „Rechtsextremismus“, „Rechtsradikalismus“ oder

7 Die Berliner Zeitung schaltet in Reaktion auf den Fall Mügeln am 21. August ein
Dossier „Rechtsextremismus“: www.berliner-zeitung.de/rechte-gewalt (10.01.2015).
Andere Medienorgane nutzen bereits vorhandene Seiten ihrer Institution, um den Fall
Mügeln ausführlicher zu thematisieren, Stern etwa eine Themenseite zu „Neonazi-
Gewalt“, die sie bereits im Juli 2007 eingerichtet hatte und ihre mut-gegen-rechte-ge-
walt-Seite.
„Lügenpresse“? 313

„Ausländerfeindlichkeit“. In einigen Berichten wird von Neonazis als mutmaß-


liche Täter berichtet (vgl. Schellenberg, 2014a, S. 232ff.).
Die Zeitungen bringen in den folgenden Tagen den Vorfall als „Thema des Ta-
ges“ oder „Brennpunkt“ auf der Titelseite ihrer Printausgaben.8 Neben schlich-
ten Meldungen werden ausführliche Berichte gedruckt. Dabei wird die lebhafte
regionale rechtsextreme Szene beschrieben, ebenso das Ausmaß rechtsextremer
Gewalt in Deutschland. Zudem erscheinen Informationskästen zu Begriffen wie
„No-go-Area“ und Interviews mit Vertreterinnen von Beratungsstellen zu rassis-
tischer Gewalt oder der Jüdischen Gemeinde. Die Einschätzung „rechtsextrem“
wird von den Print-Zeitungen geteilt, unabhängig davon, ob es sich um regionale
oder überregionale Medien handelt, um Publikationen aus den neuen oder alten
Bundesländern und auch weitgehend unabhängig von der politischen Ausrichtung
des Mediums. Allerdings gab es in den ersten Tagen vereinzelt zurückhaltende
Stimmen in der Presse. So betont die Rheinische Post, man solle erst einmal die
Ermittlungen abwarten, bevor man „Neonazi-Überfall“ rufe.9 Auch die konser-
vativen Blätter FAZ und Die Welt drucken anfangs jeweils (nur) einen Artikel, in
dem auch gefragt wird, ob es sich – wie mutmaßlich im „Fall Sebnitz“10 – um eine
falsche Rechtsextremismus-Zuschreibung handeln könnte.11
Dramatisierung, Dämonisierung und Entmenschlichung: Während das Ge-
schehen als „rechtsextrem“ eingeordnet wird, wird die Täter-Gruppe in den Be-
richten häuÀg als „Meute“ oder „Horde“ bezeichnet. Beispiele sind: Ausländer

8 Beispielsweise ist Mügeln das Tagesthema in der Berliner Zeitung vom 21.08.2007, in
der TAZ am 22.08.2007 und in der FR sowohl am 21.08. als auch am 23.08.2007, in
der MZ am 22.08.2007 in der SZ am 23.08.2007; SäZ vom 25./26.08.2007; MZ vom
22.08.2007, S. 4; Die Welt am Sonntag vom 26.08.2007: „Rechte Gewalt in Deutsch-
land.“ Von Freia Peters. Zudem stellt die MZ ein Brennpunkt zu Mügeln ins Netz.
Ebenfalls werden Fernsehbeiträge gesandt, z. B. ein Kontraste-Beitrag, ARD vom
20.09.2007: „Mügeln – eine Stadt wäscht sich rein.“ Von Caroline Walter und Alexan-
der Kobylinski (Zeit: 7:42 min). http://www.rbb-online.de/kontraste/ueber_den_tag_
hinaus/extremisten/muegeln_eine_stadt.html (10.01.2015).
9 Rheinische Post: „Der Mob und das Dorf Mügeln.“ Vom 20.08.2007. Von Reinhold
Michels. http://www.presseportal.de/pm/30621/1035325/rheinische_post (10.01.2015).
10 Der Tod eines Jungen in Sebnitz wurde zunächst als rechtsextrem motiviert eingestuft,
was zu einer großen öffentlichen Debatte führte. Die Gerichte stellten später keinen
rechtsextremen Tathintergrund fest. Seither wird bei entsprechenden Vorfällen im-
mer wieder spekuliert, es gebe falsche oder auch böswillige Rechtsextremismus-Ver-
dachtsfälle.
11 FAZ vom 21.08.2007: „Gruß aus Sebnitz“, S. 10; ähnlich Welt: Die Welt vom
22.08.2007: „Was geschah im sächsischen Mügeln? Voreilige Empörungsgemein-
schaft.“ Von Thomas Schmid.
314 Britta Schellenberg

bzw. Migranten „wurde(n) (...) von einer Meute Neonazis durch Mügeln gejagt und
brutal zusammengeschlagen“, „Mob von Mügeln“, „Horde Neonazis samt Sym-
pathisanten“ und „Mob von 50 deutschen Jungmänner(n)“ oder „rechtsradikale
Prügelhorden in Mügeln“. HäuÀg verwendet wird auch der Begriff „Hetzjagd“.
So heißt es etwa: „Ausländerjagd in Mügeln“, „Hetzjagd auf Ausländer“, „brutale
Treibjagd“, „Menschenjagd von Mügeln“, „Hetzjagd auf Inder in Sachsen“, „Hetz-
jagd auf Ausländer in Sachsen“ oder „brutale Hetzjagd auf indische Besucher im
sächsischen Mügeln“ (vgl. Schellenberg, 2014a, S. 257f.). Sowohl die Begriffe
„Meute“ und „Horde“ als auch „Hetzjagd“ veranschaulichen und dramatisieren
das Tatgeschehen. Mit den Begriffen „Meute“ und „Horde“ werden die Täter ent-
individualisiert und entmenschlicht. Sie werden im Kontrast zu „normalen“ Men-
schen dargestellt und als animalisch, verroht und aus einer niedrigen Bildungs-
und Sozialschicht stammend beschrieben. Mit dem Begriff „Hetzjagd“ wird die
Perspektive auf die Opfer gelenkt. Sie würden behandelt wie Tiere, die verfolgt
werden, weil sie eingefangen und ermordet werden sollten. Manchmal wird betont,
dass die Hetzjagd durch die „gesamte Stadt“ bzw. „die Stadt“ ging – allerdings
lässt der Begriff „Hetzjagd“ – auch ohne konkrete Lokalisierung – durchaus as-
soziieren, dass die Opfer über eine längere Zeit oder Strecke „gejagt“ wurden. Da
dies nicht zutrifft, der Fluchtort war etwa 30 bis 50m vom ersten Ort des Über-
griffes entfernt, greifen die Kritiker „die Medien“ für diese Begriffsverwendung
später an.
In der ersten Phase der Berichterstattung, als von einem Neonazi-Übergriff aus-
gegangen wird, gibt es keine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Tätern, ihren
Beweggründen und Ursachen für ihre Probleme, es werden auch keine Möglich-
keiten diskutiert, wie bei entsprechenden Taten gegengesteuert werden könnte.

2.1.2 Phase 2: Keine Rechtsextremen.


Was steckt hinter der Gewalteskalation?

Bereits am Tag zwei und drei nach dem Übergriff wenden sich Polizei und Staats-
anwaltschaft mit Pressemitteilungen an die Öffentlichkeit: Hierin heißt es, ein
rechtsextremer Hintergrund sei auszuschließen und selbst ein fremdenfeindliches
Motiv müsse nicht vorgelegen haben. Dass dies behauptet wird, obwohl die dienst-
habenden Polizisten noch in der Tatnacht das Delikt der „Volksverhetzung“ auf-
genommen hatten und obwohl die bereits vorliegenden Aussagen von Polizisten,
Zeugen, inklusive Opfern, in den Polizeiakten klar das Gegenteil belegen, bleibt
der Öffentlichkeit unbekannt.
Aufgrund der Fehlinformation durch die Ermittlungsbehörden verändert sich
die Berichterstattung: Gemeldet wird nun, dass die polizeilichen Ermittlungen
„Lügenpresse“? 315

keinen rechtsextremen Hintergrund bestätigt haben. Fest stünde, dass es sich we-
der um einen von Rechtsextremen „geplanten Vorfall“ noch um einen Übergriff,
„an dem organisierte Rechtsextreme beteiligt gewesen seien“ handele.12 Allerdings
bleibt der „Fall Mügeln“, trotz des (angeblichen) Ermittlungsergebnisses, „kein
Rechtsextremismus als Tathintergrund“, Thema der Presse. Es kommt sogar zu
einer zeitlich längeren und nun auch inhaltlich intensiven Auseinandersetzung:
In der Öffentlichkeit wird heftig darüber gestritten, ob es sich um einen fremden-
feindlichen bzw. rassistischen Vorfall handelte oder nicht. Das Thema wird kontro-
vers diskutiert – und hält sich gerade durch den Nachrichtenfaktor „Kontroverse“
in den Medien. Außerdem war zwar die Feststellung „Rechtsextremismus“ eine
vielfach replizierte Nachricht wert, doch hatte der Befund kaum zu einer Ausein-
andersetzung mit Verursachern und Hintergründen der Gewalteskalation geführt.
Jetzt, als geglaubt wird, „Neonazis“ hätten nichts mit der Tat zu tun, gewinnt das
Thema für viele Medienvertreter an Bedeutung. Die Frage, warum sich „normale“,
nicht-rechtsextreme, Bürger in eine fremdenfeindliche/rassistische „Gewaltorgie“
verstiegen, scheint für viele Journalisten und Redaktionen interessanter als die
Frage, was Rechtsextreme bewegt (und warum viele Bürger zuschauen).
Denn: Angesichts der bereits stattgefundenen Interviews mit Zeugen, auch
Opferzeugen, eigner Beobachtungen in der Kleinstadt, aber auch erster patriar-
chalischer Abwehrversuche des Bürgermeisters sind sich die meisten Journalisten
sicher: hier spielt Fremdenfeindlichkeit/Rassismus eine Rolle. So beginnt in den
Medien eine lebhafte Diskussion über (Mit-)Verursacher der Gewalt, die Soziali-
sationshintergründe der scheinbar „normalen“ Beteiligten sowie ihre möglichen
negativen Eigenschaften und Beweggründe.

12 N-tv vom 31. August 2007. Unter n-tv.de: http://www.n-tv.de/846548.html.


(10.01.2015); Die Welt vom 30.08.2007: „Mügeln: Offenbar kein politischer Hinter-
grund.“ Die Welt vom 1.9.2007: „Gewalt gegen Inder in Mügeln war nicht von langer
Hand geplant.“
Tabelle 1 Problemanalyse Journalisten
316

Impuls von außen Deutung: Problem (Mit-) Verursacher Begründung/ Argumentationsmuster


Zeugenberichte, auch Der Fall war „rechts- Rechtsextreme und/oder Neonazis
Opferzeugen, Gesprä- extrem“, „neonazis- (keine weiteren Verantwortlichen ---
che vor Ort tisch“ motiviert. werden festgestellt)
Pressemitteilung der Der Fall war Rassisten/ Frem- in „speziÀschen Zeigt sich häuÀg in
Polizei und Staatsan- „rassistisch“ bzw. denfeinde Regionen“ a) manchen Regionen
waltschaft: „fremden-feindlich“ b) Sachsen
motiviert. c) Ostdeutschland
kein Rechtsextremismus,

vielleicht auch keine


fremdenfeindliche
Motivation, Lokal- und a) ... weil Äußerungen des Mügelner Bürger-
Regionalpolitik meisters Verdrängung der Probleme und/
Hintergründe noch oder eigenen Rassismus zeigen.
unklar b) ... weil Politiker Probleme nicht zugeben
wollen (Abwiegelung).
c) ... weil es viele Probleme in der sächsischen
Politik gibt und diese nicht gelöst werden.
Æ Aber auch: Einordnung der zum Teil
mehrdeutigen Äußerungen der Lokal- und
Regionalpolitik als problemorientierte
Stellungnahme.
Polizei a) ... zeigt sich in Äußerungen zum Vorfall.
b) ... zeigt sich auch in unsensibler und in-
korrekter Behandlung der Opfer.
a Die Tabellen in diesem Artikel stellen überarbeite Versionen aus Schellenberg 2014a dar.
Britta Schellenberg
„Lügenpresse“? 317

Problemanalyse: Ausführlich wird diskutiert – angereichert durch Zitate diverser


Akteursgruppen – warum es in der Kleinstadt zu den fremdenfeindlichen Aus-
schreitungen kommen konnte. Wiederkehrende Muster der Argumentation sind:
Es müsse eine allgemein verbreitete Fremdenfeindlichkeit unter den Mügelner
Altstadtfestbesuchern geben. Und: Diese sei typisch für „speziÀsche Regionen“.
Diese Regionen werden nicht immer verortet, allerdings wird häuÀg speziell auf
das Bundesland Sachsen Bezug genommen oder generell auf Ostdeutschland. Als
Problemverschärfer wird zudem recht häuÀg auf den Mügelner Bürgermeister als
Vertreter der Gemeinde und zum Teil auch auf die Sächsische Staatsregierung ver-
wiesen: ihre Reaktionen werden als Mangel an Aufklärungswillen interpretiert,
zum Teil wird auch Fremdenfeindlichkeit bei den Zuständigen selbst vermutet und
mit Zitaten untermauert (der Bürgermeister hatte der Financial Times gegenüber
geäußert: „Ausländer-raus-Rufe können jedem Mal über die Lippen kommen“).
Einzelne Journalisten glauben darüber hinaus, dass die Polizei eine problemati-
sche Rolle bei der Bearbeitung des Vorfalls spielt, auch weil einige ihrer Ver-
treter gegenüber der Gruppe der Opfer voreingenommen zu sein scheinen (eine
Ermittlerin hatte formuliert: „Die Inder sollten sich jetzt nicht in die Opferrolle
hineinsteigern“).
Normorientierungen: Das Selbstverständnis eines friedliebenden, vielfältigen,
demokratischen Deutschlands sehen die meisten Journalisten durch den Vorfall
und seine Bearbeitung angegriffen. Der Vorfall gewinnt daher für Viele noch
grundlegender an Bedeutung, als zunächst von der Polizei und Staatsanwaltschaft
ausgeschlossen wurde, dass die Verursacher des rassistischen Vorfalls Neonazis
waren. Als besonders bedrohlich wird empfunden, dass sich viele Bürger, die nicht
zur extrem rechten Szene gehören, an den Ausschreitungen beteiligten. Vor dem
Hintergrund der eigenen Normvorstellungen, die sich – ob bewusst oder unbe-
wusst – auf das Grundgesetz und menschenrechtliche Standards beziehen, steht
zum einen der rassistische Gewaltakt an sich in der Kritik, zum anderen aber auch
jene Bürger und Institutionen, die akzeptierten, dass die Grundrechte verletzt wur-
den und jene, welche eine effektive Aufklärung behindern.
Doch obwohl die Berichterstattung nun „Rassismus“, „Fremdenfeindlichkeit“
und „fremdenfeindliche Gewalt“ thematisiert, wird diese neue inhaltliche Einord-
nung in den Überschriften (die übrigens selten von den Autoren selbst stammen)
häuÀg nicht durchgehalten: Es Ànden sich weiterhin „Rechtsextremismus“-Head-
lines. Dies deutet darauf hin, dass die Themen „Rassismus“ und „Fremdenfeind-
lichkeit“ kaum selbstständig, sondern als Teile der Kategorie „Rechtsextremis-
mus“ wahrgenommen werden. Durch die undifferenzierten Überschriften kommt
es aber zu argumentativen Widersprüchen bzw. zu einer mangelnden Stringenz in
der Argumentation. Damit eröffnet sich auch eine AngriffsÁäche für Kritiker, die
318 Britta Schellenberg

„den Medien“ vorwerfen, immer wieder unberechtigt, aber hysterisch, „Rechts-


extremismus“ zu thematisieren – und kann somit zum Beweis für die (angeblich)
mangelnde Glaubwürdigkeit der Medien herangezogen werden.
Das „Ost“-Framing: HäuÀg kommt es (nicht in der Sächsischen Zeitung) zu
einer weiteren nicht unproblematischen Zuschreibung: Breiten Raum nimmt die
Diskussion, (ob und) warum Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus spe-
ziell ostdeutsche Probleme seien, ein. Es werden diverse Ursachen diskutiert und
Erklärungen gefunden. So wird der Vorfall oft recht schlicht und stigmatisierend
als „Problem Ostdeutschland“ eingeordnet und damit scheinbar „erklärt“. Natür-
lich ist es nicht entscheidend, dass sich der Vorfall, der rassistische und rechts-
radikale Übergriff, das Wegschauen, Vertuschen und Verdrehen von Tatsachen in
Mügeln, in Nordsachsen, in Sachsen, in Ostdeutschland ereignet hat. Es scheint
sich eher um eine Abwehrhaltung zu handeln: Pauschale, vorurteilsgeleitete Ein-
ordnungen von Problemen helfen den Urhebern, sich persönlich nicht mit entspre-
chenden Phänomenen tiefer und auch selbstreÁexiv auseinandersetzen zu müssen.
Zwar ist eine örtliche, regionale, kulturell-historische Einordnung des Vorfalls
nicht völlig irrelevant. Aber die Vehemenz und Emotionalität, mit der eine örtlich-
kulturelle Zuordnung die Debatte über den Vorfall prägt, muss verwundern. Sie
zeigt, dass Ost-West-BeÀndlichkeiten die Debatte über „Rechtsextremismus“ in
problematischer Weise überlagern. Die Ost-Fokussierung führt sogar dazu, dass
herangezogene Experten, wie der Wissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, entspre-
chend der Kategorisierung „Rechtsextremismus ist ein Problem Ostdeutschlands“
zitiert werden, obwohl deren Forschungen diesem Befund differenziert widerspre-
chen.
Allerdings wird das „Ost“-Framing keineswegs Áächendeckend durch „die
Medien“ betrieben und wird in einigen Berichten deutlich kritisiert. Nachhaltig
thematisiert und diskutiert wird es in der ostdeutschen Sächsischen Zeitung. Eine
starke öffentliche Diskussion um den „Fall Mügeln“ und eine Fokussierung auf
„Ostdeutschland“ wird als einseitig und diskriminierend beklagt. Doch trotz of-
fensichtlich problematischer Muster bei vielen Journalisten, kann keinesfalls von
einer pauschalen Verurteilung durch „die Medien“ gesprochen werden. Allerdings
zeigte die Gesamtanalyse, dass die Ost-West-BeÀndlichkeiten die Debatte über
Rechtsextremismus und Rassismus überlagerten – sie scheinen (das legen die In-
halte der Artikel und Leserbriefe/-kommentare nahe) mit dafür verantwortlich zu
sein, dass sich das Thema relativ lange in den Medien hielt.
Verurteilung einer Stadt? Ein weiterer Vorwurf gegen „die Medien“ ist, dass sie
die Kleinstadt Mügeln pauschal verurteilen würden. Unmittelbar nach dem Über-
griff besuchten Journalisten diverser Medien Mügeln, fotograÀerten und suchten
das Gespräch mit Bürgern, dem Bürgermeister und vor Ort anzutreffenden Opfern.
„Lügenpresse“? 319

Die Journalisten kommen, als die Menschen vor Ort noch keine Antworten auf die
vielen Fragen, die sich nach den Ausschreitungen ergaben, gefunden hatten. Die
Journalisten fragten und waren schnell für Viele unerwünschte Gäste. Die meisten
Kleinstadtbürger fühlten sich überfordert von den Medien-Teams, die in ihre kleine,
ruhige Stadt kamen und eine Vielfalt und Unruhe mitbrachten, die es dort nicht gab.
Nur Einzelne waren den gegenüber Journalisten auskunftsbereit: Einige Bürger, die
zum Teil nicht beim Namen genannt werden wollten, und die Opfer. Bereits einen
Monat nach dem Übergriff wollten auch die Opfer nicht mehr mit der Presse reden,
weil sie den Eindruck hatten, diese verschlimmere bestehende Probleme.
Tatsächlich berichten Journalisten oft kritisch über die Bürger und den Bürger-
meister der Kleinstadt. Die Mügelner werden vielfach als Passive beschrieben; sie
seien oft selbst fremdenfeindlich oder es fehle ihnen an Zivilcourage und einer
eigenen Haltung. So berichtet der Stern beispielsweise, dass viele Bürger dem
Vorfall passiv beiwohnten. Sie würden „Rechtsradikalen“ eine Bühne geben. Hin-
gegen stellt die sächsische Regionalzeitung, Sächsische Zeitung, die sehr breit be-
richtet, die Bürger auch als „ausländerfreundlich“ dar.

2.1.3 Phase 3: (Noch) eine Wende in der Einschätzung


der Tathintergründe?

Eine gute Woche nach der Gewalteskalation beschäftigt eine neue Nachricht die
Medien: Der Focus (print) berichtet, dass die Polizei bestätigt hat, inzwischen gebe
es „Anzeigen von Deutschen gegen Inder“ (die bisher als Opfer bekannt sind). Das
Blatt spottet: „Sachsen. Die üblichen Verdächtigen“ und glaubt, „politisch korrekte
Meinungsmacher“ könnten einen harmlosen Fall zum rechtsextremen oder frem-
denfeindlichen Übergriff stilisieren.13 Ähnlich hatte schon einige Tage zuvor die
Junge Freiheit argumentiert.14 Doch erst mit dem Printartikel im Focus kommt die
Idee, die Opfer könnten auch Täter sein, in der seriösen Presse an. In vielen Me-
dienorganen wird nun verkündet: Es gebe eine Wende in den Ermittlungen, die In-
der seien Täter. Diese Nachricht wird als neu in den Medien repliziert, meist ohne
Einordnung durch die Autoren. Besonders häuÀg heißt es „Inder sind möglicher-
weise auch Täter“, etwas seltener wird die Nachricht als Befund präsentiert „Inder

13 Focus vom 27.08.2007, Nr. 35/2007: „Sachsen. Die üblichen Verdächtigen.“ von Ale-
xander Wendt. Focus-Online interpretiert den Fall komplett konträr. Grund hierfür
könnte neben unterschiedlichen Normvorstellungen der Autoren der Hang zur Kon-
formität bei Online-Medien sein. Sie müssen schneller reagieren, haben weniger Zeit
für eigene Recherche und halten sich daher stark an die Meldungen der Nachrichten-
agenturen.
14 Junge Freiheit vom 24.08.2007.
320 Britta Schellenberg

sind auch Täter“ und nur sehr selten wird zwar die neue Nachricht mitgeteilt, je-
doch ihre Bedeutung kritisch hinterfragt: in diesen wenigen Berichten wird betont,
dass die Migranten mit indischen Wurzeln Opfer rassistischer Gewalt bleiben und
dass einer Anzeige gegen die Opfer allein keinerlei Bedeutung zukommen müsse,
da prinzipiell Jeder gegen Jeden Anzeigen erstatten könne. Beachtlich ist an dieser
Stelle, wie wenige Journalisten die Nachricht kritisch reÁektieren (können?).
Schon einige Tage darauf folgt allerdings der nächste Impuls, durch die Jun-
ge Freiheit. Am 31. August veröffentlicht die Wochenzeitung ein Interview mit
dem Mügelner Bürgermeister, das von der Presse vor allem kritisch aufgenommen
wird. Der Bürgermeister äußert sich hierin abwertend über all jene, die dem Vorfall
eine fremdenfeindliche oder rechtsextreme Bedeutung zusprechen. Er behauptet,
Mügeln werde durch Medien und Politik unzulässig vorverurteilt und sagt auch,
möglicherweise wären „die Inder“ (mit)schuld am Geschehen. Seine Interpretation
des Falls und der Debatte gewinnt einen deutlich rechtsradikalen Drall (vgl. unten
ausführlich). Das Bürgermeister-Interview in der rechtsradikalen Zeitung garan-
tiert weiterhin KonÁikt und Kontroverse und verlängert damit die starke Präsenz
des „Falls Mügeln“ in den Medien. Erst nach einigen Tagen geht die Intensität der
Berichterstattung wieder zurück. Das Interview scheint vielen Journalisten (wie-
der) vor Augen zu führen, dass es sich um einen rassistischen und fremdenfeind-
lichen Übergriff gehandelt haben muss. Als Chronisten geben sie kritische Zitate
aus der gesamten Bundesrepublik, insbesondere von Regional- und Bundespoli-
tikern, wieder. Diskutiert wird, ob nicht der Bürgermeister mit seinen Aussagen
Teil des Problems „Rechtsextremismus“ und „Fremdenfeindlichkeit“ ist, kritisiert
wird auch, dass er sich einer rechtsradikalen Zeitung als Interviewpartner zur Ver-
fügung stellte. Allerdings berichten viele Journalisten nicht alleine durch Zitate,
sondern kommentieren auch kritisch selbst. Sie erinnern beispielsweise an frühere
problematische Aussagen des Bürgermeisters (etwa gegenüber der Financial Times
Deutschland „fremdenfeindliche Parolen können jedem mal über die Lippen kom-
men“) und bemängeln, dass er nicht Probleme in der Kleinstadt thematisiert.
KonÁikt und Kontroverse: Die Nachrichtenfaktoren „KonÁikt“ und „Kontro-
verse“ sind mit ausschlaggebend für die lange Präsenz des Falls in den Medien
(vgl. Tabelle 2). Jedoch fällt auf, dass die mediale Inszenierung der Kontroverse
zum Teil mehr handwerkliche Schablone ist als eine korrekte inhaltliche Ausein-
andersetzung: insbesondere die Positionen der Politik (Bundesparteien) werden
als kontrovers dargestellt, obwohl diese weitgehend identisch in ihren Deutungen
und Normsetzungen (insbesondere Bundespolitiker) sind. Zivilgesellschaftliche
Akteure hingegen werden – ebenso realitätsfern – recht einmütig als Kontrapunkt
zur Politik präsentiert. Überraschend wird übrigens überdurchschnittlich häuÀg
der Zentralrat der Juden befragt.
„Lügenpresse“? 321

Dass es sich tatsächlich um einen KonÁikt über Aufklärungswillen und bun-


desdeutsche Normen handelt, den zwei ideologische Gruppen konÁikthaft aus-
tragen, wird kaum sichtbar.15 Auf der einen Seite die Zeugen, inklusive Opfer, ihre
Unterstützer wie Opferanwälte und zivilgesellschaftliche Organisationen, Bundes-
politiker, viele Regionalpolitiker und die Journalisten selbst, auf der anderen Seite
die Radikale Rechte, die Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden, die lokale Politik
und – mit im Verlauf der Debatte zunehmenden Positionierungsschwierigkeiten –
die sächsische Staatsregierung/CDU.

2.1.4 Phase 4: Abklingen und Ende der Berichterstattung

Nach dem Abklingen der Kommentare über das Bürgermeister-Interview sinkt


die Quantität der Berichterstattung rapide. Berichtet wird nur dann wieder, wenn
Urteile in den Gerichtsverfahren gefällt werden. Aufsehen erregt vor allem der
Urteilsspruch vom 4. Dezember 2007 gegen einen (Haupt-)Täter wegen Sachbe-
schädigung und Volksverhetzung. Das Gerichtsurteil (acht Monate Gefängnis)
provoziert wieder ausführlichere Artikel und Hintergrundberichte. Die Presse
druckt die Begründung des von Vielen als hart bewerteten Urteils: Die Tat sei „im
Vorfeld eines Pogroms“16 verübt worden. Die Medien titeln „Es war der Anfang
eines Pogroms“ oder „Knapp am Pogrom vorbei“.17 In den bald erscheinenden Jah-
resrückblicken wird der Vorfall dann noch einmal thematisiert, dabei wird er als
„rassistischer“ bzw. „fremdenfeindlicher“ Übergriff „im Vorfeld eines Pogroms“
erinnert. Von einigen Medien werden zudem die staatlichen Bearbeitungskompe-
tenzen, insbesondere des Bürgermeisters und der Polizei, kritisch erinnert. Der
Focus (print) erzählt eine etwas andere Geschichte, ist damit aber innerhalb der
überregionalen, seriösen Medien alleine:

15 Das liegt sicherlich auch am fehlenden Akten-Wissen der Journalisten.


16 Zitat aus dem Gerichtsurteil vom 4. Dezember, Amtsgericht Oschatz.
17 Vgl. u. a. FR vom 6.12.2007: „Knapp am Pogrom vorbei /Mit der Haftstrafe gegen
einen der Täter von Mügeln statuiert das Gericht ein Exempel.“ Von Bernhard
Honnigfort, S.5.
322 Britta Schellenberg

„Im Juni 2007 endete der Prozess im Fall Ermyas M. mit einem Freispruch. Der
vermeintlich extremistische Überfall war zur Schlägerei unter Betrunkenen ge-
schrumpft. Nichtsdestotrotz wiederholte sich das Szenario der Vorverurteilung
einen Monat später nach einer Schlägerei im sächsischen Mügeln: Obwohl bis heute
nicht geklärt ist, was genau passiert war, sprachen die meisten Medien von einer
‚ausländerfeindlichen Hetzjagd’. Es gab aber nicht nur acht (durch Schläge) verletzte
Inder, sondern auch vier (durch Stiche und Schnitte) verletzte Deutsche, und keiner
weiß, wer angefangen hat. Von den verletzten Deutschen war deshalb sicherheitshal-
ber meist gar nicht erst die Rede. Was hoffentlich kein Trend wird.“18

Dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits ein erstes einschlägiges Urteil
gegen einen (Haupt-)Täter u. a. wegen Volksverhetzung in Tateinheit mit Sachbe-
schädigung vorlag, bleibt unerwähnt.19

18 Focus vom 10.12.2007, Nr. 50/2007: „Jahresrückblick 2007 – Essay: Chinalinksruck?


Weltklimadoping?“ Von Michael Klonovsky. Zu diesem Zeitpunkt war das erste ein-
schlägige Urteil bereits gefällt. Allerdings waren die Anzeigen gegen die Opfer mit
indischem Migrationshintergrund noch nicht fallen gelassen worden.
19 Auch der Verfassungsschutz geht einen überraschenden Weg: In seinem Jahresbericht
erwähnt er den rassistischen und neonazistischen Fall nicht – aber stattdessen erst- und
einmalig indischen Extremismus in Sachsen. Einen entsprechenden Vorwurf hatte die
NPD in der Debatte über den Vorfall in Mügeln den indischen Opfern gemacht. (Vgl.
Schellenberg, 2014b, S. 88-90).
„Lügenpresse“?

Tabelle 2 (Neu-) Interpretation nach Impulsen/„Nachrichten“


Datum Impuls/ Kernaussage (Neue) Interpretation Medien Art der Berichter-
„Nachricht“ (HäuÀgkeit) stattung
21. und Pressemitteilungen Polizei Es gibt keinen rechtsextremen Keine Rechtsextremen. Chronisten & Auf-
22.08.2007 und Staatsanwaltschaft Hintergrund. klärer
Ob Fremdenfeindlichkeit eine Der Vorfall war fremdenfeind-
Rolle spielte, müssen die Ermitt- lich motiviert.
lungen erst noch zeigen.
27.08.2007 Artikel im Focus (Print) Es gibt eine Wende in den Er- Inder sind auch Täter. Vorwiegend als
mittlungen: (++) Chronisten be-
Basiert auf richtet, selten eigene
Artikel der Jungen Freiheit Die Inder sind (auch) Täter. Einordnung der
vom 24.08.2012 Informationen.
Inder sind möglicherweise
auch Täter. (+++)
und

Polizeiaussage: Anzeige
von Deutschen/gegen Inder* Inder sind Opfer – es hat sich
erstattet. nichts verändert. (+)
323
324

Tabelle 2 (Fortsetzung)
Datum Impuls/ Kernaussage (Neue) Interpretation Medien Art der Berichter-
„Nachricht“ (HäuÀgkeit) stattung
31.08.2007 Mügelner Bürgermeister Der Fall war weder fremden- Kritik am Interview mit Kritik wird häuÀg
feindlich noch rechtsextrem. Rechtsradikalen über Zitate geübt,
im Interview mit der Jungen (+++) insb. von Bundes-
Freiheit Die wahren Täter sind Inder, politikern aller
Medien und die Bundespolitik Parteien. Zudem:
(etc.). Bürgermeister hat selbst Prob- Vielfach eigene
lem mit RE u. Ff. (+++) Stellung-nahmen
von Journalisten.
Bürgermeister ist nicht mehr
tragbar (gegen Grundwerte
verstoßen)
(+)
4.12.2007 Urteilsspruch Amtsgericht Es war ein besonders schlim- Es war ff, gewalttätig, Sachliche Berichte
Oschatz mer Fall („Im Vorfeld eines gefährlich über Urteilsspruch.
Pogroms“), (+++) Teilweise auch
u. a. Volksverhetzung Kommentierung.
Kein problematischer Fall, Ignoriert Urteils-
scheinbar nicht fremdenfeind- spruch
lich oder rechtsextrem (nur
Focus Print, 10.12.07)
Britta Schellenberg
„Lügenpresse“? 325

Im Januar 2008 berichten viele Zeitungen, allerdings knapp, wieder über den
„Fall Mügeln“ und zwar, weil Zeuginnen, die einen weiteren Täter belasteten,
erfolglos versuchten, ihre Aussagen wegen Erinnerungslücken zurückzunehmen.
Dass die folgenden Urteile mild ausÀelen oder nach späteren Revisionen zurück-
genommen bzw. abgemildert wurden, dass die Neonazi-Gewalt in Mügeln ex-
plodierte und die NPD in den kommenden Stadtrat einzog, ging im medialen
Alltag unter. Keine Nachricht auch, dass viele, die sich damals in Mügeln gegen
Rassismus und Neonazismus engagierten, inzwischen fortgezogen sind, weil sie
selbst zu Opfern der Neonazis wurden. Nur einzelne investigativ arbeitende Jour-
nalisten besuchten noch einmal ein Jahr nach dem Übergriff das Mügelner Alt-
stadtfest 2008: hier stellten Neonazis ihre Dominanz deutlich zur Schau. Meine
Veröffentlichungen haben allerdings 2014 zum Wiederaufgreifen des Vorfalls in
den Medien geführt.20

3 Medienberichterstattung
(und bundesdeutsche Normen) in der Kritik

Die Thematisierung von Rechtsextremismus und Rassismus/Fremdenfeindlich-


keit durch die Medien hat deutliche Kritik bei denen, die den extrem rechten und
rassistischen Hintergrund nicht akzeptieren wollten, ausgelöst. Sie unterstellen,
dass „die Medien“ hysterisch auf das Thema „Rechtsextremismus“ oder „Frem-
denfeindlichkeit (in Ostdeutschland)“ reagierten und aufgrund eigener Vorurteile
oder aufgrund von Böswilligkeit Fehlinformationen verbreiteten.

3.1 Die Radikale Rechte

Am klarsten richtet sich die Radikale Rechte gegen die Medienberichterstattung:


die extrem rechte NPD meint etwa, „die Medien“ (wie auch die Politik) sei an
verbrecherischen Geschäften beteiligt, deren Ziel es sei, das deutsche Volk zu zer-
stören. Aber auch die populistische, neue Rechte, etwa die Junge Freiheit, glaubt,
in der Medienberichterstattung zeige sich ein zielgerichtetes und planmäßiges
Handeln gegen die Interessen „der Deutschen“. Die Thematisierung von „Rechts-

20 U. a. in Spiegel, FAZ und Tagesspiegel. Vgl. Spiegel, 25/2014 „Rassistische Hegemo-


nie“ von Steffen Winter. FAZ vom 17.06.2014: „Die Idylle sollte keine Kratzer bekom-
men“ von Stefan Locke; Tagesspiegel vom 21.06.2014: „Motiv Rassismus – erkannt
und gleich verdrängt“ von Andrea Dernbach.
326 Britta Schellenberg

extremismus“ und „Fremdenfeindlichkeit“ sei ein politisches Projekt der „Lin-


ken“, der „Deutschfeinde“ und „Ausländerlobby“, um alles „Rechte“ zu diskredi-
tieren. Beide Strömungen der radikalen Rechten glauben, die „etablierten“ Medien
würden von böswilligen Feinden Deutschlands systematisch und totalitär gesteu-
ert. Sie verwenden Begriffe wie „maÀöses Zusammenspiel“, „Machenschaften“,
„MedienmaÀa“. HäuÀg nutzen sie Metaphern aus dem Bereich „Industrie“ und
„System“, „Desinformationsfabrikanten“, „gleichgeschaltete Meinungsindustrie“,
„deutschfeindliche Meinungsindustrie“, „anti-deutsche Meinungsindustrie“. So
wird eine kommerzielle und für die massenhafte Reproduktion planende arbei-
tende Institution assoziiert, die als böse Macht die „Strippen“ zieht, um – und das
ist die Diskussion in diesem speziellen Fall – die Mügelner, die Ostdeutschen und
schließlich das deutsche Volk zu bekämpfen. Die auf die Medien bezogenen Me-
taphern „Lohnschreiber“ und „anti-deutsche Medienschreiber“ lassen Journalis-
ten als Feinde Deutschlands und als seelenlose Rädchen in einem mächtigen und
lukrativen Getriebe erscheinen. Mit den Bildern über „die Medien“ werden auch
antisemitische Verschwörungstheorien aktualisiert.
C harakteristische Zuschreibungen zeigen sich zudem in den Wortbildungen
„Systempresse“ oder „Systempolitiker“. Auch diese pejorativen Bezeichnungen
der parlamentarischen Demokratie (vgl. Müller, Sommer & Thiel, 2010, S. 195)
unterstellen eine planend arbeitende Institution, die im Hintergrund bundesdeut-
sche Medien und Politik lenkt. Auch diese Metaphern transportieren verschwö-
rungstheoretische Annahmen: durch eine „fremdbestimmte“, „anti-deutsche“
Medienberichterstattung und Politik solle eine umfassende Bewusstseins- und Ge-
sellschaftsveränderung in Deutschland erreicht werden. Ziel sei es, das Deutsche
zum Bösen zu stilisieren und zu beschmutzen. Damit ist der Zirkelschluss vollzo-
gen: Die Akteure, die Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit bzw. Rassis-
mus thematisieren, sind anti-deutsche Verschwörer, weil sie den Deutschen Böses
wollen und nicht anerkennen, dass Deutsche – so die Überzeugung der radikalen
Rechten – stets gut und heldenhaft sind und jene, die nach ihrer Einschätzung nicht
völkisch deutsch sind, gefährlich, kriminell, gewalttätig etc. So ist es charakteris-
tisch für die rechtsradikale Argumentation, dass stets Gruppen von „Deutschen“
und „Ausländern“ oder „Ausländer-Lobbyisten“ und „Deutschfeinden“ („Verrä-
ter“) etabliert werden. „Die Deutschen“ müssen von der radikalen Rechten vor den
feindlichen Medien in Schutz genommen werden.
Die radikalen Rechten richten sich prinzipiell gegen die Thematisierung von
„Rechtsextremismus“ und „Fremdenfeindlichkeit“. Die Emotionalität, die sich
gegen Gespräche über Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit/Rassismus ent-
faltet und zur Fundamentalkritik gegen die etablierten Medien wird, zeigt sich
u. a. in der Wochenzeitung Junge Freiheit. „Bewußt (sic) fehlinterpretierte Ge-
„Lügenpresse“? 327

walttaten“ wie „Mügeln, Sebnitz und Hohmann“21 würden zum Anlass genom-
men, um den politisch geförderten „Kampf gegen Rechts“ auszudehnen, schreibt
die Wochenzeitung. In der Rubrik „Zitate“ veröffentlicht sie Ausschnitte aus der
Presse (u. a. aus Die Welt und von Spiegel-Online), die beweisen sollen, dass die
Thematisierung „Mügeln(s)“ neue Möglichkeiten gegen „rechtschaffende Rechte“
vorzugehen eröffnen soll (vgl. Schellenberg, 2014, S. 203ff.).
Doch die Radikale Rechte entwirft noch einen Angriffspunkt: Die Medien
würden die Kleinstadt Mügeln mit böswilliger Absicht und gegen die Fakten als
„Hort des Rechtsextremismus“ darstellen, heißt es etwa im Artikel mit der aus-
sagekräftigen Überschrift „Von der Schlägerei im Bierzelt zur ‚Hetzjagd’“.22 Tat-
sächlich kreiert die Radikale Rechte einen Kausalzusammenhang zwischen der
Einschätzung des Vorfalls als „rechtsextrem“ und einer angeblichen Kollektiv-
schuld der Stadt Mügeln und aller ihrer Bürger. So unterliegt ihrer Argumentation
stets die absurde Behauptung, „die Mügelner“ (später auch die Ostdeutschen) seien
legitim als „rechtsextrem“ zu bezeichnen, wenn der Übergriff in Mügeln einen
„rechtsextremen“ oder „fremdenfeindlichen“ Hintergrund hatte. Deswegen gilt
der Umkehrschluss: Weil die Bürger Mügelns „anständig“ sind und nicht „rechts-
extrem“, dürfe man nicht von einem rechtsextremen oder fremdenfeindlichen Tat-
hintergrund sprechen. Gleichzeitig übernehmen die radikalen Rechten lautstark
die Rolle der Beschützer gegenüber den Mügelner Bürgern. Sie sprechen „die
Mügelner“ als Kollektiv an. Das Gleiche gilt für die Ostdeutschen – auf die die
Gruppe der Mügelner ausgedehnt wird und die im Verlauf der Debatte immer stär-
ker als die angeblich Diskriminierten von den Rechtsradikalen angesprochen wer-
den. Und schließlich wird die Brücke zu den „nationalen Deutschen“, den „wah-
ren Deutschen“, den radikalen Rechten selbst, die sich gegen böswillige Mächte,
Ausländer, Politik und Medien (gemeinsam) zur Wehr setzen müssen, geschlagen.
Dieser Dreischritt – „Mügelner“, „Ostdeutsche“, „nationale Deutsche“ – wird in
der Debatte über den „Fall Mügeln“ von den radikalen Rechten vorgegeben – und
von einigen anderen Akteuren zumindest teilweise mitgegangen. Er verspricht in
der konÁikthaften Auseinandersetzung ein (vermeintlich) bequemes „Deutsch-
sein“, das auf ostdeutsche Identitäten zurückgreift und sich kritikfrei jenseits von
bundesrepublikanischen Normvorstellungen positioniert.

21 Weiter werden in den Texten der Bombenanschlag in Düsseldorf und der Fall Ermays
M. genannt. Beim Fall Hohmann handelt es sich nicht um eine „Gewalttat“, sondern
um eine antisemitisch konnotierte Schuld-Debatte.
22 Junge Freiheit, 36/07, vom 31. August 2007: „Von der Schlägerei im Bierzelt zur
‚Hetzjagd’. Medien: Wie die Berichterstattung über den ‚Fall Mügeln’ die politische
Diskussion beeinflusst / ‚Leichtfertige Vorverurteilung’“ von Michael Paulwitz.
328 Britta Schellenberg

3.2 Der Bürgermeister und Stadtrat der Kleinstadt Mügeln

Auch der Bürgermeister (Deuse, FDP) und der Stadtrat Mügelns wollen nicht über
„Rechtsextremismus“ und „Fremdenfeindlichkeit“ reden. Dem Thema „Fremden-
feindlichkeit“ wird ausgewichen, das Thema „Rechtsextremismus“ ablehnend À-
xiert. Die lokale Politik thematisiert zunächst „allgemeine Gewalttätigkeit“ und
beÁügelt später Debatten über die mögliche (Mit)Schuld der Opfer an den Aus-
schreitungen. Erst spät, nach einschlägigen Gerichtsurteilen wird die Einstufung
„fremdenfeindlicher Tathintergrund“ akzeptiert.
Bezüglich des Rechtsextremismus wird juristisch versiert (wenngleich tatsach-
enfern) begründet, warum es sich nicht um „Rechtsextremismus“ handeln soll. Der
Begriff „Fremdenfeindlichkeit“ wird nur aufgegriffen, um jenen, die ihn thema-
tisieren, im Gegenzug vorzuwerfen, sie hegten Vorurteile gegen „die Mügelner“
und „die Ostdeutschen“. Tatsächlich schlage nicht „Ausländern“ Fremdenfeind-
lichkeit entgegen, sondern der (so deÀnierten) Eigengruppe. Der Bürgermeister
glaubt, „die Medien“, aber auch (Bundes-)Politiker, würden Mügeln kollektiv als
fremdenfeindlich und rechtsextrem „vorverurteilen“. Das vielfach gebrauchte
Wort „vorverurteilen“ unterstreicht die Annahme, Mügeln sei dann als Kollektiv
zu verurteilen, wenn es sich um einen fremdenfeindlichen oder rechtsextremen
Vorfall gehandelt habe. Das heißt im Umkehrschluss auch: wenn „die Inder“ den
Streit entfacht hätten, würde Mügeln zu Unrecht als rechtsextremes Städtchen dar-
gestellt. Tatsächlich wirbt der Bürgermeister bald für die Auffassung, „die Inder“
seien mindestens mitschuld an den Ausschreitungen.
Bürgermeister und Stadtrat verfügen über kein demokratisches Reaktionsre-
pertoire – heterogene Stimmen aus der Gemeinde (die es durchaus gab) werden
nicht gesammelt, eine kontroverse Debatte wird nicht zugelassen – stattdessen ver-
sucht der Bürgermeister, alleine die Deutungsmacht über den Vorfall zu erlangen
(kein Rechtsextremismus, keine Fremdenfeindlichkeit). Das gelingt ihm sogar in
seiner Kleinstadt, überzeugt Journalisten, Bundespolitiker und die Fraktionen im
Sächsischen Landtag jenseits der C DU allerdings nicht. Der Bürgermeister be-
klagt zunehmend, die mediale Berichterstattung sei unfair gegen seine Person und
die Stadt Mügeln – obwohl er medial sehr präsent ist. Aber er möchte als alleiniger
Deuter der „Wahrheit“ präsentiert werden und kann Heterogenität und Pluralismus
nicht akzeptieren (vgl. Schellenberg, 2015). Auch die Uneinheitlichkeit und Viel-
falt der Medien unterschätzt er, wenn er beispielsweise in der Presse bekundet,
„Lügenpresse“? 329

dass er die verletzten Inder im Krankenhaus besucht habe – und dabei beklagt,
dass die Medien dies nicht berichten würden.23
Doch er bringt auch Kritik gegen die Berichterstattung in die Debatte ein, die
stichhaltig ist und von verschiedenen Akteursgruppen (der Radikalen Rechten und
vorerst auch der Sächsischen Staatsregierung) aufgegriffen wird. Er unterstreicht
seine inzwischen erlangte Einschätzung, die Berichterstattung sei insgesamt ver-
logen, mit einem Beispiel: es werde von einer „Hetzjagd“ durch die Stadt gespro-
chen, obwohl die Strecke der Verfolgung nur etwa 30-50 Meter betrug. So sagt
er: „Mir schwillt der Kamm, wenn ich lese, die Inder seien durch die ganze Stadt
gehetzt worden. Dabei sind es von dem Festzelt bis zu der Pizzeria nur 30 Meter.“24
Die Teilkritik wird in der Debatte von nun an immer wieder artikuliert und dient
als Beleg für die mangelnde Glaubwürdigkeit der Medien (pars pro toto). Der
Bürgermeister zählt eine Reihe weiterer Gründe für die angebliche Fehldeutung
der Medien auf, u. a. Stursinn und Arroganz der Journalisten. Doch der schwerwie-
gendste Grund ist ein Vorwurf und betrifft die eigenen BeÀndlichkeiten: so wird
behauptet, „die (überregionalen) Medien“ würden Vorurteile gegen den Osten he-
gen und nur daher Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit thematisieren.
Die Position des Bürgermeisters verändert sich im Verlauf der Debatte deutlich:
von einer vornehmlich regressiven, auch hilÁos-autoritären Reaktion („es gibt kei-
ne Rechtsextremisten in Mügeln“, „wir sind anständig“) bewegt er sich hin zu einer
zunehmend rechtsradikalen Argumentation. Dies zeigt sich zum einen in der Aus-
weitung der scheinbaren Opfergruppe: nicht nur „die Mügelner“, sondern schnell
„die Ostdeutschen“ insgesamt und später dann „die (wahren/nationalen) Deut-
schen“ und „Deutschland“, werden zu Opfern der Berichterstattung erklärt. Auch
verschwörungstheoretische Annahmen werden formuliert: so wird unterstellt, „die
Medien“ beteiligten sich an einem verschwörerischen Anti-Rechts-Kampf, der tat-
sächliche Aufklärung verhindere. Besonders weit reichen die Äußerungen des
Bürgermeisters im Gespräch mit der rechtsradikalen Jungen Freiheit: er beklagt
eine „tiefe Kluft zwischen Medien und Volk“ und stimmt zu, dass es einen Mangel
an Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland gibt.25

23 Er wird mit der entsprechenden Klage u. a. in der Welt vom 23.08.2007 zitiert: „Warum
sich der Bürgermeister in Mügeln nach den Übergriffen auf Ausländer falsch verstan-
den fühlt. Hassbriefe aus aller Welt.“ Von Uta Keseling.
24 Focus-Online vom 22.08.2007: „Bürgermeister: ‚So was machen Mügelner nicht’“.
Von Iris Mayer.
25 Junge Freiheit, 36/07, vom 31. August 2007: „‚Ein neues Sebnitz’. Nach der Gewalt
in Mügeln steht der Ort am Pranger. Bürgermeister Gotthard Deuse kämpft für seine
Stadt.“ Interview mit Mügelns Bürgermeister Deuse von Moritz Schwarz.
330

Tabelle 3 Entwicklung der Problemanalyse der lokalen Politik


Phase 1 Phase 2
Problem Fall und Debatte Verursacher Ursache der Debatte / Argumentationsmuster Verursacher
/ ARGM (ARGM)

1. Falls es ein rechtsextre- 1. Rechts- Der Fall wird als rechtsextrem und/oder fremden- 1. Die Medien
mer Vorfall war, kommt extreme feindlich eingeordnet, ...
der Rechts-extremismus 2. Politiker/Politik, vor
von außerhalb Mügelns. 1. ... wegen Unaufrichtigkeit: Für eine gut verkauf- allem Linke, aber auch
bare Schlagzeile wird eine Stadt „geopfert“. weitgehend die gesamte
2. Bürgermeister und Stadt Bundespolitik (weil sie
Mügeln werden persön- 2. ... weil es Vorurteile gegen Ostdeutsche gibt. unter Druck steht).
lich verletzt, weil der 2. Medien
Vorfall als fremden- 3. ... weil „nationalstolze“ Deutsche weniger Rechte 3. Unbestimmte Kräfte/
feindlich und rechtsext- haben. Verschwörer, welche eine
rem debattiert wird. a) Deutsche Opfer zählen nicht so viel wie ausländi- Anti-Rechtsextremismus-
sche Opfer. Atmosphäre geschaffen
b) Es gibt keine Meinungsfreiheit, sondern Tabus. haben.
U. a. darf nicht über Ursachen rechtsextreme Ge-
walt geredet werden.
c) Es gibt eine Kluft zwischen Medien und deutschem
Volk.
Bedrohung der Stadtge- Bedrohung Bedrohung durch „Kapitalismus“ und „Unvölkische“. Bedrohung durch Personen,
meinde von außen. durch Perso- die nicht zur ethnisch-politi-
nen außerhalb schen Wir-Gruppe gehören
von Mügeln. oder ihre Interessen nicht
vertreten.
Britta Schellenberg
„Lügenpresse“? 331

3.3 Die Sächsische Staatsregierung

Während verschiedene sächsische Parteien die Themen „Rechtsextremismus“,


„Neonazismus“, „Fremdenfeindlichkeit“ und „Rassismus“ nach dem Vorfall in der
Kleinstadt intensiv diskutieren, bezieht die Sächsische Staatsregierung (CDU mit
kleinem SPD-Partner26) keine klare Stellung und vermeidet zunächst entsprechen-
de Diskussionen. Zwar pocht der Innenminister (Buttolo/C DU) auf das staatli-
che Gewaltmonopol und kritisiert, es dürfe nicht hingenommen werden, dass eine
Menge gegenüber einer kleineren Gruppe gewalttätig wird. Doch der Minister-
präsident (Milbradt/CDU), der Innenminister, der Justizminister und mit ihnen die
gesamte sächsische CDU-Fraktion reden im Zusammenhang mit dem Fall weder
von Rechtsextremismus noch von Fremdenfeindlichkeit, geschweige denn Rassis-
mus. Nur SPD-Politiker und die sächsische Ausländerbeauftragte (de Haas/CDU)
thematisieren kritisch, aber wenig hörbar, Fremdenfeindlichkeit.
Stattdessen wird von den einÁussreichen politischen Vertretern schnell jenen,
die Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit thematisieren, vorgeworfen, sie
unterstellten den Ostdeutschen zu Unrecht, sie seien fremdenfeindlich, gewalttätig
und rechtsextrem. Beklagt wird auch, der „Fall Mügeln“ werde durch die über-
regionale Presse (und die Bundespolitik) skandalisiert. Behauptet wird gar, dass
die öffentliche Debatte über den Vorfall für Zulauf bei den Rechtsextremen sorge.
Insbesondere die Medien werden zur Zielscheibe der Angriffe von Vertretern der
Sächsischen Staatsregierung. Die überregionale Presse brauche Skandale; proto-
typisch dafür stehe der „Fall Sebnitz“, der sich als gut verkaufbare Geschichte
erwiesen habe. Der immer wieder artikulierte Vorwurf lautet: die „überregiona-
le Presse“ verbreite die Auffassung eines fremdenfeindlichen Ostens, in dem es
an Zivilcourage mangele. Grund sei, dass die Journalisten ihre journalistische
SorgfaltspÁicht vernachlässigten und ihre Vorurteile bestätigen wollten. Fehlende
Orts- und Situationskenntnisse führten zu Betroffenheitsbekundungen. So würde
von einer „Hetzjagd durch die ganze Stadt“ gesprochen, obwohl es nur um eine
kleine Strecke ginge (vgl. Schellenberg, 2014).
Selbst auf die parlamentarischen Anfragen der NPD, die schnell den Fall für
sich zu nutzen versteht, wird lange nicht kritisch reagiert. Einer großen Anfrage
der extrem rechten Partei wird scheinbar mit möglichst wenig Arbeitsaufwand
geantwortet – die kargen Antworten zeigen auch, dass die Staatsregierung zu die-
sem Zeitpunkt kein Interesse verspürt, Anschuldigungen der rechtsextremen Par-
tei gegen Opfer, gegen Passanten-Zeugen, Politiker und Medien zu entkräften. So

26 Die CDU hatte 55 Sitze im Landtag, die SPD 13 Sitze. Die SPD stellte nur zwei Minis-
terien (Arbeit und Soziales sowie Wissenschaft und Kunst).
332 Britta Schellenberg

lässt sie auch den Vorwurf unwidersprochen, dass „die Medien“ Mügeln als eine
„durchgängig ausländerfeindlich(e)“ Stadt diffamierten. Sie gibt der NPD schein-
bar sogar recht, wenn diese im „Fall Mügeln“ die Diskriminierung von Deutschen
beklagt. Formuliert wird: „Die Sächsische Staatsregierung lehnt jede Vorverurtei-
lung sowohl gegenüber Deutschen als auch gegenüber Ausländern ab“ (Sächsi-
sches Staatministerium des Innern, 2007, Antwort auf Frage 137). Insgesamt prä-
sentiert sich die Staatsregierung immer wieder als Verteidigerin unbescholtener
Bürger gegenüber angeblich vorurteilsbeladenen Angriffen „der Medien“.

Tabelle 4 Problemanalyse der Sächsischen Staatsregierung (Phase 1)

Problem / Argumentationsmuster Verursacher

Es handelte sich um allgemeine Gewalttätigkeit. Unklar.


Sie ist prinzipiell zu verurteilen (normative Aussage).

Die Debatte ist ein Problem. Medien

1. Die Debatte ist hysterisch und falsch, weil Bundespolitiker


a) ein fremdenfeindlicher und rechtsextremer Hintergrund nicht er-
wiesen ist.
b) es tatsächlich eine „Hetzjagd auf Mügeln und die Mügelner“ gibt. Westdeutsche

2. Die Debatte ist vorurteilsbeladen gegen Ostdeutsche, weil


a) Ostdeutschen ohne ausreichende Beweise „Ausländerfeindlichkeit“
und Rechtsextremismus unterstellt wird.
b) Westdeutsche sich fremdenfeindlich gegenüber Ostdeutschen
äußern.

Eine Verschiebung in der Argumentation der Staatsregierung (C DU) Àndet erst


statt, als die öffentliche Debatte anhält, als u. a. auch die indische Botschaft und
die Bundesregierung kritische Nachfragen stellen und die NPD schließlich eine
parlamentarische Auseinandersetzung (Landtagsdebatte) erzwingt. Die C DU/
Staatsregierung redet nun über den Nationalsozialismus, der in der Gegenwart
dazu führe, dass es immer wieder Verdachtsmomente gebe. Die Verantwortung
für die als problematisch wahrgenommene Debatte über den „Fall Mügeln“ wird
der NPD zugeschoben. Fremdenfeindlichkeit wird lediglich von der Ausländer-
beauftragten angesprochen. Die NPD stattdessen wird als Gefahr ausgemacht: sie
wird als Erbin des Nationalsozialismus, prinzipielle Initiatorin von Gewalt und
als verfassungsfeindlich dargestellt. Ansonsten werden weiterhin BeÀndlichkeiten
angesprochen, die sich auf die Debatte über den Vorfall und das Thema „Rechtsex-
„Lügenpresse“? 333

tremismus im Osten“ beziehen. Immer noch wird unterstellt, es würden vor allem
Vorurteile zu einer heftigen Debatte geführt haben, allerdings werden jetzt selbst
diese auch mit der NPD verknüpft: „reÁexhafte Pauschalverdächtigung“ gegen
Deutsche und „unfaire Kampagnen gegen ganze Bundesländer“ existieren, weil
„die Vorbilder der NPD die größten Verbrechen begingen“ (Sächsischer Landtag,
2007, S. 7841).
Die Staatsregierung betreibt vor allem politische Schadensbegrenzung: insge-
samt ist die Positionierung der CDU nun geleitet von einer deutlichen Abgrenzung
gegenüber der NPD, und gleichzeitig gegenüber Linksextremisten, dem Tribut an
die lokale Bevölkerung (durch die Betonung deren Opferwerdens), anhaltender
Medienkritik, wenngleich nun leicht verändert nur noch gegen „Teile der Me-
dien“ – und eines explizites Pochen auf den demokratischen Rechtsstaat (Lynch-
justiz27 werde nicht akzeptiert). Mit dieser Debatte entsteht die merkwürdige Si-
tuation, dass die CDU, statt Rechtsextremismus und Rassismus zu thematisieren,
über Linksextremismus redet, die (bzw. Teile der) Medien kritisiert und die NPD
attackiert.

27 Die Verwendung des Begriffs „Lynchjustiz“ legt ein Fehlverhalten auch der Opfer
nahe.
334 Britta Schellenberg

Tabelle 5 Problemanalyse der Sächsischen Staatsregierung (Phase 2)

Problem / Argumentationsmuster Gefahr „Extremismus“ Verursacher


für die Demokratie / ARGM
Der Fall ist ... weil 1. Die Schlägertrupps der NPD NPD
problematisch die NPD ihn zu verant- sind für Gewaltorgien wie in
worten hat. Mügeln verantwortlich.

(Nur Ausländer- 2. Die NPD ist verfassungs-


beauftragte: feindlich.
... weil in der Bevöl-
kerung Fremdenfeind-
lichkeit u. Mangel
an Zivilcourage
herrscht.)
Die Debatte ... weil die NPD sie 1. Die NPD behauptet, dass
ist problema- nutzt. die Inder, weil sie an dem
tisch Ausgang des Übergriffs
(mit-)schuld waren, gelyncht
werden dürfen.
2. Die NPD argumentiert ver-
fassungsfeindlich.
... weil Linksextremis- 1. Die Linksextremisten Links-
ten die Bevölkerung bekämpfen nicht Rechts- extremisten
verunsichern und extremismus, sondern die
verängstigen. sächsische Bevölkerung.
2. Sie stellen eine Bedrohung
dar, weil sie Eigentum ver-
wüsten.
3. Sie sind verfassungsfeindlich.
... weil sie hysterisch Die Medien führen falsche (Teile der)
und vorurteilsbeladen Debatten, verurteilen pauschal Medien
geführt wird. und gefährden deshalb die
Demokratie.*
* Sind sie also auch „extremistisch“?
„Lügenpresse“? 335

4 Fazit

Problematische Muster der Berichterstattung waren: Pauschalisierende und stark


vereinfachende Titel, Überschriften und Stichworte wie „Rechtsextremismus“ und
„Mügeln“, die den Medien den Vorwurf einbrachten, sie würden unberechtigte
Rechtsextremismus-Debatten führen und eine Stadt kriminalisieren. Tatsächlich
sind die Inhalte der Berichte differenzierter.
Die Ost-West-BeÀndlichkeiten überlagerten die Berichterstattung: Viele Jour-
nalisten verorteten die Probleme vor allem in Ostdeutschland. Dies behinderte
zum einen eine reÁektierte Auseinandersetzung (der westdeutschen und der ost-
deutschen Rezipienten, der Journalisten). Zum anderen konnten die Kritiker der
Medien den Vorwurf, Ostdeutsche würden diskriminiert für die eigene Argumen-
tation und ihre ideologischen Ziele nutzen.
Besonders problematisch ist, dass Nachrichten von Ermittlungsbehörden und
anderen Journalisten häuÀg wiedergeben wurden, ohne dass ihre Richtigkeit oder
Aussagekraft kritisch geprüft, reÁektiert und eingeordnet wurde. Zudem wurde
nicht kontinuierlich und nachhaltig berichtet. Das hatte zur Folge, dass ein feh-
lerhaftes Bild der Entwicklung des Rassismus und Neonazismus entstand. Wenig
hilfreich war zudem, dass zunächst die Täter häuÀg dämonisiert wurden und so-
lange „Neonazis“ als Täter diskutiert wurden, keine inhaltliche Auseinanderset-
zung (Ursachensuche oder Lösungsstrategien) stattfand. Nachdenklich muss auch
stimmen, dass sich das Thema vor allem aufgrund anhaltender (emotionaler) Kon-
Áikthaftigkeit (und der hierüber ausgetragenen Ost-West-BeÀndlichkeiten) – jen-
seits eines sachlichen Aufklärungsziels – in den Medien hielt.
Nichtsdestotrotz muss festgehalten werden, dass die mediale Berichterstattung
durchaus positive Effekte hatte. Ihr kam, weil sie Informationen öffentlich machte,
die sonst nicht bekannt geworden wären, eine herausragende Rolle für die Wahr-
nehmung der Probleme zu. Indem Medien ein Sprachrohr auch der Zeugen waren
und externe Akteure integrierten (u. a. indische Botschaft, Wirtschaftsvertreter),
haben sie den politischen Druck auf die Zuständigen erhöht und jenen, die den Fall
zielführend bearbeiten wollten (etwa Amtsrichter, Opferanwälte, Opferberatung,
Mobile Beratung, auch einzelne Bürger), Rückhalt verschafft. Ohne diese Akteure
wäre der „Fall Mügeln“ vermutlich tatsächlich ein „zweites Sebnitz“ geworden –
d. h., man hätte weder einen extrem rechten noch rassistischen Tathintergrund be-
legen können.
Die Kritiker der medialen Berichterstattung zeichneten sich dadurch aus, dass
sie prinzipiell die Thematisierung von „Rechtsextremismus“ und „fremdenfeind-
licher/ rassistischer Gewalt“ ablehnten. Die radikalen Rechten, aber auch lokale
Politik und m.E. die Sächsische Staatsregierung (C DU) behaupteten, dass sich
336 Britta Schellenberg

die Berichterstattung nicht an „objektiven Gegebenheiten“ orientiere, sondern


„falsch“, „hysterisch“, „vorurteilsgeleitet“ oder gar „böswillig“ sei. Durch den Ver-
weis auf einzelne problematische Muster stellten diese Kritiker die Glaubwürdig-
keit der Medienberichterstattung insgesamt in Frage.
Tatsächlich hat die Kritik an der öffentlichen Debatte über den „Fall Mügeln“
darüber hinaus auch gesellschaftliche Fehlentwicklungen begünstigt: Die Ent-
wicklungen der Debatte (u. a. Veränderung der Position des Bürgermeisters hin
zu radikal rechten Argumentationsmustern) und vor Ort (Explosion der neona-
zistischen Gewalt, Einzug der NPD in den Stadtrat) zeigen, dass die Fehlinfor-
mationen durch staatliche Zuständige sowie die negativen Zuschreibungen gegen
„die Medien“ und die (Bundes-)Politik zu einer schleichenden Entfremdung von
bundesdeutschen Normvorstellungen führten. Die pauschale Medienkritik gepaart
mit Abwehrreaktionen und Zuschreibungen (insbesondere Ost-West-BeÀndlich-
keiten) hat eine Brücke zu rechtsradikalen Verschwörungstheorien und Gedanken-
welten geschlagen. Diese ideologischen Entwicklungen dürfen in ihrer Dynamik
nicht unterschätzt werden – sie haben heute ihren Anteil an den demokratischen
Adaptionsproblemen der Pegida-Anhänger in der sächsischen Großstadt Dresden,
unweit von Mügeln, inklusive ihrer „Lügenpresse“-Rufe.
Wissenschaftler haben sich der Berichterstattung über „Rechtsextremismus“
und „fremdenfeindliche Gewalt“ in der Vergangenheit vor allem kritisch genä-
hert, ohne die Stärken der medialen Berichterstattung herauszuarbeiten. Kritisiert
wurde etwa, dass die Berichterstattung Nachahmungseffekte auslösen würde, dass
sie recht zufällig wäre und realitätsfremd sei – begründet wurde dies mit dem
Verweis auf die amtliche Kriminalstatistik, die unkritisch zur Grundlage einer
wirklichkeitsnahen Einschätzung erklärt wurde (vgl. Brosius & Esser 1995; Esser,
Scheufele & Brosius, 2002; Kleinen-v. Königslöw et al., 2002).28 Meine Fallstudie
zum Umgang mit rassistischer und extrem rechter Gewalt – aber auch die Erfah-
rungswerte der Opferberatungsstellen und Opferanwälte, ebenso wie die bereits
heute vorliegenden Erkenntnisse zum „NSU“-Komplex – stellen diese Sichtweise
in Frage, ebenso die Aussagekraft isolierter Medienkritik. Erst ein breiterer Blick
auf Akteure, ihre Interessen, Impulse und Interaktionen kann Aufschluss über die
Stärken und Schwächen der medialen Berichterstattung geben. Meine Analyse
macht Vertuschungsbemühungen, problematische Bearbeitungsmuster und falsche
Weichenstellungen durch staatliche Akteure sichtbar und verdeutlicht ihren prob-

28 Natürlich ist es u. a. ein Verdienst, dass Frames der Thematisierung herausgearbeitet


und nachwiesen wurde, dass „Schlüsselereignisse“ eine überdurchschnittlich intensive
und längerfristige Thematisierung „fremdenfeindlicher Gewalt (in Ostdeutschland)“
provozieren.
„Lügenpresse“? 337

lematischen EinÁuss auf die mediale Berichterstattung. Diese wurde insbesondere


durch faktenfremde Impulse der Ermittlungsbehörden, der lokalen und regionalen
Politik, aber auch ihre unzureichende ReÁexion und Überprüfung durch Journa-
listen, problematisch (bspw. Nachricht: „Inder sind Täter“).
Das Analyseergebnis legt damit nahe, dass sich Journalisten nicht mehr, son-
dern weniger an der amtlichen Kriminalstatistik und den Aussagen der Ermitt-
lungsbehörden orientieren sollten – sie sollten stattdessen idealerweise stärker
investigativ arbeiten, Zeit für Recherche und ReÁexion haben und fachliches,
etwa juristisches, Hintergrundwissen anwenden. Die Rechtsextremismus- und
Rassismus-Forschung hat sich bislang kaum mit der problematischen staatlichen
Bearbeitungspraxis (insbesondere: Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden, Innen-
ministerien, Landespolitik) beschäftigt. Sie hat bisher auch – trotz berechtigter
Kritik – zu wenig die Verdienste der Medien und insbesondere investigativ arbei-
tender Journalisten dabei untersucht und berücksichtigt.
338 Britta Schellenberg

Literatur
Brosius, H.-B. & Esser,F. (1995). Eskalation durch Berichterstattung. Massenmedien und
Fremdenfeindliche Gewalt. Opladen: Westdeutscher Verlag.
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Medien (fettgedruckte vollständig erfasst)


Berliner Kurier, Berliner Zeitung, Deutschlandradio Kultur, dpa (Deutsche Presse Argen-
tur), epd (Evangelischer Pressedienst), Focus und focus-online, Frankfurter Allgemei-
ne Zeitung (FAZ) und faz-online, Frankfurter Rundschau (FR), Lausitzer Rundschau,
Mannheimer Morgen, Märkische Oderzeitung, Mitteldeutsche Zeitung (MZ), Münchener
Abendzeitung, Nordkurier, netz-gegen-nazis, Npd-blog.info, n-tv, Ostsee-Zeitung, Reuters,
Rheinische Post, Rhein-Neckar Zeitung, Sächsische Zeitung (SäZ), Spiegel und spiegel-
online, Stern und stern-online, Süddeutsche Zeitung (SZ) und sueddeutsche-online, Der
Tagesspiegel (Tsp.) und tagesspiegel-online, tagesschau, Tageszeitung (TAZ), Die Welt
und welt-online, Westfalen-Blatt, Die Zeit und zeit-online
„Lügenpresse“? 339

Rechtsradikale Medien (fettgedruckte vollständig erfasst)


Altermedia, Junge Freiheit (JF), Politically Incorrect (pi), Sachsen Stimme
Todesopfer rechtsextremer
und rassistischer Gewalt in Brandenburg
(1990-2008)

Zur Problematik der statistischen Erfassung politisch


motivierter Kriminalität

Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz

1 Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt –


offizielle und andere Zahlen

64 Menschen wurden in Deutschland seit 1990 aus rechtsextremen bzw. rassisti-


schen Motiven getötet – das sind die ofÀziellen Zahlen der Bundesregierung.1 Die
Statistik beruht auf Angaben der Polizeibehörden bzw. der Innenministerien der
Bundesländer und sie wird seit vielen Jahren heftig kritisiert. Es gibt weitere Lis-
ten, die weitaus mehr Todesfälle verzeichnen: Nach Recherchen der Journalisten
Heike Kleffner und Frank Jansen (Tagesspiegel und ZEIT) liegt die Zahl bei 152.
In der Liste der Amadeu Antonio Stiftung sind sogar 184 Todesopfer aufgeführt.2
In Brandenburg werden insgesamt 9 Tötungsdelikte statistisch dem Bereich
„Politisch motivierte Kriminalität – rechts“ (PMK-rechts) zugeordnet. Die Lan-
desregierung teilte dazu 2012 in einer Antwort auf eine Anfrage der Fraktion DIE
LINKE mit: „Alle anderen Fälle konnten nicht berücksichtigt werden, weil durch
das Gericht festgestellt worden ist, dass kein politisches Motiv vorlag, und bis zum

1 Zuletzt z. B. mittgeteilt am 5. November 2014 bei der Fragestunde der Bundesregie-


rung auf die Frage 17 der MdB Martina Renner (DIE LINKE).
2 Vgl. die Auflistungen im Internet: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/to-
desopfer-rechter-gewalt (abgerufen am 12.01.15); https://www.mut-gegen-rechte-ge-
walt.de/news/chronik-der-gewalt/todesopfer-rechtsextremer-und-rassistischer-gewalt-
seit-1990 (abgerufen am 12.01.2015).

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_13, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
342 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz

gegenwärtigen Zeitpunkt auch nicht bekannt geworden ist.“3 In der „Jansen-Li-


ste“ sind hingegen insgesamt 26 brandenburgische Fälle verzeichnet. Die Amadeu
Antonio Stiftung und der Verein Opferperspektive e.V. kommen zu noch höheren
Zahlen. Berücksichtigt man alle – im Detail variierenden – Listen (inklusive der
in der PMK-Statistik erfassten Taten), so gibt es in Brandenburg insgesamt 33
Todesfälle.
Über die Frage des wirklichen Ausmaßes rechter Gewalt und speziell über die
Zahl der Todesopfer wird seit Jahren intensiv debattiert. Insbesondere der Verein
Opferperspektive und das landesweite Aktionsbündnis gegen Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Gewalt haben das Thema immer wieder auf die politi-
sche Tagesordnung gesetzt.
Ende 2012 wurde von der brandenburgischen Landesregierung entschieden,
sämtliche umstrittenen Fälle aus den Listen des Tagesspiegels, der Opferperspekti-
ve und der Amadeu Antonio Stiftung zu überprüfen. Neben einer internen Prüfung
durch die Polizei sollte es eine externe, unabhängige Untersuchung im Rahmen
eines Forschungsprojekts geben. Damit wurde das Moses Mendelssohn Zentrum
der Universität Potsdam beauftragt. Mit der externen Vergabe einer solchen retro-
spektiven Überprüfung hat sich Brandenburg für einen anderen Weg entschieden,
als das Land Sachsen-Anhalt, das eine interne Nachprüfung von insgesamt neun
bislang statistisch nicht als politisch motiviert geführten Todesfällen aus der „Jan-
sen-Liste“ durch das Innen- und Justizministerium vornehmen ließ. Grundlage
dieser Prüfung in Sachsen-Anhalt waren insbesondere die polizeilichen Ermitt-
lungsakten sowie die Gerichtsurteile. Dem im Januar 2013 veröffentlichten Prüf-
bericht ist zu entnehmen, dass drei der neun Fälle nunmehr als politisch rechts
motiviert eingestuft werden.4 Festzuhalten ist allerdings: Im Gegensatz zu Bran-
denburg handelte es sich hier um eine behördeninterne Prüfung.

3 Landtag Brandenburg, Drucksache 5/4956, S. 3.


4 Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt & Ministerium für Jus-
tiz und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt (Hrsg.). (2013). Rechts motiviert?
Bericht zur Untersuchung ausgewählter Tötungsdelikte der Jahre 1993 bis 2008 in
Sachsen-Anhalt, Magdeburg.
Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg … 343

2 Das Forschungsprojekt

Das Projekt wird seit Mai 2013 im Auftrag des Ministeriums des Innern des Lan-
des Brandenburg am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Stu-
dien e.V. (Universität Potsdam) durchgeführt.5 Grundlage der Untersuchung ist die
Auswertung von Prozess- und Ermittlungsunterlagen sowie begleitende Recher-
chen und Interviews. Begleitet wird das Forschungsprojekt von einem Experten-
arbeitskreis, in dem die einzelnen Fälle bzw. Fallanalysen regelmäßig diskutiert
werden. Neben den Projektmitarbeitern nehmen an diesem Arbeitskreis Vertre-
terinnen und Vertreter aller bei diesem Thema relevanten zivilgesellschaftlichen
Akteure und staatlichen Institutionen teil6. Dieser Arbeitskreis hat eine beratende
Funktion. Entscheidungen über Methodik und Ergebnisse des Forschungsprojekts
werden von den Mitarbeitern des Moses Mendelssohn Zentrums verantwortet.
Mit dem Forschungsprojekt werden insbesondere folgende Ziele verfolgt:

• Sichtung, Dokumentation und Bewertung der 33 Fälle (insbesondere der 24


Fälle, die noch nicht in der ofÀziellen Statistik erfasst sind);
• Erklärung der unterschiedlichen Einschätzungen;
• Empfehlungen zur polizeilichen und justiziellen Praxis, insbesondere zu den
PMK-Kriterien.

Im Weiteren soll zunächst die Entwicklung der statistischen Erfassung politisch


motivierter Kriminalität von 1959 bis heute in ihren Grundzügen dargestellt wer-
den. Obwohl die polizeilichen Erfassungssysteme seit Anfang der 1990er Jahre
weiterentwickelt wurden und die seit 2001 zugrunde liegende DeÀnition sehr um-
fassend ist, bleibt die Erfassung rechtsmotivierter Gewalt doch mit erheblichen
Problemen verbunden. Dies soll dann anhand einiger Fallbeispiele aus unserem
Forschungsprojekt verdeutlicht werden.

5 Das Team besteht aus Dr. Christoph Kopke (Leitung), Gebhard Schultz (Dipl.-Pol.),
Dorina Feldmann (stud. Mit.). Beratend wirkt Priv. Doz. Dr. Gideon Botsch mit. (www.
mmz-potsdam.de)
6 Ministerium des Innern und für Kommunales, Landeskriminalamt; Fachhochschule
der Polizei; Generalstaatsanwaltschaft; Integrationsbeauftragte des Landes; Demos –
Brandenburgisches Institut für Gemeinwesenberatung; Opferperspektive e.V.; Ak-
tionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit; Amadeu
Antonio Stiftung.
344 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz

3 Definitionen und Zählweisen

3.1 Politische Kriminalität / politisch motivierte Kriminalität

Eine allgemeingültige politikwissenschaftliche oder kriminologische DeÀnition


politischer Kriminalität existiert nicht. Je nach Staatsform und der Intention des
jeweiligen Rechtssystems variiert das Verständnis von politischer Kriminalität.
Werner Maihofer (1974) umschrieb politische Kriminalität „als Kehrseite und Ne-
gativbild jedes politischen Systems“ (S. 328).
Unter politischer Kriminalität versteht man in unserem Zusammenhang zunächst
all die Straftatbestände, die das Ziel haben, den demokratischen Rechtsstaat zu ge-
fährden (§§ 84-91a StGB). Als „Staatsschutzdelikte“ gelten Delikte, die sich erkenn-
bar gegen den Verfassungsstaat bzw. die staatliche Ordnung richten. Als klassische
oder echte Staatschutzdelikte gelten dabei die folgenden Straftatbestände lt. Strafge-
setzbuch (StGB): §§ 80-83 (Friedensverrat und Hochverrat), §§ 84-91 (Gefährdung
des demokratischen Rechtsstaates), §§ 94-100a (Landesverrat und Gefährdung der
äußeren Sicherheit), §§ 102-104a (Straftaten gegen ausländische Staaten), §§ 105–
108e (Straftaten gegen Verfassungsorgane sowie bei Wahlen und Abstimmungen),
§§ 109–109h (Straftaten gegen die Landesverteidigung), §§ 129a (Bildung terroristi-
scher Vereinigungen), §§ 129b (Kriminelle und terroristische Vereinigung im Aus-
land), §§ 234a (Verschleppung), §§ 241a (Politische Verdächtigung).
Straftaten der Allgemeinkriminalität (z. B. Brandstiftungen, Körperverletzungs-
und Tötungsdelikte, Sachbeschädigungen und Widerstandshandlungen) werden zur
politisch motivierten Kriminalität gerechnet, wenn die Würdigung der inneren und
äußeren Tatumstände auf ein politisches Motiv hindeutet (vgl. BMI, o.J.).
Als politisch motivierte Kriminalität gelten Straftaten, „die von den Beteiligten
politisch gemeint oder von den Kontrollorganen als politisch deÀniert werden.“
(Willems, 2002, S. 141; identisch u. a. BMI & BMJ, 2001, S. 264)

3.2 Polizeiliche Erfassungssysteme

Die statistische Erhebung von „politisch motivierten Straftaten“ bzw. die ent-
sprechende Zuordnung von Straftaten hat Folgen. Kurz gesagt: Die Zählweise be-
stimmt die Sichtweise. Die Erfassung politisch motivierter Kriminalität in Form
einer Statistik gilt ofÀziell als „die Grundlage für die Sensibilisierung der Öffent-
lichkeit für Gefährdungslagen in bestimmten Deliktbereichen“7.

7 Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion DIE LINKE vom
27.09.2015, Bundestagsdrucksache 17/7161.
Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg … 345

3.2.1 Erfassung vor 2001

Seit 1959 werden sog. „echte Staatsschutzdelikte“ gesondert in der allgemeinen


„Polizeilichen Kriminalstatistik“ (PKS) als „Polizeiliche Kriminalstatistik –
Staatsschutz“ (PKS-S) aufgeführt. Die PKS-S ist eine Ausgangsstatistik, d. h.,
dass die Straftaten erst in die Statistik einÁießen, wenn die Ermittlungen zu dem
Fall abgeschlossen sind und an die Staatsanwaltschaft oder das Gericht übergeben
werden. Ab Januar 1961 werden Staatsschutzdelikte außerdem zusätzlich durch
den „Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Sachen Staatsschutz“ (KPMD-S)
statistisch erfasst. Der KPMD-S ist seit 1966 eine Eingangsstatistik und umfasst
Delikte, die aus einer extremistischen Motivation heraus das Ziel der Systemüber-
windung haben. Bei der Eingangsstatistik werden Fälle tatzeitnah mit der Aufnah-
me der Ermittlungen und somit schon beim ersten Anfangsverdacht der KPMD-S
gemeldet. Während die PKS-S nur die Kriminalitätsentwicklung für ein Kalen-
derjahr abbildete, ermöglicht die KPMD-S eine bessere und zeitnahe Information
über aktuelle polizeiliche Lagebilder und somit mehr Möglichkeiten zur Präven-
tion und Gefahrenabwehr.8
Ein wesentliches Bestimmungskriterium der PKS-S war die Zuordnung der
Straftat zu einer Organisation. Bei der Darstellung der PKS-S ergaben sich daraus
frühzeitig zwei Probleme, die dazu führten, dass 50% – 70% aller Staatschutz-
delikte weder als links- noch als rechtsextremistisch klassiÀziert werden konnten.
Entweder waren die Motivlagen nicht eindeutig bzw. fehlten vollkommen oder die
Zugehörigkeit zu einer Organisation konnte nicht nachgewiesen werden (vgl. BMI
& BMJ, 2001, S. 266).
Im Kontext des Anstieges rechtsextremer Gewalt nach der Wiedervereinigung
wurde Anfang 1992 der Sondermeldedienst für fremdenfeindliche, 1993 für anti-
semitische Straftaten eingeführt.9 Mit diesen Anpassungen wurde auf gesellschaft-
liche Entwicklungen und Debatten reagiert, die man nicht mehr ignorieren konnte.
Dies war auch eine Reaktion auf die Vorwürfe, die Behörden verschleierten – be-

8 Auf der anderen Seite weist eine Eingangsstatistik eine höhere Unsicherheit auf, denn
der Sachverhalt kann sich im Zuge weiterer Ermittlungen anders darstellen. Um damit
verbundene Unsicherheiten gering zu halten, sind nachträgliche Korrekturmöglich-
keiten vorhanden (Vgl. BT-Drs. 17/7161).
9 Antisemitische Straftaten wurden gesondert aufgeführt, da manche antisemitische
Straftaten nicht zwingend dem Rechtsextremismus zugeordnet werden können. Die
KPMD-S erlaubt keine Mehrfachnennungen. Wenn in einem Fall beispielsweise nicht
zwischen Fremdenfeindlichkeit oder Antisemitismus unterschieden werden kann, weil
möglicherweise beide Hintergründe in Frage kommen, erfolgt die Einordnung nach
einer vermuteten Motivation (Vgl. BT-Drs. 16/14122, BT-Drs. 17/7161).
346 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz

wusst aus politischem Kalkül oder systembedingt unbewusst – das wahre Ausmaß
rechtsmotivierter Gewalt. Dennoch sorgten die Sondererfassungssysteme nicht für
eine Lösung der Probleme bzw. für ein Ende der Auseinandersetzungen. So heißt
es beispielsweise in einer Studie aus dem Jahre 1994: „Die Kriterien, nach denen
konkrete Straf- und Gewalttaten durch die Polizei als fremdenfeindlich eingestuft
werden, sind keineswegs eindeutig festgelegt, so dass von den einzelnen Polizei-
dienststellen auch sehr Unterschiedliches als fremdenfeindlich deÀniert und ein-
geordnet wird“ (Willems, Wirtz & Eckert, 1994, S. 9). Auch gebe es zwischen den
Bundesländern teilweise große Unterschiede in der Ermittlungsarbeit und in der
statistischen Erfassung. „Dies beeinträchtigt die Zuverlässigkeit und Aussagekraft
der polizeilichen Statistik zu fremdenfeindlichen Straftaten erheblich“ (Willems
et al., 1994, S. 9).

3.2.2 Die Änderung der Erfassung der PMK nach 2001

Auch innerhalb der Sicherheitsbehörden wurde das Erfassungssystem zunehmend


kritisch gesehen. So räumte der damalige BKA-Vize-Präsident Bernhard Falk ein,
das bisherige polizeiliche Meldesystem bilde eine „überkommene“ und „verzerr-
te“ Darstellung des polizeilichen Lagebildes ab und sei somit „ungeeignet“ (Falk,
2001, S. 10). Im Jahre 2000 befasste sich die Arbeitsgemeinschaft „AG Kripo“, die
aus Mitgliedern des Bundeskriminalamts und der Landeskriminalämter bestand,
mit dem Erfassungssystem und legte einen Arbeitsgruppenbeschluss zur 167. Kon-
ferenz der Innenminister bzw. Innensenatoren des Bundes und der Länder (IMK)
vor. Dort wurde am 10. März 2001 ein einheitliches DeÀnitionssystem Politisch
motivierter Kriminalität (PMK) verabschiedet, das (rückwirkend zum 01.01.2001)
bis heute seine Anwendung Àndet. Die Erfassungs- bzw. Meldesysteme KPMD-S
und PKS-S sowie die Sondermeldedienste für fremdenfeindliche und antisemiti-
sche Straftaten wurden von dem „Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Fällen
politisch motivierter Kriminalität“ (KPMD-PMK) abgelöst.
Bei dem neuen DeÀnitionssystem ist nicht die Motivation einer Systemüber-
windung, sondern die „tatauslösende politische Motivation“ (BT-Drs. 16/14122,
S. 3) zentrales Bestimmungsmerkmal politisch motivierter Kriminalität. Demnach
handelt es sich um politisch motivierte Kriminalität, wenn „in Würdigung der Um-
stände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen,
dass sie

• den demokratischen Willensbildungsprozess beeinÁussen sollen, der Errei-


chung oder Verhinderung politischer Ziele dienen oder sich gegen die Realisie-
rung politischer Entscheidungen richten,
Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg … 347

• sich gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung bzw. eines ihrer We-
sensmerkmale, den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes
richten, oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mit-
gliedern der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes zum Ziel haben,
• durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen
auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden oder
• gegen eine Person gerichtet sind, wegen ihrer politischen Einstellung, Nationali-
tät, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft
oder aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer Behinderung, ihrer se-
xuellen Orientierung oder ihres gesellschaftlichen Status und die Tathandlung
damit im Kausalzusammenhang steht bzw. sich in diesem Zusammenhang
gegen eine Institution/Sache oder ein Objekt richtet (Hasskriminalität).

Oder

• Tatbestände der echten Staatsschutzdelikte erfüllt sind; sie sind immer als
PMK zu erfassen, selbst wenn im Einzelfall eine politische Motivation nicht
festgestellt werden kann“ (BT-Drs. 17/7161, S. 45).

Im neuen DeÀnitionssystem werden die Fälle den entsprechenden Kategorien und


Merkmalsgruppen zugeordnet (siehe Abbildung 1). Je nach ihrer Art, Ausmaß und
Schwere, wird die Tat der Deliktqualität zugeordnet. Die größte Kategorie an De-
likten machen Propagandadelikte aus, weswegen sie gesondert aufgeführt werden.
Liegt eine „besondere Gewaltbereitschaft der Täter“ (Glet, 2011, S. 83) vor, wird
eine Straftat in der Kategorie „politisch motivierte Gewaltkriminalität“ erfasst.
348 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz

Tabelle 1 DeÀnitionssystem Politisch motivierte Kriminalität (nach Ziercke, 2006, S. 64).

Deliktqualität
Propagandadelikte Politisch motivierte Politisch motivierte Terrorismus
(§§ 86, 86a StGB) Kriminalität (ohne Gewaltkriminalität
Propagandadelikte)
Themenfelder
Hasskriminalität Kernenergie Separatismus Weitere
– Fremdenfeindliche – Transport – Z. B. ETA Themenfelder
Straftaten – Zwischenlager (baskische Unter-
– Antisemitische – weitere grundorganisation)
Straftaten
– Weitere
Phänomenbereiche
Politisch motivierte Politisch motivierte Politisch motivierte Sonstige bzw. nicht
Kriminalität – links Kriminalität – rechts Ausländer- zuzuordnen
kriminalität
Internationale Bezüge
Extremistische Kriminalität

Im zweiten Schritt der Kategorisierung wird die Straftat einem Themenfeld zu-
geordnet, wobei im Gegensatz zu den alten Meldesystemen nun auch Mehrfach-
nennungen möglich sind. Schließlich wird nach Berücksichtigung des Täterhinter-
grundes die Tat einem Phänomenbereich zugeordnet. Taten, bei denen ein Motiv
der Systemüberwindung deutlich wird, werden zudem gesondert aufgeführt (vgl.
Ziercke, 2006).

3.2.3 Politisch motivierte Kriminalität – rechts

Nach der neuen Unterscheidung sind politisch rechts motivierte Straftaten solche,
die nach der „politischen Motivation der Täter“ so einzuschätzen sind bzw. „wenn
die Tat bzw. die Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür (enthalten), dass die-
se auf Basis einer rechten Gesinnung begangen (wurden)“ (BMI & BMJ, 2006,
S. 137). „Auf Basis „rechter Gesinnung“ meint hier, dass bei der Tat ganz oder teil-
weise Bezüge zu Rassismus, völkischem Nationalismus, Sozialdarwinismus oder
Geschichtsrevisionismus (v. a. Leugnen der Shoa) erkennbar sind (vgl. Bongartz,
2013; Feustel, 2011). Die gesonderte Kategorie Fremdenfeindlichkeit umfasst De-
likte, die gegen Personen aufgrund ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Natio-
nalität, Hautfarbe, Religion oder Herkunft gerichtet sind. In der weiteren Katego-
rie Antisemitismus werden Straftaten mit antijüdischer Haltung erfasst.
Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg … 349

Das neue System ermöglicht die Erfassung von politisch motivierter Krimina-
lität – rechts (PMK-rechts), auch wenn die Tat nicht explizit eine rechtsextreme
Motivation besitzt. Bei dem neuen DeÀnitionssystem ist es nicht mehr zwingend
erforderlich, dass die Tat die Abschaffung der freiheitlich demokratischen Grund-
ordnung zum Ziel hat oder haben muss. Das reale Ausmaß rassistischer Gewalt
entsprach offenbar nicht den bis dahin gültigen theoretischen Vorannahmen. So
heißt es dann auch folgerichtig im Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht des
Innenministeriums und des Justizministeriums aus dem Jahre 2006: „Aufgrund
phänomenologischer Entwicklungsprozesse war eine realitätskonforme Abbildung
des Straftatenaufkommens auf der Basis der am Extremismusbegriff orientierten
Erfassung nicht mehr gewährleistet.“ (BMI & BMJ, 2006, S. 134)
Die neue DeÀnition ist relativ umfassend und erfasst z. B. auch sozialdarwinis-
tisch motivierte Taten. Gleichwohl bleibt die Erfassung rechtsmotivierter Gewalt
mit erheblichen Problemen verbunden, von denen einige im Folgenden exempla-
risch dargestellt werden.

4 Definition und Wirklichkeit

Für die polizeiliche und juristische Aufarbeitung eines Tatgeschehens sind die de-
taillierte Rekonstruktion der Einzeltaten sowie die Zurechnung dieser Taten auf
die jeweiligen Täter von zentraler Bedeutung: Täter können nur dann belangt wer-
den, wenn ihnen konkrete Taten zweifelsfrei nachzuweisen sind bzw. zugeordnet
werden können. Die Frage der Bewertung der Motivlage gestaltet sich allerdings
schwieriger. Hier können allgemeine politische Motive oder bestimmte Vorurteile,
pauschale Ablehnung einzelner Personengruppen etc., zu scheinbar klar unpoliti-
schen direkten Tatmotiven hinzukommen. Gerade bei einer sozialwissenschaft-
lichen Herangehensweise ist der Blick auf das gesamte Tatgeschehen wichtig,
auch „tatbegleitende“ Motive müssen beachtet werden. Denn die Vorstellung des
Vorliegens eines isolierten tatauslösenden Motivs hat etwas stark vereinfachendes
und „künstliches“: Bei vielen Taten wird eine Überlagerung verschiedener Motive
deutlich, wobei es oft schwer ist, diese klar zu gewichten bzw. ein dominantes
Motiv herauszuÀnden. Handelt es sich z. B. um Raub, wenn man dem Opfer schon
ansehen kann, dass es arm ist? Könnte es bei diesem Verbrechen nicht auch um
Demonstration von Macht und Gewalt, um die Erniedrigung Schwächerer gegan-
gen sein? Auch wenn das politische Motiv nur nebensächlich scheint, darf es nicht
unterbewertet werden.
Der Begriff „politisch motiviert“ erscheint vor dem Hintergrund vieler realer
Tatabläufe wenig angemessen, da er sich als zu stark oder zu eng erweist. Eine
350 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz

zielgerichtete Umsetzung politischer Absichten ist nur in wenigen Fällen festzu-


stellen. Festzustellen ist bei vielen Tätern der von uns untersuchten Fälle jedoch
eine sehr schlichte, aber doch deutliche Gesinnung, insbesondere ein deutliches
Feindbild. Die Täter geraten – manchmal durchaus eher zufällig – in Situationen
(z. B. in KonÁikte), die von ihnen mit Hilfe ihrer „Ideologie“ interpretiert und be-
wältigt werden. Da sich diese oft letztlich auf ein Feindbild reduziert, agieren sie
häuÀg sehr brutal („Feindvernichtung“), wo andere vielleicht nur verbal oder gar
nicht reagieren würden.
Die anfängliche Einschätzung des diensthabenden Polizisten ist von zentraler
Bedeutung für die weitere Bearbeitung des Falls (durch Polizei, Staatsanwaltschaft
und Gericht), insbesondere auch für die Einstufung als politisch oder unpolitisch.
Es ist zu bedenken, dass viele dieser Beamten kaum über Erfahrungen mit poli-
tisch motivierter Kriminalität verfügen, da diese nur einen sehr geringen Teil ihrer
Alltagsarbeit ausmacht.
Zudem ist die Arbeit der Polizei primär darauf ausgerichtet, das Verbrechen
aufzuklären und die Täter zu Ànden. Im Mittelpunkt der polizeilichen Arbeit
steht – in der Anfangsphase mit hoher Intensität – die kriminalistische Arbeit.
Ausgehend von der Tatortarbeit wird das Tatgeschehen ermittelt und nach den
Tätern gesucht. Dies geschieht in den meisten von uns untersuchten Fällen pro-
fessionell und zügig: Die Zeugen werden in der Regel sofort befragt und die Täter
meistens schnell gefunden. Die Fälle sind aus kriminalistischer Sicht meistens re-
lativ schlicht strukturiert: Die Täter hinterlassen Spuren am Tatort, verhalten sich
bei der Tatbegehung auffällig, äußern sich Dritten gegenüber zur Tat usw. und
werden infolgedessen im Rahmen einfacher Routinearbeit schnell ermittelt. Im
Kontext der Tataufklärung und der Suche nach dem Täter ist es für die Polizei oft
gar nicht erforderlich, sich im Detail mit den Motiven zu befassen.
Aber es sollte unserer Auffassung nach durchaus manchmal etwas genauer hin-
gesehen, gefragt bzw. nachgefragt werden. Wir wollen an wenigen Beispielen il-
lustrieren, wie sich die Problemstellung konkret aufzeigen lässt. Nehmen wir zum
Beispiel einen Fall aus dem Jahre 2001. Tatort ist ein Plattenbau in der branden-
burgischen Kleinstadt Wittenberge. Einer der für das Sektionsgutachten verant-
wortlichen Rechtsmediziner untersucht die Leiche schon am Tatort. Das Gutach-
ten beginnt mit einer Beschreibung des Wohnhauses. U. a. ist hier zu lesen: „An
den Wänden im Treppenhaus mehrfache Darstellungen in Form spiegelverkehrter
Hakenkreuze.“ Im Tatortbericht der Polizei Àndet sich kein Hinweis darauf. Zwar
wird auf Schmierereien an der Wohnungstür und „blutfarbene Anhaftungen“ im
Treppenhaus eingegangen. Die Hakenkreuze werden jedoch nicht erwähnt. Es soll
hier nicht behauptet werden, dass damit ein politisches Motiv übersehen wurde,
Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg … 351

aber bemerkenswert bleibt die Notiz des Mediziners doch. Dem Tatortfundbericht
ist zu entnehmen, dass Arzt und Polizei zeitgleich im Haus waren.
Gelegentlich fehlt der Polizei offensichtlich auch der Überblick über rechts-
extreme Strukturen vor Ort. Z. B. wird bei einem Fall von mehreren Zeugen und
Beschuldigten ein Treffpunkt erwähnt, an dem man sich traf, um Alkohol zu trin-
ken und sich zu unterhalten. Die Information, dass es sich hier um einen zentralen
Neonazi-Treffpunkt gehandelt haben soll, Àndet sich allerdings nur in einer „Anti-
fa“-Broschüre. In den polizeilichen Ermittlungsakten Ànden sich keine derartigen
Hinweise.
Die Täterstruktur in den von uns untersuchten Fällen entspricht verbreiteten
allgemeinen Vorannahmen: Es handelt sich fast ausschließlich um männliche Ju-
gendliche, Heranwachsende und junge Erwachsene. Der Bildungsgrad ist in der
Regel niedrig, die Familienverhältnisse sind oft zerrüttet und gewaltbestimmt,
Alkoholmissbrauch spielt eine große Rolle. Sicherlich ist rechtsextreme Gewalt
weithin Jugendgewalt; dissoziale Persönlichkeitsstörungen spielen eine große Rol-
le. Doch dürfen diese Aspekte auch nicht überbetont werden.10 Bei einer Analyse
rechtsextremer Tötungsdelikte müssen selbstverständlich auch und insbesondere
die politischen Hintergründe und Bezüge angemessen berücksichtigt werden.
Dazu ein weiterer exemplarischer Fall aus Brandenburg: Auf dem Grundstück
eines älteren Ehepaars in Fürstenwalde treffen sich am 17. Juni 1993 mehrere Per-
sonen, um gemeinsam Alkohol zu trinken. Dabei gerät der Arbeitslose H. H. (geb.
1955) zunächst in einen Streit mit dem ABM-Beschäftigten P. A. (geb. 1970) und
dem Schüler M. K. (geb. 1977). Anschließend wird H. H. von den beiden Jüngeren
stundenlang brutal misshandelt, woran er letztendlich stirbt.
Das Opfer wird von beiden Tätern (insbesondere vor der Polizei und dem psy-
chologischen Gutachter) als „dreckiger Assi“ und „Schnorrer“ stigmatisiert. Dies
deutet auf eine sozialdarwinistische Motivation hin. Die Tatsache, dass der soziale
Status der Täter kaum höher einzuschätzen ist als der des Opfers, spricht u.E. nicht
gegen diese Annahme. Dass Angriffe auf sozial Benachteiligte von Tätern verübt
werden, die selbst sozial marginalisiert sind, ist keineswegs ungewöhnlich. „Dieser
Umstand verführt Behörden und Medien zu dem vorschnellen Schluss, der An-
griff sei eine ‚Milieu-Tat‘. Doch auch in einem solchen Fall ist […] das Weltbild
des oder der Täter_innen entscheidend“, schreibt auch Lucius Teidelbaum in seiner
Studie über Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus (Teidelbaum, 2013, S. 68).
Entscheidend ist offenbar auch, wie wir uns Rechtsextremisten vorstellen. So
vermissen manche Forscher ein geschlossenes, gar geschultes rechtsextremes

10 Dies geschieht u.E. z. B. bei Marneros (2005). Vgl. dazu die Kritik von Buschbom
(2013).
352 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz

Weltbild: „Eine gnosiologisch fundierte rechtsextremistische Ideologie“ sei bei


„rechtsextremistischen“ Gewalttätern „in der Regel nicht vorhanden“, konstatieren
Marneros, Steil und Galvao (2005, S. 434), „und wenn, dann nur in Áoskelhafter
oder gar skurriler Form“.11 In unserem erwähnten Fall sehen sich beide Täter selbst
aber klar als „Rechte“ und werden auch in ihrem Umfeld so wahrgenommen. Si-
cherlich verfügen sie über keine „intellektuelle“, „ausgefeilte“ Weltanschauung.
Die stigmatisierenden Äußerungen der Täter fallen allerdings sehr deutlich aus
(u. a. „der war schlecht, dreckig“, „ein niedriger Mensch, ein dreckiger Penner“)
und werden von ihnen auch wiederholt vorgetragen.12 Damit ist die Annahme einer
politischen Motivation nach unserer Auffassung gerechtfertigt. In der PMK-Statis-
tik ist dieser Fall bislang nicht enthalten.
Bei fast allen von uns untersuchten Fällen (auch bei den als „unpolitisch“ kate-
gorisierten) ist nachweisbar, dass die Täter über eine rechtsextreme Gesinnung
verfügten oder zumindest Kontakte zu rechtsextremen Cliquen (Skinheads) hat-
ten. Bei mehreren Fällen ist zwar eine unmittelbare Tatmotivation im Sinne einer
„rechtsextremen“, menschenverachtenden oder rassistischen Motivlage nicht direkt
nachweisbar. Gewaltneigung und Gewaltanwendung sind aber erkennbar durch die
Zugehörigkeit zu einer „rechten“ Clique bzw. die Übernahme rechtsextremer Ein-
stellungsmuster und Gesinnungen (z. B. Menschenbild, Gewalt als Problemlösung
…) mindestens mit begünstigt worden.13
Ein weiteres Beispiel: Am 11. März 1992 wird eine vierzehnjährige Schüle-
rin im Keller eines 10-stöckigen Neubauwohnhauses in Schwedt (Oder) von vier
Tätern brutal ermordet. Im Urteil des Bezirksgerichts Frankfurt (Oder) heißt es
dazu: „Über einen Zeitraum von etwa 5 Stunden haben sie mit immer neuen Stei-
gerungen [das Opfer / Anm. Verf.] roh zu Tode gequält.“ Der gemeinschaftliche
Mord wurde von drei Jugendlichen und einem jungen Erwachsenen aus Schwedt
begangen.
Dieser Fall wird bislang nicht in der PMK-Statistik aufgeführt. Auch aus unse-
rer Sicht war die Tat nicht politisch motiviert. Ausgelöst werden die Misshand-
lungen anscheinend durch einen BeziehungskonÁikt. Die weitere Eskalation des

11 Ähnlich: Marneros, Steil & Galvao, 2003, S. 383f.


12 Bezeichnenderweise äußert einer der Täter (M.K.) gegenüber dem psychologischen
Gutachter: „Einmal habe ich vor einem halben Jahr einen verdroschen, der mich als
Penner bezeichnete.“
13 Siehe auch Bericht zur Untersuchung ausgewählter Tötungsdelikte der Jahre 1993 bis
2008 in Sachsen-Anhalt (Ministerium für Inneres & Ministerium für Justiz, 2013).
Hier wird bei mehreren Fällen, die letztlich als nicht politisch motiviert gewertet wer-
den, immerhin die Argumentation angefügt, es sei aber möglich, dass die Brutalität
mit der rechtsextremen Gesinnung zusammenhänge.
Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg … 353

Tatgeschehens scheint intrinsisch motiviert. Gleichwohl heißt es in einem psycho-


logischen Gutachten14 über einen der Täter (M. C., geb. 1976):

„Seit der Wende fühlt der Jugendliche sich zu den Rechtsradikalen hingezogen. Er
ist Mitglied rechtsradikaler Skinheads. Er fühlt sich dem betont aggressiven Um-
gangsstil dieser Skinheadgruppierungen deutlich verpÁichtet und zeigt eine beson-
dere AfÀnität zu aggressiven Bewältigungs- und Lösungsmodalitäten. Er sieht kör-
perlich-aggressive Auseinandersetzungen als probates und legitimes Mittel sozialer
KonÁikt- und Problembewältigung an. Diese AfÀnität dürfte durch seine Hinwen-
dung zu rechtsradikalen Skinheadgruppierungen mitgeprägt sein.“

Der EinÁuss der Skinheadkultur in den 1990ern in kleineren Städten Ostdeutsch-


lands ist kaum zu überschätzen. Dies zeigt ein weiteres psychologisches Gutachten
zu diesem Fall, in dem es heißt, die Angeklagte J. S. (geb. 1976) sei „… Mitglied
von losen Cliquen bzw. Gruppierungen durchschnittlich 12-21-jähriger gewesen,
wobei sie mit älteren besser zurechtkäme, habe sich selbst den ‚Linken‘ verbunden
gefühlt, diese seien gegen die ‚Glatzen‘ eingestellt gewesen (‚weil die unschuldi-
ge Menschen verprügeln und Schutzgeld erpressen‘).“ Gleichwohl scheint sie die
Brutalität der Skinheads auch zu beeindrucken. „Ich wollte auch mal jemanden so
richtig verprügeln, wie das die Glatzen auch tun.“
Ähnlich kritisch äußert sich noch ein weiterer Täter (R. S., geb. 1970) über die
Skinheads. Im psychologischen Gutachten wird er wie folgt zitiert: „Ich Ànde sie
ganz große Scheiße, ich bin gegen so was, sollen sie doch die Ausländer in Ruhe
lassen und überhaupt.“ Trotz dieser Distanzierung scheint er aber deren brutale
Methoden durchaus zu schätzen: “… allerdings habe er auch einiges von den Skin-
heads abgesehen. Die würden mit schweren Stiefeln auf andere eintreten.“
Relevant sind rechtsextreme Einstellungen und Gruppenstrukturen insbesonde-
re auch deshalb, weil sie an den persönlichen und sozialen Problemen Jugendlicher
„andocken“ und deshalb für sie attraktiv werden. Dazu ein letztes Zitat aus einem
psychologischen Gutachten:

„Voller Wut und Ohnmachtsgefühle begann Herr B. eine Lehre, und nach seinem
Umzug in ein Lehrlingswohnheim, weg von der aggressiven Kontrolle durch den Va-
ter, fand er schnell Anschluss an eine Gruppe von jungen Leuten, die sich der rechten
Gesinnung zugetan fühlten und sich mit massivem Alkoholmissbrauch gegenseitig
die Erlaubnis gaben, Menschen auszurauben, zu prügeln und sogar zu töten. Dies
entwickelte sich als Freizeitverhalten und wurde der Langeweile und Ödnis ihres
sonstigen Daseins entgegengesetzt […].

14 Die Verfahrensunterlagen inkl. der psychologischen Gutachten liegen uns vollständig


vor. Aus Datenschutzgründen sind sie gleichwohl nicht allgemein zugänglich.
354 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz

Herr B. kann anschaulich beschreiben, wie sehr es ihm gefallen hat, als er bemerkte,
dass andere Menschen Angst bekamen, dass sie (die Gruppe) machen konnten, was
sie wollten und niemand in der Lage war, sie aufzuhalten. Er fühlte sich zum ersten
Mal in seinem Leben anerkannt, so akzeptiert wie er war und in einem Verbund
aufgenommen, der die familiären Bedürfnisse befriedigte. Er hatte die Opfergruppe
verlassen und war Mitglied einer Tätergruppe geworden.“

5 Zusammenfassung

Gegenüber den älteren an „Staatsschutz“ und „Extremismus“ orientierten DeÀ-


nitionsansätzen politischer Gewalt bzw. Kriminalität und den entsprechenden
polizeilichen Erfassungssystemen stellt das DeÀnitionssystem Politisch motivierte
Kriminalität (PMK) unzweifelhaft eine deutliche Verbesserung dar. Gleichwohl
stellt das Erkennen entsprechender Motivlagen bzw. Relevanzen weiterhin erheb-
liche Anforderungen an die Analysekompetenz der Polizei. Der Themenkomplex
PMK sollte somit in der Aus- und Fortbildung gebührend berücksichtigt werden.
Grundsätzlich sollte aber das polizeiliche Erfassungssystem nicht überbewertet
und mit Erwartungen überfrachtet werden. Es handelt sich um eine polizeiliche
Ersteinschätzung (Eingangsstatistik). Insofern sollte eine Einstufung einer Tat als
PMK-Tat eben noch kein Ausdruck einer „staatlichen Anerkennung“ sein oder so
gewertet werden.15
Es hat sich bei unserer Untersuchung allerdings gezeigt, dass Einstellungen,
Ideologien und Ideologiefragmente auch dann berücksichtigt werden müssen,
wenn sie die Tat eher nur begleiten und nicht konsistent greifbar sind, weil sie
trotzdem mögliche EinÁussfaktoren auf (Gewalt-)Handeln darstellen.
Es zeigte sich z. B. in mehreren Fällen, dass trotz Zugehörigkeit zu einem an-
scheinend gleichen Milieu doch „Ideologien der Ungleichwertigkeit“ wirksam
werden können, dass sich einzelne Individuen durch Herabwertung anderer, ver-
meintlich oder tatsächlich sozial noch schwächerer Personen aufwerten und dies
zur „Begründung“ für gewalttätiges Verhalten dient.
In anderen Fällen wurde deutlich, wie die in den 1990er Jahren omnipräsente
rechtsextreme Jugendkultur auch auf nicht-rechte Jugendliche ausstrahlte. So wur-

15 Die Gleichsetzung einer PMK-Einstufung mit staatlicher Anerkennung ist in der Lite-
ratur verbreitet vorzufinden. Allerdings zeigt die gelegentliche Praxis nachträglicher
Einstufungen, dass die PMK-Statistik doch keine reine Eingangsstatistik ist. Hier soll-
te über alternative Verfahren nachgedacht werden, um eine angemessene staatliche
Dokumentation von vorurteilsgeleiteten und politisch motivierten Straftaten zu ge-
währleisten (vgl. auch Fussnote 8).
Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg … 355

de gewalttätiges Handeln, da als erfolgreich beobachtet, als Verhaltensoption über-


nommen. Anders ausgedrückt: Die rechtsextreme Jugendszene beeinÁusste ganz
offensichtlich Wertvorstellungen und Handlungen auch von Jugendlichen, die sich
selbst der Szene nicht zurechneten.
Nach Durchsicht der Fallakten halten wir einen engen Motivbegriff für unge-
eignet, die oft komplexen und vielschichtigen Gewalttaten umfassend beschreiben
und erklären zu können. Man sollte vielleicht von der BegrifÁichkeit „motiviert“
Abstand nehmen, denn Motive sind schwer greifbar. Täter können eigenes Han-
deln nicht immer selbst konsistent begründen. Auf der anderen Seite können Täter
ihre Motivation auch verschleiern, um mögliche negative Konsequenzen zu mini-
mieren.
Insgesamt müssen die Theorien, DeÀnitionen und Erfassungskriterien, die den
Komplex der vorurteilsgeleiteten, der politisch motivierten und der Hasskriminali-
tät beschreiben, auf den Prüfstand. Dies ist zuvorderst eine wissenschaftliche und
politische Aufgabe, sie betrifft aber auch Polizei und Justiz.
356 Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz

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Demokratieferne Rebellionen

Pegida und die Renaissance völkischer


Verschwörungsphantasien

Samuel Salzborn

Es bedarf schon eines guten Gedächtnisses, um sich die Abkürzungen und Slo-
gans, unter denen das rassistische und verschwörungsphantastische Milieu in den
letzten Monaten auf die Straße gegangen ist, alle zu merken: Neben den HoGeSa
(„Hooligans gegen SalaÀsten“) und der Pegida („Patriotische Europäer Gegen
die Islamisierung des Abendlandes“) bildeten sich lokale Ableger, die unter Ab-
kürzungen wie Ogida, Rogida, Kagida, Saargida, Dügida, Kögida oder Bogida
operierten. Schon vor der ersten HoGeSa-Demonstration in Köln hatten sich in
separaten Mahnwachen prorussische und antiamerikanische Friedensbewegte re-
gelmäßig zu „Montagsdemonstrationen“, später dann für einen „Friedenswinter“
versammelt.
Überraschend an diesen Demonstrationen war weniger ihr fortwährender Eti-
kettenwechsel, sondern die scheinbar unvorhersehbare Menge an Menschen, die
an den Demonstrationen teilgenommen hat und deren Zahl regelmäßig in die
Tausende ging. Um die Dynamik der Ereignisse einordnen zu können, sollte man
aber nicht vorschnell der Marketingstrategie der Organisatoren folgen, nach der
sich „ganz normale Bürger“ versammelt hätten – denn es handelte sich vielmehr
um ein sehr speziÀsches Spektrum von Personen, das deshalb lange Zeit politisch
nicht mobilisierbar war, weil gerade sein Egoismus und sein demokratiefernes
Weltbild es daran gehindert hat, öffentlich in Erscheinung zu treten. Das politische
Klima und damit der Kontext, in dem sich diese Demonstrationen abspielen, hat
sich aber geändert, mit der „Alternative für Deutschland“ (AfD) ist eine Partei –
zumindest vorübergehend (Kurth & Salzborn, 2014) – bei Wahlen erfolgreich, die
genau dasselbe Klientel anspricht und insofern dazu motiviert, von ihren Stamm-

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_14, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
360 Samuel Salzborn

tischen aufzustehen und die Online-Kommentarspalten zu verlassen und sich in


die tatsächliche Wirklichkeit zu wagen (Salzborn, 2012, S. 114-117).

1 Protestmotivationen: Egoismus und Demokratieferne

Egoistisch ist der gegenwärtige Protest, weil es nicht ernsthaft um Angst vor etwas,
sondern um Angst um etwas geht: um die eigenen (gefühlten) Privilegien. Diese
Privilegien werden als gefährdet wahrgenommen und verbunden mit nationalem
Pathos, in dem eine Vielzahl der Demonstranten eigentlich nur deshalb Kritik an
der Politik formuliert, weil diese nicht die jeweils subjektiven, höchst persönlichen
Partikularinteressen durchsetzt. Diese nicht auf den wirklichen Lebensumständen,
sondern lediglich auf einer falschen Selbstwahrnehmung basierende Grundhal-
tung zeigte sich auch in den repräsentativen Daten des ARD-Deutschlandtrends
vom Januar 2015, in dem Pegida-Sympathisanten die Sicherheit ihrer persönlichen
Lebensumstände generell als signiÀkant schlechter wahrnehmen, als der Rest der
Bevölkerung.
Eine empirische Studie der TU Dresden unter Leitung von Hans Vorländer,
die im Dezember 2014 und Januar 2015 bei mehreren der Pegida-Veranstaltun-
gen erhoben wurde, zeigt, dass der „typische“ Pegida-Demonstrant aus der Mittel-
schicht kommt, gut ausgebildet ist und für die regionalen Verhältnisse über ein
leicht überdurchschnittliches Einkommen verfügt und berufstätig ist. Überdies ist
er 48 Jahre alt, männlich und religiös wie auch parteilich ungebunden. Nur ein
Viertel der Befragten ist dabei tatsächlich durch die Themenfelder „Islam, Islamis-
mus oder Islamisierung“ motiviert. (Vorländer, 2015) Eine explorative Studie des
Göttinger Instituts für Demokratieforschung unter Leitung von Franz Walter hat
diese Erkenntnisse grundsätzlich bestätigt und darüber hinaus gezeigt, dass die
politische Sympathie bei den Pegida-Anhängern in überwältigendem Maße bei der
AfD liegt. (Walter, 2015)
Und deshalb ist die besagte Klientel auch als demokratiefern zu bezeichnen:
Denn in einer Demokratie wird über InteressenkonÁikte gestritten und es ist nötig,
Mehrheiten zu erlangen, wenn man die eigenen Position umgesetzt sehen möchte.
Mit Meckern und Nörgeln kommt man nicht weit, das ewige Lamento von „denen
da oben“, die sowieso nur machten, was sie wollen, ist zugleich auch das Lamento
einer extrem politikfaulen Klientel, die sich bequem darin eingerichtet hat, selbst
nicht politisch aktiv werden zu müssen, in Parteien, Gewerkschaften oder anderen
Interessenorganisationen. Die Angebote, die auf den friedensapologetischen Ver-
schwörungsmahnwachen und den rassistischen Pegida-Demonstrationen gemacht
werden, versprechen nun aber den Teilnehmern etwas anderes: Durch ein punk-
Demokratieferne Rebellionen 361

tuelles Engagement „denen da oben“ einmal zu zeigen, dass „das Volk“ anders
denke – das bleibt freilich eine Lüge, weil ein paar Tausend Demonstranten immer
noch eine verschwindende Minderheit sind, die unbotmäßig viel mediale Auf-
merksamkeit bekommt und die, mit dem Zeitpunkt, an dem die Aufmerksamkeit
nachlassen wird, in ihre Verschwörungsmuster zurückfallen wird, nach denen nun
eben ihre Meinung wieder nicht repräsentiert sei.
Den Zulauf, den die Demonstrationen zur Zeit haben, erklärt also nicht nur ihr
Inhalt, sondern mehr noch ihr Kontext: die Angst vor Krieg und Terrorismus in
der Bevölkerung ist groß, das Thema ist politisch und medial generell auch ohne
Pegida sehr präsent, so dass gegenwärtig auch noch so verrückte Anliegen als
weniger verrückt erscheinen, weil sie sich im Fahrwasser einer allgemeinen Be-
sorgtheit bewegen. Und dabei gibt es die Demonstrationen gegen „Überfremdung“
oder „Islamisierung“ seit Jahren und auch die antiamerikanische und prorussische
Stoßrichtung der deutschen Friedensbewegung war schon in den 1980er Jahren
groß (Herzinger & Stein, 1995). Das von Pegida verwandte Schlagwort „Islami-
sierung“ ist dabei lediglich ein Vorwand, um rassistische und völkische Positionen
wieder öffentlich zu platzieren (Salzborn, 2014). Außerdem darf man nicht ver-
gessen: die rechte Szene hat gerade in Sachsen in den letzten Jahren immer wieder
in ähnlicher Größenordnung mobilisieren können und auch die rechtsextremen
Demonstrationen gegen die Wehrmachtsausstellung in den 1990er Jahren gingen
in die Tausende, was die Teilnehmerzahlen angeht. Und allein in Dresden, dem
Kristallisationspunkt der rassistischen Pegida-Bewegung, kamen NPD und AfD
bei der letzten Landtagswahl im August 2014 zusammen auf 27.861 Zweitstimmen
(Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen, 2014).
Nun ist sicher richtig, dass nicht jeder, der an diesen Demonstrationen teil-
nimmt, ein Neonazi ist (auch wenn aus diesem Milieu stark mobilisiert und teil-
genommen wird); gleichwohl zeigt sich gegenwärtig das tatsächliche Mobilisie-
rungspotenzial, das die rechte und antidemokratische Szene in der Bundesrepublik
hat: Zusammengesetzt aus einem russlandnahen, antisemitischen und antiameri-
kanischen Friedensbewegungsspektrum, das sich selbst oft sogar als links versteht
und einem offen rassistischen Milieu mit kriminellen Tendenzen, die sich nicht nur
bei dem einschlägig vorbestraften Hauptorganisator der Pegida-Bewegung zeigen,
sondern sich auch massenhaft im gesamten Hooligan-Milieu Ànden. Ein wichtiger
Unterschied zwischen beiden Spektren ist dabei allerdings ihre soziale Heteroge-
nität: Während die antiamerikanischen Friedensdemonstrationen eine erhebliche
Zugkraft auf gesellschaftlich tendenziell desintegrierte Personen ausüben, wird
der rassistische Pegida-Protest getragen von sozial mehr oder weniger etablierten
und situierten Personen, die um den Verlust ihres sozialen Status fürchten, ohne
dass dieser wirklich bedroht wäre. Eine FoLL-Studie an der Georg-August-Uni-
362 Samuel Salzborn

versität Göttingen (Büdenbender, Uhlemann, Drögemeier, Eisen & Weiss, 2014)


konnte dabei zeigen, dass bei den Friedensdemonstrationen ein erhebliches Mo-
ment der sozialen Integration darin besteht, dass ihre Teilnehmer – oft: erstmalig
in ihrem Leben – bei der Teilnahme nicht mehr das Gefühl haben, „der Spinner“
zu sein, sondern sich mit zahlreichen Gleichgesinnten zusammenÀnden und inso-
fern ihre objektiv nach wie vor bestehende Verrücktheit nun allein dadurch, dass
sie sozial geteilt wird, nicht mehr als solche empÀnden und dadurch auch emotio-
nal gestärkt werden.

2 Das Weltbild der Verschwörungsängste

Das Moment des Verschwörungsglaubens verbindet denn auch weltanschaulich


beide Flügel der aktuellen Demonstrationen: die einen glauben an eine Verschwö-
rung internationaler Mächte, die anderen an die einer multikulturellen Gesellschaft,
beide phantasieren geheime Aktivitäten von Politik und Medien, die angeblich den
Protest „des Volkes“ begrenze oder unterdrücke, wobei den Sicherheitsbehörden
jeweils eine zentrale Rolle zugesprochen wird, weil sie entweder nicht (angemes-
sen) handeln oder weil sie den Protest zu limitieren versuchen würden. Während
demokratische Medien dabei als „Lügenpresse“ verunglimpft werden, nur weil
sie die rassistischen Partikularinteressen eben auch als solche benennen, werden
Propagandamedien wie dubiose Internetblogs oder das russische Fernsehen glori-
Àziert – weil sie den eigenen Wahn zur Wahrheit erklären.
Die konkreten Verschwörungsmythen werden dabei fast so schnell produziert,
wie die Ereignisse stattÀnden – was mit der Logik der Verschwörung zu tun hat:
Sie bedarf keiner Fakten, keiner Realität, keiner Wirklichkeit außer ihrer selbst,
um zu funktionieren. Es bedarf stets nur eines Anlasses, nicht einer Ursache, da-
mit Verschwörungsphantasien formuliert werden – denn ihre jeweils eigene her-
metische Wahnwelt funktioniert in ihrer Struktur ganz unabhängig von der Wirk-
lichkeit, da sie in keiner Weise an empirische oder historische Fakten gebunden
ist, sondern lediglich mit einem Phantasieweltbild korrespondiert, das jederzeit
reformulierbar, jederzeit reproduzierbar und damit auch jederzeit in Variationen
abrufbar ist.
Kaum ein politisches Ereignis bleibt frei von entsprechenden Verschwörungs-
mythen – mögen es so offensichtlich verrückte Ideen wie der EinÁuss von außer-
irdischen Lebensformen auf die Weltpolitik sein oder auch die zahlreichen, bis
ins minutiöse Detail ausphantasierten Wahnvorstellungen über die amerikanische
Politik, insbesondere im Kontext mit dem internationalen Terrorismus (Beyer,
2014; Jaecker, 2014). Selbst nach den islamistischen Terroranschlägen in Paris im
Demokratieferne Rebellionen 363

Januar dieses Jahres dauerte es nur Stunden, bis dubiose Internetblogs voll waren
mit antiamerikanischen und antisemitischen Verschwörungsmythen rund um die
Anschläge. Aber auch der Glaube an eine „Islamisierung des Abendlandes“ gehört
zu diesen Mythen, denn sind die Migrationsprozesse in Deutschland gegenwär-
tig zwar wieder deutlich wahrnehmbarer, aber doch sowohl im Vergleich mit den
1990er Jahren wie auch mit der Aufnahme von Flüchtlingen durch andere, beson-
ders außereuropäische Staaten als vergleichsweise gering zu bewerten.
Verschwörungsmythen werden dabei geglaubt, nicht obwohl, sondern weil sie
erfunden sind und weil sie im Widerspruch zu allen Erkenntnissen stehen, die mit
der Realität korrespondieren. Deshalb wird es auch nicht möglich sein, dem An-
hänger einer Verschwörungsphantasie diese individuell zu widerlegen: Er glaubt
sie, weil sie irrational ist – und jeder Beleg dieser Irrationalität wird wieder in das
Wahnweltbild des großen Verschwörungsglaubens integriert. Genau deshalb bleibt
die aktive Beteiligung an den gegenwärtigen Demonstrationen und Mahnwachen
auch relativ konstant: weil sie den Teilnehmern die Möglichkeit gibt, in einem
Weltbild, mit dem sie in ihrem normalen Leben als verrückt gelten, sozial und
emotional durch die Verbindung mit anderen stabilisiert zu werden.
Dabei geht es um Phantasien von einer regredierten Welt, dem Traum von
einem harmonischen und widerspruchsfreien Selbst, in dem alles nur einer Logik
gehorcht, nämlich der eigenen – keine Widersprüche, keine Ambivalenzen, nur
Identität. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud (1900, S. 625) hat das begrifÁich
in der Unterscheidung von „materieller Realität“ und „psychischer Realität“ ge-
fasst – die Verschwörungsphantasien als psychische Realität sind dabei nahezu
hermetisch von der materiellen Realität abgekoppelt: als Wahnvorstellungen, die
einer identitären und widerspruchsfreien Logik folgen, die nur in der Logik der
jeweils eigenen Psyche funktioniert. Alles kreist um das überhöhte Selbst, das sich
dem egoistischen Größenwahn hemmungslos hingibt, aus sich selbst heraus die
Welt zu deuten. (Salzborn, 2010, S. 317-342) Nur, und das macht den aggressiven
Zorn vieler Verschwörungsphantasien aus, dass die Welt sich fortwährend nicht so
verhält, wie es der Verschwörungsanhänger gern hätte, dass ihm niemand glaubt,
wo doch er – und nur er – es besser weiß als alle anderen.

3 Strategien des Umgangs

Auch wenn verständlich ist, dass manche sagen, man müsse die Sorgen, die die
Menschen bei diesen Demonstrationen umtreiben, ernst nehmen, darf man dabei
einen Fehler nicht machen: die Demonstranten sorgen sich nicht um wirkliche
politische oder gesellschaftliche Probleme, sie sorgen sich ausschließlich um sich
364 Samuel Salzborn

selbst. Die Probleme und Ängste, die sie haben, mögen real sein – eine ernst-
hafte Grundlage und damit Berechtigung haben sie nicht. Der Fehler liegt nicht
im politischen System, sondern bei den Demonstranten, genauer gesagt: bei ihrer
Demokratieferne. Sie haben nicht verstanden, dass Demokratie die Herrschaft des
Volkes ist, bei dem Mehrheiten auf der Basis von Wahlen entscheiden – und nicht
diejenige, die glauben, sie würden den „Volkswillen“ nur deshalb vertreten, weil
sie es immer wieder behaupten (Salzborn, 2015). Deshalb ist genau die umgekehr-
te Konsequenz politisch geboten: Nicht den Forderungen der Demonstranten nach-
zugeben, sondern ihnen mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten. Auch diese
Menschen können verstehen lernen, dass nicht ihr egoistischer Wille in der Politik
umgesetzt wird, sondern das, was in langwierigen und debattenintensiven politi-
schen Prozessen ausgehandelt wird. Demokratie ist Repräsentation – was aktuell
auf die Straße getragen wird, ist nicht der Protest für mehr oder bessere Demo-
kratie, sondern der Protest gegen die Demokratie – und dafür, dass diejenigen, die
dort demonstrieren, selbst die Macht haben wollen, ihre egoistischen Partikularin-
teressen als Gemeinwohl zu verkaufen. Dass das eine Lüge ist, ist jedem klar – in-
sofern darf nicht verwechselt werden, dass der Protest auf der Straße nicht weniger
ist als ein verschwörerischer und rassistischer Protest gegen die Demokratie und
ihre Organe.
Wer heute als Rassist auf die Straße geht und sich gegen die Gefahren von
Islamisierung und SalaÀsmus wendet, kann sich sicher sein, dass er damit gegen
ein Thema protestiert, das tatsächlich vielen Menschen Angst macht, weil der Is-
lamismus fraglos eine massive Bedrohung der offenen Gesellschaft und der indi-
viduellen Freiheiten, wie sie die westlichen Demokratien versprechen und weit-
gehend garantieren, darstellt. Bisher gelingt es aber den Sicherheitsbehörden in
Deutschland relativ erfolgreich, die realen Gefahren, die von radikalen Islamis-
ten in Deutschland ausgehen, abzuwägen und gegen sie vorzugehen – was Fehler
und Mängel keineswegs schönreden soll. Eine „Islamisierung des Abendlandes“
ist jedoch eine freie ErÀndung, sie ist ein apokalyptisches Szenario, dass die Ge-
dankenwelt der Weimarer Republik wieder aufruft – als Oswald Spengler (1918,
1922) mit seinem zweibändigen Werk über den „Untergang des Abendlandes“ die
irrationalen Ängste mobilisierte, die den Aufstieg des Nationalsozialismus ermög-
lichten. Und genau das ist das Ziel der Gruppen, die heute als Pegida – oder mit
welchen Abkürzungen auch immer – durch die Straßen ziehen: die Formulierung
von apokalyptischen, ausweglosen Szenarien, in denen scheinbar nicht mehr ab-
gewogen und debattiert werden kann, sondern es einer entschlossenen und harten
Entscheidung bedürfe.
Der rassistische Ruf gegen eine „Islamisierung des Abendlandes“ ist in Wahr-
heit der Ruf nach einer antidemokratischen und autoritären Lösung eines Prob-
Demokratieferne Rebellionen 365

lems, das nur in den Ängsten und Phantasien seiner Anhänger besteht. Das Para-
doxe daran ist: die Anhänger der Pegida-Slogans sind mit ihrem autoritären und
gegenaufklärerischem Weltbild gar nicht so weit vom Islamismus entfernt, sie sind
Brüder im Geiste, die sich aber trotzdem bekämpfen, weil sie um einen Vorherr-
schaftsanspruch miteinander streiten. Insofern ist auch die alte Forderung gewerk-
schaftlicher und anderer Bildungsarbeit, nach der Menschen dort abgeholt werden
müssten, wo sie stehen, im aktuellen Fall völlig falsch, denn sie stehen an einem
antidemokratischen Ort, der allein schon deshalb nicht in die demokratische De-
batte integriert werden kann, weil seine Kernforderungen antidemokratisch sind.
366 Samuel Salzborn

Literatur
ARD-DeutschlandTREND EXTRA nach dem Anschlag in Paris 8. Januar 2015. Eine Stu-
die im Auftrag der tagesthemen.
Beyer, H. (2014). Soziologie des Antiamerikanismus. Zur Theorie und Wirkmächtigkeit
spätmodernen Unbehagens. Campus: Frankfurt
Büdenbender, M., Uhlemann, N., Drögemeier, L., Eisen, S., & Weiss, S. (2014). Verschwö-
rungstheoretisches Denken auf Mahnwachen für den Frieden. Mechanismen der Wirk-
lichkeitskonstruktion? Ergebnispräsentation des FoLL-Projekts aus dem Wintersemester
2013/14. Göttingen: Georg-August-Universität.
Freud, S. (1900): Die Traumdeutung. Gesammelte Werke Bd. II/III. Frankfurt: Fischer Ta-
schenbuch Verlag.
Herzinger, R. & Stein, H. (1995). Endzeit-Propheten oder Die Offensive der Antiwestler.
Fundamentalismus, Antiamerikanismus und Neue Rechte. Rowohlt: Reinbek beim Ham-
burg.
Jaecker, T. (2014). Hass, Neid, Wahn. Antiamerikanismus in den deutschen Medien. Cam-
pus: Frankfurt.
Kurth, A. & Salzborn, S. (2014). Türöffnerin nach Rechts: Die „Alternative für Deutsch-
land“. Gegenblende. Das gewerkschaftliche Debattenmagazin 28 (Juli/August).
Salzborn, S. (2010). Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissen-
schaftliche Theorien im Vergleich. Frankfurt: Campus.
Salzborn, S. (2012). Demokratie. Theorien, Formen, Entwicklungen. Baden-Baden: No-
mos/UTB.
Salzborn, S. (2014). Rechtsextremismus. Erscheinungsformen und Erklärungsansätze. Ba-
den-Baden: Nomos/UTB.
Salzborn, S. (2015). Schmitt, Rousseau und das Paradox des Volkswillens. In R. Voigt
(Hrsg.), Legalität ohne Legitimität? Carl Schmitts Kategorie der Legitimität (S. 53–75).
Wiesbaden: Springer VS.
Spengler, O. (1918/1922). Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie
der Weltgeschichte (2 Bde.). Wien/Leipzig: Braumüller 1918 (Bd. 1) & München: Beck
1922 (Bd. 2).
Vorländer, H. (2015). Wer geht warum zu PEGIDA-Demonstrationen? Präsentation der
ersten empirischen Umfrage unter PEGIDA-Teilnehmern. Dresden: TU.
Walter, F. (2015). Aktuelle Forschungsergebnisse zu den Pegida-Protesten. Göttinger Insti-
tut für Demokratieforschung: Zugriff am 28. Januar 2015 http://www.demokratie-goet-
tingen.de/blog/studie-zu-pegida
Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen (2014): Landtagswahl 2014 / Wahlkreis-
ergebnis. Zugriff am 20. Dezember 2014 http://www.statistik.sachsen.de/wpr_neu/pkg_
s10_nav.prc_nav_karten?p_thema=114306423&p_nav_ebene=1&p_bzid=LW14&p_
ebene_ort=SN*14&p_klapp=Wahlergebnisse
Lachen gegen den Ungeist?

Zum Potenzial des politischen Kabaretts am Beispiel


der Thematisierung des „NSU“-Diskurses

Frank Schilden

1 Einleitung

Eine rassistische Mordserie und Kabarett – passt das zusammen? Ja, sogar un-
bedingt! Es wäre sogar ein schlechtes Zeichen, wenn die rassistischen Morde des
„NSU“ und der Umgang mit diesen in der Öffentlichkeit, der Politik und den zu-
ständigen Behörden nicht vom zeitgenössischen Politischen Kabarett thematisiert
und satirisch überformt werden würden. Ziel dieses Beitrags ist es, zu Beginn den
Mythos der alles dürfenden Satire mindestens zu relativieren, zu erklären und in
den entsprechenden Kontext zu rücken. Danach werden die Begriffe Kabarett und
Politisches Kabarett kurz deÀniert und differenziert, bevor angedeutet werden
soll, wie Kabarett, wenn es Politik und Öffentlichkeit thematisiert, funktioniert.
Aus linguistischer Perspektive soll dann mit Verweisen auf Metasprachliches, vor
allem auf die Thematisierung von Argumentationen aus dem öffentlichen Raum,
eine besondere Spielart kabarettistischer Vorträge am Beispiel der Thematisierung
des „NSU“ im Kabarett aufgezeigt werden. Eine ReÁexion über das aufklärerische
und didaktische Potenzial von Kabarett schließt den Beitrag ab.

2 Satire darf alles, wenn sie Satire ist.

Abhandlungen und Texte über Satire, Witz, Humor oder Kabarett beginnen häu-
Àg mit einem Zitat von Tucholsky. Auch im öffentlichen Diskurs zu Fragen der
Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit beruft man sich gerne auf Tucholsky. HäuÀg

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_15, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
368 Frank Schilden

zu Recht, manchmal aber auch nicht1. Tucholsky beantwortet seine Frage, „Was
darf die Satire?“, zwar kurzum mit „Alles“ (Tucholsky, 1919a), aber ganz so ein-
fach ist es bei Tucholsky nicht. Es kommt darauf an, was Satire überhaupt ist,
und Tucholsky argumentiert vor allem aus der Warte der Funktion von Satire. Mit
anderen Worten: Satire darf eben dann alles, wenn sie die Funktion satirischer
Texte bzw. Überformungen erfüllt. Besonders bei der Annäherung an Tabuthemen
manifestiert sich dieses Spannungsverhältnis im öffentlichen Diskurs: vermeintli-
che Mohammed-Karikaturen, den Papst herabsetzende Darstellungen der Titanic,
Dieter Nuhrs Ausführungen zum Islam, vulgäre Aussagen von Serdar Somuncu.
Satire im Sinne Tucholskys geht es nicht um bloße Provokation oder oberÁächli-
che Beleidigung, „Satire beißt, lacht, pfeift und trommelt die große, bunte Lands-
knechtstrommel gegen alles, was stockt und träge ist“, sie kämpft „um des Guten
willen“, sie hat „die Berechtigung, die Zeit zu peitschen“ (Tucholsky, 1919a, Her-
vorhebung von mir, F.S.). Auch mögliche Mittel benennt Tucholsky klar: Satire
muss übertreiben, die Wahrheit aufblasen und dabei eben auch zum Ziele der Zeit-
kritik „ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht“ sein. Was soll der Effekt der Satire
sein? Hier formuliert Tucholsky: „Die echte Satire ist blutreinigend“. Worum es
Tucholsky hier geht, ist eine Abkehr von dem negativen Verständnis von Satire,
dem bloßen Dagegen-Sein, hin zu einem positiven Verständnis: Ziel ist nicht das
Dagegen, sondern das Für-etwas-anderes-Sein, „Politische Satire steht immer in
der Opposition“ – Mittel ist wiederum die aufgeblasene Wahrheit (in den Augen
des Satirikers). „[D]er Satiriker […] verallgemeinert und malt Fratzen an die Wand
und sagt einem ganzen Stand die Sünden einzelner nach, weil sie typisch sind,
und übertreibt und verkleinert“ (Tucholsky, 1919b) im Dienste dessen, was er, der
Satiriker, oder sie, die Satirikerin, für richtig hält.
Wendet man diese etwas differenzierteren Ausführungen Tucholskys auf die
oben beispielhaft benannten Satire-Beispiele an, dürfte klar sein, dass die Mo-
hammed-Karikaturen, die noch immer auf rechten bzw. rechtsextremen Demons-
trationen oder Kundgebungen unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit gezeigt
werden, dem Anspruch „echter Satire“ im Sinne Tucholskys nicht gerecht werden
können, es ist reines Dagegen. Sie ist dort eben nicht Mittel, die Zeit zu peitschen,
sondern Effekthascherei. Eine ähnliche Karikatur kann in einem anderen Kontext
aber sehr wohl „echte“ Satire zum Ziele der Zeitkritik sein. Vor allem die Karika-
turen, die französische Karikaturistinnen und Karikaturisten nach dem schreckli-
chen Terroranschlag auf den Sitz des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo
in Paris veröffentlicht haben, sind ein schönes Beispiel dafür – vor allem weil sie

1 Zum Verhältnis der Grundrechte im Kontext von Satire vgl. die interessanten Ausfüh-
rungen von Schröder (2007) und Gärtner (2009).
Lachen gegen den Ungeist? 369

auch thematisieren, dass sich die Pegida2-Bewegung eben dieses Attentat politisch
zu Nutze macht.

3 Das Verhältnis von Satire und (Politischem) Kabarett

Bislang wurde Satire hier nicht wissenschaftlich deÀniert und – an den Beispielen
ablesbar – für unterschiedliche mediale Realisierungen von Satire, nämlich Bilder,
schriftliche Texte und mündlich realisierte Texte, als Oberkategorie gebraucht. Soll
Satire deÀniert werden, so sollte man nach Breinig von ihrer „soziale[n] Funktion,
Aggression und ästhetische[n] Vermittlung“ ausgehen (Breinig, 1984). Auch Mey-
er-Sickendieck (2007) sieht in dem modernen Satire-Begriff keine Gattungsbe-
zeichnung, sondern vielmehr die Oberbezeichnung für „von aggressiv-ironischer
Rhetorik geprägte ästhetische Werke“, die der „Verspottung des Lasters, im Unter-
schied zur Verspottung konkreter Einzelpersonen“, dient. Budzinski (1985) führt
weiter aus, dass Satire „mit Mitteln des Komischen als negativ empfundene gesell-
schaftliche und politische Zustände und Konventionen“ übertrieben aggressiv und
ironisch darstellt, um damit VerwerÁiches darzustellen.
Satire ist also der Überbegriff für aggressive Zeitkritik, Verspottung des Las-
ters, nicht des Einzelnen, in ästhetischem Gewand. Die unterschiedlichen medialen
Vermittlungen und Stilmittel (Parodie, Ironie, Sarkasmus usw.) Ànden sich in der
Form der ästhetischen Vermittlung wieder. Eine dieser ästhetischen Vermittlungen
ist die vor einem real fassbaren (und zusätzlich einem möglichen TV-, Internet-
oder Rundfunk-)Publikum auf die Bühne gebrachte Form, die ich im Folgenden
mit Kabarett bezeichnen werde. Die große Schnittmenge zwischen dem, was die
Begriffe Kabarett und Satire bezeichnen, spiegelt sich nicht nur in der spannend
ähnlichen Etymologie der beiden Begriffe wider3. Auch im deÀnitorischen Kern
sind Satire und Kabarett recht nah beieinander, bei beiden Begriffen spielt die
Zeitkritik, also die (gesellschaftliche) Funktion, eine entscheidende Rolle: „Kaba-
rett […] ist ein zeitlich und örtlich begrenztes Miteinander verschiedener Kunst-
formen […] zum Zwecke leichter und teilweise oder durchgehend zeitkritischer
Unterhaltung, […] die sich kritisch mit Zeiterscheinungen und deren Exponenten
im öffentlichen Leben auseinandersetzt (Budzinski, 1985). In diesem Sinne kann

2 Abkürzungen der Gruppierung „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des


Abendlandes“.
3 Satire von lanx satura (lat.) = Schüssel mit vermischtem Inhalt (vgl. Panagl, 2004);
Kabarett von cabaret (frz.) = a) Kneipe, Schenke; b) Kneipen, in denen Speiseplatten
mit Schüsseln unterschiedlichen Inhalts serviert wurden (vgl. Rothlauf, 1994).
370 Frank Schilden

„Kabarett eine pädagogische Institution unserer demokratisch-pluralistischen Ge-


sellschaft sein“ (Henningsen, 1967). Auch Buring (2007) ordnet „Kabarett als
Instrument der politischen Bildung“ ein. Appignanesi bezeichnet dahingehend
Kabarett sogar als ein Medium mit berichtender und kritischer gesellschaftlicher
Funktion (vgl. Appignanesi, 1976). Hauptmerkmal ist dabei nach Fleischer Mul-
timodalität (vgl. Fleischer, 1989): Es gibt verschiedene Kommunikationsebenen,
Tanz, Verkleidung, Einsatz von White Boards, Videos oder Bildern. Auch neuere
Publikationen argumentieren ähnlich und ich pÁichte bei, dass „Kabarett aufklä-
ren will, die Meinungsbildung der Zuschauer beeinÁussen will, sogar eine politi-
sche Kontrollfunktion ausübt“ (Reinhard, 2006). Kabarett hat also aufklärerische
Funktion, ist investigativ, aggressiv, kritisch einem Laster gegenüber.
Die Frage, wie diese Zeitkritik funktioniert, ist damit noch nicht beantwortet,
dazu komme ich später. Neben der gemeinsamen Funktion von Satire und Kabarett
Àndet sich in Budzinskis DeÀnition aber auch ein Differenzierungsmerkmal: Klas-
sisches Kabarett ist örtlich und zeitlich begrenzt, Àndet auf einer Bühne, in einer
bestimmten Stadt, an einem Abend, zu einem bestimmten Zeitpunkt, vor einem
bestimmten Publikum statt. Ein satirischer Text ist ein satirischer Text, bspw. Or-
wells Animal Farm, ein satirischer Film ist ein satirischer Film, bspw. Chaplins
Great Dictator, – ganz unabhängig vom Rezeptionszeitpunkt. Ein satirischer Text,
der in einem Bühnenprogramm dargeboten wird, wird in diesem Moment Teil des
kabarettistischen Programms. Nach der Performance ist er wieder ein satirischer
Text. Kabarett ist demnach auf die Bühne gebrachter satirischer Inhalt, aber nicht
jeder satirische Inhalt ist gleich kabarettistisch.
Die Entwicklung hin zum Medien- und damit Massenkabarett, das z. B. von den
öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ausgestrahlt wird, damit aber keinesfalls
das „klassische“ Bühnenkabarett abgelöst hat, hat die von Budzinski angeführte
Differenzierungsmöglichkeit der örtlichen und zeitlichen Begrenzung ein wenig
aufgeweicht: Durch die Ausstrahlung im Rundfunk oder durch Internetdienste
oder die Speicherung auf Onlineportalen wie Youtube wird der kabarettistische
Vortrag an ein dispersives Publikum indirekt durch ein Massenmedium vermittelt
(vgl. Maletzke, 1998), es wäre also nicht mehr zeitlich und räumlich begrenzt.
Allerdings ist der entscheidende Punkt für die KabarettdeÀnition die Möglichkeit
der Interaktion mit einem Publikum (vgl. Pschibl, 2008), es ist also für den Vortrag
erst einmal entscheidend, ob ein fassbares Publikum während des Vortrags anwe-
send ist (wie es bspw. auch bei den Mitternachtsspitzen, Die Anstalt, dem Satire
Gipfel usw. der Fall ist), und nicht, ob eventuell ein weiteres nicht berechenbares
Publikum andernorts gleichzeitig oder zu einem anderen Zeitpunkt auch rezipiert.
Dass die Rezeptionssituation in diesen Fällen eine andere ist, dürfte allerdings
klar sein.
Lachen gegen den Ungeist? 371

Wellstein (2007) ordnet Comedy, Intellektuelle Satire, Polit-Klamauk und Poli-


tisches Kabarett mittels der Merkmale „Kritischer Anspruch“ und „Politischer
Bezug“ an (Abbildung 1).

Abbildung 1 Politisches Kabarett (nach Wellstein, 2007)

Sind beide Merkmale in einem vorgetragenen Text wenig ausgeprägt, handelt es


sich demnach um C omedy. Ist lediglich der politische Bezug zur Unterhaltung
stark ausgeprägt, liegt Polit-Klamauk vor, bei einer einseitig starken Ausprägung
des kritischen Anspruchs ist es ein Vortrag Intellektueller Satire. Sind beide Merk-
male stark vorhanden, handelt es sich nach Wellstein um Politisches Kabarett. Die-
ses Modell ist aus mehreren Perspektiven problematisch. Zum einen trennt Well-
stein nicht nach dem Produkt und nach Vortrag des Produkts, sodass sich Satire in
seinem Modell auf derselben Ebene beÀndet wie Kabarett. Bezieht sich Wellstein
hier auf den Vortrag, wäre eine Differenzierung von Kabarett und Politischem Ka-
barett anstatt der Trennung Intellektuelle Satire versus Politisches Kabarett mittels
der gewählten Merkmale zumindest ebenenkonstant. Zum anderen ist unklar, an
welcher Stelle das Maß an kritischem Anspruch und politischem Bezug erreicht
ist, um von Satire und nicht von Comedy und von Kabarett und nicht von Polit-
Klamauk zu sprechen. Außerdem wirkt die Einteilung so, als könne ein vollständi-
ger Vortrag immer genau einer Kategorie zugewiesen werden. Die Beispiele Dieter
Nuhr und im Besonderen Serdar Somuncu, Oliver Kalkofe oder Carolin Kebekus
zeigen, dass dies mitnichten so ist, es handelt sich um ein prototypisch zu lesendes
Modell. Innerhalb eines Programms können Texte aus verschiedenen Kategorien
vorgetragen werden. Allerdings helfen Wellstein die Merkmale bei einer Katego-
risierung von Politischem Kabarett (wenn auch nicht bei der Differenzierung und
der Beschreibung des Verhältnisses von Kabarett und Satire). Auch Wellstein sieht
372 Frank Schilden

im Merkmal der Kritik bei politischem Bezug und daraus resultierender Aufklä-
rung das klare Ziel von Politischem Kabarett, „Missstände zu thematisieren und
aufzudecken und Erkenntnis im Publikum zu fördern“ (Wellstein, 2007).

4 Linguistisches Verständnis von Politik

Im Weiteren soll hier das Merkmal des politischen Bezugs ein wenig diskutiert
werden. Wellstein weist darauf hin, dass man Politik eng, aber auch weit fassen
kann. Darin sind sich auch Linguistinnen und Linguisten, die sich mit dem Ver-
hältnis von Sprache und Politik befassen, weitestgehend einig (vgl. z. B. C arius
& Schröter, 2009; Niehr, 2014). In einem engen Politikverständnis stehen die
sprachlichen Handlungen von Trägern und Trägerinnen politischer Ämter – vom
Staatsoberhaupt bis zu „Hinterbänklern“ – im Vordergrund sowie die Bekannt-
machungen von politischen Parteien (Partei-, Wahl- oder Grundsatzprogramme,
Wahlkampfmittel etc.). Diese Äußerungen können zum einen an die Öffentlich-
keit gerichtet sein, zum anderen kann aber auch die fachsprachliche Betrachtung
in bspw. Kommissionen Kern der Betrachtung sein. Bei einem weiteren Politik-
verständnis kommt die öffentliche Kommunikation über Politik in den Massen-
medien, wie politischer Journalismus oder Auftritte in Polit-Talkshows, mit hinzu,
während ein weites Politikverständnis „auch das Reden aller Mitglieder der Ge-
sellschaft über Politik“ miteinbezieht (Carius & Schröter, 2009). Das zieht somit
die Äußerungen von bspw. Lobbyverbänden, Personen oder Gruppen des öffentli-
chen Interesses (z. B. Thilo Sarrazin oder die Toten Hosen) mit in die Betrachtung
ein. Abbildung 2 stellt die Gegenstandsbereiche der linguistischen Betrachtung
von Politik unter dem Oberbegriff politische Sprache nach Burkhardt (1996) dar:

Abbildung 2 Gegenstandsbereiche der Politolinguistik (Burkhardt, 1996)

Die idealtypische Einteilung von Burkhardt ist für diesen Kontext zweifach inter-
essant. Zum einen verdeutlicht sie, warum Kabarett mit politischem Bezug für die
Linguistik interessant ist, es gehört zum halböffentlichen Bereich des Sprechens
über Politik und thematisiert wiederum politische Mediensprache, Politikerspra-
Lachen gegen den Ungeist? 373

che, mittels derer sich Politiker und Politikerinnen oder Parteien zum Erzeugen
von Zustimmungsbereitschaft (vgl. Niehr, 2014) an eine breite Öffentlichkeit rich-
ten, und die Sprache in der Politik, die den eher fachsprachlichen Bereich abdeckt.
Zum anderen ist die kleine Präposition über hier interessant, denn sie offenbart
eine stilistische Eigenschaft des Politischen Kabaretts, die dadurch erklärbar
wird: Das Sprechen über Sprechen bzw. Sprache – Metasprache (vgl. Schiewe &
Wengeler, 2005). Walther Dieckmann hat bereits 1969 in Anlehnung an Lexikon-
DeÀnitionen Politik aus linguistischer Perspektive deÀniert als „staatliches oder
auf den Staat bezogenes Sprechen [sprachlichen Handeln, F.S.]“ (Dieckmann,
1975). Heiko Girnth formuliert den Zusammenhang zwischen Sprache und Poli-
tik so, dass Sprache nicht einfach ein Mittel im politischen Diskurs ist, sondern
die „Bedingung der Möglichkeit von Politik“ (Girnth, 2002). Im zweiten Teil der
DeÀnition von Dieckmann Àndet sich das Sprechen über Politik wieder, sie be-
inhaltet nicht nur den Sprachgebrauch von Politikern selbst, sondern auch das
auf den Staat bezogene Reden und Schreiben über eben jenen (vgl. Niehr, 2014).
Politisches Kabarett ist also zum einen Teil des Politischen selbst, wenn man ein
weites Politikverständnis gelten lässt, thematisiert aber auf der anderen Seite die
weiteren Bereiche eines solchen Verständnisses und zwar sprachlich, indem der/
die Kabarettist/-in mittels Sprache auf das staatliche oder auf den Staat bezogene
sprachliche Handeln Bezug nimmt. Das Sprechen über die Verbrechen des „NSU“
und deren Aufarbeitung und Protagonisten kann also, je nach Fokus des Gesagten,
verschiedene Facetten des Modells Burkhardts betreffen: den Verfassungsschutz
und dessen Äußerungen als staatliche Behörde, die politischen Diskussionen und
Kämpfe über und um den Verfassungsschutz sowie die mediale Berichterstattung
über den „NSU“.

5 Existenzformen von Sprache

Dass Sprache wiederum selbst ein höchst heterogen benutztes Label ist, ist in der
Linguistik hinreichend bekannt. Peter von Polenz (1973) unterscheidet insgesamt
6 „Erscheinungsweisen“ von Sprache, auf die man referieren kann, wenn man
mittels Sprache über Sprache spricht: Sprachkompetenz, Sprachsystem, Sprach-
gebrauch4, Sprachnorm, Sprachverwendung, Sprachverkehr. Für den Kontext
dieses Aufsatzes sind vor allem die beiden Formen Sprachgebrauch und Sprach-
verwendung relevant. Während mit Sprachverwendung eine einzelne sprachliche

4 Von Polenz nutzt „Sprachbrauch“, durchgesetzt hat sich aber im Laufe der Zeit
„Sprachgebrauch“ als Fachterminus.
374 Frank Schilden

Handlung eines Individuums zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort


bezeichnet wird (bspw. die Aussage von Eva Hermanns zur Familienpolitik unter
dem NS-Regime), ist (öffentlicher) Sprachgebrauch ein auf gesellschaftlich-so-
zialer Ebene beschreibbares Phänomen, das aus einer Vielzahl von Aussagen zu
einem bestimmten Thema besteht (vgl. Niehr 2014). Öffentlicher Sprachgebrauch
ist mit den Mitteln der (linguistischen) Diskursanalyse auf verschiedenen Ebenen,
in der sog. Düsseldorfer Schule wären das Lexik, Metaphorik, Argumentation und
eben Sprachthematisierungen (Metasprache), beschreibbar. Das Thematisieren
von bestimmten Diskursen ist somit ein möglicher Teil der Thematisierung von
Sprachgebrauch.
Sprache ist zudem auf unterschiedlichen Ebenen thematisierbar. Innerhalb der
einzelnen Ebenen sind nun wiederum unterschiedliche Aspekte der jeweiligen
Ebene thematisierbar, wie bspw. die Wortebene oder die Ebene der Argumenta-
tion. Ich möchte dies an einem kleinen Beispiel aus Die Anstalt vom 9.12.2014
verdeutlichen. Mit Blick auf die zum Teil rechtspopulistischen und rassistischen
Demonstrationen von Pegida in Dresden führt Claus von Wagner in seinem Solo
aus:

Liebe PEGIDAs – und weil es grad so aktuell ist – liebe CSU, eure Feindbilder, die
sind so real wie der Weihnachtsmann und nichts anderes als schlecht versteckter
Rassismus. Und die eigentliche Frage ist doch die: Wenn man das Abendland nur
„verteidigen“ kann, indem man menschenfeindliches Gedankengut vor sich her-
trägt – was gibt’s dann eigentlich noch zu verteidigen.5

Sprachlich geschieht hier viel Interessantes, bspw. das Zusammenbringen der Emp-
fehlungen der C SU für Migrantinnen und Migranten, auch im Privaten deutsch
zu sprechen, mit den Protesten der Pegida. Hier möchte ich mich allerdings auf
die verschiedenen Ebenen der Sprachthematisierung und die entsprechend the-
matisierten sprachlichen Elemente und Aspekte konzentrieren. Mit dem Einschub
„und weil es grad so aktuell ist“ thematisiert der Kabarettist hier den zu diesem
Zeitpunkt öffentlich geführten Diskurs über die Empfehlungen der CSU, kurz vor
diesem Teil des Solos war das zentrale Zitat per Bildschirm dem Bühnen- und TV-
Publikum gezeigt worden6. Der Einschub thematisiert also den Diskurs, das Zitat
erst einmal eine konkrete (zentrale) Sprachverwendung einer Partei. Der folgende

5 http://www.zdf.de/ZDFmediathek/kanaluebersicht/2078314#/beitrag/video/2300716/
Solo:-Claus-von-Wagner (ab 4:20min, zuletzt eingesehen am 12.12.2014).
6 Bei dem in der Sendung gezeigten Zitat handelt es sich um die Formulierung aus dem
Leitantrag zum CSU-Parteitag 2014, diese Formulierung hat es aber – zu großem Teil
Lachen gegen den Ungeist? 375

Rassismus-Vorwurf bringt die themenverwandten Aussagen der Pegida und der


CSU in einen Zusammenhang und thematisiert und kritisiert dabei den Sprachge-
brauch beider Gruppen gleichzeitig und zwar über die Ebene der – in den Augen
des Kabarettisten – (subtilen) rassistischen Argumentation. Das Solo schließt mit
dem metasprachlichen Hinweis auf ein zentrales Mehrwort-Lexem der Pegida, das
hier mit der Zusammenstellung auch der CSU in den Mund gelegt wird: die „Ver-
teidigung des Abendlandes“ gegen alles Fremde.

6 Wie funktioniert (Politisches) Kabarett?

Um zu beschrieben, wie satirische oder komische Effekte im Kabarett erzielt wer-


den können, wird häuÀg zur Beschreibung und Analyse bzw. Interpretation von
(rhetorischen) Stilmitteln, wie Ironie oder Übertreibung oder auch Travestie, ge-
griffen. Diese Beschreibungen greifen zumeist eine Ebene zu hoch, denn diese
Stilmittel sind im Kabarett im Dienste des zugrunde liegenden Prinzips der Funk-
tionsweise von Kabarett zu sehen: „Kabarett ist das Spiel mit dem erworbenen
Wissenszusammenhang des Publikums“ und mit „den Bruchstellen“ eben dieses
Wissens (Henningsen, 1967). Eine mögliche Bruchstelle wäre im obigen Beispiel
das Nebeneinander einer nachweislich demokratischen Partei, der CSU, und einer
sehr heterogenen Masse, der Pegida-Bewegung, in einer Position, die wenig de-
mokratisch ist: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Rassismus. Inkongruent
wird es in dem Moment, wenn das Publikum merkt, dass eine demokratische Par-
tei wie die CSU per deÀnitionem keine rassistischen Thesen und Forderungen ver-
treten dürfte. Dieser Punkt wird auch bei Andreas Rebers´ Beitrag im Satire Gipfel
(Abschnitt 6.2.2) wiederkehren, wenn Rebers mit der bildlichen Darstellung des
Mörder-Trios in den Medien und dem Wissen der Öffentlichkeit spielt, sodass sich
das Publikum merklich ertappt fühlt. Der hier zugrunde gelegte Wissensbegriff
bezeichnet weniger ein binär an der Welt überprüfbares Wahrheitswissen im Sinne
eines Wahr-falsch-Verhältnisses, sondern ideologisch gebundene Überzeugungen,
bei denen persönliche Erfahrungen der Rezipienten sowie emotionale Bewertun-
gen eine große Rolle spielen (vgl. Beckers, 2012; Schilden, 2013). Um diese „He-
terogenität gesellschaftlichen Wissens“, um „dominierende und konkurrierende
Denkweisen in einer Gesellschaft“ (Wengeler, 2013a), die „in einer gegebenen Zeit
zu einem gegebenen Ort [innerhalb einer bestimmten Gruppe, F.S.]“ dominant

sicherlich auch aufgrund der öffentlichen Häme – nicht in den Beschluss des Partei-
tags geschafft.
376 Frank Schilden

sind (Wengeler, 2013b), zu analysieren, eignet sich eine diskurslinguistische Her-


angehensweise.
Das Vorhandensein von politischem Wissen und politischen Überzeugungen ist
also zum einen Voraussetzung dafür, dass Kabarett seinen Zweck, seine Funktion,
erfüllen kann – ohne vorhandenes politisches Wissen, bzw. politische Einstellun-
gen oder Überzeugungen, können auch keine Bruchstellen in diesem/-n zum Zwe-
cke der aufklärenden Zeitkritik evoziert werden. Zum anderen, und da spielt wie-
der Metasprachliches eine wichtige Rolle, sind politisches Wissen und politische
Überzeugung zu einem großen Teil sprachgebunden, das hat auch Henningsen
bereits erkannt (vgl. Beckers, 2012; Henningsen, 1967). Damit ist auch der Erwerb
politischen Wissens zum großen Teil sprachgebunden: über den Politikunterricht
und in der politischen Bildung, in Nachrichten, Zeitungen, Reden etc. Politisch
gebildete Menschen (er)kennen die politische Dimension der Begriffe alternativ-
los, ausländerfreie Zone, Solidarität oder von in andere Kontexte transformierten
Argumentationsstrukturen, ohne dass explizit darauf hingewiesen werden muss,
dass nun auch Sprache thematisiert wird. Eitz & Stötzel (2009) fassen dieses Phä-
nomen, vor allem für sog. IdentiÀkationsvokabeln, unter den Begriff „implizite
Sprachthematisierung“. Diese Form der Thematisierung bereitet dem Publikum
ein zusätzliches Vergnügen, da es dabei selbst die Leistung des Erkennens der
Sprachthematisierung vollbringen muss. Das Erkennen ist möglich, weil bestimm-
te Begriffe zentral für bestimmte Diskurse oder Ideologien sind, in „Schlagwör-
tern werden die Programme kondensiert“ (Dieckmann, 1975).

6.1 Kabarett und Lachen

Budzinski sieht in den Mitteln des Komischen den rhetorischen Weg der Wahl,
wenn es um die Vermittlung satirischer Inhalte im Kabarett geht (Budzinski,
1985), eine Auseinandersetzung mit Humortheorien im Zusammenhang mit Ka-
baretttheorien ist dementsprechend eine lohnenswerte Perspektive. Bei den Aus-
führungen zu Henningsens Kabarett-DeÀnition fällt auf, wie nah sich diese DeÀni-
tion an den Ideen der Inkongruenztheorie(-n) zum Humor bzw. der Komik bewegt
(vgl. Brock, 2004). Allerdings ist es hier wichtig, zu betonen, dass Kabarett nicht
unbedingt witzig ist um des Witzes willen, wie es bspw. bei Comedy der Fall ist,
sondern die Kollision der Wissensbereiche, das Entdecken von Bruchstellen im
eigenen Wissen, durch die zugrunde gelegte Inkongruenz zu komischen Effekten
führen kann, diese aber nicht das Hauptziel der Performance sind. Die Sprachthe-
matisierungen stellen dabei eine weitere mögliche Kommunikationsebene dar (vgl.
Brock, 2004), die erkannt werden kann, aber nicht zwangsläuÀg erkannt werden
Lachen gegen den Ungeist? 377

muss, um dem Plot folgen zu können. Dass beim Publikum eine aktive Rolle an-
zunehmen ist, es sich auf die Kollision von Wissen einlassen muss, ist eine Grund-
bedingung zur Erfüllung der satirischen Funktion des Kabaretts.
An dieser Stelle ist kein Platz für eine detaillierte Auseinandersetzung mit
(linguistischen) Theorien des Humors, zwei relevante Ansätze sollen aber kurz
erwähnt sein. Schubert (2014) nennt „zwei wesentliche linguistische Ansätze der
Humortheorie“, die sich wiederum beide in den allgemeinen Ansatz der Inkongru-
enz-Theorie, bzw. Incongruity Theory, einordnen lassen: 1) Semantische Skript-
Theorie des Humors (Semantic Script Theory of Humour) (vgl. Raskin, 1985), 2)
Allgemeine Theorie verbalen Humors (General Theory of Verbal Humour) (vgl.
Attardo, 2001, 2008). Raskins Theorie beruht auf der Annahme, dass zur Entste-
hung von Humor zwei (oder bei mehreren Ebenen auch mehr) mentale Skripte für
Rezipienten unerwartet miteinander kombiniert werden, sodass eine Inkongruenz
entsteht, die vom Rezipienten gelöst werden muss. Hier spielt das politische Wis-
sen des Publikums an einem Kabarettabend eine bedeutende Rolle, da Skripte
durch Andeutungen, IdentiÀkationsvokabeln, Argumentationsmuster und Dis-
kursthematisierungen getriggert werden. Das Beispiel von Volker Pispers zu den
rassistischen Morden des „NSU“ zeigt, wie mit sprachlich realisierter Argumenta-
tion metasprachlich auf die Argumentation in anderen politischen Kontexten an-
gespielt wird. Allerdings kommt das Kabarettpublikum mit gewissen Erwartun-
gen zur Vorstellung bzw. die Kabarettsendung wird mit solchen rezipiert, sodass
das Publikum in kognitiver „Alarmbereitschaft“ und auf der Suche nach Inkon-
gruenzen, Pointen und politischer Zeitkritik ist. Attardos Ansatz, die allgemeine
Theorie verbalen Humors, ist eine Weiterentwicklung der Theorie Raskins und
ist „nicht nur auf ausformulierte Witze, sondern auch auf andere humoristische
Texte […] anwendbar“ und bietet „ein recht umfassendes Instrumentarium“ an
(Schubert, 2014), wenn es um die Analyse „humorvoller Kommunikationsakt[e]“
geht. Attardos Theorie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Kriterien bzw. Gesichts-
punkte nennt, mittels derer verbaler Humor betrachtet werden kann: Ausgehend
von einer möglichen Skriptopposition (1) und dem logischen Mechanismus, der
die Inkongruenz entstehen lässt (2), über die Opfergruppe (3) und die narrative
Strategie (4), hin zur sprachlichen Realisierung (5) und den Situationsparametern
(6) (vgl. Schubert, 2014). Für Politisches Kabarett wurde hier zu den Kriterien 3
und 6 schon Relevantes ausgeführt, die Gesichtspunkte 1, 2, 4 und 5 werden nun
exemplarisch gefüllt.
378 Frank Schilden

6.2 Der „NSU“-Diskurs im Kabarett

Das bislang theoretisch ausgeführte soll im Folgenden nun auf zwei Beispiele aus
dem „NSU“-Diskurs im Kabarett angewandt werden. Bei den kabarettistischen
Überformungen der Ereignisse um die sog. Zwickauer Terrorzelle, den „NSU“,
fällt auf, dass die Morde an sich gar nicht kritisch bearbeitet werden, die Ableh-
nung der rassistischen Morde ist schlicht vorausgesetzt. Es geht vielmehr um Dis-
kurs- bzw. Medienkritik oder um antizipierte Reaktionen, die aus vergangenen
öffentlichen Reaktionen abgeleitet werden, sowie um Kritik an der gesellschaft-
lichen Mitte. Damit leistet das Politische Kabarett zu diesem Thema einen wichti-
gen Beitrag zur öffentlichen Auseinandersetzung und kritischen Verarbeitung der
rassistischen Mordserie des NSU. Die beiden folgenden Beispiele sollen dies ver-
deutlichen. Zuerst soll ein Ausschnitt von Volker Pispers auf der Preisverleihung
des Deutschen Kleinkunstpreises 2012 näher betrachtet werden.

6.2.1 Volker Pispers

Es ist immer wieder erstaunlich, was man alles Àndet, wenn man richtig sucht.
Das steht ja schon in der Bibel: „Wer suchet, der À ndet.“ Und so erklärt sich auch
das Verfassungslose, nämlich warum diese Schlappschwänze, verzeihenseweise,
Schlapphüte vom Verfassungsschutz 13 Jahre lang nicht bemerkt haben, dass hier
ein braunes Mördertrio unterwegs war. [Pause] Sehen Sie, wenn man nicht sucht,
kann man auch nicht Ànden. Man kann natürlich sagen: „Wenn man etwas gut Àn-
det, muss man es nicht suchen“. [Gelächter] Sehense mal: Diese Zwickauer Zelle ist
vor 13 Jahren abgetaucht. Vor 13 Jahren haben die sich ihrer Verhaftung entzogen
und sind abgetaucht. Wären das Islamisten gewesen, hätten am Tach danach die
Fahndungsplakate an jedem zweiten Baum gehangen. Aber als Nazis standen sie
natürlich unter besonderem Verfassungsschutz. [Gelächter] Und wäre die dumme
örtliche Polizei denen nicht noch in die Quere gekommen, dann wären die heut
noch unterwegs. Plötzlich, innerhalb von wenigen Tagen, wurden Erkenntnisse ge-
sammelt über bis zu 20 Helfershelfer im Hintergrund und diese Erkenntnisse konn-
ten die Spezialisten vom Verfassungsschutz 13 Jahre lang mit all ihren V-Leuten
nicht sammeln. Wer´s glaubt, ist selig, am Schlafen. Jetzt bin ich ganz gespannt, was
bei den Untersuchungsausschüssen rauskommt. Werden die wirklich untersuchen,
warum nach diesen Nazis nicht gesucht worden ist? [Pause] Auch die Schlapphüte
werden vom Kopf her stinken und in meinen Augen gibt´s nur 2 Möglichkeiten: Ent-
weder der gesamte Verfassungsschutz steckt bis über beide knallrote Ohren tief im
braunen Sumpf. Oder die Führungsebene vom Verfassungsschutz hat 13 Jahre lang
in der Nase gebohrt, uns die Popel jedes Jahr als Verfassungsschutzbericht auf den
Tisch gelegt – und in den unteren Ebenen haben die Nazi-Fans den braunen Sumpf
mit V-Leuten bewässert. [Pause] Wozu werden sie sich bekennen? Zur Unfähigkeit
oder zur Mittäterschaft? Soll ich mal raten? Wissen Sie, was sich rausstellen wird?
Die Führungsebene war völlig ahnungslos, die Führungsebene beim Verfassungs-
Lachen gegen den Ungeist? 379

schutz war völlig ahnungslos, es war ein unglaublich geschickter Einzeltäter – das
ist Tradition in Deutschland – ein [Gelächter] unglaublich [Gelächter, längeres Klat-
schen] ein unglaublich geschickter Einzeltäter, der die oberen Etagen getäuscht hat
und den braunen Sumpf vor dem Amt geschützt hat. Und der, der wird jetzt den
Preis zahlen müssen, denn das kennen wir aus jedem Agenten-Film, meine Damen
und Herren, zu jedem Geheimdienstauftrag gehört immer der Satz: „Wenn Sie er-
wischt werden, müssen wir leugnen, Sie gekannt zu haben.“ (Volker Pispers, Wort-
laut Preisverleihung Deutscher Kleinkunstpreis 2012, eigenes Transkript)

Auf einer ersten Ebene übt Volker Pispers mit dem Vortrag dieses Textes Zeit- und
Politikkritik, vor allem übt er Kritik an der Behörde Verfassungsschutz, der es
trotz Involvierung durch V-Männer nicht gelungen ist, die Morde zu verhindern
oder aufzuklären. Dies gelingt Pispers mittels einer sehr dichten Sprache und Ar-
gumentation, da er eine große Menge relevanten und in diesem Falle homogenen
Wissens beim Publikum voraussetzen kann und aus dem Diskurs rund um die
Morde des „NSU“ nur die diskursiven Eckdaten, die wichtigsten Akteure und Er-
eignisse benennen, sie aber erstmal nicht weiter erklären oder detailliert in einen
Zusammenhang bringen muss: Verfassungsschutz, 13 Jahre (5 mal), Nazis, ört-
liche Polizei, Helfershelfer im Hintergrund, V-Leute, Mördertrio, Verfassungs-
schutzbericht, Untersuchungsausschüsse, obere Etagen, brauner Sumpf. Pispers
Meinung zum Verfassungsschutz macht allein das Wortspiel Schlappschwänze
bzw. Schlapphüte klar. Spannender ist aber die gesamtargumentative Richtung des
Beitrags. Pispers bietet 2 mögliche Konklusionen zu den vorher benannten Daten
an (vgl. Toulmin, 1996) an: Der Verfassungsschutz ist entweder Mittäter oder völ-
lig inkompetent. Beide Meinungen sind im öffentlichen Diskurs so vertreten, Pi-
spers kann also durch die bloße Zitation der Argumente an die Argumentationen
anknüpfen und kann so mehrheitstauglich recht simpel argumentieren. Der Kaba-
rettist thematisiert also implizit die Argumente aus dem öffentlichen Raum, indem
er sie auf der Bühne satirisch einsetzt. Pispers geht aber noch einen Schritt wei-
ter und zitiert ein weiteres Argument und argumentiert auf einer tieferliegenden
Ebene, was zugleich zu Inkongruenzen auf Seiten des Publikums führt. Pispers
zitiert ein Argument, dass aus dem Vergangenheitsbewältigungsdiskurs der BRD
bekannt ist (vgl. Eitz & Stötzel, 2007, 2009; Fischer & Lorenz, 2009; Kämper,
2005): Hitler als Einzeltäter und im Zusammenhang damit die hier mitgemeinte
verführte und damit angeblich unschuldige große Masse7. Pispers Argumentation

7 Diese abwehrende Reaktion nach dem Mai 1945 war zumeist durch eine vermeintliche
Unterstellung von „Kollektivschuld“ ausgelöst. Schriftliche Belege, dass die Politiker
der Alliierten den Begriff Kollektivschuld benutzt oder im rechtlichen Sinne für eine
solche argumentiert haben, gibt es meines Wissens nach nicht. Das Gegenteil ist der
380 Frank Schilden

funktioniert an dieser zentralen Stelle so: Was viele Menschen nach dem Mai 1945
meinten, mit einem Wahrheitsanspruch äußern zu können, das könnte auch heu-
te noch im Kontext des „NSU“ das Ergebnis einer öffentlichen Meinungsbildung
sein. Aber genauso faktisch falsch wie es bspw. mit Blick auf die Geschichte des
Antisemitismus in Europa ist, zu sagen, dass ein Einzeltäter die Deutschen 1933
verführt habe, wäre es falsch, wenn es das Ergebnis der Ermittlungen und der
öffentlichen Diskussion im Jahre 2012 (2015) wäre, dass es nur einen Hauptschul-
digen beim Versagen des Verfassungsschutzes bzw. innerhalb der Gesellschaft im
Kontext der Morde des „NSU“ gäbe. Und genau an diesem Punkt setzt Pispers
tiefere Argumentation an: Es geht um komplexe Verschränkungen, Entwicklun-
gen, Kausalketten und auch Verantwortungen eines jeden einzelnen – eben auch
des Publikums. Das Publikum stimmt den beiden Konklusionen der ersten argu-
mentativen Ebene, Verfassungsschutz als Mittäter oder als inkompetent, mit klarer
Schuldzuweisung zu, muss aber bei der Prognose von Pispers erkennen, dass auch
eine dritte Möglichkeit mit dem Hinweis auf die Diskurs-Geschichte der BRD
zumindest möglich ist, bei der sich jeder einzelne dann nach seinem Anteil an der
Schuld und seiner Rolle in der Kausalkette kritisch hinterfragen müsste, denn die
Einzeltäterthese hat sich als historisch unhaltbar herausgestellt. Die Parallele zur
Vergangenheitsbewältigung der BRD – das hat Tradition in Deutschland – kann
nur hergestellt werden, wenn man den Hinweis von Pispers argumentativ einord-
nen und das metasprachliche Potenzial des impliziten Argument-Zitats erkennen
kann. Die Rolle des Publikums und das mitgebrachte Wissen sind für das Funktio-
nieren von Politischem Kabarett also unverzichtbar, Pispers geht davon aus, dass
die zitierten Argumente erkannt und eingeordnet werden können.

6.2.2 Andreas Rebers

Was mich ein bisschen irritiert und was mich ärgert, ist die Darstellung in der
Öffentlichkeit, dieser Damen und Herren, dieser NSUler. [Schwarz-weiß-Bild des
Mörder-Trios erscheint] Wie die dargestellt werden, ich hab immer das Gefühl,
wenn ich das sehe, diese Fotos hat man im Mai ´45 gemacht. [Kurzes Gelächter] Ja,
und das soll ja auch so wirken, damit die gesellschaftliche Mitte in der Talkshow sa-
gen kann, „och, guck dir die mal an, ha, mmmh, die sehen ja auch schon anders aus.
Die sehen nicht aus wie wir. Denn wir sind ja multikulturell und wir sind bunt.“ Und
da kann sich jeder Tugendbold dran gesund stoßen. Aber das ist mir ein bisschen zu
einfach, ich glaube, so sehen die gar nicht aus. [Buntes Bild des Trios erscheint] Auh

Fall, die Nürnberger Prozesse sind ein Beispiel dafür, die Ermittlungen des Simon
Wiesenthal Center ein anderes. Die Kollektivschuldthese wurde vielmehr „vor allem
aus Kreisen ehemaliger NS-Eliten […] gestreut“ (Fischer & Lorenz, 2009). Auch Eitz
& Stötzel (2007, 2009) und Kämper (2005) argumentieren vergleichbar.
Lachen gegen den Ungeist? 381

man, eigentlich gar nicht unsympathisch, die sehen ein bisschen aus wie wir. [Pau-
se] Das ist nicht schön, ich weiß das, aber, eh, Faschismus kommt immer aus der
gesellschaftlichen Mitte. So ist das nun mal, sonst wäre er nicht tragfähig. [Pause]
So what, [Pause] lassen wir das, nech, bei uns hat alles seinen Platz. [Spielt Akkor-
deon und singt] Akten, die mal geschreddert sind, Fakten, die dann verheddert sind.
Wir sind perdü und nicht per du und Müllers Esel, was weiß ich, wer war in der
NSU – die Meisten sagen, weiß ich nicht. Am Ende steht auf weiter Spur ein kleines
Tischlein-deck-dich und wenn du fragst, wie geht es dir, dann sagt das Tischlein:
„Leck mich!“. Das war ein Witz! Wo bleibt der Lacher? Bald kommt der K-Kabel-
brand – im Herzschrittmacher. (Andreas Rebers, Satire Gipfel am 8.4.2013)

Andreas Rebers’ Auseinandersetzung mit dem „NSU“ im Kabarett unterscheidet


sich stilistisch von der Volker Pispers’, allerdings gibt es auch Gemeinsamkeiten.
Volker Pispers erzählt anekdotisch, zum Teil vulgär, und bleibt in seinem argu-
mentativen Kern implizit, die Kritik wird nur angedeutet. Andreas Rebers macht
zu Beginn explizit, was er als kritikwürdig ansieht, nämlich die Art und Weise,
wie der mediale Diskurs um den „NSU“ geführt wird: „Was mich ein bisschen ir-
ritiert und was mich ärgert, ist die Darstellung in der Öffentlichkeit, dieser Damen
und Herren, dieser NSUler“, Rebers übt Diskurskritik als Zeitkritik. Rebers nutzt
dafür die häuÀg im öffentlichen Raum benutzten schwarz-weißen Bilder des Trios
und setzt diesen ein Farbfoto beim Camping als Kontrast gegenüber.
Rebers verweist in diesem Kontext explizit auf den „Mai ‘45“, Pispers war auch
beim Verweis auf die NS-Vergangenheit Deutschlands und die sprachliche Ver-
gangenheitsbewältigung ein wenig impliziter. Rebers unterstellt der öffentlichen
Berichterstattung zugleich eine bestimmte Funktion, die erfüllt werden soll, in-
dem genau diese Bilder benutzt werden: Die Öffentlichkeit soll sich nicht mit dem
„NSU“ identiÀzieren können, soll ihr C redo der bunten Gesellschaft aufrecht-
erhalten können. Rebers Urteil darüber ist klar: „Da kann sich jeder Tugendbold
dran gesund stoßen.“ Mit der erwähnten gesellschaftlichen Mitte hat dieses auf
den schwarz-weißen Bildern dargestellte Trio nichts zu tun. Mit dem Bildwechsel
hin zum bunten Camping-Bild ändert sich auch die Wahrnehmung im Publikum,
das Trio erscheint plötzlich als Teil der bürgerlichen Mitte, als Teil des Publikums:
„Mensch, die sehen ja aus wie wir“. Rebers löst durch die Nutzung der weniger be-
kannten Darstellung des „NSU“ beim Campen eine Inkongruenz im idealistischen
Gesellschaftsbild des Publikums aus. Diese Erkenntnis, dass das Trio als Teil der
gesellschaftlichen Mitte offenbar wird, passt nicht zur ablehnenden Haltung und
Darstellung in den öffentlichen Medien, bei medienwirksamen Kundgebungen
oder Lichterketten. Dies alles Áießt zusammen im zentralen Statement von Rebers:
„Faschismus kommt immer aus der gesellschaftlichen Mitte. So ist das nun mal,
sonst wäre er nicht tragfähig. [Pause] So what, [Pause] lassen wir das, nech, bei uns
382 Frank Schilden

hat alles seinen Platz“ – auch Faschismus, auch der „NSU“. Implizit mitgemeint
sind hier weitere häuÀg in politischen Reden und Berichterstattungen gebetsmüh-
lenartig aus der gesellschaftlichen Mitte ausgeschlossene Parteien (NPD, AfD,
Pro-Parteien) oder Organisationen (HoGeSa, Pegida) – welche aber offensichtlich
in der BRD ihren Platz haben. Daran ändert sich eben – und das ist der Kernkritik-
punkt Rebers’ – nichts, wenn man den Diskurs so führt, als wäre der „NSU“ nicht
auch aus der gesellschaftlichen Mitte entstanden.
Im abschließenden Lied lässt es sich Rebers aber nicht nehmen, ähnlich wie Pi-
spers, auch die Vorgänge in den Behörden zu kritisieren. Rebers nennt „Akten, die
mal geschreddert sind“ und „Fakten, die dann verheddert sind“. Aber auch diese
Erwähnung von zwei Vorkommnissen in deutschen Behörden im Zusammenhang
mit dem „NSU“ reiht sich in die Diskurskritik Rebers nahtlos ein, schließlich wird
eine vollständige Aufarbeitung der Vorkommnisse so schlichtweg behindert.

7 Fazit

Es wurde bereits oben ausgeführt, dass „Kabarett eine pädagogische Institution


unserer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft sein“ kann. Aggressive Zeit-
kritik und Aufklärung sind die Hauptfunktionen des Kabaretts, Unterhaltung ist
ein Nebeneffekt. Die Hauptfunktion wird vor allem mit dem Auslösen von Inkon-
gruenzen erzielt. Im thematischen Zusammenhang mit dem „NSU“ im Kabarett
haben dies die Beispiele von Pispers und Rebers gezeigt.
Argumente aus dem öffentlichen Raum, die häuÀg bei öffentlichen Debatten
zur Vergangenheitsbewältigung in der BRD benutzt werden, werden von beiden
Kabarettisten zitiert, um ausgehend von den unterstellten Wissenszusammenhän-
gen und dem Wissen über die Plausibilität der Argumente, Einzeltäter in einer
ausdifferenzierten Gesellschaft, der „NSU“ als Nicht-Teil der gesellschaftlichen
Mitte, eben diese Wissenszusammenhänge aufzubrechen. Dieser Bruch gelingt Pi-
spers und Rebers auf unterschiedliche Weise: Einmal mit dem angedeuteten Ver-
weis auf die fehlgeschlagene Vergangenheitsbewältigung nach 1945 und einmal
mit dem Einsatz eines sympathischen Bildes des Mörder-Trios – in beiden Fällen
ist eine Aufrechterhaltung der vorherigen Thesen, des vorherigen kollektiven Wis-
sens des Publikums, für das Publikum undenkbar, weil es zu den neuen Erkennt-
nissen aus dem satirischen Vortrag inkongruent wäre.
Klar geworden ist, dass Kabarett Teil von Diskursen ist und diese zusätzlich
kommentiert und sprachliche Auffälligkeiten, Lexik, Argumentation und den Dis-
kurs selbst, zeitkritisch zum Zwecke der Aufklärung einordnet. Beim NSU-Dis-
kurs fällt vor allem auf, dass die Rolle der Medienöffentlichkeit und auch jeder
Lachen gegen den Ungeist? 383

Einzelne kritisch dahingehend angegangen wird, welche Position er oder sie bei
den Entwicklungen und der Aufarbeitung gespielt hat und noch spielt. Aber auch
die Behörden, Verfassungsschutz und Polizei, werden kritisiert. Durch diese Kritik
und die Benennung der teilweise historisch gebundenen Argumente kann Kabarett
produktiver Teil bei der öffentlichen Auf- und Verarbeitung von Krisen sein. Vor
allem implizite und explizite Sprachthematisierungen auf argumentatorischer Ebe-
ne sind dabei von Bedeutung, denn Argumente sind Bestandteile von Ideologie-
gebäuden und damit ideologie- und häuÀg auch diskursgebunden. IdeologiereÁe-
xion ist immer auch SprachreÁexion, Ideologiekritik ist immer auch Sprachkritik.
Durch die Thematisierung und Kritik einzelner Argumente ist somit die Themati-
sierung und Kritik ganzer Ideologien möglich. Ein Hinterfragen, ausgelöst durch
eine evozierte Inkongruenz innerhalb der Ideologiegebäude, ist somit zumindest
plausibel modellierbar. Deutlich ist aber zudem auch geworden, dass der Schlüssel
zum Erreichen der Kabarettfunktion immer das Wissen des Publikums ist. Die
Auftritte von Pispers und Rebers hätten nicht zur gewünschten Inkongruenz ge-
führt, wenn man die Argumente nicht hätte erkennen und einordnen können. Es
reicht nicht, zu wissen, dass man die rassistischen Morde des „NSU“ ablehnen soll
und dass man dies gemeinschaftlich tut und regelmäßig routiniert betont – man
muss auch wissen warum. Man muss Argumente historisch einordnen können, sie
analysieren und verstehen können – mit Nelson Mandela (1918-2013): „Bildung
ist die mächtigste Waffe, die du verwenden kannst, um die Welt zu verändern.“
Politisches Kabarett kann dabei helfen, sofern das politische Wissen vorhanden ist.
384 Frank Schilden

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Kapitel 5
Prävention und Intervention

„Ich trete nicht als Opfer auf, ich verlange nichts, stelle keine Ansprüche als Opfer,
werbe allerdings um ein besonderes Verständnis ... Ich erwarte allerdings, dass die
Täterseite – und ich meine damit nicht jeden Nichtjuden – weiß, was im Namen
Deutschlands geschehen ist, und das nicht vergisst. Dann fällt es den Opfern und
deren Nachkommen leichter, selbst zu vergessen“

(Ignatz Bubis, „Ich bin deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, 1993, S. 113).
Rechtsextremismus
und pauschalisierende Ablehnungen

Grundlagen und Möglichkeiten der Prävention

Kurt Möller

Wie die oben stehenden Beiträge deutlich machen, ist das Rechtsextremismus-
Problem in Deutschland von einer Hartnäckigkeit und zugleich Wandlungsfähig-
keit, die seine dauerhafte und stets neu zu überdenkende Bearbeitung erforderlich
machen. Denken wir an die großen Bundesprogramme wie aktuell „Demokratie
leben!“ oder auch seine Vorläufer bis hin zum ersten dieser Programme, dem von
der damaligen Jugendministerin Angela Merkel verantworteten „Aktionspro-
gramm gegen Aggression und Gewalt“ (AgAG; 1992-1996), berücksichtigen wir
ferner die Existenz einer Reihe von entsprechenden Programmen in den Bundes-
ländern und stellen wir zudem auch einzelne Initiativen in den Kommunen u. a.m.
in Rechnung, so kann nicht behauptet werden, dass „gegen Rechts“ nichts getan
würde. Ähnliches gilt bereits seit einigen Jahren für die Beschäftigung mit Phä-
nomenen von Pauschalablehnungen wie sie populär im Begriff der ‚Gruppenbe-
zogenen Menschenfeindlichkeit’ zusammengefasst werden. Gleichwohl stellt sich
die Frage: Warum gelingen Problemlösungen so unzureichend? Sind vorhandene
Ansätze womöglich falsch ausgerichtet und müssten deshalb umgesteuert werden?
Der nachfolgende Beitrag fahndet nach Antworten, indem er eine dritte Frage
stellt und zu beantworten sucht: Basieren die gängigen Bearbeitungsweisen eigent-
lich genügend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen – und dabei speziell auf sol-
chen, die über Gründe und Verläufe der Hinwendung von Individuen und Gruppen
zu rechtsextremen Haltungen aufklären? Dazu zeichnet er zunächst Grundzüge des
biograÀschen Aufbaus rechtsextremer Haltungen und pauschalisierender Ableh-
nungen nach, bevor er knapp Schlussfolgerungen für grundlegende Orientierungen
skizziert, die für nachhaltig wirksame Bearbeitungen aussichtsreich erscheinen.

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_16, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
390 Kurt Möller

1 Prozesse biografischen Aufbaus rechtsextremer


Haltungen und pauschalisierender Ablehnungs-
konstruktionen (PAKOs)

Der biograÀsche Aufbau von rechtsextremen Haltungen und anderweitigen pau-


schalisierenden Ablehnungen erfolgt – meist fußend auf Vorläufern in der Kind-
heit – im Regelfall im Verlaufe der Jugendphase. Auf sie ist daher primär zu fo-
kussieren (vgl. detaillierter als im Folgenden möglich: Möller, 2000; Möller &
Schuhmacher, 2007; Möller u. a., 2015).

1.1 Spezifika pauschalisierender Ablehnungs-


konstruktionen bei Jugendlichen

Zwei Kennzeichen sind bei pauschalisierenden Ablehnungskonstruktionen (PA-


KOs) bei Jugendlichen, unabhängig von ihren Gegenständen und Adressierungen
im Einzelnen, besonders auffällig:
Zum ersten zeigen sich Ablehnungen bei Jugendlichen insgesamt selten ideo-
logisch konsolidiert. Noch stärker als Erwachsene operieren sie mit stilistischen
Distinktionen, (unbewussten) Aversionen, mentalitären Beständen, Ressentiments,
affektiv verwurzelten Vorurteilen und Abwertungssemantiken. Dies betrifft bei-
spielsweise auch antisemitische und fremdenfeindliche Haltungen, sogar dann,
wenn diese rassistisch gewandet auftreten. „Du dreckiger Jude!“, „Kanake, Du Rat-
te!“ und ähnliche Schimpfworte stellen unter Jugendlichen häuÀg vorkommende
Äußerungen dar, in denen sich weniger antisemitische Ansichten oder rassistische
Denksysteme nach außen kehren als unreÁektierte Parolen und andere nicht oder
wenig systematisierte Gefühle, Gedanken und Stimmungen des Alltagsdiskurses.
Zum zweiten ist bemerkenswert: Jugendliche mit persönlicher oder nicht mehr
als zwei Generationen zurückliegender familiärer Migrationsgeschichte weisen
zum Teil dieselben, zum Teil aber auch andere Ablehnungskonstruktionen als sog.
‚autochthone’ Jugendliche auf. Eine Binnendifferenzierung dieser Großgruppie-
rungen lässt zudem derart bedeutsame SpeziÀka und partielle Kongruenzen von
Teilgruppierungen hervortreten, dass es analytisch unzulässig erscheint, weiter-
hin von der gängigen Kategorisierung in ‚Jugendliche mit Migrationshintergrund‘
und ‚Jugendliche ohne Migrationshintergrund‘ auszugehen. Auch eine Einteilung
„migrantischer Jugendlicher“ nach Staatsangehörigkeit oder Religion ist viel zu
grob, um die Vielzahl an Faktoren fokussieren zu können, die die Entstehung und
Entwicklung bzw. die Abstandnahme von ablehnenden Haltungen beeinÁussen.
Beispielsweise werden ablehnende Orientierungen und Gewalt viel stärker von
Rechtsextremismus und pauschalisierende Ablehnungen 391

Genderaspekten als von MigrationsspeziÀken geprägt. So sind etwa männliche


Jugendliche, die hegemonialen Männlichkeitsvorstellungen anhängen und sie im
Muster interpersonaler Dominanz zur Geltung bringen (wollen), weitaus gewaltnä-
her als anders orientierte Jungen – ganz unabhängig davon, ob sie einen sog. ‚Mi-
grationshintergrund‘ haben oder nicht. Auf der anderen Seite stellt sich die Kons-
truktion antisemitischer Haltungen bei muslimischen Jugendlichen, insbesondere
bei türkisch- und arabischstämmigen, ganz anders dar als bei nicht-muslimischen
Jugendlichen, insbesondere aus deutschen Herkunftsfamilien. Erwartungsgemäß
spielt für ihre politisch-soziale Orientierung der Palästina-KonÁikt eine hoch-
gradig bedeutsame Rolle, während für die herkunftsdeutschen Jugendlichen der
Nationalsozialismus und die Shoah wichtige Orientierungsmarken darstellen (vgl.
auch Mansel & Spaiser, 2013).
Ungeachtet solcher und weiterer wichtiger Differenzierungen lassen sich gro-
be Angaben zur Herstellung von AfÀnität zu rechtsextremen wie auch in anderer
Weise pauschalisierenden ablehnenden Haltungen machen, die mehr oder minder
übergreifend gelten.

1.2 Muster und Stadien

Es gibt nicht den einen Weg, der (zumeist junge) Menschen in die extrem rech-
ten Orientierungs- und Szenezusammenhänge bzw. zu pauschalisierenden Ab-
lehnungskonstruktionen führt. Und es gibt auch nicht einige wenige benennbare
Wirkfaktoren, die eine solche Hinwendung zwangsläuÀg werden lassen oder auch
nur nahelegen. Stattdessen existiert eine Vielgestaltigkeit an Mustern, die auf ein
speziÀsches Zusammenwirken von verschiedenen EinÁüssen hinweist. Diese Mus-
ter wiederum lassen typische zeitliche Abfolgen erkennbar werden, die sich als
Stadien bzw. ‚Karrierestufen’ begreifen lassen.
Insgesamt können im AfÀnisierungsprozess vier Muster voneinander abge-
grenzt werden:

• das Muster interethnischen Konkurrenzerlebens, das in einer unmittelbaren,


alltagsweltlich basierten, aber auch unabhängig davon in einer von Beginn an
nur abstrakten Form auftreten kann und die selbst vorgenommene natio-eth-
no-kulturell geprägte politische Positionierung als unausbleibliche Folge eines
in subjektiver Sicht ungerecht ablaufenden (Verdrängungs-)Wettbewerbs in der
(Post-)Migrationsgesellschaft deutet,
392 Kurt Möller

• das Muster kultureller Hegemonie pauschalisierender Ablehnungshaltungen,


also der Vorherrschaft von Auffassungen wie Rassismus, Antisemitismus,
Fremdenfeindlichkeit u. a.m. im sozialen Umfeld,
• das Muster der politischen Supplementierung jugendkultureller Partiku-
larintegration, d. h. der nachträglichen politischen AuÁadung einer vorerst nur
jugendkulturellen, stilistisch-habituellen und noch nicht unbedingt politisch
verstandenen Einbindung in natio-ethnisch auf Vereindeutigung und Abgren-
zung drängende Gruppen-, Community- und Szenekontexte,
• das Muster gesinnungsgemeinschaftlicher Rebellion, bei dem es sich jedoch we-
niger um ein selbstständiges Muster als um ein Begründungsfragment handelt.

Oft treten im individuellen Fall mehrere dieser Muster gleichzeitig auf, dies al-
lerdings in unterschiedlicher Mischung und Gewichtung. Zum Teil bauen diese
Muster in der zeitlichen Abfolge der AfÀnisierung auch aufeinander auf. Sie teilen
darüber hinaus bestimmte Gemeinsam keiten, die sich im fortschreitenden Prozess
der politischen AfÀnisierung immer deutlicher herauskristallisieren. Zu unter-
scheiden sind zudem zwei Stadien: zum einen das Stadium der Kenntnisnahme,
IdentiÀkation und praktischen Annäherung; zum anderen ein fortgeschrittenes
Stadium des AfÀnitätsauf baus, das zwar noch nicht in eine konsolidierte Haltung
gemündet ist, sich aber schon deutlich vom Anfangsstadium durch Verstetigungen
und Verknüpfungen zwischen kulturellen und politischen Aspekten wie auch von
einzelnen Einstellungssegmenten unterscheidet.
Bis dahin mehr oder weniger unverbunden nebeneinander stehende Motive,
Gestimmtheiten, Orientierungen und Absichten werden im Rahmen neu erwor-
bener (Cliquen-)Kontakte zunehmend gebündelt, auf Dauer gestellt und systema-
tisiert. Der AfÀnisierung wird in einem stetigen und mehr oder minder kontinuier-
lich verlaufenden Deutungs- und Aushandlungsprozess mit ähnlich orientierten
Gleichaltrigen – manchmal auch mit Erwachsenen aus der einschlägigen Sze-
ne – individueller und sozialer Sinn verliehen. An die Stelle bis dahin oft noch
vorherrschender allgemeiner IdentiÀkationen tritt also zusehends die konkre-
te Assoziation, also die unmittelbare personelle, über Verhalten und Handeln
reproduzierte und (auch daher) sinnlich erfahrene Einbindung.

1.3 Sozialisationserfahrungen im Affinisierungsprozess

Konstellationen der objektiven Lebenslage vermögen letztlich wenig bis gar nichts
an Erklärungen für die Konstruktion pauschalisierender Ablehnungen und für Ein-
stiege in rechtsextreme Denk-, Verhaltens- und Sozialkontexte zu liefern. Es zeigt
Rechtsextremismus und pauschalisierende Ablehnungen 393

sich vielmehr, dass es eher die Art und Weise ihrer jeweils subjektiven Wahrneh-
mung und Bewertung bzw. des Umgangs mit ihnen und weiteren anderen lebens-
relevanten Faktoren ist, die die politische Orientierung prägt. Eine wichtige Rolle
kommt dabei den konkreten Erfahrungen in zentralen Sozialisationsbereichen zu.
Als erster wesentlicher Bereich kann hier der Kontext der Familie genannt
werden. Vier verschiedene Szenarien lassen sich in Bezug auf sie voneinander
unterscheiden: ein auf Seiten der Eltern vorhandenes relatives Desinteresse bei
gleichzeitiger partieller Einstellungsüberschneidung (1), mangelnde elterliche
Durchsetzungsfähigkeit (2), KonÁikte um Nähen zu rechtsextremer oder andere
Ablehnungskonstruktionen propagierender Jugendkultur bei gleichzeitiger politi-
scher Toleranz (3), dauerhafte KonÁikte im familiären Kontext (4).
Im Gesamtüberblick der verschiedenen Muster und Kontexte können einige
Ähnlichkeiten und SpeziÀka festgehalten werden.

• Gleichwohl das Familienleben als zentraler Wert begriffen wird und – zumin-
dest in den ersten drei Kontexten – die eigene Familie oft idealisiert wird, er-
weisen sich die Beziehungen faktisch oft als emotional oberÁächlich, wenig
verlässlich und teilweise sogar als höchst problematisch.
• Mitunter agieren Eltern, häuÀg auch Großväter, als inhaltliche Stichwortgeber. Ins-
gesamt zeigt sich jedoch nicht durchgehend ein Kausalzusammenhang zwischen
ihren Ansichten und den sich entwickelnden Einstellungen des Nachwuchses.
• Auch eigenen Negativerfahrungen zum Trotz werden oft die aus den eigenen
Familien bekannten und nicht immer unproblematischen Strukturen, hier vor
allem eine starke Dominanz des Vaters über die Mutter und eine gewisse Härte
und emotionale Leere im Umgang miteinander, in die eigene Konzeption einer
‚normalen’ Lebensführung integriert.
• Insgesamt scheinen auf Seiten der Eltern nur selten gut durchdachte Strate-
gien zu existieren, mit den Kindern die inhaltliche Auseinandersetzung über
ihren AfÀnitätsaufbau zu führen. Entweder herrscht ein sich unterschiedlich
begründendes relativ großes Desinteresse vor oder es wird vor allem negativ
sanktionierend agiert, was in der Regel von den Betroffenen als ebenso un-
gerecht wie hilÁos, auf jeden Fall aber als wirkungslos wahrgenommen wird.
• In allen Mustern Ànden sich Jugendliche, die zudem massive Erfahrungen mit
biographischen Brüchen gemacht haben. Dies reicht von Umzügen von einem
Elternteil zum anderen, also der nachhaltigen Unsicherheit der Lebenssituation,
über den Verlust eines Elternteils durch Tod bis hin zu psychischen Problemen,
Sucht(anfälligkeit) und der Information, adoptiert worden zu sein. Immer gin-
gen diese Erfahrungen im Kontext mit den o. g. Erfahrungen mit identitären
Erschütter ungen und/oder beginnenden Verhaltensauffälligkeiten einher.
394 Kurt Möller

• In der AfÀnisierung werden bei männlichen Jugendlichen bestimmte im fa-


miliären Kontext erworbene Sichtweisen eher fundiert als aufgelöst. Die Vor-
stellung von der Geschlechterdichotomie wird durch die Zuordnung von wei-
teren Merkmalseigenschaften ergänzt und vereindeutigend zugespitzt, so dass
im Resultat ein männliches Prinzip von Handeln und Durchsetzungsfähigkeit
einem weiblichen Prinzip von Passivität und Schütz- sowie Hilfebedürftigkeit
entgegengesetzt wird.
• Für Mädchen ist hingegen eine doppelte Gefangenschaft charakteristisch.
Zum einen sind sie geprägt von gesellschaftlich und familiär erworbenen
Geschlechterkonventionen, gegen die sie sich auch durch die Hinwendung zu
einer betont maskulin auftretenden Jugendkultur zur Wehr setzen wollen. Zum
anderen führt sie diese emanzipatorisch gedachte Hinwendung gerade in eine
Szene, in der die erlebten Geschlechterbilder in noch stärkerer Weise vertreten
werden. Die damit entstehende Form verquerer Emanzipation lässt sich vor al-
lem im ersten, dritten und vierten Muster beobachten.

Zweiter relevanter sozialer Rahmen, in dem sich erste Schritte der AfÀnisierung
vollziehen, ist die Schule.

• Vorherrschend ist ein bereits vor der AfÀnisierung ausgebildetes Gefühl, im


schulischen Kontext nicht genügend Aufmerksamkeit und v. a. auch nicht
ausreichende pädagogische Zuwendung zu erhalten. Während von (extrem)
rechts orientierten deutschen Lehrpersonen in diesem Zusammenhang, be-
sonders stark aber im ersten Muster, vorgeworfen wird, andere Gruppierungen
von Schülerinnen und Schülern, nämlich vor allem jene mit Migrationshin-
tergrund – und hier besonders die männlichen – zu bevorzugen, sehen Schü-
lerinnen und Schüler aus Familien mit nicht-deutschen Wurzeln dies häuÀg
genau umgekehrt.
• SpeziÀsche Probleme bestehen allerdings nicht nur zwischen den Jugendlichen
und den Lehrkräften, von denen deutlich mehr – möglicherweise sogar etwas
völlig anderes – erwartet wird als die bloße Vermittlung von Lernstoff. Als
problematisch erweisen sich zumindest im ersten, im dritten und im vierten
Muster auch die Beziehungen zu den Mitschülerinnen und Mitschülern. Weit
verbreitet ist das EmpÀnden, ein dichtes Netz freundschaftlicher Beziehungen
zu entbehren.
• Wenn auch zwischen individuellen Leistungsproblemen und der AfÀnisierung
durchaus Zusammenhänge bestehen, so handelt es sich hier doch nicht um ein
Kausalverhältnis, zumal das zu Grunde liegende persönliche Wertemodell den
Leistungsaspekt und die Erfolgskultur eigentlich anerkennt und bejaht.
Rechtsextremismus und pauschalisierende Ablehnungen 395

Den lebensweltlichen Mittelpunkt von AfÀnisierungsprozessen bilden auch im


Abgrenzungsbemühen gegenüber den genannten Sozialisationsinstanzen freiwilli-
ge Referenzbeziehungen, also Cliquen und andere Gesellungen von Jugendlichen.
Unabhängig vom jeweilig dominierenden Muster gibt es diesbezüglich Gemein-
samkeiten zwischen den sich afÀnisierenden Jugendlichen:

• Stark verbreitet ist bis hin zur AfÀnisierung, zum Teil noch in ihrer Frühpha-
se, das Gefühl, nicht über verlässliche Peer-Netzwerke zu verfügen. Wo solche
Netzwerke doch existieren, herrschen häuÀg Handlungsorientierungen vor, die
sich nicht fundamental von den Handlungsorientierungen der (extrem rechten
oder andere Ablehnungskonstruktionen propagierenden bzw. auslebenden)
Szene unterscheiden und eine Hinwendung damit erleichtern.
• Die Cliquen und Gruppen Ànden in Gewaltausübung zur Austragung territo-
rialer KonÁikte und z. T. im Alkoholkonsum zentrale Vergemeinschaftungs-
faktoren. Keinesfalls sind sie aber auf solche sozialen Praxen zu reduzieren,
denn sie nehmen daneben auch alle anderen für Peergroups üblichen Aufgaben
wahr, also vor allem eine gemeinsame Freizeitgestaltung zu gewährleisten, die
durchaus auch – vielleicht sogar in erster Linie – aus gänzlich ‚harmlosen’ ju-
gendtypischen Aktivitäten bestehen kann. Dies gilt in besonderem Maße für
das zweite und das dritte Muster.
• Der Cliquencharakter impliziert bei aller unterschiedlichen Form, die ein Ver-
band annehmen kann, auch eine gewisse strukturelle Offenheit. Die Jugend-
lichen steigen nicht in verfestigte und hierarchisch durchstrukturierte ‚Ka-
meradschaften’ bzw. ‚Kampfgruppen’ ein, sondern in Gruppen mit niedrigem
Formalisierungsgrad sowie entsprechend hoher Fluktuation und inhaltlicher
Indifferenz.
• Dennoch unterscheiden sich sowohl die Gruppen als auch die ihnen ange-
hörenden Jugendlichen von vergleichbaren Cliquen anderen Hintergrunds, vor
allem weil bei einem Großteil eine der AfÀnisierung vorangehende Nähe zu
gewaltförmigen KonÁiktlösungsmustern vorherrscht, die mit einer verbalen
Sprachlosigkeit einhergeht und entsprechende auf Körperlichkeit basierende
Kommunikationsstrukturen nahelegt. Dies schlägt sich auch in einer signiÀ-
kanten Überzahl männlicher Mitglieder nieder.
• Kaum ausgeprägt sind Interessen nach Entfaltung von Individualität und per-
sönlicher Unverwechselbarkeit. Angestrebt wird eher die Teilhabe an einem
größeren Zusammenhang, mit dem die Generierung von Macht und Selbstwert-
gefühl im Kollektiv – später in der Konsolidierung dann explizit der „Masse“,
des „Mobs“, der „Horde“ oder des „Rudels“ – assoziiert wird.
396 Kurt Möller

Neben diesen bereits genannten Sozialisationsbereichen spielen Erfahrungen in


Partnerschaften eine eher untergeordnete Rolle. Insgesamt bestehen zwischen der
Art der AfÀnisierung und der Form der Beziehungsführung keine engeren Zu-
sammenhänge. Allerdings Ànden sich quer durch alle Muster bestimmte Sicht-
weisen auf partnerschaftliche Beziehungen und geschlechtsabhängiges Rollenver-
halten, die in einem engen Zusammenhang mit der politischen und kulturellen
AfÀnisierung stehen.

• Bei männlichen Jugendlichen dominieren Beziehungsmuster und -vorstellun-


gen, die ihre Vorbilder anscheinend vor allem in den ihnen bekannten Traditio-
nen heterosexueller Partnerschaften und in ihren eigenen familiären Strukturen
Ànden. Die Jungen sind dabei die aktiveren Beziehungsteile, die für die Arti-
kulation und aktive Durchsetzung von Meinungen und Zielen zuständig sind,
während den Mädchen eine deutlich passivere Rolle zugewiesen wird.
• Diese zugewiesene Passivität reicht so weit, dass die Mädchen zwar des Öfteren
als Gleichgesinnte dargestellt, aber im Regelfall alltagsweltlich aus den Szene-
strukturen herausgehalten werden. Es wird also weniger auf Übereinstimmung
und Verknüpfung verschiedener Lebensbereiche gesetzt als auf deren Parzel-
lierung: die Trennung zwischen dem Privaten, in dem Momente klassischer
Zweisamkeit vorherrschen und dem Öffentlichen, in dem der Gestus des Rebel-
lischen und vor allem auch des Männerbündischen gepÁegt wird.
• Allerdings liegen die Anfänge weiblicher AfÀnisierung ganz offenbar nicht
regelhaft in Beziehungen mit dominanten männlichen Partnern. Entgegen einer
weit verbreiteten Klischeevorstellung sind für sie sehr wohl zum Teil auch eige-
ne Überlegungen, Vorstellungen und Zielsetzungen ausschlaggebend.

Erfahrungen bzw. Nicht-Erfahrungen mit Jugend- und Sozialarbeit sind für den
AfÀnisierungskontext aus verschiedenen Gründen von potentieller, zum Teil auch
von ganz praktischer Bedeutung. Zum einen können Angebote Sozialer Arbeit
integrierende Funktionen haben und Erfahrungen ermöglichen, die einer AfÀni-
sierung Grenzen setzen. Zum anderen können aber soziale Einrichtungen auch
den Rahmen darstellen, innerhalb dessen AfÀnisierungsprozesse eine Versteti-
gung Ànden.

• Zumindest für das erste, dritte und vierte AfÀnisierungsmuster kann resümiert
werden, dass die Bereitschaft zur politischen und kulturellen AfÀnisierung
bzw. die Bereitschaft, sich einer entsprechenden Gruppe anzuschließen, vor al-
lem Jugendliche erfasst, die nicht von Angeboten Sozialer Arbeit angesprochen
werden oder bereits angesprochen worden sind. So wie sie in anderen sozialen
Rechtsextremismus und pauschalisierende Ablehnungen 397

Kontexten kaum auf verlässliche soziale Netzwerke zurückgreifen können oder


meinen zurückgreifen zu können, sind auch sozialarbeiterische bzw. -pädago-
gische Angebote nicht in der Lage, sie anzusprechen oder werden schlichtweg
nicht gemacht.
• Anders stellt sich das Bild dort dar, wo die AfÀnisierung im Kontext herr-
schender Hegemonialverhältnisse stattÀndet. Hier zeigt sich zwar eine zum
Teil außerordentlich große individuelle Problembelastung der Jugendlichen, sie
sind aber gerade nicht von institutionellen Hilfsangeboten alleine gelassen und
fühlen sich – zumindest was Angebote der Jugendarbeit angeht – in der Regel
auch nicht ausgeschlossen. Allerdings zeitigen die Angebote nicht unproblema-
tische Wirkungen, wenn Deutungsangebote aus herrschenden Hegemonialver-
hältnissen gleichsam von außen in die Einrichtungen schwappen und diese von
der Sozialarbeit nicht fachlich-(selbst)kritisch thematisiert werden.

1.4 Personale Kompetenzen

Bei allen biographischen Unterschieden und voneinander abweichenden sozialisa-


torischen EinÁüssen ergibt sich gerade hinsichtlich der zur Verfügung stehenden
personalen Kompetenzen der Lebensbewältigung ein oft außerordentlich homo-
genes Bild, das bereits für die Zeit vor ihrer beginnenden AfÀnisierung gültig zu
sein scheint. Zusammengefasst stellt es sich wie folgt dar: Die Fähigkeit und die
Bereitschaft zur Selbst-, Verhältnis- und SachreÁexion sind insgesamt kaum ent-
wickelt. Nur schwach entfaltet ist auch die Bereitschaft, Verantwortung zu überneh-
men. Zwar soll durch die Einnahme der Haltung des sich nunmehr gegen konkrete
Gefahr oder undurchschaubare Lebensumstände Wehrenden suggeriert werden,
dass ab jetzt und zukünftig für sich und andere Schutz sowie jene eindeutigen Ver-
hältnisse organisiert werden, die als anderenorts versagt wahrgenommen werden.
Allerdings handelt es sich hier eher um eine Pose, die an die Institutionen adressiert
bleibt, die nach Ansicht der Jugendlichen originär für ihren Schutz zuständig sind,
also vor allem Schule und Elternhaus, was auch einer Delegierung von Verant-
wortung gleichkommt. Auch die Hinwendung zur Ausgrenzung betreibenden, vor
allem rechtsextremen Gruppe ist in diesem Sinne ein weiterer Versuch, innerhalb
einer schützenden hierarchischen Gemeinschaft Verantwortung abgeben zu können.
Die Bereitschaft und Fähigkeit zum Perspektivenwechsel sind deÀzitär entwickelt.
Andere Standpunkte können kaum anders als kalkulatorisch wahrgenommen und
nachvollzogen, zumindest nicht oder nur in Ansätzen diskursiv verhandelt werden.
Empathie fehlt nicht völlig, wird aber in erster Linie Angehörigen der In-Group
entgegengebracht, also Familienangehörigen, Mitgliedern des Gruppenverbandes
398 Kurt Möller

und Angehörigen des nationalen Kollektivs, dem man sich selber zurechnet. Die
verbale KonÁiktfähigkeit ist vor allem bei männlichen Jugendlichen deutlich unter-
entwickelt. Der Vorstellung, sich immer und überall verteidigen zu müssen, ent-
spricht die Neigung, KonÁikten aus dem Weg zu gehen oder sie mit dem Einsatz
personaler Gewalt lösen zu wollen. Die Akzeptanz gegenüber Gewalt ist durchge-
hend hoch, die praktische Anwendung bleibt jedoch eher eine Sache der (jungen)
Männer, wenngleich sich auch manche Mädchen und Frauen durchaus als willens
und fähig erweisen, selber Gewalt anzuwenden. Zahlreiche Jugendliche mit Ab-
und Ausgrenzungstendenzen gegenüber zu Anderen Gemachten, kurz: Geanderten
(vgl. Reuter, 2002), zeigen mehr oder weniger große Probleme mit ihrer Affektre-
gulierung. Die Hemmschwelle, Gewalt anzuwenden, ist grundsätzlich niedrig und
wird nicht selten durch den exzessiven Konsum von Alkohol weiter gesenkt. Kaum
entwickelt sind Ambiguitäts- und Ambivalenztoleranz sowie Rollendistanz. Im
Gegenteil geht es vor allem um Vereindeutigungen undurchschaubar erscheinender
Situationen und darum, eine Rolle zu Ànden und einzunehmen, mit deren Hilfe
individuelle Bedürfnisse nach Stärke und Gemeinschaft generiert werden können.
Entsprechend leitet sich Selbstwertaufbau weniger aus erworbenen Eigenschaften
und Kompetenzen der eigenen Person ab, sondern aus dem Umstand der Zugehörig-
keit zu einer Gruppe oder Szene, in der die eigene Handlungsorientierung kultiviert
und die Vorstellung entwickelt werden kann, über den Einsatz von Gewalt und die
Darstellung kollektiver Stärke Macht und EinÁuss zu erhalten.

2 Fazit: Die KISSeS-Strategie –


Grundlegende Orientierungen zur Bearbeitung
von Rechtsextremismus und pauschalisierenden
Ablehnungskonstruktionen (PAKOs)

Ziehen wir eine Bilanz des oben Ausgeführten, so ist zu konstatieren: Jugendliche
sind zumeist dann besonders gefährdet, zu Trägern von ablehnenden Haltungen zu
werden, wenn ihre Lebensgestaltungsinteressen in Gestalt von KISSeS-Ansprü-
chen unabgedeckt bleiben; d. h. wenn

• sie in ihrer Lebensführung gemessen an ihren Erwartungen Kontrollmängeln aus-


gesetzt sind – dies entweder als KontrolldeÀzite im Hinblick auf das Management
ihrer persönlichen Geschicke und/oder – eher fraternal – des Lebens jenes Kol-
lektivs, dem sie sich zuordnen. Oder sie erfahren Kontrollmängel als Indifferenz
und Inkonsequenz der sozialen Kontrolle jener jugendlichen Lebensvollzüge, die
Ablehnungspraxen darstellen;
Rechtsextremismus und pauschalisierende Ablehnungen 399

• sie Schwierigkeiten der Integration in demokratisch und gewaltfrei struktu-


rierten Kontexten verspüren, weil sie mangelnde Zugehörigkeit, Teilhabe,
Partizipationschancen und IdentiÀkationsmöglichkeiten erleben, oder weil die
Integrationsmodi, die sie für sich offenstehen sehen, Integration auf undemo-
kratische und (potenziell) gewaltförmige Weise offerieren (etwa als Nationalis-
mus, Maskulinismus, Islamismus u.ä.m.);
• ihnen sozial akzeptierte Formen sinnlichen Erlebens nicht zugänglich sind und
damit genussvolle Befriedigung psycho-physischer Bedürfnisse im Alltag aus-
bleibt oder als unzumutbar beschränkt erlebt wird;
• sie Sinnerfahrung und -stiftung nicht hinreichend außerhalb von Ablehnungs-
kontexten erleben, etwa in individuell befriedigender und sozial nicht schädi-
gender Weise im schulischen und beruÁichen Bereich, in Bereichen der priva-
ten Lebensplanung oder auch in religiösen und weltanschaulichen Bezügen;
• Verarbeitungssymbole und Deutungsangebote für solche Erfahrungen in Ge-
stalt von Ablehnungskonstruktionen einerseits im biograÀsch aufgebauten
Speicher von erfahrungsstrukturierenden Repräsentationen, also von individu-
ell vorhandenen bildhaften Vorstellungen, Symbolen und Kodes (vgl. Moscovi-
ci, 1973), bereits als LeitÀguren existieren und andererseits im realen oder vir-
tuellen Sozialraum diskursiv präsent sind und dadurch Attraktivität entfalten
können, dass sie in der Lage sind, sich angesichts der oben benannten Mangel-
erfahrungen als lebensbewältigungs- und -gestaltungsfunktional darzustellen;
• Selbst- und Sozialkompetenzen aufgrund von Mängeln in den Bereichen von
Kontroll-, Integrations-, Sinnlichkeits- und Sinnerfahrung nicht so weit ent-
wickelt werden, dass sie die Erfahrungsvollzüge in einer Weise aufsuchbar,
beschreibbar, deutbar, bewertbar und einordbar erscheinen lassen, die in aus-
reichendem Maße Resistenzen gegenüber (diskursiven Angeboten von) Ableh-
nungskonstruktionen aufbauen könnte.

Zentrale Konsequenz für politische, zivilgesellschaftliche, pädagogische und so-


zialarbeiterische Strategien muss dementsprechend sein, den Herausforderungen
adäquat zu begegnen, die durch die Beschränkung von KISSeS-Erfahrungen,
insbesondere bei den nachwachsenden Generationen kulminieren. Zielführendes
Handeln gegen Rechtsextremismus und andere Formen von Menschenverachtung
kann dabei nicht sein, politisch-moralisierend auf der ‚richtigen’ Seite Position
zu beziehen. Es darf sich aber auch nicht darin erschöpfen, argumentativ-kom-
munikativ gegen pauschalisierende Ablehnungskonstruktionen vorzugehen. Viel-
mehr gilt: Wer nachhaltig un- und antidemokratische Bestrebungen abbauen will,
kommt nicht umhin, für Lebensverhältnisse und insbesondere Strukturen des Auf-
wachsens zu sorgen, die für alle Gesellschaftsmitglieder Plattformen für Erfah-
400 Kurt Möller

rungen demokratischer Kontrolle, Integrationschancen und Sinnstiftungsmöglich-


keiten zur Verfügung stellen. Diese sollten eine positive sinnliche Valenz besitzen,
die Entwicklung von Repräsentationen ermöglichen, die auf demokratische und
gewaltferne Weise Erfahrungen strukturierbar machen, und die Selbst- und So-
zialkompetenzen befördern, mit denen individuell Handlungssicherheit bei Wah-
rung personeller Einzigartigkeit und Ermöglichung sozialer Anschlussfähigkeit
erlebbar wird.1

1 Was sich in der hier gebotenen Abbreviatur reichlich abstrakt anhören mag, wird
gegenwärtig in einem Wissenschaft-Praxis-Kooperationsprojekt umgesetzt, das an der
Hochschule Esslingen gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung und der
Robert-Bosch-Stiftung durchgeführt wird (vgl. http://www.hs-esslingen.de/fileadmin/
medien/schulung/2013_11_12/Swantje_Kubillus/Möller_Rückgrat_140710.pdf (Zu-
griff am 20.01.2015)).
Rechtsextremismus und pauschalisierende Ablehnungen 401

Literatur
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Demokratieförderung
und Rechtsextremismusprävention
in den Bundesländern

Eine vergleichende Analyse der Landesstrategien

Franziska Schmidtke

1 Einleitung

Die Bekämpfung von rechtsextremen Einstellungen und Verhaltensweisen, bzw.


demokratiegefährdenden Ideologien der Ungleichwertigkeit, hat in den letzten
Jahrzehnten deutlich zugenommen. Zuvor, Anfang der 1990er Jahre, hatte die
wiedervereinigte Bundesrepublik einen massiven Ausbruch ausländerfeindlicher
Gewalt durchlebt. Die Bilder von Solingen, Mölln, Rostock Lichtenhagen und
Hoyerswerda schrieben sich ein in das nationale Gedächtnis; sie wurden zu einem
Kristallisationspunkt, der es der Öffentlichkeit und politischen Entscheidungsträ-
gern zugleich verdeutlichte: Auch in der wiedervereinigten Bundesrepublik war
und ist rechtsextremes Denken und daraus motiviertes Handeln virulent. Es waren
Anstöße für eine erste Phase der Auseinandersetzung. Weitere folgten – und heute
Ànden wir eine Situation vor, in der Bund und Länder Ànanzielle Mittel zur Prä-
vention von rechtsextremen Ideologien aufwenden.
Zugleich beÀndet sich der parteiförmig organisierte Rechtsextremismus heu-
te in einer Umbruchsituation. Die NPD ist durch Mitgliederschwund, Ànanzielle
Einbußen und interne Streitigkeiten geschwächt. Davon proÀtieren Parteien, die
einen „modernisierten“ Rechtsextremismus vorantragen: Unter ihnen Ànden sich
die populistisch agierende rechtsextreme Partei Pro NRW mit seinen Ablegern
Pro Köln und Pro Deutschland, den Nachfolgern des Freien Netz Süd, der Partei
Der dritte Weg und die sich mittlerweile bundesweit etablierte rechtspopulistische
bzw. rechtspopulistisch beeinÁusste Alternative für Deutschland (AfD). Zudem
ist der Bewegungscharakter der rechtsextremen Szene deutlich wie nie; Autonome

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_17, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
404 Franziska Schmidtke

Nationalisten, Freie Kräfte, Neue Rechte, Identitäre Bewegungen und Demons-


trationsverbände mit Namen wie HoGeSa (Hoolings gegen SalaÀsten) und PE-
GIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) erleben
derzeit ein Hoch. Und auch auf Einstellungsebene lässt die Virulenz rechtsextre-
mer Ideologien nicht nach. Etablierte Messkonventionen des Bielefelder Instituts
für interdisziplinäre KonÁikt- und Gewaltforschung und der Mitte-Studien, sowie
regionale Studien wie der Thüringen-Monitor halten ein stabiles Maß gefestigter
rechtsextremer Einstellungsdimensionen fest. Auch wenn sich einzelne Dimensio-
nen seit Mitte der 2000er Jahre rückläuÀg entwickeln, wachsen zugleich alarmie-
rende Werte für neue, aber anschlussfähige Dimensionen wie Antiziganismus und
Islamfeindschaft an (vgl. Decker & Brähler, 2014). Vor diesem Hintergrund ist die
demokratische Kultur in Deutschland nach wie vor gefährdet.
Die staatliche Auseinandersetzung mit dem beschriebenen Phänomen begann
1992 mit der AuÁage eines ersten Bundesprogramms. Darauf folgten mit eini-
ger Verzögerung die Bundesländer, in denen das Thema aber zu unterschiedli-
chen Zeitpunkten virulent wurde. Die jeweiligen Programme wurden mit bis zu
15 Jahre Differenz eingeführt und dementsprechend variieren auch ihre Zugänge
und Strategien.1 Trotz der damit entstandenen spannenden Vergleichsperspekti-
ve liegen bisher nur wenige Analysen einzelner Programme vor.2 Diese Lücke
bearbeitet die Autorin umfassend im Rahmen ihrer Dissertation. Die folgende
Darstellung stellt nur einen Ausschnitt möglicher Vergleichspunkte vor. Konkret
handelt es sich dabei um die Instrumente, Zuschnitte und Funktionslogiken der
Landesprogramme zur Rechtsextremismusprävention und Demokratieförderung.
Damit liegt eine Analyse vor, die einen Überblick über den staatlichen Umgang
mit Ungleichwertigkeitsideologien verschafft, die Vielfalt der staatlichen Rechts-
extremismusbekämpfung kennzeichnet und ihre Tendenzen und Entwicklungen
charakterisiert. Da zudem das Label Landesprogramm ein gern vergebenes ist,
das aber keiner gemeinsam geteilten deÀnitorischen Grundlage folgt, sind erhebli-
che Differenzierungen entlang der genannten Vergleichspunkte zu erwarten. Diese

1 Das erste Landesprogramm verabschiedete Brandenburg im Jahr 1999; Schleswig-


Holstein stellte dagegen das jüngste Programm 2013 vor.
2 Die bisher vorliegenden Beiträge zu einzelnen Landesprogrammen sind vor allem
Evaluationen, politische Berichte über die Programmumsetzung, Dokumentationen
und Veröffentlichungen aus den Landesprogrammen heraus. Daneben gibt es einige
Kommentare von Akteuren des Feldes und nur eine geringe Zahl von wissenschaft-
lichen Analysen, die sich aber auch dann nur einzelnen politischen Programmen wid-
men. Darüber hinaus gibt es natürlich eine breite Forschung, die sich mit Wirksamkeit
und Passfähigkeit von Präventionsstrategien auseinandersetzt.
Demokratieförderung und Rechtsextremismusprävention … 405

Unterscheidungsmerkmale beinhalten Hinweise auf den qualitativen Gehalt der


Programme, die die Analyse ebenfalls vorstellt.

2 Datengrundlage und Vorgehen

Die Grundgesamtheit der vorliegenden Expertise bilden Programme, Handlungs-


konzepte oder Strategien, die ihrem Selbstverständnis nach ein landesweites Vor-
gehen gegen Rechtsextremismus bzw. Ungleichwertigkeitsideologie beinhalten
und die mit ihrer Implementierung zusätzliche Landesmittel auf die Prävention
von Rechtsextremismus verwenden. In Rheinland-Pfalz, Bremen, dem Saarland
und Baden-Württemberg liegen derzeit weder koordinierte Programme vor, noch
sind ebensolche Forderungen bereits auf der politischen Agenda angelangt. Dem-
entsprechend sind diese Länder hier nicht erfasst. Gleichwohl soll damit keine
qualitative Aussage über deren Engagement der Rechtsextremismusprävention an-
gedeutet werden. Teils bestehen in den Ländern ausdifferenzierte Einzelprojekte
oder erhebliche Förderung durch den Bund. So dokumentiert beispielsweise der
Bremer Senat seine Aktivitäten in unregelmäßigen Berichten über die Entwick-
lung von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit und reÁektiert vor diesem
Hintergrund die Gegenmaßnahmen.3

3 Der letzte Bericht erschien 2013 und bildete den fünften seiner Art (Senat der Freien
Hansestadt Bremen, 2013).
406

Tabelle 1 Titel und Implementierungsjahr der Landesstrategien zur Rechtsextremismusprävention (kursiv gesetzt sind Programme,
die aktuell erarbeitet werden)
Bundesland Titel Implementierung
Brandenburg „Tolerantes Brandenburg“ – Handlungskonzept der Landesregierung gegen 1998
Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit
Berlin Berliner Landesprogramm gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Anti- 2002
semitismus
Sachsen Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz 2005
Mecklenburg-Vorpommern Demokratie und Toleranz gemeinsam stärken 2006
Thüringen Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit 2010
Sachsen-Anhalt Landesprogramm für Demokratie, Vielfalt und Weltoffenheit 2012
Bayern Bayerisches Handlungskonzept gegen Rechtsextremismus 2009
Schleswig-Holstein Landesprogramm zur Demokratieförderung und Rechtsextremismusbekämp- 2013
fung
Hamburg Landesprogramm zur Förderung demokratischer Kultur, Vorbeugung und Be- 2013
kämpfung von Rechtsextremismus
Nordrhein-Westfalen Handlungskonzept gegen Rechtsextremismus und Rassismus
Niedersachsen –
Hessen Landesprogramm gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus –
für Vielfalt und Toleranz in Hessen
Franziska Schmidtke
Demokratieförderung und Rechtsextremismusprävention … 407

Als Datengrundlage dienen die jeweiligen Programme selbst, darüber hinaus aber
auch Landtagsdokumentationen, Presseberichterstattung, wissenschaftliche Pub-
likationen und Veröffentlichungen aus den Programmen heraus. Erweitert wurde
diese Datengrundlage zudem durch leitfadengestützte Hintergrundinterviews mit
landesspeziÀschen Experten des Feldes. Die zugrunde liegenden Daten wurden
mithilfe einer strukturierenden Inhaltsanalyse nach Mayring (2000) bearbeitet.4
Die im Text vorgestellten Kategorien und Unterscheidungsmerkmale basieren auf
eben jenen Inhaltsanalysen.

3 Inhaltliche Ausrichtung der Landesprogramme

3.1 Problemdefinitionen und Zielstellungen

Die Titel der Landesstrategien vereinen zunächst eine Reihe von wiederkehrenden
BegrifÁichkeiten wie die des Rechtsextremismus und der Demokratie. Die in den
Titeln zum Ausdruck kommenden Zielstellungen sollen zur Stärkung der Demo-
kratie beitragen und dabei demokratiegefährdenden Tendenzen entgegen treten.
Wie auch die oben stehende Tabelle 1 zeigt, sind die Ausrichtungen der Program-
me meist positiv bestimmt, sie stehen für etwas ein. Dieses Etwas wird mit Be-
griffen wie Demokratie, Toleranz oder Weltoffenheit überschrieben. Zugleich for-
mulieren einige Titel auch eine negative Ausrichtung, wobei sie sich explizit gegen
Rechtsextremismus wenden.
Damit lassen sich die Programme nur grob unterscheiden. Die Differenzierung
gewinnt erst mit Blick auf die Operationalisierungen von Begriffen wie Rechts-
extremismus und Demokratie in den Landesprogrammen deutlich an Kontur und
legt zugleich unterschiedliche Problem- und Lösungsstrategien der Länder offen.
Hier treffen die Programme auf eine Begriffsdebatte, deren Untiefen auf teils
jahrzehntelange wissenschaftliche Diskurse zurückgehen und deshalb einem
geteilten, universellen Begriffsverständnis entgegenstehen. Gerade der Begriff
Rechtsextremismus bedarf nicht allein für wissenschaftliche Analysen eine trenn-
scharfe DeÀnition, sondern auch weil er in öffentlichen Auseinandersetzungen
über Ideologien der Ungleichwertigkeit nicht mehr wegzudenken ist. Eben dieser

4 Die Methode nach Mayring vereint quantitative und qualitative Analysestrategien


zu einer Form der Inhaltsanalyse, die flexibel auf das entsprechende Datenmaterial
reagiert. Mayring schlägt drei Typen des Vorgehens vor, die je nach Forschungsziel
ausgewählt werden. Dazu zählen Zusammenfassung, Explikation und Strukturierung
(vgl. Mayring, 2000).
408 Franziska Schmidtke

Wirkmächtigkeit wohnt aber zugleich einer begrifÁiche Unsicherheit inne, die es


zwingend notwendig werden lässt, das jeweilige Konzept hinter dem Begriff ge-
nauer darzustellen. Bevor Ausdifferenzierungen und theoretisch-konzeptionelle
Bezugnahmen der Programme in den Vordergrund treten, führen die folgenden
Sätze kurz in die sozialwissenschaftliche Begriffsdebatte ein, die die Unschärfe
des Begriffs verdeutlicht und einordnet.
Rechtsextremismus ist in seiner begrifÁichen Genese eng an das Konzept des
Extremismus gebunden, welches in den 1960er Jahre Gegenstand politikwissen-
schaftlicher Deutungen wurde und sich durch seine Gegnerschaft zum demo-
kratischen Verfassungsstaat auszeichnet (vgl. Backes, 1989; Kowalsky, 1993).
Rechtsextremismus wurde so zunächst ein politischer Begriff, der fortan in Ver-
fassungsschutzberichten auftauchte und eben solche Bestrebungen beschrieb, die
sich gegen die verfasste Demokratie richten. Ende der 1980er Jahre erschienen eine
Reihe von soziologischen Begriffskritiken- und deutungen, die vor allem Ursachen
des Phänomens fokussierten. Heitmeyer (1992), Friedrich (1992) und andere (etwa
Jaschke, 1994; Melzer & Schubarth 1995; Pilz, 1994) griffen den Kern des Ext-
remismuskonzepts an, da in den sozialwissenschaftlichen DeÀnitionsvorschlägen
nicht die organisatorisch aufgefangene und kanalisierte Feindlichkeit zu einem
politischen System im Vordergrund stand – sondern individuelle Einstellungen
im sozialen Kontext. Ein weiterer Angriffspunkt ist die dem Extremismuskonzept
inhärente Gleichsetzung von Rechts- und Linksextremismus. Bis heute ist dieser
KonÁikt im Grunde nicht aufgelöst. Durchgesetzt hat sich aber zumindest eine
dimensionale Unterscheidung, die es ermöglicht rechtsextreme Einstellungen von
entsprechenden Verhaltensweisen grundsätzlich zu unterscheiden. Die zahlreichen
empirischen Studien, die seit Beginn der 2000er Jahre die Verbreitung von rechts-
extremen Einstellungen in der Bevölkerung verdeutlicht haben, ließen auch das
Begriffsverständnis des Rechtsextremismus von seiner politikwissenschaftlich ge-
leiteten Verengung auf organisierte Formen wie Parteien, Vereine und Bürgerini-
tiativen wegrücken.5 Studien, die rechtsextreme Einstellungen in der Mitte der Ge-
sellschaft6 nachwiesen, unterstützten diese Bedeutungsverschiebungen. Während

5 Dazu zählt das Projekt der Deutschen Zustände (Heitmeyer, 2002 bis 2012), welches
von 2003 bis 2013 jährlich Einstellungen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlich-
keit maß, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebenen und im zweijähr-
lichen Modus abgefragten, sogenannte „Mitte-Studien“, sowie einige Regionalstudien
wie der Thüringen-Monitor und eingeschränkt auch der Sachsen-Anhalt-Monitor.
6 Wiederholt kritisiert wurde zugleich die Operationalisierung einer gesellschaftlichen
Mitte. Unabhängig von diesen Unschärfen aber, zeigten die Studien einhellig wie
rechtsextreme Einstellungen in allen Teilen der Bevölkerung vorhanden sind und auch
aus diesem Grunde eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung darstellen.
Demokratieförderung und Rechtsextremismusprävention … 409

im Hufeinsenmodell (eine gern gewählte Visualisierung der Extremismustheorie)


allein zwischen der demokratischen Mitte und den extremistischen Rändern unter-
schieden wird, zeigen die Ergebnisse der Einstellungsforschung deutliche Facetten
auf, welche die Dualismen von Mitte vs. Rand und demokratisch vs. extremistisch
aufheben. Eben für solche Messungen im Einstellungsbereich gab es wiederhol-
te Versuche, ein einheitliches Messinstrument festzulegen und damit auch einen
Konsens über den Charakter des Phänomens herzustellen (vgl. Kreis, 2007; Best &
Schmidtke, 2013). Während der Konsens über eine verbindliche Messkonvention
scheiterte, erweist sich doch die DeÀnition rechtsextremer Einstellungen als eine
auf Ungleichwertigkeitsvorstellungen basierende Ideologie als treffsicher und bis
heute als tragfähig. Die Ideologie der Ungleichwertigkeit ist daher eine adäqua-
te begrifÁiche Alternative für rechtsextreme Einstellungen, die in Fachdiskursen
durchaus genutzt wird, aber in politischen und öffentlichen Debatten der Vokabel
Rechtsextremismus nicht den Rang abläuft.
Wie verorten sich nun die Landesprogramme in diesen Debatten, welche Be-
züge greifen sie auf und welche Anknüpfungspunkte wählen sie? Es wurde be-
reits deutlich, dass die Landesprogramme vom Begriff Rechtsextremismus keinen
Abstand nehmen. Darüber hinaus Àndet sich aber in den Texten der Landespro-
gramme deutliche Differenzierung, die sich auf den Polen zwischen Vertretern
des Extremismuskonzepts und Vertretern einer (vereinfacht gesagt) soziologi-
schen Konzeption beschreiben lassen. Die nachfolgende Tabelle verzeichnet einige
Merkmale die eine Verortung der Landesprogramme auf einer konzeptionell-theo-
retischen Ebene erleichtern.
Tabelle 2 Theoretisch-konzeptionelle Verortung der Programme
410

Land Brandenburg Berlin Sachsen Mecklenburg- Thüringen Sachsen- Bayern Schleswig- Hamburg
Vorpommern Anhalt Holstein
Lagebild Nein Ja Nein Ja Ja Ja Ja Ja Ja
Gefähr- Deformie- Friedliches Angriff Angriff Gefähr- Gefahr für Angriff Nicht be- Grund-
dungs- rung des Zusammen- auf auf Gesell- dung der Staats- und auf nannt sätze eines
potenzial demokratischen leben FDGO schaftsord- demo- Verfas- FDGO toleranten
Gemeinwesens nung kratischen sungsord- und demokr.
Kultur, nung Zusammen-
Angriff auf lebens
FDGO
Ursa- Individualisie- Nicht be- Nicht DeÀzite der viel- Distanz Nicht Nicht be- Psycho-
chen- rung, fehlende nannt benannt demokrati- gestaltiga zur demo- benannt nannt logische
beschrei- Geschichts- schen Kultur kratischen Faktoren,
bung aufarbeitung, Praxis Sozialisation,
makrosoziale makrosoziale
Entwicklungen Entwicklun-
gen
Fokus Ausdifferen- Ausdiffe- Extre- Extremismus Misch- Extre- Extre- Ausdiffe- Ausdifferen-
zierung von renzierung mismus typusc mismus mismus renzierung zierung von
Rechtsextre- von Rechts- von Rechts- Rechts-
mismusb extremis- extremis- extremismus
mus (GMF) mus (GMF)
Erwäh- Nein Nein Nein Nein Ja Ja Ja Nein Nein
nung
anderer
Extre-
mismen
Franziska Schmidtke
Demokratieförderung und Rechtsextremismusprävention … 411

Anmerkungen zu Tabelle 2:
a Einige weitere Hinweise gibt die dem Landesprogramm vorangestellte Expertise „Ge-
fährdungen der demokratischen Kultur in Thüringen. Rechtsextremismus und politische
Entfremdung“ (Edinger, 2010).
b Konkret auf Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus.
c Das Landesprogramm wendet sich gegen alle Formen des Extremismus, differenziert
anschließend aber sehr deutlich rechtsextreme Ideologiefragmente aus und stellt diese
klar in den Vordergrund.

Eines der wenigen eindeutig zuordenbaren Programme liefert Hamburg. Hierin


ist festgeschrieben: „Rechtsextremismus ist ein von Ungleichwertigkeitsvorstel-
lungen geprägtes Einstellungsmuster.“ (Hamburg – Stadt mit Courage, 2013, S. 7)
Diametral entgegengesetzt lässt sich Bayern einordnen. Im dortigen Handlungs-
konzept heißt es:

„Politischen Extremismus kann man als eine gesteigerte Form des Radikalismus
verstehen, der fundamentale Veränderungen an unserer Gesellschaftsordnung an-
strebt und dabei die Grenzen des demokratischen Rechtsstaats in Frage stellt oder
überschreitet. Er bedeutet einen Angriff auf die freiheitliche demokratische Grund-
ordnung des Grundgesetzes.” (Bayrisches Handlungskonzept gegen Rechtsextremis-
mus, 2009,S. 6)

Zwischen diesen Extrempunkten, die sich auf ein sozialwissenschaftliches Kon-


zept bzw. auf das Extremismustheorem beziehen, ordnen sich alle anderen Pro-
gramme ein. Sachsen-Anhalt deÀniert zwar ebenfalls Extremismus als einen An-
griff auf dem demokratischen Verfassungsstaat, unterscheidet dabei aber zugleich
zwischen Einstellungen und Verhaltensweisen: „Alle extremistischen Einstel-
lungen und Bestrebungen richten sich gegen die Grundlage des demokratischen
Verfassungsstaates und den Kernbestand des Grundgesetzes und stelle somit eine
Gefahr für unsere Staats- und Verfassungsordnung dar.“ (LzpB und Netzwerk für
Demokratie und Toleranz, 2012). Auch Thüringen bedient sich verschiedener Be-
züge, die eine eindeutige Zuordnung zu einem Idealtypus verhindert. Im Landes-
programm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit heißt es: „Die Gefährdung
der demokratischen Kultur geht in Thüringen gegenwärtig vorrangig vom Rechts-
extremismus aus. Dabei ist eine getrennte Betrachtung von Einstellungen und Ver-
halten sinnvoll.“ (TMSFG, 2012, S. 12). In weiteren Passagen nimmt das Thüringer
Landesprogramm jedoch auch Bezug auf Linksextremismus und islamistischen
Extremismus, die ebenso wie der Rechtsextremismus im Widerspruch zur freiheit-
lichen demokratischen Grundordnung (FDGO) stehen. Auch wenn die Program-
me Rechtsextremismus als eine Gefährdung der FDGO konstatieren, liegt hierin
ein Hinweis auf eine Anlehnung an die Extremismustheorie zugrunde. Eine solche
412 Franziska Schmidtke

Darstellung untermauert nämlich die Einschätzung, Rechtsextremismus fokussie-


re sich auf normabweichende Verhaltensweisen. Im Gegensatz dazu orientieren
sich Länder mit einem eher sozialwissenschaftlich geprägten Begriffsverständnis
auf eine Gefährdung des friedlichen, demokratischen Zusammenlebens.
Besonders deutlich wird die Differenzierung in die zwei Idealtypen der kon-
zeptionell-theoretischen Anbindung bei der Darstellung von Ursachen für die Pro-
blemlage. Wie schon angedeutet, haben die in den 1990er Jahren beginnenden
soziologischen Analysen stärker auf die Ursachen und Umstände des Phänomen-
bereichs geblickt. Gerade Heitmeyer, der an die Zeitdiagnosen von Ulrich Beck
(1996) anschloss, beschrieb Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse als
wichtige Hintergrundvariablen für das AufÁackern rechtsextremer Ideologien zu
Beginn der 1990er Jahre. Hier rücken makrosoziale Entwicklungen in den Vorder-
grund der Ursachenanalyse. In der wissenschaftlichen Debatte komplementieren
zwei weitere Ursachenbündel das Verständnis über die Entstehung rechtsextre-
mer Einstellungen und Verhaltensweisen. Psychologisch dominierte Erklärungen
setzen auf Individualebene an und sozialpsychologische Einsichten ergänzen
EinÁussfaktoren auf Mesoebene (vor allem Intergruppenbeziehungen). Ähnlich
ausdifferenzierte und umfassende Ursachenbeschreibungen Ànden sich in sol-
chen Programmen wieder, die dem Idealtypus der gruppenbezogenen Menschen-
feindlichkeit folgen. Darüber hinaus orientieren sich einzelne Programme auch
an den EinÁüssen fehlender demokratischer Praxis, die auf die Entwicklung von
rechtsextremen Einstellungen und Verhaltensweisen hinwirken können. Immer-
hin vier Landesprogramme aber reÁektieren die Ursachen für ein zu begegnendes
Phänomen überhaupt nicht. Denn in der Tat können diese beiden Variablen, eine
Situations- und eine Entstehungsanalyse, auch als Hinweise auf die Symbol- bzw.
Ernsthaftigkeit der Programme gewertet werden, schließlich können die hochge-
steckten Programmziele nur durch passgenaue Gegenmaßnahmen erreicht wer-
den, die eben solche Analysen als Grundlage benötigen.
Neben der ProblemdeÀnition lassen sich die Programme durch ein weiteres
Charakteristikum inhaltlich bestimmen. Die Tabelle 1, in der die Programmtitel
zusammengeführt sind, verdeutlicht, dass neben der Auseinandersetzung mit dem
Phänomen Rechtsextremismus auch eine starke demokratiefördernde Kompo-
nente in den Programmen verankert ist. Verbunden ist diese positive Ausrichtung
zumeist noch mit Werten wie Toleranz und Weltoffenheit. Diese positiven Be-
stimmungen bilden eine zweite Dimension, um die Landesprogramme inhaltlich
zu verorten und vergleichen zu können. Spiegelt nämlich auch das Leitbild, die
Zielindikatoren und die Handlungsfelder eine starke demokratiestärkende Fokus-
sierung wieder, ist eine Schwerpunktsetzung in der Primärprävention nur konse-
quent. In diesem Fällen rückt die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Rechts-
Demokratieförderung und Rechtsextremismusprävention … 413

extremismus, als demokratiegefährdende Negativschablone, in den Hintergrund,


und stattdessen soll die Demokratieförderung, als Prävention für eben solche de-
mokratiegefährdende Einstellungen im Vordergrund stehen. Besonders deutlich
ist dieser Aspekt bei den Landesprogrammen von Mecklenburg-Vorpommern und
Schleswig-Holstein. Hier hat man die klassische Auseinandersetzung mit Rechts-
extremismus-Akteuren, die in der Förderung der Bundesprogramme stehen, über-
lassen und ergänzt diese durch demokratiepädagogische Präventionsinhalte, die
stark auf Kinder und Jugendliche sowie Multiplikatoren und Berufsgruppen in
Kontakt mit Kindern und Jugendlichen ausrichten.

3.2 Verortung der Maßnahmen

Die Leitbilder der Landesprogramme enthalten also unterschiedliche Konzepte


über ihre Ziele und das Phänomen, gegen welchen sie sich wenden. Davon blei-
ben auch die Gegenmaßnahmen, zumindest in ihrem konzeptionellen Zuschnitt,
so wie sie im Leitbild formuliert sind, nicht unbeeindruckt. Vielmehr leiten sie
sich sachlogisch von den Problemwahrnehmungen ab. So kann etwa, wenn Rechts-
extremismus als Angriff auf den demokratischen Verfassungsstaat deÀniert wird,
als Gegenmaßnahme nicht allein politische Bildung eingesetzt werden, vielmehr
ist dann davon auszugehen, dass vielfältige Mittel der Repression zum Einsatz
kommen, die dem verhaltensbasierten Gefahrengut entgegentreten.
Um hier eine Verortung vornehmen zu können, ist der Rückgriff auf die Be-
griffsgeschichte der Prävention hilfreich. Caplan (1964) bietet eine psychologi-
sche Differenzierung an. Er untergliedert Prävention in einem Dreischritt, der
parallel zu den heutigen Begriffsverständnissen von Prävention, Intervention und
Repression verläuft. Dieser grundlegenden Differenzierung folgten eine ganze
Reihe weiterer feinerer Untergliederungsvorschläge, die aber für eine Zuordnung
der Landesprogramme wenig geeignet sind, da die Programme nicht über die da-
für notwendige Prägnanz verfügen.
414 Franziska Schmidtke

Tabelle 3 Präventionsstufen nach Caplan (1964)

Primäre Prävention Sekundäre Prävention Tertiäre Prävention


Bedeutung gesellschaftliche Verhinderung von Direkte Auseinander-
Bedingungen für Normverletzungen setzung mit dem
regelkonformes Phänomen
Verhalten schaffen
Maßnahmen Aufklärung, Gegendemos, Opfer- Gesetzeslage, Straf-
Beratung, Bildung, hilfe, Aufarbeitung verfolgung
QualiÀzierung
Zielgruppen Alle Gefährdete Manifest Betroffene

Folgen wir daher C aplans Differenzierung, lassen sich Schwerpunkte der Lan-
desprogramme darin einordnen. Auch hier gilt es eine idealtypische Einordnung
vorzunehmen, die zunächst allein auf den politischen Dokumenten aufbaut, nicht
auf die Förderpraxis.
Tabelle 4 verzeichnet Schwerpunkte der Gegenstrategien. Keines der Landes-
programme ist vollkommen einseitig auf eine der drei Präventionsformen fokus-
siert. Vielmehr Ànden wir vor allem übergreifende Ansätze vor, die zumindest
in den grundlegenden politischen Papieren verschiedene Bereiche der Prävention
abdecken. Der Bereich der Primärprävention ist dabei gerade bei den neueren Pro-
grammen bzw. Programmüberarbeitungen in den Vordergrund gerückt. Besonders
im Fokus steht dabei die Fürsorge des Staates durch Demokratieförderung und
-entwicklung. So ist etwa im erst 2013 implementierten Programm aus Schleswig-
Holstein dem Titel nach die Ausrichtung klar gegen Rechtsextremismus, in seiner
strukturellen Förderung unterstützt es hingegen die Áächendeckende Demokratie-
entwicklung im Land. Auch Mecklenburg-Vorpommern hat in seiner Umsetzungs-
strategie von 2008 einen deutlichen Schwerpunkt auf eben solche Themen formu-
liert, und ebenso nimmt das überarbeitete Brandenburger Handlungskonzept aus
dem Jahr 2005 Demokratieentwicklung und die Förderung der demokratischen
Kultur als ein Ziel auf.
Demokratieförderung und Rechtsextremismusprävention … 415

Tabelle 4 Zentrale Gegenstrategien der Landesprogramme

Land Dominierende Zielstellung Zielgruppen


Gegenstrategie
Brandenburg Prävention Stärkung demokratischer Kinder & Jugendliche,
Kultur Initiativen, Betroffene,
Bildungseinrichtungen,
Pädagogen, Zuwanderer
Berlin Prävention Stärkung u. Weiterent- Jugendliche, Multi-
wicklung einer Kultur plikatoren, Initiativen,
der Anerkennung, Anti- Betroffene
diskriminierung, des
Respekts und Menschen-
würdea
Sachsenb Prävention, Stärkung der demokra- Nicht ausformuliert
Repression tischen Kultur und der
FDGO
Mecklenburg- Prävention Nachhaltige Stärkung Alle an Demokratisie-
Vorpommern der Zivilgesellschaft rungsprozessen beteiligte
Personenc
Thüringen Prävention, Aktivierung der Zivil- Kinder, Jugendliche,
Repression gesellschaft Gefährdete, Täter,
Initiativen, Pädagogen
Sachsen-Anhalt Prävention, Wachsende Sensibili- Jugend, Betroffene,
Repression sierung gegenüber Zugewanderte, Täter
demokratie-feindlichen
Angeboten
Bayern Repression Jeder Form von Extre- Täter, Jugendliche,
mismus entgegentreten Eltern, Pädagogen
Schleswig- Prävention Stärkung der demo- Kinder, Jugendliche,
Holstein kratischen Zivilgesell- Lehrkräfte und Päda-
d
schaft gogen
Hamburg Prävention, Öffentlichkeit sensi- Kinder, Jugendliche,
Intervention bilisieren, Bildung, Betroffene, Institutionen,
Institutionen stützen, Multiplikatoren
Betroffene stärken
a Das Leitziel wird konkretisiert auf: Demokratische Diskurse unterstützen, verbesser-
tes Wissen ermöglichen, Demokratiekompetenz stärken, Minderheitenschutz und die
Partizipation von Minderheiten weiterentwickeln, partizipative Alltagspraxis erlebbar
machen, Interkulturalität festigen und fördern (Vgl Senatsverwaltung für Arbeit, Integ-
ration und Frauen, 2012, S. 3ff.).
b Datengrundlage im Falle Sachsens ist die Förderrichtlinie des Programms „Weltoffenes
Sachsen“, die Auswertung der Sachberichte zur Förderperiode 2005 (vgl. Sächsische
Staatskanzlei, 2006 und der Koalitionsvertrag von 2009).
c Konkret erwähnt werden: Politiker, Parteien, Kirchen, Vereine u. Verbände, Gremien
der Wirtschaft, Kultur u. Wissenschaft, Bürger.
d Die Aufzählung nennt zudem: Demokratie- und Toleranzerziehung, soziale Integration,
interkulturelles und interreligiöses Lernen, antirassistische Bildungsarbeit, kulturelle
und geschichtliche Identität sowie die Bekämpfung rechtsextremistischer Bestrebun-
gen“ (Innenministerium des Landes Schleswig-Holstein, 2013, S. 6).
416 Franziska Schmidtke

Dieser übergreifende Fokus auf Primärprävention kann weiter ausdifferenziert


werden.7 Wie schon im vorigen Kapitel angesprochen, beziehen sich die Landes-
programme gerne positiv auf eine demokratische Kultur. Deren Absicherung und
Förderung können jedoch auf sehr verschiedenen Ebenen durchgesetzt werden.
Eine Beratung von kommunalen Verwaltungsstellen etwa adressiert ein politisches
Subsystem, das vielfach als Rahmen für die Handlung Einzelner und Gruppen
wirkt und damit eine Struktur auf Makroebene darstellt. Andererseits können die
Förderpraktiken aber auch auf Gruppen, wie Aktionsbündnisse, also einer Me-
soebene, oder ganz grundlegend beim Individuum, und damit der Mikroebene,
ansetzen.8 Eine solche Ebenenunterscheidung parallel zum Ordnungsvorschlag
nach C aplan ist hilfreich, um weitere Differenzierungen zwischen den Landes-
programmen sichtbar zu machen. Bundesländer etwa, die mit ihren Programmen
zivilgesellschaftliche Gruppen aktivieren, ja sogar erst etablieren wollten, förder-
ten dementsprechend auf einer Mesoebene. In den neuen Bundesländern stellte
eben dieser Aufbau zum Beispiel vielfach zunächst eine Aufgabe der Programme
dar. Brandenburg begleitete diesen Prozess intensiv durch seine Förderpraxis und
initiierte etwa 1998 das Aktionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und
Fremdenfeindlichkeit und 2002 den Landespräventionsrat. Auch in Mecklenburg-
Vorpommern ist dies der Fall. Zunehmende Bedeutung gewann die Gemeinwe-
sensberatung, also die gezielte Fortbildung, Beratung und Begleitung kommunaler
Strukturen in ihrer Sensibilität für demokratische Partizipations- und Verfahrens-
weisen.
Daneben wirken die Landesprogramme in unterschiedlichem Maße struktur-
bildend. So lassen sich die Programme unterscheiden nach solchen, die einige
Strukturen und Träger mit einem bestimmten AufgabenproÀl Ànanziell unterstüt-
zen und solchen, die vorrangig fortwährende Projektförderungen zur Verfügung
stellen, auf die sich grundsätzlich alle Vereine, Initiativen und Institutionen im
Land bewerben können. Strukturförderungen sind vor allem in Bereichen wie der
Gemeinwesensberatung und der Opferberatung angesiedelt. Sie sollen landesweit
oder zumindest überregional zur Verfügung stehen und stellen wichtige Säulen
einer Landesstrategie dar. Dagegen widmet sich die allgemeine Projektförderung
ganz breit der Umsetzung der Programmziele. Ihr Ànanzieller Aufwand ist zu-
meist begrenzt, beispielsweise stellt Thüringen auch kleinere Summen für Mikro-
projekte, so genannte „Feuerwehrmittel“, zur Verfügung, die in einem Schnell-

7 Entwicklungspotenzial bei der Analyse von Präventionsstrategien bemängeln auch


Rot, Geseman und Aumüller in ihrer Evaluation des Berliner Programms (2010).
8 Berlin formuliert in einem Handlungsfeld einen konkreten Bildungsauftrag und fokus-
siert damit die Individualeben.
Demokratieförderung und Rechtsextremismusprävention … 417

verfahren abgerufen werden können, um beispielsweise die Vorbereitung oder die


Anfahrt zu einer Demonstration abzusichern.
In dem erst 2013 verabschiedeten Hamburger Landesprogramm dominiert da-
gegen eindeutig die Projektförderung.9 Die Hansestadt als urbanes Zentrum konn-
te bei der Aushandlung ihres Programms bereits auf gut entwickelte Strukturen
zurückgreifen. Das Hamburger Beratungsnetzwerk ist zum Beispiel eine zentrale,
strukturbildende, Einrichtung für den Stadtstaat und beÀndet sich in Förderung
der Bundesprogramme. Daher war in diesem Fall der Bedarf an weiterer Struk-
turbildung nicht gegeben und Àndet somit auch keinen Niederschlag im Landes-
programm. Stattdessen gingen die für 2014 eingeplanten 500.000€ vollständig in
die Projektförderung.
Ausgeschlossen sind Projektförderungen in den Programmhaushalten von
Schleswig-Holstein und Bayern. In Schleswig-Holstein Áießt der vergleichbar
kleine Finanzrahmen von 300.000€ jährlich allein in die Personal- und Sach-
mittelausstattung der Regionalzentren für Demokratiebildung. Auch Bayern sieht
keine Projektmittel in seinem Handlungskonzept vor. Darüber hinaus ist aber hier,
anders als in Schleswig-Holstein, auch die Förderung, die durch das Handlungs-
konzept angekündigt wird, ausschließlich auf staatliche Stellen und Behörden
wie Polizei, Verfassungsschutz und Jugendämter ausgerichtet. Eine Förderung
zivilgesellschaftlicher Initiativen Àndet nicht statt. Mit dieser expliziten und aus-
schließlichen staatlichen Ausrichtung sticht das bayrische Handlungskonzept in
der Programmlandschaft besonders hervor. Etablierte Strukturprojekte sind von
dem Beispiel Bayern abgesehen zumeist in zivilgesellschaftlicher Trägerschaft,
werden als weitgehend unabhängiger Partner wahrgenommen und von den Lan-
deskoordinierungsstellen zwar betreut, aber nicht vollständig gesteuert. Beispiel-
haft für dieses Vorgehen ist etwa der „Berliner Ratschlag für Demokratie“ oder
die Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) in
Brandenburg. Zumeist stellen die Programme aber beides, also Projektmittel und
Strukturförderung, bereit.

4 Strukturelle Zuschnitte der Landeprogramme

Um die hochgesteckten Ziele der einzelnen Strategien auch nur nahe kommen zu
können und die inhaltliche Arbeit in den Vordergrund zu stellen, benötigen die
Landesprogramme eine funktionierende Struktur. Ferner drücken auch einige
Strukturmerkmale der Programme die Nachdrücklichkeit des politischen Willens

9 Projektförderung steht weiterhin in Sachsen im Vordergrund.


418 Franziska Schmidtke

aus, der in allen Papieren zum Ausdruck kommt, in der umgesetzten Struktur aber
unterfüttert werden muss.
Eines dieser Merkmale ist der Anspruch, dass die Landesprogramme tatsäch-
lich Maßnahmen und Bestrebungen als politische Querschnittsaufgabe erfassen.
Praktisch kann dies umgesetzt werden, indem alle Ministerien an den Programmen
beteiligt sind. Wohlbekannte Instrumentarien der Ministerialbehörden sind dafür
sogenannte interministerielle Arbeitsgruppen (IMAG). Darin sind Ansprech- und
Kontaktpersonen verschiedener (nicht unbedingt aller) Ministerien vertreten und
bringen dabei die unterschiedlichen Maßnahmen, Ansätze und Instrumentarien
ihres Ressorts ein. In der Tat sind solche Arbeitsgruppen in den meisten Bun-
desländern implementiert. Allein Bayern, Sachsen und Schleswig-Holstein nutzen
das Instrumentarium nicht. In Schleswig-Holstein ist dieser Zustand der Tatsache
geschuldet, dass es sich um ein Programm handelt, das stark auf die Strukturbil-
dung orientiert ist. Hier werden keine Mittel für Projektanträge verteilt, sodass die
vergleichsweise statische Förderpraxis eine IMAG nicht unmittelbar notwendig
erscheinen lässt. Zudem zählt das schleswig-holsteinische Programm das landes-
weite Beratungsnetzwerk zu seiner Struktur und hierin sind nicht alle, aber doch
eine Reihe von Ministerien vertreten,10 sodass auch hier die ressortspeziÀschen
Sichtweisen zu einem Teil des Landesprogramms gehören. In Sachsen ist die
Struktur des Landesprogramms etwas untypisch aufgebaut. Hier entscheidet die
Geschäftsstelle des Landesprogramms über die Projektförderung, allerdings unter
Beteiligung der fachlich zuständigen Ressorts. Es gibt einen Koordinator des Pro-
gramms. Bayern andererseits kennt eine solche Vernetzung der Ministerien nicht
in seinem Handlungskonzept. Die betreuende Informationsstelle gegen Extremis-
mus ist aus dem Fachressort des Inneren besetzt – und eine weitere begleitende
Struktur ist nicht vorhanden. Von diesen Fällen abgesehen Ànden wir in allen Lan-
desprogrammen eine IMAG als Teil der tragenden Struktur. Ihr Aufgabenbereich
differiert hingegen und reicht von Bündelung bis hin zu Programmüberwachung
und Vergabeinstanz. In einzelnen Fällen, wie Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-
Vorpommern, geht aus der IMAG noch eine weitere kleine Gruppe hervor, besetzt
aus Vertretern von Ministerien, die besonders involviert sind. Diese, in Sachsen-
Anhalt genannte Steuerungsgruppe, besitzt eine abstimmende Funktion zwischen
Programmbeirat und IMAG und in Mecklenburg-Vorpommern ist der Vergaberat
für die Vergabe der Fördermittel verantwortlich. In Mecklenburg-Vorpommern
kommt der IMAG ein besonders großer Aufgabenbereich zu, der von Begleitung

10 Konkret sind dies: Das Ministerium für Bildung und Wissenschaft, das Innenministe-
rium, das Ministerium für Justiz, Kultur und Europa und das Ministerium für Sozia-
les, Gesundheit, Familie und Gleichstellung des Landes Schleswig Holstein.
Demokratieförderung und Rechtsextremismusprävention … 419

der Arbeit der Regionalzentren für demokratische Kultur, über eine Stärkung und
Bündelung bestehender Landesförderprogramme in diesem Feld bis hin zur Ko-
ordinierung des Mitteleinsatzes reicht.
Die Zentren der Programme sind die Koordinierungsstellen, die einen Knoten-
punkt in der häuÀg zunächst unübersichtlich wirkenden Förderstruktur bilden. Sie
setzen das Landesprogramm um; sie steuern und vernetzen dabei zumeist Projekte
der Landesförderung als auch Projekte, die in Bundesförderung stehen. Somit Áie-
ßen hier (oft) Bundes- und Landesprogramm in einer Stelle zusammen, was aus
fachlicher und pragmatischer Sicht begrüßenswert ist. Allein in Bayern verläuft
die Koordination der Bundes- und Landesmittel getrennt voneinander ab. Die An-
bindung dieser Stellen ist unterschiedlich geregelt. Sie Ànden sich meist in einem
Sozial- oder Bildungsministerium wieder, bzw. in einer diesen Ressorts nachgeord-
neten Einrichtung wie den Landeszentralen für politische Bildung. Seltener sind
die Innenministerien mit der Betreuung betraut. Dabei ist die konkrete Anbindung
nicht ohne Implikationen. Wiederholt wurde etwa in Brandenburg gefordert, die
Koordinierung direkt an der Staatskanzlei anzubinden, um die politische Bedeu-
tung des Programms zu unterstreichen. Hingegen hat die Anbindung auf Referat-
sebene keine besondere politische Ausstrahlung. Ebenfalls in Brandenburg gab es
sogar – vorübergehend, im Jahr 2002 – eine Beauftragte der Landesregierung für
die Umsetzung des Landesprogramms. Eine solche herausgehobene Stellung kann
der Sichtbarkeit eines Programms durchaus behilÁich sein. Derweil sind die Pro-
gramme mit Ansiedlung an das Innenressort auch inhaltlich dem zuzuordnen; es
sind die Programme, die stärker auf eine (staatliche) Auseinandersetzung mit dem
vor allem gewalttätigen Phänomen vorsehen wie Bayern und Sachsen.
Schließlich sind die meisten Programme noch mit einer dritten Institution aus-
gestattet. In einem Programmbeirat (die Bezeichnung variiert) sind Vertreter von
der Zivilgesellschaft und Akteure der Projektlandschaft repräsentiert sowie politi-
sche Vertreter, Experten aus Wissenschaft und Forschung und Vertreter der Lan-
desverwaltung, um die Umsetzung des Programms gemeinsam zu beraten. Neben
der ressortübergreifenden Umsetzung durch eine IMAG können so Träger der
Förderlandschaft und politische Vertreter aller Parteien zusammentreten. Vorteil
einer solchen Konstruktion ist die breite Partizipation, die das Programm sogleich
in besonderem Maße legitimiert und KonÁikte über die Verteilung von Förder-
mitteln frühzeitig unterbinden kann.
420 Franziska Schmidtke

Tabelle 5 Struktur der Landesprogramme

Land Koordinierung IMAG Programm- Haushalts-


beirat ansatz 2014
in Mio. €
Brandenburg Ministerium für Bildung, Ja Nein 1,2
Jugend und Sport
Berlin Landesstelle für Gleichbe- Ja Nein 2,5
handlung – gegen Diskrimi-
nierung, Integrationsbeauf-
tragen
Sachsen Landespräventionsrat – Innen- Nein Ja 3,26a
ministerium / Koordinator des
Programms
Mecklenburg- Landeszentrale für politische Ja Nein k.A.
Vorpommern Bildung – Ministerium für
Bildung, Wissenschaft und
Kultur
Thüringen Ministerium für Familie, Ja Ja 3,7
Soziales und Gesundheit
Sachsen-Anhalt Geschäftsstelle des Netzwerks Ja Ja k.A.
für Demokratie und Toleranz
in der Landeszentrale für
politische Bildung – Kultus-
ministerium
Bayern Bayrische Informationsstelle Nein Nein k.A.
gegen Extremismus – Innen-
ministerium
Schleswig-Holstein Rat für Kriminalitätsverhü- Nein Ja 0,3
tung Ministerium für Inneres
und Bundesangelegenheiten
Hamburg Behörde für Arbeit, Soziales, Ja Nein 0,5
Familie und Integration
a Doppelhaushalt 2013/2014.

5 Fazit

Zunächst die gute Nachricht: Die nun fast Áächendeckende Verwendung von Lan-
desprogrammen zur Rechtsextremismusprävention und Demokratieförderung ist
begrüßenswert. Sie verdeutlichen, dass ein übergreifendes Problembewusstsein
und Handlungsdruck besteht. Dabei unterscheiden sich die Programme, trotz
Demokratieförderung und Rechtsextremismusprävention … 421

ähnlicher Kernelemente, in Ausrichtung, Zielstellung und struktureller Umset-


zung teils erheblich. Es war Aufgabe des vorliegenden Artikels, diese herauszu-
arbeiten.
Über die Feststellung von Unterschieden hinaus schließt sich nunmehr die Fra-
ge an, welches Vorgehen nun (sozusagen) das Angemessene, das Wirksame und
das Erfolgreiche ist. Wie schon in der Einleitung bemerkt, müssen hierfür die je-
weiligen Kontextfaktoren bedacht werden. In Mecklenburg-Vorpommern etwa hat
sich seit dem Einzug der NPD in den Schweriner Landtag ein politischer Konsens
durchgesetzt, der es impliziert, und die Dokumente lassen diesen Schluss zu, dass
dortige Handlungskonzept im Landtag in seinen Grundsätzen nicht anzugreifen.
Politische Debatten um die Ausrichtung, um Gleichzeitigkeit von Rechts- und
Linksextremismus im Land, haben so keinen Platz im Landtag. Anders sieht es
in Ländern wie Hessen aus, in der der politische Streit im Landtag geradezu ze-
lebriert wird und als Element der regionalen politischen Kultur zu bedenken gibt.
Auch lässt die verschiedene Verankerung organisierter rechtsextremer Gruppen
unterschiedliche Herangehensweisen und Auseinandersetzungen mit dem Phäno-
men zu. So wird eine Konzeption in Schleswig-Holstein notwendigerweise anders
aussehen müssen als in Brandenburg.
Mit diesen einschränkenden Bemerkungen im Rücken bleibt trotzdem der Blick
über den Tellerrand fruchtbar. Theoretisch-konzeptionelle Differenzierungen der
Programme betreffen die ProblemdeÀnition. Dabei spiegeln die Differenzierungen
wissenschaftliche Diskurse wider, die sich historisch gesehen zu großen Teilen
auch entlang dieser entwickeln. Die theoretisch-konzeptionellen Unterscheidun-
gen übertragen sich zudem auf die Auswahl der Gegenmaßnahmen. So zeigte die
inhaltliche Ausrichtung der Landesprogramme durchaus einen länderübergrei-
fenden Entwicklungsprozess, der Prävention, Intervention und Repression als sich
gegenseitig ergänzende Maßnahmen fasst, sowie dabei zugleich aber repressive
Programmteile zunehmend verringert und stattdessen vielfältige primärpräventive
Mittel in den Vordergrund stellt. Zudem sind es verstärkt Vorgehensweisen, die
auf makrosoziale Umstände gerichtet sind, also beispielsweise Gemeinwesensbe-
ratung, hervorheben.
Neben der inhaltlichen Ausrichtung wurde die Binnenstruktur der Landespro-
gramme herangezogen, um qualitative Anforderungen an ein Landesprogramm
überprüfen zu können. Zum Teil deÀnieren die Landesprogramme eigenständig
Anforderungen, indem etwa ein multiperspektivischer Blick auf das Phänomen
durch die Beteiligung mehrerer (am besten aller) Ressorts verankert ist oder in-
dem eine dauerhafte wissenschaftliche Rückbindung im Programm eingeschrie-
ben ist. Diese Kriterien stellen auch von außen betrachtet Qualitätsmerkmale dar,
für die Auseinandersetzung mit einem vielschichtigen und sich stets im Wandel
422 Franziska Schmidtke

beÀndlichen Phänomen. Des Weiteren ist auch die landesspeziÀsche Ergänzung


der Bundesprogramme vorteilhaft, die durch eine gemeinsame Koordinierung von
Bundes- und Landesprogrammen gesichert werden kann.
Demokratieförderung und Rechtsextremismusprävention … 423

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424 Franziska Schmidtke

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Rechtsextremismus, Hamburg.
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tieförderung und Rechtsextremismusbekämpfung, Kiel.
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lebendige Demokratie. Handlungskonzept der Landesregierung für eine demokratische
Gesellschaft mit Zivilcourage gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlich-
keit, URL: http://www.tolerantes.brandenburg.de/media_fast/-5791/Handlungskonzept.
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Landeszentrale für politische Bildung/ Netzwerk für Demokratie und Toleranz (Hrsg.)
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Senat der Freien Hansestadt Bremen (2013). Fünfter Bericht über Rechtsextremismus und
Fremdenfeindlichkeit im Lande Bremen (2008-2012), Bremen.
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Berlin für Integration und Migration (Hrsg.) (2011). Berlin schaut hin. Das Landespro-
gramm gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus, Berlin.
Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales/ Der Beauftragte des Senats von
Berlin für Integration und Migration (Hrsg.) (2012). Leitlinien des Landesprogramms
„Demokratie. Vielfalt. Respekt. Gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassis-
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Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit (Hrsg.) (2012). DenkBunt.
Thüringer Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit, Erfurt.
Deradikalisierung als Methode

Theorie und Praxis im nationalen


und internationalen Vergleich.
Trends, Herausforderungen und Fortschritte.

Daniel Köhler

1 Einleitung

„Deradikalisierung“ als Begriff wird in der deutschen wissenschaftlichen, poli-


tischen und praktischen Landschaft erst seit einigen wenigen Jahren vereinzelt
verwendet. Obgleich im internationalen Bereich eine steigende Zahl von akade-
mischen und populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen und entsprechenden
Programmen seit über 20 Jahren zu beobachten ist, scheint sich in Deutschland
der Anschluss an die internationale Debatte nur sehr langsam zu vollziehen. Wird
doch in aller Regel noch sehr verallgemeinernd von „Ausstiegsprogrammen“ oder
„sozialpädagogischer Präventionsarbeit“ gesprochen, vielleicht auch, um eine mit
dem Begriff ‚Deradikalisierung’ mitschwingende Verschiebung der Debatte in
den Sicherheitsbereich zu vermeiden. Dennoch lässt sich leicht zeigen, dass beson-
ders in Deutschland seit den ersten Bundesprogrammen in den 1990er Jahren eine
weltweit einzigartig dynamische und pluralistische Landschaft von Trägern jener
‚Ausstiegsprogramme’ mit vielfältigsten Ansätzen und Zielgruppen entstanden ist.
Ein Erfahrungsschatz, der allerdings nur zu sehr geringen Anteilen wissenschaft-
lich oder politisch (besonders im internationalen Bereich) genutzt wurde, was
sicherlich auch instabilen Finanzierungsverhältnissen und teilweise erheblichen
Konkurrenzsituationen geschuldet ist. Weiterhin erscheint es verwunderlich, dass
in der bundesdeutschen Praktikerlandschaft und Wissenschaft nur äußerst spärlich
der Stand der internationalen Forschung und entsprechende Erfahrungen anderer
(besonders europäischer) Programme aufgegriffen und diskutiert wurden. Bereits
im Jahr 2008 ließ sich ein erster Höhepunkt innerhalb der internationalen Debat-

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_18, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
426 Daniel Köhler

te um ‚Deradikalisierung’ beobachten, als das Time Magazine die Idee der Um-
kehr von Radikalisierung als eine der wichtigsten und vielversprechendsten Ideen
für die Zukunft präsentierte (Ripley, 2008). Kurze Zeit später erschienen zwei
der einschlägigsten Publikationen zu diesem Thema bis dato (Bjørgo & Horgan,
2009; Horgan, 2009), welche immer noch nicht in deutscher Sprache verfügbar
und hierzulande auch nur vereinzelt zur Kenntnis genommen worden sind. Eine
Ausnahme bilden dabei die Sicherheitsbehörden, welche schon seit 2009 inner-
halb des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ) bundesübergreifend
in der Arbeitsgruppe Deradikalisierung die aktuelle Forschung und Erfahrungen
aus anderen Ländern intensiv diskutiert haben1. Im September 2011 startete die
Europäische Kommission im Rahmen ihrer Terrorismusbekämpfungsstrategie ein
europaweites Netzwerk von Praktikern, Politikern und Wissenschaftlern: das Ra-
dicalisation Awareness Network (RAN). Obwohl die Ergebnisse und die EfÀzienz
des RAN bisher recht überschaubar geblieben sind, ist bemerkenswert, dass unter
den acht Arbeitsgruppen auch eine speziell zu dem Thema ‚Deradikalisierung’
eingerichtet wurde. Im Januar 2014 legte dann die damalige EU Innenkommissa-
rin Cecilia Malmström einen 10 Punkte Plan zur Bekämpfung von Extremismus
und Terrorismus in der EU vor2, welcher auch die Empfehlung an alle Mitglieds-
staaten enthielt, umfangreiche ‚Deradikalisierungsprogramme’ („exit strategies“)
zu etablieren, was bis dahin nur in einigen wenigen EU Staaten der Fall war (z. B.
Norwegen, Dänemark, Schweden, Deutschland, England). Besonders in den letz-
ten Jahren ist europa- und weltweit eine weitaus stärkere Beschäftigung mit ‚Dera-
dikalisierungsprogrammen’ sowohl in der Wissenschaft als auch unter Politikern
zu beobachten, was in direktem Zusammenhang mit dem syrisch/irakischen Bür-
gerkrieg und der daraus resultierenden Sicherheitsproblematik der so genannten
‚Foreign Fighters’ und Rückkehrern steht.
Das folgende Kapitel wird konsequenterweise einen weiteren Schritt in die
Richtung darstellen, die beschriebene Lücke zwischen der deutschen und interna-
tionalen ‚Deradikalisierungslandschaft’ durch eine gezielte Anbindung der deut-
schen Erfahrungen und Debatten an die internationalen Linien der Forschung und
Politik weiter zu schließen.

1 http://www.verfassungsschutz.de/print/de/arbeitsfelder/af-islamismus-und-islamisti-
scher-terrorismus/gemeinsames-terrorismusabwehrzentrum-gtaz (letzter Zugriff: 1.
Dezember 2014)
2 http://europa.eu/rapid/press-release_IP-14-18_en.htm (letzter Zugriff: 1. Dezember
2014)
Deradikalisierung als Methode 427

2 Theorie

Beginnend in den späten 1980er Jahren mit einem Artikel von James Aho (1988)
wurden bereits schrittweise umfänglich vorhandene Erkenntnisse der Krimino-
logie (für einen Überblick siehe: Laub & Sampson, 2001) in Bezug auf die Beendi-
gung krimineller Karrieren (im Bereich der ‚Desistance’-Forschung) und der For-
schung zu Sekten und Jugendgangs im Rahmen politikwissenschaftlicher Ansätze
zur Erforschung politischer Gewalt zusammengeführt. Obwohl die kriminologi-
sche Forschung nur begrenzt auf das Phänomen politisch oder religiös motivierter
Gewalt anwendbar war und ist, ließen sich zumindest grundlegende praktische
Erkenntnisse mit empirisch abgesicherter Wirksamkeit im Bereich der Senkung
von Rückfallquoten und nachhaltigerer Reintegration mit großem Gewinn in der
frühen Deradikalisierungsforschung einbringen (für eine detaillierte Übersicht
über die Schnittmengen siehe: Koehler, 2013b, 2014a). Sogar eines der wichtigsten
Konzepte der internationalen Deradikalisierungsforschung – die Unterscheidung
zwischen einer psychischen/ideologischen und rein physischen Distanzierung
(‚Deradicalization’ – ‚Disengagement’3) – Àndet eine Parallele in der Krimino-
logie (zu primary und secondary desistance siehe z. B.: Maruna, Lebel, Mitchell,
& Naples, 2006). Grundsätzlich also – und diese Unterscheidung ist essentiell, um
zentrale Konzepte und Methoden in der Praxis und Theorie der Deradikalisierung
zu verstehen – bezeichnet ‚Deradikalisierung’ den individuellen oder kollektiven
kognitiven (oder: ideologischen) Wandel von einer kriminellen, ideologisch-ra-
dikalen oder extremistischen zu einer nicht kriminellen und moderaten Identität
und/oder Persönlichkeit. Deradikalisierung muss dabei stark von der rein physi-
schen Distanzierung oder Herauslösung (Disengagement) abgegrenzt werden, die
den rein physischen Verhaltenswandel beschreibt und die ideologische bzw. iden-
titäre Ebene des Prozesses außer Acht lässt (vgl. Bjørgo, 2009; Bjørgo & Horgan,
2009; Bjørgo, Van Donselaar, & Grunenberg, 2009; Horgan, 2008, 2009; Noricks,
2009). Dieser Unterscheidung folgend kann es möglich sein, dass Individuen zwar
aus extremistischen Umfeldern herausgelöst werden (d. h. kein strafrechtlich re-
levantes Verhalten, keine Gruppenbezüge usw. mehr aufweisen), aber dennoch
eine entsprechende radikale Ideologie vertreten bzw. diese verinnerlicht haben.
Andererseits können Personen in Gruppen und Verhaltensstrukturen aktiv sein
(d. h. nicht herausgelöst), aber die Ideologie bereits aufgegeben haben. Die Frage,

3 Diese beiden englischen Begriffe haben bisher keine Entsprechung in der deutschen
Forschung, sind aber essentiell, um die Charakteristik zentraler Konzepte und Metho-
den zu verstehen. Daher werden in diesem Kapitel die Begriffe Deradikalisierung und
Herauslösung bzw. physische Distanzierung zur Unterscheidung verwendet.
428 Daniel Köhler

inwieweit die ideologische Ebene notwendigerweise oder auch legitimiert in der


praktischen Arbeit eine Rolle spielen sollte, ist dabei stark umstritten. So ist die
Kritik grundsätzlich berechtigt, ob strafrechtlich irrelevante, d. h. von der Mei-
nungsfreiheit abgedeckte, Einstellungen und Verhaltensweisen ein Gegenstand
von Programmen sein sollten, welche, teilweise von staatlichen Strukturen oder
mit staatlicher Finanzierung durchgeführt, deren Änderung oder Anpassung zum
Ziel haben. Weiterhin ist auch die praktische Umsetzbarkeit und Nachweisbarkeit
der ideologischen Wirkungsweisen von Deradikalisierungsprogrammen kritisiert
worden (Horgan, 2009), was unter anderem zu dem Plädoyer geführt hat, das Kon-
zept zugunsten der rein physischen Herauslösung komplett aufzugeben (Noricks,
2009, S. 314).
Nichtsdestotrotz ist die Auseinandersetzung mit dem Ideologiebegriff zentral,
um die Methoden von Deradikalisierungsprogrammen beurteilen und konzeptio-
nell einordnen zu können, da es grundlegend bei dieser Tätigkeit um die individu-
elle oder kollektiv begleitete Distanzierung (auf physischer und/oder psychischer
Ebene) zu Milieus und Gruppen geht, welche sich durch eine bestimmte (als ext-
remistisch oder radikal eingeordnete) Ideologie und kollektive Identität auszeich-
nen. Entscheidend sind dabei die destruktiven Interaktionsmechanismen zwischen
solchen radikalen sozialen Bewegungen und ihren Umgebungsgesellschaften im
Rahmen einer „Kontrastgesellschaft“ zu verstehen und zu erkennen (vgl. für eine
detaillierte Ausführung Koehler, 2014c; Koehler, 2015), um die entsprechenden
interventiven Effekte von Deradikalisierungsprogrammen als Stärkung von demo-
kratischen und pluralistischen Diskursen und Gesellschaften zu begreifen. ‚De-
radikalisierung’ von Einzelpersonen und Gruppen ist damit als eine gesamtge-
sellschaftliche Aufgabe weit über die Einzelfallhilfe hinaus zu begreifen, welche
konkrete positive Effekte im Bereich der Terrorismusbekämpfung und Stärkung
der gesellschaftlichen ‚Immunkraft’ gegen menschenfeindliche und gewaltver-
herrlichende Bewegungen und Ideologien zeigt.
Im deutschen Fachdiskurs Ànden sich nur wenige Veröffentlichungen zu Aus-
stiegs- oder Deradikalisierungsprogrammen, die auch nur ansatzweise den Stand
der internationalen Debatten aufgreifen (als positive Beispiele siehe z. B.: Baer,
Möller, & Wiechmann, 2014; Rieker, 2009; 2014). In älteren Diskursen wurden
oftmals einzelne sozialpädagogische Konzepte (z. B. die akzeptierende Jugend-
arbeit) verteidigt oder kritisiert (vgl. z. B.: Buderus, 1998; Krafeld, 2001; Möller,
2008). Dies allerdings oftmals ohne eine entsprechende theoretische Tiefe zum
Thema Ausstieg und/oder Deradikalisierung zu erreichen. Generell wurden indi-
viduelle Ausstiegsmotive und –verläufe nur äußerst selten und mit recht geringer
wissenschaftlicher Qualität in der deutschen Forschungslandschaft untersucht (sie-
he z. B.: de Ahna, 1981; Hafeneger, 1993; Hoffmeister & Sill, 1992; Möller, 2010a,
Deradikalisierung als Methode 429

2010b, 2010c; Möller & Schuhmacher, 2007; Nauditt & Wermerskirch, 2013;
Rommelspacher, 2006). Im Bereich der internationalen Terrorismusforschung
dagegen wurden auf Grundlage etlicher qualitativer Studien einige Faktoren mit
erheblicher praktischer Relevanz in Bezug auf Deradikalisierungsprozesse und –
programme festgestellt. So können zum Beispiel Veränderungen in der Gruppe,
der persönlichen Präferenzen oder des sozialen Umfeldes (Reinares, 2011) indi-
viduelle Ausstiegsprozesse auslösen. Weiterhin lassen sich „schiebende“ (engl.
„Push“) und „ziehende” (engl. “Pull”) Faktoren identiÀzieren (Aho, 1988; Bjørgo
& Horgan, 2009).
Generell beinhaltet das Verlassen einer radikalen Gruppe oder das Ablassen
von kriminellem Verhalten eine individuelle Entscheidung, teilweise verbunden
mit dem Wunsch nach Veränderung und dem Willen ein „normales Leben“ zu
führen (Bjørgo & Horgan, 2009; Fink & Haerne, 2008; Horgan, 2009). Ein per-
sönliches traumatisches Ereignis kann dabei eine kognitive Öffnung (engl. “Cog-
nitive opening“) schaffen, was in vielen Studien als bedeutender Faktor bei der
Deradikalisierung aufgezeigt wurde (ebd.). Weitere zentrale und wissenschaftlich
gestützte Elemente dieses Prozesses sind (Bjørgo, et al., 2009, S. 36-40): nega-
tive soziale Sanktionen aufgrund der Gruppenmitgliedschaft, Verlust des Glau-
bens in die Gruppenideologie (siehe auch: Rosenau, Espach, Ortiz, & Herrera,
2014, S. 284) oder Politik der Bewegung, eine Desillusionierung mit den gruppen-
internen Prozessen, Verlust der Zuversicht auf Erfolg, Statusverlust innerhalb der
Gruppe und Erschöpfung („schiebende Faktoren“). Alter, Karriereperspektiven
und persönliche Zukunft, Familie und Verantwortung gehören dagegen zu den
„ziehenden Faktoren”.
Zusammengefasst spielen externe (z. B. Ereignisse, Umfeldveränderungen) und
interne (z. B. Burnout, Ideologiezweifel) Faktoren üblicherweise zusammen und
beeinÁussen bzw. bedingen sich gegenseitig. Trotz aller dieser Erkenntnisse sind
die motivationalen und prozessualen Aspekte der Deradikalisierung immer noch
unzureichend erforscht und die Einblicke sind bestenfalls als bruchstückartig zu
bezeichnen.
Da der Deradikalisierungsprozess weder statisch in eine Richtung verläuft noch
unumkehrbar ist, wurden entsprechend auch einige Faktoren in Studien belegt,
die den Prozess behindern oder verhindern können, bzw. dazu geeignet sind, ihn
wieder umzukehren. Bjørgo (Bjørgo, et al., 2009, S. 40-42) zum Beispiel unter-
streicht die Bedeutung der positiven C harakteristika der Gruppe (Freundschaf-
ten, Beziehungen, Spaß), negative Gruppensanktionen (Feme) bei Ausstieg, den
Schutzverlust gegen Feinde und die eventuell drohenden Sanktionen des Strafver-
folgungssystems. Zudem können auch die Perspektivlosigkeit und die Angst vor
Stigmatisierung bedeutende Faktoren sein.
430 Daniel Köhler

Nimmt man die hier kurz angerissenen grundlegenden Erkenntnisse der For-
schung zusammen, lassen sich essentielle Kernelemente der praktischen Deradi-
kalisierungsarbeit ableiten, welche weiter unten im Detail erläutert werden.

3 Typologie von Deradikalisierungsprogrammen

Weltweit haben sich in den letzten Jahrzehnten etliche und vielfältigste Program-
me gebildet, die sich in den Bereich ‚Deradikalisierung’ einordnen lassen. Dabei
gehen moderne Deradikalisierungs- im Kern auf Demobilisierungsprogramme
der 1970er und 1980er Jahre zurück, welche oftmals im Rahmen langwieriger
Bürgerkriege auf bestimmte KonÁiktparteien ausgelegt waren. Die Demobilisie-
rung des „Schwarzen Septembers“ der PLO zum Beispiel beinhaltete individuelle
Anreize zu Heiraten und eine Familie zu gründen (vgl. Dechesne, 2011, S. 287).
In Italien versuchte ein ähnliches Programm die AuÁösung der „Roten Brigaden“
(ebd.) zu verstetigen, sowie es auch in Nordirland als Bestandteil des ‚Good Fri-
day Agreement’ von 1998 (Horgan & Braddock, 2010, S. 269) und in Kolumbien
mit einem staatlichen Programm zur Entwaffnung und Reintegration ehemaliger
FARC Mitglieder seit 1997 durchaus erfolgreich versucht wurde (ebd., S. 271).
Diese Programme arbeiteten umfassend mit Ànanziellen Anreizen und Unterstüt-
zung bei der sozialen Reintegration. Bei späteren Programmen wurden auch ideo-
logische oder theologische Elemente hinzugefügt, was die starke Beachtung der
umfassend staatlich Ànanzierten und organisierten Deradikalisierungsprogram-
me im Nahen Osten und Süd-Ost-Asien erklärt. Sowohl in Indonesien als auch in
Jemen („Religious Dialogue Committee“ ab 2002) und Saudi-Arabien (ab 2003)
spielen theologische Argumentation und Deradikalisierung inhaftierter islamis-
tischer Terroristen eine zentrale Rolle (vgl. Horgan & Braddock, 2010; Noricks,
2009; Rabasa, Pettyjohn, Ghez, & Boucek, 2010). Diese Programme wurden zu
Vorbildern für ähnliche Initiativen in Ägypten, Jordanien, Algerien, Tadschikis-
tan, Malaysia, Singapur, Irak und Thailand (ebd.). Unter dem Eindruck und der
(positiven) Erfahrung der ideologischen Deradikalisierung (wenn auch unter um-
fassender wissenschaftlicher Kritik) wurden ebenfalls staatliche Programme mit
vergleichbaren Ansprüchen in Dänemark, Großbritannien und den Niederlanden
gegründet. Auch in Norwegen, Schweden und Deutschland wurden seit 1998 (in
Deutschland ab 2000) erste Erfahrungen mit Ausstiegsprogrammen für Rechtsext-
remisten gesammelt. Vergleicht man die zentralen Charakteristika entsprechender
Programme weltweit, so lassen sich drei Kernlinien aufzeigen, welche für eine
Typologisierung essentiell sind. Die hier skizzierten Typen sind notwendig, um be-
stimmte strukturelle Eigenschaften (Potentiale und Grenzen, Stärken und Schwä-
Deradikalisierung als Methode 431

chen), sowie Wirkungsweisen besser verstehen zu können. Zudem lassen sich aus
den hier eingeführten Typen auch Kriterien zur Evaluation und fallbezogenen Ver-
netzung ableiten. Die drei Kernlinien sind: Trägerschaft (staatlich/nicht-staatlich),
Kontaktstruktur (aktiv/passiv) und Rolle der Ideologie (zentral/nebensächlich).
Streng genommen können nur Programme, die eine ideologische Aufarbeitung be-
inhalten, auch ‚Deradikalisierungsprogramm’ genannt werden. Allerdings haben
etliche Programme die ideologische Komponente ‚nachgelagert’, bzw. sich auf ge-
ringer ideologisierte Zielgruppen spezialisiert.


aktiv
D

C


 E


staatlich Nicht-staatlich

B

G
 F A
passiv


=ideologische Aufarbeitung spielt eine zentrale Rolle

Abbildung 1 Typologie von Deradikalisierungsprogrammen

Während Typ A und B nicht-staatliche Organisationen sind, die passiv (d. h. die
Ansprache und Kontaktinitiative von Ausstiegswilligen oder vermittelnden Dritten
voraussetzend) arbeiten, lassen sich nur selten nicht-staatliche Träger Ànden, die
in der Lage zur aktiv-aufsuchenden Ansprache sind (Typ C). Üblicherweise ist es
aufgrund von Datenschutzrichtlinien (zumindest in westlichen Ländern) für Nicht-
regierungsorganisationen nur sehr schwer möglich an Namen und Adressen von
aktiven Extremisten und Terroristen zu kommen. In Deutschland praktiziert ledig-
lich ein nicht-staatlicher Träger diesen Ansatz (vgl. Glaser, Hohnstein, & Greuel,
2014, S. 56). Programme vom Typ A sind dabei in Deutschland recht verbreitet
und können teilweise auf langjährige Erfahrungen zurückblicken. International
sind neben staatlichen Programmen in Haftanstalten Programme vom Typ B am
weitesten verbreitet. Die Typen D und E sind klassischerweise umfangreiche staat-
432 Daniel Köhler

liche Deradikalisierungsprogramme in Gefängnissen, wobei der Zugriff auf mög-


liche Teilnehmer automatisch gegeben ist. Die bereits oben genannten Program-
me z. B. in Saudi Arabien stützen sich dabei auf intensive theologische Diskurse,
während wiederum westliche Programme (z. B. in Dänemark und Großbritannien)
diese Komponente ausdrücklich nicht beinhalten, bzw. an nicht-staatliche Partner
abgegeben haben. Ein deutscher Sonderfall sei hier genannt: Das Programm Big-
Rex in Baden-Württemberg betreibt als staatliches Programm aktiv aufsuchende
Arbeit und versucht zur Teilnahme in dem Ausstiegsprogramm zu motivieren. Ein
Beispiel für Typ F wäre das Ausstiegsprogramm für Rechtsextremisten des Bun-
desamtes für Verfassungsschutz, welches auf die Eigeninitiative der Ausstiegs-
willigen setzt. Inwiefern die ideologische Aufarbeitung hier eine Rolle spielt, ist
leider aufgrund der Intransparenz unbekannt. Der Typ G steht für Public Private
Partnerships, wie zum Beispiel das Beratungsnetzwerk Radikalisierung des Bun-
desamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF).
Begreift man nun Deradikalisierung nicht lediglich als sozialpädagogische
Einzelfallhilfe, sondern als eine gesamtgesellschaftliche Teilaufgabe der Extre-
mismus- und Terrorismusbekämpfung, so ist auch eine neue Einordnung dieser
Methodik notwendig.

Das Netzwerk der Terrorismusbekämpfung

Makrosozial Mesosozial Mikrosozial


Prävention z. B. Bildung, For- z. B. Communiy Coa- z. B. Workshops mit
schung, Jugendarbeit, ching, LAPs, etc. ehemaligen Extremis-
Sozialarbeit ten in Schulen

Repression Legislative, Exekutive, z. B. Gruppenverbote, z. B. Verhaftung, HD


Bundesweite Sicher- Stadtteilbeamte
heitsarchitektur

Intervention Gegennarrative z. B. Familienberatung z. B. Deradikalisie-


rungsprogramme

Abbildung 2 Das Netzwerk der Terrorismusbekämpfung


Deradikalisierung als Methode 433

Obwohl Deradikalisierungs- bzw. Ausstiegsprogramme in Deutschland oftmals


als „tertiäre“ oder „indizierte“ Prävention verstanden werden (z. B.: Baer, 2014,
S. 59) und sich sicherlich jede sozialpädagogische Maßnahme als Intervention deu-
ten lässt, zielt die hier vorgeschlagene Einordnung auf den gesellschaftlichen und
systemischen Rahmen und sollte dementsprechend verstanden werden. Während
Prävention Radikalisierungsprozesse frühzeitig verhindern soll, zielt Repression
auf die Eingrenzung eines aktiven radikalen Milieus ab. Intervention dagegen
beinhalten Maßnahmen, welche das aktive radikale Milieu gezielt ansprechen,
um in Ergänzung zur Repression Strukturen aufzubrechen und eine individu-
elle oder kollektive Abkehr von der radikalen oder extremistischen Position zu
ermöglichen – und dies auf vielfältigste Weise. Drei Größenordnungen (makro-,
meso- und mikrosozial) lassen sich dabei identiÀzieren. Grundsätzlich sollten die
entsprechenden Methoden und Ansätze in einer partnerschaftlichen Ergänzung
gedacht werden. So machen individuelle Deradikalisierungsprogramme keinerlei
Sinn, wenn staatliche Strukturen Straftaten nicht entsprechend der Gesetzeslage
ahnden oder sogar die gesetzliche Grundlage fehlt. Auch in der Prävention, z. B.
der Schulbildung oder Ausbildung von Lehrkräften, ist ein dezidiertes Fachwissen
über Radikalisierung zur frühzeitigen Erkennung notwendig, weshalb auch viel-
fältigste Träger, vom Staats- und Verfassungsschutz bis hin zu zivilgesellschaft-
lichen Initiativen, entsprechende Schulungen und Workshops anbieten.

4 Praxis

Die praktischen Aspekte von Deradikalisierungsarbeit umfassend zu beschreiben


geht über den Rahmen dieses Kapitels hinaus. Dennoch sei kurz ein Einblick in
zentrale praktische Aspekte gegeben.
Vergleichsstudien zahlreicher Deradikalisierungsprogramme weltweit (al-
lerdings überwiegend im Bereich Islamismus) haben die Bedeutung von drei
praktischen Hauptsäulen hervorgehoben: die affektive, die pragmatische und die
ideologische Ebene (Rabasa, et al., 2010, S. 41 ff.). Während der Abbau und die
Aufarbeitung ideologischer Deutungs- und Bezugsrahmen die eigentliche Essenz
von Deradikalisierungsprogrammen ausmacht, bestimmt die pragmatische Ebene
die methodische Unterstützung in praktischen Lebensfragen (Sicherheit, Bildung,
Beruf usw.). Die affektive Ebene wird von erfolgreichen Deradikalisierungspro-
grammen durch die Stärkung emotionaler Bezugsstrukturen und Netzwerken zur
Kontrastierung der radikalen affektiven Bezüge umgesetzt. In Deutschland kön-
nen laut einer aktuellen Untersuchung mindestens 18 Ausstiegsprogramme mit
unterschiedlichsten Reichweiten und Ansätzen identiÀziert werden (Glaser, et al.,
434 Daniel Köhler

2014, S. 47), wovon mindestens 12 durch staatliche Träger umgesetzt werden und
nur 3 bundesweit arbeiten (ebd.). Alle diese Programme erheben den Anspruch
der ideologischen Aufarbeitung, obwohl sich auch erhebliche Differenzen bei der
tatsächlichen Umsetzung dieser zentralen Aufgabe zeigen (ebd., S. 71). Auf der
pragmatischen Ebene bedienen sich Deradikalisierungsprogramme in aller Regel
bekannter und durch kriminologische Forschung gestützter Methoden der Reinte-
gration, wobei sich auch de facto eine Schnittmenge zur internationalen Forschung
und Praxis ergibt.
So kann zum Beispiel ein Wohnortwechsel die Voraussetzung für eine „an-
gemessene und sichere Unterkunft” sein (Gadd, 2006, S. 180). Gleichzeitig wird
damit die eventuelle individuell notwendige „Abtrennung“ vom radikalen sozialen
Umfeld erreicht (Laub & Sampson, 2001, S. 49), was in vielen kriminologischen
Studien mit einem deutlich positiven Effekt auf die Rückfallquote in Verbindung
gebracht werden konnte (z. B. Osborn, 1980). Arbeit, Bildung und persönliche
zwischenmenschliche Beziehungen gehören ebenfalls zu den Elementen mit der
am umfassendsten belegten positiven Wirkung auf die Verhaltens- und Einstel-
lungsänderung im Bereich krimineller und radikaler Karrieren. Des Weiteren zäh-
len die persönliche Aufarbeitung und Neubewertung der eigenen Vergangenheit
(Gadd, 2006) und der Wandel individueller biographischer Erklärungsnarrative
hin zu einer positiven und dynamischen Selbstwirksamkeit (Maruna, 2004) sowie
die Wahrnehmung eines verdienten Neuanfangs bei der betreffenden Person zu
Standardelementen in der praktischen Arbeit.
Einen besonderen praktischen Aspekt stellt dabei die Sicherheitsfrage von Aus-
steigenden dar. Konsequenterweise ist besonders in sicherheitsrelevanten Fällen
eine intensive Zusammenarbeit zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteu-
ren geboten. Als ein weltweit beachtetes und bisher einzigartiges Deradikalisie-
rungsprojekt auf Basis einer Public Private Partnership mit bundesweitem Umfang
sei hier das Beratungsnetzwerk Radikalisierung des BAMF genannt. Seit 2012
arbeitet das BAMF eng mit vier nicht-staatlichen Partnern vor Ort in der Betreu-
ung von Angehörigen sich radikalisierender oder bereits radikalisierter Jihadis-
ten zusammen. Es ist dabei zu beachten, dass Familienberatung eine Sonderform
von Deradikalisierung darstellt (vgl. Abbildung 2). Als Ziel der Intervention gilt
hier durch das affektive (in der Regel familiäre) Umfeld einer betreffenden Per-
son einen evtl. vorliegenden Radikalisierungsprozess zu verlangsamen, zu stoppen
und den individuellen Deradikalisierungsprozess auszulösen – ein Zeitpunkt, an
dem ein gesondertes Programm für die individuelle Betreuung greifen muss (vgl.
dazu im Detail: Dantschke & Koehler, 2013; Koehler, 2013a, 2014b). Das BAMF
Beratungsnetzwerk, welches derzeit auch auf Länderebene Pendants in enger Ko-
operation bildet, hat aufgrund der einzigartigen Struktur und enormen Rezeption
Deradikalisierung als Methode 435

in der Zielgruppe (über 1000 Anrufe und über 300 Beratungsfälle seit Beginn,
vgl. Endres, 2014) weltweite Beachtung gefunden (siehe z. B.: Gielen, 2014; Rans-
torp & Hyllengren, 2013; Vidino, 2014). Entscheidend ist bei diesem Netzwerk die
fallbezogene enge Kooperation auf verschiedenen Ebenen (Bund und Länder) mit
verschiedenen staatlichen Behörden auf Grundlage konkreter Standards und Ver-
antwortlichkeiten (vgl. Koehler, 2014b). Im Bereich der nationalen und internatio-
nalen Deradikalisierungsforschung und –praxis ist dieser Ansatz hoch innovativ
und hat weltweit die Entwicklung entsprechender Modellprojekte stimuliert. Es ist
also abschließend für das noch immer selten praktizierte Konzept der engen Ko-
operation zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Trägern zur Sicherung von
Effektivität und EfÀzienz zu plädieren. Allerdings scheinen dabei nicht nur große
wechselseitige Vorbehalte, sondern auch fehlende Kriterien und Standards ent-
scheidende Hindernisse darzustellen.

5 Evaluation und Standards

Zu den grundsätzlichen Problemen und Kritikpunkten aller Deradikalisierungs-


programme gehören die Frage nach effektiver und glaubwürdiger Evaluation der
Arbeit und verwendeten Ressourcen in Bezug auf die erwünschten Effekte sowie
die Etablierung von allgemeinen und umfassenden Standards, welche Vergleiche
von Programmen und das Aufzeigen besonders erfolgreicher Ansätze ermöglichen.
Deradikalisierungsprogramme zu evaluieren hat sich aufgrund der oben skizzier-
ten Differenzierung zu rein physischer Distanzierung als besonders problematisch
erwiesen. Jene rein physische Herauslösung aus radikalen oder extremistischen
Milieus ist relativ einfach zu messen und zu evaluieren (durch nicht-straffälliges
Verhalten, Messung der Rückfallquoten, Kontaktabbruch zu ehemaliger Grup-
pe usw.). Dagegen beinhaltet Deradikalisierung durch die implizierte kognitive
Veränderung einen Prozess, welcher sich der sicheren empirischen Überprüfung
entzieht. Zusätzlich ist der Zugang zu den Klienten solcher Programme aufgrund
hoher Sicherheitsstandards und Datenschutzkriterien oftmals sehr schwierig.
Im internationalen Diskurs wurden einige Ansätze diskutiert, allerdings ohne
großÁächige Anwendung zu Ànden – z. B. die ‘Multi Attribute Utility Technolo-
gy (MAUT)’ (Horgan & Braddock, 2010) oder multidimensionale, vertikale, und
horizontale Methoden (Romaniuk & Fink, 2012). Im Bereich der Kriminologie
wurden zwar sehr vielversprechende Ansätze der linguistischen Analyse vorge-
stellt (Maruna, 2001), diese in der Deradikalisierungspraxis aber noch nicht er-
probt, geht es doch um die weitaus komplexere Fragestellung der Messung einer
ideologisch-kognitiven Veränderung. In Konsequenz verwenden die meisten Staa-
436 Daniel Köhler

ten, die über Deradikalisierungsprogramme verfügen und diese Ànanzieren, eher


quantitative, rein numerische Kriterien der Evaluation (z. B. Anzahl der betreuten
Fälle, Dauer der Betreuung, Rückfallquoten, Kosten von Personal usw.). Zivilge-
sellschaftliche Initiativen greifen zumeist auf einen guten Leumund der durch das
Programm betreuten Personen zurück. Die Frage der Evaluation von Deradikali-
sierungsprogrammen ist auch aufgrund der Aktualität und starken Nachfrage nach
derartigen Programmen Gegenstand verschiedener Grundlagenforschungsprojek-
te weltweit.
Grundsätzlich sind die ersten Schritte zu einer efÀzienten und effektiven Eva-
luation Transparenz (durch öffentlich zugängliche und qualitativ hochwertige
Selbstevaluation und Nachvollziehbarkeit von Arbeitsweisen und struktureller
Organisation) im Rahmen des praktisch Sinnvollen und Externalität (Evaluation
durchgeführt durch unabhängige und anerkannte Experten im Feld). Die Evaluatio-
nen sollten quantitativ (z. B. Fallzahlen, Kosten des Programms, Reintegrationsfak-
toren [Arbeitslosenquote nach Abschluss des Programms, Abbruchraten von Bil-
dungsmaßnahmen etc.], EfÀzienz interner Strukturen) und qualitativ (z. B. Studien
über Methoden, Wirksamkeit, Effektivität, interne Organisation usw. durch teilneh-
mende Beobachtung, Interview- und Fallstudien mit Aussteigern, Mitarbeitern etc.)
sein. Diese Schritte sind allerdings nur der Anfang zu einem umfassenden Evalua-
tionsmechanismus. Ein weiterer essentieller Schritt ist die Etablierung umfassender
qualitativer Standards der Deradikalisierungsarbeit, um ein Richtmaß für die Eva-
luation abzuleiten. Besonders die Vereinheitlichung von DeÀnitionen und ethisch-
praktischen Richtlinien ist hier zentral. Da dies zumindest unter deutschen nicht-
staatlichen Praktikern in den letzten 14 Jahren weitestgehend (mit einigen wenigen
Ausnahmen) – insbesondere auch von den ‚großen’ Programmen mit bundesweitem
Selbstanspruch – vernachlässigt wurde, bildete sich eine stark heterogene Land-
schaft, welche in ihrer Pluralität zwar viele Stärken besitzt, aber auch nur schwer-
lich – was als eine Schwäche gesehen werden kann – die Setzung einheitlicher
Standards zulässt. Auf staatlicher Seite wurde dafür mit der oben genannten ‚AG
Deradikalisierung’ im GTAZ die Grundlage geschaffen. Im zivilgesellschaftlichen
Bereich zeichnet sich durch die Gründung der ‚Bundesarbeitsgemeinschaft Aus-
stieg zum Einstieg’ (BAG) im März 2014 ein erster Versuch in diese Richtung ab.
Die derzeit neun Programme umfassende BAG entstand aus einem Teil des Träger-
bestandes des XENOS-Sonderprogramms „Ausstieg zum Einstieg“. Das XENOS-
Sonderprogramm war mit einer Förderperiode von 2009 bis 2013 Bestandteil des
Bundesprogramms „XENOS – Integration und Vielfalt“ aus Mitteln des Bundes-
ministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) und des Europäischen Sozialfonds
(ESF) geschaffen worden. Die Entwicklung von umfassenden Standards ist erklär-
tes Ziel der BAG und obwohl nicht alle relevanten zivilgesellschaftlichen Träger
Deradikalisierung als Methode 437

in ihr vertreten sind, ist dieser Schritt im zivilgesellschaftlichen Bereich – welcher


lange von Rivalitäten und Dominanzansprüchen einzelner Programme gekenn-
zeichnet war – doch längst überfällig. Zumindest im Bereich der Familienberatung
gibt es bereits einige ausführlichere Ansätze (z. B.: Koehler, 2013a, 2014b).

6 Kritik und interne Differenzen

Wie bereits mehrfach angedeutet, sind sowohl Theorie als auch Praxis der De-
radikalisierung vielfacher Kritik ausgesetzt gewesen. Einige noch immer gültige
Kritikpunkte seien hier kurz genannt: Intransparenz in Bezug auf Arbeitsweisen,
strukturelle Organisation und (Miss-)erfolge in der Arbeit wurden sehr häuÀg gegen
staatliche und nicht-staatliche Programme vorgebracht. Der oftmals nur partielle
Einblick in die Arbeitsweisen und internen Richtlinien von Deradikalisierungspro-
grammen hat auch deren Evaluation erheblich erschwert. Einzelne Programme, die
auf eine Medienwirkung Ausgestiegener setzen, können diese methodischen Zwei-
fel ebenfalls nicht zerstreuen. Da Transparenz (über Methoden, Finanzierungs-
quellen, Organisation usw.) ein grundlegender Qualitätsstandard ist, muss darauf
hingewiesen werden, dass aktuell kein deutsches Programm dieser Anforderung
ausreichend genügt. Meilensteine in der Herstellung von Transparenz in Bezug
auf die eigenen Arbeitsweisen wurden allerdings von einem staatlichen (Buchheit,
2014) und einem nicht-staatlichen Programm (Jende, 2014) gesetzt, hinter welchen
insbesondere die drei großen bundesweiten Programme weit zurückliegen.
Die fehlende Zusammenarbeit von staatlichen und nicht-staatlichen Program-
men ist immer wieder zu recht bemängelt worden (z. B.: Glaser, et al., 2014, S. 52)
und bedeutet für beide Seiten zwangsläuÀg erhebliche qualitative Einschnitte in
der Betreuung, da vergleichende Forschung deutlich Stärken und Schwächen staat-
licher und nicht-staatliche Träger bei einzelnen Aspekten der Deradikalisierungs-
arbeit gezeigt hat und eine arbeitsteilige Herangehensweise sinnvoll ist.
Auch die Frage der Finanzierung nicht-staatlicher Programme wurde von die-
sen immer wieder hervorgehoben. Auf der einen Seite ist eine stabile Finanzie-
rung nicht-staatlicher Träger eine wichtige Aufgabe verschiedener Ebenen (Bund
und Länder), aber dennoch sollte nicht verkannt werden, dass nicht-staatliche Pro-
gramme, welche mit ihrer Unabhängigkeit vom Staat für sich werben, sich durch-
aus konterkarieren, wenn sie von staatlicher Finanzierung insofern abhängig sind,
dass bei Ausbleiben jener Förderung (und dies in regelmäßigen Abständen) me-
dienwirksam mit dem Bankrott gedroht wird.
Die wettbewerbsartige Situation zwischen zivilgesellschaftlichen Initiativen
hat dabei zusätzlich zu dem Eindruck geführt, dass einzelne Projekte in medien-
438 Daniel Köhler

wirksamer Öffentlichkeit Abhilfe suchen, um Alleinstellungsmerkmale gegenüber


anderen Programmen zu betonen oder zu suggerieren, obwohl derartige Medien-
kampagnen nicht immer in strategisch sinnvoller Weise im Einklang mit den Zie-
len eines Deradikalisierungsprogrammes stehen (z. B. im Bereich der Glaubwür-
digkeit und Zielgruppenansprache).
All diese Kritikpunkte sind berechtigt und gültig und müssen im Rahmen
einer stetig wachsenden Trägerlandschaft mit zunehmenden internationalen Ver-
netzungen methodisch gelöst werden. Die bereits angesprochenen positiven Mus-
terbeispiele zeigen, dass Transparenz über Methoden und Struktur im Sinne der
Vertrauensbildung von staatlichen und nicht-staatlichen Trägern möglich ist, ohne
Kernkompetenzen zu verlieren und dabei einen konstruktiven Dialog über An-
sätze zu führen.

7 Ausblick

Diesen kurzen Abriss über Grundzüge der aktuellen nationalen und internatio-
nalen Debatte über Deradikalisierungsprogramme zusammenfassend, lassen sich
einige wichtige Trends und Herausforderungen herausstreichen. Familienbera-
tungsprogramme mit methodischer Ausrichtung als komplementäre Deradikali-
sierungsprogramme haben weltweit eine hohe Aufmerksamkeit und Nachfrage
seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs erlebt. Neben rein staatlichen und rein
nicht-staatlichen Ansätzen stellen Public Private Partnerships, wie im BAMF Be-
ratungsnetzwerk erprobt, eine entscheidende Innovation in Theorie und Praxis dar.
Besonders im Hinblick auf die fehlende Kooperation zwischen staatlichen und
nicht-staatlichen Trägern im Bereich Ausstieg aus rechtsextremen Szenen zeigt
die Erfahrung aus dem Bereich Jihadismus die Notwendigkeit, aber auch Möglich-
keit der efÀzienten Arbeitsteilung. Als großer Mangel ist die immer noch fehlende
Grundlagenforschung zu Radikalisierungs- und Deradikalisierungsprozessen in
Deutschland, sowie das allgemein geringe Interesse an Ausstiegsverläufen anzu-
merken. Besonders da in Deutschland eine weltweit einzigartige Fülle von ver-
schiedenen langjährig erprobten Ansätzen unterschiedlichster Konstellationen
existiert, ist ein Nachziehen entsprechender Forschung dringend notwendig. Erste
Ansätze dazu wurden auch durch die Schaffung einer ersten unabhängigen und
begutachteten Fachzeitschrift4 und einer internationalen Forschungsinitiative aus
Praktikern und Wissenschaftlern5 zum Thema Deradikalisierung gesetzt.

4 www.journal-derad.com (letzter Zugriff: 9. Februar 2015)


5 www.deradikalisierung.de (letzter Zugriff: 9. Februar 2015)
Deradikalisierung als Methode 439

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Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit
der Stammtische treffen

Die lokale politische Kultur als begünstigender Faktor


für die Herausbildung von Rechtsextremismus

Reiner Becker

Politische Einstellungen entwickeln sich nicht im luftleeren Raum: Die Heraus-


bildung rechtsextremer Orientierungen bei Jugendlichen vollzieht sich zunächst
in einem Dreieck primärer Sozialisationsinstanzen von Familie, Schule und Peer-
group (Möller, 2000), in der zunehmend auch die politische Kultur im sozialen
Nahraum mit ihren gesellschaftlichen Wertevorstellungen, aktuellen aber auch
tradierten Einstellungsmustern gegenüber so genannten gesellschaftlich schwa-
chen Gruppen und den mit ihr einhergehenden Gelegenheitsstrukturen für die
Aktivitäten von rechtsextremen Gruppierungen als eine nachgeordnete Soziali-
sationsinstanz von besonderer Bedeutung ist (Becker & Palloks, 2013). Die skan-
dierten Vorurteile und Ressentiments der wiederholt reklamierten „Mitte der Ge-
sellschaft“ an Stammtischen und in Vereinen – oder wie im Winter 2014/2015 auf
vielen Straßen in deutschen Städten im Rahmen der so genannten Pegida-Demon-
strationen – können rechtsextremen (jugendlichen) Akteuren die Bestätigung und
ein angenommenes Mandat geben, das sie für ihre (gewaltorientierten) Aktivitäten
benötigen. Ohne Blick auf die politische Kultur konkreter sozialer Nahräume las-
sen sich daher, so die erkenntnisleitende Perspektive dieses Beitrags, einerseits die
Ursachen für Rechtsextremismus und die begünstigenden Faktoren für die Etab-
lierung rechtsextremer Szenen nur unzureichend herausarbeiten und andererseits
nur unzureichende Präventions- und Interventionsansätze konturieren.

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_19, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
444 Reiner Becker

1 Politische Kultur als Teil der politischen Sozialisation

Die Herausbildung und die Verfestigung von politischen Einstellungen ist ein
komplexer Prozess und vollzieht sich zunächst auf der Individualebene und Meso-
ebene des institutionellen Lebens, dann auf der gesellschaftlichen Makroebene
sowie auf Ebene der politischen Kultur.
Politische Sozialisation auf der Individualebene geschieht in der Abhängigkeit
von den primären Instanzen der politischen Sozialisation wie Familie, der Peer-
group und der Schule aber auch den Medien. Hier gilt es zwischen manifesten
Gehalten der politischen Sozialisation (z. B. welche politische Einstellungen ge-
ben Eltern an ihre Kinder weiter, welchen Bestandteil nimmt das Thema Politik
und Gesellschaft in den Unterrichtscurricula an Schulen ein) und Prozessen auf
einer (eher) latenten Ebene zu unterscheiden. Bezogen auf die Familie weisen For-
schungsbefunde etwa auf die Bindungsqualität zwischen Eltern und Kind als einen
relevanten Faktor der politischen Sozialisation hin (Hopf, Rieker, Sanden-Marcus
& Schmidt, 1995) oder zeigen den Zusammenhang von Erziehungsstilen, Bezie-
hungsqualitäten und der Qualität der manifesten politischen Sozialisation (Becker,
2008). Die Sozialisationsinstanz Schule gewinnt z. B. über die Möglichkeit für
Schüler und Schülerinnen an demokratischer Teilhabe oder Nichtteilhabe an Rele-
vanz (Gänger, 2007). Die Peergroup bzw. Jugendcliquen bilden neben Familie und
Schule einen weiteren lebensweltlichen Bezugspunkt für AfÀnisierungsprozesse
und spielen insbesondere in der Abgrenzung gegenüber anderen Jugendlichen bzw.
Jugendkulturen und den anderen primären Sozialisationsinstanzen eine wesent-
liche Rolle (Küpper & Möller, 2014, S. 37f.). In der Regel sind dabei rechtsextrem
orientierte Jugendcliquen (zunächst) eher erlebnisorientiert und weniger ideolo-
gisiert und sie werden eher in ländlichen Räumen wahrgenommen (Hafeneger &
Becker, 2007).
Politische Sozialisation auf der interaktiven Individualebene zu betrachten, be-
deutet allerdings nicht, dass es sich dabei um rein individualisierte, isolierte Pro-
zesse handelt. Vielmehr werden sie von institutionell vermittelten Prozessen auf
gesellschaftlicher Ebene beeinÁusst. So führt eine tatsächliche bzw. wahrgenom-
mene relative Deprivation als Folge des ökonomischen Wandels zu höheren An-
fälligkeiten für rechtsextreme Ideologien bei bestimmten Bevölkerungsgruppen
(Hofstadter, 1964). Scheuch und Klingemann haben im Rechtsextremismus eine
„normale Pathologie von freiheitlichen Industriegesellschaften“ gesehen (Scheuch
& Klingemann, 1967, S. 13), nach der ein Zusammenhang zwischen gesellschaft-
lichen Modernisierungsprozessen, Anomie (vgl. Durkheim, 1993; Merton, 1995),
rigiden Handlungsweisen und der Unterstützung von rechtsextremen Parteien be-
steht. Erfahrungen von unterschiedlichen Formen von Desintegration als Folge des
Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen 445

sozialen Wandels (vgl. Heitmeyer, 1997) und der Pluralisierung bzw. Individuali-
sierung von Lebenslagen (Beck, 1986) verweisen ebenfalls auf die EinÁüsse von
gesellschaftlichen und ökonomischen Prozessen auf die individuellen Dispositio-
nen.
Eine dritte Ebene der politischen Sozialisation stellt die politische Kultur dar.
Diese bezieht sich „auf unterschiedliche politische Bewusstseinslagen, ‚Mentali-
täten‘, ‚typische‘ bestimmten Gruppen oder ganzen Gesellschaften zugeschriebe-
ne Denk- und Verhaltensweisen“ (Nohlen, 1998, S. 499). Dabei unterscheidet sich
politische Kultur von einer allgemeinen Kultur ebenso wie von Formen des politi-
schen Verhaltens. Sie beschreibt vielmehr Präpositionen politischen Handelns auf
der Ebene von Meinungen (Beliefs), Einstellungen (Attitudes) – demnach auch Ein-
stellungen gegenüber gesellschaftlich schwachen Gruppen – und Werten (Values),
wobei die Ebene der Werte die intensivste und beständigste darstellt. Almond und
Verba (1963) sehen einen engen Zusammenhang zwischen der politischen Kultur
und der Stabilität des politischen Systems: Das Beispiel der Weimarer Republik
zeigt, dass ein demokratisches System sich nur dann schwer etablieren und stabili-
sieren kann, wenn wesentliche gesellschaftliche Eliten und Bevölkerungsgruppen
ein solches System ablehnen. Dieser Aspekt verweist auf ein weiteres wesentliches
Element der politischen Kultur, das der Beständigkeit. Mentalitäten, Einstellungen
und Werte sind nicht (nur) abhängig von den Konjunkturen aktueller ökonomi-
scher, politischer und gesellschaftlicher Großwetterlagen, vielmehr werden sie auf
individueller und auch auf kollektiver Ebene tradiert (vgl. Becker, 2008, Rosen-
thal, 1990, 1999; Welzer, Moller & Tschuggnall, 2003) und werden Bestandteil des
kollektiven Gedächtnisses (Assmann, 1992). Politische Kultur ist also sowohl das
Produkt kollektiver als auch individueller Geschichte (Pye, 1968). Dabei produ-
zieren Gruppen kollektive Erinnerungen, indem alle Gesellschaften ein Bewusst-
sein von „ihren“ Vergangenheiten haben, um sich in dieser zu vergegenwärtigen
(Halbwachs, 1967, 1985; Hobsbawm, 1998). Jede Generation verschafft sich somit
die Erinnerungen, die sie zur Bildung ihrer Identität benötigt und es besteht „kein
Vergangenheitsbild ohne Gegenwartsbezug“ (François & Schulze, 2005).

2 Einstellungen und politische Kultur

Seit der ersten SINUS-Studie aus dem Jahr 1981 weisen empirische Studien regel-
mäßig auf die Verbreitung von rechtsextremistischen Einstellungen in der (zunächst
westdeutschen) Gesellschaft hin (vgl. Sinus-Institut, 1981). Solche Untersuchun-
gen dokumentieren auch die „Qualität“ der politischen Kultur der Bundesrepu-
blik, belegen sie doch die Einstellungen einer Mehrheitsgesellschaft gegenüber
446 Reiner Becker

gesellschaftlich schwachen Gruppen über einen langen Zeitraum. Die Studien zur
Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (vgl. Heitmeyer, 2002 – 2012) diffe-
renzieren z. B. abwertende Haltungen gegenüber gesellschaftlich schwachen Grup-
pen in zuletzt zwölf Syndrom-Elementen und dokumentieren eindrucksvoll über
einen Zeitraum von zehn Jahren die Zu- und Abnahme von Vorurteilen gegenüber
den einzelnen Gruppen. Ein zentrales Ergebnis der Langzeitstudie lautet: „Unter
denjenigen, die sich von Krisen bedroht fühlen, ist die Gruppenbezogene Men-
schenfeindlichkeit deutlich höher, variierend nach den Umständen“ (Heitmeyer,
2012, S. 26). Auch die so genannten „Mitte-Studien“ können solcherlei Verläufe
dokumentieren, danach hatten 2014 5,6% der Befragten ein geschlossenes rechts-
extremes Weltbild, wobei die Zahl der Befragten, die ein geschlossenes rechtsext-
remes Weltbild aufweisen im Vergleich zu 2002 (9,7%) gesunken ist (vgl. Decker,
Kiess & Brähler, 2014). In der Bilanzierung der zehnjährigen Erhebung kommt
Heitmeyer weiter zu dem Schluss, dass sich eine „rohe Bürgerlichkeit“ heraus-
gebildet habe, die sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen an den Maßstäben
der kapitalistischen Nützlichkeit, Verwertbarkeit und EfÀzienz orientiere und so-
mit die Gleichwertigkeit von Menschen antastbar mache und einen Klassenkampf
von oben inszeniere (Heitmeyer, 2012, S. 34f.). In der Leipziger „Mitte-Studie“
kommen die Autoren u. a. zu dem Ergebnis, dass die starke Wirtschaft als eine
„narzisstische Plombe“ wirke, sich jedoch ein „sekundärer Autoritarismus“ etab-
liert habe, der sich gegen solche „fremden“ gesellschaftlichen Gruppen richte, die
sich nicht dem Primat der sekundären Autorität, der Ökonomie, unterwerfe (vgl.
Decker et al., 2014, S. 65ff.). Solcherlei empirischen Befunde rekurrieren jedoch
selten auf die SpeziÀka der politischen Kultur oder auf die Ebene der Tradierung.
Doch gerade die Abwertungen von bestimmten gesellschaftlich schwachen Grup-
pen beruhen z. T. auf einer langen „Tradition“. Gesellschaftliche Gruppen werden
nach ethnischen, kulturellen, religiösen oder vermeintlich „biologischen“ Merk-
malen voneinander unterschieden und dabei sind diese Unterscheidungen in der
Regel Ausdruck und Resultat langer, z. T. jahrhundertealter politischer und kultu-
reller Auseinandersetzungen (vgl. Rommelspacher, 2006). So stellt das Stereotyp
von den Juden als den „Fremden“ bzw. den „Anderen“ ein Kategorisierungs- und
Erweiterungskonzept dar, das über zwei Jahrtausende in diversen Abwandlungen
erhalten geblieben ist: „Die im Laufe der Jahrhunderte zusätzlich entstandenen
speziÀschen Stereotype bilden zusammen und miteinander verknüpft ein kogni-
tives System von Glaubensinhalten, welches das emotionale Ressentiment gegen-
über Juden mental stützt. Die Sprache archiviert Komponenten des kollektiven
Bewusstseins und macht sie über ihre bedeutungstragenden Formen transparent“
(Schwarz-Friesel & Reinharz, 2013, S. 105). Ein ähnlicher Tradierungsmechanis-
mus gilt für den Rassismus oder für die Abwertung von Sinti und Roma.
Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen 447

3 Politische Kultur und Rechtsextremismus


im ländlichen Raum

Die bisherigen Ausführungen zur politischen Kultur beziehen sich auf eine ge-
samtgesellschaftspolitische Perspektive. Doch können auch SpeziÀka einer politi-
schen Kultur für konkrete soziale – lokale und regionale – Nahräume beschrieben
werden, wie die folgenden sechs Dimensionen zeigen:

1. Betrachtet man konkrete Entfaltungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume


extrem rechter Organisationen und Gruppierungen im lokalen bzw. regionalen
Nahraum, dann zeigen die Befunde aus der Forschung zu Rechtsextremismus als
soziale Bewegung, dass die lokale politische Kultur, die konkreten Einstellungs-
mentalitäten und Vorurteilskulturen mitentscheidend dafür sind, ob es vor Ort
eher günstige oder hinderliche Entfaltungsmöglichkeiten gibt (Klärner & Kohl-
struck, 2006). Eine Erklärung hierfür Àndet sich u. a. in der Theorie des geplan-
ten Verhaltens (Fishbein & Ajzen, 1975), wonach Individuen ihre Handlungen
danach ausrichten, ob das Umfeld, z. B. das Gemeinwesen, diese Handlungen
„aus Überzeugung“, auf Basis geteilter Werte und Überzeugungen, missbilligt
oder toleriert. Hier treffen nun die abstrakten Items der Einstellungsforschung
mit der Wirklichkeit der Stammtische und interaktiven Alltagsbezügen zusam-
men: Vorurteile gegenüber gesellschaftlich schwachen Gruppen Ànden sich eher
im ländlichen denn im städtischen Raum wieder. Der AfÀnisierungsaufbau bei
rechtsextrem orientierten Jugendlichen kann dadurch begünstigt werden, wenn
sie mit solcherlei Vorurteilen in ihrem sozialen Nahraum groß werden – in der
Dorfschänke oder im Feuerwehrgerätehaus, in Vereinen oder in Kirmesbur-
schenschaften. Dies kann so weit führen, dass rechtsextrem orientierte Jugend-
liche für ihr Verhalten ein Mandat und eine „stille“ Unterstützung in den Vor-
urteilskulturen der Erwachsenen ihres sozialen Nahraums annehmen.
2. Weiter zeigen die Ergebnisse aus der Einstellungsforschung für die Bundesre-
publik, dass rechtsextreme Einstellungen kein Ost-West- sondern eher ein Stadt-
Land-Problem sind. So ist z. B. Fremdenfeindlichkeit dort höher, wo kaum Mi-
granten leben (vgl. Decker, Kiess & Brähler, 2012). Dieser für viele irritierende
Befund lässt sich mit den Annahmen der so genannten Kontakttheorie erklären,
wonach der persönliche Kontakt mit „Fremden“ zur Reduktion von Vorurteilen
und Feindseligkeiten beitragen kann, weil er die Haltung zum Zusammenleben
der eigenen mit fremden Gruppen verändert (vgl. Asbrock et. al., 2012). Der
persönliche Kontakt zu „Fremden“ kann als ein Prozess der „Deprovinziali-
sierung“ beschrieben werden, in dem zunehmend andere kulturelle Standards
und Gewohnheiten wahrgenommen und akzeptiert werden (Pettigrew, 1998).
448 Reiner Becker

3. Vorliegende Forschungsbefunde zum Rechtsextremismus im ländlichen Raum


weisen auf den verdichteten sozialen Konformitätsdruck in kleineren Gemein-
den hin. Das Motto „Jede/r kennt jede/n“ drückt eines der Grundcharakteris-
tika dörÁichen Lebens aus, die grundsätzlich engeren BeziehungsgeÁechte auf
dem Land. Das kann Ausdruck einer speziÀschen Lebensqualität sein, bedeutet
aber – als Kehrseite der Medaille –, dass abweichende Einstellungen und Ver-
haltensweisen von der örtlichen Gemeinschaft nicht akzeptiert oder gar sank-
tioniert werden können. Gleichzeitig droht der Bedeutungsverlust des Lokalen
und der Verlust dörÁicher Gemeinschaftsstrukturen im Zeitalter eines anhal-
tenden ökonomisch-strukturellen Wandels und Krisen „auf dem Land“: Vieler-
orts – und dies betrifft nicht mehr nur Regionen in Ostdeutschland – ziehen
junge, gut ausgebildete Bewohner und Bewohnerinnen des Ortes weg und es
droht eine zunehmende Homogenisierung der lokalen Bevölkerungsstrukturen
(Buchstein & Heinrich, 2010).
4. Die Zivilgesellschaft gilt in der Auseinandersetzung mit einem lokalen Rechts-
extremismus als ein Schlüssel für gelingende Interventionen. Dabei hängt das
Engagement der Bevölkerung davon ab, welche dominante Problemsicht auf
den Rechtsextremismus unter den zentralen Akteuren der lokalen Öffentlich-
keit vorherrschend ist (Klemm, Strobl & Würtz, 2006). Zentrale Akteure vor
Ort sind diejenigen, welche wichtige Knotenpunkte in einem lokalen Bezie-
hungsgeÁecht darstellen; dazu gehören Bürgermeister, Pfarrer oder Vereins-
vertreter. Wird von diesen zentralen Akteuren das Problem eher verharmlost,
so fällt in der Regel das Engagementpotential bei der restlichen Bevölkerung
geringer aus und sie werden zu „Verhinderern“ statt „Ermöglichern“; wenn die
zentralen Akteure sich eine Problemlage zu eigen machen und zu Engagement
ermutigen, ist der gegenteilige Effekt zu beobachten. Für die „Zivilgesell-
schaft“ als ein eher normativ besetztes Konzept gilt zugleich, dass freiwillige
Assoziationen, Vereine, Bewegungen und Verbände nicht per se demokratisch,
pluralistisch und für jedermann offen sind. Vielmehr versagt eine „zivilgesell-
schaftliche Gegenwehr“ dann, wenn die örtliche Zivilgesellschaft mit ihren
ausgeprägten Vorurteilskulturen mehr Teil des Problems denn der Lösung ist
(Roth, 2004).
5. Es gilt gleichwohl die Erkenntnis, wenn der soziale Zusammenhalt in der eige-
nen Kommune als stark und positiv eingeschätzt wird, so sinkt für den Einzel-
nen die Wahrscheinlichkeit für fremdenfeindliche Einstellungen (Grau & Heit-
meyer, 2013). Die Qualität des „sozialen Zusammenhalts“ fokussiert dabei auf
die Werte- und Zielvorstellungen einer lokalen Zivilgesellschaft, auf die lokale
soziale Ordnung und Kontrolle, auf die Formen der sozialen Solidarität und der
Reduktion von ökonomischen Ungleichheiten, auf den Grad von sozialen Inter-
Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen 449

aktionen (soziale Netzwerke und soziales Kapital) sowie auf die lokale Verbun-
denheit und Identität (ebd., S. 62). Die Qualität des sozialen Zusammenhalts in
einer Kommune ist im Rahmen von Interventions- und Präventionsstrategien
somit von hoher Relevanz.
6. Ein weiteres SpeziÀkum einer lokalen politischen Kultur betrifft die Bedeu-
tung von tradierten, lokalen Mythen und Geschichten. Das kollektive Gedächt-
nis einer politischen Kultur kristallisiert sich auch in ihren Erinnerungsorten
wieder (vgl. François & Schulze, 2005, S. 8). Auf deutsche Erinnerungsorte
bezogen, kann dabei z. B. zwischen „Orten“ (z. B. dem Berliner Reichstag, der
Berliner Mauer, der KZ-Gedenkstätte Auschwitz) und „Ereignissen“ (z. B. der
Reformation, Brandts Kniefall 1972, der Gewinn der Fußball-WM 1954 usw.)
unterschieden werden. Erinnerungsorte sind nicht zeitlos, sondern unterliegen
ebenfalls der jeweiligen Lesart der Gegenwart und den ihr vorausgegangenen
Narrativen. Gleichzeitig dienen solche Erinnerungsorte zur Vergegenwärti-
gung in „Raum und Zeit“. Mit Blick auf das Gemeinwesen kann dieser Aspekt
bedeuten, dass lokale Mythen über den Ort, historische Bezüge und Rückver-
gewisserungen in Zeiten des o. g. Bedeutungsverlustes des Lokalen von tragen-
der Bedeutung sind. Hier stellt sich wiederum die Frage, welche Geschichte(n)
in der dörÁichen Öffentlichkeit tradiert und welche Geschichte(n) verschwie-
gen oder bestenfalls verschämt zu Hause am Küchentisch weitererzählt wer-
den.

4 Beratung im kommunalen Raum –


ein Beispiel für Intervention und politische Kultur

Die Frage nach der Bedeutung einer speziÀschen lokalen politischen Kultur in
der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus ist keine akademische Dehn- und
Lockerungsübung, sondern wird dann relevant, wenn mögliche Gelingensfakto-
ren für erfolgreiche Interventions- und Präventionsmaßnahmen konturiert werden
sollen. Mobile Beratung im Kontext von Rechtsextremismus (als ein Beispiel für
Intervention) ist ein noch recht junges Feld mit zugehöriger Profession. Sie wur-
de 1998 im Rahmen des Landesprogramms „Tolerantes Brandenburg“ erstmals
erprobt und ab 2001 mit dem Bundesprogramm „C IVITAS“ des Bundesminis-
teriums für Familie, Frauen, Senioren und Jugend (BMFSFJ) zunächst in den ost-
deutschen und ab 2007 über das Programm „kompetent. für Demokratie“ auch in
den westdeutschen Bundesländern angeboten. Mithilfe eines Fallbeispiels aus der
Praxis des beratungsNetzwerks hessen – Mobile Intervention gegen Rechtsextre-
mismus sollen exemplarisch hinderliche und begünstigende Faktoren der lokalen
450 Reiner Becker

politischen Kultur im Rahmen von Beratungsprozessen aufgezeigt werden1. In


einer Beratungsanfrage heißt es:

„Die JugendpÁegerin einer Gemeinde berichtet von zahlreichen Vorkommnissen


mit einem rechtsextremen Hintergrund u. a. in den selbstverwalteten Jugendräumen
und auch in der Gemeinde. Die rechtsextrem orientierte Jugendclique des Ortes, mit
z. T. gewaltbereiten Jugendlichen, hat Kontakt zur organisierten Szene; so fanden in
den Jugendräumen gemeinsame Versammlungen statt. Die Gemeinde schloss die Ju-
gendräume und möchte diese mit einem neuen Konzept wieder öffnen. Gleichzeitig
weisen die Vorfälle auf die Verharmlosung der Problematik in Teilen der Gemeinde
hin.“

Ohne näher über den weiteren Verlauf der Beratung in dieser Kommune zu be-
richten, können für die Darstellung der Ausgangsbedingungen für Beratung vier
zentrale Thesen formuliert werden, die auf eine speziÀsche lokale politische Kul-
tur verweisen.

A Vorkommnisse in Kommunen werden häufig zur Standortfrage


stilisiert.
Die Vorkommnisse mit einem rechtsextremen Hintergrund in einer Kommune
und der Umgang mit ihnen ist sicherlich kein „Gewinnerthema“. Kommunal ver-
antwortliche Akteure wie Bürgermeister und Bürgermeisterinnen stehen in der
Regel unter einem großen Handlungsdruck, wenn solcherlei Vorkommnisse, z. B.
durch eine Berichterstattung in der Lokalpresse, öffentlich werden. Es zeigt sich
eine große, ernstzunehmende Sorge um den Ruf der Gemeinde und eine Infra-
gestellung des friedlichen Zusammenlebens und sozialen Zusammenhalts. In der
Beratung gilt es daher, gemeinsam mit Bürgermeistern und anderen kommunalen
Verantwortungsträgern zu eruieren, wie sie die politische Situation und die Stim-
mungslage in ihrem Ort einschätzen. Idealtypisch lassen sich hier vier Gruppen
unterscheiden:

1 Die Landeskoordinierungsstelle des beratungsNetzwerks hessen an der Philipps-Uni-


versität Marburg hat seit 2007 ein eigenes System zur Dokumentation und Evaluation
von Beratungsprozessen entwickelt. Die Berater und Beraterinnen im Netzwerk do-
kumentieren hiermit nach einem standardisierten Verfahren, welches einen idealtypi-
schen Beratungsprozess modelliert, ihre Arbeit. Dies ermöglicht eine kontinuierliche
Auswertung der Beratungsprozesse nach verschiedenen Aspekten und Fragestellun-
gen, vgl. auch Becker (2013). Das vorliegende Beispiel bezieht sich auf einen (hier
anonymisierten) Beratungsfall aus dem Jahr 2008.
Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen 451

• Die Gruppe der „besorgten Bürger“, die darauf drängt, dass „etwas unternom-
men wird“;
• die Gruppe der „Gleichgültigen“, die keinen Problemdruck verspürt bzw. diesen
negiert;
• die Gruppe der „Relativierer“, die sich in erster Linie Sorge um das Image der
Gemeinde macht und daher eher auf starke Positionierungen gegen den lokalen
Rechtsextremismus verzichten möchte;
• die Gruppe der (stillen) „Sympathisanten“, welche die Positionen der lokalen
Rechtsextremisten mehr oder weniger teilt und gleichzeitig darauf bedacht ist,
kein unnötiges Aufsehen zu produzieren.

In dieser vierten idealtypischen Gruppe Ànden sich vor allem die lokalen Träger
von Vorurteilen gegenüber gesellschaftlich schwachen Gruppen. In dieser Gemen-
gelage ist es nun von entscheidender Bedeutung, welche Problemsicht die politisch
und zivilgesellschaftlich kommunal verantwortlichen Akteure einnehmen. Wirkt
sich die Frage der drohenden Rufschädigung des Standortes derart aus, dass eher
die Positionen der Relativierer und (stillen) Sympathisanten geteilt werden, dann
agieren Bürgermeister in der Regel eher passiv und problemverharmlosend; „bes-
tenfalls“ delegiert man die Problemlösung an die Verantwortlichen in der Jugend-
arbeit, so wie es zunächst in diesem Fallbeispiel auch geschehen ist. Der lokale
Rechtsextremismus ist dann kein Problem mehr für die politische Kommune und
soziale Gemeinschaft des Ortes, sondern wird zu einem reinen Jugendproblem.

B Rechtsextrem orientierte Jugendliche fühlen sich im ländlichen Raum


oftmals durch ihr Erwachsenenumfeld bestätigt.
Bezogen auf einen drohenden Imageverlust erscheint es zunächst durchaus plau-
sibel, das Problem des lokalen Rechtsextremismus zu verharmlosen und ggf. zu
externalisieren, ihn nicht als einen Teil der lokalen Gesellschaft und in ihr entstan-
den zu verstehen. Eine solche Verdrängungsstrategie stößt dann an Grenzen, wenn
(wie in dem o. g. Fallbeispiel) die rechtsextrem orientierten Jugendlichen in der
besagten Gemeinde groß geworden und bekannt sind. Das Phänomen der rechten
Jugendcliquen ist vor allem ein Phänomen des ländlichen Raums (vgl. Hafeneger
& Becker, 2007) und oftmals werden Jugendliche in einem Erwachsenenumfeld
und einer mentalen Kultur sozialisiert, die in (großen) Teilen speziÀsche Vor-
urteilskulturen und Ressentiments ausgeprägt hat. Schlimmstenfalls Ànden die
Jugendlichen darin eine Legitimation für ihr Handeln, sie agieren mit dem Gefühl,
eine „schweigende Mehrheit“ zu repräsentieren, meinen das in die Tat umzuset-
zen, was sie an Stammtischen oder in Vereinsheimen hören. Eine Beratung von
Kommunen setzt daher einerseits mit der Frage nach den Rahmenbedingungen
452 Reiner Becker

und der aktuellen Situation der kommunalen Jugendarbeit an, wäre aber selbst
schlecht beraten, wenn sie andererseits die SpeziÀka des Gemeinwesens mit seiner
politischen Kultur und ihren Tradierungen außer Acht lassen würde. Auch in dem
exemplarischen Fall wurde zunächst nach neuen Konzepten für die Jugendarbeit
gefragt; die zunehmende Eskalation vor Ort (verstärktes Auftreten von rechtsext-
remen Aktivisten, eine Zunahme von gewalttätigen Vorfällen) führte jedoch dazu,
dass die Lösungskompetenz nicht in der Jugendarbeit alleine gesehen wurde. Viel-
mehr wurden zwei weitere Beratungen nachgefragt (von der örtlichen Feuerwehr
und einem Sportverein), denn viele der rechtsextrem orientierten Jugendlichen
nahmen nach wie vor am Vereinsgeschehen der Kommune teil.

C Die besonderen Beziehungsgeflechte, insbesondere im ländlichen


Raum, sind eine Herausforderung für die Beratung.
Die speziÀschen BeziehungsgeÁechte vor Ort in einem Beratungsdesign zu igno-
rieren, bedeutet in der Regel, dass die Arbeit erfolglos sein wird. Oftmals ist es
Ziel der Beratung im kommunalen Raum, die Bürger und Bürgerinnen des Ortes
für die Thematik zu sensibilisieren und für ein eigenes Engagement, etwa in Form
eines Bündnisses oder eines „runden Tisches“ zu aktivieren. Hinderlich können
enge BeziehungsgeÁechte dann sein, wenn der von den Individuen (wahrgenom-
mene) Konformitätsdruck groß und in großen Teilen der örtlichen Bevölkerung die
Problemsicht gering ist. Hinderlich für ein Engagement kann auch sein, wenn per-
sönliche Beziehungen zu den Familien der rechtsextrem orientierten Jugendlichen
bestehen und eine scheinbar klare und öffentliche „Freund-Feind-Positionierung“
nicht möglich ist – gerät man in diesem Kontext mit den Nachbarn in KonÁikt, ist
es nicht nur ein politischer, sondern zugleich ein persönlicher KonÁikt im Nah-
bereich der Nachbarschaft (Palloks & Steil, 2008, S. 35). So hinderlich die engen
BeziehungsgeÁechte als Ausdruck des sozialen Zusammenhalts im Beratungspro-
zess sein können, so nützlich können sie auch sein, wenn sich deutungsmächtige
Akteure des Ortes als relevante Knoten im kommunalen BeziehungsgeÁecht für
ein bürgerschaftliches Engagement stark machen, Position beziehen und anderen
Menschen des Ortes „ein gutes Vorbild“ sind. Solche relevanten Akteure zu iden-
tiÀzieren, gehört zum kleinen Einmaleins der Mobilen Beratung in Kommunen.
Im o. g. Fallbeispiel gelang es dem Beratungsteam, mithilfe wichtiger Akteure des
Ortes ein breites Bürgerbündnis zu initiieren.

D Aktuelle Beratungsfälle in Kommunen beruhen oftmals auf zurücklie-


genden Vorkommnissen und tradierten Vorurteilskulturen.
Vielerorts zeigt die Beratungspraxis, dass aktuellen Vorkommnissen mit einem
rechtsextremen Hintergrund, etwa das Aufkommen rechtsextrem orientierter Ju-
Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen 453

gendcliquen im lokalen Raum, Vorkommnisse vorausgehen, die mitunter schon


Jahre zurückliegen können. So zeigt die Replikationsstudie zu rechten Jugend-
cliquen in Hessen aus dem Jahr 2007 (Hafeneger & Becker, 2007), dass in einigen
Orten schon fünf Jahre zuvor, zum Zeitpunkt einer ersten hessenweiten Erhebung,
von solchen Jugendcliquen berichtet wurde (vgl. Hafeneger, Jansen, Niebling,
C laus & Wolf, 2002). In einigen aktuellen Beratungsfällen zeigt sich weiterhin,
dass die einstigen Jugendlichen, die Mitglied solcher Cliquen waren, heute als Er-
wachsene ein nach außen bürgerliches Leben führen, sie aber gleichzeitig für die
aus dem Ort stammenden rechtsextrem orientierten Jugendlichen einen wichti-
gen Anlaufpunkt darstellen. Eine bisher nicht untersuchte Frage lautet, ob sich die
Konjunkturen eines lokalen Rechtsextremismus erklären lassen und wieso einige
Orte – wenn auch in großen zeitlichen Abständen – immer wieder mit solcherlei
Vorkommnissen konfrontiert sind. Eine mögliche Antwort Àndet sich in der nähe-
ren Betrachtung der Ergebnisse eines speziÀschen Präventionsprojektes, welches
auf den Aspekt der politischen Kultur im ländlichen Raum zielte.

5 Spurensuche nach „vergessenen Geschichten“ –


ein Beispiel für Prävention und politische Kultur

Die Bandbreite von schulischen und außerschulischen Angeboten zur Prävention


von Rechtsextremismus ist von vielfältigen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen
geprägt (vgl. Rieker, 2009)2. Sie richtet sich aber in den meisten Konzeptionen an
die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen, kaum aber an Erwachsene, die, wirft
man den Blick auf die Ergebnisse der meisten Einstellungsstudien, im Vergleich zu
Jugendlichen größere Vorurteile gegenüber gesellschaftlich schwachen Gruppen
zeigen. An dieser Stelle kann von einem Ansatz der historisch-politischen Bil-
dung berichtet werden, das Projekt „Die vergessenen Geschichten Oberschelds“3,

2 Rieker (2009) führt die folgenden Angebote auf: Angebote auf Ebene einer primären
Prävention richten sich an Kinder und Jugendliche ohne Affinität zu Rechtsextremis-
mus. Dies sind Angebote der frühen Prävention, des interkulturellen Lernens oder der
politischen Bildung. Auf Ebene der sekundären Prävention sind Angebote zu differen-
zieren, die sich an rechtsextrem gefährdete oder rechtsextrem orientierte Jugendliche
richten; auf Ebene der tertiären Prävention finden sich Angebote zum Ausstieg aus
dem Rechtsextremismus und Angebote für die Arbeit mit Eltern und Angehörigen von
Rechtsextremisten wieder.
3 Gefördert wurde das Projekt durch den Lokalen Aktionsplan (LAP) Wetzlar/Lahn-
Dill im Rahmen des Bundesprogramms „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“;
Informationen zum LAP unter www.toleranz-wz-ldk.de. Das Projekt lief von Januar
454 Reiner Becker

welches sowohl auf jüngere als auch ältere Einwohner eines Dorfes fokussierte
und in dessen Mittelpunkt die Frage stand, warum im kollektiven Gedächtnis des
Ortes die Zeit des Nationalsozialismus keine Rolle spielt. Methodisch orientierte
sich dieses Projekt an pädagogischen Ansätzen aus den 1980er Jahren, in denen
nach dem Motto, „Grabe, wo Du stehst“, (Lindqvist, 1989) die konkreten Lebens-
orte von Jugendlichen und Erwachsenen der Ausgangspunkt für die historisch-
politische Bildung darstellte und Lebensorte als Lernorte der lokalen-historischen
Spurensicherung betrachtet wurden (Lecke, 1983).
Der heute etwas über 2000 Einwohner zählende Ort in Mittelhessen ist histo-
risch stark verwurzelt mit dem Eisenerzbergbau. Bis heute prägen die Erzählungen
über die Zeit der Gruben und des Hochofens am Rande des Ortes das kollektive
Gedächtnis des Dorfes. Daneben existierten jedoch Geschichten und Bilder, die
keinen Eingang in die öffentlichen Erzählungen des Dorfes gefunden haben: Es
sind Erzählungen vom z. T. dramatischen Wandel des DorÁebens und vom drohen-
den Niedergang des Bergbaus Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre, von der
wachsenden Bedeutung der NSDAP im Ort und von deren großen Wahlerfolgen
schon vor der letzten demokratischen Wahl im März 1933. Völlig unbekannt – zu-
mindest in der breiten lokalen Öffentlichkeit – war die Bedeutung von Zwangs-
arbeit im Ort; Hunderte von Menschen aus sechs Nationen leisteten am Hochofen
und in den Gruben um Oberscheld ab Anfang der 1940er Jahre Zwangsarbeit.
In dem Projekt „Die vergessenen Geschichten Oberschelds“ hat der „Jugend-
Arbeits-Kreis Oberscheld“ (JAKOb e.V.), ein Träger der Offenen Jugendarbeit,
gemeinsam mit einer Gruppe von Jugendlichen versucht, einen Teil dieser „ver-
gessenen Geschichten“ zu bergen und einen Bezug zu Fremdenfeindlichkeit und
Rechtsextremismus heute herzustellen, zumal der Ort in der Vergangenheit immer
wieder Ausgangspunkt für die Herausbildung rechtsextrem orientierter Jugend-
cliquen oder Ort von Vorkommnissen mit einem rechtsextremen Hintergrund war.
Dies war auch 2001 der Anlass für ehrenamtlich Engagierte des Dorfes, eine of-
fene Jugendarbeit für den Ort zu entwickeln und bis heute anzubieten (vgl. Born
& Reuter, 2013)4.
Gemeinsam mit neun Jugendlichen sichtete ein Projektteam Dokumente im
International Tracing Service (ITS) Bad Arolsen und im Hessischen Hauptstaats-
archiv, Wiesbaden, zur Dorfgeschichte. Weiterhin wurden historische Zeitungsar-
tikel ausgewertet und Fotos aus dieser Zeit gesammelt. Ein wesentlicher Bestand-

2013 bis März 2014. Weitere Informationen zu JAKOb e.V. siehe www.projekt-jakob.
de.
4 Der Autor ist Gründungsmitglied des Vereins und hat das Projekt „Die vergessenen
Geschichten Oberschelds“ wissenschaftlich begleitet.
Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen 455

teil des Projekts waren Leitfadeninterviews mit neun Senioren und Seniorinnen
des Ortes – Angehörige der so genannten „Generation Hitler-Jugend“ -, die von
den Jugendlichen gemeinsam mit einer pädagogischen Betreuerin durchgeführt
wurden. Die Leitfadeninterviews und die Dokumente aus den Archiven wurden in
einem weiteren Schritt wissenschaftlich ausgewertet, in Textform gebracht und in
einer knapp 120-seitigen Broschüre veröffentlicht (vgl. JAKOb e.V., 2013).
Neben der „Freilegung“ der lokalen Geschichte der Zwangsarbeit konnten
in relativ kurzer Zeit weitere Geschichten aus der Zeit des Nationalsozialismus
durch die Sichtung der Dokumente und der Auswertung der Interviews gebor-
gen werden: über die Macht der NSDAP-Ortsgruppe, über so genannte „Sekten-
prozesse“ (so ein Titel der heimischen Dill-Zeitung), über Zwangssterilisierungen
und Euthanasie, über Verurteilung und Inhaftierung von jungen Menschen wegen
„Kameradendiebstahls“, über die Inhaftierung von Dorfbewohnern wegen des fal-
schen Parteibuches, über die Hinrichtung eines jungen Mannes wegen „Desertion“
oder über die tragische Liebesgeschichte einer jungen Dorfbewohnerin und eines
jungen Tschechen, die mit dessen Tod in einem Konzentrationslager „wegen ver-
botenem Geschlechtsverkehrs“ tragisch endete. Das Projekt schloss (vorläuÀg) mit
der Präsentation der Ergebnisse und einem „Erzähl-C afé“ ab, an dem über 200
Menschen aus dem Dorf und aus Nachbarorten teilgenommen haben.
Ohne an dieser Stelle weiter auf die Ergebnisse des Projektes einzugehen, las-
sen sich einige bemerkenswerte Aspekte bezüglich der politischen Kultur im länd-
lichen Raum und ihrer Bedeutung für lokale Anfälligkeiten für Rechtsextremis-
mus herausarbeiten:

1. Trotz aller medialen Konjunkturen in der Aufarbeitung des so genannten Drit-


ten Reiches, trotz aller zahlreichen wissenschaftlichen und populärwissen-
schaftlichen Veröffentlichungen zum Thema Nationalsozialismus verdeutlicht
dieses Projekt, dass die Aufarbeitung des Nationalsozialismus dort ins Stocken
gerät und nach wie vor lokale Blockaden und Schweigespiralen vorzuÀnden
sind, wo das Erkenntnisinteresse dem konkreten sozialen Nahraum gilt. Ein
ständiger Begleiter für alle Projektbeteiligten war von Anfang an die Frage, wie
„das Dorf“ auf die Ergebnisse reagieren würde. Ängste und Befürchtungen,
dass der Verein Schaden erleiden könne, weil die mehr oder weniger verdrängte
Dorfgeschichte nunmehr zum Thema wird oder ob gar die Jugendlichen oder
die Mitglieder des Projektteams als „Nestbeschmutzer“ gesehen werden, waren
während der gesamten Projektphase wiederholt Gegenstand von zahlreichen
Diskussionen. Auch wenn alle lokalen NS-Größen namentlich bekannt sind,
bestand die Befürchtung, dass deren Angehörige sich an den Pranger gestellt
fühlen könnten.
456 Reiner Becker

2. Natürlich kann kein kausaler Zusammenhang zwischen einem früh ausgepräg-


ten lokalen Nationalsozialismus und einem wiederkehrenden lokalen Rechts-
extremismus am Beispiel eines einzigen Ortes gezeigt werden. Allerdings zeigt
sich in den o. g. Ängsten und Befürchtungen innerhalb des Projektteams und
dem damit verbundenen stetig drohenden Scheitern des Projekts ein speziÀ-
scher Konformitätsdruck: Wie auch bei den Beratungen von Kommunen nach
aktuellen rechtsextremistischen Vorkommnissen sind es auch hier die lokalen
BeziehungsgeÁechte, die Engagement hemmen oder gar unmöglich machen.
Die Bedeutung dieser BeziehungsgeÁechte zeigt sich so stark, dass selbst 70
Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine offene Thematisierung des loka-
len Nationalsozialismus auf große Hindernisse stößt.
3. Viele der Geschichten, die der jüngeren Generation bisher unbekannt waren,
sind den „Alten“ bekannt: So konnten alle Interviewpartner mal mehr, mal
weniger detailliert über die Zwangsarbeit im Ort berichten. Weiterhin fällt
auf, dass in den Erinnerungen der Interviewpartner das Treiben der NSDAP-
Ortsgruppe deutlich weniger Raum einnimmt als etwa die Erinnerungen an
Kindheit, an die Kriegszeit oder auch an die Opfer der Oberschelder Natio-
nalsozialisten. Sehr vorsichtig deuten einige nur Geschichten über alltägliche
Drangsalierungen, Verfolgung bis hin zu gewalttätigen Vorkommnissen an,
sprechen keine Namen „der Täter“ aus, berichten aber gleichzeitig, dass sich
nach dem Krieg für alle NS-Ortsgrößen jemand gefunden habe, der sie in ihren
EntnaziÀzierungsverfahren entlastet habe. Dies hängt mit einem der markan-
testen Ergebnisse der Interviewauswertung zusammen: Im Rückblick auf diese
Zeit, trotz der zuvor geschilderten Geschichten von Schikanen, Ausgrenzungen
bis hin zum Totschlag, pÁegt die Generation der Interviewpartner scheinbar bis
heute ein Bild von ihrem Dorf, in dem alle immer zusammengehalten haben
und die „Gemeinschaft“ immer funktionierte: Kein Zweifel, keine kritische
ReÁexion, eher selten ein getrübter Blick auf eine verpasste und verschenkte
Jugend, die von der NSDAP und ihren Gliederungen auch in Oberscheld durch
und durch organisiert war. Es scheint, dass diesen Kindern und Jugendlichen
der „Generation Hitler-Jugend“ nach dem Krieg von ihren Eltern das Tabu
auferlegt worden sei, das Ideal der Dorfgemeinschaft zu wahren und nicht in
Verruf zu bringen, auch auf Kosten derer, die in ihrem Ort viel bitteres Leid
erfahren haben. Hier scheint sich auf Ebene einer Dorfgemeinschaft ein Me-
chanismus zu zeigen, der für die Tradierung von NS-Erlebnissen innerhalb von
Familien herausgearbeitet wurde:
Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen 457

„Je umfassender das Wissen über Kriegsverbrechen, Verfolgung und Vernichtung


ist, desto stärker fordern die familiären LoyalitätsverpÁichtungen, Geschichten zu
entwickeln, die beides zu vereinbaren erlauben – die Verbrechen »der Nazis« oder
»der Deutschen« und die moralische Integrität der Eltern oder Großeltern“ (Welzer
et al., 2003, S. 53).

Übertragen auf das Gemeinwesen Àndet sich in den Interviews zum Projekt eben-
falls eine solche Form der kollektiven Abspaltung: Trotz aller Offenheit gegenüber
den Jugendlichen bezüglich der Schilderung vom Leid vieler Menschen im Dorf
und vom Treiben der lokalen NS-Schergen kommt stellvertretend ein Interview-
partner bei der Frage nach der Stimmung im Dorf in der Zeit des Nationalsozialis-
mus zum Ergebnis: „Die Oberschelder haben zusammengehalten“ (JAKOb e.V.,
2013, S. 44).

6 Fazit und Ausblick

Die diskutierten theoretischen Ansätze und die empirischen Befunde zur Bedeu-
tung der lokalen politischen Kultur für die Ursachenbeschreibung von Rechts-
extremismus verdeutlichen aus einer Wissenschaft-Praxis-Perspektive, dass So-
zialraumanalysen mit einem gründlichen Blick auf die lokalen Einstellungen,
Mentalitäten und Werte notwendig sind, um das Phänomen Rechtsextremismus
zu verstehen und um adäquate Konzepte zur Prävention und Intervention zu ent-
wickeln.
Dabei gilt nicht nur der Blick auf die lokale politische Kultur mit ihren aktuellen
Einstellungen und Mentalitäten, sondern auch erstens auf ihre möglichen tradier-
ten kollektiven (lokalen) Geschichten, die eher verschwiegen werden und zwei-
tens auf Vorurteilskulturen, wie z. B. Antisemitismus, die einer langen Tradierung
unterliegen. Solcherlei Tradierungslinien im Zusammenhang mit aktuellen For-
men des Rechtsextremismus systematisch in Analysen zu berücksichtigen, stellen
einen bisher blinden Fleck in der Einstellungsforschung dar. Der tiefe, detaillierte
Blick auf die Binnenstruktur und die politische Kultur eines Gemeinwesens offen-
bart eine Komplexität, welche mit den Methoden der Einstellungsforschung kaum
zu erfassen ist. Treffen die abstrakten Items auf die Wirklichkeit der Stammtische,
lassen sich zwar einzelne Indikatoren messen, die Gründe, in welcher Qualität
ein Gemeinwesen auf lokale rechtsextreme Vorkommnisse reagiert bzw. reagieren
könnte, lassen sich hieraus kaum ableiten. Eine tiefere Analyse der lokalen Aus-
gangsbedingungen ist dann vonnöten, wenn Maßnahmen der Prävention oder der
Intervention die Menschen im Gemeinwesen miteinbeziehen und sich nicht „nur“
458 Reiner Becker

auf die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen fokussieren soll. Die sensible The-
matisierung lokaler Vorurteilskulturen und die Frage nach den jeweiligen „verges-
senen Geschichten“, die Relevanz der lokalen BeziehungsgeÁechte, die Angst der
Menschen vor der Zerrüttung des sozialen Zusammenhalts – all dies sind Faktoren
für das Gelingen oder Scheitern von Beratung oder Präventionsarbeit.
Schließlich besteht, so zumindest ein vorläuÀger Befund, kein kausaler Zu-
sammenhang zwischen speziÀschen Formen und „Auswüchsen“ eines einstigen
lokalen Nationalsozialismus und aktuellen Formen eines lokalen Rechtsextremis-
mus. Die Zusammenschau der Beratungspraxis im kommunalen Raum und der
Ergebnisse des hier skizzierten Modellprojekts zeigen allerdings, dass in beiden
Bereichen ein lokaler Konformitätsdruck mit großer Wirkungsmacht zu konsta-
tieren ist. Denn sowohl das öffentliche Schweigen über Vorfälle, die 70 Jahre zu-
rückliegen, als auch das öffentliche Schweigen über aktuelle Vorfälle mit einem
rechtsextremen Hintergrund hängen damit zusammen, so die These, dass das Bild
der (Dorf)Gemeinschaft nicht getrübt werden darf. Lokale Schweigekartelle und
-spiralen über die „vergessenen Geschichten“ können dann die Auseinanderset-
zung mit aktuellen lokalen Vorkommnissen hinsichtlich der Frage erschweren, ob
und in welcher Form die lokale, tradierte politische Kultur mit ihren jeweiligen
Vorurteilskulturen die aktuelle Herausbildung von Rechtsextremismus vor Ort be-
günstigt oder verhindert. Eine Implementierung von Maßnahmen der Prävention
bzw. Intervention gelingt daher nur unter ausreichender Berücksichtigung der en-
gen BeziehungsgeÁechte vor Ort (vgl. Hafeneger & Becker, 2012).
Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen 459

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Demokratiepädagogik
als präventionswirksame Idee
Wolfgang Beutel, Kurt Edler, Mario Förster und Hermann Veith

Der nachfolgende Beitrag eröffnet vier verschiedene Perspektiven auf die Demo-
kratiepädagogik als präventionswirksame Idee: Vor dem Hintergrund wiederkeh-
render Eruptionen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit werden mit Blick
auf gesellschaftliche Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit zunächst einige
zentrale demokratiepädagogische Zielsetzungen und Ansatzpunkte erläutert (1.).
Danach wird mit sozialisationstheoretischen Argumenten begründet, warum die
Befähigung zur Übernahme der Bürgerrolle in der Demokratie an institutionali-
sierte Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme in den Bildungseinrichtungen
gebunden ist (2.). Eine dritte Perspektive entfaltet Erfahrungen und Ergebnisse
des jugend- und schulbezogenen Wettbewerbs „Förderprogramm Demokratisch
Handeln“ (3.). Ein anschließender vierter Blick gilt der aktuellen Arbeit des Jenaer
Kompetenzzentrums Rechtsextremismus, dessen Aufgabe es ist, universitäre Pro-
jekte, Praxisprogramme und Forschungen zur Prävention gegen Rechts systema-
tisch zu erfassen, zu koordinieren und fachöffentlich darzustellen (4.). Alle vier
Perspektiven bündeln miteinander seit langem verwobene Diskurse, Forschungs-,
Beratungs- und Entwicklungsansätze aus unseren Arbeitsbereichen, die wir mit
einer knappen Bilanz aufeinander beziehen (5).

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_20, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
464 Wolfgang Beutel et al.

1 Demokratiepädagogik

Demokratiepädagogik ist ein Begriff, der eine breite konzeptuelle, aber auch
schulentwicklungspraktische und lernbezogene Strategie beschreibt, die in der
Pädagogik von Wissenschaft und Praxis reÁektiert, konkretisiert und etabliert
werden soll. Grundlegend ist die Annahme, dass die Erfahrung von Anerkennung
und Mitwirkung – also die demokratisch-partizipative Integration in das Gemein-
wesen – aller Bürgerinnen und Bürger von möglichst früh an die beste Prävention
gegen die Herausbildung vormoderner oder gar radikaler politischer Identitäten ist.
Ausgehend von den sozialpolitischen Erschütterungen, die durch die menschen-
verachtenden Übergriffe auf Asylsuchende in den frühen 1990er Jahre ausgelöst
wurden (a), sollen grundlegende Ziele des demokratiepädagogischen Reforman-
satzes skizziert (b) und aktuelle Herausforderungen (c) beschrieben werden.
(a) Anfänge: An der Wiege der Demokratiepädagogik steht in den frühen 1990er
Jahren eine Serie erschreckender Ereignisse. Nach dem Aufweichen der bis dahin
vorherrschenden Ost-West-Blockkonfrontation brachen im Inneren des wiederver-
einigten Deutschlands – für viele unerwartet – individuelle Haltungen durch, die
in ihrer archaischen Gewalttätigkeit die demokratische Gesellschaft verunsicher-
ten und herausforderten. Ein rechtsextremer Mob, der nicht vom Staat befohlen
war, kam „aus der Mitte“ der Gesellschaft zum Vorschein und tobte sich aus. In
Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen eskalierte der offenbare
Hass gegen Asylsuchende in Mord- und Brandanschlägen. Die Zivilgesellschaft
war gefordert. Zum Überdenken der alten theoretischen Erklärungsansätze blieb
kaum Zeit, obwohl der deutlich vernehmbare Applaus aus dem bürgerlichen Lager
auch in dieser Hinsicht hätte nachdenklich stimmen müssen.
In Reaktion auf das fortwirkende Wiedererstarken der Menschenfeindlichkeit
wurde unter anderem auch das BLK-Programm „Demokratie lernen und leben“
(Edelstein & Fauser, 2001) aufgelegt. Die Akteure entwickelten sehr schnell und
mit großer Energie Handreichungen und Materialien zu einer Demokratisierung
von Schule und Unterricht. Aber die Laufzeit bis 2007 war zu kurz, um nach-
haltige schulsystemische Veränderungen zu erzielen. Nur einzelne Bundesländer
ermöglichten Anschlüsse. So blieb vieles auf halber Strecke stehen und nach An-
sicht der Projektpartner auch zentrale Fragen unbearbeitet. So kam erstens die
DDR-Geschichte nicht vor. Zweitens fehlte die Dimension der Interkulturalität.
Und drittens gab es fast keine politischen Analysen des Rechtsextremismus.
Die Demokratiepädagogik, die durch das Geschehen der Wende in ihrer Reso-
nanz und Entwicklung beschleunigt wurde, verstand sich als präventiv gehaltvoll
in dem Sinne, dass sie – in kritischer Abgrenzung zu einer offensichtlich nicht
hinreichend efÀzienten politischen Bildung in der Schule – dem, was wir im wei-
Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee 465

testen Wortsinne unter Demokratie verstehen, durch eine wirksame pädagogische


Lern- und Erfahrungswelt den Rücken stärken wollte. Zugleich verstand sie sich –
politisch gesehen – selbst auch als eine Erzeugerin demokratischer Praxis und
demokratischer Strukturen. Ihre politische Normativität wirkte jedoch bisweilen
so überbordend, das sich in den Wissenschaftlerkreisen der Politik und ihrer Di-
daktik eine Art protestantischer Allergie dagegen entfaltete, deren Symptome al-
lerdings mittlerweile deutlich abklingen.
(b) Ziele: Aus der Perspektive der damaligen Akteure ging es darum, einer
tiefer greifenden Schädigung der Demokratie entgegen zu wirken. Dazu erschien
die Reform einer Schule, die sich formal als demokratisch erklärt, es aber in Wirk-
lichkeit nicht ist, unerlässlich. Jede neue junge Generation soll, aus der Sicht der
Demokratiepädagogik, das Recht und die Möglichkeit haben, sich diejenigen
Kompetenzen anzueignen, die die Demokratinnen und Demokraten von morgen
benötigen. Das ist eine universelle, frühe Prävention, die nicht darauf wartet, bis
das Kind in den Brunnen gefallen ist. Die Schule, in der sie sich abspielt, muss
sich – so das C redo z. B. der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik
(Edler, 2012) – als Lern- und Lebensort gestalten, an dem Demokratie erfahrbar
wird. Die Hindernisse für eine solche umfassend demokratische Schule liegen, so
die damalige, aber auch die heutige Sichtweise, im Schulsystem, von dessen sta-
biler und weitergehenden praktischen Wirkung weiterhin auszugehen ist. Schule,
wie sie strukturell etabliert ist, wird sich aktuell grundlegend kaum verändern
lassen. Sie ist für demokratiewirksame Präventionsarbeit eine gegebene Voraus-
setzung. Die Konsequenz daraus ist, auf eine Pädagogik mit reformerischem Mut
und systemischer Intelligenz sowie eine Bildungspolitik zu setzen, die die Krusten
eines antiquierten Schulverständnisses und eines institutionalistischen Demokra-
tiebegriffs wenigstens immer wieder in Frage stellt. Bei diesem Bemühen ist die
Demokratiepädagogik in den letzten Jahren tatsächlich ein gutes Stück vorange-
kommen, und sie hat dabei starke Akteure als Partner gewonnen. Die Aufgabe
bleibt für lange Zeit bestehen!
(c) Neue KonÁikte: Aber dennoch gilt auch: Die Zeiten ändern sich. Die Globa-
lisierung kultureller und religiöser KonÁikte ist im Klassenzimmer angekommen.
Alte Welterklärungen greifen nicht mehr. Wo sie dennoch trotzig weiter vorgetra-
gen werden, wirken sie verharmlosend. Wir sind verunsichert. Ein Beispiel da-
für zeigt sich darin, dass Kinder und Jugendliche nun bisweilen als Akteure von
Menschenrechts- und Demokratiefeindlichkeit auftreten, womit wir nie gerechnet
hätten. So sagt eine Schülerin einer fassungslosen Lehrerin ins Gesicht: „Ich brau-
che keine Freiheit. Ich habe meinen Glauben.“ Schülerinnen und Schüler teilen
ihre Klasse in Muslime und Christen ein, sie ordnen ihnen eine unterschiedliche
Wertigkeit zu. Ungleichwertigkeitsvorstellungen, bekanntlich immer ein SpeziÀ-
466 Wolfgang Beutel et al.

kum totalitärer Ideologien, machen sich in ganz neuen Formen breit. Damit einher
gehen bei radikalisierten Schülergruppen die beredt vorgetragene Ablehnung von
Demokratie als politischer Ordnung und Lebensform sowie die Rechtfertigung
von Terror und Massenmord. Ein Zwölfjähriger beispielsweise wirbt auf seiner
Facebookseite für den Islamistischen Staat (IS).
Was wir derzeit in den Metropolen beobachten, stellt die Demokratiepädagogik
vor ganz neue Herausforderungen. Schulgemeinschaften geraten in Aufruhr. Ein
sich religiös wähnendes Mobbing greift um sich. Die Abwehrreaktionen lassen
nicht auf sich warten. Der innere Frieden der Schule steht auf dem Spiel, und die
HilÁosigkeit staatlicher Instanzen ist offenkundig, zumal die Auseinandersetzung
bereits manche Grundschulen erfasst. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung
steht die Demokratiepädagogik vor einer neuen Herausforderung. Sie muss ihren
blinden Fleck bezüglich der innergesellschaftlichen Widerspruchsentwicklung
überwinden und präventive, aber auch interventive Konzepte zur Abwehr von
Menschenrechts- und Demokratiefeindlichkeit entwickeln – darin liegt eine ihrer
zentralen Zukunftsaufgaben.

2 Demokratiekompetenz, Sozialisationsforschung
und Demokratiepädagogik

Gerade weil die Schule von allen Heranwachsenden besucht wird, bietet sie die
beste Lernumgebung zur Einübung in demokratische Praktiken. Allerdings zeigt
sich, dass hier in den Bildungseinrichtungen selbst noch erhebliche Lernbedarfe
bestehen. Denn wenn sich Jugendliche aus religiösen Erwägungen selbstbewusst
gegen demokratische Lebensformen aussprechen, ist das auch ein Indiz dafür, dass
die Internalisierung demokratischer Grundwerte durch politische Bildung alleine
keineswegs gesichert wird (a). Demokratie-Lernen erfordert vielmehr ein institu-
tionelles Curriculum, das von Anfang an (b) auf Gelegenheiten zur Teilhabe und
Mitwirkung setzt (c) und damit Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit bietet,
aktiv „Demokratiekompetenz“ (d) zu entwickeln.
(a) Grenzen der Mündigkeit: Im Fall der Schülerin, die aus Glaubensgründen de-
mokratische Lebensformen ablehnt, stellt sich die Frage, ob man ihr aufgrund ihrer
religiösen Überzeugung die „Mündigkeit“ absprechen darf. Immerhin artikuliert
sie selbstbewusst ihren eigenen Willen, indem sie auf Wertvorstellungen einer Reli-
gionsgemeinschaft verweist, an denen sie sich moralisch-praktisch orientiert – und
sie agiert auch nicht menschenfeindlich, da sie Andersgläubige weder diskriminiert
noch zur Gewalt gegen diese aufruft. Herausfordernd ist jedoch, dass sie sich in
ihrer Glaubensüberzeugung so entschieden auch vom westlichen „democratic way
Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee 467

of living“ distanziert. Allem Anschein nach hat sie sich im Laufe ihrer biogra-
Àschen Entwicklung ein politisch folgenreiches Urteil über eine Gesellschaft gebil-
det, der es nicht gelungen ist, ihr im schulischen Bildungsprozess die Unterschiede
zwischen Religion und Politik hinreichend erfahr- und begreifbar zu machen. Das
Verhalten der Schülerin pauschal als „unmündig“ zu bewerten, würde jedoch be-
deuten, ihre Glaubensüberzeugungen zu verletzen, mit der Folge, dass sie sich in
ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Demokratie bestätigt Àndet.
Was sich an dem Beispiel zeigt, ist ein allgegenwärtiges alltagsweltliches Di-
lemma, das uns mit unseren eigenen kategorialen Interpretationsschemata kon-
frontiert. Ganz offenbar reicht der moderne Begriff der „Mündigkeit“ nicht mehr
hin, um eines der zentralen moralisch-politischen Bildungsziele unserer Gegen-
wart zu kennzeichnen. Er zieht nämlich Grenzen, die historisch mit Prozessen der
Rationalisierung und Säkularisierung verbunden waren und er bindet den Ver-
nunftgebrauch an ein aufgeklärtes, in abendländischen Traditionszusammenhän-
gen stehendes Subjekt. In globalisierten Einwanderungsgesellschaften mit kon-
kurrierenden soziokulturellen Wertorientierungen und Narrativen leben jedoch
viele Subjekte neben- und miteinander und die Moderne bildet längst nicht mehr
den für alle tragenden lebensweltlichen Hintergrund. Zwischen solcherart unter-
schiedlichen Menschen kann Verständigung nur gelingen, wenn wahrgenommene
Differenzen des Glaubens, der Herkunft oder der Kultur akzeptiert und Freiheits-
rechte gegenseitig anerkannt werden. Denn demokratische Gesellschaften sind auf
die Mitwirkung aller ihrer Mitglieder angewiesen – und zwar unabhängig von
besonderen sozialen Zugehörigkeiten oder dem Säkularisierungsgrad einer Re-
ligionsgemeinschaft. Entscheidend ist vielmehr, dass die Einzelnen in der Lage
sind, Angelegenheiten, die ihr Zusammenleben betreffen, in gewaltlosen, verläss-
lichen, verbindlichen und Unterschiede anerkennenden Formen gemeinsam zu re-
geln. Das Ziel politischer Bildung heißt darum „Demokratiekompetenz“, ein Ziel,
das die Schülerin im beschriebenen Fall zum Schrecken der Lehrperson augen-
scheinlich nicht erreicht hat.
Man kann dafür sicherlich auch außerschulische Gründe geltend machen.
Gleichzeitig aber sollte man sich daran erinnern, dass in den großen, in Deutsch-
land durchgeführten Jugendstudien seit den 1990er Jahren wiederkehrend darauf
hingewiesen wurde, dass die nachwachsenden Jugendgenerationen ein erkennbar
geringes Interesse an politischen Fragen haben, wenngleich die Demokratie als
Staatsform mehrheitlich befürwortet wird (Deutsche Shell, 2002). Gerademal ein
Drittel der 15- bis 17-Jährigen nimmt am politischen Geschehen bewusst Anteil.
Auch diese Befunde stimmen nachdenklich, weil sie aus einer anderen Perspektive
ebenfalls die Frage aufwerfen, wie nachhaltig der „democratic way of living“ über-
haupt in den jugendlichen Lebenspraktiken verankert ist. Demokratiekompetenz
468 Wolfgang Beutel et al.

jedenfalls sieht anders aus als eine unbestimmte Politik- und Parteienverdrossen-
heit (Deutsche Shell 2010) – und sie lässt sich schon gar nicht auf das Zugeständnis
reduzieren, dass die Demokratie als Staatsform durchaus legitimationswürdig ist.
Sie zeigt sich vielmehr in der Bereitschaft, im eigenen Handeln stetig und wahr-
nehmbar Verantwortung auch für andere zu übernehmen.
(b) Demokratielernen von Anfang an: Der Einwand, dass demokratische Betei-
ligung ein gewisses Maß an „Reife“ voraussetzt und Kinder noch nicht verstehen
können, warum es sinnvoll ist, Angelegenheiten, die ihr gemeinsames Zusammen-
leben betreffen, mit Hilfe demokratischer Verfahren zu regeln, dient häuÀg nur zur
Legitimation nicht partizipatorisch angelegter pädagogischer Arrangements – als
ob ein allzu früher Kontakt mit demokratischen Prozeduren entwicklungsgefähr-
dend sei. Im Vorschul- oder Grundschulalter, so das Argument, könne man noch
nicht begreifen, wie Demokratie als eine staatliche Herrschaftsform funktioniert.
Zudem würde es die sozialmoralische Kompetenz von Kindern überfordern, wenn
sie die Folgen getroffener Entscheidungen abschätzen oder ihre Entscheidungs-
gründe im Licht verallgemeinerbarer Prinzipien rechtfertigen müssten. Im Übri-
gen werde jeder Versuch, mit Kindern politische Bildung zu betreiben, maximal
ein soziales, nie aber ein politisches Lernen erzeugen, denn „letztlich bleibt der
Unterricht (in der Grundschule, Anm. d. Autoren) sogar da, wo er explizit den An-
spruch auf politisches Lernen oder Demokratie-Lernen erhebt, soziales Lernen“
(Massing, 2007, S. 25). Die ersten beiden Argumente sind stark, das dritte ist der
wissenschaftspropädeutischen Tradition fachlicher politischer Bildung geschuldet
und pädagogisch letztlich so nicht haltbar, dennoch aber in der Praxis der Lehrer-
bildung nach wie vor sehr wirksam.
Aber sind die Argumente, dass Schülerinnen und Schüler in den Vor- und
Grundschulen weder ein demokratisches Bewusstsein haben können noch „mün-
dig“ sind, tatsächlich so stark, um die Ablehnung demokratischer Formen in Kin-
dertagesstätten und Grundschulen zu rechtfertigen? Die Erfahrungen in Einrich-
tungen, die sich dezidiert als kinderdemokratische Lernorte verstehen, weisen in
eine andere Richtung (Fauser, Prenzel & Schratz, 2007). Tatsächlich lernen die
Kinder, sich frühzeitig miteinander über ihre Wünsche und Vorstellungen zu ver-
ständigen. Zwar gelingt diese Kommunikation nicht immer reibungsfrei, so dass
pädagogische Hilfestellungen erforderlich sind. Aber zumindest funktioniert die
Interessen- und Perspektivenkoordination in der sozialen Handlungspraxis schon
so gut, dass die egozentrischen Befangenheiten im Denken der Kinder den Ver-
ständigungsprozess nicht unmöglich machen. Sie stören ihn zwar hier und da, aber
letztlich sind es genau diese sozialen Irritationen und die damit verbundenen emo-
tionalen Dissonanzen, die die soziale und kognitive Entwicklung der einzelnen
innerhalb der Lerngruppe vorantreiben.
Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee 469

In der sozialkognitiven Sozialisationsforschung ist dieses Phänomen seit lan-


gem bekannt. Überall dort, wo Kinder herausgefordert werden, in eigener Verant-
wortung ihre Angelegenheiten zu regeln, entwickeln sie ihre eigenen Normen und
Umgangsformen. Die Regeln, die dabei entstehen, sind keineswegs beliebig. Wenn
die Kinder nämlich längerfristiger miteinander auskommen, spielen, kooperieren
und kommunizieren wollen, dann müssen sich ihre gegenseitigen Abmachungen
in ihrer konkreten Interaktionspraxis auch bewähren (Krappmann, 1994). Dort
wo dies nicht der Fall ist, kommt es zu KonÁikten – und das kommt durchaus
häuÀger vor, weil es den Jüngeren schwer fällt, Absprachen auf Gegenseitigkeit zu
prüfen. In Anlehnung an Lawrence Kohlberg lässt sich sagen, dass ihr kindliches
Regelverständnis noch nicht konventionell stabilisiert ist (Kohlberg, 1996). Die
pädagogische Aufgabe besteht in diesen Fällen darin, die Störung im Verständi-
gungsprozess zu bearbeiten und die Kinder darin zu unterstützen, Lösungen zu
Ànden, die für alle verträglich sind. Es spricht nichts dagegen, damit so früh wie
möglich zu beginnen.
(c) Institutionalisierte Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme: Lern-
gruppen, die über längere Zeiträume miteinander verträglich auskommen müssen,
proÀtieren davon, wenn die sich entwickelnden sozialkognitiven und moralischen
Fähigkeiten auch institutionell abgesichert sind und die Kinder die Formen ken-
nen, die ihre Einbeziehung stärken und ihre Mitbeteiligung fördern. Mit anderen
Worten: Je früher Kinder in Kindertagesstätten und Grundschulen in demokrati-
sche Praktiken hinein sozialisiert werden, desto selbstverständlicher und normaler
erscheinen ihnen demokratische Lebensformen. Wie das funktioniert, lässt sich
anhand vielfältiger Beispiele aus der Schulpraxis erläutern: Im morgendlichen Ge-
sprächskreis, der Keimzelle des „kommunikativen Handelns“ (Habermas, 1981),
lernen die Kinder, dass man, wenn man selbst gehört und ernst genommen wer-
den will, sich gegenseitig zuhören, aber auch Argumente vortragen muss, um Fra-
gen zu klären, die auch die Gruppe beschäftigen. Auf dem Gesprächskreis bauen
die unterschiedlichen Formen und Foren der demokratischen Mitbestimmungen
auf. Klassen- und Kinderräte sind dabei mehr und anderes als lediglich formale
Gremien der Schülermitbeteiligung. Wo sie etabliert sind, haben die Kinder die
Möglichkeit, gleichberechtigt Sachverhalte zu klären, die sie selbst, ihr Zusam-
menleben und ihre Zusammenarbeit in Schule und Unterricht betreffen. Das setzt
aber voraus:

1. dass das Recht eines jeden Kindes in der Lerngruppe gesichert ist, als voll-
wertiges Subjekt einen Platz zu haben und als Mitglied der Gemeinschaft un-
abhängig von den besonderen Merkmalen seiner Person anerkannt zu werden.
Wir sprechen hier in einem umfassenden Sinn von „Inklusion“;
470 Wolfgang Beutel et al.

2. dass alle Mitglieder dauerhaft – ob als Personen oder Repräsentanten in Äm-


tern – die Chance zur gleichberechtigten Mitwirkung und Mitbestimmung bei
der Gestaltung ihres Zusammenlebens und der Koordination ihres Handelns
haben müssen. Wir sprechen hier von „Partizipation“;
3. dass alle thematisch anfallenden Angelegenheiten transparent und nachvoll-
ziehbar zur Diskussion gestellt werden müssen. Täuschungsversuche sind dabei
untersagt. Wir sprechen hier von „Transparenz“;
4. dass konkurrierende Interessen im Rahmen der selbst gegebenen Ordnung the-
matisiert, debattiert und abgewogen werden, um Beschlüsse vorzubereiten und
Entscheidungen durchzusetzen. Der sozialphilosophisch inspirierte Begriff
hierfür ist „Deliberation“;
5. dass die Gruppenmitglieder die Möglichkeit haben, sich selbst zu fragen, ob die
Normen, die sie ihren Entscheidungen zugrunde legen, auch richtig sind. Der
Begriff hierfür ist „Legitimität“;
6. dass alle Beteiligten immer wieder überprüfen, ob die eigenen Arbeitsformen
und die beschlossenen Maßnahmen auch tatsächlich zielführend und efÀzient
sind.

Die genaue Einhaltung dieser pädagogischen Grundsätze, die gleichzeitig als


demokratisches Regelwerk dienen – sie rekurrieren im Übrigen auch auf die im
„Magdeburger Manifest“ (2007) dargelegten Grundlagen demokratiepädagogi-
scher ReÁexion und Praxisentwicklung –, berechtigt die Beteiligten zur Erwar-
tung, dass die getroffenen Absprachen und Abmachungen verbindlich gelten.
Während die formalisierte Praxis der Verständigung elementare demokratische
Grundprinzipien erfahrbar werden lässt, erzeugt die VerpÁichtung, sich an die ge-
troffenen Beschlüsse zu halten, nach und nach die moralisch-praktischen Grund-
lagen für ein demokratisches Wertbewusstsein – und dieses Wertbewusstsein ist
deutlich früher vorhanden als die entsprechende ReÁexionsform, auf die sich auch
der klassische Begriff der „Mündigkeit“ stützt.
(d) Demokratiekompetenz: Demokratische Praktiken unterstützen die Entwick-
lung grundlegender sozialer und moralischer Kompetenzen (z. B. Empathie und
Perspektivenübernahme, Toleranz und KonÁiktregulation). Der Kompetenzbegriff
wird in der jüngeren Bildungsdiskussion zur Bezeichnung von Fähigkeitspoten-
zialen gebraucht, die erforderlich sind, um bereichsspeziÀsch unterscheidbare
Anforderungen und Probleme mit Aussicht auf Erfolg zu bearbeiten. Demokra-
tiekompetenz realisiert und bewährt sich folglich nicht im Wissen über demokra-
tische Institutionen, Prozesse und Ziele, sondern in der Praxis der Verständigung.
Diese Praxis stellt den Einzelnen vor genaue Anforderungen, deren Erfüllung den
Bestand und die Erneuerung demokratischer Verhältnisse gewährleisten. Diese
Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee 471

Anforderungen gelten sowohl für die kleinen Demokraten und Demokratinnen in


den Bildungseinrichtungen als auch für die großen in den gewählten öffentlichen
Gremien.
Die Kompetenzen, die die Kinder und Jugendlichen erwerben, wenn sie in der
sozialen Alltagspraxis beständig mit demokratisch zu lösenden Handlungsproble-
men oder Systemerfordernissen konfrontiert werden, lassen sich konkretisieren.
Zunächst lernen sie, das rationale Potenzial einer politischen Ordnung zu nutzen,
die institutionell auf die öffentliche und gemeinsame Regelung gesellschaftlicher
Angelegenheiten abgestimmt ist, um bei Interessen- und ZielkonÁikten zwischen
Gruppen oder Personen zu praktisch verbindlichen Entscheidungen und Abma-
chungen zu kommen. Die dazu erforderlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten bilden
den Kern der Demokratiekompetenz (Beutel, Buhl, Fauser & Veith, 2009; Veith,
2010). In der Praxis heißt das, die Schülerinnen und Schüler, aber auch schon die
Kinder in den Kindertagesstätten sind dabei zu lernen,

1. dass Zugehörigkeit (Inklusion) ein Grundrecht ist und Wertschätzung für ande-
re von jedem Einzelnen Toleranz erfordert;
2. dass es in der Gemeinschaft auf jeden ankommt und durch partizipative Ein-
bindung über Kooperation das Bewusstsein individueller und gemeinschaft-
licher Verantwortung wächst;
3. dass es wichtig ist, um Sachverhalte zu verstehen und Interessenlagen zu be-
werten, sich im klassischen Sinn der politischen Bildung zu informieren, d. h.
sich Wissen und Methoden anzueignen, die es ermöglichen, über Fragen der
Regelung des gemeinschaftlichen Zusammenlebens zu urteilen;
4. dass es notwendig ist, nicht nur soziale Perspektiven zu übernehmen und zu
koordinieren, um zwischen den Interessen Einzelner und dem Gemeinwohl
abzuwägen, sondern auch verständigungsorientiert zu kommunizieren. Nur so
lassen sich verbindliche, für alle Beteiligten akzeptable Entscheidungen herbei-
führen.
5. dass das gemeinschaftliche Leben stabilisiert wird, wenn die Beteiligten in ste-
tiger Anwendung diskursiver Praktiken überprüfen, ob die Prämissen des eige-
nen Handelns demokratischen Ansprüchen genügen. Man entwickelt dadurch
persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit;
6. dass es Mühen erspart, wenn man sich vergewissert, ob die eingesetzten Metho-
den noch zielführend sind bzw. der Aufwand im Verhältnis zu den eingesetzten
Mitteln steht. Mit der Fähigkeit zur sachbezogenen und fachgerechten Bewer-
tung von Handlungsfolgen wird eine besondere Form der Evaluationskompe-
tenz benötigt, die zur Überprüfung auch des eigenen Handelns unerlässlich ist.
472 Wolfgang Beutel et al.

Die Wertschätzung der Demokratie erweist sich nicht primär im Reden über poli-
tische Sachverhalte, sondern in der unmittelbaren Praxis einer inklusiv und par-
tizipatorisch angelegten, auf Transparenz und Abwägung gegründeten und nach
Legitimitäts- und EfÀzienzkriterien selbstüberprüfbaren Handlungspraxis.

3 Das Förderprogramm Demokratisch Handeln

Der Wettbewerb Demokratisch Handeln will auf einer solchen sozialisatorischen und
lerntheoretisch begründbaren Basis demokratisches Engagement, demokratische Hal-
tung und demokratische Kultur in Schule und Jugendarbeit stärken. Er versucht, dieses
Konzept in Schulen und Jugendeinrichtungen zu entdecken, mit den Akteuren reÁexiv
zu bearbeiten, weiterzuentwickeln und zu multiplizieren. Das praktische Ziel dabei
ist: Gemeinsam mit anderen sollen Fragen und Probleme des Gemeinwohls sichtbar
gemacht und bearbeitet und so ein Korridor zu politischer Verantwortung geöffnet
werden. Lernen soll sich mit Handeln verbinden. Leistungen für die Demokratie und
das Gemeinwesen sollen fachlich thematisiert, gefördert und öffentlich anerkannt
werden. Der Wettbewerb wird seit 1989 jährlich für alle allgemeinbildenden Schulen
in Deutschland ausgeschrieben. Entscheidend ist aber nicht der Wettbewerb als Selbst-
zweck, sondern vielmehr die mit ihm verbundenen programmatischen, schulentwick-
lungsbezogenen und förderungswirksamen Aspekte und Instrumente in Blick auf die
beteiligten Akteure – Lehrkräfte ebenso wie Schülerinnen und Schüler – sowie in
Blick auf die Schule insgesamt (Beutel & Fauser, 2013).
Die Genese dieses Wettbewerbs und Förderprogramms entspringt dem lang-
jährigen Engagement von Hildegard Hamm-Brücher für eine Verbesserung der
politischen Bildung und für eine Stabilisierung und bürgerschaftliche Weiter-
entwicklung der Demokratie in Deutschland (Hamm-Brücher, 2001). Dieses Ziel
hatte in den 1980er-Jahren angesichts der bereits seinerzeit anwachsenden „Poli-
tikverdrossenheit“ an Gewicht gewonnen. Hinzu kam Ende der 1980er Jahre die
Neugründung und Etablierung der Partei der „Republikaner“, die nationalistisches
und ausländerfeindliches Gedankengut vertrat und bei Wählerinnen und Wählern,
vor allem auch bei Jugendlichen, in dieser Zeit Erfolg fand. Die Sorge um An-
ziehungskraft und EinÁuss von rechtsextremen – nationalistischen, rassistischen,
antisemitischen – Gruppierungen in der Politik und besonders bei Heranwach-
senden, ist so gesehen ein beständiges Motiv für dieses schulnahe pädagogische
Programm. Damit verbindet sich zugleich die Absicht, einer solchen Entwicklung
durch eine lebendige und von den Bürgerinnen und Bürgern getragene Demokratie
entgegenzutreten, für deren Aktualität und Lebendigkeit ein schul- und jugendna-
hes Erfahrungslernen einen ganz zentralen Ankerpunkt bildet.
Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee 473

Am Wettbewerb und seinen Programmelementen teilnehmen können Schüle-


rinnen und Schüler als einzelne, in Gruppen oder zusammen mit Lehrpersonen
aller Schularten und Schulstufen, auch mit Eltern und mit Jugendarbeitern. Von
einer Fachjury werden bundesweit jährlich etwa 50 Projekte zur Teilnahme an
der „Lernstatt Demokratie“ ausgewählt. Dort können sie ihre Ergebnisse präsen-
tieren und gemeinsam mit anderen Teilnehmern und Experten an Themen und
Formen demokratischen Engagements arbeiten. Bereits seit 1995 wird das Förder-
programm durch eine „Regionale Beratung“ – aktive fachliche Partnerinnen und
Partner auf Ebene der Bundesländer – ergänzt. Besondere Bedeutung erreicht die
Regionalberatung, weil sie ein Netzwerk für lokale und landesbezogene Veran-
staltungen mit Schülerinnen und Schülern sowie Lehrkräften – über den Kreis der
bundesbezogen 50 ausgewählten Projekte hinaus – bereitstellt. Das erweitert den
Wirkungsradius und verbreitert damit die Präventionsidee des Programms. Ein
weiterer Aspekt der Förderung und Unterstützung liegt in der fachlichen und kri-
terienbasierten Publizistik über herausragende und innovative Projekte: Für viele
Schulen, Bildungseinrichtungen und ihre Akteure bedeutet eine solche fachöffent-
liche Darstellung – in pädagogischen Zeitschriften ebenso wie in der lokalen und
überregionalen Presse – eine wichtige Anerkennung.
Das „Förderprogramm Demokratisch Handeln“ und seine Ergebnissen haben
in der jüngeren Diskussion um Schulentwicklung durch nicht-staatliche Program-
me zunächst starke Kritik erfahren, vor allem in der grundlegenden fachdidakti-
schen Debatte um „Demokratiepädagogik oder Politische Bildung“ (zuletzt: Goll,
2011), letztlich aber doch vielfach Beachtung gefunden, exemplarisch sichtbar im
Zusammenhang mit der Ausformulierung von Qualitätskriterien im Rahmen des
Deutschen Schulpreises (Fauser, Prenzel & Schratz, 2007), der infolgedessen eine
starke demokratiepädagogische Grundierung in sich trägt. Nachfolgend sollen ei-
nige Wirkungsaspekte des Programms angesprochen werden.
a. Schularten: Seit 1990 sind bei dem Wettbewerb in bislang 24 Ausschreibun-
gen 5046 Projekte eingereicht worden. Beteiligt haben sich Gruppen aller Schular-
ten und Schulformen und aus allen Bundesländern. In den Projekten werden päd-
agogisch und politisch wichtige Themen in übertragbaren und wirksamen Formen
des Lernens bearbeitet. Die Themen sind: Demokratie in der Schule; Gewalt; das
Zusammenleben und der Umgang mit Minderheiten; Umwelt und Umweltschutz;
Auseinandersetzung mit der Geschichte, besonders der NS-Geschichte sowie das
Handeln in der kommunalen Öffentlichkeit und Politik. Mit über 1100 Schulen
und Projektgruppen ist bei der Lernstatt Demokratie und zahlreichen anderen Ver-
anstaltungen zusammengearbeitet worden. Mit Blick auf die Schularten zeigt sich,
474 Wolfgang Beutel et al.

• dass bei den Gymnasien viele Projekte aus der Sekundarstufe II stammen, dass
also vor allem in der Sekundarstufe II des Gymnasiums Formen der tätigen
Auseinandersetzung mit Politik den herkömmlichen Politikunterricht ergän-
zen;
• dass die meisten uns von Gymnasien vorgelegten Projekte nicht unmittelbar
mit dem Fachunterricht „Politik“ zu tun haben, sondern aus anderen Fachberei-
chen stammen und vielfach fächerübergreifenden oder außerunterrichtlichen
Charakter haben;
• dass umgekehrt die als „gesellschaftswissenschaftlich“ bezeichneten Fächer, in
denen Fragen des Lebens und Zusammenlebens erörtert oder eine ästhetisch-
szenische Auseinandersetzung damit gesucht werden, stärker vertreten sind als
der klassische Politikunterricht;
• dass der Anteil der Projekte aus Grundschulen von Anbeginn des Programms
höher ausgefallen ist, als dies beim Programmstart erwartet worden war;
• dass Förder- und Sonderschulen sichtbar beteiligt sind. Hier sind zudem viel-
fältige Formen der Kooperation mit umliegenden Sekundarschulen und auch
Gymnasien zu beobachten.

b. Demokratiepädagogik und Schulentwicklung: Das Förderprogramm Demokra-


tisch Handeln belegt, dass es in der Praxis vielfältige Ansätze demokratischen
Handelns gibt. Wir wissen demgegenüber allerdings auch, dass dieser Sachverhalt
zu wenig Gegenstand systematischer und professionell relevanter Kommunikation
und ReÁexion wird. Für die Qualität und Entwicklung der Schule und des Lehrer-
handelns ist aber nicht nur wichtig, was in Schulen tatsächlich geschieht, sondern
auch, ob und wie dies dargestellt, fachlich zum Thema gemacht und weitervermit-
telt und damit professionell verfügbar wird. Hier bietet das Förderprogramm durch
seine überregionale Anlage, die sich in der regionalen Beratung und Begleitung
mit länderspeziÀsch differenzierenden Angeboten zur Multiplikation und Fortbil-
dung verbindet sowie durch die Integration zivilgesellschaftlicher und staatlicher
Ressourcen einen Kontext, der zugleich evaluativ und unterstützend ist.
c. Projektpädagogik und Politik: Die Projekte sind einerseits „politiknah“.
Denn viele der Projekte sind auf den Ebenen des Unterrichts, des Schullebens und
der über die Schule hinausreichenden Aktivitäten im klassisch modernen, aufklä-
rerischen Sinne politisch gehaltvoll. Sie fordern den Streit über Ziele, die Verstän-
digung über unterschiedliche Interessen und Strategien, den Verzicht auf unver-
tretbaren Eigennutz. Sie pÁegen das eigene Handeln und die Verantwortung dafür,
sie bewegen sich im öffentlichen Raum und erzeugen selbst Öffentlichkeit. Die
Projekte sind zugleich aber auch „politikfern“ (Beutel & Fauser, 1995), weil sie das
politische System – seine KonÁikte, Ereignisse, seine Protagonisten und Vertreter
Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee 475

sowie die politischen Parteien selbst – quantitativ gesehen eher selten zum The-
ma machen und weil die Verfahren der Willensbildung und Entscheidung, die in
der Schulverfassung im Kleinen die Verfahren der Politik im Großen nachbilden
sollen, eher in geringem Maße als Feld demokratischen Engagements auftauchen.
Insgesamt gesehen hilft das Förderprogramm seit Beginn seiner Arbeit dazu,
Aspekte und Wirkungsbedingungen demokratiepädagogischer Intervention in
Schule – hier liegt schon rein quantitativ zweifelsohne der Programmschwer-
punkt – und jugendpädagogischen Einrichtungen und Kontexten sichtbar zu ma-
chen. Dabei hat sich seit Ende der 1990er-Jahre durch eine verstärkte fachliche
Auswertung und publizistische Darstellung sowohl der „Best-Practice“ des Pro-
gramms, als auch der in dieser pädagogischen Praxis sichtbar werdenden struktu-
rellen Bedingungen und Kriterien für demokratiepädagogische Schulentwicklung
die Wahrnehmung dieser Seite des Lernens in institutionellen Kontexten erheblich
stärken lassen und entscheidend zur Ausformulierung der Demokratiepädagogik
als pädagogischer Entwicklungstatsache und Gestaltungsaufgabe beigetragen.
Es ist schon bei seiner Begründung sichtbar geworden, dass der Zusammenhang
zwischen Gewaltprävention, Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und anti-
demokratischer Haltung einerseits sowie demokratischer Erfahrung und Verant-
wortung andererseits ein Konstitutivum des Programms ist. Dabei ist klar, dass es
bislang keine evidenzbasierte Form des Nachweises einer solchen programmspe-
ziÀschen Wirkung gibt. Gleichwohl unterstützt „Demokratisch Handeln“ aktuelle
Arbeiten zur Messung der Verstehenstiefe von Demokratielernen1 systematisch
und die an der Programmdurchführung beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen
gehen davon aus, in dieser Richtung in absehbarer Zeit Fortschritte und damit eine
Stärkung der Demokratiepädagogik als präventionswirksamer Idee erreichen zu
können

4 Thüringer Aktionsplan Demokratiebildung

Zu dem vorweg ausgeführten fügt sich seit 2012 der Blick auf Aktivitäten und
das Netzwerk des NSU. Bislang stehen in der öffentlichen Diskussion einerseits
die strafrechtlich relevanten Fragen und anderseits die Versäumnisse der Sicher-
heitsbehörden im Zentrum der Aufmerksamkeit. Eine weitergehende Diskussion

1 Derzeit arbeiten Mario Förster und Michaela Weiß an der Stärkung der Messgenauig-
keit eines Fragebogeninstruments zum „Demokratieverstehen“ im Rahmen ihrer Qua-
lifikationsarbeiten an der Universität Göttingen. Die dabei gewählten Lernsituationen
oder „Vignetten“ sind von „Best-Practice“-Projekten des Förderprogramms inspiriert.
476 Wolfgang Beutel et al.

möglicher Konsequenzen und Antworten auf die Frage nach der Verantwortung
des Einzelnen sind nicht erkennbar. Scheinbar haben „wir“ noch nichts aus dieser
jüngeren massiven rechtsorientierten und gewalttätigen Struktur gelernt. Die Not-
wendigkeit einer intensiven Suche nach Antworten, wie man die Herausforderun-
gen einer sich stetig verändernden Gesellschaft in unsicheren Zeiten vermittelt
und Heterogenität nicht nur als Aufgabe erkennt, sondern vor allem als C hance
begreift, ist für die Demokratiepädagogik offensichtlich. Überdeutlich wird dies
aktuell in der Auseinandersetzung mit den zahlreichen PEGIDA-Demonstrationen
in Deutschland, welche im Herbst 2014 begannen und deren Teilnehmende schein-
bar vor allem durch zahlreiche diffuse Ängste mobilisiert werden.
Der Zustand der Demokratie kann sich daher nicht nur an der Höhe der Wahl-
beteiligung und der praktischen Resonanz ihres institutionellen Gefüges wider-
spiegeln: Dies greift zu kurz und beschreibt unser gemeinsames Wertesystem nur
unzureichend. Aufgrund der besonderen – auch lokal speziÀschen – Verantwor-
tung bei der Aufarbeitung des NSU-Komplexes wird daher im Kompetenzzentrum
Rechtsextremismus der Friedrich-Schiller-Universität Jena an einem Aktionsplan
Demokratiebildung gearbeitet. Für die Ausbildung demokratischer Einstellungen
und Werthaltungen ist es notwendig, die Möglichkeiten und Grenzen von Lern-
gelegenheiten und Bildungsangeboten in den Blick zu nehmen und diese – soweit
möglich – auf ihre Präventionschancen zu überprüfen. Zwar kann nicht erwartetet
werden, dass bei der Bildung und Erziehung durch Institutionen wie den Kinder-
gärten, Schulen und Hochschulen sich gewissermaßen nebenbei und von Natur aus
alle demokratie- und menschenrechtsfeindliche Einstellungen beheben lassen. Es
bleibt aber unbestritten, dass diese immer noch die umfassendsten Interventionszu-
gänge gegen die Herausbildung von Vorurteilen und Intoleranz darstellen. Neben
Bildungsinhalten ist für die Beurteilung einer wirksamen Demokratieerziehung
das Handeln des professionellen pädagogischen Personals in den Blick zu nehmen.
Hier liegen Beratungs- und Entwicklungsaufgaben. Der Umgang mit Vielfalt und
deren Anerkennung ist für professionelle Akteure in pädagogischen Arbeitsfel-
dern eine grundlegende Kompetenz ihres beruÁichen Wirkens, die erlernt und vor
allem verinnerlicht werden muss. Doch ergibt sich diese nachweislich nicht allein
durch die beruÁiche QualiÀkation (Bischoff, König & Zimmermann, 2013).
Mit dem Aktionsplan Demokratiebildung wird in Thüringen versucht, sich
adäquaten Antworten zu nähern, wie Bildung für Demokratie gestärkt werden
kann. Einmalig ist dabei der Ansatz, dass sich der Vorschlag nicht auf einzel-
ne Bildungsbereiche beschränkt, sondern „von der vorschulischen Erziehung bis
zum Hochschulstudium“ eine umfassende Perspektive einnehmen wird. Bereits
vorhandene Initiativen, Strukturen und Projekte in Thüringen sollen dabei syste-
matisch aufgegriffen und einbezogen werden. Ein Schwerpunkt des Aktionsplans
Demokratiepädagogik als präventionswirksame Idee 477

ist zunächst die Lehrerbildung in allen ihren drei Phasen. Parallel zur Arbeit am
Aktionsplan Demokratiebildung wurde im Wintersemester 2014/15 unter dem Ti-
tel „Angegriffene Demokratie – Befunde und Gegenmittel“ eine interdisziplinäre
Ringvorlesung begonnen, die als fakultatives Angebot für Studierende aller Fach-
richtungen gedacht ist und ebenso Lehrpersonen ansprechen soll, da sie durch das
Thüringer Lehrerfortbildungsinstitut als Fortbildung anerkannt ist. Die Veranstal-
tungsreihe wird im Sommersemester 2015 und Wintersemester 2015/16 fortgesetzt
werden. Als ein weiteres Element des Aktionsplans ist für den Oktober 2015 eine
Fachtagung in Jena geplant.

5 Resümee

Ausgehend von der Annahme, dass die Entwicklung von demokratischen Haltun-
gen und Kompetenzen auch in gefestigten Demokratien nicht selbstläuÀg erfolgt,
lässt sich der Anspruch der Demokratiepädagogik dahingehend zusammenfassen,
dass es in allen Bildungseinrichtungen darum gehen muss, Kinder und Jugendliche
frühzeitig in die Verantwortung für die Gestaltung ihres gemeinsamen Zusam-
menlebens zu bringen. Die damit verbundenen Koordinationsaufgaben schaffen
ReÁexionsanlässe, die pädagogisch zur Einübung in demokratische Praktiken ge-
nutzt werden sollten. Indem man lernt, Differenzen in wertschätzenden, informier-
ten, abwägenden und verständigungsorientierten Diskussionsprozessen zu klären,
um Lösungen zu Ànden und Entscheidungen vorzubereiten, die man treffen und
danach verbindlich einhalten muss, begreift man den Sinn und Wert von demokra-
tischen Prozeduren und Institutionen nachhaltiger, insbesondere dann, wenn der
fachpolitische Unterricht auf diesen Erfahrungen aufbauen kann. Es gibt keinen
Grund, warum es in öffentlichen Bildungseinrichtungen nicht möglich sein soll,
in diesem Sinn pädagogische Bezüge von Anfang an demokratisch zu gestalten.
Praxiswirksame Initiativen wie das Förderprogramm Demokratisch Handeln und
der Aktionsplan Demokratiebildung tragen dazu bei, die zahlreichen diesbezüg-
lichen Aktivitäten zu bündeln und zu systematisieren, um sie in der Beratung und
Begleitung von Schule und Schulentwicklung zu nutzen, aber auch um sie öffent-
lichkeitswirksam zu präsentieren. In der Summe ergibt sich damit ein differenzier-
tes Bild von demokratiepädagogischer Grundlagenforschung, damit korrespondie-
render Praxisprogramme und Öffentlichkeitsarbeit, deren gemeinsamer Fokus die
Idee präventionswirksamer Konzeptentwicklung bildet.
478 Wolfgang Beutel et al.

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Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei?

Eine Studie zu den Erfahrungen


von Betroffenen rechter Gewalt1

Daniel Geschke und Matthias Quent

1 Einleitung

Jahrelang wurden Angehörige der Opfer der vom „Nationalsozialistischen Unter-


grund“ Getöteten verdächtigt, an kriminellen Machenschaften beteiligt oder gar
für die Tötung der eigenen Familienmitglieder verantwortlich zu sein. Trotz deut-
licher Hinweise und Appelle an die Polizei, dass die Täter und/oder Täterinnen im
rechtsextremen Milieu zu suchen seien, erwiesen sich die Ermittlungsbehörden
sprichwörtlich als auf dem rechten Auge blind. Das Versagen der Behörden, stell-
te Eva Högl, die Obfrau der SPD im Untersuchungsausschuss des Bundestages
fest, beruhe zum großen Teil auf „routinierten, oftmals rassistisch geprägten Ver-
dachts- und Vorurteilsstrukturen in der Polizei“ (Carstens, 2013). Der Zentralrat
der Muslime in Deutschland kritisierte „Vorurteilsstrukturen bei den Behörden
gegenüber bestimmten Minderheiten und Gruppen, die dem strukturellen Rassis-
mus in Deutschland Vorschub leisteten“ (C arstens, 2013) – Polizeivertreter und
-vertreterinnen reagierten empört auf die Vorwürfe.
Fest steht, dass die Angehörigen durch Polizeiermittlungen wegen zu Unrecht
vermuteter krimineller bzw. maÀöser Verbindungen nach ihren tragischen Verlus-
ten ein zweites Mal schwer geschädigt und in ihrem Vertrauen in den Rechtsstaat
auf die Probe gestellt wurden. Diese nochmalige Opferwerdung wird in den So-
zialwissenschaften als Sekundäre Viktimisierung bezeichnet, „bei der der Betrof-
fene durch eine unangemessene Reaktion seitens seines sozialen Nahraums und

1 Ausführlicher dargestellt ist diese Studie in Quent, Geschke und Peinelt (2014).

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8_21, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
482 Daniel Geschke und Matthias Quent

der Instanzen sozialer Kontrolle verletzt wird“ (KieÁ & Lamnek, 1986, S. 239).
Gerade behördenvermittelte Erfahrungen sekundärer Viktimisierung können bei
den Opfern zu einem massiven Vertrauensverlust in die Institutionen des demo-
kratischen Rechtsstaates führen. Die Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt
wiesen in einer gemeinsamen Erklärung anlässlich des zweiten Jahrestages der
Selbstenttarnung des NSU darauf hin, dass noch immer „viele Betroffene mit Poli-
zeibeamten und Staatsanwaltschaften konfrontiert [sind], die rassistische Motive
ignorieren oder verharmlosen oder den Betroffenen eine Mitverantwortung für
die Angriffe zuschreiben“ (ezra, LOBBI e.V., Mobile Beratung für Opfer rechter
Gewalt [Sachsen-Anhalt], ReachOut Berlin, Opferperspektive Brandenburg e.V. &
Opferberatung für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt der RAA Sachsen
e.V., 2013). Von derartigen Schilderungen berichten Mitarbeiter und Mitarbeite-
rinnen der Opferberatungsprojekte in zahlreichen Fällen. Quantitative Untersu-
chungen und Statistiken darüber, welche Wahrnehmungen und Erfahrungen Opfer
rechter Gewalt bei ihren Kontakten mit der Polizei machen, existieren bisher nicht.
An diesem DeÀzit setzte die vorliegende Untersuchung2 an, indem sie versuchte,
die folgenden Forschungsfragen empirisch zu beantworten:

1. Wie nehmen Betroffene das polizeiliche Handeln in der Tatsituation und im


Zuge der Aufarbeitung des Vorfalles wahr?
2. Erfahren Opfer rechter Gewalt die Polizei als hilfreich bei der Aufarbeitung
ihrer Viktimisierung?
3. Handelt es sich bei wahrgenommenem Fehlverhalten durch die Polizei um Ein-
zelfälle oder systematische Effekte?

Zunächst werden im Folgenden einige theoretische Überlegungen angestellt über


die Folgen der Viktimisierung durch rechte Gewalt für die Betroffenen und ihre
sozialen Kollektive sowie die Konsequenzen für eine offene Gesellschaft. Danach
werden ausgewählte empirische Befunde einer Befragung von Opfern rechter Ge-
walt dargestellt.

2 Die Studie wurde mit finanzieller Unterstützung durch das Thüringer Landespro-
gramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit realisiert.
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei? 483

2 Theoretischer Hintergrund

2.1 Opfererfahrungen, Diskriminierung, Gewalt

Dass Menschen dazu tendieren, Opfererfahrungen auszublenden und sich mit dem
Schicksal von Gewaltopfern nicht näher befassen wollen, ist in der menschlichen
Psyche verankert: Psychologen und Psychologinnen weisen auf die Neigung hin,
die Existenz von Opfern möglichst zu verdrängen oder bei ihnen eine Mitschuld
zu vermuten, um nicht an die eigene Schwäche erinnert zu werden oder Schuldge-
fühle in sich selbst zu erwecken (Mitscherlich: zitiert in Bolick, 2010). Abgewehrt
wird zudem die Infragestellung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen gegen-
über sozialen Minderheiten. Denn die Opfer rechter Gewalt unterliegen meist über
die Ausübung einer rechtsextremistischen oder rassistisch motivierten Gewalttat
hinaus „der Durchsetzung eines länger andauernden Machtverhältnisses, das auch
nach dem Übergriff durch die Androhung weiterer Gewaltausübung aufrechterhal-
ten wird. […] Opfer rechtsextremistischer Macht haben in der Regel unter einer
lang währenden Unterordnung ihrer Person unter einen Täter bzw. eine Täter-
gruppe zu leiden.“ (Böttger, Lobermeier & Plachta, 2014, S. 42) Erscheinungsfor-
men dieser andauernden Unterordnung reichen von Gewalt als „direktester Form
von Macht“ (Popitz, 1992, S. 46), über strukturelle Schädigungen bis zu anderen,
strafrechtlich häuÀg nicht relevanten Formen der „negativen Diskriminierung“
(Castel, 2009). Diese negative Diskriminierung macht aus „eine[r] Differenz eine
DeÀzienz, die für ihren Träger zu einem unaustilgbaren Makel wird. Negativ dis-
kriminiert zu werden heißt, aufgrund einer Eigenart abgestempelt zu werden, die
man sich nicht ausgesucht hat, die aber für die anderen zum Stigma wird. Eine
entstandene Alterität wird zum Faktor der Ausgrenzung.“ (C astel, 2009, S. 14).
Gegner und Gegnerinnen werden als Kollektive (beispielsweise die ‚Ausländer‘,
die ‚Jüdinnen und Juden‘, die ‚Reichen‘ …) identiÀziert. Die von den Tätern und
Täterinnen als Opfer deÀnierten Individuen sind in ihrer als homogen fremd kons-
truierten Gruppe in aller Regel beliebig austauschbar und für ihre Viktimisierung
nicht persönlich verantwortlich. Die (von den Tätern und Täterinnen angenomme-
ne) Gruppenzugehörigkeit der Betroffenen ist Anlass für deren Gewalterfahrung
(Köbberling, 2010, S. 189). Die durch die Gewalt transportierte Botschaft richtet
sich nicht nur an das angegriffene Individuum, sondern an die gesamte Gruppe,
zu der es gezählt wird: Die Gewalt wirkt sich daher auf die gesamte Gemeinschaft
aus („kollektive Viktimisierung“) (Köbberling, 2010, S. 189) und intendiert die
Einschüchterung der gesamten Gruppe (Finke, 2010, S. 207).
484 Daniel Geschke und Matthias Quent

2.2 Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit


als Legitimation für rechte Gewalt

Nicht nur rechte Gewalttäter und -täterinnen sind gruppenbezogen menschen-


feindlich eingestellt. 2014 stimmen über 50 Prozent der deutschen Bevölkerung
abwertenden Aussagen gegenüber Sinti und Roma zu; bis zu 3/4 der Bevölkerung
werten Asylbewerber und Asylbewerberinnen ab (Decker, Kiess & Brähler, 2014,
S. 50). Den in der Gesellschaft vorhandenen Ungleichwertigkeitsvorstellungen
liegt die generelle Ideologie zugrunde, „dass Ungleichwertigkeit von Gruppen die
Gesellschaft bestimmt und dies auch gut so [ist]“ (Groß, Zick & Krause, 2012,
S. 12). Diese Hierarchisierung der sozialen Gruppen in der Gesellschaft dient
Tätern und Täterinnen schließlich „als Legitimation von […] massiver Anwen-
dung von Gewalt“ (Heitmeyer, 2003, S. 19). Dass menschenfeindliche Denkweisen
von Teilen der Gesellschaft geteilt werden, „begründet umgekehrt für die Betrof-
fenen die Angst vor erneuter Viktimisierung. In der Regel trifft rechte Gewalt
Menschen, die vielfältiger Diskriminierung unterworfen sind, und denen in der
Gesellschaft subalterne, d. h. untergeordnete Positionen zugewiesen werden. Oft
werden MigrantInnen mehrfach Opfer von Gewalt. Sehr oft haben sie schon zu-
vor eine Vielzahl von Abwertungen wie Beleidigungen und Herabwürdigungen
erfahren.“ (Köbberling, 2010, S. 190). Rechte Gewalt wird daher auch diskutiert
als „unerwünschte Zuspitzung und Radikalisierung von Einstellungen […], die in
der ‚Mitte der Gesellschaft‘ verankert sind, und durchaus als akzeptable Elemente
demokratischer Positionen gelten“ (John zitiert in: Köbberling, 2010, S. 190). Da-
bei ist diese negative Diskriminierung, wie Castel (2009, S. 11) ausführt, für die
Demokratie nicht deshalb problematisch, „weil es keine C hancengleichheit gibt,
sondern weil diese ganz im Gegenteil durchaus möglich und auch rechtlich garan-
tiert ist. Diskriminierung ist skandalös, weil sie eine Verweigerung von Rechten
ist, von verfassungsmäßigen Rechten.“

2.3 Primäre, sekundäre und tertiäre Viktimisierung

Viktimisierung bezeichnet den Prozess des Zum-Opfer-Werdens. Dieser Prozess


besteht aus „Interaktionen von Täter, Opfer und anderen [Nicht-]Akteuren und
ist durch unterschiedliche Dispositionen und Tatfolgen gekennzeichnet“ (Bolick,
2010, S. 39). Mit Pfeiffer und Strobl ist dann von einer Viktimisierung zu sprechen,
„wenn eine durch Konvention oder Recht legitimierte normative Erwartung ent-
täuscht und das dieser Enttäuschung zugrunde liegende Ereignis auf die soziale
Umwelt bezogen wird“ (zitiert in: Böttger et al., 2014, S. 31 f.). Eine Opfererfahrung
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei? 485

wäre dem folgend zum Beispiel auch die Erfahrung eines türkischen Jugendlichen,
der im Gegensatz zu seinen deutschen Klassenkameraden keinen Ausbildungs-
platz bekommt, obwohl er einen gleich guten oder sogar besseren Schulabschluss
hat. In dem Beispiel wird die allgemein geteilte normative Erwartung des Prinzips
der Chancengleichheit verletzt. Für den polizeilichen und juristischen Handlungs-
rahmen sind dagegen Strafrechtsnormen bindend (Böttger et al., 2014, S. 31 f.).
Bei der Viktimisierung werden drei Stufen unterschieden, die aber nicht
zwangsläuÀg aufeinanderfolgen müssen (KieÁ & Lamnek, 1986, S. 167): Primäre
Viktimisierung umfasst die eigentliche Opferwerdung, also die Schädigung einer
oder mehrerer Personen durch einen oder mehrere Täter und Täterinnen. Aus-
gelöst und beeinÁusst wird diese Phase durch verschiedene Situationsmerkmale,
Opfereigenschaften, Opferverhalten, die Art der Täter-Opfer-Beziehungen und Tä-
tereigenschaften (KieÁ & Lamnek, 1986, S. 170).
Sekundäre Viktimisierung ist eine Verschärfung der primären und entsteht
durch Fehlreaktionen des sozialen Nahraums von Betroffenen (Freunde und
Freundinnen, Bekannte, Familienangehörige) und/oder Instanzen der formellen
Sozialkontrolle (Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte) nach der primären Opfer-
werdung (KieÁ & Lamnek, 1986, S. 239). Sie entsteht also nicht unmittelbar aus
der Tat, „sondern [wird] durch Akteure produziert […], welche mit dem Opfer der
Straftat irgendeinen Umgang haben (und zwar im Hinblick auf dessen primäre
Viktimisierung)“ (Kölbel & Bork, 2012, S. 39). Die primäre Viktimisierung wird
dadurch verstärkt, die Betroffenen fühlen sich, als ob sie noch einmal zum Opfer
geworden sind. Dabei umfasst der Begriff sowohl den Vorgang der Einwirkung
der Akteure als auch die Folgen dieser Einwirkung (Kölbel & Bork, 2012). Neben
den genannten können auch die Täter und Täterinnen und deren Angehörige, die
Öffentlichkeit, insbesondere die Medien, und die Verteidigung der Täter und Tä-
terinnen im Gerichtsverfahren die sekundäre Viktimisierung positiv oder negativ
beeinÁussen bzw. verhindern oder hervorrufen (KieÁ & Lamnek, 1986, S. 239).
Die dritte Stufe ist die tertiäre Viktimisierung, die zu einer Verfestigung der
Opferidentität und damit zu einem veränderten Selbstbild führt.

2.4 Reaktionen von Ermittlungsbehörden

Die Polizei ist häuÀg der erste Kontakt für Betroffene nach einer Tat. Sie wird
vom Opfer selbst oder von Zeugen und Zeuginnen verständigt und trifft in diesem
Fall zum Teil noch am Tatort auf die KonÁiktparteien. Die Geschädigten erwar-
ten dabei von der Polizei, dass sie als Opfer ernst genommen werden, Gehör und
Beachtung Ànden und konkrete Hilfe erfahren (Haupt, Weber & Bürner, 2003,
486 Daniel Geschke und Matthias Quent

S. 60). Ein Problem besteht dabei in den unterschiedlichen Betrachtungs- und He-
rangehensweisen von Polizei und Betroffenen. Für Letztere ist klar, dass sie das
Opfer der Tat sind. Die Polizei hingegen muss zunächst versuchen, die Situation
unabhängig zu beurteilen. Zu ihrem Auftrag gehört es, vor Ort Be- und Entlasten-
des zusammenzutragen. Weiterhin zählen für sie derartige Situationen eher zum
Berufsalltag, während die Betroffenen mit einem einschneidenden Erlebnis kon-
frontiert sind (Bolick, 2010, S. 44). Weiterer Kontakt mit der Polizei ergibt sich für
die Betroffenen bei eventuellen Zeugenaussagen oder der Erstattung einer Anzei-
ge. Das geschieht meist kurze Zeit nach der Tat auf der zuständigen Dienststelle.
Sekundäre Viktimisierung kann im Umgang mit der Polizei ebenso wie im
sozialen Umfeld aus Bagatellisierungen, unsensiblem Verhalten und Mitschuld-
vorwürfen resultieren. Ein sensibles, verständnisvolles Vorgehen ist auch unter
Beibehaltung von Distanz und Sachlichkeit möglich, ebenso das Ansprechen
von Widersprüchlichkeiten, ohne eine Vorwurfshaltung einzunehmen (Fröhlich-
Weber, 2008, S. 75). Das ist vor allem im Umgang mit traumatisierten Personen
wichtig, denen es mitunter schwerfällt, über das Erlebte zu sprechen, oder die sich
(partiell) nicht mehr an den Vorfall erinnern (Rothkegel, 2013, S. 268). Besondere
Schwierigkeiten können sich durch Sprach- und Kulturbarrieren bei Opfern rassis-
tischer Gewalt ergeben (Haupt et al., 2003, S. 61; Bolick, 2010, S. 44). Ein erhöhtes
Risiko sekundärer Viktimisierung besteht im Falle von fahrlässigem oder absicht-
lichem Fehlverhalten der Polizei, in Form von stigmatisierendem oder beleidigen-
dem Verhalten gegenüber den Opfern, oder wenn Einzelpersonen oder Gruppen
(vermeintlich) aus dem Polizeialltag bekannt sind und als polizeifeindlich gelten
oder bereits als Täter oder Täterinnen in Erscheinung traten und ihnen deswegen
der Opferstatus versagt wird (Bolick, 2010, S. 45). Viktimologen empfahlen daher
bereits 1986, „gerade solche Vertreter der formellen sozialen Kontrolle mehr als
bisher mit der Problematik der sekundären Viktimisierung vertraut zu machen,
die erfahrungsgemäß im Rahmen ihrer Alltagsroutine weniger mit den Opfern
schwerwiegender Straftaten zu tun haben“(KieÁ & Lamnek, 1986, S. 252f).

2.5 Folgen von Gewalterfahrungen

Obwohl die Tatmotive bei rechter Gewalt in der Weltanschauung der Täter oder
Täterinnen zu suchen sind und Betroffene für ihr Leiden in Folge der Viktimisie-
rung nicht verantwortlich sind, tendieren Gewaltopfer dazu, auf der Suche nach
Erklärungen und Ursachen nach Schuld in der eigenen Person zu suchen. Gerade
die scheinbare Irrationalität rechter Gewalt lässt Betroffene umso rastloser nach
Gründen der Gewalterfahrung fragen. Dabei hängt es entscheidend von der Art
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei? 487

und Weise des Umganges durch Erstkontakte (oft die Polizei) und das nahe so-
ziale Umfeld (zum Beispiel Familie, Freunde und Freundinnen, Kollegen und
Kolleginnen) sowie von der Verfügbarkeit professioneller Unterstützung ab, wie
das Gewaltopfer die eigene Viktimisierung interpretiert und verarbeitet: Ob dem
Opfer die Schuld oder eine Mitschuld an einer Gewalterfahrung vermittelt wird,
hat EinÁuss auf sein Selbstbild und Verhalten nach der Tat. Weil weltanschauliche
Tatmotive oft wenig greifbar sind, besteht die Gefahr, Eskalationsgründe im Ver-
halten der Opfer zu suchen. Die Gefahr sekundärer und tertiärer Viktimisierung
bei Opfern rechter Gewalt ist daher besonders groß. Dies erfordert vom sozialen
Umfeld und den fallrelevanten Akteuren ein hohes Maß an Sensibilität. Für die
Beratungspraxis für Opfer rechter Gewalt steht dieser Aspekt im Vordergrund:
Betroffene werden „nicht aufgrund individueller Faktoren, sondern wegen ihrer
Zugehörigkeit zu bestimmten ethnischen, kulturellen, sozialen oder politischen
Gruppen Opfer von gruppenbezogener Gewalt“ (Thüringer Hilfsdienst für Opfer
rechter Gewalt, 2009, S. 16). Weiterhin werden Betroffene zumeist unverhofft zum
Opfer. Das heißt, der Tat gehen keine Provokationen seitens des Opfers voraus,
sie geschieht nicht aufgrund persönlicher Differenzen oder InteressenkonÁikte,
sondern basiert auf Ungleichwertigkeitsvorstellungen aufseiten der Täter und Tä-
terinnen.
488 Daniel Geschke und Matthias Quent

Abbildung 1 Prozessmodell nicht begleiteter rechtsmotivierter Viktimisierung

Das heuristische Prozessmodell in Abbildung 1 verdeutlicht die Folgen nicht be-


gleiteter Viktimisierung von schwachen Gruppen in der Gesellschaft. Mit der pri-
mären Viktimisierung – der Opferwerdung einer Person, einer Gruppe oder Orga-
nisation durch einen oder mehrere Täter (KieÁ & Lamnek, 1986, S. 170) – wird das
Opfer direkt geschädigt. Zudem können sekundäre und tertiäre Viktimisierungen
eintreten. Mit der Tat wird zudem eine Botschaft der Einschüchterung an diejenige
soziale Gruppe kommuniziert, welcher der oder die Betroffene durch die Täter
oder Täterinnen zugerechnet wird (beispielsweise Asylsuchende, Punks …). Ge-
sellschaftlich werden die Gleichwertigkeit der Menschen sowie ihr universelles
Recht auf Unversehrtheit infrage gestellt.
Zusätzlich sind auch die Reaktionen der von der Gewalttat provozierten Akteu-
re entscheidend: Wie geht der oder die Betroffene mit der Viktimisierung um? Wie
nimmt die durch die Tat viktimiserte Gruppe den Angriff auf? Wie reagiert die
Gesellschaft auf die Verletzung verfassungsmäßiger Rechte von Individuen? Art
und Weise des Umganges können die individuellen, kollektiven und sozialen Ne-
gativfolgen der Gewalttat im Weiteren abschwächen oder verstärken. Entsteht bei
dem oder der Betroffenen und dessen sozialer Gruppe der Eindruck, allein gelas-
sen zu werden und mit der Tat unter der schwebenden Drohung der Wiederholung
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei? 489

selbst fertig werden zu müssen, kann dies dazu führen, dass das Vertrauen in die
Gesellschaft schwindet und Betroffene Möglichkeiten zum Selbstschutz suchen,
beispielsweise indem sie sich bewaffnen. Eine Eskalation von Konfrontationsge-
walt aufgrund mangelnder Opferunterstützung als Ausdruck der „Mängel in der
staatlichen Rechtsextremismusbekämpfung“ (Roth, 2010, S. 29) ist eine mögliche
Folge. Durch versagte Unterstützung oder die Erfahrung negativer Diskriminie-
rung im Nachtatsbereich kann ein Keil zwischen Opfer, deren soziale Gruppe und
die Gesellschaft getrieben werden, indem Differenzen betont und Machtgefälle
verfestigt werden. Wird dies durch potenzielle Täter und Täterinnen entsprechend
wahrgenommen, fühlen diese sich in der Selbstwahrnehmung als Vollzieher der
Mehrheitsmeinung bestätigt und im ärgsten Fall zu (weiteren) Taten motiviert.
Unterbrochen werden können dieser Kreislauf und das Leiden der auf diese Wei-
se Ausgegrenzten durch die Aufhebung des Machtverhältnisses zwischen jenen,
die sich aufgrund ihrer (vermeintlichen) Machtposition zur Abwertung, Unterdrü-
ckung und Schikane berechtigt und befähigt sehen und jenen, die nicht als gleich-
wertig anerkannt werden. Es wird hier die These vertreten, dass je stärker die
soziale Unterstützung und Solidarität ist, welche die Betroffenen erfahren und je
entschiedener rechte Gewalt geächtet wird, desto effektiver können negative Fol-
gen vermieden und das Ausmaß rechter Gewalt langfristig reduziert werden.

2.6 Wirkungsweisen der Opferunterstützung

Abbildung 2 zeigt als idealtypisches Modell Wirkungsweisen der Opferunterstüt-


zung bei rechter Gewalt in der Gesellschaft. Erfahren viktimisierte Individuen
und Kollektive unmittelbar nach der primären Opfer-Werdung gelungene Unter-
stützung durch Behörden, ihr soziales Umfeld und ggf. professionelle Beratungs-
dienste, kann es gelingen, darauf aufbauende Viktimisierungsstufen zu vermeiden.
490 Daniel Geschke und Matthias Quent

Abbildung 2 Idealtypisches Prozessmodell rechtsmotivierter Viktimisierung mit Opfer-


beratung

Betroffenen wird dann – neben der Einschüchterung durch den Täter bzw. die
Täterin – auch vermittelt, nicht verantwortlich für die Viktimisierung zu sein und
Folgen nicht allein tragen zu müssen. Die soziale Ächtung der Tat und ihrer welt-
anschaulichen Motive stärkt die Betroffenen, ihre soziale Integration und delegi-
timiert die Gewalt der Täter und Täterinnen. Den Gewaltopfern fällt es auf diese
Weise leichter, die Tat zu verarbeiten, ohne dass eine Distanz zur Gesellschaft
entsteht. Durch die öffentliche Vertretung der Opferinteressen können zudem ver-
drängte Ungleichwertigkeitszuschreibungen und Ungleichbehandlungen mit dem
Ziel problematisiert werden, schwache Gruppen gesellschaftlich gleichzustellen.
Mit der sozialen Macht von abgewerteten Gruppen steigt für potenzielle Gewalt-
täter und -täterinnen das Risiko, während ihre subjektive Überlegenheit und die
imaginierte Legitimität der Diskriminierung schwacher Gruppen abnehmen. In
der gesellschaftlichen Debatte, der behördlichen Praxis und bei der Konzeption
von Maßnahmen zur Prävention von rechter Gewalt und der Unterstützung von
Betroffenen ist daher von herausragender Wichtigkeit, die Viktimisierungsfolgen
für die Betroffenen zu minimieren, deren Wahrnehmungen ernst zu nehmen sowie
die Bedeutung der Tat für das Zusammenleben in einer offenen Gesellschaft zu
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei? 491

thematisieren: Denn rechte Gewalt vermittelt „sowohl dem Opfer als auch dessen
Gruppe, dass sie nicht willkommen sind, dass sie kein Recht auf volle Partizipa-
tion am Leben in der Gesellschaft haben sollen“ (OSCE/ODIHR, 2008, zitiert in:
Finke, 2010, S. 207).

3 Untersuchungsdesign und -methode

3.1 Datenerhebung

Die Daten der vorliegenden Studie wurden mithilfe von standardisierten Telefon-
interviews erhoben, welche vom Frühling bis Frühsommer 2014 geführt wurden.
Die Interviewer und Interviewerinnen waren ausführlich geschulte, auf Honorar-
basis entlohnte Studierende der Sozialwissenschaften mit thematischem Interes-
se am Arbeitsfeld. Die Telefoninterviews dauerten im Durchschnitt 35 Minuten
(20 bis 75 Minuten) und die Erfassung der Daten verlief computergestützt. Die
Antworten der Befragten wurden anschließend mittels des Statistik-Software-Pro-
gramms SPSS 21.0 analysiert.

3.2 Aufbau des Fragebogens

Der Fragebogen umfasste insgesamt 131 Fragen, von denen im Folgenden nur ein
Teil genauer betrachtet wird. Unter anderem wurden Wahrnehmungen des polizei-
lichen Handelns in und direkt nach der Tatsituation erfragt. Als Antwortformate
wurde je nach Frage oder Aussage meist der Grad der Zustimmung auf einer 5-stu-
Àgen Skala mit „stimme völlig zu“ „stimme eher zu“, „teils/teils“, „lehne eher
ab“ und „lehne völlig ab“ vorgegeben, zusätzlich gab es die Option „weiß nicht“
und die Möglichkeit, gar nicht zu antworten.3 Abschließend wurden im Frage-
bogen einige soziodemograÀsche Daten (zum Beispiel Alter, Staatsangehörigkeit,
Migrationsstatus) erhoben.

3 In den entsprechenden folgenden Textabschnitten sind die gestellten Fragen bzw. Aus-
sagen jeweils ausformuliert und »kursiv« dargestellt.
492 Daniel Geschke und Matthias Quent

3.3 Akquise der Stichprobe

Der Zugang zu den Interviewpartnern und -partnerinnen erfolgte über die Thü-
ringer Opferberatungsstelle ezra4. Ursprünglich wurden 107 Betroffene, Zeugen
und Zeuginnen telefonisch kontaktiert. Darunter gab es 5 Personen, die auch nach
mehrmaligen Versuchen telefonisch nicht erreicht werden konnten. In insgesamt
8 Fällen wären die Interviews nicht in deutscher Sprache möglich gewesen, wobei
die Übersetzung des Interviewinstrumentes im Rahmen der Untersuchung nicht
zu Ànanzieren war. Zudem gab es mehrere Personen, die aus verschiedenen per-
sönlichen Gründen nicht zur Teilnahme an der Studie bereit waren. So nannten die
Befragten unter anderem, dass sie befürchteten, durch die Befragung wieder an
die traumatischen Erlebnisse erinnert zu werden; sie gaben an, aktuell zu vielen
psychischen Belastungen unterworfen zu sein; dass sie keine Zeit hätten oder sie
waren in Einzelfällen bereits ins Herkunftsland zurückgezogen, wie über Dritte
(Freunde oder Freundinnen der Betroffenen oder Kooperationspartner von ezra)
zu erfahren war. Insgesamt bilden N=44 vollständige Interviews die Grundlage
der folgenden statistischen Auswertungen.

3.4 Beschreibung der Stichprobe

Von den 44 Befragten waren 33 Personen männlich (das entspricht 75% der Stich-
probe) und 11 Personen weiblich (25%). Das Alter der Befragten lag zwischen 15
und 60 Jahren mit einem Mittelwert bei 33 Jahren (wobei von einer Person keine
Angaben vorlagen). Die meisten Betroffenen waren zwischen 22 und 28 Jahre alt.
41 der Befragten (also 93%) hatten die deutsche Staatsangehörigkeit, 3 weitere ga-
ben russische, türkische oder sudanesische Staatsangehörigkeit an. Auf die Frage
„Sind Sie oder Ihre Eltern (oder Großeltern) im Ausland geboren?“ antworteten
10 der Befragten mit „ja“ (23%), 34 Personen mit „nein“ (77%). Die Frage nach
der „derzeitigen beruÁichen Situation“ ergab 22 „Angestellte“ (50%), 7 „Arbei-
ter/Arbeiterinnen“ (16%), 6 „Arbeitslose“ (14%), 5 „Studierende“ (11%) sowie 1
„Auszubildende“, 1 „FreiberuÁer“, 1 „Schüler“ und 1 „Unternehmer“.

4 ezra (www.ezra.de) ist die mobile Beratung für Opfer rechter, rassistischer und anti-
semitischer Gewalt in Thüringen. Beraten, begleitet und unterstützt werden von ezra
Menschen, die aus Motiven gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit angegriffen
werden – also deshalb, weil die Täter und Täterinnen sie einer von ihnen abgelehnten
Personengruppe zuordnen.
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei? 493

4 Ergebnisse

4.1 Wahrnehmungen der Polizei in der Tatsituation

Im Folgenden werden die Ergebnisse der Studie dargestellt. Zunächst widmen wir
uns der Frage, wie Betroffene das polizeiliche Handeln unmittelbar nach den rech-
ten Gewalttaten erfahren und bewerten. Die entsprechenden Fragen beschäftigten
sich mit der subjektiven Sicht der Betroffenen auf die Arbeit der Polizei während
und direkt nach dem Vorfall. Diese Fragen wurden nur jenen 32 Personen gestellt,
die vorher angegeben hatten, gleichzeitig mit der Polizei in der Tatsituation ge-
wesen zu sein. Zusammenfassend sind die Ergebnisse in Abbildung 3 dargestellt,
danach werden sie im Einzelnen detaillierter vorgestellt.

"IchfühltemichvonderPolizeivorOrt
25 16 9 25 22 3
alsBetroffenerernstgenommen."

"DiePolizeitbeamtenhörtenmirkaum
9 19 9 19 37 6
zu."

"DerPolizeiwarklar,dassichder/die
25 25 3 16 19 6 6
BetroffenederGewalttatwar."

"InsgesamthabendiePolizistenmich
19 34 16 12 12 6
anständigbehandelt."

"DiePolizeibeamtengingenohne
16 25 12 12 22 9 3
Vorurteileaufmichzu."

"AllesinAllemerfülltendiePolizisten
ihrePflicht,vorOrtBelastendesund
22 31 3 19 16 6 3
EntlastendesfüreineTatbeteiligungzu
finden."
0 20 40 60 80 100

stimmevölligzu stimmeeherzu teils/teils lehneeherab lehnevölligab weißnicht keineAngabe

Abbildung 3 Wahrnehmungen der Polizei in der Tatsituation (N=32) in Prozent5

5 Durch Rundungsfehler ergeben die Prozentsummen auch in den folgenden Abbildun-


gen manchmal 99 % oder 101 %.
494 Daniel Geschke und Matthias Quent

Die Aussage „Ich fühlte mich von der Polizei vor Ort als Betroffener ernst ge-
nommen.“ wurde von 13 Personen (41%) zustimmend, von 3 Personen (9%) mit
„teils/teils“ und von 15 Personen (47%) ablehnend beantwortet. Das heißt, weniger
als die Hälfte der befragten Personen fühlte sich nach dem Vorfall von den am
Einsatzort aktiven Polizisten und Polizistinnen ernst genommen.
Die Aussage „Die Polizeibeamten hörten mir kaum zu.“ beantworteten 9 Per-
sonen (28%) mit Zustimmung, 3 Personen (9%) mit „teils/teils“ und 18 Personen
(56%) mit Ablehnung. Somit ist über ein Drittel der Befragten der Meinung, dass
die Polizeibeamten und -beamtinnen ihnen kaum zugehört haben.
Der Aussage „Der Polizei war klar, dass ich der/die Betroffene der Gewalttat
war.“ stimmten 16 Personen (50%) zu, 1 Person antwortete mit „teils/teils“ und
11 Personen (34%) lehnten sie ab. Folglich hatte die Hälfte der befragten Personen
kurz nach der Tat nicht das Gefühl, dass die Polizei vor Ort sie als Betroffene der
Gewalttat betrachtete.
Die Aussage „Insgesamt haben die Polizisten mich anständig behandelt.“
wurde von 17 Personen (53%) mit Zustimmung, von 5 Personen (16%) mit „teils/
teils“ und von 8 Personen (25%) mit Ablehnung beantwortet. Dementsprechend
fühlte sich ein Viertel der Befragten durch die Polizei nicht anständig behandelt.
Die nächste Aussage „Die Polizeibeamten gingen ohne Vorurteile auf mich
zu.“ wurde von 13 Personen (41%) mit Zustimmung, von 4 Personen (12%) mit
„teils/teils“, und von 11 Personen (34%) mit Ablehnung beantwortet, wobei 3 Per-
sonen (9%) „weiß nicht“ angaben. Mehr als die Hälfte der Befragten hatte dem-
nach teilweise oder vollständig das Gefühl, mit Vorurteilen seitens der Polizeibe-
amten und -beamtinnen konfrontiert zu sein.
Die Aussage „Alles in allem erfüllten die Polizisten ihre PÁicht, vor Ort Be-
lastendes und Entlastendes für eine Tatbeteiligung zu Ànden.“ wurde von 17 Per-
sonen (53%) mit Zustimmung, von 1 Person mit „teils/teils“, und von 11 Personen
(34%) mit Ablehnung beantwortet, wobei 2 Personen (6%) „weiß nicht“ angaben.
Folglich war die Mehrzahl der Betroffenen der Meinung, die Polizei hat vor Ort
ihre PÁicht erfüllt, während ein Drittel dem widersprach.
Insgesamt zeigt sich, dass ungefähr jeder Zweite sich in der Tatsituation durch
die Polizei nicht ernst genommen fühlte und nicht das Gefühl hatte, die Polizei be-
handle ihn als Betroffenen der Gewalttat. Jeder Vierte fühlte sich durch die Polizei
nicht anständig behandelt und jeder Zweite sah sich mit Vorurteilen seitens der
Polizeibeamtinnen und -beamten konfrontiert. Zudem teilte jeder Dritte nicht die
Ansicht, die Polizisten und Polizistinnen hätten vor Ort ihre PÁicht erfüllt, Be- und
Entlastendes für eine Tatbeteiligung zu Ànden.
Zwei weitere Fragen beschäftigten sich mit Wahrnehmungen der Betroffenen
bzgl. der Anerkennung des politischen Tatmotivs durch die Polizei. Diese Er-
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei? 495

gebnisse sind zusammenfassend in Abbildung 4 dargestellt und werden nun im


Einzelnen kurz beschrieben. Die Aussage „Den Polizisten war wichtig, den poli-
tischen Hintergrund der Tat aufzuklären.“ wurde von 9 Personen (28%) zustim-
mend, von 3 Personen (9%) mit „teils/teils“, und von 18 Personen (56%) ablehnend
beantwortet. Das heißt, nur weniger als ein Drittel war der Meinung, die Polizei sei
am politischen Hintergrund der Tat interessiert gewesen.
Diese Sichtweise bestätigen auch die Reaktionen der Befragten auf die Aus-
sage „Die Polizeibeamten ignorierten das politische Motiv der Tat.“. 18 Personen
(56%) wählten hier zustimmende Antworten, 12 Personen (38%) ablehnende. Folg-
lich fand diese Aussage die Zustimmung von mehr als der Hälfte der Befragten.
Zusammenfassend muss also diesbezüglich konstatiert werden, dass mehr als die
Hälfte der Befragten bezweifelte, dass die Polizeibeamten und -beamtinnen in der
Tatsituation wirklich an der Aufklärung der politischen Tathintergründe interes-
siert waren.

"DenPolizistenwarwichtig,
denpolitischenHintergrund 16 12 9 12 44 6
derTataufzuklären."

"DiePolizeibeamten
ignoriertendaspolitische 40 16 19 19 6
MotivderTat."

0 20 40 60 80 100
stimmevölligzu stimmeeherzu teils/teils lehneeherab lehnevölligab weißnicht keineAngabe

Abbildung 4 Einschätzung der Befragten bezüglich der Anerkennung des politischen
Motivs der Tat durch die Polizei (N=32) in Prozent

4.2 Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei


in der Tatsituation

Wahrnehmungen sekundärer Viktimisierung wurden durch weitere 5 Fragen an


jene 32 Personen erfasst, die gleichzeitig mit der Polizei in der Tatsituation waren.
Die Ergebnisse sind zusammenfassend in der folgenden Abbildung 5 dargestellt
und werden anschließend genauer beschrieben.
496 Daniel Geschke und Matthias Quent

"VorOrthabenmichdie
Polizistenbehandelt,alsseiich 12 9 22 53 3
dereigentlicheTäter."

"IchfühltemichvonderPolizei
behandeltwieeinMensch 31 3 6 19 37 3
zweiterKlasse."

"DiePolizistenzeigten
3 6 3 19 56 12
SympathienfürdieTäter."

"IchfühltemichvonderPolizeiin
meinemMenschenrechten 19 6 16 56 3
verletzt."

"DurchVorwürfederPolizisten
fühlteichmicherneut 16 12 3 3 62 3
geschädigt."

0 20 40 60 80 100

stimmevölligzu stimmeeherzu teils/teils lehneeherab lehnevölligab weißnicht keineAngabe

Abbildung 5 Wahrnehmungen der Polizei in der Tatsituation (N=32) in Prozent

Auf die Aussage „Vor Ort haben mich die Polizisten behandelt, als sei ich der
eigentliche Täter.“ reagierten 7 Personen (22%) mit Zustimmung und 24 Personen
(75%) mit Ablehnung. Diese Befunde zeigen, dass über ein Fünftel der Befragten
sich durch die Polizei als Täter und Täterin und nicht als Opfer einer Straftat be-
handelt fühlte.
Die Aussage „Ich fühlte mich von der Polizei behandelt wie ein Mensch zwei-
ter Klasse.“ beantworteten 11 Personen (34%) zustimmend, 2 Personen (6%) mit
„teils/teils“ und 18 Personen (56%) ablehnend. Insofern hatte über ein Drittel der
Befragten das Gefühl einer zweitklassigen Behandlung.
Die Aussage „Die Polizisten zeigten Sympathien für die Täter.“ wurde von 3
Personen (9%) mit Zustimmung, von 1 Person mit „teils/teils“ und von 24 Per-
sonen (75%) mit Ablehnung beantwortet. Somit hatten 4 Personen, also 12% der
Stichprobe, den mehr oder weniger starken Eindruck, die Täter bzw. Täterinnen
hätten Sympathien seitens der Polizei genossen.
Auf die Aussage „Ich fühlte mich von der Polizei in meinen Menschenrechten
verletzt.“ reagierten 8 Personen (25%) zustimmend und 23 Personen (72%) ab-
lehnend. Folglich berichtete ein Viertel der Befragten hier von dem Gefühl, in der
Tatsituation durch die Polizei in ihren Menschenrechten verletzt worden zu sein.
Die Aussage „Durch Vorwürfe der Polizisten fühlte ich mich erneut geschä-
digt.“ wurde von 9 Personen (28%) mit Zustimmung, von 1 Person mit „teils/
teils“, von 21 Personen (66%) mit Ablehnung beantwortet. Somit fühlten sich 10
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei? 497

Personen, also knapp ein Drittel der Befragten, durch Vorwürfe der Polizisten oder
Polizistinnen erneut geschädigt. Insgesamt zeigen diese Ergebnisse, dass sich zwi-
schen 12% und 34% der Befragten durch verschiedene Aspekte des Verhaltens der
Polizeibeamten und -beamtinnen in der Tatsituation erneut viktimisiert fühlten.

4.3 Wahrnehmung der Polizei im Nachtatsbereich

Anschließend wurden vier weitere Fragen zu Wahrnehmungen der Polizeibeam-


ten und -beamtinnen im Nachtatsbereich, also bei Zeugenaussagen nach dem ur-
sprünglichen Vorfall, gestellt. Die Fragen und Antworten der 39 Personen, die
solche Zeugenaussagen gemacht haben, sind zusammenfassend in Abbildung 6
dargestellt und werden im Folgenden detailliert betrachtet.

"IchfühlemichdurchdasAuftretenvon
8 18 5 18 51
Polizisteneingeschüchtert."

"IchfühlemichvonderPolizeiungerecht
8 18 21 26 28
behandelt."

"IchhattedenEindruck,diePolizisten
wolltensichnichtmitdenMotivendes 38 21 15 21 5
Vorfallsauseinandersetzen."

"DiePolizistenhabenmirnahegelegt,
33 13 82
niemandenvondemVorfallzuerzählen."

"Polizistenhabenmirvorgeworfen,
selberSchuldfürdieEskalationder 5 13 3 15 64
Situationgewesenzusein."

0 20 40 60 80 100

stimmevölligzu stimmeeherzu teils/teils lehneeherab lehnevölligab weißnicht keineAngabe



Abbildung 6 Wahrnehmungen der Polizei im Nachtatsbereich (N=39) in Prozent

Die Aussage „Ich fühlte mich durch das Auftreten von Polizisten eingeschüch-
tert.“ wurde von 10 Personen (26%) bejaht, 2 Personen (5%) wählten die Antwort-
möglichkeit „teils/teils“ und 27 Personen (69%) haben dies abgelehnt. Demnach
fühlte sich ein Drittel der Befragten durch das Auftreten der Polizeibeamten und
-beamtinnen eingeschüchtert.
Auf die Aussage „Ich fühle mich von der Polizei ungerecht behandelt.“ wurde
von 10 Personen (26%) mit Zustimmung, von 8 Personen (21%) mit „teils/teils“
498 Daniel Geschke und Matthias Quent

und von 21 Personen (54%) mit Ablehnung reagiert. Insgesamt fühlte sich somit
fast die Hälfte der Befragten im Nachtatsbereich durch die Polizei ungerecht be-
handelt.
Um zu erfahren, wie die wahrgenommene Bereitschaft der Polizei war, die
rechten Motive der Tat auch im Nachtatsbereich zu erfassen, wurde diese erneut
abgefragt. Auf die Aussage „Ich hatte den Eindruck, die Polizisten wollten sich
nicht mit den Motiven des Vorfalls auseinandersetzen.“ reagierten 23 Personen
(59%) mit Zustimmung, 14 Personen (36%) mit Ablehnung und 2 Personen (5%)
gaben „weiß nicht“ an. So hatten also fast zwei Drittel der Befragten auch im
Nachtatsbereich den Eindruck, eine Auseinandersetzung mit den Tatmotiven sei
für die Polizisten und Polizistinnen nicht von Interesse.
Der Aussage „Die Polizisten haben mir nahegelegt, niemanden von dem Vor-
fall zu erzählen.“ stimmten 2 Personen (5%) zu, 37 Personen (95%) lehnten diese
ab. Somit gibt es hier immerhin 2 dokumentierte Fälle, in denen die Polizei emp-
fahl, den Vorgang geheim zu halten.
Auf die Aussage „Polizisten haben mir vorgeworfen, selber schuld für die
Eskalation der Situation gewesen zu sein.“ reagierten 7 Personen (18%) mit Zu-
stimmung, 1 Person mit „teils/teils“ und 31 Personen (79%) mit Ablehnung. Somit
berichtete ungefähr ein Fünftel der Befragten, von der Polizei mehr oder weniger
stark als Verantwortliche für die Eskalation betrachtet worden zu sein.
Durch die Erfahrung von Gewalt und anschließender sekundärer Viktimisie-
rung können sich die Einstellungs- und Verhaltensweisen der Betroffenen stark
verändern, ihr Vertrauen in die Institutionen der Demokratie kann leiden.

4.4 Folgen für das Vertrauen in die Institutionen

Oben wurde bereits auf die Folgen nicht verarbeiteter primärer und sekundärer
Viktimisierung für die Betroffenen und auch allgemeiner für den Zusammen-
halt der Gesellschaft hingewiesen. Mittels drei verschiedener Fragen wurde das
Vertrauen in die Bundesregierung, die Gerichte und die Polizei eruiert (siehe Ab-
bildung 7). Auf die Frage „Ich lese Ihnen jetzt eine Reihe von öffentlichen Ein-
richtungen vor. Sagen Sie mir bitte bei jeder, ob Sie ihr voll und ganz vertrauen,
weitgehend, teilweise, eher nicht oder gar nicht vertrauen. Wie ist das mit der
Bundesregierung?“ reagierten 15 Personen (34%) mit mangelndem Vertrauen, 19
Personen (43%) mit „teilweise“ vorhandenem Vertrauen und 10 Personen (23%)
vertrauensvoll. Die entsprechende Frage zu „… den Gerichten?“ führte bei 7 Per-
sonen (16%) zur Angabe von Vertrauensmangel, bei 17 Personen (39%) war das
Vertrauen „teilweise“ gegeben und 20 Personen (45%) vertrauten den Gerichten.
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei? 499

Die analoge Frage in Bezug zu „… der Polizei?“ ergab bei 17 Personen (39%)
einen Mangel an Vertrauen, bei 18 Personen (41%) war das Vertrauen „teilweise“
gegeben, während nur 8 Personen (18%) der Polizei ihr Vertrauen aussprachen.
Insgesamt zeigt sich somit, dass fast die Hälfte der Befragten den Gerichten traute,
aber nur ein Fünftel der Bundesregierung und etwas weniger als ein Fünftel der
Polizei.

"Wieistdasmit
2 21 43 21 14
derBundesregierung?"

"…denGerichten?" 11 34 39 9 7

"…derPolizei?" 7 11 41 16 23 2

0 20 40 60 80 100

stimmevölligzu stimmeeherzu teils/teils lehneeherab lehnevölligab weißnicht keineAngabe




Abbildung 7 Antworten auf Fragen zum Vertrauen in verschiedene Institutionen (N=44)


in Prozent

Im repräsentativen Thüringen Monitor wird regelmäßig das Institutionenvertrauen


der Thüringer Bevölkerung gemessen. Das entsprechende Item ist identisch mit
dem in der vorliegenden Befragung der Betroffenen rechter Gewalt (Best, Dwars,
Saalheiser & Salomo, 2013, Tabelle A17). Stellt man die Werte des durchschnitt-
lichen Vertrauens der Thüringer Bevölkerung in die Polizei jenen gegenüber, die
als Opfer rechter Gewalt Erfahrungen mit der Polizei im Freistaat machten, zeigt
sich eine erhebliche Differenz (siehe Abbildung 8). Während 64% der Thüringer
und Thüringerinnen (N=1.012) der Polizei weitgehend oder voll und ganz vertrau-
en und weitere 24% der Polizei zumindest teilweise vertrauen, sind es unter den
Betroffenen rechter Gewalt (N=44) nur 18% mit Vertrauen und 41% mit teilweise
vorhandenem Vertrauen. Fast ein Viertel der Befragten hat gar kein Vertrauen,
weitere 16% nur ein geringes. Diese hohe Differenz signalisiert bei Opfern rechter
Gewalt einen besorgniserregenden Vertrauensverlust in die Polizei.
500 Daniel Geschke und Matthias Quent

45 41 42
40
35
30
24
Prozent

25 23 22
20 16
15 11
10 7
4 5
5 3 2
0
garnicht ehernicht teilweise weitgehend vollundganz k.A./weißnicht

ThüringenMonitor2013 OpferrechterGewalt2014


Abbildung 8 Vertrauen in die Polizei bei Opfern rechter Gewalt (N=44) und im reprä-
sentativen „Thüringen Monitor“ (N=1012) im Vergleich (in Prozent)

5 Methodenreflexion und Ausblick


für zukünftige Forschung

Mit dieser Studie wurden erstmals in Deutschland quantitativ die Wahrnehmun-


gen und Erfahrungen von Betroffenen rechter Gewalt mit der Polizei erhoben. Die
Betroffenen haben ihre Wahrnehmungen in Thüringen gemacht, dennoch ist da-
von auszugehen, dass die dargestellten Erfahrungen in dieser oder ähnlicher Form
auch in anderen Bundesländern zu beobachten sind.

5.1 Methodenreflexion

Natürlich hat die Methode dieser Untersuchung – so wie jedes andere Verfahren
auch – ihre Nachteile und Schwächen. Diese sind einerseits in der Stichprobe der
Befragten und andererseits in der ausgewählten Methode begründet.
Nicht alle bei ezra in den letzten Jahren beratenen Opfer konnten erreicht und
befragt werden (siehe oben). Und „inwieweit jene Opfer, die sich zu einer Mitarbeit
bereitÀnden, für die Gesamtheit der Opfer repräsentativ sind, ist ungeklärt“ (KieÁ
& Lamnek, 1986, S. 39). Insbesondere durch die Gewalttat stark traumatisierte
Personen sind vermutlich weniger bereit, an solchen Befragungen teilzunehmen,
da sie eine Retraumatisierung befürchten könnten.
Viele Beratungsnehmer und -nehmerinnen von ezra konnten zudem aufgrund
sprachlicher Barrieren nicht befragt werden. In Fällen, bei denen nicht davon aus-
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei? 501

gegangen werden konnte, dass alle Items des Fragebogens richtig verstanden wer-
den könnten, unterblieb von vornherein eine Kontaktaufnahme. Somit fand eine
Vielzahl von Fällen insbesondere mit rassistischen Tatmotiven keinen Eingang in
die Befragung, weil die zur Befragung notwendige professionelle Übersetzung des
Fragebogens in verschiedene Sprachen und das Hinzuziehen von Dolmetschern
und Dolmetscherinnen bzw. fremdsprachigen Interviewenden das enge Budget
des Projektes weit überstiegen hätte. Insbesondere rassistisch-diskriminierte Men-
schen kommen daher hier gewissermaßen „zu kurz“, obwohl ihre Erfahrungen
und Wahrnehmungen aus verschiedenen Gründen besonders aufschlussreich er-
scheinen. Insofern handelt es sich hier explizit nicht um eine repräsentative Stich-
probe der von ezra in den letzten Jahren beratenen Menschen. Es besteht weiterer
Forschungsbedarf.
Zudem hat auch die Gültigkeit der Aussagen der Befragten ihre Grenzen. Ins-
gesamt werden zwar Ergebnisse von Opferbefragungen für zuverlässiger gehalten
als die von Täterbefragungen. Sie sind dennoch nicht frei von (systematischen)
Verzerrungen: „Da die erfahrene Viktimisierung ein belastendes Erlebnis ist,
dürfte eine Tendenz bestehen, die gesamte Tat oder doch einige ihrer Begleitum-
stände, zu verdrängen oder zu beschönigen“ (KieÁ & Lamnek, 1986, S. 39). Die
Gültigkeit von Opferbefragungen ist vor allem deshalb eingeschränkt, da Vergan-
genes erfragt wird und der oder die Interviewte die Fragen als bedrohlich emp-
Ànden kann. Aufgrund der besonderen Situation und Belastungen der Befragten
kann es zu systematischen Verzerrungen der Erinnerungen an die Tatsituation
kommen. Auch Rationalisierungen, Schuldzuweisungen und Entschuldigungsbe-
strebungen spielen eine Rolle und beeinÁussen die Objektivität der erhobenen
Daten.
Dennoch haben wir uns bei der Gestaltung des Fragebogens für sehr harte
Items entschieden, also für solche Aussagen, die sehr eindeutig und von den Be-
fragten leicht zu verstehen sind. Die Tendenz zur Beschönigung wie die Härte der
Aussagen, die ein hohes Maß an Zustimmung bei den Befragten benötigen, sind
bei der Interpretation der Daten zu beachten, denn sie führen insgesamt eher zu
einer Unterschätzung der Problemlage.

6 Zusammenfassung

Die vorliegende Studie konnte die anfangs gestellten Fragen mit empirischen Ant-
worten versehen. Deutlich wird aber auch der hohe Bedarf, diesen Bereich künftig
weiter zu erforschen. Mit der Untersuchung werden erste, empirisch untersetzte
Befunde vorgelegt für a) ein besseres Verständnis der Situation von Betroffenen
502 Daniel Geschke und Matthias Quent

rechter Gewalt und b) die Aufdeckung struktureller Probleme im Umgang der


Polizei damit. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Studie zusammenfassend
dargestellt und auf die Ausgangsfragen bezogen.
Das polizeiliche Handeln in der Tatsituation ist aus Sicht der Befragten sehr
problematisch. So fühlte sich ungefähr jeder Zweite in der Tatsituation durch die
Polizei nicht ernst genommen und hatte nicht das Gefühl, die Polizei behandle sie
oder ihn als die Betroffenen der Gewalttat. Jeder Vierte fühlte sich durch die Poli-
zei nicht anständig behandelt und jeder Zweite sah sich mit Vorurteilen konfron-
tiert. Zudem war jeder Dritte nicht der Ansicht, die Polizisten und Polizistinnen
hätten vor Ort Ihre PÁicht erfüllt, Be- und Entlastendes für eine Tatbeteiligung
zu Ànden. Bis zu einem Drittel der Befragten fühlte sich in der Tatsituation durch
verschiedene andere Aspekte des Verhaltens der Polizeibeamten und -beamtin-
nen erneut viktimisiert, zum Beispiel als Täter bzw. Täterin (statt als Opfer) oder
als Mensch zweiter Klasse behandelt oder in ihren oder seinen Menschenrechten
verletzt. Mehr als die Hälfte der Befragten bezweifelte zudem, dass die Polizei
in der Tatsituation wirklich an der Aufklärung der politischen Tathintergründe
interessiert war.
Auch im Nachtatsbereich wurde die Arbeit der Polizei häuÀg kritisiert. Ein
Drittel der Befragten fühlte sich durch das Auftreten der Polizisten und Polizis-
tinnen eingeschüchtert, fast die Hälfte ungerecht behandelt und auch hier entstand
in mehr als der Hälfte der Fälle der Eindruck, die Polizei wolle sich nicht mit den
Motiven des Vorfalls auseinandersetzen. Zudem berichtete ungefähr ein Fünftel
der Befragten, von der Polizei als Verantwortliche für die Eskalation betrachtet
worden zu sein.
Bei der Aufarbeitung ihrer Viktimisierung wurde die Polizei von den Befrag-
ten nicht als hilfreich wahrgenommen, stattdessen erfuhren die Betroffenen eine
sekundäre Viktimisierung, zum Beispiel indem sie durch die Polizei wie Täter
bzw. Täterinnen behandelt oder für die Eskalation selbst verantwortlich gemacht
wurden, oder weil es scheinbar kein Interesse seitens der Polizei gab, rechte Mo-
tive der Tat aufzuklären.
Die Befunde zeigen, dass es sich bei den meisten der geschilderten Probleme
nicht um Einzelfälle handelte, sondern es waren mehrere oder viele Personen da-
von betroffen. Es ist ein Verdienst dieser Studie, dies durch die standardisierte
Befragung von 44 betroffenen Personen empirisch erfasst zu haben.
Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei? 503

7 Resümee

Mit der Enttarnung des rechtsterroristischen NSU und der gesellschaftspolitischen,


öffentlichen und juristischen Aufarbeitung der Faktoren, die zu der über ein Jahr-
zehnt hinweg nicht erkannten rechtsextremen Mord- und Raubserie geführt haben,
hat die Debatte um rechte Gewalt und die Rolle der Ermittlungsbehörden an Fahrt
gewonnen. Parlamentarische Untersuchungsgremien im Bund und in mehreren
Bundesländern haben ausführliche Dokumentationen, Problembeschreibungen und
Empfehlungen für Reformen des Sicherheitsapparates vorgelegt – mit dem Ziel, die
Effektivität der Verfassungsschutzämter und der Polizei zu verbessern und somit
die Kontrollfähigkeit über Täter und Täterinnen zu erhöhen. Während in anderen
westlichen Staaten unabhängige Kommissionen, Medien, Zivilgesellschaft und
Wissenschaft die Debatte über polizeilichen Rassismus zu den Ursachen führen,
werden hierzulande die strukturellen und inneren Gründe polizeilichen Fehlver-
haltens noch immer in erschreckendem Maße bagatellisiert, ignoriert oder als „Ein-
zelfälle“ abgetan. Die Perspektive der davon betroffenen Personen und Gruppen
nimmt – trotz der aufrüttelnden Erfahrungsberichte und Erkenntnisse im Zusam-
menhang mit den Ermittlungen zur NSU-Mordserie – keine zentrale Rolle ein. Die
nun vorliegende Studie leistet Pionierarbeit in der Darstellung davon, wie sich Be-
troffene rechter Gewalt fühlen und welche Erfahrungen sie mit der Polizei machen.
Auf den vorherigen Seiten ist eines evident geworden: Negative Erfahrungen der-
jenigen, die als Opfer rechter Gewalt Hilfe suchen, sind keine Einzelfälle.

8 Ausblick für die Forschung

Die vorliegende Pilotstudie zeigt die Potenziale für die Erforschung der Erfahrun-
gen der von Diskriminierung und Gewalt Betroffenen, indem sie denen, die häu-
Àg nicht gehört werden, durch empirische Forschung eine Stimme gibt. Künftige
Forschungen sollten auf die Dynamiken der Viktimisierung fokussieren sowie die
Genese von Ungleichwertigkeitsvorstellungen aufhellen. So könnten bisher kaum
genutzte Werkzeuge und Zugänge für die Präventions- und Interventionspraxis
(weiter-)entwickelt werden. Für die Forschung sind interessante Befunde über das
Mit- und Gegeneinander sozialer Gruppen in der Gesellschaft zu erwarten. Tiefer
gehende Untersuchungen müssten größere, überregionale Stichproben von durch
rechte Gewalt betroffenen Personen erheben. Dazu ist eine enge Zusammenarbeit
mit den Opferberatungen und (migrantischen) Selbstorganisationen nötig. Zu be-
rücksichtigen sind dabei auch die besonderen Herausforderungen bei der Befra-
gung von nicht deutschsprachigen Menschen und die daraus folgende Notwendig-
keit, kohärente Messinstrumente in unterschiedlichen Sprachen zu entwickeln.
504 Daniel Geschke und Matthias Quent

Literatur
Best, H., Dwars, D., Saalheiser, A. & Salomo, K. (2013). Politische Kultur im Freistaat Thü-
ringen. „Wie leben wir? Wie wollen wir leben?“ Zufriedenheit, Werte und gesellschaft-
liche Orientierungen der Thüringer Bevölkerung. Ergebnisse des Thüringen-Monitors
2013.
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Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei? 505

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Thüringer Hilfsdienst für Opfer rechter Gewalt (THO) (2009). Thüringer Tatorte: rechts-
extreme Gewalt in Thüringen; Informationen und Handlungsmöglichkeiten. Jena.
Autorenverzeichnis

Becker, Reiner, Dr.; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Philipps Universität


Marburg und Leiter des Demokratiezentrums im beratungsNetzwerk hessen.

Best, Heinrich, Prof. em. Dr.; Institut für Soziologie und Vorsitzender des Kompe-
tenzzentrums Rechtsextremismus der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Beutel, Wolfgang, Dr. phil., Mitbegründer und Geschäftsführer des Förderpro-


gramms „Demokratisch Handeln“ und Mitglied im Vorstand der Deutschen Ge-
sellschaft für Demokratiepädagogik.

Edler, Kurt, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik


und Leiter des Referats Gesellschaft am Landesinstitut für Lehrerbildung und
Schulentwicklung in Hamburg.

Feldmann, Dorina; Mitarbeiterin am Moses Mendelssohn Zentrum für europä-


isch-jüdische Studien (Universität Potsdam) im Forschungsprojekt „Überprüfung
umstrittener Altfälle ‚Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Branden-
burg‘“.

Frindte, Wolfgang, Prof. Dr.; Leiter der Abteilung Kommunikationspsychologie


am Institut für Kommunikationswissenschaft und Mitglied im Direktorium des
Kompetenzzentrums Rechtsextremismus der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

W. Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, Edition


Rechtsextremismus, DOI 10.1007/978-3-658-09997-8, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
508 Autorenverzeichnis

Förster, Mario, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter des Kompetenzzentrum


Rechtsextremismus an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie Lehrbeauf-
tragter im Arbeitsbereich Pädagogische Sozialisationsforschung am Institut für
Erziehungswissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen.

Gäde, Maria,Dr.; akademische Mitarbeiterin im Institut für Bibliotheks- und In-


formationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin.

Geschke, Daniel, Dr.; wissenschaftlicher Mitarbeiter der Servicestelle LehreLer-


nen der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Grumke, Thomas, Prof. Dr.; Politikwissenschaftler und Soziologe an der Fach-


hochschule für öffentliche Verwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen, Studien-
ort Gelsenkirchen, im Fachbereich Polizeivollzugsdienst.

Haußecker, Nicole, Dr.; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für


Kommunikationspsychologie am Institut für Kommunikationswissenschaft der
Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Heerdegen, Stefan, Diplom Sozialpädagoge (FH), Mitarbeiter der Mobilen Be-


ratung in Thüringen (MOBIT).

Kahane, Anetta, Journalistin; Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung.

Knoppe, Franz, Dipl. Verwaltungswissenschaftler; Gründer & Koordinator der


Künstlergruppe Grass Lifter

Köhler, Daniel, M.A.; M.P.S.; studierte Religionswissenschaft, Politikwissen-


schaft und Betriebswirtschaftslehre an der Princeton University USA und der
Freien Universität Berlin. Im Jahr 2014 gründete er das German Institute on Radi-
calization and De-radicalization Studies (GIRDS) und leitet es seitdem.

Kopke, Christoph, Dr.; Dipl.-Politikwissenschaftler, Lehrbeauftragter an der


Universität Potsdam und an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Ber-
lin, Projektmitarbeiter am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische
Studien der Universität Potsdam im Forschungsprojekt „Überprüfung umstrittener
Altfälle ‚Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg‘“.
Autorenverzeichnis 509

Laabs, Dirk, Journalist und Filmemacher; 2014 gemeinsam mit Stefan Aust Ver-
öffentlichung des Buches „Heimatschutz – der Staat und die Mordserie des NSU“.

Möller, Kurt, Prof. Dr.; Professor für Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit,
Fakultät für Soziale Arbeit, Gesundheit und PÁege, Hochschule Esslingen.

Quent, Matthias, M.A.; Doktorand am Lehrstuhl für Arbeits-, Industrie- und


Wirtschaftssoziologie des Instituts für Soziologie der Friedrich-Schiller-Univer-
sität Jena.

Salzborn, Samuel, Prof. Dr.; Professor für Grundlagen der Sozialwissenschaften


am Institut für Politikwissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen.

Schellenberg, Britta, Dr.; Senior Researcher am Centrum für Angewandte Poli-


tikforschung und Lehrbeauftragte am Geschwister-Scholl Institut für Politikwis-
senschaft der Ludwig-Maximilians Universität München.

Schilden, Frank, M.A.; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sprach-


und Kommunikationswissenschaft der RWTH Aachen.

Schmidtke, Franziska, M.A.; wissenschaftliche Mitarbeiterin und Koordinatorin


des Kompetenzzentrum Rechtsextremismus an der Friedrich-Schiller-Universität
Jena.

Schultz, Gebhard, Dipl.-Politikwissenschaftler; Projektmitarbeiter am Moses


Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien der Universität Potsdam
im Forschungsprojekt „Überprüfung umstrittener Altfälle ‚Opfer rechtsextremer
und rassistischer Gewalt in Brandenburg‘“.

Veith, Hermann, Prof. Dr., Leiter des Arbeitsbereichs Pädagogische Sozialisa-


tionsforschung am Institut für Erziehungswissenschaft und Projektleiter im Pro-
jekt „Demokratiekompetenz und Demokratieverstehen“ der der Georg-August-
Universität Göttingen.

Würstl, Heike, M.A.; Soziologin und Mitarbeiterin der Stabsstelle für Extremis-
musprävention der Landespolizeidirektion Erfurt.

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