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Herausgegeben von
Band 25
Unterwegs in Kriminologie und
Strafrecht – Exploring the World
of Crime and Criminology
Festschrift für Hans-Jörg Albrecht zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von
Tim Lukas
Vom Hochhaus zum Wohnturm. Strategien der Kriminalprävention im verti-
kalen Wohnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
Harald Arnold
Un-/Sicherheit: Äußere Realität und innere Welt. Anmerkungen zu einer (nicht
nur) kriminologischen Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
Karl-Heinz Reuband
Dynamiken der Punitivität. Konsistenz und Ambivalenz als Strukturmerkmale
der Einstellung zur Todesstrafe, 1964 – 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725
Walter Perron
Transitional Justice in Deutschland – die Mauerschützen vor Gericht . . . . . . . 743
Frieder Dünkel
Elektronische Überwachung in Europa – kriminologische und kriminalpoliti-
sche Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761
Martin Killias
Geld- statt Freiheitsstrafen: Die Mittelschicht kommt nicht ins Gefängnis.
Wenig beachtete Folgen der Reform des schweizerischen Sanktionenrechts von
2002/2007 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 791
Wolfgang Heinz
Die Staatsanwaltschaft – „der“ kriminalpolitische Akteur im System straf-
rechtlicher Sozialkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805
Jörg Kinzig
„Und immer geht’s ums Geld“. Einstellung gegen Geldauflage, Verwarnung
mit Strafvorbehalt und Geldstrafe im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827
Feridun Yenisey
Die Auswirkungen von zwei Aktenuntersuchungen auf den Verlauf des Straf-
verfahrens in der Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 851
Carina Tetal
Analysen zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63
StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 865
Volker Grundies
Die Sanktionierung von Vergewaltigungsdelikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885
Davor Derenčinović and Anna-Maria Getoš Kalac
Croatian Drug Policy. Penal Liberalisation, its Impact, and Current Trends . . . 903
Pablo Galain Palermo
A Difficult Relationship: Coexistence Between a Regulated Cannabis Market
and a Prohibitionist Banking Policy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 917
Georgi Glonti
Decriminalization of Drug-Related Crimes in Georgia. Legal Approaches and
Comparative Analyses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 933
Effi Lambropoulou
Juvenile Delinquency in Greece. An Analysis of Prevention Mechanisms . . . . 975
Dietrich Oberwittler und Dominik Gerstner
Eine sozialräumliche Perspektive auf den Kriminalitätsrückgang. Die Ent-
wicklung der Jugenddelinquenz in Köln nach den MPI-Schulbefragungen 1999
und 2011 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 993
Angelika Pitsela
Die Entwicklung des Jugendstrafrechts in Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013
Gerhard Spiess
Jugend als Strafschärfungsgrund? Zur Rechtswirklichkeit der jugendstraf-
rechtlichen Sanktionspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1035
Jing Lin
Juvenile Criminal Justice in Mainland China. Between Welfare and Justice . . 1049
Helena Válková
The Juvenile Justice System in the Czech Republic: Successes and Failures . . 1065
Gunda Wössner
Sexualstraftäter in sozialtherapeutischen Anstalten des Freistaates Sachsen.
Vergleichende Rückfallanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1207
Publikationsverzeichnis – List of Publications von/by Hans-Jörg Albrecht . . . . . . 1225
Autorinnen und Autoren – List of Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1275
Unterwegs in Kriminologie und Strafrecht
Ein Interview mit Hans-Jörg Albrecht
Hans-Jörg Albrecht wurde 1950 in Esslingen geboren. Er studierte von 1968 bis 1973
Rechtswissenschaft und Soziologie an den Universitäten Tübingen und Freiburg
i. Br. Im Jahr 1979 wurde er mit einer Arbeit zur Strafzumessung und Vollstreckung
bei Geldstrafen unter besonderer Berücksichtigung des Tagessatzsystems an der Ju-
ristischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg promoviert. Von 1976
bis 1991 war er wissenschaftlicher Referent am Max-Planck-Institut für ausländi-
sches und internationales Strafrecht, Freiburg i. Br. Im Jahr 1991 folgte die Habili-
tation mit der Arbeit “Strafzumessung bei schwerer Kriminalität – Eine vergleichen-
de theoretische und empirische Studie zur Herstellung und Darstellung des Strafma-
ßes”; dabei wurde ihm die Venia Legendi in Strafrecht, Jugendstrafrecht, Strafvoll-
zugsrecht und Kriminologie verliehen. Im März 1992 erhielt er einen Ruf auf eine
C3-Stelle für Strafrecht und Nebengebiete an die Universität Konstanz, wo er bis
zum Sommersemester 1993 unterrichtete. Im Juni 1993 nahm er den Ruf auf den
Lehrstuhl für Strafrecht, Jugendstrafrecht, Strafvollzugsrecht und Kriminologie an
der Technischen Universität Dresden an, wo er bis zum Wintersemester 1996/97 lehr-
te.
Im November 1995 erhielt Albrecht einen Ruf der Max-Planck-Gesellschaft an das
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht. Seit 1. März
1997 war er Direktor und Leiter der kriminologischen Abteilung und seit dem Win-
tersemester 1997/98 auch Honorarprofessor und Mitglied der Rechtswissenschaftli-
chen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Im April 2000 erhielt Al-
brecht den Status eines Gastprofessors am Institut für Strafrecht der China-Univer-
sität für Politik und Recht, Beijing, V.R. China, im April 2001 den eines Gastprofes-
sors an der Juristischen Fakultät der Universität Hainan, V.R. China, und im Januar
2004 den eines Gastprofessors an der Juristischen Fakultät der Renmin-Universität,
V.R. China. Seit Mai 2003 ist er Life Member am Clare Hall College der Universität
Cambridge, Vereinigtes Königreich, und seit Mai 2004 Professor und permanentes
Fakultätsmitglied der Rechtswissenschaftlichen Fakultät des Qom High Education
Center der Universität Teheran, Iran. Im März 2005 wurde ihm die Ehrendoktorwür-
de der Juristischen Fakultät der Universität Pécs, Ungarn, verliehen. Im Mai 2005
folgte die Ernennung zum Gastprofessor an der Juristischen Fakultät der Universität
Wuhan, V.R. China, im Mai 2006 zum Gastprofessor an der Juristischen Fakultät der
Universität Beijing (Beijing Normal University), V.R. China, und im Mai 2008 erneut
zum Gastprofessor an der China-Universität für Politik und Recht. In Würdigung sei-
ner Verdienste bei der Entwicklung der ungarischen Kriminologie und Kriminalpo-
14 Interview mit Hans-Jörg Albrecht
litik wurde Albrecht im Mai 2010 zum Ehrenmitglied der Ungarischen Gesellschaft
der Kriminologie ernannt. Im September 2010 berief ihn die Serbische Kriminolo-
gische Gesellschaft ebenfalls zum Ehrenmitglied. Im Mai 2012 wurde ihm die Eh-
rendoktorwürde der Grigol-Robakidze-Universität Tiflis, Georgien, verliehen, im
Juni 2013 eine Ehrenprofessur der Maria-Curie-Skłodowska-Universität Lublin,
Polen. Im September 2013 erhielt er den Academic Honor Award des dritten inter-
nationalen Crime & Punishment Film-Festivals in Istanbul, Türkei, für seine weg-
weisenden Beiträge zur kriminologischen Forschung zu Kindern und Jugendlichen.
Es folgten die Ehrendoktorwürde der Law Enforcement-Universität Ulan Bator,
Mongolei (September 2016), sowie die Ehrendoktorwürde der Technischen Univer-
sität Tiflis, Georgien (Mai 2017). Ebenfalls im Mai 2017 wurde er für seine Verdiens-
te um die deutsch-chinesische akademische Zusammenarbeit und Lehre mit dem
„2016 International Educator in China Award“ des Information Research Center
of International Talents bei der State Administration of Foreign Experts Afairs
(SAFEA) der V.R. China ausgezeichnet und im November desselben Jahres mit
dem Carlos Lloyd Braga Chair 2017 der Minho Universität in Braga, Portugal.
Seit Februar 2018 ist Hans-Jörg Albrecht Direktor Emeritus an dem mit Amtsantritt
des neuen Direktoriums inhaltlich komplett neu ausgerichteten und umbenannten
Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht.
Lieber Hans-Jörg, Du hast sowohl Jura als auch Soziologie studiert. Wie würdest Du
aus heutiger Sicht das Verhältnis der beiden Disziplinen für Deinen Werdegang be-
schreiben? War eine der beiden Disziplinen wichtiger oder war es ausschlaggebend
für Dich, beide zu beherrschen?
Ja, ich denke schon, dass beide beherrscht werden müssen. Es handelt sich um un-
terschiedliche Perspektiven, die nur schwer zusammengeführt werden können. Auf
der einen Seite die normative Perspektive, die im Wesentlichen auf Diskurse ausge-
richtet ist und die Frage was richtig und was nicht richtig ist: die sog. ,wrongs‘, Un-
recht und Recht. Auf der anderen Seite die sozialwissenschaftliche Perspektive, die
natürlich vom Ansatz her sehr stark darauf zielt, Zusammenhänge zu beobachten und
zu verstehen. Das schließt selbstverständlich mit ein, dass deutliche Berührungs-
punkte zwischen beiden Perspektiven vorhanden sind, weil die Ansatzpunkte für
eine Soziologie des Strafrechts oder eine Soziologie abweichenden Verhaltens
eben Normen sind. Diese enge Verbindung wurde in Deutschland in den 1970er Jah-
ren hervorgehoben und hat dazu geführt, dass die Sozialwissenschaften stärker in die
Rechtswissenschaften eingeführt worden sind: mit Ansätzen an den Universitäten in
1
Persönliches Interview, das Michael Kilchling und Gunda Wössner im August 2020 mit
Hans-Jörg Albrecht geführt haben.
Unterwegs in Kriminologie und Strafrecht 15
Bremen und Hamburg und natürlich auch am Max-Planck-Institut (MPI) hier in Frei-
burg. Damit wurde etwas geschaffen, das, wie ich denke, auch heute nichts von seiner
Bedeutung eingebüßt hat, nämlich die Integration der unterschiedlichen Perspekti-
ven. Das hat dazu beigetragen, dass Normen als das betrachtet werden, was sie ei-
gentlich auch sind: Etwas, das gesellschaftlich produziert wird und eine soziale Er-
scheinung darstellt, die erklärt werden kann und im Hinblick auf Entstehung, An-
wendungspraktiken und Konsequenzen auch erklärt werden muss. Um die Ver-
schränkung von juristischen und soziologischen Fragestellungen einigermaßen
erfassen zu können, ist es notwendig, dass sozialwissenschaftliche Theoriebestände
und Methoden ebenso berücksichtigt werden wie normative Zugänge.
Das bringt uns zu der nächsten Frage, die ursprünglich darauf gerichtet war, wie Du
die Bedeutung von Theorie und Empirie in der Kriminologie gewichten würdest; ei-
gentlich müssen wir jetzt noch die Normativität als weiteren Aspekt berücksichtigen.
Vielleicht noch ergänzend: Kann man nur Theoretiker sein – ohne empirische Fun-
dierung?
Das geht natürlich, und die Freiburger Kriminologie ist ein ziemlich gutes Beispiel
dafür. Auf der einen Seite sehen wir die juristische Fakultät mit der strafrechtswis-
senschaftlichen Perspektive, stets auch mit einer theoretischen Orientierung, auf der
anderen Seite das soziologische Institut, das in der Tradition von Popitz und Dux we-
niger auf quantitative empirische Forschung ausgerichtet war und auch heute im
Grunde noch nicht ist. Der Schwerpunkt liegt dort bei qualitativen Ansätzen, die we-
niger auf systematische Datenerhebungen ausgerichtet sind. Die quantitative For-
schung ist dann eher am MPI angesiedelt, das, jedenfalls mit seiner ursprünglichen
Forschungskonzeption, die anderen Traditionen jeweils mit aufnimmt.
Und wo würdest Du Dich selbst verorten?
Ich würde mich eher bei den quantitativen Ansätzen einordnen, weil das zunächst, so
denke ich jedenfalls, ein Zugang ist, der eine einigermaßen realistische Einordnung
dessen ermöglicht, was im relevanten Beobachtungsfeld passiert. Natürlich sind
auch qualitative Zugänge wichtig, vor allem wenn es um die Fragen geht, wie Ak-
teure Situationen verstehen, warum sie handeln, und so weiter – das lässt sich quan-
titativ natürlich weniger gut einschätzen. Und diese qualitativen, verstehenden Zu-
gänge werden umso bedeutsamer, je mehr es um die Erfassung von Situationen
oder Phänomenen geht, bei denen Quantität keine Rolle spielt, Phänomene der orga-
nisierten Kriminalität oder des internationalen Terrorismus, wie beispielsweise der
sog. Islamische Staat. Aktivitäten des Islamischen Staats können natürlich auch par-
tiell aus einer quantitativen Perspektive erfasst werden, aber seine Entstehung, die
Entwicklung und unter Umständen die weitere Fortsetzung – all dies ist allein mit
einem qualitativen Zugang erfassbar. Im Kern geht es hier um Verstehen und die Ein-
ordnung.
16 Interview mit Hans-Jörg Albrecht
Wann hast Du eigentlich angefangen zu forschen und was hat Dich dazu bewogen,
diese Richtung einzuschlagen als Jurist und Soziologe?
Das ist eine etwas knifflige Frage, die ich mir bereits vor einigen Jahren gestellt habe
in einem Beitrag für John Winterdyks Sammelband zu „Lessons from International/
Comparative Criminology/Criminal Justice“. Darin durften Kriminologen und Kri-
minologinnen erklären, warum sie sich der Kriminologie zugewandt haben. Bei mir
war das an sich eine relativ einfache Entwicklung, weil bereits mein Zugang zu den
Rechtswissenschaften nicht durch sehr viel Empathie geprägt war, sondern im We-
sentlichen durch eine pragmatische Entscheidung, die sehr stark darauf zurückzufüh-
ren ist, dass ich nach dem Abitur nicht wusste, was ich machen sollte. Ich war damals
bei der Berufsberatung in Esslingen, und nach der Auswertung meines Tests konnte
die Berufsberaterin anscheinend keine eindeutige Präferenz erkennen und meinte mit
einem leichten Kopfschütteln: „Das Beste wird sein, Sie studieren Jura. Danach
haben Sie die meisten Optionen“. Und das habe ich tatsächlich zum Anlass genom-
men, Jura zu studieren. Was mir an sich keine großen Schwierigkeiten gemacht hat;
und ehrlich gesagt war es auch relativ langweilig, jedenfalls habe ich das Reizvolle
daran seinerzeit (noch) nicht gefunden. Auch mit den Berufsbildern, die damit primär
verbunden waren, also Richter, Staatsanwalt, Verwaltungslaufbahn oder Rechtsan-
walt, konnte ich mich nicht anfreunden. Das hat natürlich meine Entscheidung,
mit Soziologie weiterzumachen, beeinflusst. Dies wurde durch den Umstand beför-
dert, dass ich nach dem ersten Staatsexamen das Angebot von Günter Kaiser für eine
Mitarbeit am MPI bekam. Dadurch konnte ich beide Disziplinen gut kombinieren.
Die Fragestellungen, die damals hier gerade bearbeitet worden sind, waren allesamt
neu und interessant: Dunkelfeldstudien wie die Emmendinger Jugendbefragung, die
Rolle der Staatsanwaltschaft in der strafrechtlichen Sozialkontrolle und Betriebsjus-
tiz. Ich habe mich dann auch bei den Soziologen relativ viel mit Fragen in Zusam-
menhang mit Devianz befasst. Prägend waren dabei auf der einen Seite Trutz von Tro-
tha, dessen Zugang mir immer sehr gut gefallen hat, und Baldo Blinkert, der für
meine methodische Ausbildung (Einführung in SPSS, Statistik, usw.) wichtig war.
Das hat letztlich dazu geführt, dass ich mich für diese Schiene entschieden habe.
Du warst ja insgesamt sehr lange am MPI. Welche Bedeutung hatten denn dann die
beiden Zwischenstationen Konstanz und Dresden? Hat die Zeit dort nachhaltige Spu-
ren hinterlassen?
Ach, die Zeit in Konstanz war sehr stark strafrechtlich geprägt. Ich habe damals im
Strafrecht den Allgemeinen Teil gelehrt und auch in Dresden Strafrecht Allgemeiner
Teil mit den dazugehörenden Übungen samt Prüfungen. Neben der Lehre im Schwer-
punkt habe ich dann auch hier in Freiburg Staatsexamensprüfungen weiter gemacht,
bis zum letzten Jahr. Am Anfang habe ich das ganz gerne gemacht, das war etwas
Neues. Ich musste eine Vorlesung aufbauen und mich in Wissens- und Verständnis-
vermittlung versuchen. Aber nach zwei, drei Jahren hat mich das etwas gelangweilt,
muss ich zugeben. Ich verstehe Dogmatik und habe den inneren Zugang dazu; aber
ich konnte mich dafür nie begeistern. Ich habe sogar manchmal versucht dazu zu
schreiben, und manchmal ist es mir vielleicht auch gelungen.
Unterwegs in Kriminologie und Strafrecht 17
Das Besondere an der Zeit in Dresden war ja dann diese Umbruchs- und Aufbauzeit:
War da irgendetwas anders als an westdeutschen Universitäten?
Was die Ausbildung anging, überhaupt nicht. Als ich nach Dresden kam, 1993, war
an sich der wesentliche Teil des Aufbaus schon erledigt. Damals waren Knut Ame-
lung und Günter Heine ebenfalls noch in Dresden. Der gesamte Lehrkörper der Ju-
ristischen Fakultät war aus dem Westen importiert, wie überall in der ehemaligen
DDR. Daher gab es an sich keine großen Unterschiede.
Und die Atmosphäre mit den Studierenden?
Dresden war immer beliebt. Es waren ja junge Leute, ich hatte nie Probleme mit
ihnen und sie auch nicht mit mir. Der Aufbau hat sich noch etwas niedergeschlagen
in der umfangreichen Renovierungstätigkeit. Die alten Hörsäle sind erst nach und
nach hergerichtet und modernisiert worden, das war weniger angenehm. In Dresden
haben mir Universität und Stadt aber gut gefallen. Es waren insgesamt dreieinhalb
oder vier schöne Jahre. Den Erstwohnsitz habe ich allerdings immer hier in Freiburg
behalten, auch weil sich abgezeichnet hat, dass ich die Direktorenposition am MPI
als Nachfolger von Günther Kaiser einnehmen werde.
Und welche Forschungsschwerpunkte lagen Dir jetzt rückblickend besonders am
Herzen?
Was ich schon in Konstanz begonnen hatte, war die Beschäftigung mit Schattenwirt-
schaften und vor allem der Drogenwirtschaft. Teilweise auch in Zusammenarbeit mit
den französischen Kolleginnen und Kollegen. Daraus entstand dann auch das Labo-
ratoire Européen Associé (LEA), das insgesamt über zwölf Jahre lief. Ein For-
schungsschwerpunkt war auch in diesem Verbund der Bereich Schattenwirtschaften.
An dem Thema war neben den französischen Kriminologen und Kriminologinnen
und Sozialwissenschaftlerinnen auch die englische Kriminologie interessiert, was
in den Band zur „Informal Economy“ mündete, den ich zusammen mit Joanna Shap-
land herausgegeben habe. Ihre Einbindung in den französischen Zirkel war an sich
eine relativ seltene Konstellation gewesen, und daraus entstand ein sehr gutes Projekt
über Schattenwirtschaften in der Großstadt. Diese Thematik hat sich im Grunde
durch meine Zeit als aktiver Forscher hindurchgezogen. Drogen interessieren
mich auch heute noch – nicht als Substanz, sondern als Gegenstand der Untersuchung
[lacht].
Was wären zentrale Einsichten, die Du gewonnen hast im Laufe der forscherischen
Laufbahn?
Eine zentrale Einsicht hat sich an sich schon früh festgesetzt, und zwar, dass Straf-
recht und Strafjustiz als Kontrollsysteme große Bedeutung haben. Auf der einen
Seite, weil sie Gesellschaften mitformen. Auf der anderen Seite ist es mir nicht ge-
lungen, irgendein Feld oder irgendeinen Bereich zu identifizieren, in dem die Set-
zung von Strafrecht bzw. die Verstärkung oder Reduzierung von Strafrecht irgend-
welche bedeutsamen Folgen gehabt hätte. Darin ist ein gewisser Widerspruch enthal-
ten, der schlecht aufgelöst werden kann. So würde ich einerseits nicht vorschlagen,
18 Interview mit Hans-Jörg Albrecht
das Strafrecht abzuschaffen, weil dann mutmaßlich Folgen eintreten würden, die
nicht sonderlich erstrebenswert sind. Anderseits wäre meine Schlussfolgerung für
die weitere Fortentwicklung von Kriminalpolitik und Strafrecht, dass Strafrecht
und Strafe jedenfalls nur sehr zurückhaltend als Instrument der Sozialkontrolle ge-
nutzt werden sollten. Denn – und das wird natürlich auch aus vergleichenden Ansät-
zen sichtbar – unabhängig davon, wie viele Menschen ins Gefängnis gehen, oder für
wie lange sie im Gefängnis bleiben: Was dann im Ergebnis in Form der Kriminali-
tätsbelastung in einer Gesellschaft beobachtet werden kann, unterscheidet sich nicht
sonderlich. Das wird besonders deutlich in den unterschiedlichen Feldern der Schat-
tenwirtschaften: Wenn Menschen nach Drogen oder nach Waffen oder nach sonst ir-
gendetwas fragen, dann wird diese Nachfrage bedient. Es ist nur eine Frage des Prei-
ses. Deshalb ist gerade die Drogenpolitik ein besonders interessantes Feld, weil man
sehen und beobachten kann, dass sich im Laufe der letzten sechzig Jahre seit der Ein-
heitskonvention von 1961, mit der die heutige Drogengesetzgebung ihren Anfang
nahm, nichts wirklich verändert hat. Die Preise für verschiedene Drogen sind relativ
stabil geblieben, und Kokain ist heute sogar billiger als vor zwanzig, dreißig Jahren.
Was sich freilich verändert hat, ist die Zusammensetzung der Population in den Ge-
fängnissen.
Hier kommt noch etwas ins Spiel, das hat mich gerade in den letzten Jahren wieder
mehr beschäftigt: Immigration und Kriminalität sowie strafrechtliche Sozialkontrol-
le. Es deutet alles darauf hin, dass durch Immigration keine Mehrbelastung im Hin-
blick auf Kriminalität entsteht. Dazu gibt es in den letzten Jahren in westlichen Län-
dern auch immer mehr Untersuchungen. Das ist freilich nur die eine Seite. Auf der
anderen Seite ist zu konstatieren, dass in den Gefängnissen – egal ob in Frankreich,
England, Deutschland oder den Niederlanden – zu einem erheblichen Teil Menschen
inhaftiert sind, die entweder ausländische Staatsangehörige sind oder jedenfalls
einen Migrationshintergrund haben und damit Minderheiten angehören. Der Straf-
vollzug hat sich ethnisiert und damit auf eine Art und Weise verändert, die nach
den Gründen fragen lässt. Offensichtlich hat sich die Zusammensetzung der sozial
Randständigen verändert. Das stellt auch einen ganz wesentlichen Unterschied zu
den USA dar. Auch wenn Trump etwas anderes behauptet, spielt die Immigration
dort für die Kriminalitätsbelastung und die Gefängnisse keine große Rolle. Gerade
die größten Immigrantengruppen, aus Lateinamerika und Asien, sind an gesellschaft-
lichem Fortkommen und Aufstieg interessiert, möchten Geld verdienen und würdig
leben. Daher sieht man in den USA eine andere Zusammensetzung der Gefängnis-
insassen, was im Übrigen auch auf kriminalpolitische Entscheidungen zurückgeht. In
den amerikanischen Gefängnissen sind insbesondere Afroamerikaner überrepräsen-
tiert und eben nicht Immigranten. Was sich in europäischen Gefängnissen abzeichnet
– und das ist ein gutes Feld, um Veränderungen zu beobachten –, ist eine Konzentra-
tion von Personen mit Migrationshintergrund, Einwanderer aus der Türkei, aus Afri-
ka oder aus arabischen und nordafrikanischen Ländern. Diese Veränderungen, denke
ich, sollten in der Zukunft in der kriminologischen Forschung eine Rolle spielen, bei-
spielsweise bei der Untersuchung, welche Auswirkungen die Immigration und die
Unterwegs in Kriminologie und Strafrecht 19
gen, dass sich die Verbindung zwischen Deutschland und Iran stärker entwickelt hat.
Was Südamerika betrifft, dort bin ich aktuell immer noch mit mehreren Forschungs-
projekten in Kooperation mit Pablo Galain aktiv. Hier geht es erstens um Fragestel-
lungen im Kontext mit der Legalisierung von Marihuana und Drogenmärkten in Süd-
amerika und zweitens um die Frage der Gewalt. Südamerika ist ja im internationalen
Vergleich eine Region, in der tödliche Gewalt in besonderem Maße ausgeprägt ist.
Schließlich ist die dortige Entwicklung der empirischen Kriminologie von Interesse.
Eine empirische Kriminologie wollen wir jetzt in Santiago de Chile ansiedeln, im
Sinne einer Kriminologie, die sich nicht bloß theoretisch und normativ präsentiert
– wie das in Südamerika derzeit teilweise noch der Fall ist –, sondern als eine em-
pirische Wissenschaft, die auf systematische Erhebung von Daten zielt, mit denen
Kriminalpolitik kritisch begleitet werden kann. Auch die Beziehungen in den eng-
lischsprachigen Raum, insbesondere Nordamerika und England, waren recht gut.
Wichtig war mir darüber hinaus auch die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit
den Ländern der früheren Sowjetunion. Dabei spielte natürlich die Ukraine eine be-
sondere Rolle, vor allem auch durch meine Mitwirkung in der Timoschenko-Mission
der Europäischen Union, die fast zwei Jahre gedauert hat. Diese Aufgabe war auch
deshalb interessant, weil ich da ganz nah an der Politik war; das hatte mit Recht ei-
gentlich nur am Rande zu tun [lacht]. Letzten Endes ging es um politische Ausein-
andersetzungen, die mit Mitteln des Strafrechts ausgetragen worden sind. Basierend
auf Vorwürfen, die hier nicht einmal für einen Bußgeldbescheid ausgereicht hätten.
Dennoch hat jeder Richter sofort Haftbefehle unterschrieben.
Nicht zuletzt will ich die Balkan Criminology Group nennen, die als Partnergruppe
der MPG entstanden ist und der es gelungen ist, verschiedene kriminologische Pro-
jekte in der Balkan-Region anzustoßen und durchzuführen. Sie ist mit großem Erfolg
aktiv, wobei ich nicht nur auf die Implementierung empirischer Projekte abstelle,
sondern auch auf die erfolgreiche Schaffung eines kriminologischen Netzwerkes,
das heute fast ganz Südosteuropa abdeckt.
Jetzt hast Du es schon angesprochen: China. Wie würdest Du auf der Grundlage Dei-
ner reichen Erfahrung heute die politische Entwicklung in China und ihre Auswir-
kungen auf die Wissenschaft einschätzen? Aktuell gerade auch mit Blick auf Hong-
kong?
Das ist schwierig. Ich würde grundsätzlich trennen zwischen der allgemeinen Ent-
wicklung in China und der besonderen Entwicklung in Hongkong. Die allgemeine
gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung hat China in den letzten zwanzig,
dreißig Jahren deutlich verändert. Vor allem ist allerdings in den letzten Jahren der
Zugriff der Kommunistischen Partei auf fast alle Lebensbereiche wieder sehr viel in-
tensiver geworden, obwohl – und das muss man stets berücksichtigen – Freiheitsräu-
me immer noch vorhanden sind. Insbesondere können die Menschen reisen. Es gibt
in Festland-China selbst auch – mit einigen Ausnahmen – keine Diskussionsverbote.
Die Ausnahmen betreffen vor allem die territoriale Einheit. Deshalb ist Hongkong
(im Übrigen auch Taiwan und Tibet) für die Zentralregierung in Peking von so großer
22 Interview mit Hans-Jörg Albrecht
ten, das Andere. Und solange die chinesische Führung es schafft, für jedenfalls einen
bedeutsamen Teil der Bevölkerung Wohlstand zu garantieren und Entwicklungs-
chancen sichtbar zu machen, solange werden die meisten Chinesen – jedenfalls
habe ich diesen Eindruck – keine Probleme mit dem politischen System sehen. Ähn-
liches sieht man ja auch im Iran. Die Iranerinnen und Iraner machen Witze über ihre
Führung – was natürlich auch nicht schwer fällt bei diesem Personal. Im Übrigen ar-
rangieren sie sich, ungeachtet des immer weiter sinkenden Lebensstandards.
Aber was sind das für Lebensstandards?
Das ist natürlich ein weiteres grundsätzliches Problem solcher Systeme. Wenn man
das zurückbindet auf kriminologische Fragestellungen, wird diese Problematik an
sich schon in der Anomietheorie aufgegriffen. Die Anomietheorie, entwickelt in
den USA, besagt im Kern ja auch, dass die politische Stabilität im Großen und Gan-
zen solange aufrechterhalten werden kann, wie es der Mittelschicht gelingt, den Le-
bensstandard im Wesentlichen zu erhalten und vor allem jungen Menschen Chancen
zu bieten. Probleme entstehen dann, wenn auch in der Mittelschicht anomische Zu-
stände auftreten. Und damit, denke ich, sind auch Fragestellungen aufgeworfen, die
etwas wegführen von der Kriminologie selbst und die Entwicklung sozialer Struktu-
ren, gesellschaftlicher Zustände und so weiter betreffen. In die natürlich auch Krimi-
nalität eingebettet ist. Etwas, das in kriminologischen Perspektiven immer auch mit
enthalten ist, ist die Frage von Umwälzung und Veränderung. An welchen Punkten
kommt es zu einem Zustand, in dem Menschen einfach sagen: Es reicht jetzt, wir
machen nicht mehr mit. Das führt zu einer interessanten Frage, die mich seit den
1970er/80er Jahren beschäftigt hat: Unter welchen Bedingungen werden Strafnor-
men abgeschafft? Am MPI wurde das detailliert im Zusammenhang mit dem
Schwangerschaftsabbruch bearbeitet. Was mir von damals immer noch in Erinne-
rung ist, ist das berühmte Stern-Coverbild „Wir haben abgetrieben“. Eine offene An-
sage: Wir haben Normen verletzt – und was jetzt? Die Reaktion war interessant –
passiert ist nämlich nichts. Angesprochen wird damit eine Fragestellung, zu der
ich viel von Trutz von Trotha gelernt habe. Trutz hat zu diesem Punkt, nämlich
Norm und Sanktion, lange gearbeitet. Was bedeuten Sanktion und Bestrafung?
Die deutsche Justiz verhängt momentan, glaube ich, ca. 700.000 Kriminalstrafen
pro Jahr. Trotzdem herrscht gesellschaftlich Ruhe. Ganz offensichtlich gelingt es
unter bestimmten Bedingungen zu strafen, ohne dass große Aufregung entsteht.
Es existieren Gefängnisse, viele Menschen werden bestraft, alle haben sich daran ge-
wöhnt, und das Leben geht seinen gewohnten Gang. Das war und ist nicht immer so,
und es ist auch nicht überall so. In Afghanistan oder Somalia sieht es ganz anders aus.
Daher betreffen Sanktionen und ihre Folgen einen wichtigen Punkt: Unter welchen
Bedingungen gelingt es, Strafe so erscheinen zu lassen, dass sie (jedenfalls von den
meisten) als legitim akzeptiert wird und nicht als Unrecht, auf das wiederum mit
Sanktionen reagiert werden muss.
24 Interview mit Hans-Jörg Albrecht
Jetzt haben wir noch zwei Schlussfragen in diesem ersten Block: Welche Bedeutung
hatte die Lehre und der wissenschaftliche Nachwuchs in Deiner Arbeit?
In Konstanz und in Dresden stand die Lehre natürlich im Mittelpunkt. Das waren zwi-
schen acht und zehn Stunden die Woche, einschließlich Seminaren. Diese Last hat
sich etwas reduziert am MPI in Freiburg. Dafür haben Doktorandinnen und Dokto-
randen natürlich eine größere Bedeutung, vor allem auch in Form der „International
Max Planck Research Schools“, bekommen. Und das waren eben nicht wenige. Sehr
viele Fragestellungen können nur in Form einer Dissertation bearbeitet werden, und
da war ich eigentlich immer sehr gut ausgelastet. Das sieht man ja auch an der großen
Zahl der Dissertationen am Institut.
Und wer hat Dich wissenschaftlich geprägt?
Das sind ganz unterschiedliche Personen gewesen, wobei ich jetzt nicht eindeutige
Prioritäten setzen könnte. Das war auf der einen Seite natürlich Günther Kaiser. Von
Kaiser habe ich das systematische Vorgehen gelernt. Also nicht nur beim ersten Li-
teraturhinweis stehen zu bleiben, sondern ganz systematisch zu recherchieren, wer
beschäftigt sich mit welchen Fragestellungen, und welche Unterschiede bestehen
und wie kann man sie einordnen. Dieses systematische Vorgehen beinhaltet eine brei-
te Suche, die Psychiatrie ebenso wie Sozialwissenschaften, Ökonomie, Strafrecht
oder Politikwissenschaft einschließt. Sobald eine Publikation irgendeinen Bezug
hatte zu einem meiner Themen, habe ich dies aufgegriffen. Das ist jetzt mit der Di-
gitalisierung natürlich auch zunehmend leichter geworden. Sie hat den schnellen Zu-
gang zu den unterschiedlichsten Zeitschriften und Zeitungen und sonstigen Quellen
möglich gemacht. Von Baldo Blinkert habe ich viel gelernt im Zusammenhang mit
Statistik. Er hat mir mit viel Verständnis in seinen Kursen den Zugang zu statistischen
Verfahren und ihrer Interpretation leicht gemacht. Etwas, was mir sofort eingeleuch-
tet hat, war das Prinzip „garbage in, garbage out“: Sobald du Mist eingibst in ein Sta-
tistikprogramm, kann nur Mist herauskommen. Statistik per se macht nichts besser.
Das Andere war der praktische Umgang mit den Statistikpaketen wie SPSS, die sehr
viel anbieten, feinste Detailanalysen. Im Endeffekt können aber Zusammenhänge
auch ganz einfach an den Grunddaten und ihren Verteilungen erkannt werden. Des-
halb ist das Erste, was man machen sollte, stets der einfache Blick auf diese Grund-
verteilungen. Einfache Zugänge sind unter Umständen wirksamer als „very sophis-
ticated statistics“.
Und historische Figuren? Klassische Kriminologen? Kriminologinnen?
Natürlich kommen noch einige weitere Personen dazu. Wie schon gesagt, Trutz von
Trotha, von dem habe ich viel gelernt. Allerdings auch Popitz. Er hat viel mit krimi-
nologischem Bezug geschrieben, und es hat mich immer überzeugt. Ebenso Spittler.
Im Bereich des Strafrechts haben mich vor allem zwei Personen überzeugt (womit
ich freilich niemanden aus dem Kollegenkreis ausschließen möchte). Das war zum
einen Jakobs. Er hat als Einziger, denke ich, den Versuch unternommen, eine syste-
matische und auf eine Theorie aufgebaute Dogmatik zu entwickeln. Und die Grund-
lage ist eine soziologische Theorie. Nach meiner Einschätzung ist sein Ansatz der
Unterwegs in Kriminologie und Strafrecht 25
Das leitet jetzt über zum zweiten Themenblock zur Entwicklung der Kriminologie in
Deutschland und weltweit. Was waren bahnbrechende Entwicklungen in Deiner Zeit,
theoretisch, inhaltlich, methodisch?
Theoretisch am wichtigsten war, denke ich, die Entwicklung des Konzepts informel-
ler Sozialkontrolle und damit im Zusammenhang auch die Selbstkontrolle. Das ist
ein Ansatz, der auf der einen Seite die unmittelbare Nachbarschaft wie auch größere
soziale Strukturen und einzelne Personen zusammenfassen lässt. Auf der anderen
Seite enthält die Selbstkontrollüberlegung zusammen mit der informellen Sozialkon-
trolle natürlich auch eine Verbindung zwischen psychologischen Konzepten, psycho-
analytischen Konzepten und soziologischen Ansätzen. Darüber kann man ferner
auch normative Konzepte legen, denn diese Vorstellung von Selbstkontrolle ist dar-
auf ausgerichtet, wie sich Vorstellungen über sich selbst entwickeln und welche Be-
deutung dieses Selbst auf der Entscheidungsebene bekommt. Dafür sind natürlich
informelle Systeme verantwortlich, Eltern, Nachbarschaft, Schule, usw., alles wich-
tige Sozialisationsinstanzen, die die Menschen in der Entwicklung, im Großwerden,
begleiten. Und das führt letztlich auch dazu, dass die eigentlich interessanten Fragen
darin bestehen, wie man es schafft, Menschen ein Selbstbild zu vermitteln, das ihnen
ermöglicht Entscheidungen, und zwar möglichst die richtigen Entscheidungen, zu
treffen. Dazu gab es in den letzten zwanzig, dreißig Jahren auch ganz interessante
Entwicklungen in der Verhaltensökonomie wie auch in der Psychologie, die darauf
ausgerichtet sind festzustellen, an welchem Punkt ein Mensch sagt, „Das mache ich
nicht, weil das nicht zu mir passt. Das kann ich mit meiner Vorstellung von mir selbst
26 Interview mit Hans-Jörg Albrecht
nicht vereinbaren“. Und die Frage, wie das mit dem Lernverhalten und deviantem
Verhalten zusammenhängt, ist natürlich deshalb so interessant, weil Menschen
dazu fähig sind, normative Forderungen mit diesem Selbst zusammenzubringen.
In dem System steckt natürlich auch eine gewisse Elastizität, sodass die individuelle
Entscheidung auch lauten kann: „Naja, wenn ich das jetzt mache, dann ist das an sich
doch nicht so schlimm.“ Es geht in dem Bereich also auch um Rechtfertigungssys-
teme. Und Rechtfertigungsmöglichkeiten sind offensichtlich dann leichter verfüg-
bar, wenn Normen oder darin enthaltene Begriffe elastisch sind. Steuerhinterziehung
oder Trunkenheitsfahrten sind gute Beispiele. Niemand hat ein Alkoholmessgerät bei
sich, und wenn jemand zwei oder drei Biere trinkt, sind es vielleicht doch nicht ganz
0,5 Promille, sondern nur 0,49. Das können wir in einem Personenkreis finden, der
niemals volltrunken fahren würde. Oder wenn es um Steuerhinterziehung geht oder
Versicherungsangelegenheiten oder Mogeln in anderen Kontexten. Ich denke, die
Ansätze in diesem Bereich sollten weiterentwickelt werden, weil sie gerade im Zu-
sammenhang mit der Selbstkontrolle Bedeutung haben und uns im Übrigen auch
Auskunft geben über unsere Vorstellungen von Normen oder wie Normen beschaffen
sein sollten. In dem Konzept der informellen Sozialkontrolle sehe ich noch einiges an
Entwicklungspotenzial. Fragen, die noch nicht sonderlich gut untersucht sind, betref-
fen etwa die Auswirkungen stabiler Nachbarschaften. Oder die Frage, wie sich über-
haupt so etwas wie eine funktionierende informelle Sozialkontrolle herstellen lässt
unter den Bedingungen der Postmoderne, die ja offensichtlich, wenn ich das richtig
sehe, mit einem kalkulierenden Menschen verbunden wird. Moderne heißt ja, dass
Freiheitsgrade erhöht werden. Ich muss nicht mehr auf vieles Rücksicht nehmen;
was meine Nachbarn sagen, ist mir im Prinzip egal, in der Kirche bin ich sowieso
nicht, und Vereine sind mir auch egal, außer vielleicht der Schützenverein. Menschen
können also kalkulieren, weil das, was die anderen sagen, nicht mehr von großer Be-
deutung ist. Dadurch ergeben sich natürlich Veränderungen in den Bedingungen in-
formeller Sozialkontrolle wie auch für Selbstbilder. Wobei ich grundsätzlich davon
ausgehe, dass dieser kalkulierende Mensch der Mensch der Zukunft sein wird – ob-
wohl es diesen Menschentypen auch schon in der Vergangenheit gab. Dieser ist nicht
mehr sonderlich an Normen orientiert, sondern einfach an der Frage, welche Vorteile
habe ich von irgendeiner Entscheidung. Und das stimmt auch mit den meisten Post-
modernitätsüberlegungen überein, die davon ausgehen, dass Rücksichtnahme nicht
mehr existiere. Aber das stimmt nicht unbedingt. Menschen kalkulieren heute, denke
ich, genauso viel oder genauso wenig wie vor dreißig, vierzig, fünfzig Jahren. Wie
das zusammenpasst, dahinter bin ich auch noch nicht gekommen.
Welche Relevanz hat die deutsche Kriminologie in Europa und weltweit?
Das ist schwer zu beantworten. Die Kriminologie als Forschung zu Fragen von De-
vianz, Kriminalität, soziale Kontrolle, Strafrecht und so weiter hat sich nach meinem
Eindruck sehr ungleichmäßig entwickelt. Bis in das 20. Jahrhundert hinein lagen die
Schwerpunkte in Nordamerika, England, Skandinavien und dann in den Niederlan-
den, Deutschland und Frankreich. Seitdem hat sich etwas verändert; es gibt jetzt auch
entsprechende Ansätze – „Kriminologien“ – in Osteuropa, China, Japan, Südamerika
Unterwegs in Kriminologie und Strafrecht 27
sowie Afrika, insbesondere in Südafrika. Trotzdem sehe ich den Schwerpunkt nach
wie vor in den eingangs genannten „klassischen“ Kriminologie-Regionen. Speziell
Deutschland hat hier jedenfalls bis in die 1950er/60er Jahre, bezogen auf eine ätio-
logische Kriminologie, eine große Rolle gespielt. Das hat sich in den letzten zwanzig,
dreißig Jahren in vielerlei Hinsicht dadurch verändert, dass in Deutschland die Kri-
minologie nie eine institutionelle Verankerung erfahren hat. Kriminologie ist im We-
sentlichen an die rechtswissenschaftlichen Fakultäten angehängt und hat dadurch na-
türlich ein gewisses Handicap zu tragen, das darin besteht, dass die juristischen Fa-
kultäten sich im Wesentlichen ihrer Hauptaufgabe widmen, nämlich Juristinnen und
Juristen auszubilden. Kriminologie war, wenn man so will, spätestens seit den 1980er
Jahren, nachdem die Reform- und Integrationsüberlegungen vollkommen zerflossen
sind, nur noch ein Anhängsel. Das konnte man zwar ganz gut integrieren durch die
Schaffung der Schwerpunktbereiche mit ihrer Kombination von Strafrecht, Strafver-
fahrensrecht, Strafvollzug und Kriminologie. Sie hat aber keine selbstständige Rolle
mehr gespielt. Und auf der anderen Seite hat sich die Kriminologie als Fragestellung
und als Schwerpunktfach in der Soziologie und Psychologie nicht etablieren können.
Der Unterschied zu den Niederlanden, England, USA, Kanada, Australien, Südafrika
und vielen anderen Ländern liegt somit darin, dass dort Criminology ein selbststän-
diges Fach darstellt, mit Prüfungen und Examen und entsprechenden Berufswegen.
Diese Stellung hat sie hier eben nicht. Und die Entwicklungen der letzten fünfzehn
Jahren deuten darauf hin, dass die Bedeutung sowohl in der Psychologie als auch der
Soziologie und in der Rechtswissenschaft kontinuierlich weiter zurückgefahren
wird. Das wird deutlich an dem Abbau der Lehrstühle für Kriminologie. Neben
den kriminologischen Instituten bzw. Lehrstühlen für Strafrecht und Kriminologie,
deren Bestand im Kern noch vorhanden ist, hat sich eine Verselbstständigung erge-
ben. Wir haben heute nicht mehr als zwei oder drei Masterstudiengänge in Bochum,
Hamburg und Greifswald. Und was große Forschungszentren angeht, so gibt es außer
dem MPI in Freiburg, dem KFN in Hannover und der Kriminologischen Zentralstelle
in Wiesbaden nicht mehr viel.
Diese strukturelle Schwäche hast Du ja dann vor einigen Jahren aufgegriffen mit dem
Freiburger Memorandum. Hat das irgendwas bewirkt?
Ja, das war an sich ganz interessant. Es ist damals auf großes Interesse gestoßen, und
zwar vor allem aus dem Bereich der Universitäten, aber auch von Seiten der Polizei-
hochschulen, bei denen das Interesse an Kriminologie heute sehr deutlich ausgeprägt
ist. Inzwischen habe ich sogar den Eindruck, dass Kriminologie dort eine sehr viel
zentralere Bedeutung hat als an Universitäten. Aber insgesamt kann ich mir derzeit
nicht vorstellen, dass der Aufruf tatsächlich zu einer substanziellen Stärkung der Kri-
minologie führen wird.
Und wie verortest Du das ,alte‘ und das ,neue‘ MPI mit Blick in die Vergangenheit
und in die Zukunft?
Das MPI hat, denke ich, neben dem KFN nach wie vor das größte Potenzial im
deutschsprachigen Bereich. Das galt in der Vergangenheit und das wird sicher
28 Interview mit Hans-Jörg Albrecht
auch in der Zukunft so sein; unabhängig davon, wie sich die Forschungsschwerpunk-
te verändert haben und weiter entwickeln werden. Das hängt zu einem Gutteil mit den
vorhandenen Ressourcen zusammen, die, ähnlich wie in Hannover, so groß sind, dass
ich hier keinen Bedeutungsverlust erwarte. Als Ulrich Sieber und ich das Strategie-
papier an die Sektion zur Weiterführung des Instituts auch nach unserer Emeritierung
verfasst haben, hatten wir keine konkreten Vorstellungen zu dem künftigen For-
schungsprogramm. Ich bin jedenfalls optimistisch für die Zukunft, weil ich neben
einigen der langjährigen Forscherinnen und Forschern, die geblieben sind, auch
eine Reihe von jüngeren Leuten im Institut sehe, die, meine ich, das Potenzial
haben in den nächsten zehn, zwanzig Jahren hier Projekte durchzuführen und For-
schungsansätze zu verfolgen, die für die Fortführung der Kriminologie von Bedeu-
tung sind.
Gibt es neue Herausforderungen für eine zeitgemäße Kriminologie? Muss sie even-
tuell auch politischer werden?
Da habe ich meine Zweifel. Kriminologie sollte eher zurückhaltend agieren. Inhalt-
lich hat mich der Zusammenhang zwischen Politik und Kriminologie aber immer
sehr interessiert. Als ich als Mitarbeiter bei Kaiser hier angefangen habe – [schmun-
zelt] das ist schon lange her – hat er mich gleich zu Beginn auf eine deutsch-ameri-
kanische Tagung in Berlin geschickt – wahrscheinlich wegen der englischen Spra-
che. Es war meine erste Teilnahme an einer solchen Veranstaltung, bei der sehr be-
kannte Leute vorgetragen haben. Es ging um das Verhältnis von Politik und Wissen-
schaft und die Frage, ob Wissenschaft auf Politik Einfluss nehmen kann, Einfluss
nehmen soll. In bestimmten Fällen habe ich mich zu Politikberatung durchgerungen.
Ich sehe sie aber vor allem deshalb als problematisch an, weil die Fragen, die Poli-
tiker häufig stellen – soll man Sanktionen verschärfen, welchen Einfluss, welche
Wirkungen haben bestimmte Strafrechtsreformen etc. –, und die Antworten, die
sie in der Regel erwarten, nicht befriedigend behandelt werden können. Es gibt
schlicht keine Möglichkeit im Detail tatsächlich nachzuweisen, wie und in welchem
Umfang Sanktionen Effekte haben. Und von daher ist es, denke ich, auch nicht son-
derlich überzeugend, etwa Empfehlungen zu bestimmten Strafen abzugeben. Das
sind Entscheidungen, die müssen am Ende des Tages Parlamente und dann Gerichte
treffen. Ich kann dem Gesetzgeber als Wissenschaftler nur sagen, der erwünschte Ef-
fekt wird mutmaßlich nicht sichtbar sein oder so klein ausfallen, dass er jedenfalls
zum Einsatz in politischen Prozessen kaum taugt. Wissenschaft und Forschung soll-
ten daher eher zurückhaltend argumentieren. Das Trauerspiel um die Rolle der Vi-
rologen und Virologinnen in der Politik- und Öffentlichkeits-Beratung rund um
die Corona-Pandemie spricht in dieser Hinsicht ja auch Bände.
In Erinnerung bleiben wird mir auch immer eine Veranstaltung der Humboldt-Stif-
tung in Bamberg zu Strafrecht und Kriminalitätsentwicklungen. Es war zu Beginn
der 2000er Jahre, und damals war der allgemeine Rückgang der Kriminalität
schon abzusehen. Ich habe den Eingangsvortrag zu diesem Thema gehalten und
die vorgestellten Daten und Argumente zum Rückgang der Kriminalität begründet
Unterwegs in Kriminologie und Strafrecht 29
Abschließend haben wir noch einen kurzen Block zur Person. Wenn Du zurückschaust
wie Du aufgewachsen bist: Kindheit, Elternhaus – war Dir da irgendwas in die Wiege
gelegt? Das Interesse für Kriminalität, forscherische Neugier?
Das Einzige, womit ich sehr früh und auch sehr beständig angefangen habe: Lesen.
Kindgerechte Literatur natürlich, Lesen war mir sehr viel lieber als Spazierengehen.
Im Alter von acht, neun, zehn, elf Jahren habe ich sämtliche Karl May-Bände gele-
sen. Ich habe heute noch alle Bände – die müssten im Übrigen alle umgeschrieben
werden, eingedenk vieler problematischer Begriffe.
Gibt es irgendwelche Erfahrungen, die Dich in der Kindheit und Jugendzeit geprägt
haben?
Ich hatte eigentlich eine unbelastete Kindheit und Jugend. Ich komme ja aus einer
protestantischen Gegend, da war in jeder Hinsicht alles sehr homogen. Katholiken
gab es nicht, allenfalls ein paar vereinzelte. Und Ausländer sowieso nicht. In der
Klasse gab es vielleicht einmal einen Flüchtling, und der kam aus Ostpreußen
[lacht]. Aber er hat sich gut integriert. In dieser protestantischen Ecke wurde natür-
lich auch nicht Fasching gefeiert. Rosenmontag als gesellschaftliches Ereignis habe
ich erstmals erlebt, als ich zum Studium nach Freiburg kam.
Mit Blick auf dieses kulturelle Umfeld ist die nächste Frage umso interessanter. Wenn
wir an die berühmte Ubiquitätsthese denken: Erinnerst Du Dich an irgendwelche ei-
genen Jugendverfehlungen? Gab es das überhaupt?
Aber ja, selbstverständlich, das ist freilich immer zeitabhängig. An körperliche Aus-
einandersetzungen kann ich mich durchaus erinnern, im Rahmen dessen, was vor, in
oder nach der Schule üblicherweise stattfinden kann. Aber nichts von großer Bedeu-
tung. Nach 1968 kam dann auch Haschisch. Das war damals aber noch keine große
Geschichte. Die Problematisierung der Drogen hatte damals erst begonnen. Am An-
fang lag der Strafrahmen für Drogendelikte bei maximal drei Jahren. Hier hat sich
seither vieles verändert.
Was wäre denn damals ein typisches niederschwelliges Alltagsdelikt gewesen, ver-
gleichbar mit den heute verbreiteten illegalen Downloads?
Das sind völlig neue Entwicklungen, die mit technologischen und auch kulturellen
Veränderungen in Zusammenhang stehen. Heute sitzen junge Menschen viel mehr
vor dem Bildschirm und überlegen, wie sie sich die neuesten Filme oder Musiktitel
beschaffen können. Früher gab es dagegen viel mehr Gelegenheiten und Anlässe, auf
der Straße Dummheiten zu begehen.
Du hast gerade schon ein weiteres wichtiges Stichwort angesprochen: 1968. Wie hast
Du denn diese Zeit erlebt?
Ach [lacht], das war an sich ganz angenehm. Es gab in dieser Zeit tatsächlich große
Umwälzungen, die zu weitreichenden Reformen geführt haben. Die klassische Uni-
Unterwegs in Kriminologie und Strafrecht 31
versität ist damals untergegangen. Das hat etwa zu einem grundlegenden Umbau in
der Zusammensetzung der Gremien geführt. Die bis dahin üblichen universitären
Festlichkeiten mit Talaren und so weiter waren spätestens 1969 weitgehend ver-
schwunden. Diese Entwicklung ging sehr schnell, auch deshalb, weil der Protest
so vehement war, dass sich keiner der alten Ordinarien mehr getraut hat, zu einer
Vollversammlung in einer bis dahin akzeptierten Kleidung zu erscheinen. Ich
kann mich gut erinnern, dass in Tübingen noch einige Professoren in Amt und Wür-
den waren, die mit der NS-Ideologie verbandelt waren. Das Gleiche ereignete sich
natürlich auch hier in Freiburg, wo es ebenfalls immer wieder zu Demonstrationen
und Auseinandersetzungen an der Universität kam. Das setzte sich praktisch die gan-
zen 1970er Jahre hindurch fort, obwohl die konservative Grunderscheinungsform der
Universitäten wie gesagt relativ schnell verschwunden war. In einigen anderen Län-
dern wie etwa in Frankreich existieren traditionelle Rituale bei Prüfungen oder fest-
lichen Anlässen überraschenderweise ja fort. Dagegen haben sich die Universitäten
in Deutschland in dieser Hinsicht relativ schnell umgestellt. Das hat wahrscheinlich
auch damit zu tun, dass 1969 die sozialliberale Koalition zustande kam und eine all-
gemeine politische Reformära eingeläutet hat.
Wie kam es denn überhaupt zu dem Wechsel von Tübingen nach Freiburg während
Deines Studiums?
Nach Tübingen bin ich ursprünglich gegangen, weil es nicht weit weg von meiner
Heimatstadt Esslingen lag. Ich bin zwar nach Tübingen umgezogen, bin aber noch
häufig nach Esslingen gefahren, etwa zum Tennisspielen. Die Entscheidung, nach
Freiburg zu wechseln, wurde in meinem Kommilitonenkreis geboren. In der Grup-
pe haben einige überlegt, ob sie nicht nach Freiburg gehen sollten. Die Idee hat mir
gleich gefallen. Es lag etwas weiter weg, und Tübingen war doch ziemlich klein
und auch nicht so attraktiv. In Freiburg hat es mir dann von Anfang an gut gefallen.
Auf alten MPI-Fotos kann man sehen, dass es in Deinem Leben auch verschiedene
Mobilitätsphasen gab. Es gab erst eine Motorrad- und später eine Porsche-Phase.
War das auch mit Lebensphasen verbunden?
Ja, ich bin gerne Motorrad gefahren. Ich habe auch zweimal einen Porsche gekauft.
Das waren schöne Autos, mit denen ich gerne gefahren bin. Aber irgendwann war
mein Bedarf am Autofahren und mein Interesse an Autos dann am Nullpunkt. Ich
fahre jetzt nur noch in die Stadt und manchmal zum Flughafen.
Wie sehen Deine Pläne für die Zukunft aus? Wirst Du weiterhin reisen und Dich mit
Kriminologie befassen?
Also ich werde jetzt zunächst noch einige Vorhaben und nachlaufende Dissertations-
beurteilungen aus der MPI-Ära abschließen. Anschließend stehen einige neue Pro-
jekte in Südamerika an. Wenn die Grenzen wieder offen sind, werde ich auch einige
Aktivitäten in China wieder aufnehmen. Ich fühle mich also voll ausgelastet.
32 Interview mit Hans-Jörg Albrecht
Hans-Jörg Albrecht was born in 1950 in the southern German city of Esslingen. He
studied law and sociology at the University of Tübingen and subsequently at the Uni-
versity of Freiburg, where he received his doctorate in 1976. Between 1977 and 1991,
Hans-Jörg Albrecht worked as a research fellow at the Max Planck Institute for For-
eign and International Criminal Law in Freiburg. In 1991, he completed his habili-
tation in Freiburg on the topic of comparative sentencing practices in cases of serious
crime and received the venia legendi for criminal law, juvenile criminal law, prison
law, and criminology. In 1991, he was offered a professorship for criminal law and
criminology at the University of Konstanz. Two years later, Hans-Jörg Albrecht as-
sumed the Chair for Criminal Law, Juvenile Criminal Law, Prison Law, and Crim-
inology at the Technical University of Dresden, which he held until the end of the
winter semester 1996/97.
Hans-Jörg Albrecht’s return to Freiburg and the Max Planck Society was prompted
by his appointment as director at the Max Planck Institute for Foreign and Interna-
tional Criminal Law in November 1995. In this new role, he was to head the Institute’s
Department of Criminology and also join the University of Freiburg Law Faculty as
an honorary professor. A few years later he was awarded the status of guest professor
at the Institute for Criminal Law at the China University of Political Science and Law,
Beijing, China (2000), at the University of Hainan, China (2001), and the Faculty of
Law at Renmin University, China (2004). In 2003, he was bestowed the honor of a life
membership at Clare Hall College, University of Cambridge, United Kingdom, and
in 2004 he accepted a professorship and received permanent faculty membership at
the Law Faculty of the Qom Higher Education Center, University of Tehran, Iran. In
2005, he was awarded an honorary doctorate from the Faculty of Law of the Univer-
sity of Pécs, Hungary, followed by a guest professorship at the Faculty of Law of
Wuhan University, China (also in 2005), at Beijing Normal University, China
(2006), and, once again, at China University of Political Science and Law, Beijing,
China (2008). In 2010, he was appointed as an honorary member of the Hungarian
Society of Criminology in recognition of his activities in the development of crim-
inology and criminal policy in Hungary. In 2010, he was made an honorary member
of the Serbian Society of Criminology. In 2012, he was awarded an honorary doctor at
Grigol Robakidze University in Tbilisi, Georgia. During the 2013 International
Crime & Punishment Film Festival in Istanbul, Turkey, he received the festival’s Aca-
demic Honor Award for his lifetime contribution to criminological research on chil-
dren and youths. That same year he also accepted an honorary professorship at Maria
34 Interview with Hans-Jörg Albrecht
Hans-Jörg, you studied both law and sociology at university. From today’s perspec-
tive, how would you describe the relationship between the two disciplines for your
career? Was one of the disciplines more important or was it crucial for you to
have a strong command of both?
To be honest, I think that it was important to have a strong command of both. These
disciplines offer very different perspectives that are sometimes difficult to reconcile.
On the one hand, there is the normative perspective, which is essentially geared to-
wards discourse and the question of what is right and what is not right: so-called
wrongs. On the other hand, there is the social science perspective, which naturally
aims to observe and understand relationships. This perspective incorporates clear
points of contact between the two disciplines: after all, legal norms form the starting
points for a sociology of criminal law or a sociology of deviant behavior. This close
connection was emphasized in Germany during the 1970s and consequently led to
ideas from the social sciences being introduced more strongly into the law. Ap-
proaches at the universities of Bremen and Hamburg are of particular note in this re-
gard, and of course also the work conducted here at the Max Planck Institute (MPI) in
Freiburg. This eventually resulted in the creation of something that I think has lost
none of its importance today, namely the integration of the two different perspectives.
This integration has contributed to the fact that norms are seen for what they actually
are: something that is socially produced and represents a social phenomenon that can
be explained – and also has to be explained – in terms of origin, application practices,
and consequences. In order to be able to grasp the interlinking nature of legal and
1
Personal interview with Hans-Jörg Albrecht, conducted in August 2020 by Gunda
Wössner and Michael Kilchling. Translated into English by Christopher Murphy and Sarah
Schreier.
Exploring the World of Crime and Criminology 35
sociological questions, it is equally necessary that both social science theories and
methods as well as normative approaches be considered.
That brings us to our next question, which was originally about how you would weigh
the importance of theory and empiricism in criminology. Well, I guess now we actual-
ly have to consider normativity as a further aspect of this equation. Perhaps in ad-
dition: Can one only be a theorist – that is, conduct research without an empirical
foundation?
That’s absolutely possible and Freiburg criminology is indeed a pretty good example
of this. On the one hand, we have a university law faculty with a clear criminal law
perspective that has always had a strong theoretical orientation; on the other hand, we
have a sociological institute, which in the tradition of Popitz and Dux, has tradition-
ally been less oriented towards quantitative empirical research: this remains the case
to this day. The focus there is on qualitative approaches that are less geared towards
systematic data collection. Quantitative research is much more likely to be based at
the MPI, which, at least with its original research concept, incorporates the other tra-
ditions.
And where do you place yourself on the quantitative-qualitative spectrum?
I see myself more as an advocate of the quantitative approach, because I think, at least
initially, that this approach enables a reasonably realistic classification of what is
happening in the relevant field of observation. Of course, qualitative approaches
are also important, especially when it comes to questions of how actors understand
situations, why they act, and so on: this is less easy to assess quantitatively. And these
qualitative approaches become all the more important for understanding situations or
phenomena in which quantity does not play a role, such as in certain areas of organ-
ized crime or international terrorism (i. e., the so-called Islamic State). As an exam-
ple, the activities of the Islamic State can of course also be partially chronicled from a
quantitative perspective, but the organization’s origin, development, and – under cer-
tain circumstances – further continuation can only be understood with the aid of qual-
itative data. In essence, the issue is about understanding and classification.
When did you actually start conducting research and what led you to continue down
this path as a lawyer and sociologist?
That’s a bit of a tricky question and, funnily enough, one that I asked myself a few
years ago in a contribution to John Winterdyk’s anthology on “Lessons from Interna-
tional/Comparative Criminology/Criminal Justice.” In this work, criminologists
were asked to explain why they turned to the study of criminology. In my case
this way was a relatively simple development because my approach to law was
not characterized by a great deal of empathy: my decision to study law was of a
very pragmatic nature and had a lot to do with the fact that I didn’t know what I should
do after graduating from high school. Upon graduating I went to a career counseling
service in Esslingen and, after completing a test and several evaluation forms, the
career counselor could apparently not identify a clear preference and said, with a
36 Interview with Hans-Jörg Albrecht
slight shake of the head, “The best thing for you is to study law. That will leave the
most options available.” So, I actually took this advice as an opportunity to study law.
While my law studies did not cause me much trouble per se, if I am honest, I found the
subject matter fairly boring and, at least back then, unappealing. Moreover, I couldn’t
see myself in any of the traditional job profiles that one associates with a law degree:
judge, public prosecutor, administrative official, or lawyer. This of course influenced
my decision to continue my studies in sociology. This was promoted by the fact that
after the first state examination, I received an offer from Günter Kaiser to work at the
MPI. This enabled me to meld both disciplines nicely. The questions that were being
dealt with here at the time were all new and interesting, including studies on unre-
ported crime (such as the Emmendingen Youth Survey) and assessments of the
role of the public prosecutor in criminal social control. It was during this time
that I also delved into sociological perspectives on the topic of deviance. On the
one hand there was Trutz von Trotha, whose approach has always struck a chord
with me; on the other hand there was Baldo Blinkert, who was tremendously impor-
tant for my methodical training (introduction to SPSS, statistics, etc.). Ultimately,
this experience in Freiburg led me to continue down the path of criminology.
You spent the majority of your career at the MPI. Nevertheless, how significant were
the two intermediate stops along the way at the universities in Konstanz and Dres-
den?
Oh, the time in Konstanz was heavily influenced by criminal law. Well, actually, in
both Konstanz and Dresden I lectured on criminal law. In addition, I held the state
examinations (something I continued to do in Freiburg until last year). To begin
with, I really enjoyed this new challenge as it was something new. I had to set up
a series of lectures and try to convey my knowledge and understanding. But after
two or three years I got a bit bored of it. While I understand legal doctrine, I
could never really get excited about it. Sometimes I even tried to write about it,
and on occasion I have actually succeeded.
Your time in Dresden was during a period of great change and upheaval. What was
different when compared to West German universities?
As far as the legal training and teaching itself, there was no difference at all. When I
came to Dresden in 1993, the bulk of the administrative changes had already occur-
red. Knut Amelung and Günter Heine were also still in Dresden at that time. In fact,
the whole teaching body of the law faculty was imported from the West, as occurred
in all the universities of the former East Germany. As such, there weren’t any major
differences to write home about.
How was the cooperation with the students?
Dresden has always been popular. The students were young people, I never had prob-
lems with them and they never had problems with me. The state of the university
buildings was a different matter as they were undergoing extensive renovation
work. The old lecture halls were very slowly being modernized and refurbished,
Exploring the World of Crime and Criminology 37
which made lecturing somewhat difficult. That said, I really liked the university and
the city. It was three and a half or four years that I spent there in total. However, I never
gave up my primary residence here in Freiburg, in particular because it had become
clear that I would take the position of director at the MPI as the successor to Günther
Kaiser.
In retrospect, which areas of research particularly interested you during in the past?
During my time in Konstanz, I began to research informal economies, with a particular
emphasis on drug markets. This research was partly in cooperation with several French
colleagues and eventually gave rise to the Laboratoire Européen Associé (LEA), which
ran for twelve years. In addition, English criminologists were also interested in the sub-
ject, which led to myself and Joanna Shapland editing a book. This tri-national involve-
ment was in itself a relatively rare constellation, and the result was a very good project
on underground economies in several large cities. In fact, this topic has continued to
interest me throughout my career as an active researcher. Drugs still interest me
today: not as a substance, but as an object of investigation [laughs].
What are some of the key insights you have gained over the course of your academic
career?
One central insight established early on is that criminal law and criminal justice are of
great importance as control systems. On the one hand, they help shape societies. On
the other hand, I have not been able to identify any field or area in which the establish-
ment of criminal law or its more harsh or lenient application has had any significant
consequences. There is a certain contradiction in this that is difficult to resolve. I
would not propose abolishing criminal law because this would presumably result
in consequences that are not particularly desirable. Yet my conclusion for the further
development of criminal policy and criminal law would be that punishment should be
used very cautiously as an instrument of social control. Because – and this can of
course also be seen from comparative approaches – regardless of how many people
go to prison or how long they stay in prison, what can be observed is that actual levels
of crime in society do not differ that much. This is particularly clear concerning in-
formal economies: when people want drugs, or weapons, or anything else for that mat-
ter, this demand will be met. It’s purely a matter of price. That is why drug policy is a
particularly interesting field, because you can see and observe that nothing has really
changed over the last six decades since the Single Convention on Narcotic Drugs of
1961. Drug prices have remained relatively stable, and cocaine is even cheaper today
than it was twenty or thirty years ago. What has changed, of course, is the composition
of the prison population. Something else that has also been on my mind in recent years
is immigration and crime, specifically the social control role of the criminal justice
system. There is no indication that immigration results in an additional burden in
terms of crime: an increasing number of studies in many Western countries have fur-
ther cemented this finding. However, that is only one side of the equation. For on the
other side it can be seen that in prisons – regardless of whether they are in France,
England, Germany, or the Netherlands – a considerable number of those imprisoned
38 Interview with Hans-Jörg Albrecht
are either foreigners or have a migrant background. The prison system has thus be-
come ethnicized in a way that makes one wonder why. Obviously, the composition
of those groups that are socially marginalized has changed. What is interesting is
that in the USA this has not occurred and, even if Donald Trump claims otherwise,
the country’s prisons are not full of immigrants. Most immigrants to the USA, partic-
ularly those from Latin America and Asia, are interested in social advancement and
want to earn money and live in dignity. Therefore, one sees a different composition of
the prison inmates in the USA, which incidentally is also due to criminal policy de-
cisions. In US prisons, African-Americans are overrepresented, not immigrants. What
can be witnessed (and this is a field in which changes can be observed) is that in Europe
there is an increasing concentration of prison inmates with a migrant background, es-
pecially immigrants from Turkey or North African as well as Arab countries. I think
such changes should play a role in future criminological research, for example by in-
vestigating the effects that immigration and ethnic and/or religious heterogenization –
today we say cultural diversity – have on criminal justice systems.
In terms of your research projects over the years, what have your biggest successes
and failures been?
I would say that a major success has been that almost all of the researchers who have
worked on and developed projects here at the MPI have completed their projects in a
splendid manner. You can clearly see this in the many publications and book series of
the MPI. As director emeritus, I am also a bit proud to say that in many cases the
projects conducted during my directorship were very complex and innovative and
resulted in considerable added value to the broader community. It is impossible to
list all the projects and all the people from over the years, but I am thinking above
all of the projects that emerged from the Franco-German network, the youth surveys,
the research on informal economies in various countries, the work on cross-border
police cooperation, and not least the longitudinal studies and the social therapy proj-
ects, including the only noteworthy experimental study to have thus far taken place in
a German-speaking country. In addition, several justice-related investigations
formed an important component of the research conducted at the MPI, including pio-
neering comparative studies on sentencing. Furthermore, the investigations into new
forms of sanctions and covert investigative measures – information sharing, electron-
ic surveillance, telecommunication surveillance, traffic data queries, data retention
laws, and dragnet policing – were really well done.
It was also always important to me to properly archive and organize data records in such
a way that they can be returned to if required. What could perhaps have been expanded
and further developed would be the use of replication studies. In individual cases this
did occur successfully, as in the investigation of enforcement practices concerning en-
vironmental and regulatory offenses, where a replication of the first empirical study
from the 1980s was conducted more than twenty years later. Incidentally, the longitu-
dinal Freiburg Cohort Study, which began under Günther Kaiser and whose database
and analysis potential has continued to grow, remains unique to this day.
Exploring the World of Crime and Criminology 39
good grades and are now working at universities across China. Other priorities were
Iran and the Caucasus region. However, in some cases nothing long-term developed
out of these collaborations. This also applies to an Afghanistan project in which the
Institute was involved. What did occur, however, was a significant expansion of con-
tact with other countries and regions. For example, Iranian criminal law was very
much oriented towards France until the 1990s: the work of the MPI certainly contrib-
uted to a strengthening of connection between Germany and Iran on this front. As far
as South America is concerned, I am currently still active there with several research
projects in cooperation with Pablo Galain. These deal with the legalization of mar-
ijuana and drug markets in South America as well as questions of violence. Concern-
ing the latter topic, in international comparisons South America is a region in which
lethal violence is particularly pronounced. The development of empirical criminol-
ogy on the continent is also of special interest and we are currently seeking to estab-
lish empirical criminology in Santiago de Chile, in the sense of a criminology that is
not just theoretical and normative – as is currently still the case in South America –
but one that is an empirical science that aims to systematically collect data and can
assist in the critical monitoring of criminal policy. Cooperation with researchers in
the English-speaking world, especially North America and England, was also quite
good. It was also important to me to continue working with the countries of the for-
mer Soviet Union. Ukraine naturally played a special role, especially through my in-
volvement in the European Union’s Tymoshenko mission, which lasted almost two
years. This task was interesting because it was closely related to politics and not nec-
essarily the law [laughs]. At the end of the day, it was about political disputes that
were carried out by means of criminal law. Based on allegations that wouldn’t
even have been enough to issue a fine in a jurisdiction like Germany. Yet every
judge immediately signed arrest warrants.
Last but not least, I want to mention the Balkan Criminology Group, which emerged
as a partner group of the MPG and which has succeeded in initiating and carrying out
various criminological projects in the Balkans. It remains active with great success,
whereby I mean not only the implementation of empirical projects, but also the suc-
cessful creation of a criminological network that now covers almost all of Southeast
Europe.
You already mentioned China, a country that is frequently in the news at the moment.
Based on your experience, how would you assess current political developments in
the country and their impact on academic research? Perhaps also with regards to the
situation in Hong Kong?
It’s tricky. Firstly, I would make a fundamental distinction between general develop-
ments in China and particular developments in Hong Kong. Broad social and eco-
nomic developments have significantly changed China over the past twenty or thirty
years. However, in recent years the Communist Party’s access to almost all areas of
life has once again become more intense, although – and this must always be taken
into account – room for individual freedoms is still available. In particular, people can
Exploring the World of Crime and Criminology 41
now freely travel. In mainland China itself – with a few exceptions – discussions are
not prohibited. The exceptions mainly concern the country’s territorial integrity. That
is why Hong Kong, as well as Taiwan and Tibet, are so important to the central gov-
ernment in Beijing. When we look at the new security legislation in Hong Kong, I
think it is less about security and more about enforcing the claim that its territorial
integrity must not be touched. This means that three regions are excluded from public
discourse: Tibet, Hong Kong, and Taiwan. These issues can only be discussed with
extreme caution. In addition, a second minefield in which one must cautiously tread
is that the Communist Party (and it alone) determine the politics and the leadership of
the People’s Republic. There is no opposition party and no classical form of democ-
racy akin to what has developed in Europe. In the foreground is the leadership role of
the Communist Party, which must not be touched. Apart from this, however, I cannot
see any prohibitions of thought and discussion. For example, the death penalty itself
is not a taboo topic. There are of course certain sensitive topics within such subject
areas that can lead to problems, especially if the country’s political leadership has the
impression that this has resulted in a loss of face. In connection with the death penalty,
I once noticed this at an event that we held together with the German embassy in con-
nection with the German-Chinese rule of law dialogue. A Chinese participant gave a
lecture on organ removal and the death penalty. This led to strong reactions, not be-
cause of the death penalty itself but rather the removal of prisoners’ organs after their
execution. A third sensitive area that also plays a role in the discussion here is that of
surveillance. Recently, I have on occasion had difficulty accessing certain websites
from within China. Sometimes this has affected the New York Times, sometimes
other information sources, but thus far not the sites of German magazines or news-
papers. China’s expansion of data processing abilities and the introduction of tech-
nologies that collect vast amounts of personal data are unmatched elsewhere. Indeed,
Germany still lags far behind in the introduction of many of these technologies. One
example of this is the disappearing role of cash in everyday life in China. Last year, I
took the train from Beijing to Tianjin; when I went to the restaurant car to buy a drink
and held up a yuan bill I was told that only mobile or other cashless methods are ac-
cepted. This shift to a cashless economy naturally generates a tremendous amount of
data, which is difficult to process with a population of 1.3 billion people (many of
whom use multiple smartphones). The monitoring possibilities created by such pro-
cesses are of course used, that is very clear. However, I do not assume that these
changes will have any great significance on Chinese society itself. Overall, I have
the impression that the Chinese colleagues with whom I work are essentially of
the opinion that the Chinese government and politics are one thing and the question
of how they organize and shape their lives is a completely different matter. And as
long as the Chinese leadership manages to guarantee prosperity for a significant pro-
portion of the population and to make personal developmental opportunities visible,
most Chinese – at least I have this impression – will not have any problems with the
political system. You see something similar in Iran. The Iranians joke about their
leadership, which is of course not difficult given those that are in charge. Apart
42 Interview with Hans-Jörg Albrecht
from that, they come to terms with their situation, irrespective of the ever-worsening
standards of living.
But what type of standards are these?
Poor standards of living are a fundamental problem with such political systems. If
you link this back to criminological questions, this problem is taken up in anomie
theory. Anomie theory, developed in the USA, basically says that political stability
can be maintained as long as the middle class succeeds in essentially maintaining its
standard of living and, above all, when young people are offered opportunities. Prob-
lems arise when anomie emerges in the middle class. Thus, criminological questions
also concern the development of social structures, social conditions, and so on (in
which crime, of course, is also embedded). Something that is always included in
criminological perspectives is the question of upheaval and change. At what point
does a situation arrive where people say “Enough is enough, we refuse to participate
any longer.” This leads to an interesting question that I have been preoccupied with
since the 1970s: under which circumstances are criminal norms abolished? This was
dealt with in detail at the MPI in connection with the topic of abortion. I still remem-
ber from back then the famous Stern-magazine cover image titled “Wir haben abge-
trieben” (We had Abortions). This was a deliberate provocation on a magazine cover:
“We have violated norms – what now?” The reaction was interesting – nothing hap-
pened. This addresses a question about which I learned a lot from Trutz von Trotha.
Trutz studied the topic, namely norm and sanction, for a long time. What do sanction
and punishment mean? The German judiciary currently imposes, I believe, around
700,000 criminal sentences per year. Nevertheless, society remains calm. Obviously,
under certain conditions, it is possible to punish without causing a great ruckus. There
are prisons, many people are punished, everyone has gotten used to it, and life goes on
as normal. That was and is not always the case, nor is it the case everywhere either. In
Afghanistan or Somalia, the situation is very different. Therefore, sanctions and their
consequences concern an important point: which conditions enable punishment to
appear in such a way that it is accepted (at least by most) as legitimate and not as
a form of injustice, which in turn must be responded to with further sanctions.
Now we have two final questions for you in this part of the interview. First, what sig-
nificance did teaching and working with young researchers have on your work?
In Konstanz and Dresden, teaching was obviously paramount. Course contact time
amounted to about eight to ten hours a week, including seminars. This load was some-
what reduced at the MPI in Freiburg. At the same time, the supervision of doctoral
students, particularly from the Institute’s research schools, became increasingly im-
portant. Many criminological questions can only be dealt with in the form of a dis-
sertation, and I was always busy in this regard. You can see this from the large number
of dissertations conducted at the Institute.
Exploring the World of Crime and Criminology 43
was: “Don’t think about it anymore, just stop at this point!” At the end of the day, this
was sound and simple advice.
Now let’s move to the second part of the interview. This will focus on developments in
criminology, both in Germany and worldwide. In your time as director, what would
you say were groundbreaking criminological advancements: not only from a theoret-
ical and methodological standpoint but also in terms of content?
In terms of theory, I think that one of the most important advancements was coming
up with the concepts of informal social control and self-control. On the one hand, this
approach encompasses the immediate neighborhood as well as larger social struc-
tures and individual persons. On the other hand, these two theoretical concepts
also contain and combine psychological, psychoanalytical, and sociological ele-
ments. Moreover, one can apply a normative framework as the notion of self-control
is intertwined with the idea of how the self is developed and what meaning or influ-
ence the self has in the decision-making process. It’s the informal systems such as
parents, neighborhoods, schools, and so on – the important pillars of socialization
so to speak – that accompany and form people whilst they grow up. Eventually,
this leads to very interesting questions as to how it is possible to equip people
with a self-concept that allows them to not only make decisions but to make the
right decisions. In fact, during the last thirty years there have been some rather inter-
esting developments in the field of psychology and behavioral economics: these de-
velopments ask at what point a person will come to say “I’m not going to do this.
That’s not who I am. I can’t in good conscience act like this and be fine with it.”
Hence, the question about how this is connected to both learning behavior and deviant
behavior is so interesting because humans are capable of combining normative
claims with this concept of the self. Naturally, this system offers a certain flexibility
which is why an individual decision may also be “Well, if I actually do this, it
shouldn’t be too bad.” Justifications play an important role in such contexts and it
appears that coming up with suitable justifications is easier when norms are, to a cer-
tain degree, flexible. Tax evasion or driving under the influence are good examples of
this. No one usually carries a breathalyzer around and if someone has two or three
beers his or her blood-alcohol concentration might not even be at 0.5 per mil.
Maybe it’s only at 0.49 per mil. Such reasoning can be found among people who
would never drive in a completely drunken state. Similar justifications for “cheating
the system” can also be observed in the context of tax evasion, insurance fraud, or the
like. I think that theoretical approaches in such contexts should be further developed
because they are especially important with regard to self-control. In addition, they
provide us with insights about our normative concepts. In terms of the concept of
informal social control, I see a lot of potential for further scientific advancement.
Under-researched aspects include the effects of stable neighborhoods or the question
of how it is even possible to establish working instances of informal social control in a
Exploring the World of Crime and Criminology 45
post-modern world which assumes – if I understand correctly – that humans will be-
have in a calculating manner in line with the idea of the rational agent (homo eco-
nomicus). Modern in this sense obviously means increased personal degrees of free-
dom, so that I don’t have to make concessions to (almost) anyone or anything, I don’t
care about what my neighbors say or think, I don’t go to church, and I don’t really care
for clubs or associations except for maybe my local rifle club. Hence, people are able
to weigh their options according to their own inner compass because what other peo-
ple say does not really matter anymore. This naturally also impacts self-concepts and
forms of informal social control. With that being said, I still assume that this rational
agent is the human of the future even though this type did, in fact, already exist in the
past. Homo economicus does not necessarily put a lot of thought into norm conform-
ity; the main objective of this rational agent is the consideration of advantages gained
by any given decision. In fact, this conforms with the majority of post-modernist
thought which presumes that thoughtfulness toward others no longer exists. But
that’s not necessarily true. I think that people today calculate and weigh their options
just as much and just as often as they did thirty, forty, or even fifty years ago. How-
ever, I have yet to figure out how all of this goes together.
How relevant is German criminology in Europe and further afield?
That’s a tough question. In my opinion, criminology as a discipline – that is, a dis-
cipline that focuses on concepts of deviance, crime, social control, criminal law, and
many other aspects of crime – has developed extremely unevenly. Up until and
throughout the 20th century, the home base of criminology and criminological re-
search was primarily North America, England, and Scandinavia; later on, the Nether-
lands, Germany, and France also joined the fold. Since then, things have changed.
Now, criminology as a discipline and research tradition has expanded and become
increasingly diverse; distinct “criminologies” exist in Eastern Europe, in China, in
Japan, in South America, and in Africa – especially in South Africa. Nevertheless,
I would say that the major focus of criminology is still on the abovementioned “tradi-
tional” countries. Germany played a major criminological role up until the 1950s and
1960s due to its focus on the etiology of crime. In recent decades, however, its role as
big player in the criminological world has changed because criminology in Germany
never really achieved the status of a fully independent discipline with its own insti-
tutions and facilities. Instead, criminology has essentially become an add-on to law
faculties. This, however, comes at a certain price because the main task of law fac-
ulties is educating future lawyers. To put it quite drastically, ever since the 1980s and
the discarding of any consideration to integrate it more closely into the legal curric-
ulum, criminology has become more of an afterthought. While law students and stu-
dents from other disciplines can elect to take courses in criminology, it has neverthe-
less lost its role as an independent discipline in the German higher education system.
Interestingly, nor was criminology able to anchor itself as an integral component of
sociology or psychology.
46 Interview with Hans-Jörg Albrecht
In countries such as the Netherlands, England, the US, Canada, Australia, South Af-
rica, and many others, however, criminology is an independent discipline and field of
study with specific university programs and degrees, exams, and lots of employment
perspectives. This standing of criminology is much higher than in Germany. More-
over, developments in Germany over the last fifteen years suggest that the impact and
importance of criminology will further decline in the fields of law, psychology, and
sociology. An indication is the ongoing downsizing of criminology chairs at German
universities. Aside from a small core of criminological institutes and department
chairs, criminology has more or less disappeared from the German academic
radar. As of today, we only have two or three master programs for criminology in
Germany: in Bochum, Hamburg, and Greifswald. And in terms of major criminolog-
ical research centers, there is the MPI in Freiburg, the Criminological Research In-
stitute of Lower Saxony in Hannover (KFN), and the Center for Criminology in Wies-
baden. That is about it.
You addressed these structural weaknesses a few years ago in the Freiburger Mem-
orandum. Has this resulted in change?
Yes, well, it was quite interesting. The Freiburger Memorandum piqued the interest
of both traditional universities but also especially of universities of applied police
sciences, where criminology plays a much more integral part in the curriculum of
future police officers. In fact, my impression is that criminology plays a much
more central role in these academies when compared to traditional universities.
Still, as of right now I do not really believe that the Freiburger Memorandum will
lead to a substantial strengthening of the discipline of criminology.
How do you see the “old” and the “new” MPI with respect to the past and the future?
From my point of view, the MPI and the KFN have the broadest criminological re-
search potential. This has been the case in the past and will remain the case in the
future, irrespective of how their research agendas have changed over time and
will no doubt continue to change over time. A major factor here are the considerable
resources found both in Freiburg and Hannover, which is why I don’t expect either of
the institutions to lose standing or influence. When Ulrich Sieber and I worked on the
petition addressed to the MPG that called for the continuance of the MPI after we
were granted emeritus status, we did not have any concrete ideas or plans in mind
in terms of a future research agenda for the Institute. I, for one, am optimistic
about the direction of things to come because, in addition to some researchers
who have already been at the Institute for a long time and decided to stay, a number
of younger researchers have recently come to the MPI who, in my opinion, have the
potential to conduct very interesting and ground-breaking research within the next
ten to twenty years, thereby contributing to the continuation and evolvement of crim-
inology in Germany.
Exploring the World of Crime and Criminology 47
What challenges does contemporary criminology face? Does it need to be more po-
litical?
Well, I have my doubts about that because criminology should be applied rather cau-
tiously in terms of politics. Nevertheless, I was always very interested in the link be-
tween politics and criminology. When I started working here as a researcher for Kai-
ser – [smiling] that was a long time ago – he sent me to a German-American confer-
ence in Berlin. It was probably due to the English language because it was the first
time I went to such a conference where very well-known people presented their work
and gave talks. The topic was the relationship between politics and science and the
main question was whether science can and/or should influence politics. In some
cases, I brought myself to give advice to politicians over the years. Still, I think
this is problematic because the questions that politicians tend to ask – should sanc-
tions be increased, what influence will specific reforms of criminal law have, etc. –
and the answers that they want to hear cannot be dealt with in a satisfactory way. It is
simply not possible to establish the detailed effects of criminal sanctions in general.
Consequently, it is equally difficult to make projections and suggestions concerning
specific sanctions. At the end of the day, such decisions need to be taken by parlia-
ment and finally, by the courts. As a researcher I can only tell the legislature whether
the targeted effect will likely be noticeable or not, that is, whether the likely effect
warrants the required political process. Science and researchers should act and in-
struct rather cautiously. What happens when this caution is thrown to the wind
can be plainly observed by looking at the fiasco concerning the role of virologists
in advising politicians and the public during the current COVID-19 pandemic. On
another note, I will always remember a conference in Bamberg on criminal law
and crime developments organized by the Humboldt-Foundation. It took place in
the early 2000s during an era in which a general decline in crime rates was already
noticeable. I was the keynote speaker and presented data and hypotheses on this de-
cline. In the discussion following my presentation a couple of politicians – including
one or two members of parliament – delivered conflicting statements, insisting that
“crime rates are on the rise.” I was flabbergasted and could not believe what they had
just said. In the late 1990s, I had a similar experience during a panel discussion broad-
casted by a Bavarian TV network. There, I talked about lethal sexual assaults on chil-
dren and the fact that they have declined significantly over the last four decades. Hav-
ing presented the data, one of the other participants, who was a politician, said to me
that the statistics and the data don’t matter to him as one case of lethal sexual assault
of a child is already one too many. So, what do you need the data for? To a certain
extent this is totally understandable. When I talk to parents who have lost their child
to such offenders, I obviously would also not just tell them to calm down as it was
only an unfortunate exception that their child was murdered. No, what I’m criticizing
here is the political attitude. Such elimination fantasies can also be encountered in the
context of drug policies, where certain circles of decision makers are constantly try-
ing to develop new plans on how to eliminate drug consumption. Honestly, I don’t
know how it is possible that these presumably smart individuals are so convinced
48 Interview with Hans-Jörg Albrecht
that it is possible to reduce the amount of drugs available in any major city – in the
manner of some five-year plan. Unfortunately, I see a similar pattern in the Istanbul
Convention as it is also rooted in the idea that it is possible to “eliminate or abolish all
violence against at women.” Aside from the fact that other forms of violence are ap-
parently less interesting to many of our politicians, such abolitionist ideas are essen-
tially totalitarian at their core. That’s why I myself have been wondering how it was
possible to argue for more extensive and stricter criminal laws in reference to univer-
sal human rights.
And now the final question for this part of the interview. Where do you see criminol-
ogy in fifty years? Or where would it be in an ideal world?
Well, I think that criminology as it exists today in Western Europe and other regions
will still be around fifty years from now because there will still be a need and demand
for the data and explanations that it provides. In the German context, for example,
victim surveys have been widely implemented and are now set to be regularly con-
ducted. Moreover, additional opportunities to collect and analyze data will arise, es-
pecially in the context of longitudinal studies. These studies may be of great political
interest. What I am honestly wondering is why no political actors have thus far claim-
ed the drastic decline in crime for themselves or their political party. Compared to the
situation in the 1980s and 1990s, the number of car thefts and cases of burglary has
quite literally evaporated. Moreover, the decline in homicides, violent crimes, rob-
bery, and larceny has been so significant that one would have expected some form of
political reaction to it. The situation is similar regarding imprisonment rates. In fact,
the number of inmates in the German prison system has noticeably declined over the
last two decades. In Hamburg, this significant decline in the prison population was
addressed by the city’s audit office in 2009; the subsequent findings resulted in a sig-
nificant reduction in the number of corrections officers and capacity for inmates.
As we near the end of the interview, we would like to now ask you some more personal
questions. Looking back at your early years, your childhood, your family – would you
say you were born with an interest in criminology or a sort of “researcher’s curios-
ity”?
Well, the only thing I can think of is reading. I was an avid reader from very early on
and I voraciously read children’s literature. In fact, I very much preferred reading a
book over things like taking a walk. Between the ages of eight and eleven I read all
books by Karl May. I still have all those books by the way – but in today’s world the
books would have to be rewritten and edited due to numerous problematic terms.
Exploring the World of Crime and Criminology 49
Are there any specific experiences during your childhood and adolescence which you
would say helped form your character during that time?
Honestly, I did have a happy childhood and teenage years. I am originally from an
area classed as very Protestant; it was also a very homogenous region. There were
next to no Catholics in the area when I grew up. There were also absolutely no for-
eigners. In my class at school, we once might have had a refugee who was from East
Prussia [laughing]. But he was well integrated. Obviously, there were also no carnival
or “Fasching” celebrations taking place in this Protestant area, which is why my first
experience with “Rosenmontag” celebrations dates back to when I first came to Frei-
burg as a student.
Keeping this cultural background in mind and talking about the ubiquity of juvenile
delinquency, do you remember any personal instances of deviant behavior in your
youth?
Of course, absolutely! Obviously, what is considered to be deviant is always closely
linked to a specific period or point in time. I do remember being involved in some
instances of fighting with friends and classmates before, during, and after school.
But nothing major. From 1968 onwards, marijuana became a thing but at that
time it was not a big deal yet, as drugs and problems surrounding drug consumption
only started to become controversial later on. Back in those days, drug-related crimes
came with a maximum sentence of three years. Obviously, a lot has changed since
then.
Back then, what would have been considered an everyday offense, similar perhaps to
illegal downloading today?
Such developments are completely new and result from technological and cultural
changes. Today, young people spend a lot more time in front of their screens and
while they are doing so they are often also contemplating how to get access to the
latest movies and songs. Back in the days, the streets provided much more opportu-
nities for committing stupid things.
You mentioned 1968. How did you experience the West German student movement?
Well, [laughing] it was actually quite pleasant. The time was characterized by radical
changes and far-reaching reforms. The university in its classical sense vanished,
which led to a complete restructuring of university-wide committees and structures.
Old customs and traditions in which members of the university wore academic gowns
disappeared by 1969. This change was rapid and had to do with the fact that the pro-
test movement was so powerful: it meant that none of the older professors dared to go
to a general assembly wearing the previously accepted attire of an academic gown. I
clearly remember that some professors had still been working at the University of
Tübingen even though they were previously linked to the National Socialist ideolo-
gies. The situation was similar in Freiburg where demonstrations, debates, and argu-
ments were a regular occurrence at the university. Even though the conservative ap-
pearance of the universities was cast-off relatively quickly, these protests and argu-
50 Interview with Hans-Jörg Albrecht
ments continued throughout the 1970s. Interestingly, some of the old rituals associ-
ated with exams or university festivities still exist today in many countries. In com-
parison, German universities changed rather quickly which was probably also due to
the social-liberal political coalition of 1969 which heralded the dawn of a new polit-
ical era.
Why did you decide to transfer your studies from Tübingen to Freiburg?
I originally decided to study in Tübingen because it was not too far away from my
hometown of Esslingen. While I did move to Tübingen, I still used to go home to
Esslingen quite regularly – to play tennis for instance. The idea to move to Freiburg
was born out of discussions with fellow students who were also considering transfer-
ring to Freiburg. To be honest, I liked the idea a lot because Freiburg was a little fur-
ther away from my hometown. Tübingen was also comparatively small and a lot less
attractive for young people like myself at that age. Right from the beginning, I felt
completely at home in Freiburg.
When looking at old pictures of you from the MPI photo archive, you appear to have
gone through several “mobility phases” in your life. First you seemed to be into mo-
torcycles then later Porsches. Did these choices correspond to different stages in your
life?
Yes, I loved motorcycling. And yes, I also bought two Porsches in my time. They
were beautiful cars and I really enjoyed driving them. However, at some point in
my life I needed to drive far less and ultimately lost interest in cars. Nowadays, I
only use my car to drive into the city and sometimes when I have to go to the airport.
What are your plans for the future? Will you continue to travel and conduct crimi-
nological research?
Well, first of all, I still have to wrap-up a variety of research projects and I have to
conduct a number of dissertation examinations from my time as director. After that, I
have scheduled a couple of new projects in South America. Once the borders open up
again and we are free to travel, I will also continue my activities in China. I am def-
initely not going to get bored any time soon.
If you could go back in time, would you change anything about your life?
Honestly, I don’t think I would change anything. It was always important for me to
have a certain degree of freedom in the work context which is why it was out of the
question to work as a prosecutor, as a judge, or in any comparable bureaucratic po-
sition. Similarly, I also would not have been happy or satisfied working as a lawyer
even though I could have earned a lot of money choosing said career path. Reading
and writing: that is what has continued to interest me most of all.
That is a good note to end on. Thank you for taking the time to talk with us today.
I. Sicherheit und Prävention –
Safety/Security and Prevention
Die Auslandsübermittlung von Daten
aus der strafprozessualen
Telekommunikationsüberwachung
Von Ulrich Sieber
Als ich Hans-Jörg Albrecht vor ca. 45 Jahren kennenlernte, war er die rechte Hand
seines akademischen Lehrers Prof. Dr. Günther Kaiser, den er – auch später und bis in
dessen hohes Alter hinein – in der Kriminologischen Forschungsgruppe des Freibur-
ger Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht unterstütz-
te. Bekannt war Hans-Jörg Albrecht damals besonders für seine empirische For-
schung zu Sanktionen, insbesondere Behandlungsprogrammen im Strafvollzug,
zur Geldstrafe und zum Rückfall, zu Jugendkriminalität und Jugendstrafrecht. In sei-
nen Vorträgen und Gesprächen mit Gästen des Instituts überzeugte er vor allem durch
sein breites Wissen in Kriminologie und Strafrecht sowie durch seine klaren, mit fun-
dierter empirischer Forschung unterlegten Standpunkte, die bei ausschließlich nor-
mativ arbeitenden Kollegen manche vermeintliche Gewissheit über das Strafrecht
und das Strafen erschütterten. Der damalige „rising star“ des Instituts beeindruckte
Besucher aber auch durch Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und sein Auftreten, Letz-
teres nicht nur, wenn er in Ledermontur auf sein Motorrad stieg und mit wehendem
Haar durch die Günterstalstraße Richtung Schauinsland fuhr.
Als Assistenten von Prof. Dr. Günther Kaiser und Prof. Dr. Klaus Tiedemann or-
ganisierten wir 1975, 1980 und 1985 gemeinsam die Südwestdeutschen Kriminolo-
gischen Kolloquien, die in Freiburg von der Kriminologischen Forschungsgruppe
des Max-Planck-Instituts und dem Lehrstuhl für Kriminologie und Wirtschaftsstraf-
recht der Universität Freiburg veranstaltet wurden.1 Gerne erinnere ich mich an diese
Zeit und unsere frühen Kolloquien zurück, auf denen ich viel über Kriminologie und
ihre Bedeutung für eine rationale Sozialkontrolle lernte.
Nach unseren Berufungen zu Direktoren des Freiburger Max-Planck-Instituts lei-
teten wir diese Institution ab 2003 gemeinsam. Die Zusammenarbeit mit Hans-Jörg
Albrecht war ebenso wie in den frühen Jahren unserer Assistentenzeit unkompliziert
und produktiv, vor allem auch in unseren beiden gemeinsamen International Max
Planck Research Schools. Anstehende Fragen wurden nicht in formalen Direktori-
umsbesprechungen entschieden, sondern bei einem Gespräch auf der Dachterrasse.
1
Vgl. Sieber 1976, 37 – 38; Albrecht & Sieber 1980, 162 – 171; Albrecht & Sieber 1985,
244 – 248.
54 Ulrich Sieber
Sein trockener Humor brachte mich innerlich oft zum Schmunzeln. In manchen Ei-
genschaften gegensätzlich, ergänzten wir einander in den Leitungsaufgaben sehr gut.
Das wissenschaftliche Konzept „Strafrecht und Kriminologie unter einem Dach“,
das der Institutsgründer Prof. Dr. Hans-Heinrich Jescheck ausgerufen hatte, erwies
sich als fruchtbar, erfolgreich und unverzichtbar für eine zukunftsorientierte For-
schung in jedem der beiden Gebiete. Hans-Jörg Albrecht vertrat beide Disziplinen
mit einem unermüdlichen Einsatz, vor allem auch im Ausland. In den letzten Jahren
entwickelten wir dieses interdisziplinäre Konzept dann weiter im Hinblick auf ein
rechtsstaatlich begrenztes Straf- und Sicherheitsrecht, das für eine wirksame Sozial-
kontrolle über das Strafrecht hinausreichen muss.2 Ich bin Hans-Jörg-Albrecht für
diese lange und gute Zusammenarbeit sehr dankbar.
Für diese wissenschaftliche Kooperation war besonders vorteilhaft, dass unsere
Forschungsinteressen und Forschungsprogramme thematisch in weiten Teilen die
gleichen Sachbereiche abdeckten. Wir interessierten uns beide für die Auswirkungen
von Globalisierung und Digitalisierung auf Kriminalität, Strafrecht und Risikoprä-
vention. Ein spezieller Interessenschwerpunkt von Hans-Jörg Albrecht war dabei
die Telekommunikationsüberwachung einschließlich Verkehrsdatenabfragen und
Vorratsdatenspeicherung.3 Vor diesem Hintergrund behandelt der vorliegende Bei-
trag zu seinem 70. Geburtstag die – in Rechtsprechung und Literatur bisher kaum
problematisierte – Auslandsübermittlung von Telekommunikationsdaten im Wege
der Rechtshilfe, die wegen aktueller technischer Fortschritte derzeit neue und bisher
unbearbeitete Fragestellungen aufwirft.4
1. Problemstellung
Die Auslandsübermittlung von Daten aus der strafprozessualen Telekommunika-
tionsüberwachung (TKÜ) erfolgt im Rahmen der Rechtshilfe bisher vor allem in der
Form von „Konserven“, mit denen die aufgezeichneten Daten auf körperlichen Da-
tenträgern oder über Datenleitungen zeitversetzt an die ausländischen Strafverfol-
gungsbehörden übermittelt werden. Die Richtlinie 2014/41/EU über die Europäische
Ermittlungsanordnung in Strafsachen (RL EEA) und ebenso bereits das Überein-
kommen vom 29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union (EU-RhÜbk) sehen jedoch die Übermittlung
von TKÜ-Daten vor allem (so das EU-RhÜbk) oder alternativ (so die RL EEA) in
Echtzeit vor, so dass der aufgezeichnete Datenstrom unmittelbar („real time“) an
die ersuchende ausländische (Anordnungs-)Stelle ausgeleitet wird. Diese „unmittel-
2
Vgl. Sieber 2018, S. 3 – 35.
3
Vgl. insbes. Albrecht et al. 2003; Albrecht & Kilchling 2009; Albrecht 2010, S. 1 – 21;
Albrecht 2014, S. 767 – 794.
4
Für wertvolle Unterstützung zu dem folgenden Beitrag danke ich herzlich meinem frü-
heren Mitarbeiter Herrn Thomas Wahl.
Auslandsübermittlung von Daten aus der Telekommunikationsüberwachung 55
stellt werden, dass die Zielperson der TKÜ zwar kein Geistlicher ist, sie jedoch mit
einem Geistlichen kommuniziert, was die deutschen Schutzvorschriften ebenfalls
verletzt.10
Dieses Beispiel verdeutlicht die Fragestellung des vorliegenden Beitrages: Macht
die – fast immer bestehende abstrakte oder konkrete – Gefahr der Übermittlung von
unverwertbaren Daten etwa aus dem Kernbereich der privaten Lebensgestaltung die
Ausleitung der TKÜ-Daten ins Ausland rechtswidrig und steht so der Rechtshilfe
entgegen? Oder erfordert die Gefahr einer Verletzung von deutschen Schutzrechten
vor der Ausleitung der Daten eine Prüfung und Filterung des gesamten Datenbestan-
des? Oder gibt es andere Möglichkeiten, um das Interesse an einer effektiven grenz-
überschreitenden Kooperation mit dem Schutz der (Grund-)Rechte der betroffenen
Personen zu vereinbaren und wie verlaufen dabei die entsprechenden Grenzlinien?
Der nachfolgende Beitrag geht diesen Fragen am Beispiel der Richtlinie 2014/41/
EU über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (RL EEA) nach; die
Ergebnisse gelten jedoch grundsätzlich auch für andere Rechtshilfeabkommen und
die vertragslose Rechtshilfe. Im Vergleich mit den völkerrechtlich ratifizierten und
damit unmittelbar geltenden Rechtshilfeverträgen ist allerdings zu beachten, dass
die RL EEA kein unmittelbar geltendes Recht ist, sondern über ihre Umsetzung
im zehnten Teil des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen
gilt (§§ 91a – 91j IRG).11
2. Mögliche Lösungsansätze
Die Frage, wie die Auslandsübermittlung von TKÜ-Daten in Rechtshilfeverfah-
ren mit potentiell unverwertbaren Datenbeständen umzugehen hat, wird in der ein-
schlägigen Rechtsprechung und Literatur bisher nicht erörtert. Einzelne Literatur-
stellen könnten zwar so gedeutet werden, dass in diesen Fällen eine Ausleitung
der TKÜ-Daten rechtswidrig ist und zu unterbleiben hat,12 eine solche Interpretation
ist jedoch gewagt, da die Problematik der erst bei der ausländischen Datenauswer-
tung erkennbaren Verwertungsverbote in diesen Stellungnahmen, soweit ersichtlich,
nicht ausdrücklich angesprochen und vermutlich auch nicht speziell gesehen wird.
Eine weitgehende Ablehnung der Datenübermittlung ins Ausland zur Verhinde-
rung der Weitergabe von unverwertbaren Daten stünde nicht zuletzt im Widerspruch
zu den Zielsetzungen der RL EEA, dem EU-RhÜbk und dem IRG, die eine unmit-
telbare Datenausleitung vorsehen. Eine grundsätzliche Unterbindung der Weiterlei-
tung von Daten würde zudem die internationale Kooperation in Strafsachen im Be-
10
§ 160a Abs. 1 Satz 5 StPO.
11
Genannt werden dabei im Folgenden vor allem die Bestimmungen der RL EEA, da diese
auch die Vorgaben für andere Mitgliedstaaten der EU zeigen.
12
So möglicherweise Brodowski 2016, S. 403, der von einer „unzulässigen Weitergabe“
spricht. Vgl. dazu auch Trautmann & Zimmermann 2020, IRG § 59 Rn. 34.
Auslandsübermittlung von Daten aus der Telekommunikationsüberwachung 57
reich der TKÜ unmöglich machen, in die Deutschland eingebunden ist. Die Verhin-
derung der Datenweiterleitung an die mit dem Sachverhalt vertrauten ausländischen
Ermittler würde schließlich auch nicht dem in innerdeutschen Fällen üblichen Ver-
fahren entsprechen. Sie kommt daher allenfalls in besonderen Ausnahmefällen in
Betracht, wenn keine anderen Lösungen ersichtlich sind.
Um das System der TKÜ-Rechtshilfe aufrechtzuerhalten, könnte deswegen ver-
sucht werden, die aufgezeichneten TKÜ-Daten vor ihrer Ausleitung zunächst in
Deutschland auf mögliche Verwertungsverbote zu überprüfen und ggf. sensible
Daten vor ihrer Übermittlung auszuscheiden. Ein solches Filterverfahren würde je-
doch ebenfalls die (von Art. 30 RL EEA als Möglichkeit und Art. 18 EU-RhÜbk
sogar als Regelfall vorgesehene) direkte Datenausleitung unmöglich machen. Ein
Filtersystem zur Aufrechterhaltung deutscher Beweisverwertungsverbote im Aus-
land wäre aber wegen der anfallenden großen Datenmengen auch bei einer nachträg-
lichen und zeitversetzten Datenübermittlung nicht praktizierbar. Die „Filterung“ von
TKÜ-Daten wird vom BVerfG allgemein auch nur im Hinblick auf Beschränkungen
diskutiert, bei denen dies „mit praktisch zu bewältigendem Aufwand“ möglich ist.13
Im Übrigen könnte eine Suche der deutschen Behörden nach den Daten von bestimm-
ten Berufsgeheimnisträgern oder Daten aus dem Kernbereich der privaten Lebens-
gestaltung zwecks deren Aussonderung die Interessen der betroffenen Personen stär-
ker gefährden als die Weitergabe der Daten ins Ausland, da diese Daten ohne eine
solche Suche in großen Datenmengen möglicherweise überhaupt nicht entdeckt wer-
den würden. Eine „Filterlösung“ wäre schließlich auch nicht umfassend möglich,
weil viele Beweisverwertungsverbote (z. B. bei nicht absolut geschützten Berufsge-
heimnisträgern) sich erst im nachfolgenden Strafprozess verbindlich feststellen las-
sen. Vorbeugende „Filterpflichten“ vor der Datenausleitung ins Ausland sind daher
ein ebenso wenig gangbarer Weg.
Die Lösung der vorliegenden Problematik kann daher nur unter Rückgriff auf die
in Art. 30 Abs. 5 RL EEA vorgesehenen Möglichkeiten zur Stellung von Bedingun-
gen liegen, die in dem Umfang möglich sind, in dem sie in einem vergleichbaren in-
nerstaatlichen Fall zu erfüllen wären. Auf der Grundlage einer solchen Regelung
kann Deutschland die Übermittlung von TKÜ-Daten unter die Bedingung stellen,
dass bei der Datenauswertung bestimmte deutsche Beweisverwertungsregeln und
Schutzpflichten zu berücksichtigen sind. Die Einhaltung derartiger Bedingungen
ist sanktionsbewehrt, da Verstöße gegen eine völkerrechtlich wirksame Bedingung
im ausländischen Strafverfahren zu einem Verwertungsverbot führen.
Die Stellung von Bedingungen und die Forderung von Zusicherungen wird auch
in den deutschen Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen
Angelegenheiten (RiVASt) in Nr. 77a genannt.14 Diese untergesetzliche Normierung
13
Vgl. BVerfG v. 20. 4. 2016 – 1 BvR 966/09 (BKA-Gesetz), Rn. 128.
14
Der deutsche Gesetzgeber hat im Rahmen der Umsetzung der Art. 30 und 31 RL EEA
auf Nr. 77a RiVASt verwiesen (vgl. BT-Drucks. 18/9757, S. 27, 33, 42, 43, 44) und von
58 Ulrich Sieber
ist vorliegend vor allem deswegen interessant, weil sie speziell zur TKÜ-Rechtshilfe
Beispiele für Bedingungen zur Aufrechterhaltung der deutschen Schutzstandards
nennt. Nr. 77a RiVASt15 bestimmt:
(1) […] Zulässig ist die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs gemäß § 77 IRG
nach Maßgabe der Bestimmungen der StPO (§§ 100a, 100b, 101).16 Soweit sich aus einer
Vereinbarung nicht etwas anderes ergibt oder die Stellung von Bedingungen bei Übermitt-
lung von Erledigungsstücken nicht ausreicht, muss die ausländische Behörde zusichern,
dass
a) die Voraussetzungen der Telefonüberwachung vorlägen, wenn diese im ersuchenden
Staat durchgeführt werden müsste,
b) die gewonnenen Erkenntnisse nur zur Aufklärung der in dem Ersuchen genannten Straf-
tat(en) verwendet werden und
c) die Überwachungsprotokolle vernichtet werden, sobald sie zur Strafverfolgung nicht
mehr erforderlich sind.
Die Praxis hat damit für die Rechtshilfe zur TKÜ ein Lösungsmodell skizziert,
dessen Anwendbarkeit und Grenzen im Folgenden vor allem im Hinblick auf die Be-
stimmung und Einschränkung des maßgeblichen Kontrollmaßstabes zu untersuchen
sind.
len Rechtshilfe abzuwägen.17 Diese Abwägung führt dazu, dass die Einhaltung von
überwiegend formalen prozessualen Ordnungsvorschriften des deutschen Rechts
(hinter denen jedoch in vielen Fällen auch substantielle materielle Schutzinteressen
stehen) nicht zur Bedingung der Rechtshilfeleistung gemacht werden kann. Dagegen
wird für wichtige deutsche Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsregeln, vor
allem im Bereich des deutschen ordre public, eine Schutzpflicht des deutschen Staa-
tes angenommen, fundamentale prozessuale Garantien auch im Ausland durchzuset-
zen, wenn das deutsche Rechtssystem mit einer TKÜ zur Verurteilung des Betroffe-
nen beiträgt. Denn es wäre nicht akzeptabel, wichtige Garantien der StPO, die häufig
das deutsche Verfassungsrecht widerspiegeln, außer Kraft zu setzen, indem die auf-
gezeichneten Daten ins Ausland übermittelt werden, wo solche Garantien nicht gel-
ten. In Rechtsprechung und Literatur wird deswegen bei der Rechtshilfe und insbe-
sondere bei der Auslieferung bezüglich der Heranziehung von Bedingungen vor
allem auch auf die in Art. 79 Abs. 3 GG genannten unantastbaren Verfassungsgrund-
sätze und besonders auch auf die Garantie der Menschenwürde abgestellt.18
Diese Begrenzung der TKÜ-Rechtshilfe auf den ordre public lässt sich insbeson-
dere damit begründen, dass dieser für die deutsche Rechtsordnung auch sonst die
Grenze bei der Prüfung ihrer Leistungsverpflichtung zur Rechtshilfe bildet, z. B.
wenn Rechtshilfe für die USA nur unter der Bedingung geleistet wird, dass der Be-
schuldigte dort nicht zur Todesstrafe verurteilt wird. Darüber hinaus gilt diese Grenze
unter anderem auch, wenn die deutsche Rechtsordnung nach dem Grundsatz des
forum regit actum im Ausland erhobene Beweise verwertet, die dort unter Verstoß
gegen das ausländische Recht erhoben wurden: Verstöße gegen das ausländische
Recht sind hier für das deutsche Strafverfahren grundsätzlich so lange unbeachtlich,
wie sie die Grenze des ordre public nicht tangieren.19 Die deutsche Rechtsordnung
sollte daher – schon unter dem Gesichtspunkt der Gegenseitigkeit – auch nicht ver-
langen, dass ausländische Strafprozesse nach der Leistung von Rechtshilfe in zu
weitgehender Weise auf der Grundlage des deutschen Verfahrensrechts geführt wer-
den. Die vorliegend relevanten Bedingungen an ausländische Rechtsordnungen müs-
sen folglich ebenfalls auf gravierende Verstöße beschränkt werden.
§ 73 IRG definiert den Maßstab des deutschen ordre public wie folgt: „Die Leis-
tung von Rechtshilfe sowie die Datenübermittlung ohne Ersuchen ist unzulässig,
wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen
würde“. Diese Grenze wird in Rechtsprechung und Literatur vor allem für die Aus-
lieferung näher konkretisiert. Wie sie speziell für die Übermittlung von TKÜ-Daten
17
Vgl. dazu näher unten 3.2.1.
18
Vgl. dazu näher unten 3.2 sowie Bock 2019, 301 ff., 305, die vorschlägt, die Men-
schenwürdegarantie restriktiv auszulegen und auf ihren „wahrhaft unantastbaren Kern“ zu-
rückzuführen.
19
Vgl. z. B. BGH v. 21. 11. 2012 – 1 StR 310/12, NStZ 2013, 596 (Rechtshilfe Tschechi-
en); OLG Bremen v. 18. 12. 2020 – 2 Ws 162/20; HansOLG v. 29. 1. 2021 – 1 Ws 2/21; Böse
2014, 161 ff.
60 Ulrich Sieber
20
§ 73 Satz 2 IRG verweist für Ersuchen nach dem zehnten Teil des IRG auf die „in
Artikel 6 des Vertrages über die Europäische Union enthaltenen Grundsätze“.
21
Vgl. zur zunehmenden Bedeutung der Europäischen Grund- und Menschenrechte im
Strafverfahren zuletzt Safferling & Rückert 2021, 287 ff.
22
Vgl. Art. 14 RL EEA.
23
So auch Böse 2014, 154 f.
Auslandsübermittlung von Daten aus der Telekommunikationsüberwachung 61
Das BVerfG stellt in seinem Urteil zum BKA-Gesetz (in Abschnitt D.IV.) zu-
nächst die allgemeinen Abwägungsprinzipien und Kriterien für die Auslandsüber-
mittlung von polizeilichen TKÜ-Daten fest, die den Grundsätzen zum ordre public
in anderen Bereichen der Rechtshilfe entsprechen (Rn. 323 ff.). Dabei erläutert das
Gericht (Rn. 325 ff.) die fehlende Geltung des deutschen Rechts im (ersuchenden)
Empfängerstaat sowie die gebotene Respektierung der ausländischen Rechtsordnung
durch das deutsche Recht. Auf dieser Grundlage betont das Gericht, dass das Grund-
gesetz der Datenübermittlung ins Ausland „nicht grundsätzlich“ entgegenstehe, da es
die Bundesrepublik Deutschland in die internationale Gemeinschaft einbinde und
auf die internationale Zusammenarbeit mit anderen Staaten ausrichte; dies gelte
„auch dann, wenn deren Rechtsordnungen und -anschauungen nicht vollständig
mit den deutschen innerstaatlichen Anschauungen übereinstimmen“ (Rn. 325).
Das Gericht postuliert gleichzeitig aber auch die Geltung der eigenen verfassungs-
rechtlichen Regelungen (Rn. 324). Es nennt dazu im Anschluss an seinen übermitt-
lungsfreundlichen Ansatz zwei wesentliche Gesichtspunkte, die eine solche Über-
mittlung beschränken: Zum einen bleibe die deutsche Staatsgewalt bei der Daten-
übermittlung „im Ausgangspunkt“ an die Grundrechte gebunden. Die grundgesetz-
lichen Grenzen der inländischen Datenerhebung und -verarbeitung dürften durch den
Austausch zwischen den Sicherheitsbehörden daher nicht „in ihrer Substanz unter-
laufen“ werden und der Grundrechtsschutz bei der Datenübermittlung ins Ausland
„nicht ausgehöhlt“ werden (Rn. 326, 327). Zum andern ergäben sich Grenzen der Da-
24
BVerfG v. 20. 4. 2016 – 1 BvR 966/09 (BKA-Gesetz), insbes. Rn. 323 ff.; BVerfG v.
19. 5. 2020 – 1 BvR 2835/17 (Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung nach BND-Gesetz),
insbes. Rn. 231 ff.
62 Ulrich Sieber
Zur Zweckbindung der Daten fordert das BVerfG zunächst (Rn. 329 ff.), dass die
Übermittlung von Daten ins Ausland an hinreichend gewichtige Zwecke gebunden
sein müsse. Zur Konkretisierung geht das Gericht von dem – im deutschen Strafpro-
zessrecht allgemein anerkannten – Kriterium der hypothetischen Datenerhebung aus,
das darauf abstellt, ob die Daten auch für die neue Zwecksetzung hätten erhoben wer-
den können. Die Zweckbegrenzungen der ausländischen Rechtsordnung müsse dabei
jedoch nicht im Einzelnen identisch zur deutschen Rechtsordnung abgebildet wer-
den: Es sei auch möglich, dass die Zweckbindung nur in Form eines Hinweises,
nicht aber durch eine förmliche Verpflichtung abgesichert werde und dass zum Lö-
schungszeitraum nur ein informatorischer Hinweis auf die deutsche Rechtslage vor-
geschrieben sei (Rn. 352). Ob diese Feststellung auch für die vergleichsweise sensi-
blen TKÜ-Daten in dem formalen Rechtshilfeverfahren gilt, erscheint allerdings
zweifelhaft. Die Anforderungen des BVerfG sind damit jedenfalls großzügiger als
der strenge Spezialitätsgrundsatz, den Nr. 77a RiVASt fordert und nach dem „die ge-
wonnenen Erkenntnisse nur zur Aufklärung der in dem Ersuchen genannten Straf-
tat(en) verwendet werden“ dürfen.25
25
Vgl. zum Grundsatz der Spezialität Barbosa & Silva 2019, 485 ff.
Auslandsübermittlung von Daten aus der Telekommunikationsüberwachung 63
Daten nicht unterlaufen würde. In Betracht zu nehmen sei dabei vor allem, ob für die
Verwendung der Daten die – bei der Übermittlung mitgeteilten – Grenzen durch
Zweckbindung und Löschungspflichten sowie grundlegende Anforderungen an Kon-
trolle und Datensicherheit wenigstens grundsätzlich Beachtung fänden.
Zu der erforderlichen „Vergewisserung“ des deutschen Staates über die Berück-
sichtigung der vorgenannten Grundsätze führt das BVerfG aus, dass die Gewährleis-
tung des geforderten Schutzniveaus im Empfängerstaat nicht für jeden Fall einzeln
geprüft und durch völkerrechtlich verbindliche Einzelzusagen abgesichert werden
müsste. Der Gesetzgeber könne diesbezüglich auch eine generalisierende tatsächli-
che Einschätzung der Sach- und Rechtslage in den Empfängerstaaten ausreichen las-
sen. Soweit sich Entscheidungen mit Blick auf einen Empfängerstaat nicht auf solche
Beurteilungen stützen ließen, bedürfe es jedoch einer mit Tatsachen unterlegten Ein-
zelfallprüfung, aus der sich ergebe, dass die Beachtung jedenfalls der grundlegenden
Anforderungen an den Umgang mit Daten hinreichend gewährleistet sei. Erforder-
lichenfalls könnten und müssten verbindliche Einzelgarantien abgegeben werden.
Grundsätzlich sei jedoch eine verbindliche Zusicherung geeignet, etwaige Bedenken
hinsichtlich der Zulässigkeit der Datenübermittlung auszuräumen (Rn. 338).
Das BVerfG zeigt mit dieser detaillierten Prüfung, dass die rechtliche Beurteilung
der Übermittlung von polizeilichen Daten ins Ausland eine erhebliche Bedeutung
gewonnen hat. Die vom Gericht entwickelten Anforderungen an die Datenübermitt-
lung ins Ausland lassen sich auch nicht mit dem pauschalen Argument relativieren,
dass sie allgemeine polizeilichen Daten und nicht die Rechtshilfe betreffen. Im Ge-
genteil: Die Ausführungen des BVerfG müssen für den Export von TKÜ-Daten im
Wege der Rechtshilfe umso mehr gelten, als es sich hier um besonders sensible Daten
und ein stark formalisiertes rechtliches Verfahren handelt, das zu erheblichen straf-
rechtlichen Folgen für die Betroffenen führen kann.
stellung der Ergebnisse dient die oben genannte Regelung in Nr. 77a RiVASt, die für
die zuständigen Gerichte zwar nicht bindend ist, jedoch einen anschaulichen Aus-
gangspunkt für die praktische Umsetzung der erforderlichen Veränderungen und Lö-
sungen bildet.
4.1 Zweckbindung
Nach der Entscheidung des BVerfG erfordert die Auslandsübermittlung von per-
sonenbezogenen Daten auch einen bestimmten Datenschutz im Empfängerstaat, der
allerdings ebenfalls nicht dem deutschen Datenschutzstandard entsprechen muss.
Zentrales Element eines solchen Datenschutzsystems ist bei der Rechtshilfe in Straf-
sachen zunächst die bereits genannte Zweckbindung der Daten, die durch den Spe-
zialitätsgrundsatz oder die Bedingungen der RiVASt in weitgehender Weise erreicht
wird. Zum datenschutzrechtlichen Mindeststandard gehört weiter, dass die erhobe-
nen TKÜ-Daten gelöscht werden, sobald sie zur Strafverfolgung nicht mehr erforder-
lich sind, wie dies in Nr. 77a Abs. 1 b) RiVASt ebenfalls bereits vorgesehen ist. Eine
Sicherung der Verhältnismäßigkeit der Datenerhebung erfolgt bei der Prüfung der
Vornahmeermächtigung, z. B. über die Forderung nach einem Verdacht auf eine Ka-
talogtat. Für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union gelten – inzwischen auch
für den Bereich des Strafverfahrens – zusätzlich die Garantien der EU-Charta und der
EMRK sowie als Sekundärrecht die Richtlinie 2016/680.27
sicher, dass in einem Strafverfahren im Anordnungsstaat bei der Bewertung der mittels einer
EEA erlangten Beweismittel die Verteidigungsrechte gewahrt und ein faires Verfahren ge-
währleistet werden.“
27
Richtlinie (EU) 2016/680 v. 27. 4. 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verar-
beitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhü-
tung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung.
Vgl. dazu Singelnstein 2020, 639 ff. Das damit verbundene Datenschutzniveau der EU im
Auslandsübermittlung von Daten aus der Telekommunikationsüberwachung 65
Falls keine besonderen Umstände vorliegen, erfüllen diese Sicherungen des for-
malen Rechtshilfeverfahrens die Vorgaben des BVerfG zur Garantie des ordre public.
Weitergehende datenschutzrechtliche Konzepte, wie die Pflicht zur Kennzeichnung
der Daten nach § 101 Abs. 3 StPO, Berichtspflichten oder das Bestehen einer unab-
hängigen Aufsichtsbehörde sind dagegen spezifische Organisationsmaßnahmen, die
nicht mehr zum ordre public zählen. Weitere, über Nr. 77a RiVASt hinausgehende
Bedingungen sind daher zur Gewährleistung des ordre public im Bereich des Daten-
schutzes für den Normalfall nicht erforderlich. Etwas anderes kann allerdings gelten,
wenn insbesondere außerhalb der EU im ersuchenden Staat zentrale datenschutz-
rechtliche Regeln – rechtlich oder faktisch – nicht gelten.28
Strafverfahren zeigt sich z. B. in Deutschland an den §§ 474 – 500 StPO einschließlich der
Verweisung von § 500 Abs. 1 StPO auf die §§ 45 ff. BDSG.
28
Vgl. dazu für die Übermittlung von personenbezogenen Daten in die USA die entspre-
chenden Safe-Harbor-Regelungen mit den Ausführungen in EUGH v. 6. 10. 2015 – C-362/14
NJW 2015, 3151 (Schrems I); EUGH v. 16. 7. 2020 – C-311/18, ZD 2020, 511 (Schrems II).
Für die Rechtshilfe ist allerdings aufgrund des o.g. Interesses an der internationalen Koope-
ration in Strafsachen nur eine Regelung auf dem Niveau des ordre public erforderlich.
29
Vgl. BVerfG v. 7. 12. 2011 – 2 BvR 2500/09 (Wohnraumüberwachung), Rn. 99; BVerfG
v. 20. 4. 2016 – 1 BvR 966/09 (BKA-Gesetz), Rn. 120 – 122; BVerfG v. 19. 5. 2020 – 1 BvR
2835/17 (Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung), Rn. 200 – 202.
66 Ulrich Sieber
Das deutsche Recht garantiert weiter in § 160a StPO einen vergleichsweise weit-
reichenden Schutz von zeugnisverweigerungsberechtigten Berufsgeheimnisträgern.
Ermittlungsmaßnahmen gegen Geistliche (§ 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO), Verteidi-
ger (Nr. 2), bestimmte Abgeordnete (Nr. 4) sowie Rechtsanwälte, Kammerrechtsbei-
stände und bestimmte Hilfspersonen (§ 53a StPO) zur Erlangung von Erkenntnissen,
die von deren Zeugnisverweigerungsrechten abgedeckt werden, sind unzulässig, so-
weit nicht der Verdacht auf eine Tatbeteiligung besteht. Dennoch erlangte Erkennt-
nisse dürfen nicht verwendet werden. Aufzeichnungen hierüber sind unverzüglich zu
löschen. Anders als die vorgenannten Personen erhalten zahlreiche weitere zeugnis-
verweigerungsberechtigte Personen dagegen keinen absoluten, sondern nur einen re-
lativen Schutz gegen Ermittlungsmaßnahmen, der von einer Interessenabwägung ab-
hängt (§ 160a StPO).
Der deutsche Gesetzgeber hat damit für bestimmte Berufsgeheimnisträger durch
das absolute und keiner Abwägung unterliegende Ermittlungsverbot die zentrale Be-
deutung des entsprechenden Schutzes dokumentiert. Damit sprechen gute Gründe
dafür, die Ermittlungsverbote bezüglich der absolut geschützten Geistlichen und
der Verteidiger ebenfalls dem ordre public zuzurechnen. Die weiteren absolut ge-
schützten Geheimnisträger können ebenfalls einbezogen werden; allerdings lässt
sich auch ein Ausschluss begründen, soweit es bei ihnen nicht um den Schutz der
Menschenwürde oder des Persönlichkeitsrechts geht, sondern um die Funktionsfä-
higkeit von bestimmten Institutionen.31 Die weiteren und nur relativ geschützten Be-
rufsgeheimnisträger dürften allein wegen ihrer Berufszugehörigkeit nicht mehr ge-
nerell durch den ordre public geschützt sein, da die entsprechenden Ermittlungsver-
30
BVerfG v. 7. 12. 2011 – 2 BvR 2500/09 (Wohnraumüberwachung), Rn. 99; BVerfG v.
20. 4. 2016 – 1 BvR 966/09 (BKA-Gesetz), Rn. 124; BVerfG v. 19. 5. 2020 – 1 BvR 2835/17
(Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung), Rn. 200.
31
Vgl. zu diesen unterschiedlichen Zielsetzungen BVerfG v. 3. 3. 2004 – 1 BvR 2378/98,
NJW 2004, 999, 1004 („Großer Lauschangriff“).
Auslandsübermittlung von Daten aus der Telekommunikationsüberwachung 67
bote vom Gesetzgeber unter dem Vorbehalt einer Abwägung stehen. Für sie kann al-
lerdings im Einzelfall wegen des spezifischen Gesprächsinhalts ein Kernbereichs-
schutz der privaten Lebensgestaltung in Betracht kommen (etwa bei psychotherapeu-
tischen Gesprächen).32 Nr. 77a RiVASt muss daher zumindest dahingehend ergänzt
werden, dass Aufzeichnungen über die Kommunikation von Geistlichen und Vertei-
digern unverwertbar und zu löschen sind, soweit nicht aufgrund von bestimmten Tat-
sachen der Verdacht der Tatbeteiligung besteht.
5. Ergebnis
Als Ergebnis ist damit festzuhalten: Die Probleme, die sich aus den rechtlichen
Unterschieden zwischen den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen für die in-
ternationale Rechtshilfe zur TKÜ ergeben, können mit den beiden – auch in Art. 30
Abs. 5 RL EEA genannten – zentralen Beschränkungen der TKÜ-Rechtshilfe33 ge-
löst werden, d. h. dem Erfordernis einer TKÜ-Ermächtigung nach deutschem Recht
und der Stellung von Bedingungen durch die deutschen Gerichte. Über diese Bedin-
gungen können die auf deutschem Territorium geltenden Garantien bei der Datenaus-
wertung in den Grenzen des ordre public auf die ausländischen Ermittlungsbehörden
übertragen werden. Dadurch entfallen Prüf- und Filterpflichten der deutschen Behör-
den, die andernfalls eine ungeprüfte direkte Ausleitung der TKÜ-Daten verhindern
könnten. In der Sache sind diese Bedingungen daher auch keine zusätzlichen Er-
schwernisse der Rechtshilfe, sondern Ausgleichsmaßnahmen für den fehlenden
Schutz auf der Auswertungsebene, ohne den eine Ausleitung der TKÜ-Daten
nicht möglich wäre.
Aus diesem Grund müssen diese Bedingungen im Interesse der betroffenen
Bürger in der Praxis auch tatsächlich gestellt werden. Daher sollte auch in Nr. 77a
RiVASt als weitere Bedingung aufgenommen werden, dass Erkenntnisse aus dem
Kernbereich der privaten Lebensgestaltung nicht verwertet werden dürfen und Auf-
zeichnungen über solche Erkenntnisse unverzüglich und in dokumentierter Form zu
löschen sind. Die Regelung muss weiter dahingehend ergänzt werden, dass zumin-
dest Aufzeichnungen über die Telekommunikation von Geistlichen und Verteidigern
unverwertbar und zu löschen sind, soweit gegen diese Personen nicht aufgrund von
bestimmten Tatsachen der Verdacht der Tatbeteiligung oder einer Anschlussstraftat
besteht. Geprüft werden muss weiter, inwieweit die hier aus Platzgründen nicht ver-
tiefte Regelung von Art. 14 Abs. 7 der RL EEA über die erfolgreiche Anfechtung
einer EEA im Hinblick auf das – ebenfalls vom ordre public erfasste – Rechtsstaats-
prinzip zusätzlich abzusichern ist. Die entsprechenden Garantien sollten dabei in der
Form von völkerrechtlich verbindlichen Bedingungen erfolgen, auf die der Betrof-
32
BVerfG v. 20. 4. 2016 – 1 BvR 966/09 (BKA-Gesetz), Rn. 258.
33
Ebenso z. B. Art. 18 Abs. 5 lit. b EU-RhÜbk.
68 Ulrich Sieber
fene sich – auch in einem gegen ihn im Ausland geführten Strafverfahren – berufen
kann.
Dieses Vorgehen sollte nicht nur für ein zukünftig geplantes Rechtshilfesystem
mit Direktausleitung der übermittelten Daten genutzt werden, sondern auch schon
bei jeder klassischen Übermittlung von TKÜ-Daten ins Ausland. Da die genannten
Beschränkungen der Rechtshilfe durch die Forderung einer doppelten Ermächtigung
zur Vornahme der TKÜ nach dem Recht des ersuchenden und dem des ersuchten
Staates sowie durch die mögliche Stellung von Bedingungen in den weiteren Rechts-
hilfeabkommen und in der vertragslosen Rechtshilfe gelten (vgl. insbes. § 59 Abs. 3
IRG), sind sie grundsätzlich auch bei anderen Rechtshilferegelungen für Nicht-Mit-
gliedstaaten der EU anwendbar, bei denen erforderlichenfalls weitere Bedingungen
hinzukommen können. Dadurch kann die TKÜ bei einer unmittelbaren Datenauslei-
tung nicht nur effektiver werden, sondern auch einen angemessenen Schutz der Be-
troffenen gewährleisten.
Die vorliegenden Ergebnisse machen damit vor allem auch zwei allgemeine Er-
kenntnisse deutlich. Sie zeigen zum einen, wie wichtig – gerade auch in der interna-
tionalen Zusammenarbeit – ein angemessener Ausgleich zwischen dem Interesse an
einer funktionierenden internationalen Strafrechtspflege und den Freiheitsrechten
der Bürger ist, für die Hans-Jörg Albrecht sich in seinen Forschungen – allgemein
und besonders im Bereich der Telekommunikationsüberwachung – stets eingesetzt
hat. Zum anderen zeigen die behandelten komplexen Probleme und Lösungen
aber auch deutlich, welch hohen Preis Europa dafür bezahlen muss, dass die Anglei-
chung der nationalen Strafrechtssysteme noch nicht ausreichend vorangekommen
ist.34 Die für eine solche Rechtsharmonisierung erforderliche vergleichende – empi-
rische und normative – Forschung ist ebenfalls ein zentrales Anliegen von Hans-Jörg
Albrecht, das sein beeindruckendes Lebenswerk nachhaltig geprägt hat, und das ihn –
dessen bin ich sicher – auch weiterhin beschäftigen wird.
Literaturverzeichnis
34
Vgl. Sieber 2009, S. 201 – 208.
Auslandsübermittlung von Daten aus der Telekommunikationsüberwachung 69
1
Arnold 2018, 20 – 29 (die Quellenangaben dazu im Literaturverzeichnis am Ende des
Beitrages erfolgen entsprechend dem bibliographischen russischen Nachweis auf englisch).
2
Der Vortragsstil wurde im Wesentlichen beibehalten. Inhaltlich wurden geringfügige
Überarbeitungen vorgenommen, die vor allem einige notwendige Aktualisierungen betrafen.
Aktualisierungen konnten sich leider nicht mehr der Frage nach den Auswirkungen der „Co-
rona-Krise“ auf Sicherheit, Freiheit und Sicherheits(straf)recht widmen. Es bedarf aber wohl
keiner allzugroßen Phantasie, um sich vorzustellen, dass ein ohnehin schon erweiterter Si-
cherheitsbegriff politisch und rechtlich weiter aufgeladen werden wird.
72 Jörg Arnold
Strafrecht. Dieser persönliche Wechsel ging konform mit dem politischen System-
wechsel des Untergangs der DDR und der staatlichen Vereinigung mit der Bundes-
republik Deutschland.
Dies war zunächst die Wahrnehmung, besser aber vielleicht die Vorstellung eines
Wechsels von einem Sicherheitsstaat – der DDR – in einen demokratischen, freiheit-
lichen Rechtsstaat, der Bundesrepublik Deutschland. Vielleicht kommt einigen von
Ihnen, die schon in der Sowjetunion als Juristen tätig waren, aufgrund gewisser Ge-
meinsamkeiten zwischen den Strafrechtssystemen der DDR und der UdSSR das
Nachfolgende nicht gänzlich unbekannt vor.3
In der DDR stand die Sicherheit gewissermaßen über dem Recht. Die staatlichen
Sicherheitsvorstellungen richteten sich vor allem auf den Schutz der Bevölkerung
vor Kriminalität, den Schutz des Staates vor feindlichen Angriffen von innen wie
von außen und nicht zuletzt auf die Gewährleistung von sozialer Sicherheit. Diese
staatlichen Sicherheitsvorstellungen deckten sich weitgehend mit den Sicherheits-
vorstellungen der Bevölkerung. Das Recht in der DDR wurde auf diese Sicherheits-
vorstellungen ausgerichtet, es war Instrument zu deren Gewährleistung.
Dieses Recht war kein bürgerliches Recht eines bürgerlich-demokratischen
Rechtsstaates, denn die DDR war erklärter- wie faktischermaßen ein solcher Staat
gerade nicht. In der Verfassung der DDR findet sich übrigens das Wort „Sicherheit“
nur in dem Wort „Rechtssicherheit“. Hinsichtlich der Rechte des Einzelnen betont
die DDR-Verfassung die sozialen Rechte, nicht aber die politischen und die Frei-
heitsrechte. Das entsprach dem Menschenbild im Staatssozialismus, das von dem
Menschen als einem „Kollektivwesen“ ausging, das sich als Teil des Fürsorgestaates
entwickelt. In solchem Entwicklungsprozess hatten politische und Freiheitsrechte
des Einzelnen schon deswegen keinen zugesicherten Platz, weil sie sich in der sys-
temimmanenten Logik als störend für die sozialistische Gesellschaft hätten erweisen
können. Wichtiger als die politischen und Freiheitsrechte des Einzelnen war viel-
mehr die Sicherheit des Staates. Denn wenn die Sicherheit des Staates gewährleistet
war – so die Logik – lasse sich auch die soziale Sicherheit der Staatsbürger im Rah-
men der Fürsorgepflicht des gesicherten Staates garantieren.4
Ich selbst habe als Student der Rechtswissenschaften, als Jurist wie auch als Wis-
senschaftler in der DDR dieses herrschende Verständnis von Sicherheit und Recht
längere Zeit im Wesentlichen mitgetragen. Es entsprach auch meinem gesellschafts-
politischen Verhältnis zu diesem Staat und meinen damaligen Überzeugungen.5
Erst nach 1985 reifte eine liberalere Erkenntnis. Das geschah im Zusammenhang
mit der Auseinandersetzung über die Ursachen der Kriminalität im Sozialismus.
Unter Federführung des namhaften DDR-Kriminologen und Strafrechtswissen-
schaftlers John Lekschas wurde die Diskussion über die Frage angestoßen, ob die
3
Vgl. Schittenhelm 1994.
4
Vgl. zum Ganzen Arnold 1995; Böckenförde 1967.
5
Vgl. Eser & Arnold 2012, 1, dortige Fn. 3; Arnold 2016, 62 (S. 86 mit Anmerkung 16).
Zum Verhältnis von (Straf-)Recht, Sicherheit und Freiheit 73
Kriminalität in der DDR neben Einflüssen aus der BRD nicht auch maßgeblich ei-
gene, innere sozialistisch-systemimmanente Ursachen habe.6 Das wurde von führen-
den DDR-Wissenschaftlern wie Erich Buchholz und vor allem von Justizfunktionä-
ren der Praxis, besonders aber von den für diese Fragen zuständigen politisch Herr-
schenden in Zweifel gezogen. Ich selbst war hin und hergerissen.
Die Diskussion über die Ursachen der Kriminalität in der DDR entstand nicht zu-
letzt im Zusammenhang mit Überlegungen, die unter dem Einfluss von Glasnost und
Perestroika die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR auf die Grundlage eines
freiheitlicheren und menschlicheren Sozialismus stellen wollten. Damit verbunden
waren nicht etwa der „Abgesang“ auf die DDR und den Sozialismus als solches
und schon gar nicht die „Übernahme“ der DDR durch die Bundesrepublik Deutsch-
land, sondern die politische, demokratische Erneuerung der DDR. Das fand seinen
nachhaltigen Ausdruck in dem Verfassungsentwurf des sogenannten Runden Tisches
im April 1990.
Politisch, ökonomisch und staatsrechtlich ist es aber anders gekommen. Seit nun-
mehr fast auf den Tag genau 27 Jahren existiert ein staatlich vereintes Deutschland
und nicht mehr die DDR. Für mich persönlich war damit nicht zuletzt auch in juris-
tischer Hinsicht ein tiefgreifender persönlicher Wandlungs- und Lernprozess verbun-
den.7
Dieses vereinte Deutschland versteht sich anders als die DDR als ein bürgerlich-
demokratischer Rechtsstaat. Recht soll staatliche und politische Macht begrenzen
und freiheitlich sein, weil im Gemeinwesen alles als erlaubt angesehen wird, was
nicht ausdrücklich rechtlich verboten ist. Freiheitsrechte sind Abwehrrechte gegen-
über dem Staat. Als eine Leitlinie gilt das in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Rechts-
staatsprinzip. Interessanterweise enthält aber auch das Grundgesetz der BRD das
Wort „Sicherheit“ nicht.
Selbstverständlich aber wird man in den Strafgesetzbüchern sowohl der DDR wie
der BRD fündig – im StGB der BRD beispielsweise im Zweiten Abschnitt, der mit
„Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit“ überschrieben ist (§§ 93 ff.
StGB) sowie in § 125 StGB (Landfriedensbruch), der u. a. die Bedrohung der öffent-
lichen Sicherheit betrifft.
Im StGB der DDR betraf das 7. Kapitel „Straftaten gegen die allgemeine Sicher-
heit“ (§§ 185 ff. DDR-StGB), wozu beispielsweise die „Gefährdung der Brandsi-
cherheit“ sowie die „Gefährdung der Bausicherheit“ (§ 195 DDR-StGB) gehörten.
Ein besonders problematischer Tatbestand war im Rahmen des 8. Kapitels normiert,
6
Lekschas et al. 1983; Arnold 1995, 455 ff.
7
Vgl. dazu Arnold 1995, IX; Eser 1996, 813; Eser & Arnold 2012, 1, dortige Fn. 3;
Vormbaum 2000, VII.
74 Jörg Arnold
der „Straftaten gegen die staatliche Ordnung“ betraf. Hier war durch § 249 DDR-
StGB sogenanntes „asoziales Verhalten“ als Beeinträchtigung der öffentlichen Ord-
nung und Sicherheit mit Strafe bedroht. Die Diskussion um diese Strafvorschrift ent-
zündete sich bereits in der DDR an der Möglichkeit, dass Beschuldigte, die aus so-
genannter „Arbeitsscheu“ ihrer geregelten Arbeit unter bestimmten Voraussetzun-
gen, wie einem längeren Zeitraum, fernblieben, verurteilt werden konnten.
Der Blick in die Verfassung der DDR wie in das Grundgesetz der BRD, als auch in
die jeweiligen Strafgesetzbücher zeigt also, dass der Sicherheitsbegriff hier einerseits
entweder gänzlich fehlt oder eine gewisse strafrechtliche Normierung gefunden hat,
im StGB der DDR stärker als in jenem der BRD.
Vor dem Hintergrund dieses Befundes haben wir es nun mit der Realität zu tun,
dass sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaft, Strafrechtswissenschaft und
Kriminologie bilden da keine Ausnahme, das Wort Sicherheit allenthalben im
Munde geführt wird. Es handelt sich fast schon um einen inflationären Gebrauch,
der nicht neu ist.
Für die alte Bundesrepublik sind wohl die Gewaltverbrechen der Rote-Armee-
Fraktion (RAF) die Zäsur gewesen, um seit Mitte der 1970er Jahre bis vielleicht An-
fang der 1980er Jahre dem Thema „innere Sicherheit“ besondere Aufmerksamkeit zu
widmen. Die Gewaltverbrechen der RAF waren für die damalige Kriminalpolitik der
Anlass, um im materiellen Strafrecht wie auch besonders im Strafverfahrensrecht
einen massiven Abbau von individuellen Schutzrechten zu betreiben, die bis dahin
in Strafverfahren garantiert waren. Das ging einher mit gravierenden Beschneidun-
gen des Rechts auf Verteidigung und mit dem Ausbau von Strafvorschriften, mit
denen das komplexe RAF-Gewaltgeschehen in Zukunft besser erfasst werden sollte.8
Diese Situation hatte sich dann in den 1980er Jahren wieder etwas beruhigt. Der
sicherheitspolitische Diskurs wurde leiser. Auch in der Kriminologie spielte er in die-
ser Zeit bis etwa Mitte der 1990er Jahre jedenfalls in Bezug auf die Bundesrepublik
keine dominante Rolle mehr. Das Wort „Sicherheit“ kommt beispielsweise weder in
der 2. Auflage des Lehrbuches Kriminologie von Kaiser von 19889 noch in der
3. Auflage des Kleinen Kriminologischen Wörterbuches von Kaiser et al. aus dem
Jahre 1993 vor.10
Kritische Richtungen, die zu dieser Zeit in der Kriminologie und auch in der Straf-
rechtswissenschaft der alten Bundesrepublik wohl noch sehr viel stärker als es heute
der Fall ist existierten, betrachteten den Sicherheitsbegriff aber unvermindert als Ge-
waltherrschaftskonstante des Staates. Damit war vor allem Staatskritik verbunden.11
Solche Stimmen verstummten oder ruderten zurück, als im Zusammenhang mit dem
Untergang der DDR der gesellschaftliche Diskurs in der BRD von der Debatte um
8
Vgl. u. a. Müller 1980; Mehlich 2012; Honecker & Kaleck 2016, 557.
9
Kaiser 1988.
10
Kaiser et al. 1993.
11
Vgl. u. a. Janssen & Schubert 1990.
Zum Verhältnis von (Straf-)Recht, Sicherheit und Freiheit 75
Rolle und Funktion des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR und um jene Men-
schen bestimmt wurde, die für dieses Ministerium in verschiedener Weise tätig
waren.
Einen neuen innenpolitischen Aufschwung erlebte und erlebt die Debatte um die
Sicherheit seit den Anschlägen auf das World Trade Center am 11. September 2001.
Seit dieser Zeit konkurrieren die Begriffe „Sicherheit“ und „Terrorismus“ in der Häu-
figkeit ihres Gebrauches miteinander. Mit dieser Bemerkung soll eine – allerdings
diffuse und disparate – terroristische Gefahr nicht geleugnet werden, gleichwohl las-
sen sich nicht die Augen davor verschließen, dass diese Gefahr das trojanische Pferd
für einen Abbau des Rechtsstaates ist – und zwar in einer europäischen Dimension.
In der deutschen Wissenschaft wird diese Entwicklung teilweise nachhaltig be-
gleitet, und dies durchaus kritisch, wenngleich die Kritik in unterschiedlicher Ge-
wichtung ausfällt. Die Kritik kulminierte im Hinblick auf die Figur des sogenannten
Feindstrafrechts, wie diese von dem Strafrechtslehrer Günther Jakobs aus Bonn pos-
tuliert wird.
1.3 „Feindstrafrecht“
Das „Feindstrafrecht“ soll nach Jakobs das rechtsstaatliche Strafrecht für Feinde
der Gesellschaft außer Kraft setzen, soll entpersonalisieren, weil jenes nur für bür-
gerliche Rechtspersonen zuständig sei, nicht aber für Feinde der bürgerlichen Gesell-
schaft, wie islamistische Terroristen.12 Der Täter des „Feindstrafrechts“ ist Gefahren-
quelle, die weit im Vorfeld einer eintretenden bzw. drohenden Schädigung auftritt.13
Das aber ist ein auf die Spitze getriebenes Sicherheitsrecht. Ich selbst habe mich
auf dem Strafverteidigertag im Jahre 2006 kritisch damit auseinandergesetzt.14 Das
wiederum hatte mir in der Diskussion Kritik insbesondere von dem Strafrechtslehrer
Klaus Lüderssen aus Frankfurt eingebracht; dies aber nicht deswegen, weil ich Ja-
kobs kritisiert hatte, sondern weil Lüderssen der Meinung war, es stehe mir als frü-
herem Juristen aus der DDR, der selbst einmal in Kategorien einer Art „Feindstraf-
recht“ gedacht hatte, freilich unter anderen historischen Bedingungen und Einflüs-
sen, nicht zu, jene zu kritisieren, die als westdeutsche Strafrechtler den Rechtsstaat
einschränken wollen.
Sich „vom Saulus zum Paulus“ wandeln zu können, wird mir damit abgesprochen,
sozusagen mein „Damaskuserlebnis“ nicht zugestanden. Doch um in diesen um-
gangssprachlichen Bibelmetaphern zu bleiben: Die Wandlung vom sicherheitsdomi-
nanten DDR-Strafrecht in das freiheitliche rechtsstaatliche Strafrecht der BRD ist in
der Realität eben gerade nicht eine eindimensionale Wandlung vom Bösen zum
Guten, oder hinsichtlich des „Damaskuserlebnisses“ die metaphorische Begegnung
12
Vgl. nur Jakobs 2006, 289.
13
Vgl. dazu auch Brunhöber 2018, 193 (196).
14
Arnold 2006, 303.
76 Jörg Arnold
mit Jesus Christus und die damit verbundene einschneidende Erkenntnis eines wun-
derbaren Strafrechts in der Bundesrepublik Deutschland. Die Theorie des rechts-
staatlichen Strafrechts hält der Wirklichkeit mitnichten stand. Und das liegt nicht zu-
letzt an der Instrumentalisierung des Sicherheitsbegriffs für die Erosion rechtsstaat-
lichen Strafrechts. Es ist nicht populistisch, eher vielleicht metaphorisch, wenn ich
die These vertrete, dass sich das Strafrecht der BRD zurück zum Strafrecht der DDR
entwickelt.15 In Wirklichkeit ist diese Aussage Teil einer Kontinuitätsdebatte, die
auch im Zusammenhang mit der Kritik am „Feindstrafrecht“ als einer Form des Si-
cherheitsstrafrechts geführt worden ist.16
Ohne diese Debatte hier nachzeichnen zu können, sei jedenfalls festgestellt, dass
der Abbau des rechtsstaatlichen Strafrechts eine lange historische Tradition hat. Das
betrifft beispielsweise die generelle Ausdehnung der Strafbarkeit in den Bereich der
Vorbereitung hinein, die noch darüber hinausgehende weite Vorverlagerung der
Strafbarkeit bei politischen Delikten, sowie die Beseitigung der obligatorischen
Strafmilderung beim Versuch. Mit der Devise gegen Ende des 19. Jahrhunderts,
dass das zweckmäßige Strafrecht das gerechte Strafrecht sei, wird das Strafrecht
Machtmittel für Machthaber, gründet sich auf seine faktische Durchsetzung und
ist austauschbar gegen andere Machtmittel wie das Zivilrecht, das Polizeirecht
oder das Ordnungswidrigkeitenrecht.
Diese Entwicklung mündet in die Maßregeln der Besserung und Sicherung mit
ihrer Betonung von Schuldunabhängigkeit und präventiver Effektivität, mit ihrer
Einebnungsfunktion von Strafrecht, Polizeirecht, Zivilrecht und Unterbringungs-
recht und ihrer Erwartung, von wechselnden politischen Systemen benutzt zu wer-
den.
Dieser historische Verlauf, der in seinen tatsächlichen Ausprägungen hier nur sehr
verkürzt wiedergeben werden konnte und zu dem auch das deutsche Kolonialstraf-
recht in der Zeit von 1886 bis 1918 gehört, lässt sich interpretieren als eine weit aus-
greifende historische Entwicklungslinie von einem liberalen rechtsstaatlichen Straf-
recht der Aufklärung zu einem „Feindstrafrecht“ der Moderne.
Je nach politisch-historischen Entwicklungsphasen schlägt das Pendel des
„Feindstrafrechts“ besonders stark aus. Das lässt sich an der NS-Zeit im deutschen
faschistischen Staat nachweisen, aber auch an Teilen der Strafrechtsentwicklung und
-praxis in der DDR. Nach einer Phase gewisser Beruhigung in der alten Bundesre-
publik, die sich trotz des vorhandenen besonderen „Feindstrafrechts“ gegen den po-
litischen Gegner einstellte, beginnt das Pendel seit einiger Zeit unter den Schlagwör-
tern oder besser hinter den Fassaden von Globalisierung, Risikogesellschaft, Sicher-
heitsgesellschaft und Informationsgesellschaft wieder besonders heftig zu schlagen,
egal ob diese Pendelschläge beispielsweise Sicherheitsstrafrecht, Interventionsstraf-
recht oder Risikostrafrecht genannt werden. In all diesen Strafrechtsformen ist die
15
Arnold 1995, 1, 20; vgl. dazu Vormbaum 2015, 3.
16
Arnold 2006, 303 (308 f.); Naucke 2010, 129.
Zum Verhältnis von (Straf-)Recht, Sicherheit und Freiheit 77
Als einer der Ersten am Max-Planck-Institut hat sich Hans-Jörg Albrecht mit dem
Sicherheitsbegriff befasst. Er hielt bereits im Jahre 2003 vor kritischen Anwältinnen
und Anwälten in Berlin, dem Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein
(RAV), einen Vortrag zu dem Thema: „Der erweiterte Sicherheitsbegriff und seine
Folgen“. Hier erfährt man schon vor 15 Jahren alles, was auch heute noch relevant
ist. Das wird beispielsweise deutlich an dem aktuellen Pendant des Beitrages von Al-
brecht, der aus der Feder von Tobias Singelnstein stammt und in der Festgabe zum 40.
Jahrestag des RAV gerade erschienen ist.18
Nur kurze, aber wichtige Gedanken aus dem Vortrag von Albrecht zum Verständ-
nis für unser Thema:19
17
Arnold 2006, 303 (308 f.); Naucke 2010, 129.
18
Singelnstein 2019, 309.
19
Albrecht 2003, 6; https://www.rav.de/publikationen/infobriefe/archiv/infobrief-91-2003/
der-erweiterte-sicherheitsbegriff-und-seine-folgen/ [06. 09. 2018].
78 Jörg Arnold
Ich will ergänzen, dass in diesem Kontext auch internationale Kriege zu sehen
sind, die sich „humanitäre Interventionen“ nennen, oder die aus sogenannter
„Schutzverantwortung“ (responsibilty to protect) bzw. gegen sogenannte „unfähige
und unwillige Staaten“ aus vorgetäuschter kollektiver Selbstverteidigung geführt
werden, wobei es sich aber in Wirklichkeit um völkerrechtswidrige Präventiv-
oder Vergeltungskriege handelt.21
Albrecht hebt hervor, dass sich nationale wie europäische Sicherheitskonzepte,
denen der erweiterte Sicherheitsbegriff zu Grunde liegt, durch das Sicherheitsgefühl
legitimiert sehen.22 Begleitet wird die Berufung auf das Sicherheitsgefühl durch me-
20
Albrecht 2003, 3.
21
Paech; https://hinter-den-schlagzeilen.de/das-neue-voelkerrecht [12. 09. 2018].
22
Vgl. zum Sicherheitsgefühl Gusy 2010, 111.
Zum Verhältnis von (Straf-)Recht, Sicherheit und Freiheit 79
26
Vgl. Arnold 2019b, 21 ff.
27
Vgl. Singelnstein & Stolle 2012.
28
Vgl. Arnold 2019b, 51.
29
Vgl. Puschke & Rienhoff 2018, 243 (252 ff.).
30
Puschke & Rienhoff 2018, 244 ff. (252).
Zum Verhältnis von (Straf-)Recht, Sicherheit und Freiheit 81
In einem Beitrag zur Erinnerung an den viel zu früh verstorbenen Münchner Straf-
rechtslehrer Joachim Vogel befasst sich Ulrich Sieber mit dem „Paradigmenwechsel
vom Strafrecht zum Sicherheitsrecht“.31 Sozialwissenschaftlich ist für Sieber die mo-
derne Risikogesellschaft der Ausgangspunkt. Hier erfolge die Hinwendung zu Prä-
vention und Sicherheit, die sich sowohl innerhalb als auch außerhalb des Strafrechts
zeige. Klassisches repressives Strafrecht entwickle sich zu einem unmittelbar prä-
ventiven Strafrecht. Es verschwimme zugleich mit anderen Rechtsregimen zu
einem allgemeinen „Sicherheitsrecht“ mit einer „neuen Sicherheitsarchitektur“,
die nicht mehr wie früher durch ein Monopol des Strafrechts und seiner Schutzga-
rantien dominiert werde, sondern eine Vielzahl von unterschiedlichen Rechtsregi-
men enthalte. Der damit verbundene Verlust an rechtlichen Regelungen werde
durch den zusätzlichen Wandel zur Informationsgesellschaft und durch die Globali-
sierung als den beiden weiteren Veränderungen der Gesellschaft noch wesentlich
verstärkt.32
Diese Analyse deckt sich mit jener von Albrecht, die dieser – wie erwähnt – als
„Querschnittseigenschaft“ des Sicherheitsrechts bezeichnet hat. Sieber spricht frei-
lich davon, dass dieses „neue disziplinübergreifende Sicherheitsrecht“ gegenüber der
rein strafrechtlichen Kriminalitätskontrolle über Mittel verfüge,
„die für eine effektive Kontrolle der neuen objektiven Herausforderungen in der globalen
Risikogesellschaft grundsätzlich genutzt werden sollten und teilweise sogar unverzichtbar
sind.“33
Der präventive Ansatz habe darüber hinaus sogar ganz allgemein – besonders aus
Sicht des (potenziellen) Opfers – gegenüber der strafrechtlichen Repression Vorzüge.
Dies gelte zumal in Bereichen, in denen die Sanktionsdrohung des Strafrechts – wie
gegen terroristische Selbstmordattentäter – weitestgehend wirkungslos seien.34
Sieber kritisiert jedoch, dass einige der neuen rechtlichen Präventionsregime
höchst problematisch seien, weil sie die Schutzgarantien nicht gewährleisteten.
Eine Bewertung des neuen Sicherheitsrechts erfordere daher eine differenzierte Aus-
einandersetzung mit seinen einzelnen Regelungen, was sehr viel mehr rechtliche und
kriminologische Forschung als bisher erfordere.35 Insgesamt gehe es um die Gewähr-
leistung von Sicherheit und den Schutz von Freiheit.
Die Strafrechtswissenschaft müsse über ihre bisherige klassische Selbstbeschrän-
kung hinausdenken, weil sie sonst nicht bemerke und nicht verhindere, dass die Auf-
gabe des Strafrechts in wichtigen Bereichen von anderen Rechtsregimen wahrge-
31
Sieber 2016, 351; vgl. auch Sieber & Vogel 2015.
32
Sieber 2016, 354 f.
33
Sieber 2016, 369.
34
Sieber 2016, 369.
35
Sieber 2016, 370.
82 Jörg Arnold
nommen und seine zentralen Garantien unter einem anderen Etikett (z. B. der Ver-
waltungssanktionen) umgangen werden.36
Möglicherweise sind diese Überlegungen von Sieber anschlussfähig an Ausein-
andersetzungen mit einer Trennungsthese, die besagt, dass das Risikostrafrecht
vom übrigen Strafrecht getrennt werden soll, um damit die Rechtsstaatsprinzipien
für das klassische Strafrecht zu erhalten.37 Aber auch in Auseinandersetzung mit
der von Ulrich Sieber präferierten Verbindung von „Sicherheitsarchitektur“ und
„Freiheitsarchitektur“38 können Erkenntnisse einer wieder stärker in Erscheinung
tretenden kritischen Kriminologie aus jüngerer Zeit hilfreich sein.39
Hierzu gehört auch die Aufgabenstellung, nach den tieferen Rahmenbedingun-
gen, wenn nicht Ursachen für die (internationale bzw. transnationale) „Sicherheits-
gesellschaft“ zu fragen. Dabei wird man nicht umhinkommen, sich aufdrängende
insbesondere ökonomische und politische Zusammenhänge bzw. Determinanten
zu erforschen. So erscheint es keineswegs als Zufall, dass die internationale „Sicher-
heitsgesellschaft“ mit einem weltweit entgrenzten Neoliberalismus und einem par-
allel dazu verlaufendem Gefährdungsprozess von Demokratien einhergeht,40 verbun-
den mit einer menschenfeindlichen, durch die Staaten immer mehr deregulierten Fi-
nanzökonomie, ebenso wie mit der Vertiefung von Erscheinungen des Rechtsextre-
mismus, Rassismus und Antisemitismus sowie Abwertung und Diskriminierung von
Homosexuellen, Obdachlosen, Behinderten, Flüchtlingen, Muslimen.41
In diese Aufgabenstellung sollte auch die wissenschaftliche Diskussion von alter-
nativen politischen Handlungsoptionen zur Veränderung dieser realen gesellschaft-
lichen Verhältnisse einbezogen werden. Denn – so wie das jedenfalls im Grundsätz-
lichen beispielsweise auch der emeritierte Direktor des Max-Planck-Instituts für Ge-
sellschaftsforschung Wolfgang Streeck sieht –42 nur sozial gerechtere, friedlichere,
demokratischere und emanzipatorischere gesellschaftliche Verhältnisse können
sich als Garanten für Freiheit, Recht und Sicherheit erweisen.
36
Sieber 2016, 371 f.
37
Brunhöber 2018, 193 (205).
38
Sieber 2016, 372; kritisch zu dieser Verbindungslinie aus strafrechtswissenschaftlicher
Sicht u. a. Naucke 2010, 129 (135 f.).
39
Vgl. nur Albrecht 2003; Albrecht 2010a; Albrecht 2010b; Hefendehl 2000, 174; Hefen-
dehl 2011, 209; Hefendehl 2013a, 19; Hefendehl 2013b, 729; Kölbel & Borck 2012; Sin-
gelnstein & Stolle 2012; Kunz & Singelnstein 2016; Puschke & Singelnstein 2018.
40
Vgl. insbes. Singelnstein & Stolle 2012.
41
Heitmeyer 2018.
42
Streeck, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-zukunft-der-linken-platz-
fuer-gerechtigkeitspolitik-15721464.html [07. 09. 2018]; Streeck, https://www.zeit.de/2018
/26/lokalpatriotismus-politik-kosmopolitismus-grenzen-identitaet/komplettansicht [07. 09.
2018]; Streeck, https://www.zeit.de/2018/36/sammelbewegung-aufstehen-die-linke-unter
stuetzung [07. 09. 2018].
Zum Verhältnis von (Straf-)Recht, Sicherheit und Freiheit 83
43
Hanschmann 2017, 434.
44
Chalkiadaki 2017.
45
Böhm 2011.
46
Vgl. zur Thematik auch v. Denkowski 2007, 325; Wegner & Hunold 2017, 367; War-
tenphul 2017, 423.
47
Hanschmann 2017, 434.
48
Hanschmann 2017, 434.
84 Jörg Arnold
49
Hanschmann 2017, 434 f.
50
Hanschmann 2017, 435.
51
Hanschmann 2017, 435.
52
Hanschmann 2017, 436.
53
Goertz 2019, 61.
Zum Verhältnis von (Straf-)Recht, Sicherheit und Freiheit 85
Stefan Goertz – seines Zeichens Beamter der Bundespolizei und Dozent an der Hoch-
schule des Bundes – spricht davon, dass es keine gesetzliche Definition des Begriffes
„Gefährder“ gebe; es lägen aber bundeseinheitlich abgestimmte polizeiliche Defini-
tionen vor. Den Autor veranlasst das zu der erstaunlichen Schlussfolgerung, dass dies
„rechtliche Definitionen“ seien,54 obwohl er nicht umhinkommt, zu erwähnen, dass
diese nach Ansicht des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages keine rechtli-
che Verbindlichkeit besitzen.55
Den Inhalt der polizeilichen Definitionen gibt Goertz wie folgt wieder:
„Ein Gefährder ist eine Person, zu der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass
sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne
des § 100a der Strafprozessordnung (StPO), begehen wird.
Eine Person ist als relevant anzusehen, wenn sie innerhalb des extremistischen/terroristi-
schen Spektrums die Rolle
a. einer Führungsperson,
b. eines Unterstützers/Logistikers,
c. eines Akteurs
einnimmt und objektive Hinweise vorliegen, die die Prognose zulassen, dass sie politisch
motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des
§ 100a StPO fördert, unterstützt, begeht oder sich daran beteiligt, oder
d. es sich um eine Kontakt- oder Begleitperson oder eines Verdächtigen einer politisch mo-
tivierten Straftat von erheblicher Bedeutung, insbesondere einer solchen im Sinne des
§ 100a StPO handelt.“56
54
Goertz 2019, 62.
55
Goertz 2019, 63.
56
Goertz 2019, 63. Goertz bezieht sich dabei auf die Bundestags-Drucksache 18/11369
(2017) und verweist zusätzlich zu dem Begriff „Gefährder“ auch auf den Begriff „Relevante
Person“, der ebenfalls von dieser Definition umfasst sei. Die Unterschiede werden allerdings
nicht klar. Goertz behandelt sodann auch die „operativen Reaktionen auf Gefährder“, worauf
hier nicht weiter eingegangen werden kann (Goertz 2019, 64 ff.).
57
Sieber 2016, 359.
58
Hanschmann 2017, 437.
86 Jörg Arnold
davon, dass der „Gefährder“ ein neuer Typ im Vergleich mit dem Adressaten der „Ge-
fährderansprache“ ist.59
Es drängt sich geradezu auf, an dieser Stelle auf das neue Bayerische Polizeiauf-
gabengesetz (PAG)60 kurz einzugehen, das als Modellgesetz für die anderen Bundes-
länder diente.61 Das PAG62 sieht eine massive Ausweitung der polizeilichen Befug-
nisse vor. So soll es der Polizei dort künftig möglich sein, auch ohne konkreten Ver-
dacht Personen zu durchsuchen, Telefone abzuhören, verdeckte Ermittler einzuset-
zen, Daten auszulesen, zu speichern und zu verändern. Möglich wird das durch die
Einführung der Kategorie „drohende Gefahr“:63 Bisher müssen für ein präventives
Handeln der Polizei konkrete Verdachtsmomente vorliegen, künftig soll das nicht
mehr erforderlich sein.
Die „drohende Gefahr“ wurde in Bayern bereits im letzten Sommer mit dem „Ge-
setz zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen“ als rechtliche Kategorie
eingeführt.64 Dieses Gesetz erlaubt unter anderem, Menschen, die als Gefährder ein-
gestuft werden, theoretisch unbegrenzt in Präventivhaft zu nehmen – im März hat die
bayerische Grünen-Fraktion dagegen Klage vor dem Bundesverfassungsgericht ein-
gereicht. Der renommierte Journalist der Süddeutschen Zeitung Heribert Prantl
nennt dieses Gesetz „eine Schande für einen Rechtsstaat“.65
Als Hanschmann seine Untersuchung im vorangegangenen Jahr durchführte, war
die „drohende Gefahr“ noch nicht wirklich ein Thema. Deshalb konnte er sich auch
noch nicht explizit damit auseinandersetzen, sondern legte den Fokus entsprechend
des damals aktuellen Diskurses zur „konkreten Gefahr“ auf solche damit im Zusam-
menhang unterbreiteten dogmatischen Vorschläge zur Erfassung des Begriffs des
„Gefährders“, wie „Gefahrverdacht“ und „Risiko“, einhergehend mit der Etablie-
rung eines „Gefahrenaufklärungsrechtes“.66
Mittlerweile beziehen sich kritische Äußerungen zu dem neuen PAG aber auch
auf neben der Präventivhaft bestehende weitere Konsequenzen, die sich aus der „Ab-
wehr einer Gefahr oder einer drohenden Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut“
59
Hanschmann 2017, 436 ff.
60
https://www.merkur.de/politik/polizeiaufgabengesetz-in-bayern-steht-wirklich-drin-inh
halt-9887440.html [20. 08. 2018].
61
https://taz.de/Seehofers-neues-Gesetz/!5499809/ [20. 08. 2018]; zum Modellcharakter des
PAG für andere Bundesländer und dem dabei beschrittenen Weg in den Polizeistaat siehe
Mertens, https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/es-kann-jetzt-jeden-treffen-1 [31. 08. 2018].
62
http://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayPAG/true?AspxAutoDetectCookie
Support=1 [20. 08. 2018].
63
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/neues-polizeigesetz-bayern-befugnisse-daten
schutz-postgeheimnis-explosivmittel/ [20. 08. 2018].
64
Vgl. zum Inhalt dieses Gesetzes Müller 2018, 109.
65
http://www.sueddeutsche.de/bayern/gefaehrder-gesetz-bayern-fuehrt-die-unendlichkeits
haft-ein-1.3594307 [20. 08. 2018].
66
Hanschmann 2017, 442 ff.; kritisch dazu Bautze 2018, 205.
Zum Verhältnis von (Straf-)Recht, Sicherheit und Freiheit 87
(Art. 16 Abs. 2 Nr. 2b PAG) ergeben können.67 Unter diesen Voraussetzungen kann
einer Person verboten werden, „ihren Wohn- oder Aufenthaltsort oder ein bestimmtes
Gebiet zu verlassen.“ Der Münchener Strafverteidiger Hartmut Wächtler nennt dies
„Verbannung“ und zeigt aufgrund der Regelung des „bedeutenden Rechtsgutes“ auf,
dass die „Verbannung“ die exklusiven Gebiete der politischen Systemopposition ver-
lassen hat und „in der Vorbeugung gegen Durchschnittskriminalität angekommen“
ist.68 Die Prognose Wächtlers ist, dass die „Verbannung“ zunächst vor allem
gegen Ausländer angewandt werden wird, die aus irgendeinem Grund den Argwohn
der Behörden auf sich gezogen haben; würde sie sich bewähren, wäre auch „Heinz
Müller“ davor nicht mehr sicher.69
An der Vorschrift über die Präventivhaft (Vorbeugehaft – Art. 17 PAG) kritisiert
Wächtler vor allem die fehlenden Rechtsschutzmöglichkeiten. Es gebe keinen
Pflichtverteidiger, der Festgenommene sei auf sich gestellt, wenn er mittellos ist.
Es stelle sich die Frage, wie er dem Richter klar machen kann, dass von ihm
keine Gefahr ausgeht. Die Beschwerde zum Landgericht könne, müsse aber nicht
zu einer neuen Verhandlung führen. Es könne nach Aktenlage entschieden werden,
die der Inhaftierte aufgrund fehlender anwaltlicher Verteidigung womöglich gar
nicht kennt.70
Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus zwar im Grundsatz mit den
Grundrechten vereinbar ist. Die derzeitige Ausgestaltung von Befugnissen genüge
aber in verschiedener Hinsicht nicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Das führte
dazu, dass verschiedene Regelungen aus dem Gesamtkomplex zu beanstanden
waren. Eine ganze Reihe derartiger Regelungen erklärte das BVerfG für nichtig
und mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.
Für die Thematik des „Gefährders“ bzw. der „drohenden Gefahr“ von Bedeutung
sind die Ausführungen in der Urteilsbegründung zu § 20k Abs. 1 Satz 2 BKAG.
Diese Vorschrift eröffnet die Möglichkeit, auch schon im Vorfeld einer konkreten Ge-
fahr Maßnahmen durchzuführen, wenn bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall
drohende Gefahr einer Begehung terroristischer Straftaten hinweisen. Dies sei dahin-
gehend auszulegen, dass Maßnahmen nur erlaubt sind, wenn die Tatsachen den
Schluss auf ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares
Geschehen zulassen, auch wenn erkennbar ist, dass bestimmte Personen beteiligt
sein werden, über deren Identität zumindest so viel bekannt ist, dass die Überwa-
chungsmaßnahme gezielt gegen sie eingesetzt und weitgehend auf sie beschränkt
werden kann. Ausreichend sei insoweit auch, wenn zwar noch nicht ein seiner Art
nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen erkennbar ist, jedoch das in-
dividuelle Verhalten eines Betroffenen eine konkrete Wahrscheinlichkeit begründet,
dass er solche Straftaten in überschaubarer Zukunft begehen wird.73
Es ist gerade dieser letzte Satz, mit dem die vorhergehenden Sätze, die sich durch-
aus an einem Festhalten an der „konkreten Gefahr“, gewissermaßen als ein Anker für
die „drohende Gefahr“ lesen lassen könnten, in ihr Gegenteil verkehrt werden. Denn
wenn nun das individuelle Verhalten eines Betroffenen für die Begründung einer
konkreten Wahrscheinlichkeit, dass er solche Straftaten in überschaubarer Zukunft
begehen wird, ausreichend sein soll, scheint genau das der sicherheitspolitischen
Auffassung des Verständnisses vom „Gefährder“ zu entsprechen. Es bleibt ein Ge-
heimnis, wie sich in der Wirklichkeit eine konkrete Wahrscheinlichkeit dafür begrün-
den lassen soll, dass die betreffende Person in überschaubarer Zukunft terroristische
Straftaten begehen wird. Hier sind einem letztlich willkürlichen polizeilichen Agie-
ren Tür und Tor geöffnet.74 Es nimmt somit nicht wunder, dass die Begründung des
Bayerischen Polizeiaufgabengesetzes sich für die „drohende Gefahr“ genau darauf
beruft.
73
BVerfGE 141, 220 – 378 – Rn. 211 – 213; https://www.bundesverfassungsgericht.de/Sha
redDocs/Entscheidungen/DE/2016/04/rs20160420_1bvr096609.html [14. 09. 2018].
74
Vgl. auch die – wenngleich nicht so scharfe – Kritik bei Bautze 2017, 206. Bautze
kritisiert am BKAG-Urteil des BVerfG in Zusammenhang mit ihrer Kritik besonders an
Hanschmann, dass einziges „Merkmal“ des Gefährders die Tatsache sei, dass beim Gefährder
„ein seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen“ noch nicht erkennbar
sei. Folgerichtig stelle Hanschmann dann auch fest, dass „die Figur des Gefährders das Recht
[…] im Hinblick auf dessen Umgang mit Unwissen herausfordert.“ Der „Gefährder“ erscheine
somit als eine „Rechtsfigur im Nebel“ und solle dort auch bleiben.
Zum Verhältnis von (Straf-)Recht, Sicherheit und Freiheit 89
Die BKAG-Entscheidung des BVerfG befindet sich auf einer Linie mit anderen
Entscheidungen des höchsten deutschen Gerichts, die das Sicherheitsrecht betreffen,
darunter Entscheidungen, die so wie das BKAG-Urteil auch die Thematik des „Ge-
fährders“ beinhalten. Die Entscheidungen des BVerfG, die das Sicherheitsrecht und
Sicherheitsgesetze betreffen, werden durch kritische Stimmen als sogenannte „Ja-Je-
doch-Walzerschritt-Rechtsprechung“ bezeichnet.76 Die Sicherheitsgesetze werden
in ihren Grundstrukturen für verfassungskonform gehalten, jedoch wegen der
Schwere der damit verbundenen Grundrechtseingriffe werden eine Vielzahl von Ein-
zelregelungen für unvereinbar mit dem Bestimmtheitsgebot und/oder dem Verhält-
nismäßigkeitsgrundsatz erklärt.77
Bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung des Antiterrordateigesetzes ging es um
die Regelungen einer Verbunddatei zwischen den Polizeibehörden des Bundes und
der Länder sowie den Geheimdiensten. Begründet wird dieses damit, dass Dateien
von Personen besonderer Gefährlichkeit heimlich gespeichert werden dürfen. Ge-
setzlich ist der Begriff des „Gefährders“ hier zwar nicht expressis verbis enthalten,
aber indirekt. Die Antiterrordatei (ATD) sei auch eine Gefährderdatei, eine Samm-
lung von Daten, betreffend kraft einer heimlichen Prognose als besonders gefährlich
eingestufter Grundrechtsträger.78 Der Begriff „Gefährder“ gilt als Rechtfertigung für
die heimlichen Interventionen in Verknüpfung mit dem Ziel einer „optimierten Früh-
erkennung terroristischer Strukturen“.79
Lediglich aufgrund der bloßen Annahme einer als dauerhaft sowie als „erhöht“
bezeichneten „abstrakten Gefährdungslage“ werde die Überwachung vollzogen.
Die Figur des „Gefährders“ gelte in diesem Sinne als Chiffre und als Konstrukt,
75
Life & LAW 2018, 491 f.
76
Vgl. Plöse 2014, 124.
77
Plöse 2014, 124.
78
v. Denkowski 2007, 325, zit. nach Böhm 2011, 225.
79
v. Denkowski 2007, 326, zit. nach Böhm 2011, 226.
90 Jörg Arnold
Schon sechs Jahre vor der Veröffentlichung von Hanschmann hatte María Laura
Böhm ihre Promotion über den „Gefährder“ und das „Gefährdungsrecht“ vorgelegt.81
Sie unternimmt eine rechtssoziologische Untersuchung am Beispiel der Urteile des
BVerfG über die nachträgliche Sicherungsverwahrung und die akustische Wohn-
raumüberwachung. Im Anschluss an Charles von Denkowski ist Ausgangspunkt
für Böhm, dass die Figur des „Gefährders“ bis heute explizit normativ ungeschrieben
bleibe.82
In Wirklichkeit aber sei das „Gefährderkonstrukt“ längst Bestandteil des Straf-
rechts.83 Unabhängig von dem Nachweis, den Böhm dazu anhand der nachträglichen
Sicherungsverwahrung und der akustischen Wohnraumüberwachung führt, zeigt
sich dies besonders am Terrorismusstrafrecht. Indem die genannten Sicherheitsgeset-
ze BKAG sowie ATDG als Voraussetzungen für die dort geregelten weitreichenden
Ermittlungsbefugnisse an Terrorismusstraftatbestände und die Ermittlungsbefugnis-
se dazu in der StPO anknüpfen, offenbare sich die Durchdringung des Gefährderbe-
griffs und dessen Austauschbarkeit im Gefahrenabwehrrecht und im Straf- und Straf-
prozessrecht. Straf- und Strafprozessrecht würden auf diese Weise selbst zu einem
Gefahrabwehrrecht. Dies sei zugleich verbunden mit einer Normierung der entspre-
chenden Straftatbestände, die eine weite Vorverlagerung der Strafbarkeit bedeuteten.
Was die Vorverlagerung der Strafbarkeit in den Terrorismustatbeständen betreffe, so
lasse sich hier fast sinnbildlich von einer Synchronität zwischen der Nebulosität des
Gefährderbegriffs und der Vorverlagerung der Terrorismusstraftatbestände in eine
abstrakte Gefahr sprechen, die solcher Nebulosität letztlich gleichkomme.
Aber so nebulös erscheine diese Situation nur auf den ersten Blick. In Wirklich-
keit gerieten StGB und StPO in diesem vermeintlichen Gefährdernebel zur Legitima-
tion für immer mehr außerstrafrechtliche Eingriffsbefugnisse und Ermittlungen
durch Polizei und Staatsanwaltschaften. Wie Böhm zutreffend schreibt, kommt
der Diskurs des Strafrechts in einer diffusen und angreifenden Form und in der Ma-
terialisierung des Strafsystems zum Ausdruck: „diffus in der Konstruktion der Adres-
saten, angreifend in der Form der Reaktion“.84 Es gehe dabei nicht lediglich um Ri-
sikomanagement, sondern auch um die angreifende Abwehr gegenüber allen mög-
lichen Schäden, die durch die Risikoerkennung berechenbar gemacht werden. Das
Strafrecht bilde zusammen mit dem Risikomanagement und der Gefahrenabwehr
80
Böhm 2011, 226.
81
Böhm 2011, 226.
82
Böhm 2011, 227.
83
Böhm 2011, 229.
84
Böhm 2011, 229.
Zum Verhältnis von (Straf-)Recht, Sicherheit und Freiheit 91
85
Böhm 2011, 229.
86
Böhm 2011, 229.
87
Böhm 2011, 235.
88
Böhm 2011, 240.
89
Böhm 2011, 249.
90
Böhm 2011, 302.
92 Jörg Arnold
nismus sowie bei den haftentlassenen Sexualstraftätern erfüllt, wenn auch mit unter-
schiedlichen Mitteln und in unterschiedlicher Weise.
Worum es eigentlich bei dem Begriff des „Gefährders“ und damit bei der Abwehr
der Terrorismusgefahr geht, arbeitet Chalkiadaki länderspezifisch heraus. Für
Deutschland stehe im Mittelpunkt die Kombination von Strafnormen und Vorschrif-
ten aus dem Recht der Nachrichtendienste einerseits und Praktiken der polizeilichen
und nachrichtendienstlichen Sicherheitsbehörden andererseits. Hinsichtlich des
Strafrechts werde kein spezieller Gesamt-Straftatbestand für das Phänomen Terroris-
mus geschaffen, sondern der Gesetzgeber kriminalisiere in einer Anzahl von terro-
rismusspezifischen, terrorismusrelevanten oder sonstigen allgemeinen Vorschriften
des StGB vielfältige konstitutive Elemente des Terrorismus.91
Auf diese Weise stehe die Vorverlagerung der Strafbarkeit weit in das Vorfeld von
terroristischen Handlungen im Fokus. Außerdem werde das Recht der Nachrichten-
dienste eingesetzt, und zwar überwiegend die Vorschriften, die für den Datenaus-
tausch zwischen den verschiedenen Nachrichtendiensten und der Polizei relevant
sind.92
Es sei hier angefügt, dass mit diesem Konglomerat von Maßnahmen nicht verhin-
dert worden ist, dass der Attentäter Amri des Berliner Weihnachtsmarktes 2016 seine
Terrortaten dort verüben konnte, und dies, wie sich immer mehr herausstellt, obwohl
der Verfassungsschutz ihn längst im Visier hatte, was durch seinen damaligen Prä-
sidenten Maaßen wieder besseres Wissen bestritten wird.93 In diesem Zusammen-
hang sorgt in Deutschland nach wie vor für Unklarheiten und Diskussionen, dass
die Terroranschläge des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) so ohne wei-
teres möglich waren, obwohl der Verfassungsschutz in diese terroristische Vereini-
gung involviert war.94
Deutlich wird, dass zwischen Deutschland und Frankreich kaum signifikante Un-
terschiede bei der Terrorismusbekämpfung bestehen.95 Etwas anders sieht die Situa-
tion in England aus. Dieses Land verfügt nach Chalkiadaki aufgrund der IRA-Erfah-
rungen über das umfassendste Arsenal zur Terrorismusbekämpfung, was bis zur In-
gewahrsamnahme ohne Haftbefehl reicht.96
Hinsichtlich eines solchen Vergleichs zwischen den drei Ländern hebt Chalkia-
daki jedoch zunächst die Gemeinsamkeiten hervor: Vorverlagerung der Strafbarkeit,
Entwicklung von gefahrenabwehrrechtlichen administrativen Maßnahmen; Gewin-
nung von Erkenntnissen und die relevante Nutzung von Daten; Zusammenarbeit der
91
Chalkiadaki 2017, 428.
92
Chalkiadaki 2017, 428.
93
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1100562.fall-amri-geheimdienst-war-am-atten
taeter-dran.html [16. 09. 2018].
94
Vgl. Schultz 2018, 131 ff., 264 ff., 353 ff.
95
Chalkiadaki 2017, 429 f.
96
Chalkiadaki 2017, 313.
Zum Verhältnis von (Straf-)Recht, Sicherheit und Freiheit 93
Behörden beim Umgang mit der Gefahrprognose und gemeinsame Ansätze der Län-
der zur Prävention von schwerer Gewalt, aber auch Gemeinsamkeiten im Hinblick
auf den Gefährderbegriff.97
Kritisch betrachtet Chalkiadaki die strafrechtliche Entwicklung und fordert, dass
das Strafrecht sich gegenüber dem präventiven Druck des Sicherheitsansatzes be-
haupten und seine Eigenschaften und Garantien verteidigen müsse. Dieser Ansatz
habe drei Aspekte: erstens müssten alle Wünsche auf Sicherheit, die auch außerhalb
des Strafrechts mit denselben erfolgreichen Ergebnissen verfolgt werden können, au-
ßerhalb des Strafrechts bleiben, um den Charakter des Strafrechts als ultima-ratio-
Lösung zu garantieren; zweitens sei die Verhältnismäßigkeit nicht die einzige
Schranke für ein Sicherheitsstrafrecht, vielmehr müsse die Würde des Betroffenen
und der damit verbundene Schutz seiner Eigenständigkeit immer noch mehr im Mit-
telpunkt des Strafrechts stehen; drittens müsse wahrgenommen werden, dass auch im
Rahmen eines sicherheitsorientierten Strafrechts eine totale Sicherheit nicht gewähr-
leistet werden kann, sondern vielmehr nur eine Sicherheit nach den normativen Gren-
zen, die ihr das Strafrecht zuschreibt, was für alle Rechtsgüter gelte.98
Es bleibt freilich fraglich, wie die Autorin ihre Auffassung zu den Grenzen des
Strafrechts in Wirklichkeit mit einem rechtsstaatlichen Sicherheitsstrafrecht verbin-
den will,99 womit sich der Kreis auch wieder zu den Überlegungen Siebers, Sicher-
heitsarchitektur mit Freiheitsarchitektur zusammenzuführen, schließt.
4. Zusammenfassung
Der Begriff der Sicherheit hat in den letzten Jahren einen erheblichen Wandel er-
fahren. Es handelt sich nicht um einen im wahrsten Sinne des Wortes „gesicherten“
Rechtsbegriff. Tautologisch ist die Sicherheit danach juristisch ungesichert. Das hat
eigentlich seinen guten Grund, denn Rechtsstaat und Sicherheit verhalten sich wie
Antipoden zueinander. Die Sicherheit befindet sich jedoch im sicherheitspolitischen
Diskurs und erweist sich als ein schleichendes kriminalpolitisches Gift für den
Rechtsstaat, der damit ausgehöhlt wird.
Sicherheitsgefühle, eingeschlossen Ängste und Bedrohungen, sind aber real, was
besonders für islamistischen Terrorismus und zunehmend auch für strafbaren
Rechtsradikalismus diskutiert wird und nicht zu übersehen ist.
Die Reaktionen darauf bestehen in der Konstruktion eines weit verzweigten Ge-
flechts sicherheitspolitischer Maßnahmen mit den Mitteln des Rechts, die in ein Si-
cherheitsrecht münden sollen. In meinem Referat wurde dieses Geflecht durch die
Wiedergabe wichtiger wissenschaftlicher Untersuchungen dargestellt.
97
Chalkiadaki 2017, 433 ff.
98
Chalkiadaki 2017, 451.
99
Chalkiadaki 2017, 451.
94 Jörg Arnold
auch die Transformationen von Sicherheit anders erfolgen, ja mitunter auch an-
ders erfolgen müssen als in westlichen Ländern. Mein Beitrag nimmt nicht für
sich Anspruch, die Wahrheit und Richtigkeit des Verhältnisses von Strafrecht, Si-
cherheit und Freiheit zu kennen und schon gar nicht, diese für andere Länder als
Vorbild erscheinen zu lassen. Meine Ausführungen beinhalten deswegen auch
keine inzidente Kritik am Sicherheitsverständnis in Russland. Ich kenne dieses
auch nicht gut genug, kann mir aber vorstellen, dass es hier und da noch in der
sowjetischen Tradition steht und ihm auch spezifische nationale, konkret-histo-
rische, politische, ökonomische und kulturelle wie soziale Bedingungen und Ver-
hältnisse zu Grunde liegen. Gleichwohl erscheint es mir unverzichtbar, sich über
die allgemeingültigen menschenrechtlichen Voraussetzungen für einen demokra-
tischen, freiheitlichen Sicherheitsbegriff, bzw. ein darauf bezogenes Sicherheits-
recht, diskursiv zu verständigen.102
Bei alledem sollte ein Satz nicht vergessen werden, den der frühere Bundesver-
fassungsrichter und Professor für Staatsrecht an der Universität Freiburg Ernst-Wolf-
gang Böckenförde schon vor vielen Jahren postuliert hat:
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garan-
tieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als
freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bür-
gern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homoge-
nität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht
von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu ga-
rantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in
jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen
herausgeführt hat.“103
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Albrecht, P.-A. (2010a): Der Weg in die Sicherheitsgesellschaft. Berlin.
102
Hierzu gehört – und das sei im Hinblick auf russische Beiträge zu der Tagung, an der
wir teilgenommen haben, hinzugefügt – auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit
der Auffassung der durch Dmitry Shestakov begründeten „Newa-Wolga-Schule“ krimineller
Subsysteme, wonach von einer weltweit agierenden globalen oligarchischen Macht und ihrer
Akteure ausgegangen wird, deren Wurzeln in den USA lägen. Es erscheint zweifelhaft, ob das
der Wirklichkeit von komplexen Herrschaftsformen wirklich gerecht wird. Mit einem trans-
nationalen gesellschaftskritischen Ansatz, der den kapitalistischen Neoliberalismus im Blick
hat, lässt sich nach meinen Verständnis sinnvoller und differenzierter nach den Strukturen von
weltweit vernetzten Unternehmen mit ihrer Ausrichtung auf Profitmaximierung fragen, die
zudem einen Verbund mit dem militärisch-industriellen Komplex bilden. Auf solcher Grund-
lage wäre dann nach der Kriminalität der Mächtigen zu fragen.
103
Böckenförde 1976, 60.
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Anonymität im Recht – Eine Problemskizze
Von Christoph Gusy1
1
Mein Dank gilt den Kolleginnen und Kollegen im Forschungsprojekt „Strukturwandel
des Privaten“, das von der VW-Stiftung gefördert wird, und J.P. Möhle.
2
Grundlegend Brunst 2009; siehe auch Willand 2003; Gröschner 2004, S. 369: „Agora
statt E-Gora“.
100 Christoph Gusy
Rolle, welche dem Träger eines Namens zugewiesen ist, hängt nicht allein, vielleicht
nicht einmal zentral von ihr selbst ab. Ob der Name zum Heldenmythos oder zum
Stigma wird, ist allenfalls ansatzweise eine Frage der Selbstbestimmung und -defi-
nition des Trägers, sondern mindestens ebenso der Einstellungen und Erwartungen
der Gesellschaft. Und mit ihr können sie sich auch wandeln. Der Weg vom Helden
zum Schurken oder umgekehrt setzt Kontinuität des Namens voraus. Zugleich zeigt
sich: Je stärker und verfestigter Rollenbilder und -zuweisungen sind und je weniger
sie von der betroffenen Person selbst beeinflusst werden können, umso intensiver
können sie Persönlichkeitsbildung und -entfaltung der Betroffenen behindern. Aus
der Rolle als Adeliger, als Angehöriger städtischer Oberschichten oder andernorts
privilegierter Kasten, aber auch als Jude, als nichteheliches Kind, als Vorbestrafter
oder Zuwanderer kam man jahrhundertelang nicht heraus. Kulminationspunkt dieser
Zuweisungen ist der Name: Er ist sprachlicher Ausdruck und Abkürzung nicht nur
für die Identifikation einer Person, sondern zugleich für die Summe der auf sie be-
zogenen Erfahrungen, Einstellungen und Erwartungen. Und aus ihnen formieren sich
Vorstellungen und Verhaltensweisen Dritter. Je verfestigter Rollenbilder und -zuwei-
sungen sind, umso unmöglicher wird Betroffenen das Ausweichen durch Selbstbe-
stimmung und Selbstdefinition. Individueller Zurechnungsfaktor solcher Zuschrei-
bungen war und ist der Name. Hier kommt dem Phänomen der Anonymität Bedeu-
tung zu: Namenlosigkeit ermöglicht das Heraustreten aus bestehenden Rollenerwar-
tungen. Historisierend formuliert: In der Dorfgemeinschaft, wo jeder jeden und
dessen Rolle kannte, waren Selbstbestimmung und -entfaltung außerhalb der Rollen-
zwänge kaum möglich. Letztere setzten die Möglichkeit des Heraustretens aus dem
allgemeinen „Wissen“ und auch solchen Zuschreibungen voraus. Wo und wenn der
Name nicht mehr bloß Festlegung und Fortschreibung ist, sondern gemacht werden
kann, fangen Freiheit und Selbstbestimmung an. Und dies setzt ein gewisses Maß an
Anonymität voraus. Die gegenüber dem Dorf anonymere Stadt war in diesem Sinne
Anfang und Vorbedingung der Freiheit.
2. Kontexte
2.1 Öffentlichkeit als Vorbedingung und Wirkungsraum von Anonymität
Anonymität ist Anderes als Privatheit. Zwar weisen beide eine Gemeinsamkeit
auf, nämlich das begrenzte Wissen Außenstehender über Personen. Darin erschöpfen
sich aber ihre Überschneidungen. Wo eine Person ganz für sich und mit sich allein ist,
braucht sie keinen Namen und keine Anonymität. Das ist der seltene Extremfall von
Privatheit. Nach klassischer Auffassung zeichnet sich Privatheit durch die Möglich-
keit der Selbstbestimmung über den Zugang zu Informationen einer Person aus.6 Je
privater ein Lebensvorgang ist, desto höher sind tendenziell die Zugangsmöglichkei-
ten zu den Informationen der Beteiligten untereinander. Dass von dieser erhöhten Zu-
6
Dazu etwa Worms & Gusy 2012, S. 92; Gusy 2018, S. 246 ff.
102 Christoph Gusy
Anonymität ist relativ.12 Wohl kein Mensch ist vollständig anonym. Auch wer auf
sie großen Wert legt, wird anderen Menschen persönlich bekannt sein. Name, persön-
liches Umfeld, Anschrift: Es gibt nahezu stets Menschen, die diese kennen und die
7
Zu einer solchen Ausnahme Helm 2017.
8
Historisch Pabst 2011; Pabst 2018.
9
Rössler 2003, S. 29 f.
10
Dies ist etwa in Agentenfilmen, aber auch ganz real bei verdeckten Ermittlern oder V-
Leuten anzutreffen.
11
Zu ihr Hornung & Engemann 2016.
12
Rössler 2003, S. 29 f.
Anonymität im Recht – Eine Problemskizze 103
4. Rechtliche Rahmenbedingungen
So komplex die relative Anonymität erscheint, so komplex erscheinen auch ihre
rechtlichen Rahmenbedingungen. Nach avancierter Auffassung ist sie grundrecht-
lich geschützt. Die Rechtsgrundlage wird in Art. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG gesehen20
und so die Nähe zum Grundrechtsschutz der Privatheit bzw. der informationellen
Selbstbestimmung hervorgehoben. Angesichts des verbreiteten Konsenses ist die
Frage danach, ob die einzelnen Freiheitsrechte (etwa: Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) eine
Annexdimension enthalten, die garantierte Freiheit offen oder anonym auszuüben,
bislang nur in Einzelfällen erörtert worden. Im Zentrum standen Art. 8 GG und
18
Hierzu mag das besonders intensiv untersuchte Beispiel der anonymen Alkoholiker
zählen; dazu Helm 2017.
19
So etwa auch Thiel 2017, S. 156 f., der hierfür eine republikanische Theorie mobilisie-
ren möchte (S. 158 f.), deren „normatives Vokabular für die empirischen Fragen der Wirkung
von Anonymität auf Handlungspositionen sehr offen“ und stärker verallgemeinernden Theo-
rien daher überlegen sei (S. 159).
20
von Mutius 2003, S. 12; Denninger 2003, S. 41; Schmahl 2018, S. 583 ff.
106 Christoph Gusy
21
Zu § 17a VersG näher Dürig-Friedl & Enders 2016, § 17a Rn. 23 ff.; Kniesel 2016,
§ 17a Rn. 6 ff.
22
Siehe dazu grundlegend Hassemer & Eidam 2011; Mielitz 2006; Kuhn 2005.
23
Zum Ganzen BVerfGE 115, 166, 181 ff.; Gusy 2018, Art. 10 Rn. 18 f., 65.
24
Nietsch 2014. Zum Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung und dem Anonymi-
tätsschutz etwa von Samenspendern BVerfGE 79, 256, 268 ff.; 96, 56, 63; siehe auch Berg-
mann 2014.
25
Dazu Backes & Lindemann, 2006.
26
Zum Informantenschutz Welchering & Kloiber 2017.
27
Hornung & Möller 2011, § 5 Rn. 8.
28
Zum Recht auf Schweigen über den Kindsvater BVerfGE 96, 56, 61, 63; zu dessen
Relativierung im Sozialrecht BVerwG, DVBl 1983, 1244, 1245 f.
29
Dazu Spindler & Schmitz 2018, § 13 Rn. 66. Sehr weitreichende Konsequenzen ziehend
Hoeren 2014, S. 491 ff.
30
Exemplarisch Härting 2013. Beck-online weist über 50 Nachweise zum Thema An-
onymität in allen Rechtsgebieten auf.
Anonymität im Recht – Eine Problemskizze 107
31
Dreier 2013, Art. 2 Abs. 1 Rn. 71, wonach das Recht auf Anonymität im Verfassungs-
recht „changiert und daher noch keine festen Konturen gewonnen hat.“ Zuletzt LSAVerfGH,
NVwZ 2019, 1198, Rn. 77, zu Polizeibeamten im Dienst: Ihre „Anonymität gehört aber nicht
zu dem durch Art. 4 LSAVerf geschützten Bereich der Menschenwürde.“
32
Näher zu Art. 103 GG Nolte & Aust 2018, Art. 103 Rn. 29 ff.
33
Dazu näher Muthorst 2011, S. 254. Röhl & Röhl 2008, §§ 60 f., behandeln ähnliche
Figuren unter dem Aspekt der Kausalität.
34
Jüngst BVerwG, U. v. 26. 09. 2019, 2 C 32.18 (Namenschilder für Polizeibeamte im
Dienst).
35
Diskutiert bei Gusy 1998, S. 220 ff. (dort auch zum folgenden). Bekanntester Streitfall ist
der Schutz von V-Leuten im Prozess; klassisch Lüderssen 1978; neuer Korn 2005.
36
So für das verwaltungsgerichtliche Verfahren Schübel-Pfister 2013, § 2 Rn. 11 ff.; Kopp
& Ramsauer 2018, § 82 Rn. 3 ff.
108 Christoph Gusy
nung bzw. Nichtanerkennung des Anonymitätsschutzes nicht bloß die binären Inter-
essen von Prozessparteien betrifft: Wer im Zivilprozess seine Identität nicht enthül-
len möchte und deshalb seinen Anspruch verliert, wird entsprechend dem Prinzip der
Zurechenbarkeit behandelt, weil an sein eigenes Verhalten angeknüpft wird und nur
seine eigenen Rechte in Rede stehen. Das ist nicht mehr der Fall, wenn die Durch-
setzbarkeit von Pflichten von der Kenntnis einer Person abhängt. Und es ist schon gar
nicht der Fall, wenn zugleich Interessen Dritter betroffen sind. Wenn die Durchsetz-
barkeit staatlicher Strafansprüche von der Kenntnis der Identität der Angeklagten
oder der Zeugen abhängt, berührt der Anonymitätsschutz auch rechtlich geschützte
Interessen der Allgemeinheit und ggf. Dritter, welche etwa Schadens- oder Schmer-
zensgeldersatzansprüche geltend machen wollen. Jedenfalls Opfern von Straftaten
gegenüber ist der Schluss, wonach das Misslingen der Beweisführung wegen Zu-
rückhaltens beweisrelevanter Tatsachen durch Staatsorgane zum Schutz der Anony-
mität von Zeugen eine strafrechtliche Verurteilung ausschließt, schwer begründbar,
erst recht nach Beendigung des Einsatzes von verdeckten Ermittlern (§ 110b Abs. 3
StPO).
Ein weiteres kollidierendes Prinzip kann ein in der Öffentlichkeit vorausgesetztes
Symmetrieprinzip sein. Anonymität begründet Asymmetrie von Kommunikation, so-
weit nicht alle Beteiligten anonym bleiben.37 Wenn die Bildung der öffentlichen Mei-
nung aus der Möglichkeit von Rede und Gegenrede besteht, schränkt Anonymität
diese Möglichkeit ein. Der Anonyme kann seine Rede vorbringen, andere Auffassun-
gen und deren Träger kritisieren und Dritte angreifen, im Extremfall unmöglich ma-
chen. Diesen fehlt die Möglichkeit der Gegenrede jedenfalls insoweit, als sie nicht
mit gleicher Münze zurückgeben können, etwa indem sie die Glaubwürdigkeit des
Anonymen widerlegen oder ihn in vergleichbarer Weise kritisieren. Der Eine kann
angreifen, der Andere nur verteidigen. Es fehlt die Möglichkeit von Rede und Gegen-
rede, Schlag und Gegenschlag insbesondere dort, wo den Kritisierten nicht die Mög-
lichkeit bleibt, selbst anonym zu handeln, weil für sie die Öffentlichkeit ihres Han-
delns vorgeschrieben oder vorausgesetzt ist. Wer in der Demokratie politische Ver-
antwortung übernehmen will oder trägt, muss öffentlich handeln. Daraus kann aller-
dings nicht einfach abgeleitet werden, dass in politischen Debatten Anonymität stets
unzulässig wäre. Vielmehr wäre zunächst zu begründen, wie weit in der Öffentlich-
keit das Symmetrieprinzip Geltung beanspruchen kann; ob – im Falle seiner Aner-
kennung – dem Prinzip auch anders als durch eine allgemeine Öffentlichkeitspflicht
Genüge getan werden kann, etwa indem Anonymität grundsätzlich gestattet, aber
unter bestimmten Voraussetzungen im Einzelfall durchbrochen oder aufgehoben
werden kann. Auch hier gilt nicht einfach ein Vor- oder Nachrang, sondern das Prin-
37
Terminologie nach Rössler 2003, S. 27, 36 ff. Dort wird allerdings das Symmetrieprin-
zip in andere Richtungen konkretisiert. Siehe auch Schmahl 2017, S. 588, am Beispiel von
Bewertungsportalen (Nachw.).
Anonymität im Recht – Eine Problemskizze 109
zip praktischer Konkordanz. Die rechtlichen Einzelfragen folgen auch hier nicht aus
der bloßen Abwägung der Prinzipien allein, sondern aus konkreten Rechtsnormen.38
Literaturverzeichnis
38
Ob etwa weitere Prinzipien wie etwa ein Anerkennungsprinzip – dazu Gusy 2013, S. 111
– einschlägig sein können, muss hier offenbleiben.
110 Christoph Gusy
„Regierungen haben kein Interesse daran, die Ängste ihrer Bürger zu besänftigen. Ihnen
liegt vielmehr daran, die Angst zu schüren, die aus der Ungewissheit der Zukunft und
dem ständigen, allgegenwärtigen Unsicherheitsgefühl erwächst …“ (Bauman 2016, 33).
„Let me assert my firm belief that the only thing we have to fear is fear itself“ (Roosevelt
1933).
„Contrary to the objective evidence, it is the people who live in the greatest comfort on re-
cord, more cosseted and pampered than any other people in history, who feel more threate-
ned, insecure and frightened, more inclined to panic, and more passionate about everything
related to security and safety than people in most other societies past and present“ (Bauman
2006, 130).
sondern auch als politisches und mediales zu verstehen, und sie wird ganz wesentlich
auch von Privaten hergestellt. Sie ist Gegenstand eines fortgesetzten Ringens um die
Durchsetzung bestimmter Definitionen und Inszenierungen von Unsicherheit zu
Zwecken, die auch jenseits der Erreichung und Erhaltung von Sicherheit liegen kön-
nen. Die historische Wandlungsfähigkeit des Verständnisses ist Ausdruck dafür, dass
der Diskurs immer auch von gesellschaftlichen Interessen und Machtkonstellationen
durchdrungen ist (Stegmaier o. J.).
Schließlich ist Innere Sicherheit nicht nur eine Frage des Gewährleistungsver-
sprechens gegenüber rechtswidrigem Verhalten, wie sie (partei-)politisch immer
wieder verkürzt diskutiert wird. Sie geht einher mit dem Phänomen der Kriminali-
tätsfurcht, das unterschiedliche Facetten hat. Dabei existieren weder Sicherheit
noch Furcht per se oder lassen sich objektiv definieren oder feststellen. Vielmehr
sind sie das Produkt der politischen und soziokulturellen Konstruktion von Bedro-
hung und Bedrohungsbewältigung.
Der folgende Beitrag beschäftigt sich daher mit der Frage, was (und wer) den
Menschen derzeit Angst macht, welche Auswirkungen dies für die Innere Sicherheit
hat und welche rechtpolitischen Konsequenzen notwendig sind.
zwar auf erhebliche Widerstände (vgl. Andersen & Woyke 2013), die jedoch verpuff-
ten. Mit den Anschlägen auf das World Trade Center im Jahre 2001 wurde eine neue
Eskalationsstufe erreicht. Der Deutsche Bundestag verabschiedete mit zwei „Anti-
Terror-Paketen“ ein umfangreiches Programm zur Ausdehnung der Befugnisse
und Ressourcen von Polizei, Nachrichtendiensten sowie anderen Behörden (CILIP
o. J.). Mit einer „Anti-Terror-Datei“ wurden weitere Möglichkeiten zwischenbehörd-
licher Kooperation geschaffen, das „Trennungsgebot“ zwischen Polizei und Nach-
richtendiensten aufgeweicht.
Letztlich ist der Begriff der Inneren Sicherheit zu einem Synonym für alles gewor-
den, was Bürgern und Politiker gleichermaßen Angst einzuflößen geeignet ist oder
von dem man glaubt, dass es dazu geeignet ist und man es daher für die Ausweitung
staatlicher Eingriffsbefugnisse verwenden kann. Vielfach werden tatsächliche, ange-
nommene oder unterstellte Gefahren genutzt, um symbolische Kriminalpolitik zu be-
treiben (Funk 1991; Sack 2011). „Anti-Terror-Pakete“ wurden und werden auf den
Weg gebracht, was dazu führte, dass in Bezug auf die Geheimdienste von der „Be-
hörde Nimmersatt“ gesprochen wurde (Biselli 2017), auch weil Details der vielen
Neuregelungen oftmals unklar blieben.
Diese Entwicklungen passten und passen in die gesamtgesellschaftliche Verfasst-
heit und die zunehmenden Ängste, die einhergehen mit der Bereitschaft, Einschrän-
kungen von Bürgerrechten zu akzeptieren, wenn dafür „mehr Sicherheit“ verspro-
chen wird. Eine (wissenschaftlich seriöse) Überprüfung, ob dieses Versprechen
dann tatsächlich eingehalten wird, erfolgt nicht. Die Sanktionseinstellung der Bevöl-
kerung weisen auf eine gestiegene Punitivität hin (vgl. Kury & Obergfell-Fuchs
2003, 2006; Sack 2011; Baier et al. 2017; Dollinger 2018), was wiederum diese Ten-
denz unterstützt.
Dabei müsste Sicherheit als gemeinsame, gesamtgesellschaftliche Aufgabe defi-
niert werden, die Gegenstand eines wertebasierten und moralisch beeinflussten (und
beeinflussbaren) gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses ist. Neben dem Staat,
der traditionell verantwortlich für die Sicherheitsgewährleistung sein soll, vertreten
heute weitere Akteure die Sicherheit, die mitbestimmen, bzw. eine neue Sicherheits-
kultur konstruieren. Dazu gehören private Sicherheitsunternehmen ebenso wie Ein-
richtungen zur Betriebsjustiz, neuerdings „compliance“ genannt oder selbsternannte
Bürgerwehren.
Daher muss Innere Sicherheit verstanden werden als die „Summe der Überzeu-
gungen, Werte und Praktiken von Institutionen und Individuen …, die darüber ent-
scheiden, was als eine Gefahr anzusehen ist (und für wen, TF) und wie und mit wel-
chen Mitteln dieser Gefahr begegnet werden soll“ (Daase 2010, 9).
Die Herstellung von Innerer Sicherheit ist das Ergebnis eines komplexen Zusam-
menwirkens lokaler, regionaler und überregionaler Praktiken. Staatliche Sicherheits-
aufgaben werden gesellschaftlich neu verteilt. Damit geht einher, dass Gesetzgebung
im zunehmenden Maße auch „tentativen“ Charakter hat, um auf wechselnde Verhält-
nisse schnell reagieren zu können, wobei die Mediatisierung nicht nur für die Ver-
116 Thomas Feltes
breitung symbolischer Politik eine Rolle spielt, sondern sie wird genutzt, um Insti-
tutionalisierungen und Veränderungen zu legitimieren und durchzusetzen. Dies
bringt eine neue Form öffentlicher Ordnung hervor. Aus der „Behütungsutopie“
wird das „Steuerungsparadigma“. Der Staat mit seinen Mitteln der physischen Ge-
waltsamkeit und Sozialkontrolle, seinem Verwaltungsstab und seinen Legitimitäts-
ansprüchen verschwindet gleichwohl nicht einfach, er bleibt Akteur (vgl. Reichertz
& Feltes 2015; Feltes & Reichertz 2019).
8,4 % als Motiv die Bestrafung des Täters angaben, waren es 2016 24,5 %. Im Ver-
lauf der letzten vier Jahrzehnte haben repressive Motive bei der Anzeigeerstattung
erheblich zugekommen, während das in früheren Jahren stark ausgeprägte Bedürfnis
nach Kompensation und Wiedergutmachung deutlich in den Hintergrund gerückt ist.
Der Langzeitvergleich zeigt aber vor allem, dass die Befragten eine zum Teil mas-
sive Zunahme der Kriminalität annehmen. Der Anteil derjenigen, von einer Zunahme
von Einbrüchen in der eigenen Wohngegend ausgehen, hat sich im Vergleich zu 1998
fast verdoppelt. Die Befragten überschätzen vor allem die Häufigkeit schwerer Straf-
taten. Besonders deutlich wird dies in Bezug auf die Tötungsdelikte Mord und Tot-
schlag, deren Vorkommen um den Faktor 125 überschätzt wurde. Während Mord und
Totschlag regelmäßig nur 0,04 % der polizeilich registrierten Straftaten ausmachen,
vermuteten die Befragten den Anteil dieser Delikte bei 5 %. Generell wird von einem
Anstieg der Taten ausgegangen, obwohl diese (zumindest in der PKS) teilweise deut-
lich rückläufig waren. Dabei spielt das eigene Erleben keine Rolle: Obwohl nur
0,3 % der Befragten angaben, im vergangenen Jahr Opfer eines Raubdeliktes gewor-
den zu sein, halten es 21,6 % für wahrscheinlich, in den kommenden 12 Monaten
Opfer einer solchen Straftat zu werden. Die subjektive Kriminalitätsfurcht und die
objektive Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden, klaffen weit auseinan-
der. Weiterhin weicht das Sicherheitsempfinden in der eigenen Wohnung deutlich
von dem Sicherheitsempfinden in der eigenen Wohngegend ab. Die Befragten neigen
dazu, das Ausmaß der Kriminalität und vor allem ihr eigenes Risiko, Opfer einer
Straftat zu werden, deutlich zu überschätzen (vgl. Feltes 2019; Feltes & Reiners
2019).
Die Welt ist, so Bauman & Donskis (2016, 40) in „a chaotic aggregate, or rather
incessant flow of dismembered and dislocated fragments with little, if any, rhyme or
reason @ and nothing can be clone to make sense of it, let alone to make it more ame-
nable to reason and reason-guided preventing, amending or rectifying actions.“
Die regelmäßigen politischen Verkündungen, alles gegen „die Kriminalität“ zu
tun, verunsichern die Menschen. Menschen, die gesellschaftliche Entwicklungen
nicht verstehen oder sich zunehmend gesellschaftlich abgehängt fühlen, sind grund-
legend verunsichert. Fukuyama (2019) hat nicht nur auf die steigende Ungleichheit in
der Gesellschaft hingewiesen, sondern auch das Stärker werden nationalistischer
Strömungen, die sich vom etablierten politischen System lösen, analysiert. Es
sieht in (fehlender) Anerkennung und Würde einen der Gründe dafür.
Angst vor Kriminalität zu haben, ist ein Ventil, weil diese Angst im Vergleich zu
den anderen Ängsten greifbar und personalisierbar ist. Die Menschen verlagern ihre
allgemeinen gesellschaftlichen Ängste in einen konkreten, wie man glaubt definier-
baren Bereich, denn: „Fear is at its most fearsome when it is diffuse, scattered, unc-
lear, unattached, unanchored, free floating …“ (Bauman 2006, 2). Kriminalität und
„Kriminelle“ bieten sich hier zum Andocken an, und dies, obwohl es zum einen „die
Kriminalität“ nicht gibt, nicht zuletzt, weil das Risiko, Opfer einer Straftat zu wer-
den, von Alter, Geschlecht, Wohnort und sozialer Lage abhängig ist, und weil para-
doxerweise zum anderen die Wahrscheinlichkeit, direktes Opfer einer Gewalttat zu
werden, sehr gering ist: „lacking direct personal experiences of threat, they are prone
to let their imaginations … run loose“ (Bauman 2006, 3). Bauman hat auch deutlich
gemacht, dass diese Ängste „born of global social insecurity“ transferiert werden in
lokale Sicherheitsbedenken und dass diese Transformation sehr effektiv ist und eine
„foolproof strategy“ für die globale (und nationale) Elite darstellt (Bauman 2006,
159) und vorzüglich dazu geeignet ist, von anderen Problemen abzulenken. Er zitiert
in diesem Zusammenhang aus einer Dokumentationssendung der BBC: „In an age
when all the grand ideas have lost credibility, fear of a phantom enemy is all the po-
liticians have left to maintain their power“ (Bauman 2006, 149). Der „Phantomfeind“
können dabei die RAF, die Attentäter von 9/11 oder eben jetzt die Flüchtlinge sein2.
Irrationale Ängste können nicht mit rationalen Argumenten bekämpft werden.
Wir wissen, dass die Verbrechensfurcht dort niedriger ist, wo der soziale Zusammen-
halt hoch ist. Allerdings scheinen Ethik und Moral als Voraussetzungen für solchen
Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zunehmend verloren zu gehen. Wir verlieren
die Orientierung auch, weil „Moralinstitutionen“ wie die Kirchen ihre Glaubwürdig-
keit grundlegend verloren haben.
Faktoren wie Globalisierung, das (so wahrgenommene) Versagen der politischen
Eliten und der Politik generell (Abgas-Skandal, Rechtsstaats- und Rentendiskussion,
2
„There are, indeed, many ways to capitalize on the growing supplies of free-floating,
unanchored and unfocused fears; for instance, gaining political legitimacy and approval by
flexing government muscles in declaring war on crime and more generally on ,disturbances of
public order‘“ (Bauman 2006, 145); s. dazu auch Rauls & Feltes 2020.
120 Thomas Feltes
Alters- und Kinderarmut) spielen eine deutlich wichtigere Rolle für das latente Ge-
fühl der Verunsicherung, ebenso wie die zunehmenden, als negativ empfundenen
Veränderungen im Verhältnis unter- und zueinander in unserer Gesellschaft. Für Ul-
rich Beck (2014) sind die Bürger der „liquid cities“ zu „displaced persons“ geworden,
die sich in Armeen von Konsumenten verwandeln. Sie leben in Städten der Angst,
wobei es diffuse, auf nichts Konkretes gerichtete Ängste sind. Diese Ängste klam-
mern sich an alles, was ihnen angeboten wird, wider alle Vernunft, wider alle Erfah-
rung. Gleichzeitig wird das Unsagbare gesagt, das Undenkbare gedacht, beides ohne
Widerspruch oder gar Aufschrei in der Gesellschaft. Als Konsequenz entwickelt sich
ein „Treibsand-Gefühl“ (Feltes 2019a). Der (moralische) Kompass geht verloren, die
Gesellschaft driftet auseinander, Individualismus und Egoismus werden zu alleingül-
tigen Maßstäben. Grundlegende moralische Werte lösen sich auf, die Gesellschaft
verliert an Zusammenhalt, Extreme nehmen zu, und im Alltag spielt die Frage,
warum es wichtig ist, die Demokratie zu schützen, keine Rolle mehr. Die Gesell-
schaft sucht sich Feindbilder, auf die sie ihre Ängste und Aggressionen abladen
kann. Gleichzeitig verlieren die Menschen das Vertrauen in Institutionen, und
eben auch in die Polizei. Neuere Entwicklungen z. B. im Zusammenhang mit der
„Fridays for Future“-Bewegung werden zeigen müssen, ob sie sich diesem Trend ent-
gegenstellen können, denn inzwischen haben die Polarisierungen die Mitte der Ge-
sellschaft erreicht und beeinflussen sie – auch, weil das Beispiel USA zeigt, dass man
mit radikalen Äußerungen an die Macht kommen und diese bewahren kann. In
Deutschland geht, wie die Studien von Zick u. a. zeigen (2019), die herkömmliche
gesellschaftliche Mitte zunehmend verloren. Die Menschen wenden sich einer ver-
meintlich neuen, radikalen Mitte zu, die ihren Zusammenhalt aus der Abwertung von
anderen schöpft. Oder um es mit Bauman zu sagen: „The biggest fear of our time is
the fear of being left out“. … „,Fear‘ is the name we give to our uncertainty in the face
of the dangers that characterize our liquid modern age, to our ignorance of what the
threat is and our incapacity to determine what can and can’t be done to counter it“
(Bauman 2006). Bauman (2006, 17) bezeichnet dies als „Titanic syndrome“: Die
Angst davor, dass das Schiff der Zivilisation sinkt und man untergeht.
Bauman hat in Liquid Times (2007, 1 ff.) die Ursachen für dieses Leben in einem
Zeitalter der Unsicherheit („Living in an Age of Uncertainty“) an folgenden Punkten
festgemacht:
„First of all, the passage from the ,solid‘ to a ,liquid‘ phase of modernity: that is, into a con-
dition in which social forms (structures that limit individual choices, institutions that guard
repetitions of routines, patterns of acceptable behaviour) can no longer (and are not expec-
ted) to keep their shape for long, because they decompose and melt faster than the time it
takes to cast them, and once they are cast for them to set. (…) Second, the separation and
divorce of power and politics. (…) Third, the gradual yet consistent withdrawal or curtailing
of communal, state-endorsed insurance against individual failure and ill fortune deprives
collective action of much of its past attraction and saps the social foundations of social so-
lidarity; ,community‘, as a way of referring to the totality of the population inhabiting the
sovereign territory of the state, sounds increasingly hollow. Interhuman bonds, once woven
into a security net worthy of a large and continuous investment of-time and eff ort, and worth
Innere Sicherheit in unruhigen Zeiten 121
the sacrifice of immediate individual interests (…), become increasingly frail and admitted
to be temporary. (…) Fourth, the collapse of long-term thinking, planning and acting, and the
disappearance or weakening of social structures … lead to a splicing of both political history
and individual lives into a series of short-term projects and episodes which are in principle
infinite.“
Wenn Psychologen uns bestätigen, dass die meisten Angstgefühle entstehen, weil
wir denken, etwas sei gefährlich, dann sind es unsere Gedanken, die Angstgefühle
erzeugen. Hier muss angesetzt werden. Durch Aufklärung, allen voran durch die Po-
litik, die sich dem Reflex verweigern muss, jeden Verdacht einer Straftat mit „Frem-
den“ als Tatverdächtige mit der Forderung nach „mehr desselben“ (mehr Gesetze,
härtere Strafen, schnellere Abschiebung) zu quittieren.
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Risikomanagement und Kriminalitätskontrolle
(Lokale Antworten auf globale Herausforderungen?)1
3
Siehe hierzu noch Irk 2006.
4
Ágnes Heller analysierte diese Fragen in einem in jungen Jahren geschriebenem Buch in
moralphilosophischer Perspektive. Siehe Heller 1970; detaillierte Sekundärdarstellung durch
Irk 2018.
128 Ferenc Irk
Kurz sind auch die Folgen der Situation zu erwähnen, wenn die gesellschaftliche
Gefährlichkeit zwar existiert, aber in einem weiten Kreis unbemerkt bleibt. Ein biss-
chen vereinfacht gesagt, gibt es zwei Interpretationen des voranschreitenden sozialen
Wandels unserer Welt. Die eine zeichnet ein optimistisches, die andere ein eher pes-
simistisches Bild über die in Zukunft zu erwartenden Veränderungen. Nach der op-
timistischen Version sei das Wachstum, wie man es sich früher vorstellte, nicht auf-
rechtzuerhalten, obwohl die Chance auf „sustainable development“ für alle Weltre-
gionen nach wie vor offenbleibe. Nach der pessimistischen Version habe die Welt
einen Zustand erreicht, in dem kein weiterer Fortschritt, keine nachhaltige Entwick-
lung mehr möglich sei. Von dieser fundierten Prognose wollen die meisten Politiker
genauso wenig Kenntnis nehmen, wie die am raschen Wirtschaftswachstum orien-
tierten Unternehmen und mit diesen verbündeten behördlichen Organisationen.
(Siehe hierzu zum Beispiel den Zusammenhang zwischen der Regierung des Donald
Trump und dem Wiedererstarken der US-Kohlelobby). Die neue Qualität der gesell-
schaftlichen Gefährlichkeit beschreiben unter anderen Allan Schnaiberg und Paul
Stretesky, Vertreter der sogenannten Treadmill-Theorie.5 Sie fokussieren ihre Kritik
am Sozial-Kriminalitätsmanagement der Regierungsmacht direkt auf Ausbeutung
(als Ursache) und Umweltkriminalität (als Wirkung).
5
Die Darstellung dieser Theorie und die Erörterung ihres Nutzens für die forensische
Wissenschaften würden den Umfang dieser Studie sprengen. Siehe hierzu Stretesky et
al. 2014.
130 Ferenc Irk
gelieferten Einzelmenschen und der ganzen Menschheit stehen. Dabei wäre auch die
Frage zu stellen, welche Maßnahmen in diesem Prozess der Ausführung der erwähn-
ten Entscheidungen erforderlich wären.
Zur Klärung all dieser Fragen ist eine auf Netzwerk- und Risikoanalyse basierende
Gesellschaftsplanung notwendig, bei der die Verantwortung der Entscheidungsträ-
ger besonders wichtig ist. Aus moralischer Perspektive ist keine Lösung akzeptabel,
welche die Bekämpfung einer rechtswidrigen Handlung, zum Beispiel die Beendi-
gung umweltschädlicher Produktionstätigkeit, unter Berufung auf Massenarbeitslo-
sigkeit, die innerhalb kurzer Zeit nicht zu beheben wäre, ablehnt oder verzögert.
Wenn sich der moralische Imperativ und der Imperativ des Rechts widersprechen,
dann soll(t)en in unserer Kultur immer die moralischen Gebote Vorrang haben.
6
Albrecht 2016, 129.
132 Ferenc Irk
7
Siehe beispielweise Braun et al. 2014; Rowlatt & Deith 2015; Changing Markets Foun-
dation 2017; Lorenzo & Kelly 2017; Oxfam Australia Media Releases 2017; Zeit Online v.
24. 07. 2014, https://www.zeit.de/2014/31/elektroschrott-ghana-afrika-accra [20. 09. 2019].
8
Siehe hierzu die Kritik an der deutschen Klimapolitik: Zeit Online v. 20. 09. 2019,
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-09/klimapolitik-beschluss-klimaschutzpaket-reak
tionen-klimakabinett [24. 09. 2019]; ferner Zeit Online v. 23. 09. 2019, https://www.zeit.de/poli
tik/deutschland/2019-09/klimapolitik-klimaschutz-klimapaket-bundesregierung-kritik [24. 09.
2019].
9
Siehe die Rede von Greta Thunberg beim UN-Weltklimagipfel 21. – 23. September 2019;
Thunberg 2019.
Risikomanagement und Kriminalitätskontrolle 133
Überproduktion, die wiederum (vor allem, aber nicht ausschließlich) mit der in den
Entwicklungsländern typischen Sklavenarbeit zusammenhängt.
An dieser Stelle ist zu betonen, dass der demokratische Rechtstaat sowohl die
Freiheitsrechte als auch die Sicherheit seiner Bürger zu gewähren hat. Diese beiden
Grundsätze müssen im Gleichgewicht stehen. Die politische Macht ist jedoch im
Stande, unter Berufung auf den Schutz der Sicherheit die Menschen- bzw. Freiheits-
rechte zu beschneiden und damit das sensible Gleichgewicht zu kippen, das zwischen
diesen Prinzipien in einem demokratischen Rechtsstaat bestehen soll.10 László Kori-
nek machte auf die Gefahren einer Situation aufmerksam, in der das Dilemma des
Verhältnisses von Freiheit versus Sicherheit zu lösen ist.11 Die evident gesellschafts-
gefährlichen Handlungen zu bekämpfen ist eine Sicherungspflicht des Rechtsstaates.
Diese handlungsorientierte Einstellung wird aber in Gesetzgebung und Rechtspraxis
der Staaten Europas, die sich zum Rechtsstaat bekennen und dessen Grundsätze in
ihren Flaggen tragen, in immer schnellerem Tempo durch eine personenorientierte
Gefährlichkeits- bzw. Sicherheitsbetrachtung abgelöst. Wie Hans-Jörg Albrecht
schrieb:
„Der Blick richtet sich stärker in die Zukunft, die Wahrnehmung der Gefährlichkeit wird im
Kern zu einer Gefahrenprognose, die sich auf Auskünfte der forensischen Psychiatrie und
Psychologie stützt.“12
Das Justizwesen des demokratischen Rechtsstaates hat heute also einen Wider-
spruch zu lösen, der früher nicht im Fokus der Aufmerksamkeit gestanden hat. Die
Theoretiker der forensischen Wissenschaften konzentrieren sich in Europa auf die
Begrenzung des wachsenden Interesses von Polizisten und Politikern an kurzfristig
eintretenden Gefahren bzw. an potentiellen Kriminellen, die solche Gefahren hervor-
rufen könnten. Dieses einseitig auf kurze Zeitstrecken der nahen Zukunft fokussierte
Präventionskonzept ist in Anbetracht der Zielsetzung einer Minimierung der Ängste
der Bevölkerung vor neuen Formen des Terrorismus verständlich. Diejenigen, die die
tatsächliche oder scheinbare Stärkung der Sicherheit durch Freiheitsbeschränkung
anstreben, möchten die Notwendigkeit der Einschränkung der oben dargestellten
schädlichen Aktivitäten der globalen Wirtschaftsnetzwerke lieber vergessen. Krimi-
nologen und Strafrechtler halten aus dem Gesichtspunkt der Moral sehr richtig die
Verfahren gegen potentielle Straftäter für bedenklich, die aufgrund unzuverlässiger
Prognosen als gefährlich ausgewählt wurden. Aus dem Gesichtspunkt der Moral ist es
aber grundsätzlich falsch, wenn sie die Opfer der Aktivitäten der Gewinner in Wirt-
schaft und Politik im defizitär funktionierenden Globalsystem der Risikogesellschaft
ignorieren. Dies zu verändern wäre umso dringender als im ersten Fall nur die Rechte
(potentieller) Straftäter, im letzteren Fall aber die Menschenrechte von Millionen
durch schädliches Tun (von der Sklavenarbeit bis hin zur Umweltzerstörung) verletzt
werden, einschließlich ihres Rechts auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Ge-
10
Vgl. Ádám 2005, zitiert nach Korinek 2010, 533.
11
Korinek 2010, 533.
12
Albrecht 2012, 18; siehe auch Sieber 2016, 365, Finszter 2014.
134 Ferenc Irk
sundheit. Eine voreingenommene Justiz, die mit zweierlei Maß misst, senkt im End-
effekt in beiden Fällen das Vertrauen der Bürger in die Verlässlichkeit der Rechtsord-
nung.
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13
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Einige evidenz- und nicht evidenzbasierte Gedanken
über die Sicherheit
Von László Kőhalmi
1. Konzeptionelle Abenteuer
Eine ziemliche „wissenschaftliche Bürde“ halst sich auf, wer versucht, den Be-
griff „Sicherheit“ kurz, aber präzise zu definieren. Die Achillesferse des Problems
wurzelt in der Tatsache, dass der Umfang der Subjekte, Objekte und Inhalte, die
für die Definition relevant sind, praktisch unbegrenzt ist.
Als Ausgangspunkt kann der in der Rechtswissenschaft oft angewandte soge-
nannte Ansatz negativer Art einen ersten Ansatzpunkt liefern, da Sicherheit mit Man-
gel an Sicherheit korreliert. Antal Ádám versteht unter Unsicherheit eine Art Bedro-
hung, Gefahr, Schaden, Schädigung, Benachteiligung, Leiden mit Angst und/oder
Qual. Sicherheit ist also ein Gegenpol zu dem, was gerade beschrieben wurde,
d. h. sie stellt einen spezifischen Schutz- bzw. Erhaltungszustand dar (Vida 2013,
89). Der Begriff von Sicherheit impliziert, dass er nicht bedeutet, dass ein Schaden
für Rechtsgüter völlig ausgeschlossen werden kann (Albrecht 2010, 17).
Aus alledem lässt sich auch schließen, dass das begriffliche Gegenteil von Sicher-
heit nicht Unsicherheit ist, da letztere nicht automatisch mit einem Nachteil verbun-
den ist (Ádám 2005a, 33). Das Gegensatzpaar von Sicherheit ist der Mangel an Si-
cherheit. Laut Ferenc Gazdag und Éva Remek bedeutet dies – bezogen auf den Men-
schen –, dass die Person in Sicherheit ist, die sich nicht in Gefahr befindet. Ängste
und Sorgen habe derjenige keine, der die Bedrohung nicht wahrnimmt, das heißt sie
nicht „perzipiert“ (Gazdag & Remek 2018, 17).
Die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs hat eine substanzielle und eine formelle
Dimension. „Substanziell geht es um die Frage, was Sicherheit ist, durch was Sicher-
heit bedroht und durch wen Sicherheit hergestellt wird. Formell geht es um die Frage,
auf welchem Wege Sicherheitspolitik entworfen und umgesetzt wird“ (Albrecht
2005, 9).
Sicherheit und deren Mangel erschienen und erscheinen in den verschiedenen Zi-
vilisationen in äußerst vielfältigen Interpretationen, und die Interpretation hängt vom
Umfang, der räumlichen Ausdehnung, dem technischen Kapazitätsbestand usw.
einer bestimmten Gefahr bzw. eines bestimmten Nachteils ab.
138 László Kőhalmi
Bei den Werten kommt den rechtlichen Werten eine Schlüsselrolle zu, da sie auch
durch Rechtsnormen geschützt sind. Im Bereich der rechtlichen Werte können je
nach Art der betroffenen Rechtsnormen und dem Grad und Inhalt der Hierarchie Stu-
fen und Gruppen unterschieden werden, z. B. völkerrechtlicher/supranationaler
rechtlicher Wert (Ádam 2010, 116). Von den rechtlichen Werten sind die sogenannten
rechtlichen Grundwerte von herausragender Bedeutung, die den Rahmen und die in-
haltlichen Hauptbestandteile anderer rechtlicher Werte bestimmen und hierdurch
auch nicht-rechtliche – z. B. wirtschaftliche, künstlerische, kulturelle, usw. –
Werte beeinträchtigen. Rechtliche Grundwerte können auch aus bestimmten heraus-
ragenden internationalen Dokumenten, supranationalen Verträgen oder sogar aus na-
tionalen Verfassungen abgeleitet werden (Ádam 2002, 19).
Bei der Ausarbeitung und Bereicherung der rechtlichen Grundwerte haben die
fortschrittlichen Kräfte und Organisationen der Menschheit – unter Berücksichti-
gung auch der diktatorischen historischen Erfahrungen – nach dem Zweiten Welt-
krieg hervorragende Ergebnisse erzielt. Diese Entwicklung ist jedoch kein abge-
schlossener Prozess, da Veränderungen der Lebensbedingungen und der wissen-
schaftliche, technische und wirtschaftliche Fortschritt neue Bedürfnisse, unvorherge-
sehene Probleme und schwerwiegende Gefahren generieren. Denken wir nur an die
Problemlösungspotentiale von Quantencomputern: Selbst die leistungsstärksten her-
kömmlichen Computer würden Zehntausende von Jahren benötigen – für sie ist es
praktisch unlösbar –, um bestimmte Codes zu entschlüsseln. Bisher waren die im in-
ternationalen Bankensystem verwendeten kryptografischen Lösungen „sicher“,
denn selbst wenn ein Superbösewicht aus einem James Bond-Film eine Armee
von Supercomputern zum Zweck einer Code-Entschlüsselung aufrüsten würde,
würde sein Urenkel den entzifferten Klartext noch nicht erhalten.
Für die Entstehung von Sicherheit als rechtlicher Grundwert können eine Reihe
von klassischen rechtsstaatlichen Grundchartas als regulatorischer Vorläufer angese-
hen werden, wie zum Beispiel:
• Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung (1776), in der es heißt: „Wir halten
diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden,
daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wor-
den, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“
• Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) der französischen Revo-
lution, die in Punkt II darauf hinweist, dass Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Wi-
derstand gegen Unterdrückung natürliche und unveräußerliche Menschenrechte
sind. Nach Punkt XII setzt die Gewährung von Rechten die Aufrechterhaltung
einer force publicique voraus, die dem Wohl des Ganzen und nicht dem der Per-
sonen, denen diese Befugnis übertragen wurde, zugutekommen soll.
• Die Verfassung von Massachusetts aus dem Jahr 1780, die besagt (Teil I Artikel
X), dass ein jedes Mitglied der Gesellschaft das Recht hat, dass es durch die be-
stehenden Gesetze beim Genuss seines Lebens, seines Eigentums und seiner Frei-
heit geschützt wird (Szikinger 2012, 19).
Einige evidenz- und nicht evidenzbasierte Gedanken über die Sicherheit 141
3. Kritik an Sicherheitstheorien
Einer der beliebtesten sicherheitspolitischen Ansätze unserer Zeit ist die soge-
nannte Balance Theory (Balogh 2003, 41 – 45), die zu dem Schluss kommt, dass Si-
cherheit und Menschenrechte in umgekehrtem Verhältnis zueinander stehen (Kori-
nek 2006, 83). Sicherheit kann nur durch die Einschränkung von Menschenrechten
und Freiheiten gesteigert werden, und umgekehrt bedeutet die Erweiterung der Frei-
heiten eine Verringerung des Sicherheitsniveaus (Finszter 2017, 153).
Die ideengeschichtlichen Keime dieser Konzeption finden sich, wie István Szikin-
ger feststellte, bereits in Thomas Hobbes’ Werk, nämlich dass Menschen in einem
von der öffentlichen Hand nicht beschränkten Freiheitszustand nicht in der Lage
sind, ihre individuellen Interessen und Bestrebungen den allgemeinen Erwartungen
der Gesellschaft zu unterwerfen. Aufgrund der gegenseitigen Bedrohung kann nur
142 László Kőhalmi
Man kann nur hoffen, dass verschiedene Terroristengruppen ihre Zellen nicht einge-
schleust haben bzw. einschleusen (Kőhalmi 2017, 80).
5. Schlussbemerkungen
Sicherheit ist ein bestimmender politischer Mainstream unserer Zeit (Albrecht
2006, 3), der Jolly Joker der Politiker, die eine Null-Toleranz-Politik empfehlen (Al-
brecht 2016, 131). Durch die Propagierung des Schlagworts Sicherheit kann jede ge-
meine Idee oder jedes gemeine Ziel an die Öffentlichkeit verkauft werden.
Es gibt jedoch ein Sicherheitsproblem, das heutzutage noch relativ oberflächlich
behandelt wird, nämlich das Problem des Klimawandels und der damit einhergehen-
den Folge des Wassermangels, der an die Tür Europas klopft. Einige multinationale
Unternehmen privatisieren bereits das Trinkwasser und die apokalyptisch-futuristi-
schen Bilder von Mad-Max-Filmen könnten sogar Realität werden. Wer die Kontrol-
le über das Wasser hat, wird der Herr sein. Trinkwasser wird in absehbarer Zeit von
Polizei, Sicherheitskräften und Freiwilligen bewacht werden. Dies ist die größte Si-
cherheitsherausforderung der Menschheit. Aber auch wenn diese nicht ganz so
schmeichelhafte Vision Wirklichkeit werden sollte, sollte man die richtige Einstel-
lung nicht aufgeben: in dubio pro libertate.
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Einige evidenz- und nicht evidenzbasierte Gedanken über die Sicherheit 147
1. Einleitung1
Die Auswirkungen terroristischer Anschläge reichen bis tief in die Gesellschaft.
Terrorakte richten materiellen Schaden und menschliches Leid an, und sie beeinflus-
sen darüber hinaus das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung als Ganzes. Obwohl
Terrorismus per definitionem und de facto Furcht verbreitet, gibt es bisher erstaun-
lich wenig empirische Forschung über Entstehung, Ausmaß und die sozialen Folgen
terrorismusbezogener Ängste, während kriminologische Studien zur Furcht vor All-
tagskriminalität ein etabliertes Forschungsfeld ausmachen.
Zahlreiche Studien bestätigen, dass Menschen unterschiedliche Arten von Unsi-
cherheiten hinsichtlich Kriminalität äußern. Klar unterscheiden lässt sich z. B. die
Angst davor, selber Opfer eines Verbrechens zu werden (personale Kriminalitäts-
furcht), von der Angst vor Kriminalität als einem sozialen Problem, das nicht die ei-
gene Person, sondern die Gesellschaft als Ganzes bedroht (soziale Kriminalitäts-
furcht).2 Auch beim Terrorismus lassen sich diese beiden Ängste differenzieren.
In Umfragedaten von 2012 aus dem „Barometer Sicherheit“ des Max-Planck-Insti-
tuts für ausländisches und Internationales Strafrecht äußert jeder Zehnte (10 Prozent)
der 2525 befragten Personen „starke Sorgen Opfer eines terroristischen Anschlags zu
werden“, wohingegen schon mehr als jeder Vierte (29 Prozent) „gesellschaftliche
Sorgen vor terroristischen Anschlägen“ äußert.3 Eine ähnlich hohe Differenz zwi-
schen diesen beiden Ängsten, aber auf insgesamt höherem Niveau zeigt sich auch
bei Umfragen, die unmittelbar nach der Serie von Anschlägen im Sommer 2016
durchgeführt wurden. So hatten zu diesem Zeitpunkt drei Viertel der Deutschen
1
Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem gleichen Titel in Rechtswissenschaft 10/4,
S. 435 – 451. Für die freundliche Genehmigung zum Zweitdruck möchten wir uns bei den
Herausgebern der Zeitschrift und beim Verlag NOMOS herzlich bedanken. Der Autor dankt
außerdem Frederike Wistuba für ihre Hilfe bei der Überarbeitung des Manuskripts.
2
Vgl. Boers 1991.
3
Vgl. Haverkamp, Hummelsheim & Armborst 2013.
150 Andreas Armborst
4
R+V Versicherung 2016; https://www.ruv.de/presse/aengste-der-deutschen/aengste-der-
deutschen-langzeitvergleich [13. 12. 2019].
5
Befragung von TNS Infratest 26./27. Juli, in: DER SPIEGEL 31/2016, 16. Die Befragung
fand unmittelbar nach den Anschlägen von München, Würzburg und Ansbach statt.
6
R+V Versicherung, 2016; https://www.ruv.de/presse/aengste-der-deutschen/aengste-der-
deutschen-langzeitvergleich [13. 12. 2019].
7
Innes & Fielding 2002, 1.
8
Innes & Fielding 2002, 1.
Der Präventionskomplex 151
stimmte Delikte (insbesondere Sexualdelikte) mehr Furcht evozieren, als andere De-
likte. Terrorismus ist aufgrund seiner intendierten Absicht Furcht zu verbreiten ein
signal-crime par excellence. Kriminalitätsfurcht wiederum beeinflusst, wie Personen
gegenüber staatlich-repressiven Maßnahmen und härteren Kriminalstrafen einge-
stellt sind (sogenannte punitive Einstellungen).9 Dieser Einfluss verläuft nicht linear
und selbst die Richtung der Kausalität ist nicht abschließend geklärt. Ergebnisse deu-
ten aber darauf hin, dass die soziale Kriminalitätsfurcht (Angst vor Kriminalität als
eine Bedrohung für die Gesellschaft) einen stärkeren Einfluss auf die Formierung
punitiver Einstellungen hat, als die individuelle Kriminalitätsfurcht (Angst vor Kri-
minalität als eine Bedrohung für die eigene Person).10
Eine mögliche theoretische Erklärung dieses empirisch beobachtbaren Zusam-
menhangs besagt, dass Personen härtere Strafen und repressiveres Vorgehen speziell
für solche kriminellen Bedrohungen befürworten, die außerhalb ihres persönlichen
Einflussbereiches liegen (locus of control).11 Gegen individuelle Viktimisierung im
eigenen Einflussbereich kann man sich durch entsprechende Gegenmaßnahmen
(z. B. Einbruchsschutz, Selbstverteidigung) ggf. noch selber schützen, gegen Krimi-
nalität als eine Bedrohung für das gesellschaftliche Miteinander hilft nach punitiver
Sichtweise nur ein hartes Durchgreifen des Staates.
Aus den in der Einleitung zitierten Umfragedaten geht hervor, dass Menschen in
Deutschland den Terrorismus vor allem als eine Bedrohung gegen die Gesellschaft
ansehen, und nur im geringeren Maße als eine direkte Gefahr für sie persönlich. Das
begründete die Annahme, dass Terrorismus in einem engen Zusammenhang mit
Punitivität steht. Eingehendere kriminologische Studien, die diesen vermuteten Zu-
sammenhang untersuchen, gibt es für Deutschland bisher noch nicht. Hier mangelt es
alleine schon an einem einheitlichen Erhebungsinstrument zur Erfassung von terro-
rismusbezogenen Ängsten und Sicherheitsempfinden.
9
Armborst 2017, 464.
10
Armborst 2014, 129.
11
Rotter 1966, 1; Armborst 204, 477.
12
Vgl. Tresch & Wenger 2018.
152 Andreas Armborst
13
Kury et al. 2004, 141; Reuband 2000, 185.
14
Tresch & Wenger 2018, 102.
15
Tresch & Wenger 2018, 103. Fragebogenitem: „Für unsere Sicherheit ist es wichtig, dass
wir den Terrorismus mit allen Mitteln bekämpfen, auch wenn dabei unsere persönliche Frei-
heit eingeschränkt werden muss.“
16
Tresch & Wenger 2018, 104.
Der Präventionskomplex 153
17
„… dass Personen auch auf den blossen Verdacht hin, dass sie eine Tat planen, verhaftet
und vorsorglich eingesperrt werden können“ – Tresch & Wenger 2018, 105.
18
Ferst & Tresch 2018, 6.
19
Vgl. Guzy, Birkel & Mischkowitz 2015.
154 Andreas Armborst
mentarer Bestandteil des Surveys. Aus wissenschaftlicher Perspektive und im Sinne einer
evidenzbasierten Politikberatung ist es wichtig, außerdem auch Informationen mit Bezug
zu übergeordneten gesellschaftspolitischen Fragestellungen und Diskursen mit den Daten
aus den Viktimisierungssurveys in Verbindung setzen zu können.“20
Der nächste Abschnitt widmet sich den staatlichen Maßnahmen zur Herstellung
von Sicherheit, insbesondere aus dem Bereich der Terrorismusprävention.
20
Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD) 2018, 8.
21
Vgl. Müller 2011; Carvalho 2017.
22
Für eine umfangreiche kommentierte Sammlung einschlägiger Gesetze siehe Schenke,
Graulich & Ruthig 2019.
23
Siehe auch Gemeinsames Terrorabwehrzentrum (GTAZ) 2012.
Der Präventionskomplex 155
„Der Begriff der inneren Sicherheit ist in keinem Gesetz definiert oder geregelt. Er
bezeichnet vielmehr eine Vielzahl an Maßnahmen und Instrumenten, die dem Schutz
einer staatlichen Ordnung und der Bürger dieses Staates dienen.“27 Der Begriff Si-
cherheit ist dabei nicht nur juristisch, sondern auch allgemeinsprachlich sehr ab-
strakt, weil er von sich aus erst einmal überhaupt keine Anhaltspunkte gibt, wodurch
dieser (Ideal-)Zustand definiert sein könnte.28 Die implizite Definition von „Sicher-
heit“ in den entsprechenden Gesetzen erscheint zirkulär. Definiert man Sicherheit als
die Abwesenheit von Gefahren, erklärt man einen undeutlichen Begriff mit einem
Anderen:
„Dangers are dangers for someone – for specific individuals or groups or species, under cer-
tain conditions – nothing is dangerous as such. On the other hand, anything and everything
has the potential to become a danger to something or someone. All that is required is that
there are interests or values that the thing may adversely affect.“29
Sicherheit beschreibt demnach also einen Zustand, bei dem die Interessen von
Einzelpersonen, Gruppen oder eines ganzen Staates geschützt sind. Rechtlich aner-
24
Baaken et al. 2018, 24.
25
International ist für dieses Handlungsfeld die Bezeichnung CVE/PVE (Countering/
Preventing Violent Extremism) gebräuchlich.
26
Vgl. Cohen 1985.
27
Vgl. Jesse & Urban 2013.
28
Valverde 2011, 5.
29
Garland 2003, 51.
156 Andreas Armborst
kannte Interessen, die durch die staatlichen Institutionen geschützt sind, bezeichnet
man als Rechtsgüter.30 Definiert man Sicherheit folglich als die Abwesenheit von Ge-
fahren für Rechtsgüter, dann wandert die Bürde der Definition für den Begriff der
Sicherheit über den Begriff der Gefahr zum Rechtsgüterbegriff.31 Hypothetisch je-
denfalls kann jedwedes Interesse den Status eines Rechtsgutes erreichen, wenn es
gelingt dieses Interesse im öffentlichen Diskurs zu einer Frage der (Inneren) Sicher-
heit zu erheben. Dieser definitorische Regress bringt uns zurück zur Ausgangsfrage:
Was ist Sicherheit und was gefährdet diesen Zustand? „[D]a es nichts gibt, was nicht
als Bedrohung wahrgenommen oder zur Bedrohung deklariert werden könnte, kann
alles zur Zielscheibe präventiver Anstrengungen werden.“32 Verfassungsrechtliche
Grenzen schützen das Strafrecht vor den Ambitionen des Staates „alles zu versicher-
heitlichen“. Insbesondere die Anforderungen der Terrorismusprävention fordern die
verfassungsrechtlichen Grenzen des Strafrechts und des Gefahrenabwehrrechts aber
in besonderer Weise heraus.33
Ein Blick auf die vier (relativen) Strafzwecktheorien34 lässt erkennen, warum das
Strafrecht von seiner dogmatischen Auffassung her nicht besonders geeignet er-
scheint Terrorismus zu verhindern. Abschreckung durch Strafandrohung (negative
Generalprävention) scheint wenig geeignet für politisch oder religiös motivierte Per-
sonen, die bereit sind ein persönliches Opfer für eine als gerecht empfundene Sache
zu erbringen, und die staatliche Repression ohnehin als gegebenen, wenn nicht gar
als Legitimation für ihr Handeln ansehen.35
Die Positive Generalprävention soll durch die unermüdliche Sanktionierung von
Normbrüchen das Vertrauen der Bevölkerung in die Gültigkeit von Regeln stärken,
obwohl diese offensichtlich ständig verletzt werden.36 Gerade häufige und regelmä-
ßige Regelverletzungen (z. B. Ladendiebstahl) können das Vertrauen in die prinzipi-
elle Gültigkeit der Regel zusätzlich erodieren. Für terroristische Gewalt ist der Effekt
der positiven Generalprävention vermutlich schwach. Terroristische Ereignisse sind
so außergewöhnlich und so ungeheuerlich, dass es schlichtweg nicht notwendig er-
30
Jakobs 2012, 22.
31
„Nach allgemeiner Auffassung liegt eine ,Gefahr‘ vor, wenn eine Sachlage oder ein
Verhalten bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens mit Wahr-
scheinlichkeit ein polizeilich geschütztes Rechtsgut schädigen wird.“ – BVerGE 45, 51 (57).
32
Bröckling 2008, 39.
33
Vgl. Steinsiek 2012; Thiel 2011.
34
Siehe z. B. Hörnle 2017.
35
Vgl. Black 2004.
36
Die soziologische Theorie spricht von „kontrafaktischer Normstabilisierung“, um die
Fähigkeit von sozialen Systemen zu beschreiben, an Erwartungen festzuhalten, obwohl diese
Erwartungen fortwährend faktisch enttäuscht werden (contra factum). In diesem Sinne ist
Terrorismus, anders als z. B. Steuerhinterziehung, kein kontrafaktisches Ereignis, weil die
Menschen in Übereinstimmung mit ihrer sozialen Erwartung erleben, dass Terroranschläge
gegen gesellschaftliche Regeln verstoßen und dieser Erwartung entsprechend auch tatsächlich
selten stattfinden (zumindest in westlichen Gesellschaften). Vgl. Luhmann 1993.
Der Präventionskomplex 157
scheint, die Bevölkerung daran zu erinnern, dass Anschläge, obwohl Personen sie hin
und wieder begehen, prinzipiell verboten sind. Anders als z. B. das Schwarzfahren
hat das willkürliche Töten unschuldiger Personen nicht das Potential die Gültigkeit
der Norm als solche in Frage zu stellen. Bei Kriminalität im Vorfeld eines Anschlages
(z. B. Finanzierung ausländischer Terrororganisationen) hingegen erscheint die po-
sitive Generalprävention eher zweckmäßig.
Während das Strafrecht auf der gesellschaftlichen Ebene kaum (general-)präven-
tive Strahlkraft auf den Terrorismus haben dürfte, kann es auf der individuellen
Ebene mitunter mehr bewirken. Ein Aspekt der sogenannten Spezialprävention ist
die Sicherung: Eine Person, die eine Haftstrafe verbüßt stellt in der Regel keine un-
mittelbare Gefahr mehr für die Öffentlichkeit dar (negative Spezialprävention). In-
wiefern die Hafterfahrung Personen abgeschreckt oder aber ermutigt, ihre extremis-
tische Karriere innerhalb und außerhalb des Vollzugs fortzusetzen, ist eine andere
Frage. Auch gibt es Fälle, bei denen eine Islamistische Radikalisierung erst durch
Kontakte zu Mithäftlingen aus der islamistischen oder salafistischen Szene im Voll-
zug in Gang gesetzt oder verstärkt wurde. Terrorismusprävention durch Freiheitsent-
zug ist ferner möglich durch Polizeigewahrsam (auch Unterbindungsgewahrsam
oder Präventivhaft), Abschiebehaft, Untersuchungshaft, nachträgliche Sicherungs-
verwahrung und den Maßregelvollzug.37 Berücksichtigt man, dass viele Anhänger
des sogenannten Islamischen Staates Jugendliche sind, kann man diese Aufzählung
noch durch die Jugendstrafe bzw. den Jugendarrest erweitern.
Neben dem Zweck der Abschreckung und Sicherung ist das deutsche Strafrecht
stark geprägt durch das Ideal der Rehabilitation von Straffälligen (positive Spezial-
prävention). In der Vollzugspraxis erweist sich die Umsetzung dieses Ideals aller-
dings häufig als schwierig. Für rechtsextremistische Straftäter existieren zwar eta-
blierte Ausstiegsprogramme. Die Resozialisierung islamistisch motivierter Straftäter
steht im Vergleich dazu in ihrer praktischen Entwicklung und kriminologischen Er-
forschung noch ganz am Anfang.38
Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass das Strafrecht als Instrument zur
Ahndung von begangenen Straftaten augenscheinlich kein besonders effektives In-
strument zur Prävention von Terrorismus sein kann. Sicherung und die Rehabilitie-
rung dürften dabei die wichtigsten Strafzwecke darstellen. „Um die angestrebte prä-
ventive Wirkung mit der repressiven Natur des Strafrechts zu verbinden, greift der
Gesetzgeber zunehmend auf den Ansatz des strafrechtlichen Vorfeldschutzes zu-
rück.“39 Diesen Trend sehen viele Rechtswissenschaftler kritisch.40 Demnach werden
für die Terrorismusbekämpfung zunehmend Handlungen unter Strafe gestellt, die
(noch) keine Rechtsgüter verletzen.41 Straftatbestände wie die Vorbereitung einer
37
Vgl. Müller 2011.
38
Gerlach & Pfalzer 2015, 295.
39
Chalkiadaki 2017, 20; Ashworth & Zedner 2014, 4.
40
Vgl. Huster & Rudolph 2008.
41
Biehl 2015, 304.
158 Andreas Armborst
len der Öffentlichkeit vor einem Überwachungsstaat. Aber auch die nachrichten-
dienstlichen Aktivitäten der Terrorismusabwehr, die nicht Gegenstand dieses Arti-
kels sind,50 betreffen Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der parlamentarischen Kon-
trolle im Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit.51 Die Enthüllungen
von Whistleblowern wie Julian Assange, Chelsea Manning und Edward Snowden
zeigen zudem das globale Ausmaß an Überwachungspraktiken.52
Die Fragen aus der Schweizer Sicherheitsstudie (s. o., unter 2.1) zeigen, wie die
Schweizer Bevölkerung den Schutz vor Terrorismus gegenüber dem Schutz ihrer
persönlichen Freiheit gewichtet (Schutz durch den Staat und Schutz vor dem
Staat). Einige Indizien deuten darauf hin, dass die wahrgenommene Bedrohung
durch den Terrorismus das Schutzbedürfnis der Bevölkerung verschiebt, wobei
die persönliche Freiheit an Bedeutung verliert und die Akzeptanz für freiheitsein-
schränkende Maßnahmen der Terrorabwehr steigt.
Es wurde gezeigt, dass es keinen natürlichen Fixpunkt für den (Ideal-)Zustand der
Inneren Sicherheit geben kann. Sicherheit konstituiert sich über den effektiven
Schutz von Rechtsgütern, die wiederum rechtlich geschützte, und prinzipiell verhan-
delbare Interessen abbilden. Über diesen Mechanismus kann die Rationalität der Si-
cherheit hypothetisch endlos expandieren. Stößt sie an verfassungsrechtliche Gren-
zen kann es zu Konflikten zwischen konkurrierenden Schutzbedürfnissen der Bevöl-
kerung kommen. Die Extremismusprävention, auf die der nächste Abschnitt eingeht,
kann das klassische Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit entlasten,
weil es weniger auf Überwachung und Strafverfolgung ausgerichtet ist, sondern mit
zivilgesellschaftlichen Mitteln einen Beitrag zur Prävention von Terrorismus leistet.
Gleichzeitig steigt dadurch aber das Risiko für den net-widening-effect der im Ergeb-
nis nicht weniger, sondern mehr soziale Kontrolle durch den Staat bedeutet.
3.3 Extremismusprävention
Und schließlich gibt es noch ein großes Erkenntnisdefizit in Hinblick auf die
Wirksamkeit und Qualitätssicherung der vielen staatlich geförderten Initiativen
gegen den Extremismus. Zwar sind Evaluationen in den Förderrichtlinien teilweise
verbindlich vorgeschrieben, jedoch bleiben diese hinsichtlich ihres Untersuchungs-
ziels und der dazu angewandten Methodik ebenso vage wie viele der Maßnahmen
selbst, und erbringen folglich selten belastbare oder aussagekräftige Erkenntnisse.67
64
Milbradt 2019.
65
Vgl. Jenkins, Hoffman & Crenshaw 2016.
66
Leimbach, Mathiesen & Meier 2017, 417.
67
Vgl. Armborst et al. 2018.
162 Andreas Armborst
4. Fazit
Wahrgenommene, herbeigeredete und tatsächliche Bedrohung durch den Terro-
rismus werden auch in Zukunft Politik, Recht und Gesellschaft prägen. Ein genaue-
res Verständnis über den Zusammenhang zwischen Sicherheitsempfinden sowie si-
cherheits- und kriminalpolitischen Forderungen erscheint daher weiterhin ein loh-
nendes Ziel zukünftiger sozial- und rechtswissenschaftlicher Forschung zu sein.
Hans-Jörg Albrecht widmet sich diesem Themenkomplex seit langem und hat am
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht unseren Blick
für diesen Gegenstand geschärft.68
Dieser Beitrag möchte daran anschließen, indem er einen konkreten Vorschlag zur
demoskopischen Erfassung terrorismusbezogener Ängste unterbreiten. Für die Mes-
sung von Kriminalitätsfurcht greifen Meinungsforschungsinstitute, der Deutsche
Viktimisierungssurvey und zahlreiche weitere kriminologische Umfragen auf das so-
genannte Standarditem zurück. Die ETH Zürich stützt sich zur Messung von Terro-
rismusfurcht auf eine im Wortlaut an dieses Item angelehnte Frage. Um die Frage an
den bundesdeutschen Befragungskontext anzupassen, wäre die Benennung von
Weihnachtsmärkten als ein weiteres Beispiel für öffentliche Orte sinnvoll. Nach
dem Anschlag des Islamisten Anis Amri auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breit-
scheidplatz 2016, und dem Anschlag auf den Straßburger Weihnachtmarkt zwei
Jahre später, sind Weihnachtsmärkte in der öffentlichen Wahrnehmung mit terroris-
tischer Bedrohung konnotiert. Im Wortlaut der Frage könnte sich außerdem der all-
gemeinere Ausdruck „belebte Orte“ wiederfinden, da Befragte auch hiermit eine
Anschlagsgefahr assoziieren könnten. Das Verständnis und Antwortverhalten von
Befragten sollte in experimentellen Pretest genauer untersucht werden. Für den bun-
desdeutschen Befragungskontext könnten dann Variationen des folgenden Fragebo-
genitems Aufschluss über Ausmaß und Verbreitung terrorismusbezogener Unsicher-
heiten geben:
„In Bezug auf die Gefahr durch terroristische Anschläge: Wie sicher fühlen Sie sich persön-
lich an belebten Orten, wie bspw. Fußgängerzonen, Weihnachtsmärkten und öffentlichen
Versammlungen“.
(1) sehr sicher; (2) ziemlich sicher; (3) ziemlich unsicher; (4) sehr unsicher; (8)
ich bin nie an belebten Orten (9) weiß nicht/k.A.
68
Vgl. Albrecht 2010; Albrecht 2007.
Der Präventionskomplex 163
Daran anschließend stehen zwei weitere, als Frage formulierte Fazits am Ende
dieses Beitrags: erstens die offene Frage nach dem politischen Umgang mit dem Si-
cherheitsempfinden der Bevölkerung, und zweitens die Bedeutung der Extremismus-
prävention im Spannungsfeld von Sicherheit und Freiheit.
Soll sich der Staat, neben der Gewährleistung der Inneren Sicherheit auch um das
Sicherheitsempfinden der Bevölkerung kümmern? Kann das legitime aber subjekti-
ve Bedürfnis nach Sicherheit selbst zu einer Frage der Inneren Sicherheit werden?69
Die präventive Sicherheitsordnung wäre in dem Moment nicht mehr nur rein hypo-
thetisch unbegrenzt, wenn das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung Rechtsgüter-
status erlangt oder von Sicherheitsbehörden als solches angesehen würde. Christian
Stöcker schrieb dazu in einer Kolumne auf SPIEGEL ONLINE: „Wer gefühlte Be-
drohungen bekämpft, betreibt Sicherheitstheater, schränkt dazu im Zweifel Bürger-
rechte ein und verschwendet Steuergelder.“70
Kann die Extremismusprävention das Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit
und Freiheit lockern? Einerseits schon, denn sie eröffnet den Behörden neue Mög-
lichkeiten, sich unterhalb der Schwelle strafprozessualer oder polizeilicher Maßnah-
men an radikalisierte Personen zu wenden. Dadurch könnte sich der „Präventions-
druck“, der auf dem Strafrecht und dem Gefahrenabwehrrecht lastet, abmildern.
Mit anderen Worten: der Staat muss Personen nun nicht kriminalisieren, um über-
haupt erst einen Ansatzpunkt für Präventionsarbeit mit ihnen zu bekommen. Die
Kehrseite dieser Medaille könnte ein sogenannter net-widening-effect sein, der im
Ergebnis nicht weniger sondern mehr soziale Kontrolle bedeutet.71 Verkürzt gespro-
chen bedeutet das, dass sich der Einfluss von Sicherheitsbehörden insgesamt auswei-
tet, wenn anderen Behörden oder zivilen Einrichtungen sicherheitsrelevante Präven-
tionsaufgaben übertragen werden. Dieser Nettoeffekt (Einflusszunahme trotz Kom-
petenzabgabe) kommt dadurch zu Stande, dass soziale und zivile Träger einen Zu-
gang zum Feld haben, der Sicherheitsbehörden aus rechtlichen und anderen Gründen
oft verschlossen bleibt. Denkbar ist aber auch eine wechselseitige Beeinflussung, bei
der soziale Fragen der Prävention zunehmend auch in die Sicherheitsbehörden hin-
eingetragen werden. Die enge Kooperation zwischen den ansonsten „unwahrschein-
lichen Partnern“ Familienministerium (BMFSFJ) und Innenministerium (BMI) im
Bereich der Extremismusprävention ist hierfür ein Beispiel. Sehr pointiert formuliert
läuft dies hinaus auf die Frage, ob eine Versicherheitlichung des Sozialen oder eine
Versozialung der Sicherheit stattfindet. Etwas neutraler gefast, könnte man auch von
einer zunehmenden Überlagerung beider Zuständigkeiten ohne klare Abgrenzung
sprechen.
69
Siehe hierzu Bützler 2017, 95.
70
Stöcker 2018.
71
Vgl. Cohen 1985.
164 Andreas Armborst
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Lokale (Un-)Sicherheiten in der Migrationsgesellschaft
Von Thomas Görgen, Eva Sevenig und Jochen Wittenberg
Als ab 2014 die Zahl der nach Deutschland flüchtenden und hier Asyl suchenden
Menschen stark anstieg und im Jahr 2016 auch die Größenordnungen der frühen
1990er Jahre – einer Zeit, in der nach dem Zerfall der sozialistischen Regime in Ost-
europa und während der Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien ebenfalls viele
Menschen in Deutschland Zuflucht gesucht hatten – bei weitem übertraf1, wurde die-
ser Umstand in vielfacher Hinsicht als Herausforderung wahrgenommen2. Starke Zu-
wanderung bringt stets Anforderungen an die Integrationsleistung von Gesellschaf-
ten insgesamt, wie auch insbesondere von Kommunen und Wohnquartieren mit sich
(vgl. u. a. Gesemann & Roth 2009). Gerade auf kommunaler Ebene sind Fragen der
Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten und im weiteren Verlauf ihrer In-
tegration in den verschiedenen Facetten des Begriffs (mit Bezug auf Arbeitsmarkt,
Bildung, Sprache etc.) von unmittelbarer Bedeutung. Kommunalen Verwaltungen
stellten sich Aufgaben, auf die sie nicht in jedem Fall hinreichend vorbereitet
waren (Bogumil, Hafner & Kastilan 2017a, 2017b); von sich abzeichnenden Über-
forderungen wurde berichtet (Landsberg 2015).
Der in den letzten Jahren intensiv geführte gesellschaftliche Diskurs um Flucht
und Zuwanderung war von Beginn an in mehrfacher Hinsicht auch eine Auseinan-
dersetzung um Fragen öffentlicher Sicherheit:
• Zuwanderung und damit verknüpfte Bedrohungen gesellschaftlicher Stabilität
und öffentlicher wie individueller Sicherheit wurden zu einem bedeutsamen
Topos politischer Diskussionen, der von Parteien (insbesondere der AfD) und po-
litischen Bewegungen (wie Pegida und den zahlreichen lokalen Ablegern) aufge-
griffen wurde (vgl. etwa Geiges 2018; Geiges, Marg & Walter 2015; Häusler
2016). Es waren Radikalisierungstendenzen in Teilen der Bevölkerung erkennbar
(Rauschenbach 2016, 3), die sich u. a. in gewalttätigem Protest, verbalen und kör-
1
Nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (2019, 5 f.) wurden in
Deutschland im Jahr 2014 insgesamt 202.834 und im Jahr 2015 476.649 Asylanträge gestellt.
Vergleichbar hohe Werte waren davor zuletzt in den Jahren 1991 bis 1993 verzeichnet worden;
2006 bis 2009 hatte die jährliche Zahl der Asylanträge hingegen in einer Größenordnung von
nur ca. 30.000 gelegen. 2016 stieg die Zahl der Anträge auf 745.545 und war seither rück-
läufig (185.853 Anträge im Jahr 2018).
2
Der berühmt gewordene „Wir schaffen das!“-Satz der Bundeskanzlerin, gesprochen bei
der Sommerpressekonferenz Ende August 2015, bringt den Herausforderungscharakter der
Konfrontation der Gesellschaft mit starker fluchtbedingter Migration in knapper Form auf den
Punkt (vgl. Schuler 2018).
170 Thomas Görgen, Eva Sevenig und Jochen Wittenberg
perlichen Übergriffen auf Migranten und Migrantinnen und Angriffen auf Flücht-
lingsunterkünfte äußerten.
• Insbesondere im Gefolge der sogenannten Kölner Silvesternacht 2015 (siehe dazu
u. a. Behrendes 2016; Egg 2017) war eine starke Konzentration des öffentlichen
und medialen Diskurses auf Bedrohungen der Sicherheit durch junge männliche
Zuwanderer und Geflüchtete zu konstatieren. Der inhaltliche Fokus lag in Teilen
auf der Befürchtung, dass mit der Zuwanderung aus muslimisch geprägten Län-
dern die Potenziale salafistischer Radikalisierung in Deutschland wachsen könn-
ten, vor allem jedoch auf Gewalt- und Sexualdelikten, Eigentumskriminalität und
Drogendelikten (siehe dazu auch Goeckenjan, Schartau & Roy-Pogodzik 2019).
• Das Sicherheitsempfinden in Teilen der Bevölkerung erschien als beeinträchtigt,
und Zuwanderung und Zugewanderte wurden zum Bezugspunkt entsprechender
Befürchtungen gemacht. So sahen nach Daten des Eurobarometers im Herbst
2015 76 % der Deutschen „Einwanderung“ als größtes Problem sowohl für ihr
Land als auch für die EU (Europäische Kommission 2016, 15, 18). In repräsenta-
tiven Befragungen des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD zur „Flücht-
lingssituation“ äußerte im Mai 2016 die Mehrzahl der Befragten Besorgnisse hin-
sichtlich steigender Kriminalität (65 %), eines wachsenden muslimischen Extre-
mismus (71 %), mehr noch wegen zunehmender rechtsextremer Tendenzen
(83 %; Ahrends 2017, 25).
• Die Zuwanderung hat auch die Anforderungen an die Arbeit der Polizei und an-
derer Akteure mit Sicherheitsaufgaben geprägt. So diagnostizieren Perthus & Be-
lina (2017) eine wesentlich von den Sicherheitsbehörden getragene Moralpanik
um junge Geflüchtete in Bautzen (Sachsen) im Jahr 2016, durch die „der Krimi-
nalisierung Geflüchteter in nationalen Diskursen eine qua Amt einflussreiche Le-
gitimation“ gegeben wurde (S. 257).
Das durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt
„Sicherheitsanalysen und -vernetzung für Stadtquartiere im Wandel“ (SiQua)3 greift
diesen Diskurs in qualitativen und quantitativen Datenerhebungen und -analysen auf.
Im Rahmen des Projekts werden in den Städten Berlin, Dresden und Essen Hell- und
Dunkelfelddaten insbesondere für durch Zuwanderung geprägte Quartiere erhoben,
die Analysen zu lokaler Sicherheit und zu sicherheitsbezogenen Wahrnehmungen er-
möglichen. Dabei werden Sichtweisen und Erfahrungen verschiedener Bevölke-
rungsgruppen und sicherheitsrelevanter Akteure aus Behörden und anderen Organi-
sationen miteinander verknüpft. Im weiteren Verlauf des Projekts werden in einem
strukturierten partizipativen Verfahren gemeinsam mit lokalen Akteuren auf die je-
weiligen Gegebenheiten im Quartier bezogene kooperative Ansätze zur Stärkung der
Sicherheit und des Sicherheitsempfindens entwickelt (und in der Folge umgesetzt).
3
Das Projekt wird im Rahmen des Programms „Forschung für die zivile Sicherheit“ der
Bundesregierung gefördert (Förderkennzeichen: 13N14518 bis 13N14522).
Lokale (Un-)Sicherheiten in der Migrationsgesellschaft 171
5
Auf den Unterschied zwischen „Angst“ und „Unsicherheit“ kann hier nicht detailliert
eingegangen werden. „Angst“ wird gemeinhin eher im Sinne einer Bedrohung verwendet und
Unsicherheit eher im Sinne einer Risikowahrnehmung.
6
Auch Menschen mit Migrationshintergrund, die schon länger in Essen leben (und manche
Geflüchtete), fühlen sich durch die vermehrte Zuwanderung und die damit einhergehenden
Veränderungen auf gewisse Weise bedroht. Sie befürchten, von der Mehrheitsgesellschaft
abgelehnt zu werden. In diesem Rahmen soll jedoch nicht vertieft darauf eingegangen werden.
7
Während manche dieser Bewohnerinnen und Bewohner die Gründe für gesellschaftliche
Missstände in einer „Übernahme des Stadtteils durch Ausländer“ sehen, bringen jüngere Be-
wohnerinnen und Bewohner diese eher mit Modernisierungsprozessen in Verbindung.
174 Thomas Görgen, Eva Sevenig und Jochen Wittenberg
ein Gewichtungsverfahren kompensiert wird. Der Anteil der Menschen mit Migra-
tionshintergrund ist im Nordviertel am höchsten (44 %), im Stadtkern und in Alten-
dorf liegt er jeweils etwa bei einem Drittel der Befragten (33 bzw. 31 %).11
Kriminalitätsfurcht: Bereits ein Blick auf zwei Standardindikatoren verdeutlicht
das hohe Maß an Kriminalitätsfurcht und erlebter Unsicherheit in den drei hier un-
tersuchten Stadtteilen. Auf die Frage nach dem Sicherheitsempfinden im Wohnge-
biet nach Einbruch der Dunkelheit12 gibt eine klare Mehrheit der Befragten an,
sich eher oder sehr unsicher zu fühlen. Im Stadtteil Altendorf sind es sogar über
drei Viertel der Befragten. Erwartungsgemäß fallen die Anteilswerte erheblich nied-
riger aus, wenn man stattdessen nach dem Sicherheitsgefühl tagsüber fragt (vgl. Ta-
belle 1). Jedoch schätzen auch hier 12 – 26 % der Anwohnerinnen und Anwohner ihr
Wohngebiet als (eher) unsicher ein. Diese ganz allgemeine Furchteinschätzung liegt
erheblich über dem Niveau, das für das Bundesland Nordrhein-Westfalen insgesamt
im Rahmen des Deutschen Viktimisierungssurveys 2017 erhoben wurde. Dort lagen
die Werte für NRW bei 25 % für eher/sehr unsicher bei Dunkelheit (Birkel et
al. 2019, 46).
Tabelle 1
Standardindikatoren der Kriminalitätsfurcht (in %)
Stadtkern Nordviertel Altendorf
bei bei bei
tagsüber tagsüber tagsüber
Dunkelheit Dunkelheit Dunkelheit
sehr unsicher 26 3 28 1 40 4
eher unsicher 39 9 35 13 37 22
eher sicher 29 49 30 47 18 49
sehr sicher 6 39 7 39 4 25
gewichtete Daten
11
Von einem Migrationshintergrund wird hier ausgegangen, wenn Befragte nicht in
Deutschland geboren wurden, wenn sie eine andere als die deutsche Staatsbürgerschaft haben
oder wenn ein Elternteil nicht in Deutschland geboren wurde.
12
Frageformulierung „Wie sicher fühlen Sie sich – oder würden Sie sich fühlen –, wenn
Sie … nach Einbruch der Dunkelheit alleine zu Fuß in Ihrem Wohngebiet unterwegs sind? …
tagsüber alleine zu Fuß in Ihrem Wohngebiet unterwegs sind?“
Lokale (Un-)Sicherheiten in der Migrationsgesellschaft 177
ein Drittel bis knapp die Hälfte der Befragten von den erfragten Delikten ziemlich
oder sehr beunruhigt. Die Unterschiede zwischen den Delikten sind insgesamt
nicht sehr groß; lediglich körperliche Auseinandersetzungen mit ihnen bekannten
Personen sind für die Befragten weniger Grund zur Beunruhigung, darüber hinaus
für die männlichen Befragten auch sexuelle Belästigungen. Schaut man auf die wahr-
genommenen Viktimisierungsrisiken, zeigt sich, dass mit Blick auf das kommende
Jahr kaum eines der Delikte von mehr als einem Viertel der Befragten für wahr-
scheinlich oder sehr wahrscheinlich gehalten wird. Es stechen nur die Wahrschein-
lichkeit, von jemandem angepöbelt zu werden (etwas mehr als die Hälfte hält dies für
wahrscheinlich oder sehr wahrscheinlich), sowie – durch die geringe angenommene
Wahrscheinlichkeit (2 – 3 % der Befragten) – Körperverletzungen durch Personen
des nahen Umfeldes heraus.
Um sich vor Kriminalität zu schützen, haben über zwei Drittel im zurückliegen-
den Jahr bestimmte Orte, Straßen und Plätze im Wohngebiet – insbesondere bei Dun-
kelheit – gemieden. Auch anderes Vermeideverhalten findet sich häufig (u. a. bei
Dunkelheit keine Wege zu Fuß, alleine oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurück-
zulegen). Ein recht hoher Befragtenanteil von über einem Viertel berichtet, zum ei-
genen Schutz Pfeffersprays oder Ähnliches mitzunehmen. Etwa 5 % tragen nach ei-
gener Auskunft aus Sicherheitserwägungen sogar ein Messer oder eine andere Waffe
bei sich.
Insgesamt ergibt sich für die beiden Fallstudiengebiete ein recht konsistentes Bild
eines sehr stark gestörten Sicherheitsempfindens, das zwar deutliche Niveauunter-
schiede nach Tageszeit erkennen lässt, sich aber hinsichtlich von Situationen bzw.
konkreter Delikte kaum unterscheidet. Hierbei überlappen sich die einzelnen Per-
spektiven stark: Höhere Furcht tagsüber geht auch stark mit höherer Unsicherheit
bei Dunkelheit einher (r = 0,6), die Angst vor Wohnungseinbrüchen korreliert mit
der vor Raub und Körperverletzungen (r = 0,7 bzw. 0,6). Ebenso zeigen sich starke
Zusammenhänge, wenn die Einzelmessungen zur Kriminalitätsfurcht zu den Dimen-
sionen ,Beunruhigung‘ (emotional), ,Entdeckungsrisiko‘ (kognitiv) und Vermeide-
verhalten (konativ) gebündelt werden (Werte liegen hier bei etwa r = 0,5).
Diese Befunde bilden den Ausgangspunkt für die folgenden Analysen, die Zu-
sammenhänge zwischen individuellen Erfahrungen, Wahrnehmungen des Wohnge-
bietes sowie Einstellungen gegenüber dort lebenden Mitmenschen einerseits und der
Kriminalitätsfurcht andererseits betrachten. Gerade dort, wo sich ein (niedriges) all-
gemeines Sicherheitsempfinden zum Teil losgelöst von Situationen und Erschei-
nungsformen der Kriminalität präsentiert, erscheint dies vielversprechend. Zur Ver-
einfachung der Darstellung wird in den folgenden Analysen besonderes Augenmerk
auf das Beunruhigungsgefühl gelegt, das die emotionale Dimension der Kriminali-
tätsfurcht in besonderem Maße charakterisiert.13
13
Im Fragebogen werden die Fragen eingeleitet mit „Inwieweit fühlen Sie sich persönlich
beunruhigt, dass …“ gefolgt von Formulierungen zu spezifischen Delikten. Die hier zu einem
Index gebündelten sieben Items weisen faktorenanalytisch eine eindimensionale Struktur auf:
178 Thomas Görgen, Eva Sevenig und Jochen Wittenberg
18
In Bezug auf das Wohngebiet der Befragten sollten folgende Statements bewertet wer-
den: „Die Leute hier helfen sich gegenseitig“, „Man kann den Leuten in der Nachbarschaft
vertrauen“, „Die Leute hier haben keine gemeinsamen Werte“ (umgepolt) und „Die Leute hier
haben Respekt vor dem Gesetz“.
19
Die Formulierungen waren: „Die Zuwanderung aus ärmeren Ländern ist eine Belastung
für das Sozialversicherungssystem“, „Die Zuwanderung aus Kriegs- und Krisengebieten trägt
die dortigen Konflikte nach Essen“, „Dass hier Menschen aus verschiedenen Ländern und
Kulturen leben, ist ein Gewinn für Essen“ (umgepolt), „Die Zuwanderung hat zu mehr Kri-
minalität in Essen geführt“ und „Dass in Essen Zuwanderer aufgenommen wurden, ist ins-
gesamt ein Nachteil für die Stadt“.
180 Thomas Görgen, Eva Sevenig und Jochen Wittenberg
Die nachfolgende multivariate Regressionsanalyse (vgl. Tabelle 2) soll als ein ers-
ter Versuch verstanden werden, die Überlappungen in den betrachteten Zusammen-
hangsstrukturen zu reduzieren. Auch wenn Kausalbeziehungen allenfalls unterstellt
werden können, verdeutlicht die Analyse, wie stark die Beziehungen zur Kriminali-
tätsfurcht ausgeprägt sind, wenn alle Konzepte simultan berücksichtigt werden.
Vergleicht man die Koeffizienten der verschiedenen Stadtteile bzw. Fallstudien-
gebiete, sind die Erklärungsleistung und die Grundstruktur der Modelle recht ähn-
lich. Viktimisierungserfahrungen und die intensive Wahrnehmung von Incivilities
führen zu höherer Kriminalitätsfurcht. Gleiches trifft mit Blick auf zuwanderung-
skritische Einstellungen zu. Im Vergleich kommt Opfererfahrungen insgesamt
etwas geringere Bedeutung zu als den anderen beiden furchtsteigernden Merkmalen.
Demgegenüber ist der sicherheitssteigernde Effekt der sozialen Kohäsion deutlich
schwächer ausgeprägt und zum Teil nicht stark genug, um signifikant nachgewiesen
zu werden. Über die genannten Zusammenhänge hinaus finden sich keine Altersef-
fekte hinsichtlich der Kriminalitätsfurcht sowie nur teilweise signifikante Effekte des
Migrationshintergrundes, die tendenziell in Richtung höherer Furcht bei nicht in
Deutschland geborenen Personen weisen. Die höhere Kriminalitätsfurcht bei weib-
lichen Befragten bleibt auch unter Kontrolle der anderen Merkmale erkennbar.
Tabelle 2
Regressionsanalyse zur Kriminalitätsfurcht
(standardisierte Koeffizienten der OLS-Regression)
abhängige Var.: Beunruhigungsgefühl Stadtkern Nordviertel Altendorf
Viktimisierung (0 = keine) 0,15 0,13 0,10
Incivilities 0,25 0,30 0,29
soziale Kohäsion -0,14 -0,01 -0,10
Kritik an Zuwanderung 0,19 0,18 0,24
Geschlecht (0 = weiblich)
männlich -0,11 -0,17 -0,13
Alter 0,03 -0,01 0,01
Migrationshintergrund (0 = keiner)
ja, in Deutschland geboren 0,09 0,05 -0,01
ja, nicht in Deutschland geboren 0,14 0,11 0,02
N 225 441 961
R2 29,1 % 25,5 % 29,3 %
ungewichtete Daten, kursiv gesetzte Koeffizienten sind nicht signifikant (p > 0,05)
Fazit
Wenige Jahre nach dem Höhepunkt der sogenannten „Flüchtlingskrise“ wurden
vielfältige Aspekte lokaler Sicherheit am Beispiel von stark durch Migration und so-
ziale Probleme geprägten Stadtteilen einer westdeutschen Großstadt mittels quanti-
Lokale (Un-)Sicherheiten in der Migrationsgesellschaft 181
tativer und qualitativer Daten untersucht. Welches Bild lässt sich anhand der bishe-
rigen Befunde skizzieren?
Das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung in den untersuchten Stadtteilen ist –
jedenfalls im Vergleich mit Daten auf der Ebene des Bundes oder des Landes Nord-
rhein-Westfalen – beeinträchtigt; insbesondere bei Dunkelheit wird das eigene
Wohnquartier als ein wenig sicherer Ort erlebt. Dies ist insofern erwartungskonform,
als die hier in den Blick genommenen Stadtteile gerade im Hinblick auf ihren Cha-
rakter als Räume mit überdurchschnittlichen sozialen Problemlagen ausgewählt wur-
den; das Ausmaß der zum Ausdruck gebrachten Verunsicherung muss dennoch als
beträchtlich erachtet werden.
Auf der Basis der qualitativen (Interview-)Daten lässt sich das gestörte Sicher-
heitsempfinden der Bewohnerinnen und Bewohner in erster Linie als diffuse Beun-
ruhigung und Verunsicherung charakterisieren und weniger als unmittelbar auf Straf-
taten im Allgemeinen oder auf spezifische Deliktsbereiche bezogene Kriminalitäts-
furcht im engeren Sinne. In den quantitativen Analysen wird das große Ausmaß des
Unsicherheitsempfindens ebenfalls deutlich. Zugleich finden sich auch hier Hinwei-
se, dass dieses Empfinden allgemeiner Natur und nicht nur an Kriminalitätsphäno-
mene gebunden ist.
Erlebte Unsicherheit weist – den quantitativen wie den qualitativen Daten zufol-
ge – deutliche Bezüge zu wahrgenommenen Störungen der sozialen Ordnung und
„Verfallserscheinungen“ der sozialen und physischen Umwelt auf. Diese Wahrneh-
mungen von Incivilities/Disorder haben – jedenfalls in Teilen – Bezüge zu Fragen
von Migration und Zuwanderung. Wahrgenommene Störungen der sozialen Ord-
nung können etwa mit Fragen der Nutzung des öffentlichen Raumes und z. B. mit
dem Verhalten von Gruppen junger Männer mit Zuwanderungsgeschichte auf Plät-
zen und Straßen verknüpft sein.
Kritische Einstellungen zu Zuwanderung und die Wahrnehmung einer zunehmen-
den Prägung des Wohnquartiers durch sichtbare ethnische Minderheiten gehen mit
der Wahrnehmung und dem Erleben beeinträchtigter oder beschädigter Sicherheit
einher; zum Teil wird Zuwanderung mit einer langfristigen Schwächung sozialen
Zusammenhalts in Verbindung gebracht. Romantisierende Vorstellungen einer
„guten alten Zeit“, in der man im Quartier noch zusammenhielt, mögen hier eine
Rolle spielen und auch Ausdruck eines allgemeinen Unbehagens angesichts gesell-
schaftlicher Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse sein. In den zurück-
liegenden Jahren wurden Bezüge zwischen erlebter Unsicherheit auf der einen Seite
und Haltungen gegenüber Fremden (insbesondere Angehörigen sichtbarer ethni-
scher Minoritäten) sowie dem Erleben gesellschaftlicher Wandlungsprozesse auf
der anderen Seite in verschiedenen Studien als bedeutsam herausgearbeitet (vgl.
etwa Hirtenlehner 2009; Hirtenlehner & Farrall 2013; Hirtenlehner & Groß
2018; Janssen, Oberwittler & Gerstner 2019; Oberwittler, Janssen & Gerstner
2017).
182 Thomas Görgen, Eva Sevenig und Jochen Wittenberg
Die starke fluchtbedingte Migration insbesondere in den Jahren 2015 und 2016
wurde zu einem zentralen Gegenstand politischer Auseinandersetzungen und gesell-
schaftlicher Diskurse und ist es in Teilen bis heute geblieben. In den Sicherheitswahr-
nehmungen der Menschen in den untersuchten Stadtvierteln sind Migration, Zuzug
sichtbarer Minderheiten und damit assoziierte gesellschaftliche Veränderungen
durchaus von Bedeutung für Sicherheitsempfinden und sicherheitsbezogene Wahr-
nehmungen. Die vorliegenden Befunde weisen zugleich darauf hin, dass dem histo-
rischen Ereignis der Flucht vor allem aus dem von Krieg und Krisen erschütterten
Vorderen Orient und (Nord-)Afrika hierbei nicht die dominierende Stellung zu-
kommt, die es im Rahmen der in den letzten Jahren in Deutschland geführten poli-
tischen Kontroversen hatte.
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Lokale (Un-)Sicherheiten in der Migrationsgesellschaft 183
von devianten Verhaltensweisen an solchen Plätzen, wenn sie medial verbreitet wer-
den, Bedrohungsgefühle (Haverkamp & Arnold 2015, 3).
Der Begriff und das Konstrukt Sicherheit werden von unterschiedlichen Fachdis-
ziplinen umfassend, und wie nicht anders zu erwarten, kontrovers diskutiert. Soziale
Arbeit ist in zahlreichen Tätigkeitsfeldern mit Personen befasst, von denen Risiken
für Sicherheit ausgehen. Als solchermaßen risikobehaftet gelten sie als Bedrohung,
sei es indem sie sich abweichend oder gar delinquent verhalten oder durch auffälliges
Verhalten die öffentliche Ordnung stören. Vor allem in Zwangskontexten arbeiten
Fachkräfte der Sozialen Arbeit mit Menschen, die sich gefährdend verhalten
haben und von denen angenommen wird, auch zukünftig würde von ihnen, könnten
sie den Zwangskontext verlassen, eine Gefahr für die Rechtsgüter anderer ausgehen.
Fachvertreter*innen der Sozialen Arbeit sehen sich in unterschiedlichen Tätigkeits-
feldern mit der Frage konfrontiert, inwieweit sie Akteur*innen bei der Herstellung
von Sicherheit sind oder ob sie ein derartiges Ansinnen abwehren wollen, weil sie
sich allein den Interessen ihrer Klientel verpflichtet fühlen und allenfalls mittelbar
durch deren Stärkung Bedrohungspotentiale reduzieren können. Verbunden damit
ist auch die Frage, ob es im Selbstverständnis der Sozialen Arbeit um „eindeutige
Parteinahme für die Adressat*innen“ (Kühne, Schlepper & Wehrheim 2017, 339)
oder um Hilfe für die der Sicherheitsherstellung verpflichteten Institutionen geht1.
Der an die Soziale Arbeit zum Beispiel im Rahmen der Sozialen Dienste in der Straf-
justiz adressierte Auftrag könnte zumindest mittelbar auch als Sicherheit generieren
durch Kontrolle und Unterstützung verstanden werden. Zudem sieht sich die Profes-
sion mit der Erwartung konfrontiert, Verhalten zu normalisieren (Olk 1986). Eine Er-
wartung, der sie möglicherweise nicht entsprechen möchte.
Sicherheit wird als facettenreicher und zugleich schillernder Begriff wahrgenom-
men. Die unterschiedlichen Zugänge zum Konstrukt Sicherheit und zum Prozess der
Sicherheitsherstellung sollen mit Blick auf ihre Relevanz für die Wissenschaft und
Profession Soziale Arbeit diskutiert werden. Dabei wird zugleich analysiert, inwie-
weit sich Soziale Arbeit am Diskurs beteiligt. Sodann werden Risiken und Nebenwir-
kungen benannt, denen die Klientel der Sozialen Arbeit ausgesetzt sind. Risiken er-
geben sich aus dem Umfeld und aus Tatabläufen, Nebenwirkungen aus dem Vollzug
von Sanktionen, in dessen Kontext Gefährdungen und möglicherweise Viktimisie-
rungen auftreten. Wenig Raum nimmt bislang in der Diskussion die Frage ein, inwie-
weit diejenigen, die in Zwangskontexten mit Menschen arbeiten, von denen Risiken
ausgehen können, ihre Sicherheit bedroht sehen. Sodann wird ein Aspekt der Sicher-
heit diskutiert, dem sich Soziale Arbeit in besonderem Maße verpflichtet sieht – die
soziale Sicherheit. Zudem wird zunächst professionstheoretisch und sodann empi-
risch erkundet, mit welchem Sicherheits- und Selbstverständnis Soziale Arbeit
sich in Tätigkeitsbereichen positioniert, in denen sie sich mit der Frage nach Sicher-
heitsherstellung in besonderer Weise herausgefordert sehen könnte. Im Rahmen des
1
Eine klassische Fragestellung in der Sozialen Arbeit, die u. a. in der Replikationsstudie
von Kühne et al. (2017) erforscht wird.
Soziale Arbeit als Akteurin bei der Herstellung von Sicherheit 187
2
Wir danken Mareike Ochs für die wertvolle Unterstützung und Hilfe, insbesondere im
Rahmen der qualitativen Studie.
188 Isolde Geissler-Frank und Jessica Krebs
3
Das Projekt „BaSiD“ lief von 2010 bis 2015. An dem interdisziplinären Verbundprojekt
waren Vertreter der gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen Soziologie, Kriminologie,
Medien- und Kommunikationswissenschaft, Psychologie, Rechtswissenschaft und Ethik be-
teiligt. Konsortialführer war das Max-Planck-Institut ausländisches und internationales
Strafrecht (Abteilung Kriminologie) Freiburg. Weitere Informationen unter: https://basid.
mpicc.de/de/basid_home.html [07. 02. 2020]. Vgl. dazu auch Haverkamp & Arnold 2015.
Soziale Arbeit als Akteurin bei der Herstellung von Sicherheit 189
von Adressat*innen allenfalls eine objektivierte Sicherheit. Auch hier gibt es eine
Schnittmenge zu wissenschaftlichen Diskursen in der Sozialen Arbeit, insbesondere
zu konstruktivistischen, in denen grundlegend das Verhältnis von realen Lebenslagen
und konstruierten Lebenswelten thematisiert wird (Kraus 2019)4. Ergebnisse der
Viktimisierungsforschung können auf dem Hintergrund konstruktivistischer Überle-
gungen gedeutet werden. Diskrepanzen zwischen statistischen Risiken und diffusen
Ängsten, durch delinquentes Verhalten viktimisiert zu werden, die gerade bei jenen,
die weniger Risiken ausgesetzt sind, besonders ausgeprägt sind, offenbaren die ein-
geschränkten Möglichkeiten durch tatsächliche Veränderungen der Gefahrendimen-
sion Kriminalität das subjektive Sicherheitsgefühl nachhaltig zu verstärken (Frevel
& Rinke 2017, 6).
wittler 2015, 231). Die Wohnsituation hat erhebliche Bedeutung für das Sicherheits-
gefühl der Bewohner (Pritsch & Oberwittler 2015). Oberwittler (2008) zeigte mit
einer postalischen Befragung von 2500 Bewohnern und Bewohnerinnen in 61 Wohn-
gebieten in Köln, Freiburg sowie ländlichen Gemeinden, dass die Sozialhilferate der
unter 18-Jährigen im Wohngebiet den stärksten Effekt auf die Kriminalitätsfurcht
hat.
Vor allem auf zwei Ebenen scheinen soziale Ausstattungen für die Ausprägung
von Kriminalitätsfurcht eine wichtige Rolle zu spielen. Auch in diesem Kontext kön-
nen also Sicherheit fördernde Effekte durch soziale Transferleistungen erzielt wer-
den. Insgesamt kann von einem „robusten Ergebnis der bisherigen Forschung“
(Pritsch & Oberwittler 2015, 238) gesprochen werden: Personen, die über bessere
sozioökonomische Ressourcen verfügen, haben eine geringere Furcht vor Krimina-
lität als Personen, die sich in prekären Lebenssituationen befinden. Befunde, die die
Disziplin Soziale Arbeit ermuntern sollten, sich mit ihrer Expertise stärker am Si-
cherheitsdiskurs zu beteiligen.
fernten Regionen geschaffen werden. Die Angst umfasst alle Räume, regionale, na-
tionale, internationale und seit einigen Jahren auch virtuelle. Bedrohungsgefühle und
Sicherheitsbedarfe wachsen mit der Vielzahl der Orte und Länder, in denen man sich
tatsächlich, medial oder virtuell bewegt. Zunehmende Mobilität verstärkt möglicher-
weise auch die Angst vor Risiken, die vermeintlich den Personen anhaften, die hier-
herkommen.
in der Woche ausgehen“ von einem besonders hohen Risiko betroffen, Opfer mindes-
tens einer Körperverletzung oder mindestens eines Raubes zu werden (2015, 133).
Wem genügend Wohnraum zur Verfügung steht und wer sich in eigenen großzügig
bemessenen vier Wänden aufhalten kann, wird weniger in öffentlichen Räumen un-
terwegs sein.
Sicherheitsrisiken kumulieren mithin bei jenen, denen der Makel anhaftet, sie trü-
gen zu Unsicherheit bei. Sollte zukünftig Künstliche Intelligenz im Kontext von Pre-
dictive Profiling stärker genutzt werden, würden die Daten dieser Population verwen-
det und Prognoseverfahren entwickelt werden, die Entdeckungswahrscheinlichkei-
ten zusätzlich erhöhen (Egbert 2017, 19). Möglicherweise könnte sich Sicherheits-
politik in einer Weise etablieren, in der Risiken, die Personen zugeschrieben werden
und daraus folgende zukünftige schädigende Ereignisse identifiziert und vor ihrem
Eintritt verhindert werden (Albrecht 2016, 210).
8
Nach der Definition der International Federation of Social Workers (IFSW) fördert So-
ziale Arbeit „[…] soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung
der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit,
die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die
Grundlage der Sozialen Arbeit […].“, DBSH 2016, Deutschsprachige Definition Sozialer
Arbeit.
Soziale Arbeit als Akteurin bei der Herstellung von Sicherheit 193
zu Sozialleistungen eröffnet wird. Dabei sind nicht nur monetäre Leistungen, son-
dern auch soziale Dienstleistungen wie Beratungsangebote und sonstige Angebote
der Kinder- und Jugendhilfe bedeutsam, wohingegen mit Blick auf die Kontrolle
etwa Aufgaben des Wächteramtes des Staates zu diskutieren sind. Was die Erklärung
von Kriminalität angeht, lassen sich Überschneidungen etwa zur Anomietheorie oder
auch der Kontrolltheorie (Investment, Involvement) erkennen (Lamnek 2018,
145 ff.). Ein „robustes Ergebnis“ (Birkel & Guzy 2015, S. 133, siehe oben) der Vik-
timisierungsforschung legt zudem nahe, dass durch soziale Absicherung nicht nur die
Zahl der Straftaten minimiert, sondern die Betroffenen selbst in geringerem Umfang
viktimisiert würden. Allerdings entstehen durch soziale Sicherung Kosten, die nicht
direkt in der Rubrik Sicherheit schaffen verbucht werden können. Stärkung von so-
zialen Sicherungssystemen hat sich in diesem Kontext als taugliches Instrument
(noch) nicht adäquat etabliert und den ihr gebührenden Platz bislang nicht einnehmen
können.
9
Zur Übersicht und kritischen Diskussion siehe Kraus 2018, 2019, 145 – 169.
10
Lambers (2018) unterscheidet verschiedene Theorieformen: Disziplintheorien, Profes-
sionstheorien, Professionalisierungstheorien sowie Arbeitsfeldtheorien.
194 Isolde Geissler-Frank und Jessica Krebs
wissen zugrunde zu legen. Um ihre kollektive Funktion zu erfüllen, wird den Profes-
sionen ein gewisses Maß an Autonomie zugestanden (Schnurr 2012, 100 f.). Ergo
zeichnen sich klassische Professionen durch Gemeinwohlorientierung, Expertenwis-
sen und Autonomie aus. Zwar sind Parsons Ausführungen nicht auf Soziale Arbeit
bezogen und die Erfüllung der eben benannten Merkmale fraglich, doch ist die funk-
tionstheoretische Perspektive der Sozialen Arbeit nicht unbekannt11. Olk (1986) hat
Soziale Arbeit zum Beispiel explizit als „Normalisierungsarbeit“ konzipiert.
Oevermann (2013) deklariert den Bestand von Gesellschaften – wie schon Par-
sons – als funktionalen Bezugspunkt professionellen Handelns – allerdings als
einen neben anderen. Ausgehend von sozialisationstheoretischen Überlegungen ver-
steht Oevermann Individuum und Gesellschaft nicht als gleichursprünglich, sondern
beschreibt eine reziproke Abhängigkeit bezogen auf deren Rechte und Pflichten
(Oevermann 2013, 124 f.). So gesehen bedarf es im Krisenfall einerseits Professio-
nen, die den Erhalt der Gemeinschaft sichern, und andererseits solchen, die sich um
das Funktionieren der Lebenspraxis Einzelner bzw. kleiner Vergemeinschaftungen
bemühen. In der professionstheoretischen Diskussion vertritt Oevermann eine struk-
turale Position, die neben Funktionen Bedingungen und Möglichkeiten professionel-
len Handelns beleuchtet. Er beschreibt drei Funktionsfoci, die mit divergenten Loya-
litäten und Praxisformen einhergehen. Während sich Therapie und Rechtspflege klar
einem Bereich zuordnen lassen, in dem sie ihr Handeln professionalisieren können,
verortet Oevermann Soziale Arbeit gleichermaßen in zwei Bereichen, die in Abbil-
dung 1 dargestellt sind.
11
Diese findet sich auch „in modernisierungstheoretischen (Galuske 2002; Rauschenbach
1992), regulationstheoretischen (Schaarschuch 1990), systemtheoretischen (Bommes &
Scherr 2012) oder machtanalytischen Arbeiten (Kessl 2005)“ (Kessl 2017, 238).
Soziale Arbeit als Akteurin bei der Herstellung von Sicherheit 195
daraus Paradoxien und Ambivalenzen, deren Auftreten nicht anzunehmen ist, sofern
– wie bei Parsons – von einem übereinstimmenden Fluchtpunkt individuellen und
professionellen Handelns ausgegangen wird. Für Oevermann resultiert aus der obi-
gen Konstellation „das schier unlösbare Grundproblem für deren kohärente Profes-
sionalisierung, dass sie [die Soziale Arbeit] nämlich nicht nur latent, sondern mani-
fest, in beiden strukturlogisch sich widersprechenden Foci gleichermaßen wirksam
sein muss und sich dadurch in ihrer Wirksamkeit behindern muss“ (Oevermann 2013,
125). Eine Professionalisierung im Bereich der Hilfe setzt Oevermann zufolge Frei-
willigkeit und Unabhängigkeit von Strukturen voraus, um Arbeitsbündnisse zu rea-
lisieren und im Modus der stellvertretenden Deutung zu operieren, womit Hilfe zur
Selbsthilfe sowie der Rückgewinn von Autonomie für Klient*innen möglich wird.
Diese Voraussetzungen erfülle Soziale Arbeit wegen ihrer doppelten Eingebunden-
heit nicht12. Meist sei das Selbstbekenntnis zur Notlage nicht Ausgangspunkt sozi-
alarbeiterischen Handelns, sondern bereits Ergebnis sozialarbeiterischer Interventi-
on, und Handeln nicht frei von standardisierten Rezepten (Oevermann 2013, 139,
146). Die einzige Lösung für das „gravierendste Strukturproblem der Sozialarbeit“
(Oevermann 2013, 139) sei eine institutionelle und personale Trennung gemäß der
beiden Funktionsfoci.
Schützes interaktionistische Position fußt auf rekonstruktiven Erkenntnissen be-
züglich der Praxis professionalisierter Berufe (Schnurr 2012, 97). Ähnlich wie Oev-
ermann sieht Schütze die sozialarbeiterische Praxis von vielfältigen Paradoxien ge-
prägt, doch begreift Schütze diese nicht als Professionalisierungshindernis, sondern
als dem professionellen Handeln immanent. „Die unaufhebbaren Kernprobleme
bzw. die Paradoxien des professionellen Handelns sind der paradoxe Interaktions-
und Arbeitsausdruck der Strukturkomponenten der gesellschaftlichen Institution
Profession“ (Schütze 1996, 187). Derart natürliche Paradoxien sind im Handeln an-
derer Professionen ebenso zu finden, doch erscheinen sie in der Sozialen Arbeit in
besonderer Intensität (Schütze 1992, 163), da diese „nie ein in ihrem Tätigkeitsbe-
reich vorherrschendes eindeutiges Paradigma entwickeln konnte“ (Schütze 1992,
163) und Handlungs- sowie Orientierungsparadoxien virulent werden, wenn Para-
digmengrenzen transzendiert werden (Schütze 1992, 163). Als eine der wesentlichen
Paradoxien beschreibt Schütze „professionelle Ordnungs- und Sicherungsgesichts-
punkte und die Eingrenzung der Entscheidungsfreiheit des Klienten“ (Schütze
1992, 156 – 158). Schütze (1996, 225) beklagt die nicht selten fehlerhafte Bearbei-
tung solcher Paradoxien. Beobachtbar seien Strategien, die vom einseitigen Auflösen
bis Ignorieren der Paradoxien im täglichen Handeln reichen. Ein (Auf-)Lösen sei je-
doch nicht möglich. Die Paradoxien „können nur umsichtig in Rechnung gestellt und
bearbeitet werden“ (Schütze 1992, 163)13. Aufgrund des oben konstatierten Unter-
schieds zu anderen Professionen, ist das
12
Exemplarisch führt Oevermann (2013, 145) Arbeitsfelder an, in denen Resozialisierung
eine Rolle spielt.
13
Ähnlich argumentiert Thiersch (2002, 191 ff.), der die sozialpädagogische Berufsiden-
tität als Spagat beschreibt.
196 Isolde Geissler-Frank und Jessica Krebs
„Bewußtsein über die Wirksamkeit der Paradoxien des professionellen Handelns [in der So-
zialen Arbeit] auch besonders ausgeprägt, und deshalb konnte es gerade hier […] zur Ent-
wicklung der neuen Verfahren der Selbstvergewisserung und Selbstreflexion […] kommen“
(Schütze 1992, 163).
So gesehen ist die Profession Soziale Arbeit anderen in der Entwicklung von Be-
wältigungsstrategien solcher Paradoxien voraus, die diese in Anbetracht zunehmend
komplexer werdender Problemlagen noch entwickeln müssen. Bezogen auf den fle-
xiblen fallbezogenen interdisziplinären Diskurs kann Soziale Arbeit Vorbild sein
(Schütze 1992, 165 f.).
Staub-Bernasconi (2018) gelangt vom beruflichen „doppelten Mandat“ (Böh-
nisch & Lösch 1973, 27 ff.) zum professionellen Tripelmandat und sieht sozialarbei-
terisches Handeln mit „höchst unterschiedlichen Machtpositionen, Interessen und
Forderungen“ (Böhnisch & Lösch 1973, 114) der Mandatsträger konfrontiert. Ent-
sprechend seien „Loyalitäts-, Rollen-, Handlungs- und Identitätskonflikte […] vor-
programmiert“ (Böhnisch & Lösch 1973, 114). Wie schon Schütze sieht Staub-Ber-
nasconi darin kein Professionalisierungshindernis, sondern verdeutlicht, dass „der
Umgang mit dieser sozialen Konstellation […] unabweisbar zu den Merkmalen
der Disziplin und Profession Sozialer Arbeit“ (Böhnisch & Lösch 1973, 114) gehört.
Doch sei die Formulierung eines eigenen professionellen Mandats erforderlich sowie
die Auseinandersetzung mit den Konsequenzen für die fortbestehenden Mandate der
Klient*innen und der Gesellschaft beziehungsweise der Träger (Böhnisch & Lösch
1973, 114). Das professionelle Mandat charakterisiert Staub-Bernasconi mittels der
Kurzformel „,nach bestem Wissen und Gewissen‘ […] handeln“ (Böhnisch & Lösch
1973, 114) und erklärt „die wissenschaftlich und ethisch begründete relative Auto-
nomie im Zusammenhang mit Entscheidungs- und Handlungsspielräumen zum kon-
stitutiven Merkmal der Profession“ (Böhnisch & Lösch 1973, 116). Daraus ergibt
sich mit Blick auf das Mandat der Klient*innen die Priorisierung im professionellen
Handeln deren Sichtweisen zu eruieren, bevor die
„gemeinsame Suche nach Erklärungen und subjektiven Begründungen, warum es so ist, wie
es ist, und welche Veränderungen aufgrund welcher Werte und Arbeitshypothesen, Ressour-
cen und Arbeitsweisen/Methoden angestrebt werden sollen“ (Böhnisch & Lösch 1973, 117)
anschließt. Für das gesellschaftliche Mandat respektive das Mandat des Trägers er-
gibt sich die Forderung, dass die „organisationellen Rahmenbedingungen und Poli-
cy-Vorgaben fachliches sowie professionsethisches Handeln ermöglichen“ (Böh-
nisch & Lösch 1973, 118). Das dritte Mandat schafft die Gelegenheit zu „Formen
von Selbstmandatierung“ (Böhnisch & Lösch 1973, 118), das heißt zur Möglichkeit
der eigenständigen Thematisierung und Bearbeitung von Problemen unter Beteili-
gung der entsprechenden Akteure, wobei sie deutlich macht, dass sich Sozialarbei-
ter*innen auch im Falle der Inanspruchnahme ihres Mandats nicht im „rechtsfreien
Raum“ (Böhnisch & Lösch 1973, 120) bewegen. Sofern die Mandate nicht ineinander
aufgehen, seien die Widersprüchlichkeiten gegenüber den Klient*innen transparent
zu halten und von institutionalisierten Möglichkeiten der Selbstreflexion Gebrauch
Soziale Arbeit als Akteurin bei der Herstellung von Sicherheit 197
fahren nach Kruse (2015, 361 ff.) analysiert, das in der Mannheimschen Wissensso-
ziologie verortet ist und die Prinzipien qualitativer Forschung konsequent berück-
sichtigt. Kruse pointiert die Grundidee sowie den Anspruch des Verfahrens wie
folgt: „Im Verlaufe einer offenen, (mikro-)sprachlich-deskriptiven Analyse eines
Texts kommt man zur integrativen Anwendung von spezifischen forschungsgegen-
ständlichen und methodischen Analyseheuristiken, um so die zentralen Sinnstruktu-
ren in einem Prozess der fortschreitenden Abstrahierung herauszuarbeiten“ (Kruse
2015, 463). Zum Erschließen der zentralen Sinnstrukturen wird also ein „Schlüssel-
bund“ (Kruse 2015, 465) eingesetzt, der mehrere, geeignete Suchstrategien umfasst.
Hier wird neben den forschungsgegenständlichen Analyseheuristiken vor allem auf
die Argumentationsanalyse, die Agency-Analyse, die Positioninganalyse und die
Diskursanalyse zurückgegriffen. Infolge der Herausarbeitung zentraler Motive
und Thematisierungsregeln für einzelne Fälle werden diese vergleichend betrachtet.
In regelmäßigen Abständen wird um Willen der kollegialen Validierung eine Analy-
segruppe hinzugezogen. Die Ergebnisse der fallvergleichenden Auswertung werden
im folgenden Kapitel präsentiert.
schreibung der Rolle Sozialer Arbeit bei der Herstellung von Sicherheit möglich
wird. Sicherheit wird nicht nur als öffentliche Sicherheit gedacht, so dass keine
rein funktionalistische Bestimmung Sozialer Arbeit im Parsonsschen Sinne zu er-
warten ist.
16
Die Herstellung von Sicherheit für Klient*innen innerhalb der Institution, im Sinne eines
Schutzes voreinander, wird von Experten der Arbeitsfelder Strafvollzug und Jugendstrafvoll-
zug thematisiert, jedoch als bedingt (I2) bis nicht realisierbar (I5) eingeordnet.
202 Isolde Geissler-Frank und Jessica Krebs
Die Experten beschreiben ihre Arbeitskontexte als per se unsicher. In den Inter-
views wird auf existente Risiken und unmittelbare Bedrohungen hingewiesen, die
mit problematischer Devianz respektive Kriminalität verbunden sind, und Sicher-
heitsgefahren für Körper und Seele der Fachkräfte bedeuten. Ein Experte mit beruf-
lichen Vorerfahrungen abseits des Jugendstrafvollzugs macht darauf aufmerksam,
dass Sozialarbeiter*innen nicht nur in den beforschten Arbeitsfeldern mit derartigen
Sicherheitsgefahren konfrontiert sind, sondern auch in weiteren Handlungszusam-
menhängen wie bspw. der Kinder- und Jugendhilfe oder dem Streetwork. Im Unter-
schied zu letzteren schildert der Experte ein weitaus stärker ausgeprägtes subjektives
Sicherheitserleben im Jugendstrafvollzug, was er mit dem Bemühen verbindet, Si-
cherheit im Arbeitskontext herzustellen. Mit Blick auf ihre derzeitigen Arbeitsfelder
beschreiben die Experten allesamt subjektives Sicherheitserleben. Drei der fünf In-
terviewten (I1, I3, I5) thematisieren eine Abhängigkeit des subjektiven Sicherheits-
erlebens von der objektiven Sicherheitslage. Demzufolge sorgt die Erfahrung eines
Übergriffs für subjektives Unsicherheitserleben. Lediglich einer der Experten mit
langjähriger Berufserfahrung in ein und demselben Arbeitsfeld (I3) berichtet von
einem körperlichen Übergriff im Arbeitskontext und der danach zeitweise erlebten
Unsicherheit. Ansonsten schildern die Experten lediglich eine wiederkehrende Be-
troffenheit von verbalen Übergriffen, die als nachvollziehbar und bewältigbar einge-
ordnet werden. Für andere Berufsgruppen (Pflege und Vollzugsdienst), die wegen
ihrer andersgearteten Zuständigkeit vermehrt Übergriffen ausgesetzt sind, wird da-
hingegen ein ausgeprägtes subjektives Unsicherheitserleben beschrieben (I1, I2, I5).
Abbildung 3 fasst die vielfältigen Aussagen der interviewten Experten hinsichtlich
der Frage zusammen, wie Sicherheit im Arbeitskontext für sie hergestellt wird.
Sicherheit wird räumlich durch andere Akteure hergestellt, indem Freiheiten der
Klient*innen im Fall akuter Fremdgefährdungen räumlich begrenzt werden und
Fachkräften der Sozialen Arbeit Büros als Rückzugsmöglichkeiten zur Verfügung
stehen (I1, I5). Technische Alarmgeräte sorgen den Darstellungen zufolge ebenfalls
Soziale Arbeit als Akteurin bei der Herstellung von Sicherheit 203
für Sicherheit (I1, I3, I4, I5). Organisatorisch wird Sicherheit durch entsprechende
Strukturen, Regeln und Vorschriften hergestellt (I3, I4, I5). Ferner werden Fortbil-
dungsangebote zu den Themen Sicherheit, Deeskalation und Prävention in verschie-
denen Interviews hervorgehoben (I2, I3, I5). Auch die Thematisierung des objektiv
unsi-cheren Arbeitskontextes und des geeigneten Umgangs mit eben diesem dient
der Herstellung von Sicherheit (I2); genauso wie Reflexion und Supervision einen
Beitrag leisten (I1). Methodisch lässt sich Sicherheit herstellen, indem ein geeignetes
Setting gewählt wird und die Gesprächsführung die Besonderheiten der Situation be-
rücksichtigt (I1, I5). Eine gute Arbeitsbeziehung sei ebenso zuträglich (I1, I2, I5).
Ferner wird in den Experteninterviews erörtert, welche Instrumente zur Herstellung
von Sicherheit ungeeignet oder gar kontraproduktiv wirksam sind. Eine klare Posi-
tionierung zeigt sich mit Blick auf den Sicherheitsdienst (I1), wobei es sich um „ein-
gekaufte Sicherheit“ handle, „die sich so mal nicht herstellt“17, und Waffen (I2, I5),
denen eine gegenteilige Wirkung zugesprochen wird, während sich diese Mittel für
andere Berufsgruppen zur Herstellung von Sicherheit eignen. Außerdem wird disku-
tiert, inwiefern Mittel sowohl Sicherheit herstellen als auch gefährden können.
„in dem wir davon ausgehen dass wir, (.) mit gefährlichen klienten zu tun haben. verhalten se
sich vielleicht auch, (.) ähm geFÄHrlich. oder in dem ich als vorgesetzter des thema sicher-
heit kommunizier, (.) ähm. wirds erscht bei den MITARBEITERN präsent und sie fühlen
sich vielleicht UNsicherer und brauchens- hams gefühl sie brauchen noch mehr ABspra-
chen. (.) sie brauchen mehr technische, (.) devices. sind im gespräch dann vielleicht auch
UNSICHERER und des=des setzt so ne DYNAmik (.) in GANG wo (.) wos dann vielleicht
auch eher zu, (.) zu konfliktären ähm. (.) situationen zwischen (.) bewährungshelfer und äh
klient kommt.“ (I4)
Fallübergreifend zeigt sich mit Blick auf die unsicheren Arbeitskontexte – im Ge-
gensatz zu anderen Berufsgruppen, die sich im selben Kontext bewegen – ein ausge-
prägtes subjektives Sicherheitserleben der Sozialarbeiter, bedingt durch ausbleiben-
de Viktimisierungserfahrungen und diverse Mittel zur Herstellung von Sicherheit im
besagten Kontext, deren kontraproduktive Wirkung nicht auszuschließen ist.
In Anbetracht des differenzierten Sicherheitsverständnisses gerät die Sicherheit
von Fachkräften ins Blickfeld, die mit Klient*innen befasst sind, denen ein Sicher-
heitsrisiko attestiert wird, das trotz institutioneller Zuständigkeit fortbesteht. Dem-
entsprechend ist die Sicherheit anderer Klient*innen in geschlossenen Institutionen
genauso bedroht. Eine systematische Betrachtung der Betroffenheit beider Akteurs-
gruppen steht bis dato aus. Unsere Studienergebnisse deuten darauf hin, dass die
Möglichkeiten von Sozialarbeiter*innen, die Klient*innen voreinander zu schützen,
begrenzt sind. Entgegen unserer Erwartungen scheint das subjektive Sicherheitser-
leben von Sozialarbeiter*innen durch das fortbestehende Sicherheitsrisiko nicht nen-
nenswert beeinträchtigt. Es ergeben sich keine Hinweise auf erhöhte Sicherheitsbe-
dürfnisse oder Forderungen nach mehr Instrumenten zur Gewährleistung der eigenen
17
Transkript-Auszüge werden im Fließtext um der besseren Lesbarkeit Willen geglättet
und bleiben bei abgesetzten Zitaten im Original erhalten.
204 Isolde Geissler-Frank und Jessica Krebs
Sicherheit im Arbeitskontext, wie dies mit Blick auf den bisherigen Kenntnisstand
anzunehmen wäre. Dahingegen werden derartige Reaktionen für andere Berufsgrup-
pen beschrieben. Eine mögliche Erklärung für die verschiedenen Reaktionsweisen
könnte das unterschiedliche Mobilitätsmaß sein. Während Sozialarbeiter*innen we-
niger auf Station beziehungsweise im Vollzug umhergehen, Rückzugsräume stärker
nutzen und mehr Handlungsspielräume haben, um Nähe und Distanz im Kontakt mit
Klient*innen zu regulieren, sehen sich Pflegekräfte und Mitarbeitende im Vollzugs-
dienst dem Sicherheitsrisiko der höheren Mobilität wegen stärker ausgesetzt. Das
ausgeprägte Sicherheitserleben der Sozialarbeiter*innen könnte neben den ihrerseits
vorgebrachten Erklärungen durch deren Selbstverständnis bedingt sein, demnach es
gilt, Unsicherheiten in gewissem Maß auszuhalten (siehe Kapitel 9.4). Ferner legen
die Ergebnisse eine reflexive Kompetenz von Sozialarbeiter*innen nahe, bezogen
auf die Möglichkeiten, Sicherheit im Arbeitskontext für Fachkräfte herzustellen.
Das Sicherheits-Paradoxon respektive Sicherheitsdilemma ist Teil der Erzählungen.
Hilfe wird in allen Experteninterviews als konstitutiver Akt für Sicherheit thema-
tisiert. Diesem einzelfallübergreifenden Muster zufolge stellen Fachkräfte der Sozia-
len Arbeit Sicherheit her, indem sie Klient*innen helfen. Dabei rekurrieren alle in-
terviewten Experten auf Sicherheit für die Gesellschaft im öffentlichen Raum18, wäh-
rend der Bewährungshelfer eine Konkretisierung vornimmt.
„wir tragen ja schon dazu BEI, dass die gesellschaft. (.) ähm. (1) sicherer isch. […] inwiefern
wir zum !SUB!JEKTIVEN sicherheitsempfinden der bevölkerung beitragen, (.) des (.) isch
glaub ich eher gering. (.) dazu sind wir NET (1) äh: in der öffentlichen: (.) WAHRnehmung
präsent genug.“
18
Vereinzelt finden Personen aus dem nahen Umfeld der Klient*innen gesondert Erwäh-
nung, die bereits Opfer geworden sind; die Sicherheit dieser Gruppe in privaten Räumen wird
durch sozialarbeiterisches Hilfehandeln ebenfalls gewährleistet.
Soziale Arbeit als Akteurin bei der Herstellung von Sicherheit 205
in diesem Zusammenhang aus, dass Sicherheit auch in diesem Fall „indirekt“ (I4) als
„Folgeeffekt“ (I2) des originären sozialarbeiterischen Hilfehandelns hergestellt
würde. Plausibilisiert wird dieser Effekt mit folgendem Konzept:
„wenn ich davon ausgehe dass dann bei dieser perSON aufgrund der (.) ganz speziellen kon-
stellaTION ja oder ganz speziellen sachlage STRAFtaten passieren (.) ja (.) dann is ja JEde
handlung die ich (.) MACHe (.) um diese NOT (.) zu lindern (.) ähm: (.) wär dann ja für die
sicherheit (.) ne,“ (I1)
Der Sicherheitsauftrag, den Soziale Arbeit von verschiedenen Akteuren – sich selbst
eingeschlossen – erhält, unterscheidet sich vom Sicherungsauftrag der Institution.
Aufgrund der Verwobenheit von Selbstverständnis und Handlungspraxis werden
die je fallübergreifenden Erkenntnisse am Ende des Kapitels 9.4 gemeinsam disku-
tiert.
Sicherheit war, ist und wird den interviewten Experten zufolge stets Ziel und im
Idealfall auch Ergebnis sozialarbeiterischen Handelns sein. In den Passagen, in
denen die Rede vom beruflichen Alltag ist, steht der Hilfscharakter des Handelns
im Vordergrund. In Anbetracht der Präsenz beschreibt ein Experte den gesellschaft-
lichen Auftrag als weniger handlungsleitend wie den der Klient*innen.
„jetzt hab ich grad eben GROß mit der gesellschaft un so weiter (.) diese verpflichtung spür
ich im alltag fast NIE (.) ja weil des so was diFUSSes is es is ja nich so dass hier jetzt jemand
klopft un sagt (.) herr [NAME_1] (.) ich wohn in [STADT_1] bitte machen sie ihren job gut ja
(.) des heißt natürlich is man im alltag immer mit dem patienten konfrontiert“ (I1)
Während ein anderer betont, dass Soziale Arbeit seinen Erfahrungen nach auch
von den Klient*innen „eher [als] Hilfsangebot“ (I5) gedeutet wird. Das sozialarbei-
terische Hilfehandeln umfasst zum einen die Besserung der spezifischen situativen
Kontexte, in denen Devianz zustande kommt,
„wenn ich nämlich (.) im laufe der behandlung hier feststelle (.) jemand lebt auf der straße un
hat in diesem ganzen kontext ganz viele straftaten begangen (.) […] un ich dann ganz AKtiv
mit dem zusammen dafür sorge dass der zukünftig NICH mehr obdachlos is sondern einen
(.) festen wohnrahmen hat“ (I1)
zum anderen die Befähigung des Einzelnen,
„aber auch bei der alltagsbeWÄltigung im allgemeinen=Also m:m:m KEnntnisse und fä-
higkeiten zu verMITTeln also erfolgreich den eigenen alltag zu bewältigen OHNE dabei
straftaten zu begehen.“ (I2)
womit primär Sicherheit für einzelne Klient*innen hergestellt wird und sekundär
Sicherheit für andere Gesellschaftsmitglieder. Die Mitwirkung der Klient*innen in
Form von „Koproduzent*innen“ (I4) wird in allen Experteninterviews als wesentli-
che Voraussetzung für sozialarbeiterisches Hilfehandeln beschrieben. In dem Zu-
sammenhang wird darauf hingewiesen, dass die Vorstellungen von Klient*innen
und Fachkräften auseinanderfallen können, weshalb das Erzeugen von intrinsischer
Veränderungsmotivation als vorgängige Aufgabe dargestellt wird, für die Bezie-
hungsarbeit höchst bedeutsam ist. Eine gute Arbeitsbeziehung sei auch der Qualität
von Prognosen zuträglich, woran Sozialarbeiter*innen neben anderen Akteuren be-
teiligt sind (I1, I5). Dabei sind Chancen und Risiken in Verbindung mit mehr Frei-
heiten für die Klient*innen abzuwägen. Von der Annahme ausgehend, dass Men-
schen nicht steuerbar sind (I1, I5), werden Instrumente zur Standardisierung der Ri-
Soziale Arbeit als Akteurin bei der Herstellung von Sicherheit 207
sikoanalyse und -bewertung lediglich als „Hilfswerkzeug“ (I5) eingeordnet, die eine
fachliche Abwägung keineswegs ersetzen können. Der Experte aus dem Arbeitsfeld
Forensik legt dar, dass jedes Zugeständnis von Freiheit „einen Moment der Unsicher-
heit bedeutet […], die in Kauf“ zu nehmen sei. Die Position des Experten aus dem
Arbeitsfeld Strafvollzug schließt hieran an. Aus sozialarbeiterischer Perspektive
seien solche Unsicherheiten gerade in „kritischen Fällen“ auszuhalten und im
Team entsprechende „Überzeugungsarbeit“ zu leisten. Im Zuge der Begleitung
der Klient*innen in Freiheit obliegt den Fachkräften der Sozialen Arbeit gemäß
den Ausführungen der Interviewten der prüfende Blick sowie Problembewertungen
und -anzeigen gegenüber anderen Akteuren mit Sicherheitsauftrag, wobei Spielräu-
me existieren (I1, I4). In mehreren Interviews (I1, I2, I3) wird die Zuschreibung „So-
zialarbeiter*innen seien immer die Netten und Guten“ eingeschränkt. Die Beteili-
gung an Prognosen und die gerade benannten Kontrollaufgaben sind ebenfalls sozi-
alarbeiterischem Sicherheitshandeln zuzurechnen, wenngleich mit Blick auf das er-
zählende und erzählte Ich die Hilfe im Vordergrund steht.
„man will des ja nicht ständig im VORdergrund haben […] des heißt man versucht dann en
besuch auch WOHLwollend und HELfend [zu gestalten] ja (.) aber mit einem auge kuckt
man natürlich SCHON un überlegt bei Jedem- (.) bei jeder KRIse oder bei jedem problema-
tischen thema (2) geht des, geht des nicht,“ (I1)
wäre das fallübergreifende Muster Hilfe als konstitutiver Akt für Sicherheit gemäß
Kraus’ Überlegungen dahingehend zu hinterfragen, ob nicht – zumindest stellenwei-
se – die Rede von instruktiver Kontrolle anstelle von Hilfe angebracht wäre. Während
die interviewten Sozialarbeiter den Institutionen Möglichkeiten destruktiver Kon-
trolle bei der Herstellung von öffentlicher Sicherheit zuschreiben, bleiben die eige-
nen Möglichkeiten weitestgehend auf instruktive Kontrolle beschränkt. Sozialarbei-
ter*innen stellen Sicherheit nicht durch Einschluss her, dem sich Klient*innen nicht
entziehen können, sondern durch Bestrebungen, deviantes Verhalten in konformes
Verhalten zu transformieren, denen sich Klient*innen durchaus widersetzen können.
Im Gegensatz zum Sicherungsauftrag von Institutionen kann beim sozialarbeiteri-
schen Sicherheitshandeln keine Ergebnissicherheit angenommen werden. Die Dis-
tanzierung von destruktiver Kontrolle vermag das gravierendste Strukturproblem So-
zialer Arbeit im Oevermannschen Sinne abzumildern. Dennoch werden Paradoxien –
wie von Schütze für professionelles Handeln charakteristisch – gesehen und durch
eine Priorisierung bewältigt, ohne diese zu ignorieren oder aufzulösen. Insgesamt
zeigt sich ein der zunehmenden Sicherheitsorientierung widerständiges professio-
nelles Selbstverständnis.
10. Schlussbetrachtung
Der Diskurs um Sicherheit wird von unterschiedlichen Disziplinen geführt und
bestimmt. Soziale Arbeit als Profession und Wissenschaft nimmt bislang an Sicher-
heitsdialogen, der Erstellung von Sicherheitsbarometern und Foren, in denen Sicher-
heit diskutiert wird, nicht prominent teil. Wenngleich die interviewten Experten dar-
auf hinweisen, dass nicht nur in ihren Arbeitsfeldern Sicherheitsdilemmata und Si-
cherheitsparadoxien virulent sind, sondern in diversen Kontexten, in denen sich So-
ziale Arbeit bewegt, womit die zentrale Bedeutung des Konstrukts Sicherheit für die
Soziale Arbeit abermals betont wäre. Die Sozialarbeitswissenschaft liefert für den
Diskurs wichtige Beiträge etwa durch konstruktivistische Ansätze, das Lebenswelt-
und Lebenslagenkonzept und die Differenzierung im Kontext von Hilfe und Kontrol-
le zwischen instruktiver und destruktiver Macht. In Handlungsfeldern der Sozialen
Arbeit, in denen Fachkräfte einem professionellen Auftrag nachkommen und mit
Adressat*innen befasst sind, von denen Risiken für Sicherheit ausgehen, fühlen
sich Professionelle erstaunlich sicher. Soziale Arbeit repliziert mithin bezüglich
des eigenen Professionsumfeldes das Sicherheitsparadoxon nicht, sondern zeigt
sich gegenüber dem ausufernden Sicherheitsbedürfnis als widerständig. Dies gilt
auch für die Balance „Sicherheit schaffen“ und „Risiken in Kauf nehmen“, die es
zu wahren gelte, so die interviewten Expert*innen. Auf ein mehr an Sicherheit fokus-
sierte Anfragen wird selbstbewusst und reflektiert ein professionelles Selbstver-
ständnis entgegengesetzt, das auf Stärkung der Handlungssicherheit und sozialen Si-
cherheit des Einzelnen setzt, wodurch öffentliche Sicherheit bestenfalls mitherge-
stellt wird. In Anbetracht der selbstzugeschriebenen Wirkmächtigkeit, aber auch
210 Isolde Geissler-Frank und Jessica Krebs
deren Grenzen, was die Herstellung von Sicherheit betrifft, ist Soziale Arbeit wesent-
liche Akteurin im Herstellungsprozess. Zudem rücken die Fachkräfte nicht von der
Haltung ab, Risiken seien auch in einer verstärkt auf Sicherheit bedachten Zeit zu-
gunsten ihrer Adressat*innen in Kauf zu nehmen, bei denen ein Leben ohne Gefähr-
dung anderer gelingen könne, aber ein Misslingen nicht völlig auszuschließen sei.
Die Wissenschaftsdisziplin Soziale Arbeit und die Professionstheorie können
einen wichtigen Beitrag zum interdisziplinären Sicherheitsdiskurs leisten. Ein An-
fang und in Teilen eine Fortführung werden mit diesem Beitrag geleistet.
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214 Isolde Geissler-Frank und Jessica Krebs
1. Einleitung
Angesichts steigender Mieten und einer konstant hohen Nachfrage nach städti-
schem Wohnraum wird die Planung neuer Wohnhochhäuser1 vielerorts als eine Mög-
lichkeit verstanden, mit der sich dem fundamentalen Wohnraummangel in den Groß-
städten begegnen lässt. Um den öffentlichen Freiraum zu schützen, ist es das Ziel
gegenwärtiger Stadtentwicklung, die im Siedlungszusammenhang bestehenden Flä-
chenpotentiale zu identifizieren und optimal auszunutzen. Vor allem die Bereitstel-
lung von ausreichend Baufläche ist die zentrale Herausforderung vieler Großstädte.
Eine mögliche Lösung für diese Problemkonstellation wird momentan in einer Re-
naissance der Wohntürme gesehen. Nachdem sich das Konzept des vertikalen Woh-
nens im Hochhaus in seiner Geschichte (nicht nur) in Deutschland mit zyklischen
Konjunkturen konfrontiert sah, kam die Entwicklung Mitte der 1980er Jahre zumin-
dest in (West-)Deutschland fast gänzlich zum Erliegen. Zu negativ waren die Erfah-
rungen mit den hochhausbebauten Großsiedlungen der 1960/70er Jahre. Unmittelbar
nach 9/11 dachten gar viele, die Ära der Hochhäuser sei vollständig an ihr Ende ge-
kommen. Gleichwohl lässt sich seit einigen Jahren ein Erstarken dieser Wohnform
feststellen. So entstanden in deutschen Großstädten allein im Zeitraum zwischen
2012 und 2020 insgesamt 11.467 Wohnungen in 78 neu errichteten Wohnhochhäu-
sern (Bulwiengesa AG 2018, 9). Und der Trend scheint sich weiter fortzusetzen.
Vor diesem Hintergrund geht der Beitrag der Frage nach, inwieweit aus den Feh-
lern der Vergangenheit gelernt wurde und worin sich die Wohnturmkonzepte der Ge-
genwart von den hochhausbebauten Großsiedlungen der 1960/70er Jahre unterschei-
den. Zentrales Augenmerk gilt dabei den Strategien der städtebaulichen Kriminal-
prävention, mit denen der Versuch unternommen wird, vertikales Wohnen als eine
1
Die Definitionen dessen, was als Hochhaus betrachtet wird, sind vielfältig. Manche de-
finieren Hochhäuser als Gebäude mit mehr als 10 Geschossen oder mit einer Höhe von mehr
als 100 Metern (Klasmann 2004, 10). Die nordrhein-westfälische Bauordnung definiert
Hochhäuser als Sonderbauten mit einer Fußbodenhöhe des höchstgelegenen Stockwerks von
mehr als 22 Metern (§ 50 Abs. 2 Nr. 1 BauO NRW 2018). Diese Definition liegt auch der
Geschäftsordnung des Hochhausbeirats in der Landeshauptstadt Düsseldorf (2019) zugrunde,
auf die sich der vorliegende Artikel im weiteren Verlauf bezieht.
216 Tim Lukas
urbane und sichere Wohnform zu etablieren. Der vorliegende Beitrag berichtet Be-
funde leitfadengestützter Experteninterviews, die im Rahmen des BMBF-Projekts
„Sicherheit im Bahnhofsviertel (SiBa)“ realisiert wurden (Haverkamp et al.
2018).2 Da auch im Umfeld des Düsseldorfer Hauptbahnhofs die Errichtung mehre-
rer Wohntürme geplant ist, stellten sich innerhalb der Fallstudie Fragen, die nicht nur
die Sicherheit des öffentlichen Raums betreffen, sondern auch die städtebauliche und
architektonische Gestalt der Wohnumgebung im Bahnhofsviertel thematisieren. Die
Neubauvorhaben rund um den Hauptbahnhof beschäftigten im November 2015 auch
den Kriminalpräventiven Rat der Stadt Düsseldorf, zu dessen Sitzung der Autor auf-
grund seiner im Jahr 2009 bei Hans-Jörg Albrecht eingereichten Dissertationsschrift
eingeladen war (Lukas 2010).
2
Im Projekt SiBa werden Sicherheit und Sicherheitswahrnehmung in den Bahnhofsvier-
teln der Städte Düsseldorf, Leipzig und München untersucht. Innerhalb der Düsseldorfer
Fallstudie wurden im Zeitraum von Dezember 2018 bis September 2019 insgesamt 30 leitfa-
dengestützte Interviews mit 33 Expertinnen und Experten aus den Bereichen der polizeilichen
und kommunalen Sicherheitsarbeit und Stadtentwicklung sowie mit Mitarbeitenden der Stra-
ßensozialarbeit und Drogenhilfe geführt. In drei Interviews mit Akteuren aus Politik, Krimi-
nalprävention und Projektentwicklung wurde dabei auch die neue Hochhausbebauung des
Düsseldorfer Bahnhofsviertels adressiert. Diese Interviews bilden die Grundlage des vorlie-
genden Artikels.
Vom Hochhaus zum Wohnturm 217
Großsiedlungen als Problemsiedlungen geriet. Abriss und Rückbau waren von nun
an die vorherrschenden Themen in den Neubausiedlungen von Marzahn-Hellersdorf,
Leipzig-Grünau und anderswo. Verstärkt wurde das negative Image durch den äuße-
ren Eindruck, den die monotonen und reizlosen ,Betonschlafstädte‘ bei den Betrach-
tenden hinterließen – eine Wahrnehmung, die durch die Art und Weise der Medien-
berichterstattung über die Siedlungen noch verstärkt wurde. Tageszeitungen und
Fernsehsendungen berichteten besonders nach den Krawallen in Rostock-Lichtenha-
gen und Hoyerswerda-Neustadt über die ,Platte‘ als Zentrum des ostdeutschen
Rechtsradikalismus (Hannemann 2005, 150).
Gegenüber den ostdeutschen Plattenbaugebieten liest sich die Geschichte des ver-
tikalen Wohnens in den westdeutschen Großwohnsiedlungen als ein sequentieller
Niedergang (Power 1999, 144), der seinen Ausgang bereits wenige Jahre nach Er-
richtung der sogenannten Trabantenstädte in den 1960er und 1970er Jahren nahm.
Zwar wurden die modern ausgestatteten Wohnungen auch in Westdeutschland allge-
mein als eine Verbesserung der Wohnsituation empfunden, soziale Anpassungs-
schwierigkeiten und weite Pendelstrecken zwischen den Standorten für Arbeit und
Wohnen führten jedoch sehr schnell zu einer erhöhten Fluktuation und sozialen Ent-
mischungsprozessen unter den Bewohnenden. Besser situierte und gut ausgebildete
Bevölkerungsteile, die dem Versprechen urbaner Wohnqualität an den Stadtrand ge-
folgt waren, gaben nunmehr dem sanierten Altbau in zentraler Lage den Vorzug,
während die Wohnungsämter auf den zunehmenden Leerstandsdruck mit der Zuwei-
sung von statusniedrigeren Bevölkerungsgruppen reagierten. Von den verbliebenen
Bestandsmieterinnen und -mietern wurde die selektive Entmischung als ein „sozio-
kultureller Abstieg empfunden“ (Hannemann 2000, 6), der die Spirale aus Image-
und Leerstandsproblemen weiter verschärfte. Leerstandsquoten von über 40 Prozent
waren in einzelnen Großsiedlungen Westdeutschlands keine Seltenheit und führten
unweigerlich zu Mietausfällen, die es den Wohnungsbaugesellschaften vielerorts un-
möglich machten, notwendige bautechnische Mängel zeitnah zu beseitigen. Ab Ende
der 1970er Jahre massierten sich in den Siedlungen die städtebaulichen und sozialen
Problemlagen, soziale Konfliktsituationen spitzten sich zu und die einst als Errun-
genschaften der Moderne gepriesenen Neubaugebiete wurden aufgrund konzentrier-
ter Armuts- und Vandalismusprobleme zusehends als „Sozialghettos“ (Deutscher
Bundestag 1994, 34) markiert. Mit Beginn der 1980er Jahre wurde die Bevölkerungs-
umschichtung in den westdeutschen Großsiedlungen immer deutlicher. Die verblie-
benen Haushalte verfügten über einen vergleichsweise geringen sozioökonomischen
Status und der Leerstand nahm immer weiter zu, bis Ende der 1980er Jahre der ver-
stärkte Zuzug von Zuwandernden aus der zusammenbrechenden Sowjetunion zu
einem vorläufigen Ende der Leerstandsproblematik führte. Unter dem Eindruck
einer neuen Wohnungsnot wurden von Bund und Ländern Wohnungsbauprogramme
aufgelegt, die sogar zur Förderung neuer großer Siedlungen am Stadtrand oder auf
innerstädtischen Brachen führten (Jessen 2000, 115). Inzwischen gelten die rand-
städtischen Neubaugebiete häufig als Wohnorte der Marginalisierten, als ethnisch
und sozial segregierte Quartiere, denen von Seiten der Politik ebenso wie im öffent-
218 Tim Lukas
lichen Diskurs allzu oft nur wenig Beachtung geschenkt wird (Kurtenbach 2018,
160).
„Das erste ist zunächst mal, wo ist der Standort? Früher wurden diese Wohnhäuser irgendwo
am Stadtrand gebaut, in irgendwelche Suburbs. Und waren, sagen wir mal, mehr politisch
motiviert. Im Osten waren es die Plattenbauten, hier war es die ,Neue Heimat‘. Das heißt, da
wurde wegen Wohnungsnot mal schnell was hingeklotzt. Heute sind diese Standorte eher
mitten in der Stadt und sie kommen aus dem Nachfrageprofil der Bewohnerschaft. (…)
Das heißt, ist eine ganz andere Motivation, ganz anderer Standort“ (Interview, Projektent-
wicklung, 394 – 399).
Die Lage im Innenstadtkern stellt das vertikale Wohnen vor besondere Herausfor-
derungen, da sich die problematischen Entwicklungen der hochhausbebauten Stadt-
randsiedlungen in dieser zentralen Lage auf keinen Fall wiederholen sollen. In Düs-
seldorf wurde vor diesem Hintergrund im Jahr 2019 ein Hochhausbeirat eingerichtet,
der die Hochhausentwicklung in der Landeshauptstadt kontinuierlich begleiten und
bei aktuellen Hochhausprojekten auf der Basis festgelegter Leitprinzipien fachliche
Empfehlungen zur Eignung neuer Standorte abgeben soll. Ziel des Hochhausbeirats
ist es, „die architektonische/städtebauliche Qualität von Hochhäusern und deren
stadtverträgliche Implementierung auf einem hohen Niveau zu sichern sowie Fehl-
entwicklungen zu vermeiden“ (Landeshauptstadt Düsseldorf 2019, 1). Zu den be-
fürchteten Fehlentwicklungen zählen die seit Jahren unveränderten Problemlagen
einer Mehrheit der deutschen Großsiedlungen, die sich steckbriefhaft wie folgt zu-
sammenfassen lassen: „Verwahrlosung der öffentlichen Räume, Vernachlässigung
der Bausubstanz, Vandalismus, hohe Gewaltbereitschaft der Bewohner, Jugendkri-
minalität, abgebrochene Ausbildungen, hohe Arbeitslosigkeit, starke Mieterfluktua-
tion, Wegzug besser gestellter, deutscher Familien, überdurchschnittlicher Anteil an
Ausländern und Immigranten, partieller Leerstand“ (Kraft 2011, 52).
220 Tim Lukas
Ein Beitrag dazu sollen auch die Concierge- und Doormen-Dienste leisten, die als
„gute Seele im hochkant gestellten Dorf“ (Gerlof 2000) einerseits alltägliche Dienst-
leistungen erbringen (z. B. Pakete annehmen), andererseits aber auch Funktionen der
Zugangskontrolle (z. B. über Videoüberwachungsanlagen) ausüben, wie sie in der
städtebaulichen Kriminalprävention unter dem Schlagwort ,Territorial Reinforce-
ment‘ seit jeher eingefordert werden (Haverkamp & Heesen 2014, 83):
Vom Hochhaus zum Wohnturm 223
Auffallend ist dabei, dass sich in den Pförtnerprojekten die Polarisierung der
Stadtgesellschaft widerspiegelt, nachdem Concierge-Logen vor allem „jeweils in
den obersten und untersten Kategorien des städtischen Wohnungsmarktes zu finden“
(Flöther 2010, 58) sind. Während Pförtnerdienste in den Hochhäusern der randstäd-
tischen Großsiedlungen nachträglich durch die Wohnungsbaugesellschaften instal-
liert wurden, werden Concierge-Dienste in den neuen Wohntürmen als eine Art
Lifestyleversprechen aus Sicherheit, Sauberkeit und Service von vornherein einkal-
kuliert. Michel (2005, 94) deutet das in der Inanspruchnahme von Pförtnerdiensten
zum Ausdruck kommenden Ab- und Ausgrenzungsbedürfnis als ein europäisches,
„weil unauffälliges“ Pendant zur ,Gated Community‘, die sich als Wohnform in
Deutschland (bislang) nicht in der Breite hat etablieren können. Eingebettet werden
die neuen Wohnturmprojekte stattdessen in die Planung innerstädtischer Mittel-
schichtsenklaven, wie sie derzeit in zahlreichen Städten entstehen. Umgeben von
Zäunen, Mauern und hohen Hecken weisen diese Siedlungen eine baulich-räumliche
Abgeschlossenheit auf, für deren Entstehen „der Komplex Sicherheit eine wesentli-
che Triebkraft“ (Frank 2013, 72) darstellt. Neben der baulich-physischen Gestaltung
dieser im Kern suburbanen Wohnform verkörpern diese Siedlungen einen Grad der
soziokulturellen Homogenität, der ihren Bewohnenden ein Gefühl von Sicherheit
und sozialer Kontrolle vermittelt.
Städtebaulich wird durch die Errichtung neuer Hochhäuser grundsätzlich das Ent-
stehen sogenannter Angsträume befürchtet, deren Beseitigung im öffentlichen Raum
indessen eine der zentralen Zielstellungen des kommunalen Präventionshandelns bil-
det (Bescherer et al. 2017). Der Schattenwurf der Gebäude könne die Lichtverhält-
nisse im Umfeld derart verändern, dass dunkle Ecken in der Stadt entstehen, die das
Sicherheitsgefühl im öffentlichen Raum beeinträchtigen könnten:
„Es ist ja nicht nur die Masse an Menschen die da hinkommt, sondern es sind ja dann tat-
sächlich eben auch, so ein großer Bau, der führt zu Verschattung, der führt zu Verdunklung.
Da sind wir dann wieder bei dem Sicherheitsthema ja eben auch, wo tatsächlich eben auch
aus städtebaulicher Sicht ja wieder so Ecken entstehen können, Angsträume entstehen kön-
nen und so weiter“ (Interview, Politik, 379 – 383).
ten sogar an erster Stelle genannt wird“ (Krause 2013, 13). Zum einen schaffe Be-
leuchtung Übersichtlichkeit und ermögliche auf diese Weise Sichtbeziehungen. Zum
anderen erhöhe Licht die informelle soziale Kontrolle und könne sogar zu einer Be-
lebung des öffentlichen Raums beitragen, wodurch sich auch das subjektive Sicher-
heitsgefühl erhöhen lasse. Aktuelle Wohnturmprojekte nutzen daher inzwischen die
Spiegelreflektion benachbarter Gebäude, um den Schattenwurf des Hochhauses auf-
zuhellen (Lachmann 2015).
6. Fazit
Die Errichtung neuer Wohntürme in zentralen Innenstadtlagen stellt hierzulande
für viele Kommunen eine Möglichkeit dar, angesichts knapper Flächenverfügbarkeit
neuen Wohnraum zu entwickeln, um auf diese Weise der grassierenden Wohnungs-
not insbesondere in den Großstädten zu begegnen. Angesichts der Erfahrungen mit
den hochhausbebauten Großsiedlungen am Stadtrand sind die neuen zentrumsnahen
Wohnturmprojekte stadtpolitisch jedoch nicht unumstritten. Insbesondere aus der
Perspektive der städtebaulichen Kriminalprävention wird der Neubau von Wohn-
hochhäusern grundsätzlich kritisch bewertet, werden damit doch Phänomene asso-
ziiert, die in der Vergangenheit zu massiven Sicherheitsproblemen dieses Wohntyps
geführt haben: „Also, wegen der Erfahrung der Vergangenheit finde ich grundsätz-
lich Hochhäuser ab einer gewissen Geschosshöhe und aus städtebaulicher Sicht der
Kriminalprävention, finde ich Hochhäuser nicht opportun“ (Interview, Kriminalprä-
vention, 540 – 542).
Zwar werden Sicherheitsaspekte heute bereits sehr viel stärker in der räumlichen
Planung berücksichtigt, etwa dann, wenn polizeiliche Akteure als Träger öffentlicher
Belange im Bebauungsplanverfahren um ihre Stellungnahme gebeten werden (wenn-
gleich die Hinweise der Sicherheitsbehörden an dieser Stelle zumeist ohne Resonanz
bleiben, da sie mit ihren Empfehlungen auf die erst anschließende Ausführungspla-
nung abzielen). Auch auf Seiten der Immobilienwirtschaft besteht inzwischen eine
größere Sensibilität für Fragen der Sicherheit, die sich als zentraler Bestandteil der
Wohnqualität auf dem Wohnungsmarkt ertragreich kapitalisieren lassen. Auch die
verschiedenen Ebenen der kommunalen Verwaltung und der politischen Meinungs-
bildung nehmen die Sicherheitsbedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger bei der
räumlichen Planung neuer Wohngebiete zunehmend ernster und legitimieren ihre
Entscheidungen im Rahmen von Partizipationsverfahren, über die die kommunale
Verwaltung in Dialog mit der Stadtgesellschaft tritt (Landeshauptstadt Düsseldorf
2018b). Die Errichtung neuer Wohntürme findet daher heutzutage in einem größeren
Bewusstsein für die sicherheitsrelevanten Aspekte der Stadtplanung statt, wobei der
Kern des Problems tatsächlich eher außerhalb der von den Akteuren üblicherweise
adressierten Nebenfolgen zu suchen ist.
Konfliktpotential erwächst nämlich nicht nur in den Wohnhochhäusern selbst,
sondern vor allem im Wohnumfeld der Neubauvorhaben, in dem die als solitäre En-
Vom Hochhaus zum Wohnturm 225
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Vom Hochhaus zum Wohnturm 227
1
In diesem Jahr feierte Hans-Jörg Albrecht seinen 70. Geburtstag, dem dieser Beitrag in
kollegialer und freundschaftlicher Verbundenheit gewidmet ist.
2
Belastungen objektiver wie subjektiver Natur. Die von staatlicher Seite durch Verord-
nungen auferlegten Freiheitseinschränkungen – wie Kontaktverbote, Ausgangssperren,
Grenzschließungen – dürften seit Kriegszeiten nicht mehr in solchem Ausmaß erfolgt sein,
und haben bei der irritierten Bevölkerung u. a. zu „Hamsterkäufen“, psychischen Belas-
tungsreaktionen, oder verschwörungstheoretisch motivierten Protestaktionen geführt.
230 Harald Arnold
3
Zu Corona-bedingten Veränderungen der Kriminalität und ersten polizeilichen Ein-
schätzungen vgl. Füllgrabe 2020.
Un-/Sicherheit: Äußere Realität und innere Welt 231
*
An dieser Stelle bietet sich in der Perspektive auf die Thematik Sicherheit und die
Entwicklung dieses Forschungsfeldes ein weiterer Blick zurück an. Es ist nun fast
zwei Dekaden her seit dem terroristischen Anschlag auf die Twin Towers in New
York – einem Großschadens- bzw. seltenen Extremereignis (ein sog. high-impact,
low-probability event) –, das seither mit dem Kürzel 9/11 und den ikonographischen
Bildern der Zerstörung verbunden ist. Die westliche, globalisierte Welt geriet in eine
kurze Schockstarre, reflektierte, machte ihre systemische Verletzbarkeit (Vulnerabi-
lität) bewusst und befindet sich in der Folge4 in einem andauernden Diskurs über prä-
ventive und ggf. präemptive5 Maßnahmen zur Bekämpfung solcher Sicherheitsge-
fährdungen (dread risks). So ist für Kunz (2004, v, 360) seit 9/11 die „Entwicklung
des gesellschaftlichen Rahmens hin zu einer von Verwundbarkeitsgefühlen gepräg-
ten Sicherheitsgesellschaft“ bemerkbar und insgesamt die „Verwundbarkeit der
westlichen Welt trotz aller Sicherheitsanstrengungen deutlich“. Beste (2008,
189 ff.) spricht gar von einem „Post-9/11-Syndrom“ und versteht darunter letztlich
eine „gesellschaftliche Pathologie“; entsprechend fragen Kettner & Sturmeit (2014,
59): „Posttraumatische Belastungsstörung als Gesellschaftsdiagnose?“; zahlreiche
weitere (teils kontroverse) Einschätzungen ließen sich anführen. Dass Problem
und Thematik noch gegenwärtig virulent sind, wird daran deutlich, dass sich unlängst
eine Veranstaltung der „Inneren Sicherheit nach 9/11“ widmete und die Frage auf-
warf: „Sicherheitsbedrohungen und (immer) neue Sicherheitsmaßnahmen?“ (Fi-
scher & Masala 2016). Insofern überrascht kaum, dass zur ,Gewährleistung von Si-
cherheit in unübersichtlichen Zeiten‘ schon eine ,Postfaktische Sicherheitspolitik‘
diskutiert wird (Lange & Wendekamm 2019).
Den Wandel im Konzept der Sicherheit, die neuen Bedrohungen und Sicherheits-
erwartungen, und die sich daraus ergebenden neuen Aufgabenfelder für die Krimi-
nologie sowie die zu entwickelnden Perspektiven kriminologischer Forschung hat
Albrecht verschiedentlich beschrieben und analysiert sowie mit weiterführenden
Überlegungen verbunden (Albrecht 2007; 2011; 2016).
Vor diesem Hintergrund wurden internationale Initiativen gestartet und staatliche
Bemühungen zur Stärkung der systemischen Widerstandskraft und -fähigkeit (Resi-
lienz) unternommen, in dem u. a. zahlreiche, teure (Forschungs-)Programme in
einem neuen, inter- und transdisziplinären Forschungsfeld, der Sicherheitsfor-
schung6, auf den Weg gebracht wurden, mit dem Ziel, eine an den nationalen Bedürf-
nissen ausgerichtete umfassende und neuartige „Sicherheitsarchitektur“ (Lange et
al. 2014) zu entwickeln. Für Europa ist mittlerweile eine gut entwickelte nationale
4
Der Impact dieses singulären Anschlages in Europa wurde durch die nachfolgenden Er-
eignisse in Madrid (2004) und London (2005) verstärkt und prolongiert.
5
Vgl. Albrecht 2016 zum „Wandel der Sicherheit“, mit der Frage weg von der Prävention
und Hinwendung zu präemptiver Sicherheit?
6
Vgl. z. B. die Beiträge in Winzer et al. 2010; zusammenfassend Armborst 2014.
232 Harald Arnold
7
Vgl. die Strategische Forschungsplanung auf europäischer Ebene im European Security
Research and Innovation Forum (ESRIF): seit 2007 das European Security Research Pro-
gramme (ESRP) mit über 4 Tsd. Projekten im Rahmen von FP7 Security Research Program-
me, nochmal überboten in Horizon 2020 mit mehr als E 80 Mrd. Fördersumme.
8
Albrecht war in verschiedener Funktion in die Entwicklung eines Forschungsprogramms
für zivile Sicherheit eingebunden. So war er an der konstituierenden Sitzung 2007 beteiligt als
Mitglied eines unabhängigen Expertengremiums (wissenschaftlicher Programmausschuss Si-
cherheitsforschung), das die Bundesregierung beriet; vgl. Thoma 2010. In der von der Allianz
der Wissenschaftsorganisationen (2011, 48) – deren Mitglied die MPG ist – herausgegebenen
Reihe zu den Themenfeldern der vom BMBF formulierten Hightech-Strategie 2020 wird
Albrecht als Autor aufgeführt.
9
Zu den Forschungsthemen im Themenbereich Schutz vor Kriminalität und Terrorismus,
vgl. BMBF 2018, 14 ff. Mit einem Ausblick auf zukünftige Sicherheitsforschung s. die Ex-
pertenbefragung von Gerhold & Peperhove 2017.
10
Mit diesem Themenspektrum vgl. das Projekt BaSiD Haverkamp & Arnold 2015.
Un-/Sicherheit: Äußere Realität und innere Welt 233
**
In einem weiteren Blick zurück – mit der Intention, dem Stellenwert der Thematik
(Öffentliche/Innere) Sicherheit für die Kriminologie näher zu kommen – sei der
Fokus auf die Vor-9/11-Phase gerichtet. Geht man von der Annahme aus, dass gesi-
chertes Wissen sich in den Lehr- und Handbüchern einer wissenschaftlichen Diszi-
plin niederschlägt, so könnte bzw. müsste sich dies anhand der Gliederung und Stich-
worten nachverfolgen lassen. Im seinerzeit gut eingeführten, klassischen Lehrbuch
von Kaiser wird das „Problem innerer Sicherheit“ erst 1996 (in der 3. Auflage, Kai-
ser 1996, 1093 ff.) thematisiert. Kurz darauf stellt Kaiser (1995) in einem Fest-
schriftbeitrag mit dem Titel „,Innere Sicherheit‘ – kein Rechtsbedürfnis der Bevöl-
kerung?“ die Thematik in das Zentrum seiner Betrachtung und verweist zudem auf
die Relevanz subjektiver Kriminalitätsindikatoren (Verbrechensfurcht).14 In der nach
dem Lehrbuch erschienenen 10. Auflage der „Kriminologie. Einführung in die
Grundlagen“ benennt Kaiser (1997, 38) innere Sicherheit nun als ein „fundamentales
Schutzgut“ und resümiert: „Faßt man die gegenwärtige kriminalpolitische Diskussi-
on zusammen, so steht die Gewährleistung ,innerer Sicherheit‘ fraglos im Brenn-
punkt“ (Kaiser 1997, 475).
11
Zum Feld der sozialwissenschaftlichen Sicherheitsforschung mit eigenem Ansatz Blin-
kert 2013, 87 ff.
12
Albrecht war jahrelang Mitglied im Fachdialog Sicherheitsforschung und gehört zum
Kreis der Herausgeber der Reihe „Zivile Sicherheit. Schriften zum Fachdialog Sicherheits-
forschung“; vgl. z. B. Zoche et al. 2015; Zoche et al. 2016. Des Weiteren ist Albrecht – als
Editor-in-Chief und Mitglied des Advisory Board – am European Journal for Security Re-
search beteiligt.
13
Vgl. zum Überblick Gerhold & Schiller 2012; Steinmüller et al. 2012 mit Ausblick auf
Sicherheit 2025; mit einer Zwischenbilanz Gerhold et al. 2015.
14
Vgl. Kaiser 1995, 32 zum Sicherheitsbedarf der Bürger und den subjektiven Einschät-
zungen der Gesellschaft bei Sicherheitsgefährdung.
234 Harald Arnold
15
So problematisiert Kunz (2004, v) zu Beginn seiner „Einführung in die Kriminologie“:
„Die Entwicklung des gesellschaftlichen Rahmens hin zu einer von Verwundbarkeitsgefühlen
geprägten Sicherheitsgesellschaft und damit einhergehende Funktionalisierung der Krimino-
logie als strategische Planungsinstanz der Sicherheitspolitik im Gefolge des 11. Sept.
2001 […]“.
16
Zur historischen Einordnung und gesellschaftlichen Kontextualisierung des gesell-
schaftlichen Sicherheitsdiskurses sei auf Ereignisse mit terroristischen Charakter – und inso-
fern in gewisser Parallelität zu 9/11 – hingewiesen: die Baader-Befreiung am 14. Mai 1970,
quasi als Geburtsstunde der RAF bezeichnet, sowie das Münchner Olympia-Attentat vom
5. September 1972. Mit Ausstrahlung in die folgenden Jahre die Ereignisse des sog. Deut-
schen Herbstes (Ermordung von Ponto, Buback, Schleyer durch die RAF).
17
Vgl. zur Entwicklung des Sicherheitsdiskurses seit Beginn der 1970er Jahre T. Kunz
2005. Exemplarisch für gegenwärtige Sicherheitsdiskurse mit Akzent auf dem technologi-
schen Aspekt von Sicherheit die Beiträge in Zurawski 2007.
Un-/Sicherheit: Äußere Realität und innere Welt 235
Mit den 1990er Jahren nehmen die kriminologischen Publikationen deutlich zu,18
mit einem ersten Höhepunkt im Jahr 1995, wie eine EDV-basierte szientometrische
bzw. bibliometrische Analyse zur „Inneren Sicherheit im Spiegel der deutschsprachi-
gen Literatur“ von Ohly (2008) belegt, der über 36 Publikationsjahre mehr als 9.000
deutsche Titel findet, die eine – hier nicht abbildbare – Vielfalt, aber ebenso inhalt-
liche Diskrepanz der Bearbeitungen des Themas vermuten lässt.19 Aus der Zeit kurz
vor der Jahrtausendwende – zur „Inszenierung Innerer Sicherheit“, so Hitzler & Pe-
ters (1998) – sei die bezeichnende Bemerkung von Hitzler (1998, 204) erwähnt, der
im Forschungsfeld „Innere Sicherheit“ ein aktuell grassierendes Phänomen „Krimi-
nalitätsfurcht“ sowie „per se fragwürdige Kriminalitätsstatistiken“, zudem „gesell-
schaftskritische Hysterisierungstheorien“ feststellt.
Einem interessanten Vergleich der früheren und heutigen Sicherheitsforschung –
vor 9/11 und danach – wird hier nicht mehr weiter nachgegangen, nur noch die Be-
merkung, dass der Begriff von der „Sicherheitsgesellschaft“ dauerhaft Eingang in die
,kritische strafrechtlich-kriminologische Wissenschaft‘ gefunden hatte (z. B. bei
Legnaro 1997; Singelnstein & Stolle 2006).20
Aus dem Skizzierten lässt sich entnehmen, dass der umfangreiche Themenbereich
„Innere Sicherheit“ – wie bei Ohly (2008) ersichtlich wird – hier in Kürze nicht an-
gemessen erörtert werden kann. Es erfolgen stattdessen zwei ergänzende Bemerkun-
gen zu Initiativen, die für die weitere Auseinandersetzung mit der Thematik weiter-
führend sind.
Zunächst ist auf den Interdisziplinären Arbeitskreis Innere Sicherheit (AKIS) hin-
zuweisen, einen Zusammenschluss von Wissenschaftlern aus den Bereichen Politik-,
Rechts- und Polizeiwissenschaften usw., der sich 1996 gegründet hatte, und aus des-
sen Kreis ein Memorandum zur Entwicklung der Inneren Sicherheit in der Bundes-
republik Deutschland erarbeitet und veröffentlicht wurde. Hintergrund und Anlass
dieser „Denkschrift“ sind – in Worten der Selbstbeschreibung (Lange et al. 1998,
7) – einerseits der „Eindruck der rasanten Veränderungen, denen die Politik der In-
neren Sicherheit derzeit unterworfen ist; andererseits […] die Besorgnis über die Art
und Weise, wie das Thema politisch gehandhabt wird“. Das Ziel sei es, „eine inhalt-
lich geführte öffentliche Diskussion über die ,Innere Sicherheit‘ in der Bundesrepu-
blik“ anzustoßen.21
Für die faktenbasierte Beschreibung der Kriminalitätslage und die Einordnung
der öffentlichen Sicherheit, wie sie im Konzept der Inneren Sicherheit angedacht
ist, ist auf die durch die Bundesministerien für Inneres und Justiz initiierten und
18
Dazu mehrere Sammelwerke, stellvertretend für viele Kampmeyer & Neumeyer 1993
mit einer „kritischen Bestandsaufnahme“.
19
Vgl. die Beiträge in Lange et al. 2008; 2014.
20
Schon in den 1970er Jahren sprach Narr (1977) von der „angstvollen Versicherungsge-
sellschaft“.
21
Siehe die regelmäßigen Tagungen des AKIS – mittlerweile über 30 – sowie die Her-
ausgabe der seit 2000 erscheinenden Reihe „Studien zur inneren Sicherheit“.
236 Harald Arnold
***
In den 1970er Jahren haben sich in Deutschland, durch US-amerikanische Vorbil-
der angeregt, im Bereich der empirischen Kriminologie sog. Opferbefragungen (Vik-
timisierungssurveys) – Befragungen von Bevölkerungsstichproben nach ihren Erfah-
rungen als Geschädigte von Straftaten – als ein probates Instrument der Forschung
etabliert. Zwei wesentliche Aspekte standen dabei im Vordergrund: zum einen die
„Kriminalitätsmessung“, konkret die Erfassung polizeilich nicht angezeigter Straf-
taten, um das sog. „Dunkelfeld“ auszuleuchten, inklusive dazugehörender Einstel-
lungen, zum anderen die Erfassung von kriminalitätsbezogenen Sicherheitswahrneh-
mungen und -empfindungen. Die parallel sich entwickelnde kriminologische (Teil-)
Disziplin der Viktimologie (Opferforschung) mit ihren spezifischen Fragestellungen
hatte wesentlichen Einfluss auf Interesse und Entwicklung dieser Forschungsrich-
tung. Erste Studien waren noch räumlich auf Städte beschränkt, später folgten groß-
räumigere Erhebungen (Regionen, Bundesländer, relativ spät in den 1990er Jahren
bundesweite).22 Mittlerweile wurden zahlreiche Untersuchungen durchgeführt, –
darunter solche mit ausgewählten Teilpopulationen, mittels variierender Erhebungs-
methoden oder internationaler Vergleichsabsicht –, sodass sie in toto in den Über-
blicksdarstellungen keine vollständige Darstellung mehr finden können.23
22
Vgl. dazu exemplarisch Kury et al. 1992; zur Tauglichkeit von Opferbefragungen als
Instrument der Kriminalitätsmessung Arnold 1999.
23
Zum Überblick Obergfell-Fuchs 2016; s.a. Feldmann-Hahn 2011.
Un-/Sicherheit: Äußere Realität und innere Welt 237
24
Zum DVS 2012 vgl. Birkel et al. 2014; zum DVS 2017 vgl. Birkel et al. 2019; mit
einigen Rückschlüssen über Veränderungen seit 2012 Birkel et al. 2020.
25
Jüngst sprach sich der Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD) 2020, 19 erneut
für eine „Verstetigung eines bundesweiten statistikbegleitenden Viktimisierungssurveys“ aus;
vgl. schon RatSWD 2009, 19 f., 24 mit Hinweis auf die im Jahr 2002 von BMI/BMJ einge-
setzte BUKS-Arbeitsgruppe – ,Bevölkerungsumfrage zu Kriminalitätserfahrungen und Si-
cherheitsempfinden‘ – deren Mitglied Albrecht war; wiederholt der Vorsitzende der AG
„Weiterentwicklung der Kriminal- und Strafrechtspflegestatistik“ Heinz 2017; 2019.
26
Zum Überblick Obergfell-Fuchs 2016; vgl. mit partiell skeptischem Resümee bzgl. Er-
trag und Aussagekraft von Opferbefragungen Albrecht 1997, 163.
27
Zu denken ist hier etwa an Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund, konkret
den türkisch- und russischstämmigen Bürgern, die der DVS (2012; 2017) durch einen spezi-
ellen Erhebungsmodus berücksichtigen und einbeziehen konnte.
28
Vgl. Birkel et al. 2019, 26, Fn. 27: „Für einzelne Bundesländer enthielt die Stichprobe
überhaupt keine Opfer (bezogen auf die zwölf Monate vor dem Interview)“.
29
Mit vertiefenden Analysen zum DVS 2012 Birkel et al. 2016.
30
Vgl. dazu Birkel et al. 2019, 13 f.; 39, Fn. 36; 98, Fn. 48.
31
Laut Vorwort zum DVS 2012 von Albrecht & Ziercke (2014, 1) „[…] steht […] das
Ausmaß der von polizeilichen Kriminalstatistiken nicht erfassten Kriminalität, also das kon-
ventionelle Dunkelfeld, im Mittelpunkt, […]“.
238 Harald Arnold
al. 2019, 1) als „ein zentrales Ziel des DVS 2017 […] das sogenannte Dunkelfeld der
Kriminalität in Deutschland besser einschätzen zu können“, erfüllt dies dabei (aber
nur) mit der aus vergleichbaren anderen Studien bekannten Erhebung des (Nicht-)
Anzeigeverhaltens von Opfern32, einschließlich der Gründe bei Verzicht auf solches.
Jedoch eine direkte Gegenüberstellung von kriminalstatistischen Daten aus der PKS
und Inzidenzen aus der Viktimisierungsstudie wird nicht unternommen (nicht ge-
wagt? – vgl. demgegenüber andernorts gelegentlich vorgenommene „gewagte“ Be-
rechnungen von Dunkelzifferrelationen33). So resümieren Birkel et al. (2019, 14)
nach Darlegung verschiedener Gründe überzeugend: „Aufgrund dieser Einschrän-
kungen von Vergleichsmöglichkeiten wird im vorliegenden Bericht auf eine Gegen-
überstellung von Befragungsergebnissen und Daten der PKS verzichtet“. Gleich-
wohl wird diese Aussage auf derselben Seite in einer Fußnote relativiert: „Dies be-
deutet freilich nicht, dass es grundsätzlich unmöglich ist, Daten aus der Opferbefra-
gung denen der PKS gegenüberzustellen“.34 Dies sei allerdings aufwändig. Und es
seien „[e]ntsprechende Auswertungen […] im Rahmen weiterer Analysen geplant“.
Somit bleibt das Interesse an einer Abschätzung des Kriminalitätsvolumens unter
Einbezug nicht angezeigter und/oder nicht registrierter Straftaten an dieser Stelle un-
befriedigt.35
Was interessierte Leser in dem Bericht zum Deutschen Viktimierungssurvey u. U.
ebenfalls vermissen mögen – ist es doch üblicherweise Bestandteil von Viktimisie-
rungsstudien –, ist die Nennung der Gesamtzahl bzw. des Anteils der in den betref-
fenden Referenzperioden erfassten Geschädigten bzw. Opfer (Opferquote).36 Zwar
werden schon detailliert deliktsspezifisch Prävalenzen und Inzidenzen berichtet,
u. a. die deliktischen Mehrfachopfer einer avancierten statistischen Analyse unterzo-
gen,37 die beabsichtigt, den kausalen Ursachen für die jeweiligen Viktimisierungen
näher zu kommen – nicht hingegen ähnliches zumindest explorativ für die aufsum-
mierten Gesamtviktimisierungen bzw. die Opferquote insgesamt angestellt. Eine
Größenvorstellung beim Einzeldelikt vermitteln Prävalenzraten des häufigsten De-
32
Birkel 2014, 143: „Von Interesse – insbesondere für die Einordnung der Zahlen im
kriminalstatistischen Hellfeld der PKS – ist auch das Anzeigeverhalten“. Vgl. dazu Birkel et
al. 2019, 39 ff.
33
Vgl. Feltes & Reiners 2019, 93 f.; Schwind et al. 2001, 139 f.; sowie Birkel 2003, 32 f.
zur Berechnung von Dunkelzifferrelationen.
34
Birkel et al. 2019, 14; Fn. 16. Zuvor ebenso Birkel et al. 2014, 7 ff. Mit weiteren Aus-
führungen zu „Hellfeld vs. Dunkelfeld und Problemen statistikbegleitender Dunkelfeldfor-
schung“ Birkel 2015.
35
Dazu Heinz 2019, 4: „Der Erkenntnisgewinn von moderner Dunkelfeldforschung liegt
deshalb nicht nur [– wohl aber auch – HA] in der Gegenüberstellung von Dunkelfeld- und
Hellfelddaten […]“.
36
Vgl. z. B. den 2. PSB, wo bezugnehmend auf zwei frühere Erhebungen (1997) berichtet
wird: „Mit dem dort erhobenen Deliktspektrum wurden Opferprävalenzraten von 15,9 % und
19,5 % ermittelt“, s. BMI/BMJ 2006, 17 f.; vgl. Kury et al. 1992, 46.
37
Vgl. die differenzierten und aufwändigen Bemühungen in Zusammenhang mit Mehr-
fachviktimisierungen bei Birkel 2016.
Un-/Sicherheit: Äußere Realität und innere Welt 239
38
Eine Prävalenzrate für die Einjahresreferenzperiode liegt nicht vor, da die internetba-
sierten Straftaten für den 12-Monatszeitraum nicht erhoben wurden; vgl. Birkel et al. 2019,
14.
39
Zur Erforschung kritischer Lebensereignisse, deren Beginn in den 1960er Jahren liegt
(Critical Life Event-Forschung) vgl. m.w.H. Filipp & Aymanns 2018.
40
Zu weiteren Veränderungen m Erhebungsbogen 2017 gegenüber DVS 2012 vgl. Birkel et
al. 2019, 6, 102, Tab. 32.
41
Etwa in der ersten nationalen Opferstudie von Kury et al. 1992, 132 ff., wo nach sexu-
ellen Belästigungen gefragt wurde, und ergänzend die Schwere des Übergriffs eingeschätzt
werden konnte, was eine Abstufung bzw. Differenzierung von „frechem Benehmen“ bis zur
(versuchten) Vergewaltigung erlaubte. Bereits zuvor wurden – per schriftlicher Befragung –
u. a. Vergewaltigungen in einer Studie erhoben; vgl. Arnold 1986.
42
In diesem Zusammenhang mit Bezug auf kriminalitätsbezogenes Sicherheitsempfinden
von Bedeutung das Konzept der „signal crimes“ (Innes), insbesondere bzgl. Sexualdelikte.
43
Eine kurze, allgemein gehaltene Fußnote findet sich jedoch bei Birkel & Guzy 2015, 121,
Fn. 6: „Auf die Erhebung von Viktimisierungen durch Sexualdelikte wurde nach sorgfältiger
Prüfung aufgrund forschungsethischer und methodologischer Bedenken verzichtet“.
240 Harald Arnold
44
Im Flyer zum SKiD wird erwähnt, dass in dieser Umfrage nun auch Viktimisierungen
durch sexuelle Nötigung erfragt werden sollen.
45
Vgl. dazu Haverkamp & Arnold 2015, 349 ff. Jüngst nennt Heinz (2019, 10) als ein Ziel
von Viktimisierungssurveys: „Erfassung des objektiven Schweregrades (materielle und im-
materielle Schäden) und der subjektiven Seite der Opfererfahrungen (unmittelbare psychische
Folgen sowie langfristige psychosoziale Auswirkungen), um die Bedeutsamkeit von Vikti-
misierungserfahrungen aus Sicht der Opfer zu erfassen“.
46
Vgl. zu „schweregewichteten“ Kriminalitätsindizes Feltes 2013.
Un-/Sicherheit: Äußere Realität und innere Welt 241
47
Hirtenlehner et al. (2018) sehen eine „zunehmende Entkoppelung von objektiver und
subjektiver Sicherheit“.
48
Ein Vorschlag auf der Basis von Überlegungen etwa aus der Sozialindiktorenforschung
wurde unlängst zur Diskussion gestellt; vgl. m.w.H. Haverkamp & Arnold 2015, 339 ff.,
355 ff.
49
Jenseits einer einfachen Augenschein-/Anschauungs-Validität. Unlängst zu methodi-
schen Problemen bei der Messung von Kriminalitätsfurcht und Viktimisierungserfahrungen
Noack 2015.
50
Vorsichtig skeptisch Kunz & Singelnstein 2016, 234: „Bei Opferbefragungen ist die
Korrespondenz zwischen tatsächlich erlebtem Opferereignis und einer Dokumentation als
Viktimisierung nicht ohne Weiteres anzunehmen“. Vgl. dort Schaubild 3.11: Vom Erlebnis zur
dokumentierten Viktimisierung.
51
Zu Validität- und Reliabilitätsaspekten und zur Messfehlerproblematik bei der PKS
früher an anderer Stelle Birkel 2003.
242 Harald Arnold
rungen zwischen den beiden Erhebungswellen zu erklären sind“ (Birkel et al. 2019,
97).
Der Namenswechsel des geplanten Surveys (von DVS zu SKiD) lässt erwarten,
dass zukünftig viktimologische Fragestellungen gegenüber denen der Kriminalitäts-
messung – dafür spricht der zweijährige Erhebungsrhythmus – und weiteren polizei-
lich relevanten und aktuellen Fragen – z. B. zur Bewertung der und zum Vertrauen in
die Polizei – weiter in den Hintergrund treten werden, zumal die Vermutung nahe-
liegt, dass die Durchführung nun wohl ohne direkte Beteilung, ggf. nur mittels ad
hoc-Support aus dem wissenschaftlichen Bereich, in verstärkter polizeilicher Eigen-
regie realisiert werden wird (Kolmey 2016).
Was die Darstellung der Sicherheitslage in Deutschland auf der Grundlage objek-
tiv(iert)er und subjektiver empirischer Kriminalitätsindikatoren betrifft, leisten die
beiden DFS einen substantiellen, als Viktimisierungsstudien aber noch ausbaufähi-
gen Beitrag. Gleichwohl vermögen sie in der thematischen Breite nicht einen Ansatz
und Entwurf, wie ihn die beiden PSB (BMI/BMJ 2001; 2006) vorlegten, zu ersetzen,
sie können nur wesentlicher Bestandteil eines solchen sein. Dies wird bereits durch
die thematische Weite der abgesteckten Untersuchungsfelder evident, die wesentli-
che Kriminalitätsbereiche, die durch direkte Befragungsstudien von Opfern, wie sie
der DVS realisierte, nicht erfasst wurden und werden konnten, offensichtlich.52 Dazu
gehören sowohl Delikte mit nicht und schwer erreichbaren bzw. unzugänglichen Op-
fern wie bspw. bei Tötungsdelikten, Menschenhandel, sexuellem Missbrauch, Miss-
handlung, allgemein Opfern von sog. „invisible crimes“ (Davies) oder kollektive und
nichtnatürliche Opfer (Wirtschaft-, Finanz-, Umweltkriminalität etc.), nicht zuletzt
die Untersuchung struktureller und neuer, die Sicherheit von Menschen beeinträch-
tigender gesellschaftlicher Bedingungen.53
****
Mit den ersten US-amerikanischen Opferbefragungen (victim surveys) begannen
Erörterungen und Untersuchungen von „subjektiver Sicherheit“ – damals noch mit
anderer Begrifflichkeit – in der Kriminologie, ausgehend von „Viktimisierungs-/Kri-
minalitätsfurcht“, die als soziales Problem an Relevanz ebenbürtig krimineller Vik-
timisierung, gelegentlich sogar als schlimmer, weil allgegenwärtig, erachtet wurde.54
Entsprechend war bzw. wurde das Konstrukt regelmäßig zum Bestandteil der Erhe-
bungen zur Viktimisierung, wie bereits oben zu entnehmen war. Nicht verwunderlich
ist, dass Publikationen zu diesem kriminalitätsbezogenen Aspekt subjektiver Sicher-
52
Vgl. dazu Beiträge zu den delikt- und gruppenspezifischen Viktimisierungserfahrungen
in Guzy et al. 2015.
53
Vgl. zu neuen Bedrohungen Albrecht 2011.
54
Vgl. Kaiser 1995, 31: „Verbrechensfurcht mehr noch als Verbrechensanstieg mobilisiert
Wissenschaft […] und Praxis“.
Un-/Sicherheit: Äußere Realität und innere Welt 243
heit mittlerweile an Umfang den, der sich direkt mit krimineller Viktimisierung be-
schäftigt, sowohl international wie national bei weitem zu überwiegen scheint.55 In-
sofern war es folgerichtig und konsequent, dass ebenfalls die deutschen Opferstudien
stets die Wahrnehmung von Kriminalität und das Sicherheitsempfinden – in diversen
Operationalisierungen – berücksichtigten, so auch die o. a. beiden DVS von 2012 und
2017 (Birkel et al. 2014, 64 ff.; 2019, 45 ff.).56
Die Fülle der empirischen Ergebnisse kann hier nicht wiedergegeben werden,
allerdings verdient die kriminologische Forschung zur subjektiven Sicherheit zwei
Anmerkungen, einmal zu ihrer Konzeptualisierung, zum anderen – z. T. davon
abhängig – ihre Operationalisierung und Messung.
Seit den Anfängen – u. a. bei Schwind in der ersten Bochumer-Dunkelfeldstudie
(Schwind et al. 1978; vgl. auch Stephan 1976) – wird subjektive Sicherheit (Krimi-
nalitätsfurcht) – dort „subjektives [sic] Bedrohtheitsgefühl“ als „psychologisches
Konstrukt“ – in Form einer Einstellungsmessung erhoben (Gefeller & Trudewind
1978). Dieser Linie folgen, soweit ersichtlich, bislang die meisten Studien, so der
DVS. Damit hat man sich auf eine naheliegende Sichtweise und einen pragmatischen
Zugang eingelassen, offensichtlich festgelegt,57 welche eine vertiefte und differen-
ziertere Sichtweise der betroffenen psychologischen Phänomene nicht mehr zwin-
gend erscheinen ließen bzw. verhinderten. Denn für das Verständnis, was sich intra-
psychisch an Prozessen abspielt, wenn jemand von Kriminalitätsfurcht/-angst, Be-
drohtheits-/Unsicherheitsgefühl o. ä. spricht, sind Kenntnisse aus dem Bereich der
(Emotions-)Psychologie hilfreich, wenn nicht gar erforderlich.58
Um Beispiele zu nennen: Da wäre die – allerdings selbst bei Fachpsychologen
nicht stets vorgenommene oder als erforderlich erachtete – Differenzierung zwischen
Furcht (nach Freud Realangst) und Angst.59 Schon früh (zuerst 1934) hat dies der
Individual- und Sozialpsychologe Manès Sperber zum Ausdruck gebracht:
„Die Furcht ist die Reaktion auf eine richtige Wahrnehmung einer realen Gefahr. […] Die
Angst ist in keiner Weise an eine objektive Gefahr oder an eine richtig wahrgenommene Si-
tuation gebunden. Sie widerspiegelt mehr den seelischen Zustand des Individuums als seine
äußere Situation […] Die Furcht verrät eine Situation, die Angst einen Charakter“ (Sperber
1978, 171).
Hier geht es insofern um äußere Realität einerseits und innere Welt andererseits,
und damit um eine potentiell anschlussfähige Interpretation der subjektiven Sicher-
heit in Bezug zur objektiven.
55
Grundlegend mit gutem Überblick Boers 1991; vgl. a. Ziegleder et al. 2011.
56
Vgl. zum DVS 2012 die Beiträge in Haverkamp & Arnold 2015; sowie vertiefende
Analysen zu Kriminalitätsfurcht und Unsicherheitsgefühlen in Birkel et al. 2016.
57
Vgl. Gefeller & Trudewind 1978, 310: „Das subjektive Bedrohtheitsgefühl soll als ein
vorläufiges [sic!] Konzept verstanden werden, das bestimmte Formen der Auseinandersetzung
des Individuums mit dem Phänomen der Kriminalität in der Gesellschaft charakterisiert“.
58
Vgl. z. B. Schmidt-Atzert et al. 2014.
59
Vgl. frühere Überlegungen zur Kriminalitätsfurcht vom Verf. Arnold 1984.
244 Harald Arnold
60
Zur Psychologie der Angst umfassend Krohne 2010.
61
Vgl. z. B. bei Gefeller & Trudewind 1978, 310 und Greve 1996, 20 f. mittels State-Trait
Anxiety Inventory bzw. Angstinventar; vgl. a. Boers 1991, 28 ff. mit der Erfassung bereichs-
spezifischer Angstneigungen mittels Interaktion-Angst-Fragebogen (IAF).
62
Vgl. schon Stephan 1976 mit dem Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI); vgl. a.
Obergfell-Fuchs & Kury 1996; Kury & Obergfell-Fuchs 2003.
63
Vgl. hierzu Studien von Damasio (2000) und seine Theorie der somatischen Marker.
64
Kritisiert wurde z. B. die Unspezifität des Items: Es erwähnt keinen Grund für Furcht.
Dem gingen schon Teske & Hazlett (1988) nach, indem sie nach dem Grund für Furcht fragten,
was in einem weiten, z. T. unspezifischen Antwortspektrum resultierte, bei 20 % aber ohne
Begründung; vgl. zu konzeptuellen und empirischen Schwierigkeiten sowie Problemen der
Erfassung von Kriminalitätsfurcht Greve 1996, 12 ff.; Kury et al. 2004; Sessar 2006.
Un-/Sicherheit: Äußere Realität und innere Welt 245
brauchbar eingeschätzt“ worden (ähnlich Greve 1996, 27), andererseits nach rigoro-
ser Prüfung – so durch Kreuter (2002) – wegen methodischer Probleme zur Ausson-
derung empfohlen.65 Um derartige Schwächen auszugleichen und zu überwinden,
wurden verschiedene Alternativen der Messung – sowie zur Erklärung – von Krimi-
nalitätsfurcht entwickelt, etwa die deliktsspezifische Variante, wie ebenfalls im DVS
verwendet, was sich mit Hinsicht auf Viktimisierungen und Hellfelddaten anbietet,
oder mittels Skalenbildung bei Einsatz verschiedener Indikatoren.
Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang der originäre (qualitative) Zugang
bei der Konzeptualisierung und Erfassung von „Sicherheitsbefindlichkeiten“ durch
Blinkert (2013), der zudem – im Rahmen von BaSiD – einen alternativen „Sicher-
heitsbarometer“ vorschlug, allerdings ohne Bezugnahme auf objektiv(iert)e Sicher-
heit und Einbeziehung von deren Indikatoren.66
Unabhängig von dieser alternativen Neuausrichtung ist ein noch offenes Problem
– wie bei den Viktimisierungen – der Nachweis der (ökologischen) Validität der er-
hobenen (Un-)Sicherheitsempfindungen (in Form von real feststellbarer Kriminali-
tätsfurcht).67 Als Einstellungsaspekte kommt diesen Konstrukten in den üblichen Un-
tersuchungen außer einer Augenscheinvalidität keine Evidenz für reale, vorfindbare
emotionale Prozesse in Gegenwart bedrohlicher wahrgenommener Situationen zu.
Dies nachzuweisen, bedarf weiterer Bemühungen. Hier könnten neue Alternativen
wie z. B. die aktuell geplanten Erhebungen des in situ-Sicherheitsempfindens im öf-
fentlichen Personenverkehr für neue Erkenntnisse sorgen (Reichow et al. 2020).
Nicht zuletzt böte sich an, für den Bereich der (Unsicherheits-)Wahrnehmung auf
Erkenntnisse der Sicherheitspsychologie (z. B. Windemuth 2012) zurückzugreifen,
etwa da, wo sie sich mit Gefahrenkognition befasst (z. B. Muhsal 1997), inklusive
der Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Gefährlichkeit oder der Dif-
ferenz von Risiko und Gefahr, hier aus psychologischer Perspektive (nicht im Sinne
von Luhmann). Dies könnte einen zusätzlichen Input für das Verständnis für die
(auch unbewusste) Wahrnehmung angstfördernder bzw. furchtauslösender Umwelt-
reize (z. B. Incivilities/Disorder) und deren Wirkung bei der Entstehung und Auf-
rechterhaltung von Kriminalitätsfurcht geben, wie sie etwa im Zusammenhang
mit sog. Angsträumen oder allgemein Irritationen in städtischen Nachbarschaften
und urbanen Vierteln diskutiert werden; auch die sog. Begehungen könnten davon
profitieren. Dass darüber hinaus (nicht nur soziale) Wahrnehmungen (und damit ver-
bundene kognitiv-neurologische Prozesse) allgemein Berücksichtigung verdienen –
65
Fazit Kreuter 2002, 232: „Zum Schluss bleibt festzuhalten, dass die Messung von Kri-
minalitätsfurcht nicht mehr in der bisher üblichen Art durchgeführt werden sollte – schon gar
nicht mit dem allgemeinen Indikator, […] Es sollte stattdessen die Konzeptualisierung des
Konstruktes Kriminalitätsfurcht weiter ausgearbeitet werden […]“. Vgl. a. Noack (2015) zu
methodischen Probleme bei der Messung von Kriminalitätsfurcht.
66
Vgl. a. Blinkert 2015; Blinkert et al. 2015 insbesondere bzgl. beachtenswerten metho-
dischen Anmerkungen.
67
Konkret: Was wird wann gefürchtet, und ggf. wie oft und andauernd? Vgl. Feistritzer &
Stangl 2006 zur Häufigkeit und Intensität von Kriminalitätsängsten; s.a. Sessar 2006.
246 Harald Arnold
mit dem Hinweis auf die Differenz von Perzeption und Apperzeption und den Aspekt
subliminaler bzw. unterschwelliger Wahrnehmung („bewusst – unbewusst“) oder
Wahrnehmungsfehler verbunden –, ist in dem vorliegenden Forschungsbereich na-
heliegend.
Was die subjektive Sicherheit betrifft, darf nicht unerwähnt bleiben, dass die üb-
liche quantitative Forschung mit ihren Indikatoren zur Erfassung des Sicherheitsge-
fühls, wie im DVS, der dringenden Ergänzung durch einen qualitativen Zugang be-
darf – wie er exemplarisch von Blinkert (2013; 2015) entworfen und begründet
wurde –, um Breite und Tiefe bzw. Komplexität des Phänomen(bereich)s angemes-
sen abzubilden. Die eigene Studie „Barometer Sicherheit in Deutschland“/BaSiD
(Haverkamp & Arnold 2015) mit ihrem interdisziplinären und multimethodischen
Zugang hat dies m. E. als Gewinn verbucht; daraus resultierend konnte es zuletzt
– basierend auf BaSiD – in einer Folgestudie mit Methodenmix-Interviews und in-
novativem qualitativem Forschungsdesign anhand umfangreichen Materials unter
Beweis gestellt werden (Eckert 2019). Diese Einschätzung wird noch an einem for-
malen Kriterium die Datenerhebung betreffend verdeutlicht: Während die durch-
schnittliche Dauer der CATI-Interviews beim DVS 2012 insgesamt knapp 20 Minu-
ten bzw. 22 Minuten beim DVS 2017 betrug, nahmen die qualitativen Interviews – da
nur den Aspekt subjektive (Un-)Sicherheit fokussierend – rund 90 Minuten in An-
spruch. Es dürfte unschwer nachvollziehbar sein, dass die Produktivität und Salienz
der Erhebungen sich merklich unterscheiden dürften.68
Aufgrund des Dargestellten erscheint der Schluss berechtigt, dass es wünschens-
wert scheint – in Ergänzung zum (objektiven) „erweiterten Sicherheitsbegriff“ – an
einem komplementären (subjektiven) „vertieften Sicherheitsbegriff“ zu arbeiten.
Dazu könnten Vorstudien mit qualitativen Erhebungen für eine spätere quantitative
Überprüfung und Verallgemeinerung einen wesentlichen und notwendigen Beitrag
liefern.
*****
Zuletzt zur wiederholt im einschlägigen Diskurs auftauchenden Frage: Wieviel
Sicherheit muss sein? Kann es überhaupt genug Sicherheit geben? Ist das Bedürfnis
nach Sicherheit zu stillen? (Haverkamp & Arnold 2015, 3 f.) Die Meinungen gehen
auseinander, insbesondere weil es sich nicht nur um eine empirische, sondern offen-
sichtlich ebenfalls um eine normative, wertbezogene Frage handelt. So stellte dazu
schon Albrecht (1997, 147) fest: „Der Begriff der Sicherheit ist normativ besetzt.“
68
Vgl. dazu bei Blinkert (2013, 101 ff.) die Definition des Sicherheitsbegriffs sowie dessen
Konzeptualisierung, welche den Interviews als Erhebungsschema zugrunde lag.
Un-/Sicherheit: Äußere Realität und innere Welt 247
Anschluss finden dabei ergänzende Erörterungen zur „Angst“ als einer Chiffre der
Gegenwartsgesellschaft,69 moderner Gesellschaften überhaupt, und deshalb bereits
als Kennzeichen des vergangenen Jahrhunderts verwandt. Ursache für Angst sind
Bedrohungen in der Moderne, einer globalisierten ,Risikogesellschaft‘ (Beck), und
stets „neue Bedrohungen“ (Albrecht 2011), die ihrerseits neue Sicherheitsmaßnah-
men erfordern, um den Sicherheitsbedürfnissen und -forderungen entsprechen zu
können. Kann es also genug Sicherheit geben? Und wann bzw. wieviel Sicherheit
ist ausreichend? Lässt sich dies normativ klären und/oder empirisch feststellen?
Über Sicherheit sowie das Bedürfnis nach Sicherheit wird schon lange inter- und
transdisziplinär auf theoretischer Ebene, oftmals entfernt oder gar losgelöst von fak-
tischen Bezügen wie empirischen Daten, reflektiert und diskutiert, zumindest seit Si-
cherheit ein Schlüsselbegriff gegenwärtiger Gesellschaftsbeschreibungen und -ana-
lysen geworden ist, oft implizit in Verbindung mit einem ihrer Gegenbegriffe70, dem
der Angst (Unsicherheit) eben oder komplementären Aspekten, wie dem der Freiheit.
In diesem Zusammenhang stößt man wiederholt auf Bemerkungen und Feststellun-
gen derart: Sicherheit könne es nie genug geben, es gäbe ein stetes Verlangen nach
Sicherheit, sodass sich die Frage stellt, ob „Sicherheit: ein (un-)stillbares Grundbe-
dürfnis des Menschen“ (Frevel 2013)71 sei und sich möglicherweise eine bedenkliche
„Unersättlichkeit des Strebens nach Sicherheit“ (Kunz 2013)72 zeige. Daase et al.
(2013, 9) bemerken nicht nur „wachsende Sicherheitsbedürfnisse einer vielfach ver-
unsicherten Gesellschaft“, sondern stellen – mit implizitem Bezug auf die Differenz
von objektivierbaren Bedingungen und subjektivem Empfinden – verwundert fest:
„Sichere Gesellschaften fordern immer mehr Sicherheit“, wodurch eine „paradoxe
Situation des Staates“ entsteht: „Je mehr Sicherheit er bereitstellt, desto weitgehen-
der werden die gesellschaftlichen Sicherheitsanforderungen […]“.
Angesichts einer solchen, im Extremfall geradezu „idiosynkratischen Sensibili-
tät“ – eines „Sicherheits-Paradoxons“ bzw. Sicherheits-Dilemmas (Haverkamp &
Arnold 2015, 3 f.) –, bietet sich als reflektierender Zwischenschritt ein Blick in an-
dere Bereiche an, hier auf die anthropologische Sicht und Interpretation des Philo-
sophen Marquard und seiner skeptischen „Philosophie des Stattdessen“, wo in struk-
turell ähnlich gelagerten Problemlagen und den regulativen Arrangements von Un-
vermeidlichkeiten der Lebenswelt Aufschlussreiches zu entnehmen ist. Marquard
hat in seiner grundlegenden „Kompensationstheorie“ das „Mängelwesen“ Mensch
69
Zur „Angstgesellschaft“ z. B. Schwind 2003; vgl. Haverkamp & Arnold 2015, 2 ff.
m.w.H.
70
Ein entsprechender Gegenbegriff für den Zustand von Unsicherheit, komplementär zu
Sicherheit, wäre Vertrauen; vgl. als Teilaspekt des Anomia-Konstrukts Arnold 1984.
71
Schon Kunz 2004, 227: „[…] das Bedrohungsempfinden [löst] ein ungestilltes Sicher-
heitsbedürfnis aus […]“.
72
Kunz (2013, 32) skeptisch weiter: „Unsere heutige Gesellschaft weist nämlich nicht nur
partielle Sicherheitsdefizite – […] – auf, sondern ist durch strukturelle Sicherheitsmängel
gekennzeichnet. Diese Mängel sind Begleiterscheinungen des Modernisierungsprozesses und
damit im Prinzip unbehebbar“.
248 Harald Arnold
(Gehlen) in seinem Verhältnis zur modernen Welt als einen um Ergänzung, Aus-
gleich und Balance bemühten „Homo compensator“ konzipiert und ein „Gesetz
der zunehmenden Penetranz der Reste“ formuliert, nachdem ein „kulturdynamischer
Erhaltungssatz des Negativitätsbedarfs“ wirksam ist:
„Je mehr Negatives aus der Wirklichkeit verschwindet, desto ärgerlicher wird – gerade weil
es sich vermindert – das Negative, das übrig bleibt. […] Knapper werdende Übel werden
negativ kostbarer, sie werden immer plagender, und Restübel werden schier unerträglich“
(Marquard 2000, 37).
Auf dem Hintergrund der immer mal wieder in Zusammenhang mit Sicherheits-
bedürfnissen thematisierten „German Angst“73 als einer besonderen deutschen Be-
findlichkeit, einer nationalen Spezifik, böte sich ergänzend eine vergleichend-inter-
kulturelle Betrachtung an, so etwa nach dem Ansatz von Hofstede, der in seinem Sys-
tem der Dimension „Unsicherheitsvermeidung“ Beachtung schenkt, anhand der be-
schrieben wird, wie stark – kulturell bedingt – in einer Gesellschaft unstrukturierte,
uneindeutige bzw. ambivalente Situationen als bedrohlich erlebt und Versuche unter-
nommen werden, diese zu reduzieren und zu vermeiden (Hofstede et al. 2010,
187 ff.).
Ohne die oben aufgeworfene Frage hier weiter zu beantworten zu versuchen, sei
einer weiteren Beobachtung, konkret einer periodisch anzutreffenden „offiziellen“
Feststellung, nachgegangen. So werden in Zusammenhang mit der Veröffentlichung
der jährlichen Polizeilichen Kriminalstatistik oder bei ähnlichen Anlässen Aussagen
über die (objektive) Sicherheitslage im Land getroffen, die eine Einordnung von Re-
sultaten hinsichtlich des erwünschten Zustands als „sicher“ bzw. „unsicher“ zulassen
(sollen). Als Beispiel sei eine solche Einschätzung des BKA-Präsidenten Münch (im
Vorwort zum DVS 2017) zitiert: „Deutschland ist ein sicheres Land. Dies gilt sowohl
für die tatsächliche Kriminalitätsbelastung als auch für die gefühlte Sicherheit“
(Münch 2019, 4).74 Bedeutet dies: genug Sicherheit?75 Und ab wann nicht mehr?
Welche Werteskala, welches Beurteilungskriterium verbirgt sich dahinter? Etwa
eine kriminalpolitische Heuristik, die durch das jeweils gegenwärtige gesellschafts-
politische Klima geeicht und (neu/nach)justiert wird? Zum Beispiel durch (interna-
73
Vgl. Biess 2019, 415 ff.; Feltes 2019.
74
Vgl. dazu Birkel et al. (2019, 97) weniger bestimmt: „ein recht sicheres Land“.
75
An der zitierten Stelle heißt es zielbestimmend weiter: „[…] für die größtmögliche
Sicherheit in unserer offenen Gesellschaft“, s. Münch 2019, 4. Aber diese Aussage verschiebt
das Problem nur: Wie bestimmt man „größtmögliche Sicherheit“?
Un-/Sicherheit: Äußere Realität und innere Welt 249
dung und die Wahrnehmung von äußeren Ereignissen als Risiken und Gefahren ihren
Ursprung im Inneren hat.
Der humanistische Sozialpsychologe und Psychoanalytiker Erich Fromm hat be-
reits 1955, was den Anspruch auf Sicherheit des modernen Menschen betrifft, fest-
gestellt:
„Wie kann ein empfindender und lebendiger Mensch sich auch je sicher fühlen? […] Die
psychische Aufgabe, der man sich stellen kann und muss, ist nicht, sich sicher zu fühlen,
sondern zu lernen, die Unsicherheit ohne Panik und unangebrachte Angst zu ertragen“
(Fromm 1974, 176).78
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II. Kriminologie und Kriminalpolitik –
Criminology and Crime Policy
Putting a ‘New’ Label on an Old Bottle of Wine
A Call for Global Criminology
By John A. Winterdyk
Preamble
I had the pleasure of meeting Professor Albrecht for the first time in the early
1990s while conducting an accredited Criminology Study Tour in Europe with
some of my students from Mount Royal University. Although I was then a relative
neophyte to criminology, having just completed my Ph.D. defence, the reputation of
the Max Planck Institute (MPI) in Freiburg was already somewhat known to me.
However, I was unfamiliar with Professor Albrecht and his work.
During the Study Tour visit, Hans-Jörg Albrecht was kind enough to attend my
guest lecture at the institute. He had not yet become Director of the Department
of Criminology but based on our exchange and the questions he raised; it was abun-
dantly clear to me he was an ‘up and coming star.’ I remember thinking he was some-
one I would like to stay in contact with.
As good fortune would have it, we were able to keep in touch and collaborate on
several projects – despite his rapid and impressive rise to academic ‘stardom.’ Over
the years, we have had many wonderful exchanges, and with each transaction, my
knowledge and respect have only grown. Over the years, I was also fortunate to
have been awarded several visiting positions at the MPI. While there, I was able
to meet with Hans-Jörg Albrecht and get to know a host of the other exceptional
scholars. Such intellectually rich and stimulating opportunities make the MPI a de-
sired destination for aspiring academicians and established scholars alike. In my
humble estimation, it is one of the premier scholarly institutes globally, and its
two Directors have largely informed its reputation – one being Hans-Jörg Albrecht,
who served as the Director of the criminology department from 1997 until 2019.
Since it is beyond the scope and purpose of this chapter entry to provide an account
of Hans-Jörg Albrecht’s considerable contributions to criminology, the following ar-
ticle offers my reflections on some of his visionary ideas.
262 John A. Winterdyk
1. Introduction
For me, one of Hans-Jörg Albrecht’s most admirable attributes is his vast knowl-
edge about criminological and criminal justice issues within an international global
context. Without presuming to detract, undermine, or challenge his experience or in-
sights, I would like to share some critical observations on the development of crim-
inology that have been informed (directly and indirectly) and nurtured over the years
by our various exchanges.
As the founder of Canadian criminology in Montreal in 1960, Denis Szabo (1929 –
2018),1 once observed, the discipline and study of criminology are not only compa-
ratively young, but criminology itself is also a ‘new profession.’ Szabo further noted
that the then-young field of study would need to demonstrate its scientific rigour for
the discipline to be accepted within the social sciences. Szabo argued that criminol-
ogy is sufficiently distinct from the more established disciplines (e. g., sociology,
psychology, and law), including courses on crime and criminality in their curricu-
lums.
In 1918, the mostly US-based sociologist Maurice Parmelee (1882 – 1969) pub-
lished the first English-language textbook on criminology – aptly titled Criminology.
Parmelee noted that criminology is “a hybrid science,” and hence, “many scientific
methods can be applied in criminological research” (p. 4). Arguably, Parmelee’s
book was ‘before its time’ because the textbook did not receive the same acclaim
as Edwin Sutherland’s (1883 – 1950) book, also titled Criminology, published a
few years later in 1924. The textbook was rewritten and re-released in 1934 under
the title Principles of Criminology. Despite its popularity, Sutherland’s definition
of criminology was much narrower and restrictive than Parmelee’s. Of the eleven
ensuing editions, the last seven were co-authored by the U.S. penologist and sociol-
ogist Donald R. Cressey. They defined criminology as “the body of knowledge re-
garding crime as a social phenomenon” (Sutherland & Cressey 1955, 3).
Sutherland is widely acknowledged as the “father of American criminology,”
while Cressey (1919 – 1987) is considered the founder of the modern study of organ-
ized crime. His book Theft of the Nation: The Structure and Operations of Organized
Crime in America, published in 1969, remains the most widely cited and perhaps also
the most controversial scholarly book on organized crime.
However, despite all the acclaim of Sutherland and Cressey’s work, the term crim-
inology was coined in 1885 as criminologia by the Italian law professor Raffaele
Garofalo (1851 – 1934), himself a former student of Cesare Lombroso (1835 –
1909). Meanwhile, in 1887, the French anthropologist Paul Topinard (1830 –
1911) first used the term in French – criminologie (Schafer 1976). Over time, several
different schools of thought endeavored to explain, understand, and predict crime and
inform criminal justice policy. The two primary schools were the Classical School
1
For an overview of Szabo’s career and contribution to Canadian criminology, see Win-
terdyk 2017.
Putting a ‘New’ Label on an Old Bottle of Wine 263
(generally associated with Cesare Beccaria) and the Positivist School (commonly
associated with Cesare Lombroso) (see Winterdyk 2020).
Within Germany, the history and evolution of criminology are equally as diverse.
Landecker (1941) provides a thorough account of the development of criminology in
Germany. Tracing its long and enduring influence within a legal context, Landecker
details how such eminent German philosophers as Immanuel Kant (1724 – 1804) and
Georg W.F. Hegel (1770 – 1831), among others, helped forge the purpose and mean-
ing of punishment (i. e., imposed by an authority such as the state, involving some
loss of freedom by the offender, considered a rational response to anti-social behav-
iour/crime and the notion of accountability). Meanwhile, Landecker also points out
that from a psychological perspective, German-speaking scholars such as Sigmund
Freud, Ernst Kretchmer, and Alfred Adler all helped to inform and forge the German
identity of criminology. Arguably, German criminology was not only eclectic but
both multi-disciplinary and interdisciplinary in its evolution.
Nonetheless, the German sociologist Franz Exner (rightly or wrongly) introduced
the American sociological perspectives unfolding circa 1920 – 30s to German schol-
ars (Landecker 1941). However, as the former Indiana University School of law pro-
fessor Jerome Hall (1947) once pointed out, “criminology is synonymous with the
‘sociology of criminal law’ […] as its meaning is given by ‘the rules of law’” (p. 559).
A review of these early works on criminology reflects the venerated Canadian
criminologist and founder of the School of Criminology at Simon Fraser University
in British Columbia (and a former guest of the MPI) Ezzat Fattah once noted: that
crime is both relative and evolutive (see Winterdyk 2017). These principles are
due, in large part, to the fact that the concept of crime is a social construct. As Fattah
and others have made profoundly clear, what constitutes a crime is subject to soci-
ety’s prevailing norms and values. For example, during my formative years, marijua-
na was illegal, and the punishment for possession, let alone trafficking, was severe.
The prohibition of marijuana in Canada originated in 1908 with the Opium Act, an act
partially motivated by racist attitudes towards Chinese immigrants associated with
opium use (Fearon 2016). Regardless, after almost a century of controversy as to
whether criminalizing it was socially, morally, or ethically right, Canada became
the second nation to decriminalize cannabis in October of 2018, following Uruguay’s
lead had legalized the sale and consumption of marijuana in December 2013.2
2
It is perhaps ironic to note that as early as 1973, the LeDain Commission published a
report “on the non-medical use of drugs and recommended decriminalizing cultivation and
possession of marijuana for personal use. Instead, what followed was nearly thirty years of
prohibition” (Fearon 2016). Part of the Final Report of the Commission of Inquiry into the
non-medical use of drugs (Gerald LeDain) is available at https://archive.org/details/Le
DainCommissionIntroTofCToPg62 [23. 12. 2019].
264 John A. Winterdyk
by offering a comparative lens to the full range of topics covered. Meanwhile, another
comparative textbook by Brunon Holyst, published in 1982, never received much at-
tention or acclaim; yet, it represented another early foray into situating the subject of
comparative criminology within the sphere of criminological inquiry. Finally, a
somewhat nuanced comparative approach is found in an edited collection, Compa-
rative Criminology in Asia, by Liu, Travers & Chang (2017). The book has thirteen
chapters over four main sections and begins with a fundamental question: “Why
compare?”. While considered substantial contributions to the criminological litera-
ture, none of these works have received much of a following among the criminolog-
ical or criminal justice academic community.
Even though all these comparative-oriented textbooks have considerable merit
and are noteworthy contributions to the field, apart from Nelken’s book, they tend
to align themselves along conventional lines and are mainly descriptive. Further-
more, when they do provide discussion around crime rates, patterns and trends,
they (almost by necessity) rely on official data, which raises questions-concerns
about reliability and validity for comparative assessment(s) (see Nelken 2010). More-
over, several of the books tend to be American centric, hence limiting or skewing the
implications of some of the comparisons made (see, generally, Carrington, Hogg &
Sozzo 2019). However, according to Field & Nelken (2007), comparative study’s very
essence is to avoid provincialism and ‘self-sealing cultural logics.’ Yet, as James
Robertson, a well-recognized American scholar of comparative criminal justice,
wrote in the Foreword to Shahidullah’s 2012 book, “comparative criminal justice
(criminology) initially received an indifferent reception in the United States” (p. ix).
On measure, most of the material identified above can be divided into one of two
categories. First are those books that tend toward a structural and procedural orien-
tation (e. g., Pakes 2015 and Reichel 2018) with the authors presenting a comparative
overview of the justice system by reviewing how police, courts, and the correctional
system might operate differently across countries. Using illustrative examples, the
authors describe how the various criminal justice systems operate in their respective
countries. Meanwhile, some of the books in the other category approach the compa-
rative analysis differently, applying a ‘template’ to a series of different countries and
describing their criminal justice system elements (e. g., Terrill 2015 and Rounds
1999). Although none of these books offer analytical comparisons, they provide a
rich overview and insight into the respective countries’ criminal justice system.
The lack of any reflective comparative analysis therein may be somewhat justified
if one accepts the arguments put forward by Casey, Jenkins & Dammer (2018) in the
second edition of their book, Policing the world: The practice of international and
transnational policing. Casey et al. suggest that given the challenges of engaging in
comparisons (e. g., language barriers, different reporting and recording methods and
styles, etc.), correlations can be methodologically significant on several levels. How-
ever, the fact remains that crime is universal – with ‘crime control’ (i. e., crime pre-
vention) being the fundamental objective of any criminal justice system, every coun-
266 John A. Winterdyk
try strives to ensure a sustainable sense of public safety. Additionally, every country
seeks to create a healthier society through crime prevention and social justice sys-
tems. To achieve a sustainable community of security, it is paramount to engage
in research that is not solely evidence-based but – to varying degrees – also based
on intranational comparative perspectives and, at times, even on international com-
parisons.
While we might think that comparative criminal justice and comparative crimi-
nology are relatively new ideas, the celebrated French sociologist Emile Durkheim
(1858 – 1917)8 wrote in 1895 that comparative sociology is not only not a branch
of sociology, it is sociology itself! Durkheim reasoned there is no comparative meth-
od per se since any research method can be used to engage in comparisons of any
issue – including those about crime or criminal justice. Similarly, given the influence
of sociology on criminology (e. g., the “Chicago School of Criminology,” which used
the macro-sociological theory of social organization to explain and understand
crime, see Fine 1995) and criminal justice, parallels can be drawn. Yet, criminology
was slow to emerge as a recognized discipline9 exactly because it was not seen to be
part of a sociology program or a law school program; it may have been accounted for
in a few specific classes in a psychology program.
Still, the concept of criminology, let alone comparative perspective criminology,
was nevertheless heavily influenced and informed by some of the pioneers of crim-
inological inquiry. For example, while Franz von Liszt (1851 – 1919) is widely ac-
knowledged as one of Germany’s leading legal and criminological scholars, it was
the preponderance of his work on criminal law that influenced the direction and per-
spective that has dominated most ‘criminology’-oriented programs in Germany. On
this point, Liszt’s Textbook of German Criminal Law reached the lofty status of twen-
ty editions by 1919! Very few criminology or criminal justice textbooks can lay claim
to such longevity.10
My descriptive overview illustrates that while we know, the meaning and focus of
criminal justice and criminology have evolved, its purpose and context are somewhat
relative to geographical location and disciplinary orientation(s). Therefore, it should
8
Durkheim is widely acknowledged as the founder of the French school of sociology.
However, his counterpart, the French philosopher Auguste Comte (1798 – 1857), is credited as
the founder of sociology and of positivism (i. e., knowledge is based on observable and mea-
surable ‘facts’).
9
For example, Canada’s first criminology program was established in 1970 at the Uni-
versité de Montréal in Québec, Canada. Washington State University in Pullman, Washington,
is often acknowledged as being the oldest criminal justice department in the United States.
The department was established in 1943 by V.A. Leonard and was named the Department of
Police Science. Then in 1982 and 2011, respectively, it became the Department of Criminal
Justice, and in 2011, the Department of Criminal Justice and Criminology (Washington State
University 2019).
10
For example, Jeffrey Reiman and Paul Leighton’s semi-classic book The rich get richer,
and the poor get prison ‘only’ went into its 11th edition in 2016. Meanwhile, Sue Titus Reid’s
almost iconic introductory textbook Crime and Criminology went into its 15th edition in 2018.
Putting a ‘New’ Label on an Old Bottle of Wine 267
come as no surprise that the terminology used has been and continues to remain in-
consistent. However, academicians are increasingly recognizing that the terminology
used to reflect the rapid changes happening within respective fields might not be
keeping pace with the growing complexity and nuances of globalization.
Before I venture into a call for global criminology to become part of mainstream
criminological inquiry, I will use this opportunity to enliven my proposition briefly
by commenting on another ideological perspective that has potentially limited any
wholehearted movement towards an embrace of global criminology as a viable alter-
native for describing the evolving nature of the criminological inquiry. I am referring
specifically to a confluence of the terms interdisciplinary criminology, multi-disci-
plinary criminology, and the occasional use of transdisciplinary criminology.
12
The ISC held its 19th World Congress in Doha, Qatar, in October 2019 and celebrated the
organization’s 80th anniversary.
Putting a ‘New’ Label on an Old Bottle of Wine 269
military forces; crime control and war; or internal and external security” (p. 1). How-
ever, they go on to point out that an international criminology remains a relevant form
of criminological inquiry even when limited to describing criminological or criminal
justice events and activities (e. g., crime prevention, crime control, and the adminis-
tration of justice, as well as to inform policy), but such topics as “war and economic
abuse of power across borders have been quite forgotten” (p. 2). Hence, with the in-
crease of such global threats, there is a need for a globalization of justice that can be
best addressed by embracing a global criminology framework.
In the latest edition of their book Policing the World, Casey, Jenkins & Dammer
(2018) discuss how policing has dramatically changed, in the eight years following
the first edition (2010) of Policing the World, to have become more concerned and
involved with international and transnational crimes since the first publication of
their book. In their Introduction to this latter, the authors point out that “human in-
stitutions are ever-globalizing” (p. xv). Yet, almost ironically, in their second edition,
the authors point out that the book focuses on “the globalization of policing and not
the globalization of crime” (p. 6). Although the book is international in scope, the
book embraces a comparative framework by highlighting three countries’ policing
systems: Belize, Norway, and Uganda. However, concerning the concept of interna-
tionalism, the book remains mostly descriptive and normative.
Finally, Casey et al. (2018) conclude their Introduction by declaring they have
used “the twin terms of international and transnational purposely to avoid these def-
initional debates” (p. xxii). This is a trend found in several other comparative-inter-
national scholarly works (e. g., Reichel & Albanese 2014), which further reinforce
the observation made several decades earlier by Jerome Hall (1933) about the (un-
intentional) confusion of terminology used to describe criminological research that
transcends a local or national focus.
Just as with the term ‘comparative criminology,’ an abundance of journals use ‘in-
ternational’ in their journal titles, such as, among other, the International Criminal
Justice Review, the Journal of International Criminal Justice, the International Jour-
nal of Law, Crime and Justice, and the International Review of Victimology. Similar-
ly, there is no shortage of textbooks and reference works that include ‘International’
in their titles: Routledge Handbook of International Criminology, International
Criminology: A Critical Introduction, International Crime and Justice, and Rout-
ledge International Handbook of Sexual Homicide Studies, Routledge International
Handbook of Human Trafficking, The Palgrave International Handbook of Human
Trafficking, among a growing list of others.
One can hardly deny the fact that crime has evolved and expanded to become in-
creasingly more transnational and international (see, for example, van Dijk 2008).
Likewise, we have also been witness to the proliferation not only of international
law enforcement agencies (e. g., Europol, Interpol, UNPol, etc.) but also international
judicial bodies (e. g., the ICTY, ICTR, the Special Court for Sierra Leone, the Special
Tribunal for Lebanon, and the ICC, to name but several of the key ones). Finally, sev-
270 John A. Winterdyk
eral specialized international prison facilities, such as the U.S-held military prison at
Cuba’s Guantanamo Bay and a growing number of (illegal) migration detention fa-
cilities around the world.13
Clearly, is not only the discipline of criminology evolving, but also the language
used to describe crime and the different cooperative, collaborative, or joint processes
being employed to address its growing complexity is also changing. As described
above, we have tended to rely on the conventional terms of international and trans-
national when examining crime or criminal justice systems (or sub-components of
the system). However, as has been well documented by most comparative/interna-
tional/transnational scholars, traditional comparisons must also contend with several
other practical challenges, including the following:
• Varying definitions of crime between countries.
• Language barriers. Although an obvious limitation and challenge, it is a real con-
cern when trying to ensure accurate international comparisons. Unless multilin-
gual partnerships are formed or unless the researcher is multilingual, the research
is – by default – limited in scope. In a recent study by Sharapov (2019), his survey
had to be translated into six different languages, and, he has acknowledged in per-
sonal communications that this presented several fundamental methodological
challenges.
• Reliability in the collection and measurement of crime. Not only do the detection
and recording practices of crime vary between countries, but – depending on the
available resources, definitions and ideological barriers, reporting and recording
methods, and administrative variations – comparative studies too can be confront-
ed with practical challenges (see, for example, Marmo & Chazal 2016; Nelken
2010).
• Expert fallibility. When engaging in criminological or criminal justice research
outside of one’s own country, you often must contend with the varying quality
of work and research reliability by foreign scholars. As the distinguished British
scholar David Farrington (2004) once warned, “for those who are contemplating
comparative cross-national studies […] choose your collaborators carefully”
(p. 102).
• The general limitation of the methodology itself. Although scholars like Richard
Bennett (2004) have developed several types of international and comparative re-
search methodologies in use, there are no standardized methods in the existing lit-
erature, thereby limiting each one’s findings’ reliability and generalizability.
Finally, in examining the controversy and confusion surrounding the terminology
used to describe non-traditional criminological inquiry, Bayley (1996) argued that
comparative criminology is a misnomer because the term comparative “has been
made synonymous in academic circles with ‘foreign’” (p. 241). Meanwhile, Friday
13
See https://www.globaldetentionproject.org [23. 12. 2019].
Putting a ‘New’ Label on an Old Bottle of Wine 271
(1996) proposed that the term comparative could carry a pejorative connotation and
value judgement, as reflected above in the discussion of some of the leading compa-
rative textbooks. Consequently, both Bayley and Friday preferred to use the word in-
ternational, which arguably implies that if one finds a difference at the international
level, then there is a difference! An interesting ‘compromise’ to the relative merit of
using the term ‘international’ or ‘comparative’ was given by the title of the now-de-
funct journal, International Journal of Comparative Criminology.
In the next section, we will shift the focus to globalization and crime. Besides,
although not without its limitations, it will be suggested that in addition to a need
to refine the terminology we use in criminology, there is a clear justification for ‘glob-
al criminology’ to become part of the criminological lexicon.
Given the social and cultural changes that have been attributed to the effects of glob-
alization, there is a need for a refined interpretation of the term so that it can become a
mainstay perspective by which to examine global and transnational crime.
The call for a global criminology perspective is not new. In the late 1960s, the re-
nowned American scholar Leonard Joseph Hippchen (1978) suggested we adopt the
term “world criminology” to capture the growing spirit of interest in comparative
criminology. Hippchen indicated that the nuanced social and political influences,
as well as the impact of globalization, behooved criminology and criminal justice
to “discover and develop new approaches of inquiry” (p. 95). Although a subjective
assessment, it is unfortunate that the terminology was never widely embraced. How-
ever, around the same time, the term ‘comparative criminal justice’ started to gain
more traction with the emergence of several international and comparative journals
(see above). Given the relative newness of criminology as an independent discipline
and our understanding of the complexity of crime and criminal justice systems, the
notion of a world criminology was arguably constrained by American viewpoints and
American scholars profoundly influenced most of the existing literature and theories
of crime. An observation by the esteemed American scholar Piers Beirne would ap-
pear to support this assertion. In the Foreword to a book edited by Larsen & Sman-
dych (2007), Beirne commented on the need for a global criminology outlook and
pointed out that the way comparative research was being conducted could be char-
acterized as America “trying to sell their findings” and promote their ideas (p. ix).
However, with the passage of time and a growing body of discourse and research
around the evolving nature of crime (e. g., conventional, non-conventional, transna-
tional, and global), global criminology has the potential to offer a transnational ex-
amination of both deviance and social control around the world (Jenks & Fuller
2017). Borrowing from the ideas of the American physicist and philosopher Thomas
Kuhn (1962), the discipline is clearly ready, if not overdue, for a ‘paradigm shift.’
As already discussed, the evolving nature of crime has fostered the emergence and
recognition of what is sometimes referred to as ‘global crime’. The term global crime
appears to have evolved from the broader term ‘transnational organized crimes’ (see
Nelken 2010). The terminology originated in the mid-1970s when the United Nations
used the term to identify certain criminal activities that transcend national jurisdic-
tions (Peace Palace Library 2019). Then in 1995, the UN recognized 18 different
types of transnational crime and, independently of the UN initiatives, established
the journal Transnational organized crime, which kept its name from 1995 until
2004 when it was changed to Global Crime. The journal publishes four issues per
year, but each issue tends to have fewer than five articles and has an impact ranking
of 1.18 in 2018.
Putting a ‘New’ Label on an Old Bottle of Wine 273
As Jenks & Fuller (2017) point out, the concept of global crime recognizes that
crime is varied in its expression and that its various manifestations (i. e., extent and
nature) are influenced by geography, political systems, different levels of economic
development, as well as climate and culture among other factors. Because of the
myriad of variables, Jenks & Fuller suggest it may be “difficult to compare across
borders” (p. xvii). Similarly, Jaishankar & Ronel (2013) note that global crime is
“an emerging field covering international and transnational crimes that have not tra-
ditionally been the focus of mainstream criminology or criminal justice” (p. xvi).
Such crimes have also been referred to as ‘non-conventional’ crimes since they typify
crimes that had either not yet been recognized or did not exist at some point in history.
Such crimes include, among others, cybercrime and terrorism. However, Giddens
(1990), among other scholars in the early 1990s, began to discuss how ‘globalization’
(i. e., referring to the growing interconnectedness of social life and social relation-
ships throughout the world) helped to draw attention to the fact that the increasing
interdependence of countries, cultures, and societies created a fertile ground for
what is now commonly referred to as ‘global crime.’ In the late 1990s, Castells
(1998) identified four primary forms of global crime. They included:
1. the drugs trade,
2. people trafficking,
3. cybercrimes,
4. international terrorism.
However, as we try to grapple with the ever-expanding nature and diversity of
crime (see van Dijk 2008; Jenks & Fuller 2017; Reichel & Albanese 2014), we
have increasingly recognized that although most criminal justice systems still
focus on conventional-type crimes, the growing awareness and significance that
transnational-global crime has on global economy, politics, and public safety has
rightfully garnered both national and international attention. For example, illegal
drug trade and people trafficking are among the top three most profitable crimes
in the world. Meanwhile, cybercrime is rapidly (see Grabosky 2016) growing as
well and given the power of technology is increasingly becoming a means by
which many other types of crime are being committed, such as identity theft,
fraud, recruitment of people for radicalization or trafficking, smuggling, trafficking
in counterfeit goods, and transnational environmental crimes.
While criminology and criminal justice scholars are increasingly embracing com-
parative criminology as a subject area worthy of research and instruction, ironically,
most graduate and undergraduate criminology programs only offer these courses as
electives – if they even offer such courses – as opposed to being required courses.
Furthermore, comparatively few schools specialize in comparative criminology or
comparative criminal justice programs, one of the oldest such programs being the
International Centre for Comparative Criminology (ICCC) at the Université de Mon-
tréal in Québec, Canada. Meanwhile, Bangor University in northern Wales offers an
274 John A. Winterdyk
Jan van Dijk (2008) suggests that global criminology and criminal justice “is not only
a priority for developmental reasons. Of course, it is also dictated by the increasingly
global nature of conventional and emerging security threats” (p. 318). With the world
at risk of victimization by the growing prevalence of transnational crime, these
threats need to be addressed not by the conventional means we have relied on for
centuries, but by embracing a global perspective. For example, the ‘rule of law’ is
commonly said to be the cornerstone for any civilized and safe state. However,
with the spread of globalization and the blurring of borders, it raises serious concern
about our capacity to ensure the conventional rule of law’s ability to address global
crime.
Nonetheless, global criminology is an approach that allows us to examine the fun-
damental contradictions between globalization and national sovereignty (Jenks &
Fuller 2017). In doing so, it creates international and transnational criminal justice
processes (see Warren & Palmer 2015). Furthermore, as Mannheim (1965) pointed
out, being a non-legal discipline, criminology warrants a global approach while the
study of criminal law is still largely “parochial in its outlook” (p. 21).
6. Conclusion
In this chapter, I have attempted to justify the need for criminologists to recognize
global criminology as an essential perspective within the discipline. As an emerging
field of inquiry, global criminology remains on the fringe of most criminology and
criminal justice programs. I advocated that the concept of crime and the social con-
text in which crime currently expresses itself has transcended the more conventional
approaches of comparative and international criminology. Not that these perspectives
do not still have value, because they do have a dynamic role to play. However, given
the impact of globalization and the rapid growth and diversification of international
and transnational crime, a new ‘paradigm’ should play a more significant role in the
criminological inquiry. Hence, global criminology can no longer be a fringe sub-cat-
egory or be a “luxury for those who have achieved sufficient status to enable them to
travel or as a perk […] for some other activity” (Adler 2011, xxix).
Hence, a call for greater recognition of global criminology was framed within the
context that most formal/conventional initiatives for dealing with international and
transnational crime involve attempts to forge co-operation between established sov-
ereign justice institutions in different nations. Furthermore, the prosecution of for-
eign nationals16 reveals the human impacts of this complex and legally technical
structure. As Jones (2016), among others, points out, these prosecutions expose
those accused to unaccustomed police investigative procedures, legal processes
16
For further details about the relative impact of the International Criminal Court (ICC) see
the Journal of International Criminal Justice; https://academic.oup.com/jicj/pages/special_is
sues [23. 12. 2019]. For a controversial assessment of the ICC, see Jones 2016.
276 John A. Winterdyk
and possibly unfair punitive forms of punishment. Therefore, since global criminol-
ogy discusses the relationship between the ICC and domestic justice in dealing with
dire types of atrocity crimes, it is a more pragmatic and logistical perspective by
which to explain, describe, understand, and ultimately inform relevant policy.
Finally, the debate of whether global criminology can, or will, become a mainstay
perspective in criminology remains to be seen. Part of the challenge will be to oper-
ationalize the different modes of inquiry that currently populate the discipline. It is
essential to be more precise in what we mean by international, comparative, trans-
formative criminology and understand how they are not as comprehensive in their
approach as global criminology. They are less adept at accounting for the effects
of globalization on crime. Global criminology has the potential to not only under-
stand and explain global and transnational crimes, but to ultimately inform effective
policy that will reduce crime – be it local, regional, national, or transnational. To this
point, reputable scholars such as John Muncie (2005) have called for the globaliza-
tion of crime control, while other well-recognized scholars such as Adler, Mueller,
Laufer & Grekel (2008) have also encouraged us to be more globally-minded.
In closing, I would like to paraphrase the esteemed American criminologist and
founding ‘father’ of CPTED (crime prevention through environmental design), Clar-
ence Ray Jeffery (1921 – 2007): the Classical School said, “reform the law” while the
Positivist School said, “reform the man.” Global criminology might say, “reform the
global community.”
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278 John A. Winterdyk
„Sie kennen Frankreich. Wir haben unsere strengen Gesetze – und wir haben unsere Praxis.“
Dupin konnte nicht sagen, ob da Kritik oder Stolz anklang.
Jean-Louis Bannelec, Bretonische Brandung. Kommissar Dupins zweiter Fall. Goldmann,
München. 7. Auflage 2014, 196.
1.
Die Kluft zwischen dem Law on the books und dem Law in action bestätigt die
Einsicht, dass Gesetzesvollzug nicht im Ablauf eines vom Gesetz vollständig vorge-
gebenen Programms besteht, sondern eine vom Gesetz nicht determinierte Eigenleis-
tung der oder des Rechtsanwendenden enthält. Die Rechtsanwendung ist vom Gesetz
unvollständig programmiert. Das Gesetz gleicht dem Kochbuch, welches die Zube-
reitung anleitet, ohne sie vorwegzunehmen. Die nach der Vorlage gekochte Mahlzeit
kann verschieden ausfallen, die Vorlage verfehlen oder gar völlig konterkarieren. Der
Autor des Kochbuchs kann nur mit Varianzen rechnen, ohne sie prognostizieren zu
können. Insofern ist die konkrete Anwendungswirklichkeit eines Gesetzes dem Ge-
setzgeber stets ex ante unbekannt.
Dies gilt nicht nur für Gesetze. Die Differenz normativer Absichten und deren tat-
sächlicher Wirkung wird gewöhnlich dem Problem der unbeabsichtigten Folgen zu-
geordnet. Diese gelten als unerwartet, gewöhnlich als erfahrungswidrig und uner-
wünscht. Sie zu vermeiden, erscheint als naheliegend. Nicht nur die vom Gesetz
nicht vollständig zu determinierende gesetzliche Anwendungswirklichkeit lässt
diese Beurteilung fragwürdig erscheinen. Zweifel an der Vermutung der Unliebsam-
keit unbeabsichtigter Folgen ergeben sich bereits aus der Faszination von Stummfil-
men, die ihre Komik großteils aus perversen Effekten beziehen. Buster Keaton, der
Mann, der niemals lachte, soll im Film Der Sträfling (1924) gehängt werden. Der
Galgenstrick wird jedoch zuvor mit einem elastischen Gummiseil ausgetauscht.
Als Buster mit der Schlinge um den Hals durch die Falltür des Galgens fällt, schwingt
er gut ein dutzend Mal wie ein Jo-Jo rauf und runter. Der verblüffte Wärter wendet
sich mit der Bitte um Entschuldigung an die verärgerten Häftlinge und verspricht:
„Um das wiedergutzumachen, hängen wir morgen zwei von euch.“
280 Karl-Ludwig Kunz
2.
Kriminalpolitik ist – ihrer Herkunft aus der Aufklärung entsprechend – planvoll
und zweckrational. Ihr entspricht das utilitaristische Denken des Konsequentialis-
mus, welches das Strafrecht am Credo ausrichtet, es sei besser, Verbrechen zu ver-
hüten, als sie zu bestrafen.4 Damit wird das Strafrecht über sich hinausweisend dem
gesellschaftspolitischen Anliegen der Prävention als kriminell geltender sozialer Ab-
weichungen unterstellt. Diesen Gedanken aufgreifend und durch Anforderungen an
die – von der gesetzlichen Bestimmtheit abhängig gemachte – Vorhersehbarkeit von
Strafe5 relativierend, macht sich das Marburger Programm Franz von Liszts (1882)
mit der Konzeption des Zweckstrafrechts die umfassende tat- und täterbezogene,
1
Merton 1936. Kriminologisch werden unbeabsichtigte Folgen etwa analysiert in Ko-
vandzic, Sloan & Vieraitis 2002.
2
Merton 1936, 895.
3
Homann & Suchanek 2000, 36 f.
4
Beccaria 1966, orig. 1764, 74, 148 f.
5
Das Strafrecht als „Magna Charta des Verbrechers“, von Liszt 1905, Bd. I, 126 f., Bd. II,
80.
Über unbeabsichtigte Folgen des Strafrechts und der Strafverfolgung 281
3.
Dem Versuch, unbeabsichtigte Folgen auszumerzen, entspricht der Traum von ab-
soluter Kontrolle und totaler Macht. Auf dem Weg dorthin werden vom Panoptismus9
6
So bezeichnet ein ehemaliger Schweizer Bundesrichter die strafrechtliche Drogenbe-
kämpfung als „kriminogen“, vgl. Schubarth 1992.
7
Kury, Brandenstein & Yoshida 2009.
8
Albrecht, Dünkel & Spiess 1981.
9
Foucault 1976, 260.
282 Karl-Ludwig Kunz
des perfekten Gefängnisses Jeremy Benthams10 über George Orwell und Aldous Hux-
ley11 bis zu digitalen Techniken der Videoüberwachung und der Gesichtserkennung
damit totalitäre Vorstellungen verbunden. Hingegen ist das Rechnen mit unbeabsich-
tigten Konsequenzen Ausdruck der menschlichen Unvollkommenheit und Fehler-
haftigkeit. Es warnt vor Vorstellungen absoluter Perfektion und vollständiger Kon-
trolle.
Der Blick auf unbeabsichtigte Folgen zeigt mitunter ein moralisches Dilemma auf
und fördert dadurch die Suche nach ethisch guten Auswegen. So gibt die Seenotret-
tung von Bootsmigranten im Mittelmeer die Fehlanreize, bei Migrationswilligen die
Nachfrage nach Überfahrten zu erhöhen und Schlepper zum Einsatz billiger kaum
seetüchtiger Boote zu verleiten. Die Seenotrettung gleichwohl beizubehalten bedeu-
tet, kurzfristig mehr Menschen zu retten, längerfristig aber mehr ertrinken zu lassen,
weil die Zahl der Migranten steigt und schlechtere Boote eingesetzt werden. Die Ret-
tung abzuschaffen bedeutet, kurzfristig mehr Opfer in Kauf zu nehmen, weil länger-
fristig weniger Menschen ertrinken.12 Diesem Dilemma zu entfliehen verlangt vor
allem, durch Bekämpfung der Migrationsursachen in den Herkunftsländern den An-
reiz für illegale Überfahrten zu senken. Die tragische Situation, dass die möglichen
Handlungsalternativen jeweils unbeabsichtigt zu vermeidende Effekte auslösen,
lässt sich nur auf einer höheren Handlungsebene durch Vermeidung der zur Wahlent-
scheidung zwingenden tragischen Situation lösen: Kluge Prävention lässt es nicht zu
dieser Tragik kommen.
Der negative Beiklang unbeabsichtigter Folgen von Strafgesetzen findet sich in
der Deutung ihres bruchstückhaften Vollzugs als „Vollzugsdefizit“ namentlich im
Umweltstrafrecht. Diese Kennzeichnung richtet Reformbemühungen allein auf die
Optimierung der Durchsetzung von Strafnormen. Hingegen sollte eine Reform kei-
neswegs allein solche Defizite ausmerzen, sondern müsste alternativ verwaltungs-
und privatrechtliche Möglichkeiten eines Umweltschutzes neben oder sogar anstatt
Strafrecht in Erwägung ziehen.13
Freilich hat die Toleranz unbeabsichtigter Folgen, die häufig ohnehin unvermeid-
lich sind, Grenzen. Folgen sind Effekte der Verwirklichung von Zielvorgaben, die
final gesetzt sind und erreicht werden wollen. Auch wenn die angepeilten Ziele
nicht stets präzise zu erreichen sind, sondern bei ihrer Verfolgung mit veränderten
Randbedingungen und damit mit Zielabweichungen zu rechnen ist, müssen den zu-
lässigen Abweichungen Grenzen gesetzt werden. Die soziale Steuerungsfunktion des
Gesetzes verlangt, die Bandbreite des Tolerierbaren möglichst präzise einzugrenzen.
Diese Eingrenzung kann aber nur normativ durch das Gesetz erfolgen, also ihre tat-
10
Das Panoptikum 2013.
11
Orwell 1976; Huxley 2007.
12
https://www.nzz.ch/international/die-nicht-beabsichtigten-folgen-der-seenotrettung-von-
migranten-ld.1526539?mktcid=nled&mktcval=102&kid=_2019-12-16; alle Links abgerufen
am 12. 08. 2019.
13
Heine & Meinberg 1988; Meinberg & Link 1985.
Über unbeabsichtigte Folgen des Strafrechts und der Strafverfolgung 283
14
Zusammenfassend Hörnle 2017.
15
Oswald, Ort & Hupfeld 2003.
16
Etwa Merle 2007, 4.
284 Karl-Ludwig Kunz
4.
Unbeabsichtigte Folgen multiplizieren sich, wenn mehrere nicht völlig zu harmo-
nisierende Zielvorgaben miteinander in Konkurrenz stehen oder unrealistische Ziele
erstrebt werden. Beides ist beim Strafrecht der Fall, das Zielambivalenzen und Über-
schätzungen seiner Kontrollmacht aufweist. Strafrecht wird als ubiquitär und sozial
nützlich gedacht und soll zugleich umsichtig so wenig wie nötig vollzogen werden.
Die Anliegen der rechtsstaatlichen Bestimmtheit der Strafzone, der schützenden For-
men des Strafprozesses und der vorauseilenden Flexibilität der Verbrechensbekämp-
fung sind nicht restlos in Einklang zu bringen. Die Strafverfolgung ist zwangsläufig
selektiv, muss aber Grundwerte der Gleichbehandlung und sozialen Kompensation
beachten. Die Präventivwirkung der Voraussehbarkeit von Strafandrohung und -ver-
folgung steht mit der Präventivwirkung des Nichtwissens17 in Widerspruch.
Die Agenturen der Strafverfolgung stehen betriebswirtschaftlich im Dilemma
zwischen Ertrag und Ertragsdokumentation. Angenommen, Strafverfolger seien
sämtlich moralisch integer und gingen ihrer Arbeit uneigennützig nach. Als die Bü-
rokratie auch in die Strafverfolgung einzieht, müssen deren Protagonisten nunmehr
ihre Tätigkeit belegen und als möglichst erfolgreich ausweisen, um weiterhin genü-
gend Personal und finanzielle Mittel für ihre Arbeit zu erhalten. Der Zwang, ihre Tä-
tigkeit als erfolgreich darzustellen, mindert in Wirklichkeit ihre Leistungskraft. Denn
die Zeit für das Dokumentieren von Erledigungen geht für die Bearbeitung von Fäl-
len verloren. Die moralisch integren Strafverfolger bevorzugen es, ihre Arbeit zu leis-
ten anstatt sie zu dokumentieren; sie beachten die bürokratische Dokumentations-
pflicht nur widerwillig und nachlässig. Andere streben nach einem möglichst
hohen Leistungsausweis und sind im Zweifel bereit, um der Darstellung des Geleis-
teten willen auf das optimale Erbringen pflichtgemäßer Leistung zu verzichten.
Da Strafrecht von teilweise widersprüchlichen Zielen geleitet wird und dabei
mehr verheißt als es leisten kann, klafft zwischen seinen Ansprüchen und seiner An-
wendungswirklichkeit eine breite Lücke, die von der Kriminologie empirisch auszu-
loten versucht wird. Die Kriminologie ist als empirische Wirksamkeitsforschung ge-
wohnt, nach dem Eintritt oder dem Ausbleiben gesetzlich intendierter Wirkungen zu
fragen. Diese Forschung ist – wie die empirisch-analytische Sozialforschung insge-
samt – so bedeutend wie begrenzt. Gewöhnlich werden nur Monokausalitäten ge-
prüft; zudem wird von einer starken Kausalität ausgegangen, wonach leichte Varia-
tionen in den Anfangsbedingungen nur leichte Variationen in den Wirkungen auslö-
sen. Aussagen über die kriminalpräventive Wirksamkeit beziehen sich im Wesent-
lichen auf die Spezial-18 und nur wenig auf die Generalprävention19. Die
spezialpräventive Wirksamkeit von Strafen wird mit Rückfallstudien20 geprüft, die
17
Popitz 1968.
18
Grundlegend Albrecht, Dünkel & Spiess 1981.
19
So aber etwa Albrecht 1980; Albrecht 1993.
20
Etwa Jehle, Albrecht, Hohmann-Fricke & Tetal 2013.
Über unbeabsichtigte Folgen des Strafrechts und der Strafverfolgung 285
5.
Ganz allgemein ist unsere Welt rasch wandelbar, hochkomplex, vernetzt und
kaum noch in diesen Eigenschaften erfassbar geworden. Die menschliche Orientie-
rung in einer unübersichtlich gewordenen25 Welt verlangt mehr als wir leisten kön-
nen: Ein problemadäquates Risikokalkül, das im Wissen um das geringe Wissen mit
Neben- und Fernwirkungen in interagierenden Teilsystemen unter Berücksichtigung
der Wert- und Motivbezüge der Beteiligten rechnet.26 Monokausale Erklärungen
haben in einer hochkomplex gewordenen Welt keinen Platz.
Die Empfehlung, mit allem zu rechnen und sich nach sämtlichen Seiten abzusi-
chern, ist in der Sicherheitsgesellschaft27 allgegenwärtig. Auch die Rechtswirklich-
keit verändert sich: Rechtsschutzversicherungen, die vor- und außergerichtliche
Rechtsberatung, die staatliche und kommerzielle elektronische Überwachung und
das Bewachungsgewerbe boomen. Der insbesondere für die Fahrlässigkeit wichtige
Sorgfaltsmaßstab verändert sich zu immer mehr gebotener Sorgfalt. Die Vorausseh-
barkeit von Schadensereignissen ist in potenziell stets schadensgeneigten Situatio-
21
So auch Jehle 2007; Besozzi 1989.
22
https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/jeder-vierte-jugendliche-wird-als-erwach
sener-wieder-kriminell/story/11422587.
23
Kunz 2010.
24
Bourdieu & Passeron 1971, 182 f.
25
Habermas 1985.
26
Dörner 2011.
27
Legnaro 1997; Singelnstein & Stolle 2012.
286 Karl-Ludwig Kunz
nen immens. Ein Risikokalkül ist gefordert, das der Schadensgeneigtheit und zu-
gleich einem potenziellen Handlungsgewinn Rechnung trägt. Die Prognose einer Bi-
lanz von Nutzen und Kosten gerät zu einer kaum vernünftig abzuwägenden Entschei-
dung, bei der dennoch Entscheidungszwang besteht.
Eine Planung des Spektrums der Unvorhersehbarkeit wird erwartet. Zunehmend
bedient man sich dabei elektronischer Hilfsmittel, deren Nicht- oder fehlerhafte Nut-
zung als Organisationsverschulden gewertet werden kann. Der Zwang zur planenden
Antizipation von Entscheidungen engt Entscheidungsspielräume ein. Eine Rechts-
pflicht entfällt, wenn alle erkennbaren Handlungsoptionen und sogar die Untätigkeit
unter Strafe stehen (ultra posse nemo obligatur, § 275 BGB). Die technischen Mög-
lichkeiten des Könnens haben sich deutlich erweitert, so dass der Bereich des Müs-
sens ebenfalls umfassender und intensiver gerät. Pflichtenkollisionen sind auf sich
spontan ergebende unvorhergesehene Situationen gemünzt und wollen nun voraus-
schauend geplant entschieden werden.
Dabei stellt sich das Dilemma der robotischen Moralität. Sollen autonom fahren-
de Fahrzeuge dem mehrheitlichen Kundenwunsch folgend so programmiert werden,
dass sie im Kollisionsfall notfalls Fahrzeuginsassen schützen, auch wenn so Passan-
ten beeinträchtigt werden? Wenn ein Automobilhersteller verschiedene moralische
Algorithmen für Auswahlentscheidungen anbietet, ist der informierte Käufer dann
für die Konsequenzen der Entscheide der gewählten Algorithmen verantwortlich?
Das US-Militär plant, bewaffnete Drohnen zu entwickeln, die autonom Tötungsent-
scheide treffen. Die einzige moralische Vorgabe dafür ist, den Gebrauch der Drohnen
dem Niveau menschlicher Beurteilung anzupassen28, was nur annähernd möglich
sein dürfte. Die weitgehende Ermangelung klarer moralischer und rechtlicher Maß-
stäbe für automatisierte Entscheidungen hindert einstweilen ihre Zulassung. Das
Problem dabei ist nicht, unsere Werte in Automaten einzubauen, sondern unsere Wer-
tewelt so klar und konsistent zu entwickeln, dass ihr folgend zukünftig Entscheide
automatisch getroffen werden können.
Dies ist leichter gesagt als getan: Die Unzumutbarkeit, das eigene Leben auf Kos-
ten eines fremden zu opfern (§ 35 Abs. 1 Satz 1 StGB), gilt nicht für die vorauspla-
nende Programmierung dieser Entscheidung für den Fall ihres Eintritts als Hand-
lungsvorschrift eines selbsttätig ablaufenden Prozesses. Die antizipierte Steuerung
eines selbsttätig ablaufenden Geschehens mit Schadensfolge kann nicht in gleichem
Umfang straflos sein wie die schicksalhaft unvorhergesehene Schadensbewirkung.
Die kühlen Kopfes zu erfolgende Planung lässt keinen Raum für die strafbefreiende
Annahme der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens. Andererseits wäre jedoch
eine Pflicht zur Programmierung solcher Interessenkollisionen zu Lasten eigener In-
teressen unrealistisch: Wer will schon, dass er in einem autonom fahrenden Fahrzeug
28
https://www.nytimes.com/interactive/2016/06/06/automobiles/autonomous-cars-pro
blems.html.
Über unbeabsichtigte Folgen des Strafrechts und der Strafverfolgung 287
notfalls sein Leben opfert, um Passanten zu retten? Wer würde ein solches Fahrzeug
produzieren oder kaufen?29
Die Zurückdrängung des Unvorhersehbaren durch die Sicherheitsgesellschaft
kann nur rudimentär gelingen. Die Kalkulation mit Unwägbarkeiten gleicht einem
Rechnen mit Unbekannten, das nur möglich ist, wenn das Unbekannte begrenzt
bleibt. Die Komplexität unserer Lebenswelt erweitert und vervielfacht jedoch Un-
wägbarkeiten. Das macht ein Rechnen damit schwierig.
Im Interessenbereich der Kriminalwissenschaften ist es vor allem die Kriminolo-
gie, die über mögliche unbeabsichtigte Folgen prospektiv informiert und diese retro-
spektiv kenntlich macht. Bei aller Begrenztheit der inhaltlichen und methodischen
Aussagekraft werden dabei zumindest einige Nadeln im Heuhaufen aufgespürt.
Dazu hat der Jubilar entscheidend beigetragen. Vivat, Hans-Jörg!
Literaturverzeichnis
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Homann, K. & Suchanek, A. (2000): Ökonomik. Eine Einführung. Tübingen.
29
Vgl. neuerdings Kuhlen 2019.
288 Karl-Ludwig Kunz
By Salvatore Palidda
Foreword
In the nineties, I met Hans-Jörg Albrecht on several GERN2 meetings and during
my stay at the Max Planck Institute in Freiburg as a visiting professor in 1999. This
research stay allowed me to write my most important book on police. Subsequently, I
met Hans-Jörg at a conference on the racist criminalisation of immigrants in Europe
in Genoa in 2008 and again later for the research project on Governance of Security
and Ignored Insecurity in Contemporary Europe. In other words, it is also thanks to
him that I developed my research on police affairs in Italy and Europe, on the repres-
sive-criminal treatment of immigrants, and finally on the crucial issue of “ignored
insecurities” over the last thirty years. These experiences helped me to elaborate
on criminology from a more critical perspective that will hopefully be interesting
as a tribute to my friend Hans-Jörg.
This essay proposes a critical reflection on – what I consider – the main limits and
deficiencies of the philosophy of the law, the criminology and the sociology of the de-
viance and, in general, of human, political and social sciences, including the often so-
called critical approaches in the field of security. Thus, it is not surprising that some
researchers of these disciplines tend to rather questionable security theories such as
“zero tolerance”, “just wars”, “human wars”, the denial of the risks of health and en-
vironmental disasters, increased inequalities, or even thanatopolitics (let die) which
seems to be influencing the decisions of the powerful of the twenty-first century.
1
This article is based on an earlier blog post of mine called “Résistances contre les in-
sécurités ignorées. Renverser le discours dominant” published on Mediapart, an independent
French online investigative and opinion journal; https://blogs.mediapart.fr/salvatore-palidda/
blog/230719/resistances-contre-les-insecurites-ignorees-renverser-le-discours-dominant [03. 02.
2020].
2
Groupement européen de recherches sur les normativités (GERN) is a network of scien-
tific researchers of multiple disciplines in the area of deviance and social control, specifically
e. g., penal institutions and questions, juvenile justice and police.
290 Salvatore Palidda
In a first step, the approach adopted in this work tries to deconstruct the main-
stream discourse and hence the human, political and social sciences that are con-
structed for the powerful versus the powerless. It is thus an attempt to oppose the
dominant discourse with its capacity to hide aspects and problems, in particular,
the “ignored insecurities”, i. e. the risks of health, environmental and economic
(i. e. shadow economies) disasters that are actually affecting most and eminently
the vulnerable part of the population. Such an attempt gets even more imperative
in light of current trends in world politics with the rise of populism and autocracies
and Italian politics as one of the most affected. This work refers to research conducted
since the 1990s in different projects by several researchers – including myself – as
well as studies on social workers, local elected officials, police and justice officials to
counteract the neoliberal drift within the field of security. While trying to develop a
critical approach to the security drift, much of this research and experience (including
mine) has also neglected the insecurities that I call “ignored-insecurities”. This neg-
ligence has considerably weakened criticism of securitarism because we were un-
aware of what was actually affecting the majority of the population or even threat-
ening people’s lives that should be protected by the rule of law.3
In most research on deviance and crime, and more on the anomies and their actors,
we can see that first obligation is placed as the dominant criterion obscuring rights. In
other words, paradoxically, the citizen appears to have duties instead of rights. This
contradicts the logic that only the ownership of rights assigns duties. According to
Hobbe’s theory, citizens give up their freedoms in exchange for security guaranteed
by power (Hobbes 1968, 227, 232 – 233). But the security of what and of whom?
This paradox commonly originates from the passive acceptance of the role as serv-
ants of law and order or even of peace and social cohesion by the disciplines previ-
ously mentioned. On the contrary, research on power (hence its conceptions, dis-
courses, and practices) is still rare. Instead, we often talk about research for power
(it is well known that effective, independent research on power is rare due to problems
of funding and thus of realisation). In general, research on rights ignored by the pow-
erful is seldom and, vice versa, on violated rights of the citizens.4 However, research
on crimes of the powerful and the state is extremely rare and bears the risk of being
distorted or even sabotaged (in particular, research on various crimes committed by
authorities, including police officers, magistrates, soldiers, etc.).
4
Though constitutional and human rights law addresses the rights of citizens, e. g. Euro-
pean Convention of Human Rights.
5
Number of deaths by cause, World, 2016 https://ourworldindata.org/causes-of-death.
6
For diagrams on causes and occurrence of deaths in the EU, see on Eurostat published by
the European Commission; https://ec.europa.eu/eurostat/web/products-eurostat-news/-/DDN-
20190716-1 [03. 02. 2020].
292 Salvatore Palidda
Western European countries, the majority of deaths are caused by diseases. However,
no reliable data exists that distinguishes between what was originally causing the dis-
ease. Meanwhile, the sources of new contaminations seem to be multiplying. One
example might be electromagnetic waves. Their possible adverse effects on health
are discussed highly controversial, but research does not provide evidence for
health-damaging effects of the radiation from cell phones; the WHO recommends
studies on long-term exposure by cell phones.7 In all countries the serious mortality
due to Covid-19 is also the consequence of the liberal drift: that is, of the choice to
increasingly reduce public health resources in favor of private health. Furthermore,
the great (necessary) emphasis on pandenia and the use of a state of emergency con-
fered to the police forces rather than by the social and health services (often reduced
to very little) ended up hiding again the causes of the majority of mortality.
A closer look at the causes of deaths shows that – apart from cancer – cardiovas-
cular diseases are the far most represented death cause around the world (Diagram 1).
Official statistics provide detailed data on the causes of death without giving infor-
mation about the share of toxic contaminations. However, toxic contamination is also
a likely cause of diseases affecting the circulatory system (cholesterol, diabetes and
smoking, ischemic heart disease and cerebrovascular diseases, etc.).8
7
An overview provides the EMF Portal by the Technical University of Aachen which
outlines systematically research data on the effects of electromagnetic fields (EMF); https://
www.emf-portal.org/de/cms/page/home/effects/radio-frequency/cancer [03. 02. 2020].
8
For example, see the systematic review and meta-analysis of epidemiological studies
conducted by Chowdhury et al. 2018, confirming a positive correlation between exposure to
environmental toxic metal contamination and the risk of cardiovascular diseases. These cases
of toxic contamination also include Alzheimer in case of alcohol abuse, Parkinson in case of
amphetamine abuse (see e. g., Callaghan et al. 2012 who carried out a study on inpatients in
hospitals in California and discovered a 76% increased risk of developing Parkinson’s disease
for (meth)amphetamine consumers than for the control group), excessive diagnosis of hype-
ractivity, many diseases considered as allergies, and several forms of cancer (malignant neo-
plasms of the trachea, bronchus and lung, recto-sigmoid junction, rectum, anus and anal ducts,
breast, pancreas, prostate, stomach, and bile ducts and liver). This consideration also applies to
so-called respiratory diseases caused by air pollution. Another cause of death ignored by the
present statistics is radioactivity: not only from nuclear and military sites, but also in homes
(https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/radon-and-health) [03. 02. 2020]. Besides,
some recent research shows that there are many sources of contamination in almost all foods
(because of their contamination by chemicals, including pesticides, etc.), in water and in
clothing. Many transport accidents are accidents at work or accidents due to the stress of urban
life. It is a pity that official cause-of-death statistics ignore work-related accidents but include
data on voluntary self-injury and suicides; although the reasons behind suicide might be
victimisation at work or in the family or societal relationships of vulnerable individuals.
Limitations and Gaps of Philosophy of Law and of Criminology 293
Besides the misleading distinction between the causes of deaths in the data col-
lection at hand, we could deduce that health, environmental and economic risks
might be the main causes of death. Most of these risks are rarely considered crimes
which impedes their prevention or prosecution. And if they are, they frequently re-
main undetected, overseen or even ignored. This situation is well known but has been
disregarded or denied for a long time. Governmental introduced measures concern-
ing direct prevention and control agencies with the duty to combat ignored insecur-
ities, such as the police, often seem purely symbolic. Why? In the dominant discourse
on risks, threats and social problems, these insecurities are commonly considered as
individual misfortune. Consequently, responsibility is attributed to the individual
leading to a lack of victims. Regardless of an increase in the number of revealed
deaths linked to criminal pollution caused by companies colliding with criminal or-
ganizations, corrupt civil servants, officers, or (local) politicians, most people sup-
port such an individualistic view, including officials of prevention and control agen-
cies, most of the politicians, the media and scientists (including criminologists and
sociologists of deviance and crime). For example, shadow economies are often char-
acterised by illegal employment, neo-slavery, bribery, tax evasion and further serious
crime. Illegal disposal of toxic and even ordinary waste may be added to this list.
Thus, the chain of dissimulation of and complicity with ignored insecurities can
be seen as an intricate political issue based on a socially constructed paradox. On
the one hand, we observe guaranteed and tolerated illegalisms and, on the other
hand, mobilisation of public opinion against illegalisms. This kind of illegalisms
is framed intolerable and attributed to social subjects who are banned as enemies
of the society. In this way, the paradox suits the powerful and enables them to
hide their illegalisms much better than those of common citizens. Among the
most striking cases on the effect of concealment are those of Marseille and its envi-
rons: for a long time, and still today, the public authorities have been in a struggle
9
See https://ourworldindata.org/causes-of-death [03. 02. 2020].
294 Salvatore Palidda
against gangsterism and organised crime. However, they did not know that part of the
population was dying due to water contaminations along the coast west of the city
(red mud at sea, pond Berre etc., see Mucchielli 2008).
The opposite Table on different causes of death per 100,000 inhabitants within the
EU and other European countries is instructive.
a
295
11
For an analysis of how the policy discourse on the subject category of “climate refugees”
related to people living in the Pacific gets distorted herby distracting from the necessity of a
global change, see McNamara & Gibson 2009.
12
For example, on the various ties between Salvini (Italy’s far-right more broadly) and
Putin (Russia), see https://www.prospectmagazine.co.uk/world/how-matteo-salvini-became-pu
tins-man-in-europe [03. 02. 2020]. On Erdoğan’s and Trump’s attempts of improving their
relationship, see https://www.ft.com/content/05d54cc8-0560-11ea-9afa-d9e2401fa7ca [03. 02.
2020].
Limitations and Gaps of Philosophy of Law and of Criminology 297
The idea that populist rulers would support a transition to a criminal or a police
state could be misleading13 : pseudo-democracy, fascism and an authoritarian state of
exception may still coexist (Palidda 2015). As Davis (1988), Foucault (1975; 2004),
Foucault & Senellart (2004) and others have pointed out, the criminalisation of the
marginalised, even including internal migrants or internally displaced persons, is an
old practice. This criminalisation also extends to the ones showing solidarity with the
marginalised: for example, the young people helping the victims of the Irpinia (Italy)
earthquake in 1981 or the ones supporting refugees (on the criminalisation of the No
TAV movement14 in Italy, see Novaro (2019); on that of the No M.U.O.S15 movement,
see Mazzeo16, and among others the Democracy Center, particularly thematising the
criminalisation of protest17). The criminalisation of alleged subversives shows the
modalities that allow the anamorphosis of the rule of law (Palidda 1992). Anamor-
phosis means the possibility of modifying the same legal framework at will to then
switch from a legal to an illegal framework and vice versa. In addition, the Janus face
of the police can be observed in the same city at the same moment: in one city quarter,
they sometimes are disproportional violent (which may even amount to torture),
while in another city quarter, they act in a paternalistic, anti-racist or antifascist way.
This factitious nature of the democratic state of law invoked by some parties is
further emphasised by neo-liberalistic ideals. Along with a neo-colonial revival
and issues of migration, the door is opened to characters such as Salvini acting sim-
ilarly to Mussolini: “We allow ourselves the luxury of being aristocrats and demo-
crats; conservatives and radicals, reactionaries and revolutionaries; legal and illegal
according to the circumstances of time, place and setting.”18 This quote expresses
precisely the neo-colonial spirit adding to the mass confusion (via social media
and the intellectual indigence of the media) and may serve as an explanation for a
continuing consensus on pseudo-populist views. As a result, some citizens aim at tak-
13
See two issues of the journal Cultures & Conflits, “L’état d’urgence en permanence”
aiming at the deconstruction of the discourse on the State of exception, of emergency or
urgency; https://journals.openedition.org/conflits/20480 and https://journals.openedition.org/
conflits/20692 [03. 02. 2020].
14
No TAV stands for the New Turin–Lyon high-speed/high-capacity railway project, re-
ferred to as TAV. The movement was founded 23 years ago in Susa Valley. It criticizes,
specifically, the uselessness of the railway project and, more generally, social, economic,
environmental and technological issues in an increasingly globalised world; http://www.presi
dioeuropa.net/blog/what-does-no-tav-mean/ [03. 02. 2020].
15
The No M.U.O.S movement mostly combines people from Sicily and advocates progress
based on local development not on military devices. Its main “opponent” is the activation of
the Mobile User Objective System (MUOS), a modern satellite communications system of the
US Navy based in Niscemi, Sicily; http://nomuos.org/en/chisiamo [03. 02. 2020].
16
For example an interview of Mazzeo, available in German, Spanish and Italian; https://
www.pressenza.com/de/2020/01/antonio-mazzeo-italien-ist-ein-wichtiger-angelpunkt-fuer-us-
amerikanische-militaeraktionen/ [03. 02. 2020].
17
See https://democracyctr.org/topic/criminalization-of-protest/ [03. 02. 2020].
18
Il Popolo d’Italia, 23 March, 1919. Quoted in Salvatorelli & Mira 1964, 56.
298 Salvatore Palidda
ing advantage of neo-colonial benefits to exploit the vulnerable (immigrants and dis-
advantaged nationals) and to repress those resisting the drift.
The European Forum for Urban Security (EFUS), founded under the auspices of
the Council of Europe by Gilbert Bonnemaison19 and Michel Marcus20 in 1987,
counts more than thirty years of experience by now. The same can be said about
its development in many European countries and the “safe cities” project in the Emi-
lia-Romagna region (Italy). This project deserves particular attention as it exhibits
very clearly the limitations and shortcomings of these initiatives.
EFUS is the only European network of local and regional authorities for urban
security. The network was created within a context unaffected by the drift of security
and zero tolerance; a context allegedly fostering democratisation of the security gov-
ernment as a social response to harm reduction. Prevention, minimal punishment and
the reduction of repression to an ultima ratio should represent the measures for reach-
ing the goal.
In short, this trend did have some success: in the United States during the Johnson
administration21 and in the United Kingdom22 during the 1960s. Famous critical
19
See https://efus.eu/en/about-us/about-efus/public/1450/ [03. 02. 2020]. The peak of deve-
lopment – still neglecting the security drift – was the Zaragoza conference in 1966; the last
important document produced by EFUS is the White Paper for Territorial Security presented at
Matignon; see http://ffsu.org/le-ffsu-presente-son-livre-blanc-pour-la-securite-des-territoires-a-
matignon/ [03. 02. 2020].
20
See the intro on challenges in Europe by the European Forum for Urban Security; https://
efus.eu/files/fileadmin/…/DPT2006-EFUSspeechMM.pdf [03. 02. 2020].
21
Further on this https://www.independent.org/issues/article.asp?id=3157 [03. 02. 2020].
22
See Reiner 2000 on https://www.jstor.org/stable/42856153?seq=1#page_scan_tab_con
tents [03. 02. 2020].
Limitations and Gaps of Philosophy of Law and of Criminology 299
criminologists of that time included Taylor, Walton and Young23. Their critical ap-
proach also evoked Alessandro Baratta’s critical criminology24 and Luigi Ferrajoli’s
philosophy of the “minimum criminal law”25.
Despite the global security drift, EFUS has continued to develop within Europe
(250 municipalities in 16 countries). However, its focus on repressive and criminal
actions remains ancillary. Regarding drug (ab)use, “urban incivilities” and, in gen-
eral, issues related to marginality and juvenile delinquency, EFUS has increasingly
adopted very moderate tones. Security issues have been more and more addressed by
municipalities, including those with right-wing racist mayors. For an emblematic ex-
ample, EFUS considers it a great success that the safety emphasising mayor of Nice,
Christian Estrosi, is leading the project “PACTESUR – Protecting allied cities
against terrorism by ensuring the security of urban areas”.26 Indeed, despite some
critical suggestions and the last document by Marcus27, EFUS has continued to
woo even mayors of the right espousing mainstream security issues. Furthermore,
health, environmental and economic insecurities (shadow economies, etc.) with a
crucial weight on the economy of urban safety have been ignored. This ignorance
gets even more apparent when analysing the development of the “safe cities” project.
The project was launched on the initiative of some followers of the already mentioned
criminologist Baratta and, in particular, Massimo Pavarini, as part of the programs in
the Emilia-Romagna region (region administrated by the left) in 1994. Indisputably,
the Baratta school, other English and French authors provided effective tools for
criticising liberal securitarism and its excesses (“zero tolerance”, racist criminaliza-
tion, massive imprisonment first in the United States and later also in Europe). At the
same time, some researchers criticised the reproduction of permanent wars and their
transition to local “wars” (urban security and “war on immigrants”)28. However, these
critical developments turned out as inadequate, ineffective, and powerless. Conse-
quently, some may frame them as losers in light of the triumph of liberal securitarism
that is currently dominating in many so-called “democrats” and the “ex-left”. While
both critical criminology and Ferrajoli’s philosophy continued advocating the cause
23
For a review of Young’s life and work as a critical criminologist see Henninger 2014;
https://link.springer.com/article/10.1007/s10624-014-9333-6 [03. 02. 2020].
24
On critical criminology within Europe see van Swaaningen 1998; 1999.
25
See Ferrajoli 1989.
26
See https://efus.eu/fr/topics/%ACtivity%25/16622/ [03. 02. 2020]. For an example of
Estrosis safety emphasis see the Declaration of Nice aiming at bringing together local elected
representatives across Europe in the fight against terrorism. The Declaration was signed by 62
mayors of 19 different European countries; http://www.nice.fr/fr/actualites/declaration-de-ni
ce?type=articles [03. 02. 2020].
27
See Marcus, “Prevention du crime, une feuille de route intercontinentale” on https://
docplayer.fr/5106365-Prevention-du-crime-une-feuille-de-route-intercontinentale.html [04. 02.
2020].
28
For a general critique on the (political) approach towards issues of migration with its
consequences see Schmid 1995. For a critical discussion on race and crime see Convingtion
1995.
300 Salvatore Palidda
The “safe cities” experience was initiated thanks to Massimo Pavarini. Pavarini
convinced an official of the Emilia-Romagna region and the president of Emilia-Ro-
magna (at the time leader of the Democratic Party – ex-communist who since then
mixed with ex-Christian Democrats) to create a project that should guide the munic-
ipalities of the region in urban security governance. The project also focused on so-
cial policies, risk reduction and prevention in order to reduce repression and prisons.
The scientific committee of this project included many of Baratta’s disciples (him-
self being a frequent guest)29.
Following key facts show the limitations and gaps of the project:
a) The choice of the name (safe cities) was kind of a boomerang due to its focus on
the threat of crimes and led to an extension of security matters. This was influenced
by the so-called “public opinion” overestimating the threat posed by crime (also dis-
cussed at the first meeting of the Scientific Committee – compare De Giorgi 2000).
(b) The study of crime statistics was entrusted to Marzio Barbagli. He is a sociol-
ogist without profound experience in this field or a sufficiently critical approach to
these statistics.30 However, like another researcher, Barbagli was supported by the
pressure group, i. e. the Cattaneo Institute (close to Prodi) and the publishing
house il Mulino, a group that acquired a decisive option on the “safe cities” project.
Barbagli’s statistical work within the “safe cities” project is one of his most renown.
29
The reports on the project may be found on https://autonomie.regione.emilia-romagna.it/
sicurezza-urbana/approfondimenti/quaderni-di-citta-sicure-1 [04. 02. 2020].
30
Barbagli’s work may be resumed in his phrase “Therefore, even if the statement that
immigrants have increased the crime rate in Italy is not confirmed by the data on murders […],
there is no doubt that the contribution of foreigners […] to the criminal activity has been
significant.”; translated from https://www.ilsole24ore.com/art/migranti-veri-numeri-criminali
ta-stranieri-italia-AEZIIrFG?refresh_ce=1 [04. 02. 2020]. Given his very influential position at
the Institute Cattaneo e il Mulino, Barbagli also published several books.
Limitations and Gaps of Philosophy of Law and of Criminology 301
However, his proposal of how to read his approach to the data is questionable. Firstly,
he presented the data of the police and the judicial system as indisputable truth. Sec-
ondly, he combined the data with disputable results, such as those on individual opin-
ions of citizens without a proper research design (i. e., letters to the mayor of Bolo-
gna). It is no coincidence that Barbagli joined the scientific committee of the ICSA
Foundation31 created by Minniti and Cossiga. Hardly any member of the scientific
committee criticised the security drift in the ICSA Foundation and the few who
took an alternative critical approach were isolated and stigmatised. Presumably,
the driving force behind this was an official from the region with a lot of power
on Pavarini as well as on the decisions of the project.
c) When it comes to the analysis of statistics, some of the main shortcomings of
critical criminology become obvious: critical criminology does not bother about sta-
tistics. However, a critical deconstruction of statistics, police studies and the ethno-
graphic approach is important to meet the requirement of being critical.
d) The so-called fight against the mafia in the “safe cities” project was reduced to a
ludicrous battle against a small mafia located in the small town Budrio, near Bologna.
Furthermore, the statistics used were generated on residents of Emilia-Romagna mu-
nicipalities who were born in southern regions that were suspected as potential mass
Mafia bases (during the observation period some Mafia suspects were exiled in the
municipalities of this region). This led to an ignorance of the actual links of the mafias
within the region of Budrio. A desirable study on mafia structures would have dis-
covered many complicities and even joint ventures in every province of the region,
involving banks, numerous cooperatives as well as several local governments (and
thus in the Partito Democratico). Scandals and research on mafia have already re-
vealed the important diffusion of mafias in all provinces of northern Italy (see
some research published over the last 15 years, e. g. Varese 2006; Moro & Villa
2016). The huge increase in suspicious financial deposits, especially within the
Parma region when the PARMALAT scandal erupted, is documented in the report
“The demand for security and police” in the cities of the region. However, the region-
al official stigmatised the report as a collection of unacceptable “rumours” (he
showed ignorance and hostility to qualitative research and omertà concerns to defend
the “honour” of the so-called “Red” Region).32 This ignorance and mistrust of qual-
31
See http://www.fondazioneicsa.info/consiglio-scientifico/ [04. 02. 2020]. The I.C.S.A.
(Intelligence Culture and Strategic Analysis) Foundation is a non-governmental body aiming
at dealing with security, defence, and intelligence issues innovatively. Its focus lies on main
phenomena related to national security, the development of military defence models, the na-
tional security agency and criminal and illegal acts. For the history of ICSA with a rather
eloquent sequence of photos of its foundation see http://www.fondazioneicsa.info/2017/06/23/
767/ [04. 02. 2020].
32
For examples of local reactions towards the revealing of the scandal see https://www.
telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/italy/1451357/How-Parmas-big-cheese-fell-from-
grace.html [03. 02. 2020].
302 Salvatore Palidda
itative research was and still is common among many criminologists and sociologists
of deviance.
d) Critical research on the local police is missing. As stated in the first report of the
“safe cities” project, the only capacity of the regional government in the field of se-
curity lies in its (relative) power over the local police, in particular, in the area of vo-
cational training. Nonetheless, the research conducted by a young researcher (shy
and respectful due to his subordinate position), ignored the ethnographic approach
necessary for a better understanding of the dynamics of the police forces. As a result,
disturbing aspects got lost during the research process. For example, a committee
member reported on the creation of a unit within the Bologna local police: their mem-
bers called themselves the “Negro Hunting Team”. In contrast, the widespread phe-
nomenon of moon rents (for example, students from other regions must pay up to 400
euros per month for a bed in a four-bed room) demanded by zealous citizens while
insisting on zero tolerance was not mentioned. In other words, the scientific commit-
tee kept quiet about questionable aspects of the local community and the behaviour of
its administration. In this way, the questionable special unit of the local police was
distracted in favour of other false or secondary uncertainties. In addition, prevention
and control agencies (labour and health inspectorates, civil protection, etc.) were not
included. The very idea of a security policy with a main focus on the population was
disregarded. As a result, the actors who originally are meant to be at the forefront of
preventing and combatting these insecurities as well as protecting its victims were
neglected. Another limitation was the ignorance of the idea of a permanent cooper-
ation between all actors and active citizens. Such a cooperation would mean a vivid
network able to prevent and contrast the threats of the population. Only such a per-
petual cooperation could effectively reduce underground economies and contribute
to the protection of the weakest and most isolated. For example, new experiences un-
derway in the United States thanks to Black Lives Matter show that the downsizing of
police and the increase in community-run health and social services in neighbor-
hoods produces very positive results: reduction of remains, arrests and killings
from part of cops.
e) Although endowed with prominent philosophers and sociologists of law, the
“philosophy” of the “safe cities” project also ignored a reflection on possible security
principles within the constitution. Precisely, this reflection could have guided the
project and, consequently, its operational choices towards a unique and more effec-
tive approach. Undeniably, priority should have been given to ignored instead of sec-
ondary or even false insecurities.33
The first duty of the local and national government is to ensure the protection of
the lives of the inhabitants. Local and national authorities are unaware of the causes
of mortality due to toxic contaminations. Prevention and control agencies are obliged
to safeguard the population at risk of toxic contamination, occupational injury, ex-
ploitation or slavery. However, these actors are constantly distracted and diverted to-
33
Further on this see Palidda 2016 and Palidda 2018b.
Limitations and Gaps of Philosophy of Law and of Criminology 303
34
In Genoa the right won the regional and communal elections with 42% of votes; the
majority of the former Communist Party electorate no longer votes; a few went to vote M5S
and some voted for revenge right; see Palidda 2018c.
304 Salvatore Palidda
References
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industriels et chercheurs. Paris.
Varese, F. (2006): How mafias migrate: The case of the ‘ndrangheta in northern Italy. Law &
Society Review 40, pp. 411 – 444.
Welzer, H. & Camiller, P. (2012): Climate wars: Why people will be killed in the twenty-first
century. Cambridge.
Zum Transfer straffälligen Verhaltens über Generationen
Von Helmut Kury
1. Einleitung
Straffälliges Verhalten, Kriminalität, ist ein Thema, das zu jeder Gesellschaft da-
zugehört. Ostendorf (2018) betont, die „Neigung“ zu strafbaren Verletzungen von
vorgegebenen Regeln sei grundsätzlich in allen Menschen angelegt. Was als Krimi-
nalität und damit als strafbare Handlung gesehen und offiziell definiert wird, verän-
derte sich über die Jahrhunderte bis heute, einerseits werden, vor allem auch vor dem
Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen, Handlungen entkriminalisiert, ande-
rerseits wird „neukriminalisiert“, in den letzten Jahrzehnten etwa im Bereich Inter-
net.
Vor allem auch die Ursachenzuschreibung für kriminelles Verhalten hat sich im
Laufe der Jahrhunderte immer wieder geändert, warum jemand straffällig wird,
wird auch heute noch teilweise deutlich unterschiedlich gesehen. Gerade die
Frage, woran es liegt, dass jemand straffällig wird, ist insbesondere auch hinsichtlich
der Planung von Präventionsmaßnahmen ausgesprochen wichtig. Hat man in frühe-
ren Jahrhunderten die Ursachen vielfach etwa in körperlichen angeborenen Merkma-
len gesehen, werden die Gründe für Kriminalität heute, vor allem in westlichen In-
dustriegesellschaften, eher in gesellschaftlichen Bedingungen, in der breiten Öffent-
lichkeit insbesondere in der familiären Erziehung der Kinder durch die Eltern sowie
den Gegebenheiten im sozialen Umfeld, kriminellen Strukturen, gesehen (Spapens &
Moors 2019). Die Frage, wieweit angeborene Verhaltensmerkmale zur Entwicklung
abweichenden Verhaltens beitragen können, wird auch heute noch diskutiert (vgl. Ol-
weus 1987; Brendgen u. a. 2005; Waldman & Rhee 2006; Besemer u. a. 2017).
Empirische Untersuchungen konnten vermehrt zeigen, dass schwer straffällig ge-
wordene Bürger, etwa Inhaftierte in Strafvollzugsanstalten, durchgehend aus schwer
gestörten familiären Verhältnissen, aus Familien, die etwa meist den unteren sozialen
Schichten angehören, kommen. „Die Familie ist die vermutlich universellste Form
menschlicher Vergemeinschaftung und überindividueller sozialer Gebilde“, gilt ge-
nerell als die „Keimzelle“ des Staates (Sack 1993, 124). Gerade auch hinsichtlich der
Erziehung der Nachkommen spielt sie die zentrale Rolle (Albrecht u. a. 1991). Vor
allem auch hinsichtlich des Zustandekommens und der Erklärung von Kriminalität
richtet sich der Blick vorwiegend auf die Familie, wo in der Regel erhebliche Mängel
festgestellt werden (Sack 1993, 130).
308 Helmut Kury
Wie Tomison (1996) betont, werden bei retrospektiven Studien meist Eltern un-
tersucht, die ihre Kinder missbrauchen bzw. missbraucht haben. Die Angaben dieser
Eltern über eigene Missbrauchserfahrungen sind teilweise fraglich und wenig valide,
können vor allem auch einer „Entschuldigung“ für das eigene straffällige Verhalten
dienen. Einen Einfluss auf die Ergebnisse kann auch die Definition des Missbrauchs
haben. Nach Tomison (1996) überschätzen retrospektive Studien meist die Zusam-
menhänge. Prospektive Studien sind dagegen schwerer umzusetzen, in der Regel
werden dabei missbrauchte und nicht missbrauchte Kinder und deren familiärer Hin-
tergrund über längere Zeitspannen untersucht, was zeit- und kostenaufwendig ist. Vor
dem Hintergrund der erheblichen methodischen Probleme überrascht es nicht, dass
die Schätzungen der Rate einer „intergenerational transmission of child maltreat-
ment“ in den vorliegenden Untersuchungen erheblich variieren, nach Tomison
(1996) von 7 %, Gil (1970) bis 70 % (Egeland u. a. 1987; National Research Council
1993) reichen.
Trotz aller methodischen Probleme und Einschränkungen hinsichtlich der Inter-
pretation vorliegender Befunde betonen Tzoumakis u. a. (2019, 5):
„Extensive research has demonstrated that the experiences, life events, and decisions made
by members of one generation can significantly impact those of the next. … A well-estab-
lished example of this phenomenon is the intergenerational patterns of antisocial behaviour
and criminality, with criminal parents tending to have criminal children.“
2. Forschungsergebnisse
Vor allem in Großbritannien und den Niederlanden, aber auch Australien und den
USA, wurden inzwischen neben Einzelstudien auch umfangreiche Meta-Analysen
bisheriger Forschung zu dem Thema einer „intergenerational transmission of crimi-
nal behaviour“ durchgeführt, die auch auf deutlich unterschiedliche, sich teilweise
widersprechende Resultate hinweisen. So betonen Besemer u. a. (2017, 164):
„Specifically, children’s responses to parental CB (criminal behaviour) might vary accord-
ing to which parent engages in CB, their own gender, the children’s age at parental CB, their
country or geographical region, their birth year, and the wider social contexts in which they
find themselves.“
Einigkeit besteht in der internationalen Forschung letztlich vor allem darin, dass
„Children, whose parents exhibit criminal behavior (CB) appear to have an increased
risk of displaying CB themselves“ (Besemer u. a. 2017, 161).
Einige Studien fanden zwar keine Einflüsse elterlicher Kriminalität bzw. Inhaf-
tierung hinsichtlich eines straffälligen Verhaltens der Kinder, aber auf deren Ent-
wicklung von sozialer Kompetenz und kognitiven Fähigkeiten. So hat die Studie
von Latvale u. a. (2015) in Schweden einen negativen Einfluss der väterlichen Ver-
urteilung auf die kognitiven Fähigkeiten der Söhne im Alter von 18 Jahren zeigen
können. Im Gegensatz dazu fanden Murray u. a. (2012) bezogen auf die Daten der
Pittsburgh Youth Study, dass sich elterliche Kriminalität nicht auf die akademische
Leistung der eigenen Kinder im Alter von 7 – 16 Jahren auswirkte.
McCord (1977) ging noch von der Annahme aus, dass eine generelle Übertragung
von Einflüssen straffälligen Verhaltens auf die kommende Generation stattfinde, in-
zwischen wird zunehmend die Frage geprüft, wieweit es spezifische Wirkmechanis-
men gibt, etwa was die Häufigkeit und Art der Straffälligkeit der Eltern bzw. das
Alter der betroffenen Nachkommen angeht.
Was etwa die Häufigkeit straffälligen Verhaltens der Eltern betrifft, fanden viele
Studien einen positiv signifikanten Zusammenhang mit dem straffälligen Verhalten
der Nachkommen, allerdings gibt es auch hier Ausnahmen. Besemer (2012) zeigte,
dass Kinder, deren Eltern verurteilt wurden, selbst dreimal mehr Verurteilungen hat-
ten als Kinder von unauffälligen Eltern. Je mehr Verurteilungen die Eltern aufwiesen,
umso mehr Verurteilungen hatten auch die Kinder, was sich sowohl für Söhne als
auch Töchter zeigte. Die Zahl der elterlichen Verurteilungen erwies sich als signifi-
kanter Prädiktor für die Verurteilungsrate der Kinder: Hatten die Eltern eine Verur-
teilung, lag die Rate bei den Kindern im Durchschnitt bei 1,64, bei zwei bis drei Ver-
urteilungen der Eltern stieg diese auf 2,23 und bei vier und mehr elterlichen Verur-
teilungen auf durchschnittlich 3,51 bei den Kindern. Eine getrennte Analyse für die
Töchter zeigte dagegen keine signifikanten Unterschiede. Besemer & Farrington
(2012, 133) fanden dagegen in einer weiteren Analyse, die Intensität der väterlichen
Kriminalitätskarriere könne die Intensität kindlichen straffälligen Verhaltens nicht
signifikant voraussagen, es gebe keine bedeutenden Unterschiede zwischen Kindern,
Zum Transfer straffälligen Verhaltens über Generationen 311
deren Väter nur sporadisch straffällig würden im Vergleich zu Vätern, die sich als
Intensivtäter erwiesen.
Was den Zeitpunkt des elterlichen Fehlverhaltens im kindlichen Lebenslauf be-
trifft, zeigt sich nach einigen Studien des Weiteren ein Zusammenhang zwischen
der Straffälligkeit der Eltern vor der Geburt des Kindes mit dem kindlichen Verhal-
ten, was damit erklärt werden kann, dass die Hintergründe für das straffällige Ver-
halten, etwa soziale Risikofaktoren, auch nach der Geburt des Kindes weiter vorhan-
den sein können, auch wenn keine weitere Straffälligkeit der Eltern mehr auftritt.
„Crime is not directly transmitted from parents to children, but rather through con-
tinuity of a constellation of antisocial features“ (Besemer 2012, 16). Die in der Regel
bei (schwer) straffälligen Eltern vorzufindende kriminogene Umgebung ist aller-
dings ausgeprägter, wenn die Eltern nach der Geburt des Kindes verurteilt werden.
Diese Unterschiede hinsichtlich straffälligen Verhaltens der Eltern und kindlichen
Abweichungen blieben auch dann erhalten, wenn weitere Risikofaktoren, wie etwa
die Lebens- und Umweltbedingungen, berücksichtigt wurden, obwohl diese Risiko-
faktoren einen Teil der Varianz aufklären können. Nach Ansicht von Besemer (2012,
136) bestätigt dieses Ergebnis auch genetische Mechanismen, vor allem bezogen auf
gewalttätiges Verhalten von Eltern und Kindern, „because offspring of violent pa-
rents had a higher risk of exhibiting violent behaviour in particular“.
Kinder, deren Eltern nach ihrer Geburt verurteilt wurden, hatten ihrerseits mehr
Verurteilungen im Vergleich zu denen, bei denen dies nur vor der Geburt der Fall war.
Diese Kinder kommen auch gehäuft aus problematischen Verhältnissen, etwa aus Fa-
milien mit geringem Einkommen, größeren Familien, schlechteren Beschäftigungs-
bedingungen des Vaters und weniger Interesse der Eltern an einer Förderung ihrer
Kinder, etwa hinsichtlich einer Ausbildung. Während Kinder, deren Eltern nur vor
ihrer Geburt verurteilt wurden, die niedrigste Verurteilungsrate hatten, lag diese
bei Kindern, die bei der Straffälligkeit der Eltern etwa 7 bis 12 Jahre alt waren,
bei 3,70, damit am höchsten, gefolgt von denen, die zwischen 13 und 18 Jahre
waren (3,09) und der Gruppe, die 0 – 6 Jahre alt waren (2,73). Die Unterschiede
waren allerdings nicht signifikant und gingen zurück, sobald mehrere Risikofaktoren
berücksichtigt wurden. „There does not appear to be a sensitive period for the impact
of parental criminal behavior“ (Besemer 2012, 13, 78, 170).
Van de Rakt u. a. (2010) fanden einen deutlicheren Einfluss väterlicher Verurtei-
lung auf die Kinder, wenn Letztere in der Adoleszenz waren. Smith & Farrington
(2004) fanden auf der Basis der Cambridge Study in Delinquent Development
einen Zusammenhang zwischen väterlichem bzw. mütterlichem straffälligen Verhal-
ten mit auffälligem Verhalten bei Jungen im Alter von 8 bis 10 Jahren, wobei das
Geschlecht des missbräuchlichen, d. h. gewalttätigen Elternteils keine wesentliche
Rolle spielte. Tzoumakis u. a. (2019, 5) betonen, die Übertragung straffälligen Ver-
haltens auf die nächste Generation beginne bereits in der frühesten Entwicklungspha-
se, also bereits im Alter ab der Geburt (vgl. auch Tremblay 2015), ein Großteil der
Forschung habe sich allerdings auf Adoleszente und Erwachsene konzentriert. Die
312 Helmut Kury
lyse, dass nur 37 % der inhaftierten Frauen angegeben haben, dass während ihrer
Haft ihr Partner die Kindererziehung übernommen habe. Wenn dagegen der Vater
inhaftiert wird, übernehmen 88 % der Frauen die weitere Kindererziehung. Eine In-
haftierung der Mutter hat somit in aller Regel weitreichendere Auswirkungen auf
vorhandene noch kleine Kinder als eine Inhaftierung des Vaters (Besemer 2012). Jun-
gen äußern die hier entstehenden Probleme einer Trennung von einer Erziehungsper-
son mehr in externalisierten Aktionen, wie Delinquenz, Aggression bzw. antisozia-
lem Verhalten; Mädchen internalisieren dagegen ihre erlebten Probleme eher, indem
sie etwa Ängste bzw. Depressionen entwickeln (Besemer 2012, 16).
Nach der Analyse von Besemer u. a. (2017) war die Übertragung des straffälligen
Verhaltens von einer Generation zur nächsten deutlicher von Müttern auf die Töchter,
gefolgt von Müttern auf die Söhne, Väter auf die Töchter und Väter auf die Söhne.
Elterliches kriminelles Verhalten ist ein Risikofaktor für Mädchen und Jungen. Ein
Großteil der Forschung hat sich auf den Effekt väterlichen Verhaltens auf die eigenen
Kinder bezogen, weniger auf die Mütter (Tzoumakis u. a. 2019, 8). Farrington u. a.
(2009) fanden, dass väterliches straffälliges Verhalten einen größeren Effekt auf
kindliches straffälliges Verhalten hatte als mütterliches, einige Autoren fanden glei-
che Übertragungswahrscheinlichkeiten bei beiden Elternteilen (Beaver 2013). Tzou-
makis u. a. (2019, 24) fanden, dass in der frühen und mittleren Kindheit mütterliches
straffälliges Verhalten einen größeren Effekt auf kindliche Abweichungen zu haben
scheint. Werden weitere Risikofaktoren berücksichtigt, nähern sich die Werte dem
Einfluss der Väter an.
Es konnte auch gezeigt werden, dass hochkriminelle Väter ihr abweichendes Ver-
halten umso mehr auf die Kinder übertragen, je mehr sie mit diesen zusammen sind
(Jaffee u. a. 2003). Besemer u. a. (2017) fanden weiterhin, dass die Zusammenhänge
stärker waren bei den vor 1981 geborenen Kohorten, was sie mit einem Wechsel in
der Kriminalpolitik hin zu härteren Reaktionen nach den 1980er Jahren erklären
(2017, 161).
„… in the 1950s, 1960s and even 1970s most penal policies were focused on rehabilitation
and reintegration, but the 1980s marked a shift toward more punitive sentencing, in Europe
as well as the United States“ (Besemer u. a. 2017, 164).
Straus u. a. (1980) fanden, dass Kinder, die von einem Elternteil desselben Ge-
schlechts missbraucht wurden, mit größerer Wahrscheinlichkeit selbst aggressive
Straftaten ausüben, als wenn der missbrauchende Elternteil vom anderen Geschlecht
ist.
Gerade auch hinsichtlich organisierter Kriminalität zeigten sich deutliche Zusam-
menhänge zwischen elterlichem straffälligem Verhalten und kindlicher Auffälligkei-
ten. Einschlägige Ergebnisse von Spapens & Moors (2019) zeigen bei Männern einen
deutlichen Zusammenhang von entsprechendem straffälligem Verhalten über die Ge-
nerationen hinweg, auch bei Frauen waren die Zusammenhänge allerdings deutlich.
Die Familien schotteten sich weitgehend ab, waren Teil einer Subkultur, neue Mit-
glieder wurden vor diesem Hintergrund gezielt ausgewählt.
Zum Transfer straffälligen Verhaltens über Generationen 315
Kinder, deren Eltern straffällig wurden, können weniger humanes und soziales
Kapital entwickeln, haben weniger Gelegenheiten für eine gute Ausbildung und wei-
sen somit Defizite auf, die sie ihrerseits wieder an ihre eigenen Kinder weitervermit-
teln (Hagan & Parker 1999).
3. Theoretische Erklärungsansätze
Die theoretischen Hintergründe für eine Übertragung straffälligen Verhaltens von
einer Generation zur folgenden werden in unterschiedlichen Zusammenhängen ge-
sehen, so nach Besemer u. a. (2017, 163) oder Farrington (2011) vor allem etwa in
sozialen Lernprozessen, einer kriminogenen Umgebung, dem Umgang des Krimi-
naljustizsystems mit den Abweichlern und dadurch einer Stigmatisierung der Betrof-
fenen, der Tendenz vor allem Jugendlicher aus belasteten Familien, sich mit Gleich-
gesinnten zusammenzuschließen, oder in genetischen Faktoren.
Nach der sozialen Lerntheorie wird das Verhalten von Kindern insbesondere von
den Eltern und der näheren sozialen Umgebung geprägt. Eltern stellen in der Regel
die wesentlichen Kontaktpersonen vor allem kleiner Kinder dar. Kinder übernehmen,
insbesondere bei engen und guten Kontakten, Einstellungen und Verhaltensweisen
von ihren Eltern, auch was abweichendes Verhalten betrifft (Child Welfare Informa-
tion Gateway 2016). Bandura (1977) betonte die Bedeutung von Rollenmodellen für
das Verhalten der Kinder.
Eine weitere wesentliche Ursache für eine Übertragung straffälligen Verhaltens
von Generation zu Generation, die auch soziale Lernprozesse unterstützt, wird in
einer „kriminogenen Umgebung“, welche Risikofaktoren enthält, gesehen. Zu
dem Syndrom werden etwa gezählt das Aufwachsen in einem Umfeld mit hoher Ar-
beitslosigkeit, großer Armut mit Verwahrlosungserscheinungen, Drogenmissbrauch,
Alkoholproblemen oder einem hohen Anteil an Bewohnern mit einer unklaren Le-
bensperspektive bzw. aggressivem Verhalten (Becket & Sasson 2004).
In diesem Kontext wird kriminelles Verhalten etwa nicht nur direkt durch die El-
tern vermittelt, sondern durch ein Zusammentreffen antisozialer und kriminogener
Umstände im Umfeld. Jugendliche, die in einem solchen Umfeld aufwachsen, grup-
pieren sich, vor allem bei gestörten oder von den Eltern wenig unterstützenden und
316 Helmut Kury
Ein Einfluss von Labeling-Prozessen ist nach verschiedenen Studien stärker bei
Menschen, die bereits in einer benachteiligten Situation sind, etwa weil sie einen ver-
urteilten Elternteil haben. Eine Bestätigung für diese Annahme fanden Besemer u. a.
(2013) auch in den Resultaten der Cambridge Study of Delinquent Development. Die
Daten zeigen, dass die Verurteilung eines Elternteils zu einem erhöhten Verfolgungs-
risiko bei den Nachkommen führte (Besemer u. a. 2017, 163). West & Farrington
(1977) stellten auch eine erhöhte Rate selbstberichteter Delinquenz bei Söhnen
von straffälligen Vätern im Vergleich zu nicht verurteilten Eltern fest. Das zuge-
schriebene Label als „Krimineller“ beeinflusst mit großer Wahrscheinlichkeit
auch die Selbstwahrnehmung der Betroffenen. Angehörige von marginalisierten
Gruppen haben in der Regel auch eine geringere Beschwerdemacht, sind meist we-
niger gut über das Strafverfolgungssystem und Möglichkeiten informiert, sich gegen
eine Strafverfolgung zu wehren, auch aufgrund finanzieller Einschränkungen. Wird
die Strafe von den Betroffenen etwa als unfair oder ungerecht erlebt, kann dies zu
einer weiteren negativen Einstellung gegenüber Strafverfolgungsorganen und
einer Reduzierung der Mitarbeit führen. So fand Farrington (1977) bei Verurteilten
eine zunehmende Ablehnung und eher feindliche Einstellung gegenüber der Polizei.
Ein Labeling benachteiligter Gruppen ist vor allem auch aus ethischen Gründen
nicht zu akzeptieren. „We live in a democratic, fair society where everyone should be
treated equally and thus official bias should be avoided“ (Besemer 2012, 102). Das
vor allem auch deshalb, weil die Autorin in ihrer Studie nachweisen konnte, dass eine
benachteiligende Behandlung Betroffener durch staatliche Organe wie Polizei und
Justiz zu einer Zunahme straffälligen Verhaltens beitrug. „Instead of decreasing or
preventing crime, by their actions the official agencies appear to increase offending
behavior“ (Besemer 2012, 102). Vergleichbare Zusammenhänge fanden etwa auch
McAra & McVie (2005, 5).
Auch ein Einfluss genetischer Faktoren wird als Grund für eine Übertragung straf-
fälligen Verhaltens auf die nächste Generation gesehen (Besemer u. a. 2017, 163;
Farrington 2011; González-Tapia & Obsuth 2015). Nach Besemer u. a. (2017)
haben Untersuchungen auf physiologische Ursachen für straffälliges, antisoziales,
insbesondere gewalttätiges aggressives Verhalten hingewiesen, die zumindest teil-
weise vererbt werden können, wie etwa ein erhöhter Testosteronspiegel (Olweus
1987) oder eine niedrige Ruhe-Herzfrequenz (Farrington 2007). „These biological
bases tend to be (partly) hereditary and as such they could explain intergenerational
transmission“ (Besemer 2012, 6 f.). Die Autorin führt zahlreiche Untersuchungen an,
die einen solchen Zusammenhang unterstützen, betont allerdings einschränkend: „A
genetic predisposition for aggressive behavior does not necessarily mean that some-
one will actually develop this behaviour; it is not a deterministic process. The einvi-
ronment will influence how the genetic potential develops“.
Auch Junger u. a. (2013, 125 f.) betonen, es gebe zahlreiche Forschungsergebnis-
se, die eine genetische Komponente bei der Übertragung straffälligen Verhaltens von
einer Generation auf die nächste unterstützen würden. Eine Metaanalyse von ein-
318 Helmut Kury
schlägigen Untersuchungen von Rhee & Waldman (2002) kommt zu dem Ergebnis,
dass 32 % der Varianz in Messungen antisozialen Verhaltens genetischen Effekten
zugeschrieben werden könne.
Zusammenhänge zwischen sozialen und körperlichen Prozessen werden in zahl-
reichen Studien belegt, etwa aus der Säuglings- oder Therapieforschung (Goleman
2006). Wie etwa auch Oyama (2000) betont, gibt es keinen genetischen Determinis-
mus, es bestehe vielmehr ein „developmental system“. Kreissl (2018, 193) betont in
diesem Zusammenhang: „Die Befunde der neueren Biowissenschaften, von Genetik
über Neurowissenschaften bis hin zu den vielen Spezialisierungen der sogenannten
Life-Sciences, sind wichtig und können für die Soziologie, auch für die soziologische
Erklärung abweichenden Verhaltens, einiges beitragen. Dazu wäre es allerdings er-
forderlich, dass auch die Sozialwissenschaften ein präziseres Verständnis von sozia-
len Prozessen entwickeln. … Es gibt kaum disziplinübergreifende Untersuchungen
über die Genese abweichenden Verhaltens, die soziologische und neurowissenschaft-
liche Befunde in einer nicht-reduktionistischen Art und Weise verknüpfen“.
4. Präventionsmaßnahmen
Die Prävention straffälligen Verhaltens, vor allem auch dessen „Weitergabe“ von
einer Generation zu den folgenden, sollte ein ausgesprochen wichtiger Bereich von
Kriminalpolitik sein, auch aus finanziellen Gründen. Kosten-Nutzen-Untersuchun-
gen haben, auch für Deutschland, immer wieder überzeugend gezeigt, dass sich In-
vestitionen gerade in die Prävention häuslicher Gewalt langfristig auszahlen (Sacco
2017). In der Literatur finden sich zahlreiche Ansätze und konkrete Vorschläge für
Präventionsprogramme. Sherman (1998, 44 ff.) etwa beschreibt spezifische Präven-
tionsansätze, wie z. B. Trainings- und Unterstützungsprogramme für problembelas-
tete Eltern und Familien. Bei Tomison (1996) lassen sich Beispiele von Hilfseinrich-
tungen für Familien mit Problemen in Australien und deren Ansätze finden.
Gefährdete Kinder können bereits in den ersten Jahren nach ihrer Geburt identi-
fiziert werden (Junger u. a. 2013, 125). Die Betroffenen zeigen später nicht nur eine
höhere Kriminalitätsbelastung, sondern auch in vielen anderen Bereichen Belastun-
gen, wie Depressionen, Persönlichkeitsstörungen oder Abhängigkeiten von Drogen
bzw. Alkohol, Probleme, die neben dem Leid insbesondere auch erhebliche gesell-
schaftliche Kosten verursachen. Serbin u. a. (1998) fanden, dass aus aggressivem
Verhalten und depressiven Symptomen bei Mädchen in der Schule bereits im
Alter von 5 bis 13 Jahren vorausgesagt werden konnte, wieweit deren Kinder nahezu
20 Jahre später ein aggressives bzw. zurückgezogenes Verhalten zeigten. Es muss vor
allem um Hilfe hinsichtlich der Bewältigung von Belastungen gehen und nicht vor-
rangig um eine Bestrafung des abweichenden Verhaltens. „Purely punitive or deter-
rent measures showed zero or even negative effects“ (Lösel 2012, 197). Vor allem
sollte bei schwer geschädigten Kindern auch deren Beziehung zur Herkunftsfamilie
geklärt werden (Child Welfare Information Gateway 2016, 4).
Zum Transfer straffälligen Verhaltens über Generationen 319
Nach Lowenstein (1986) erlitten 40 % der Kinder mit inhaftierten Eltern emotio-
nale und Gesundheitsprobleme, oft Albträume, Furcht vor Dunkelheit oder Isolie-
rung. Vielfach entwickeln die Kinder Posttraumatische Belastungsstörungen (Mc-
Closkey & Walker 2000). Kinder werden durch die Verhaftung eines Elternteils
oft völlig unvorbereitet aus ihrer sozialen Umgebung gerissen, kommen etwa zu Ver-
wandten oder Freunden der Familie, die oft auch finanzielle Probleme haben, oder in
ein Heim (Mumola 2000). Die Kinder von Inhaftierten werden von der Gesellschaft
weitgehend vergessen und bleiben vielfach unbeachtet (Kury 2020b; 2020c), teilwei-
se waren die Kinder schon vor einer elterlichen Inhaftierung „auffällig“ (Huebner &
Gustafson 2007), den Familien wird dann allzu schnell generell die alleinige Verant-
wortung für ihre Situation zugeschrieben. Man fühlt sich in der Öffentlichkeit in der
alten Regel bestätigt: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“ (Thornberry 2009).
Vielfach verleugnen die Mütter gegenüber kleinen Kindern die Inhaftierung des
Vaters, um sie zu schützen, was allerdings nur bei kleinen Kindern funktionieren wird
und die Situation in der Regel verkompliziert. Der Freiburger „Verein für systemi-
sche Therapie von straffällig gewordenen Menschen, deren Angehörigen sowie Men-
schen in schwierigen Lebenssituationen“ (Cocon e.V. Freiburg 2020, 2) macht deut-
lich, wie die Mütter sich vielfach bemühen, die Kinder vor den wahren Hintergrün-
den der Abwesenheit des Vaters zu „verschonen“. Die Belastung des Familienzusam-
menhaltes kann dazu führen, dass sich die Kinder vermehrt Peers zuwenden und
diese für sie mehr und mehr bevorzugte Rollenmodelle darstellen (Hagan & Dino-
vitzer 1999, 123).
Die Bedeutung von familienzentrierten Interventionsprogrammen, vor allem
auch bei Kindern Inhaftierter, wird immer wieder betont (Besemer 2012, 146). Da-
neben sollten die Familien vor allem auch finanziell unterstützt werden. Die sozialen
Hintergründe für das straffällige Verhalten sollten möglichst beachtet werden. Be-
handlungsansätze für geschädigte Familien können sich auch aus Erfahrungen zur
Behandlung von Betroffenen anderer traumatischer Erlebnisse ergeben (vgl. Drexler
2019). Der Kontakt zwischen Inhaftierten und Kindern sollte durch die Vollzugsan-
stalten möglichst unterstützt werden, etwa durch großzügige Besuchsmöglichkeiten,
insbesondere bei Langzeitinhaftierten. Gerade bei dieser Gruppe zeigte sich nach Be-
semer (2012, 125) ein stabiler positiver Zusammenhang zwischen der Länge und der
Zahl der elterlichen Inhaftierungen einerseits und dem straffälligen Verhalten der
Nachkommen andererseits.
Die Gestaltung und Praktizierung des Strafvollzugs können zur Verringerung der
Schäden bei den Familienangehörigen, vor allem auch bei den Kindern beitragen. So
führt etwa Besemer (2012, 122) die von ihr gefundenen geringeren negativen Aus-
wirkungen einer Inhaftierung eines Elternteils auf die Kinder in den Niederlanden
im Vergleich zu England darauf zurück, dass der Strafvollzug in den Niederlanden
wesentlich humaner gestaltet ist als in England. So waren vor allem auch die Kon-
taktmöglichkeiten der Gefangenen zu ihren Kindern besser. Weiterhin betont die Au-
torin, dass die Kriminalpolitik zur Zeit der Datenerhebung (1946 – 1981) in den Nie-
320 Helmut Kury
derlanden deutlich liberaler war als in England. Auch die Unterstützung von Fami-
lien von Inhaftierten war in den Niederlanden als „Wohlfahrtsstaat“ deutlich besser
ausgeprägt als in England.
5. Diskussion
Die empirisch-kriminologische Forschung zeigt deutlich und weitgehend einheit-
lich einen Zusammenhang zwischen straffälligem Verhalten von Eltern bzw. Erzie-
hungspersonen, vor allem aggressiven Taten, und abweichendem Verhalten bei den
Nachkommen, ein Ergebnis, dass unter Berücksichtigung theoretischer Überlegun-
gen nicht überraschen kann. Längsschnittstudien können Zusammenhänge deutlich
machen, allerdings blieben diese nicht ohne Kritik. So betonen etwa Gottfredson &
Hirschi (1987), Längsschnittstudien könnten kaum Kausalzusammenhänge aufzei-
gen, diese seien sehr komplex, vielfach würden latente Variablen eine Rolle spielen,
die nicht umfassend erfasst würden. Lebensereignisse würden keine unabhängigen
Einflussgrößen auf den Verlauf von Delinquenz darstellen, vielmehr seien sie von
Eigenschaften der Betroffenen abhängig, einzelne Ereignisse träfen Personen
nicht zufällig. Auch Parsons-Pollard (2011) weist auf methodische Probleme bei vie-
len Studien hin, die eine Verallgemeinerbarkeit der Resultate vielfach einschränken.
Gerade was Kriminalität gegenüber Kindern angeht ist insbesondere auch von
einem hohen Dunkelfeld auszugehen, vor allem was Straftaten in der Familie betrifft.
Die World Health Organization – WHO (2007, 1) etwa betont in ihrem Bericht: „Pre-
valence studies on child abuse and neglect involving victim surveys indicate that the
number of people who have been maltreated in childhood is ten times greater than
that reported.“
Das soziale Umfeld, in welchem Kinder aufwachsen, prägt deren Einstellungen
und das eigene Verhalten, je enger die Beziehung zu den Erziehungspersonen ist,
umso intensiver und stabiler, das gilt offensichtlich nicht nur für positives, sondern
auch für negatives unerwünschtes Verhalten. Besemer & Murray (2015) betonen,
schlimm sei nicht die eigentliche Inhaftierung für die Kinder, sondern das antisoziale
straffällige Verhalten, das dazu führt.
Ein positiver Effekt ist lediglich dann zu erwarten, wenn durch eine Inhaftierung
ein (schwer) missbräuchlicher Elternteil aus der Familie genommen wird und Kinder
nun eine bessere Entwicklungsmöglichkeit haben. Hagan & Dinovitzer (1999, 123)
betonen in diesem Zusammenhang: „there obviously are cases involving the impri-
sonment of negligent, violent, and abusive parents where the imprisonment of the
parents benefits the children by removing serious risks of current and future
harm“. In solchen Fällen kann sich die Inhaftierung auch positiv auf die Entwicklung
des Sozialkapitals der Kinder auswirken (Jaffee u. a. 2003).
Nach Hagan & Dinovitzer (1999, 128) habe die Forschung deutlich machen kön-
nen, „that imprisoned parents and their children are already different from parents
Zum Transfer straffälligen Verhaltens über Generationen 321
and their children who are not imprisoned, prior to the imposition of a prison sent-
ence“. Sampson & Laub (1997) sprechen von einer „Life-Course Theory of Cumu-
lative Disadvantage“. Auch Murray & Farrington (2008, 163) betonen, dass „paren-
tal criminality, parental mental illness, and other environmental risks before parental
imprisonment might cause child behaviour problems, rather than parental imprison-
ment itself“. Die Inhaftierung eines Elternteils spielt hinsichtlich der weiteren Ent-
wicklung der Nachkommen allerdings insofern eine wesentliche, in aller Regel ne-
gative Rolle, als dadurch eine (zusätzliche) erhebliche Stigmatisierung der Betroffe-
nen eintritt (Kury 2020c).
Die Auswirkungen einer Inhaftierung eines Elternteils auf die höhere Kriminali-
tätsrate der Nachkommen ist nach Besemer
„not necessarily because they commit more crime, but because their parents are known off-
enders and because they live in poorer social circumstances characterised by having a father
with a poor job record, low family income and poor housing. … This is a crucial finding, and
at the same time ethically undesirable. This finding conflicts with the UN Convention on the
Rights of the Child“ (Besemer 2012, 147).
Die Entwicklung der Kriminalpolitik ist trotz solcher Forderungen vielfach noch
mehr auf Sanktionen und Einschränkungen der Betroffenen ausgerichtet. Was etwa
die USA betrifft, wird nach Parsons-Pollard (2011) geschätzt, dass ca. 809.800 der
Inhaftierten eigene Kinder haben (53,3 %), die Zahl der inhaftierten Frauen habe
stärker zugenommen als bei Männern. Mehr als 7 Millionen Kinder hätten in dem
Land Eltern, die unter einer Form von strafrechtlicher Kontrolle stehen. Hairston
u. a. (2004) fanden, dass 54 % der US-Gefangenen mit kleinen Kindern diese seit
ihrer Inhaftierung nicht mehr gesehen haben. Die meisten Kinder haben, wenn über-
haupt, meist nur schriftlichen bzw. telefonischen Kontakt zu dem inhaftierten Eltern-
teil. Nach Mumola (2000) sind 60 % der inhaftierten Eltern in State Prisons und 85 %
derjenigen in Federal Prisons mehr als 100 Meilen von ihrem letzten Wohnort ent-
fernt untergebracht, was bedeutet, dass Besuche erhebliche Kosten verursachen kön-
322 Helmut Kury
nen, die von den vielfach einkommensschwachen Angehörigen nicht gedeckt werden
können, abgesehen von insgesamt restriktiven Besuchsbedingungen.
Auch Besemer (2012, 126) betont, dass die Einflüsse einer Inhaftierung der Eltern
auf die Nachkommen heute bei einer vielfach punitiveren Politik eine größere Be-
deutung bekommen, da mehr Kinder mit der Inhaftierung eines Elternteils konfron-
tiert werden. Sie hebt als Präventionsmaßnahme auf eine Ausweitung der Kontakt-
möglichkeiten zwischen Gefangenen und ihren Kindern ab, etwa die Einrichtung be-
sonderer Besuchsmöglichkeiten für Kinder und eine finanzielle Unterstützung für
die zurückgebliebenen Familien. Vor allem ältere Kinder und Heranwachsende soll-
ten unterstützt werden, da die Einflüsse der Inhaftierung hier besonders gravierend
seien. Für Deutschland wirkt sich hinsichtlich der Problematik eine in den letzten
Jahrzehnten zurückgehende Gefangenenrate günstig aus.
Es liegen inzwischen, trotz aller Einschränkungen aufgrund methodischer Proble-
me bei einzelnen Studien, überzeugende Ergebnisse vor, etwa über den Einfluss so-
zialer Bedingungen hinsichtlich einer Entwicklung von Kriminalität, vor allem auch
über die in aller Regel negativen Auswirkungen einer Inhaftierung auf die Nachkom-
men, weiterhin die erheblichen Kosten der praktizierten Sanktionspolitik. Gleichzei-
tig wurden überzeugende Vorschläge von wissenschaftlicher Seite in Bezug auf ein
besseres Vorgehen hinsichtlich einer Prävention von Kriminalität gemacht. Trotzdem
sind Veränderungen in der Praxis nur schwer zu erreichen. „It appears as if prison and
criminal justice policies have too often ignored viable theories or valid empirical
data“ (Besemer u. a. 2017, 171).
Politiker sind in aller Regel wenig über kriminologische Forschungsergebnisse
informiert, und vor allem auch nur eingeschränkt daran interessiert. Nach ihrem
Empfinden sind in einem ständigen parteipolitischen Wettkampf die Ergebnisse
von Umfragen zur Einstellung der Bevölkerung, etwa auch zum Umgang mit Straf-
tätern, bedeutender, die ihnen Auskunft über die Akzeptanz ihrer Politik und damit
ihrer Chancen, (wieder)gewählt zu werden geben, „investing in more criminal justice
seems a waste of time and money“ (Junger u. a. 2013, 128).
Graebsch (2018, 212) kommt aufgrund ihrer Analyse unterschiedlicher Vorge-
hensweisen zur Reduzierung von Jugendkriminalität zu dem Ergebnis: „Es
spricht … ausgesprochen wenig dafür, dass Forschungsergebnisse, die die Unwirk-
samkeit oder gar Schädlichkeit von Sanktionen oder Programmen für das Ziel der
Rückfallreduktion zeigen, zu entsprechenden Veränderungen in Politik und Praxis
führen“. Auch die Vorstellung von Farrington (2013), dass Kosten-Nutzen-Analy-
sen, die immer wieder zeigen konnten, dass die gegenwärtige Kriminalpolitik deut-
lich teurer ist als längst vorgeschlagene Alternativen, helfen könnten, die Politiker zu
einem Umdenken zu motivieren, scheint nur eingeschränkt erfolgversprechend. Die
Politik richtet sich vor dem Hintergrund eigener Interessen nach der Einstellung der
Öffentlichkeit, dasselbe gilt weitgehend für die Medienberichterstattung. In den letz-
ten Jahrzehnten ist der Wunsch nach mehr Sicherheit in Zusammenhang mit einer
umfangreicheren und vor allem selektiven Berichterstattung über Kriminalität
Zum Transfer straffälligen Verhaltens über Generationen 323
(vgl. Hestermann 2016) immer mehr in den Vordergrund getreten. In diesem Zusam-
menhang erweitert nach Klimke (2008, 42) „der Populismus der Kriminalpolitik …
den Umfang des Strafrechts“. Hassemer betont in diesem Zusammenhang, das Straf-
recht bewege sich vor allem „wie andere Bereiche unseres Lebens auch, im Span-
nungsverhältnis von Sicherheit und Freiheit seit geraumer Zeit hin zum Pol der Si-
cherheit. In dieser Bewegung verschärft sich das Strafrecht, es verbessert sich nicht.
… Es antwortet damit auf eine wachsende Angst der modernen Gesellschaft vor un-
beherrschbaren Risiken, auf verbreitete Kontrollbedürfnisse, auf Prozesse normati-
ver Desorientierung, in denen Gewissheiten verblassen, auf die wir uns früher blind
verlassen haben“ (Hassemer 2009, 285 f.). Eine Veränderung dürfte wohl nur zu er-
reichen sein, wenn es gelingt, die Öffentlichkeit mehr und mehr vom Nutzen einer
besseren Kriminalpolitik zu überzeugen. Da ist dann vor allem die Kriminologie ge-
fordert.
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Heiß und hitzig – Was hat der Klimawandel
mit der Kriminologie zu tun?
Von Rita Haverkamp
1. Einleitung
Hans-Jörg Albrecht zeichnet ein breites wissenschaftliches Œuvre aus. Zu seinen
vielfältigen Forschungsinteressen gehört auch die Umweltkriminalität (Albrecht
1983, 278 ff.; 1993, 555 ff.; 1987, 1 ff.). Immer noch handelt es sich bei der Umwelt-
kriminologie um eine kriminologische Nische. Etwas besser sieht es im Strafrecht
aus. Seit im Jahr 1980 die Gesetzgebung das Erste Gesetz zur Bekämpfung der Um-
weltkriminalität (1. UKG) im neu geschaffenen 28. Abschnitt in das Strafgesetzbuch
einfügte, ist in den letzten vier Jahrzehnten ein Schrifttum im Allgemeinen und im
Besonderen entstanden (vgl. nur Thomas 2015). In diesem Kontext kommt Hans-
Jörg Albrecht in jüngerer Zeit das Verdienst zu, eine kriminologische Doktorarbeit
zur Vollzugspraxis des Umweltstrafrechts und Umweltordnungswidrigkeitenrechts
im Längsschnitt angestoßen und betreut zu haben (Klüpfel 2016). Angesichts des an-
thropogenen Klimawandels verwundert das weitgehende Schweigen in der deut-
schen Kriminologie hierzu. Während sich im angloamerikanischen Raum mittler-
weile eine Kriminologie des Klimawandels etabliert hat (White 2018), steckt diese
in Deutschland – wohlwollend formuliert – in ihren Kinderschuhen (Gnüchtel
2013, 14 ff.). Vorliegend werden Erkenntnisse aus der Green Criminology und der
deutschen Forschung vorgestellt, um dann auf den Klimawandel aus kriminologi-
scher Sicht einzugehen.
Bruinsma & Weisburd 2014, 2164 ff.). Hieraus entwickelten sich verschiedene Spiel-
arten der ökologischen Kriminalitätstheorien. Als klassisch gilt die sozialökologi-
sche Theorie der sozialen Desorganisation (Shaw & McKay 1972 (1942), 435 ff.),
am prominentesten dürfte aber der kriminalökologische Broken-Windows-Ansatz
(Willson & Kelling 1996, 116 ff.) sein. Aufgrund dessen hat sich in der angloameri-
kanischen Kriminologie die Bezeichnung „Green Criminology“ als Oberbegriff
durchgesetzt.1
matter of radical criminology and political economic theory/analysis, and its concern
with class analysis“ (Lynch 2020, 52). Seither ist eine Vielzahl von unterschiedlichen
und umstrittenen Definitionen hinzugekommen (White 2014, 1977). Innerhalb dieser
Definitionsfülle lassen sich zwei Richtungen ausmachen: Während sich nach der
engen Auslegung Umweltkriminalität auf entsprechende Straftaten und Ordnungs-
widrigkeiten beschränkt, geht es – wie bei der vorerwähnten Definition von
Lynch – bei der dominanten weiten Auslegung um Schäden an der Umwelt und Tier-
welt ungeachtet von deren Strafbarkeit (Lynch 2020, 1977). Eine andere weite De-
finition von Umweltkriminalität oder -schaden umfasst White (2014, 1977) zufolge:
„[t]ransgressions that are harmful to humans, environments, and nonhuman animals, regard-
less of legality per se [and] [e]nvironmental-related harm that are facilitated by the state, as
well as corporations and other powerful actors, insofar as these institutions have the capacity
to shape official definitions of environmental crime in ways that allow or condone environ-
mentally harmful practices.“
Vor allem bei der weiten Auslegung tun sich Parallelen zur White-Collar-Krimi-
nalität bzw. Wirtschaftskriminalität, Regierungskriminalität, Makrokriminalität und
Kriminalität der Mächtigen auf (Lynch 2020, 51). In Wirtschafts- und Umweltsachen
hemmen der schwierige Zugang zu Akten und Interwiewpartnerinnen und -partnern
sowie die Komplexität von größeren Fällen verbunden mit einem großen Aktenauf-
kommen eine (Weiter-)Entwicklung der empirischen Forschung (Lynch 2020, 51).
Im Angesicht des Klimawandels ist ein Bedeutungszuwachs der Green Criminology
zu erwarten und damit einhergehend ein stärkerer Fokus auf die Theoriebildung und
die empirische Forschung.
Außerhalb des englischsprachigen Kosmos finden Abhandlungen zur Umweltkri-
minalität in anderen Sprachen in der angloamerikanischen Kriminologie kaum Be-
achtung (South et al. 2014, 2173).2 Diese Feststellung gilt ebenso für die Forschung
hierzu aus Deutschland, auf die im Folgenden eingegangen wird.
Unter Umweltkriminalität versteht Albrecht (1993, 555) Anfang der 1990er Jahre
zuvörderst Verstöße gegen die Straftatbestände im heutigen 29. Abschnitt des Straf-
gesetzbuches. Daneben gibt es noch entsprechend der Bezeichnung in der Polizeili-
chen Kriminalstatistik Straftaten im Strafgesetzbuch mit Umweltrelevanz (z. B.
Sprengstoff- und Strahlungsverbrechen gem. §§ 307 – 312 StGB, gemeingefährliche
Vergiftung gem. § 314 StGB), Straftaten im Zusammenhang mit Lebens- und Arz-
neimitteln (z. B. ArzneimittelG) und Straftaten gegen strafrechtliche Nebengesetze
auf dem Umwelt- und Verbraucherschutzsektor (z. B. Chemikaliengesetz). Albrechts
Begriffsbestimmung stimmt demnach mit der weniger vertretenen, engen Auslegung
2
So gilt der Slowene Janez Pečar als Vorreiter der Green Criminology (nach Eman 2011,
314 ff.).
332 Rita Haverkamp
3
Ein merklicher Einfluss der Green Criminology auf die hiesige Kriminologie ist bislang
nicht ersichtlich.
4
Unionsrechtsakzessorietät spätestens seit der EU-Richtlinie 2008/99/EG des Europäi-
schen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über den strafrechtlichen Schutz der
Umwelt, ABl. 2008, L 328/28) (näher Saurer 2017, 349 ff.).
5
Albrecht (1987, 6 ff.) äußerte dezidierte Kritik an der Verwaltungsakzessorietät im Um-
weltstrafrecht, allerdings lehnt er diese nicht rundweg ab, sondern fordert „[…] über eine
verbindliche Verankerung von Emissionsgrenzen oder Einleitungsgrenzen nachzudenken, um
den Strafverfolgungseinrichtungen klarere Anknüpfungspunkte an die Hand zu geben, ande-
rerseits den Normadressaten deutlichere Verhaltensvorschriften zu setzen“ (Albrecht 1987,
16).
6
Seit dem Jahr 1993 enthält die Polizeiliche Kriminalstatistik Daten aus den alten und
neuen Bundesländern.
Heiß und hitzig – Was hat der Klimawandel mit der Kriminologie zu tun? 333
9
Eine andere Perspektive wählte Albrecht (2005, 1273 ff.), als er sich der organisierten
Kriminalität in Bezug auf die Umwelt widmete.
Heiß und hitzig – Was hat der Klimawandel mit der Kriminologie zu tun? 335
und ökologisch schädlich (White 2018, 12). Des Weiteren geht es um die Anerken-
nung von Umweltstraftaten als malum in se („was an sich falsch ist“) (White 2018,
12). Denn die gewöhnlich als malum prohibitum („falsch ist, was verboten ist“) auf-
gefassten Taten gelten als nicht so schwerwiegend und leisten der Kriminalität der
Mächtigen insofern Vorschub, als es weniger um die Strafbarkeit als um die Balance
zwischen ökonomischen und ökologischen Interessen geht (White 2018, 11 f.). Da
der Klimawandel nicht vor nationalen Grenzen Halt macht, handelt es sich um ein
globales Phänomen, das Sensibilität auch für die vulnerablen, besitzlosen, benach-
teiligten und ignorierten Menschen voraussetzt (White 2018, 13). In diesem Kontext
ist Öko-Gerechtigkeit weit zu verstehen und erfasst das Beziehungsgefüge zu den
Menschen und zur Natur mit Rücksicht auf das Befinden der Biosphäre an sich
wie auch der Flora und Fauna (White 2018, 13). Öko-Gerechtigkeit hat darüber hin-
aus ihren Platz bei den Ursachen und Konsequenzen, wo es um die Täter und Opfer in
einem weiten Sinne geht. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass Umweltgerechtig-
keit mit dem Fokus auf Unterschieden innerhalb der Menschheit, ökologische Ge-
rechtigkeit mit dem Fokus auf der Umwelt und Arten-Gerechtigkeit für den Erhalt
und Fortbestand der Artenvielfalt und Abwehr von Tiermissbrauch eine Rolle spielen
(White 2018, 15). Der Part der Mächtigen mitsamt den politischen und wirtschaftli-
chen Systemen ist ebenso von Bedeutung, wenn es um die Bedingungen für den Kli-
mawandel und das Abschieben von Verantwortlichkeiten im Zusammenhang damit
geht (White 2018, 15).
In theoretischer Hinsicht wendet Robert Agnew die von ihm entwickelte General
Strain Theory (Allgemeine Drucktheorie) im Rahmen der Green Criminology und
folgerichtig auch des Klimawandels an (Agnew 2012, 17 ff.). Nach dieser Theorie
entsteht sozial abweichendes Verhalten durch drei Belastungen: erstens das wahrge-
nommene Verfehlen intendierter Ziele, zweitens das Vorhandensein schädlicher Im-
pulse und drittens der Wegfall positiv besetzter Stimuli (Agnew 1992, 50 ff.). Deren
Auftreten beschränkt sich nicht auf spezifische Milieus, sondern kann wie der Kli-
mawandel die Bevölkerung an sich betreffen. Der klimawandelbedingte Druck ba-
siert u. a. auf extremen Wetterereignissen, Nahrungs- und Trinkwassermangel,
dem drohenden Verlust der individuellen Lebensgrundlage, Krankheiten und Ge-
sundheitsschädigungen, Zwangsmigration, der Betroffenheit von gewalttätigen Kon-
flikten und Kriminalität sowie unterschiedlichen Belastungen für Arm und Reich
(Agnew 2012, 18 f.). Agnew zufolge erhöhen diese Belastungen zwar das absolute
Ausmaß der Besorgnis über den Klimawandel, aber nicht die darauf bezogene rela-
tive Priorität (Agnew 2012, 17 f.). Dies liegt daran, dass sich der Fokus auf die Be-
wältigung der wahrgenommenen genannten Belastungen und nicht auf den Klima-
wandel richtet: „A hungry person, for example, searches for food rather than
more sustainable methods of farming“ (Agnew 2012, 19). Desolate Lebensverhältnis-
se vermögen also den unmittelbaren Eigennutz zu fördern, statt auf Langzeitwirkun-
gen des eigenen Verhaltens und auf ihre Wirkungen für andere zu achten; mitunter
können hieraus strafbare oder schädigende Taten erwachsen, die den Klimawandel
unterstützen (z. B. Abholzen von Wäldern zur Energiegewinnung und Verbrennen
336 Rita Haverkamp
weniger hochwertiger Kohle) (Agnew 2012, 19). Agnew (2012, 23) betont, dass nicht
nur der Eigennutz dominiert, sondern auch altruistische Tendenzen in Belastungssi-
tuationen auftreten, und leitet hieraus Forschungsbedarf für Fallstudien und quanti-
tative Forschung ab.
Ähnlich der Green Criminology hat die Kriminologie des Klimawandels in der
deutschen Kriminologie noch nicht Fuß gefasst. Ausgehend von der Friedens- und
Konfliktforschung gibt es einzelne Vorstöße zu den Auswirkungen des Klimawan-
dels auf Konflikte und Kriminalität (Gnüchtel 2013, 14 ff.). Gnüchtel (2013,
25 ff.) präsentiert ein dreigeteiltes Devianz-Modell aus individueller und kollektiver
Gewalt- und Eigentumskriminalität in der Ereignisregion, punktueller Gewaltkrimi-
nalität und strukturierter transnationaler Kriminalität infolge des Wettbewerbs um
Ressourcen in den Nachbarstaaten sowie wirtschaftlich motivierte und migrations-
bedingte Kriminalität in den Industriestaaten. Ausgehend von diesen verschiedenen
Konflikt- und Gewaltkonstellationen sieht Gnüchtel eine Interventionspflicht aus
einer globalen, menschlichen und staatenübergreifenden Verantwortung, aus der in-
ternationalen Verantwortung der Verursacher-Staaten wie auch aus der nationalen
Sicherheit. Dieses Modell dient ihm als Impuls für einen Klimadiskurs aus krimino-
logischer Perspektive im Sinne einer „klimawandelbedingten Kriminalität“ in
Deutschland (Gnüchtel 2013, 27).
4. Fazit
Der Streifzug in den Klimawandel aus kriminologischer Perspektive verdeutlicht
einmal mehr das bereits eingangs festgestellte und weit verbreitete Desinteresse der
deutschen Kriminologie an Forschungsthemen rund um die Umwelt. Eine Ausnahme
stellt die von Hans-Jörg Albrecht über Jahrzehnte hinweg verfolgte Forschung zur
Umweltkriminalität dar. Die Unterschiede zur Green Criminology sind aber größer
als die Gemeinsamkeiten, was schon beim Begriffsverständnis anfängt. Während in
der Green Criminology der Schutz von Mensch und Umwelt in einem weiten Sinne
an der Schädlichkeit für die Flora und Fauna ungeachtet von deren Strafbarkeit fest-
gemacht wird, ist in der deutschen Kriminologie ein enges Verständnis, das auch das
empirische Forschungsinteresse lenkt, abhängig von der Strafbarkeit verbreitet. Dar-
über hinaus positionieren sich die Vertreterinnen und Vertreter der Green Crimino-
logy politisch – wenngleich unterschiedlich – und fordern Engagement ein:
„Climate Change Criminology involves and supports public engagement and social inter-
ventions that challenge the status quo by focusing on climate justice for humans and
non-human environmental entities“ (White 2018, 144).
schung hierzu bietet sich hierzulande an, schon allein weil der Klimawandel überall
stattfindet.
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Korruption in der Wirtschaft –
individuelle oder organisationale Devianz?
Von Dieter Dölling und Ludmila Hustus
bei zwei Staatsanwaltschaften drei bzw. vier Akten analysiert. Die Akten wurden uns
teilweise zur Auswertung geschickt, teilweise wurden sie von uns in den Räumen der
jeweiligen Staatsanwaltschaft ausgewertet. Die Akten stammten von Staatsanwalt-
schaften aus zehn Bundesländern, die im Norden und Süden sowie im Westen und
Osten Deutschlands liegen.
Die Akten wurden mit einem standardisierten Erhebungsbogen ausgewertet. Er-
hoben wurden insbesondere Merkmale des Beschuldigten, des Unternehmens, für
das der Beschuldigte handelte, sowie der Gang und das Ergebnis der Strafverfolgung.
Bei mehreren Beschuldigten wurde auf den zentralen Akteur der Bestechungsvor-
gänge abgestellt. Für jede korruptive Beziehung dieses Akteurs zu einem bestimmten
Vorteilsnehmer wurde zusätzlich ein Unterbogen ausgefüllt, in dem Merkmale des
Korruptionsgeschehens (z. B. die Höhe der Bestechungssumme) festgehalten wur-
den. Es wurden 123 Unterbögen erstellt.
Die Sanktionierungen der Beschuldigten erfolgten in acht Verfahren wegen Kor-
ruption von Amtsträgern (§§ 333 ff. StGB, Gesetz zur Bekämpfung internationaler
Bestechung) und in sieben Verfahren wegen Bestechung von Angestellten von Un-
ternehmen (§§ 299, 300 StGB). In fünf Fällen wurde nach §§ 263, 266 StGB oder
§ 370 Abgabenordnung sanktioniert. Diese Sanktionierungen standen im Zusam-
menhang mit Korruptionsvorgängen, sodass sie in die Untersuchung aufgenommen
wurden (vgl. zu den Straftatbeständen Tabelle 1).
Tabelle 1
Straftatbestände, wegen derer sanktioniert wurde
Straftatbestände n %
Korruption von Amtsträgern (§§ 333 ff. StGB, ggf. i.V.m. IntBestG) 8 40,0
Angestelltenbestechung (§§ 299, 300 StGB) 7 35,0
§§ 263, 266 StGB; § 370 AO 5 25,0
Gesamt 20 100,0
Die häufigste Strafe war mit neun Verurteilungen die Freiheitsstrafe mit Bewäh-
rung. Die kürzeste der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafen betrug ein Jahr,
die drei längsten beliefen sich auf zwei Jahre. Es wurden zwei Freiheitsstrafen ohne
Bewährung verhängt (Dauer: drei und fünf Jahre). Drei Verurteilte erhielten eine
Geldstrafe. In einem weiteren Verfahren wurde neben der Freiheitsstrafe ohne Be-
währung zusätzlich eine Geldstrafe verhängt. In einem Fall wurde eine Verwarnung
mit Strafvorbehalt ausgesprochen. Gegen fünf Beschuldigte wurde das Verfahren
gegen eine Auflage eingestellt (siehe zu den Sanktionen Tabelle 2). Da auch diese
Beschuldigten in Form der Auflage eine Sanktion erhielten, wurden sie in die Unter-
suchung einbezogen. Im Interesse der besseren Lesbarkeit werden alle sanktionierten
Beschuldigten als Verurteilte bezeichnet.
Korruption in der Wirtschaft – individuelle oder organisationale Devianz? 343
Tabelle 2
Sanktionen
Sanktion n %
Einstellung gegen Auflage nach § 153a StPO 5 25,0
Verwarnung mit Strafvorbehalt 1 5,0
Geldstrafe 3 15,0
Freiheitsstrafe mit Bewährung 9 45,0
Freiheitsstrafe ohne Bewährung 2 10,0
Gesamt 20 100,0
Tabelle 4
Dauer der Bestechungszuwendungen zwischen Vorteilsgeber und Vorteilsnehmer
Dauer der Bestechungszuwendungen n %
Bis 2 Jahre 40 32,5
Mehr als 2 bis 3 Jahre 32 26,0
Mehr als 3 Jahre 47 38,2
Keine Angabe 4 3,3
Gesamt 123 100,0
Die Höhe der in den einzelnen korruptiven Beziehungen jeweils gewährten Vor-
teile variierte stark. Überwiegend war der Wert der Vorteile hoch. Während der Wert
in 13,0 % der Fälle bis 100 Euro und in 8,9 % der Fälle 101 bis 1.000 Euro betrug,
belief er sich in 2,4 % der Fälle auf 1.001 bis 10.000 Euro und in 58,5 % der Fälle auf
10.001 bis 100.000 Euro; in 12,2 % der Fälle betrug er 100.001 bis 1 Million Euro
und in 3,3 % der Fälle überstieg er eine Million Euro (siehe Tabelle 6).
Tabelle 6
Wert der in einer korruptiven Beziehung zugewendeten Vorteile
Wert n %
Bis 50 Euro 6 4,9
51 bis 100 Euro 10 8,1
101 bis 1.000 Euro 11 8,9
1.001 bis 10.000 Euro 3 2,4
10.001 bis 100.000 Euro 72 58,5
100.001 bis 1 Million Euro 15 12,2
Über 1 Million Euro 4 3,3
Keine Angabe 2 1,6
Gesamt 123 100,0
Korruption in der Wirtschaft – individuelle oder organisationale Devianz? 345
Von den 20 Verurteilten waren 19 männlich. Siebzehn waren Deutsche, einer war
Grieche und zu zwei Verurteilten lagen keine Angaben zur Staatsangehörigkeit vor.
Fünfzehn Verurteilte waren verheiratet, zwei geschieden und einer ledig. Zu zwei
Verurteilten fehlten die entsprechenden Angaben. Bei 80,0 % der Verurteilten
ergab sich aus den Akten, dass sie Kinder hatten. Soweit Angaben zum Schulab-
schluss vorlagen, bestand dieser in der Mittleren Reife oder einem höheren Schulab-
schluss (siehe Tabelle 8).
Tabelle 8
Höchster allgemeinbildender Schulabschluss der Verurteilten
Schulabschluss n %
Abitur oder fachgebundene Hochschulreife 4 20,0
Fachhochschulreife 2 10,0
Mittlere Reife 6 30,0
Keine Angabe 8 40,0
Gesamt 20 100,0
Tabelle 9
Höchster beruflicher Ausbildungsabschluss der Verurteilten
Ausbildungsabschluss n %
Hochschulabschluss 4 20,0
Fachhochschulabschluss 2 10,0
Sonstiger Abschluss einer Berufsausbildung 6 30,0
Kein beruflicher Abschluss 1 5,0
Keine Angabe 7 35,0
Gesamt 20 100,0
Überwiegend waren die Verurteilten im Zeitpunkt der ersten Tat bereits mehrere
Jahre für das Unternehmen tätig. Lediglich ein Verurteilter war weniger als zwei
Jahre in dem Unternehmen beschäftigt. Bei 30,0 % betrug die Beschäftigungszeit
zwei bis zehn Jahre und bei 55,0 % mehr als zehn Jahre (vgl. Tabelle 11).
Eine Belastung mit einer Vorstrafe konnte den Akten für keinen der Verurteilten
entnommen werden. Es handelte sich bei den Verurteilten somit um gesellschaftlich
eingegliederte Personen mit gehobener sozialer Stellung (zu ähnlichen Befunden
über die Täter von Korruptionsdelikten in anderen Untersuchungen siehe Dölling
2007, 23, 28 ff.).
Korruption in der Wirtschaft – individuelle oder organisationale Devianz? 347
Tabelle 11
Dauer der Tätigkeit für das Unternehmen im Zeitpunkt des ersten Korruptionsdelikts
Dauer der Tätigkeit n %
Unter 2 Jahren 1 5,0
2 bis 5 Jahre 3 15,0
Mehr als 5 bis 10 Jahre 3 15,0
Mehr als 10 bis 20 Jahre 3 15,0
Mehr als 20 Jahre 8 40,0
Keine Angabe 2 10,0
Gesamt 20 100,0
Die Korruption wurde von den Verurteilten überwiegend intensiv betrieben. Le-
diglich sechs Verurteilte wurden nur wegen einer Tat, einer wegen zwei Taten und
zwei Verurteilte jeweils wegen drei Taten sanktioniert. Während bei einem Verurteil-
ten 8 Taten den Gegenstand der Verurteilung bildeten, lagen bei sieben Verurteilten
dem Urteil 10 bis 20 bzw. über 20 Taten zugrunde (siehe Tabelle 12).
Tabelle 12
Zahl der den Verurteilungen zugrunde liegenden Taten
Zahl der Taten n %
Eine Tat 6 30,0
2 bis unter 10 Taten 4 20,0
10 bis 20 Taten 3 15,0
Über 20 Taten 4 20,0
Keine Angabe 3 15,0
Gesamt 20 100,0
der Verurteilten den Akten entnommen werden konnte, dass die Korruptionsdelin-
quenz von dem späteren Vorteilsnehmer ausging.
Im Hinblick auf die Frage, ob bei den Taten individuelle oder organisationale De-
vianz vorlag, ist zunächst festzustellen, dass 35,0 % der Verurteilten Firmeninhaber
oder Teilhaber waren. In dieser Konstellation fielen individuelles und organisationa-
les Interesse zusammen. Durch die Bereicherung des Unternehmens bereicherte sich
auch der Verurteilte. Eine über das Individualinteresse hinausreichende Handlungs-
orientierung kann bei diesen Verurteilten nicht festgestellt werden.
25,0 % der Verurteilten waren nicht Firmeninhaber, bereicherten sich aber durch
die Korruptionsdelikte auch persönlich. Bei diesen Beschuldigten spielten also Indi-
vidualinteressen jedenfalls auch eine Rolle. Bei den verbleibenden 40,0 % der Ver-
urteilten geht aus den Akten nicht hervor, dass sie mit den Korruptionstaten auch
einen persönlichen Vorteil anstrebten. Daher könnte bei diesen Verurteilten die
Handlungsorientierung durch organisationale Devianz bestimmt sein (siehe auch
Hoven 2018, 252; danach hatten in den untersuchten Fällen der Auslandsbestechung
die bestechenden Unternehmensmitarbeiter überwiegend das Interesse ihres Arbeit-
gebers im Blick).
Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass bei diesen Verurteilten auch
individuelle Interessen wie der Ausbau oder Erhalt des persönlichen Status im Un-
ternehmen durch Erfolge bei der Beschaffung von Aufträgen eine Rolle spielten.
Über die genaue Motivlage der Verurteilten gaben die Akten keinen Aufschluss.
Es könnte sich bei individueller und organisationaler Devianz nicht um zwei streng
getrennte Phänomene handeln, sondern diese Devianzformen könnten sich auch
überlagern. In zwei Verfahren ergab sich aus den Akten, dass Vorgesetzte korruptive
Handlungen billigten. In einem dieser Fälle lag auch eine persönliche Bereicherung
des Vorteilsgebers vor. Dies weist auf die vom Jubilar dargestellte Komplexität der
Entstehung von Wirtschaftskriminalität hin (vgl. Albrecht 2003, 59 f.), die der wei-
teren Analyse bedarf.
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Korruption in der Wirtschaft – individuelle oder organisationale Devianz? 349
1. Introduction
In around 1990 it became very clear to Hans-Jörg Albrecht that the creation of the
European Union would have major implications in the domain of crime and punish-
ment. In 1991, therefore, he did not hesitate when I suggested that he join me in
founding a journal dedicated to promoting the academic discourse on the subject.
That journal was the European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Jus-
tice.1 Naturally, the growing relevance of the problem of organised crime for the Eu-
ropean Union’s policy on criminal justice was a regular topic of discussion at our fre-
quent meetings to plan successive issues of the journal. Thanks in part to input from
Professor Letizia Paoli, who had written an important thesis on the ’Ndrangheta in
1997 and had moved from the European University Institute in Florence to the Max-
Planck Institute in Freiburg in 1998, in around 2000 those discussions led to the idea
of writing a book on the history and manifestations of organised crime and the meas-
ures taken to combat it in the European Union and its member states.2 The project
commenced in 2002 and culminated, in 2004, in the publication of a major volume
covering those three topics with contributions from a range of prominent researchers
from throughout the European Union.3
When I was asked to write a piece for this liber amicorum in July 2019, my
thoughts immediately returned to our happy collaboration in launching the European
journal and in writing that unique book. Prompted by those memories, I decided to
choose a theme for this liber amicorum that would to some extent reflect those two
initiatives and our collaboration. After some reflection, I decided that my contribu-
tion would focus on the prediction that the Italian mafia would expand to other Euro-
pean Union member states made by the legendary Italian investigating judge Giovan-
ni Falcone at a symposium on organised crime in Europe organised by the Bundes-
kriminalamt in November 1990. In this article, I use the example of Germany in en-
deavouring to answer the question of whether his prediction has come true. Why take
1
Fijnaut 2013, XVI–XVIII.
2
Paoli 2003. See also Paoli 1999.
3
Fijnaut & Paoli 2004; Woodiwiss 2015, 102 – 103.
352 Cyrille Fijnaut
Germany as an example? For two reasons. First, the four main branches of the Italian
mafia – the Sicilian Cosa Nostra, the Calabrian ’Ndrangheta, the Neapolitan Camorra
and the Sacra Corona Unita in Apulia – have maintained a significant presence in
Germany since the 1960s. Second, and partly connected with their lengthy presence
in the country, there is a relatively large amount of information available about their
illegal activities in Germany. My attempt to answer the question posed is structured
as follows.
The article opens with a summary of the substance of the prediction that Falcone
made in 1990, but also a discussion of the complications that are connected with its
evaluation. That is followed by an analysis of the debate about the Italian mafia that
was conducted in Germany prior to 1990. There is then a review of the investigation
ordered by the Bundeskriminalamt into the mafia’s illegal activities in the country
shortly after 1990. The following section relates to the organisation and operations
of the Italian mafia in Germany in the present day. The concluding section contains an
assessment of the implications of the findings in the article for the value that can be
attached to Falcone’s prediction in 1990.
What precisely did Falcone predict in that speech in 1990?4 Essentially, the pre-
diction can be encapsulated in the five following points.
– First, he said that one must not lose sight of the fact that – similarly to what had
happened in the United States, Canada and Australia5 – when migrants from Sicily
and Calabria moved to Belgium, France, Germany and other countries in North-
West Europe they, as it were, brought the mafia with them.6 Furthermore, it was
logical that the large Italian communities that developed in those countries could
easily fall under the sway of criminal organisations from their regions of origin
(i. e., the Sicilian Cosa Nostra and the Calabrian ’Ndrangheta).
– Second, he argued that by abolishing controls on the internal borders the European
Union would inevitably facilitate the expansion of mafia-style practices to the
countries of North-West Europe. By extension, bloody conflicts between mafia
clans, similar to those that occurred in the south of Italy, could also be expected
to spread to those countries.
4
Falcone 1992, 395 – 398; Falcone 1994, 57 – 63. For more about this study day, see
Poerting & Störzer 1990.
5
On the migration of the mafia to the United States, see Lupo 2015; Critchley 2009;
Lombardo 2010.
6
In this context, see Roth & Frey 1992; Roth, Frey & Fijnaut 1994; Calvi 1993.
Giovanni Falcone’s Prediction of the Italian Mafia’s Expansion 353
– Third, he stressed that a European version of the mafia would not be a precise copy
of the original because it would have to operate in a different cultural and political
environment. He therefore considered it unlikely that the code of silence, omerta,
would play as large a role in the aforementioned countries as it did in the south of
Italy, or that the mafia would figure so prominently in terms of generating votes for
local political parties in those countries. On the other hand, he did not exclude the
possibility that the mafia would attempt to bribe public officials in countries like
Germany and Belgium.
– Fourth, he stressed that in the northern European countries the mafia would seek to
collaborate with local criminal organisations in carrying out various forms of
crime, such as kidnapping wealthy individuals. In that context, he regarded it
as entirely possible that international criminal organisations, including the
mafia, would seek to avoid conflicts, particularly in the drug market, by forming
alliances or, where that proved impossible, by resolving disputes peacefully rather
than with violence.
– Fifth, he said that one had to be aware that criminal groups in the northern Euro-
pean countries might increasingly mirror their organisation and operations on
those of the Italian mafia. This could mean, among other things, that they
would try to infiltrate public administration and the economy and would use var-
ious forms of violence against public servants.
In his talk, Falcone also referred to the expansion of the various branches of the
mafia into the north of Italy, although he did not explicitly link that migration to their
expansion into North-West Europe.7 That is rather peculiar, since it seems evident
that the two developments could reinforce one another. In any case, the mafia
could, and still can, plan and carry out operations in the North-West of Europe
more easily and rapidly from the north of Italy than from the south of the country.
In his speech, Falcone also failed to mention the close cooperation that the Sicilian
Cosa Nostra had established with the American Cosa Nostra in the transatlantic trade
in heroin and cocaine in the 1970s.8
There is obviously not enough room to explore all of Falcone’s propositions in
depth in this article. There is only scope to examine the first three points he made.
However, that constraint does not affect the social relevance of this piece of research,
since it remains possible to say something about the warnings given for years to coun-
tries like France, Belgium, Germany, the Netherlands and the United Kingdom by
Italian prosecutors, judges and journalists: that they seriously underestimate the
threat posed by the Italian mafia to their public administration, their economy and
their society, and consequently fail to adopt the legislative and organisational meas-
ures required to address that threat in time.9 On 19 December 2019 – following the
7
As regards the mafia’s expansion in Italy itself, see, inter alia, Calderoni 2011.
8
Blumenthal 1988; Sterling 1990; Palmieri 1992.
9
Fijnaut 2012, 134.
354 Cyrille Fijnaut
The major problem with this warning – and hence also with Falcone’s prediction –
is that even today it has still not been directly and thoroughly evaluated. Nor can a
thorough evaluation be conducted indirectly on the basis of the research that has been
carried out up to now. Not only has there been no comprehensive empirical research
into the organisation and the operations of the Italian mafia in the territories of the
aforementioned member states, there has also been no rigorous comparative research
into the situation in those countries and the situation in Italy itself. The growing body
of literature on the expansion of the Italian mafia in Europe, and specifically Germa-
ny in this case, must therefore be treated with caution.11 After all, since much of the
literature is entirely based on non-German sources and therefore fails to correspond
in important respects with what has actually happened in Germany or what has been
written about the Italian mafia in this country.12 This doesn’t mean, however, that in
recent years no important analyses have been made of the organisation and opera-
tions of the mafia in Germany on the basis of Italian sources. Felia Allum’s study
of the nature, the scale and the process of the Camorra’s expansion through Europe
is also extremely informative with respect to Germany. Nevertheless, even that study
would have benefited from the integration of the research based on Italian sources
with research in relation to German sources.13
Be that as it may, it is incontrovertible that mafiosi on the run from the Italian law
enforcement authorities still hide out in countries such as the Netherlands, France and
Germany. This is obvious from the incessant stream of newspaper reports about the
arrest of mafiosi in these countries. Crime reporting also leaves no doubt that for
many years mafiosi have been engaged in various illegal activities, in particular
drug trafficking, in these and other North-West European countries. Furthermore,
anyone who looks a little more deeply into the reporting on the Italian mafia
knows that mafiosi use legitimate businesses, such as restaurants and transport com-
panies, to facilitate and camouflage their illegal activities in those countries.
The point immediately has to be made, however, that the three aforementioned
activities are in no way a distinctive feature of the Italian mafia in the European
Union member states: members of criminal organisations have traditionally hidden
in other countries to avoid the police and prosecution authorities in their own country;
criminal organisations are, by definition, systematically involved in illegal activities,
10
M. Leijendekker, Italiaanse mafia-experts: ‘Nederland is naief’, NRC-Handelsblad,
19. 12. 2019.
11
See Varese 2011; Allum 2016; Sergi & Lavorgna 2016, 53 – 70.
12
Sergi & Lavorgna 2016, 58 – 60; Dagnes, Donatiello & Storti 2019, 194 – 196.
13
Allum 2016, 64 – 104. See also Sciarrone & Storti 2013.
Giovanni Falcone’s Prediction of the Italian Mafia’s Expansion 355
in particular drug trafficking; and organised criminal gangs around the world com-
monly use legitimate businesses as a cover for their illegal enterprises. In other
words, the question to be answered with an evaluation of the accuracy of Falcone’s
prediction is whether the Italian mafia employs methods that are typically character-
istic of it, and which therefore distinguish it from other criminal organisations, in Eu-
ropean countries other than Italy.
In light of the contemporary analyses of the organisation and operations of the
mafia in Italy, this means that the first question to be answered is whether, in cities
or regions of another country, mafia groups take significant steps to gain control over
or acquire a monopoly in particular sectors of the economy (hospitality, construction,
agro-industries, waste processing, etc.) or systematically employ some form of ex-
tortion on every possible company in a sector. The second question that needs to be
answered is whether mafiosi endeavour to gain control over political parties and/or
local authorities (or key persons in them) in cities and regions in those other coun-
tries.14 And, until these two questions have been properly answered, it is in any case
inappropriate to make outspoken assertions regarding the Italian mafia’s expansion
into North-West Europe. In the current circumstances it is certainly incorrect to
equate the situation in Italy in general terms with that in countries in North-West Eu-
rope. As Falcone remarked, it has to be recognised that the Italian mafia is organised
and operates differently in other countries than in Italy because the political, cultural
and economic conditions are so different.
Naturally, that is not to say that the three ways in which the Italian mafia has long
manifested itself in European countries other than Italy could not lead, in time, to
situations that are apparently commonplace throughout Italy today. But it is precisely
in order to identify the precise threat posed by an entrepreneurial capitalist mafia – to
paraphrase Pino Arlacchi – early on that it is so important to look in detail at develop-
ments that are occurring in countries like the Netherlands and Germany and to com-
pare them as far as possible with those in the Italian mafia’s own country.15
14
Fijnaut 2012, 134 – 135. On the current situation in Italy, see, inter alia, Sciarrone 2010;
Serenata 2014; Scalia 2016; Di Gennaro & La Spina 2017; Massari & Martone 2019; Allum,
Marinaro & Sciarrone 2019.
15
Arlacchi 1986.
16
Early publications include Steinke 1966, 148 – 150; Zühlsdorf 1974. See also Kinzig
2004, 46 – 60, 243 – 265; Luczak 2004, 175 – 262.
356 Cyrille Fijnaut
very circumspect when speaking in public about the criminal activities of the Italian
mafia in German territory.17 But this reticence on the part of the law enforcement au-
thorities could not be maintained forever.
To begin with, striking examples of large-scale criminal activities involving the
Italian mafia in various places in Germany were given at confidential meetings in
the early 1980s, based on criminal investigations. The crimes mainly involved extor-
tion and arson attacks on Italian pizzerias and ice cream parlours.18 In addition, at the
end of the 1980s articles appeared in various police journals about crimes committed
by the Italian mafia in Germany itself and committed in Italy from Germany. These
articles referred not only to extortion and arson attacks against Italian businesses in
the hospitality sector, but also to car theft, murder, robbery, drug trafficking and
money laundering operations along the Germany-Italy axis. A number of the articles
also mentioned the enormous difficulty faced by the authorities in solving these
crimes because suspects and witnesses refused to make statements for fear of the con-
sequences – in Germany itself or in Italy.19
A second point to be made in this context is that three sensational books by jour-
nalists about organised crime, and in particular the Italian mafia, were published in
Germany in the period 1987 – 1989: Der Mob by Dagobert Lindlau, Mafia: Ziel
Deutschland by Werner Raith, and Die Absahner by Butz Peters. These books descri-
bed illegal gambling operations in Hamburg, extortion of pizzerias and casinos in the
Ruhr region, and murders at various locations in Germany in a quite alarming, not to
say alarmist tone. The authors also made the serious accusation that, despite every-
thing, the competent authorities turned a blind eye to the Italian mafia and failed to
take the necessary measures to control the problem.20
Did German criminologists not engage in the political and media discussion about
the mafia’s expansion in the country? Given that Henner Hess had written a famous
book about the mafia in Sicily (published in German in 1970 and in English in 1973),
one would have thought that the only possible answer was yes.21 But nothing could be
further from the truth. It was only in 1989 that Carola Reiners defended an important
thesis containing a comparative survey of organised crime, and in particular the Ital-
ian mafia, in the United States, Italy and Germany. In the thesis, she wrote about
groups of Italian criminals in Frankfurt, Mainz and other large German cities –
with close connections to one another and to criminal organisations in Italy – that
17
Rebscher & Vahlenkamp 1987 and 1988; Dörmann, Koch, Risch & Vahlenkamp 1990.
See also, for example, Jacobi 1990; Sielaff 1990; Zachert 1990; Ostendorf 1991.
18
Sielaff 1983, 42 – 44; Müller 1983, 88 – 109.
19
Lenhard 1990, 58; Prinz 1990, 657 – 661; Stümper 1985, 11; Weigand 1988, 7, 10;
Weigand 1989, 191 – 192. For a specific example of what happened in some places, see Ulrich
2005, 94 – 125.
20
Lindlau 1987, 140 – 141, 177 – 179, 184 – 188, 202 – 210, 214 – 219, 230 – 243, 256 – 270;
Raith 1989, 54 – 63, 84 – 93, 172 – 205; Peters 1990, 170 – 176, 248 – 250, 256 – 262, 280, 285.
21
Hess 1973.
Giovanni Falcone’s Prediction of the Italian Mafia’s Expansion 357
22
Reiners 1989, 194 – 196, 199, 201 – 202, 205 – 206, 241 – 244.
23
Gehm & Link 1992; Leyendekker, Rickelman & Bönisch 1992a, 243 – 275; Leyendekker,
Rickelman & Bönisch 1992b; Zachert 1993.
358 Cyrille Fijnaut
had been believed up to then. The majority of Italian restaurants in Munich and
Cologne had to pay “protection money”; in Mainz, the figure was at least 80%.
– There was no longer anywhere in Germany that members of the mafia had not set-
tled. For example, in and around the small town of Kempten, there were around
130 mafiosi living and 30 members of the Sicilian Cosa Nostra were systemati-
cally extorting compatriots. A chief of detectives in Naples estimated the number
of members of the Camorra operating in the east of Germany at 2,000.
– The mafia clans fought out conflicts in Germany, but also from Germany in their
cities and villages of origin. Evidence connected with the murders of Falcone and
Borsellino was also traced back to Germany. Falcone had at one point received a
death threat in a letter that was postmarked in Wuppertal.
These findings were discussed at a meeting between Germany’s Minister of the
Interior, Rudolf Seiters, and his Italian counterpart, Nicola Mancino, in Bonn on 7
September 1992. The press release published after the meeting referred to the
need to end the activities of organised crime, in particular the mafia, because of
the serious threat it posed to the state and to society. The press release went on to
say that according to the information available to the security services, Germany
had also become one of the mafia’s areas of operation – partly due to the fact that
many Italians had come to live and work in the country.24
Remarkably enough, even the Bundeskriminalamt’s report failed to lead to an up-
surge in scientific research into organised crime. The principal outcome was a few
conferences devoted to the manifestations of this form of crime and the possibilities
and complications of tackling it.25 This is evident from the overview provided by Jörg
Kinzig and Anna Luczak in their contribution to the book on organised crime in Eu-
rope by Paoli and myself in 2004.26 One of the few exceptions was the study by Nor-
bert Pütter of the consequences that efforts to combat organised crime would have for
the legal regulation and de facto organisation of investigations and prosecutions.27
In his postdoctoral thesis, Kinzig in fact studied the situation in the state of Baden-
Württemberg in the 1990s in more depth. The conclusion to be drawn from that anal-
ysis is that representatives of the various branches of the Italian mafia were mainly
involved in various forms of car theft, spreading counterfeit currency, extortion of
pizzerias, and trafficking of drugs and weapons, as well as the murder of a relative
of a crown witness.28
24
Innere Sicherheit, no. 4, 12, 30. 10. 1992.
25
Mayerhofer & Jehle 1996.
26
Kinzig & Luczak 2004. See also Kaiser 1996, 416 – 417.
27
Pütter 1998.
28
Kinzig 2004, 392 – 424.
Giovanni Falcone’s Prediction of the Italian Mafia’s Expansion 359
29
Sprenger 2017, 17 – 20, 63 – 80, 151 – 172. For more about San Luca and about the chief
of detectives who led the investigation, see Reski 2008, 50 – 84, 187 – 199. See also Reski 2012,
52 – 77.
30
Reski, Die Mafiosi von nebenan, Die Zeit, 13. 08. 2009.
31
Forgione 2010, 105 – 128. See also Gratteri & Nicaso 2009, 245 – 248; Dietz 2011, 191 –
222.
32
X, Großrazzia gegen italienische Baumafia, Köln Nachrichten, 17. 01. 2013; Diehl,
Schmid & Ulrich, Staatsanwaltschaft klagt mutmaßliche Baumafiosi an, Spiegelonline, 30. 10.
360 Cyrille Fijnaut
string of illegal activities carried out by the Sicilian Cosa Nostra and the ’Ndrangheta
in Baden-Württemberg, primarily drugs and arms trafficking, arson and extortion.33
Another example that really stands out is the joint investigation by the Italian and
German police into the Sicilian Cosa Nostra in Cologne that engaged in drug traffick-
ing, but also tried to seize control of the fish trade from Rome and Milan to Germa-
ny.34
Naturally, recent annual reviews of organised crime by the Landeskriminalämter
in the states of North Rhine-Westphalia and Bavaria can provide a clearer general
impression of the current level of illegal activity by the ’Ndrangheta, the Sicilian
Cosa Nostra and the Camorra (and the investigations into them) in Germany. Crimes
that are repeatedly mentioned in these reviews are drug trafficking, money launder-
ing, armed robbery of jewellery stores, tax evasion, illegal arms trafficking, car theft,
currency counterfeiting and forgery. A more unusual example is the report of the suc-
cessful effort by several ’Ndrangheta clans to compel important sections of the Italian
hospitality sector in Bavaria to buy wine, fish and pastry from their companies in
Calabria (“Agromafia”).35 It is also noteworthy that the reports refer to the fact
that the illegal activities are generally closely linked to the clans’ illegal activities
in their regions of origin and that they are also organised and controlled from
those regions.36
For an impression of the situation at the federal level, the primary source of in-
formation is the Bundeslagebild Organisierte Kriminalität. This annual summary
of the situation is published by the Bundeskriminalamt. According to the surveys
for the period 2017 – 2018, an average of roughly 13 or 14 criminal investigations
are conducted each year into various branches of the Italian mafia in Germany, in
particular the ’Ndrangheta and the Sicilian Cosa Nostra. These investigations mainly
concern cocaine trafficking, but also money laundering, extortion, robbery and car
theft.37 Another relevant source in this context is the fairly recent replies by the Bun-
2013. See also Bülles 2013, 103 – 127; Schraven & Meuser 2017, 166 – 182; Reski 2012, 149 –
155.
33
E. Wein, Eine Nummer zu klein für die Mafia, Stuttgarter Zeitung, 20. 04. 2018; R. Soldt,
Dunkle Geschäfte im Schwarzwald, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. 09. 2018. In this
context, see also Landtag von Baden-Württemberg, Italienische Mafia in Baden-Württemberg
im Jahr 2019, Drucksache 16/6378, 04. 06. 2019. For a sketch of a specific situation, see Ulrich
2005, 214 – 219. See also Schraven & Meuser 2017, 58 – 64, 82 – 89; Reski 2012, 164 – 170.
34
X, Erfolgreicher Schlag gegen die Mafia in Deutschland und Italien, Aktuell Deutsch-
land, 04. 10. 2017.
35
See also Schraven & Meuser 2017, 142 – 145; Reski 2012, 173 – 188.
36
Polizei Nordrhein-Westfalen, Landeskriminalamt, Organisierte Kriminalität: Lagebild
NRW 2015 & Lagebild NRW 2017; Bayerisches Landeskriminalamt/Staatsanwaltschaften in
Bayern, Organisierte Kriminalität: Gemeinsames Lagebild Justiz/Polizei 2017. See also the
letter from the Minister of the Interior of North Rhine-Westphalia H. Reul to the Landtag of
11. 02. 2019 on efforts to combat the mafia in the state.
37
Bundeskriminalamt, Organisierte Kriminalität: Bundeslagebild 2017 & Bundeslagebild
2018.
Giovanni Falcone’s Prediction of the Italian Mafia’s Expansion 361
desregierung to three questions from members of the Bundestag regarding the illegal
activities of the Italian mafia in the country.38 In a nutshell, and in as far as they are
relevant for the purposes of this article, these fairly detailed replies contain the fol-
lowing findings and insights:
– As far as is known, more than 560 members of the Italian mafia are living in Ger-
many; in 2017 there were 87 members of the Camorra (31 clans), 124 members of
the Sicilian Cosa Nostra (24 clans), 333 members of the ’Ndrangheta (51 clans)
and 18 members of the Apulian Sacra Corona Unita (9 clans). Some of these fig-
ures were slightly higher in 2019 – there were 344 members of the ’Ndrangheta,
belonging to 61 clans, for example.
– However, the estimate of the number of members of the Italian mafia living in Ger-
many includes a large ‘dark number’. For example, the ’Ndrangheta is believed to
have 18 to 20 support points in Germany – mainly in North Rhine-Westphalia, Ba-
varia, Baden-Württemberg and Hessen – each of which could have up to 50 mem-
bers. In other words, the actual number of ’Ndrangheta members in Germany
could be between 800 and 1,000.39
– Criminal investigations into the Italian mafia have been a priority for the Bundes-
kriminalamt since the 1990s. In 2017, there were 14 such investigations.40
– The members of these organisations – particularly members of the Sicilian Cosa
Nostra and the ’Ndrangheta – were mainly active in drug trafficking (primarily
cocaine), economic crime, violence, waste processing, fiscal crime, money laun-
dering, crimes against property, counterfeiting and illegal gambling.
– In some cases, it was found that the ’Ndrangheta forced Italian restaurants to buy
food from Italy. The restaurants need the products anyway and many of the res-
taurateurs are from the same regions in Italy and therefore did not have to be co-
erced: they know that refusing the offer could have repercussions.
– In 16 investigations in the past few years it was found that the mafia had exerted
pressure of one form or another on politicians, media, public authorities, the ju-
diciary or the economy; no evidence of corruption was found in investigations car-
ried out during this period; three attempts had been made to exert pressure on a
person in the one of the above categories in 2017.
– The Italian mafia consciously conducts itself very defensively in Germany and ab-
stains as far as possible from committing violence in order to avoid revealing its
illegal activities as far as possible.
38
Bundestag, Drucksache 18/13320, 15. 08. 2017; Drucksache 19/4104, 31. 08. 2018;
Drucksache 19/10541, 31. 05. 2019.
39
For examples, see Ulrich 2005, 256 – 258; Reski 2012, 101 – 125.
40
On the difficult progress with these investigations, see, inter alia, Schraven & Meuser
2017, 204 – 216.
362 Cyrille Fijnaut
A further point that has to be made here is that at several points the government
says it has no clear picture of the actual situation. For example, it is impossible to say
anything about the mafia’s total turnover in the country or about its investments in
real estate, gastronomy and the building industry.
6. Conclusion
Assessing the first three assertions made by Falcone in light of the above narrative,
the following conclusions can be drawn for each of them.
As regards the first assertion:
– Given the reports from the 1980s, it can only be acknowledged here that the var-
ious mafia groups co-emigrated, as it were, with the large number of workers from
the south of Italy who travelled to find work in Germany after the Second World
War.
– It is clear, in particular from the violent acquisition of control of Italian restaurants,
that these groups almost immediately began exerting pressure on the Italian com-
munities that were being formed at that time.
– These communities not only formed a good hiding place for mafiosi who had fled
from Italy, but also provided an effective cover for various illegal activities that
were carried out in Germany but organised in Italy, and vice versa.
In relation to the second assertion:
– It is indeed possible that the abolition of controls on the internal borders of the
European Union facilitated the expansion of mafia practices, but even before
then the controls had not constituted an obstacle to the mafia’s expansion into Ger-
many and other countries in North-West Europe. It can therefore be argued that
Falcone probably overestimated the impact of the abolition of border controls.
– As the bloodbath in Duisburg showed, Falcone was correct in referring to the risk
that bloody conflicts similar to those in Italy itself might occur in these countries or
that such conflicts, once started in Italy, could also spread outside the country to a
certain extent.
With regard to the third assertion:
– It is clear that the mafia groups develop (or seek to develop) illegal activities in
various places in Germany and in various sectors of the legitimate economy,
but there is so far no evidence that they systematically control, let alone have a
monopoly in, specific economic sectors in a particular city or region. Nor has it
been found that they interfere in the elections in Germany or are guilty of
large-scale bribery of public officials.
Giovanni Falcone’s Prediction of the Italian Mafia’s Expansion 363
– That latter point is a ground for endorsing Falcone’s assertion that these groups
behave differently in Germany than in Italy, but also the German government’s
reply on 31 May 2019 to the third parliamentary request, namely that it could
not be asserted, on the basis of the criminal investigations that had been launched,
that the ’Ndrangheta was penetrating increasingly into German society by means
of corruption and violence.
– However, it cannot be concluded from this that omerta does not play a major role in
Germany, as Falcone suggested: it still plays a major role in Italian communities in
Germany and in the German branches of the various mafia groups.
These conclusions in relation to the first three assertions show that although they
are very plausible in many respects, the predictions made by Falcone in 1990 are
highly debatable in others. They are not, in any case, the final word on the expansion
of the Italian mafia into Germany and should therefore be seen mainly as an incentive
to conduct further in-depth empirical research into the mafia’s expansion into that
country and other member states of the European Union. Not only to provide nuance
and underpinning for the views Falcone expressed to the Bundeskriminalamt in 1990,
but also to bridge the very wide substantive gap that has existed for many years in
Germany between the prominent journalism on the subject and the very meagre re-
ports from the political, judicial and police authorities at the federal level and in the
federal states.41 Such research could also provide an opportunity for a realistic dis-
cussion with Italian judges and journalists about the expansion of the mafia into
North-West Europe.
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41
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Reflections on the Money Trail
By Michael Levi
1. Introduction
Following the Money Trail was introduced to deal with ‘Organized Crime’, a
‘floating signifier’ in Levi-Strauss’ anthropological terms, which has been an impor-
tant theme of Professor Hans-Jörg Albrecht’s work. Somehow, the following of the
money trail has also morphed into dealing with ‘organized economic crime’. ‘Eco-
nomic crime’ now includes
1. frauds of different types with different victims, sometimes badged under the cat-
egory of ‘vulnerable’ (which can be tautological);
2. ‘market abuse’ such as insider dealing/trading;
3. money laundering (of all crimes);
4. financing of terrorism (mostly since 2001) and (since 2008) of proliferation fi-
nancing, including weapons of mass destruction; and
5. transnational bribery (usually, but not necessarily, from OECD country corpora-
tions to public officials in the Global South).
Anglophone lawyers brought up with constructs such as mala in se and mala pro-
hibita might find some difficulties in adapting to these changes, because these taken-
for-granted labels often are taken to equate to old crimes and new crimes: yet quite
apart from the compliance costs, lengthy sentences and (in nominal terms) huge fi-
nancial penalties are imposed for violations thereof, at least on the relatively rare oc-
casions when formal action is taken. It may be useful to regard ‘economic crime’ and
two of its sub-sets – ‘money laundering’ and ‘corruption’ – as a category of illicit
capitalism which reflects the successes (and failures) of the pressure group politics
of criminalization and of functionally equivalent methods of control. An almost uni-
versal core component of this is the passage of criminal laws and regulatory processes
that meet evolving Financial Action Task Force (FATF) criteria.
Historically, there have been varied global estimates of the size of what used to be
called ‘the hidden economy’ and latterly, illicit financial flows. The EU requires
member states to provide estimates because of the implications for ‘true’ GDP
and national contributions to the EU budget (Eurostat 2018). Reuter (2013) has ex-
pressed strong scepticism about both the feasibility and the value of such money laun-
370 Michael Levi
dering estimates, and in practice, the main significance of such figures is to signal
that this is a big problem and more needs to be done about ‘the problem’. The
moral claims of the AML entrepreneurs also made it culturally and reputationally
challenging for the financial sector in any country to explicitly attack controls:
hence the curious death of ‘customer confidentiality’ as a discourse in the public
arena. There is no evidence that any of the global figures generated is used operation-
ally as a baseline for assessing the effectiveness of Anti-Money Laundering (AML)
or of any other policy: if it was, as with the various forms of ‘wars on drugs’, the
policy framework might have to be abandoned or seriously modified.
frauds by volume, since in the UK, for example, only those frauds committed against
or by regulated firms that achieve the Financial Conduct Authority (FCA)-undefined
category of ‘significant’ are in scope, and even there, nothing is known about the fol-
low up to such reports. However the banking industry representative body’s UK Fi-
nance is a member of the Economic Crime Board of the UK government, both for its
AML/sanctions roles and for its anti-fraud role because identity fraud and payment
card fraud are the most visible parts of the ‘organised’ economic crime spectrum, and
affect directly the largest number of people of any economic crime or indeed any
other crime for gain. The criminalisation of transnational (and sometimes national)
bribery affects banks directly via risks (should they fail to report any suspicions they
may have) of money laundering charges (a) against their own individual Money
Laundering Reporting Officers and (b) perhaps against the banks themselves. It
also affects banks indirectly because of the risks (however remote in practice) that
companies to whom they have lent money might be damaged by severe penalties
should they be convicted of corruption. The implications of these developments
are important.
‘Economic crime’ comprises crimes with different categories and levels of harm,
committed by and impacting upon highly diverse sectors of the population. Their
sub-components are investigated (and investigatable) by very different policing
and regulatory methodologies both before and after ‘crime’ commission. As a
legal category, ‘laundering’ does not enable us to distinguish between licensed pro-
fessionals who launder, professional (i. e. regular) knowing money launderers, peo-
ple who launder money from their own crimes (like burglars putting money into their
own bank accounts in their own names), and banks who intentionally or recklessly
ignore their obligations to report suspected money laundering or who turn a wilfully
blind eye to ‘smurfing’ by customers to manipulate deposits to fall below the routine
reporting threshold. Banks generally counter that any laundering is the result of rotten
apple rather than institutionally supported misconduct, and without smoking gun
emails/ recorded conversations, or verified whistle-blower accounts, or some ‘market
testing’ exercise as conducted by Findlay et al. (2014), it is difficult to test this or
validly falsify such claims. What is certain, however, is that violations by institutions
great and small continue, despite occasional regulatory and rare criminal institutional
sanctions. Some more subtle thinking is needed on metrics of reoffending. Given its
size, is a violation at Deutsche Bank ‘the same’ as one at a much smaller institution?
In this era of globalisation, problems also arise for crime statisticians – and note
that jurisdictions are mandated to conduct national risk assessments, presumably
with their own country’s risks as the central organising concept (see Ferwerda & Reu-
ter 2019, for an early review). There are also EU supranational risk assessments in
2017 and 2019. Normally, when we think of risk, we think of harms that can be plau-
sibly or potentially done to a natural person or an organisation/legal person (and per-
haps to a sector). This has commonly been extended to ‘reputational risk’ with its
implications for individuals and businesses’ future capabilities and profits. Apart
372 Michael Levi
from summing up these at a national level, sanctions against jurisdictions for their
deemed failures to meet AML/tax transparency standards need to be factored in.
One might take SARs or STRs as alerts to possible malefaction: but it would be
reasonable to conclude that rather than reflecting reporters’ own normative beliefs
that action ought to follow, SARs reflect regulated persons’ blind obedience to
rules and/or fluctuating terror at being punished by regulators or criminal courts
for not seeing that transactions are acts about which ‘something should be done’.
The analogy could be criticised on the grounds that (except for lawyers, whose beliefs
that funds are proceeds of crime need to be ‘reasonable’ before overriding client con-
fidentiality in the UK) SARs are only suspicions about predicate offences. But racial-
ly motivated offending/hate crime also involves a subjective judgment about moti-
vation rather than an objective fact. However to my knowledge, no government or
statistical office has yet taken seriously the task of creating criminal statistics for
money laundering beyond prosecutions or convictions, which may be set out in jus-
tice statistics rather than in crime statistics.
It is impossible properly to evaluate the impact of AML if there are no before and
after data – but although the UK government has commissioned a series of ‘gap fill-
ing’ studies on serious and organised crime, they appear to have (perhaps reasonably)
concluded that a lightly funded RUSI survey and seminar was sufficient to write off
the possibility of ‘a figure’ for money laundering (Moisienko & Keatinge 2019).
Given the range of predicate crimes of poor estimatability and our ignorance
about the savings ratios of offenders, even working out an order-of-magnitude figure
with a large range raises the question of what is our motivation or perception of value
for performing such an exercise (see Reuter 2013).
There have been more modest data-gathering exercises on particular dimensions
of money laundering. One that held promise was the de Boyrie et al. (2004) attempt to
develop price discrepancy analysis for testing over and under-invoicing of physical
goods. Publicly this has not been verified or falsified as a model, and given the se-
crecy of tax bodies, it is difficult to infer whether their proposals were impractical or
whether the political economy pressures (of a kind highlighted by the Tax Justice
Network) or bureaucratic ones have inhibited take up. We even have little under-
standing of the impact of Panama Papers, Swiss Leaks and other scandals, despite
the best efforts of the Süddeutsche Zeitung and other worthy investigative media
that are part of the important phenomenon of the International Consortium of Inves-
tigative Journalism. There has been little clamour for evidence-led or even evidence-
influenced policy in AML, except mutedly from those banks who would like to spend
less money or the same money more effectively on anti-laundering measures.
Reflections on the Money Trail 373
3. Proceeds of Crime
Another component of the Wars on Organised Crime, Drugs and Economic
Crimes which has interested both Hans-Jörg Albrecht and Michael Kilchling at
the Max Planck Institute is the confiscation or recovery of proceeds of crime. The
reform of law is a political process, and the elements of underlying political pressures
– as well as the difficulties thrown up by cases brought or wanted to be brought – have
a strong influence on prioritisation of issues in the scarce space available in parlia-
mentary timetables, whether in Germany, the UK or around the world. This section
will review the cultural and political background behind measures to combat pro-
ceeds of crime, the history of legislation and implementation, and the contemporary
case for change.
The proceeds of crime confiscation are socially and politically attractive for a
range of reasons. Confiscation and forfeiture are socially restorative in a visible
way that takes away something criminals have acquired and feel that they have own-
ership of, even if they know it is not legal; they offer a chance at general deterrence or
at least crime reduction, through the common sense assumption (not proven empiri-
cally) that criminals will not offend at all or will offend less if they ‘realise’ that they
will not be able to keep the funds that they have ‘acquired’; and they offer some com-
pensation to identifiable victims, to society and (via a sometimes controversial incen-
tives scheme, especially in the US) to police, prosecutors and the courts for the re-
covery of enforcement costs or even profits in the use of financial investigation, asset
freezing and other mechanisms to pursue assets.
Confiscation and asset recovery also offer something for diverse political and even
ideological constituencies. For non-governmental organisations and development
aid agencies in the Global North and South, there are prospects of deprivation of
the proceeds of Grand Corruption (which usually involves offences committed in
other jurisdictions, in which one or more major financial centres are trusted locations
for assets and may also be where the bribe-paying companies – if not their actual
bribe-paying intermediaries – are located). See successive Siemens scandals as an
example. Sanctions and asset freezing supplement banking and corporate due dili-
gence by placing some funds ‘beyond use’, thereby reducing terrorism capacity
for legally designated individuals, networks and rogue states – an impact also claim-
ed for freezing and confiscation on transnational organised criminals. For the public,
stripping undeserving criminals – from local dealers to transnational traffickers and
from full time criminals to otherwise respectable fraudsters – of the fruits of their
crimes offers the hope that this will reduce the extent to which they serve as negative
role models for young people in their communities and offers some symbolic satis-
faction. In societies which crave public signals to offenders to deter them from vice
and to show the virtuous that crime does not pay, proceeds of crime freezing and re-
covery is important. Its absence is also important.
Consequently, the public failure to achieve those objectives humiliates the State
and civil society. By any reasonable criteria, levels of proceeds confiscation have
374 Michael Levi
failed to meet hopes and claims for major impact anywhere in the world. A good way
of thinking about this is to compare the amounts confiscated not just in money terms
but as a proportion of the proceeds of or profits from crime. The public, like the media
and indeed governments, may not ‘connect up’ the large (if empirically contested by
scholars) ‘estimates’ of money laundering and the ‘costs of organised crime’ with the
relatively puny criminal assets confiscated or even frozen: however it is not intellec-
tually tenable to argue that confiscation is successful at the same time as asserting that
criminals are making sums in the trillions while confiscation globally barely strug-
gles into the billions of dollars, euros or pounds. It appears that criminals are mocking
the state’s efforts to inhibit their lifestyle.
Added to the dramatic demonology of crime itself, this somehow makes the griev-
ance of lack of redress and ‘just deserts’ worse. If it turns out that offenders’ vehicles
and other apparent ‘assets’ are hired or borrowed and are beyond the reach of con-
fiscation or forfeiture, and that suspects and convicted persons cannot be stopped
from making use of these ‘undeserved’ facilities, it may evoke the same resentments
(or sometimes envy) at lack of entitlement as the stereotype of social security fraud,
and even worse if the public can see (or imagine) them continuing to do visible harm
in their neighbourhoods. It may contribute to de-legitimate the state’s claims about its
capacity and motivation to control ‘serious crime’.
Often, these issues are analysed only in a national framework, and sometimes this
is a very parochial one. Despite the narrow framework of UK National Audit Office
and Parliamentary reports, it is important to appreciate that the problems of pursuing
offender assets are neither new nor are they restricted to any one country. A reader of
UK reports would be unaware of the EU network of member states’ Asset Recovery
Offices, the Europol-based Camden Asset Recovery Inter-Agency Network, and the
wealth of British, Dutch, German and Italian – indeed pan-EU and Council of
Europe – empirical as well as legal research on this subject (see Levi 2018; Levi
& Soudijn 2020). Whether pre- or post-Brexit, the UK and Germany must deal
with their crime problems on a national basis as well as by cooperation or pressure
in international cases, which has improved in recent years. More critical detailed at-
tention is needed to the sorts of cases that generate larger and unsuccessful recoveries
internationally, to examine whether success and failure are associated with case mix
rather than particularities of confiscation regimes, and also the issue of criminal as-
sets held overseas that were neglected when legislation was drafted.
The choice between metrics of asset recovery performance – per capita popula-
tion, per recorded crime (or sub-set of crimes), per amount reasonably estimated to be
proceeds of crime domestically and imported, per amount frozen or only actually
confiscated or recovered – have not received serious analysis in formal papers by
the Financial Action Task Force, International Financial Institutions (IMF, World
Bank), governments or audit bodies internationally. Although we should be much
wearier than the evangelists of change usually are about whether there is a universal
‘what works’ package to be found in this realm, these experiences may and should
Reflections on the Money Trail 375
teach us that there are broader issues we need to consider even if we are focused sole-
ly on restraint and confiscation cases in our own country. Indeed the ‘in’ here should
be carefully considered: the assets of offenders convicted (or investigated) in the UK
or Germany may be overseas, while assets may be held in the UK or Germany by
offenders (including but not restricted to kleptocrats) who reside overseas. No coun-
try can itself determine extra-territorial restraint and confiscation (though worldwide
freezing orders – formerly known as Mareva injunctions – were developed by the
English civil courts to deal with financial claims, including misconduct such as
Grand Corruption anywhere in the world).
Implicit in many official money laundering reports is the assumption that crimi-
nals are Protestant ethic capitalists aiming principally at accumulation of capital and
on integration of their illicitly acquired proceeds into the respectable economy. It is
true that empirical studies of offender lifestyles are thin on the ground, but Freako-
nomics insights such as its chapter ‘Why Do Drug Dealers Still Live With Their
Moms?’, as well as more formal academic studies, yield some grounds for scepticism
about the centrality of accumulation in criminal motivation (Levitt & Dubner 2006;
van Duyne & Levi 2005; Levi & Soudijn 2020). Offender expenditure of significant
sums on restaurants, clubs, gambling, holidays as well as on personal drugs consump-
tion is unavailable for recovery. (Online and offline betting firms and casinos would
put more effort into customer due diligence if the money lost by criminals from crim-
inality was repayable by them!) This high lifestyle expenditure (by an unknown per-
centage of serious offenders as well as by most petty offenders) undermines some of
the deterrence argument for proceeds confiscation, which relies on a significant pro-
portion of the proceeds being saved rather than spent as offenders go along.
Thus, the elapsed time between the offence or obtaining proceeds and access to
funds being stopped by post-conviction orders or pre-conviction asset restraint be-
comes the critical period both for deterrence and for asset recovery prospects.
Some criminals are apprehended by the police or revenue agencies in possession
of cash, which can be seized immediately with, one might expect, stronger cognitive
effects on offenders (and on the agencies). However, to understand deterrence and
deterrability better, we need to avoid the tendency to lump different ‘types of crim-
inal’ together so that it becomes hard to distinguish motivation and to identify how to
discourage it. We might therefore look at the difference between criminals who fit the
definition of criminal lifestyle and those who do not. As defined by the UK’s Pro-
ceeds of Crime Act (POCA) 2002, ‘criminal lifestyle’ is not about how the money
is spent but about how (and how repeatedly) it is obtained. However, we might con-
sider also how money is spent or saved. (Not that the lifestyles of many wealthy busi-
nesspeople show proportionately high savings either: culturally, we are a world away
from Max Weber’s era Germany.) To the extent that offenders have saved their pro-
ceeds, those funds or assets purchased with them will still be available in theory: but
whatever moral position politicians may adopt in relation to their recuperability, it is
unrealistic to think that would ever happen.
376 Michael Levi
4. Conclusion
In many EU member states, there remains policy indifference and mixed perform-
ance that has been difficult to shift into the active harmonised whole evangelised by
the European Commission and the Union. Overall, it remains to be seen what appetite
politicians and the public have for further legislative and institutional change. The
global history of proceeds of crime forfeiture – whether civil or criminal – is a history
in which expectations and rhetoric are not matched by criminal justice inputs (finan-
cial investigations and processing of cases to criminal and regulatory action nation-
ally and internationally), outputs (like funds frozen and/or confiscated) or outcomes
(like demonstrable impacts of such freezes, forfeitures and confiscations on different
forms of criminal behaviour). This chapter has reviewed a range of material that is
relevant to understanding those challenges and considering the other elements ana-
lysed here may highlight the limitations of seeing ‘law reform’ and an endless series
of EC Directives as a sufficient rather than as a necessary but not sufficient part of
social welfare.
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Tausendsassa Alkoholverbot
… im Dienste von Gesundheit, Kriminalität und Kommerz
* Für wertvolle vorbereitende Hilfe danke ich meinem Mitarbeiter Jakob Bach herzlich.
1
Hoover 1974, 511.
2
Wenn man das bei seinen intensiv gelebten Kontakten zum Ausland überhaupt so sagen
darf.
3
Vgl. Hefendehl 2014, 69.
380 Roland Hefendehl
4
Vgl. den Beitrag „Kommunen können nun Alkoholverbote erteilen – tun es aber nicht“ in
der Wochenzeitung Der Sonntag v. 10. 12. 2017; https://www.badische-zeitung.de/kommunen-
koennen-nun-alkoholverbote-erteilen-tun-es-aber-nicht-146396843.html [24. 01. 2021].
5
Vgl. die Vereinbarung der „Sicherheitspartnerschaft“ zwischen der Stadt Freiburg und
dem Land Baden-Württemberg; https://www.presseportal.de/download/document/410362-
20170303-anlage-partnerschaftsichereralltag.pdf [24. 01. 2021].
Tausendsassa Alkoholverbot 381
„Ziele hinter den Zielen“6. Über sie mutiert die Evaluationsforschung endgültig zu
einem Feigenblatt.7 Denn werden die eigentlichen Ziele erreicht, ist alles andere eher
egal.
Als Beispiel für diese Ziele hinter den Zielen kann gleich der anfangs erwähnte
National Prohibition Act herhalten: Offiziell angetreten war das Gesetz mit dem
Schutz der Bevölkerung vor den negativen Wirkungen des Alkohols, vielleicht
auch mit der Reduzierung der Kriminalität. Tatsächlich standen jedoch ganz maß-
geblich fremdenfeindliche und rassistische Motive Pate.8
Und heute? Mit der im „Bermudadreieck“ geltenden Verordnung wollte die Stadt
den vorgeblich starken Anstieg von Gewaltdelikten bekämpfen, für den sie den Al-
koholkonsum verantwortlich machte.9 Gerade die Möglichkeit des sog. Vorglühens
einige Schritte von der erfassten Örtlichkeit entfernt sowie die unbeschränkten und
erwünschten Gelegenheiten des Alkoholkonsums in Clubs und Gaststätten dieses
Viertels haben aber schnell den Verdacht aufkommen lassen, dass es möglicherweise
doch darum ging, die Infrastruktur in der Innenstadt auch am Abend attraktiver zu
gestalten und diesen Raum wirtschaftlich zu stärken.10
Ziel des baden-württembergischen Alkoholverkaufsverbotsgesetzes wiederum
war es ausweislich der Gesetzesbegründung, „alkoholbeeinflussten Straftaten und
Ordnungswidrigkeiten im öffentlichen Raum während der Nachtzeit entgegenzutre-
ten sowie Gesundheitsgefahren zu begegnen, die mit einem übermäßigen Alkohol-
konsum infolge des auch in den Nachtstunden jederzeit möglichen Erwerbs von Al-
kohol in Verkaufsstellen verbunden sind.“11 Möglicherweise ging es aber auch maß-
geblich darum, den nächtlichen Alkoholkonsum in und an Tankstellen einzudäm-
men,12 oder war es jedenfalls nicht so wichtig, dass die Straftat tatsächlich auf
dem Alkohol beruhte.
6
Zu derartigen Zielen hinter den Zielen im Kontext der Videoüberwachung bereits Stolle
& Hefendehl 2002, 267 f.
7
Siehe eindrücklich unten 4.2.1.
8
https://www.deutschlandfunk.de/vor-100-jahren-verabschiedet-prohibitionsgesetz-zum-
schutz.871.de.html?dram:article_id=461986 [24. 01. 2021].
9
Vgl. aus dem Freiburger Gemeinderat die Drucksache G-08/148, 3; https://orangenfalter.
files.wordpress.com/2008/07/polvo-alkoholverbot.pdf [24. 01. 2021].
10
Hierzu im Einzelnen Hefendehl 2014, 79, 81 f.
11
LT-Drs. 14/4850 vom 21. 07. 2009, 1.
12
Dazu die Gesetzesbegründung zum Entwurf des Alkoholverkaufsverbotsgesetzes (LT-
Drs. 14/4850 vom 21. 07. 2009), 8, 17.
382 Roland Hefendehl
kritischen Analyse unterziehen. Ein Schwerpunkt wird dabei auf dem nächtlichen
Alkoholverkaufsverbot liegen, das zweifach evaluiert worden ist.
Wir beginnen im Juli 2008. Die Stadt Freiburg hatte eine „Polizeiverordnung zur
Begrenzung des Alkoholkonsums im öffentlichen Straßenraum“ erlassen. Durch
deren § 2 Abs. 1 war es in einem festgelegten räumlichen Bereich der Freiburger In-
nenstadt, dem sog. Bermudadreieck, auf den öffentlich zugänglichen Flächen außer-
halb konzessionierter Freisitzflächen verboten, insbesondere in den Abend- und
Nachtstunden am Wochenende alkoholische Getränke jeglicher Art zu konsumieren
sowie alkoholische Getränke in Konsumabsicht mit sich zu führen. Mit der zunächst
auf zwei Jahre befristeten Verordnung wollte die Stadt vorgeblich den Anstieg von
Gewaltdelikten bekämpfen, für den sie den Alkoholkonsum verantwortlich machte.
Gestützt wurde die Verordnung auf die baden-württembergische Verordnungs-
Generalermächtigung im Polizeigesetz (§ 10 PolG BW). Sie lässt das Verbot von
Verhaltensweisen zu, wenn von diesen eine abstrakte Gefahr für die öffentliche Si-
cherheit oder Ordnung ausgeht. Damit sind nach herkömmlicher Lesart solche Hand-
lungen gemeint, die bei generell-abstrakter Betrachtungsweise typischerweise zum
Eintritt eines Schadens führen.13 Auf das Alkoholkonsumverbot in Freiburg übertra-
gen: Der Nachweis hätte erbracht werden müssen, dass all diejenigen, die an den Wo-
chenendnächten im Geltungsbereich der Verordnung mitgebrachten Alkohol konsu-
mieren oder in Konsumabsicht mit sich führen, regelmäßig gewalttätig werden.
Dieser Nachweis misslang gründlich. Die Urteilsgründe des VGH Mannheim
legen ein beredtes Zeugnis über die Hybris der Stadt ab, wie diese mit vagen poli-
zeilichen Zahlen und Vermutungen die gesetzlichen Voraussetzungen einer Frei-
heitseinschränkung zu unterlegen versuchte. So setzte man ohne jede Skrupel auf
die Polizeiliche Kriminalstatistik mit ihren bekannten Erkenntnisproblemen, die
zudem keinen Aufschluss darüber gab, wann genau und wo, im öffentlichen
Raum oder in einem Gebäude, sich die Verdachtsfälle ereigneten.
Das genügte dem VGH Mannheim natürlich nicht. Ein Rückgang der registrierten
Gewaltdelikte seit Einführung des Verbots um 16 %14 begründe lediglich einen Ge-
fahrenverdacht hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Alkoholkonsum und Ge-
walt. Auf einen solchen dürfe der Verordnungserlass jedoch nicht gestützt werden.
Möglicherweise bestehe gar ein bloßer Scheinzusammenhang statt eine (mit)kausale
Beziehung zwischen Alkoholkonsum und Gewaltdelikten. Es sei möglich, dass sich
Alkoholtäter leichter überführen ließen und daher bei den polizeilichen Erhebungen
überrepräsentiert seien.15
13
BVerwG NVwZ 2003, 95 (96).
14
VGH Mannheim NVwZ-RR 2010, 55 (58); in absoluten Zahlen: um (lediglich) 13 Fälle.
15
VGH Mannheim NVwZ-RR 2010, 55 (57).
Tausendsassa Alkoholverbot 383
Und so kippte der VGH Mannheim das Freiburger Alkoholkonsumverbot nur ca.
ein Jahr nach dessen Inkrafttreten wieder.16
Ein knappes Jahr später war eine neue Idee am Start: Am 1. März 2010 trat in
Baden-Württemberg das Gesetz zur Abwehr alkoholbeeinflusster Störungen der öf-
fentlichen Sicherheit und Ordnung während der Nachtzeit und zum Schutz vor alko-
holbedingten Gesundheitsgefahren (Alkoholverkaufsverbotsgesetz) in Kraft. In das
baden-württembergische Ladenöffnungsgesetz wurde ein neuer § 3a mit der amtli-
chen Überschrift „Verkauf alkoholischer Getränke“ eingefügt. Nach dessen Absatz 1
Satz 1 durften „in Verkaufsstellen […] alkoholische Getränke in der Zeit von 22 Uhr
bis 5 Uhr nicht verkauft werden.“
Eine gegen das Alkoholverkaufsverbot gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde
vom Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 29. September 2010 nicht zur
Entscheidung angenommen. Die verfassungsrechtlichen Fragen, die das Gesetz auf-
werfe, seien bereits geklärt.17 Insbesondere sei die Annahme des Gesetzgebers nicht
zu beanstanden, die zeitliche Einschränkung der Erwerbsmöglichkeiten verringere
die mit einem missbräuchlichen Konsumverhalten einhergehenden Gefahren.
Bezeichnenderweise spricht das Bundesverfassungsgericht im Folgenden die Ge-
fahren durch Straftaten und Ordnungsstörungen allerdings nicht mehr an, sondern
hält es für ausreichend, dass sich das Verbot zur Reduktion des Alkoholkonsums
im öffentlichen Raum eigne. So könne zwar nicht ausgeschlossen werden, dass
das Alkoholverkaufsverbot ab 22 Uhr zu einer stärkeren Bevorratung von alkoholi-
schen Getränken im Zeitraum vor 22 Uhr führe. Es erscheine jedoch naheliegend,
dass die Entscheidung zum Erwerb von weiteren Alkoholika gerade bei jungen Men-
schen oftmals erst nach bereits begonnenem Konsum spontan sowie stimmungs- und
bedürfnisorientiert erfolge und daher durch eine Begrenzung der zeitlichen Verfüg-
barkeit die Entstehung von Szenetreffs und der vermehrte Alkoholkonsum an sol-
chen Orten eingedämmt werden könnten.18 Auch bei der Erforderlichkeit und der
Verhältnismäßigkeit i. e. S. hat das BVerfG keine Bedenken. Der existierende Beur-
teilungs- und Prognosespielraum bei ersterer sei nicht überschritten, der Eingriff sei
schließlich auch nicht übermäßig belastend.
Die ernüchternde Erkenntnis lautet: Über die zurückgenommene Interpretation
des Alkoholverkaufsverbotsgesetzes im Sinne der schlichten Reduzierung des Ange-
bots und weg von der Zielsetzung der Einflussnahme auf die Gewaltkriminalität läuft
das Merkmal der Geeignetheit schlicht leer.
16
VGH Mannheim NVwZ-RR 2010, 55.
17
BVerfG NVwZ 2011, 355.
18
BVerfG NVwZ 2011, 355 (356).
384 Roland Hefendehl
19
LT-Drs. 15/3666 vom 19. 06. 2013.
20
LT-Drs. 15/3666 vom 19. 06. 2013, 2 f.
Tausendsassa Alkoholverbot 385
21
LT-Drs. 15/3666 vom 19. 06. 2013, 3.
22
Baumann u. a. 2019; deutsche Zusammenfassung der Untersuchung: Baumann u. a.
2020.
386 Roland Hefendehl
4.2.2.1 Ergebnisse
Tatsächlich ließ sich eine annähernd parallele Entwicklung der Tag- und Nacht-
kriminalität in den Jahren von 2007 bis 2009 – also in den Jahren vor Einführung des
Alkoholverkaufsverbots – bei den Straftatengruppen „einfache Körperverletzung“,
„qualifizierte Körperverletzung“ und „Raub“ feststellen. In diesen Deliktsgruppen
waren nach dem Ansatz also die tags begangenen Fälle als Kontrollgruppe für die
23
Baumann u. a. 2020, 60.
24
Hierbei wurde nicht danach differenziert, ob diese Straftaten unter Alkoholeinfluss be-
gangen wurden oder nicht. Denn die Polizeiliche Kriminalstatistik erfasst den Alkoholeinfluss
lediglich bei Tatverdächtigen, nicht hingegen bei Tatverdachtsfällen, da hier oftmals – bei den
nicht aufgeklärten Fällen – kein Tatverdächtiger und damit auch nicht dessen Alkoholisierung
festgestellt werden kann.
25
Vgl. Kugler u. a. 2014, 121.
Tausendsassa Alkoholverbot 387
26
Das dem Verf. vom Freiburger Polizeipräsidium übermittelte Zahlenmaterial legt nahe,
dass ein ähnlicher Befund für den Bereich der einfachen Körperverletzung auch in Freiburg
festgestellt werden kann. Für die Fallzahlen mit einer Tatzeit zwischen 22 Uhr und 5 Uhr
waren in Freiburg ab 2010 fast durchweg stärkere Abnahmen bzw. geringere Zunahmen –
verglichen mit der Tatzeit zwischen 5 Uhr und 22 Uhr – zu verzeichnen. Für die qualifizierte
Körperverletzung ergeben die nach Tatzeit differenzierten Fallzahlen für Freiburg kein derart
klares Bild. Zudem ist dieses Zahlenmaterial nicht in vergleichbarer Weise auch hinsichtlich
der Kontrollvariablen wie die o.g. Studie aufbereitet.
27
VGH Mannheim NVwZ-RR 2010, 55 (58).
388 Roland Hefendehl
vorgelegten Zahlen zu relativieren. Dabei soll nicht verkannt werden, dass der be-
rechnete Effekt größer und präziser ermittelt ist, als er für Freiburg ausgemacht
wurde.
Daneben haben sich die Autorinnen und Autoren der Studie weit aus dem Fenster
gelehnt und den von ihnen gewählten Differenz-von-Differenzen-Ansatz in der so-
zialwissenschaftlichen Evaluationsliteratur als „gängige Praxis“ bezeichnet.28
Er ist in der Tat in der Ökonometrie gebräuchlich, um die Wirkung politisch-öko-
nomischer Maßnahmen zu untersuchen.29 So wurde der Ansatz bereits häufig ange-
wendet, um die Effekte von Mindestlohnregelungen (Lohn- sowie Beschäftigungs-
effekte) zu untersuchen.30 Er diente beispielsweise der Evaluierung des Einflusses
von Arbeitslosenunterstützung auf die Bemühungen, einen Arbeitsplatz zu bekom-
men, sowie den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt und der Untersuchung der Effekte des
Kündigungsschutzgesetzes auf die Schaffung von Stellen in kleinen Unternehmen.31
Wer Kriminalität letztlich als das Ergebnis einer Kosten-Nutzen-Abwägung be-
greift, mag geneigt sein, entsprechende Analysemodelle der Wirtschaftswissen-
schaften auch im Bereich der empirisch-kriminologischen Forschung anzuwenden.32
Der Nachweis der Effektivität einer Präventionsmaßnahme mittels des Differenz-
von-Differenzen-Ansatzes erscheint dann als Vorstufe zur Frage der volkswirtschaft-
lichen Effizienz derselben.33
Tatsächlich wurde die Differenz-von-Differenzen-Methode in den vergangenen
Jahren nicht lediglich von Baumann et al., sondern auch anderweitig zur Erfolgsmes-
sung von Kriminalpräventionsmaßnahmen herangezogen.34
Die Hoffnung, mit der Differenz-von-Differenzen-Methode auch in der Krimino-
logie Kausaleffekte nachweisen zu können, soll hier gar nicht in Abrede gestellt wer-
den. Durch die Zugrundelegung von Differenzwerten eignet sich die Methode durch-
aus, um Drittfaktoren auszuschließen und eine Entwicklung auf eine bestimmte In-
tervention oder gesetzgeberische Maßnahme zurückzuführen. Gleichwohl ergeben
sich nachfolgend aufzuzeigende limitierende Faktoren eines derartigen Ansatzes
für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand.
28
Baumann u. a. 2020, 62.
29
Kugler u. a. 2014, 120 ff.
30
Vgl. etwa Card & Krueger 1994, 778 f.; König & Möller 2008, 330 f.; Bossler u. a.
2018, 19 ff.
31
Zu Ersterem Winter-Ebmer 2003, 262 ff.; zu Letzterem Bauernschuster 2013, 297 f.
32
Vgl. Entorf & Spengler 2005, 17 ff.
33
Dazu Entorf & Schulan 2018, 371; Thomsen 2015, 84 ff.
34
Sie diente etwa zur Messung von Effekten der infolge eines terroristischen Anschlages in
Buenos Aires lokal verstärkten Polizeipräsenz auf Autodiebstähle (Di Tella & Schargrodsky
2004, 121 f.) oder zur Messung der Auswirkungen des in Bogotá und Medellín eingeführten
Verbots, Schusswaffen zu tragen, auf Todesfälle infolge von Schusswaffengebrauch (Vecino-
Ortiza & Guzman-Tordecillab 2020, 171 ff.).
Tausendsassa Alkoholverbot 389
Die von Baumann et al. eingeführten Kontrollvariablen erwecken auf den ersten
Blick Zweifel. Lassen sie Rückschlüsse auf ein vielleicht überkommenes theoreti-
sches Verständnis von Baumann et al. zu den Ursachen von Kriminalität zu? Bricht
man die allesamt auf der Makroebene angesiedelten Daten auf den Einzelnen herun-
ter, liegt ein Zusammenhang mit den kriminogenen Faktoren der klassischen, ätio-
logisch orientierten Kriminologie nahe. Berücksichtigen Baumann et al. also die
Scheidungsrate, die Arbeitslosenquote, das Pro-Kopf-Einkommen, den Ausländer-
anteil oder die Fruchtbarkeitsrate, kommt der Verdacht auf, die Abstammung aus
einem geschiedenen, arbeitslosen, armen, nichtdeutschen, kinderreichen Elternhaus
bzw. sozialen Umfeld sei als kriminogener Faktor anzusehen.
Eine Interpretation dieser Kontrollvariablen erscheint jedoch auch in einem zu-
rückgenommenen Sinne denkbar, dass diese empirisch gesehen lediglich die Zu-
schreibung von Kriminalität begünstigen könnten. So ließe sich argumentieren,
der Ausländeranteil oder das Pro-Kopf-Einkommen fänden allein deshalb Berück-
sichtigung, weil die Ausländereigenschaft oder die Zugehörigkeit zu einer niedrigen
sozialen Schicht zu einem verstärkten Labeling führe und daher „herauszurechnen“
seien, wenn man lediglich die Wirkung des Alkoholverkaufsverbots in den Blick
nehmen wolle.
Man hätte sich bei der Untersuchung gleichwohl gewünscht, dass Kriminalitäts-
ursachen und Kriminalisierungsrisiken stärker auseinandergehalten worden wären.
Wird die Entwicklung der Tatverdachtsfälle im Bundesland Hessen zur Kontrolle
der zuvor berechneten Differenzen ergänzend herangezogen, so ist zudem zu hinter-
fragen, ob hier tatsächlich eine Vergleichbarkeit gegeben ist, die die Zahlen aus Hes-
sen zu einer geeigneten Kontrollgruppe macht. Baumann et al. ziehen politische und
ökonomische Kennzahlen zum Vergleich der beiden Bundesländer heran (Arbeitslo-
senquote, Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner, Länderfinanzausgleich, Regie-
rungsparteien).35 Hiermit bringen sie ein weiteres Mal ihre Präferenz für ökonomi-
sche Querschnittsdaten zum Ausdruck, die als theoretisches Grundgerüst für die For-
schungsfrage nicht geeignet erscheinen. Auch das zweite Argument, warum die
Wahl auf Hessen fiel, nämlich dass hier anders als in weiteren Bundesländern hin-
reichende Daten für den Untersuchungszeitraum ab 2007 vorgelegen hätten,36 schafft
insoweit kein besonderes Vertrauen.
Wäre es nach dem Gesagten ein voreiliger Schluss, allein in der Auswahl der Kon-
trollvariablen ein kriminologisches Defizit zu sehen, so findet sich ein solches aller-
dings an zentraler Stelle, nämlich der gänzlich fehlenden Auseinandersetzung mit
der Frage, wie das Alkoholverkaufsverbot überhaupt wirkt. Innerhalb des Studiende-
signs ist das zunächst kein Manko: Bedient man sich des Differenz-von-Differenzen-
Ansatzes zur Untersuchung der Effektivität eines Gesetzes, so kann tatsächlich die
Frage nach den Bedingungen für die Wirksamkeit des Gesetzes völlig ignoriert wer-
35
Baumann u. a. 2019, 5.
36
Baumann u. a. 2019, 2.
390 Roland Hefendehl
den. Diese Bedingungen lassen sich schlicht als nicht einsehbare „Blackbox“ behan-
deln.37 Das Ergebnis einer solchen Untersuchung kann dann aber allenfalls die Tat-
sache sein, dass es irgendeinen Zusammenhang gibt – wie auch immer dieser im Ein-
zelnen beschaffen sein mag.
Nach Weisburd und Hinkle liegt hierin ein zentrales Problem von Evaluationen im
Bereich der Kriminologie und des Strafrechts: Soll eine solche Evaluation herausfin-
den, warum ein Programm funktioniert, dann muss dieser Untersuchung vorausge-
setzt sein, dass das zu untersuchende Programm selbst auf einer gut entwickelten
Theorie fußt. Sie muss die spezifischen kausalen Zusammenhänge benennen, die
von Kriminalpräventionsprogrammen gezielt angegangen werden sollen.38
Eine eben solche valide Theorie fehlt aber im Fall der Alkoholverkaufsverbote.
Behauptet werden hier Auswirkungen der Maßnahme auf die Kriminalitätsbelastung
deshalb, weil eine geringere Alkoholverfügbarkeit zu einem geringeren Alkoholkon-
sum führe, und man davon ausgeht, der Konsum von Alkohol habe eine kriminogene
Wirkung. Dies wird als Grundannahme vorausgesetzt, konnte jedoch bislang nicht
bestätigt werden. Alle Erklärungsansätze, die eine kriminogene Wirkung des Alko-
hols nachweisen wollen, benennen eine Vielzahl anderer Faktoren, die den Einfluss
von Alkohol auf Kriminalität vermitteln.39 Ein direkter Zusammenhang zwischen
Alkohol und Kriminalität erscheint insoweit nur bei solchen Delikten denkbar, bei
denen der Alkoholkonsum selbst Teil des Tatbestands ist (z. B. § 316 StGB). Modelle
aus der Aggressionsforschung unterstellen zwar zum Teil eine akute, psychopharma-
kologische Wirkung von Alkohol, die sich auf die Straftatenbegehung auswirke,
diese Wirkung könne jedoch durch Drittvariablen („Moderatoren“) verringert oder
verstärkt werden.40 Alkohol komme allgemein eine stimulierende Wirkung zu,41
die sich sowohl in Euphorie als auch in Aggression niederschlagen könne.42
Den fehlenden empirischen Nachweis einer kriminogenen Wirkung des Alkohol-
konsums kann auch die Studie von Baumann et al. nicht überwinden. Und entspre-
chend sind die Ergebnisse von Studien, die den Zusammenhang zwischen zeitlicher
Alkoholverfügbarkeit und Kriminalität mittels des Differenz-von-Differenzen-An-
satzes untersuchten, höchst unterschiedlich.43 So analysierten Norström und Skog
im Jahr 2005 die Wirkungen eines schwedisches Gesetzes, mit dem der Verkauf
37
Weisburd & Hinkle 2018, 289 ff.
38
Weisburd & Hinkle 2018, 305.
39
Vgl. Friedemann & Rettenberger 2019, 146; Foerster & Dreßing 2015, 192.
40
Friedemann & Rettenberger 2019, 146.
41
Kerner (2000, 20) spricht vom Alkohol als „facilitator“ bzw. „Erleichterer“, wobei er
ausdrücklich darauf hinweist, dass es keine biologisch-psychologisch fest determinierten Al-
koholwirkungen gebe (2000, 19). Bestimmte Verhaltensweisen im Anschluss an den Alko-
holkonsum seien „kulturell überformt“, weshalb die Alkoholisierung in manchen Gesell-
schaften eher zu friedlichem, in anderen eher zu einem ausufernden Verhalten führen könne
(2000, 19).
42
Friedemann & Rettenberger 2019, 147.
43
Vgl. zusammenfassend Carpenter & Dobkin 2011, 310 ff.
Tausendsassa Alkoholverbot 391
von Alkohol an Samstagen liberalisiert wurde, und kamen zu dem Ergebnis, diese
Maßnahme habe keine Auswirkungen auf die gemessene Kriminalität gehabt.44
Eine Analyse desselben Gesetzes von Grönqvist und Niknami aus dem Jahr 2014
machte hingegen eine Wirkung der liberalisierten Alkoholverfügbarkeit auf die Kri-
minalität aus. Insbesondere die Eigentumskriminalität sei signifikant angestiegen.45
Ein weiterer Kritikpunkt zeigt sich im Zusammenhang mit möglichen durch das
Alkoholverkaufsverbot hervorgerufenen Verdrängungseffekten. Denn im Rahmen
der von der Studie gewählten Differenz-von-Differenzen-Methode sind entsprechen-
de Effekte bei der Abgrenzung von Kontroll- und Versuchsgruppe zwingend zu be-
rücksichtigen.46
Baumann et al. kommen insoweit allerdings zu dem Ergebnis, die untersuchten
Delikte würden regelmäßig aus kurzfristigen und unkontrollierten Impulsen heraus
begangen. Verdrängungs- bzw. Verlagerungseffekte dergestalt, dass potenzielle
Täter dazu übergehen, die Delikte infolge des Verbots vor 22 Uhr zu begehen, wer-
den vor diesem Hintergrund zutreffend als unwahrscheinlich angesehen.47
Auch wenn die Frage nach Verdrängungseffekten im Rahmen des Forschungsde-
signs in diesem Sinne Berücksichtigung gefunden hat, zeigt sich in diesem Kontext
die Limitiertheit wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsansätze im Bereich der
Kriminalität. Man ist auf Daten angewiesen, die in diesem Fall allein die Polizeiliche
Kriminalstatistik zu liefern vermag. Für diese ist es aber schlicht ein auch von der
Polizei gar nicht bestrittener Gemeinplatz, dass sie das tatsächliche Kriminalitätsauf-
kommen nicht abzubilden vermag, weil das Dunkelfeld keine Berücksichtigung fin-
det.48 Die von Baumann et al. getroffene Aussage, es handele sich um ein „wirksames
Gesetz“, kann angesichts dessen jedenfalls nicht in dieser Absolutheit Geltung für
sich beanspruchen.
Wirksam ist das Gesetz mit Sicherheit dahingehend, dass der öffentliche Raum ab
22 Uhr für bestimmte Personengruppen an Aufenthaltsqualität verliert. Wer nach
dieser Zeit noch Alkohol konsumieren möchte, ist gezwungen, in zu diesem Zeit-
punkt noch geöffnete Gaststätten, Bars oder Kneipen auszuweichen. Womöglich be-
steht auch die Möglichkeit, auf einen Vorrat in der eigenen Wohnung zurückzugrei-
fen. Jedenfalls verlagert sich der Konsum von frei zugänglichen öffentlichen Plätzen
in den privaten Raum. Hier verlieren sich dann etwaige begangene Gewaltdelikte im
Dunkeln. Die Anzeigebereitschaft im persönlichen Nahbereich sinkt, entsprechend
wächst das Dunkelfeld.
44
Norström & Skog 2005, 767 ff.
45
Grönqvist & Niknami 2014, 77 ff.
46
Vgl. im Kontext einer Differenz-von-Differenzen-Studie zu Mindestlohneffekten König
& Möller 2008, 343.
47
Baumann u. a. 2019, 2.
48
BMI (Hrsg.), Polizeiliche Kriminalstatistik 2019: Ausgewählte Zahlen im Überblick, 8.
392 Roland Hefendehl
Und wie steht es heute? Nachdem der VGH Mannheim im Jahr 2009 auf die all-
gemeine polizeirechtliche Verordnungsermächtigung gestützte kommunale Alko-
holkonsumverbote mangels Vorliegens einer abstrakten Gefahr für rechtswidrig er-
klärt hatte, machten sich die Länder daran, in den Polizeigesetzen eigene Befugnis-
normen zu schaffen, die es den Kommunen ermöglichen sollen, weiterhin den Alko-
holkonsum auf bestimmten Flächen zu verbieten. Als eines der ersten Bundesländer
führte Sachsen im Jahr 2011 § 9a SächsPolG (seit 01. 01. 2020: § 33 SächsPBG)
ein.49 Baden-Württemberg zog Ende 2017 nach und brachte mit § 10a PolG BW
eine Ermächtigung zum Erlass örtlicher Alkoholkonsumverbote auf den Weg.50
„Die Ortspolizeibehörden können durch [zeitlich begrenzte] Polizeiverordnung untersagen,
an öffentlich zugänglichen Orten […] alkoholische Getränke zu konsumieren oder zum
Konsum im Geltungsbereich des Verbots mitzuführen, wenn (1.) sich die Belastung dort
durch die Häufigkeit alkoholbedingter Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten oder deren Be-
deutung von der des übrigen Gemeindegebiets deutlich abhebt, (2.) dort regelmäßig eine
Menschenmenge anzutreffen ist, (3.) dort mit anderen polizeilichen Maßnahmen keine
nachhaltige Entlastung erreicht werden kann und (4.) Tatsachen die Annahme rechtfertigen,
dass dort auch künftig mit der Begehung alkoholbedingter Straftaten oder Ordnungswidrig-
keiten zu rechnen ist.“
Die Verfassungsmäßigkeit dieser Norm wird aus guten Gründen bestritten.51 Das
Verbot des Mitführens von Alkohol „zum Konsum“ sei zu unbestimmt und verstoße
gegen den in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Bestimmtheitsgrundsatz. Unter dem Ge-
sichtspunkt der Bestimmtheit sei zudem zu kritisieren, wenn vorausgesetzt werde,
dass „Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dort [im Geltungsbereich des Ver-
bots] auch künftig mit der Begehung alkoholbedingter Straftaten oder Ordnungs-
widrigkeiten zu rechnen ist.“52 Die Norm greife zudem unverhältnismäßig in die
durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine Handlungsfreiheit ein, da sie man-
gels Gefährlichkeit des Alkoholkonsums bereits nicht geeignet, erst recht aber nicht
angemessen sei.
49
§ 9a SächsPolG wurde eingeführt mit Wirkung vom 29. 10. 2011 durch Gesetz vom
04. 10. 2011 (SächsGVBl. 370) und reformiert durch das „Gesetz zur Neustrukturierung des
Polizeirechtes des Freistaates Sachsen“ vom 11. 05. 2019 (SächsGVBl. 358).
50
§ 10a PolG BW wurde eingeführt mit Wirkung vom 08. 12. 2017 durch das „Gesetz zur
Abwehr alkoholbedingter Störungen der öffentlichen Sicherheit“ vom 28. 11. 2017 (GBl.
Nr. 24, S. 631); vgl. zudem im Bayerischen Landesstraf- und Verordnungsgesetz Art. 30
LStVG.
51
Vgl. Brückner 2012, 202 ff. zur Parallelnorm im Sächsischen Polizeigesetz.
52
Brückner 2012, 203 zu einer ähnlichen Formulierung in § 9a SächsPolG a.F.
Tausendsassa Alkoholverbot 393
Es bleibt damit bei unserer Aussage von 2017: „Entweder unterstellt das Gesetz
schlicht bei Alkoholisierung die Alkoholbedingtheit der Straftaten oder aber es
würde eines validen Nachweises bedürfen. Ersteres wäre verfassungswidrig, Letzte-
res bedürfte der empirischen Erkenntnisse, die jedenfalls uns bislang nicht bekannt
sind.“58
Wie bereits geschildert, erwies sich die über § 10a PolG eröffnete Möglichkeit,
Alkoholkonsumverbote zu erlassen, glücklicherweise bislang als wahrer Ladenhüter.
Nun probiert es immerhin Karlsruhe aus.59 Die „Einzelbegründung zur Polizeiver-
ordnung über ein Alkoholkonsumverbot auf dem Werderplatz“60 legt den Finger un-
bewusst auf die Wunde, indem sie ohne erkennbares System zwischen den Begriff-
lichkeiten der alkoholbedingten und der alkoholbeeinflussten Straftat hin und her
changiert. Vielleicht meint sie sogar nur eine alkoholbegleitete Straftat, die wieder-
um der Regelfall sein dürfte. Womit wir wieder beim Freiburger Alkoholkonsumver-
bot im „Bermudadreieck“ und damit unserem Ausgangspunkt wären.
5. Fazit
Ist das Alkoholverbot also tatsächlich der anfangs so apostrophierte Tausendsas-
sa? Der Gesundheit würde es wohl trotz der existierenden Umgehungsmöglichkeiten
schon dienen. Wie man es mit ihr hält, ist aber eben weitgehend und zum Verdruss der
Paternalisten Privatsache. Auch deshalb kommt die Reduzierung der Gewaltkrimi-
nalität ins Spiel, zumindest deren Bekämpfung sollte ja eine genuine Aufgabe des
Staates sein. Womit wir beim eigentlichen Kern wären: Wie lässt sich der Zusam-
menhang von Alkoholkonsum und Kriminalität beschreiben? Weil die Antwort
auf diese Frage ein wenig sperrig daherkommt, wird sie in aller Regel nicht gestellt.
Man gibt sich damit zufrieden, dass die Kriminalität bei den diversen Alkoholverbo-
ten „irgendwie“ verschwindet, vielleicht aber auch nur aus dem öffentlichen Raum.
Und vielleicht hatte die Kriminalität gar nichts mit dem Alkohol zu tun. Aber ein
solcher Zustand des Verschwindens wäre im Sinne des Kommerzes möglicherweise
gar nicht so schlecht, für den der „ordentlich erworbene und konsumierte“ Alkohol
eine zentrale Rolle spielt.
Das gewählte Beispiel erscheint somit geradezu als ein Musterbeispiel für die
Notwendigkeit eindeutiger Forschungsfragen im Kontext der Wirkungsforschung.
58
http://www.strafrecht-online.org/nl-2017-07-28 [24. 01. 2021], 5.
59
Vgl. den Artikel „Karlsruhe probiert ein begrenztes Alkoholverbot aus“ in der Badischen
Zeitung v. 14. 12. 2018; https://www.badische-zeitung.de/karlsruhe-probiert-ein-begrenztes-al
koholverbot-aus [24. 01. 2021].
60
https://web3.karlsruhe.de/Gemeinderat/ris/bi/getfile.php?id=606531&type=do& [24. 01.
2021].
Tausendsassa Alkoholverbot 395
Und es zeigt zwei Risiken auf: Möglicherweise wird die Kriminologie als Steigbü-
gelhalter für solche Ziele missbraucht, die sie eigentlich gar nicht im Auge hatte.
Oder aber die Evaluation wird vom Staat gleich einmal selbst in die Hand genommen,
kann doch nicht so schwer sein.
Doch, verantwortungsbewusste Kriminologie ist schwer. Hans-Jörg Albrecht be-
herrscht sie.
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Gibt es die ideale Polizei?
Von László Korinek
Der Jubilar hat im Jahre 2006 in der zentralen, theoretischen Zeitschrift der un-
garischen Polizei in ungarischer Sprache eine weitreichende Studie1 veröffentlicht.
Seine Gedanken habe ich seitdem mindestens hundertmal in Ungarisch zitiert gese-
hen. Das zeigt wie häufig und wie schnell viele über die Gedanken von Professor Al-
brecht räsoniert haben. All dies autorisiert den Verfasser dieser Zeilen, den ein langes
– über 38-jähriges – von gegenseitigem Respekt und Freundschaft geprägtes Verhält-
nis mit dem Jubilar verbindet, dazu die Gedanken von Professor Albrecht weiterzu-
führen und darüber nachzudenken, ob es eine ideale Polizei gibt.
***
Forscherinnen und Forscher, die sich mit dem Ordnungswesen beschäftigen, ver-
gleichen oft die bewährten Ansätze der einzelnen Staaten und suchen jene allgemei-
nen, guten Lösungen, die überall eingesetzt werden können. Mit anderen Worten:
Ziel und Sinn unserer Anstrengungen ist es, die Institution des Ordnungswesens
zu verbessern. Unausgesprochen suchen wir die ideale Lösung. Es ist selbstverständ-
lich, dass Forschende ebenso wie Fachleute auch in wichtigen Fragen verschiedene
Ansichten vertreten. Gibt es aber Konsens über die ideale Organisation und das ideale
System? Wie sollte die Polizei aussehen, wenn wir frei ihre Struktur und Tätigkeit
bestimmen könnten?
1
Albrecht 2006.
398 László Korinek
2
Marx 1953.
3
Lenin 1973, 125 – 126.
4
Marx 1953, 13.
5
Helanterä 2007; Ratnieks et al. 1989.
Gibt es die ideale Polizei? 399
Es ist eine falsche Annahme, dass die Abwesenheit von Demokratie a priori gren-
zenlose Macht der Polizei bedeutet. Die Untertanen können es natürlich so empfin-
den, und dies durchaus nicht grundlos, dass ihr keine Grenzen gesetzt sind. In Wirk-
lichkeit gibt es Grenzen, und zwar von oben gesetzte. Die Behörden der Staatsmacht,
die den Apparat aufrechterhalten – der Herrscher oder unter anderen Umständen die
Leiter der „führenden Partei“ – wollen, dass von den Hütern der öffentlichen Sicher-
heit ihre Interessen gewahrt werden. Dabei ist zu bemerken, dass die Bemühungen
zur Erarbeitung der Theorien des Ordnungswesens dem bürgerlichen Wandel voran-
gegangen sind; die Vermeidung unbeschränkter Willkür – natürlich im Interesse der
herrschenden Person oder der herrschenden Gruppen – wurde also schon vor der Ent-
stehung des Verfassungsstaates als Ziel definiert.6 Das gehört freilich nicht unmittel-
bar zu unserem Thema, da unsere Gedanken, unsere Wünsche bezüglich der Polizei,
nach der Wende in die Rahmenbedingungen des demokratischen Rechtsstaates ein-
gegliedert werden müssen.
Wenn wir die wichtigste Aufgabe der Polizei nicht in der Unterdrückung, sondern
in der Aufrechterhaltung der Ordnung – die auf dem öffentlichen Willen und dem
öffentlichen Interesse beruht – sehen, können grundsätzlich zwei Auffassungen
zur Rolle der Polizei existieren. Und so ist es auch. Nach der einen kann im Grunde
von einer Gemeinschaftsfunktion gesprochen werden, wo jeder an dem Prozess des
„Ordnungshütens“ teilhaben kann.
Gemäß der Konzeption einer Polizei, die in die Gemeinschaft der Bürger einge-
gliedert ist, benötigt diese für ihre Tätigkeit keine hochspezialisierten Kenntnisse,
sondern gesunden Menschenverstand. Der Polizist ist also nichts anderes als ein Bür-
ger in Uniform, der als Beruf den Dienst erfüllt, der im Grunde genommen Pflicht
von uns allen ist.
Ein verbreiteter Witz lautet:
„In einer idealen Welt ist der Polizist Engländer, der Koch Franzose, der Mechaniker Deut-
scher, der Liebhaber Italiener, und der Schweizer organisiert alles. In unseren Albträumen
ist der Polizist Deutscher, der Mechaniker Franzose, der Koch Engländer, der Liebhaber
Schweizer, und der Italiener organisiert alles.“7
6
Zum Beispiel Koi 2014.
7
Zitiert nach Csapó 2008, 138.
400 László Korinek
Dieser Witz bezieht sich natürlich auf die Eigenschaften von Privatpersonen aus
einzelnen Nationen, aber es kann kein Zufall sein, dass die Engländer mit ihren Po-
lizisten im Wunsch-Universum vertreten sind. Es ist auch eine Tatsache, dass die ge-
sellschaftliche Akzeptanz des britischen (vor allem englischen und walisischen)
„Bobbys“ traditionell ein hohes Niveau hat. Die Frage ist also, ob wir der Behaup-
tung: die Organisation des Öffentlichkeit-Schutzes ist desto besser, je mehr sie sich
dem englischen Vorbild annähert, zustimmen. Im Inselstaat selbst lebt bis heute diese
offizielle Sichtweise, der die grundsätzliche Ähnlichkeit der Polizei und der Gesell-
schaft zugrunde liegt. Man ergänzt es höchstens damit, dass man das Prinzip den heu-
tigen Lebensbedingungen anpassen muss.8
Diese Art der Polizeitätigkeit ist auch anderswo zu finden. Als Beispiel kann man
das im Mittelalter entstandene, auf Selbstständigkeit der Städte und Teilnahme der
Bürgerschaft aufgebaute Sicherheitsmodell nehmen. In den Vereinigten Staaten –
wie wir es in den Western-Filmen sehen können – entstand das Posse Comitatus.
Es bedeutet eine vom gewählten Polizisten (Sheriff, Marshall) aus den Reihen der
Einheimischen rekrutierte Gruppe, ad hoc zusammengestellt zur Verfolgung einer
heißen Spur, also zur Festnahme des flüchtigen Übeltäters. Der Zuständige für die
öffentliche Sicherheit hatte aber auch im Allgemeinen das Recht, Privatpersonen
zur Unterstützung hinzuziehen. Das Posse Comitatus-Gesetz aus dem Jahre 1878
verbot es, sich zu diesem Zwecke der Armee zu bedienen. Dieser Schritt zeigt,
dass offensichtlich auch der Gesetzgeber die gesellschaftliche Teilnahme der öffent-
lichen Gewalt präferiert.9
Ferner ist festzustellen, dass die Verneinung des Staatsmacht-Charakters des Ord-
nungshütens – oder jedenfalls die Bemühungen zur Minimierung dieses Charakters –
im bis heute einflussreichsten und unverändert auf dem Prinzip der Gemeinschafts-
polizei aufgebauten amerikanischen (aber inzwischen auch anderswo weit verbrei-
teten) Modell markant vorhanden ist.10 Dieser Ansatz sieht den Weg zum Erfolg
nicht in der Weiterentwicklung der technischen Ausrüstung, sondern in der Zusam-
menarbeit – basierend auf gegenseitigem Vertrauen – mit Menschen und Gemeinde-
Institutionen. Für die Polizei folgt daraus logischerweise eine erhöhte soziale Verant-
wortung, das Kümmern um die Gemeinden und deren Mitglieder.
Das angelsächsische Modell kann auf jeden Fall reizvoll, in einer demokratischen
Gesellschaft sogar wünschenswert erscheinen. Wenn wir uns eine Utopie ausmalen,
dann können wir die geschichtlichen Gegebenheiten, die abweichende kontinentale
Machtdefinition, außer Acht lassen. Festzustellen ist aber auch, dass die Einbettung
in die Gesellschaft sich bei Weitem nicht so entwickelt hat, wie es die Befürworter
des englisch-amerikanischen Modells betonen.
8
Marshall 2014, V.
9
Matthews 2006.
10
Siehe z. B. Miller et al. 2015.
Gibt es die ideale Polizei? 401
Sir Robert Mark, der ehemalige Leiter der – im Übrigen staatlichen – Londoner
Polizei betonte nicht die gesellschaftliche Einbettung, sondern den unparteiischen
Dienst an den demokratisch verabschiedeten Gesetzen.11 Andere merken allerdings
– durchaus nicht unbegründet – an, dass der Schutz der Öffentlichkeit im Inhalt und in
der Ausrichtung in Wirklichkeit nie vollkommen unparteiisch und unvoreingenom-
men war.12 Eine offizielle Untersuchung hat sogar festgestellt, dass die Tätigkeit der
Londoner Polizei durch institutionellen Rassismus geprägt ist.13 Die amerikanische
Polizeipraxis ist sogar seit langem berüchtigt wegen ihrer auf Rassevorurteilen ge-
gründeten Verdächtigungen (racial profiling)14. Das Posse Comitatus-Gesetz, dessen
Grundlage die Ablehnung des militärischen Ordnungsmodells ist, liegt wegen der
verbreitenden Ausnahmen weithin in Trümmern, die Militarisierung der amerikani-
schen Polizei ist ein Faktum.15
Nach alldem kann man nicht behaupten, dass die englische oder amerikanische
Polizei die ideale Lösung zum Schutze der öffentlichen Sicherheit ist. Diese Schluss-
folgerung bedeutet selbstverständlich nicht, dass man – mit gegebener Kritik und Ad-
aption – nicht einzelne Institutionen bzw. Normen übernehmen könnte.
Der andere Ansatz der idealen Polizei baut auf der Grundidee auf, dass der Pro-
fessionalismus die Grundlage des Erfolges ist. So kann die Organisation sich nicht in
der Gesellschaft materialisieren. Man braucht eine gut abgegrenzte, eventuell zentra-
lisierte Struktur, in der die Kenntnisse und die durch diese Kenntnisse erlangten Fä-
higkeiten für den Erfolg ausschlaggebend sind.
Hierzu ist anzumerken, dass neben der traditionell hochgeachteten englischen Po-
lizei eine stark zentralisierte, militarisierte Organisation zu den besten der Welt ge-
hört. Dies ist die Kanadische Königliche Berittene Polizei (Royal Canadian Mounted
Police), die – wie es die französische Benennung klar zeigt – eigentlich eine auf mi-
litärische Basis gegründete Gendarmerie ist: Gendarmerie royale du Canada.16
Neben den hervorragenden Fachkenntnissen und der zentralen Leitung ist die gute
Zusammenarbeit mit der Bevölkerung eine weitere explizite Zielsetzung. Trotz
der Zentralisierung wird der größte Teil der tatsächlichen Tätigkeit in den örtlichen
Filialen (detachments) ausgeführt. Das setzt gute Kenntnisse über die örtlichen Ver-
hältnisse voraus. Gleichzeitig versucht die Leitung den Gefahren des lokalen Einflus-
11
Mark 1977, 35 – 36.
12
Buckley 2015.
13
Holdaway 2006.
14
Chaney & Robertson 2013.
15
Rizer 2016; Lieblich & Shinar (2018).
16
https://www.wonderslist.com/10-countries-best-police-forces/ [02. 02. 2019].
402 László Korinek
ses entgegenzuwirken, indem die Polizisten häufig in andere Einheiten versetzt wer-
den.17
Gendarmerien gelten allgemein als Eliteeinheiten und genießen im pluralen Sys-
tem des Öffentlichkeitsschutzes ein hohes Ansehen. So war es auch in Ungarn. Hazai
Samu, pensionierter ungarischer Verteidigungsminister meinte:
„Hingabe, eiserne Disziplin, beispielhafte Pflichterfüllung haben die Ungarische Königli-
che Gendarmerie zu solch einer hervorragenden Organisation gemacht, die zurecht landes-
weite Anerkennung erreicht hat.“18
Mehrere – so auch József Parádi – vertreten die Ansicht, dass nach heutiger Be-
wertung die kollektive Verfasstheit der Gendarmerie keine Akzeptanz mehr finden
kann. Die Körperschaft hat übrigens, als Teil der ungarischen bürgerlichen Verwal-
tung, den Dienst an der Gemeinschaft sogar als ihre wichtigste Aufgabe erachtet.19
Bezüglich der ersten Feststellung kann man mit dem Verfasser einverstanden sein.
Es ist aber eine Tatsache, dass solche Organisationen – als Teil der Armee, oder an
den Aufbau und die Funktionsweise der Armee angelehnt – nicht auf der Grundlage
selbstständiger Entscheidungsbefugnis, sondern zur Unterstützung einer effektiven
Exekutive entstehen. In dieser Funktion können sie positiv bewertet werden, denn
ihr Hauptmerkmal – die „eiserne Disziplin“ – schützt auch vor Willkür und Macht-
missbrauch. Wegen der bedingungslosen Erfüllung der Befehle können solche Orga-
nisationen aber auch für Zwecke eingesetzt werden, die in einer demokratischen Ge-
sellschaft unakzeptabel sind. Bleiben wir beim Beispiel der Ungarischen Königli-
chen Gendarmerie: zu Zeiten des Holocausts war die Beihilfe zum Zusammentreiben
und Transport der Menschen eine unmenschliche Tat, auch wenn die Entscheidung
dazu nicht von der Körperschaft selbst getroffen wurde.
Wenn wir unsere Gedanken auf Grundlage demokratischer Werte machen, lohnt
es sich kaum, das ideale Modell in einem militärisch organisierten Apparat zu su-
chen. Wie es Géza Finszter mehrseitig bewiesen hat,
„zeigen die Funktionen des Militärs und des Ordnungswesens sogar bei der ähnlichsten Tä-
tigkeit, beim Truppeneinsatz, wesentliche Unterschiede. Ziel der Armee ist den Feind zu
besiegen, wobei sogar die Vernichtung in Kauf genommen wird. Die Polizei muss aber
17
Thomson & Clairmont 1991.
18
Zitiert nach Rektor 1980, 356.
19
Parádi 2012, 137 – 138.
Gibt es die ideale Polizei? 403
auch die Rechte derer schützen – also selbstverständlich auch die Menschen selbst –, gegen
die sie vorgeht.“20
Wir sind also so weit, dass wir die beste Polizei in einem System suchen, das zwar
durch Interessen gespalten ist, aber versucht die Konflikte binnen demokratischer
Grenzen zu lösen. Wir sind mit dem Gedanken von Géza Finszter vollkommen ein-
verstanden. Freilich kann man die Frage stellen, wie eine Organisation mit strenger
Hierarchie zur Stärkung oder mindestens zum Schutz der Werte eines Verfassungs-
staates beitragen kann. Wahrscheinlich auf dieselbe Art und Weise, wie die Gefäng-
nisse, als totalitäre Institutionen, zur Erziehung von verantwortungsvollen, wertüber-
zeugten Menschen beitragen.
Die ideale Polizei gibt binnen eigener Möglichkeiten Sicherheit. Unter diesem
Aspekt lohnt es sich die Feststellungen der Firma Team Consult, die die ungarische
Polizei überprüft hat, zu zitieren: Sicherheit kann nur der geben, der selbst sicher
ist.21 Man könnte ergänzen: gerecht kann nur derjenige handeln, der selbst Gerech-
tigkeit erfährt. Die Menschenwürde – als obersten Wert – kann der am meisten ehren,
der selbst als Mensch und nicht als eine Sache oder ein Mittel zum Zweck behandelt
wird. Der Soldat ist traditionell nicht im vollen Besitz der Grundrechte, sondern eine
Marionette, die vom Kommandanten bewegt wird.
Nach alledem können wir feststellen, dass das militärische Modell mit dem demo-
kratischen Verständnis der Sicherheitsgewährleistung nicht zu vereinbaren ist. Die
Polizei muss sich ins zivile Verwaltungswesen eingliedern, sonst kann sie nur solche
Werte der Gesellschaft vermitteln, die unakzeptabel sind.
20
Finszter 2003, 58 – 67.
21
Zitiert nach Finszter 2001, 901.
22
Concha 1901, 306 – 308.
404 László Korinek
Nach dem Verständnis dieses Klassikers des Ordnungswesens schafft nicht die
Polizei die öffentliche Ordnung, sondern nur deren Bedingungen durch den Schutz
der Bürgerrechte, durch die Verhinderung von Angriffen und durch die Hilfeleistung
zur Wiederherstellung der Rechtsordnung. Wir können ergänzen: auch die Sicherheit
wird nicht von der Polizei geschaffen, sie leistet nur ihren Beitrag dazu. Wenn wir
mehr als einen Beitrag von der Polizei erwarten würden, würden wir die Gelegenhei-
ten zum Eingriff in die normalen Lebensverhältnisse der Gesellschaft erweitern, und
das ist überhaupt nicht wünschenswert – insbesondere dann nicht, wenn wir zur
Kenntnis nehmen, dass der Apparat eine solche Subkultur kreieren kann, und typi-
scherweise auch kreiert, die nicht in jeder Hinsicht der allgemeinen demokratischen
Werten entspricht.23 Aber davon abgesehen, in einer freien und demokratischen Ge-
sellschaft ist die Freiheit des Privatlebens einer der herausragendsten Werte (das un-
garische Grundgesetz – Absatz VI – hält es sogar für wichtiger als die freie Mei-
nungsäußerung oder die Versammlungsfreiheit), und diese Freiheit setzt selbstver-
ständlich eine größtmögliche Freistellung von öffentlichen Eingriffen voraus.
Klar gesagt: eine „Zero“-Polizei ist in einer interessengespaltenen Gesellschaft
nicht vorstellbar, die Begrenzung auf ein Minimum, auf ein unbedingt notwendiges
Eingriffsniveau aber sehr wohl. Im Gegensatz dazu verbinden die Politiker oft kri-
tiklos die Verbesserung der öffentlichen Sicherheit mit der Erhöhung der Zahl der
Polizeibeamten. Kontrát Károly, Staatssekretär im ungarischen Innenministerium,
hat zum Beispiel im Parlament als Antwort auf eine entsprechende Frage ständig
von Personalaufstockung, höherer Effizienz, besserer öffentlicher Sicherheit gespro-
chen und damit eindeutig diese beiden Aspekte verknüpft.24
Nach dem heutigen Stand der Wissenschaften kann die Polizei die besten Ergeb-
nisse durch konsequente Anwendung der Gerechtigkeit und Lauterkeit im Verfahren
erreichen. Für die Menschen wird die öffentliche Macht am meisten von der Orga-
nisation selbst repräsentiert und vermittelt.25 Das Benehmen, das Auftreten der Po-
lizistinnen und Polizisten, gilt auf jeden Fall als richtungsweisend, im Idealfall als
beispielhaft für die Gesellschaft. Wenn die Menschen eine korrekte, angemessene
Behandlung von der Organisation und ihrem Personal erfahren, dann verstärkt
sich die gegenseitige Achtung, und das ist die Grundlage für eine gute Zusammen-
arbeit. Umgekehrt gilt: wenn man beobachtet, dass die Polizei Fallen stellt, und Un-
ehrlichkeit, möglicherweise sogar Misshandlung erlebt, dann wird dies selbstver-
ständlich so gewertet, dass es sich nicht lohnt selbst ehrlich und lauter im Strafpro-
zess zu sein. Die Verfahrensgerechtigkeit verbessert unmittelbar das Verhältnis zwi-
schen den Institutionen und den Menschen, was im Endeffekt zu einer hören Norm-
Achtung führt, die die beste Grundlage für Verbrechensverhütung ist. Die Wirkung
tritt allerdings nicht unmittelbar ein und ist schwer zu quantifizieren. Eine andere
Wahl gibt es aber nicht.
23
Siehe z. B. Skolnick 1994; Chan 2011.
24
Kontrát, Antwort in der Parlamentssitzung vom 16. 10. 2017.
25
Hough et al. 2017; Hinds & Murphy 2007.
Gibt es die ideale Polizei? 405
Selbstverständlich gilt auch für die Tätigkeit der Polizei die Feststellung des un-
garischen Verfassungsgerichtes: „die rechtsstaatliche Anforderung der materiellen
Gerechtigkeit kann binnen der Institutionen und Garantien zur Rechtssicherheit ver-
wirklicht werden.“ Die „Durchsetzung der materiellen Gerechtigkeit“ kann die Ver-
fassung nicht als subjektives Recht gewährleisten, wie auch kein subjektives Recht
darauf existiert, dass ein Urteil niemals gesetzeswidrig ist. Das sind Ziele und Auf-
gaben des Rechtsstaates; zu deren Verwirklichung müssen entsprechende – durch
verfahrensrechtliche Garantien geschützte – Institutionen geschaffen und die betrof-
fenen subjektiven Rechte garantiert werden. Die Verfassung gibt also das Recht zu
einem Verfahren, das zur Durchsetzung der materiellen Gerechtigkeit nötig, und in
den meisten Fällen auch geeignet ist.26
Es gibt Fälle, wo die Frage der Lauterkeit seitens der Betroffenen überhaupt nicht
in Frage kommt. So schließen zum Beispiel verdeckte Ermittlungen selbstverständ-
lich die Zusammenarbeit mit den Betroffenen aus. In solchen Fällen werden die le-
benden Informationsquellen als Werkzeuge benutzt, das verletzt selbstverständlich
die Menschenwürde.27 Das Gesetz Nummer XC aus dem Jahr 2017 über die Straf-
prozessordnung erlaubt die Anwendung von verdeckten Ermittlungen, was einen
Eingriff in die Grundrechte des Privatgeheimnisses, Briefgeheimnisses und des
Schutzes persönlicher Daten bedeutet – auch in Fällen, in denen nicht einmal der ein-
fache Verdacht einer Straftat besteht; das Ziel besteht gerade darin zu ermitteln ob ein
Verdacht vorhanden ist.28 So können die Strafverfolgungsbehörden, vor allem die Po-
lizei, praktisch einen unbegrenzten Einblick in das alltägliche Leben der Menschen
gewinnen. Wenn diese Möglichkeit professionell verwendet werden soll, kommt es
zwangsläufig zu Diskriminierungen, denn bestimmte Rechtsverletzungen können
bestimmten Gesellschaftsschichten zugeordnet werden. So entsteht quasi die Aufga-
be diese Schichten zu beobachten. Dies folgt aus der Logik der Sache, auch wenn wir
die Gefahr der politischen, parteipolitischen Bestrebungen außer Acht lassen.
26
(9/1992(I.30.) AB Urteil des ungarischen Verfassungsgerichtes.
27
Siehe das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 2006, 1
BvR 357/05.
28
§ 36 Abs. 1, § 340 Abs. 1 Ungarische Strafprozessordnung.
406 László Korinek
wichtig, dass die Polizei sich in die allgemeine Verwaltungsstruktur das jeweiligen
Staates eingliedert.
Das Wesentliche ist schließlich, dass die Polizei die – vermeintlichen – Sicher-
heitsaspekte nicht zu Lasten der Freiheit verfolgt und in ihrer Tätigkeit den Wert,
ja sogar den Nutzen der Rechtsbefolgung ausdrückt und vermittelt.29
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29
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Von der Policey zur PolizAI
Vorüberlegungen zur weiteren Aufklärung
eines zukunftsfesten Polizeibegriffs
1
Vgl. hierzu als Beispiel unter vielen Albrecht (1993), Kunz & Singelnstein (2016) sowie
die unzähligen Beiträge in den einschlägigen deutschsprachigen Periodika („Kriminologi-
sches Journal“, „Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform“ und weitere).
2
Mit zulässiger Vergröberung lässt sich konstatieren, dass die deutschsprachige Polizei-
forschung zunächst aus soziologischer beziehungsweise politologischer Neugier betrieben
wurde, um sich dann, keineswegs zufällig, an den kriminologischen Diskurs angedockt hat.
Eine zusammenfassende Geschichte bzw. Analyse deutschsprachiger Polizeiforschung steht
m. W. noch aus.
410 Detlef Nogala
che Instanz für die Gewährleistung und Durchsetzung von Ruhe und Ordnung, Si-
cherheit und gesellschaftlichen inneren Frieden zu sehen.4
Bekanntlich ist die Polizei eine der wenigen staatlich organisierten gesellschaft-
lichen Institutionen, die rund um die Uhr im Schichtbetrieb bereit und gefordert sind,
sich um eine ganze Bandbreite von als sozial beschreibbaren Problemen und Konflik-
ten, insbesondere solcher gewaltaffiner bzw. -durchsetzter Natur, zu kümmern. Nicht
von ungefähr belegt die Polizei bzw. die Berufsgruppe der Polizisten in den Vertrau-
ensskalen der bekannteren Meinungsforschungsinstitute konstant die oberen
Ränge – zumindest gilt das in Perioden (und Regionen), in denen gesellschaftliche
Konflikte unterhalb von Eskalationsschwellen verbleiben.
Zum vollständigen Bild gehört aber eben auch, dass die allgemeine demoskopi-
sche zertifizierte Wertschätzung der Institution Polizei von individuell oder kollek-
tiv-situativen Erfahrungen verstärkt oder aber auch negativ überformt werden kann:
abhängig davon, ob polizeiliches Aktivwerden als Form widerfahrener Hilfe und
praktischem Beistand oder eben als konfrontativ, illegitim oder gar übergriffig erlebt
wird, als „Dienstleistungsbetrieb oder Institution staatlicher Herrschaftssicherung“
reüssiert (vgl. Lehne 1992). Insbesondere in den (nun historischen?) Fällen, in
denen Polizei von den jeweilig Regierenden dazu instrumentalisiert wurde, gesell-
schaftliche Klassenprivilegien abzusichern oder bestimmte problematische Projekte
gegen den Willen relevanter Bevölkerungsteile durchzusetzen, ist der Herrschaftsas-
pekt in der öffentlichen Meinung gegenüber dem „Freund und Helfer“-Image hervor-
getreten.
Wenn sich Polizei in funktionaler Perspektive trefflich als gewaltbewehrte und
(konditional) gewaltanwendungslegitimierte Konfliktbearbeitungsinstitution be-
schreiben lässt, dann kommen unweigerlich auch die (möglichen oder tatsächlichen)
Szenarien illegalen bzw. illegitimen Exekutierens des polizeilichen Auftrags in den
Blick; beispielsweise wenn relevante soziale Gruppen sich im aktiven Widerspruch
zum politischen Durchsetzungswillen der Staatsmacht befinden (etwa bei Demon-
strationen) oder Polizei für die Unterdrückung von politischen Dissidenten oder Min-
derheiten instrumentalisiert wird.
Mit guten Gründen lässt sich die Auffassung vertreten, dass die (sozial-)wissen-
schaftliche Auseinandersetzung mit der Polizei und ihrem Tun erst mit dem politi-
schen Schaden der gewaltsamen Bearbeitung gesellschaftlich-sozialer Probleme –
wie etwa die race-riots in den sechziger Jahren in den USA oder die im Anschluss
an die 68-Studentenrevolte sich entwickelnden, in Opposition zu rüstungs- bzw. um-
weltrelevanten Großprojekten stehenden sozialen Bewegungen in Europa – ihren
4
Von den hohen durchschnittlichen Zustimmungswerten, die in demoskopischen Umfra-
gen in Deutschland zum Ansehen und zur Vertrauenswürdigkeit der Polizei regelmäßig er-
hoben werden, ist in öffentlichen Debatten der Vergangenheit immer mal wieder, durchaus
plausibel, Gebrauch gemacht worden. Allerdings kann die Lage in europäischen, und insbe-
sondere in außereuropäischen Ländern, gänzlich anders aussehen vgl. Sato et al. (2017),
Meško et al. (2017), Kääriäinen (2017).
412 Detlef Nogala
Anfang genommen und Aufschwung erfahren hat.5 Hier waren es vor allem soziolo-
gische und historische Analysen, die den Gegenstand Polizei an den zeitgenössischen
kriminologischen Diskurs, beginnend in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahr-
hunderts, anschlussfähig gemacht haben.
Zugleich lässt sich im Rückblick auf jenes vergangene dreiviertel Jahrhundert ein
mit gehöriger zeitlicher Verzögerung einsetzender Prozess der sozialwissenschaft-
lich evozierten Reflexion und Revision der polizeilichen Strukturen und Arbeitswei-
sen selbst konstatieren, der als Ausweis einer kontinuierlichen Modernisierung der
Apparate verstanden werden kann. Allerdings haben höchstrichterliche Rechtspre-
chung, staatstheoretische Erwägungen beziehungsweise politische Opportunitäten
einen weit stärkeren Einfluss auf das Selbstverständnis bzw. die „Eigenbegrifflich-
keit“ der Polizei als Institution, einschließlich ihrer Akteure.
Wenn also, wie hier, von einer allgemeinen Alltags-Begrifflichkeit von Polizei in
den hypermodernen Gesellschaften die Rede ist, dann speist sich diese aus drei we-
sentlichen, disparaten Quellen:
• erstens: aus einem in staats- und verwaltungrechtlichen Setzungen verankerten
und codierten Diskurs, der im Zweifelsfall nichtsdestotrotz einem regierungsprak-
tischen Primat unterworfen bleibt;
• zweitens: einer mächtigen, von unablässig sprudelnden medialen Quellen gespeis-
ten fiktiv-dokumentarischen Wimmelbildwelt uniformierter, fall-lösender, be-
helmt-bewaffneter Akteure; und
• drittens: einem verästelten, zunehmend weniger marginalisierten akademischen
Diskurs, der versucht, die verschiedenen Aspekte und Erscheinungsformen der In-
stitution und ihres Handelns empirisch einzufangen, zu analysieren und, falls
möglich, auf den theoretisch wie anleitungpraktisch relevanten Punkt zu bringen.
Diese drei Verdichtungspunkte von Vorstellung und Rede über Polizei folgen
ihren eigenen diskursiven Regelungen, sind aber miteinander verwoben und inter-
chargieren – was Verständigung über den Gegenstand eigentlich förderlich sein soll-
te, aber nicht selten zum Gegenteil führt: Eine Rede von „der Polizei“ (als solcher) ist
eigentlich, zumindest im wissenschaftlichen Sinne, unangemessen bis unmöglich,
sofern man nicht zumindest die historischen, territorialen und aufgabenspezifischen
Parameter explizit oder implizit kenntlich macht oder benennt. Gerade im Interesse
eines wissenschaftlich angeleiteten tieferen Verständnisses der Institution Polizei
sollten die interessierten Beteiligten des „Diffusionsrisikos“ einer unvermittelten
Vermischung medial-fiktiver, interessengeleitet-narrativer sowie empirisch gesi-
cherter Elemente gewahr werden.
5
Insbesondere die Bindung an (staatliche) Gesetzgebung sowie die Zweckbestimmung,
gesellschaftliche Probleme und Konflikte notfalls mit entsprechender Gewaltanwendung zu
bearbeiten, verankert das Thema „Polizei“ unablösbar im Diskurs der (internationalen) Kri-
minologie – zumindest, wenn man, wie der Autor, die Kriminologie selbst als Konfliktwis-
senschaft versteht (Nogala 2005).
Von der Policey zur PolizAI 413
Der Beitrag beschäftigte sich mit der Phänomenologie von Polizei in ihren diver-
sen institutionellen Varianten, ging auf die Entwicklungsphasen und Themen der bis
dahin vor allem anglo-amerikanischen akademischen Wissensproduktion ein und
thematisierte die Hürden das akademisch-analytischen Zugangs, die nicht zuletzt
in der potenziellen Unschärfe eines pragmatistischen Polizeibegriffs begründet sind:
„Finally, the term ,police‘ might be a category too broad when it comes to empirical analysis
and theoretical conclusions. Not only that national police systems embrace a variety of more
or less specialised forces, with specific, sometimes unique ways of division of labour among
units. Police organisations also refer to very different geographical ranges of jurisdiction.
This situation becomes more complicated, when nationally focused studies are compared
on an international level: for a full comprehension of the differences and convergences, na-
tional particulars have to be taken into account“ (Albrecht & Nogala 2002, 11535).
6
Besondere Erwähnung gebührt in diesem Zusammenhang dem höchst interessanten An-
satz von Sebastian Roché, in dem er den Begriff „police form“ einführt, um die im interna-
tionalen Vergleich hervortretenden verschiedenen Variablen und Konstellationen von Polizei
und polizeiähnlichem Organisationen und Kräften empirisch besser fassen und einordnen zu
können, die wiederum Polizeisysteme bilden: „We assume that police forms evolve inside a
414 Detlef Nogala
In den 20 Jahren seit der Jahrtausendwende hat der Ausstoß an Studien zur und
über die Polizeiarbeit signifikant zugenommen. Im deutschsprachigen Bereich
zum Beispiel haben sich neben den schon damals etablierten Periodika7 eine Hand-
voll von spezialisierten Zeitschriftentiteln etablieren können, etwa „Polizei & Wis-
senschaft“ (ab 2000) oder das „SIAK-Journal“ (ab 2005), herausgegeben vom öster-
reichischen Innenministerium. Im internationalen englischsprachigen Bereich sind
mit „Police Practice and Research“ (seit 2000), und „Policing: A Journal of Policy
and Practice“ (seit 2007), sowie dem „European Police Science and Research Bulle-
tin“ (seit 2009, ab 2018 umbenannt in „European Law Enforcement Research Bulle-
tin“) und dem „European Journal of Police Studies“ (seit 2012) weitere Titel auf den
Markt gekommen. Hinzuzuzählen wäre noch eine Reihe von weiteren, auf spezifi-
sche Deliktbereiche oder Handlungsfelder spezialisierte Periodika, sowie die be-
kannten einschlägigen kriminologischen Publikationen, die regelmäßig polizeibezo-
gene Artikel veröffentlichen. Darüber hinaus reißt auch die Produktion von Mono-
graphien und Sammelbänden keineswegs ab.
Es erscheint keineswegs abwegig, vor allem mit Blick auf das internationale An-
gebot, das prinzipiell verfügbare Wissen über Polizei und ihre Tätigkeiten inzwi-
schen als in jedem Falle vielfältig, wenn nicht gar als schier überwältigend zu be-
zeichnen. Geradezu erstaunlich wäre es, würde jemand für sich reklamieren, nicht
nur einen vollständigen Überblick über die Wissensproduktion zur Polizei zu
haben, sondern das Material auch zu rezipieren.
In diesem Zusammenhang stellen sich m. E. Fragen nach möglicherweise aus die-
sem Umstand resultierenden epistemologischen Hürden und Herausforderungen:
• Gibt es, zum Beispiel, eine wirklichkeitsverzerrende Ungleichgewichtigkeit be-
ziehungsweise Vernachlässigung im empirischen Erforschen schutz-, kriminal-
und bereitschaftspolizeilicher Tätigkeiten? Dafür mag es plausible Zugänglich-
keitsgründe geben, aber bestimmte systemrelevante Aufgabenkreise polizeilicher
social and institutional environment. It is constituted of civilian government, the army (in
some countries the army is a branch of the state together with the legislature, the executive and
the judiciary), of civil society and of other actors (independent authorities or NMIs, the media
for example). We intend to describe the traits of police forms (the characteristics of the
entities, forces or services that do policing) and the nature of the links of police forms to their
environment“ (Roché 2017, 52). Jene Polizeiformate, die gemäß Roché den Vorteil haben,
nicht von legalistischen Definitionen abzuhängen, setzen sich für ihn aus einer Reihe von
Grundelementen und Maßen zusammen; dazu gehören: Status (militärisch oder zivil organi-
siert), Natur (öffentlich- bzw. privatrechtlich), Charakteristik der Führungsstruktur, Befehls-
und Inspektionslinien, Größe, Grad der Zentralisation, Zuständigkeit und Professionalisie-
rungsgrad (56). Der Reiz dieses Ansatzes liegt darin, die teils verwirrende Vielfältigkeit und
anscheinend schiere Inkompatibilität von nationalen Konfigurationen von Polizei in eine
systematische empirische Vergleichbarkeit überführen zu können und darüber ihre grund-
sätzlich verbindende Grundarchitektur sichtbar werden zu lassen.
7
Zu den etablierten Zeitschriften wären die polizeinahe „Kriminalistik“ und „Die Polizei“,
auf der kritischen Seite „Bürgerrechte und Polizei (CILIP)“ zu zählen.
Von der Policey zur PolizAI 415
8
So auch Sebastian Roché: „What if police is not, never was and never will be ,one thing‘?
What if the quest for the essence of police was misleading from the start? What if, on the
contrary, what matters for understanding police is who installs the police as an organisation
with special operational powers? And how is the police (whatever its names and functions)
tied to its environment?“ (2017, 48).
9
Damit wird keineswegs die Bedeutung der Organisationsform für die möglichen und
optimalen Handlungsoptionen in Abrede gestellt. Es macht in der Tat einen Unterschied, ob
Polizei in einem Territorium zentral oder dezentral organisiert ist, oder, wie in den promi-
nenten Fällen von Frankreich und Spanien, duale Systeme etabliert werden. Der Gewinn einer
aktivitätszentrierten Perspektive liegt in ihrer leichteren interaktionistischen Aufschlüsselung
angesichts der Zielobjekte.
416 Detlef Nogala
10
Bezüglich einer detaillierten Auseinandersetzung mit dem Bittnerschen Paradigma und
seiner Rezeption in der wissenschaftlichen Polizeiforschung siehe Brodeur (2010) im Kapitel
„Elements of a Theory of Policing“.
Von der Policey zur PolizAI 417
Immerhin hat diese Debatte zu einem erfreulich hohen Niveau und einer ausdif-
ferenzierten theoretischen Beschäftigung mit dem Gegenstand Polizei geführt, die
weit über das oben beschriebene allgemein-alltägliche „Anscheinwissen“ hinaus-
führt. Dafür sei an dieser Stelle wegen der notwendigen Kürze nur auf zwei heraus-
ragende Beispiele verwiesen.
Da ist zu einem das von Ben Bowling und Janet Foster verfasste Kapitel „Policing
and the Police“ in der dritten Auflage des 2002 erschienenen Oxford Handbook of
Criminology zu nennen, das, in verstärktem Rückgriff auf die Arbeiten von Robert
Reiner, über gut 50 Seiten hinweg eine kompakte und informierte Zusammenfassung
der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Polizei im 20. Jahrhundert darstellt
und auch gut 20 Jahre später wenig von seinem analytischen Wert eingebüßt hat. Dort
beschreiben die Autoren zum Beispiel die Eigenschaften kontrastierender bezie-
hungsweise konkurrierender Polizeimodelle, thematisieren die Eigenheiten von Po-
lizeikultur und gehen auf die Aspekte transnationaler und globaler Polizei-Koopera-
tion ein (vgl. Bowling & Foster 2002).
Zum anderen ist die 2010 erschienene Monographie von Jean-Paul Brodeur „The
Policing Web“ zu erwähnen. Der kanadische Autor, der auf dem Hintergrund einer
soliden philosophischen Ausbildung unter anderem mit der Unterscheidung von
„low“ und „high policing“ international reüssierte (Brodeur 1983), hat sich in seinem
Spätwerk auf das Sorgfältigste mit dem Stand der Forschung und des Wissens über
Polizei sowie deren theoretischen Aspekte auseinandergesetzt. In Vorwegnahme der
eingangs skizzierten Perspektive hatte Brodeur festgehalten:
„It is generally resolved by assuming that the proper object of a theory of policing is the most
visible part of the police apparatus, that is, the public police in uniform. This position seems
to me unduly narrow and uncritical, one that merely accepts the dictum of sensory percep-
tion: the police are to be equated with a group of persons outwardly displaying the signs of
being police“ (Brodeur 2010, 17).
Knemeyer hebt mit Blick auf Reichs- und Ländergesetze bis zum Ausgang des
18. Jahrhunderts die Bedeutung des Begriffs Polizey als Zustand guter Ordnung
im Gemeinwesen hervor,
„wo der Bürger oder Untertan sich ordentlich, züchtig, gesittet, ehrbar verhielt, wo das
menschliche Zusammenleben im Gemeinwesen geordnet war“ (Knemeyer 1967, 155).
12
Vor allem der deutschsprachigen Rechtsgeschichte gewidmete Lehrstühle haben zu
dieser Begrifflichkeit und ihrer Verbindung zu Staatslehre und Staatsräson vielfältig publi-
ziert. Siehe hierzu die Arbeiten von Maier (1965/2009), Knemeyer (1978), Stolleis (1996),
Knöbl (1998), Iseli (2009) und Härter (2010a) .
13
Siehe hierzu auch den Begriff der „Sozialdisziplinierung“ bei Gerhard Oestreich (1969),
und in kritischer Auseinandersetzung mit weiteren Hinweisen Behrens (1999) und Freitag
(2001).
420 Detlef Nogala
sprachlichen Wendung der „guten Policey“ spiegeln sich die idealisierten Ordnungs-
vorstellungen einer ständisch organisierten und durch-hierarchisierten Feudal- bzw.
Ständegesellschaft.
Hier liegt wiederum der Anknüpfungspunkt der Proklamation einer „guten Poli-
cey“ an unsere jüngere Gegenwart und die steile Karriere, die dem Begriff der Sicher-
heit im staats- und gesellschaftstheoretischen Diskurs hypermoderner Gesellschaften
zu Teil wurde:
„Seit dem 16. Jahrhundert entwickelte sich Sicherheit zu einer zentralen Kategorie der guten
Policey, was sich in entsprechenden politisch-staatsrechtlichen Diskursen der Policeywis-
senschaft und vor allem in einer zunehmenden obrigkeitlichen Ordnungsgesetzgebung ma-
nifestierte, die Bedrohungen von Sicherheit und damit Sicherheitsnarrative definierte und
die entsprechenden präventiven/exekutiven Sicherheitsmaßnahmen oder Institutionen regu-
lierte“ (Härter 2016, 30).
15
Eine Sonderrolle nimmt hier vielleicht die DNA-Analytik ein, die erst durch ihre fort-
schreitende polizeilich- forensische Anwendung als neuartige Identifikationstechnologie ihre
profunde lebensweltliche Bedeutung für die Aufklärung bzw. den (retrogarden) Nachweis von
sozialen Beziehungen errungen hat (vgl. hierzu auch Nogala 2003).
16
Als Beispiele unter vielen: Nogala 1995; Marx 2007; Byrne & Marx 2011; Marx 2016.
Von der Policey zur PolizAI 423
17
Im Deutschen spricht man von „künstlicher Intelligenz“. Jedoch tauchen schon bei an-
fänglicher näherer Beschäftigung mit der Thematik Zweifel daran auf, ob die landläufige
Übersetzung des englischen Begriffs diese substanzielle Bedeutung des Phänomens tatsäch-
lich trifft. „Intelligence“ kann nämlich auch als Einsicht, Aufklärung oder Auffassungsver-
mögen übersetzt werden. Insbesondere der Anwendungstypus, der auf maschinellem Lernen,
d. h. auf dem Erkennen von wiederkehrenden Mustern, basiert, lässt sich mit humanoiden
kreativen Intelligenzleistung nur unzureichend vergleichen.
18
Dabei stellt die Gesichtserkennung nur einen Anwendungsfall des so genannten Feldes
der „visual analytics“ dar – vgl. hierzu im Einzelnen und mit vielen anschaulichen Beispielen
Stanley (2019).
424 Detlef Nogala
Mit ähnlichem Interesse wendet sich auch Europol dieser Thematik zu, wie aus
einer kürzlich erschienenen und poetisch betitelten Broschüre „Do Criminals
Dream of Electric Sheep? How Technology Shapes the Future of Crime and Law En-
forcement“ hervorgeht (Europol 2019). In noch ausführlicherer Weise hat sich auch
das britische Home Office mit zukünftigen sicherheitsrelevanten Technologietrends
auseinandergesetzt und dabei die Potenziale maschinell simulierter Intelligenz sowie
deren erweitertem technologischen Ökosystem betrachtet (Home Office 2019). Glo-
bale Beratungsfirmen wie DeLoitte bieten hilfsbereit und mit Eifer ihre professionel-
le Unterstützung im Prozess der digitalen Transformation hin zur Gestaltung neuer
Polizeiformate an (Gash & Hobbs, 2018). Auch die niederländische Polizei ist dabei.
sich proaktiv in vielen kleinen Projekten auf die neue Realität einzustellen (vgl. etwa
Brinkhoff, 2017; Dechesne et al., 2019).
Zum Beleg, dass maschinelle Erkennung und Entscheidungsysteme schon in den
Alltag formalisierter sozialer Kontrolle einzudringen sich anschicken, sei hier nur auf
eine beschränkte Auswahl von thematischen Schlagzeilen in traditionell-etablierten
Medien hingewiesen:
• „Police ,may need AI to help cope with huge volumes of evidence‘“ (The Guardian
08 Feb 2018).
• „Police trial AI software to help process mobile phone evidence“ (The Guardian
27 May 2018).
• „Home Office to fund use of AI to help catch dark web paedophiles“ (The Guar-
dian 17 Sep 2019).
• „Gesichtserkennung: Die Firma, die uns alle identifizieren will“ (Die Zeit 20. 01.
2020).
• „Artificial Intelligence could help protect victims of domestic violence“ (LSE
27. 02. 2020).
• „KI erkennt Smartphone-Nutzung am Lenkrad: Jetzt werden Strafen fällig“
(Heise online 03/2020).
Überlegungen zu Einrichtungen und Systemen, die unter dem Stichwort „Auto-
mated Law Enforcement“ verhandelt werden und selbstlaufend verknüpfte Detek-
tions- und Sanktionskreisläufe beschreiben, gab es auch schon vor vielen Jahren;19
allerdings sind heute die technischen, vielleicht auch die sozialen, Voraussetzungen
19
An diesem Punkt kommt man nicht umhin, noch einmal an die intensiv und kontrovers
geführte Debatte um die, in der Rückschau nicht anders als visionär zu bezeichnenden, pu-
blizierten Ideen und Vorstellungen des in den siebziger Jahren amtierenden Präsidenten des
Bundeskriminalamts, Horst Herold, zu erinnern. Dieser hatte, unter Bezugnahme auf die da-
mals aktualisierte Kybernetik, die sich abzeichnenden Potentiale neuer Informationstechnik
auf die zukünftig erweiterten Erkenntnis- und Interventionsmöglichkeiten für die Polizei
projektiert und den Gedanken einer informatisierten „Selbstregulation“ formalisierter Sozi-
alkontrolle kultiviert (vgl. beispielsweise Herold 1974; 1976; 1984 und Nogala 1989 mit
weiteren Nachweisen).
Von der Policey zur PolizAI 425
zur Implementation realistischer geworden (vgl. zur Diskussion Shay et al. 2016;
Petit 2018).
Selbstverständlich sind diese Entwicklungen Gegenstand der Beobachtung, Ana-
lyse und Kritik einer multidisziplinären globalen scholarly community geworden.
Die Vielzahl der informativen und weiterführenden Beiträge hier darstellen und dis-
kutieren zu wollen, würde den gegeben Rahmen dieser Abhandlung leider komplett
sprengen. Dieser Hinweis nur zur ausstehenden Untermauerung meiner Annahme,
dass sich eine neue, für die angebrochene Hypermoderne typische Polizeikonfigura-
tion abzuzeichnen beginnt, die eine Revision des alltagspraktischen wie auch des tra-
dierten akademischen Polizeibegriffs angeraten erscheinen lässt. Zukünftige Histo-
riker der neueren Geschichte werden möglicherweise die Anfangsdekaden des
21. Jahrhunderts als die Periode identifizieren, während der man dazu überging, Po-
lizei mit „AI“, nämlich als „Polizai“ zu schreiben.
Conclusio
Der Anstoß zu diesen hier dargelegten Überlegungen rührt aus einer gewissen un-
terschwelligen intellektuellen Unzufriedenheit, nicht so sehr mit der empirischen kri-
minologie-affinen Forschungslage und dem damit generierten Wissensstand zu
Polizei und polizeilichen Aktivitäten, sei es in nationalen oder internationalen Zu-
sammenhängen, als vielmehr mit einem wahrgenommenen Mangel an Willen und
Anstrengung, diesen Gegenstand gerade auch theoretisch nachhaltiger zu durchdrin-
gen und in umfassendere gesellschaftliche Analysen und Zusammenhänge einzubet-
ten. Dabei spielt auch die Sorge eine Rolle, dass in der medialen Darstellung von und
Kommunikation über Polizei und deren Aktivitäten deren essenzielle soziale und po-
litische Rolle in Staat und Gesellschaft sträflich unterkomplex kommuniziert wird.
Dies gilt sowohl für die positiven wie negativen Einwirkungen auf Individuen als
auch auf die Gesamtgesellschaft. Im wissenschaftlichen Forschungsdiskurs hinge-
gen vermeine ich eine Tendenz wahrzunehmen, die über die anschwellende Produk-
tion von kleinteiliger Empirie die theoretische Essenz von Polizei und Polizieren
außer Acht lässt und damit letztendlich verfehlt.
Um hier selbst einen forschen Schritt auf das akklamierte Terrain zu riskieren,
habe ich versucht, eine Verbindungslinie zwischen prämodernen Entwicklungsstu-
fen staatlich organisierter formaler Sozialkontrolle und ihrer legitimatorischen Be-
gründung („gute Policey“) und den zeitgenössischen, unter einem technologischen
Imperativ sich entwickelnden, hypermodernen Polizeikonfigurationen zu ziehen.
Denn auch der von den Verheißungen der „artifical intelligence“ inspirierten Polizai
des 21. Jahrhunderts unterliegt das Versprechen der Herstellung eines „guten“, har-
monisierten gesellschaftlichen Zustands, in dem kriminelles Tun wenn nicht pre-
emptiv bis präventiv unterbunden, so doch mittels vielfältiger technischer Kontroll-
und Zugriffsschichten eingehegt werden kann. Inwieweit sich dieses Versprechen
unter sich abzeichnenden krisenhaften Entwicklungen halten lässt oder von einer
426 Detlef Nogala
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Die Vorstellung einer überinformierten und übermächtigen Polizei ist zumindest unter
den rechtsstaatlichen Bedingungen westlich geprägter europäischer Demokratien system-
fremd und wird aus den unterschiedlichsten Interessenslagen abgelehnt werden. Rufe nach
Abschaffung der Institution als solcher, wie sie jüngst im Zusammenhang exzessiver polizei-
liche Übergriffe und Aufdeckung tiefgreifender struktureller Fehlentwicklungen vor allem in
den USA laut geworden sind (vgl. Vitale 2017; Loick 2018), haben aber unter den gegen-
wärtigen gesellschaftlichen Bedingungen wenig Aussicht auf Nachhall und Erfolg. Hyper-
komplexe Sozialsysteme wie unsere globalisierte Gesellschaft der Gesellschaften kämen ohne
eine spezifisch angepasste Form der Organisation polizeitypischen Agierens nicht aus und
müssten eine solche Institution neu erfinden, wenn es sie nicht schon gegeben hätte. Aller-
dings kommt es in der Tat aus der Sicht einer freiheitlich verfassten und den verbrieften
Menchenrechten sich verpflichteten Gesellschaft auf die konkreten Details und Balancen
jenes zeitgemässen Polizeiformats an.
Von der Policey zur PolizAI 427
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Bodycams als Einsatzmittel der Polizei –
präventiv oder (doch nur) repressiv
Ergebnisse zur Akzeptanz und Wirksamkeit in Bayern
3
Siehe dazu die PKS und die seit 2010 in den Bundesländern neu eingerichtete Datenbank
„Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und -beamte“ (GewaPol), in der zusätzlich Informationen
und Sachverhalte erfasst werden.
4
An der Pilotierung waren die Polizeiinspektionen (PI) Rosenheim und PI Augsburg-Mitte
sowie fünf Münchner Dienstellen (PI 11, PI14, PI21 und die Ergänzungsdienste ED1 und
ED2) beteiligt.
Bodycams als Einsatzmittel der Polizei 433
1.1 Fragestellungen/Forschungsstand
(Baier & Manzoni 2018b, 691). Eine Studie von Kersting et al. (2019) kommt für
Nordrhein-Westfalen zu ähnlich positiven Resultaten. In einem Zeitraum von rd.
neun Monaten (Mai 2017 bis Januar 2018) wurden in sechs Pilotwachen zu Versuchs-
zwecken Köperkameras mitgeführt. In diesen Wachen wurde die Schicht jeweils
hälftig mit und ohne Bodycam ausgestattet. Im Ergebnis konstatieren Kersting et
al. (2019, 6, 119) eine deeskalierende Wirkung durch die Bodycams, obwohl der An-
teil „der registrierten geschädigten Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten in den
Schichten mit Bodycam über dem Anteil in den Schichten ohne Bodycam“ lag (Kers-
ting et al. 2019, 6, 119). Dies führen sie auf ein unangemessen zurückhaltendes Ein-
schreiten und eine formalere Sprache während des Bodycam-Einsatzes, insbesonde-
re durch Polizeibeamtinnen, zurück (Kersting et al. 2019, 6, 119). Die Autoren sehen
eine abschreckende Wirkung durch die Bodycam im Sinne des Rational-Choice-An-
satzes (Kersting et al. 2019, 7, 13 f., 44). Allerdings erstaunt, dass beispielsweise in
Situationen mit Alkoholeinfluss, bei denen ein geringeres rationales Wahlhandeln zu
erwarten ist, die Bodycam dennoch Wirkung entfaltet. Die Autoren stellen fest: „Die
Annahme, dass die Bodycam keine oder eine geringere Wirkung auf Personen mit
Beeinträchtigungen des Erlebens und Verhaltens (insb. Alkohol- und Drogenein-
fluss) ausübt, bestätigte sich nicht“ (Kersting et al. 2019, 6, 82 f.).
Ähnlich den aufgeführten Studien für Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und
Zürich wurde von der Bayerischen Polizei über einen Zeitraum von zwölf Monaten
(01. 12. 2016 bis 30. 11. 2017) eine umfängliche Pilotierung in insgesamt sieben
Dienststellen in den Städten Rosenheim, Augsburg und München durchgeführt.
Die Zuständigkeit der Dienststellen beinhalteten auch sog. „Hot Spots“ (Bahnhofs-
bereich, „Feiermeilen“ u. Ä.). Der Fachbereich Polizei der Hochschule für den öf-
fentlichen Dienst in Bayern (HfoeD) wurde nach bereits vorliegenden polizeiinter-
nen Vorausplanungen kurz vor dem Start der Pilotierungsphase mit der wissenschaft-
lichen Begleitung betraut. Ein Einfluss auf das Erprobungsdesign war deshalb nur
noch im vorgegebenen Rahmen möglich.6
6
Vor allem ein „echtes“ randomisiertes Design konnte nicht mehr hergestellt werden.
7
Zu den präventiven und repressiven Erwartungen der polizeilichen Projektgruppe an die
Bodycam siehe Sutterer & Stangl (2018, 17).
Bodycams als Einsatzmittel der Polizei 435
Zudem wurde untersucht, ob der Einsatz der Bodycam die Durchsetzung polizeili-
cher Maßnahmen erleichtert sowie zur Beweiserhebung und Beweissicherung bei-
trägt. Gleichzeitig sollte festgestellt werden, ob sich der Einsatz auf das Beschwer-
deaufkommen auswirkt. Im Zentrum der Studie standen außerdem Fragen zur Ak-
zeptanz bei Polizeibeamten und in der Bevölkerung. Aus polizeilicher Sicht wurden
die Einstellung zur Bodycam generell, Erwartungen an ihren Nutzen, aber auch
denkbare Befürchtungen im Zusammenhang mit Bodycam-Aufnahmen – etwa das
Gefühl einer erweiterten Dienstaufsicht oder allgemein einer verstärkten Verhaltens-
kontrolle – thematisiert. Ein nicht oder wenig akzeptiertes Einsatzmittel wird erfah-
rungsgemäß nicht genutzt. Zur Akzeptanz seitens der Polizeibeamten tragen maß-
geblich ein erkennbarer Nutzen und geringe persönliche Befürchtungen bei.8
8
Zu den Fragestellungen und den verwendeten Methoden siehe Sutterer & Stangl (2018).
9
Die Kameras sind i. d. R. technisch so eingerichtet, dass, sobald der kameraführende
Beamte die Aufzeichnung auslöst, im internen Kameraspeicher auch die Film-/Tonsequenzen
vor diesem Auslösen festgehalten werden (meist 30 – 60 Sekunden).
10
Der Hinweise „keine Rolle“ referiert in den nachfolgenden Tabellen auf Beamte ohne
Bodycam.
11
Die Projektleitung für die bayerische Erprobung des Einsatzmittels Bodycam lag beim
PP München, Herrn LPD Andreas Schaumaier.
436 Peter Sutterer
pelstreife) und zusätzlich rd. 1.400 Stunden in Einsatzgruppen bei den Herbstvolks-
festen, wie etwa beim Münchner Oktoberfest, mitgeführt.12 In 954 Fällen wurden
Aufzeichnungen gefertigt.
12
Zur Sonderevaluation „Herbstvolksfeste“ (Oktoberfest in München) siehe Sutterer &
Stangl (2018, 110 ff.).
13
Zum „Mixed Methods“-Ansatz siehe etwa Johnson, Onwuegbuzie & Turner 2007.
14
Zu den Vergleichsdienststellen zählen die Polizeiinspektionen PI Bamberg Stadt, PI
Nürnberg Mitte, PI Ingolstadt, PI Landshut und die PI Regensburg Süd.
15
An der Vorbefragung (t1) nahmen 311 Befragte, an der ersten Folgebefragung (t2) nach
vier Monaten 207 und an der zweiten Folgebefragung (t3) nach weiteren vier Monaten 301
Befragte teil. An der Abschlussbefragung (t4a) nahmen 249 Beamte und der Vergleichs-
befragung (t4b) 177 Beamte teil (Sutterer & Stangl 2018, 27 f.).
Bodycams als Einsatzmittel der Polizei 437
3. Ergebnisse
Die Einstellung zur Bodycam, die Erwartung an ihren Nutzen, aber auch mögliche
Befürchtungen wurden in den Befragungen thematisiert. Wird beispielsweise erwar-
tet, dass der präventive Druck auf das polizeiliche Gegenüber erhöht wird, dass Be-
leidigungen oder das Gewaltverhalten gemindert werden oder kommt es zu Befürch-
tungen, dass gar gegenteilige Effekte, etwa eine Aggressionssteigerung durch die Ka-
mera, erzeugt werden? Gibt es ferner seitens des Beamten, der die Kamera einsetzt,
Befürchtungen dahingehend, dass er in der Einsatzsituation beobachtbar und kon-
trollierbar wird? Wird deshalb etwa befürchtet, dass Ermessens- und Entscheidungs-
spielräume eingeengt werden oder dass der Beamte einer erhöhten Dienstaufsicht/
Beobachtung durch das neue Einsatzmittel ausgesetzt wird? Schließlich stellt sich
die Frage, wie sich die Akzeptanz dieses neuen Einsatzmittels insgesamt erweist.
Entlang dieser Fragen wird untersucht, (1) inwiefern solche Erwartungen und Be-
fürchtungen überhaupt vorliegen, es (2) mit zunehmender Bodycam-Erfahrung Ver-
änderungen in der Einstellung der Beamten zu diesem neuen Einsatzmittel gibt und
438 Peter Sutterer
sich (3) hierin ggf. Beamte mit und ohne unmittelbare Bodycam-Erfahrung unter-
scheiden. Neben der Akzeptanz beim Beamten stellt sich die Frage nach der (4) Ak-
zeptanz beim unbeteiligten Bürger. Sodann sind dies (5) Fragen zu einer von Body-
cam-Beamten perzipierten präventiven Wirkung, zu den Rahmenbedingungen unter
denen dieses neue Einsatzmittel Wirkung entfalten kann, bzw. eben nicht entfaltet
sowie Fragen nach einem (6) Nachweis derartiger Effekte. Dieser wird zunächst (in-
tern) anhand von dokumentierten Bodycam-Einsätzen und anschließend (extern)
über einschlägige Statistiken zur Gewalt gegen Polizeibeamte geführt. Zuletzt
wird auf die Frage nach (7) möglichen repressiven Wirkungen von Bodycam-Auf-
zeichnungen eingegangen. Das Datenmaterial beruht zum Untersuchungszeitpunkt
auf Wahrnehmungen von Polizeibeamten, Berichten von Dienststellenleitern an
den Versuchsdienststellen und der Staatsanwaltschaft. Aufgrund der bislang gerin-
gen Fallzahlen von Aufzeichnungen, die in ein justizielles Verfahren eingebracht
wurden, ist eine abschließende empirische Beurteilung zur repressiven Wirkung je-
doch nicht möglich.
Insgesamt zeigt sich, dass die Erwartungen an die Bodycam überwiegend positiv
konnotiert sind. Man verspricht sich generell einen zusätzlichen Nutzen im täglichen
Einsatzgeschehen. Dies betrifft sowohl Befragte mit als auch ohne Bodycam-Erfah-
rung.
Von den Mitarbeitern an den Pilotierungsdienststellen wird von der Bodycam als
Einsatzmittel eine mittlere bis hohe präventive Wirksamkeit erwartet, beispielswei-
se, dass „Gewaltverhalten (Widerstand/KV) beim polizeilichen Gegenüber gemin-
dert wird und Beleidigungen zurückgehen“, und dass „durch den Einsatz der Body-
cam das Ziel der polizeilichen Maßnahmen schneller erreicht wird“.16 Weiterhin wird
angenommen, dass sich ganz allgemein der „präventive Druck auf das polizeiliche
Gegenüber erhöht“. Ebenso wird von den Beamten eine repressive Wirkung für den
weiteren Verlauf des (Straf-)Verfahrens erwartet.
Die interne Akzeptanz gegenüber der Bodycam ist somit hoch. Die Bodycam-Trä-
ger haben sich bereits nach kurzer Zeit mehrheitlich an die Kamera gewöhnt, ledig-
lich auf ein Viertel trifft dies nur teilweise zu. Die Bodycam wird nach einer zwölf-
monatigen Erprobung von der Mehrheit der Beamten (rd. 70 %; siehe Tabelle 1) als
fest etabliertes Einsatzmittel auf der Dienststelle angesehen. Dieses hohe Maß an
Vertrautheit teilen auch diejenigen Beamten, die bei diesem Versuch keine eigene
Bodycam-Rolle einnahmen.
16
Zu den wörtlichen Zitaten und zitierten Items siehe Sutterer & Stangl (2018).
Bodycams als Einsatzmittel der Polizei 439
Tabelle 1
Positive Erwartungen/Erfahrungen bzgl. der Bodycam (Beamte mit einer BC-Rolle)
Befragung* N Mean STD % von N für
Zustimmung**
1. Auswirkungen auf den BC-Träger: t3 292 2,18 0,83 70,5 %
„Ich fühle mich abgesichert in der
Durchsetzung von Maßnahmen t4a nicht erhoben
aufgrund der BC-Dokumentation.“
2. Allgemeine Beurteilung zur BC: t3 294 2,10 0,78 73,1 %
„Die Bodycam ist nach … [8/12]
Monaten ein fest etabliertes Einsatz- t4a 114 2,09 0,96 68,4 %
mittel auf der Dienststelle.“
53,9 %
t3 219 2,58 1,21
(25,1 %
3. „Ich selbst habe mich an die = teils-teils)
Kamera gewöhnt“
57,0 %
t4a 165 2,42 1,20
(24,2 %
= teils-teils)
Item 1 und 2: vierstufige Skala (1 = trifft voll zu … 4 = trifft gar nicht zu)
Item 3: fünfstufige Skala (1 = trifft voll zu … 5 = trifft gar nicht zu)
* t3 nach 8 Mon., t4 nach 12 Mon.
**„trifft voll zu“ und „trifft eher zu“
Gerade im Vorfeld der Einführung werden positive Möglichkeiten mit Blick auf
Prävention und Repression antizipiert. Nach Beendigung des Versuchs befürwortet
eine deutliche Mehrheit die Einführung der Bodycam (83 %).17 Die hohen Akzep-
tanzwerte decken sich mit den Ergebnissen anderer Studien (etwa Arnd 2017, 26).
Befürchtungen im Zusammenhang mit dem neuen Einsatzmittel werden von den
Beamten eher verneint. Gefragt wurde u. a. nach auf den Träger bezogene Befürch-
tungen. Konkret geht es darum, ob „die Videoaufnahmen ein falsches Bild vom Ver-
halten des Beamten in der Einsatzsituation abgeben“, ob die Verwendung „zu ver-
mehrten Disziplinar-/Strafverfahren gegen Polizeibeamte führt“ oder, ob es insge-
samt zu „einer erhöhten Dienstaufsicht/Beobachtung gegenüber den Beamten
kommt“. Ein ambivalentes Gefühl dazu ist bei den Beamten durchaus vorhanden,
auch wenn die Befürchtungen tendenziell eher verneint werden. Deutlicher werden
Befürchtungen eines Mehraufwandes in Form zunehmender Sachbearbeitung (ver-
mehrte Schreibarbeit, Datenerfassung, Auf-/Abrüstzeiten etc.) im Vorfeld der Erpro-
bung geäußert. Dennoch fallen die Zustimmungswerte für eine Einführung der Bo-
dycam bei der bayerischen Polizei durchgängig sehr hoch aus. Etwaige Befürchtun-
gen bzgl. einer negativen Wirksamkeit, beispielsweise in der Form, dass „die Body-
17
Siehe Sutterer & Stangl 2018, 41. Nähere Informationen zu den nachfolgend darge-
stellten Ergebnissen siehe Sutterer & Stangl 2018, 31 ff.
440 Peter Sutterer
cam die Aggression beim Gegenüber eher erhöht“, bestätigen sich grundsätzlich
nicht. Sie scheinen nur in einzelnen, speziellen Einsatzkonstellationen begründet
(so z. B. unter Alkoholeinfluss).
Insgesamt zeigen sich keine Differenzen zwischen der Befragung an den Pilotie-
rungsdienststellen vor dem Bodycam-Versuch (t1) und einer ein Jahr späteren Befra-
gung an jenen Vergleichsdienststellen, die nicht in den Versuch eingebunden waren
(t4b) (siehe Abbildung 2a/b). Das heißt, solange noch keine einschlägigen Bodycam-
Erfahrungen gesammelt werden konnten, lagen die gleichen (positive/negative) Er-
wartungen vor. Interessant sind dagegen die neuen Einschätzungen nach einer gewis-
sen Zeit mit Bodycam-Erfahrung.
* Vierstufige Skala (1 = trifft voll zu … 4 = trifft gar nicht zu). Bei t4b zusätzliche Items abgebildet.
Tabelle 2a
„Erwartungen“ an die Bodycam – Veränderungen im Laufe der Erprobung
Tabelle 2b
„Befürchtungen“ wegen der Bodycam – Veränderungen im Laufe der Erprobung
Bodycams als Einsatzmittel der Polizei 443
Bestätigt wird das Phänomen der „Realitätsanpassung an die Einsatz- und Dienst-
wirklichkeit“ dadurch, dass sich Beamte ohne eine Bodycam-Rolle – zwar nur leicht,
dennoch statistisch signifikant – zu den Erwartungen an die Bodycam insgesamt po-
sitiver äußern als Beamte mit einer Bodycam-Rolle. Sie erwarten eher als die Body-
cam-Träger selbst, dass sich beispielsweise der „präventive Druck auf das polizeili-
che Gegenüber erhöht“ bzw. insgesamt das „Gewaltverhalten gemindert wird“. Da-
gegen schätzen Bodycam-Beamte bereits nach acht Monaten Erprobung diese Er-
wartungen an das Einsatzmittel realistischer ein.18
Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Einsatzmittel Bodycam werden ge-
nerell als „eher unzutreffend“ beurteilt (s. o.). Interessant ist, dass Beamte mit
einer Bodycam-Rolle tendenziell mehr Befürchtungen äußern als Beamte ohne Bo-
dycam-Rolle.
Von beiden Vergleichsgruppen wird die Annahme einer „geringeren Sachbearbei-
tung bei der Sachverhaltsschilderung aufgrund der Videodokumentation“ verneint –
deutlicher von den Bodycam-Trägern. Diese äußern, dass in der Praxis ein Mehrauf-
wand an Schreibarbeit, Datenerfassung oder Auf-/Abrüstzeiten anfällt.
Es stellt sich außerdem die Frage, wie der unbeteiligte, also nicht in eine Konflikt-
situation involvierte, Bürger auf das neue Einsatzmittel reagiert. Hierzu wäre eine
repräsentative Bevölkerungsbefragung, in der auch der Kontakt zu Bodycam-Trä-
gern berücksichtigt wird, das Mittel der Wahl. Auf dieser Basis liegen bisher
kaum belastbare Erkenntnisse zur Akzeptanz von Bodycam-Einsätzen vor (vgl.
etwa Hallenberger et al. 2017). Für Rheinland-Pfalz wurde unter Leitung von Dr. Su-
sanne Weis eine nichtrepräsentative Onlinebefragung mit 3.627 Bürgern durchge-
führt (Raab & Ast 2017). Insgesamt erfährt die Bodycam bei dieser Befragung
hohe Zustimmungswerte in der (unbeteiligten) Bevölkerung. Ein Phänomen, das
sich generell, wie die internationale Akzeptanzforschung zur Videoüberwachung
im öffentlichen Raum zeigt, sogar unabhängig von Evaluationsergebnissen zur Wirk-
samkeit, in „hohen Zustimmungsquoten“ niederschlägt (Albrecht 2016, 224 f.).
In der vorliegenden Untersuchung wird die Sichtweise und die Einstellung des Bür-
gers aus der Perzeption der Bodycam-tragenden Polizeibeamten abgeleitet.19 Body-
cam-erfahrene Beamte (mit Rolle) wurden gebeten die Wirkung und den Nutzen
der Bodycam vor dem Hintergrund eigener Praxiserfahrung einzuschätzen. Die Aus-
wertung beruht auf den Angaben von insgesamt 389 Beamten mit rd. 5.800 Tragever-
suchen im Einzeldienst. Im direkten Bürgerkontakt sehen sie einerseits die Reaktionen
18
Siehe dazu Sutterer & Stangl 2018, 48 f.
19
Als Datengrundlage dienten wiederholte Befragungen der Bodycam-Träger, Dienststel-
lenberichte und Erkenntnisse aus den teilnehmenden Beobachtungen.
444 Peter Sutterer
des „unbeteiligten“ Bürgers auf die Kamera, andererseits die des „beteiligten, betrof-
fenen“, möglicherweise alkoholisierten Bürgers in der konflikthaften Situation.
Die vorliegenden Ergebnisse decken sich mit den Erkenntnissen aus den Studien
von Hallberger et al. (2017) und Raab & Ast (2017). Es scheint so, dass die Bevöl-
kerung den Einsatz der Bodycam eher befürwortet oder ihm neutral, jedenfalls selten
ablehnend, gegenübersteht. Aus Sicht des Bodycam-Beamten nimmt der unbeteiligte
Bürger die Kamera kaum wahr, wenn doch, dann eher positiv. Diese hindert ihn
zudem nicht daran mit einem Polizeibeamten in Kontakt zu treten (Sutterer & Stangl
2018, 55). Es ist denkbar, dass die Einschätzungen der Polizeibeamten hinsichtlich
der Gewöhnungseffekte beim Bürger letztlich auf Projektionen des eigenen, mittler-
weile vertrauten Empfindens im täglichen Umgang mit der Bodycam beruhen. Ge-
spräche zwischen Bürgern und Bodycam-Beamten haben gezeigt, dass beim Bürger
häufig die Annahme besteht, die Kamera zeichne dauerhaft auf. Der Bürger weiß
i. d. R. nicht, dass eine Aufzeichnung nur anlassbezogen und nach vorheriger Ankün-
digung ausgelöst wird. Hier gibt es offensichtlich Informationsdefizite.
Hinsichtlich der Wirkung der Bodycam auf betroffene Bürger wurden die Beam-
ten explizit nach ihren spezifischen Erfahrungen bei Einsätzen und deren Rahmen-
bedingungen (Alkoholeinfluss, Androhung einer Aufzeichnung, eingeschaltete Ka-
mera) befragt.
Hierbei zeigt sich eine gewisse Skepsis bzw. Unentschlossenheit in der Beurtei-
lung. Die Bodycam-Träger sind mehrheitlich unentschieden („teils, teils“: 41 %), ob
bei angedrohter oder eingeschalteter Kamera einer polizeilichen Ansprache oder
Maßnahme mehr Nachdruck verliehen wird. Abgesehen davon, gehen tendenziell
mehr Beamte davon aus, dass der „Ansprache/Maßnahme“ durch die Möglichkeit
des Androhens oder Einschaltens der Bodycam mehr Nachdruck verliehen wird
(35 %), als umgekehrt (24 %). Anders verhält es sich bei der Annahme, dass aggres-
sives Verhalten zurückginge und die Bodycam deeskalierend wirke. Hier gibt es eine
noch größere „Unentschiedenheit“ („teils-teils“: 48 %) bei den befragten Beamten
mit einer Bodycam-Rolle. Zugleich wird die Möglichkeit einer aggressivitätsmin-
dernden, deeskalierenden Wirkung tendenziell eher verneint (28 %). Insgesamt
24 % stimmen „eher zu“ bzw. „voll zu“. Das bedeutet, bei Ansprachen und polizei-
lichen Maßnahmen kann die Bodycam tendenziell unterstützend wirken. Zum Ver-
such mit Hilfe der Kamera bereits laufenden Eskalationsprozessen entgegenzuwir-
ken, ergibt die Untersuchung kein klares Bild. Ob der Einsatz der Bodycam (oder
die bloße Ankündigung des Einschaltens) zu vermehrten Diskussionen mit dem be-
troffenen Bürger führt, wird ebenfalls überwiegend mit „teils-teils“ bewertet und
Bodycams als Einsatzmittel der Polizei 445
bleibt somit vage. Die Ergebnisse der ersten Folgebefragung nach vier Monaten (t2)
und der Abschlussbefragung (t4a) unterscheiden sich kaum.20
Eine generelle präventive Wirkung wird von den Bodycam-Beamten eher bejaht.
Etwa ein Drittel der Beamten sieht das nicht so eindeutig und stuft die Wirkung „teils-
teils“ ein. Gleichzeitig geht nur ein sehr kleiner Teil der Bodycam-Erfahrenen von
einer eindeutigen Nichtwirksamkeit aus. Detailliert betrachtet zeigt sich, dass für
Gewaltverhalten, im Sinne von Widerstand oder Körperverletzung gegen Polizeibe-
amte, ein Großteil der Bodycam-Träger (rd. 43 %) bereits nach den ersten Monaten
Praxiserfahrung zunehmend unschlüssig ist, ob die Bodycam eine Reduktion des Ge-
waltverhaltens bewirkt. Teilweise unterstellen sie dem Einsatz der Bodycam diesen
Effekt. Etwa ein Viertel der Bodycam-Beamten hat eine derartige Wirkung bei lau-
fender Kamera wahrgenommen. Dagegen zeigt sich mit Blick auf einen potenziellen
Rückgang von Beleidigungen gegen Polizeibeamte eine eindeutigere Bewertung.
Hier wird eher eine positive Wirkung bei Einsatz der Bodycam konstatiert (siehe Ab-
bildung 3).
Präventionseffekte: Wenn die Body-Cam läuft, Präventionseffekte: Wenn die Body-Cam läuft,
verringert sich die Gefahr .. verringert sich die Gefahr ..
50 40
42.7
30.6 30.6
40 30
25.5
30
Prozent
Prozent
24.8
19.1 20
20
10.2 8.3
10 10
3.2 5.1
0 0
trifft voll zu trifft eher zu teils-teils trifft eher nicht trifft gar nicht trifft voll zu trifft eher zu teils-teils trifft eher nicht trifft gar nicht
zu zu zu zu
.. körperlich angegangen zu werden (t2; mit BC-Rolle) .. verbal angegangen zu werden (t2; mit BC-Rolle)
3.5.2 Rahmenbedingungen
20
Zu den Ergebnissen siehe Sutterer & Stangl 2018, 56 – 57.
21
Ariel et al. (2016, 750 ff.) kommen in ihrer Studie zu gegenläufigen Ergebnissen. Die
Autoren berichten von einer erhöhten Verletzungswahrscheinlichkeit bei kameraführenden
Beamten. Offen bleibt, ob eine Eskalation auf die Kamera oder die bereits aufgeheizte Polizei-
Bürger-Interaktion zurückzuführen ist (Ariel et al. 2016, 752).
446 Peter Sutterer
Befürchtungen und Erwartungen beziehen sich ebenso auf den Träger der Kamera
selbst und seinen empfundenen Handlungsspielraum. Das Tragen der Kamera könnte
sich positiv durch erhöhtes Sicherheitsgefühl und damit größerer Handlungssicher-
heit im Einsatz niederschlagen. Eine klare Videodokumentation von Konfliktsitua-
tionen kann für ein weiteres Verfahren (repressive Zwecke) dienen – bspw. zur Ab-
sicherung gegen falsche Behauptungen oder Anschuldigungen des polizeilichen Ge-
genübers. Umgekehrt könnten ebenso Befürchtungen zum Ausdruck kommen. Sie
könnten beispielsweise darin liegen, dass Beamte im Umgang mit dem polizeilichen
Gegenüber gehemmter agieren, dass sie sich selbst kontrollierter fühlen.
Die Untersuchung zeigt, dass das Gefühl einer Stärkung der eigenen Sicherheit
(„sich sicherer vor körperlichen Angriffen als ohne Bodycam zu fühlen“) von
knapp der Hälfte der Befragten (t2: 47 %; „trifft voll zu“ und „trifft eher zu“) geteilt
wird (Sutterer & Stangl 2018, 60). Hingegen sehen 53 % (t2) der Befragten das nicht
so. Deutlich positiv wird die Aussage bewertet, dass der Bodycam-Träger „sich in der
Bodycams als Einsatzmittel der Polizei 447
22
Zum Vergleich wurden die Beschwerdestatistiken von Dienststellen ohne Bodycam aus
dem gleichen Präsidialbereich verwendet.
448 Peter Sutterer
Tabelle 4
Perzipierte Auswirkung der Bodycam auf den Bodycam-Träger selbst
Befragung (voll) (gar) Mean STD
zutref- nicht zu-
fend* treffend*
„Ich fühle mich … % %
t2 51,0 49,0 2,44 0,95
… selbst stärker kontrolliert als
t3 51,0 49,0 2,51 0,90
ohne Bodycam.“
t4a 48,5 51,5 2,56 0,86
t2 38,0 62,0 2,75 0,92
… in meinem Verhalten gehemmter als
t3 36,0 64,0 2,70 0,90
ohne Bodycam.“
t4a 41,6 58,4 2,60 0,86
… abgesichert in der Durchsetzung von t2 nicht erhoben
Maßnahmen aufgrund der BC- t3 71,0 29,0 2,18 0,83
Dokumentation.“ t4a 71,7 28,3 2,26 0,81
* Die (vier- bzw. fünfstufige) Skala wurde dichotomisiert in „trifft voll zu“ und „trifft zu“ vs. „trifft nicht zu“ und
„trifft gar nicht zu“. Dargestellt sind die jeweiligen Anteile in Prozent (%).
N: t2 = 190, Miss. = 17; t3 = 292, Miss. = 9; t4a = 177, Miss. = 72 (fünfstufige Skala bei t4a. Die mittlere
Kategorie, „teils-teils “, wurde als fehlender Wert definiert).
Die Mitnahme und Wirkung der Bodycam wurde bei der Rückkehr auf die am
Versuch beteiligten Dienststellen schriftlich dokumentiert. Es wurden Informationen
zu allen Einsätzen von den kameraführenden Beamten in einem eigens von der Pro-
jektgruppe Bodycam (PP München) entworfenen Formular festgehalten (Dokumen-
tationsbögen). Eingetragen wurde beispielsweise, ob eine Aufzeichnung ausgelöst
wurde, was der Einsatzanlass war, ob Alkoholisierung/Intoxikation etc. vorlag
und ob „eine Verhaltensänderung durch den Bodycam-Einsatz“ eingetreten ist.
Auf Grundlage dieser Dokumentationsbögen wurden die Bodycams von den Be-
amten an den Erprobungsdienststellen rd. 6.000mal bei rd. 41.000 Einsatzstunden
mitgeführt (siehe Tabelle 5).23 Dabei wurde in 16 % der Mitnahmen mindestens
eine Aufzeichnung ausgelöst. Gemessen an der Anzahl der Mitnahmen und der Ein-
satzstunden „mit Bodycam“ wurde diese nicht überzogen eingesetzt, von ihr wurde
im Gegenteil eher zurückhaltend Gebrauch gemacht. In 230 Fällen (rd. 26 %) wurden
die Aufnahmen in ein Ermittlungsverfahren eingebracht.
Im Zusammenhang mit den 888 Aufnahmen/BC-Einsätzen, wurde von den Be-
amten ein gutes Viertel der Bodycam-Einsätze als deeskalierend, rd. dreiviertel
als neutral und lediglich 2 % (18 Fälle) als eskalierend eingestuft (Datenfeld: „Ver-
haltensänderung durch die Bodycam“). Offensichtlich tritt das Phänomen, dass es zu
23
Die Angaben basieren auf aktualisierten Auswertungen der polizeichen Projektgruppe
Body-Cam. Vgl. dazu Sutterer & Stangl 2018, 120 f.
Bodycams als Einsatzmittel der Polizei 449
negativen Effekten, insbesondere zur „Eskalation“ durch die Bodycam kommt, le-
diglich marginal auf. Dagegen erweist sie sich in einem nennenswerten Umfang
in den dokumentierten Einsätzen als wirksam. Beim größten Teil der Fälle hingegen
scheint weder eine positive noch negative Wirkung vorzuliegen, wobei die inhaltli-
che Bedeutung der Kategorie „neutral“ nicht sonderlich trennscharf erscheint.
Tabelle 5
Auswertung der Dokumentationsbögen der kameraführenden Beamten
Bodycam-Einsatzstunden: 40.947,9 Std.
Anzahl %
Bodycam-Mitnahmen 5.961 100,0 Bodycam im Außendienst
mitgeführt.
Bodycam-Aufzeichnungen (PAG) 888 16,0 Aufzeichnungen nach Polizei-
aufgabengesetz (% bezogen
auf die Mitnahmen)
darunter dokumentierte Wirkung Anzahl %
deeskalierend 233 26,2 in .. % der Aufnahmen gem.
PAG wurde von den Kamera-
führenden eine deeskalierende
Wirkung beim polizeilichen
Gegenüber dokumentiert.
neutral 637 71,7 in .. % wurde die Wirkung
mit neutral (weder noch; i.S. von
gleichbleibend) beschrieben.
eskalierend 18 2,0 in .. % wurde von den Kamera-
führenden eine (negative i.S. von)
eskalierende Wirkung beim polizei-
lichen Gegenüber festgestellt
(i. d. R. nur im verbalen Bereich;
d. h. mit eher geringem Ausmaß).
Rein präventive Aufzeichnungen 658 74,1 In diesen Fällen blieb es bei
rein präventiven Aufzeichnungen
(Ant. an PAG-Fällen).
Ermittlungsverfahren 230 25,9 In diesen Fällen wurden die Auf-
zeichnungen in ein Ermittlungs-
verfahren eingebracht (Ant. an
PAG-Fällen).
Zeitraum: 01. 12. 2016 – 30. 11. 2017; N = 5.961
Quelle: Dokumentationen der Projektleitung Bodycam beim PP München, 26. 11. 2018
gesehen. Die Aufzeichnungen werden für ein Ermittlungs- und justizielles Verfahren
als repressive Komponente genutzt.
Die präventive Wirkung, mithin die Reduzierung von Gewalt und Beleidigungen
gegen Polizeibeamte, wurde in den vorausgegangenen Analysen aus Sicht der Body-
cam-Beamten (wahrgenommene Wirkung) und/oder aus Sicht der Beamten ohne
Bodycam (Erwartungen) beleuchtet. Es bleibt die Frage, ob sich eine derart präven-
tive, abschreckende Wirkung der Bodycam in gewalthaltigen Konfliktsituationen
zwischen der Polizei und dem Bürger ebenso in objektiven Hellfeldzahlen der Poli-
zeistatistik niederschlägt und ob die Zahlen der GewaPol-Statistik24 durch diese
Maßnahme statistisch signifikant zurückgehen.
Für die am Versuch beteiligten Dienststellen wurde das Mengengerüst der Gewa-
Pol-Zahlen vor und nach Einführung der Bodycam für jeweils einen Zeitraum von
neun Monaten verglichen. Das Mengengerüst vor der Einführung der Bodycam ist
qualitätsgesichert (Stichwort Ausgangsstatistik). Dies gilt jedoch nicht für die Zah-
len nach der Einführung (Stichwort Eingangsstatistik).25 Letztere Daten wurden trotz
dieser Einschränkungen, mangels vorliegender langfristiger und qualitätsgesicherter
Daten, verwendet.26 Die Auswertungen zu den GewaPol-Daten der am Versuch be-
teiligten Dienststellen ergeben ein sehr heterogenes Bild (Sutterer & Stangl 2018,
93 ff.). An einigen Dienststellen gehen die Zahlen im Versuchszeitraum zurück, wo-
hingegen diese bei anderen Versuchsdienststellen ansteigen. In Gesamtbayern findet
sich ein geringfügiger Rückgang entsprechender Straftaten. Belastbare Aussagen auf
der Basis dieser Daten sind derzeit kaum möglich. Die Fallzahlen (insgesamt) bewe-
gen sich bei fast allen beteiligten Dienststellen im zweistelligen Bereich. Nach Straf-
taten aufgeschlüsselt finden sich erwartbar die höchsten Fallzahlen zu Beleidigung
und die niedrigsten Zahlen zu gefährlicher/schwerer Körperverletzung. Letztere ran-
24
„GewaPol“ steht für „Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte“. In der Da-
tenbank IGVP (Integrierte Vorgangsverwaltung Polizei, Bayern) werden zu den erfassten
Taten, die gegen Polizeibeamte gerichtet sind, zusätzliche Informationen für die einschlägigen
Lageberichte erfasst. Der Begriff wird an dieser Stelle um Beleidigungsdelikte erweitert
(siehe dazu Einleitung).
25
Die Daten wurden vom Bayerischen Landeskriminalamt zur Verfügung gestellt. „Nicht
qualitätsgesichert“ verweist dabei auf den Umstand, dass die Zahlen während des laufenden
Projektes den Stellenwert einer Eingangsstatistik haben und noch fortlaufenden Änderungen
unterliegen. Üblicherweise gelten Statistikdaten der Polizei (siehe analog dazu die PKS) erst
nach Abschluss der Ermittlungen und Abgaben an die Staatsanwaltschaft (Ausgangsstatistik)
als qualitätsgesichert.
26
Später können anhand längerfristiger Zeitreihen und Vergleichen zu Nicht-Bodycam-
Dienststellen qualitätsgesicherte Vergleiche hergestellt werden. Gleichwohl werden auch dann
die ausgeführten statistischen Probleme, z. B. starkes „Rauschen“ wegen geringer Fallzahlen,
eine maßgebliche Rolle spielen.
Bodycams als Einsatzmittel der Polizei 451
Aus den Mitarbeiterbefragungen (vgl. Tabelle 2a) und vor allem den Erfahrungs-
berichten der Pilotierungsdienststellen zum Bodycam-Einsatz geht hervor, dass der
Bodycam eine spezifisch repressive Wirkung unterstellt wird. Die Beamten sehen in
dem aufgezeichneten Video-/Audiomaterial eine große Erleichterung für eine be-
weiskräftigere Strafverfolgung, insbesondere im justiziellen Strafverfahren. Ebenso
werden die Vorzüge von Bodycam-Aufzeichnungen in Fällen vorgeschalteter inter-
ner Ermittlungen gegen Vollzugsbeamte durch das Bayerische Landeskriminalamt
betont.
Die Datenlage zu laufenden oder abgeschlossenen Ermittlungs- und justiziellen
Verfahren mit Bodycam-Bezug ist mit der Beendigung des Bodycam-Projektes
noch sehr gering.27 Eine systematische, wissenschaftliche Untersuchung wird erst
27
Für die beteiligten Staatsanwaltschaften liegen zum Untersuchungszeitpunkt nur wenige
Fälle mit Bodycambezug vor (Sutterer & Stangl 2018, 128 ff.).
452 Peter Sutterer
zu einem späteren Zeitpunkt, nach Vorliegen ausreichender Zahlen von justiziell ab-
geschlossenen Verfahren, möglich sein. Dennoch weisen bereits erste Erfahrungsbe-
richte beteiligter Staatsanwaltschaften28 und die Auswertungen der Erfahrungsbe-
richte der beteiligten Bodycam-Dienststellen auf eine zusätzliche repressive Wirk-
samkeit der Bodycam-Aufnahmen hin. Die Bodycam als neues Einsatzmittel
wurde von den Staatsanwaltschaften übereinstimmend und durchgängig positiv be-
wertet. Sowohl die Staatsanwaltschaft München als auch die Staatsanwaltschaften
Augsburg und Rosenheim29 heben die gute Bildqualität (auch bei Nacht), die gute
Tonqualität und die damit verbundene große Beweiskraft hervor.
Durch die Videodokumentation wird vor allem auch die Entwicklung der Einsatz-
situation und der tatsächliche Handlungsablauf wiedergegeben. Zudem wird die kör-
perliche und psychische Verfassung des/der Beschuldigten zum Tatzeitpunkt doku-
mentiert. Die Staatsanwälte bezeichnen die vorliegenden Bild- und Tonaufzeichnun-
gen insbesondere für die Sachverhaltsbewertung als sehr hilfreich, da sie die „nüch-
ternen schriftlichen Sachverhaltsschilderungen beleben“, die subjektiven
Wahrnehmungen objektivieren und somit eine realistischere Beurteilung der Situa-
tion ermöglichen. Als Nebeneffekt einer intendierten „deeskalierenden Wirkung“
der Bodycam wird von einer Staatsanwaltschaft auf einen potenziell „reinigenden
Effekt“ für das polizeiliche Handeln, also einer vermehrten Selbstdisziplinierung
der Beamten, verwiesen.
Insgesamt werden die Bodycam-Aufzeichnungen als gutes Beweismittel angese-
hen und allein die Tatsache, dass Aufzeichnungen vorlagen, machte in vielen Fällen
das Abspielen in der Hauptverhandlung entbehrlich (z. B. der Beschuldigte geständig
war).30
Übereinstimmend argumentieren alle betroffenen Staatsanwaltschaften, dass kein
genereller Anspruch auf die Bodycam als Beweismittel generiert werden kann.31 Ist
eine Aufzeichnung vorhanden, so kann diese, wie jedes andere Beweismittel auch,
ins Verfahren aufgenommen werden.
Zusammenfassend waren die Äußerungen zu Bodycam-Aufzeichnungen im Er-
mittlungs- und Strafverfahren von Seiten der Staatsanwaltschaften durchweg positiv
28
München I, Augsburg und Traunstein.
29
Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft Traunstein (zuständig für Beamtendelikte
und Widerstandshandlungen) und der Zweigstelle Rosenheim. Zum Untersuchungszeitpunkt
war bislang erst ein Fall zu verzeichnen, bei dem die Bodycam-Aufzeichnungen als Beweis-
mittel (im Strafverfahren) in einer Hauptverhandlung vorgeführt wurden. In weiteren Fällen
kam es aus unterschiedlichen Gründen nicht zur Verhandlung.
30
Laut Aussage der beteiligten Staatsanwaltschaften kann das Vorhandensein und Ab-
spielen einer Bodycam-Aufzeichnung die Geständnisbereitschaft fördern und eventuell auch
Reue beim Beschuldigten hervorrufen. Dies kann nach Ansicht der Staatsanwaltschaft mög-
licherweise zu einer milderen Strafe führen. Ein empirischer Nachweis kann auf der vorlie-
genden Datenbasis nicht aufgeführt werden.
31
Entsprechende Befürchtungen wurden von Bodycam-Beamten geäußert. Vgl. dazu auch
Kersting et al. (2019, 73).
Bodycams als Einsatzmittel der Polizei 453
32
Die Sichtweise des beteiligten/unbeteiligten Bürgers gegenüber der Bodycam wurde
nicht erhoben. Positive oder neutrale Einschätzungen zur Bodycam durch den Bürger finden
sich etwa bei Hallenberger et al. (2017, 28 – 38).
454 Peter Sutterer
33
Zu Alkohol und Gewalt siehe Özsöz 2014.
Bodycams als Einsatzmittel der Polizei 455
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Bodycams als Einsatzmittel der Polizei 457
1. Einleitung
Häusliche Gewalt ist nicht nur ein Problem in Schwellen- oder Entwicklungslän-
dern. Deutschland ist zwar eines der fortschrittlichsten Länder der Welt und belegte
2018 im UN-Index der menschlichen Entwicklung den 4. Platz (gemeinsam mit
Hongkong); wer aber denkt, in einem Land wie Deutschland sei die Toleranz für
häusliche Gewalt minimal und die daraus folgenden Probleme nicht existent, der
irrt sich. Auch in der Bundesrepublik sind häusliche Gewalt und ihre Folgen omni-
präsent. Basierend auf den Daten des World Values Survey des Jahres 2013, der dieser
Untersuchung zugrunde liegt, zeigt sich, dass 26 % der befragten Personen das
Schlagen der eigenen Frau nicht grundsätzlich als völlig ungerechtfertigt ansieht,
bei den Kindern sind es 36 %. In der Stichprobe der Männer sind es sogar 33 %
bzw. 40 %, die Schlagen unter Umständen „in Ordnung“ finden. Diese Prozentzah-
len belegen, dass ein beträchtlicher Anteil der Haushalte in Deutschland gefährdet
ist.
Laut Bundeskriminalamt sind im Jahr 2018 136 Kinder gewaltsam zu Tode ge-
kommen. Bei den Zahlen zu Misshandlungen ist ein leichter Rückgang von 4.247
im Jahr 2017 auf 4.180 betroffene Kinder zu verzeichnen (Bundeskriminalamt &
Deutsche Kinderhilfe 2019). Die dem BKA bekannten Fallzahlen für partnerschaft-
liche Gewalt lagen 2012 bei 120.758 und sind seither kontinuierlich bis auf 140.755
im Jahr 2018 (+16,6 %) angestiegen (Bundeskriminalamt 2019). Hierbei handelt es
sich um die Hellfeldziffer, da die Zahlen nur über die zur Anzeige gebrachten Fälle
abgeleitet sind. Da Straftaten innerhalb der Familie als Privatsache behandelt wer-
den, kommen sie kaum zur Anzeige (Schneider 1994, 16). Somit ist unklar, ob die
Steigerung von 2012 bis 2018 tatsächlich auf der Zunahme von häuslichen Gewalt-
taten oder eher auf einer Erhöhung von gemeldeten Fällen durch die Sensibilisierung
der Bevölkerung zurückzuführen ist. Um die Realität einigermaßen wahrheitsgetreu
abzubilden, benötigt man die Dunkelfeldforschung und Viktimisierungsstudien (Al-
brecht 2014). Der Feldzugang und die Datenerhebung erweisen sich jedoch als
schwierig, da innerfamiliäre Gewalt ein gesellschaftliches Tabuthema darstellt
460 Horst Entorf und Gabriele Lichmann
(Dlugosch 2010, 46, 52). Die repräsentative und umfangreiche Untersuchung des
Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2005) ist eine der
wenigen in Deutschland durchgeführten Dunkelfeldforschungen zu häuslicher Ge-
walt. Sie gelangt zu dem Ergebnis, dass 2005 in Deutschland 25 % der Frauen im
Alter zwischen 16 und 85 Opfer von Gewalthandlungen durch ihre Beziehungspart-
ner waren. In Europa beträgt die Spanne der Gewalthandlungen gegen Frauen in
Paarbeziehungen zwischen 10 % und 32 % (Bundesministerium für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend 2005, 33). Damit liegen die Werte der deutschen Studie im
europäischen Vergleich im mittleren bis oberen Bereich. Solche Vergleiche zu ande-
ren europäischen Ländern sind nur begrenzt möglich, da die Erhebung, Methoden
und Definitionen von Gewalt sich stark unterscheiden (Bundesministerium für Fami-
lie, Senioren, Frauen und Jugend 2005, 33 – 34). Dennoch kann es zu einer groben
Orientierung innerhalb der EU dienen.
Durch häusliche Gewalt werden nicht nur die Opfer und deren Umfeld in Mitlei-
denschaft gezogen, sondern letztlich die gesamte Gesellschaft. Gemäß einer Studie
von Sacco (2017) betragen die durch häusliche Gewalt verursachten direkten und in-
direkten volkswirtschaftlichen Kosten in Deutschland pro Jahr 3,8 Milliarden Euro,
das sind 74 Euro pro erwerbsfähigem Einwohner. Vor allem die Kosten im Gesund-
heitssektor steigen durch häusliche Gewalt stark an, denn missbrauchte Frauen haben
mehr als doppelt so viele Arztbesuche, eine achtmal höhere Nutzung der psychischen
ärztlichen Betreuung und eine höhere Krankenhausaufenthaltsrate im Vergleich zu
nicht missbrauchten Frauen (Alhabib, Nur & Jones 2010, 369). Weitere Belastungen
entstehen durch so genannte intangible Kosten, wie etwa Traumata und Verlust an
Lebensqualität, die in dem berechneten Betrag von Sacco (2017) unberücksichtigt
bleiben.
Gewalt und Gewaltprävention sind zentrale Themen aller Gesellschaften. Ent-
sprechend existieren bereits zahlreiche Studien, die sich mit den Faktoren erlebter
häuslicher Gewalt auseinandersetzen. Diese Arbeit unterscheidet sich von der bishe-
rigen Literatur dadurch, dass sie sich nicht mit der erlebten, sondern mit der Gefähr-
dung von Familien und Haushalten durch potenzielle häusliche Gewalt beschäftigt.
Und zwar wird der Nährboden möglicher häuslicher Gewalt mittels der Befragungs-
studie des World Values Survey untersucht, in dem die Teilnehmer zu ihren Einstel-
lungen bezüglich der Rechtfertigung und Tolerierung von Schlägen gegenüber Frau-
en und Kindern interviewt wurden. Zwar können nicht nur Frauen und Kinder Opfer
häuslicher Gewalt werden, sondern auch Männer, aber hierzu gibt es weit weniger
Untersuchungen und die Zahl der Fälle ist im Verhältnis gering (Dlugosch 2010).
Empirische Ergebnisse einer Erhebung von Hohendorf (2018) deuten allerdings dar-
auf hin, dass junge Frauen in Beziehungen nicht nur Opfer, sondern auch Täter sind,
und dass das Ausmaß von Opfer- und Täterschaft bei Männern und Frauen nahezu
ausgeglichen sei. Leider können wir in unserer Studie dieses Thema nicht weiter ver-
folgen, da im World Values Survey nur die Einstellung zur Gewalt gegen Frauen und
Kinder abgefragt wird, aber nicht gegenüber Männern.
Welche Faktoren beeinflussen häusliche Gewalt und ihre teilweise Akzeptanz? 461
In unserer Studie gehen wir der Frage nach, ob gängige Theorien und Hypothesen
zu den Hintergründen erlebter häuslicher Gewalt auch für die Einstellung von Män-
nern und Frauen bezüglich der Rechtfertigung von Gewalt Bestand haben. Dabei un-
terscheiden wir die Erklärungsansätze in sozioökonomische, demographische, kul-
turelle und aus individuellen Grundüberzeugungen und Wertevorstellungen abgelei-
tete Einflussbereiche. Unter anderem wird hinterfragt, ob persönliche Einstellungen
zur Gleichberechtigung von Mann und Frau oder zur Religion einen Einfluss haben.
Ferner untersuchen wir die Rolle von Faktoren des persönlichen und familiären
Stresses, sei es aus Gründen von Arbeitslosigkeit, Finanznot oder Kinderzahl.
Unsere Ergebnisse bestätigen empirische Ergebnisse aus der Literatur zur erleb-
ten häuslichen Gewalt, teilweise ergeben sich jedoch auch abweichende Resultate.
Unter anderem finden wir, dass ein Werteverständnis, dass die Wichtigkeit von Frau-
enrechten in einer Demokratie als sekundär erachtet, mit einer deutlich stärkeren
Rechtfertigung von Gewalt einhergeht (sowohl gegenüber Frauen als auch Kindern).
Teilweise im Widerspruch zur Literatur steht hingegen das Ergebnis, dass Arbeits-
lose signifikant weniger tolerant gegenüber innerfamiliärer Gewalt sind als nichtar-
beitslose Personen.1
Die Arbeit ist wie folgt gegliedert: Im nachfolgenden Kapitel 2 geben wir einen
Überblick der bisherigen Literatur und eine Zusammenfassung der gängigen Hypo-
thesen. In Kapitel 3 werden die Daten und die deskriptiven Statistiken vorgestellt.
Anschließend werden in Kapitel 4 die empirischen Ergebnisse einer multivariaten
Analyse präsentiert und diskutiert. Kapitel 5 fasst die Ergebnisse zusammen und lie-
fert gesellschaftsökonomische und kriminalpolitische Schlussfolgerungen.
2. Bisherige Forschung
2.1 Gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Kosten
durch häusliche Gewalt
Laut der Studie der World Health Organization (2002) stellt Gewalt gegen Frauen
und Kinder ein globales Gesundheitsrisiko dar. Gewalt beeinflusst die Arbeitsfähig-
keit, das Wohlbefinden und die Lebenserwartung der betroffenen Frauen und Kinder.
Studien von Aziz et al. (2018), Brzank (2009) und Dlugosch (2010) zeigen, dass häus-
liche Gewalt bei Frauen und Kindern zu einer Vielzahl von körperlichen und psychi-
schen Problemen und in den schlimmsten Fällen bis hin zu einer Steigerung der Sui-
zidgefahr (Devries et al. 2011) führen kann. Zusätzlich erstreckt sich die Wirkung
von Gewalt auf Familie, Freunde und Gesellschaft, da diese unmittelbar und mittel-
bar in Mitleidenschaft geraten (Aziz et al. 2018). Beispielsweise sind bei Kindern, die
Gewalt gegen ihre Mutter miterleben, negative Folgen in Form verschiedener psychi-
1
„Nichtarbeitslose“ umfassen generell alle übrigen Gruppen, also Vollzeitbeschäftigte,
Teilzeitbeschäftigte, Ruheständler, nicht am Arbeitsmarkt Aktive, sich in Ausbildung befin-
dende Personen, Selbständige und „Sonstige“.
462 Horst Entorf und Gabriele Lichmann
liarden Euro pro Jahr. Diese Kosten würden sich weiter erhöhen, wenn man imma-
terielle Kosten wie etwa den Verlust an langfristiger Lebensqualität einbeziehen
würde. Sacco (2017) errechnet hierfür den hohen Betrag von 18 Mrd. Euro als so ge-
nannte Lebenszeitkosten, den die Autorin jedoch nicht auf Jahresbasis umrechnet
und der so im Ergebnis von jährlich 3,8 Mrd. Euro unberücksichtigt ist.
Um die hohe durch häusliche Gewalt entstehende gesellschaftliche Belastung zu
senken, müssen die Ursachen erkannt und effektive Maßnahmen erarbeitet werden.
In den folgenden Unterkapiteln werden wir daher versuchen, die wesentlichen indi-
viduellen Beweggründe für eine eher permissive oder ablehnende Einstellung zur
häuslichen Gewalt herauszuarbeiten. Da den Verfassern dieses Artikels keine bishe-
rige einschlägige Studie zur Untersuchung der Einstellung zur häuslichen Gewalt be-
kannt ist, wird die Diskussion der Hintergrundfaktoren naheliegenderweise aus der
Literatur der erlebten häuslichen Gewalt abgeleitet.
Studien belegen, dass häusliche Gewalt zwar nicht durch Armut, Arbeitslosigkeit
und Wirtschaftskrisen verursacht wird, diese Faktoren jedoch das Risiko häuslicher
Gewalt erhöhen (Monahan 2020; Abiona & Koppensteiner 2016; Dlugosch 2010;
Albert 2008). Weitere Untersuchungen stellten heraus, dass hierbei Stressbelastung
die zentrale intervenierende Variable darstellt (Ziegler 1990). Denn die Arbeitslosig-
keit verursacht nicht nur finanzielle, sondern auch soziale und psychische Probleme
(Ziegler 1990). Somit besagt die Hypothese der Stressbelastung, dass diese Gewalt
ausgelöst werden kann (Kaselitz & Lercher 2002; Dlugosch 2010, 36 – 37). Derarti-
ger psychischer Druck kann jedoch auch durch niedrige Einkommen, einen niedrigen
Bildungsstand oder berufliche und familiäre Probleme ausgelöst werden (Dlugosch
2010). Viele Studien sprechen auch dafür, dass bei einer großen Anzahl von Kindern
das Risiko der häuslichen Gewalt zunimmt (Bender & Lösel 2005, 320). Je stärker die
Familie belastet ist, desto höher ist das Risiko von häuslicher Gewalt (Brandon &
Lewis 1996; Egger & Schär Moser 2008). Zu den belastenden Faktoren gehört
auch die finanzielle Situation des Haushaltes (Benson et al. 2003; Benson & Fox
2005). Studien haben belegt, dass mit einer Verbesserung der finanziellen Situation
die innerfamiliäre Gewalt zurückgegangen ist (Renzetti 2009, 2).
Hinsichtlich des Effektes von Arbeitslosigkeit auf häusliche Gewalt kommen An-
derberg et al. (2016) sowohl theoretisch als auch empirisch zu einem anderen Ergeb-
nis als allgemein erwartet wird. In einem spieltheoretischen Ansatz weisen sie nach,
dass ein Mann, der arbeitslos ist, seiner Frau oder Lebensgefährtin nicht seine gewalt-
tätige Seite offenbart, da sie dadurch einen höheren Anreiz hätte, ihn zu verlassen.
Dieser Anreiz begründet sich dadurch, dass die finanzielle Abhängigkeit geringer
ist, als wenn der Partner beschäftigt wäre. Ihre empirischen Ergebnisse deuten ins-
besondere darauf hin, dass ein Anstieg der männlichen Arbeitslosenquote um einen
464 Horst Entorf und Gabriele Lichmann
Eine häufig genannte These lautet, dass unzureichende Bildung häusliche Gewalt
begünstigt. Ein Grund hierfür wäre, dass Bildung mit dem Erziehungsstil zusammen-
hängt. Dies ließe darauf schließen, dass in gebildeteren Bevölkerungsgruppen ge-
walttätige Formen der Konfliktlösung häufiger abgelehnt würden. Tatsächlich besagt
die bisherige Literatur, dass der Zusammenhang von häuslicher Gewalt und Bildung
nicht so klar ist wie gemeinhin angenommen. So legen Ergebnisse bei Bussmann
(2005) zwar nahe, dass Eltern, die ihre Kinder schlagen, einen durchschnittlich nied-
rigeren Bildungsgrad aufweisen als die Eltern, die gewaltfrei erziehen, dennoch kön-
nen laut dieser Studie die schweren Gewalthandlungen nicht nur den Eltern aus den
unteren Bildungsschichten zugeordnet werden. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt
eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend (Schröttle 2008). Eine der Studie zugrundeliegende Befragung von Frauen
in Bezug auf die Schul- und Ausbildungsabschlüsse der aktuellen Partner hat erge-
ben, dass Partner, die keinen qualifizierten Schul- und/oder Ausbildungsabschluss
haben, in höherem Maße (schwere) körperliche und/oder sexuelle Gewalt gegen
die Partnerin ausüben (Schröttle 2008, 30). Die gleiche Quelle kommt jedoch
auch zu dem Ergebnis, dass Männer mit höheren Bildungsressourcen nicht generell
weniger gewalttätig gegenüber der Partnerin sind als Männer mit mittleren oder ge-
ringen Bildungs- und Ausbildungsressourcen. Bei den Frauen deutet die Studie nicht
Welche Faktoren beeinflussen häusliche Gewalt und ihre teilweise Akzeptanz? 465
darauf hin, dass Frauen aus unteren Bildungssegmenten generell höher belastet sind
als Frauen aus höheren Bildungsschichten (Schröttle 2008, 28).
Verbunden mit der Schichtzugehörigkeit kann auch die Wohngegend eine Rolle
im Hinblick auf das Gewaltaufkommen spielen (Bender & Lösel 2005, 330). Dies
kann darauf zurückgeführt werden, dass eine durch eine hohe Gewaltrate gekenn-
zeichnete Nachbarschaft das Risiko von Gewalt im eigenen Haushalt erhöhen
kann. Somit führen nicht nur innerfamiliäre Faktoren, wie Gewalt tolerierende
und gutheißende Wertvorstellungen, sondern auch die Gewaltbereitschaft im Wohn-
umfeld zu einer potenziell höheren Gefährdung durch häusliche Gewalt (Dlugosch
2010, 36 – 37).
Einwandererfamilien sind stärker von häuslicher Gewalt betroffen als gebürtig
deutsche Familien. Das jedenfalls ist das Ergebnis einer Reihe von Studien (Schröttle
2008; Albert 2008, 91 – 92; Pfeiffer et al. 1998, 18). Die erhöhte Belastung durch
häusliche Gewalt in Familien mit Migrationshintergrund lässt sich laut dieser Studi-
en nicht so sehr auf die unterschiedlichen kulturbedingten Wertvorstellungen zurück-
führen. Viel eher sind die treibenden Faktoren dieselben, die auch zu häuslicher
Gewalt in Paarbeziehungen ohne Migrationshintergrund führen (Helfferich & Kave-
mann 2012). Bedingt durch mangelnde Integration und durch eine unklare Rechts-
lage in Deutschland treten ökonomische und soziale Schwierigkeiten in Einwande-
rerfamilien häufiger auf als bei einheimischen Haushalten (Helfferich & Kavemann
2012). Zudem werden in vielen Fällen berufliche und akademische Qualifikationen
nicht anerkannt, was die finanzielle Abhängigkeit von Frauen verstärkt, die sich häu-
fig mit schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen zufriedengeben müssen
(Sharma 2001). So kann eine Familie mit Migrationshintergrund stärker als einhei-
mische Familien durch einen geringen Bildungsgrad, fehlende Beschäftigung und
somit niedriges Einkommen und allem voran durch Sprachdefizite und mangelnde
berufliche und soziale Integration geprägt sein (Lehmann 2015, 27 – 31). Dies sind
genau die Faktoren, die allgemein das Risiko von innerfamiliärer Gewalt erhöhen.
Hinzu kommt bei Migrantinnen eine extreme Isolierung und Machtlosigkeit, die
durch Sprachprobleme verstärkt wird (Sharma 2001). Das erschwert die Möglichkeit
einer Beendigung einer gewalttätigen Partnerschaft in einem noch fremden Land zu-
sätzlich. Zudem ist der Aufenthaltsstatus in vielen Fällen für mehrere Jahre vom Ehe-
mann abhängig, ein Aspekt, der bei deutschen Staatsbürgerinnen keine Rolle spielt
(Helfferich & Kavemann 2012).
Auch wenn die hohe Gewaltbetroffenheit von Frauen mit Migrationshintergrund
vor allem auf eine ressourcenarme soziale Lage der Familie zurückzuführen ist, so
spielen die kulturellen Hintergründe des Heimatlandes dennoch eine Rolle. In man-
chen Kulturen bestehen Männlichkeitsbilder, die Dominanz und Gewalt gegenüber
Frauen legitimieren (Oyewuwo-Gassikia 2016; Lehmann 2015, 27). Eine Abhängig-
keit von Gewalt als Durchsetzungs- und Kommunikationsmittel tritt oft bei Männern
auf, die aus Ländern ausgewandert sind, in denen diktatorische Regime den Einsatz
von Gewalt und Zwang zur Dominanz und Kontrolle legitimiert haben (Sharma
466 Horst Entorf und Gabriele Lichmann
2001). Männer aus diesen Ländern neigen eher dazu, auch in den Gastländern die
gleichen Mittel anzuwenden, um ihre Familie zu kontrollieren.
Kultur wird mithilfe einer Reihe von Merkmalen definiert, wie zum Beispiel
Überzeugungen, Praktiken, Werte, Normen und Verhaltensweisen, die von Mitglie-
dern einer Gesellschaft geteilt werden (Kasturirangan, Krishnan & Riger 2004, 319).
Studien zeigen, dass trotz der vielen Unterschiede zwischen den existierenden Kul-
turen keine der ethnischen oder sozioökonomischen Gruppen immun gegen Gewalt
ist, auch nicht hinsichtlich häuslicher Gewalt (Alhabib et al. 2010; Albert 2008, 91 –
92). Wie im vorherigen Abschnitt erläutert, können diese unterschiedlichen Werte-
vorstellungen und Normen die gewaltfreie Integration von Einwandererfamilien er-
schweren. Während zum Beispiel hierzulande Scheidungen gesellschaftlich akzep-
tiert werden und auch ein fester Bestandteil der Gesellschaft sind, gelten sie in an-
deren Kulturen als verboten oder zumindest als ein Affront gegen die eigene Familie
(Shirwadkar 2004). In dem Versuch, kulturelle Werte zu wahren, ermutigen viele Ge-
meinschaften Frauen, gewalttätige Beziehungen nicht zu verlassen bzw. zu schwei-
gen und den Missbrauch zu leugnen (Kasturirangan et al. 2004).
Auch bei zahlreichen einheimischen Familien und Haushalten existieren nach wie
vor Wertvorstellungen, die hinsichtlich Hierarchie und Rollenverständnis keine
Gleichberechtigung von Mann und Frau vorsehen. Im traditionellen Familienbild
wurde das Ausüben von Gewalt der Männer gegenüber ihren Frauen zu einem gewis-
sen Grad gesellschaftlich toleriert (Godenzi 1996). Dasselbe gilt für die Eltern-Kind-
Beziehung. Diese basiert auch heutzutage teilweise auf traditioneller autoritärer Er-
ziehung, was wiederum auf der gesellschaftlichen Akzeptanz und Toleranz von Ge-
walt beruht (Kaselitz & Lercher 2002). Die gesellschaftliche Akzeptanz und Toleranz
entwickeln sich aus vielen verschiedenen Faktoren. In der Literatur wird dabei die
Bedeutung der sozialen Lerntheorie hervorgehoben, die dazu führt, dass das Hierar-
chiedenken und kulturell-traditionelle Wertvorstellungen von den Eltern an die Kin-
der weitergegeben werden.
Die soziale Lerntheorie beschreibt, dass Erfahrungen der Eltern mit Gewalt in
ihrer Kindheit oder Jugend an die nächste Generation weitergegeben werden (Bender
& Lösel 2005; Abramsky et al. 2011). Nach diesem Ansatz wird Aggression nicht als
Trieb oder als unumgängliche Reaktion auf nicht erfüllte Erwartungen, sondern als
durch Lernvorgänge gesteuert angesehen (Schweikert 2000, 81; Dlugosch 2010, 32).
Die Studie von Bowlus & Seitz (2006) belegt, dass bei Männern, die häusliche Gewalt
als Kind beobachtet haben, die Wahrscheinlichkeit, die eigene Frau zu missbrauchen,
je nach Alter der Frau 1,9- bis 5,3-mal höher ist als bei einem Mann, der keine häus-
liche Gewalt erlebt hat. Damit wird zwar nicht ausgeschlossen, dass bestimmte
Handlungen angeboren sein können, jedoch bestimmt der Lernprozess, ob und
Welche Faktoren beeinflussen häusliche Gewalt und ihre teilweise Akzeptanz? 467
wie gehandelt wird (Schweikert 2000, 81). Hierarchiedenken, inklusive der Annah-
me, die Frau wäre dem Mann in Beziehungen und im gesellschaftlichen Leben un-
tergeordnet, werden den Kindern vorgelebt und so über Generationen hinweg wei-
tergegeben (Schweikert 2000, 86).
Zwar kann durch staatliche Maßnahmen (wie z. B. eine Frauenquote) eine formale
Gleichstellung geschaffen werden, dies reicht jedoch nicht aus, um das Hierarchie-
denken innerhalb der Gesellschaft erfolgreich zu verbannen. Auch die Einführung
von Gesetzen zur Strafbarkeit häuslicher Gewalt ist allein nicht ausschlaggebend.
So hatte die Einführung des Verbotes von Gewalt in der Erziehung von Kindern
im Jahre 1979 in Schweden besonders deshalb die erwünschte Wirkung eines unmit-
telbaren Rückgangs von Gewalt in der Erziehung von Kindern, weil es mit einer in-
tensiven Begleitkampagne gekoppelt wurde (Bussmann et al. 2008). Eine Befragung
von Bussmann et al. (2008) von 1.000 repräsentativ ausgewählten Eltern im Jahre
2007 hat gezeigt, dass etwa 90 % der Schweden Gesetzeskenntnis hatten, während
dies bei weniger als einem Drittel der österreichischen und deutschen Eltern der Fall
war. Dies lässt vermuten, dass nicht nur Gesetze nötig sind, sondern dass auch die
Verbreitung der Inhalte der Gesetze eine wichtige Rolle spielt, damit sie in das Be-
wusstsein der Gesellschaft vordringen und umgesetzt werden können (Peacock &
Barker 2014). Kindergärten und Schulen tragen hierbei eine besondere Verantwor-
tung.
Ein wichtiger kultureller Aspekt betrifft die Religion. Wertvorstellungen sind in
vielen Ländern stark religiös beeinflusst. Unter den Weltreligionen haben zum Bei-
spiel das Christentum, das Judentum und der Islam gemeinsam, dass sie zumindest in
ihrem Ursprung die Frau dem Mann unterordnen (Fortune & Enger 2005). White-
head (2012) deckt einen Zusammenhang zwischen dem männlichen Gottesbild
und der Einhaltung traditioneller Geschlechterrollen und konventionelle Vorstellun-
gen von Ehe und Familie auf. Im Allgemeinen beinhalten solche Vorstellungen, dass
Männer sich im öffentlichen Raum bewegen, während Frauen sich um den häusli-
chen und privaten Bereich kümmern. Dabei sind über verschiedene Religionen hin-
weg diejenigen, die ihre heiligen Schriften hochschätzen, eher bereit, traditionelle
Geschlechterideologien zu unterstützen (Whitehead 2012, 141).
3.1 Datenbeschreibung
Für die folgende empirische Analyse werden die Daten des World Values Survey
(WVS) genutzt. Dabei handelt es sich um ein länderübergreifendes Projekt, das sich
mit dem Thema Wertewandel und dessen Auswirkungen beschäftigt. Es wird von
einem internationalen Forscherteam der WVS Association und dem WVSA-Sekre-
tariat mit Sitz in Wien, Österreich, koordiniert und geleitet. Jede Umfragewelle führt
repräsentative nationale Umfragen zu den Grundwerten und Überzeugungen von In-
dividuen in einem großen Querschnitt von fast 100 Ländern durch, und zwar mit
einem gemeinsamen Fragebogen. Dieser enthält Fragen zu demografischen Daten
(Alter, Geschlecht, Bildung usw.), selbstberichteten wirtschaftlichen Merkmalen,
wie Einkommen und soziale Schicht, und möchte Antworten auf Fragen zu morali-
schen, religiösen und politischen Wertvorstellungen einholen. Der WVS ist die größ-
te nicht-kommerzielle länderübergreifende Längsschnittuntersuchung menschlicher
Überzeugungen und Werte. Die wichtigste Methode der Datenerhebung in der WVS-
Umfrage ist die persönliche Befragung am Wohnort der Befragten oder am Telefon.
Die erste Erhebungswelle wurde 1981 gestartet, gefolgt von sechs aufeinanderfol-
genden Wellen. Die in unserer Studie verwendeten Daten stammen aus der sechsten
Welle des WVS (2010 – 2014), die Erhebung in Deutschland fand im Jahr 2014 statt.
Dieser Datensatz umfasst 2.046 Interviews. Die Anzahl valider Antworten (ohne feh-
lende oder offensichtlich falsche Angaben) liegt, je nach Surveyfrage, zumeist knapp
unter 2.000 (siehe Tabelle 1 im Anhang).
Die Großzahl bisheriger Studien zu häuslicher Gewalt analysiert Erfahrungen mit
häuslicher Gewalt und untersucht, warum es dazu gekommen ist. Der World Values
Survey hingegen fragt nicht, ob die befragte Person Gewalt im Haushalt ausübt oder
erfahren hat. In dieser Studie werden die Einstellungen der Befragten zu häuslicher
Gewalt durch folgende zwei Surveyfragen erfasst, die mit einer gemeinsamen Ein-
leitung versehen sind:
Können Sie mir bitte für jede der folgenden Handlungen sagen, ob Sie sie in jedem Fall für in
Ordnung halten, unter keinen Umständen für in Ordnung halten, oder irgendwas dazwi-
schen. Nennen Sie mir bitte zu jedem Punkt einen Wert anhand der Liste. 1 bedeutet:
„Unter gar keinen Umständen in Ordnung“. 10 bedeutet: „In jedem Fall in Ordnung“.
Mit den Werten dazwischen können Sie ihre Angabe abstufen.
* Variable 208: Wenn einem Mann bei seiner Frau mal die Hand ausrutscht.
* Variable 209: Wenn Eltern ihre Kinder schlagen.
Welche Faktoren beeinflussen häusliche Gewalt und ihre teilweise Akzeptanz? 469
binäre Variable, die den Wert 0 annimmt, falls die befragte Person die Kategorie 1
gewählt hat („auf keinen Fall in Ordnung“). In allen anderen Fällen (Werte zwischen
2 und 10) nehmen die Variablen der „gerechtfertigten Gewalt“ gegen Frauen oder
Kinder den Wert 1 an. Diese beiden resultierenden binären Variablen stellen die
zu erklärenden Variablen unserer Untersuchung dar. Tabelle 1 zeigt, dass der Anteil
derjenigen, die Gewalt gegen Frauen nicht kategorisch ausschließen, bei 26 % in der
Gesamtbevölkerung liegt. Wie in Tabelle 2 zu sehen ist, liegt der entsprechende An-
teil bei Männern in der Gesamtbevölkerung noch einmal deutlich höher, nämlich bei
33 %, bei Männern in Paarbeziehungen und alleinstehenden Vätern sogar bei 35 %.
Auch 17 % der Frauen (unter 65) halten Gewalt gegen sie als nicht in jedem Fall un-
gerechtfertigt, was auf ein ausgeprägt patriarchalisches Geschlechterverständnis bei
einem nicht unerheblichen Teil der Haushalte in Deutschland hindeutet.
Gewalt gegen Kinder wird offensichtlich in einem noch stärkeren Maße toleriert.
In der Gesamtbevölkerung liegt der Anteil bei 36 %, bei Männern sogar bei 40 %.
Dieser Prozentsatz ist nur geringfügig geringer, nämlich 38 %, wenn man die älteren
Männer über 65 Jahre und kinderlose alleinstehende Männer ausschließt. Jedoch
kann auch in der betrachteten Untergruppe der Frauen von einer gewaltlosen Erzie-
hung keine Rede sein, denn immerhin 28 % finden das Schlagen ihrer Kinder unter
Umständen „in Ordnung“.
In der bisherigen Literatur spielen kulturell verwurzelte Grundüberzeugungen
und Wertevorstellungen eine wichtige Rolle. Dazu gehört die Beziehung zur Religi-
on. Im Fragebogen wird gefragt, ob Religion im Leben der Befragten „sehr wichtig,
ziemlich wichtig, nicht sehr wichtig oder überhaupt nicht wichtig“ ist. In unserer
Analyse definieren wir die Religionsvariable als 1 falls Religion als „sehr wichtig“
im Leben angesehen wird, 0 sonst. Tabelle 2 zeigt, dass hier die Wichtigkeit bei Män-
nern und Frauen leicht unterschiedlich ist. In den vergleichbaren Gruppen der bis zu
65-Jährigen ist für 28 % der Männer Religion sehr wichtig, während dies für 23 %
der Frauen der Fall ist.
Ein traditionelles Rollenverständnis dürfte mit der Gleichberechtigung von Mann
und Frau nicht immer vereinbar sein. Um die individuelle Einschätzung der Gleich-
berechtigung quantitativ erfassen zu können, nutzen wir eine Frage, in der auf einer
Skala von 1 („gehört keinesfalls zur Demokratie“) bis 10 („gehört in jedem Fall zur
Demokratie“) die folgende Aussage bewertet werden soll: „Frauen haben die glei-
chen Rechte wie Männer“. Die von uns konstruierte binäre Variable „Frauenrechte
werden als nicht wichtig erachtet“ bekommt den Wert 1, falls die Befragten einen
Wert kleiner als 7 angeben, ansonsten wird die Variable mit 0 codiert. Auch hier
ist der Unterschied zwischen Männern und Frauen (Tabelle 2) besonders hervorzu-
heben. Während 11,4 % der Männer Frauenrechte als nicht wichtig erachten, sind es
nur 5 % bei den Frauen.
Stressfaktoren werden in unserer Untersuchung in verschiedener Form erfasst,
und zwar als berufliche, finanzielle und familiäre Belastungen. Neben Arbeitslosig-
keit werden selbstberichtete Einschätzungen der Einkommenshöhe und der finanzi-
Welche Faktoren beeinflussen häusliche Gewalt und ihre teilweise Akzeptanz? 471
4. Empirische Ergebnisse
In der empirischen Analyse der Determinanten der Rechtfertigung häuslicher Ge-
walt verwenden wir ein statistisches Probit-Verfahren (siehe z. B. Wooldridge 2013),
das der dichotomen 1/0 Ausprägung der beiden abhängigen Variablen gerecht wird.
Wir schätzen die beiden Gleichungen
PðYc ¼ 1Þ ¼ Fðb0 þ b1 x1 þ :::bK xK Þ; c ¼ 1; 2;
für die Wahrscheinlichkeit P, dass die Variable Yc den Wert 1 annimmt bzw. dass
die betreffende Aussage zutrifft. Hierbei repräsentieren Yc , c = 1, 2, die abhängigen
Variablen „Rechtfertigung von häuslicher Gewalt gegen Frauen“ und „Rechtferti-
gung von häuslicher Gewalt gegen Kinder“. Die nichtlineare Link-Funktion F
wird durch die Verteilungsfunktion der Standardnormalverteilung gebildet. In den
nachfolgenden Tabellen 3 bis 5 (siehe Anhang) werden die (durchschnittlichen) mar-
ginalen Effekte der erklärenden Variablen dokumentiert. Der so genannte „durch-
schnittliche marginale Effekt“ beschreibt in unserem Fall die geschätzte durch-
schnittliche Veränderung der individuellen Wahrscheinlichkeiten einer Rechtferti-
gung, also D PðYc ¼ 1Þ, die sich bei einer Erhöhung der erklärenden Variable um
eine Einheit ergeben würde. Da es sich mit der Ausnahme von Alter jeweils um di-
chotome Erklärungsfaktoren handelt, beschreibt der marginale Effekt in der Regel
die Veränderung der Wahrscheinlichkeit, die sich bei einem hypothetischen Ver-
gleich von Personen mit unzutreffenden (X = 0) und zutreffenden (X = 1) Merkma-
len ergeben würde, wobei unterstellt wird, dass die Personen ansonsten identisch sind
(Ceteris-Paribus-Bedingung). Im Falle der Altersvariablen misst der Koeffizient ana-
log die Veränderung der Wahrscheinlichkeit, die sich bei einer Erhöhung des Lebens-
alters um ein Jahr ergeben würde.
Im Folgenden gliedern wir die Darstellung der Ergebnisse entsprechend der in der
bisherigen Literatur identifizierbaren Faktoren (siehe Abschnitt 2.). Dabei werden
die als statistisch signifikant messbaren Effekte im Vordergrund stehen.
Der Einfluss von Religion als wichtiger Lebensinhalt hat zwar in den Tabellen 3
bis 5 durchgehend ein negatives Vorzeichen, jedoch wird der dämpfende Einfluss von
Religion nur in 2 von 10 Abgrenzungen der Stichprobe statistisch schwach signifi-
kant (zum 10 % Signifikanzniveau). Insbesondere bei den Gruppen mit Probanden
bis zu 65 Jahren ist kein signifikanter Effekt messbar.
Welche Faktoren beeinflussen häusliche Gewalt und ihre teilweise Akzeptanz? 473
Eine stark ausgeprägte Rechtfertigung von Gewalt gegen Frauen, mit durchweg
hochsignifikanten Schätzwerten (p < 1 %), wird hingegen bei jenen Männern fest-
gestellt, die die Gleichberechtigung von Frauen und Männern als nicht wichtig erach-
ten. Bei Frauen ist dieser Effekt nicht signifikant. Betrachtet man z. B. die Gruppe
aller in Paarbeziehungen lebenden Männer bis zu 65 Jahren (inklusive der Gruppe
von alleinstehenden Vätern), so zeigt sich dort ein Schätzwert von 0,34 (siehe Tabelle
4). Männer, die Frauenrechte als wichtig erachten, haben also im Durchschnitt eine
um 34 Prozentpunkte geringere Wahrscheinlichkeit, Gewalt gegen Frauen als ge-
rechtfertigt anzusehen, als Männer, die Frauenrechte als nicht wichtig erachten. Be-
trachtet man die Tolerierung von Gewalt gegen Kinder, so ist der geschätzte Koef-
fizient in der gleichen Gruppenabgrenzung mit 0,18 zwar ebenfalls hoch, aber nur
noch auf dem 10 % Niveau schwach signifikant (siehe Tabelle 5). Insgesamt gesehen
bestätigen unsere Ergebnisse die Erfahrungen aus der Literatur, dass Männer mit
einem eher traditionellen Rollenverständnis von Mann und Frau stärker zu häuslicher
Gewalt neigen.
Hinsichtlich der Interpretation der geschätzten marginalen Effekte sei an dieser
Stelle darauf hingewiesen, dass eine kausale Deutung problematisch sein kann. So-
wohl die Einstellung zur Gewalt als auch ein die gleichen Rechte verneinendes Frau-
enbild kann Ursachen in gemeinsamen Faktoren haben, z. B. in Form von negativen
Erfahrungen im eigenen Elternhaus, die in der Regression wegen ihrer Unbeobacht-
barkeit unberücksichtigt bleiben (müssen).
4.2 Stressfaktoren
Der Einfluss von Arbeitslosigkeit ist in der Literatur umstritten. Unsere auf Ein-
stellung zur häuslichen Gewalt abzielende Untersuchung spricht für einen die Ge-
waltbereitschaft mindernden Einfluss von Arbeitslosigkeit. Wenn es um den Effekt
von Arbeitslosigkeit geht, ist die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von beson-
derem Interesse. In diesen Teilstichproben hat Arbeitslosigkeit mit Bezug zur Gewalt
gegen Frauen in 2 von 4 der betrachteten Populationen ein signifikantes (p < 5 %)
negatives Vorzeichen, mit Effekten zwischen -0,15 und -0,18. Rechtfertigung häus-
licher Gewalt gegen Kinder wird durch Arbeitslosigkeit deutlich um 30 Prozentpunk-
te reduziert, bei Frauen ist der Effekt nicht signifikant. Der Effekt bei Männern be-
stätigt die Ergebnisse von Anderberg et al. (2016) und Aizer (2010), wonach Arbeits-
losigkeit Gewaltanwendung zu reduzieren vermag, weil sich durch fehlende Be-
schäftigung der Männer die relative Abhängigkeit der Frauen abschwächt und
gewalttätige Männer eher befürchten müssen, von Frau und Kind verlassen zu wer-
den.
Der ebenfalls mit negativem Vorzeichen versehene deutliche Effekt der Arbeits-
losigkeit auf die Rechtfertigung häuslicher Gewalt gegen Frauen innerhalb der Grup-
pe der Frauen (siehe letzte Spalte von Tabelle 4) ist nicht ohne weiteres durch eine
Erhöhung der finanziellen Abhängigkeit zu erklären. Gemäß der Standardhypothese
474 Horst Entorf und Gabriele Lichmann
von Arbeitslosigkeit als Stressfaktor würde man eigentlich ein positives Vorzeichen
erwarten.
Die marginalen Einflüsse des Indikators einer schwierigen finanziellen Situation
des Haushaltes sind hingegen wie allgemein erwartet. Finanzielle Engpässe erhöhen
die Wahrscheinlichkeit von akzeptierter häuslicher Gewalt in deutlicher Weise – al-
lerdings nur bei Männern. In der Gruppe der Frauen spielen finanzielle Probleme of-
fensichtlich keine besondere Rolle. Hauptverdiener zu sein oder nicht scheint weder
für Frauen noch Männer einen Einfluss zu haben.
Auch eine hohe Kinderzahl ist als Belastungsfaktor aus der Literatur bekannt. Un-
sere Ergebnisse zeigen, dass die Kinderzahl für häusliche Gewalt gegen die Frau
keine Rolle spielt, wohl aber bei häuslicher Gewalt gegen Kinder. Hier sind Männer
deutlich weniger gewaltaffin, wenn sie (nur) ein oder zwei Kinder haben (siehe Ta-
belle 5). Bei Frauen ist der Effekt statistisch insignifikant.
4.4 Robustheitsprüfung
5. Schlussbemerkungen
Die von uns auf der Datenbasis des World Value Surveys durchgeführte Analyse
der Determinanten häuslicher Gewalt basiert auf einem ausführlichen Überblick über
die Literatur zu diesem Thema. Unsere empirischen Ergebnisse liefern Bestätigun-
gen, aber auch Widersprüche zu bisherigen Erkenntnissen, zum Teil werden bisher
kaum beachtete Zusammenhänge neu aufgedeckt. So bestätigen wir zwar einerseits,
dass finanzieller Stress mit höheren Rechtfertigungsquoten verbunden ist, finden je-
doch andererseits, dass arbeitslose Personen Gewalt weniger „in Ordnung“ finden.
Dieses Resultat steht zwar im Gegensatz zur klassischen Stresstheorie, wurde jedoch
(mit britischen Opferdaten) auch schon von Anderberg et al. (2016) gefunden. Wei-
terhin zeigen unsere Ergebnisse, dass traditionelle Wertvorstellungen zur Bedeutung
von Frauenrechten mit deutlich höheren Quoten der Rechtfertigung häuslicher Ge-
walt einhergehen. Wir finden, wie andere Studien auch, dass bei im Ausland gebo-
renen Personen eine höhere Toleranz von Gewalt zu beobachten ist. Neu ist aller-
dings, dass wir das Ergebnis nur dann erhalten, wenn wir die im Ausland geborenen
Frauen mit den in Deutschland geborenen Frauen vergleichen. Innerhalb der Gruppe
der Männer können wir keine signifikanten Unterschiede zwischen Einwanderern
und Nicht-Einwanderern feststellen. Weiterhin in bisherigen empirischen Studien
wenig beachtet ist die starke Altersabhängigkeit der Gewalt gegen Kinder, die auf
einen Wandel hin zu einer deutlich weniger gewaltaffinen Elterngeneration hindeu-
tet. Im Übrigen konnten wir feststellen, dass Männer und Frauen in Ostdeutschland
weniger bereit sind innerfamiliäre Gewalt gegen Frauen zu rechtfertigen als in West-
deutschland, was möglicherweise mit einer höheren Partizipation von Frauen in das
Erwerbsleben der ehemaligen DDR erklärbar sein könnte.
Es ist eventuell diskutierbar, ob eine auf individuellen Einstellungen bezüglich
häuslicher Gewalt (und nicht auf erlebter Gewalt) basierende Studie einen relevanten
Beitrag zur Literatur zu liefern vermag. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Art und
Weise, wie die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft über häusliche Gewalt urteilen,
auch einen großen Einfluss auf realisierte häusliche Gewalt haben dürfte. Insbeson-
dere hinsichtlich einer Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Kindern sind Ein-
stellungen von entscheidender Bedeutung. Wenn Gewalthandlungen gesellschaftlich
toleriert sind und gemeinhin als gerechtfertigt erachtet werden, dann gilt es zunächst
die Einstellungen zu ändern, bevor sinnvolle Maßnahmen zur Gewaltverringerung
durchsetzbar sein können.
Welche Faktoren beeinflussen häusliche Gewalt und ihre teilweise Akzeptanz? 477
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480 Horst Entorf und Gabriele Lichmann
Anhang
Tabelle 1
Deskriptive Statistiken, Teil 1
(Teil-)Stichprobe
In Paarbeziehung lebend oder:
alleinstehend + Vater/Mutter
Variable Gesamt Gesamt Max.
65 Jahre alt
Unter Umständen in Ordnung: 26,0 25,7 25,5
Mann rutscht bei Frau Hand aus (2003) (1595) (1199)
Unter Umständen in Ordnung: 36,1 35,1 32,7
Eltern schlagen ihre Kinder (2003) (1595) (1199)
Religion wird als „sehr wichtig“ 25,6 22,9 25,4
im Leben erachtet (1995) (1590) (1196)
Frauenrechte nicht wichtig für 9,8 8,5 8,1
Demokratie erachtet (1994) (1588) (1194)
Arbeitslos 4,3 3,5 4,7
(2003) (1595) (1199)
Einkommen: Gruppe der unteren 40 % gemäß Selbsteinschät- 40,7 38,1 36,9
zung (2003) (1595) (1199)
Mit finanzieller Situation des Haushalts unzufrieden 18,5 18,3 19,0
(Einstufung bis 4 auf Skala 1 – 10) (1989) (1591) (1196)
Hauptverdiener 65,7 67,5 63,0
(1971) (1574) (1181)
Kinderzahl: 1 oder 2 53,6 68,4 68,6
(1990) (1595) (1199)
Geschlecht: Männlich 48,7 47,9 48,7
(2003) (1595) (1199)
Alleinstehend (geschieden, getrennt, 41,9 25,8 18,9
verwitwet, Single) (1991) (1593) (1197)
Höchster Schulabschluss: 21,7 19,2 22,5
Mindestens Abitur (2003) (1595) (1199)
Alter 49,5 53,6 46,2
(2003) (1595) (1199)
Einwanderer/Einwanderin 13,2 13,4 13,3
(nicht in Deutschland geboren) (2001) (1593) (1198)
Wohnort: Ostdeutschland 18,0 19,5 19,2
(2003) (1595) (1199)
Wohnort: Großstadt (> 100 Tsd.) 27,7 26,0 25,6
(1995) (1588) (1197)
Anmerkungen: Stichproben aus Befragung des World Value Survey für Deutschland; Angaben betreffen die jewei-
ligen Anteile in den (Teil-) Stichproben; Min. und Max. der Altersangaben der vier betrachteten Gruppen: [17, 94],
[18,94], [18,65], [19,65]. Alle Beobachtungen sind mittels des im WVS angegebenen Gewichtungsfaktors V258
gewichtet. Siehe den Text für weitere Erläuterungen der Variablen.
482 Horst Entorf und Gabriele Lichmann
Tabelle 2
Deskriptive Statistiken, Teil 2
(Teil-)Stichprobe
In Paarbeziehung lebend oder:
alleinstehend + Vater/Mutter
Variable Männer Männer Männer, Frauen,
gesamt max. 65 Jahre max. 65 Jahre
alt alt
Unter Umständen in Ordnung: Mann rutscht bei 32,9 35,2 34,3 17,1
Frau Hand aus (986) (760) (558) (641)
Unter Umständen in Ordnung: Eltern schlagen 40,1 40,2 37,8 28,0
ihre Kinder (986) (760) (558) (641)
Religion wird als „sehr wichtig“ im Leben er- 29,3 25,6 27,7 23,3
achtet (982) (757) (556) (640)
Frauenrechte nicht wichtig für Demokratie er- 11,7 12,5 11,4 5,0
achtet (981) (756) (555) (639)
Arbeitslos 4,1 2,9 3,9 5,5
(986) (760) (558) (641)
Einkommen: Gruppe der unteren 40 % gemäß 38,4 35,7 35,9 37,8
Selbsteinschätzung (986) (760) (558) (641)
Mit finanzieller Situation des Haushalts unzu- 19,5 19,1 21,1 16,9
frieden (981) (758) (556) (640)
(Einstufung bis 4 auf Skala 1 – 10)
Hauptverdiener 78,5 84,6 82,3 44,8
(969) (748) (547) (634)
Kinderzahl: 1 oder 2 52,3 68,0 68,5 68,6
(981) (760) (558) (641)
Alleinstehend (geschieden, 36,3 17,1 12,5 24,8
getrennt, verwitwet, Single) (984) (760) (558) (639)
Höchster Schulabschluss: 23,5 20,7 23,2 21,9
Mindestens Abitur (986) (760) (558) (639)
Alter 48,9 53,5 46,7 45,7
(986) (760) (558) (641)
Einwanderer/Einwanderin 14,4 14,0 13,0 13,6
(nicht in Deutschland geboren) (986) (760) (558) (640)
Wohnort: Ostdeutschland 18,0 19,1 19,4 19,1
(986) (760) (558) (641)
Wohnort: Großstadt (> 100 Tsd.) 26,5 24,5 24,5 26,6
(983) (758) (558) (639)
Anmerkungen: Stichproben aus Befragung des World Value Survey für Deutschland; Angaben betreffen die jewei-
ligen Anteile in den (Teil-) Stichproben; Min. und Max. der Altersangaben der vier betrachteten Gruppen: [17, 94],
[18,94], [18,65], [19,65]. Alle Beobachtungen sind mittels des im WVS angegebenen Gewichtungsfaktors V258
gewichtet. Siehe den Text für weitere Erläuterungen der Variablen.
Welche Faktoren beeinflussen häusliche Gewalt und ihre teilweise Akzeptanz? 483
Tabelle 3
Rechtfertigung der Gewalt gegen Frauen, marginale Effekte nach Probitschätzung
(Teil-)Stichprobe
In Paarbeziehung lebend oder:
alleinstehend+
+ Vater/Mutter
Erklärende Variablen Gesamt Gesamt Max.
65 Jahre alt
Werte und Überzeugungen:
Religion wird als „sehr wichtig“ im Leben erachtet -0,05* -0,06* -0,03
(0,03) (0,04) (0,04)
Frauenrechte nicht wichtig für 0,20*** 0,19*** 0,23***
Demokratie erachtet (0,05) (0,05) (0,06)
Beruflicher, finanzieller oder familiärer Stress:
Arbeitslos -0,11 -0,15** -0,18**
(0,07) (0,07) (0,07)
Einkommen: Gruppe der unteren 40 % -0,01 -0,02 -0,01
gemäß Selbsteinschätzung (0,03) (0,04) (0,04)
Mit finanzieller Situation des Haushalts unzufrieden (Einstu- 0,14*** 0,12*** 0,11**
fung bis 4 auf Skala 1 – 10) (0,04) (0,04) (0,05)
Hauptverdiener 0,05 -0,01 0,00
(0,04) (0,04) (0,04)
Kinderzahl: 1 oder 2 0,03 0,01 -0,03
(0,03) (0,03) (0,04)
Soziodemographische Faktoren:
Geschlecht: Männlich 0,11*** 0,17*** 0,15***
(0.03) (0,03) (0,04)
Alleinstehend 0,01 0,05 0,07
(geschieden, getrennt, verwitwet, Single) (0,03) (0,04) (0,05)
Höchster Schulabschluss: -0,02 -0,02 -0,04
Mindestens Abitur (0,03) (0,04) (0,04)
Alter x 10 -0,000 0,003 0,015
(0,001) (0,010) (0,015)
Einwanderer/Einwanderin 0,05 0,09* 0,10*
(nicht in Deutschland geboren) (0,04) (0,05) (0,05)
Regionale Einflüsse:
Wohnort: Ostdeutschland -0,06** -0,05* -0,07**
(0,03) (0,03) (0,03)
Wohnort: Großstadt (> 100 Tsd.) -0,04 -0,02 0,01
(0,03) (0,04) (0,04)
Pseudo R2 (Mc Fadden) 0,079 0,092 0,103
Anzahl der Beobachtungen 1933 1553 1169
Anmerkungen: Durchschnittliche marginale Effekte („margins“ in Stata) nach Probitschätzung. Beobachtungen
sind mittels des im WVS angegebenen Gewichtungsfaktors V258 gewichtet. Robuste Standardfehler (in Klammern)
wurden mit der Delta-Methode berechnet. Lesebeispiel, Spalte 1: Ist die befragte Person mit der finanziellen Situa-
tion im Haushalt unzufrieden, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass für diese Person Gewalt gerechtfertigt ist,
um 14 Prozentpunkte gegenüber einer vergleichbaren Person, die jedoch mit der finanziellen Situation zufrieden ist.
***), **), *) repräsentiert statistische Signifikanz auf dem Niveau von 1 %, 5 %, und 10 %.
484 Horst Entorf und Gabriele Lichmann
Tabelle 4
Rechtfertigung der Gewalt gegen Frauen, marginale Effekte nach Probitschätzung,
Untergruppen von Männern und Frauen
(Teil-)Stichprobe
In Paarbeziehung lebend oder:
alleinstehend + Vater/Mutter
Erklärende Variablen Gruppe Männer Männer, Frauen,
aller max. 65 Jahre max. 65 Jahre
Männer alt alt
Werte und Überzeugungen:
Religion wird als „sehr wichtig“ im Leben erachtet -0,07 -0,06 -0,04 -0,02
(0,05) (0,05) (0,06) (0,05)
Frauenrechte nicht wichtig für Demokratie erachtet 0,22*** 0,26*** 0,34*** 0,10
(0,07) (0,08) (0,09) (0,08)
Beruflicher, finanzieller oder
familiärer Stress:
Arbeitslos -0,18** -0,14 -0,15 -0,17**
(0,09) (0,12) (0,12) (0,07)
Einkommen: Gruppe der unteren 40 % gemäß -0,02 0,00 0,02 -0,02
Selbsteinschätzung (0,05) (0,06) (0,06) (0,05)
Mit finanzieller Situation des Haushalts unzufrie- 0,19*** 0,17*** 0,13* 0,01
den (0,05) (0,07) (0,07) (0,07)
(Einstufung bis 4 auf Skala 1 – 10)
Hauptverdiener 0,07 -0,00 -0,00 0,04
(0,06) (0,07) (0,07) (0,05)
Kinderzahl: 1 oder 2 -0,01 -0,04 -0,08 0,03
(0,05) (0,05) (0,06) (0,04)
Soziodemographische Faktoren:
Alleinstehend 0,01 0,07 0,10 0,06
(geschieden, getrennt, verwitwet, Single) (0,05) (0,07) (0,09) (0,07)
Höchster Schulabschluss: -0,03 -0,02 -0,04 -0,05
Mindestens Abitur (0,05) (0,05) (0,06) (0,05)
Alter x 10 0,001 0,014 0,034 0,002
(0,013) (0,015) (0,023) (0,017)
Einwanderer/Einwanderin 0,03 0,02 0,00 0,18***
(nicht in Deutschland geboren) (0,07) (0,07) (0,08) (0,06)
Regionale Einflüsse:
Wohnort: Ostdeutschland -0,06 -0,07* -0,07 -0,05
(0,04) (0,04) (0,05) (0,04)
Wohnort: Großstadt (> 100 Tsd.) 0,00 0,02 0,04 -0,04
(0,05) (0,06) (0,06) (0,06)
Pseudo R2 (Mc Fadden) 0,070 0,085 0,103 0,068
Anzahl der Beobachtungen 949 738 541 628
Anmerkungen: Durchschnittliche marginale Effekte („margins“ in Stata) nach Probitschätzung. Beobachtungen
sind mittels des im WVS angegebenen Gewichtungsfaktors V258 gewichtet. Robuste Standardfehler (in Klammern)
wurden mit der Delta-Methode berechnet. Lesebeispiel, Spalte 1: Ist die befragte Person arbeitslos, so verringert sich
die Wahrscheinlichkeit, dass für diese Person Gewalt gerechtfertigt ist, um 18 Prozentpunkte gegenüber einer ver-
gleichbaren Person, die nicht arbeitslos ist. ***), **), *) repräsentiert statistische Signifikanz auf dem Niveau von
1 %, 5 %, und 10 %.
Welche Faktoren beeinflussen häusliche Gewalt und ihre teilweise Akzeptanz? 485
Tabelle 5
Rechtfertigung der Gewalt gegen Kinder, marginale Effekte nach Probitschätzung
(Teil-)Stichprobe
In Paarbeziehung lebend oder:
alleinstehend + Vater/Mutter,
max. 65 Jahre alt
Erklärende Variablen Gesamt Männer Frauen
Werte und Überzeugungen:
Religion wird als „sehr wichtig“ im Leben erachtet -0,05 -0,06 -0,02
(0,04) (0,08) (0,06)
Frauenrechte nicht wichtig für Demokratie erachtet 0,15** 0,18* 0,10
(0,06) (0,10) (0,10)
Beruflicher, finanzieller oder familiärer Stress;
Arbeitslos -0,12 -0,30** -0,14
(0,08) (0,13) (0,12)
Einkommen: Gruppe der unteren 40 % 0,02 0,02 0,05
gemäß Selbsteinschätzung (0,04) (0,07) (0,06)
Mit finanzieller Situation des Haushalts unzufrieden (Einstu- 0,12*** 0,14* 0,01
fung bis 4 auf Skala 1 – 10) (0,04) (0,08) (0,08)
Hauptverdiener 0,04 0,02 0,04
(0,04) (0,08) (0,06)
Kinderzahl: 1 oder 2 -0,08** -0,13** -0,06
(0,03) (0,06) (0,05)
Soziodemographische Faktoren:
Geschlecht: Männlich 0,06* _ _
(0,03)
Alleinstehend 0,01 -0,07 0.02
(geschieden, getrennt, verwitwet, Single) (0,04) (0,09) (0,08)
Höchster Schulabschluss: Mindestens Abitur 0,01 0,10* 0,04
(0,03) (0,06) (0,05)
Alter x 10 0,023** 0,071*** 0,053***
(0,010) (0,024) (0,021)
Einwanderer/Einwanderin -0,04 -0,08 0,06
(nicht in Deutschland geboren) (0,05) (0,09) (0,08)
Regionale Einflüsse:
Wohnort: Ostdeutschland -0,02 -0,01 -0,03
(0,03) (0,05) (0,05)
Wohnort: Großstadt (> 100 Tsd.) -0,02 -0,09 0,06
(0,04) (0,06) (0,06)
Pseudo R2 (Mc Fadden) 0,036 0,070 0,033
Anzahl der Beobachtungen 1940 542 630
Anmerkungen: Durchschnittliche marginale Effekte („margins“ in Stata) nach Probitschätzung. Beobachtungen
sind mittels des im WVS angegebenen Gewichtungsfaktors V258 gewichtet. Robuste Standardfehler (in Klammern)
wurden mit der Delta-Methode berechnet. Lesebeispiel, Spalte 1: Ist die befragte Person mit der finanziellen Situa-
tion im Haushalt unzufrieden, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass für diese Person Gewalt gerechtfertigt ist,
um 12 Prozentpunkte gegenüber einer vergleichbaren Person, die jedoch mit der finanziellen Situation zufrieden ist.
***), **), *) repräsentiert statistische Signifikanz auf dem Niveau von 1 %, 5 %, und 10 %.
Understanding Offender and Victim
of Intimate Partner Homicide in China – Compared
with Previous Findings in Other Countries
By Shuhong Zhao
1. Introduction
Intimate partner homicide (IPH), occurring when one person kills their current or
ex-intimate partner (Kivisto 2015; Szalewski, Huff-Corzine & Reckdenwald 2019),
has been recognized as a serious global public health issue in urgent need of increased
attention (Murphy, Liddell & Bugeja 2016; Stansfield et al. 2019; Stöckl et al. 2013).
A recent global study on homicide conducted by the United Nations Office on Drugs
and Crime (UNODC) reported that, on a global level, the number of women killed by
their intimate partners was 30,000, meaning that more than one third of all women
intentionally killed worldwide, or 82 every day, are killed by their intimate partners
(UNODC 2019). According to Stockl et al. (2013), IPH represents 14% of all hom-
icides, and one in seven homicides is committed by an intimate partner. Though re-
search and information on IPH is relatively limited in countries outside the West,
there are still exceptions. For example, in South Africa, a national mortuary study
of female homicides showed that, in 1999 and 2009, around 50% of murdered
women were killed by an intimate partner (Abrahams et al. 2013).
With public awareness and policy responses to domestic violence, research on
IPH has steadily increased in recent years (Caman et al. 2017; Matias et al. 2020;
Reckdenwald & Parker 2012). In the 1990s, some countries experienced a major
488 Shuhong Zhao
transformation in all sectors of society in response to IPH, including the criminal jus-
tice system, social services, health care, and public opinion (Renzetti, Edleson & Ber-
gen 2001). With these improvements, the incidence of IPHs has steadily decreased in
the U.S. and Western Europe (Caman et al. 2017; Weiss et al. 2016). However, IPH
and other family-related homicides continue to be rather widespread and constant
over time compared with other types of homicide (UNODC 2019). In fact, the overall
decline in some countries reflects a steady decline in female-perpetrated IPH, but not
in male-perpetrated IPH (Dawson, Bunge & Balde 2009). This fact highlights that
IPH is still a widespread public health concern (Petrosky et al. 2017). Therefore,
with an aim to reduce and prevent this serious crime, current exploratory studies
focus on examining risk factors for the perpetrator and the victim of IPH as well
as identifying the characteristics of IPH (Dawson, Bunge & Balde 2009; Du et
al. 2020; Spencer & Stith 2018). In these studies, even though some have indicated
the characteristics of the perpetrator and the victim of IPH (Caman et al. 2017b;
Mize, Shackelford & Shackelford 2009), the in-depth research on the characteristics
associated with the perpetrators, the victims and their intimate relationship in the
context of China today, which is very important in understanding IPH, is very scarce.
In China today, especially with its rapidly increasing process of urbanization and
modernization, the country is currently witnessing a soaring increase in IPH
(Zhao 2020). So, in order to gain further insight into IPH in China, an in-depth
and comprehensive study on the characteristics of the perpetrator and the victim
of IPH is required.
2. Existing Findings
2.1 Perpetrator of IPH
To some extent, IPH is gender-based lethal violence (Eriksson & Mazerolle 2013;
Suonpää & Savolainen 2019). According to Stöckl et al. (2013), 38.6% of homicides
committed against women and 6.3% of homicides committed against men are com-
mitted by an intimate partner. Correspondingly, many studies have proved that
women comprise a disproportionately higher percentage of IPH victims than men
(Hodell et al. 2014; Raj & Silverman 2002; Spencer & Stith 2018). The gender
ratio in the previous studies indicates that killings by women are approximately
10 times greater in intimate partner homicides than any other homicide category
(Fox & Fridel 2017). Therefore, the “gender perspective” holds that the most prom-
inent aspect of IPH is the gendered nature of the crime (Biroscak, Smith & Post 2006;
Campbell et al. 2007; DeJong, Pizarro & McGarrell 2011; Vittes & Sorenson 2008).
According to this perspective, male perpetrators of IPH primarily use violence to
maintain control and power, whereas female perpetrators primarily use violence in
fear or self-protection (Johnson & Ferraro 2000; Melton & Belknap 2003). With re-
gards to these gender differences in IPH, the male sexual proprietariness theory and
self-defense theory try to provide their own explanation to the research field. Accord-
Understanding Offender and Victim of Intimate Partner Homicide in China 489
ing to the first perspective, when men perceive that they are at risk of losing the con-
trol of their intimate partner, they will desire to control their intimate partner (Dobash
& Dobash 1984; Serran & Firestone 2004). For this, some studies found that male
IPH perpetrators may have a certain degree of domination, sexual proprietaries, fi-
delity, separation or divorce, child custody issues, substance abuse, problems on job,
suicidal behavior, and mental illness (Angela et al. 2011; Garcia, Soria & Hurwitz
2007; Kivisto 2015). According to the second perspective, battered women are more
likely to kill their partner in response to an attack on themselves or following a threat
from the abuser to harm another, usually their child (Matthew et al. 2006; O’Keefe
1997; Tyson, Kirkwood & Mckenzie 2016). As a result, some researchers found that
IPH with female perpetrators were a result of women’s inability to protect themselves
from their male partner’s aggression (Browne 1987; Ho & Chantagul 2016).
Contrary to the gender perspective, the general violence theory emphasizes that
there is no difference in the etiologies of violence against an intimate partner and
other victims (Kivivuori & Lehti 2012). Accordingly, in line with this perspective,
when a man with violent tendencies keeps his current power structure, it might be
likely to focus his efforts toward his female partner (Karlsson et al. 2018). In addi-
tion, when the violence of an intimate partner has shown more widespread antisocial
behavior, offenders would manifest this tendency in multiple domains of life and
across different life stages (Caman et al. 2017; Kivivuori & Lehti 2012). For this,
many studies showed that the male perpetrator with violent experiences in IPH is
quite ordinary and that any man can transgress and use violence against their intimate
partners (Edin et al. 2008; Messner & Savolainen 2001).
The theoretical controversy leads to the ongoing debate on whether the perpetra-
tors of IPH are distinct from other violent offenders due to demographic character-
istics (Felson & Lane 2010; Thomas, Dichter & Matejkowski 2011). In this regard,
some studies found that IPH perpetrators do not often fit the preconceived profile of a
“dangerous killer”. On the contrary, they are more “conventional” than perpetrators
of violent crimes in general: better educated and more often employed (Dobash et
al. 2004; Kivivuori & Lehti 2012; Kivivuori, Suonpää & Lehti 2014; Thomas, Dicht-
er & Matejkowski 2011). Accordingly, they are typical violent offenders who have no
difference in their characteristics and experiences, such as a history of violence, al-
cohol or drug abuse, family problems, or a criminal career (Dobash et al. 2004; Fel-
son & Lane 2010). Indeed, one study identified that intimate perpetrators were sub-
stantially no different from nonintimate perpetrators that have used violence against
women (Dobash et al. 2004).
al. 2014; Stöckl et al. 2013). Thus, IPH is characterized by gender asymmetry: while
female victims are more likely to be victimized by a male intimate partner than by any
other type of killer, male victims are more likely to be victimized by acquaintances or
strangers (Stöckl et al. 2013; Winstock & Straus 2014). It is with this fact that most
studies to date have focused mainly on the perpetrators of IPH rather than the victims,
especially on the characteristics of perpetrators, which creates gaps in reaching a bet-
ter understanding of IPH (Gnisci & Pace 2016).
In spite of this fact, some studies have identified the significance of a more com-
prehensive understanding of victims in IPH (Eriksson & Mazerolle 2013; Gnisci &
Pace 2016). These studies either briefly identified a certain percentage of female vic-
tims (Caman et al. 2017; Salari & Sillito 2016) or presented only high-level epide-
miological information on victimization (Corradi & Stöckl 2014; Holder 2019;
Spencer & Stith 2018). Among them, some previous research studies showed that
victims of IPH were older than victims of non-IPH, and there appeared to be no dif-
ference with regard to the victim’s ethnicity (DeJong, Pizarro & McGarrell 2011).
Furthermore, some previous studies found that young women from 15 to 34 years of
age were at the highest risk of being victimized (Pratt & Deosaransingh 1997). With
regard to the age gap between perpetrators and victims, some research identified that
female victims of male perpetrators were younger than the male victims of female
perpetrators (Garcia, Soria & Hurwitz 2007; Vatnar, Friestad & Bjørkly 2019). Al-
drige and Browne (2003) found that an age difference of 10 years or more between
intimate partners was a risk factor for all victims of IPH.
To develop the strategies necessary to prevent victimization in IPH, it demands
detailed understanding of the wide range of individual, social, economic, cultural
and environmental factors that can contribute to victimization in IPH (Heise & Kot-
sadam 2015). In terms of factors, some research showed that people with lower socio-
economic status were more likely to be victims of IPH (Cunradi et al. 2000; Kuru-
villa & Jacob 2007). For the victims of IPH, they were more socially disadvantaged
than the victims of non-IPH. According to the study of Leth (2009), 13% of IPH vic-
tims were employed at the time of the offense compared with 32% of non-IPH vic-
tims. In other previous studies, social disadvantage and chronic substance abuse were
also identified as risk factors for the victim of IPH (Jones-Webb & Wall 2008). With
regards to alcohol, one study identified that victims of IPH are more likely to suffer
from chronic alcohol abuse compared to the victims of non-IPH (Leth 2009). As such,
the value of identifying the characteristics of victims in IPH, is clear, and a challenge
to better understanding the victim is obtaining comprehensive, in-depth information
on the victim in IPH. In this regard, McPhedran et al. (2018) suggested that gaining
improved victim-focused knowledge on IPH, taking effective policies and practices
to assess risk, and effectively supporting women are critical to the goal of reducing
IPH victimization.
Understanding Offender and Victim of Intimate Partner Homicide in China 491
As early as 1958, some research has identified that homicides occur more often
between individuals with a close relationship. That is, the intimate relationships ap-
pear to be more prone to lethal violence than other relationships (Wolfgang 1958).
Additionally, the causes of homicides that occur within intimate relationships differ
from the causes of homicides that occur between strangers (Silverman & Kennedy
1995). So far, scholarly attention has focused on the role of the intimate relationship
between the perpetrator and that victim in order to deeply understand IPH (Gruene-
wald & Pridemore 2009; Haynie & Armstrong 2006; Matias et al. 2020; Regoeczi &
Riedel 2003). In this series of studies, some emphasized that the relationship was an
important factor in understanding the offending behavior (Cao, Hou & Huang 2008;
Osho & Williams 2013). Other research pointed out that the state and status of the
relationship as risk factors are equally important in understanding IPH (Lund &
Smorodinsky 2001; Reckdenwald & Simone 2017).
Even though most previous studies presented and analyzed the risk factors for an
IPH perpetrator and victim (Aldrige & Browne 2003; Garcia, Soria & Hurwitz 2007;
Murphy, Liddell & Bugeja 2016; Perova & Reynolds 2017), some limited studies pro-
vided an in-depth analysis on the risk factors along with the influence of the intimate
relationship state and status on IPH (Mackay et al. 2018). With regards to the status of
an intimate relationship in IPH, some research has addressed differences in the risk
for victims in cohabiting relationships versus marital relationships. For example,
some research established that cohabiting women were 8.4% times more likely to
be killed by their partners than married women, and cohabiting men were 15
times more likely than their legally married counterparts to be killed by their partners
(Shackelford 2001; Wilson, Daly & Wright 1993). In fact, women in cohabiting re-
lationships have been found to be at greater risk for lethal intimate partner violence
than women in marital and dating relationships (Shackelford 2001). For example,
Wilson, Daly & Wright (1993) found women in cohabiting relationships are 9
times more likely to be killed by a partner than married women.
For the female victims with different relationship statuses, they faced the different
risks of being victimized at different age stages. For example, women in their 20s,
who were in a marital relationship, were at greatest risk of being killed by their part-
ners. In contrast, women, who were in their mid-30s and 40s, were at greatest risk of
uxoricide when they were within cohabiting relationships (Wilson, Johnson & Daly
1995). For the male perpetrator, the risk of killing a partner was highest for married
men in the youngest age group and generally decreased with the man’s age. On the
contrary, for cohabiting men, the risk of killing their partner was highest in the young-
est age group (Shackelford & Mouzos 2005). In this regard, some research provides
the possible explanation of the difference in demographic characteristics between
those persons in cohabiting versus marital relationships. For example, the persons
in cohabiting relationships tend to be younger, have lower education, occupation
492 Shuhong Zhao
and income levels and they have much more experience using alcohol (Kenney &
McLanahan 2006; Mize et al. 2009; Shackelford 2001).
3. Research Question
In recent years, China witnessed a soaring increase in IPH with the process of
rapid urbanization and modernization. In order to deepen our knowledge of IPH
in China and to improve prevention strategies in the future, we should conduct
more research on characteristics connected with perpetrators, victims and the perpe-
trator-victim relationship. In comparison with the findings in the previous literature,
this research is undertaken to identify the characteristics of IPH in the Chinese con-
text. Thereby, we examine all available data of perpetrators and victims of IPH from
979 cases as the primary source of this research. In addition, we analyze the intimate
relationship between the perpetrator and victim in IPH. The official research question
addressed in this study is as follows:
Compared with the findings in previous studies, what are the same or different
characteristics of IPH in China? From these characteristics, what can be used to
give an explanation in the context of China today?
and the family background of the perpetrator or the victim, so they removed this kind
of information from the publicized judgements, but such information is necessary to
identify the characteristics of IPH in China. For example, the variable “duration of the
intimate relationship” is very important, but it has a missing value up to 76% in the
1,500 elected judgments. Therefore, we deleted these variables with high missing
values and eventually retained 40 variables in the questionnaire. With these reserved
variables, we did a further examination of the 1,500 judgments and found that some
of them still missed some information from the forty variables. For example, the var-
iable “living situation when murdered” was missing in some judgments. Therefore,
we deleted these judgments from the selected 1,500 judgments. In the end, we deleted
521 judgments from the selected 1,500 judgments and retained 979 judgments as the
sample for this research. For the 979 samples, each of them does not lack information
from the 40 variables.
Thus, the sample in this research was chosen roughly in two steps. The first step
was to choose 1,500 IPH judgments from 28,986 intentional homicide judgments.
After collecting data from these 1,500 judgements according to the questionnaire,
we found that variables were missing a great deal of value in some judgments. There-
fore, we deleted these variables with missing significant value and finally retained 40
variables in the questionnaire. For these 40 variables, we found that some judgments
of these 1,500 judgments still lacked some information on these variables. Therefore,
the second step was to delete from these 1,500 judgments those in which important
variables were missing. Finally, we got 979 judgment as sample in this study. These
judgments were deleted simply because they were missing important variables, but
not for any other purpose. Therefore, although 521 judgments were deleted from the
sample, the remaining judgments still met the randomness principle of sample selec-
tion in the study.
With an in-depth understanding of such a lethal form of domestic violence, the
previous research collected the following meaningful data as variables from the sam-
ples: “gender”, “employment”, “marriage satisfaction”, “family background”,
“where happened”, “crime record”, “experience using violence” (Block & Christa-
kos 1995; Caman et al. 2017; Eke et al. 2011; Liem, Postulart & Nieuwbeerta 2009;
Messner & Savolainen 2001; Sabri, Campbell & Dabby 2016; Salari & Sillito 2016).
Based on these previous findings, the primary aim in this study is to identify the char-
acteristics of IPH in China after comparing with previous studies in other countries.
Therefore, we also selected information to be used as variables from these studies.
Additionally, we found that the relationship between the perpetrators and the victims
in cases of IPH played an important role in understanding IPH in China. Therefore,
we also selected the variables about the intimate partnership, such as “intimate rela-
tionship status”, “intimate relationship state”, “what caused the relationship to be
broken”. Finally, we chose factors related to the incident of IPH, such as “direct-
ly-caused-homicide events”, which directly led to the homicide. These events in-
clude: “break up”, “trivial matter”, and “suspicion of being betrayed” and similar
494 Shuhong Zhao
events. Here, a “trivial matter” means an event of little importance such as mundane
chores or domestic matters.
5. Results
5.1 Perpetrator Characteristics in Cases of IPH in China
The intimate relationship between perpetrators and victims in IPH can be shown
in Table 3. As for the relationship status, most of the perpetrators and victims in IPH
were spouses (49%) and lovers (47%), but ex-spouses are very scarce (4%). There-
fore, spouses and lovers have the most important status of an intimate partnership in
China.
Moreover, with regard to the relationship state, more than 91% of the IPHs hap-
pened when the perpetrator and victim kept their intimate partner relationship in ex-
istence. Only 9% of the IPHs occurred after the intimate partnership between them
496 Shuhong Zhao
was finished. In practice, what causes the relationship to be broken is also an impor-
tant consideration. In this regard, we can find that an affair is an important reason for
breaking the intimate partnership (24%). However, unexplained trivial matters are
dominant (62%).
Table 3
Descriptive Characteristics of Intimate Relationship Among IPHs
Status of relation- Spouse Ex-spouse Lover
ship
476(48.6) 39(4) 464(47.4)
State of partner- Existing Previous
ship
887(90.6) 92(9.4
What caused Having Opposition Living Domestic Others
the relationship an affair from separately violence
to be broken family for a
long time
241(24.6) 51(5.2) 16(1.6) 62(6.3) 609(62.2)
For the relationship status, is there any difference in the profession of the perpe-
trator? The correlation between the profession of the perpetrator and the status of the
intimate relationship is shown in Table 4. When the relationship between the perpe-
trator and the victim is a spouse, most of the perpetrators are peasants (67%) and mi-
grant workers (27%), but students and individual proprietors are very scarce (0%;
2%). For the perpetrator in the relationship of an ex-spouse, most of them are also
peasants and migrant workers (49%; 46%). Among these two kinds of relationships,
the highest rate of profession is farmer, followed by migrant worker. However, in the
intimate relationship of “lover”, the highest rate of profession for the perpetrators are
migrant workers (68%) and the second highest percentage is still among peasants
(27%).
Understanding Offender and Victim of Intimate Partner Homicide in China 497
Table 4
Relationship Status and Profession of Perpetrator
Relationship status
Spouse Ex-spouse Lover
Unemployed 22 (4.6) 2 (5.1) 17 (3.7)
Peasant 321 (67.4) 19 (48.7) 125 (26.9)
Student 0 (0.0) 0 (0.0) 4 (0.9)
Profession (p)
Migrant workers 126 (26.5) 18 (46.2) 315 (67.9)
White-collar 0 (0.0) 0 (0.0) 2 (0.4)
Individual proprietor 7 (1.5) 0 (0) 1 (0.2)
Pearson Chi-Square P
Chi-Square Tests 185.588 0.000
Table 5 illustrates the profession of the victim by the different relationship status.
When the victim and perpetrator are spouses, most of the victims are peasants (66%),
followed by migrant workers (29%). The other four types of professions, such as stu-
dent (0%), white-collar (1%), individual proprietor (1%) and unemployed (4%), ac-
count for a very small percentage. Compared with other professions, peasant (49%)
and migrant worker (46%) dominate most for victim profession when the victim and
perpetrator are the ex-spouse. Similarly, among lovers, most victims are migrant
workers (69%) and peasants (26%), but other professions, such as unemployed
(1%), white-collar (1%), student (3%) and individual proprietor (1%) are very rare.
Table 5
Relationship Status and Profession of Victim
Kind of relationship
Spouse Ex-spouse Lover
Unemployed 19 (4) 2 (5.1) 6 (1.3)
Peasant 315 (65.5) 19 (48.7) 119 (25.5)
Student 0 (0.0) 0 (0.0) 12 (2.6)
Profession (v)
Migrant workers 137 (28.5) 18 (46.2) 324 (69.4)
White-collar 5 (1.0) 0 (0.0) 3 (0.6)
Individual proprietor 5 (1.0) 0 (0.0) 3 (0.6)
Pearson Chi-Square P
Chi-Square Tests
179.235 0.000
The correlation between the relationship status and the experience of the perpe-
trator using violence has also been useful to consider in the explanation of violence in
IPH.
498 Shuhong Zhao
Like the perpetrators, victims also rarely used violence in IPH. Despite this, the
rate of victims using violence is still higher than that of perpetrators. As shown in
Table 7, the rate of using violence by victims is a little high in both the intimate re-
lationship of spouse (10%), as well as in ex-spouse (5%) and lovers (6%). Relatively
speaking, victims in the intimate relationship of spouse have a little more experience
using violence (10%).
Table 7
Relationship Status and Experience of Violence Among Victim
Kind of relationship
Spouse Ex-spouse Lover
Experience to use
Yes 46 (9.7) 2 (5.1) 3 (6.1)
violence (v)
No 430 (90.3) 37 (94.9) 46 (93.9)
Pearson Chi-Square P
Chi-Square Tests 38.691 0.000
For the occurrence of IPH, what events eventually led to this lethal form of do-
mestic violence? As is shown in Table 8, among the intimate relationship status of
spouse, of all the events which directly cause the occurrence of IPH, “trivial matter”
is the most important event (46%). Followed by the event of “to be betrayed” (19%),
which is close to a third of the event “trivial matter”. However, other events, such as
Understanding Offender and Victim of Intimate Partner Homicide in China 499
“menaced by partner” (1%) and “forced sex” (2%) have very limited significance. In
the relationship status of ex-spouse, the two most significant directly-caused-homi-
cide events are “break up” (36%) and “trivial matter” (26%). Some other events, such
as “menaced by partner” (0%) and “forced sex” (3%) have a limited impact. Among
the relationship of lovers, the event of “break up” has absolute decisive significance
(49%), but other events, such as “forced sex” (2%) and “menaced by partner” (3%)
have a limited significance.
Table 8
Directly-caused-homicide Events and Relationship Status
Relationship Status
Spouse Ex-spouse Lover
Break up 45 (9.5) 14 (35.9) 228 (49.1)
Trivial matter 220 (46.2) 10 (25.6) 59 (12.7)
Menaced by partner 4 (0.8) 0 (0.0) 12 (2.6)
Directly-caused-
Suspicion of being betrayed 79 (16.6) 3 (7.7) 52 (11.2)
homicide events
To be betrayed 88 (18.5) 6 (15.4) 43 (9.3)
Economic dispute 33 (6.9) 5 (12.8) 63 (13.6)
Forced sex 7 (1.5) 1 (2.6) 7 (1.5)
Pearson Chi-Square P
Chi-Square Tests 252.385 0.000
6. Discussion
With China witnessing a soaring increase in IPH, an in-depth understanding of
IPH, especially the characteristics of the perpetrator and the victim, is in need of
more attention. The present study sought to explore the characteristics of IPH in
China. After comparing with the previous studies in other countries, we identify
the characteristics of the perpetrators and victims in IPH with the aim to deeply un-
derstand this lethal form of domestic violence. Furthermore, we try to give our ex-
planation of this kind of lethal domestic violence in the current, actual situation of
China.
Consistent with other findings, this study confirms that IPH is a gendered crime,
whereby males are overrepresented as offenders of IPH; although, when women kill,
they are more likely to kill an intimate partner than someone else (Black et al. 2011;
Cheng & Jaffe 2019; Hamby 2017; Puzone et al. 2000; Sabri et al. 2016). As far as
this fact is concerned, the pattern, which women were more likely to be killed by their
intimate partners than men, is consistent across time and countries (Caman et
al. 2017; Dobash et al. 2004; Leth 2009; Matias et al. 2020; Oram et al. 2013;
Smucker, Kerber & Cook 2018). Therefore, it is a theoretical consensus that IPH
is a gender-specific crime, and its theoretical basis is the gender perspective (Spencer
& Stith 2020; Vatnar, Friestad & Bjørkly 2019). In line with the “gender perspective”,
500 Shuhong Zhao
some findings proved that the risk of IPH increases when men believe they have a
right to control and believe that they are at risk of losing control over their female
partners (Block & Christakos 1995; Dobash et al. 2007; Sabri et al. 2016). As a
whole, the threat of losing sexual exclusivity or entitlement over their partner
could be suspicions or actual events of infidelity, or the woman wishing to end the
relationship entirely (Spencer & Stith 2018). In this regard, the finding in this
study shows that almost half of the IPHs in China were caused by the reason to
break up the intimate partnership and a suspicion of being betrayed.
On the importance of identifying the risk factors for IPH, the previous studies have
continued to pay much more attention (Campbell 1986; Mackay et al. 2018; Sheehan
et al. 2015). In this regard, some arguments showed that an intimate relationship was
a power system and the lack of power may entice males to regain their power through
using violence in a relationship, especially for men with lower socioeconomic status
(Adhia et al. 2019; Eriksson & Mazerolle 2013; Mancera, Dorgo & Provencio-Vas-
quez 2017). For females, some studies assert that a lower socioeconomic status makes
it less likely that they easily leave their partner and gives them a higher endurance for
violence from their intimate partner (Holvoet 2005; Spencer & Stith 2018). In the
theoretical research, even though there stand other opposing explanations, the find-
ings in many previous studies have found that a correlation exists between lower so-
cioeconomic status and risk of IPH (Dalal 2011; Matias et al. 2020; Reichel 2017;
Reichel 2017). In this regard, this study proved that individuals with lower socioe-
conomic status have a bigger chance to be perpetrators and victims of IPHs. In
China, more than 95% of the perpetrators and 95% of the victims were peasants
and migrant workers. These people are generally regarded as those of lower socio-
economic status in China. For these people, they rarely received a good childhood
education, and they have a very small chance of finding stable jobs and earning higher
incomes in such a competitive society as that of China today (Chan & O’Brien 2019;
Zhang et al. 2016). Moreover, we can also identify socioeconomic status from the
family background of the perpetrator and victim of IPH. The findings identified
that more than 97% of the perpetrators and victims were from peasant families,
but only less than 1% of them were from a white-collar worker’s family, and
these people are considered to have a high socioeconomic status in China.
Furthermore, many previous studies sought to systemically integrate findings on
risk factors for attempted and completed IPH in order to develop risk assessment
tools as well as identify risk factors (Dawson, Bunge & Balde 2009; Garcia,
Soria & Hurwitz 2007; Spencer & Stith 2020). With the risk assessment tools,
some findings illustrated that the IPH perpetrator is a dangerous person (Garcia,
Soria & Hurwitz 2007; Sheehan et al. 2015). In contrast, other findings illustrated
that the perpetrators of IPH did not fit the preconceived profile of a “dangerous kill-
er”, but fit the profile of “ordinary men”: without a history of violence, alcohol or
drugs, with a good income and more often employed (Dobash et al. 2004; Salari
& Sillito 2016). In line with this, we found that the perpetrator in IPH fit the profile
of “ordinary men” in many ways. In general, violence is considered to have strong
Understanding Offender and Victim of Intimate Partner Homicide in China 501
associations with IPH and most of the perpetrators have a history of violence (Camp-
bell et al. 2007; Peterson et al. 2019). Consistent with this, our finding showed that
95% of IPH perpetrators and victims had no experience using violence and most of
the perpetrators had no criminal record (97%). In addition, our findings showed that
94% of the perpetrators had a job when the IPH happened, and only 6% of them were
out of work. As far as risk factors are concerned, there has been a growing body of
research that identified the influence of relationship status and state on IPH (Johnson
et al. 2015; Shackelford & Mouzas 2005). Comparing IPH within marital relation-
ships, the risk of IPH was more often greater than in cohabiting or dating relation-
ships (Dawson & Gartner 1998; Sebire 2017; Sutton & Dawson 2018). On the con-
trary, the present research revealed that a “lover”, including cohabiters and dating
individuals, regardless of the gender of the perpetrator, was just as likely to engage
in IPH as married individuals (spouse: 49%; lover: 47%). Nevertheless, as a signifi-
cant risk factor, the present study revealed that almost all of the perpetrators and vic-
tims of IPH were not satisfied with their marriage (perpetrator, 99.5%; victim,
94.8%). Moreover, risk factors were identified in IPH based on situational perspec-
tives (Mize et al. 2009; Szalewski, Huff-Corzine & Reckdenwald 2019; Thomas,
Dichter & Matejkowski 2011). According to Wilkinson and Hamerschlag (2005),
some perpetrators always suffered from reactions to situational circumstances, espe-
cially distress over the termination of the relationship. In line with the previous find-
ings, this finding was replicated by the present research that most of IPHs were
caused by the termination of the relationship, especially when the perpetrator and
victim are lovers (49%) and ex-spouses (36%).
For the relationship between perpetrator and victim in IPH, the significance is not
only discussed as a risk factor, but it plays a leading role in deeply understanding such
lethal domestic violence in China. The previous studies also dealt with the intimate
relationship, but some researchers only provided a simple description of it (Dobash et
al. 2007; Kristoffersen et al. 2014; Shackelford & Mouzos 2005). Others made in-
depth studies on the role of relationship state and status in understanding IPH (Reck-
denwald & Simone 2017; Shackelford 2001). In this study, through examining the
correlation between the variables of intimate relationships and other variables,
such as characteristics of IPH and risk factors, further understandings of IPH in
China come to light.
Why is the intimate relationship of significance in a deep understanding of IPH in
China? With the rapid development of modernization and urbanization, China has
experienced the largest population migration in history. Correspondingly, on the
one hand, this large-scale population migration has caused a major change in the Chi-
nese traditional family structure (Mu & Jeung 2019; Yang 2016). On the other hand,
the rapid economic development and cultural progress have provided widespread
support for marriage and sexual freedom (Delia 2018; Donner & Santos 2016;
Xie 2020). Accordingly, traditional Chinese ideas of love and marriage have corre-
spondingly undergone great changes and people are pursuing alternate forms of in-
timate relationships and family life. Today, the intimate partner relationship is not
502 Shuhong Zhao
only limited to wife and husband in the traditional family, various types of intimate
partner relationships have correspondingly arisen in China. With regard to this, some
studies revealed that most Chinese people have extramarital affairs and keep a
“lover” relationship status with others outside their marriage (Densley et al. 2017;
Sun 2019). However, marriage and family are very important in Chinese society
and culture and they are often associated with individual social responsibility. In
fact, although the traditional concepts of marriage and love have undergone tremen-
dous changes in China today, the core position of this concept in personal marriage
and family evaluation has not changed (Dias et al. 2011; Wu 2019). It is currently the
main reason causing the occurrence of IPH in China. Therefore, an intimate partner-
ship is an important clue to understanding and explaining IPH in the context of to-
day’s China.
In this respect, the findings in this study reveal that approximately 60% of partners
are married (perpetrator, 57%, victim: 60%). However, as far as the status of the in-
timate relationship is concerned, as many as 48% of them are lovers, while the rela-
tionship status of spouse is only 49%. Additionally, almost half of the perpetrators
and victims in the study maintain their intimate partner relationships with people
other than their own spouses. Why do so many Chinese people maintain such an ex-
tramarital intimate partnership today? What is its effect on the rates of IPH in China?
All of this must be understood in the present context of China’s society. Nowadays,
with the large-scale urbanization in China, a large number of peasants work in the
cities, but they have no way to settle in the city and live a normal family life because
their female spouses must either stay in their villages to care for the family, or even if
they can work in the same city, their limited income is unlikely to allow them to afford
the high costs of rent (Brian, Melissa & Carl 2019; Keung Wong, Li & Song 2007;
Xue 2013). With such a lengthy separation, the marriages of migrant workers exist
only in name (Dai et al. 2015; Keung Wong, Li & Song 2007). In addition, the pop-
ularity of the internet and smartphones, as well as the dating websites and apps,
makes it convenient for people to find their intimate partners. As a result, extramarital
affairs have sprung up among migrant workers in recent years, who make up about
one-fifth of China’s population. All of these factors make Chinese traditional mar-
riages unstable and many extramarital intimate partnerships appear. Therefore, the
intimate relationship between the perpetrator and victim in IPH is a good perspective
to understand in connection to lethal violent crime in China.
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(Cyber) Bullying by Faceless Bureaucracy
in Research Funding
A Case Study from the Balkans1
1
The research for this publication has been conducted as part of the CroViMo project,
jointly funded by the Croatian Science Foundation and University of Zagreb’s Faculty of Law
(www.violence-lab.eu). The publication has partly (Sect. 3.2 and 3.3) also been prepared wi-
thin the framework of Balkan Criminology, funded by the Global Initiative Against Trans-
national Organised Crime’s Resilience Fund (www.balkan-criminology.eu). An extended ver-
sion of the paper, including numerous examples for each of the “bureaucratic cyberbullying”
characteristics in Sect. 2.2, is available online: https://www.bib.irb.hr/1054936 [04. 02. 2020].
512 Anna-Maria Getoš Kalac
to design and conduct a meaningful study on cyber harassment in Croatia within three
months, including the publication of its findings.2 Last but not least, the third factor
relates to my own professional experience and a somewhat specific academic back-
ground.3 Having had the opportunity to autonomously lead and manage several large
research projects and two own research groups during the past 15 years and (up to
now) never having had any difficulties with diverse funding agencies, I permit myself
a certain level of expertise in recognising the differences between ordinary public
project administration and excessive faceless bureaucracy or its systemic dysfunc-
tionalities. In addition to that and academically speaking, I basically grew up mother-
less and as a lonely child, self-raised on the streets of criminology-land, somewhere
in between Germany and Croatia. No one ever took me motherly by the hand or of-
fered to lead me through the great plains of criminology-land. In that sense, I might
probably appear to be some sort of unfortunate academic orphan, perhaps even the
sad result of lacking care or grooming of the academic offspring. Such perception
would, however, largely disregard that in the realm of academia grooming as well
as mothering have a well-known tendency of getting confused with smothering,
which clearly undermines any notion of freedom or autonomy – the very foundations
academia builds upon, and which we commonly take for granted – until compro-
mised.
But how can one be expected to recognise these very foundations have been com-
promised, if one was not ‘misfortunate’ enough to grow up by truly living them? In
that sense, my patron raised me well by supporting and protecting me whenever need-
ed, while essentially letting me enjoy all the benefits and challenges of a truly free
and autonomous academic childhood. Now, academically grown up, I can actually
recognise when academic freedom and autonomy are compromised, just as I can rec-
ognise harmful behaviour when I see it. This brings me to the paper’s broader subject
and its specific research question.
The broader research subject my question is imbedded in is manifold and com-
plex. At its very core it deals with potential misconducts of (faceless) bureaucracy
which has meanwhile inflated academia, research and its funding.4 Such inflation
has long reached the point where it seems compelling to take a closer look at the po-
rous line that separates mere bureaucracy form (cyber) bullying and (cyber) harass-
ment, administrative censorship and the infringement of academic freedom as a fun-
2
The almost impossible timeframe is the result of CSF denying our project adjustment
request which asked for a minor substantial change in the workplan, by replacing an add-on
cyber harassment-component with a new component on preschool violence. Since the re-
placement component on preschool violence had already been long approved, we were com-
pletely taken by surprise. Notification on CSF’s unreasoned denial was received on November
18th 2019, whereas the adjustment request dates back almost a year prior to that (December
5th 2018).
3
For more details, see www.violence-lab.eu/teams/anna-maria-getos-kalac [04. 02. 2020].
4
For example, see Martin 2016; Nehring 2016; Glaser 2015.
(Cyber) Bullying by Faceless Bureaucracy in Research Funding 513
damental human right.5 This issue inevitably touches upon the ongoing discussion on
academic capitalism globally,6 but even more in transitional societies, like those
found in the Balkans.7 Here, in the Balkans, where corruption meets criminal state
capture and dictates daily public and private business,8 one must seriously doubt
that the sector of public9 research funding might somehow miraculously prove to
be immune to its (criminal) tycoonisation10. Such immunity appears to be as likely
as bureaucrats’ or academics’ overall immunity to deviant behaviour, misconduct,
corruption, or, for that matter, any kind of criminal behaviour at all.
Not only is the topic of criminal tycoonisation as such at the very core of a long-
standing research focus of Balkan Criminology, but it also provides preliminary ideas
on the aetiology of (cyber) bullying by faceless bureaucracy. This broader research
subject also vividly portrays the overall social and academic context in which our
case study is embedded in.
The specific research question is in no way less complex or manifold, than its
overarching research subject. It deals with issues such as:
• How (in)appropriate are funding priorities, funding rules, reporting and control
mechanisms of public research funding?11
5
Academic freedom includes “three aspects: (a) Far-reaching individual rights to ex-
pressive freedoms for members of the academic […]; (b) Collective or institutional autonomy
for the academy in general and/or subsections thereof […]. Said autonomy implies that de-
partments, faculties and universities as a whole have the right (and obligation) to preserve and
promote the principles of academic freedom […]; (c) An obligation for the public authorities
to respect and protect academic freedom and to take measures in order to ensure an effective
enjoyment of this right and to promote it.” Cit. Vrielinka, Lemmens & Parmentier 2011, 117.
6
For a condensed overview of ‘academic capitalism’ see Münch 2016, or in more detail
see, e. g. Slaughter & Rhoades 2004.
7
According to Sundhaussen, one should distinguish a broader concept of Southeast Europe
and the narrower concept of the Balkans. Southeast Europe ranges from the western part of the
former Kingdom of Hungary, the present Slovakia, over Hungary and the Republic of Mol-
dova to approximately Odessa on the Black Sea, and everything that lies below this line is
Southeast Europe. The Balkan includes Bosnia and Herzegovina, Serbia, Kosovo, Monten-
egro, North Macedonia, Bulgaria, the European part of Turkey (Eastern Thrace), Greece, and
Albania, as well as the corridor between the Lower Danube and the Black Sea. Sundhaussen
2014, 8.
8
See European Commission (2018), 3; Pejić 2019; Perry & Keil 2018; 2018 special issue
42/1 of Southeastern Europe; etiologically very insightful Richter & Wunsch 2020.
9
Public in relation to research funding indicates that the funding source is the state budget.
10
The term (criminal) tycoonisation denotes the process of (criminally or mysteriously)
acquiring exceptional wealth, power and influence by individuals or interest groups. In the
Balkans it is used with a negative connotation due to the criminal privatisation process and war
profiteering which have led to an unexplainable accumulation of wealth and influence by
entrepreneurs. First findings on criminal tycoonisation of public research funds were pre-
sented in February 2020 at the conference “Tackling serious and organised crime in the
Western Balkans”, organised by the Government of the United Kingdom and supported by the
United Nations Office on Drugs and Crime.
11
For example, see Graeber 2015.
514 Anna-Maria Getoš Kalac
• At what point, how and why does ordinary public project administration turn into
faceless bureaucracy?
• What happens when such faceless bureaucracy starts (cyber) bullying its clients,
the project managers, instead of assisting them in efficiently managing public re-
search funds?
• Would such (cyber) bullying by faceless bureaucracy constitute a unique type of
(cyber) bullying, and should it therefore be studied as a manifestation of (cyber)
harassment?
• If yes, should such manifestation of (cyber) harassment be scientifically investi-
gated within the framework of criminological violence research?
After having addressed these questions on a conceptual level (Sect. 2), the paper
presents a criminological case study on (cyber) bullying by faceless bureaucracy
from the Balkans12 (Sect. 3). The case study itself follows two lines of research.
First, it deals with the issue of capturing and measuring cyber bullying by faceless
bureaucracy in the sector public research funding, termed as “bureaucratic cybully-
ing” (Sect. 3.1), while presenting findings from an exploratory victimisation survey
conducted among project managers whose research is (co)founded by CSF (Sect.
3.2). Second, the case study provides a first analytical overview of the survey’s im-
plications and the impact these have so far had on the Croatian and European research
community (Sect. 3.3). In addition to that, I will argue that Croatia’s failure to adopt
appropriate legislative, administrative and other measures towards the full realisation
of academic freedom in the domain of public research funding constitutes a breach of
its obligation to ensure academic freedom by actively creating, establishing and
maintain the conditions for its optimal realisation (Sect. 3.4).13 This will not only
be based on an overall analysis of the relevant normative, judicial and administrative
vacuums in Croatia, but also be discussed within the framework of the actual case
study.
12
The term ‘Balkans’ is used broadly in light of the Croatian case study, since Croatia is in
fact located in Southeast Europe. However, due to the embeddedness of the research question
in the broader subject of Balkan-specific crime phenomena, an exception in this regard is
justified.
13
Vrielinka, Lemmens & Parmentier 2011, 138. Croatia’s obligation to respect and protect
academic freedom also arises from article 69 of the Croatian constitution.
(Cyber) Bullying by Faceless Bureaucracy in Research Funding 515
ing of the words ‘topic’ and ‘title’ of a paper.14 Be that as it may, this section aims to
provide conceptual clarification so as to why cyber harassment should not be mis-
taken for cyber violence with the consequence of studying it within violence re-
search. Conceptually and terminologically the section also deals with (cyber) bully-
ing by faceless bureaucracy as a type of (cyber) harassment.
Back in early 2017, within a project application for a research grant of the CSF, I
argued that one of the greatest challenges in current violence research is the lack of a
commonly accepted definition of the core subject itself: violence (Heitmeyer &
Hagan 2002; Imbusch 2002). The perception of what violence actually is has
changed over time (Aebi & Linde 2016), although the undisputed core of violence
still is the intentional infliction of physical harm upon another person (Popitz
1992; Nadelmann 1997). New dimensions such as psychological, verbal, economic,
etc. have vastly broadened the subject scope of violence research. There is a clear
trend towards indefinitely stretching the term violence, up to the point where almost
everything is labelled as violence with the consequence that eventually almost noth-
ing presents itself as violence any more (Meyer 2002). This still reflects my scientific
position on the matter of a consensually acceptable core subject and scope of violence
research – anything beyond, though fully legit, cannot build upon the idea of a broad
scientific consensus.
However, being aware of all the divergent positions on the topic and wanting to
assemble a truly transdisciplinarity project team, flexibility was needed and compro-
mises had to be made. Therefore, I half-heartedly, yet obviously very convincingly
argued that there seems to be only one justifiable exception regarding broadening
violence research’s core subject: cyber violence, or to be terminologically more pre-
cise, cyber harassment, if we acknowledge the fact that violence is to be understood
strictly in relation to physical harm. The virtual environment of cyber space has un-
doubtedly created new forms of threats, danger and human suffering that are by far
more harmful than the mere use of a computer as modus operandi or the internet as
locus operandi. Cyber harassment is in its quality a much more severe form of har-
assment than the conventional one. Its ease of infliction, anonymity, accessibility and
opportunity, apparent virtual distance and simultaneous intimacy with the victim, and
the potential spread of its hurtful consequences, together with cyber space’s stamped-
ing invasion of our everyday reality, justify the study of cyber harassment in the con-
text of delinquent violence (UN Broadband Commission 2015; Greenfield 2010; To-
14
Unfortunately our CSF co-funded project workplan foresees as one of its results
“D.2.1.5. 1 journal article submitted for publishing (topic: conceptualising cyber harassment
in context of delinquent violence)”. Now, obviously this paper’s topic is cyber harassment, as
its subject is cyber bullying, whereas it is clearly embedded in the broader discussion of
(delinquent) violence. Yet, based on last year’s annual project evaluation, we know that CSF’s
anonymous domestic evaluators are of the opinion that the word topic is a synonym for title.
516 Anna-Maria Getoš Kalac
kunaga 2010; Corcoran et al. 2015; Vejmelka et al. 2017). I was awarded the project
grant and a year later we started working on our first task – the operationalisation of
our project’s research subject and scope. Little did I know back then that even minor
adjustments or updates to the initial project workplan, esp. if scientifically justified,
would completely run against CSF’s bureaucracy.
The subject and scope of our violence research project was operationalised based
on a consensual working definition that understands violence as “any intentional
physical harming or killing of another person”. Clearly, by finetuning the subject
and scope of our study, on a conceptual level, we discovered that cyber harassment
does no longer correspond to our project’s overall purpose, nor to our understanding
of violence. So, we tried to replace the add-on cyber-component with a new compo-
nent on (physical) violence in the preschool context, which would be in line with the
project’s purpose and overall conceptualisation of violence (and cyber harassment).
After a whole year of back and forth with CSF’s faceless bureaucracy on the matter of
(unsuccessfully) excluding the project’s cyber-component, at the end of last year I
basically caved in light of the approaching annual evaluation and we quickly started
working on a cyber harassment survey for Croatia (Sect. 3.2).
In brief, on a conceptual level, the phenomenon of cyber harassment, understood
as any “harassment by means of email, text (or online) messages or the internet”15 is
unreconcilable with a study of violence, that is based on the understanding of vio-
lence as any intentional physical harming or killing of another person. However,
this by no means implies that cyber harassment is not harmful or painful for its vic-
tims, or that it might not escalate towards (physical) violence. It simply acknowledg-
es that apples are not oranges.
If one conceptually and terminologically constructs violence as a generic term
which as two subtypes covers physical and cyber violence, then the question arises
what the overarching understanding of violence should be? Most of the relevant lit-
erature on cyber violence skips to address, let alone solve, this generic problem. In-
stead of further trying to unravel the conceptual and terminological chaos created by
the idea of cyber violence, an example shall demonstrate the diffusion.
If cyber violence is to be considered violence, and cybercrime a type of cyber vi-
olence, then data interference or computer-related forgery, logically, are a form of
violence (see Graphic 1). Basically, such conceptualisation and terminology com-
pletely disregard the nonsynonymous meaning of the words crime and violence,
just as CSF disregards the nonsynonymous meaning of the words topic and title.
How such conceptual and terminological incoherence might advance our under-
standing of (cyber) violence remains unclear. There are no correct or wrong concepts
and definitions – their quality arises out of their ability to capture a phenomenon ei-
ther well, or poorly. In that sense the above example might be considered a rather poor
15
Cit. European Institute for Gender Equality, cyber harassment definition; https://eige.
europa.eu/thesaurus/terms/1486 [01. 12. 2019].
(Cyber) Bullying by Faceless Bureaucracy in Research Funding 517
attempt to capture the phenomena of cyber violence and cyber harassment in relation
to their overarching embeddedness in a coherent concept or terminology of violence
or crime. To violence research, just as to our project, cyber harassment has become an
add-on topic, although it would deserve to be studied in its own realm, together with
closely related phenomena and within a sensible framework. Looking at both phe-
nomena, there are significant differences in perpetrator and victim profiles, crimino-
genic, victimogenic and contextual factors, their modus operandi, the legal frame-
work that deals with them, or the criminal justice responses applied to them. This
is an essential difference for which’s rebutting empirical evidence would be needed.
Yet, as I will show throughout the next sections, practically, it is possible to fit the
study of cyber harassment into (physical) violence research, to gain valuable insights
on its unique nature, and do all this inspite the above detected lack of any logic.
After having argued that cyber harassment does neither conceptually nor termi-
nologically fit into (physical) violence research, the question remains where and
how it should be allocated? I propose to position it within the realm of harmful be-
518 Anna-Maria Getoš Kalac
haviour (see Graphic 2), since it clearly is a type of behaviour that results in harm,
and as such is the subject of criminology, as well as numerous other disciplines such
as psychology, sociology, social work, psychiatry, law, communicology, and educa-
tional studies, to mention but a few.
The proposed concept allows for endless stretching of the generic term of harmful
behaviour and its continuous adjustment to the changing (harmfulness of the) world
around us. Harmful behaviour indeed must include not only physical harm, but also
psychological, social, economic, ecologic etc. The notion of cyber within such con-
ceptual approach indicates that it is being realised by means of email, text (or online)
messages or the internet. Clearly, the cyber dimension significantly changes the na-
ture and scope of any harmful behaviour, mainly due to ease of access and the dis-
inhibition effect of cyberspace.16
Coming back to the paper’s specific research question, it is necessary to provide an
explanation for focusing on (cyber) bullying in the domain of public research fund-
ing, and thus to further define the basic terms. As noted earlier, the Violence Research
Lab has been established within the framework of a CSF co-funded research project.
Although our research agenda focuses on studying (physical) violence in Croatia via
court and prosecution case file analysis, as an add-on component our Lab also covers
16
See, e. g. Suler 2004 or 2016. Suler explores the causes of the “online disinhibition
effect” and analyses several factors that might help explain “why people say and do things in
cyberspace that they wouldn’t ordinarily say or do in the face-to-face world”: dissociative
anonymity; invisibility; asynchronicity; solipsistic introjection; dissociative imagination;
minimizing authority; personality variables; personal and cultural values. Cit. Suler available
online http://truecenterpublishing.com/psycyber/disinhibit.html [01. 12. 2019].
(Cyber) Bullying by Faceless Bureaucracy in Research Funding 519
the topic of cyber harassment in Croatia. Now, through managing the CSF co-funded
project I detected what first appeared to me as some sort of excessive bureaucracy
combined with systemic dysfunctionalities and lack of any insight into how research
works on the side of CSF.17 As exposure to the noted challenges occurred repeatedly
and went on over a long period of time, I started feeling agitated, helpless, frustrated
and unnecessarily exposed to nonsense whenever corresponding with CSF. With no
means of effective protection or defence, in a context of clear imbalance of power and
complete anonymity on the side of CSF, these feelings turned chronical. Little did I
know (until recently) how well this describes the phenomenon of (cyber) bullying
and harassment.
Similar experiences and reactions were confirmed by fellow project team mem-
bers and faculty colleagues who (had) managed their own CSF projects. The most
common ‘complaints’ with regards to their project related CSF relationship may
be summarised by the following six characteristics: (1) excessive bureaucracy, (2)
cyber correspondence, (3) facelessness, (4) transparent arbitrariness, (5) absolute au-
thority, and (6) nonsense. These characteristics essentially describe what I termed
“bureaucratic cybullying” and what we consequently explored in the domain of Cro-
atian public research funding:18
• excessive bureaucracy, characterised by being coerced into fulfilling trivial or un-
pleasant administrative tasks, being given tasks below one’s competence, persis-
tent ungrounded criticism of work and effort, and attempts to find fault, which re-
sults in waste of time for research, feelings of being exposed to work-unrelated
bureaucratic nonsense and a presumed culpability for an unspecified (potential)
misconduct;
• cyber correspondence, meaning that the only way of ‘communication’ is in writing
and via e-mail, characterised by what Suler highlights as “asynchronicity”19 and
17
In early 2019, I did some desk research on the matter and found a very insightful study
on the question ‘where the Croatian scientific research system might be heading to’. It ap-
peared to be off track and lost somewhere in between rational reform and entropy with sy-
stemic failure. The study, among other things, highlighted serious concerns about CSF’s work,
including incompetence as well as corruption (p. 49). Based on the presumption that the
quality of CSF’s work is inextricably connected to the quality of scientific research work,
since the acting principles of CSF reflect on the functioning of the whole Croatian scientific
community, the study surveyed researchers’ attitudes towards CSF’s work. The results were
devastating, as CSF had failed to positively impact any of the aspects of upgrading Croatian
scientific research activity (1. upgrading the quality of research projects; 2. upgrading of
scientific excellence; 3. upgrading evaluation methods; 4. limiting the influence of interest
groups on scientific activity – corruption). As much as 73% of surveyed researchers stated that
CSF has not contributed to limit corruption in the scientific system (p. 50). See Institut
društvenih znanosti Ivo Pilar 2018, 49 – 54.
18
For examples on all the characteristics, see the paper’s extended version as referenced in
Fn. 1.
19
Suler nicely explains “In real life, it would be like saying something to someone, ma-
gically suspending time before that person can reply, and then returning to the conversation
520 Anna-Maria Getoš Kalac
“invisibility”20. This results in feelings of being turned into the object or mere ad-
dressee of communication, rather than being an active part of it, as well as it am-
plifies misinterpretations due to lack of verbal expression (phone) and body lan-
guage (face-to-face);
• facelessness,21 meaning that the e-mail correspondence is not attributable to any
individual ‘real’ person, it is signed as “Croatian Science Foundation”, which is
characterised by what Suler denotes “dissociative anonymity”22, and imposes
the fiction of (corresponding with) an CSF that exists as such in the real world
(like a person), while creating the perception, as well as self-presentation of
CSF’s bureaucracy as faceless;
• transparent arbitrariness, which arises out of apparent transparency of procedures
combined with unreasoned decision making on all levels, that is thus obvious/
transparent in its arbitrariness and leads to feelings of demotivation, frustration,
helplessness or revolt towards one’s own scientific work;
• absolute authority (germ. Machtvollkommenheit), which reflects an extreme or
excessive imbalance in power, illegitimately or unnecessarily imposed hierarchy
or coerced subordination,23 resulting in feelings of helplessness, abandonment and
‘malignant vulnerability’24;
• nonsense (germ. Blödsinn; cro. budalaštine), characterised by inquiries, respons-
es, requests, instructions or decisions that lack any logic, meaningful purpose, are
impossible to comply with, or do not correspond to the issue at stake, resulting in
feelings of offendedness, helplessness, frustration, revolt and inexplicableness.
when you’re willing and able to hear the response.” Cit. Suler available online http://true
centerpublishing.com/psycyber/disinhibit.html [01. 12. 2019].
20
Invisibility partly overlaps with anonymity, but “even with everyone’s identity visible,
the opportunity to be physically invisible amplifies the disinhibition effect”. Cit. Suler avai-
lable online http://truecenterpublishing.com/psycyber/disinhibit.html [01. 12. 2019].
21
The term ‘faceless’ in relation to bureaucracy, harassment and bullying has been adopted
from the European Agency for Safety and Health at Work (2010, 22): “Usually, harassment is
considered to take place between people, but a situation created by ‘faceless bureaucracy’,
referring to a situation in which an individual feels defenceless against actions of a bureau-
cratic organisation, has also been called bullying”.
22
Suler explains that due to their anonymity people “don’t have to own their behavior by
acknowledging it within the full context of who they “really” are”, whereas such “anonymity
works wonders for the disinhibition effect”. Cit. Suler available online http://truecenterpublis
hing.com/psycyber/disinhibit.html [01. 12. 2019]. In the context of ‘faceless bureaucracy’ this
becomes even more troublesome, since own behaviour is presented as CSF’s behaviour, just as
personal responsibility is replaced with institutional responsibility.
23
The phenomenon of bureaucratic cybullying already encompasses a certain level of
imbalance of power between the bullying faceless bureaucratic body and the victim of such
type of cyber harassment. In that sense absolute authority is not merely an ordinary or natural
imbalance of power, but rather an excessiveness or absoluteness for which there are no rea-
sonable grounds.
24
On academic vulnerability, see Jackson 2018 and the following paragraphs.
(Cyber) Bullying by Faceless Bureaucracy in Research Funding 521
Clearly, there are varying severity degrees of the just presented bureaucratic cy-
bulling characteristics, just as there are different combinations of various two up to all
six characteristics. And just as with bullying in general, it is always a case-by-case
assessment of whether a specific harmful behaviour is to be classified as bureaucratic
cybulling or not. Two decisive criteria are the repeating or chronic nature of such in-
cidents, as well as the absoluteness of authority on the side of faceless bureaucracy.
The more extreme the absoluteness of authority, the lower the severity of single in-
cidents must be in order to be considered bureaucratic cybullying, just like the rise in
frequency and presence of all six characteristics with a high severity allows for lower
levels of absolute authority. The exact base-line distinguishing such bullying from
being exposed to (unwanted) unpleasant behaviour is generally unknown. Yet, in
the context of work-related bullying the bar must be set much higher, as here
there is basically little if any voluntariness on the side of exposing oneself to bullying
in work-related and contractually binding relationships. This brings us to the issue of
vulnerability and the question of whether CSF (co)funded project managers (in Cro-
atia), or more broadly (Croatian) academics, might be considered a (particularly) vul-
nerable group of victims.
The issue of academic vulnerability is closely related to the different policy ap-
proaches in public funding of science, research and higher education. In that respect,
the level of academic capitalism, as well as academia’s particular vulnerability “to
political and other pressures which undermine academic freedom”25, are two decisive
factors that need to be considered when assessing whether a certain academic com-
munity in a particular state or domain should be considered (particularly) vulnerable.
The notion of ‘particularly’ indicates a higher level of vulnerability than should be
expected considering the normative and actual conditions for realisation of funda-
mental human rights and academic freedom in a specific country and its regional con-
text. Since all the Balkan states, as well as Croatia, are bound to the Charter of Fun-
damental Rights of the European Union, one could argue that there should be no (par-
ticular) academic vulnerability. Yet, looking at the national normative and adminis-
trative framework in Croatia, as well as findings from our bureaucratic cybullying
victimisation survey and its impact analysis (Sect. 3), clearly in Croatia academia
is not only vulnerable, but actually ‘particularly’ vulnerable. That makes it plausible
to study bureaucratic cybullying among project managers of CSF (co)funded re-
search projects within our project’s focus on particularly vulnerable groups of vic-
tims.
Academic vulnerability in Croatia has emerged as a pressing concern, as CSF’s
research grants are the only source of domestic public research funding and since
project managers of CSF (co)funded research projects are financially vulnerable
25
Cit. Vrielinka, Lemmens & Parmentier 2011, 121. The afore mentioned authors point out
that “The UNESCO Recommendation specifically refers to “untoward political pressures,
which could undermine academic freedom” due to the “vulnerability of the academic com-
munity” for such pressures (UNESCO Recommendation, preamble)”. Cit., p. 137.
522 Anna-Maria Getoš Kalac
In this sense, academics are (or at least should be) vulnerable by default. Now,
whereas this positive notion of academic vulnerability might “work in harmony
with neoliberal orientations which cast vulnerability as a personal issue”, vulnerabil-
ity “in terms of systemic (institutional) failures”, just as vulnerability to violence,
harmful behaviour (such as bureaucratic cybullying) and forms of oppression, is
to be considered negative and to be avoided, prevented and decreased.30
To conclude with, “vulnerability is a normal part of being a person” and “there are
cases where vulnerability can be seen not as a liability, but as something with poten-
tially positive benefits despite its ‘troublesome’ dimensions”.31 In this sense benefi-
cial vulnerability is at the very essence of academia’s true nature. So, when it comes
to (beneficial, as well as harmful) academic vulnerability, the question is not if there
is vulnerability, but rather how it is distributed among all relevant stakeholders in
public research funding and whether an extremely unfair distribution makes a vul-
nerable academic community particularly vulnerable. Within this question also
lies the answer on how to best avoid, prevent and decrease (malignant) academic
(particular) vulnerability – by vulnerability’s fair distribution among all stakehold-
ers. Eventually, such fair redistribution of vulnerability might simultaneously pro-
vide non-vulnerable stakeholders, such as CSF, access to (benignant) vulnerability.
26
See in more detail on academic vulnerability, e. g. Jackson 2018. Such financial and
personal vulnerability clearly arises out of the current contractual set-up of CSF (co)funded
research projects and the normative, judicial and administrative vacuum surrounding CSF.
27
Cit. Jackson 2018, 2.
28
Jackson 2018, 2.
29
Cit. Jackson 2018, 2 and 3.
30
Cit. Jackson 2018, 3.
31
Cit. Jackson 2018, 7.
(Cyber) Bullying by Faceless Bureaucracy in Research Funding 523
This, as we have seen, is a basic precondition for social learning and as such a val-
uable resource for any stakeholder engaged in public research or its funding.
32
As noted earlier (Fn. 2), we asked CSF to replace the project’s cyber harassment com-
ponent and clearly did not want to engage in this research topic. It would therefore be a blunt
lie to state that with the survey initially we had any other goal, then to fulfil our project
contract.
524 Anna-Maria Getoš Kalac
and the openness of project managers to frankly report on their potential bureaucratic
cybullying victimisation experience, we decided to implement the survey without
CSF coordination. Considering CSF’s reactions that paralleled and followed our sur-
vey implementation, this has proven to be a wise decision. In this sense it needs to be
pointed out that prior CSF notification or approval was not a requirement for the sur-
vey’s implementation.
The survey covered 96% of a full national sample, including former and current
project managers who had been awarded CSF (co)funded project grants from 2013
onwards (provided the CSF database is correct and complete).34 The survey was
launched December 2nd 2019 at 15:24 under the title “Survey on CSF bureaucracy
within the framework of cyber harassment (Violence Research Lab)” and asked
its addressees to (anonymously and voluntarily) participate in a survey on bullying
by faceless bureaucracy, defined as “a situation in which an individual feels helpless
towards the actions of a bureaucratic organisation”. It was transparently explained
that we were interested in investigating the feeling of helplessness and general (dis)
satisfaction amongst managers of CSF (co)funded research projects. We asked po-
tential respondents to take 10 – 15 minutes of their time, and by sharing their own
experience in working with CSF, enable detection of possible bullying in the domain
of public research funding in Croatia.
The survey’s response rate, although extremely high within the first day of its im-
plementation, eventually turned out to be 12% (89 out of 734 contacted individuals).
One can only speculate about the sudden decrease in responses, but based on expert
opinion,35 as well as the content of approx. 50 e-mails received from CSF (co)funded
project managers related to the survey, the main reason for non-participation in the
survey was fear from negative CSF reactions. Public reactions to preliminary survey
findings from the Croatian research community stressed that due to the relatively low
response rate one should not doubt the survey’s findings, and pointed out that such
34
Out of a total of 765 individual project managers identified in the CSF database (808, but
some of them were listed twice), for a total of 734 project managers we were able to detect e-
mails.
35
Former minister of science and education Prof. Dr. Gvozden Flego expressed his expert
opinion on CSF’s reaction to the launch of our survey: “The letter sent to project managers [by
CSF] can be perceived as a warning not to participate in the survey of colleague Getoš Kalac”.
He assessed the first reaction of CSF’s Managing Director towards our project’s survey as a
dangerous precedent which might result in far-reaching consequences. In his view the CSF
position that the research topic does not depend on how the project manager and project team
understand it, but rather how CSF administration understands it, appears particularly dange-
rous and completely unauthentic, esp. since the CSF administration may revoke funds to
projects which content the administration holds inappropriate. Those people in an institution
aimed at caring for science, who have not grasped the immanent logic of doing science, that
most is learned from critique, are not up to their task – if they want to stop the harassment of
their ‘clients’, then the leadership of CSF, as well as anyone involved in scientific work, should
thank colleague Anna-Maria Getoš Kalac and her associates, and encourage them to further
analyse cyber and bureaucratic harassment of project managers by CSF administrators, Flego
explained. HINA 12. 01. 2020.
526 Anna-Maria Getoš Kalac
It is important to note that such feelings were expressed in terms of their predom-
inance, and not merely incident based, which is particularly relevant when it comes to
bureaucratic cybullying and the decisiveness of determining a repeating or chronic
nature of single bullying incidents through a longer period.
Another decisive characteristic of bureaucratic cybullying is the imbalance of power
and the absoluteness of authority. Both aspects have been addressed by the survey. The
36
HINA 12. 01. 2020.
(Cyber) Bullying by Faceless Bureaucracy in Research Funding 527
first one by explicitly asking respondents about their feeling as an equal contractual
party (Table 2), the second one by asking the respondents about their assessment of
oversight and control of CSF’s quality and legality of work, as well as respondents’
readiness to report on potential illegal conduct by CSF (Graphic 3).
Table 2
Respondents’ Perceived (Im)Balance of Power Due to Financial Negotiations
and Contracting with CSF
Perceived Balance of Power Perceived Imbalance
of Power
1 56% 44%
2 42% 58%
3 38% 62%
4 29% 71%
Legend: 1) “I am satisfied with the contractual obligations and rights” (yes/no); 2) “During contracting my CSF
project I had the possibility to actually negotiate (in terms of content and/or funding)” (yes/no); 3) “The CSF project
I am managing was contracted following the principle of ‘take it, or leave it’” (no/yes); 4) “I feel that I am, as a
project manager, an equal contractual party, with same obligations and rights as CSF” (yes/no). Note: all 89 re-
spondents replied to 4 questions.
Only one third of 89 respondents feel as an equal contract party, whereas even 70%
feel unequal. Moreover, asked about their assessment of own position in relation to
their CSF cooperation, 65% of 89 respondents assessed their position as subordinat-
ed, whereas only 33% as equal, and 2% as superior. This clearly confirms an imbal-
ance of power between CSF and project managers, which is particularly worrisome
since (at least contractually) their cooperation is conceptually set-up as one between
equal partners, and thus includes their host institutions, basically (contractually)
shifting the balance positively towards the side of the project managers. However,
in terms of CSF project (co)funding contracts, the distribution of rights and obliga-
tions clearly constitutes an imbalance of power, foresees far-reaching obligations for
project managers, but little if any responsibilities on the side of CSF. This imbalance
of power is well reflected in respondents’ (dis)satisfaction with the contracting and
so-called financial negotiations (see Table 2).
With regards to CSF’s absolute authority, half of 84 respondents reported that they
would in case of illegal conduct on the side of CSF and related to their project report
such illegal conduct to CSF (51%), whereas only one fourth of them (25%) would
report it to their host institutions, with 14% responding they would not report
such illegal CSF conduct at all, and only 7% responding they would report CSF’s
illegal conduct to relevant state authorities (police, public prosecutor, ombudsper-
son). Interestingly, only one respondent would report CSF’s illegal conduct to the
Croatian Parliament, who is in fact CSF’s founding body. When asked about their
opinion on the responsible public authority in charge of overseeing CSF’s work in
terms of its quality and legality (responsibility for active and appellate oversight
of CSF), the majority of 85 respondents replied that no one is in charge (44%) or
that the CSF it-self is in charge of its own oversight (26%). 17% of respondents iden-
528 Anna-Maria Getoš Kalac
Graphic 3: Readiness and Addressee of Reporting Illegal CSF Conduct (Left, N=84)
and Assessment of Authority Overseeing CSF (Right, N=85)
tified the Ministry of science and education as responsible for oversight, whereas in
fact only 6 respondents (7%) identified the Croatian Parliament as responsible (see
Graphic 3).
All 89 survey participants confirmed that they predominantly communicate with
CSF in writing via e-mail, which fulfils the criteria of cyber correspondence, as well
as facelessness of the CSF bureaucracy, due to individual CSF staffs’ anonymity and
lack of personal or phone contacts. With almost half of responses (49,4%) confirming
a predominant feeling of being exposed to nonsense, and compared to only 18% feel-
ing exposed to justifiable professional challenges, the criteria of nonsense has also
been confirmed. Now, the criteria of transparent arbitrariness proved difficult to ex-
plore by using the question “CSF decisions on my requests are best described by the
following qualities …” (Table 3). However, interpreting the findings in light of ex-
amples provided by survey respondents, as well as in context of survey feedback re-
ceived by project managers allows for first thoughts. It appears as if the just presented
findings might very well reflect the characteristic of transparent arbitrariness, but the
results in this respect are not conclusive, neither was the question well posed. Basi-
cally, one would have needed to ask respondents more specifically about various
types of CSF decisions regarding requested project adjustments, evaluations, finan-
cial decisions, micromanagement etc. In that sense the findings might best be con-
sidered as indicative and overall as rather critical towards CSF decisions.
(Cyber) Bullying by Faceless Bureaucracy in Research Funding 529
Table 3
Exploring Transparent Arbitrariness as a Characteristic
of Bureaucratic Cybullying (N=88, Multiple Choice)
CSF decisions on my requests are best described by the following qualities …
… inflexible 50%
… timely 43%
… arbitrary 38%
… according to rules 38%
… non-transparent 31%
… unreasoned 28%
… scientifically unjustified 28%
… reasoned 26%
… untimely 23%
… transparent 22%
… flexible 19%
… scientifically justified 10%
This section provides for a brief overview of the main implications and the impact
of the just presented survey on bureaucratic cybullying among CSF (co)funded proj-
ect managers and in relation to their CSF cooperation. The case analysis in this re-
spect demonstrates how easily bureaucratic cybullying may escalate into real-life
bullying, and, when it comes to the survey’s setting within the research domain,
how this can result in the infringement of academic freedom.
Immediately after the launch of the explorative victimisation survey among CSF
(co)funded project managers, CSF posted an anonymous warning on its webpage,37
and anonymously via e-mail informed all CSF (co)funded project managers, as well
as mentors of CSF funded PhD researchers, that our on-line survey was not part of
any CSF funded project and that CSF had neither provided contact details nor its per-
mission for conducting the survey. I received a similar anonymous warning and was
37
See www.hrzz.hr/default.aspx?id=2636 [26. 02. 2020].
(Cyber) Bullying by Faceless Bureaucracy in Research Funding 531
38
See www.violence-lab.eu/news/anketa-o-faceless-bureaucracy-u-kontekstu-cyber-harass
ment [26. 02.2020].
39
See www.hrzz.hr/default.aspx?id=2641 [26. 02. 2020].
40
For more details, see Fn. 2.
41
See www.violence-lab.eu/news/kiberneticke-budalastine-zaklade [26. 02. 2020].
42
HINA 15. 12. 2019.
532 Anna-Maria Getoš Kalac
principles of CSF’s Ethical Codex, as well as one ethical rule on “inappropriate com-
munication with CSF employees and evaluators”. The letter we received cited a sec-
tion form CSF Ethical Committee’s decision, but we were not even provided with the
decision itself, nor with the actual decision of CSF’s Managing Board. Since such
procedure of CSF and its Ethical Committee was clearly in breach of several proce-
dural provisions of CSF’s own Ethical Codex, as well as the European Code of Con-
duct for Research Integrity, the Faculty dismissed CSF’s Managing Board decision
on conducting the extraordinary control measure as void, and thus reported CSF’s
misconduct to the Ministry of Science and Education, Zagreb University’s Rector
and the relevant Parliamentary Committee, while also informing the Rectors’ Coun-
cil and the National Science Council about CSF’s misconduct. He thus called for en-
suring the lawfulness of CSF’s procedures and decisions. None of the addressed in-
stitutions officially replied, nor did the CSF (for the time being) conduct the extra-
ordinary control measure, which might result in termination of the project, loss of
project funds, as well as 3 PhD researcher positions. CSF upon written request even-
tually provided for a copy of its Ethical Committee’s decision – needless to point out
that neither myself as the accused/convicted/sentenced, nor my dean, had any clue
there had been an ethical investigation initiated back in late December 2019, or a rul-
ing and sentencing delivered. Basically, we were simply informed on the CSF Man-
aging Board’s decision implementing CSF Ethical Committee’s sentence.
Interestingly, CSF’s Ethical Committee delivered its decision in line with an un-
specified and non-available phantom-request of CSF’s Managing Board. CSF’s Eth-
ical Committee literally states that
“during the discussion the Committee did not go into the specifics of the project in question,
but discussed elements from the provided documentation and publicly available informa-
tion, for which there is a basis for determining inconsistency with principles of scientific
conduct and rules of CSF’s Ethical Codex. […] Based on the available documentation
the Committee had a discussion and has determined that assoc. prof. dr. Getoš Kalac breach-
ed the principles of the Ethical Codex, specifically articles 5, 6 and 14 (basic ethical prin-
ciples, professional conduct and responsible scientific conduct).”
Then the decision continues by partially citing e-mail correspondence with CSF’s
faceless bureaucracy and interpreting that appeals against unreasoned CSF decisions
constitute “disrespect of CSF decisions”, that requests for information constitute
“disrespect of hierarchy”, that argumentation provided within project adjustment re-
quests constitutes “disrespect of CSF procedures”, all of which “may be classified as
inappropriate conduct in communication with CSF employees and evaluators”. Now,
besides the obvious lack of basic legal knowledge and the inherent nonsense of such
deliberations, clearly the just stated (even if true) in CSF Ethical Committee’s own
words also may not be classified as such conduct. Whereas the first part of the deci-
sion is completely unspecified in terms of exact conduct that might be considered
unethical (although it is obviously somehow related to the survey we conducted),
the decision’s second part lacks any reasoning on why the e-mail correspondence
must be considered an ethical misconduct. As such, the CSF Ethical Committee’s
(Cyber) Bullying by Faceless Bureaucracy in Research Funding 533
decision and sentencing, imposing all possible proscribed penal measures (for an al-
leged “minor ethical misconduct”), is nonsense at best, but much more likely CSF’s
real-life bullying and an attempt at disciplining a critically thinking (and acting) proj-
ect manager.
Clearly, the conducted explorative victimisation survey on bureaucratic cybully-
ing among CSF (co)funded project managers was not to the liking of CSF’s Manag-
ing Director, nor the members of its Managing Board, or members of its Ethical Com-
mittee. Such ‘disliking’ of a research topic, let alone a legit research survey, is not
unusual within any research community and is frequently the subject of opposing po-
sitions in academic papers. What is however highly unusual, and simultaneously ex-
tremely dangerous, is the abuse of position by ‘fellow’ academics through managing
bodies of public research funding agencies, aimed at disciplining, punishing and si-
lencing critical scientific opinion and making an example for the whole research
community. Not only does such bullying have severe implications on the individual
victim, as well as the whole project team and the relevant host institution, but it also
threatens the overall scientific community by imposing self-censorship and coercing
project managers, as well as future project applicants into presumably CSF-endorsed
research topics.
Such CSF-conduct self-evidently infringes the individual as well as institutional
and collective fundamental right of academic freedom. Even in case there would have
been any legitimate grounds for CSF’s divergent opinion on what does and does not
constitute a part of our joint research project, the mere lack in contractual specifica-
tion of the project’s cyber harassment component does not provide CSF’s faceless
bureaucracy with the discretionary right to unilaterally, anonymously and without
any reasoning specify the meaning or the content of our project’s research subject.43
It remains to be seen what legal and ethical implications will arise for CSF, the mem-
bers of its managing and ethical bodies, but it is clear that the relevant international
academic community has already decided on the matter and ascertained its firm po-
sition that academic freedom is not up for discussion, nor may it be revoked simply on
the grounds of a funding agency’s disliking of particular research subject or method,
let alone its discontent with specific findings of a scientific survey.44
43
“If and when specific requirements about the subject or topic of research, the method and
the mode of analysis are in place, they should be clearly established and mutually agreed upon
beforehand. In case of external funding, the respective rights of sponsors and researchers over
the output should be made clear as well.” Cit. Vrielinka, Lemmens & Parmentier 2011, 125.
Out of this arises an obligation of funding agencies to mutually agree with project partners on
potentially needed specification of research subject or topic, method and mode of analysis.
44
The European Society of Criminology is “concerned about a case which has come to its
attention relating to academic freedom” and in this regard has underlined “its commitment to
the principle of academic freedom. This is a foundational component of any democratic so-
ciety and a driving ethos of University research. Academic freedom requires: fair and trans-
parent processes for the funding and review of research; the capacity for critical thinking and
capacity for the academy to speak truth to power, and always and everywhere challenging
censorship and rights violations.” See www.esc-eurocrim.org/index.php/activities/news [26. 02.
534 Anna-Maria Getoš Kalac
This part of the case study on bureaucratic (cy)bullying in public research funding
in Croatia will highlight main findings from a thorough normative analysis. The find-
ings are thus confirmed by the just described real-life bullying case study and in a
nutshell present a total normative, judicial, inspectional and administrative vacuum
when it comes to CSF quality control and oversight of legality of conduct and deci-
sions. To start off with the most easily detectable normative vacuum – the one on
quality control. In essence the only quality control of CSF’s work is being performed
by the Croatian Parliament. However, even this control mechanism is a fictional, rath-
er than an actual control mechanism, since the Parliament’s only competence is to
accept or not accept CSF’s own annual report. Even in the highly unlikely event
that the Parliament were not to accept CSF’s report, no consequence is foreseen.
Next in line is the question of overall administrative and/or inspectional oversight
of CSF as a legal person with public authority. In short – neither the Ministry of Sci-
ence and Education, nor any other government body, have competence on adminis-
trative or inspectional control of legality of CSF’s work. Only with regards to control
over CSF’s disposal of public funds the Ministry has together with the Ministry of
Finance oversight and control competences. Not even the relevant City Office in
charge of regularly inspecting the work and conduct of foundations has any compe-
tence over CSF, since such inspection competences would have to be explicitly fore-
seen in the Act on CSF (obviously they are not).
Now, as a measure of last resort one might think about the courts. There should be
some sort of legal procedure in court that might provide for legal oversight of legality
and correctness of individual CSF decisions, one might think, and one would be mis-
taken. The High Administrative Court of Croatia has already decided that individual
CSF decisions do not constitute such type of decisions that would fall within the com-
petence of administrative jurisdiction. Currently it is under investigation whether not
at least the Croatian Constitutional Court might prove to be a judicial oversight and
correction mechanism. Nevertheless, the normative vacuum is complete and leaves
CSF overall, as well as any of its individual decisions, as untouchable and incontest-
able, outside of the framework of any normative, administrative, inspectional or qual-
ity control mechanism.
In context of such a control vacuum it needs to be pointed out that CSF’s Manag-
ing Board has been acting despite the expiry of its own mandate approx. 3 years ago,
and solemnly based on CSF’s own statute (enacted by the current CSF Managing
Board in 2013). CSF’s Statute foresees that the Managing Board can keep acting in-
definitely after the expiry of its mandate, basically until its current members are re-
2020]. The German KrimG has informed CSF about similar concerns, whereas the Société
internationale de défense sociale pour une politique criminelle humaniste has issued a “State-
ment related to the infringement of academic freedoms and bullying criminologists by the
Croatian Science Foundation”. See www.violence-lab.eu/news/issd [26. 02. 2020].
(Cyber) Bullying by Faceless Bureaucracy in Research Funding 535
voked, or new members nominated by Parliament. The respective public call for
nominating new CSF Managing Board members closed back in February 2018 –
no one knows why no new CSF Managing Board has been nominated during the
past two years. It is highly unlikely that the statutory legal grounds for the continuous
acting of CSF’s current Managing Board (despite expiry of its members’ mandate)
are in consistency with the relevant legal provisions on duration of Board Members’
mandate provided in the Act on CSF. Regarding CSF’s Managing Board another
problem needs to be addressed and this relates to potential conflict of interest and
a lack of publicly declared personal and professional networks that might interfere
with CSF Managing Board members’ impartiality when deciding on specific project
applications or annual project reviews, as well as selecting international and domestic
evaluators.
As a last oversight vacuum I need to highlight the complete lack of any publicly
available information on either the criteria or the procedure for selecting foreign and
domestic anonymous CSF evaluators in charge of reviewing project applications, as
well as annual project reports. Not even the members of CSF’s Panels on different
scientific fields have any idea about who decides, and how, on such evaluators,
nor is there any transparency in terms of who decides about which of the evaluators
get assigned to any given project application or evaluation, nor how many such re-
views are inquired and how many or which of these reviews are then used by CSF
Panels or the CSF Managing Board to base their decision upon. It is only known
that CSF Panels as well as project managers should receive a minimum of two sep-
arate reviews. Regarding annual project evaluations, it is not even known whether the
anonymous domestic evaluators are selected from the relevant discipline in which the
project has been approved, nor whether the evaluators themselves have experience in
(CSF) project management or for that matter any competence on the actual project
subject. Finally, foreign as well as domestic evaluators are expected to self-report on
potential conflict of interest, but without any oversight on CSF’s work this remains a
huge unknown, just as any potential conflict of interest on the side of vastly anony-
mous CSF administrative staff. This is particularly worrisome in a country like Cro-
atia with a small and highly intertwined academic community.
To conclude with, any of the just described oversight and control vacuums on their
own would probably raise little if any concern on potentials for (criminal) tycooni-
sation of public research funds in Croatia. Yet, all of them taken together and put in
the broader context of pandemic corruption, as well as criminal state capture in the
Balkans (and Croatia), raise serious concerns about (at least very evident potentials
for) criminal ‘tycoonisation’ of public research funds. Even though this is a com-
pletely different criminological phenomenon as such, at the same time it is also a
plausible first assumption on probable aetiological roots for the detected phenomen-
on of bureaucratic cybullying in the domain of public research funding, as well as its
real-life escalation into bullying and infringement of academic rights. Here further
criminological research is urgently needed, whereby particular attention should be
paid to statistical anomalies in awarded CSF project grants to host institutions of
536 Anna-Maria Getoš Kalac
members of CSF’s Managing Board and/or their close relatives and members of their
professional networks.
This criminological investigation and the here presented first findings on the phe-
nomenology and aetiology of (cyber) bullying by faceless bureaucracy in the domain
of public research funding, will hopefully be one of the finer examples of the great
scientific and personal influence my patron has had on my academic development. It
would be inappropriate to designate him simply as my mentor, since his role, in its
very essence, is undoubtably more that of a benevolent patron, than that of an inci-
dental mentor. Whoever had the privilege of working with or for him knows that
Hans-Jörg Albrecht is not the lovely kind of mothering accomplished colleague,
who would take you by the hand and lead you through the great plains of criminol-
ogy-land or, for that matter, do any kind of planning or thinking for you, let alone
instead of you. By supporting and protecting me whenever needed, while simultane-
ously allowing me to academically grow up freely and autonomously, he has in fact
raised me to become the academic I am today. He equipped me with the tools for
detecting seemingly hidden deviances and thus empowered me to ask provocative
research questions, even when others won’t. Finally, his patronage has allowed
me to relatively fearlessly stand my scientific and academic grounds, regardless
of pragmatic conveniences or potentially harmful consequences. I only wish more
fellow academics in this part of Europe and from CSF could have enjoyed such pa-
tronage and the privilege of being raised by truly living academic freedom – the topic
of this paper surely would have been another one.
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III. Strafe und Strafzumessung –
Punishment and Sentencing
Straftheorien – reflektiert aus der Sicht
von Hans-Jörg Albrecht
Von Albin Eser
1. Einführung
Wenn man für einen Festschriftbeitrag zum 70. Geburtstag eines Kollegen, mit
dem man viele Jahre in der Leitung eines Forschungsinstituts tätig war, ein beider-
seits einschlägiges Themenfeld finden möchte, liegt es im Falle von Hans-Jörg Al-
brecht nahe, im Bereich von Straftheorien auf die Suche zu gehen. Seinerseits war
aus kriminologischer Sicht schon bei seiner Freiburger Dissertation zur Strafzumes-
sung bei Geldstrafen1 an Straftheorien nicht vorbeizukommen, und dies noch weni-
ger bei seiner Freiburger Habilitation zur Strafzumessung bei schwerer Kriminalität.2
Auch meinerseits ließ sich aus strafrechtlicher Sicht kaum ein Problem voll erfassen,
ohne dabei letztlich nicht auch Sinn und Zweck von Strafe im Blick zu haben.3
Schaut man allerdings etwas genauer hin, drängt sich bei Albrecht ein reservierter
Eindruck auf – so als ob er sich straftheoretisch nicht so recht festlegen wollte. Nicht
als ob sich überhaupt eine Straftheorie „aus einem Guss“ entwickeln ließe oder diese
gar in „axiologischer Geschlossenheit“ zu konzipieren sei.4 Doch wie schon in einer
Rezension seines Hauptwerks zu Strafzumessung bei schwerer Kriminalität be-
merkt, bleibe Albrecht straftheoretisch selbst bei seiner Stellungnahme zu der für
sein Strafzumessungsmodell wesentlichen Tatproportionalität im Ergebnis unent-
schieden.5 Umso reizvoller erscheint es, gleichsam im Sinne einer Spurensuche
der Frage nachzugehen, ob er nicht doch ein gewisses Grundverständnis von Strafe
im Hinterkopf hatte, ohne dieses jedoch in einer Gesamtschau darstellen zu wollen,
um sich nicht vorschnell in eine bestimmte Richtung festlegen zu lassen.
Zu diesem Rekonstruktionsversuch sind aber gleich einige Vorbehalte zu machen.
Das betrifft vor allem die Wahl und Zahl der in dieser Untersuchung berücksichtigten
1
Albrecht 1980.
2
Albrecht 1994.
3
Zu meinem eigenen grundsätzlichen Verständnis vom Sinn und Zweck der Strafe vgl.
unten Abschnitt 10 mit Nachweisen in den Fn. 88 ff.
4
Wie Letzteres von Pawlik (2004, 53) gefordert, jedoch in der – soweit ersichtlich – wohl
jüngsten monographischen Analyse von Straftheorien von Hörnle (2011, 2 bzw. 4) in beiderlei
Hinsicht zu Recht infrage gestellt wird.
5
Streng 1997, 184.
544 Albin Eser
2. Grundeinstellung zu Straftheorien
Wie schon angedeutet, erschien es Albrecht offenbar nicht geboten, eine eigene
„Straftheorie“ zu entwickeln. Das soll nicht heißen, dass er sich jeder Äußerung
zu Sinn und Zweck der Strafe enthalten hätte, ist doch selbst bei einer empirischen
Arbeit zur Strafzumessung kaum daran vorbeizukommen, sich zu deren Zielsetzung
zu verhalten; wohl aber hat er – im Unterschied zu sonst üblichen Vorgehensweisen –
6
Albrecht 1980 und 1990.
7
Albrecht 1985 und 1993.
Straftheorien – reflektiert aus der Sicht von Hans-Jörg Albrecht 545
8
Albrecht 1980, 8 ff.
9
Albrecht 1994, 18 ff.
10
Albrecht 1994, 3, 5.
11
Albrecht 1994, 23 ff. bzw. 37 ff.; vgl. auch S. 4 zur Mehrdimensionalität der Strafzu-
messung.
12
Gerade wenn aber dem so ist, nämlich die für die Strafzumessung im Einzelfall we-
sentlichen Zwecke andere als die für die allgemeine Strafandrohung erforderlichen sein kön-
nen, mag verwundern, dass P.-A. Albrechts „Drei-Säulen-Theorie“ (1985, 832 f.), wonach für
die einzelnen Stationen der gesetzlichen Strafandrohung, der strafprozessualen Strafverhän-
gung und des Strafvollzugs jeweils unterschiedliche theoretische Akzentuierungen denkbar
sind, von Albrecht zurückgewiesen wird (1994, 31). Vgl. dazu auch unten 10.
13
Albrecht 1994, 25 ff.
546 Albin Eser
4. Strafziel Rechtsgüterschutz
Bei den im Einzelnen zu betrachtenden Strafzwecken, aus denen die wie auch
immer gestaltete Strafe ihre Legitimation beziehen und als dementsprechende
„Straftheorie“ zu verstehen sein soll, könnte es nahe liegen, in klassischer Weise zwi-
schen absoluten und relativen Theorien differenzierend vorzugehen. Aber nicht nur,
dass diese Unterscheidung fragwürdig erscheint, kann doch selbst bei einem schein-
bar zweckfreien „punitur quia peccatum est“ in dem damit verfolgten Schuldaus-
gleich ein Zweck gesehen werden,19 weswegen Albrecht nicht ohne Grund wohl
14
Albrecht 1994, 27; vgl. auch Albrecht 2015a, 8, wonach “penal sanctions have a unique
potential of inflicting pain, exerting power and serving as a regulatory instrument in the moral
economy of a society“.
15
Albrecht 1994, 26 f.
16
Albrecht 1994, 28.
17
Wobei hinsichtlich der gesellschaftlichen Kosten zu Recht auch immer wieder an die
„Ökonomie der Strafe“ erinnert wird (vgl. Albrecht 1980, 12 f.; 1994, 10, 54 f.; 2001, 297,
310 ff.; 2008, 131, 135; 2015a, 10, 14) und neben dem Täter und der Gesellschaft auch an das
Opfer zu denken ist (Albrecht 2008, 129).
18
Wie insbesondere hinsichtlich der Entlastungsfunktion des Strafrechts dargetan (Al-
brecht 2008).
19
Wobei allerdings insofern ein Unterschied bleibt, als es bei Bestrafung wegen der Tat um
rückwärtsgewandte Vergeltung geht, während ein „punitur nec peccetur“ auf die Verhinderung
künftiger Taten ausgerichtet ist: vgl. Eser 1992, 10.
Straftheorien – reflektiert aus der Sicht von Hans-Jörg Albrecht 547
5. Abolitionismus
Obgleich sich bei Abfassung seiner Hauptwerke zur Strafzumessung unter dem
Schlagwort „Abolitionismus“ das Strafrecht von Grund auf in Frage gestellt sah,25
hat sich Albrecht von Forderungen nach Alternativen oder gar den Verzicht auf Straf-
recht nicht sonderlich beeindrucken lassen. So ist in seiner Dissertation zur Geldstra-
fe (1980), sofern nicht übersehen, von Abolitionismus überhaupt keine Rede, und in
seiner Habilitationsschrift zu schwerer Kriminalität (1994) nur insofern als er „abo-
20
Albrecht 1994, 26.
21
Wie etwa in Albrecht 1995, 17 f. zu „Rechtsgüterschutz durch Generalprävention“.
22
Albrecht 2015a, 9.
23
Albrecht 2018, 196.
24
Albrecht 2015a, 9.
25
Vgl. den kritischen Überblick von Kaiser 1996, 191, 284 ff., 132, 126 f.
548 Albin Eser
litionistischen Strömungen“ zwar erhebliche Auswirkungen auf die Theorie der Re-
sozialisierung und das Präventionskonzept zugesteht, diese jedoch ohne dramatische
Folgen geblieben seien.26 Offenbar hielt er es zu jener Zeit nicht für nötig, die Exis-
tenzberechtigung des Strafrechts ausdrücklich zu begründen: Bei aller Kritik an des-
sen Zustand erschienen ihm lediglich Verbesserungen erforderlich.
Diese Skepsis klingt auch in seinen weiteren einschlägigen Veröffentlichungen
durch, wie vor allem dort, wo es die Unentbehrlichkeit des Strafrechts gegen dessen
angebliche Ersetzbarkeit durch zivilistische Restitution oder private Konfliktbewäl-
tigung zu verteidigen galt. Dabei offensichtlich von Rechtsgüterschutz als Grundziel
des Strafrechts ausgehend, gesteht er in seinen – erkennbar Ignoranz monierenden –
„Antworten auf nicht gestellte Fragen“ zu „restorative justice“27 den verschiedenen
Formen von Wiedergutmachung, Mediation oder Täter-Opfer-Ausgleich zwar
durchaus eine wichtige Ergänzungsfunktion zu,28 doch würde dadurch eine letztmög-
liche Sanktionierung keineswegs entbehrlich. Ohne hier die verschiedenen Krimina-
litätstheorien nachzeichnen zu können, die von Albrecht als unzulänglich entlarvt
werden, um ohne jegliches Strafrecht auszukommen, kommt er zu dem Ergebnis,
dass die „justification of punishment“ als gelöst betrachtet werden könne29 und dem-
zufolge die Frage nur noch lauten könne, „inwieweit belastende Sanktionen [im
Sinne von Strafen] im Inhalt reduziert oder modifiziert werden können, damit die
Normgeltung erhalten bleibt und die Erwartungen gesichert bleiben“.30 Soweit es
beispielsweise um die Ersetzung von Strafe durch Wiedergutmachung gehe,
werde verkannt, dass die vom Täter für den Schadensersatz abverlangten Kosten nie-
mals die durch die Straftat erlangten Vorteile überwiegen würden: „Costs of criminal
behaviour may outweigh its benefits only if the costs exceed the mere elimination of
the acquired benefits.“31 Oder soweit Streitschlichtung als Alternative für Strafe er-
wogen werde, sei deren erfolgreiches Funktionieren „vollständig von dem Vorhan-
densein der Rekursmöglichkeit auf staatliche Streitentscheidung und hiermit verbun-
denem Zwang abhängig“.32 Kurzum: auch wenn „das Strafrecht, die Strafe wie ihre
Anwendung im Einzelfall nur Teil eines Gesamtsystems der Verhaltenskontrolle“
26
Albrecht 1994, 4.
27
Albrecht 2001, 295 ff. Grundlegend zu der – aus seiner damaligen Sicht noch erfor-
schungsbedürftigen, aber eher skeptisch einzuschätzenden – Rolle der Wiedergutmachung im
Strafrecht vgl. bereits Albrecht 1990, 43 ff.
28
Albrecht 2001, 300; in gleichem Sinne auch in einem Beitrag, in dem er „die zentrale
Frage, ob staatliches Strafrecht und staatliche Strafe Entlastung oder Belastung für Täter,
Opfer und Gesellschaft mit sich bringen“, letztlich in ersterem Sinne beantwortet: Albrecht
2008, 128 ff., 144.
29
Albrecht 2001, 305.
30
Albrecht 2008, 141.
31
Albrecht 2001, 301; im gleichen Sinne Albrecht 2008, 133, 136.
32
Albrecht 2008, 143.
Straftheorien – reflektiert aus der Sicht von Hans-Jörg Albrecht 549
darstellen,33 bietet Abolitionismus für Albrecht keine Lösung, vielmehr muss für
wirksamen Rechtsgüterschutz über Wiedergutmachung und Meditationsmaßnah-
men hinaus Strafrecht als letztes Mittel verfügbar bleiben.
6. Vergeltungsstrafrecht
Muss Strafe sein, muss sie doch nicht um ihrer selbst willen sein. Wenngleich
nicht mit diesen Worten, so doch in diesem Sinne stößt auch das entgegengesetzte
Extrem eines reinen Vergeltungsstrafrechts bei Albrecht auf Ablehnung. So sah er
bereits in seiner Dissertation bei der von funktionalen und humanistischen Argumen-
tationsmodellen eingeleiteten und demzufolge von zweckrationalen Zielsetzungen
wie Spezial- und Generalprävention beförderten Ablösung der Freiheitsstrafe
durch die Geldstrafe den „Sinn von Strafe als Selbstzweck“ (oder besser als Aus-
druck „göttlicher Gerechtigkeit“) aufgelöst“.34 Auch soweit es um die (letztlich ver-
neinte) Tauglichkeit von Vereinigungs- und Spielraumtheorien geht, könne eine
„zweckfreie Vergeltung von Schuld“ nicht mehr als tragfähige Begründung von Stra-
fe anerkannt werden.35
Auch wenn er vergeltende Rache als mutmaßlich in Vergessenheit geraten sieht36
und den vor fünf Jahrzehnten namentlich von Ulrich Klug proklamierten „Abschied
von Kant und Hegel“ als angeblichen Protagonisten absoluter Straftheorien wohl
ebenfalls begrüßt hat, findet er dieses „farewell“ neuerdings „remembered with feel-
ings of nostalgia and thoughtfulness“,37 ohne dass allerdings klar zu erkennen wäre,
ob er diesen „punitive turn“38 lediglich registrieren, nicht aber ohne weiteres auch
akzeptieren will. Wie auch immer, soweit er die gegenwärtige Transformierung
des Strafrechts in ein Sicherheitsrecht und in Verbindung damit eine Verlagerung
der Strafziele von Rehabilitation und Integration hin zu mehr Abschreckung und Un-
schädlichmachung zu konstatieren hat,39 geschieht dies nicht ohne kritischen Unter-
ton.
33
Albrecht 1995, 21; vgl. auch Albrecht 2001, 307 f. sowie 2008, 141 f. zur Rolle infor-
meller Regelungsmechanismen, wie insbesondere bei zu befürchtender Ablehnung durch Fa-
milie und Freundeskreis (Albrecht 1993, 162 f.), neben dem staatlichen System der Rechts-
durchsetzung. Eingehend neuerdings zu strafrechtlicher Sozialkontrolle Albrecht 2016.
34
Albrecht 1980, 8 f.
35
Albrecht 1994, 29 f.
36
Albrecht 2008, 139.
37
Albrecht 2018, 196.
38
Näher zu dessen Art und Ausmaß, vor allem im Vergleich mit der Entwicklung in den
USA, vgl. Albrecht 2017, 186 f., 189 f., 193 ff.
39
Albrecht 2015a, 18 ff.; 2018, 196 ff.
550 Albin Eser
7. Generalprävention
Obwohl historisch betrachtet die Überwindung absoluter Straftheorien durch Prä-
ventionsmodelle ganz wesentlich von spezialpräventiven Zielsetzungen ausgegan-
gen ist,40 sei hier mit Albrechts Darstellung der Generalprävention begonnen – als
übrigens der einzigen in einem eigenen Wörterbuchartikel präsentierten Straftheo-
rie.41 Während die Spezialprävention naturgemäß mehr die Einwirkung auf den ein-
zelnen Straftäter zum Ziel hat und demzufolge vornehmlich für die Strafverhängung
und den Strafvollzug bedeutsam ist, spielt die Generalprävention schon für die Straf-
androhung die Hauptrolle. Wie allgemein angenommen, sieht auch er „die kriminal-
politische Entscheidung, bestimmte Verhaltensweisen überhaupt unter die Andro-
hung staatlicher Strafe zu stellen, sowie die Festlegung der Strafrahmen durch
Rechtsgüterschutzerwägungen und damit auch durch generalpräventive Gründe be-
stimmt“.42 Auch geht es dabei mittlerweile nicht nur um den Schutz vor effektiven
Rechtsgutsverletzungen, vielmehr stellte er schon vor der heutigen Sicherheits-
rechtsdiskussion einen Wandel des modernen Strafrechts von einem Erfolgs- zu
einem Risikostrafrecht fest.43
Auch wenn in gewohnten Bahnen zwischen negativer Abschreckungsprävention
und positiver Integrationsprävention unterscheidend,44 zeichnet sich Albrechts Ana-
lyse sowohl durch dogmatische Vertiefung als auch durch sozialwissenschaftliche
Beleuchtung aus. Ersteres gilt etwa für das Verhältnis von Schuld und Generalprä-
vention45 und die generalpräventive Deutung der für die Strafverhängung zu berück-
sichtigenden „Verteidigung der Rechtsordnung“,46 während als sozialwissenschaft-
lich erhellend vor allem die Differenzierung zwischen einer Makro- und einer (seit
den 70er Jahren dahin tendierenden) Mikroebene der Abschreckung zu nennen ist
und dabei nach dem Modell des „homo oeconomicus“ auch an Verfolgungs- und Ver-
urteilungswahrscheinlichkeit orientierte Kosten-Nutzen-Erwägungen eine wichtige
Rolle spielen.47 Danach zu vollziehende Bilanzierungen lassen sich aus negativ ab-
schreckend-generalpräventiver Sicht nicht zuletzt auch einer abolitionistischen Er-
setzung von Strafe durch Restitution entgegenhalten, überwiegen die Kosten der
Straftat deren Nutzen doch erst dann, „wenn die Reaktion auf die Straftat mehr
sein kann als bloßer Nutzenwegfall“.48 Was zum anderen die positiv normstabilisie-
rend-generalpräventive Komponente betrifft, wird wiederholt für wichtig erachtet,
40
Albrecht 2008, 139 mit Verweis auf das kriminalpolitische Programm von Franz v. Liszt.
41
Albrecht 1985 bzw. 1993; eine gewisse Sonderbehandlung haben allerdings auch die
„restorative justice“ (Albrecht 2001) und die Resozialisierung (Albrecht 2015b) erfahren.
42
Albrecht 1993, 157.
43
Albrecht 1995, 18.
44
Albrecht 1993, 157 f.; 1994, 63; 1995, 17 f.
45
Albrecht 1994, 32 ff.
46
Albrecht 1994, 25, 63 f., 79 ff.; vgl. auch Albrecht 1980, 192 f.
47
Albrecht 1993, 158 ff.; 1994, 64 f.
48
Albrecht 2008, 136.
Straftheorien – reflektiert aus der Sicht von Hans-Jörg Albrecht 551
dass die Normgeltung erhalten bleibt und die trotz Verletzung daran geknüpften Er-
wartungen der rechtstreuen Bevölkerung gesichert bleiben.49
Da derart essentiell für den Rechtsgüterschutz, muss die Feststellung, „eine em-
pirische Theorie der Generalprävention gibt es nicht“, weswegen man sich mit mehr
oder weniger gut belegten kriminalpolitischen Hypothesen begnügen müsse,50 für
Albrecht frustrierend gewesen sein. Aber könnten die empirischen Methoden und
die daran geknüpften Erwartungen, wenn mir dies als Strafrechtler zu hinterfragen
erlaubt sei, nicht auch überspannt sein? Selbst wenn sich mit keiner der von ihm über-
prüften Theorien, wie insbesondere auch anhand der Todesstrafe dargetan,51 ein-
wandfrei generalpräventive Wirkungen nachweisen lassen, könnte da nicht schon
die Alltagserfahrung, dass sich Verkehrsverhalten ändert, wenn für Verstöße Strafe
angedroht wird, dass Steuerehrlichkeit erhöht wird, wenn im Falle der Entdeckung
mit öffentlicher Ahndung zu rechnen ist, dass die Androhung lebenslanger Freiheits-
strafe zwar nicht jeden, aber wenigstens den einen oder anderen Mord zu verhindern
vermag, kurzum: könnten nicht schon solche, gleichsam auf der Hand liegende Be-
funde genügen, um der Strafandrohung einschließlich ihrer zu erwartenden Verhän-
gung einen – und sei es auch nur begrenzten und durch informelle Mechanismen so-
zialer Kontrolle zu ergänzenden52 – Effekt zu attestieren, und zwar sowohl in ab-
schreckender als auch in normstabilisierender Richtung?
8. Spezialprävention
Ist mit Spezialprävention „die Einwirkung auf einen Straftäter mittels strafrecht-
licher Sanktionen“ gemeint,53 so hebt sie sich von der Generalprävention in zweierlei
Hinsicht ab: Während diese primär an die Allgemeinheit gerichtet ist und insoweit
vor allem zukunftsgerichtet zur Legitimierung der gesetzlichen Strafandrohung
dient, ist Adressat der Spezialprävention der einzelne Straftäter, und zwar einerseits
eher rückwärtsgewandt, da an eine bereits begangene und abgeurteilte Tat anknüp-
fend und demzufolge mehr für die richterliche Strafverhängung bedeutsam, anderer-
seits aber auch vorwärtsgewandt, da durch Einflussnahme auf den Verurteilten auf
die Verhinderung künftiger Straftaten ausgerichtet. Dieses Ziel lässt sich nach Al-
brecht in drei Ansätzen verfolgen: indem die Erinnerung an die erlittene Strafe als
49
Albrecht 1994, 63 f.; 1995, 17 f.; 2001, 305; 2008, 141; vgl. aber auch Albrecht 1980, 9 –
mit Verweis auf Popitz – zu der für die Integrationsfunktion nicht unwesentlichen Rolle des
Dunkelfelds und der nur selektiven Verhängung von Freiheitsstrafe.
50
Albrecht 1993, 158 ff.; vgl. allerdings auch Albrecht 1994, 67 ff. zu präventiven Folgen
von Strafrecht und Strafe, bzw. 1980, 37 zum Mangel an empirischen Untersuchungen zur
Geldstrafe.
51
Albrecht 2013; zu meiner eigenen Verwerfung der Todesstrafe vgl. Eser 1995, 17 ff.;
2007, 2435 f.
52
Vgl. oben zu Fn. 33.
53
Albrecht 1995, 16.
552 Albin Eser
Warnung dienen soll, indem der Verurteilte durch Erziehung, Behandlung oder Re-
sozialisierung eine Besserung erfahren soll, und indem Prävention durch Sicherung
und Abschreckung erreicht werden soll.54 Insofern hat auch die Spezialprävention
eine positive und eine negative Zielsetzung, sodass Albrecht, ohne allerdings die der-
art differenzierende Kennzeichnung zu verwenden, auch von Spezialprävention in
„rehabilitativem und abschreckendem Sinn“ sprechen kann.55
Von diesen spezialpräventiven Zielsetzungen haben insbesondere die verfas-
sungs- und menschenrechtlichen Grundlagen der Resozialisierung seine eindringli-
che Aufmerksamkeit erfahren.56 Ausgehend von der wegweisenden Entscheidung
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der durch eine lebenslange Frei-
heitsstrafe ohne Entlassungsmöglichkeit den Art. 3 der EMRK verletzt sah57 – wobei
er sich nicht zuletzt auf die bereits vorausgegangene Rechtsprechung des Bundesver-
fassungsgerichts stützen konnte, wonach ein Straftäter „die Chance erhalten (müsse),
sich nach Verbüßung der Strafe wieder in die Gemeinschaft einzuordnen“58 –, ver-
mag Albrecht in dem damit eingeräumten „Anspruch auf Resozialisierung“59 keinen
direkt durchsetzbaren rechtlichen Anspruch zu erblicken, könne ein solcher doch
nicht einmal ansatzweise in Form von die Resozialisierung sicher herbeiführenden
Programmen und Maßnahmen konkretisiert werden.60 Auch im Europa- und Völker-
recht, wenngleich am Ziel der Befähigung zu einem selbstverantwortlichen Leben
und an der Wiedereingliederung orientiert, sei „kein ausdrücklich anerkanntes
Recht auf Resozialisierung“ zu finden.61 Gleichwohl verlange aber das aus den Frei-
heits- und Persönlichkeitsrechten der Art. 1 und 2 des Grundgesetzes entnommene
Bild eines „freien und zu selbstverantwortlichem Handeln fähigen Menschen“ –
und somit über bloßen „Schutz vor indoktrinierender Behandlung“ hinaus – „eine
Gestaltung des Vollzugs, die die noch vorhandenen Fähigkeiten zu selbstverantwort-
lichem Handeln nicht über das durch die Freiheitsentziehung notwendigerweise be-
dingte Maß hinaus beeinträchtigt, ferner eine Gestaltung, die den Erhalt und die Ent-
wicklung dieser Fähigkeiten fördert“.62
Was die Effizienz spezialpräventiver Bemühungen betrifft, waren wegen des dies-
bezüglichen Mangels an empirischen Untersuchungen63 keine belastbaren Befunde
54
Albrecht 1995, 16.; vgl. auch Albrecht 1994, 65 f., wo zwischen Abschreckungs-, Re-
habilitations- und Sicherungsprävention differenziert worden war.
55
Albrecht 1980, 13; vgl. auch Albrecht 1994, 65.
56
Albrecht 2015b.
57
EGMR, Urteil vom 9. Juli 2013 – Vinter v. Vereinigtes Königreich, Az. 66069/09, 130/
10, 3896/10.
58
BVerfGE 98, 169 (200).
59
BVerfGE 45, 187 (239).
60
Albrecht 2015b, 26.
61
Albrecht 2015b, 31 ff.
62
Albrecht 2015b, 27.
63
Vgl. Albrecht 1980, 32 ff., 43 f.; 1994, 66 ff., 156 ff., 475 ff.
Straftheorien – reflektiert aus der Sicht von Hans-Jörg Albrecht 553
9. Strafzumessung
Wie bereits angedeutet, sind die für die gesetzliche Strafandrohung wesentlichen
Straftheorien nicht ohne weiteres mit den für die richterliche Strafverhängung maß-
geblichen Strafzumessungstheorien gleichzusetzen,vielmehr bleibt mit Albrecht zu
fragen, „was aus einzelnen Straftheorien an Strafzumessungstheorien bzw. für die
Konkretisierung der Strafe im Einzelfall abgeleitet werden kann“.68 Demzufolge
werden diese Theoriekomplexe zwar noch nicht in seiner Strafzumessung bei Geld-
strafen, wohl aber zur schweren Kriminalität jeweils eigens behandelt.69
Der demnach erforderlichen Differenzierung wird allerdings dadurch eine be-
stimmte Richtung vorgegeben, dass nicht einfach allgemein nach der Geeignetheit
bestimmter Strafzwecke für die Strafzumessung gefragt wird, sondern dass „die
Frage nach der Erklärung und Begründung von Unterschieden im Strafmaß und in
der Strafart, also die Strafmaß- und Strafartdifferenzierung“ im Mittelpunkt von Al-
64
Vgl. Eser 1974.
65
Albrecht 1994, 3.
66
Albrecht 2015b, 39.
67
Albrecht 2015a, 8, 18; 2016, 91 ff.; 2017, 195 ff.; vgl. auch oben zu Fn. 38.
68
Albrecht 1994, 37.
69
Albrecht 1994, 23 ff. bzw. 37 ff.
554 Albin Eser
70
Albrecht 1994, 1 (Hervorhebungen bereits im Original). Dazu wäre es interessant zu
erfahren, ob sich aus seiner neuerlichen Feststellung, dass die Strafzumessungsforschung vor
allem in den 1970er und 1980er Jahren von der Frage nach Ungleichheit oder Ungleichmä-
ßigkeit umgetrieben werden sei (Albrecht 2017, 185), herauslesen ließe, dass er heute einem
solchen Forschungsvorhaben geringere Priorität einräumen würde.
71
Albrecht 1994, V, 1, 5 f., 10 f., 16, 471, 492 ff. und passim.
72
Albrecht 1994, 16.
73
Albrecht 1994, 37 ff.
74
Albrecht 1994, 23 (Hervorhebungen bereits im Original).
75
Albrecht 1994, 37 ff., 52.
76
Albrecht 1994, 41 ff., 52.
Straftheorien – reflektiert aus der Sicht von Hans-Jörg Albrecht 555
als vorteilhaft betrachtet, dass darin die Vermischung von spezialpräventiven, gene-
ralpräventiven und Schuldgesichtspunkten aufgegeben werde, ohne dass aber damit
die in der Konkretisierung der Strafhöhe selbst liegende Unbestimmtheit und Offen-
heit gelöst werde.77 Auch die „Theorie der Tatschuldvergeltung“ sei schon von ihrem
Ansatz her verfehlt, weil sie, da generalpräventive und spezialpräventive Zweckset-
zungen als illegal kennzeichnend, wieder „hinter den Paradigmawechsel von der Be-
gründung des Strafrechts durch Vergeltung hin zu Strafrechtsbegründung durch
Rechtsgüterschutz“ zurückfalle – ganz abgesehen von dem praktischen Problem,
dass „Schuldquanten nicht einfach in Strafquanten umgerechnet werden könnten“.78
Der in verschiedenen Varianten beleuchteten „Theorie positiver Generalprävention“
wird, soweit mit Strafe Normgeltung auf Kosten des Straftäters demonstriert werden
soll, richtungweisende Bedeutung für die Strafzumessung abgesprochen.79 Sofern
man von einer durch Prävention und Schuld getragenen Strafe ausgehe und es
damit im Wesentlichen um „die durch Gerechtigkeitserwägungen gebremste sozial
nützliche Strafe“ gehe, stelle sich die letztlich nicht beantwortbare Frage nach einer-
seits begrenzenden und andererseits konkretisierenden Kriterien.80
Damit verbleibt schließlich als einzige Theorie, die Albrecht zu akzeptieren ver-
mag, die „Tatproportionalitätstheorie der Strafzumessung“.81 Ausgehend vom prä-
ventiven Paradigmawechsel in der Strafrechtsbegründung und der auf eine strafbe-
grenzende Funktion reduzierten Schuldkategorie, sei das Strafmaß unrechtszentriert
am objektiven Umfang der Rechtsgutverletzung auszurichten, mit dem sich daraus
ergebenden Vorteil, dass die Strafzumessung von den grundsätzlich nicht lösbaren
Problemen der validen und verlässlichen Erfassung von Persönlichkeitsmerkmalen
entlastet werde,82 wobei von der Zurechnung des strafbaren Verhaltens nur dasjenige
als Grundlage für die Strafzumessung dienen dürfe, was vom Verschulden erfasst
wird.83
Was die Brauchbarkeit der Tatproportionalitätstheorie für die Konkretisierung
und die für das Untersuchungsziel relevante Gleichmäßigkeit und/oder Differenzier-
barkeit der Strafzumessung betrifft, besteht freilich, wie von Albrecht im Zuge seiner
vornehmlich kriminalitätstheoretischen Folgenorientierung im Grunde selbst einge-
räumt,84 kein Anlass für hohe Erwartungen. Soweit einerseits dadurch, dass mit der
Tatproportionalitätstheorie das Unrecht ins Zentrum der Strafzumessung gerückt
wird, ein objektiv leichter operationalisierbarer Maßstab zu erlangen ist, wird dies
77
Albrecht 1994, 43 f., 52.
78
Albrecht 1994, 44 ff., 53; vgl. dazu auch schon Albrecht 1980, 13, 24.
79
Albrecht 1994, 47 f.
80
Albrecht 1994, 49 f.
81
Albrecht 1994, 50 ff.
82
Albrecht 1994, 53, 498 f.
83
Albrecht 1994, 51, 53. Vgl. auch Albrecht 1995, 16, wonach einem nur durch Präventi-
onsziele begrenzten Ausmaß der Strafe der Schuldgrundsatz entgegenstehe.
84
Albrecht 1994, 57 ff.
556 Albin Eser
andererseits mit einem Verzicht auf die – meines Erachtens schwerlich zu entbehren-
de – Berücksichtigung der Persönlichkeit des Täters erkauft. Und soweit durch Be-
schränkung des Schuldelements auf eine strafbegrenzende Funktion mehr Freiraum
für die Berücksichtigung präventiver Strafzwecke gewonnen wird, ist dieser kaum
auszunutzen, wenn weder generalpräventive noch spezialpräventive Bedürfnisse
hinreichend quantifizierbar seien, um als Basis für die Strafzumessung zu dienen,85
und somit insgesamt festzustellen sei, „dass spezial- oder generalpräventive Zweck-
erwägungen zur Konkretisierung von Strafe nicht verwendet werden können“.86
Nach diesem ernüchternden Resümee – so jedenfalls hinsichtlich der Strafzumes-
sung, wenn auch weniger der Strafandrohung, wird diese doch generalpräventiv für
hinreichend legitimiert befunden87 – fällt es schwer, eine gleichermaßen konsistente
und operationalisierbare Konzeption staatlichen Strafens noch für möglich zu halten.
Doch trotz aller Bedenken bleibt Beschäftigung mit Strafrecht nicht denkbar, ohne
sich über den Sinn der Strafe – und sei dies auch ohne Anspruch auf letzte Kohärenz –
Gedanken gemacht zu haben und bei der Behandlung strafrechtlicher Themen davon
leiten zu lassen. In diesem Sinn sei abschließend man eigenes Strafverständnis kurz
vorgestellt.
90
Vgl. dazu auch Eser 1995, 5 ff.
91
Eingehend zur Resozialisierungsproblematik Eser 1974, 508 ff.
92
Näher zu dieser mich schon seit längerem beschäftigenden Reintegrierung der Restitu-
tion in das Strafrecht Eser 1969, 116 ff.; 1990, 2 f., 348, 350 f., 395 f. 399; 1995, 8, 13; 1996,
1020 ff., 1023; 2000, 175 ff.
93
Eser 2000, 177. In diesem Sinne wäre die zu einer Separierung von privatrechtlicher
Restitution und strafrechtlicher Sanktionierung führende Auseinanderentwicklung von Zivil-
und Strafverfahren ebenso wie die entindividualisierende Vergeistigung des Rechtsgutsbe-
griffes auf Kosten des konkreten Opfers zumindest teilweise rückgängig zu machen. Näher zu
diesen beiden, aufgrund von Überspitzungen kontraproduktiven Fehlentwicklungen Eser
1995, 10 ff., 13 ff.; 1996, 1006 ff., 1020 ff.; 2000, 175 ff. Auch bei Albrecht (2008, 132 ff.)
findet sich die das betroffene Individuum zugunsten des Staates verdrängende Tendenz im
Sinne einer Transformation von einem „Unrecht an einer Person“ zu einem „Unrecht an der
Gesamtgesellschaft“ angesprochen; dies jedoch in einer die Wiedergutmachung eher abwer-
tenden Richtung, indem ihr die Geeignetheit, im Sinne von Diversion die Strafe zu ersetzen,
abgesprochen wird, während es in dem hier gemeinten Sinne gerade umgekehrt darum geht,
die Wiedergutmachung als wesentliche Voraussetzung sinnerfüllenden Täter-Opfer-Aus-
558 Albin Eser
Viertens: Hinsichtlich seiner Form und Ausgestaltung findet das Strafrecht so-
wohl an der Unantastbarkeit der Menschenwürde als auch durch das Übermaßverbot
eine Grenze. Das ist nicht nur für das Maß der generalpräventiven Erforderlichkeit
bei der Strafandrohung und Strafverhängung von Bedeutung, sondern auch für die
Art der spezialpräventiven Einwirkung auf den Täter durch die Strafverhängung
und deren Vollzug. Dementsprechend muss auch die Strafe den Täter in seiner selbst-
verantwortlichen Persönlichkeit unangetastet lassen und sich darauf beschränken,
seine Eigenkräfte zu rechtsloyaler Sozialisation zu wecken und zu fördern. Das
hat nur dort Aussicht auf Erfolg, wo der Verurteilte das ihm auferlegte Übel als sinn-
voll, tat- und schuldgerecht empfinden kann. Insofern hat das Schulderfordernis
nicht nur eine verurteilungsbegründende sondern auch strafbegrenzende Funktion.94
Insgesamt betrachtet begründet sich somit die Legitimation staatlichen Strafens
aus dem Abwehrrecht der Gesellschaft, in Art und Maß beschränkt durch die Ach-
tung der Menschenwürde und das an gerechtem Schuldausgleich ausgerichtete Über-
maßverbot. Für die verschiedenen Straftheorien bedeutet das, dass keiner der tradi-
tionellen Aspekte, seien sie absoluter Art wie Sühne und Vergeltung um höherer Ge-
rechtigkeit willen oder in relativem Sinne präventiven Zwecken dienend, verabsolu-
tiert werden darf, sondern jeder auf seine Weise zur Sinnerfüllung der Strafe
beizutragen hat. Dies jedoch weniger in einem schlicht additiven Verfahren95 als viel-
mehr in Form einer integrativen Verschränkung: indem den verschiedenen Strafzwe-
cken und Bestrafungsgrenzen je nach Strafandrohungs-, Strafverhängungs- oder
Strafvollzugsebene eine mehr oder weniger maßgebliche Funktion zukommt.
11. Schlussbemerkung
Sicherlich wären im reichhaltigen kriminalwissenschaftlichen Schrifttum von Al-
brecht noch weitere Aussagen zu finden, die straftheoretisch von Belang sein könn-
ten. Vermutlich würden diese auch ähnlich reserviert bis kritisch ausfallen, wie es
sich in der hier berücksichtigten Auswahl gezeigt hat. Für eine solche Zurückhaltung
gibt es jedoch durchaus gute Gründe: so vor allem aus der Sicht eines Kriminologen,
der mit seinem empirischen Instrumentarium manche normativ unanfechtbar er-
scheinenden Straftheorien einem Praxistest unterworfen hat, den sie nicht bestanden
haben. Für dieses stets aufklärerische Engagement, von dem nicht zuletzt ich selbst in
gemeinsamer Direktorenzeit am Max-Planck-Institut immer wieder profitieren
konnte, gebührt dem verehrten Jubilar aufrichtiger Dank, verbunden mit der Hoff-
nung, dass ihm noch viel Zeit und Kraft für weiteres Forschen verbleiben möge.
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The Twilight of Capital Punishment
By William Schabas
Every five years, for half a century, the United Nations Secretary-General has pub-
lished a report on the global status of capital punishment. The latest of the quinquen-
nial reports, issued July 2020, describes an unrelenting trend towards the abolition of
the death penalty throughout the world. According to the Secretary-General, only 31
states continue to impose capital punishment, and several of these states do so only
occasionally.1 Most of these retentionist states manifest declines in the number of
crimes subject to the death penalty, reductions in the overall numbers of those
being sentenced to death and executed, and various procedural reforms, all testifying
to the fact that they are actually part of the trend towards abolition. Of the 168 states
described as abolitionist by the Secretary-General, with rare exceptions the commit-
ment appears irreversible. Only in exceptional and indeed quite unique circumstan-
ces do states that have abolished the death penalty in law or passed a period of ten
years without actually carrying out an execution reverted to the practice. For the over-
whelming majority of states, the movement is in only one direction.
The first of the Secretary-General’s quinquennial reports actually covered only
two years. That was because of an earlier report presented to the Economic and Social
Council on the situation as it stood in 1972.2 According to that initial report, publish-
ed in 1975, the first abolition of the death penalty by any country had taken place in
1863. Since that date, only 22 states had removed capital punishment from their crim-
inal law. The report said that seven countries had abolished the death penalty subse-
quent to the signing of the Charter of the United Nations. As of 1975, only nine mem-
ber states of the United Nations were fully abolitionist in law. Some 23 were consid-
ered abolitionist “by custom”, meaning that although their laws provided for capital
punishment they had not executed anyone or sentenced anyone to death for at least 40
years. This was compared with 101 states where the death penalty was retained, al-
though the report added that the total number of offences for which it could be im-
posed had been declining progressively in many parts of the world.3
The first of the quinquennial reports was skeptical about the existence of any trend
towards abolition of the death penalty.4 The second report, issued in 1980, said the
1
Capital punishment and implementation of the safeguards guaranteeing protection of the
rights of those facing the death penalty, UN Doc. E/2020/53, para. 6.
2
Capital punishment, UN Doc. E/5242 and Add.1.
3
Capital punishment, UN Doc. E/5616, paras. 18 – 19.
4
Capital punishment, UN Doc. E/5616, para. 48.
562 William Schabas
situation was “relatively unchanged” over the five-years since the first report.5 Ac-
knowledging “a small increase in the number of abolitionist countries”, the report
said this was “not sufficient to allow for the optimism envisaged by the United Na-
tions”.6 The 1980 report counted 119 retentionist states and 34 abolitionist states.7
The conclusions of the third report, published in 1986, were similarly ambivalent,8
yet the numbers it provided actually told a more positive story: there were 120 reten-
tionist states to 50 abolitionist states.9 The fourth report, issued in 1990, recognized
that the data in the third report “showed that the movement towards abolition had
progressed somewhat”.10 According to the 1990 report, there were 77 countries
that had abolished the death penalty in law or in practice as opposed to 92 that re-
tained it.11 Unquestionable, then, by 1985 there was a discernable trend towards abo-
lition, something that all of the subsequent quinquennial reports have confirmed.
soon adopted with respect to the International Covenant on Civil and Political Rights
and the American Convention on Human Rights.
A process of judicial innovation accompanied the adoption of the new treaties, as
judges found interpretative techniques whereby the perverse exception of capital
punishment to the sacred principle of the right to life was narrowed. The first
major development in this area involved a German national charged with a murder
in the United States who had fled to the United Kingdom. There, he obtained a ruling
from the European Court of Human Rights whereby extradition to the United States
was conditional on an undertaking that capital punishment not be imposed.12 That
judgment, issued in 1989, resisted the view that the reference to capital punishment
in Article 2(1) of the Convention should be deemed to be archaic and therefore in-
operative. It would take another quarter of a century for the European Court to take
that step. In Al Nashiri v. Poland, the European Court of Human Rights wrote that “[j]
udicial execution involves the deliberate and premeditated destruction of a human
being by the state authorities”.13
The 2020 quinquennial report of the Secretary-General says there are now 109
states that have assumed international legal obligations that prevent them from rein-
stating capital punishment. Besides counting the states parties to the abolitionist pro-
tocols of the three human rights systems, numbering about ninety, the Human Rights
Committee also considers that states parties to the International Covenant on Civil
and Political Rights that have also abolished the death penalty through domestic leg-
islation are prevented by the Covenant from returning to the practice. Several states
fall into this category: Brazil, Burkina Faso, Burundi, Cambodia, Chad, Côte
d’Ivoire, Fiji, Gambia, Guatemala, Guinea, Israel, Kazakhstan, Peru, Russian Feder-
ation, Samoa, Senegal, Suriname and Vanuatu. During the survey period, as men-
tioned above, there were initiatives in four abolitionist States to re-introduce the
death penalty.14
The conclusion that abolitionist states that have ratified the International Cove-
nant but not the Second Optional Protocol as being found at international law not
to reinstate capital punishment is premised upon an interpretation of Article 6(2)
of the Covenant by the United Nations Human Rights Committee in General Com-
ment 36, adopted in November 2018.15 As in the case of the European Court, the
Human Rights Committee was required to depart from earlier precedent in adopting
a progressive interpretation of the text, informed by evolution in state practice. A pe-
12
Soering v. United Kingdo’m, 7 July 1989, Series A no. 161.
13
Al Nashiri v. Poland, no. 28761/11, 24 July 2014, paras. 576 – 577. Also Al Nashiri v.
Romania, no. 33234/12, 31 May 2018, paras. 726 – 727.
14
Capital punishment and implementation of the safeguards guaranteeing protection of the
rights of those facing the death penalty, UN Doc. E/2020/53, para. 51.
15
General comment No. 36 (2018) on article 6 of the International Covenant on Civil and
Political Rights, on the right to life, UN Doc. CCPR/C/GC/36, para. 34.
564 William Schabas
16
Question of the death penalty, UN Doc. A/HRC/39/19, paras. 12 – 15.
17
Letter from Chairperson Yuji Iwasawa to Ambassador Maria Teresa T. Almojuela (27
March 2017).
The Twilight of Capital Punishment 565
18
Amnesty International, Death Sentences and Executions, 2018, 48.
19
Amnesty International, Death Sentences and Executions, 2018, 49.
566 William Schabas
To the extent that there is any return to the death penalty by de facto abolitionist
states, the results will necessarily vary depending upon the time frame that is adopted.
The selection of ten years without an execution is somewhat arbitrary. The early re-
ports by the Secretary-General suggest that a much longer period, of 40 years, was
considered prudent. In the 2010 report, the Secretary-General examined patterns
since the first of the quinquennial reports in order to assess whether any States in
the de facto category reverted to capital punishment. A comparison of the 2000 report
with the 1995 report shows that seven of the 30 de facto abolitionist States resumed
executions. But the rate of resumption declined in the next five-year period, with only
three of the 38 states that were de facto abolitionist returning to the practice of capital
punishment.20 For the next quinquennium, none of the states deemed de facto abo-
litionist in the 2000 report had undertaken executions in the five years that followed.21
In the 2015 report, the Secretary-General noted that one state deemed abolitionist
de facto in 2010 had subsequently conducted executions.22 The Gambia, which had
not conducted executions since 1988, reverted to the practice in 2012 but then sub-
sequently confirmed that a moratorium was in place. The Gambia is the only de facto
abolitionist state to have resumed capital punishment in more than a decade. If noth-
ing else, this confirms the utility of a ten-year test for de facto abolition. It now seems
to be about as unlikely that a state that has been without an execution for a decade will
ever resume the practice as it is that a state that has become de jure abolitionist will do
so.
It is not without interest to note that prior to the 2012 executions Amnesty Interna-
tional considered The Gambia to be de facto abolitionist.23 Moreover, after the 2010
debate in the General Assembly on the moratorium resolution, The Gambia noted
that although it had been recorded as voting against the resolution, it had actually
intended to abstain.24 In other words, Amnesty International’s subjective test, by
which states are deemed to be retentionists if they are not “believed to have a policy
or established practice of not carrying out executions”,25 does not seem to provide any
additional value in predicting whether or not a state will resume the practice of capital
punishment.
The differences in approach of the Secretary-General and Amnesty International
recall the familiar metaphor of the glass that is either half-full or half-empty. Amnes-
ty International’s approach may shame states that have not made an ideological com-
20
Capital punishment and implementation of the safeguards guaranteeing protection of the
rights of those facing the death penalty, UN Doc. E/2005/3, para. 21.
21
Capital punishment and implementation of the safeguards guaranteeing protection of the
rights of those facing the death penalty, UN Doc. E/2010/10, para. 22.
22
Capital punishment and implementation of the safeguards guaranteeing protection of the
rights of those facing the death penalty, UN Doc. E/2015/49, para. 13.
23
Amnesty International, Death sentences and executions in 2011, 58.
24
Amnesty International, Death sentences and executions in 2010, 52 fn. 50.
25
Amnesty International, Death Sentences and Executions, 2018, 49.
The Twilight of Capital Punishment 567
Conclusions
The first quinquennial report, which failed to sense any trend in state practice, sug-
gested that “[p]eriods of abolition or non-use may be succeeded by widespread ex-
ecutions in a highly unstable political situation or by a sudden return to the death pen-
alty as a sanction where a state feels insecure”.26 That observation has proven to be
unfounded. The 2020 report of the Secretary-General provides confirmation that the
trend towards both reduction of use of the death penalty and its abolition is constant
and inexorable, and is apparently largely immune to other developments in global
politics.
In the 1970s, when the United Nations began its periodic reporting mechanism on
capital punishment the phenomenon would have seemed to many as a necessary com-
ponent of the criminal justice system. Some were more clairvoyant, and optimistic,
about the evolution of law and practice respecting criminal punishment. Writing in
the late 1950s, Albert Camus said that “[d]ans l’Europe unie de demain (…) l’abo-
lition solennelle de la peine de mort devrait être le premier article du Code européen
que nous espérons tous.”27
Even earlier, when the Universal Declaration of Human Rights was being drafted,
Eleanor Roosevelt urged that there be no reference to capital punishment in the right
to life provision because there was a movement underway in some states to abolish
the death penalty.28
Prediction is very difficult, especially if it is about the future, said Niels Bohr. But
if the past is any guide, the number of retentionist states will continue to decline, year
on year, quinquennium on quinquennium, until the practice of state-sanctioned mur-
26
Capital punishment, UN Doc. E/5616, para. 48.
27
Camus, A. (1979): Réflexions sur la guillotine, in: A. Koestler & A. Camus, Réflexions
sur la peine capitale. Paris, 176.
28
U.N. Doc. E/CN.4/AC.1/SR.2, p. 10.
568 William Schabas
der as a component of criminal justice will disappear. There will almost certainly be
another quinquennial report in 2025 and probably in 2030. Moving forward from
there, it is more difficult to have any certainty. In the fifty years since the quinquen-
nial reports have been issued by the Secretary-General, the number of abolitionist
states has increased by a multiple of more than five, while the list of retentionist states
is about a quarter of what it was. At some point, sooner rather than later, the United
Nations will stop producing reports about the practice of capital punishment because
there will be nothing left to write about.
Contemporary Death Penalty Issues in China
By Liling Yue
1
Ning 1986, 64 – 65. In this book, the author believes that, in the middle of Shun Yu time,
there was a reform of punishments which included the death penalty, after which the only
execution method that remained was cutting the throat.
2
Hu 1985, 27 – 28.
3
The five punishments were listed in the Yu Xing as: Tattooing (mo), amputation of nose
(yi), amputation of legs (fei), castration (gong), and the death penalty (dapi). See Mühlhahn
2009, 29.
4
Hu 1995, 42.
5
In this form of execution, the executioner makes a number of cuts with a knife upon the
offender, with the final cut consisting of cutting off the head. See Mühlhahn 2009, 32 – 34.
570 Liling Yue
In 1949, the Communist Party (CP) led by Mao Zedong, won the Civil War, and
the People’s Republic of China (PRC) was founded. In the following years, the Gov-
ernment and the CP faced significant challenges of social transformation. The Na-
tionalist (guo min dang, GMD) laws were totally abolished and the legal institutions
were firstly shut down and then later slowly replaced by the new Government’s ad-
ministration. The new Government then started to build a new legal system. However,
the tasks of consolidation of its rule and maintaining order were time and resource
consuming. Although the Government planned to introduce several new codes quick-
ly, it took some time to finalize the first codes. For example, in 1950, an Outline of a
new Criminal Law was drafted, which carried 35 statutory offences eligible for the
death penalty. However, this Outline never came into force. In order to meet require-
ments coming up during the social transformation, several rules, regulations and res-
olutions have been adopted. Among those regulations, two played an important role
for the criminal justice system: One concerned a Regulation on Punishing Counter-
Revolutionary Activity (1951), consisting of 11 counter-revolutionary offences all of
which were eligible for the death penalty. On the basis of another Regulation on
Counter-corruption, the death penalty was also applicable for economic offences.
In 1954, a Draft Guideline of Criminal Law was presented. This Guideline is similar
to the Outline of Criminal Law of 1950. 31 offences were eligible for the death pen-
alty. This Draft Guideline, however, didn’t become law either. According to the
above mentioned regulations, the death penalty could be imposed for most of so
called “counter-revolutionary crimes”,6 such as the crime of betraying the mother-
land, the crime of assembling others to rebel with arms, the crime of plotting rebel-
lion, espionage crimes, the crime of supplying arms and ammunition or other military
materials to an enemy, the crime of utilizing superstitious sects, secret society, and
evil religious organizations to commit counter-revolutionary offenses, the crime of
counterfeiting money, the crime of graft and bribery, etc. Besides the above-men-
tioned offences eligible for the death penalty, in practice, courts imposed the
death penalty for conventional crimes as well, such as intentional murder, intentional
assault and rape, serious theft, etc.7 That means, by that time, courts imposed the
death penalty not only on the basis of formal regulations but also based on criminal
policies.8 This situation remained until the end of the Cultural Revolution. During
this period, the legislative work was interrupted by political fights. Since the 1954
Draft Guideline of Criminal Law 33 versions of the Criminal Code have been pub-
6
Gao 2004, 23.
7
See the Supreme People’s Court (SPC) report of 1956 where the criminal offences and the
punishments were listed. This report has been included in the Judicial Interpretation of the
SPC of 1994. See also, Gao 2004, 23 – 24.
8
The policy has been expressed as “Balancing leniency with severity” ( , kuan yan
xiang ji). See also Gao 2004, 24.
Contemporary Death Penalty Issues in China 571
lished.9 At the end of the Cultural Revolution, the legislative discussions were based
on the 33th version of Criminal Law. Finally, in 1979, the first Criminal Code Book
(CCL) was enacted which came into force in January 1, 1980.
The 1979 Criminal Code Book (CCL) was based on former drafts of criminal law.
As regards death penalty issues it still remained strongly influenced by a political
character. However, main principles of international treaties with respect to the
death penalty were respected in this law. So, for example, the law provided that
the death penalty should only be applied to the most serious crimes (Art. 43 of the
1979 Criminal Code). The law also introduced a two years suspension of execution
(Art. 43)10 ; this is not considered an independent punishment, but a special way of
application of the death penalty. The suspended death penalty has played a significant
role in reducing immediate execution. According to the 1979 Code, the final review
power concerning the death penalty belonged to the Supreme People’s Court (SPC)
(Art. 43). It helped the SPC to apply a consistent standard on the death penalty in the
whole of China. The law also provided that the death penalty should not be applied to
juveniles who were under 18 at the time of commission of the crime, and that it is also
not to be applied to women who are pregnant at the time of trial (Art.44). However,
the same articles of the law left the possibility to impose the death penalty suspended
on juveniles whose age was between 16 and 18 when committing a particularly grave
crime. The most critical problem in the 1979 Criminal Code concerns the list of of-
fenses eligible for the death penalty. In the 1979 Code there were a total of 28 such
offences11, with some 15 of those offences falling into the category of “counter-rev-
olutionary” crimes. Some scholars made positive comments and argued that those
offences were properly chosen to carry the death penalty.12 However, other scholars
recognized that in comparison with other countries’ criminal laws, the offenses eli-
gible for the death penalty were too numerous.13
Since the fall of the so-called “Gang of Four”, Chinese society has rapidly devel-
oped. However, right after the enactment of the 1979 CCL, the legislative organ and
the Government recognized that in the early 1980s the law hardly followed the rapid
changes and a new crime situation. They felt that more comprehensive regulations
9
Gao 2002, 44.
10
With this penalty, the sentence can be reduced to life imprisonment if the offender will
not commit serious crimes within two years.
11
Prof. Gao Ming Xuan counted 27 offences, see Gao 2004, 24.
12
Ma 1985.
13
Lei 2009, 345.
572 Liling Yue
were needed to deal with new types of crime and the need to suppress the rise of crim-
inality. During this period, more than 23 special regulations related to criminal law
have been adopted. For example, in 1981, The Standing Committee of the National
People’s Congress (NPC) adopted PRC Provisional Regulations on punishing mili-
tary personnel for violation of duty, through which 13 additional offences were made
eligible for the death penalty. In 1982, The Decision regarding the severe punishment
of criminals who seriously sabotage the economy added further 7 statutory offences
which carried the death penalty. In 1983, the campaign of “Striking Hard” (yan da)
started, the Decision regarding the severe punishment of criminals who seriously en-
danger public security added another 10 offences for which death penalty could be
applied. There were other regulations with each one adding one to three death penalty
offences. In the series of regulations, a total of 54 offences14 for which capital punish-
ment can be applied were added, whereas in the meantime five such offences were
removed. Altogether, 49 new offences provided then for the death penalty. If these
offences are added to the 28 death penalty eligible offenses originally provided in
the CCL, there were then a total of 77 criminal offenses for which capital punishment
could be imposed.15 By that time, from an international perspective, there were only
17 countries that had criminal statutes which have assigned various forms of non-vi-
olent economic crimes as capital crimes.16 According to this trend, in the authors’
view, Chinese criminal law does not provide for a proper choice of criminal offences
for which the death penalty can be applied. Although there were debates on the crim-
inal justice policies related to the death penalty, top criminal law scholars hold the
view that during that period the death penalty had been strengthened significantly.17
China signed the International Covenant on Civil and Political Rights (hereafter
ICCPR) on 5 October 1998. This political act has proved the Chinese Government’s
willingness to enter into commitments towards the protection of human rights in the
State with the planet’s biggest population. However, until now the National People’s
Congress, i. e., the responsible legislative organ, has not yet ratified the ICCPR, and
there is no official explanation about the reasons of not ratifying the ICCPR. Some
scholars hold the belief that the death penalty issue is one of the most difficult sub-
jects in the ratification process because of the legal and practical situation of the death
penalty in China. It is argued that the vast number of death penalty crimes need to be
14
Some scholars adopted a different way to account for that and said it were 50 offences.
See also Hu 1999, 202.
15
Ma 1995, 119.
16
Hood 2004, 80 – 81.
17
Zhao 2001, 86 – 87.
Contemporary Death Penalty Issues in China 573
removed before the ratification can be realized in the future.18 The author also be-
lieves that it would not be a proper way to make too many reservations when
ICCPR will be ratified.19
As regards public awareness on ICCPR and attitudes towards the death penalty,
the outcome of a survey was, on the one hand, not so promising, but, on the other
hand, also not too disappointing. The survey has shown that 36.2% of the respondents
answered that they had heard about the ICCPR,20 but when they were asked about
their attitude towards restricting the application of the death penalty to the most seri-
ous crimes, almost half of the respondents (49%) held the view that the Government
should follow the UN proposal.21 This can be interpreted as a positive development
seen from the perspective of proponents of a reduction of the scope of the death pen-
alty in China.
In China, both legal scholars and practitioners play a most important role in car-
rying out research on death penalty issues. In practice, a slow progress in reducing the
application of the death penalty was observed. Since the ICCPR was signed, research
in China on the gap between UN standards and Chinese criminal law continues. The
starting point was a domestic survey on public opinion toward death penalty that was
conducted by scholars and research institutes. The earliest survey had been carried
out by the Law Institute of the Chinese Academy of Social Science and the National
Bureau of Statistics. The results of the survey show that 95% of the respondents sup-
ported the death penalty. In the report the data have been analyzed and discussed.22
This survey has shown that it will be a long journey to reach compliance with the
expectations of the international community.
Since China’s signature of ICCPR, research on human rights law has been grow-
ing. Legal scholars started to do research on international human rights law of which
the right to life and death penalty issues are essential parts.23 From the key publica-
tions we can learn that some of the leading scholars already have a deeper knowledge
on international human rights law. Although in the Chinese Constitution there are no
provisions which directly provide the right to life, the death penalty is discussed in the
18
Hu 1999, 285 – 288.
19
Yue 2007, 2.
20
Oberwittler & Qi 2009, 24.
21
The question was: “Do you think that China should follow the proposal of UN or should
China not follow?” See Oberwittler & Qi 2009, 23.
22
The survey was carried out in 1995, the report was formally published in the book
written by Hu 1999, 341 – 346. The survey was based on the simple question on “what’s your
attitude towards the death penalty?” The response options have been divided into four cate-
gories: too many [convictions], not too many, proper number, and too few. The research group
received a total of 4,983 answers. 42.2% of respondents think that the death penalty is not
imposed too often, 31.5% say that the death penalty has a proper extent, and 22.5% think that
there are too few death penalties imposed. Counting these three categories together, we can
conclude that 95% of the respondents were supporters of the death penalty.
23
The main works are Xu 2004 and Yue 2007.
574 Liling Yue
scholarly research work from the perspective of the right to life.24 Some legal scholars
explained their recognition by the development of UN’s general attitude toward the
death penalty. They divided the development into three periods: the tacit period
(1948 – 1965), the restriction period (1966 – 1988), and the abolitionist period
(1989–present).25 Chinese scholars’ interpretation and explanation of the UN
human rights treaties have recognized the gap between the UN standards and law
and legal practice in China. The main critiques can be summarized as follows:
(1.) The most critical issue is the question of how to interpret Article 6, section 2
ICCPR which provides that the death penalty may be imposed only for “the most
serious crimes”. The top legal scholars have come to the conclusion that the range
of criminal offences eligible for capital punishment is too broad in China.26 Non-vi-
olent offences, such as economic offences, should not fall under the threat of the
death penalty.27 Some scholars comment in a more detailed way on the “most serious
crime” and argue that political crimes should be excluded from the list and further say
that among violent crimes, raping adult women should also be taken from the list.
However, some other scholars have doubts with respect to the meaning of “political
crimes” and whether the crimes of terrorism and treason should stay as capital
crimes.28
(2.) Top scholars have also recognized the absence of the right to seek pardon or
commutation from the sentence of death penalty in Chinese law. In China’s Consti-
tution, Art. 67 provides the power of the Standing Committee of the NPC to pardon
convicted and sentenced offenders. However, as regards the death penalty, both,
Criminal Law and Criminal Procedure Law haven’t provided standards and proce-
dural details of pardon, and in practice commutation is only applied for defendants
who have been convicted to the death penalty with two years suspension.
As regards regional influences on the development of the death penalty in China,
the European Union (EU) plays a very important role. In 1995, China and the EU
established regular human rights dialogues. Since 1997 these dialogues have been
held twice a year, and more than four times their agenda included the exchange of
ideas on the death penalty. Several research projects on death penalty issues
which have been supported by the EU had in general a very positive impact and con-
tributed to maintaining the process of abolition of the death penalty in China.29
24
Hu 1999, 282 – 284; Xu 2004, 214 – 215; Yue 2007, 13 – 28.
25
Hu 1999, 285 – 288.
26
The details of domestic law issues will be discussed in the following sections.
27
Xia 2005, 66 – 70; Gao & Li 2004, 57 – 61.
28
Xia 2005, 67 – 68.
29
The author participated in three of those human rights dialogues and was also involved in
several research projects.
Contemporary Death Penalty Issues in China 575
In 1997, the legislator started efforts to reform the criminal law by way of amend-
ing the special regulations. In the amendments, the counter-revolutionary offence
statutes were abolished and replaced by crimes of endangering the national security.
In regard to the death penalty policies, in the author’s view, the Chinese legislator is
continuously moving toward the right direction (abolition), but developments are
rather slow. In the General Part of the CCL, the clause according to which juveniles
between 16 and 18 years of age could be sentenced to death with two years suspen-
sion has been deleted. This means that there is no way anymore that would allow to
impose the death penalty on delinquent juveniles under the age of 18. Problems re-
main in the Special Part. On the overall, offences eligible for capital punishment have
been reduced from 77 to 68. However, among these 68 offences, there are still 44
offences of a non-violent nature (i. e., 64.7% of all offences eligible for the death pen-
alty).30 Today there is consensus among legal scholars in China that the starting point
of abolition of the death penalty will be the exclusion of non-violent offenses from the
death penalty.
Since the 1997 amendment of the CCL was enacted, the reform process regarding
the death penalty in China accelerated. The legislator then considered to enter new
ways to reform the CCL. Until now, there were 10 amendments enacted, most of them
related to economic crimes. No further rise of death penalty offences could be ob-
served. In the 8th Amendment,31 13 offences for which death penalty could be applied
in the past have been downgraded to lesser categories of penalties. Those 13 offences
are all of a non-violent nature, such as smuggling, financial fraud and serious theft. In
practice, the death penalty was in fact rarely imposed for these crimes. This reform is
significant as it can be considered to represent a starting point of a systematic removal
of the death penalty from a range of non-violent crimes. Some scholars expect that the
statutory changes would not result in a real reduction, neither of the number of death
penalties imposed nor of the number of executions, but the author believes that this
legislative act is of tremendous importance. The reforms underline the move towards
the reduction of the death penalty and a move towards a clarification and rationali-
zation of the law.
Further efforts are then visible in 2015, when the Ninth Amendment to Criminal
Law removed nine further offences from the death penalty list; among these offences
are serious smuggling, such as the smuggling of weapons, ammunition, nuclear ma-
terials or counterfeit money, and other serious financial fraud. Now there are still 46
offences eligible for death penalty; the list still includes some non-violent offences
30
The CCL consists of a total of 421 statutory offences, among them 358 non-violent
offences. There are debates on the definition of violent and non-violent crimes, see Zhao &
Schabas 2009, 242 – 244.
31
It was enacted in February 2011 and came into force in May 2011.
576 Liling Yue
committed by civil servants. The author thinks that retaining these death penalty of-
fences is influenced by the current anti-corruption movement.
China’s first Code of Criminal Procedure (CCP) was enacted in 1979. Since it first
came into force, three important revisions were passed in 1996, 2012, and 2018. Ac-
cording to the CCP, the jurisdiction of death penalty cases starts at the intermediate
courts.32 If the first instance court comes to impose a death sentence, the convict has
the right to appeal to the higher court. If the higher court does not repeal the death
penalty, the judgment becomes final but the accused shall not be executed yet. The
case has to go through the Supreme People’s Court’s (SPC) final review.
Under the 1979 and 1996 CCP the authority of final review of the death penalty
cases belongs to the SPC. However, as was mentioned above, in 1983 the Chinese
government became very concerned about the growth of crime. In order to reduce
the significantly increased crime rates, the government took strong action in the
form of “striking hard” campaigns. The government’s new policy sought to simplify
and speed up the trial procedures for cases of serious crimes. The law also decentral-
ized the process of judicial review. Serious crimes such as murder, robbery and rape
no longer went to the SPC for a final review procedure. In these serious cases, the
review was conducted by the higher courts on the provincial level. Only cases of eco-
nomic crime in which the convicted person was sentenced to death could be reviewed
by the SPC. The “striking hard” policy and the statutory changes have created large
disparities in the use of death sentences among the 30 provinces. A lot of criticism
followed the observation of disparity in sentencing and the use of the death penalty.
Finally, in 2007, the Legislative Committee of the NPC made a decision, which gave
the authority of a final review of death sentences back to the SPC. The motives for this
reform were twofold: One concerns international pressure which mainly came from
Europe. A second reason can be found in the domestic criticism of the quality of judg-
ments in death penalty cases, and the inconsistency in the imposition of death sen-
tences and the large variation between provinces.33 Several cases of miscarriage in-
volving death sentence cases were disclosed.34 Therefore part of the reform was fo-
32
In China courts have 4 levels: local courts, intermediate courts, higher courts and the
Supreme Court. The intermediate courts are located in bigger cities or the capital city of
provinces.
33
Yue 2007, 23 – 26.
34
In 2005 Legal Daily published a report about the case of Mr. She Xianglin. The case
initiated from an unidentified body which was found in a Jingshan township reservoir. Just by
Contemporary Death Penalty Issues in China 577
When defendants who are facing the death penalty cannot afford a lawyer, they
enjoy the right to free legal aid assistance (Art. 35 of the 2018 CCP). However,
there are problems persisting in the provisions of law and also in the application
of the laws.
(1) The first issue is whether and to what extent defendants can get legal aid lawyers’
assistance during the death penalty review proceedings. According to the au-
thor’s understanding, free assistance by a legal aid lawyer should be available
during the entire proceedings, that means from the beginning of the investigation
to the end of proceedings.35 The 2012 CCP has made some progress on this point.
The law says that while the SPC reviews a death penalty case and if the defence
lawyer wants to present an opinion, the SPC shall take account of the lawyer’s
opinion (Art. 240 of the 2012 CCP). However, both the 2012 and 2018 amend-
ments did not mention whether or not the Supreme People’s Court could appoint
a legal aid lawyer if defendants do not have a lawyer. Even if a defendant would
have the right to get assistance by a legal aid lawyer, the question is still open
which court should appoint a lawyer. Another issue concerns the question
where lawyers can meet their clients. On April 29, 2019, the Supreme Court pub-
lished “Several Provisions of the Supreme People’s Court on Safeguarding the
Lawful Rights and Interests of the Parties in the Procedures of Death Sentence
coincidence, Ms. Zhang, She’s wife who has a light mental disorder, disappeared in January
1994. Later investigation showed that right before Ms. Zhang walked away, she and Mr. She
had a quarrel. Then the local police asked Ms. Zhang’s other family members to identify the
body, but they did not complete a DNA test, because by that time, in small cities or even
regional police station DNA test capacities were not yet available. After the confirmation of
the identity of Ms. Zhang’s body by the relatives, Mr. She became the prime suspect and was
arrested in April 1994. Media reports showed that he was tortured by the police. Mr. She was
convicted of murder and sentenced to death at first instance. After a change of the jurisdiction
of the case and an appeal by Ms. She the final sentence was reduced in 1998 to 15 years of
imprisonment because the higher court’s judges had doubts in relation to the confession and
other evidence. While Mr. She served his sentence for about 11 years, his former ‘dead’ wife’s
memory had recovered, and she came back to the village. In April 2005, the case was re-
opened, and Mr. She was acquitted. Later he received compensation for wrongful conviction
from the court. Legal Daily of April 1st, 2005 (in Chinese); see also www.cecc.gov/publica
tions/commission-analysis/hubei-man-convicted-of-wifes-murder-ten-years-ago-exonerated
[10. 10. 2020].
35
Yue 2010, 162.
578 Liling Yue
Review and Execution.” (hereafter: The Provisions). In Art. 1 it states that “when
serving a legally rendered judgment of death sentence on a defendant, the higher
People’s court shall notify the defendant that he or she has the right to entrust a
defence lawyer at the stage of death sentence review by the Supreme People’s
Court.” However, the provisions do not directly provide for proceedings on
how to assign legal aid lawyers. It can only be assumed from Art. 2 which
says that an assignment of free legal aid lawyers will be possible. The author as-
sumes that detailed arrangements are still under discussion.
(2) The quality of defence in death penalty cases must also be considered. This issue
has been discussed for several years and a general guideline for death penalty
cases has been proposed. Several provincial level lawyers’ associations have is-
sued local guidelines for death penalty defence cases, but until now the China
Lawyers Association has not produced/published a countrywide guideline for
the handling of death penalty defence. In August 27, 2017, the China Lawyers
Association published a Guideline for Criminal Cases Defence. In its Chapter 11
(Art. 199 to 205) it provides rules for the death penalty final review. These rules
provide special requirements for the meeting with relatives of defendants and for
the review of case files, and list detailed aspects which a lawyer should pay spe-
cial attention to. They concern also the submission of defence opinions to the
Supreme Court. In the above mentioned “Jointly issued regulations 2008”,
Art. 3 especially mentions that when legal aid institutions appoint legal aid law-
yers, they shall appoint experienced trial lawyers as defence lawyers for death
sentence defendants. This shows that the Supreme Court and the Ministry of Jus-
tice intended to improve the quality of defence for death penalty cases. However,
a system of quality evaluation has not yet been established.
(3) The quality of defence also depends on how the lawyers are remunerated. Ac-
cording to the survey which has been carried out jointly by the (former) Max-
Planck-Institute for Foreign and International Criminal Law36 and several Chi-
nese research institutions, the fee for defence in death penalty cases varies from
region to region. The fee paid for legal aid lawyers ranged from 500 to 1,000
RMB yuan.37 Obviously this amount of payment hardly guarantees an efficient
defence.
Then, there are debates on the nature of the final review proceedings for death
penalty cases. Some scholars argue that these proceedings are special trial pro-
ceedings, because the relevant provisions of the CCP are included in its Part
Three (adjudication). If the review belongs to the trial proceedings, then the prin-
ciples of the criminal trial must be respected. For example, the review proceed-
ings should be public. If the defendant has no lawyer, the SPC should appoint a
legal aid lawyer for him. However, in practice, the review proceeding has been
36
In 2020, the Institute has been restructured and the name changed into Max-Planck-
Institute for the Study of Crime, Security and Law.
37
Albrecht 2006, 148.
Contemporary Death Penalty Issues in China 579
conducted by the SPC in a more or less administrative way. Although the CCP as
amended in 2018 provides that in the review proceeding the accused shall be in-
terrogated (Art. 251), the entire proceeding is held in camera. As regards the
legal aid lawyer’s assistance in the final review process, the above-mentioned
Supreme Court’s Provision did not provide a clear solution.
2.2.2.4 Execution
The CCP regulates also the proceedings of execution. Normally, after the final
review, when the trial court receives the order from the SPC for execution, the exe-
cution shall be carried out within seven days. Some scholars think this time frame is
too short. Under the 1979 CCP, the only method of execution was shooting; in 1996,
the lethal injection has been added. The reason for the introduction of lethal injection
was to provide a less painful way of execution, and to show the humanity in the ex-
ecution of criminal sanctions. The medicine to be used for execution was approved by
the State Food and Drug Administration. The medicine and execution facilities are
prepared and assembled by institutions authorized by the Supreme Court.38 The Kun
Ming Intermediate Court (Yun Nan Province) was the first court to use lethal injec-
tion in 199739 after the 1997 CCP was enacted. Gradually execution by shooting has
been replaced meanwhile by lethal injection in most of intermediate courts, and the
SPC established finally a guideline for the proceedings of execution.
As was mentioned above, according to the ICCPR, Art. 6 section 4, “anyone sen-
tenced to death shall have the right to seek pardon or commutation of the sentence.”
The Chinese Constitution provides that the NPC and its Standing Committee have the
authority to decide on special pardons (Art. 67 Constitution). But in the modern his-
tory of China, the Government only issued pardon to war criminals. It never issued
pardon to criminals who were sentenced to the death penalty. Some scholars strongly
suggest that with respect to pardon comprehensive research should be carried out,
and special proceedings for pardon be established in criminal procedure law.40
3. Case Studies
The only source of published death sentence judgments is the Supreme Court
web41. Since 2013 a total of 481 final review death sentence judgments have been
published. If the cases are broken down to the years in which the judgments were
uploaded to the webpage then the following distribution arises:
38
See http://baike.baidu.com [15. 01. 2020].
39
See http://info.phamacy.hc360.com [15. 01. 2020].
40
Yue 2007, 27 – 28.
41
See www.court.gov.cn [18. 12. 2019].
580 Liling Yue
• 2016: 10 cases,
• 2015: 305 cases,
• 2014: 125 cases,
• 2013: 54 cases.
The author reviewed the 30 most recent death sentence judgments (see Table 1).
The cases, however, cannot be considered to be a random sample of death penalty
sentences imposed in China. They represent a selection by the Supreme Court’s ad-
ministration.
Table 1
Inventory of Selected Death Penalty Cases
No. Gender Age* Offence Residence Education Occupation Appeal Review
area term**
1 M 21 Intended Rural, mi- Technical Migrant N 7 m.
murder grant secondary worker
school
2 M 47 Intended Rural Middle Farmer Y 4 m.
murder school
3 M 25 Kid- Rural, mi- Middle Migrant Y 6 m.
napping, grant school worker
rape
4 M 29 Intended Rural Middle Farmer Y 5 m.
murder school
5 M 30 Drug Rural Middle Farmer Y 5 m.
trafficking school
6 M 24 Intended Rural Middle Farmer Y 7 m.
assault, school
theft
7 M 23 Robbery Urban, Middle Unemployed Y 5 m.
city school
8 M 41 Intended Urban, Middle Unemployed Y 5 m.
murder city school
9 M 25 Intended Rural Middle Farmer Y 6 m.
murder school
10 M 23 Intended Urban, Middle Farmer Y 4 m.
assault city school
11 M 45 Robbery Urban, Primary Farmer Y 9 m.
city school
12 M 44 Intended Rural Primary Farmer Y 4 m.
murder school
13 M 43 Rape Urban, Primary Farmer N 12 m.
city school
Contemporary Death Penalty Issues in China 581
Table 1 (Continued)
14 M 41 Intended Rural Middle Farmer Y 6 m.
murder, school
arson
15 M 44 Intended Urban, Illiterate Migrant Y 15 m.
murder city worker
16 M 24 Intended Urban, Middle Farmer Y 12 m.
murder, city school
robbery
17 M 34 Robbery Rural Primary Farmer Y 4 m.
school
18 M 36 Robbery Rural High Farmer Y 10 m.
school
19 M 26 Intended Rural Primary Migrant Y 5 m.
murder school
20 M 41 Intended Urban, Primary Unemployed Y 7 m.
murder city school
21 M 41 Intended Rural Middle Migrant N 4 m.
murder school worker
22 M 26 Intended Rural Junior col- Farmer Y 6 m.
murder lege
23 M 46 Robbery Urban, Primary Unemployed N 3 m.
city school
24 M 64 Intended Rural Primary Farmer Y 10 m.
murder school
25 M 30 Intended Urban, Middle Unemployed Y 10 m.
murder city school
26 M 40 Intended Urban, Middle Unemployed Y 9 m.
murder city school
27 M 24 Robbery Rural Middle Unemployed Y 6 m.
school
28 M 24 Kid- Urban, Middle Unemployed Y 5 m.
napping city school
29 M 34 Kid- Rural Middle Farmer Y 8 m.
napping school
30 M 51 Intended Rural Primary Farmer N 5 m.
murder school
* The age is calculated on the basis of the first instance trial.
** Review term shown in months.
582 Liling Yue
From the criminal offence perspective, among the 481 final review cases, a group
of 9 main offences can be identified among the full list of 46 death penalty offences in
the current Criminal Law.42 The distribution of these offences is as follows: 280 cases
of intended murder, 162 robbery cases, 58 drug-related cases, 39 rape-related cases,
30 kidnappings, 27 intended assaults, 6 explosion crimes, and 4 mafia cases. Except
for the drug related cases, all the crimes have resulted in the death of victims. There
was only one drug trafficking case among the above listed 30 cases (see table), the
offender was convicted of trafficking around 60 kg of Ketamine. The overview shows
that, with the exception of the drug-related cases, there are already today no more
non-violent offence crimes among the published death penalty cases. In particular,
also cases related to corruption have resulted in fewer death sentences. Although
that will not mean that courts will not impose death sentences for non-violent offen-
ces at all, but at least it means, that courts and judges have adopted practices which
limit the application of death sentences in such cases.
Seen from the age perspective and calculating the age on the basis of the first in-
stance trial, the average age of the 30 convicts is 35 years. The youngest offender is 21
years old, the oldest one is 64 years. A group of 10 offenders are aged between 20 to
29 years (33%), 8 offenders are aged between 30 and 36 years old (27%), 10 offenders
are aged from 40 to 47 years (33%), and two offenders were 50 years and older. Our
analysis shows that the death penalty as the harshest penalty statistically affects rel-
atively young offenders. Especially the 10 death penalty cases published in 2016
show, that most of the offenders (8) are under 30 years old. This situation should
be taken as an impetus for developing sentencing practices where more attention
should be devoted to policies of rehabilitation and education.
In regard to prior deviance, the data show that among the 30 convicts, eight of-
fenders were recidivists who had previous convictions (27%), among them, the L.
case (case no. 23), when he committed his last robbery, he was 46 years old and
had no less than six previous convictions; Mr. Y. (no. 13) committed a series of
rape crimes; he raped 18 women and had five previous convictions. When he was
sentenced to death he was 43 years old. These cases demonstrate that some serious
crime offenders had been on the road of a criminal career since they were young.
Further and comprehensive research should be carried out on the causes of these
criminal careers, with a particular attention to the strengthening of correctional pol-
icies.
42
The analysis is based on a key word search. Some of the offenders were convicted for
multiple offences. Therefore, the number of offences is larger than the total number of cases.
Contemporary Death Penalty Issues in China 583
From the perspective of the relatively new research area on criminal decision mak-
ing, it should be interesting to look at whether there were alternative perspectives to
influence the offenders’ decision making. This could be done from angles like social
psychology, behavioral economics and neuroscience.43 In the above listed 30 cases,
there are eight murder cases, in which the causes for the commission of the homicides
were evidently rooted in the offender-victim relationships. In these cases, a partner-
ship was interrupted and the partner was killed during the process of separation. This
phenomenon shows that on the one hand, the partnership is a very important factor in
the life course, while on the other hand, it also becomes apparent that, when partner-
ships fail, conflicts may escalate and ultimately result in offenders not capable to con-
trol their anger and killing their partner. This demonstrates an obvious lack of self-
control and a lack of capability to consider and weigh various options of behavior.
Insofar, research should in the future put emphasis on self-control and how self-con-
trol can be strengthened in order to protect potential victims. In three cases, the mo-
tivations for killing victims have been described in the factual part of the final review
decision, as the decision to kill the victim was obviously triggered by trivial matters.
Among these three offenders, two of them killed the victims although there were no
direct links with feelings of disappointment. Among them, Mr. L. even mutilated the
victim’s body (case no. 26). Supposedly, the behavior in these cases fell outside the
range of normal reactions to small conflicts, and may hardly be explained by conven-
tional factors of deviance. There were another three cases, in which the offenders had
originally planned to commit rape or robbery without killing the victims. However,
after committing those crimes, they were afraid of becoming known to authorities
and then decided to kill their victims. This illustrates that the death penalty may
have some degree of deterrence, however, it also shows that the threat of the
death penalty may also raise the number of victims.
From the education and profession perspective we can see that among these 30
offenders, 17 have passed the middle school level,44 one was in high school and
two in a professional training school. Nine offenders have only achieved the prelimi-
nary school level, and one is illiterate. 21 offenders are peasants, among them there
were four migrant workers and nine unemployed persons. The relationship between
education and crime is a complicated criminological issue, but some conclusions of
research show that “schooling significantly reduces criminal activity”.45 In light of
this simple statistic, the question of schooling, especially in the rural area, may be
raised. However, it must also be considered that the death penalty is most prevalent
on the lowest levels of society, exposing poor and uneducated offenders to the risk of
receiving death sentences.
43
Van Gelder 2013, 745 – 763.
44
In China, it has nine years free education policy, middle school level means, at least they
enrolled the middle school, but we don’t know if they graduated from the school.
45
Lochner & Moretti 2004.
584 Liling Yue
From a procedural perspective, 24 offenders appealed to high courts, and all the
death sentence cases went through the first review by the high courts on the provincial
level. There was only one case (W., robbery and homicide, see case no. 16) which,
after the first appeal, was sent back to the first instant trial court for a retrial. The
final judgment confirmed the death sentence. On a second appeal, the death penalty
was upheld. The proceedings lasted for three years. The average final review time is
6.6 months. The Supreme Court approved all of those 30 death penalty cases.
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Schuldangemessene Strafzumessung
im Völkerstrafrecht
Von Thomas Weigend
1
Albrecht 1980.
2
Albrecht 1994.
3
Siehe etwa Albrecht 2017, 185; Albrecht 2019, 165.
4
Albrecht (Fn. 2), 331 ff., 497 f.
5
Albrecht (Fn. 2), 408 ff., 498.
6
Albrecht (Fn. 2), 499 f.
7
Siehe etwa Hörnle 1999; Frisch, von Hirsch & Albrecht 2003; Teixeira 2014.
588 Thomas Weigend
1. Strafzumessung im Völkerstrafrecht
Ein neues, durch besondere Faktoren kompliziertes Anwendungsfeld für Theorie
und Praxis der Strafzumessung bildet das Völkerstrafrecht. Die Anfänge einer straf-
rechtlichen Verantwortlichkeit individueller Täter auf der Grundlage des Völker-
rechts liegen bekanntlich in den Verfahren gegen deutsche und japanische Kriegsver-
brecher nach dem Zweiten Weltkrieg. Dem Nürnberger Prozess gegen die deutschen
Hauptkriegsverbrecher lag das Londoner Statut vom 08. 08. 1945 zugrunde. Es ent-
hielt zur Strafzumessung in Artikel 27 lediglich die Regelung: „The Tribunal shall
have the right to impose upon a Defendant, on conviction, death or such other punish-
ment as shall be determined by it to be just.“8 Auf dieser Grundlage wurden von den
schuldig gesprochenen 19 Angeklagten zwölf zum Tode, drei zu lebenslanger Frei-
heitsstrafe und vier zu zeitigen Freiheitsstrafen verurteilt, ohne dass das Urteil Be-
gründungen zu den unterschiedlichen Strafmaßen enthielt.
Nach einer fast ein halbes Jahrhundert währenden Latenzphase kehrte das Völker-
strafrecht Anfang der 1990er Jahre in das öffentliche Bewusstsein zurück, als der Si-
cherheitsrat der Vereinten Nationen internationale Strafgerichtshöfe für Straftaten
auf dem Gebiet des früheren Jugoslawien (1993)9 und in Ruanda (1994)10 einsetzte.
Die Statuten dieser beiden Gerichtshöfe enthielten etwas eingehendere Regelungen
zur Strafzumessung. So beschränkte Art. 24 des Statuts für den Jugoslawien-Ge-
richtshof11 die Sanktionen auf Freiheitsstrafen und die Einziehung von Vermögens-
gegenständen, die durch Straftaten erlangt waren, und Abs. 2 dieser Vorschrift gab
den Kammern vor, dass sie „should take into account such factors as the gravity
of the offence and the individual circumstances of the convicted person“.12 Eine stär-
ker differenzierte Regelung enthält das Römische Statut des Internationalen Strafge-
richtshofs (IStGH) von 1998, auf dessen Grundlage der IStGH seit 2002 in Den Haag
über die Täter der gravierendsten völkerrechtlichen Verbrechen (Genozid, Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, seit 2017 auch Verbrechen
der Aggression) zu Gericht sitzt. Nach Art. 77 (1) des Statuts kann der Gerichtshof
Freiheitsstrafen bis zu 30 Jahren verhängen, außerdem lebenslange Freiheitsstrafen
„when justified by the extreme gravity of the crime and the individual circumstances
of the convicted person“.
8
Fast wortgleich Art. 16 Tokyo Charter of the International Military Tribunal for the Far
East von 1946. Das Tokioter internationale Militärtribunal verurteilte sieben Angeklagte zum
Tode; 16 Angeklagte erhielten lebenslange und zwei Angeklagte zeitige Freiheitsstrafen.
9
Statute of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia v. 25. 05. 1993,
Security Council Resolution 827 (1993).
10
Statute of the International Criminal Tribunal for Rwanda v. 08. 11. 1994, Security
Council Resolution 995 (1994).
11
Inhaltsgleich Art. 23 des Statuts für den Ruanda-Gerichtshof.
12
Rule 101 der Rules of Procedure and Evidence des Jugoslawien-Gerichtshofs enthielt
darüber hinaus weitere Hinweise für die Strafzumessung, u. a. die Regel, dass eine „substantial
cooperation with the Prosecutor by the convicted person“ als Strafmilderungsgrund anzusehen
ist.
Schuldangemessene Strafzumessung im Völkerstrafrecht 589
Ebenso wie die beiden ad-hoc-Strafgerichtshöfe soll der IStGH bei der Bemes-
sung der Strafe „the gravity of the crime and the individual circumstances of the con-
victed person“ berücksichtigen (Art. 78 (1) IStGH-Statut). Nähere Richtlinien ent-
hält Rule 145 der Rules of Procedure and Evidence des IStGH. Danach soll die Kam-
mer bei der Bemessung der Strafe zunächst beachten, dass „the totality of any sent-
ence of imprisonment and fine … must reflect the culpability of the convicted
person“ (Rule 145 (1) (a)). Insbesondere sind dabei das Ausmaß des angerichteten
Schadens, die Art des unrechten Verhaltens und die Mittel, die der Täter verwendet
hat, das Maß seiner Beteiligung an der Tat und seines Vorsatzes, die Umstände, die
Zeit und der Ort der Tatbegehung sowie das Alter, die Ausbildung und die soziale und
wirtschaftliche Situation des Verurteilten zu berücksichtigen (Rule 145 (1) (c)). Dar-
über hinaus enthält Rule 145 (2) eine Liste von zwei mildernden13 und sechs straf-
schärfenden Umständen. Bei all dem bleibt die Schuldangemessenheit der wesent-
liche Maßstab für die Sanktion; dementsprechend können die Parteien die Strafzu-
messung mit dem Rechtsmittel des Appeal angreifen, indem sie ein Missverhältnis
(disproportion) zwischen der Tat und der Strafe rügen (Art. 81 (2) (a) IStGH-Statut).
Auch der IStGH hebt immer wieder hervor, dass „gravity of the crime“ ein we-
sentlicher Gesichtspunkt sei.15 Dabei geht es nicht so sehr um das (relative) Gewicht
des Straftatbestandes als solchen, sondern – in Übereinstimmung mit Rule 145 (1) (a)
der Rules of Procedure and Evidence – um „culpability of the convicted person“, also
13
Genannt werden das Vorliegen von Umständen, die die strafrechtliche Verantwortlich-
keit zwar nicht ausschließen, aber herabsetzen sowie das Nachtatverhalten des Täters, insbe-
sondere eine Entschädigung des Verletzten sowie die Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof.
14
Pros. v. Nikolic, ICTY, Appeals Chamber, IT-94 – 2-A, Decision on Sentencing, 4
Feb. 2005, para. 21; ähnlich Pros. v. Delalic, ICTY, Appeals Chamber, IT-96 – 21-A20, Judg-
ment, 20 Feb. 2001, para. 731.
15
Pros. v. Lubanga Dyilo, ICC, Trial Chamber, ICC-01/04 – 01/06, Decision on Sentence,
10 July 2012, para. 36; Pros. v. Katanga, ICC, Trial Chamber, ICC-01/04 – 01/07, Decision on
Sentence, 23 March 2014, para. 39; Pros. v. Bemba Gombo, ICC, Trial Chamber, ICC-01/
05 – 01/08, Decision on Sentence, 21 June 2016, para. 11.
590 Thomas Weigend
den persönlichen Anteil des Täters im Rahmen einer von Mehreren begangenen Ge-
samttat, wie sie für völkerstrafrechtliche Sachverhalte typisch ist.16
Damit wird deutlich, dass die internationalen Strafgerichtshöfe den Ausgleich der
persönlichen Tatschuld des Täters als hauptsächlichen Zweck der Strafe betrachten.17
Jenseits der positivrechtlichen Verankerung der „culpability“ in den Statuten stellt
sich freilich die Frage nach der Legitimität einer retributiv ausgerichteten Sanktio-
nierung in einem säkularen (internationalen) Strafrechtssystem.18 Ansätze zu einer
modernen Begründung rekurrieren teilweise auf die Idee der im Gesellschaftsvertrag
begründeten Solidarität der Bürger,19 teilweise auf den Gedanken ausgleichender Ge-
rechtigkeit, wonach dem Straftäter der durch die Rechtsbeeinträchtigung angemaßte
(ideelle) Vorteil durch die Strafe wieder entzogen werden soll.20 In jedem Fall ver-
langt eine retributive Zwecksetzung der Strafe zwingend nach einer Sanktion, die
der Schuld des Täters entspricht.
Hier stellt sich jedoch zunächst das grundsätzliche Problem der fehlenden Kom-
mensurabilität zwischen dem Unrecht, das der Täter schuldhaft verwirklicht, und
dem Sanktionsrepertoire des Staates, das im Wesentlichen aus dem Entzug von Be-
wegungsfreiheit und von Vermögen besteht. Es liegt auf der Hand, dass die Herstel-
lung einer bestimmten Relation zwischen diesen beiden Größen rational nicht be-
gründbar ist, sondern letztlich nur durch willkürliche Setzung vorgenommen werden
kann.21 So lässt sich kein intersubjektiv verbindlicher Grund dafür angeben, dass bei-
16
Pros. v. Katanga, ICC, Trial Chamber, ICC-01/04 – 01/07, Decision on Sentence, 23
March 2014, para. 43. S. dazu auch Hola, Bijleveld & Smeulers 2011, 745, 752.
17
Wegen des beschränkten Umfangs dieses Beitrags kann nicht näher auf den Anteil spe-
zialpräventiver Zwecksetzungen an der Sanktionsbemessung durch internationale Strafge-
richtshöfe eingegangen werden. Nach allgemeiner Auffassung sind dort die Ziele einer Bes-
serung des Täters sowie seiner Abschreckung von weiteren Taten jedenfalls nicht von haupt-
sächlicher Bedeutung; dies liegt u. a. daran, dass die typischen Täter zum Zeitpunkt der Ver-
urteilung ihren politischen Einfluss verloren haben und daher nicht in der Lage sind, weitere
völkerstrafrechtliche Taten zu begehen. S. näher zu diesen Fragen Pros. v. Delalic, ICTY,
Appeals Chamber, IT-96 – 21-A20, Judgment, 20 Feb. 2001, paras. 805 – 806; Pros. v. Miluti-
novic et al., ICTY, Trial Chamber, IT-05 – 87-T, Judgment, 26 February 2009, para. 1146;
Pros. v. Katanga, ICC, Trial Chamber, ICC-01/04 – 01/07, Decision on Sentence, 23 March
2014, paras. 88, 91, 117; Pros. v. Bemba Gombo, ICC, Trial Chamber, ICC-01/05 – 01/08,
Decision on Sentence, 21 June 2016, para. 11. S. aber auch die positivere Einschätzung der
Spezialprävention bei Epik 2017, 123 ff.
18
Siehe hierzu die kritische Würdigung retributiver Theorien bei Albrecht (Fn. 2), 36 f.,
44 ff. Aus jüngerer Zeit Hörnle 2019, § 12 Rn. 7.
19
Pawlik 2012, 90 ff.
20
Zur Anwendung dieses Gedankens im Völkerstrafrecht s. Melloh 2010, 106 ff.
21
Von „grundsätzlich nicht lösbaren Äquivalenzproblemen“ spricht in diesem Zusam-
menhang Albrecht (Fn. 2), 51. S. dazu auch Lacey 2016, 27, 40 sowie die empirischen Un-
tersuchungen von Robinson & Darley 2007, 1 und Robinson 2013, die übereinstimmend zu
dem Ergebnis kommen, dass die Einschätzung der relativen Schwere von Straftaten interna-
tional und – kulturell sehr ähnlich ist, dass sich aber die „absolute“ Setzung von Ankerwerten
stark unterscheidet.
Schuldangemessene Strafzumessung im Völkerstrafrecht 591
spielsweise ein Raub22 mit Gewalteinsatz und einem Schaden von 1.000 Euro nicht
mit einem, zwei, fünf, sechs oder zehn Jahren, sondern mit vier Jahren Freiheitsstrafe
sanktioniert werden soll. Hat man einen solchen Ankerwert aber einmal festgelegt, so
gebietet es der Grundsatz der relativen Proportionalität, einen Raub ohne Gewaltein-
satz und mit einem sehr geringen Vermögensschaden des Opfers bei sonst gleichen
Umständen milder (also etwa mit drei Jahren Freiheitsstrafe) und eine Tat, bei der der
Täter eine Waffe verwendet hat, ceteris paribus strenger (also etwa mit fünf Jahren
Freiheitsstrafe) zu bestrafen. Retributive Strafgerechtigkeit kann – und muss – also
nur in relativer Gleichbehandlung bestehen.23
Bei internationalen Strafgerichtshöfen kommt das Problem hinzu, ein Äquivalent
für die teilweise unfassbar schweren und vielfachen Rechtsverletzungen zu finden,
für die die Angeklagten verantwortlich sind. Der Jugoslawien-Gerichtshof hat diese
Schwierigkeit plastisch zum Ausdruck gebracht:
„A sentence, however harsh, will never be able to rectify the wrongs, and will be able to
soothe only to a limited extent the suffering of the victims, their feelings of deprivation, an-
guish, and hopelessness.“24
Andererseits gibt es seit der Abschaffung der lex talionis ohnehin keine „absolute“
Entsprechung von Tat und Strafe mehr, sondern ein „Umrechnungsschlüssel“ wird –
wie erwähnt – allein durch Konvention festgesetzt.25 Dies bedeutet, dass auch für die
schwersten Verbrechen eine angemessene Strafe existiert – eben die schwerste in
dem jeweiligen Rechtssystem verfügbare Sanktion.
22
Der gesetzliche Strafrahmen reicht nach § 249 StGB – unter Einbeziehung minder
schwerer Fälle – von sechs Monaten bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe.
23
Siehe dazu von Hirsch 1992, 55, 79 ff.; Ashworth & von Hirsch 2005, 139.
24
Pros. v. Krajisnik, ICTY, Trial Chamber, IT-00 – 39-T, 27. September 2006, § 1146.
25
Melloh (Fn. 20), 118 f.
26
Pros. v. Delalic, ICTY, IT-96 – 21-A20, Judgment, 20 Feb. 2001, para. 756. Ähnlich
Melloh (Fn. 20), 37.
592 Thomas Weigend
gesamt etwa 150 Personen verurteilt haben,27 hinsichtlich der Gleichmäßigkeit der
Strafzumessung wenig günstig, sondern als „disparate, uncertain and inconsistent“28
beurteilt.
Die Anklagebehörden und die Verteidigung greifen bei ihren Stellungnahmen zur
Strafzumessung häufig auf das Postulat der relativen Gerechtigkeit zurück und ver-
weisen auf frühere Strafzumessungsentscheidungen, um das Gericht zu einer – je
nach Standpunkt – strengen oder milden Strafmaßentscheidung zu bewegen. Die
ad-hoc-Gerichtshöfe haben solche Vergleiche überwiegend mit dem Argument zu-
rückgewiesen, dass jeder Fall besonders sei und dass die Unterschiede zwischen
ihnen größer als etwaige Gemeinsamkeiten seien.29 Die Berufungskammer des
ICTY hob allerdings vereinzelt Strafzumessungsentscheidungen mit der Begrün-
dung auf, dass sie außerhalb jedes vernünftigen Verhältnisses zu Strafmaßen für
gleichartige, unter ähnlichen Umständen begangene Verbrechen lägen.30
Im Jahre 2019 kam auch das Nachfolge-Gericht des Jugoslawien-Gerichtshofs,
der International Residual Mechanism for Criminal Tribunals (IRMCT), im Fall
von Radovan Karadzic, des politischen Führers der berüchtigten bosnisch-serbi-
schen Truppen in den jugoslawischen Konflikten der 1990er Jahre, zu einem solchen
Ergebnis. Nach Art. 24 des ICTY-Statuts können Freiheitsstrafen in beliebiger Höhe
verhängt werden, nach Rule 101 (A) der ICTY Rules of Procedure and Evidence auch
eine Freiheitsstrafe „for a term including the remainder of the convicted person’s
life“. Maßgebliche Faktoren für die Bemessung der Strafe sollen die Schwere der
Tat und die individuellen Umstände des Verurteilten sein. Radovan Karadzic war
durch die Verfahrenskammer des ICTY wegen einer Vielzahl von Einzeltaten verur-
teilt und mit einer Gesamt-Freiheitsstrafe von 40 Jahren belegt worden. Auf das
Rechtsmittel des Anklägers hin verhängte der nunmehr zuständige IRMCT gegen
Karadzic eine lebenslange Freiheitsstrafe. Die Richter sahen durch den Ausspruch
einer nur zeitigen (wenn auch sehr langen) Freiheitsstrafe das Prinzip der relativen
Proportionalität verletzt, da andere Beteiligte an denselben Taten, die im Rang unter
27
Der Jugoslawien-Gerichtshof hat Strafen gegen 90 Personen verhängt (http://www.icty.
org/node/9590), der Ruanda-Gerichtshof gegen 62 Personen (https://unictr.irmct.org/en/tribu
nal) und der IStGH gegen vier Personen. Einen empirischen Überblick über die Strafzumes-
sung der Gerichtshöfe auf dem Stand von 2013 geben Smeulers, Hola & van den Berg 2013, 7,
21.
28
Ambos 2014, 268 (m.w.N. in Fn. 166). S. auch Bagaric & Morss 2006, 191, 193; Sloane
2007, 713, 716 f.; Scalia 2011, 669.
29
Siehe z. B. Pros. v. Delalic, ICTY, IT-96 – 21-A20, Judgment, 20 Feb. 2001, para. 719;
Pros. v. Nikolic, ICTY, Appeals Chamber, IT-94 – 2-A, Decision on Sentencing, 4 Feb. 2005,
para. 19. Demgegenüber verweist Ewald 2010, 365, 385, 388 darauf, dass die Richter bei der
Entscheidung über das Strafmaß stets – bewusst oder unbewusst – ihnen bekannte, (ver-
meintlich) ähnlich gelagerte Fälle zum Maßstab nehmen. Kritisch zu der Rechtsprechung auch
Sloane (Fn. 28), 713, 718 f.
30
Pros. v. Jelisic, ICTY, IT-95 – 10-A, Appeals Chamber, Judgment, 5 July 2001, para. 96;
Pros. v. Nikolic, ICTY, Appeals Chamber, IT-94 – 2-A, Decision on Sentencing, 4 Feb. 2005,
para. 16.
Schuldangemessene Strafzumessung im Völkerstrafrecht 593
Karadzic standen, lebenslange Freiheitsstrafen erhalten hatten. Daher habe die Ver-
fahrenskammer ein Strafmaß gewählt, das „so unreasonable and plainly unjust“ ge-
wesen sei, dass ein offensichtlicher Fehlgebrauch des Strafzumessungsermessens
vorliege.31
Damit trat ein, was der Jugoslawien-Gerichtshof schon in einer früheren Entschei-
dung vorausgesagt hatte: es werde sich ein Strafzumessungsfallrecht entwickeln, an
dem sich der ICTYorientieren werde, um eine Erosion des öffentlichen Vertrauens in
die Gerichtsbarkeit durch ungerechtfertigte Strafmaß-Unterschiede zu verhindern.32
Dieser Ansatz zu einem schrittweisen Vorgehen in Richtung auf eine konsistente und
doch differenzierende Strafzumessungspraxis dürfte eine vernünftige Lösung für das
eigentlich unlösbare Problem darstellen, relative Strafgerechtigkeit bei der Ahndung
schwerster Verbrechen herzustellen.
Ob der IStGH denselben Weg gehen wird, muss sich angesichts der bisher sehr
geringen Zahl an Verurteilungen, noch dazu in eher untypischen Fällen, noch erwei-
sen. Als der IStGH zum ersten Mal eine Strafmaßentscheidung zu treffen hatte, ver-
suchte die Anklagebehörde einen Pflock zur Orientierung einzuschlagen: Sie schlug
vor, als Ausgangspunkt für jede Strafzumessungsentscheidung 24 Jahre Freiheits-
strafe zu nehmen, also 80 % des vom Statut vorgesehenen Höchstmaßes der zeitigen
Freiheitsstrafe von 30 Jahren; Strafmilderungs- und -schärfungsgründe sollten Ab-
weichungen von diesem Richtmaß erlauben. Das Gericht lehnte jedoch eine solche
Festlegung ab, da sie im Statut nicht vorgesehen sei und überdies die Berücksichti-
gung der Umstände des Einzelfalles zu sehr einschränken würde.33
Verschiedene Autoren haben legislatorische Maßnahmen vorgeschlagen, um star-
ke Diskrepanzen in der Strafzumessung der internationalen Strafgerichtshöfe zu ver-
meiden. Genannt werden eine Spezifizierung engerer Strafrahmen für die einzelnen
völkerstrafrechtlichen Tatbestände34 sowie die Schaffung „weicher“ Strafzumes-
sungsrichtlinien, von denen die Richter nur mit Begründung abweichen können.35
Es fragt sich allerdings, ob diese Vorschläge tatsächlich zu einer einheitlicheren
Strafzumessung führen können. Was die Einführung engerer Strafrahmen betrifft,
so wird man bei den völkerrechtlichen Verbrechen kaum ohne die Androhung lebens-
langer Freiheitsstrafe für Fälle schwerster Schuld auskommen. Andererseits enthal-
ten die Tatbestandskataloge der Kriegsverbrechen auch Tatvarianten, die im Einzel-
fall vergleichsweise weniger schwer wiegen können, so dass auch relativ kurze Frei-
31
Pros. v. Karadzic, IRMCT, MICT-13 – 55-A, Appeals Chamber, Judgment, 20 March
2019, paras. 766 f., 772 f.
32
Pros. v. Delalic, ICTY, IT-96 – 21-A20, Judgment, 20 Feb. 2001, para. 757.
33
Pros. v. Lubanga Dyilo, ICC, Trial Chamber, ICC-01/04 – 01/06, Decision on Sentence,
10 July 2012, paras. 92 f.
34
D’Ascoli 2011, 283 f.; Hoven 2013, 137, 154, 167; Ambos (Fn. 28), 286.
35
Harmon & Gaynor 2007, 683, 710 f.; Ambos (Fn. 28), 302 f.
594 Thomas Weigend
36
Zu denken ist etwa an den Angriff auf ein nach humanitärem Völkerrecht geschütztes
Fahrzeug (Art. 8 (2) (e) (iii) IStGH-Statut) oder die Beschlagnahme des Eigentums einer
gegnerischen Partei ohne militärische Notwendigkeit (Art. 8 (2) (e) (xii) IStGH-Statut).
37
Das deutsche Recht setzt für minder schwere Fälle des Völkermordes eine Mindeststrafe
von fünf Jahren fest (§ 6 Abs. 2 VStGB). Für Verbrechen gegen die Menschlichkeit gelten für
die Einzeltatbestände unterschiedliche Mindeststrafen, die in manchen Fällen (Körperverlet-
zung und Freiheitsberaubung) nur ein Jahr betragen (§ 7 Abs. 2 VStGB).
38
Siehe deGuzman 2015, 932, 953 ff.
39
Für die Annahme einer solchen Rangfolge Pros. v. Lubanga Dyilo, ICC, Appeals
Chamber, ICC-01/04 – 01/06, Judgment of 1 Dec. 2014, § 462; aus der Literatur Weigend
2011, 91, 102 f.; Ambos (Fn. 28), 146 f.; Werle & Burghardt 2014, 851, 855 ff.; Werle &
Jeßberger 2016, Rn. 544 f. Für ein Einheitsmodell der strafrechtlichen Verantwortlichkeit
dagegen Stewart 2012, 165, 205 ff.
Schuldangemessene Strafzumessung im Völkerstrafrecht 595
40
Rule 145 (1) (c) der Rules of Procedure and Evidence des IStGH beschränkt sich darauf,
„the degree of participation of the convicted person“ als einen von vielen Faktoren zu nennen,
die bei der Strafzumessung berücksichtigt werden sollen.
41
Aus dem reichen Schrifttum dazu s. nur Haan 2008; Olásolo 2009, 263; Werle & Jeß-
berger (Fn. 39), Rn. 552 ff.; Yanev 2019, 121 ff.
42
Siehe dazu Werle & Burghardt 2011, 85; Ohlin, van Sliedregt & Weigend 2013, 725;
Weigend 2015, 538 ff.; Kiss 2019, 30 ff.
43
Siehe dazu Burghardt 2008; Ambos (Fn. 28), 197 ff.; Karsten 2010; Meloni 2010;
Jackson 2019, 409 ff.
44
Pros. v. Bemba Gombo, ICC, Trial Chamber, ICC-01/05 – 01/08, Decision on Sentence,
21 June 2016, para. 17. S. auch schon Pros. v. Aleksovski, ICTY, Appeals Chamber, IT-95 –
14/1-A, Judgment, 24 March 2000, para. 183.
596 Thomas Weigend
Indikator für die Höhe der gegen ihn verhängten Strafe war.45 Diese Orientierung des
Strafmaßes an der hierarchischen Verantwortung des Täters entspricht einem retri-
butiven Ansatz, der weniger auf das objektive Ausmaß des insgesamt verwirklichten
Unrechts als auf das Maß der Schuld abstellt, die dem Angeklagten persönlich zur
Last fällt.46 Dies bedeutet allerdings nicht, dass Untergebene von den internationalen
Straftribunalen besonders milde behandelt werden – insbesondere dann nicht, wenn
sie aus eigener Initiative oder mit besonderer Grausamkeit handeln.47
Ein besonderes Problem der Strafzumessung im Völkerstrafrecht liegt darin be-
gründet, dass es die Gerichte fast durchweg mit überaus schweren Straftaten, oft mit
Hunderten von Opfern, zu tun haben. Jede einzelne Tat würde nach nationalem Recht
eine langjährige, im Fall von vorsätzlicher Tötung sogar eine lebenslange Freiheits-
strafe nach sich ziehen.48 Können und sollen die internationalen Gerichte bei der
Strafzumessung dennoch zwischen furchtbaren und besonders furchtbaren Taten49
differenzieren? Für den IStGH ist diese Lösung durch Art. 77 (1) (b) seines Statuts
vorgeschrieben: Danach darf er eine lebenslange Freiheitsstrafe nur verhängen
„when justified by the extreme gravity of the crime and the individual circumstances
of the convicted person.“ Diese Voraussetzung wurde bei keinem der vier bisher Ver-
urteilten bejaht, und angesichts der Schwere der meisten angeklagten Delikte fragt es
sich, welche Umstände eine „extreme gravity“ begründen könnten.
Nimmt man eine Differenzierung der Sanktionen in der völkerstrafrechtlichen
Gerichtsbarkeit vor, so stellt sich das Problem, dass die meisten der Angeklagten
wegen derselben Taten in nationalen Gerichten die jeweilige Höchststrafe zu erwar-
ten hätten:50 Was auf internationaler Ebene etwa ein „Durchschnittsfall“ der Tötung
von Zivilpersonen ist, würde sich in einem nationalen Gericht als mehrfacher Mord
darstellen.51 Bezieht man dies in die Gerechtigkeitsanalyse ein, so zeigt sich ein Un-
gleichgewicht zwischen der Behandlung „einfacher“ Mörder in den nationalen
Rechtsordnungen und der Strafmaßbestimmung in völkerstrafrechtlichen Tribuna-
45
Hola, Bijleveld & Smeulers (Fn. 16), 753, 755, 771; Pruitt 2014, 148, 161.
46
Für einen solchen Ansatz D’Ascoli (Fn. 34), 293.
47
Siehe etwa Pros. v. Delalic, ICTY, IT-96 – 21-A20, Judgment, 20 Feb. 2001, para. 847:
„In certain circumstances, the gravity of the crime may be so great that even following
consideration of any mitigating factors, and despite the fact that the accused was not senior in
the so-called overall command structure, a very severe penalty is nevertheless justified.“
48
Teilweise wird daher vorgeschlagen, die lebenslange Freiheitsstrafe im Völkerstrafrecht
als „normale“ Strafe einzusetzen und kürzere Freiheitsstrafen nur bei besonderen mildernden
Umständen zu verhängen; s. etwa Ohlin 2011, 323; Hoven 2013, 137, 157 ff.; s. auch Szoke-
Burke, 2012, 561, 566 ff. (der die milde Strafpraxis des Ruanda-Tribunals kritisiert).
49
Siehe Hola, Bijleveld & Smeulers (Fn. 16), 754 (Unterscheidung zwischen „serious and
horrendous“ und „even more serious and horrendous“ Straftaten).
50
Vgl. dazu Harmon & Gaynor (Fn. 35), 686 ff.
51
Sowohl für den Jugoslawien-Gerichtshof als auch für den Ruanda-Gerichtshof sahen die
Rules of Procedure and Evidence vor, dass sie sich (unter anderem) an den jeweiligen natio-
nalen Strafmaß-Vorschriften orientieren sollten. Dies ist jedoch in der Praxis offenbar kaum
geschehen. Kritisch dazu Szoke-Burke (Fn. 48), 576 f.; Epik (Fn. 17), 100 ff.
Schuldangemessene Strafzumessung im Völkerstrafrecht 597
len. Dieses Dilemma lässt sich nicht in völlig zufriedenstellender Weise lösen. Der
bessere Ansatz liegt wohl darin, die internationale Gerichtsbarkeit als eigenes Sys-
tem zu betrachten und nach der Verwirklichung relativer Gerechtigkeit nur innerhalb
dieses Systems zu streben. Dies mag dazu führen, dass Täter, die von internationalen
Strafgerichtshöfen abgeurteilt werden, mit milderen Sanktionen davonkommen als
wenn sie nach nationalem Recht verurteilt würden. Dabei ist jedoch zu berücksich-
tigen, dass der IStGH einen Fall nach dem Komplementaritätsprinzip (Art. 17 (1) (a)
IStGH-Statut) nur dann aburteilen kann, wenn die zuständige nationale Gerichtsbar-
keit nicht willens oder in der Lage ist, dies zu tun; für die betroffenen Täter stellt also
eine Sanktionierung nach nationalem Recht keine praktikable Alternative dar. Au-
ßerdem haben die internationalen Strafgerichtshöfe auch bei einer abgestuften Sank-
tionierung völkerrechtlicher Verbrechen in vielen Fällen langjährige Freiheitsstrafen
verhängt, so dass man nicht annehmen kann, dass Personen, die für den Tod anderer
Menschen verantwortlich sind, in der internationalen Strafgerichtsbarkeit mit milden
Sanktionen belegt werden.
52
Siehe dazu etwa Günther 2002, 205; Hörnle (Fn. 18), § 12 Rn. 34 – 36. Überblick über
die anglo-amerikanische Diskussion dieses Aspekts bei deGuzman (Fn. 38), 939 ff.
53
Siehe dazu Pros. v. Katanga, ICC, Trial Chamber, ICC-01/04 – 01/07, Decision on
Sentence, 23 March 2014, para. 38; Pros. v. Bemba Gombo, ICC, Trial Chamber, ICC-01/
05 – 01/08, Decision on Sentence, 21 June 2016, para. 11; Epik (Fn. 17), 140 ff.
54
Pros. v. Aleksovski, ICTY, Appeals Chamber, IT-95 – 14/1-A, Judgment, 24 March 2000,
para. 185, unter Hinweis auf Prosecutor v. Kambanda, ICTR, Judgment, 4 Sept. 1998,
para. 28.
598 Thomas Weigend
Aus dem Gedanken der symbolischen Verurteilung des Fehlverhaltens ergibt sich
allerdings keine eigene Richtlinie für die Bemessung der Sanktion, sondern er ver-
weist auf den Maßstab der Tatschuldangemessenheit zurück: Die Schärfe der sym-
bolischen Verurteilung hat der Schwere der Schuld zu entsprechen und soll auch ge-
genüber den Verletzten zum Ausdruck bringen, dass der Täter ihnen schweres Leid
zugefügt hat.55
Eine in dieser Weise schuldangemessene Strafe kann zugleich insofern general-
präventiv wirken, als sie Machthabern in aller Welt vor Augen führt, dass sie sich
nicht auf Dauer darauf verlassen können, dass ihre politische Stellung sie vor Straf-
verfolgung schützt, und dass sie unter Umständen selbst dann durch den IStGH zur
Verantwortung gezogen werden können, wenn in ihrem eigenen Land kein geeigne-
tes Gericht zur Verfügung steht.56 Andererseits zeigt sich bei einem Blick auf die ak-
tuelle Weltlage von 2020 mit ihren zahlreichen blutigen Konflikten, die häufig ohne
Rücksicht auf die Begrenzungen durch das humanitäre Völkerrecht ausgetragen wer-
den, keine nachhaltig befriedende oder zivilisierende Wirkung der Bemühungen des
IStGH. Die wenigen Personen, die dort bisher verurteilt wurden, erscheinen überwie-
gend als unlucky losers aus militärischen Auseinandersetzungen in Afrika. Solange
die mächtigen Staaten dieser Welt, wie die USA, die VR China, Russland, aber auch
die Türkei und Israel die Mitwirkung am IStGH ablehnen, wird sich an diesem Zu-
stand und an der sehr begrenzten Wirkung seiner Tätigkeit bei der Verhinderung völ-
kerrechtlicher Verbrechen auch nicht viel ändern.57
6. Schlussbemerkung
Die Aufgabe, bei der Bestrafung völkerrechtlicher Verbrechen relative Gerechtig-
keit zu verwirklichen, stellt die Richter internationaler Strafgerichtshöfe vor fast un-
überwindbare Schwierigkeiten. In den maßgeblichen Rechtsvorschriften, insbeson-
dere den Statuten der Gerichtshöfe, sind keine brauchbaren Maßstäbe für die Straf-
zumessung im Einzelfall zu finden. Die zur Aburteilung gestellten Fälle lassen sich
kaum miteinander vergleichen, und auch die Rolle der einzelnen Angeklagten bei
55
Siehe dazu Melloh (Fn. 20), 114 ff.; Ambos (Fn. 28), 86; DeGuzman (Fn. 38), 956 ff.
Hoven 2013, 137, 155 schließt aus dem „expressiven“ Charakter der Bestrafung, dass die
Täter völkerstrafrechtlicher Verbrechen normalerweise zu lebenslanger Freiheitsstrafe verur-
teilt werden sollten. Siehe demgegenüber jedoch Pros. v. Karadzic, International Residual
Mechanism for Criminal Tribunals, Appeal judgment, 29 March 2019, Dissenting opinion of
Judge de Prada Solaesa, paras. 847 ff. (lebenslange Freiheitsstrafe verstoße gegen den
Grundsatz der Menschlichkeit).
56
Der Gedanke der allgemeinen Abschreckung wird hervorgehoben z. B. in Pros. v. Bla-
skic, ICTY, Trial Chamber, IT-95 – 14-T, Judgment, 3 March 2000, para. 761; Pros. v. Ruta-
ganda, ICTR, Trial Chamber, ICTR-96 – 3, Judgment and Sentence, 2 February 1999,
para. 456. S. hierzu auch D’Ascoli (Fn. 34), 299 f.; Melloh (Fn. 20), 137 ff.; Hoven 2013, 137,
148.
57
Ähnlich die Einschätzung bei Grono & de Courcy Wheeler 2014, 1225, 1240 ff.
Schuldangemessene Strafzumessung im Völkerstrafrecht 599
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Strafzumessungsschuld oder/und Tatproportionalität?
Von Franz Streng
1. Einleitung
In seiner großen, empirisch wie theoretisch angelegten Studie „Strafzumessung
bei schwerer Kriminalität“ betont Hans-Jörg Albrecht, dass „ein Umrechnungsmaß-
stab, der Schuld in Strafe übersetzt, nicht vorhanden sein kann … und daß die Ori-
entierung an der Strafzumessungsschuld ein unverbindlicher Programmsatz bleibt“.
„Eine Tatproportionalitätstheorie der Strafzumessung dagegen … stellt … einen
theoretischen Rahmen für die Ausbildung eines rechtlich begründbaren Maßstabs
für die Strafmaßdifferenzierung oder -abstufung zur Verfügung“.1
Mit dem Jubilar verbindet mich nicht nur die jahrzehntelange regelmäßige Teil-
nahme an den Kolloquien der Südwestdeutschen Kriminologischen Institute,2 son-
dern auch das besondere Interesse an Fragen der Strafzumessung. Eben dieser ge-
meinsame Forschungsschwerpunkt veranlasst mich dazu, im Folgenden Hans-
Jörg Albrechts oben angedeutete Positionen zum zentralen Bezugspunkt der Straf-
zumessungsentscheidung aufzugreifen und zu diskutieren.
1
Albrecht 1994, 53.
2
Vgl. zu den alljährlich stattfindenden, ebenso familiären wie informativen Arbeitsta-
gungen etwa Störzer & Streng 1977; Albrecht & Sieber 1984; Bartsch, Brandenstein, Grun-
dies, Hermann, Puschke & Rau 2017.
3
Vgl. etwa Jescheck & Weigend 1996, 887 ff.; Frisch 2011, 16 f.; Zipf & Dölling, in:
Maurach, Gössel & Zipf 2014, § 63 Rn. 19 ff.; Meier 2019, 190 ff.; Schäfer, Sander & van
Gemmeren 2017, Rn. 577 ff.; Kühl, in: Lackner & Kühl 2018, § 46 Rn. 23.
604 Franz Streng
4
Ausführlich dazu Streng 2012, Rn. 565 ff.; Kaspar 2018, C 66 ff. – Daten dazu etwa bei
Albrecht 1994, 333 ff., 381 ff.; Höfer 2003, 105 ff.; Streng 2006, 453 f., 456 ff.
5
Für unmittelbare Schuldrelevanz etwa Schaffstein 1973, 113; Streng 2012, Rn. 527; Zipf
& Dölling, in: Maurach, Gösssel & Zipf 2014, § 63 Rn. 52 ff., 55; Kinzig, in: Schönke &
Schröder 2019, § 46 Rn. 9 f. – Zur Indizkonstruktion der h.M., vgl. Eschelbach, in: Satzger,
Schluckebier & Widmaier 2018, § 46 Rn. 117; Schäfer, Sander & van Gemmeren 2017,
Rn. 641; Kühl, in: Lackner & Kühl 2018, § 46 Rn. 36, 40, 43.
6
Vgl. Streng 2012, Rn. 527, 572 ff.; unmittelbarer auf Normbestätigungsbedürfnisse ab-
stellend Kunz 2011, 137 ff.
Strafzumessungsschuld oder/und Tatproportionalität? 605
fragt sich, inwieweit Schuld in ihrer Quantifizierung darstellbar ist: Gibt es „Schuld-
einheiten“, die dann in einem zweiten Schritt in Strafeinheiten umrechenbar wären?
Dafür könnte sprechen, dass gem. § 46 Abs. 1 S. 1 StGB die Schuld des Täters
„Grundlage für die Zumessung der Strafe“ ist. Und man könnte auch anführen,
dass gem. § 57a Abs. 1 S. 1 StGB zu entscheiden ist, ob eine besondere Schwere
der Schuld vorliegt, die eine Strafrestaussetzung bereits zum 15-Jahres-Zeitpunkt
ausschließt. Bedenklich an diesem Modell ist allerdings, dass schon die Aussage,
es handele sich um eine besonders schwere Schuld, einigermaßen vage bleibt.
Daran würde auch eine Mathematisierung des Schuldurteils nichts ändern können.
Zerlegt man nämlich die Schuldschwere irgendeines Delikts z. B. in 100 Schritte
von extrem leicht bis äußerst schwer, dann würde der Urteilende wohl in große Ver-
wirrung gestürzt, wenn er entscheiden sollte, ob die Tat den Wert 43 oder 49 oder 55
erreicht. Zu konstatieren bleibt also, dass es an adäquaten Ausdrucksmöglichkeiten
für eigentliche Schuld-Grade letztlich fehlt.7
Auch auf der nächsten Ebene dieses zweistufigen Modells, nämlich beim gesetz-
lichen Strafrahmen, aus dem die Strafe mittels Umrechnung aus „Schuldeinheiten“
entnommen werden soll, ergeben sich Probleme. Die gesetzlichen Strafrahmen sind
zum einen regelmäßig sehr weit und geben von daher dem Rechtsanwender nur
wenig Orientierung; überdies sind sie vielfach überaltert und entsprechen daher
nicht mehr den Wertungen bzw. Strafvorstellungen der heutigen Zeit. Kaum besser
sieht die Sache bei den Strafrahmen der neueren Gesetzgebung aus, die unter den
Vorzeichen von „symbolischer Gesetzgebung“ vielfach eher der Beruhigung der Be-
völkerung durch Demonstration politischer Handlungsfähigkeit dienen sollen, als
den Gerichten eine glaubwürdige Strafskala für gerechte Strafzumessung vorzuge-
ben.8 Da wohl kein Richter ein ungerechtes Urteil sprechen möchte, führt das zu
einer Distanzierung gegenüber der „gesetzlichen Schwereskala“ des Strafrahmens.9
Dementsprechend zeigt ein Blick in die Rechtspflegestatistik, dass die Gerichte sehr
viel stärker den unteren Bereich der gesetzlichen Strafrahmen für die Strafzumes-
sung nutzen als den mittleren oder gar den oberen Bereich10 – ganz abgesehen
von den gem. §§ 153, 153a StPO nach Opportunität eingestellten Verfahren.
Es zeigt sich somit, dass ein zweistufiges Modell der Findung einer schuldentspre-
chenden Strafe, nämlich zunächst in Form einer Schuldquantifizierung nach
„Schuldeinheiten“ mit anschließender Umrechnung der Schuldquanten anhand der
gesetzlichen Schwereskala des Strafrahmens in Strafquanten, in hohem Maße fehler-
anfällig und letztlich fiktiv ist; die Praxis geht daher – mit guten Gründen – andere
Wege, indem sie sich um Konsens bemüht und am „Üblichen“ orientiert. Nicht ein-
mal die Schuldschwere-Klausel des § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB lässt eine positivere
7
Vgl. schon v. Liszt 1905, 331 f.; Stratenwerth 1972, 35 f.; Streng 2012, Rn. 531.
8
Ausführlich zur Strafrahmen-Problematik Hettinger 2007, 95 ff.; 2014, 891 ff.
9
Vgl. für die Schwereskala-Lehre Dreher 1947, 61 ff.; dazu Jescheck & Weigend 1996,
874 f.; Streng 2012, Rn. 641 ff.; Fischer 2020, § 46 Rn. 17 ff.
10
Vgl. Götting 1997, 95 ff., 231 f.; Schott 2004, 227 ff., 291 ff.
606 Franz Streng
11
Vgl. Streng 2012, Rn. 294 ff.; Fischer 2020, § 57a Rn. 9 ff; vgl. zu den Begründungs-
elementen Kett-Straub 2011, 250 ff.
12
Vgl. von Hirsch 1993, bes. 88 ff.; Albrecht 1994, 50 ff.; Hörnle 1999; Frisch 2003, 1 ff.;
Ashworth 2010, 104 ff.; ferner Schünemann 1987, 209, 224 ff.; Kilchling 2000, 30 ff.; Melloh
2010, 110 ff., 514 ff.; Giannoulis 2014, 13 ff.
13
Zu den Begriffen von Hirsch & Jareborg 1991, 25; von Hirsch 2003, 61 ff.; Duff 2003,
29 f.
14
Vgl. Albrecht 1994, 50 f.; Hörnle 1999, 159 ff., 394 ff.; von Hirsch 2003, 48, 72;
Schünemann 2003, 187 ff.
Strafzumessungsschuld oder/und Tatproportionalität? 607
15
Vgl. von Hirsch 1993, 31 ff.; 2003, 67 ff.; Hörnle 1999, 223 ff., 373 ff.; Giannoulis
2014, 176 ff.; zust. Horstkotte 1992, 165; Duff 2003, 33.
16
Vgl. etwa Ashworth 2010, 111 ff.; 2003, 86 f.; Hörnle 2003, 110 ff.
17
Vgl. Reichert 1999, 273 ff., 295; von Hirsch 2003, 61 ff.; Giannoulis 2014, 315 ff.,
406 ff.
18
Für letzteres Duff 2003, 36 ff., 44 f.; Weigend 2003, 205 f.; zum Ganzen Frisch 2003,
5 ff.
19
Vgl. Schünemann 2003, 191, 194 f.
20
Bejahend Schünemann 1987, 226 f.; restriktiv Giannoulis 2014, 152 ff.; ablehnend Al-
brecht 1994, 52; Hörnle 1999, 167 ff.
21
Ausführl. Hörnle 1999, 195 ff.; ferner Schünemann 1987, 209, 227 f.; Ashworth 2003,
88.
22
Vgl. Ashworth 2003, 91 f.; von Hirsch 2003, 72 ff.; Giannoulis 2014, 140 ff., 288 ff.;
ablehnend Hörnle 1999, 164 ff.
608 Franz Streng
Eng verwandt mit der Tatproportionalitätslehre ist der zunehmend vertretene An-
satz einer am verfassungsrechtlich fundierten Verhältnismäßigkeitsprinzip orientier-
ten Strafzumessung. Neuere Versuche, ein Strafrecht ohne das Schuldprinzip zu kon-
struieren, setzen als Regulativ für die im Kern zweckhaft begründete Strafe auf eine
spezifisch strafrechtliche Ausformulierung des rechtsstaatlichen Verhältnismäßig-
keitsprinzips.27 Diese Ansätze wurden in Kritik zu dem als vage eingestuften und
mit der Gefahr selbstgerechten Strafens behafteten Schuldprinzip bzw. zum Zwecke
effizienterer Zurückdrängung des weithin nur unsicher zu bemessenden Präventions-
einsatzes entwickelt. In dem älteren Ansatz von Baurmann etwa richtet sich die „So-
zialschädlichkeit“ als wesentlicher Bezugspunkt „nach dem Wert und dem Grad der
Gefährdung des betroffenen Rechtsguts und nach der persönlichen und sozialen Si-
tuation, in der die Tat ausgeführt wird“; hinzukommen soll die Berücksichtigung der
„Motivierbarkeit“ des Täters.28 Es muss das Verhältnismäßigkeitsprinzip also letzt-
lich genauso komplexe Wertungen beinhalten wie das Schuldprinzip, wenn es dem
Gerechtigkeitsgefühl der Bevölkerung Rechnung tragen will. Die hier deutlich wer-
dende, enge inhaltliche Verwandtschaft mit den Kriterien einer herkömmlichen
23
Vgl. auch Stratenwerth 1977, 36 ff., 41; Müller-Dietz 1979, 23 f.; Jung 1992, 201 ff.;
Dölling 1999, 195; Kaspar 2014, 332 ff., 788 f.
24
Überlegungen zu einer Implementierung ins deutsche Strafrecht bei Schünemann 1987,
224 ff.; von Hirsch & Jareborg 1991, 35 ff.; Albrecht 1994, 50 ff., 473 f.; Hörnle 1999,
324 ff.; Reichert 1999, 121 ff., 255 ff.
25
Vgl. Ellscheid 2001, 204 ff.; Dölling 2003, 57 f.; Schott 2004, 148 ff.; Haas 2008,
296 f.; Epik 2017, 190 f.; eingeräumt von Hörnle 1999, 191 ff., 326 ff.; relativierend von
Hirsch & Jareborg 1991, 56 ff.
26
Vgl. Schünemann 1987, 226 f.; Hörnle 1999, 133 f.; Reichert 1999, 66 f.
27
Vgl. Ellscheid & Hassemer 1970, 27 ff.; Baurmann 1987; Scheffler 1987, 79 ff., 138 ff.;
für das Jugendstrafrecht Ostendorf, in: Ostendorf 2016, § 5 Rn. 3.
28
Baurmann 1987, 303 f.
Strafzumessungsschuld oder/und Tatproportionalität? 609
29
Vgl. schon Stratenwerth 1977, 36 ff., 41; Müller-Dietz 1979, 23 f.; Kaufmann 1986,
227 f.; Kim 1987, 102 ff., 104; Jung 1992, 201 f.; Roxin 1993, 531 ff.; Neumann 2008, 424 ff.
30
Vgl. Kaspar 2014, 703 ff.; 2018, C 25 ff.; ferner Weigend 1999, 926 f.
31
Vgl. Kaspar 2014, 297, 821, 875 f.; Kaspar 2018, C 25 f.
32
Vgl. Kaspar 2018, C 26 f.
33
Näher dazu Frisch 2013, 251 ff.; Streng 2014, 840 ff.; Jung 2015, 468; Gärditz 2016,
644.
34
Vgl. etwa Lackner 1978, 25; Schünemann 1987, 210 f.; Günther 1989, 1029; Schäfer
1992, 185 f.; Frisch 1998, 786; Roxin 2006, § 3 Rn. 50; Streng 2012, Rn. 547; Meier 2019,
171 f.; Radtke, in: MüKo 2020, Vor § 38 Rn. 57; Kinzig, in: Schönke & Schröder 2019, Vor
§ 38 Rn. 21.
35
Vgl. schon Hogarth 1971, 351; relativierend Albrecht 1994, 202 f.; Überblick bei Streng
2012, Rn. 487 ff.
36
Vgl. zu derartigen Inkonsistenzen Streng 2012, Rn. 500 f.
610 Franz Streng
Hinzu kommt, dass die derzeit extrem weiten gesetzlichen Strafrahmen wenig taug-
lich dafür sind, dem Urteilenden eine wirkliche Hilfestellung für das Finden einer
schuldangemessenen Sanktion zu bieten. Auch das Urteilen in Kollegialgerichten
und die dort mögliche Konsensbildung dämpft diese Unsicherheit nur begrenzt.37
Allerdings haben auch die Erörterungen zu Tatproportionalitäts- und Verhältnis-
mäßigkeitsansätzen gezeigt, dass kein Weg an komplexen Wertungen vorbeiführt,
wenn man der Aufgabe des Strafrechts gerecht werden will. Eine Strafbemessung
proportional nur zum Deliktsschaden – falls ein solcher überhaupt quantifizierbar
ist – führt evident nicht zu verlässlich akzeptablen Ergebnissen, wenngleich immer-
hin eine gewisse Reduzierung der herkömmlich berücksichtigten Tat- und Täter-
merkmale möglich erscheint. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip wiederum beinhaltet
kein eigenständiges Maßprinzip, sondern bezieht sich auf Strafmaßvorstellungen,
die aus anderen Prinzipien (Strafzwecke; Schuldprinzip) gewonnen werden. Wie
oben zu zeigen war, mussten Vertreter beider Strafzumessungslehren daher einräu-
men, dass auf eine Orientierung auch an Gerechtigkeitsstandards letztlich nicht ver-
zichtet werden kann.
Tatsächlich ist man sich in der deutschen Strafrechtswissenschaft weitestgehend
einig darin, dass die Wertorientierungen der Bevölkerung zu respektieren sind, dass
das Strafrecht sogar dazu berufen ist, im Sinne „positiver Generalprävention“ auf
eine Bewahrung oder gar Stärkung dieser Werthaltungen hinzuwirken.38 Ganz in die-
sem Sinn haben empirische Untersuchungen hinlänglich belegt, dass der inneren
Normbindung bzw. dem Glauben des Individuums an die Verbindlichkeit etablierter
Verhaltensnormen größere Bedeutung für ein angepasstes Sozialverhalten zukommt
als strafrechtlicher Abschreckung.39
Das unmittelbar die Gerechtigkeitsdimension anzielende Schuldprinzip ist daher
mitnichten obsolet geworden. Ein Überlegenheitsanspruch der Tatproportionalitäts-
lehre wie auch des Verhältnismäßigkeitsansatzes lässt sich nicht begründen. Dies
heißt aber nicht, dass man diese Konkurrenz zur an Strafzumessungsschuld orientier-
ten Strafzumessung geringschätzen sollte. Tatsächlich bietet sich die Tatproportiona-
litätslehre dazu an, einige dem herkömmlichen Schuldprinzip eigene Schwächen der
Straflimitierung zu vermeiden. Hat es sich doch gezeigt, dass bei erheblicher krimi-
neller Vorbelastung des zu Verurteilenden vielfach ein allzu bedenkenloses Abstra-
fen von Lebensführungsschuld unter Vernachlässigung der Tatschuld stattfindet. Be-
sonders augenfällig ist dieser Vorgang, wenn häufig rückfällige Bagatelltäter zu Frei-
heitsstrafen verurteilt werden, die mit der Tatschwere an sich überhaupt nichts mehr
37
Immerhin im Längsschnitt wird für Deutschland übergreifend eine relativ stabile Straf-
zumessungsstruktur betont von Albrecht 2017, 192 ff.
38
Für Nachweise vgl. bei Hörnle 1999, 89 f.; Streng 2012, Rn. 24 ff.; Epik 2017, 37 f.;
Hassemer & Neumann, in: NK-StGB 2017, Vor § 1 Rn. 288 ff.
39
Vgl. etwa Dölling 1983, 69 ff.; Schöch 1985, 1099 ff.; Schumann, Berlitz, Guth &
Kaulitzki 1987, z. B. 152, 158 f.; ferner Albrecht 1980, 318 ff.; Hermann & Dölling 2001,
74 ff.; Hermann 2003, 122 ff., 185 ff., 195 ff., 332 f.; Mesko, Hirtenlehner & Bertok 2015,
308 ff.
Strafzumessungsschuld oder/und Tatproportionalität? 611
Denn ganz in diesem Sinne fordert der Wortlaut von § 46 Abs. 1 S. 1 StGB ein: „Die
Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe“. Und tatsächlich lässt
sich eine tatschuldangemessene und damit auch tatproportionale Strafe am sichers-
ten dann garantieren, wenn dieser normativ vorrangige Wertungsgesichtspunkt auch
im Entscheidungsablauf im Vordergrund steht.46 Erst wenn sich der Richter über den
angemessenen Schuldrahmen für die abzuurteilende Tat klar geworden ist, sollte er
bei seiner Entscheidungsfindung auf den Präventionseinsatz eingehen. Bestätigt wird
dieses Postulat durch psychologische Befunde zu Ankereffekten (Anchoring) bei
schwierigen bzw. unsicheren Wertungsaufgaben. Diese haben deutlich gemacht,
dass der erste Wertungsvorschlag, der von Dritten eingebracht wird, großen Einfluss
auf die durch den Entscheidungszuständigen letztlich getätigte Wertung ausübt.47
Man wird daraus folgern können, dass dies analog auch für den Fall gilt, in welchem
der Wertende selbst sich einen ersten Wertungsvorschlag zunächst unter einem von
letztlich mehreren zu berücksichtigenden Blickwinkeln erarbeitet. Und dieser erste
Wertungsschritt betrifft angesichts der Aussage des § 46 Abs. 1 S. 1 StGB zur Straf-
zumessungsgrundlage notwendig die Strafzumessungsschuld im Sinne des verschul-
deten Tatunrechts.
Die seit langem zwischen verschiedenen Regionen, Gerichten und Richtern zu be-
obachtenden Strafzumessungsdiskrepanzen48 werden aber durch eine nun stärker be-
tonte Bezugnahme auch auf Tatproportionalität und/oder Verhältnismäßigkeit allen-
falls geringfügig zurückgehen. Daher plädieren Vertreter auch dieser Ansätze für In-
strumente zur Bekämpfung der großen Wertungsunsicherheit. Es geht um deutlich
engere gesetzliche Strafrahmen, konsensfördernde Strafzumessungs-Informations-
systeme und vom Gesetzgeber legitimierte Strafzumessungsrichtlinien.49 Die Ein-
führung eines flexiblen computergestützten Strafzumessungs-Informationssystems
erscheint dabei als besonders erfolgversprechende Maßnahme. Wenn derart eine Da-
tenbasis zur Strafzumessungspraxis in Deutschland insgesamt zur Verfügung gestellt
würde, wäre den Gerichten, den Staatsanwaltschaften und den Verteidigern ein Ab-
fragen der bundesweiten Strafmaßverteilung anhand der wesentlichen Merkmale des
jeweils abzuurteilenden Falles möglich. Dies könnte auffälligen Strafzumessungsun-
terschieden, die das Gerechtigkeitsgefühl der betroffenen Verurteilten wie der Bevöl-
kerung insgesamt belasten, wirksam entgegensteuern.50
46
Zur Vernachlässigung dieses Erfordernisses in der Praxis vgl. Streng 2012, Rn. 629.
47
Vgl. etwa Englich & Mussweiler 2001, 1535 ff.; dazu Streng 2012, Rn. 498.
48
Dazu Streng 1984, 5 ff.; Albrecht 1994, 169 ff.
49
Vgl. etwa Reichert 1999, 273 ff., 295; Giannoulis 2014, 296 ff., 406 ff.; Kaspar 2018,
C 113 ff.; Hörnle 2019, 287 ff.
50
Dazu näher Streng 1984, 308 ff.; 2012, Rn. 768 f.; 2018, 599; zum in Japan jüngst
entstandenen Strafzumessungsinformationssystem für Schöffengerichte vgl. Nakagawa 2011,
206 ff.
Strafzumessungsschuld oder/und Tatproportionalität? 613
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Auf dem Weg zu einer einheitlicheren Strafzumessung
Ein Nachwort zum 72. Deutschen Juristentag 2018
1
Kahl 1906, 895.
2
Mannheim 1921, 40, 41.
3
Drost 1930, 117.
4
von Weber 1956, 19.
5
Sarstedt 1955, D 30, 39.
6
Sarstedt 1955, D 39.
620 Wolfgang Frisch
selten überein; in den krassesten Fällen lag die eine Entscheidung um das Sechsfache
über der anderen.7
Freilich stützt sich das Bild von einer insgesamt uneinheitlichen Strafzumes-
sungspraxis nicht nur auf derartige gelegentliche Beobachtungen, die man mögli-
cherweise als zufällig abtun könnte. In dieselbe Richtung weisen gezielt auf die Er-
forschung der Strafzumessungspraxis gerichtete empirische Untersuchungen. So hat
z. B. Franz Exner auf der Basis statistischer Untersuchungen schon für die dreißiger
Jahre des 20. Jahrhunderts Unterschiede vom bis zu Vierfachen im Strafmaß nach-
gewiesen,8 und der von mir hochgeschätzte Jubilar hat im Rahmen einer Untersu-
chung zur Geldstrafenpraxis in Baden-Württemberg festgestellt, dass „im Süden
mehr als dreimal so häufig niedrige Geldstrafen unter 100 DM ausgesprochen (wur-
den) wie im Norden, während umgekehrt hohe Geldstrafen über 200 DM im Norden
fünfmal so häufig verhängt (wurden) wie im Süden“.9 Eine gewisse empirische Be-
stätigung des Bildes der Uneinheitlichkeit vermitteln auch Befragungen von Rich-
tern und Staatsanwälten dazu, welches Strafmaß sie für bestimmte fiktiv gebildete
Fälle für richtig hielten. Franz Strengs Befragung von 500 Richtern, Staatsanwälten
und Assessoren aus Niedersachsen förderte hier weit auseinanderklaffende Strafma-
ße zu Tage;10 andere vergleichbare Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen.11
Zwar liegen die solch drastische Unterschiede konstatierenden Untersuchungen
mittlerweile einige Jahrzehnte zurück. Die wenigen gezielten Untersuchungen aus
der jüngeren Vergangenheit zeichnen z. T. ein weniger dramatisches Bild – der Jubi-
lar selbst konnte für die Strafzumessung bei schwerer Kriminalität eine relative
Gleichmäßigkeit feststellen.12 Freilich wäre es wohl doch eine etwas zu euphorische
Bewertung der Gesamtsituation, wenn man angesichts gewisser erfreulicher Anglei-
chungsprozesse annehmen wollte, das Thema der Ungleichheit der Strafzumessung
habe sich erledigt.13 Dass das nicht der Fall ist, zeigt sich nicht nur an schwer erklär-
baren Strafzumessungsentscheidungen im Einzelfall – etwa im Zusammenhang mit
revisionsgerichtlichen Aufhebungen, an erstaunlichen Divergenzen bei der Behand-
7
Peters 1972, 51, 60; weit. Nachw. zu den Untersuchungen von Peters bei Streng 1984,
10 f.
8
Vgl. Exner 1931, 46 ff. (zu örtlichen Unterschieden); vgl. auch schon Woerner 1907, 23,
53.
9
Albrecht 1980a, 88, 206 f.
10
Streng 1984, 75 ff., 78 ff., 95 ff., 102 ff.
11
Vgl. etwa Opp & Peukert 1971; Hood 1972, 143; Peters 1973; weit. Nachw. bei Streng
1984, 59 ff. und Streng 2018, 593 f.
12
Vgl. Albrecht 1994, 492 f.; ferner Albrecht 2017, 185; ähnlich Hoppenworth 1991, 23 ff.,
54 ff., 258 ff., 266; weit. Überblick und Nachw. bei Maurer 2005, 31 ff., 37 ff.
13
Im Sinne der Annahme einer gewissen Angleichung, aber doch weiterbestehender Un-
terschiede mit Beispielen auch das Fazit von Maurer 2005, 43 ff. und Hörnle 1999, 67 f.;
zuletzt wieder Kaspar 2018, C 16 ff. m.w.N.; Mosbacher & Raum DJT 2019, II 1 M 23 bzw. II
2 M 147 ff.
Auf dem Weg zu einer einheitlicheren Strafzumessung 621
ser Strafarten zueinander. Dagegen fehlten Regelungen zu den Zwecken und den
Maßstäben, nach denen die Strafe zu bemessen war, ebenso wie Vorschriften, die
sich darüber verhielten, welche Umstände strafzumessungsrelevant sind und wie
man von diesen Umständen zu einer konkreten Strafgröße kommen kann und zu
kommen hat. All das blieb dem Ermessen des Richters überlassen,17 für den die Straf-
zumessung damit ein „Griff ins Dunkle“18 war.
Dementsprechend war es ein zentrales Anliegen aller Reformentwürfe seit 1909,
hier für Abhilfe, mehr Klarheit und damit auch Einheitlichkeit zu sorgen. Da man die
komplexe Gesamtdimension der eigentlich zu beantwortenden Fragen noch gar nicht
richtig erfasste, war das Ergebnis dieser Bemühungen freilich zunächst relativ be-
scheiden: bis zum E 1930 boten die Entwürfe zunächst nichts weiter als eine Aufzäh-
lung der für die Strafzumessung „insbesondere“ in Betracht kommenden Umstän-
de.19 Gewisse Antworten auf andere bei der Strafzumessung zu lösende Probleme
finden sich erst in den Reformarbeiten der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahr-
hunderts,20 die schließlich in den Jahren 1969 – 1975 zu den heutigen Strafzumes-
sungsregelungen des StGB führten. Diese enthalten – nach langem Ringen – endlich
auch eine Aussage zu dem grundsätzlichen Maßstab der Strafzumessung und eine
begrenzte Aussage zum Strafzweck. Die Strafe soll danach auf der Grundlage der
Schuld (also nicht, wie von anderen gefordert, der Gefährlichkeit) bemessen werden
(§ 46 Abs. 1 S. 1 StGB), wobei auch die Wirkungen auf den Täter, also spezialprä-
ventive Gesichtspunkte, zu berücksichtigen seien (§ 46 Abs. 1 S. 2). Diese grund-
sätzlichen Aussagen werden in § 46 Abs. 2 StGB durch eine beispielhafte Aufzäh-
lung der wichtigsten strafzumessungsrelevanten Umstände sowie durch detaillierte
Regelungen ergänzt, die durch hohe Anforderungen an die Verhängung kurzer Frei-
heitsstrafen (so § 47 StGB) und erweiterte Möglichkeiten der Strafaussetzung (so
§ 56 StGB) um eine weitgehende Zurückdrängung der (vollstreckten) Freiheitsstrafe
bemüht sind.
Die von vielen gehegte Hoffnung, dass durch diese – im Verhältnis zum ursprüng-
lichen StGB – doch recht detaillierte Regelung der Strafzumessung allmählich auch
mehr Einheitlichkeit und Gleichmaß in die Strafzumessungspraxis einkehren würde,
erfüllte sich indessen nicht – oder doch allenfalls begrenzt. Auch die Jahre nach 1969
sind – wie oben (1.) dargelegt – noch durch erhebliche Divergenzen in der Strafzu-
messungspraxis gekennzeichnet. Verwunderlich ist diese relative Wirkungslosigkeit
des Gesetzes nicht. Tatsächlich schrieb dieses ja in Vielem nur das fest, was zuvor
schon seitens der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung richterrechtlich praktiziert
worden war und nur sehr begrenzt Strafmaßgleichheit zu gewährleisten im Stande
17
Ausdruck dessen in der Rechtsprechung etwa RGSt 8, 76, 77; RG JW 1937, 3302
(Nr. 4); eingeh. dazu Frisch 1971, 67 ff. 75 ff. m.w.N.
18
von Liszt 1905, 290, 393.
19
Darstellung der einschlägigen Vorschriften der Reformentwürfe bei Bruns 1967, 104,
106 ff.
20
Siehe dazu Bruns 1967, 287 ff.; Kaspar 2018, C 58 ff.; je m.w.N.
Auf dem Weg zu einer einheitlicheren Strafzumessung 623
war. Es war damit von Anfang an eine Fehlintuition zu glauben, dass eine gesetzliche
Festschreibung dessen, was bisher schon höchstrichterlich praktiziert worden war
und zur Gewährleistung von Strafmaßgleichheit nicht ausreichte, zu einem wesent-
lichen Wandel in der Strafzumessungspraxis führen würde.
Bleibt die Frage, warum die gesetzlichen Regelungen (und ihre richterrechtlichen
Vorläufer) nicht ausreichten, um das wünschenswerte Gleichmaß und die wün-
schenswerte Gleichbehandlung gleicher Fälle in der Strafzumessungspraxis zu ge-
währleisten. Die Antwort ist einfach: Das Gesetz bietet zwar für einen Teil der zu
lösenden Probleme Lösungen; gerade die entscheidenden und schwierigen Fragen
beantwortet es aber nicht. Weitgehend unbeantwortet blieb und bleibt auch heute
noch beispielsweise, wie der Richter von einer Reihe festgestellter strafzumessungs-
relevanter Umstände zu einer Aussage über das Maß der Schuld und von dieser Be-
wertung weiter zu einer Aussage über ein konkretes Strafmaß gelangen soll.21 Wo
findet er die Maßstäbe für all das? Wo findet er Maßstäbe für die ihm in § 46
Abs. 2 S. 2 StGB abverlangte Abwägung der strafzumessungsrelevanten Umstände?
Muss der Abwägung nicht auch eine Gewichtung der Umstände vorausgehen?
Woher nimmt man die hierfür benötigten Maßstäbe? – Relativ (allein) auf die in die-
ser Hinsicht äußerst bescheidenen Aussagen des Gesetzes gleicht die dem Richter
abverlangte Bemessung einer konkreten Strafe damit auch heute noch durchaus
einem „Griff ins Dunkle“, dessen Kompass in vielen Fällen nur noch das persönlich
für richtig Gehaltene sein dürfte, das keinerlei Garantie für eine einheitliche Straf-
zumessung enthält.
Soll das weitgehende Schweigen des Gesetzgebers zu den eigentlichen Maßfra-
gen der Strafzumessung nicht zu einer inakzeptablen Uneinheitlichkeit der Strafzu-
messungspraxis führen, so benötigt der Rechtsanwender (Richter, Staatsanwalt) für
die Bewältigung der entscheidenden Phasen der Strafzumessung zusätzliche – geset-
zeskompatible – Anhaltspunkte, die ihn bei der Bestimmung der Strafe im konkreten
Fall leiten und, allgemein beachtet, eine relative Einheitlichkeit gewährleisten. Die
Frage nach den insoweit der Art nach in Betracht kommenden Hilfen ist das eigent-
liche Kardinalproblem einer Strafzumessung auf der Basis eines relativ schweigsa-
men Gesetzes. Dieser Problematik sind daher die folgenden Abschnitte dieses Bei-
trags gewidmet. Erst wenn Klarheit über die inhaltliche Beschaffenheit, die Ange-
messenheit und die Umsetzbarkeit der insoweit denkbaren Hilfen besteht, stellt
sich die Frage, ob das, was als Hilfe materiell angemessen erscheint, zumindest par-
tiell auch gesetzlich festgeschrieben werden kann und sollte. Der sofortige Ruf nach
„Sentencing Guidelines“, die mehr enthalten als das schon geltende Recht, droht so
eine entscheidende Reflexionsstufe zu überspringen oder doch zumindest zu unter-
thematisieren.
21
Eingehend zu diesen Phasen der sog. Abwägung und Umwertung die gleichnamige
Monografie von Montenbruck 1989, passim, sowie Giannoulis 2014, 169 ff., 251 ff.
624 Wolfgang Frisch
22
So von Bruckmann ZRP 1973, 30 ff.; Haag 1970; von Linstow 1974; Kohlschütter 1998
und zuletzt Giannoulis 2014, insbes. 315 ff.
23
Die folgenden Ausführungen des Textes orientieren sich in etwa an dem Modell von
Linstows, das auf einer Merkmalsverknüpfung mittels Addition und Multiplikation beruht,
und über tatbezogene Verknüpfungsregeln zu einer „Strafrohzahl“ führt (1974, 10 f.). Aus
dieser wird dann über weitere tatbestandsunabhängige Entscheidungsregeln die konkrete
Strafe bestimmt (1974, 27 ff.). Zu anderen Ansätzen vgl. Frisch 2003, 171 ff.; Maurer 2005,
80 ff.
24
Siehe dazu näher z. B. Reichert 1999, 166 ff.; Fischer 1999, 119 ff., 128 ff.; Kaspar 2018,
C 76 ff.; weit. Nachw. bei Frisch 2003, 167 f.; Maurer 2005, 71 ff.; Streng 2012, Rn. 764 ff.
25
Siehe dazu nachfolgend 4.
Auf dem Weg zu einer einheitlicheren Strafzumessung 625
sentierte oder konsensfähige Maßstäbe fordert.26 Setzt man bei dieser Sachlage ir-
gendwelche Punktwerte für Einzelumstände und bestimmte Strafmaße für Gesamt-
punktwerte einfach fest, so droht es zu nicht akzeptanzfähigen Strafen zu kommen.27
Will man das vermeiden und zu akzeptanzfähigen Strafmaßen kommen, so muss man
dafür Sorge tragen, dass dem Gesamtpunktwert eines Falles eine Strafgröße zugeord-
net wird, die als Strafe für diesen Fall akzeptanzfähig ist, also (z. B.) dem Maß des
Unrechts und der Schuld des Täters entspricht.
Spätestens an dieser Stelle wird sichtbar, dass das Verfahren einer Mathematisie-
rung der Strafzumessung zur Erzielung einer einheitlichen und voraussehbaren Straf-
zumessungspraxis, wenn es zu akzeptanzfähigen (und mit etwaigen Vorwertungen
des Gesetzes kompatiblen) Ergebnissen führen soll, im Grunde selbst bereits die
Kenntnis jener akzeptanzfähigen Strafgrößen voraussetzt, die über Punktewerte
dann „errechnet“ werden sollen. Kennt man jene Strafgrößen nicht und kann man
sie auch nicht anderweitig bestimmen, so droht die Konstruktion von Punktwerten
und Punktwerttabellen sowie zugeordneten Strafgrößen zu einem Strafmaßbestim-
mungsverfahren zu werden, das nicht verantwortet werden kann, weil es Strafgrößen
produziert, die zufällig sind und keine Gewähr bieten, akzeptanzfähig zu sein. Kennt
man die akzeptanzfähigen Strafgrößen aber bereits oder kann man sie (anderweitig)
bestimmen, so ist deren mathematische Reproduktion und Berechnung aus zu erstel-
lenden Punktwerttabellen ganz überflüssig und nichts weiter als eine scheinrationale
Verkomplizierung der Strafzumessung.28
Die vorstehenden Überlegungen zeigen freilich nicht nur, dass die mathematische
Bestimmung des Strafmaßes eine Scheinlösung und Sackgasse ist. Sie machen auch
deutlich, dass man, wenn man zu einer akzeptanzfähigen einheitlichen Strafzumes-
sung kommen will, sich zunächst einmal an jene Maßstäbe und Wertungen halten
muss, die eine Chance bieten, zu akzeptanzfähigen Strafmaßen zu führen. In
einem Rechtsstaat sind das zu allererst die jenseits der expliziten Aussagen in der
Rechtsordnung (bzw. seinem einschlägigen Teil) steckenden Grundgedanken, Kon-
zepte und Wertungen.
26
Zutreffend Streng 1984, 314.
27
Zutreffend Maurer 2005, 87: „eher willkürliche“ Zahlenwerte.
28
Frisch 2003, 155, 172; weitere Bedenken bei Streng 1984, 314 f.; Maurer 2005, 80 ff.,
88 f. – Übereinstimmend Hassemer 1978, 64, 76 f.; Kaspar 2018, C 99; Köberer 1996, 60 ff.,
103 ff., 167 ff.; weit. Nachw. bei Frisch 2003, 171 ff.; aus der Rspr. z. B. BGH NStZ 2008,
233 f.; NStZ-RR 2010, 40 und 75.
626 Wolfgang Frisch
stimmten Fall sachgerechte und akzeptanzfähige Strafe entnommen werden soll. Der
Gedanke ist – soweit ich sehe – mit großer Deutlichkeit erstmals von Dreher formu-
liert worden,29 hat aber sicherlich ältere Wurzeln. Der Strafrahmen ist danach nicht
etwas, das dem Strafrichter für die Einordnung seines Falles mit allen darin enthal-
tenen Strafgrößen zur Verfügung steht und aus dem er nach seinen persönlichen Vor-
stellungen das angemessene Strafmaß zu bestimmen hat – wie sich das viele in den
ersten Jahrzehnten der Geltung des StGB noch vorgestellt hatten (eine Auffassung,
die zugleich die Grundlage der lange Zeit herrschenden Annahme war, dass die Be-
stimmung einer Strafe, die innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens liegt, weitge-
hend unangreifbar [irrevisibel] sei30). Der Strafrahmen wird vielmehr so verstanden,
dass er für die denkbare Skala der von ganz leicht bis ganz schwer aufsteigenden
Fälle eines Delikts (die so genannte relative Schwereskala der Fälle) eine parallel
laufende Strafenskala bereithält. Der Schwereskala denkbarer Fälle sind danach
die aufsteigenden Strafgrößen des Strafrahmens zugeordnet.31
Praktisch bedeutet das, dass für die Beurteilung bestimmter Fälle – z. B. leichter
Fälle, mittelschwerer Fälle usw. – niemals die ganze Bandbreite der Strafgrößen des
Strafrahmens, sondern nur ein bestimmter engerer Bereich in Betracht kommt: für
die leichten Fälle z. B. nur Strafgrößen in unteren Bereich des Strafrahmens, für
leichte bis mittelschwere Fälle Strafgrößen, die bereits deutlich über der Mindeststra-
fe, aber doch noch in der unteren Hälfte des Strafrahmens liegen usw. Auf dieser
Grundlage hat die revisionsgerichtliche Rechtsprechung z. B. eine Strafzumessung
beanstandet, bei der ein erfahrungsgemäß häufig vorkommender, nicht allzu schwe-
rer Fall mit einer Strafe aus der Mitte des Strafrahmens belegt worden war.32 Gleiches
würde gelten, wenn für einen sehr schweren Fall die Mindeststrafe des Strafrahmens
oder eine nur wenig darüber liegende Strafgröße verhängt würde.
Es ist nicht zu bestreiten, dass ein solches – meines Erachtens im Ansatz richti-
ges33 – Verständnis des Strafrahmens dem Rechtsanwender bei der Bestimmung des
Strafmaßes im Einzelfall eine allererste Groborientierung geben kann. Ein Leitmaß,
das ihn bis hin zu einem konkreten Strafmaß (einer konkreten Strafgröße) führt, ist
29
Dreher 1947, 61 ff.
30
Vgl. etwa RGSt 8, 76, 77: Irrevisibilität der Strafzumessung, wenn sich die Strafe „in-
nerhalb der gesetzlichen Strafdrohung hält und nicht von rechtsirrtümlichen Voraussetzungen
ausgeht“. Eingeh. weit. Nachw. dazu bei Frisch 2005, 257, 259 f.
31
Zu dieser Konzeption der Strafrahmen (für das deutsche Recht) z. B. BGHSt 27, 2 ff.;
BGH StV 1983, 102 und 117; BGH StV 1984, 114; zuvor schon OLG Stuttgart MDR 1961,
443; OLG Hamm VRS 31, 288; aus der Literatur z. B. Bruns 1974, 81 ff.; 1985, 60 ff.; Dreher
1947, 61 ff.; 1978, 141, 149 ff.; Frisch 1971, 161 ff. m.w.N.; Meier 2015, 234 f.; Montenbruck
1989, 35 f., 39 f.; Schäfer, Sander & van Gemmeren 2017, Rn. 1165 ff.; krit. Hettinger 1982,
129 ff., 149; Streng 1984, 42 ff.
32
So BGHSt 27, 2, 4 f.
33
Näher Frisch 1971, 161 ff.; 2003, 155, 159 ff.
Auf dem Weg zu einer einheitlicheren Strafzumessung 627
sie aber ganz bestimmt nicht.34 Ob etwa ein leichter bis mittelschwerer Fall in einem
Strafrahmen von drei Monaten bis zu zehn Jahren eine Strafe von ein, zwei oder drei
Jahren oder eine der vielen dazwischenliegenden Strafgrößen verdient, lässt sich an-
hand eines so groben Rasters nicht beantworten. Hinzu kommt, dass es ja auch ge-
wisser umsetzbarer objektiver Maßstäbe dazu bedürfte, wann ein leichter, wann ein
mittelschwerer oder irgendein sonstiger derart qualitativ bezeichneter Fall vorliegt.
Allzu viel Feinheit lässt sich mit dem Instrumentarium der Schwereskala auch des-
halb nicht erzielen, weil das Arsenal der zur Verfügung stehenden Qualifikationsbe-
griffe (leicht, mittel, schwer usw.) begrenzt ist. Überdies leidet der Gedanke der
Strafrahmen als Schwereskala aber auch noch darunter, dass viele Strafrahmen
heute veraltet sind – etwa ganz unrealistisch hohe Obergrenzen aufweisen.35 Hier ob-
liegt es der Rechtsanwendung, überhaupt erst einmal die richtige Obergrenze zu fin-
den. Und auch wenn für die Beurteilung einer Straftat mehrere Strafrahmen zur Ver-
fügung stehen, stellen sich dem Rechtsanwender Fragen, auf die die Theorie der
Schwereskala keine unmittelbar umsetzbaren Antworten gibt, es vielmehr offenbar
zusätzlicher Maßstäbe bedarf.
All diese offenen Fragen und Schwächen ändern freilich nichts daran, dass das
Verständnis des Strafrahmens als Strafenstaffel für eine Skala von leicht nach schwer
ansteigender Fälle des jeweiligen Delikts das einzig sinnvolle Verständnis von diver-
gierenden Strafrahmen darstellt und deshalb als dem Gesetz entsprechende Grund-
idee den Ausgangspunkt der Strafzumessung zu bilden hat. Die begrenzte eigene
Leitfähigkeit der Grundidee bedeutet nur, dass es zu ihrer Umsetzung im Sinne
einer einheitlichen Strafzumessung noch einer Reihe von Ergänzungen und Festle-
gungen bedarf. Solche Festlegungen können dabei nicht nur die – im Folgenden aus-
geklammerte – Frage betreffen, welche Sachverhalte so unbedeutend erscheinen,
dass sie überhaupt nicht mehr mit Strafen belegt werden (sollen), sondern von
ihrer Verfolgung abgesehen werden kann. Denkbar und notwendig erscheinen vor
allem zusätzliche Festlegungen dergestalt, dass bei Berücksichtigung des Grundge-
dankens der relativen Schwereskala, der jeweiligen Strafrahmengrenzen und dessen,
was gegenwärtig als adäquates Strafmaß (für verschuldetes Unrecht) akzeptanzfähig
ist, für bestimmte Sachverhalte bestimmte Strafgrößen als sachgerecht, dem Unrecht
und der Schuld des Täters entsprechende Strafen anzusehen seien. Die Idee der re-
lativen Schwereskala wird dann durch gewisse „Ankerwerte“ weiter konkretisiert.
34
Ebenso Schäfer, Sander & van Gemmeren 2017, Rn. 1167: nur grobe Eckpunkte; siehe
auch Frisch 2003, 155, 160 f. und Kaspar 2018, C 47 ff.
35
Dreher 1978, 141, 150 ff.; Streng 1984, 44 f. und 2018, 593, 594 f. m.w.N.; siehe erg.
Frisch 1987, 751, 789 ff.; Schlothauer DJT 2018, II 2, M 107 f. und Verrel 2018, 811, 813.
628 Wolfgang Frisch
36
Zu den Begriffen vgl. z. B. Bruns 1974, 85 ff.; 1988a, 63 ff.; 1988b, 1053 ff.; Götting
1997, 60 ff., 213 ff.; Neumann 1992, 435, 444 ff.; Ostermeyer 1966, 2301 ff.; Schoene 1967,
1118 ff.; krit. zu Durchschnitts- und Regelfällen Montenbruck 1983, 30 ff., 38: „leere Hül-
sen“.
37
BGHSt 27, 2, 4 f.; Bruns 1974, 85; Ostermeyer 1966, 2301, 2302.
38
Vgl. etwa Meier 2015, 237; Ostermeyer 1966, 2301, 2302; Verrel 2018, 811, 813; Em-
pirie bei Götting 1997, 221 ff.
39
Vgl. etwa Bruns 1974, 85.
40
In diesem Sinne Bruns 1974, 85 f.; siehe auch schon Sturm 1913, 64, 69.
Auf dem Weg zu einer einheitlicheren Strafzumessung 629
diesem Weg zu erreichende Ertrag wohl eher doch begrenzt.41 Ein hohes Maß an Ein-
heitlichkeit ist so nur für den Regelfall und den Durchschnittsfall selbst zu erreichen.
Je weiter sich der konkret zu beurteilende Fall von diesen Leitfällen entfernt, desto
geringer wird die leitende und vereinheitlichende Funktion des Ansatzes. Selbst die-
sen durchaus begrenzten Ertrag vermag der Ansatz indessen gegenwärtig nicht zu
erbringen. Denn es fehlt weithin an intersubjektiv konsentierten oder auch nur kon-
sensfähigen Informationen darüber, welche Sachverhalte bei den einzelnen Delikten
des StGB und des Nebenstrafrechts die Regelfälle und die Durchschnittsfälle bilden.
Zu alledem nehmen weder die Kommentare noch die Judikatur bislang Stellung. Um-
setzbar würde der Ansatz damit überhaupt erst, wenn man sich für die praktisch be-
deutsamen Delikte intensiv mit der Identifizierung der Regel- und der Durchschnitts-
fälle beschäftigte und es gelänge, innerhalb absehbarer Zeit ein konsentiertes System
der bislang fehlenden Orientierungswerte zur Verfügung zu stellen.
Ob eine solche intensive Beschäftigung mit der Identifizierung der Regelfälle und
der Durchschnittsfälle sinnvoll und ertragreich ist, erscheint indessen überaus zwei-
felhaft. Tatsächlich können die Regel- und Durchschnittsfälle der einzelnen Delikte
doch nur auf der Basis einer relativ umfassenden und detaillierten Dokumentation
und Statistik der Ausprägungsformen der Begehung der einzelnen Delikte bestimmt
werden. An einer solchen Dokumentation fehlt es bislang – die herkömmlichen, un-
terhalb der Ebene der einzelnen Delikte regelmäßig nicht mehr weiter aufgefächerten
Statistiken sind dafür viel zu merkmalsarm. Doch selbst wenn derartige hinreichend
detailreiche Dokumentationen einigermaßen „flächendeckend“ zur Verfügung stün-
den, könnte nicht dazu geraten werden, nun für die einzelnen Delikte die jeweiligen
Regel- und Durchschnittsfälle (einschließlich der angemessenen Strafe[n] für die Re-
gelfälle) zu bestimmen, um so von diesen Orientierungswerten her die Strafzumes-
sung zu vereinheitlichen. Der Aufruf dazu, das zu tun, droht neue, unergiebige Streit-
fragen zu produzieren und ist auf dem Weg zu einer einheitlichen, rationalen Straf-
zumessung in Wahrheit ein Umweg.
Tatsächlich dürfte auch dann, wenn eine hinreichende Dokumentation der Aus-
prägungsformen der einzelnen Delikte verfügbar ist, ja nur selten sofort auch klar
sein, welcher der dokumentierten Fälle der Regelfall und welcher der sogenannte
Durchschnittsfall ist. Man wird darüber vielmehr – wie unter Juristen häufig – durch-
aus verschiedener Auffassung sein. Der Zwang dazu, Regelfälle und Durchschnitts-
fälle zu benennen, dürfte daher bei vielen Delikten zu Diskussionen und Streitfragen
führen, die die ohnehin bescheidenen Kapazitäten der Strafzumessungslehre zusätz-
lich binden. Das wiederum wäre deshalb bedauerlich, weil es zur Herbeiführung
einer einheitlicheren Strafzumessung gar nicht notwendig ist, bei jedem Delikt
genau zu wissen, welcher Sachverhalt der Regelfall und welcher der Durchschnitts-
fall ist. Völlig ausreichend ist es vielmehr zu wissen, welche Strafmaße für bestimm-
te Sachverhalte nur überhaupt angemessen erscheinen – wobei es sich bei den Sach-
verhalten um tatsächlich geschehene dokumentierte Straftaten mit dokumentierten
41
Mit Recht krit. insoweit auch Kaspar 2018, C 50 f., 97 m.w.N.
630 Wolfgang Frisch
Strafen, aber ebenso (wie bei der sogenannten fiktiven Strafzumessung in durchge-
führten kriminologischen Untersuchungen42) um gedachte Fälle und diesen zugeord-
nete Strafen handeln kann. Bereits wenn man das weiß, hat man brauchbare und leit-
fähige Anhaltspunkte für eine einheitlichere Strafzumessung: Man weiß dann, dass
den vorbewerteten Fällen entsprechende Fälle mit den bereits als angemessen bewer-
teten Strafen zu belegen sind und dass Fälle, die von den vorbewerteten Sachverhal-
ten bestimmte Abweichungen aufweisen, eine dem Maß der Abweichung entspre-
chende Strafe erhalten müssen. Je größer das Netz der insoweit vorbewerteten
Fälle ist und je homogener das Netz der zur Verfügung stehenden Vorbewertungen
ist, umso mehr ist damit auch gewährleistet, dass eine sich an diesen Vorbewertungen
orientierende Strafzumessung in neuen Fällen relativ einheitlich ausfällt. Welche
Fälle die jeweiligen Regelfälle sind und welche Sachverhalte den Durchschnittsfall
bezeichnen, braucht man zur Gewährleistung einer einheitlichen Strafzumessung
nicht zu wissen – die Diskussion darüber ist auf dem Weg zu einer einheitlichen Straf-
zumessung ein Umweg. Davon geht – unausgesprochen – auch eine Reihe jener Ver-
suche aus, mit denen die juristische Praxis auf dem Weg zu einer einheitlichen Straf-
zumessung voranzukommen versucht.
42
Zu deren Wesen Streng 1984, 64 ff., 75 ff. und 2018, 593 f.
Auf dem Weg zu einer einheitlicheren Strafzumessung 631
an denen sich der Entscheidende auch dann orientiert, wenn er ihnen nicht ganz
folgt.45 Die Anträge der Staatsanwaltschaft haben die Funktion solcher Ankerwerte –
nicht nur wegen der der Staatanwaltschaft in der Regel zugestandenen Sachkompe-
tenz, sondern auch deshalb, weil der Richter damit rechnen muss, dass die Staatsan-
waltschaft bei gravierender Abweichung der Entscheidung von einem den Richtlini-
en entsprechenden Strafzumessungsantrag Rechtsmittel einlegen wird.
Eine vergleichbare Bedeutung wie die eben genannten Richtlinien der Staatsan-
waltschaft für gewisse Bereiche der allgemeinen Kriminalität haben für den Bereich
des Steuerstrafrechts seit langem die Richtlinien der Finanzbehörden.46 Auch sie zie-
len darauf – für den Bereich des Steuerstrafrechts –, eine einheitliche Ahndung von
Steuerstraftaten zu gewährleisten. In Aufbau und Inhalt ähneln sie den Richtlinien
der Staatsanwaltschaft. Für das Strafverfahren bedeutsam werden sie deshalb,
weil die Finanzbehörden bei Steuerstraftaten im Strafbefehlsverfahren die Funktion
der Staatsanwaltschaft wahrnehmen und auf der Basis der Richtlinien ihre Strafmaß-
anträge stellen; in den sonstigen Verfahren, in denen die Finanzbehörde nur Neben-
beteiligte ist, pflegt sich die Staatsanwaltschaft bei ihren Anträgen in der Regel an
diesen Richtlinien zu orientieren. Freilich hat sich in die Bemühungen um eine Ver-
einheitlichung im Steuerstrafrecht neuerdings auch die revisionsgerichtliche Recht-
sprechung durch die Formulierung gewisser Vorgaben für eine sachgerechte Ahn-
dung eingeschaltet – darauf wird zurückzukommen sein.47
Die Urteile über die dargestellten Bemühungen um mehr Einheitlichkeit der Straf-
zumessung fallen durchaus unterschiedlich aus. Insoweit teilen die skizzierten Ver-
suche das Schicksal der sogenannten Sentencing Guidelines,48 denen sie als Vorga-
ben für die Strafzumessung in bestimmten Teilbereichen funktional entsprechen.
Auch wenn man der Adäquität der genannten Richtlinien – wie manche Richter
und Strafzumessungstheoretiker – kritisch gegenübersteht,49 wird man freilich eines
schwerlich bestreiten können: dass es im Gefolge des Erlasses und der Anwendung
dieser Richtlinien durch die Staatsanwaltschaften zu einer gewissen Vereinheitli-
chung der Strafzumessung in bestimmten Kriminalitätsbereichen gekommen ist.
Jene gravierenden Unterschiede, die man Ende der fünfziger bis Mitte der sechziger
Jahre vor allem im Bereich der Verkehrskriminalität und zu den Fragen der Strafaus-
45
Vgl. etwa Englich & Mussweiler 2001, 1535 ff.; Streng 2012, Rn. 498; Kaspar 2018, C
17 f., je m.w.N.; in der Diskussion auf dem 72. DJT z. B. Schromek DJT 2018, II 2, M 157 f.
46
Vgl. dazu Meine 1990, Rn. 120 ff.; eingeh. Rastätter 2017, 297 ff.
47
Vgl. unten 8.2.
48
Zu diesen vgl. die Nachw. oben Fn. 24.
49
Scharf ablehnend z. B. Jagusch 1970a, 401 ff.; 1970b, 1865 ff.; siehe auch das Ergebnis
einer Umfrage unter Richtern bei Streng 1984, 102 f.; klar abl. auch die Beschlüsse des Ju-
ristentags 2018, II 2, M 189.
Auf dem Weg zu einer einheitlicheren Strafzumessung 633
setzung feststellen konnte, finden sich heute nicht mehr.50 Dass die Strafzumessung
(einschließlich der Strafaussetzung) insoweit einheitlicher geworden ist, ist dabei im
Blick auf die schon erwähnte „Ankerfunktion“ der Anträge der Staatsanwaltschaft
wesentlich auch auf die genannten Strafenkataloge und Richtlinien zurückzuführen.
Dies sollte im Sinne einer Relativierung der Kritik an den Strafenkatalogen und den
Richtlinien selbst dann berücksichtigt werden, wenn die Kritik an diesen Instrumen-
ten der Vereinheitlichung im Übrigen berechtigt wäre. Indessen ist es sehr fraglich,
ob die immer wieder geäußerte Kritik wirklich berechtigt ist.
In ihrem Kern wirft die Kritik den erwähnten Strafenkatalogen und den auf einige
wenige Umstände abhebenden Richtlinien einen inadäquaten Schematismus vor; sie
huldigten einem Taxenwesen, das die vielfältigen, im Einzelfall relevanten Strafzu-
messungsumstände in inadäquater Weise auf einige wenige Faktoren reduziere.51
Auf diese Weise unterbleibe die vom Gesetz geforderte individualisierende Bestim-
mung der Strafe. Vernachlässigt werde bei einer solchen Vorgehensweise vor allem
der persönliche Eindruck vom Angeklagten, der für eine sachgerechte Strafzumes-
sung jedoch von zentraler Bedeutung sei.52 Die Kritik gipfelt bisweilen darin, dass
ein solches Verfahren der Strafzumessung entwürdigend und unzumutbar sei.53
In dieser Kritik gehen Richtiges und Falsches durcheinander. Falsch dürfte der in
der Kritik erweckte Eindruck sein, dass derartige, auf wenige Umstände abhebende
Kataloge und Richtlinien im Vergleich zu einer ohne solche Richtlinien betriebenen
Strafzumessung zu einer Verkürzung der im Rahmen der Strafzumessung berück-
sichtigten Umstände führe. Kriminologische Untersuchungen zur Strafzumessung
bei Delikten, für die solche Richtlinien nicht existieren, haben ergeben, dass auch
hier in die Strafzumessung nur wenige Umstände eingehen – nach einer Untersu-
chung des Jubilars sollen es in der Regel nicht mehr als drei sein.54 Im Vergleich
zur realen Strafzumessung dürften die Strafzumessungsrichtlinien damit kaum
eine Verkürzung bringen – jedenfalls dann nicht, wenn sie auf die richtigen, auch
ohne Richtlinien als bedeutsam angesehenen Umstände abheben. Gemessen an die-
ser Praxis könnte man gegen die Arbeit mit Richtlinien allenfalls noch einwenden,
dass diese eine möglicherweise problematische Praxis nicht auch noch bestätigen
und zementieren sollten.
Indessen verliert selbst dieser Einwand an Gewicht, wenn man nur die Richtlinien
sachgerecht formuliert – nämlich so, dass den zwei oder drei Merkmalen nicht etwa
ein starres Strafmaß, sondern nur eine engere Bandbreite von Strafgrößen innerhalb
50
Vgl. etwa Maurer 2005, 43 ff., 62 f.
51
Jagusch 1970a, 401, 402 f.; siehe auch Peters 1955, 34; weit. Nachw. zu Äußerungen in
dieser Richtung bei Streng 1984, 64 f.
52
Jagusch 1970a, 401, 403; weit. Nachw. solcher Bedenken bei Streng 1984, 68 f.
53
Vgl. die bei Streng (1984, 102 f.) wiedergegebenen Äußerungen im Rahmen einer
Richterbefragung.
54
Vgl. etwa Albrecht 1980b, 235, 244 ff.; ähnlich Verrel 2018, 811, 815; weit. Nachw. bei
Streng 1984, 65 f.
634 Wolfgang Frisch
des Strafrahmens zugeordnet ist. Innerhalb dieser Bandbreite, die ein gewisses Maß
an Einheitlichkeit gewährleistet, kann weiteren als bedeutsam angesehenen Strafzu-
messungsumständen sachgerecht Rechnung getragen werden. Hier kann insbesonde-
re auch der persönliche Eindruck vom Angeklagten berücksichtigt werden, soweit er
überhaupt strafzumessungsrechtlich bedeutsam ist.
Die Strafzumessungsrelevanz des persönlichen Eindrucks sollte man bei alledem
nicht zu hoch einschätzen.55 Es gibt eine Reihe von Fragen, wie z. B. die Frage, ob die
Verteidigung der Rechtsordnung eine Freiheitsstrafe erfordert oder die Vollstreckung
der Strafe gebietet –, für die es auf den persönlichen Eindruck überhaupt nicht an-
kommt. Aber auch für die eigentliche Strafzumessung (die Höhe des Strafmaßes)
gilt: Der Angeklagte wird nicht wegen des persönlichen Eindrucks in der Hauptver-
handlung, sondern wegen einer lange vor der Hauptverhandlung begangenen Tat be-
straft. Das Persönliche an der Tat, das für die Strafzumessung bedeutsam ist, ist die
damalige psychische Situation des Angeklagten, für die der persönliche Eindruck in
der Hauptverhandlung allenfalls eine (sehr) begrenzte Funktion als Indiz haben
mag.56 Eine größere Bedeutung hat der über Richtlinien nicht zu erfassende persön-
liche Eindruck vom Angeklagten nur bei bestimmten spezialpräventiven Fragen –
wie der Frage, ob dem Angeklagten zuzutrauen ist, dass er sich bei einer zur Bewäh-
rung ausgesetzten Strafe straffrei führen werde. Insoweit müssen die Richtlinien hier
so (zurückhaltend) formuliert sein, dass dem Richter die Möglichkeit einer sachge-
rechten Entscheidung verbleibt.
Tragen Richtlinien den vorstehend formulierten Anforderungen Rechnung, so be-
deuten sie einen Gewinn für die Strafzumessung. Sie verbinden dann die Vorteile
einer gewissen Vereinheitlichung mit allen Vorteilen sachgerechter Individualisie-
rung – von Schematismus kann dann keine Rede sein. Die eigentliche Problematik
der Richtlinien liegt nicht an dieser Stelle. Sie ist von ganz anderer Art. Sie hat damit
zu tun, dass Richtlinien als Instrument zur Vereinheitlichung nur begrenzt taugen –
und zwar nicht nur deswegen, weil es kaum möglich sein dürfte, in naher Zukunft für
die Strafzumessung sachgerechte Richtlinien „flächendeckend“ zu formulieren, son-
dern auch deswegen, weil es Delikte oder Formen der Kriminalität gibt, für die sich
Strafgrößen zuordnende Richtlinien aus sachlichen Gründen kaum formulieren las-
sen, wie etwa für die Tötungsdelikte.
Will man auch in diesem keineswegs kleinen Bereich zu einer einheitlicheren
Strafzumessung kommen, so muss man sich anderer Instrumente als der bisher be-
handelten Richtlinien bedienen. Diese Instrumente müssen so gestaltet sein, dass sie
vor allem eines verhindern: dass es mangels verfügbarer objektiver Richtpunkte so-
fort zum Zugriff auf das individuell für richtig Gehaltene kommt. Denn dieser sofor-
tige Zugriff auf das individuell für richtig Gehaltene bildet den Grund für die z. T.
weit auseinanderklaffenden Strafmaße. Will man diesen sofortigen Zugriff auf das
55
Übereinstimmend Streng 1984, 68 f.; eingeh. zur aus zutreffender normativer Sicht re-
lativ geringen Bedeutung des persönlichen Eindrucks Frisch 1971, 275 ff. m.w.N.
56
Vgl. Bruns 1974, 707 ff.; Frisch 1971, 275 ff. m.w.N.
Auf dem Weg zu einer einheitlicheren Strafzumessung 635
individuell für richtig Gehaltene verhindern, so muss man dem zur Entscheidung
Aufgerufenen objektive Hilfen bieten – Hilfen, die den selbst an einheitlicher und
gleichmäßiger Strafzumessung Interessierten in die Lage versetzen, zu einer einheit-
licheren Strafzumessung beizutragen.
57
Übereinstimmend Streng 1984, 304 ff.; 2012, Rn. 768 f. und nochmals eindrucksvoll in
der Diskussion auf dem Juristentag 2018, DJT 2018, II 2, M 93 f.; Kaspar 2018, C 112 ff., 115;
Maurer 2005, 91 ff., 219 f. und Mosbacher DJT 2019, II 1, M 36; je m.w.N. – Auch der 72.
Deutsche Juristentag 2018 hat sich mit deutlicher Mehrheit für „die Einrichtung einer zen-
tralen Entscheidungsdatenbank zur Erweiterung des richterlichen Horizonts“ entschieden
(vgl. DJT 2019, II 2, M 190).
636 Wolfgang Frisch
Natürlich liegen gegenüber dem hier entwickelten Vorschlag Einwände nahe. Von
dem Einwand, dass die Erstellung einer solchen Datenbank einiges koste, sollte man
sich freilich nicht irritieren lassen. Zum einen sind die Kosten nicht so hoch, dass sie
nicht aufgebracht werden könnten – das zeigt die Existenz vergleichbarer Datenban-
58
Vgl. dazu Nakagawa 2011, 201, 206 f., 214 ff.; Harada 2011, 237, 245.
59
So das Ergebnis einer Informationsveranstaltung am Obersten Gerichtshof Japans, an
der der Verfasser des Beitrags mit einer Delegation deutscher und japanischer Strafrechts-
lehrer im September 2009 teilgenommen hat.
Auf dem Weg zu einer einheitlicheren Strafzumessung 637
ken im In- und Ausland. Zum anderen sollte die Gewährleistung einer einheitlichen
Rechtsprechung und die Verwirklichung des verfassungsrechtlichen Postulats der
Gleichbehandlung einem finanziell gut ausgestatteten Gemeinwesen doch so viel
wert sein, dass es die zur Verwirklichung dieses Postulats notwendigen begrenzten
Kosten aufzubringen bereit ist.
Ernster zu nehmen sind die Einwände, die bestreiten, dass durch die hier vorge-
schlagenen Dokumentationen zu mehr Einheitlichkeit der Strafzumessung zu gelan-
gen sei. Wie – so könnte man fragen – soll die Dokumentation einer Strafzumes-
sungspraxis, die nach dem früher zum Zustand der Strafzumessung Gesagten in be-
stimmten Bereichen weit auseinanderliegt, zu mehr Einheitlichkeit beitragen? Die
Dokumentation führt doch nur dazu, dass das, was offenbar als Sachverhalt besteht,
nun auch dokumentiert ist. Nicht weniger mag man fragen, wie eine solche Daten-
bank weiterhelfen soll, wenn zu einem Delikt unter Umständen nur wenige, auch
nicht genau passende Entscheidungen vorliegen oder es an Vorentscheidungen über-
haupt fehlt.
Tatsächlich erscheint die hier vorgeschlagene Errichtung einer die Strafzumes-
sung dokumentierenden Datenbank keineswegs nur insoweit sinnvoll, als sie
schon relativ einheitliches Strafzumessungsverhalten dokumentiert – wie in dem Be-
reich, in dem für die Staatsanwaltschaft Richtlinien bestehen – und die Orientierung
an der dokumentierten Strafzumessung anderer Gerichte damit die Gefahr einer unter
Umständen abweichenden Entscheidung aus Unkenntnis der sonst üblichen Ent-
scheidungen reduziert. Die Dokumentation ist auch für die Bereiche sinnvoll, für
die sie erhebliche Streubreiten der verhängten Strafen trotz relativ ähnlicher Strafzu-
messungssachverhalte ausweist. Sie macht dem Richter (oder sonstigen Rechtsan-
wender) insoweit bewusst, dass er sich bei der Entscheidung über seinen Fall in
einem besonders kontrovers beurteilten Bereich befindet und mahnt ihn damit zur
Vorsicht gegenüber einer schnellen, wenig reflektierten Entscheidung. Ein Richter,
der die Gleichbehandlung gleicher Fälle als einen wichtigen Wert erachtet, wird sich
durch die von ihm vorgefundene Situation regelmäßig zugleich dazu aufgerufen füh-
len, mit seiner Entscheidung zur Verwirklichung einer einheitlicheren Strafzumes-
sung beizutragen. Die Einsicht, dass eine solche Einheitlichkeit sich erfahrungsge-
mäß am ehesten durch eine mittlere Linie erzielen lässt,60 wird ihn zugleich regelmä-
ßig davon absehen lassen, sich einer extrem milden oder extrem scharfen Linie an-
zuschließen und ihn nach einer Strafe im mittleren Bereich der Vorbeurteilungen
greifen lassen – jedenfalls, wenn eine solche ihm persönlich vertretbar erscheint.
Auch die Dokumentation von Ungleichbehandlung kann so einen Beitrag zu mehr
Einheitlichkeit leisten. Dass das nicht nur Spekulation ist, bestätigen abermals die
Erfahrungen mit vergleichbaren Datenbanken in Japan: Das Interesse an Gleichbe-
handlung gleicher Fälle drängte auch dort zur Entwicklung einer mittleren Linie, die
60
Vgl. schon Aristoteles, Nikomachische Ethik, II. Buch, 5. Kapitel (1106a), wo als das
richtige Maß das „Mittlere“ (zwischen Übermaß und Mangel) bezeichnet wird; für die richtige
Strafzumessung aufgenommen und weitergeführt von Spendel 1954, 170 ff., 172 f. und Bruns
1974, 85.
638 Wolfgang Frisch
für die meisten Urteilenden am ehesten vertretbar erscheint.61 Natürlich schließt das
„Ausreißer“ nicht aus – ihnen muss man ggf. mit anderen Mitteln entgegentreten.
Aber auch wenn die Datenbank zu einem Delikt nur relativ wenige Einträge ent-
hält, ist dies unter dem Aspekt der Gewährleistung einer einheitlichen Strafzumes-
sungspraxis nicht ohne Wert. Handelt es sich um die Bestrafung in einem gleichge-
lagerten Fall, so liefert die Dokumentation einen Ankerwert,62 der die Bildung einer
einheitlichen Linie fördert, wenn der Richter die vorgefundene Sanktionierung für
vertretbar hält. Ist das nicht der Fall und entscheidet er sich daher mit guten Gründen
erheblich abweichend, so kann seine Entscheidung anderen Urteilenden, die selbst
ähnlich entscheiden würden, die Entscheidung erleichtern und so wieder zur Bildung
einer einheitlichen Linie beitragen, welche die ursprüngliche abweichende Entschei-
dung zu einer fragwürdigen Abweichung werden lässt.
Selbst wenn die Datenbank zu einem Delikt nur Einträge über Sachverhalte ent-
hält, die sich von dem zu beurteilenden Sachverhalt mehr oder weniger deutlich un-
terscheiden, ist dies unter dem Aspekt der Förderung einer einheitlichen Strafzumes-
sungspraxis nicht völlig ohne Wert. Die vorfindbaren Entscheidungen können auch
in diesem Fall doch zumindest zur Verdeutlichung der Schwereskala denkbarer
Fälle63 beitragen und, wenn der jetzt urteilende Richter die in diesen Fällen verhäng-
ten Strafmaße für vertretbar hält, Anhaltspunkte für eine sich in diese Beurteilung
einpassende Bemessung der Strafe im eigenen Fall bilden (indem der Richter die
Strafe hier in angemessenem, den Unterschiedlichkeiten Rechnung tragendem Ab-
stand zu den in den früheren Fällen verhängten Strafen bestimmt).
Ohne Wert für die Ausbildung eines einheitlichen Strafzumessung ist eine auf bis-
her getroffene Entscheidungen beschränkte Dokumentation nur, wenn die Daten-
bank im Einzelfall einmal praktisch keine weiterführenden Informationen enthält –
wie z. B. bei neugeschaffenen Delikten, zu denen noch keine Rechtsprechung vor-
liegt (obwohl auch hier nicht selten Informationen aus dem Bereich anderer Delikts-
tatbestände bedeutsam sein können). Indessen ist das kein Argument gegen den Wert
der hier vorgeschlagenen Dokumentation für eine einheitlichere Strafzumessung,
sondern belegt nur, dass eine sich in der Wiedergabe der bisherigen Strafzumessung
erschöpfende Dokumentation nicht alle Fragen löst, sondern Defizite aufweist, über
deren Kompensation nachgedacht werden sollte.
Eine Optimierung der Dokumentation, die auch gewisse Defizite einer bloßen
Entscheidungsdokumentation beheben könnte, kommt vor allem in zweierlei Hin-
61
So wiederum das Ergebnis der in Fn. 59 erwähnten Informationsveranstaltung am
Obersten Gerichtshof Japans.
62
Zur Bedeutung von Entscheidungen und Stellungnahmen als „Ankerwerte“ für nach-
folgende Entscheidungen vgl. die Nachw. oben in Fn. 45.
63
Dazu oben 4. m. Nachw.
Auf dem Weg zu einer einheitlicheren Strafzumessung 639
gen sein; es galt als irrevisible Tatfrage (im Gegensatz zur allein revisiblen Rechts-
frage).64 Diese Sichtweise wurde auch auf die Strafzumessung übertragen: Auf die
Revision hin aufgehoben werden konnte die Strafzumessung nur, wenn sie auf
einer Gesetzesverletzung beruhte – etwa den Strafrahmen überschritt oder sonst
gegen ein Gesetz verstieß. Soweit das nicht der Fall war, galt die Strafzumessung
als irrevisible Tatfrage und „Domäne des Tatrichters“.65 Mit der Rüge, dass die in-
nerhalb des Strafrahmens liegende Strafe zu hoch oder zu niedrig sei, konnte der Re-
visionsführer daher lange Zeit nicht durchdringen. Daran änderte sich selbst dann
nichts, als man anerkannte, dass eine Gesetzesverletzung bei der Strafzumessung
auch denkbar sei, wenn Umstände zu Unrecht als für die Strafzumessung bedeutsam
angesehen oder bedeutsame Umstände übersehen worden waren. Die richtige Be-
messung der Strafe der Höhe nach blieb in den ersten sechs Jahrzehnten nach
dem Inkrafttreten der StPO als Domäne des Tatrichters für das Revisionsgericht
tabu.66
Eine erste Wandlung vollzog sich in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Da
hier nach den Vorschriften des Alliierten Kontrollrats die Verhängung „grausamer,
übermäßig hoher und ungerechter Strafen“ verboten war,67 wurde die Strafzumes-
sung nunmehr auch unter diesem Aspekt durch die Revisionsgerichte überprüft.68
Im Gefolge dieser Judikatur und auf der Basis strafrechtstheoretischer Untersuchun-
gen, die eingehend darlegten, dass es bei der Bemessung der Strafhöhe rechtstheo-
retisch nicht um eine Tat-, sondern um eine Rechtsfrage gehe,69 änderte sich dann
allmählich auch die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte und des BGH.70 Zwar
betont der BGH nach wie vor im Sinne einer Eingangsformel, dass die Strafzumes-
sung Sache (eine Domäne) des Tatrichters sei und vom Revisionsgericht nur auf das
Vorhandensein von Rechtsfehlern überprüft werden könne.71 Als Rechtsfehler
kommt nach der neueren Rechtsprechung des BGH mittlerweile aber auch ein „Ver-
greifen in der Höhenlage“ des Strafmaßes in Betracht.72 Als derartigen Rechtsfehler
in Bezug auf das Strafmaß sah der BGH es im Jahre 1976 z. B. an, dass ein Fall, der
zum Kreis der normalerweise weniger schweren häufigen Fälle eines Delikts gehör-
64
Vgl. dazu Hahn 1885, 249 f.
65
Hahn 1885, 250 f.
66
Vgl. dazu näher Frisch 2005, 255, 259 f.
67
So durch Art. IV Nr. 8 MRG 1.
68
Siehe etwa OGHSt 1, 172, 174; weit. Nachw. bei Frisch 2005, 255, 267.
69
Eingehende Nachw. dazu bei Frisch 2005, 255, 262; 1971, 114 ff., 179 ff.; 2018, § 337
Rn. 147 ff., 168 ff.
70
Näher dazu Frisch 2005, 255, 267 ff. und Frisch 2018, § 337 Rn. 158, 174 – 176.
71
Vgl. etwa BGHSt 17, 35, 36; BGHSt 29, 319, 320; BGHSt 57, 123, 137; i.d.S. auch
Mosbacher DJT 2019, II 1 M 26 f.; weit. Nachw. bei Frisch 2018, § 337 Rn. 148.
72
So früher schon Bruns 1974, 82, 714; i.S. einer schärferen „Ergebniskontrolle“ aus
revisionsrechtlicher Sicht jüngst Raum DJT 2019, II 2, M 148 f.
Auf dem Weg zu einer einheitlicheren Strafzumessung 641
te, als ein sogenannter nicht allzu schwerer Regelfall mit einer Strafe aus der Mitte
des Strafrahmens belegt worden war.73
In der Folgezeit entwickelte der BGH dann vor allem zwei Argumentationen, um
auch Entscheidungen aufzuheben, die – ohne erkennbare sonstige Fehler – nur in
Bezug auf das vom Tatrichter verhängte Strafmaß problematisch erschienen. Die
erste Argumentation knüpft daran an, dass – aus der Sicht des BGH – zu bestimmten
Fallkonstellationen eine Art übliche (und vom BGH gebilligte) Bemessungspraxis
hinsichtlich der Strafe vorhanden bzw. erkennbar ist. Bei dieser Sachlage werden
Entscheidungen, die sich von dieser Praxis deutlich entfernen, regelmäßig aufgeho-
ben, wenn sie dies ohne (oder ohne zureichende) Begründung tun.74 Die Entschei-
dung leidet dann unter einem sogenannten Begründungsmangel (in dem der BGH
einen sachlich rechtlichen Rechtsfehler sieht). Einen solchen Begründungsmangel
nimmt der BGH auch an, wenn zwei Mittäter bei etwa gleichen Tatbeiträgen ohne
hinreichende Erklärung mit sehr unterschiedlichen Strafen belegt worden sind und
der mit der schwereren Strafe Belegte deshalb Revision einlegt.75 Anders begründet
der BGH die Aufhebung, wenn es wegen der Unterschiedlichkeit der Ausprägungen
eines Delikts oder aus sonstigen Gründen zu dem von ihm revisionsrechtlich zu be-
urteilenden Fall so etwas wie eine übliche Praxis (noch) nicht gibt, er die Entschei-
dung des Tatrichters aber aus eigener Anschauung für nicht akzeptabel hält. Hier
wird das vom Tatrichter verhängte Strafmaß mit der Begründung aufgehoben,
dass die Strafe aus dem Rahmen des noch Vertretbaren herausfalle, etwa unvertretbar
hoch oder milde sei. Der BGH sieht also auch die aus seiner Sicht gegebene bloße
Unvertretbarkeit des Maßes der verhängten Strafe inzwischen als Rechtsfehler an.76
Neuere Arbeiten zur Strafzumessungspraxis zeigen, dass diese Aufhebungspraxis
des BGH Wirkungen entfaltet – sie sorgt dafür, dass seitens der Tatgerichte bei ver-
gleichbaren Fällen gewisse Bandbreiten eingehalten werden, weil aus diesen Band-
breiten ausbrechende Entscheidungen mit einer Aufhebung rechnen müssen.77 In
dieser sich auf das Strafmaß erstreckenden intensiveren Kontrollpraxis des BGH
und der vereinheitlichenden Wirkung der schon erwähnten Richtlinien und Strafen-
kataloge im Bereich bestimmter Massendelikte78 liegt wohl auch der Grund dafür,
dass kriminologische Untersuchungen zur Strafzumessungspraxis aus jüngerer
Zeit nicht mehr jene großen Streubreiten der Strafzumessung festzustellen vermoch-
73
BGHSt 27, 2, 4 f.; aus der späteren Rechtsprechung z. B. BGH NStZ-RR 2003, 52, 53;
BGH StV 2010, 418; weit. Nachw. bei Frisch 2018, § 337 Rn. 174 ff.
74
Eingehende Nachw. zur einschlägigen Rechtsprechung des BGH bei Frisch 2018, § 337
Rn. 175; siehe auch Streng 2012, Rn. 662 und 2018, 593, 598 zu korrespondierenden Ein-
stellungen von Tatrichtern.
75
Vgl. dazu die Nachw. oben Fn. 14.
76
Vgl. etwa BGHSt 45, 312, 318 f.; BGHSt 53, 71, 86; BGHSt 57, 123, 130 f.; weit.
Nachw. bei Frisch 2018, § 337 Rn. 174 – 176.
77
Siehe dazu die Analyse der Rechtsprechung bei Maurer 2005, 128 ff., 140 ff., 147 ff.
(letzteres zu den Betäubungsmittel- und Sexualdelikten).
78
Oben 6.1.
642 Wolfgang Frisch
ten, die bezüglich der Strafzumessungspraxis der fünfziger und sechziger Jahre des
20. Jahrhunderts aufgewiesen werden konnten.
Es bleibt die Frage, ob mit der eben skizzierten Intensivierung der revisionsge-
richtlichen Kontrolle die Möglichkeiten der Revisionsgerichte, an der Vereinheitli-
chung der Strafzumessung mitzuwirken, bereits ausgeschöpft sind. Ich glaube nicht,
dass das der Fall ist. Das Wirken der Revisionsgerichte in Richtung auf eine einheit-
lichere Strafzumessung könnte in doppelter Hinsicht verbesserungsfähig sein.
79
Übereinstimmend Streng 2018, 593, 599, 600; ähnlich Verrel 2018, 811, 815.
Auf dem Weg zu einer einheitlicheren Strafzumessung 643
zu ist, für Rechtseinheit zu sorgen.80 Ist das Revisionsgericht der Auffassung, dass der
Tatrichter bei seiner Strafzumessung ein Strafmaß gefunden hat, das geeignet ist, als
vernünftige Linie der Reaktion auch von anderen Tatrichtern in Zukunft akzeptiert
werden zu können, so sollte es dies im Interesse der Gewährleistung einheitlicher
Ahndung gleichgelagerter Fälle klar sagen und so selbst zur Verwirklichung einer
konsensfähigen Strafmaßlinie beitragen. Ist es andererseits der Auffassung, dass
das vom Tatrichter verhängte Strafmaß problematisch ist und von anderen Gerichten
schwerlich akzeptiert werden dürfte – etwa, weil es sich am oberen oder unteren
Rand der Streubreite bewegt und offenbar Ausdruck eines allgemeiner nicht akzep-
tanzfähigen persönlichen Kurses der Vorinstanz ist –, so sollte es dies im Interesse der
Verwirklichung einer einheitlichen Behandlung gleichgelagerter Fälle ebenfalls
deutlich sagen und das Urteil aufheben. Völlig unproblematisch ist dies, wenn das
Urteil ohnehin an Rechtsfehlern leidet, die auch die Aufhebung der Strafmaßent-
scheidung nach sich ziehen (wie bei Fehlern zu „vorgreiflichen“ Fragen). Die Revi-
sionsgerichte sollten sich aber auch nicht scheuen, so zu verfahren – also aufzuheben
und zugleich die (im Sinne einer Vereinheitlichung) richtige Richtung zu weisen –,
wenn das Urteil keine sonstigen Rechtsfehler aufweist und nur im Strafmaß proble-
matisch ist, nämlich ein Strafmaß enthält, das das Revisionsgericht selbst für kaum
vertretbar hält und das ersichtlich ungeeignet dafür ist, dass andere Richter es sich für
ihren Fall als adäquates Strafmaß zu eigen machen. Ein solches Urteil ist im Blick auf
die Aufgabe des Revisionsgerichts, für Rechtseinheit zu sorgen, schon deshalb
rechtsfehlerhaft, weil ihm etwas abgeht, was zum Wesen des Rechts gehört – nämlich
als allgemeines „Gesetz“ für die richtige Behandlung des infrage stehenden Falles
bzw. entsprechender Fälle gelten zu können.81
Natürlich ist der Einwand zu erwarten, dass das Revisionsgericht sich damit etwas
anmaße, was ihm nicht zukomme und Fragen entscheide, zu denen es nicht berufen
ist. Doch dieser Einwand ist alles andere als überzeugend. Dass es Aufgabe des Re-
visionsgerichts ist, die Rechtseinheit zu wahren, lässt sich nicht ernsthaft bestreiten.
Und warum ein mit drei oder fünf erfahrenen Berufsrichtern besetzter Senat nicht zu
dem in der Lage sein und berufen sein soll, was man jedem Tatrichter ohne Zögern
zugesteht, ist schlicht nicht nachvollziehbar.
Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass sich Revisionsgerichte inzwi-
schen nicht mehr allein damit begnügen, im Einzelfall kontrollierend tätig zu wer-
den, sondern auch bereit sind, ihre Auffassung vom richtigen Strafmaß klar zum Aus-
druck zu bringen und dies sogar in der Weise zu tun, dass sie Vorgaben über die rich-
tige Behandlung bestimmter Fallkonstellationen formulieren. Diesen Weg hat in bei-
spielhafter Weise der in Deutschland für die Revision in Steuerstrafsachen
zuständige Erste Senat des BGH beschritten. Er hat in mehreren aufsehenerregenden
80
Zur Gewährleistung von Rechtseinheitlichkeit als der zentralen Aufgabe der Revisi-
onsgerichte vgl. Frisch 2018, Vor § 333 Rn. 14 ff. mit eingeh. weit. Nachw.
81
Zur Generalisierbarkeit einer Regel als Kriterium des Rechts schon Kant 1797, § C;
siehe auch Henkel 1964, 354 ff.; Radbruch 1963, 127, 128, 206.
644 Wolfgang Frisch
Literaturverzeichnis
82
Vgl. insbes. BGHSt 53, 71, 84 f.; BGHSt 57, 123, 130 f.; BGH NJW 2012, 1015, 1016;
BGH StV 2012, 219; dazu Giannoulis 2014, 302 ff. und eingeh. nunmehr die von mir und dem
Jubilar betreute Freiburger Dissertation von Rastätter 2017, 158 ff., 160 ff.
83
Vgl. BGHSt 53, 71, 86 f.
84
Vgl. BGHSt 53, 71, 86; BGHSt 57, 123, 131 ff.
85
Vgl. BGHSt 53, 71, 86; BGHSt 57, 123, 131 f.
86
Im Sinne einer zu wünschenden Erhöhung der Kontrolldichte und der Leitfunktion der
Revisionsgerichte auch die BGH-Richter Mosbacher DJT 2019, II 1, M 27, 37 und Raum DJT
2019, II 2, M 147 ff.
87
Siehe allein die kontroversen Diskussionsbeiträge auf dem 72. DJT zur Frage der An-
gemessenheit von Sentencing Guidelines, zu einer stärkeren Führung durch die Revisionsge-
richte und zur Vermittlung von Orientierungswerten durch Datenbanken, in: DJT 2019, II 2, M
77 – 187.
Auf dem Weg zu einer einheitlicheren Strafzumessung 645
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nischer Sicht. Tübingen, S. 237 – 252.
646 Wolfgang Frisch
1. Einleitung
Hans-Jörg Albrecht hat der Strafzumessung einen großen Teil seiner wissen-
schaftlichen Tätigkeit gewidmet, insbesondere im Rahmen seiner Dissertations-
und Habilitationsschrift.1 Seine empirischen Erkenntnisse zur Strafzumessung er-
möglichen aufgrund ihrer besonderen Detailliertheit und Ausführlichkeit neue Ein-
blicke in die Strafzumessungspraxis. Jüngst bescheinigte Albrecht dem System der
deutschen Strafenpraxis eine „bemerkenswerte Stabilität“, welche sich etwa durch
ein konstantes Strafniveau im unteren Bereich der Strafrahmen auszeichne und ins-
besondere durch gerichtsintern produzierte Lernmuster aufrechterhalten werde.2
Allerdings bietet das deutsche Strafzumessungsrecht durchaus Anlass zu Kritik
und dies nicht erst seit den Erkenntnissen empirischer Strafzumessungsforschung.3
Schon Franz von Liszt hat die Strafzumessung vor nunmehr über 100 Jahren mit dem
ominösen „Griff ins Dunkle“ verglichen4 und seitdem ließen sich immer wieder kri-
tische Stimmen vernehmen, die das Dunkel – zunehmend auch unter Rückgriff auf
* Ich danke meinem Mitarbeiter und Doktoranden Eric Armbrecht für die Erstellung eines
ersten Entwurfs und sonstige wertvolle Unterstützung. Ich danke Prof. Julian Roberts, Uni-
versität Oxford, UK (Mitglied des Sentencing Council 2009 – 2018), Prof. Jenia Turner, SMU
Dedman School of Law, Dallas sowie Prof. Stephen Thaman für wertvolle Hinweise.
1
Albrecht 1980; 1994.
2
Albrecht 2017, 189, 197 ff.
3
Die Anfänge empirischer Strafzumessungsforschung reichen allerdings schon bis ins
späte 19 Jh. zurück. So stellte etwa das Reichs-Justizamt im Rahmen einer Auswertung der
Reichskriminalstatistik für das Jahr 1882 fest, dass „bezüglich der Anwendung der einzelnen
Strafarten und Strafstufen in den einzelnen Oberlandesgerichtsbezirken Verschiedenheiten
obwalten, […] welche […] auf eine verschiedene Handhabung des Gesetzes bei Ausmessung
der Strafe seitens der Gerichte zurückgeführt werden müssen“ (Statistik des deutschen Rei-
ches, Bd. 8 Teil 2, Kriminalstatistik für das Jahr 1882, 54). Die Untersuchung Woerners (1907)
und die – als „Meilenstein“ (Meier 2019, 259) bzw. „Höhepunkt“ (Heinz 1992, 122) be-
zeichnete – Studie Exners (1931, 46 ff.) belegen schon zu Beginn des 20 Jh. regionale Un-
terschiede in der Strafzumessungspraxis.
4
v. Liszt 1905, 393.
650 Kai Ambos
empirische Untersuchungen – etwas mehr zu erhellen suchten.5 Die Welle der Kritik
ebbte gegen Ende des 20. Jahrhunderts etwas ab,6 hat aber jüngst durch die Beratun-
gen der strafrechtlichen Abteilung des 72. Deutschen Juristentags (September 2018)7
neuen Auftrieb erhalten. Im Mittelpunkt steht nun (wieder) die Frage, wie sich mehr
Konstanz und Einheitlichkeit in der Strafzumessung erreichen lässt. Die Reformbe-
dürftigkeit der gegenwärtigen Praxis wird im Wesentlichen mit drei Kritikpunkten
begründet: der zu großen Weite der Strafrahmen, Auslegungsproblemen des § 46
StGB und (zu) großen regionalen Unterschieden in der Strafzumessungspraxis.
Nach einer zusammenfassenden Darstellung dieser Kritikpunkte (unten 2.),
wende ich mich dem Modell der Strafzumessungsrichtlinien als einer Alternative
zu (3.). Ich werde zeigen, dass insbesondere die englischen Strafzumessungsrichtli-
nien (Sentencing Guidelines) ein transparent(er)es und systematisch(er)es Strafzu-
messungssystem anbieten (3.3), mit dem zugleich eine besser nachvollziehbare
und einheitlichere Strafzumessungspraxis erreicht werden kann (beispielhaft zur
vollendeten Körperverletzung 3.4). Dabei handelt es sich allerdings – aus Zeit-
und Platzgründen – um vorläufige Überlegungen, die aber immerhin doch deutlich
machen sollten, dass der grenzüberschreitende Blick – weg vom US-amerikanischen
Modell hin zum englischen Ansatz – lohnt.
5
Grassberger 1932, 80 f.; Dubs 1963, 20 ff.; Haag 1970, 77, 79; Stratenwerth 1972, 26 ff.;
Hassemer 1978, 95 ff.
6
Radtke 2019, M9; Albrecht 2017, 185; Kaspar 2018, C14.
7
„Sentencing Guidelines vs. freies tatrichterliches Ermessen – Brauchen wir ein neues
Strafzumessungsrecht?“, vgl. Fünfsinn, Kilian & Mosbacher 2019. Begleitend vgl. Kudlich &
Koch 2018, 2762; Verrel 2018, 811; Grosse-Wilde 2019, 130; Hoven, 2018, 276; Hörnle
2019a, 282. Aus diesem Anlass hat das Göttinger Institut für Kriminalwissenschaften auch ein
Strafzumessungskolloquium mit besonderem Fokus auf die angloamerikanische Praxis ver-
anstaltet, s. Ambos 2020 sowie Freixo, in ebd., 321 ff.
8
Siehe beispielhaft §§ 249 Abs. 1, 177 Abs. 4 und 5, 306a Abs. 1 und 2 StGB sowie § 29a
Abs. 1 BtMG mit Strafrahmen von nicht unter einem Jahr bis 15 Jahre (§ 38 Abs. 2 StGB).
9
Verrel 2013, 804; Götting 1997, 210, 231 f.; Albrecht 2017, 192.
10
So lagen nach Verrel (2013, 804) 99,9 % der im Jahr 2011 wegen Diebstahls ausge-
sprochenen Geldstrafen in der unteren Hälfte des gem. § 40 Abs. 1 S. 1 StGB von 5 bis 360
Tagessätze reichenden Strafrahmens und die wegen derselben Tat ausgeurteilten Freiheits-
Einheitlichere u. transparentere Strafzumessung durch Strafzumessungsrichtlinien? 651
aber eine gesetzgeberische Anpassung („nach unten“) vonnöten,11 zumindest bei sol-
chen Tatbeständen, die in der Praxis größtenteils nur noch unter Zuhilfenahme des
Rechtsinstituts der „minder schweren Fälle“ geahndet werden.12
Ferner trägt die erhebliche Weite der Strafrahmen dazu bei, dass zu wenig Einheit-
lichkeit und Konstanz in der Strafzumessungspraxis herrscht. Das ist nicht verwun-
derlich, denn je weiter die Strafrahmen sind, desto größer sind auch die tatrichterli-
chen Strafzumessungsspielräume und die Gerichte machen davon regen Gebrauch.13
Damit geht zugleich eine mangelnde Voraussehbarkeit der konkreten Strafzumes-
sung in casu für Betroffene einher.14
Die (zu) weiten Strafrahmen erschweren aber auch die Arbeit der Praxis,15 denn es
stellt gerade für junge Richter*innen eine große Herausforderung dar, die tat- und
schuldangemessene Strafe in einem konkreten Fall zu bestimmen.16 Erschwerend
kommt die große Zahl von Sonderstrafrahmen hinzu, welche zum Teil „in kaum
mehr verständlicher Weise“17 Überschneidungen mit den Normalstrafrahmen auf-
weisen.18 Zu denken ist etwa an Fälle, in denen nebeneinander sowohl der Strafrah-
men eines minder schweren Falles als auch ein (wegen Vorliegen eines vertypten
Milderungsgrunds) gem. § 49 Abs. 1 StGB gemilderter Strafrahmen zur Anwendung
kommen kann.19 Ein weiteres Beispiel betrifft die von der höchstrichterlichen Recht-
sprechung uneinheitlich beurteilte Frage des Strafrahmens im Falle einer durch § 29a
Abs. 1 BtMG bewirkten Sperrwirkung des minder schweren Falles des § 30a Abs. 3
BtMG.20 Dadurch werden die Richter dazu verleitet, sich an bekannten Entscheidun-
strafen zu 99,7 % in der unteren Hälfte des gem. § 242 Abs. 1 StGB mit Mindeststrafe von
einem Monat und Höchststrafe von 5 Jahren bedrohten Strafrahmens. S. a. Kaspar 2018,
C16 m.w.N.
11
Albrecht 1994, 500.
12
Eine häufige Anwendung der minder schweren Fälle lässt sich etwa für die Raubdelikte
annehmen (dazu Albrecht 2017, 193, wonach im Jahr 2014 1/3 der gem. § 249 Abs. 1 StGB
Verurteilten und ca. die Hälfte der gem. § 250 Abs. 1, 2 StGB Verurteilten unter Rückgriff auf
§ 249 Abs. 2 StGB bzw. § 250 Abs. 3 StGB bestraft wurden). Laut Albrecht 1994, 326; 2017,
193; Kudlich & Koch 2018, 2765 sowie Streng 2017, Rn. 200 findet ein häufiger Rückgriff auf
minder schwere Fälle überdies im Rahmen von Tötungs- und Vergewaltigungsdelikten sowie
bei § 30a BtMG und § 316a StGB statt.
13
Streng 2012, Rn. 507 m.w.N.
14
Hörnle 2019a, 283.
15
Vgl. Kaspar 2018, C107.
16
Hörnle 2019a, 282; Verrel 2013, 799.
17
Schäfer, Sander & van Gemmeren 2017, Rn. 1167.
18
Fischer 2020, § 46 StGB Rn. 17c.
19
BGH, Beschluss v. 04. 06. 2015, Az. 5 StR 201/15; Schäfer, Sander & van Gemmeren
2017, 933.
20
Während der 3. Strafsenat des BGH bei Vorliegen eines minder schweren Falls gem.
§ 30a Abs. 3 BtMG, neben dem nicht auch § 29a Abs. 2 BtMG verwirklicht ist, den Straf-
rahmen von § 29a Abs. 1 BtMG (1 bis 15 Jahre Freiheitsstrafe) für anwendbar erklärt, gehen
die anderen Strafsenate von einem kombinierten Rahmen (1 bis 10 Jahre Freiheitsstrafe) aus,
652 Kai Ambos
vgl. BGH, Beschluss v. 03. 02. 2015, Az. 3 StR 632/14, Rn. 6; Urteil v. 07. 09. 2017, Az. 3 StR
278/17; demgegenüber BGH, Beschluss v. 25. 05. 2010, Az. 1 StR 59/10, Rn. 17; Beschluss v.
14. 08. 2013, Az. 2 StR 144/13; Urteil v. 19. 12. 2013, Az. 4 StR 303/13, Rn. 5; s. a. Körner et
al. 2019, § 30a Rn. 121; Schäfer, Sander & van Gemmeren 2017, Rn. 1773 mit Fn. 512.
21
Kaspar 2018, C13, C64; Hörnle 2019a, 283; Streng 2012, Rn. 496, 768; s. a. die Er-
gebnisse der empirischen Untersuchung von Streng (1984, 239 f.), wonach 28 % der 522
befragten Strafrichter und Staatsanwälte eine Orientierung an vergleichbaren Fällen bei der
Strafbemessung für „sehr“ wichtig und 51 % für „mittel“ wichtig erachteten.
22
Eschelbach 2019, Rn. 193.
23
Vgl. Kaspar 2018, C13, C88 f.; Kudlich & Koch 2018, 2763; Eschelbach 2019, Rn. 3;
Meier 2011, 37 f.
24
Eschelbach 2019, Rn. 74.
25
Aus theoretischer Sicht instruktiv zur Unterscheidung Bung 2018, 182 f.
26
Schäfer, Sander & van Gemmeren 2017, 574; Radtke 2020, Rn. 15.
27
Während teilweise angenommen wird, dass auch dem Vor- und Nachtatverhalten un-
mittelbare Schuldrelevanz zukommt (sog. erweiterter Tatbegriff), wirken sich solche außer-
halb der Tatausführung selbst liegende Umstände nach der von der Rspr. entwickelten Lehre
von der Indizkonstruktion nur mittelbar aus, indem sich daraus ggf. Rückschlüsse auf den
unmittelbar bei Tatbegehung bestehenden Schuldgehalt ableiten lassen. Nach einem neueren
Ansatz soll die Strafzumessungsschuld im Umfang nicht weiter reichen als die Strafbegrün-
dungsschuld und stattdessen eine diese limitierende Funktion einnehmen, sodass bei gemin-
derter Schuld eine entsprechende, sich im konkreten Strafmaß widerspiegelnde Milderung des
Tatunrechts erfolgt, vgl. zusf. m.w.N. Streng 2012, Rn. 528 ff.; 2017, Rn. 23 f.
28
Eschelbach 2019, Rn. 28; Streng 2017, Rn. 33; Kaspar 2018, C61.
Einheitlichere u. transparentere Strafzumessung durch Strafzumessungsrichtlinien? 653
dies genau sind/sein sollen, ist unklar und strittig.29 Die dabei vertretenen Ansätze
divergieren im Wesentlichen in der Frage, ob Strafe im Sinne der präventiven Ver-
einigungstheorie der Verfolgung spezial- und generalpräventiver Zwecke dient oder
ob sie – wie von der Theorie der positiven Generalprävention vertreten – die Gültig-
keit der durch die Tat angegriffenen Rechtsnorm (gleichsam kontrafaktisch) bestä-
tigt.30 Die damit einhergehende Unklarheit wirft die weitere Frage auf, ob eine solche
Delegation der Inhaltsbestimmung auf die Judikative überhaupt den Ansprüchen des
Gesetzesvorbehalts und des Bestimmtheitsgebots genügt.31
Auch die in § 46 Abs. 2 StGB – nicht abschließend („namentlich“) – genannten
Strafzumessungsumstände bieten Anlass zur Kritik.32 Zum einen sind sie häufig nur
schwer voneinander abgrenzbar und weisen deutliche Überschneidungen auf (etwa
„Beweggründe“, „Ziele“, „Gesinnung“, „kriminelle Energie“).33 Zum anderen erhö-
hen die sehr offenen Formulierungen (etwa „Vorleben“, „persönlichen und wirt-
schaftlichen Verhältnisse des Täters“) die Gefahr, dass strafzumessungsrechtlich
auch Gesichtspunkte einer „Lebensführungsschuld“34 berücksichtigt werden, die
in keinerlei Zusammenhang mit der konkret verwirklichten Tat stehen, womit letzt-
lich einem Täterstrafrecht35 der Boden bereitet wird.36
29
Maier 2020, Rn. 48 ff.
30
Maier 2020, Rn. 50; m.w.N. Hörnle 1999, 84 ff.
31
Kaspar 2018, C63; zum Bestimmtheitsgebot etwa auch Eschelbach 2019, Rn. 13.
32
Albrecht 1989, 25.
33
Kaspar 2018, C66.
34
Vgl. Mezger 1937, 688.
35
Zu Lebensführungsschuld (Mezger) und Täterstrafrecht im NS-Strafrecht s. Ambos
2019, 58, 112 ff., 119 ff.
36
Horn & Wolters 2016, Rn. 144; Hörnle 1999, 49 ff.; Timm 2012, 259; Kaspar 2018,
C66.
37
Dreher 1961, 344.
38
Schiel 1969, 55 f.; Albrecht 1980, 86 ff.; 1994, 348 ff.; Schöch 1973, 111 f.; Lewrenz et
al. 1968, 117 f.; Pfeiffer & Savelsberg 1989, 25 ff.; Langer 1994, 238 ff.; Hupfeld 1999,
347 ff. Albrecht hat allerdings jüngst darauf hingewiesen (2017, 185), dass es um die Un-
gleichmäßigkeit des Strafens ohnehin ruhiger geworden sei; stattdessen habe sich die Frage
nach der Punitivität in den Vordergrund geschoben.
39
Grundies 2016, 511 (Auswertung der im Bundeszentralregister gespeicherten Daten zu
sämtlichen Erledigungen nach dem StGB in den Jahren 2004 und 2007).
654 Kai Ambos
3. (Englische) Strafzumessungsrichtlinien
(Sentencing Guidelines) als Alternative?
3.1 Vorbemerkung
40
Grundies 2016, 517 ff.
41
Grundies 2016, 519.
42
Eine Ausnahme stellt die Untersuchung Albrechts dar (1994, 354 ff.), der zu dem Er-
gebnis kommt, dass durchaus „unsystematische und damit ungewollte Abweichungen“ in der
innergerichtlichen Strafzumessungspraxis bestehen.
43
Vgl. Streng 2012, Rn. 486 ff.
44
So etwa in der o.g. Studie von Grundies.
45
So die Strafverfolgungsstatistik 2017, Fachserie 10, Reihe 3, Rechtspflege, 194 f.
46
Verrel 2018, 811.
47
Hörnle 2019a, 283.
48
Grosse-Wilde 2019, 131; exemplarisch Streng 2017, Rn. 199; Maurer 2005, 71 ff.;
Reichert 1999, 137 ff.; Uphoff 1998, 80 ff.; Radke 2018, 252. Auch auf andere Guidelines-
Systeme Bezug nehmend Jescheck & Weigend 1996, 883 f.; Giannoulis 2014, 257 f.
Einheitlichere u. transparentere Strafzumessung durch Strafzumessungsrichtlinien? 655
im DJT-Gutachten Kaspars.49 Diese sind jedoch schon deshalb auf die deutschen Ver-
hältnisse nicht übertragbar, weil sie in der Regel viel höhere Strafen als vergleichbare
deutsche Vorschriften vorsehen, also punitiver sind.50 So ist es auch wenig verwun-
derlich, dass Kaspar zu dem Schluss kommt, dass die Federal Guidelines kein taug-
liches Instrument zur Verbesserung der deutschen Strafzumessungspraxis sind.51
Damit ist das Thema „Strafzumessungsrichtlinien“ aber keineswegs erledigt und
zwar nicht einmal mit Blick auf die USA. Insoweit ist nämlich zunächst darauf hin-
zuweisen, dass der Großteil der dort verfolgten Straftaten gar nicht in die Zuständig-
keit der Bundesjustiz,52 sondern die der Kriminaljustiz der 51 Bundesstaaten sowie
zahlreicher lokaler Jurisdiktionen fällt.53 Deren Strafzumessungsrecht und -praxis
unterscheiden sich aber teilweise grundlegend und nur weniger als die Hälfte der
Bundesstaaten verfügt überhaupt über Strafzumessungsrichtlinien;54 diese sind wie-
derum sehr unterschiedlich,55 wobei etliche weniger punitiv als die Federal Sentenc-
ing Guidelines sind.56 Insgesamt lässt sich deshalb überhaupt nicht von einem ein-
heitlichen US-amerikanischen Strafzumessungsrecht,57 sondern eher von einem
„crazy quilt“58 bzw. „hodge-podge of policies“59 sprechen. Im Übrigen finden sich
49
Kaspar 2018, C76 ff.
50
Vgl. näher und diff. Hörnle 2019a, 287; 2019, 905 (zu den Gründen unterschiedlicher
Punitivität Hörnle 2019, 906 ff.).
51
Kaspar 2018, C82 ff., C116 betont die unterschiedliche historische Ausgangslage zwi-
schen Deutschland und den USA und äußert strukturelle Bedenken an den U.S.-Guidelines,
welche insbesondere die starke Simplifizierung des Zumessungsvorgangs und die detaillierte
Ausdifferenzierung der Strafen im Hinblick auf die Einzelfallgerechtigkeit betreffen; kritisch
ebenfalls Frisch 2003, 166 ff.; Maurer 2005, 79 f.
52
Die strafgerichtliche Zuständigkeit des Kongresses ergibt sich aus Art. 1, sect. 8 der US-
Verfassung, die in die Bundeskompetenz fallenden (mehrere tausend) Delikte finden sich in
zahlreichen Bundesgesetzen, etwa in 18 U.S.C.A. § 7. Die Bundesjustiz verfolgt insbesondere
Betäubungsmitteldelikte, Delikte organisierter Kriminalität, große Wirtschaftsstrafsachen,
Waffenbesitzdelike s. Abrams, Beale & Klein 2015, 13 ff.
53
Bundesstrafsachen („federal cases“) machen nur einen geringen Teil (2 – 5 %) der Kri-
minaljustizfälle in den USA aus, vgl. etwa Beale 1995, 993 („… states are still handling more
than ninety-five percent of all violent crime prosecutions.“); Klein & Grobey 2012, 7 (5 %
aller „felonys“ [Verbrechen] betreffen Bundeszuständigkeit); s. a. Grosse-Wilde 2019, 132;
Hörnle 2019a, 287.
54
Frase 2019, 79 (wonach 22 Bundesstaaten seit 1980 Guidelines angenommen haben und
derzeit noch 19 über solche verfügen); für einen Überblick s. die (immer aktualisierte) Web-
site des Robina Institute der Universität Minnesota, abrufbar unter: https://sentencing.umn.
edu/ [20. 10. 2020].
55
Frase 2019, 79, 82 ff., 127 („no single, or even clear, ,consensus model‘ of sentencing
guidelines …“ [79]); Hester 2020, 104 ff.
56
Speziell mit dem Verweis auf die Sentencing Guidelines Minnesotas Grosse-Wilde 2019,
132.
57
Vgl. etwa Reitz 2001, 223: „[T]here really is no such thing as ,U.S. sentencing prac-
tice‘“.
58
Tonry 2013, 141.
59
Hester 2020, 158.
656 Kai Ambos
60
Grosse-Wilde 2019, 133 f. Zur kanadischen Strafzumessung unter besonderer Berück-
sichtigung des dortigen Verhältnismäßigkeitsprinzips s. Berger 2020, 191 ff.
61
Zur Strafzumessung in England und Wales s. Roberts & Padfield 2020, 33 ff.
62
Siehe etwa zur Implementierung sog. Starting Point Sentences in Neuseeland Roberts
(2013, 7). Als weitere Länder, die sich stark an den englischen Guidelines orientieren, sind
Bahrain, Schottland und Südkorea zu nennen (diese Information verdanke ich Julian Roberts).
63
Der U.S. Supreme Court hat in U.S. v. Booker/Fanfan (543 U.S. 220 (2005)) eine Bin-
dungswirkung für verfassungswidrig erklärt, weil sie mit dem 6. Amendment und dem daraus
folgenden Gebot der richterlichen Unabhängigkeit unvereinbar sei, s. Scott 2011, 197 f. Zur
Bindungswirkung näher Frase 2019, 99 ff. („… binding force … as a continuum, not a simple
mandatory-advisory dichotomy“ [99]).
64
Kaspar 2018, C83.
65
Streng 1984, 315.
66
Kaspar 2014, 833; 2018, C83.
Einheitlichere u. transparentere Strafzumessung durch Strafzumessungsrichtlinien? 657
Sentencing Guidelines existieren in England und Wales seit ca. 1980. Die ersten
Guidelines wurden vom Court of Appeal als sog. „guideline judgements“ aufge-
stellt.68 Dieser Zustand änderte sich insbesondere auf Drängen der Labour Party
mit der Schaffung des Sentencing Advisory Panel im Jahr 1998.69 Dieses Gremium
sollte den Court of Appeal bei der Ausübung seiner bisher sehr fragmentarisch auf
einzelne Rechtsbereiche beschränkten rechtsfortbildenden Tätigkeit beraten und
damit auch seine entsprechende Befugnis zum Erlass von Guidelines beschränken.70
Im Jahre 2003 wurde die Ermächtigung zum Erlass neuer Guidelines vom Court of
Appeal auf den neu geschaffenen Sentencing Guidelines Council übertragen. Mit der
Etablierung des Kommissionsmodells71 sollte die Aufstellung der Richtlinien von der
Rechtsprechung des Court of Appeal gelöst werden, um nicht länger von dessen
spruchrichterlicher Befassung abhängig zu sein.72
Mit dem Coroners and Justice Act 2009 kam es alsdann zu weitreichenden Än-
derungen, u. a. auch im Strafzumessungsrecht. Anlass zu dieser grundlegenden Re-
form gab insbesondere die ab ca. 1995 – auch im internationalen Vergleich – rasant
ansteigende Gefangenenpopulation in England und Wales.73 Durch eine verstärkte
Bindungswirkung74 der Guidelines und die Etablierung des (permanenten, unabhän-
gigen und richterdominierten75) Sentencing Council76 (in Nachfolge des o.g. Senten-
cing Guidelines Council und des Sentencing Advisory Panel) sollte landesweit wie-
der mehr Konstanz, Einheitlichkeit und Transparenz in der Strafzumessung und
67
Kaspar 2018, C83.
68
Ashworth 2015, 23, 38; Wasik 2014, Rn. 2.06.
69
Ashworth & Roberts 2013, 4.
70
So wurde die Berechtigung des Court of Appeal, Guideline Judgements zu erlassen, auf
solche Fälle begrenzt, in denen vorher eine Beratung durch das Sentencing Advisory Panel
stattgefunden hat, s. Ashworth 2015, 23; Wasik 2014, Rn. 2.06; Roberts 2013, 2.
71
Zum Kommissionsmodell vs. den legislativen Ansatz aus rechtsvergleichender Sicht s.
Hörnle 2019, 897 f.
72
Ashworth & Roberts 2013, 4 f.; Wasik 2014, Rn. 2.06.
73
Vgl. Roberts 2019, 193; Roberts & Ashworth 2016, 333, 349 f.; s.a. den der Reform
vorausgegangenen, von der Regierung in Auftrag gegebenen Bericht Carters 2007, 4 f.
74
Vgl. Coroners and Justice Act 2009, sect. 125(1) (a), wonach das Gericht „must …
follow any sentencing guidelines which are relevant to the offender’s case …“. Nach der
früheren Rechtslage musste das Gericht die relevante Guideline berücksichtigen („have re-
gard“) (Criminal Justice Act 2003, sect. 172(1)).
75
Zu Zusammensetzung etc. s. https://www.sentencingcouncil.org.uk/about-us/council-
members/ [20. 10. 2020].
76
Coroners and Justice Act 2009, sect. 118.
658 Kai Ambos
damit auch eine Entlastung der Strafvollzugsanstalten erreicht werden. Dabei sollte
jedoch weder der richterliche Entscheidungsspielraum über Gebühr beschnitten noch
einer „Mathematisierung“ der Strafzumessung Vorschub geleistet werden.77 Dem
Sentencing Council wurde neben der Erarbeitung der eigentlichen Guidelines eine
Fülle neuer Aufgaben übertragen, etwa die Prognostizierung der Auswirkungen
neuer und die Evaluierung bereits existierender Guidelines sowie die Erstellung
eines Jahresberichts mit relevanten statistischen Informationen.78
Der erwähnte Coroners and Justice Act 2009 sieht vor, dass jedem – gesetzlich
kodifizierten oder dem (gewohnheitsrechtlichen) common law entstammenden – De-
likt eine darauf zugeschnittene Strafzumessungsrichtlinie zugeordnet wird; daneben
kann es auch allgemeine Guidelines geben.79 Die Guidelines sind auf der Internetsei-
te des Sentencing Council abrufbar,80 wobei wegen der unterschiedlichen sachlichen
Zuständigkeit zwischen Guidelines für den Magistrates’ und Crown Court unter-
schieden wird.81 Sie gelten solange bis eine neue Guideline zu dem gleichen Delikt
erlassen wird, welche dann die alte Guideline ersetzt.82 Die Neuformulierung durch
den Coroners and Justice Act 2009 verstärkte, wie schon erwähnt,83 die Bindungs-
wirkung der Guidelines.84 Ein Gericht kann jedoch von der Anwendung der einschlä-
gigen Guideline abweichen, sofern es dies aus „Interessen der Gerechtigkeit“ für ge-
boten hält;85 dies kommt aber in der Praxis nur selten vor,86 nicht zuletzt weil es sich
77
Roberts 2013, 3.
78
Vgl. Coroners and Justice Act 2009, sect. 119, 120(9), 123, 127 – 132 sowie https://www.
sentencingcouncil.org.uk/about-us/ [20. 10. 2020]; s. a. Roberts 2013, 3 f.
79
Coroners and Justice Act 2009, sect. 120; zu den allgemeinen (deliktsübergreifenden)
Guidelines s.a. Roberts/Padfield 2020, 45 ff.
80
https://www.sentencingcouncil.org.uk/ [20. 10. 2020].
81
Magistrates’ Courts sind für leichtere Delikte („summary only offences“) ausschließlich
zuständig, Crown Courts für die schwereren „indictable offences“. Eine konkurrierende Zu-
ständigkeit besteht bezüglich Delikten, die „triable either way“ sind, wobei insoweit die
schwereren in die Zuständigkeit des Crown Court fallen, s. Magistrates’ Courts Act 1980 und
Courts Act 1971 (für Crown Court). Es ist allerdings zu beachten, dass alle Delikte im Ma-
gistrates’ Court beginnen und nur einige wenige nach den Eingangsplädoyers zum Crown
Court gelangen; mehr als 90 % der Fälle beginnen und enden im Magistrates’ Court, vgl.
https://www.judiciary.uk/you-and-the-judiciary/going-to-court/magistrates-court/ [20. 10. 2020]
sowie Leake et al. 2019, 341 ff.
82
Roberts 2013, 4 f.; Ashworth & Roberts 2013, 5 f.
83
Oben Fn. 74.
84
Roberts & Ashworth 2016, 307 („statutorily binding“).
85
Coroners and Justice Act 2009, sect. 125(1) a.E.: „unless the court is satisfied that it
would be contrary to the interests of justice to do so“. S. auch Roberts & Ashworth 2016, 337.
86
Vgl. den Crown Court Sentencing Survey, abrufbar unter: https://www.sentencingcoun
cil.org.uk/wp-content/uploads/CCSS-Annual-2014.pdf [20. 10. 2020]. Danach liegen nur 3 %
der im Jahr 2014 wegen Körperverletzungsdelikten und Einbruchsdiebstählen ausgesproche-
Einheitlichere u. transparentere Strafzumessung durch Strafzumessungsrichtlinien? 659
nen Strafen außerhalb der von den Guidelines vorgegebenen Strafrahmen (39, 41). Bei der
Bestrafung von Betäubungsmitteldelikten wurde im gleichen Zeitraum in nur 2 % aller Fälle
von den Vorgaben der Guidelines abgewichen (42). Vgl. auch Ashworth 2015, 31; Roberts
2019, 221.
87
Vgl. Ashworth 2015, 31; Roberts 2012, 439 ff. – Zur Bedeutung des identischen Krite-
riums im Völkerstrafprozessrecht (Art. 53 (1) (c) Statut des Internationalen Strafgerichthofs)
vgl. Ambos 2016, 387 ff.
88
Ich folge hier der – gleichermaßen für Magistrates’ und Crown Court geltenden –
Guideline zu „Assault occasioning actual bodily harm / Racially or religiously aggravated
ABH“; https://www.sentencingcouncil.org.uk/offences/magistrates-court/item/assault-occasion
ing-actual-bodily-harm-racially-religiously-aggravated-abh/ [20. 10. 2020].
89
Zur erfolgs-/handlungsunrechtlichen Parallele s. Hörnle 2019a, 289.
90
„Greater harm … and lower culpability; or lesser harm and higher culpability“, s. As-
sault Guideline, o. Fn. 88, Herv. im Original.
91
Roberts 2013, 6; Ashworth 2015, 24 f.
92
Ashworth 2015, 25 f.; Roberts 2013, 6 ff.
660 Kai Ambos
(3) Schritt drei bezieht sich auf etwaiges kooperatives Nachtatverhalten, das (ähn-
lich wie bei § 46b StGB)93 strafmildernd berücksichtigt wird.94
(4) Die strafzumessungsrechtlichen Auswirkungen eines Geständnisses werden im
vierten Schritt behandelt. Dabei gilt das Prinzip, dass sich ein Geständnis umso
stärker strafmildernd auswirkt, je früher es erfolgt. Insoweit regelt eine spezifi-
sche Guideline,95 dass die Strafe bei einem Geständnis zum frühestmöglichen
Zeitpunkt (i. d. R. die erste Vernehmung) um 1/3 zu reduzieren ist, während
die Ermäßigung bei einem Geständnis zum letztmöglichen (von der Guideline
erfassten) Zeitpunkt (erster Prozesstag) 1/10 beträgt. Bei späteren Geständnissen
hat das Gericht den Strafrabatt weiter entsprechend zu verringern.96
(5) Der fünfte Schritt betrifft die Frage, ob von einem Angeklagten eine besondere
Gefährlichkeit ausgeht,97 die eine Freiheitsentziehung – der deutschen Siche-
rungsverwahrung vergleichbar98 – aus Gründen des Schutzes der Öffentlichkeit
(„imprisonment for public protection“) notwendig macht.99
(6) Der sechste Schritt ruft das „totality principle“ in Erinnerung, wonach bei meh-
reren Taten oder laufender Strafvollstreckung wegen einer früheren Tat bei Bil-
dung der Gesamtstrafe („total sentence“) in besonderem Maße darauf zu achten
ist, dass diese gerecht („just“) und verhältnismäßig („proportionate“) ist.100
(7) In Schritt sieben hat das Gericht ggf. eine Entschädigung des Opfers oder sons-
tige Maßnahmen anzuordnen.101
(8) Im achten Schritt soll das Gericht die konkrete Strafe begründen und ihre Wir-
kungen erklären, was auch organisatorische Einzelheiten der Verbüßung und
vorzeitigen Haftentlassung einschließt.102
(9) Im neunten Schritt ist etwaige schon in U-Haft verbüßte oder auf Kaution ver-
brachte Zeit anzurechnen.103
93
Dazu nun eingehend Ambos 2020a, 24 ff.
94
Ashworth 2015, 26, 188 f.; Roberts 2013, 10.
95
„Reduction in sentence for a guilty plea – first hearing on or after 1. June 2017“; https://
www.sentencingcouncil.org.uk/overarching-guides/magistrates-court/item/reduction-in-sent
ence-for-a-guilty-plea-first-hearing-on-or-after-1-june-2017/ [20. 10. 2020].
96
Ashworth 2015, 26, 179 ff.; Roberts 2013, 10.
97
Zu den Gefährlichkeitskriterien vgl. Criminal Justice Act 2003, Part. 12, Chapter 5.
98
Wobei allerdings das englische Recht kein vikariierendes System mit der Unterschei-
dung schuldabhängiger Strafen und schuldunabhängiger Maßregeln der Besserung und Si-
cherung kennt.
99
Ashworth 2015, 26, 237 f.
100
Ashworth 2015, 26, 279 f.
101
Ashworth 2015, 26, 377 ff.
102
Diese Aufklärungspflicht wurde durch den Criminal Justice Act 2003, sect. 174 einge-
führt; dazu Ashworth 2015, 27, 435 ff.
103
Ashworth 2015, 27.
Einheitlichere u. transparentere Strafzumessung durch Strafzumessungsrichtlinien? 661
Die von der Kategorie abhängige Ausgangsstrafe wird anschließend unter Be-
rücksichtigung erschwerender oder mildernder tat- bzw. täterbezogener Umstände
innerhalb des entsprechenden Strafrahmens justiert. Dafür sehen die Guidelines
eine – allerdings nicht abschließende – Liste von Faktoren vor, deren Vorliegen
eine Anpassung der Ausgangsstrafe entweder nach oben oder unten indiziert. Straf-
104
Vgl. schon o. Fn. 88.
105
„A greater degree of provocation than normally expected“, s. Guideline, o. Fn. 88.
106
Als „community order“ wird eine Sanktion bezeichnet, die ihrer Intensität nach zwi-
schen Geld- und Freiheitsstrafe einzuordnen ist. Dabei kann das Gericht aus einer Vielzahl von
Sanktionsmöglichkeiten (etwa gemeinnützige Arbeit, Hausarrest oder Aufenthaltsverbot)
wählen, denen der Gedanke einer (gesellschaftlichen) Schadenswiedergutmachung gemein-
sam ist. Darüber hinaus ist auch eine Kombination von community order und Geldstrafe
möglich. Vgl. die (allg.) Guideline zur Verhängung von „community orders“ und Freiheits-
strafen; https://www.sentencingcouncil.org.uk/overarching-guides/magistrates-court/item/impo
sition-of-community-and-custodial-sentences/ [20. 10. 2020].
662 Kai Ambos
4. (Vorläufige) Schlussfolgerungen
Ein Vergleich der untersuchten Assault Guideline mit dem deutschen Pendant der
vorsätzlichen Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB zeigt die grundsätzliche
Überlegenheit des englischen Ansatzes mit Blick auf Vorhersehbarkeit bzw. Be-
stimmbarkeit der konkreten Strafe und Nachvollziehbarkeit des Strafzumessungs-
akts. Während der Strafrahmen des § 223 Abs. 1 StGB (von Geldstrafe bis zu fünf
Jahren Freiheitsstrafe) den Rechtsunterworfenen bei der Einschätzung der konkreten
Strafhöhe weitgehend im Unklaren lässt, kann er anhand der Assault Guideline re-
lativ genau die zu erwartende Strafe bestimmen. Auch die hiesige tatrichterliche
Strafzumessungsbegründung107 kompensiert das Erklärungsdefizit des konkreten
Strafzumessungsvorgangs nicht. Sie erfolgt zum einen erst nach der Aburteilung
im Rahmen der (mündlichen) Urteilsbegründung und erschöpft sich zum anderen re-
gelmäßig in der Nennung weniger Kriterien, im Falle vorsätzlicher Körperverletzung
etwa des Einlassungsverhaltens oder des Vorliegens von Vorstrafen.108 Damit bleibt
der Strafzumessungsvorgang für den Rechtsunterworfenen wie schon zu von Liszts
Zeiten eine „black box“ („Griff ins Dunkle“); er kann nicht nachvollziehen, wie das
Gericht angesichts des weiten Strafrahmens gerade zu dem konkreten Strafausspruch
gekommen ist.
Demgegenüber ermöglicht das englische Modell eine systematische und logische
Subsumtion unter einen bestimmten Strafzumessungssachverhalt anhand der ein-
schlägigen Deliktsrichtlinie („Offence Guideline“) und zwar schon vor Aburteilung
über die leicht zugängliche und erschließbare Website des Sentencing Council. Der
eigentliche richterliche Strafzumessungsakt wird dadurch ebenfalls (leichter) nach-
vollziehbar. Alles in allem erweist sich demnach das englische Strafzumessungssys-
tem – trotz der relativ hohen Ausgangsstrafen109 – durchaus als Modell, das auch hier-
zulande größere Beachtung und eine gründliche(re) Untersuchung verdient.110
107
Vgl. Schäfer, Sander & van Gemmeren 2017, Rn. 1352 ff.
108
Kaspar 2014, 833.
109
Die Ausgangsstrafen liegen in der Regel über den deutschen Mindeststrafen, vgl. z. B.
§ 223 StGB (Geldstrafe oder ein Monat Freiheitsstrafe, § 38 Abs. 2 StGB) und die Assault
Einheitlichere u. transparentere Strafzumessung durch Strafzumessungsrichtlinien? 663
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order“ bei Kategorie 3 Taten, s. Tabelle im Haupttext); vgl. auch Hörnle 2019, 906. Zu
beachten ist auch, dass die Ausgangsstrafen innerhalb der vorgegebenen Schrittfolge noch
nach oben oder unten angepasst werden, so dass sich auch wesentlich geringere Strafen er-
geben können.
110
Eine solche Untersuchung wird in meiner Göttinger Abteilung von Eric Armbrecht
durchgeführt.
664 Kai Ambos
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Einheitlichere u. transparentere Strafzumessung durch Strafzumessungsrichtlinien? 667
1. Introduction
It is a safe assumption that robbery exists, as a crime, in virtually every legal sys-
tem. Very broadly spoken, it is a crime that consists of the forceful taking of another
person’s property. Robbery is often regarded as one of the more serious crimes that
can be committed. Such seriousness is then reflected in the severity of the sentence
imposed on the robber. However, not all robberies are equally serious.
What factors determine that one robbery is more or less serious than another?
From a South African perspective, the answer to this question is far from certain.
This uncertainty exists even though robbery is prevalent – in other words, there is
much potential in South African criminal justice to provide a more certain answer.
This contribution explains how South African courts approach sentencing for rob-
bery. It starts by briefly discussing the definition of robbery and then moves to prin-
ciples governing sentencing in South Africa in general, and the sentencing of robbery
in particular.1 I then briefly discuss the same subject matter in German law. Finally,
the contribution analyses the most pressing issues afflicting sentencing in South Af-
rica and, in this process, contrast the legal principles that are in place in Germany. I
close by briefly explaining Hans-Jörg Albrecht’s connection to the above-mentioned
considerations.
* The research in this contribution was made possible with the financial assistance of the
Max Planck Institute for Foreign and International Criminal Law, Freiburg, Germany, which is
hereby gratefully acknowledged. The views expressed in the article are those of the author and
cannot be attributed to the aforementioned Institute.
1
It should be noted that this contribution deals with the sentencing of adult offenders
only – child offenders are dealt with in terms of the Child Justice Act 75 of 2008.
670 Stephan S. Terblanche
It is important to note that South Africa does not have a criminal code. Many of the
more common offences are governed by common law which, in the case of criminal
law, is Roman-Dutch law. Robbery is a good example of this position – it is not de-
fined as a crime in any legislation. Instead, its elements come from common law, as
interpreted in the judgments of our courts. Little controversy remains about these el-
ements, although technological advances may create new problems, as they do in any
legal system.
Essentially, robbery amounts to theft of property, committed by means of violence
or threats of violence.2 A more detailed definition reads as follows:3
“Robbery consists in theft of property by unlawfully and intentionally using:
(a) violence to take the property from somebody else; or
(b) threats of violence to induce the possessor of the property to submit to the taking of the
property.”
The violence can be slight – the victim need not suffer any injuries.4 However,
there must be a causal link between the violence and the taking of the property.5
South African criminal law does not distinguish different grades of robbery, de-
spite the fact that robbery can range from a rather petty offence (property of very little
value is taken with the slightest threat of violence) to gravely serious crime (an or-
ganised and armed gang takes millions of Rands with much violence, including the
use of explosives or military weapons).
The Criminal Procedure Act 51 of 1977 contains a definition for “robbery with
aggravating circumstances”. Such robbery involves the “wielding of a firearm or
any other dangerous weapon” or the infliction or threat of “grievous bodily
harm”.6 This definition does not create a new offence, which remains the com-
mon-law offence of robbery.7 Originally, the definition was limited to describing cir-
2
Snyman 2014, 508. See also, generally, S v Mokoena 1975 (4) SA 295 (O); S v Macdonald
1980 (2) SA 939 (A).
3
Snyman 2014, 508.
4
Snyman 2014, 508.
5
Snyman 2014, 509. The facts of a case can complicate the search for such connection – cf
S v Moloto 1982 (1) SA 844 (A).
6
Section 1 of the Act.
7
Cf S v Moloto 1982 (1) SA 844 (A).
Comparing Sentencing for Robbery with “Strafzumessung für Raub” 671
cumstances under which the death penalty could be imposed for robbery.8 When the
death penalty was declared unconstitutional,9 it became almost irrelevant, until resus-
citated by the minimum sentences legislation – this is discussed in more detail
below.10
8
Hiemstra 1987, 7, 629 – 630.
9
In S v Makwanyane 1995 (2) SACR 1 (CC).
10
See 2.4.
11
Director of Public Prosecutions, Western Cape v Prins 2012 (2) SACR 183 (SCA).
12
Cf Terblanche 2016, 133. The main principle regarding appeal against sentences is that
it, “is trite that sentencing is pre-eminently the domain of the trial court. … The appeal court
can interfere with the sentence of the court a quo if it is inappropriately severe to the extent that
it induces a sense of shock” or if the trial magistrate or judge misdirect themselves regarding
the law or the facts – S v Matewane 2013 JDR 2755 (GNP), para [16].
13
Cf S v Sehoole 2015 (2) SACR 196 (SCA), para [10].
14
Section s 92(1)(a) of the Magistrates Courts Act 32 of 1944.
15
Terblanche 2016, 17.
16
Joubert 2017, 45. The Constitution of the Republic of South Africa, 1996 provides for
the judicial authority and its different courts in ch 8.
672 Stephan S. Terblanche
Judge-made law determines the principles that govern which sentence to impose
in a particular case. The general principles have been summarised in S v Zinn:17
“What has to be considered is the triad consisting of the crime, the offender and
the interests of society”. In addition, the courts are expected to consider the purposes
of punishment, namely retribution, deterrence, prevention and rehabilitation.18 Over
the years, many commentators have remarked on the vagueness of this basic set of
principles, but it remains in place.19 The vagueness is especially problematic regard-
ing the determination of the seriousness of the crime, which is largely left to the dis-
cretion of the sentencer. There is no refinement to this element, such as that the seri-
ousness of a crime should be determined by its harmfulness and the offender’s blame-
worthiness.20
17
1969 (2) SA 537 (A) 540G–H.
18
Cf Director of Public Prosecutions, KwaZulu-Natal v P 2006 (1) SACR 243 (SCA), para
[13]; S v Rabie 1975 (4) SA 855 (A), 861.
19
Cf Van der Merwe 1991, 5-1 – 5-4F.
20
The South African Law Commission 2000, para 3.1.4, proposed such a refinement.
21
The sentences are contained in s 51(1) and (2) of the legislation, and the crimes involved
in a series of parts to schedule 2 of the Act.
22
Initially, it would have fallen away automatically after two years, unless reinstated by the
President – cf S v Vilakazi 2009 (1) SACR 552 (SCA), para [9].
23
The Criminal Law (Sentencing) Amendment Act 38 of 2007 repealed the renewal pro-
vision.
24
This minimum is increased to 20 years’ imprisonment for one previous conviction of
aggravated robbery, and to 25 years’ imprisonment for more than one previous conviction –
s 51(2).
25
Item 2 in Part II of Schedule 2 to the Act.
Comparing Sentencing for Robbery with “Strafzumessung für Raub” 673
There is no central database of the sentences that are imposed in South Africa. One
of the legal publishers has a database, maintained since 2013, of some sentences, ar-
ranged according to the offence of conviction. It is limited to high court judgments
and, in the case of robbery, mostly following appeals from regional court trials. Most
robbery cases are not, therefore, recorded in this database. Nevertheless, it has some
value, as can be seen from the following tables. They set out the basic sentences, with
the number of such sentences imposed, for ‘common’ robbery (Table 1) and aggra-
vated robbery (Table 2) respectively.
26
S v Fortune 2014 (2) SACR 178 (WCC), para [11].
27
Section 51(3) of the CLA.
28
2001 (1) SACR 469 (SCA).
674 Stephan S. Terblanche
Table 1
‘Common’ Robbery
Sentence Number
Fine (R4000) 129
16 months imp 130
2 years imp 2
3 years imp 2
5 years imp 4
6 years imp 1
7 years imp 231
Table 2
Aggravated Robbery
Sentence Number
3 years imp 1
5 years imp 3
7 years imp 4
8 years imp 8
10 years imp 39
12 years imp 19
13 years imp 4
14 years imp 1
15 years imp 127
16 years imp 2
17 years imp 2
18 years imp 8
20 years imp 9
Total 227
The majority of sentences imposed for aggravated robbery (55.9%) are for 15
years, the prescribed minimum sentence for such robberies.32
It should be reiterated that these numbers are limited to reported judgments, only
since 2013. More severe sentences are imposed. It happened, for example, in S v Msi-
29
S v Ncongwane 2014 JDR 2247 (GP).
30
S v Nogxaza 2014 JDR 1209 (ECB).
31
Two sentences imposed in one case – S v Madlebe 2016 JDR 1576 (GP).
32
This fact confirms the conclusion by Joubert 2008, 168, that courts do not readily depart
from the prescribed minimum sentences.
Comparing Sentencing for Robbery with “Strafzumessung für Raub” 675
manga,33 where an effective sentence of 24 years’ imprisonment was imposed for two
armed robberies involving motor vehicles.
To get a sense how our courts approach the sentencing of robbery, it is important to
look at a few relevant judgments. It should be noted that, although not included in
each discussion, each court would have applied the general sentencing principles,
or the law in connection with the minimum sentences, as set out above.
In S v Ncongwane,34 the victim was riding his bicycle when harassed by a group of
three men. He ended up in the bushes alongside the road and the attackers left with his
bicycle, backpack and cell phone, all to the value of over R3,000. The district court
convicted the appellant of robbery and imposed a sentence of three years’ imprison-
ment. However, the appeal court replaced the sentence with a fine of R4,00035 or,
alternatively, six months’ imprisonment – it found that the magistrate had not exer-
cised the sentence discretion properly. The appeal court took into account that the
victim had not been injured, that he got back his bicycle and that the appellant
was a 27-year-old first offender and sole breadwinner of his family.
A sentence at the other end of the scale was imposed in S v Madlebe.36 The case
involved two similar robberies that took place about a week apart. In each instance, a
group of three or four people attacked the victim and got away with a cell phone and
cash (from R100 to R1,200). Only the appellant appeared before the court of appeal.
He was convicted of ‘common’ robbery, as there was no evidence of any weapons
being involved. During the trial, the appellant was 29 years old, he had a wife and
children, and stable living conditions. He had various previous convictions, also
for violent crime such as robbery. At the time of the appeal he was unemployed,
being in custody awaiting finalisation of another case. The appeal court imposed
7 years’ imprisonment on each count but ordered the sentences to be served concur-
rently.
It is difficult, if not impossible, to explain the vast difference in sentences imposed
in the two cases discussed above. The violence involved was not much different; the
value of property stolen was, if anything, higher in the first case; there was no mean-
ingful difference in the personal circumstances of the offenders. The second appel-
lant’s previous convictions certainly cannot fully explain the difference.
33
2005 (1) SASV 377 (O).
34
2014 JDR 2247 (GP).
35
In Feb 2020, the exchange rate is about R16,50 to E1.
36
2016 JDR 1576 (GP).
676 Stephan S. Terblanche
One of the least severe sentences was imposed in S v Matewane.37 One night, as the
victim was walking along a street illuminated by streetlights, a group of five men
attacked him, threatening to stab him with a knife. While assaulting him, they
took his wallet and cell phone, as well as his running shoes. When the assailants start-
ed squabbling amongst themselves, the victim managed to get away. Only the appel-
lant appears to have been convicted, of robbery with aggravating circumstances. His
sentence of three years’ imprisonment was confirmed by the appeal court.
This sentence appears to be completely inconsistent with other sentences imposed
for aggravated robbery, or when compared to S v Madlebe, discussed under “com-
mon” robbery. Normally, an attack by a gang of people, armed with a knife and
then taking items of a substantial value, is a serious matter that should attract a longer
sentence.
In fact, a much longer sentence was imposed in S v Davids.38 The appellant and a
friend came across the victim and, after a brief conversation, produced a knife and
grabbed the victim’s cell phone, telling him to go so that he does not get hurt. The
appellant pleaded guilty to robbery and admitted the aggravating circumstances,
as he had threatened the victim with the knife. The appellant was 27 years old,
and the breadwinner of his family. The trial court found no substantial and compel-
ling circumstances to be present and imposed the prescribed sentence of 15 years’
imprisonment. The appeal court declined to interfere with this judgment.
The prescribed minimum sentences were also imposed in the next two cases. In S v
Mxolisi39 the two appellants (and their co-accused) had firearms when they violently
took R332,000 from a bank. And in S v Mahlamuza,40 the two appellants were part of
a group of five people who attacked an elderly farmer and his wife on their farm. This
group had at least a revolver and a knife amongst them. The victims sustained bruises
and a few lacerations. The police arrived while the robbery was taking place, which
meant no property was actually removed – the value of the property is not mentioned
in the judgment.
It should be clear that sentences for robbery are widely divergent. Many more
practical examples could have been included in this discussion. However, experience
has proven that, far from giving rise to clearer principles, adding more judgments
merely tends to further confuse the issue. Without more specific principles at the
foundation of sentencing, more consistent sentences cannot be expected.
37
2013 JDR 2755 (GNP).
38
2016 JDR 1864 (ECM).
39
2018 JDR 0586 (GJ).
40
2014 JDR 2551 (SCA).
Comparing Sentencing for Robbery with “Strafzumessung für Raub” 677
Just how big a problem is robbery in South Africa? Official crime figures from the
South Africa Police Service (SAPS) provide a starting point for answering this ques-
tion. Just a few sample figures are retained in the table below, but the graph gives the
full picture from 1995 to 2019.41
Table 3
Number of Robberies Reported to the SA Police Service
Year Robbery Robbery
(common) (aggravating)
1995 32,659 84,785
2000 74,711 98,813
2003 101,537 126,905
2004 95,551 133,658
2005 90,825 126,789
2010 56,993 113,200
2015 54,927 129,045
2019 51,765 140,032
41
Data obtained from South African Institute of Race Relations 2019, 846 – 851 and South
African Police Service 2019. https://www.saps.gov.za/services/crimestats.php.
678 Stephan S. Terblanche
As crime rates, in other words per 100,000 of the population, aggravated robberies
average around 200, reaching its peak in 2004 (288) and currently at 244. The rate for
common robbery is much lower and has also fluctuated more. It varied from 84
(1995) to 223 (2003) to the current 89 (2019).
Crime figures published by the SAPS are notoriously unreliable.42 Because of all
kinds of extraneous factors, the police are especially unwilling to officially report less
serious crime. Although the data for aggravated robbery is likely to be fairly accurate,
common robbery must be heavily underreported. Nothing else can explain, first, why
there are fewer common than aggravated robberies and, secondly, the decline in num-
bers for common robbery.
The data in Germany provides an interesting comparison. In the former West Ger-
many, there were 3,684 robberies in 1955, which increased to 20,362 in 1975, 51,154
in 1995 and 57,513 in 1997.43 From 1993, data from the former East Germany was
also included, and robberies in the reunited Germany rose to 69,569 in 1997.44 The
numbers have subsequently stabilised. In 2010 it numbered 48,166 or 59 robberies
per 100,000 of the population.45 According to the latest official data, the total number
of robbery offences have ranged from 48,021 in 2011 to 48,711 in 2012, dropping
consistently since then to 44,666 in 2015, and 36,756 in 2018 (44 per 100,000).46
The definition of robbery in German law is, in many respects, very similar to that
in South African law. Raub is defined in section 249(I) of the German Criminal Code
(Strafgesetzbuch), in the following terms: “Whoever appropriates movable property
belonging to another with force, or with an equivalent threat of danger to life or limb,
is punishable …”.47 Essentially, it is considered a combination of theft and coercion
(Nötigung).
The Criminal Code describes further “forms” of robbery, such as aggravated rob-
bery48 and robbery leading to death.49 These forms tend to use the definition of Raub
42
See Hosken 2018, including an interview with well-known criminologist Prof Rudolph
Zinn, especially regarding under-reporting.
43
Dölling 1999, 177. Inevitably, these increases caused major concern for the feeling of
security within German society.
44
Schmelz 2002, 22.
45
Bundeskriminalamt 2012, 60.
46
Bundeskriminalamt 2015, 85; Bundeskriminalamt 2018, 37.
47
For a detailed discussion of the details of this provision, cf Mitsch 2015, 492 – 520.
48
Section 250.
49
Section 251.
Comparing Sentencing for Robbery with “Strafzumessung für Raub” 679
in section 249 and then qualify it, typically with certain aggravating circumstances, in
order to associate such conduct with different prescribed sentences.50
As is typical of the approach followed in the Criminal Code and in compliance
with German understanding of the legality principle, the crime definition also serves
to set out the sentence range (der Strafrahmen) for such conduct.51 Accordingly, sec-
tion 249(I) also states that someone who robs another person is punishable with im-
prisonment of not less than a year. This, as with any penalty clause that refers only to
the minimum or the maximum sentence, must be read with section 38(2) of the Crim-
inal Code. In terms of this provision, the maximum duration of determinate impris-
onment is 15 years, and the minimum is 1 month.52 Therefore, the sentence range for
“common” robbery is one to 15 years’ imprisonment.
50
Mitsch 2015, 491 – 492.
51
These ranges are typically quite broad, “thus allowing significant leeway for judicial
sentencing discretion” – Weigend 2001, 189.
52
Cf Gropengieber & Kreicker 2004, 3.
53
Section 250(I).
54
Section 250(II).
55
Section 316a(I). For a discussion of the details of this provision, cf Mitsch 2015, 641 –
671.
56
Fischer 2017, § 316a rn 2.
680 Stephan S. Terblanche
In all these instances, the maximum sentences are 15 years’ imprisonment, as pro-
vided for by section 38(2) of the Criminal Code.
Now that it has been explained how the sentence range of each offence is deter-
mined, with some examples, the other offences involving robbery and their sentence
ranges can be summarised. Roughly in order from the highest to the lowest, the sen-
tence ranges for robbery in the German Criminal Code are as follows:
• Robbery (or robbery-like attacks on drivers) leading to death: life imprisonment,
or not less than 10 years’ imprisonment57
• Severe forms of aggravated robbery: 5 – 15 years’ imprisonment58
• Robbery-like attacks on drivers: 5 – 15 years’ imprisonment59
• Aggravated robbery: 3 – 15 years’ imprisonment60
• Simple robbery (and robbery-like theft61): 1 – 15 years’ imprisonment62
• Less severe forms of aggravated robbery: 1 – 10 years’ imprisonment63
• Less severe robbery-like attacks on drivers: 1 – 10 years’ imprisonment64
• Less severe forms of common robbery (and robbery-like theft): 6 months – 5
years’ imprisonment65
As can be seen from the list above, reduced sentence ranges are prescribed for
“less severe cases” (minder schwere Fälle).66 According to the Federal Court of Jus-
tice (Bundesgerichtshof), all circumstances that would appear to make the normal
sentence range inappropriate, can be taken into account when determining whether
a case should be considered less severe.67 This determination involves all factors,68
57
Section 251.
58
Section 250(II).
59
Section 316a(I).
60
Section 250(I).
61
Section 252.
62
Section 249(I).
63
Section 250(III).
64
Section 316a(II).
65
Section 249(II).
66
Schäfer et al. 2017, rn 1100.
67
Judgment of 19. 03. 1975 – 2 StR 53/75.
68
Cf Sander 2017, § 249 rn 76.
Comparing Sentencing for Robbery with “Strafzumessung für Raub” 681
4. Sentencing Robbery:
Comparisons Between South Africa and Germany
There is no doubt that robbery, and especially aggravated robbery, is much more
common in South Africa than in Germany. The question is to what extent, then, there
is any sense in comparing the sentencing systems of these two jurisdictions. In this
section, I attempt to provide an answer to this question.
German law expressly identifies what interests are protected by the crime of rob-
bery. The literature emphasises that robbery is a combination of theft and coercion
(Nötigung), yet an independent crime. As such, robbery protects both legal interests,
namely property and its possession on the one hand, and freedom to decide for one-
self and to act accordingly, on the other.72 This is important for sentencing, as the
extent to which any individual robbery violates each of these interests provides a
point of departure for an appropriate sentence.
Although the same interests underlie the crime of robbery in South Africa, one is
unlikely to see them expressly articulated.73
The range of sentences in South Africa is either virtually unlimited or, in the case
of aggravated robbery, pegged at a single sentence of 15 years’ imprisonment.74 As
69
Fischer 2017, § 46 rn 85; Schäfer et al. 2017 rn 1101.
70
Fischer 2017, § 46 rn 85.
71
Albrecht 1994, 306 – 307.
72
Fischer 2017, § 249 rn 2; Schäfer et al. 2017 rn 1678.
73
Neither of the main South African works on criminal law (Snyman 2016; Burchell 2016)
mentions these interests.
74
This fact applies notwithstanding the increases for previous convictions – see Fn. 24.
682 Stephan S. Terblanche
shown above, this single sentence is the point of departure for criminal acts that can
vary a lot regarding their harm and culpability.
In contrast, in Germany, robbery is accompanied with a range of sentences that
explicitly increases for logical reasons attached to the protected legal interests.
The emphasis is on dangerous means of coercion, which increasingly threatens
the lives of the victims through the use of weapons and the activities of criminal
gangs (or organised crime). This is a far better, in every respect, than the current sit-
uation in South Africa.
Basic sentencing principles of South African law are stuck in the 1960s. While it
requires that the seriousness of the crime, the offender and the interests of society be
taken into account, it is pure coincidence if the blameworthiness of the offender fea-
tures in the application of these principles.
In contrast, the basic principles of sentencing in German law are much better de-
veloped. Because of space constraints, it is impossible to provide more than a brief
exposition of its basic principles.
The starting point is section 46(I) of the Criminal Code, which reads as follows:75
“The offender’s guilt (Schuld) is the basis (Grundlage) for the imposition of punish-
ment. The consequences that the punishment can be expected to have on the offend-
er’s future life in society shall be taken into account.”76 This is followed by section
46(II), where the courts are advised to weigh up all the circumstances that count for or
against the offender. Then follows a list of factors, mostly related to the offender’s
circumstances or blameworthiness,77 which must be taken into account. Much sim-
plified, these factors are (1) the offender’s motive; (2) the offender’s recklessness or
carelessness, and the way in which the crime was committed; (3) whether he acted in
breach of any responsibilities; (4) the consequences of the crime; (5) the offender’s
personal circumstances, including his criminal history; and (6) the offender’s subse-
quent conduct, in particular his efforts at restoration.
Section 46(I) has been subjected to much criticism over the years.78 But the legis-
lation has been heavily supplemented by a substantial body of case law. In terms of
the jurisprudence of the Federal Court of Justice, the foundation for sentencing is the
seriousness of the crime and its implications for the harmed or damaged legal order,
75
It is difficult to reflect the German text into English. For some other attempts, see
Weigend 2001, 204; Bohlander 2012, 179.
76
The second sentence does not have much practical effect on sentencing in courts – it is
generally regarded as referring to considerations of prevention: cf Robbers 2017, 127.
77
Fischer 2017, § 46 rn 25 ff.
78
Cf Streng 2002, 222.
Comparing Sentencing for Robbery with “Strafzumessung für Raub” 683
as well as the personal blameworthiness of the offender.79 This approach accords with
the principle of proportionality (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz), a central principle
in German law.80 The challenge remains to find the proportionality that is required
between crime and punishment.81 The Federal Court of Justice “has therefore in con-
sistent jurisprudence adhered to the so-called Spielraumtheorie or ‘margin model’ –
there is a certain (narrow) margin of adequate and just punishment …”.82 In trans-
forming the facts into a specific sentence, the “[t]rial courts are guided … by tradi-
tional standards and conventions that differ locally”.83
The Federal Court of Justice has also developed the concept of “the offender’s
guilt” in section 46(I). This guilt should be distinguished from the guilt requirement
for criminal liability and is a wider concept, which also includes behaviour before and
after the crime.84 Essentially, it refers to “the extent to which the offender can be
blamed for the crime” – in other words, the offender’s blameworthiness.85
The most common sentence for aggravated robbery in South Africa is, as shown
above, 15 years’ imprisonment. This is the same as the maximum sentence for aggra-
vated robbery in German law, but more than the maximum of 10 years’ imprisonment
for a less severe instance of aggravated robbery.
It is also uncommon, in South Africa, to see a sentence for robbery that cannot be
divided by 5 years. In contrast, as is common knowledge in Germany, German courts
impose sentences in relatively small increments, often using months in addition to
years.
A number of research projects have reported the sentences actually imposed for
robbery in German courts. The results are basically as follows:86
• For aggravated robbery, sentences average 44 to 58 months’ imprisonment.
• Less severe instances of aggravated robbery: 26 to 33 months’ imprisonment.
• Common robbery: 19 to 24 months’ imprisonment.
• Less severe instances of common robbery: 16 months’ imprisonment.
79
Cf Albrecht 2001, 140.
80
Robbers 2017, 43.
81
Cf Albrecht 2001, 141.
82
Bohlander 2012, 191. Cf also Fischer 2017, § 46 rn 20.
83
Weigend 2001, 205.
84
Eisele 2014, Vorbemerkung zu den §§ 13 ff. rn 111; Bohlander 2012, 182.
85
Schäfer et al. 2017 rn 575; Bohlander 2012, 177.
86
Albrecht 1994, 279; Hoppenworth 1991, 57 – 61; Schmeltz 2002, 90 – 91.
684 Stephan S. Terblanche
Robbers often repeat their robberies, or are also guilty of other offences, such as
assault or unlawful possession of firearms.89 In such cases, sentencing courts must
impose a sentence for more than one crime, which can quickly result in a “cumulative
effect” – in other words, “that the sum of all the different sentences is simply too high,
too severe, out of proportion to what is deserved by the offender”.90
In South Africa, all that is demanded of the courts is to prevent this cumulative
effect from developing.91 This is a discretionary process, which in theory requires
the court to determine an appropriate sentence for each individual offence, then con-
sider what sentence would be appropriate for the totality of criminal behaviour,
which would then be imposed as the effective sentence.92 Often, the most appropriate
process to achieve this objective is ordering different sentences of imprisonment to be
served concurrently.93
In contrast, German law has a sophisticated arrangement to determine how multi-
ple offences should be dealt with. The point of departure is that a single criminal act
(as expressed by the offender’s will) should also be dealt with procedurally as one,
whereas substantively independent criminal acts should procedurally be treated as
independent.94 The Criminal Code distinguishes, for these purposes, between act uni-
formity (Tateinheit) and act plurality (Tatmehrheit).95 In case of Tateinheit, when the
87
Sentences for robbery in Germany lie within the upper spectrum of international prac-
tices – Vogel 2010, Vor §§ 249 ff rn 81.
88
Albrecht 1994, 279 found that 2% of sentences for aggravated robbery was in excess of
10 years.
89
Cf Hoppenworth 1991, 44: most of the cases in the sample involved several different
crimes (47%), followed by single acts of robbery (40%) and multiple acts of robbery (13%).
90
Terblanche 2016, 198.
91
Cf, e g., S v Muller 2012 (2) SACR 545 (SCA), para [9]; S v Ndlanzi 2014 (2) SACR 256
(SCA), para [48].
92
Terblanche 2016, 198 – 199.
93
In terms of section 280 of the Criminal Procedure Act. Section 39(2)(a)(i) of the Cor-
rectional Services Act 111 of 1998 causes all sentences imposed with life imprisonment
automatically to be served concurrently.
94
Fischer 2017, Vor § 52 rn 1. Cf also, in general, Bohnert 1993, 846 – 870; Reichenbach
2012, 9 – 14.
95
Cf Bohlander 2012, 195.
Comparing Sentencing for Robbery with “Strafzumessung für Raub” 685
same criminal conduct fits the definition of more than one distinct offence, only one
sentence is imposed.96 In such cases, the highest sentence provided for these different
offences determines the upper limit of the Strafrahmen.97 In case of Tatmehrheit,
multiple distinct offences would have been committed, in which event the court
must impose a composite (or aggregate) sentence (Gesamtstrafe).98 In creating a
composite sentence, the court should determine an appropriate sentence for each dis-
tinct offence,99 and then increase the most severe one of these sentences. The com-
posite sentence must be less than the sum of sentences allowed by the different pen-
alty clauses, and it may normally not exceed 15 years’ imprisonment.100 In practice,
the courts will mention the sentences it considers appropriate for the individual of-
fences, but it imposes a single sentence, called the individual sentence (Einzelstrafe).
In its judgment, the court only announces the Gesamtstrafe, which is also the only
sentence that is executed.101
5. Conclusion
The introduction posed the question, “What factors determine that one robbery is
more or less serious than another?” Despite being a common crime in South Africa,
the answer is unclear and largely left within the discretion of the sentencer. This ap-
proach results in much disparity in sentencing, which is not assisted by legislation
that sets a single term of imprisonment of at least 15 years’ imprisonment for “rob-
bery with aggravating circumstances”, when some of those circumstances are much
more severe than others.
In large part, the problems with sentencing in South Africa can be traced to weak
(or even absent) general principles. In this respect, there is much to be learnt from
German law. These lessons range from an express recognition of the interests that
are protected by robbery (or any other offence, for that matter). It is also essential
that assessment of “the seriousness of the crime” become more principled, as recom-
mended by the South African Law Commission:102 nothing prevents our courts from
accepting that the seriousness of crimes should be determined by the degree of harm-
fulness (or risk of harmfulness) of the offence and the degree of culpability of the
offender.
96
Section 52.
97
Section 52(II). See Fischer 2017, § 52 rn 2 – 4.
98
Section 53(I).
99
Section 54.
100
Section 54 (II). The upper limit of 15 years can be exceeded when more than one
composite sentence has been imposed – Stree & Kinzig 2014, § 38 rn 4.
101
Fischer 2017, § 54 rn 12.
102
South African Law Commission 2000, para 3.1.4.
686 Stephan S. Terblanche
Judges and magistrates in South Africa often resort to emotional language in their
judgments. The following example, from S v Msimanga,103 is typical of this ap-
proach:
“Armed robberies and, more particularly, armed car hijackings, are the order of day. In this
country no one who dares to drive a motor vehicle is safe anymore. The sword of Damocles
persistently hangs over the driver and his passengers, that their vehicle could be hijacked,
often with deadly consequences. The public has the right to use the roads safely and without
interference, for the purpose they are intended. This right is currently being brutally disrupt-
ed by overly high levels of hijackings. This crime is committed purely out of greed. The
criminals have no concern for the body and property of the victims. If they resist, the victims
are usually summarily executed.”
Apart from the fact that the truth of such pronouncements is debatable, they make
no contribution to a rational sentencing system.
The main objective of German criminal law reform in the twentieth century was
the recognition that punishment is required, but that “the convicted criminal remains
a human being and his human dignity must accordingly be respected”.104 German
courts approach sentencing modestly, not trying to force their sentences to solve a
major crime problem, which they are unable to do. German sentences for robbery
remained stable when robberies increased significantly in the 1990s, and when
they subsequently dropped by a third. In the meantime, the courts did what they
are best suited for – to mete out sentences in proportion with the extent to which
the offenders can be blamed for the harm they had caused.
103
2005 (1) SACR 377 (O), para [8] – this is a translation from the original Afrikaans.
104
Eser 1989, 11.
105
SA Law Commission 2000, para 1.42.
106
SA Law Commission 2000, para 1.45.
107
SA Law Commission 2000, para 2.24.
Comparing Sentencing for Robbery with “Strafzumessung für Raub” 687
visits to the Max Planck Institute for Foreign and International Criminal Law in Frei-
burg in 2002. I learnt so much from him over the years.
It is such a pity that none of the proposals of the Law Commission has been im-
plemented. So much of what is still wrong with sentencing in South Africa, and which
have been highlighted in this contribution, could have been addressed in the interven-
ing years.
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IV. Strafrechtliche Sozialkontrolle und Sanktionen –
Penal Social Control and Sanctioning
Torture and Inhumanity
By Luis Arroyo Zapatero
1
For a description of the scene see Zapatero 2011; http://blog.uclm.es/luisarroyozapatero/
files/2016/07/vortrag_arroyozapatero_2011.pdf [18. 05. 2020]; also in Zapatero 2016, 108 ff.
2
On all of that time, see Vormbaum, Malarino & Jacobs 2008.
692 Luis Arroyo Zapatero
global terror has caused the resumption of the practices of torture and even extraju-
dicial executions.
1. Introduction
One cold day towards the end of a Castilian winter, the narrator of this story and
another young man from the same course, and even the Rector of the University that
we were to visit, Ignacio Berdugo Gómez de la Torre, set off towards Salamanca from
our University of Valladolid, accompanying our teacher of criminal law Marino Bar-
bero Santos. It was 1971, and a seminar on “Current Criminal Law Problems” was to
be held in Salamanca. Professor Barbero Santos was to speak at a conference that the
authorities had on other occasions wished to suspend. It consisted of a critique of
military justice and special courts, those where the offenses of political organizations
that employed armed violence were judged. It should be recalled that hardly a few
months had passed since the so-called trial of Burgos at which various founders
of the terrorist organization ETA had been condemned. The court had pronounced
six death sentences, commuted only after immense national and international mobi-
lizations. The atmosphere was tense in the classroom of the old building of the Uni-
versity that celebrated its 800th anniversary in the year 2019, and the applause was
tremendous. At the conference, a Professorial Chair of the History of Law from
that university stood up, who had talked on the subject of “Judicial torture and its
possible survival”. Nevertheless, he had not spoken only of legal torture at the con-
ference, but also of police torture over those interminable years towards the end of
Francoism. The title, however, had its explanation: as ever stupid as it is troublesome,
censorship had added the adjective “judicial” to authorize the book that Tomás y Va-
liente was preparing and that was then published, in 1973, with the definitive title La
tortura en España [Torture in Spain], replacing the reference to “judicial” matters
with the addition of “historic studies”. The last censor was a judge and so, “the
pudic blanket of history covered the excesses and camouflaged the survivors”
says the author in the introduction to his Complete Works.3
With democracy, Francisco Tomás y Valiente was appointed Justice and President
of the Constitutional Court. Having concluded a fruitful period, he returned to the
autonomous university of Madrid and there, in his modest office, with the door
half open for students to enter freely, he perhaps glimpsed the muzzle of the gun
that shot him down. And 30 years after his conference on torture, ETAwas still killing
and continued to do so, up until 2010, and very significatively, in 2006, when they
exploded a gigantic bomb that destroyed one of the four parking blocks at a Madrid
airport terminal. It killed two immigrants who were asleep in their respective vehicles
and it could have killed 200. One sad case, was the one that ended before the Euro-
pean Court of Human Rights, with the recent sentence, in 2018, in which the court at
3
Tomás y Valiente 1997, 761 ff.
Torture and Inhumanity 693
Strasbourg found against Spain, because, contrary to the judgement of the Spanish
National Court, the Spanish Supreme Court had not seen fit to recognize that injuries
had occurred in the case, although not torture. ETA continued murdering up until
2010 (with a number of ten murders from 2007 up to 2010: two of them in 2007,
four in 2008, three in 2009 and one in 2010). Among the victims, in their majority
members of the law enforcement bodies, a local Socialist politician and a Basque
nationalist businessman stand out. The pain and fear that ETA has brought with it
over these 40 years of Spanish life, the extra effort both from and within the law en-
forcement bodies, with the consequent lack of protection against other threats, the
thousands of people who have had to live alongside bodyguards throughout Spain,
among many other aspects, contrast sharply with the situation at present.4
And once again a personal question; Police torture has always existed, especially
in my years as a student. The much-repeated question that all anti-fascist militants of
that age asked themselves awakened tremendous concern and unease within me:
would I be able to withstand torture, could I avoid informing on companions?
the most erudite king Charles III, who had originally been the King of Naples, were
overwhelmed by the Inquisition. All was summed up by the Grand Inquisitor. In the
administrative records of the conflict between the Royal Council and the General In-
quisitor, it can be read that the latter warned of and criticized the calls from Beccaria
for the impunity of crimes and the blasphemous abolition of the death penalty. The
Minister of Justice who wished to placate the Inquisitor argued that the Marquis did
not seek impunity for crimes, “but to deliver the punishments out of a love for human-
ity”. The initial authorization was from the government, driven no more no less than
by the attorney general, Campomanes, and by the Academy of History, of which the
attorney general was president. The Justice Secretary at the time, don Manuel de la
Roda, suggested that if the book could not be published in full, it could be expurged,
by removing phrases or paragraphs, to which the Inquisitor retorted that neither by
expurging phrases nor by expurging paragraphs would the book cease to proclaim
ideas deserving condemnation that were in his opinion interspersed throughout
the text (p. 396). Fortunately, the edict of prohibition was issued when the book
had already been printed and it was, albeit very reservedly, distributed in Spain
and in Latin America. Naturally, as well as the argument of impunity and that the
proposal for the abolition of the death penalty was blasphemous, the Inquisitor de-
nounced contractualism, which undoubtedly gave some food-for-thought to the
Monarchy. The criticism of torture also concerned the Inquisitor to the utmost, be-
cause it was presented as if it were purely an inquisitorial matter and not of the whole
justice system. After the very severe criticism of torture within Spain in those years,
the worst thing was that such criticism of torture made ridicule of the Inquisition as a
whole, as nobody could believe that absolutely anything would never be confessed
under torture.
through absolute evil, he took his own life, in 1978; like Primo Levi and so many
others marked by the new horror.
The same was not so for Jorge Semprún, who in my opinion was the most exem-
plary and significant Spanish and European citizen in the 20th c. After the Spanish
Civil War, with his aristocratic, Catholic and Republican family sheltering in occu-
pied Paris, he enrolled as a student of philosophy at the Sorbonne and he joined the
Resistance in occupied Paris, in one of the networks linked to de Gaulle, despite his
relationship with the Communist Party and its proximity to the FTP (Franc-Tireurs et
Partisans). For over one year, he carried out acts of sabotage, coordinated with para-
chutists, and was finally betrayed by a victim of torture. He was in turn tortured by the
Gestapo and sent to the concentration camp for political prisoners throughout all of
Europe: Buchenwald. His extraordinary knowledge of Spanish, French, and German
meant that he was sent to work with the administrative and the statistical services of
the camp and he participated in the international clandestine resistance committee, as
well as in the final uprising before the arrival of the American army. Following the
war, he worked for UNESCO, at the hotel Majestic, precisely where the headquarters
of the German High Command had been in France. A member of the central com-
mittee and an executive of the Spanish Communist Party, he was sent as the chief
coordinator to the interior of Spain in 1953, where miraculously he lived for almost
10 years, surrounded by workers, university students, poets, novelists, and cinema
directors, until the first crisis of the European communist movement. His successor
in clandestinity, Julián Grimau, was detained after only a few months and shot, de-
spite massive international campaigns. Jorge Semprún was expelled from the Span-
ish Communist Party in 1964; today, we might say for being a “Eurocommunist” be-
fore their day. He published at that time his first work on the camps in France: Le
Grand Voyage [The Long Voyage]. It was awarded a relevant prize that situated
him in the literary world and then in the world of cinematography, as a script writer
and a friend of Costa Gavras and Alain Resnais. In the context of this work on torture,
a film called The confession deserves to be mentioned. Semprún composed an extra-
ordinary list of the horror of the camps, which he completed in subsequent works
such as “L’Écriture ou la Vie”.6
He took up a role in Spanish democratic politics as the Minister of Culture in the
government of Felipe González between 1988 and 1991. And he dedicated his final
years to upholding the memory of the fight against Nazism and the denouncement of
Stalinist communism, with personalities such as Elli Wiessel and Dominique Villepin,
alongside whom he has upheld the best concept of Europe.7 But, in none of the books
published in his life did he approach the question of torture, of which it was known
that he had been a victim. He nevertheless left a written record of it and it was pub-
lished in 2016, five years after his death in Paris at 87 years old, with a prologue from
6
Semprún 1994; Semprún 2015 and Semprún 2001 Spanish version; on Semprún, Augstein
2008; Leuzinguer 2018.
7
Semprún & Villepin 2005.
696 Luis Arroyo Zapatero
his friend Mario Vargas Llosa8: The front cover carries a photo of the camp orchestra,
which accompanied the work groups leaving the camp and upon their return, and
sounded out during the executions in the respective Appellplatz (Roll Call Area).
A wagon with the condemned prisoners was hauled behind the musicians.9
In this posthumous work, Semprún approached his experience under torture and
offered an opinion that contrasted with Jean Améry’s in the previously cited work
(Par-delà le crime et le châtiment) [Beyond guilt and expiation]). Semprún was al-
ways optimistic; it is enough to recall that he participated in the uprising of the clan-
destine organization of the concentration camp when they foresaw that the SS were
going to abandon it and were preparing to execute all who remained. In fact, on 24
April, when the first American jeep drove in, it passed by work-groups of hundreds of
corpse-like workers dressed in striped suits, in perfect marching formation, and rais-
ing aloft an unlikely armament. They all closed ranks around the group that held up
the terrible Panzerfaust [anti-tank weapon], as Semprún himself related, as well as
the two characters in the American jeep, Fleck and Tenenbaum.10
And the fact is that the purely political victims of Nazi repression better withstood
the pain and the terror. Those that suffered it because they were also Jews, or only for
that reason, had a more difficult time of it. Political persecution may have a somewhat
comprehensible human sense, yet racial persecution is animal and inhuman. The
American officials saw some very different Hungry looking men than those they
had seen since their entry into Germany, a journey followed by the front-line war cor-
respondents, which Annette Wieviorka related so marvellously in all of its tragedy.11
Those from Buchenwald were not staring with sad eyes and a lost gaze. They
marched with a motley array of arms and Semprún himself was among the last
armed with the Panzerfaust. Weapons wrested from their oppressors and carried
with exuberant jubilation that “symbolized not only the freedom regained, but
much more, a dignity reconquered”.12 Moreover, if the common determination in
the camps was to try to survive, some had the privilege of saving the lives of others,
which would later give rise to debate and criticism. However, Semprún was confided
the task of finding the identities of the dead to hide the identity of those that they
wanted to keep alive: “I will live with his name, he will die with mine”.13 Semprún
related that he was taught by a member of the resistance, Henri Frager, who assisted
the head of the network, about what he might expect were he ever seized by the Ge-
stapo and who presented the instruments and modus operandi of each procedure to
8
Semprún 2012, 21, English translation from the Spanish edition 2016. The two officials
cited in Tenenbaum & Fleck 1945, https://archive.org/details/EdwardTenenbaumEgonFleckPre
liminaryBuchenwaldReport/page/n8 [18. 05. 2020].
9
Semprún 2012.
10
See Tenenbaum & Fleck 1945; https://archive.org/details/EdwardTenenbaumEgonFleck
PreliminaryBuchenwaldReport/page/n8 [18. 05. 2020].
11
Wieviorka 2015.
12
Semprún 2015, 58.
13
Semprún 2015.
Torture and Inhumanity 697
him in order and by their effects. “The dry, burning pain, yet not very persistent and
more volatile, of the wooden club, was not comparable to the dumbing pain of the
rubber truncheon filled with lead, easier to withstand on impact, but much deeper
and harsher”.14 One day in the autumn of 1944, some thirty prisoners arrived at Bu-
chenwald who were dispatched to a particular block, the majority French and some
British. The clandestine international committee received special instructions to save
some of the most valuable to the allies and the European resistance. Among them was
one who some 50 years later would achieve global celebrity with his essay “Indignez-
vous?” [Time for outrage].15 Stefan Hessel, in a small book of recollections, had no
recollection of having had his name changed with the name of a dead man so he might
live, in other words, he did not recall that they saved his life. Moreover, he criticized
what he saw as the immense power of the communists in the clandestine network.
However, in its management and that of his group, in addition to the organization
and the communists at the camp, Eugen Kogon was a decisive force, a notorious Aus-
trian Christian-democrat and trade unionist, and a prisoner since the start of Hitler-
ism. As Kogon was a sociologist with a doctorate, upon his liberation, the Americans
commissioned a book on the camps from him that made a fortune: Der SS-Staat.16
Without speaking about anything, and with a sort of fear and strange rejoicing, at
his meetings with old members of the resistance, Semprún explained that he could
be sure that they all shared an emotion that was exclusive to them alone, which sep-
arated them from common mortals: the memory of torture.17 “Both Frager – his chief
in the French resistance who arrived with the group of Stefan Hessel – and myself, we
agreed in that it would be absurd and inhuman, even disastrous for a just conception
of the possible humanism of man, to consider stiff resistance to torture as an absolute
moral criterion. A man is not authentically human only because he has withstood tor-
ture. Values and virtues that are properly human, in other words, essential enough to
support the transcendence of their ideals of the altruist ego, can neither be conceived
nor overcome solely on the basis of a capability to withstand torture”.18 “The expe-
rience of torture is neither solely nor even principally that of suffering, that of the
abominable solitude of suffering. It is also, above all, without doubt, that of frater-
nity”.19 Semprún experienced this conviction that he talked over with Frager a little
before the latter was executed, during his 10 years of Madrilenian clandestinity in
Spain during the harshest years of Francoism, in which he was not denounced by
any of the many victims of torture that surrounded him, nor arrested in consequence,
which reaffirmed for him that withstanding torture is that experience of fraternity.
14
Semprún 2015, 36 fn. 6.
15
Hessel 2012.
16
Original version from Kogon 1946; the English edition by Norden 1965; the Spanish
edition by Gimbernat Ordeig 2005.
17
Semprún 2015, 52 fn. 6.
18
Semprún 2015, 54 fn. 6.
19
Semprún 2015, 57 fn. 6.
698 Luis Arroyo Zapatero
Among the methods of torture by their order that were explained to him, Semprún
withstood being suspended with his hands handcuffed behind his body and arrived at
the bath, in which the Gestapo tipped freezing water, rotten food and repugnant
things, which he managed to overcome despite a phobia before his immersion in
the water. They left him in peace and he admitted that he would not have known
what he could have done to continue on the viacrucis with the extraction of his finger-
nails, the electric shocks… And the fact is that nothing can properly prepare a person
for torture:
“that experience cannot be anticipated in the flesh, torture is unforeseeable, unpredictable, in
its effects, in its devastation, in its consequences on bodily identity. Nobody can foresee nor
guard against the possible rebellion of one’s body under torture, devoutly -brutally even-
demanding a capitulation from within the soul, from one’s will, from one’s ideal self, un-
conditionally, shameful, but human, far too human”.20
And he continued:
“what is inhuman, in truth, excessively human, in any case, is imposing on your body an
unending resistance to infinite suffering. Imposing on your body that only wishes to live,
still devalued, miserable, still overwhelmed by humiliating recollections, the smooth and
glacial perspective of death”.21
The person who is immersed in the pain of torture feels his body as never before.
The flesh is totally felt in its self-negation. This idea of Améry’s22 was confirmed
when he recalled that, instead of his tortures, he had the sensation of not having
had a body at all “as if the pain pervaded throughout my flesh, as if it made me dis-
cover the body at the same time, the fragility, its miseries, its limits”23 and he pro-
tested when he read that Améry had affirmed:
“whoever has been subjected to torture is incapable thereafter of feeling at home in the
world. The trust in the world disappears because as soon as the first blow strikes home, tor-
ture puts an end to that trust in a complete and irrecoverable way”.24
Personally, I am more with Semprún when he says that “that affirmation is the re-
flection of a profound personal wound, of a horrible despair, of an intimate violent
secret that suddenly explodes”.25 For Semprún, the experience taught him that it will
not be the victim, but the executioner, who will not feel at home in the world. The
victim, on the contrary, and not only if he survives the torture, is shackled to his si-
lence of multiplying his links with the world, laying roots, branching out, proliferat-
20
Semprún 2015, 36 fn. 6.
21
Semprún 2015, 36 – 37 fn. 6.
22
Améry 2004; the English edition by Sidney & Rosenfeld 1980; the German edition Améry
1966; Améry 2019, especially 103 – 158 on torture.
23
See Semprún 2015, 56 fn. 6.
24
Semprún 2015, 56 fn. 6.
25
Semprún 2015, 56 fn. 6.
Torture and Inhumanity 699
ing, the reasons for feeling at home in the world.26 Most nights asleep the nightmare
of being “within” the picture of Joaquín Patinir, El paso de la laguna Estigia [Land-
scape with Charon Crossing the Styx],27 perturbed him, as much as it had impressed
him as a child so much when he visited the Prado Museum with his father. Always
therefore between heaven and hell.
I believe that these reflections of Jorge Semprún on this dialogue with Améry will
allow everybody, especially the young, to come to understand the essence and the
destructive force of torture and thereby understand from today’s perspective what
it is that we are fighting against. It is that destructive capability of torture which in-
cites our rebellion, even when the victim is not the defender of a flag and such a noble
cause as resistance against Nazis and fascists. I do not believe that the feeling of being
at home in the world extends to the terrorists of our time, murderers of both military
and civilians, of men, women, and children, snatched away by the criminal passion of
dogmatism, political and religious fanatism, and nationalism. However, we also neg-
ate the right of the state to inflict torture upon them. The state that tortures crosses the
line of civilization, of humanity.
As you have been able to see, we are referring to traditional torture, to the blows,
the dislocation of members, water, whether in the bath or the soaking rag in the
mouth. The imagination of the torturers is not vast. When we were informed of
the methods of torture of the Bush administration, proposed by its Attorney General,
they surprised me, as I thought I was once again reading a chapter of the Quijote by
Cervantes, chapter XXII, where it relates the causes and misfortunes of those who
were led in chains to serve his majesty the King in his galleys, such as Galeote.
The guard said of one of them that he was there for “singing”, of course, for singing
while in torment: the prisoner immobilized lying down has a damp rag placed in this
mouth and water is dropped onto it, drop by drop, and with each drop he is overcome
by the anxiety of death by drowning. I was deeply moved to see Barak Obama signing
his first law: the act that repealed the authorization of torture.28
Torture is the act of causing pain and physically unbearable humiliation and as
humiliating as it is at a spiritual level, it is as such the enemy, the principal
enemy, and we have also to express concern over abusive “inhuman and degrading”
treatment. Through the evocation of the experiences and the reflections of Améry,
without any doubt Jorge Semprún helps us to understand the relevance of the prin-
ciples of total proscription of torture enshrined in article 3 of the Universal Declara-
tion of Human Rights: “No one shall be subjected to torture or to inhuman or degrad-
ing treatment or punishment.” It is the most radical proscription of treatment by the
state and its citizens, which is qualified as one of the crimes against humanity.
26
Semprún 2015, 64 fn. 6.
27
Find online at https://www.museodelprado.es/coleccion/obra-de-arte/el-paso-de-la-lagun
a-estigia/ [18. 05. 2020].
28
Bassiouni 2010.
700 Luis Arroyo Zapatero
Mireille Delmas-Marty reminds us that the political notion of the crime against
humanity and civilization was coined for the first time by Chateaubriand when learn-
ing, in 1799, of the massacre of prisoners that Napoleon had carried out in Jaffa,
Egypt, killing more than 3,000 prisoners. However, it only acquires that legal defi-
nition of a crime in the statutes of Nuremberg and in its judgement, although with
certain confusing imprecisions that are not relevant today.29
Russia, and what is today the Ukraine. Its capital Lemberg, in Germany, or Lwów in
Polish, and now Lviv (Ukranian) was a relevant city with a university to which people
came to study from the region that bore the name of Galithia-Volhynia. A multieth-
nic, multicultural, and multinational region. But of all the “nationalities” or cultures,
the ones that lived through the worst part of all the suffering were the Jews, victims
first of displacements, of ethnic cleansing, and then of direct extermination. Sands’s
grandfather had already fled to Vienna to study and from there had the good luck to
emigrate to France, before Hitler closed the frontiers and cast the net over all the
Jews. Only his mother and an aunt, in a spectacular adventure, were saved from
among scores of relatives. What surprised him in addition was that the University
of Lemberg to which they had invited him to give a conference, was the one in
which, hardly 4 years earlier, the father of his master Hersh Lauterpacht, founder
of scientific international law in Great Britain and another very relevant person in
our field, Rafael Lemkin, had studied. Thus, the very detective-like search to discover
the history of his family incorporated the lives of the aforementioned jurists who were
to represent two mainstream contemporary legal principles. In the first place, Lau-
terpacht, who constructed the idea of a declaration of human rights internationally
guaranteed to guard against states with a right over the life and the liberty of
“their” citizens that had to be negated. Lemkin, better known by the public in general,
was the creator of the concept of genocide and, although he never managed to intro-
duce it into the catalogue of crimes at Nuremberg, he did afterwards manage to con-
vince the whole world and to launch the International Convention against Genocide
in 1948.
There are numerous publications on Lemkin. Antonio Elorza and Araceli Manjón-
Cabeza34 prepared, in 2015, a compendium of his writings among which the speech
that he could only send to the organizers of the Congress of the International Union
for the Unification of Criminal Law that Don Luís Jimenez de Asúa organized in Ma-
drid. Lemkin, by then an attorney in Warsaw, was not seen fit by his Ministry of Jus-
tice to travel to Madrid. It must have appeared too much to them that yet another Jew
was to appear as the principal Polish invitee and, in addition, as a qualified speaker at
the Congress, together with Emil Stanislas Rappoport, university chair of Warsaw
and magistrate of the Supreme Court who after over one year of imprisonment by
the Nazis was, following the liberation, named its president. Despite everything,
and although his work was not under debate, he managed to have it published
with the minutes of the Congress. Lemkin in those years had an intense academic ac-
tivity, translating Soviet criminal legislation and lending general attention to the new
criminal Law authorities, especially in Italy. He fled before the invasion of Poland
and took refuge in Stockholm where he started to collect all the general official Ger-
man gazettes and those from the occupied territories, which he obtained thanks to his
contacts with various embassies. He amassed a gigantesque archive that he was to
transport with great difficulty from Sweden, passing through Russia (at the time
34
Lemkin 2015.
702 Luis Arroyo Zapatero
the USSR) until his arrival at Seattle, in order to take up the post of an invited pro-
fessor at the countryside campus of Duke University. Such a wealth of documentation
that has been increasing through his contacts in Washington brings together the ex-
pository essay of the horror legislated by the Nazis: Axis Rule in occupied Europe,
that its sponsor, the Carnegie Endowment for International Peace, in USA had pub-
lished, at the early date of August 1944. From those works he was able to find a name
for the atrocity that when Winston Churchill learnt of it, exclaimed that it was a
“crime without a name”: genocide.35
Lauterpacht had finished his doctoral studies at the London School of Economics
in 1925, after passing through the Faculty of Law at Lemberg, from which the Jews
were expelled, and at Vienna where he was a student of Hans Kelsen. He abandoned
Poland en route to England, after failing, due to reasons relating to racial discrimi-
nation, to be appointed to a university chair at Lemberg, with the idea of continuing
his training in international criminal law there, and so that his young wife could fol-
low her musical studies. All his work was motivated by the concern to prevent states
from exercising a right of life or death over their citizens. He worked towards the
acknowledgement that all human beings deserve international protection against
any form of despotism, beyond the mere protection of social groups and other minor-
ities, established after Versailles. Special emphasis was placed on the recently con-
stituted independent nation of Poland, which angrily protested, and that has these
days once again protested against the demands of the Council of the European Union.
Lemkin composed his “Axis Rule” at Duke University and constructed the concept
of genocide as an instrument of singular protection of groups and minorities. At the
same time, Lauterpacht who mistrusted that protection of groups, constructed a gen-
eral theory of international protection of the human rights of all individuals, which
would be presented in 1945 as An International Bill of Rights of Man, from which the
concept of “crimes against humanity” was to emerge.36
It was only in Nuremberg that Lauterpacht and Lemkin came to know that their
respective families had been exterminated, the first very probably when the Soviet
Prosecutor read out the initial accusation and provided information on the extermi-
nation of the Jewish community of Lemberg. During the judgement, among the 22
accused, they could see Hans Frank the General Governor of Poland, formerly the
legal adviser to Hitler and the Minister of Justice. He had been directly responsible
in that land for the extermination of the Jews and the families of the two aforemen-
tioned jurists, at the hand of Wachter, governor of Galithia, of over 130,000 people in
a single month, August 1942. The Russian Prosecutor made the news public in the
presentation of the accusation.
Philippe Sands received an informal invitation to the University of Lemberg that he
accepted with a keen interest in visiting the place of his ancestors and the opportunity to
35
Collected papers in http://www.preventgenocide.org/lemkin/ [18. 05. 2020].
36
Lauterpacht with an introduction by Sands 2013; Vrdoljak 2010, 1163 – 1194.
Torture and Inhumanity 703
enter into contact with some surviving family members. At that point in time he an-
nounced the detective-like search for information on his family, on the other protago-
nists, in official files, and in private ones from Europe and America. The search for his
own family required the labors of a detective, but he managed to clarify the reasons that
might have explained why his grandfather emigrated in 1938, his grandmother stayed
in Vienna, but his grandfather’s daughter, Sands’s own mother, moved to Paris with
only a few months of life. He reconstructed the life – and the death – of almost all
of them and in the process discovered the terrible fate of European Jews. Not even Ein-
stein could save his two sisters. Sands’s grandmother lived in the same street of the
small city close to Lemberg, the city in which Hersch Lauterpacht had lived, the Lem-
bergstrasse, in German times, or East-West street in all the others.
Mark Mazower, in his review of the work of Sands,37 said that the greater part of
the most intimidating material in the book is personal. Thus, we learnt that Lauter-
pacht was inspired to write his treatise on human rights listening to the music and the
words of the Passion according to Saint Matthew and that, in turn, it was the piece that
was performed more than any other in the Castle of the “King” of occupied Poland,
who was to transport Lauterpacht’s family and all of his relatives to the great beyond.
We also know that their executioner, Otto von Wachter, sought by the Soviets together
with Hans Frank, avoided two trials and execution, protected by the Nazi bishop
Hudal, rector of the Teutonic college of Saint Mary of Anima, in the clandestinity
of Rome. He was very soon to die there of a raging hepatitis contracted from the
cold and contaminated waters of the Tiber in 1949, and for his consolation in the Hos-
pital of the Holy Spirit. Mazower was right, there was a lot of “personal” baggage in
the book.
5. Final Conclusions
In brief, it was at Nuremberg, in the acts that were under judgement and in the lives
of its leading figures, where the cry that the world gave out against crimes against
humanity could be understood. So too the reasons that shed light on both the new
attempt at world government that the conference of San Francisco represented,
the creation of the United Nations and the adoption of the Universal Declaration
of Human Rights in 1948. It is by following the testimony of the experiences of
those that suffered torture and extermination that the two worst crimes may be under-
stood today and, therefore, the two most radical prohibitions, whether torture and
genocide.
The right not to be a victim of torture is, within the fundamental rights, the one that
is formulated with no restrictions at all, a right ranked second in the set of fundamen-
tal rights of the Declaration. However, even the right to life has (will have) restric-
tions; not so the right to exclude torture from the behaviour of the state and its agents.
37
Sands 2016.
704 Luis Arroyo Zapatero
The same norm has been reaffirmed in subsequent texts following the Universal
Declaration and the European Convention, thus, under article seven of the Interna-
tional Covenant of Political and Civil Rights, in the American Convention on Human
Rights of 1969, under article 5; in the Convention against Torture and Other Cruel,
Inhuman or Degrading Treatment, of 10th December 1984; in the statutes of the In-
ternational ad hoc Tribunals and in the Rome Statute of the International Criminal
Court of 1998; in the Charter of Fundamental Rights of the European Union,
under article 4; as well as the jurisprudence that is systematically applied in the re-
spective jurisdictional fields. Article 3 of the European Convention of Human Rights
proclaims that: “No one shall be subjected to torture or to inhuman or degrading treat-
ment or punishment.” The “Prohibition of torture”, as article 3 is titled, and inhuman
and degrading treatment, as Schabas says, is frequently cited as one of the most ab-
solute and sacred of the fundamental human rights. Its fundamental meaning is to
stand up to the “necessities” of the fight against crime and the reason of state itself.
Schabas reproduces a text presented by the British Labour parliamentarian, Seymour
Cocks, at the Consultative Assembly that drafted the text of the convention:
“The Consultative Assembly takes this opportunity of declaring that all forms of physical
torture, whether inflicted by the police, military authorities, members of private organisa-
tions or any other persons are inconsistent with civilised society, are offences against heaven
and humanity and must be prohibited”.38
The Assembly believes “that it would be better even for Society to perish than for
it to permit this relic of barbarism to remain”.40 Although this text was not finally
approved, the dry and dogmatic text reproduced above was adopted, and the fact
is that prohibition is effectively understood as absolute and irrevocable and constit-
utive of ius cogens.41
The radical, obligatory prohibition of ius cogens completely disqualifies any at-
tempt at legitimizing the exceptions that are alleged in favor of the supposed criminal
law of the enemy, of the so-called tortures of salvation, as Francisco Muñoz Conde
has broadly justified in his recent work published in honor of Santiago Mir42 and I
38
Collected edition of the “travaux preparatoires” of the European Convention on Human
Rigths, Martinus Nijhof, I, 1975, 36 – 38.
39
Collected edition of the “travaux preparatoires” of the European Convention on Human
Rigths, Martinus Nijhof, I, 1975, 36 – 38.
40
Collected edition of the “travaux preparatoires” of the European Convention on Human
Rigths, Martinus Nijhof, I, 1975, 36 – 38.
41
Schabas 2015, 154 ff.
42
Muñoz Conde 2017, 769 ff.
Torture and Inhumanity 705
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43
La Torre & Lalatta 2013.
706 Luis Arroyo Zapatero
By Roger Hood †
1
Hood 1989, 148.
2
Albrecht 2006.
3
See Oberwittler & Qi 2009, 4.
708 Roger Hood
The Max-Planck public opinion survey, carried out with the assistance of the Re-
search Center for Contemporary China at Peking University, was on different scale
and of an altogether superior methodology than what had been attempted before in
China, or in any other nation outside of the USA. It gathered responses from a sci-
entifically drawn sample of nearly 4,500 citizens (69% of those approached) in Hubei
and Guangdong provinces and in Beijing who were personally interviewed between
1st November 2007 and 20th January 2008.5
To a considerable extent the survey, designed, analysed and written by Dietrich
Oberwittler and Shenghui Qi (a Chinese doctoral student at Max-Planck) under Pro-
4
See Hood 2009, 3.
5
A similar survey of criminal justice personnel drawn from various professionals in the
criminal justice system with knowledge of and responsibility for the imposition of the death
penalty in China was carried out at the same time by a trained team of doctoral and master’s
degree candidates at Wuhan University’s Criminal Law Research Centre, under the direction
of Professor Mo Hongxian. Regrettably there is not space here to report on its findings. The
author of this article was honoured to be appointed Consultant to both surveys.
Public Opinion Surveys and the Abolitionist Cause 709
fessor Albrecht’s direction, dispelled the myth that members of the public had a deep
and inflexible commitment to the current use of capital punishment in China. It was
surprising that only 58 percent said that they were in favour of the death penalty in
general and that in addition, over a quarter were undecided about their attitude.6 This
was backed up by their reactions when asked to decide on the appropriate penalty
when presented with several ‘scenarios’ of murder convictions presented to them.
For example, when told that:
“A man robbed a convenience shop with a gun and killed the shop owner by shooting him in
the head. He took away with him 2000 Yuan cash. He had been in prison twice for robbery.”
less than half of the sample thought that an immediate death sentence would be the
appropriate punishment.7
Asked whether they thought that China should ‘speed up’ towards abolition of the
death penalty, only 53 percent opposed this view and, again, a large minority (a third)
said they were not sure what the policy should be. Although only one fifth thought
that China should immediately follow other countries in abolishing the death penalty
(a majority believing that China should go at its own pace in relation to its own cir-
cumstances) the fact that so many were unsure what they thought about the subject of
the death penalty indicated that they may well have been prepared to follow political
leadership on this issue. Certainly, these and other findings (which there is not room
to discuss here) suggested that the central question might best be reformulated from
“How many people are in favour of the status quo” to “Is public opinion so inflexibly
resistant to the policy of abolition of capital punishment to make it politically impos-
sible to enact in law”?
Not only did the independent evaluator appointed by the EU praise the Max-
Planck opinion survey (and the survey of the opinions of criminal justice personnel
carried out in parallel by Wuhan University) as “without doubt the most important
part of this project”, it was also welcomed by Chinese academics favourable to
death penalty reform. But it appears that the authorities and judges remained either
ignorant, or at best sceptical, of the findings of the Max-Planck Research. Interviews
with judges and criminal justice professionals working both at the national and pro-
vincial levels revealed that they remained convinced, on the basis of their own expe-
rience and the information they gleaned from the internet of punitive reactions ex-
pressed by so-called ‘netizens’ in response to egregious incidents of murder, that pub-
lic opinion was still strongly in favour of capital punishment.8 They criticised the na-
tional opinion survey on the grounds of sample size, the limited number and
characteristics of the provinces surveyed, and the nature of the questions posed.
6
Although when asked specifically whether they favoured the death penalty for murder
78% said Yes. Even so, this was well below the 95% reported by Hu Yunteng.
7
See Oberwittler & Qi 2009, 12 and 14.
8
See Miao 2013, 510 – 512; Liu 2019.
710 Roger Hood
This was a disappointing outcome,9 but the research had a much wider value and
impact. It acted as a stimulus to researchers to explore public opinion in greater depth
in several other retentionist countries. All had maintained, in one way or another, that
public opinion and public sentiments are so culturally different and dependent on na-
tional circumstances that the question of the death penalty is “first and foremost an
issue of the criminal justice system and an important deterring element vis-à-vis the
most serious crimes”. Furthermore, “that [capital punishment] is not a question of
human rights” but to be “determined by each State, taking fully into account the senti-
ments of its own people, the state of crime and criminal policy”.10
Hans-Jörg’s initiative, and the excellent report produced by his colleagues Ober-
wittler and Qi, inspired others to explore whether the claims made by many retention-
ist governments accurately reflect public attitudes and what they would be willing to
accept if leadership were to be exercised by the political elite.11
percent of respondents “expressed intense approval”. Even more remarkable was the
response found by Chan Wing-Cheong and colleagues in Singapore: while 70% said
that they were generally in favour of the death penalty, only nine percent chose “I am
strongly in favour of it:” When the option “should [the death penalty] definitely be
kept” was introduced in a survey by Mai Sato of Japanese opinion only 44% of re-
spondents endorsed it, whereas the government’s survey had found that as many as
86% had agreed that the “death penalty is unavoidable in some cases”.13 Sato and
Bacon also found that although three-quarters of respondents had said they agreed
that the death penalty should “definitely” or “probably” be kept, as many as seven
out of ten admitted that they would “simply accept abolition as government policy
if the government decided to exercise its leadership.”14 Such was their commitment to
capital punishment!
When respondents were asked whether they would favour the death penalty if it
were to be proven that innocent persons had been executed, support for it had plum-
meted from nine out of ten to only a third in China. There was virtually the same re-
sponse when this was asked of citizens in Malaysia, Singapore, Trinidad, Taiwan and
Ghana: strong evidence that in many countries support for the death penalty is con-
tingent on the belief that it is administered without error. There was a remarkable
degree of concordance between judgments made by respondents from different coun-
tries, on the appropriateness of imposing a sentence of death when they were present-
ed with scenarios of real cases. In every survey where this technique was employed,
only a minority favoured the death penalty when mitigating circumstances were pres-
ent. Even in cases with aggravating factors, the proportion choosing death, as the
China survey had shown, was considerably lower than the proportion who had sup-
ported the death penalty “in the abstract.” In countries where the death penalty was
the mandatory punishment for murder and drug trafficking, support for it proved to be
very low when respondents were faced with judging cases with differing factual cir-
cumstances. In Malaysia, for example, where 56% of the sample said they were in
favour of the mandatory death penalty for murder15 only 14% of them actually
chose to “impose” the death penalty in all three of the murder cases they judged,
as required by the law. Thus, only eight percent of the total of over 1,500 respondents
both said they favoured the mandatory sentence and imposed it in practice.16 They
accepted that to treat all cases the same as if they were of equal culpability would
amount to injustice.
In fact, one of the most remarkable findings was that, when respondents were
asked to compare the likely effectiveness of five social and criminal justice policies
aimed to reduce violent crimes leading to death in Malaysia and in Singapore, “great-
13
Sato 2014, 105 – 107.
14
Sato & Bacon 2015, 27.
15
88% of the 56% were actually “strongly in favour”.
16
Hood 2013, 20 – 21.
712 Roger Hood
dures and statute law so that it no longer violated internationally agreed human rights
standards.
The author and Florence Seemungal have very recently completed a study for The
Death Penalty Project, the London-based NGO, entitled ‘Sentenced to Death With-
out Execution’, which aimed to explore the views of leading opinion-formers in the
six member countries of the Organisation of Eastern Caribbean States (OECS),19 as
well as the neighbouring non-member larger island of Barbados, as to why capital
punishment has not yet been abolished. All retain the death penalty for murder,
but with the exception of Grenada (which is the only one of them to be classed by
Amnesty as ‘abolitionist in practice’), the other six account for a third of the 18
de facto countries that Amnesty believes should still be regarded as retentionist.
Yet, with the exception of St Kitts and Nevis, nobody has been judicially executed
in any of the other countries for more than 20 years; and in three of them (Dominica,
Grenada, and Barbados) for more than 30 years.20 Furthermore, death sentences have
been imposed within the past 10 years only in St Lucia and Barbados; and in four of
these seven nations there were no persons still under sentence of death on ‘death row’
in 2018.21 Why then had the death penalty been retained on the statute books?
One hundred ‘opinion formers’, drawn from the seven jurisdictions were asked
why, they either continued to support the policy of retaining the death penalty or
were in favour of its abolition and what factors, beliefs, and assumptions about public
opinion and sentiments, appeared to account for their government’s unwillingness to
embrace complete abolition. The interviewees identified as ‘opinion formers’ were
selected by knowledgeable local informants, and drawn from four broad categories of
citizens: from politics (27), criminal justice and the law (34), the clergy (10), and civil
society, including the media (29). They encompassed leaders in government and op-
positional parties and senior civil servants; prison chiefs, senior police officers, prac-
ticing lawyers and a few judges; senior clergy from several denominations; workers
in voluntary organisations, well-known businessmen, media personalities and other
prominent and respected representatives of civil society.22 They were interviewed by
19
Hood & Seemungal 2020. The countries were: Antigua and Barbuda, Dominica, Gre-
nada, St Kitts and Nevis, St Lucia, St Vincent and the Grenadines, and Barbados.
20
The last execution in St Kitts and Nevis took place in 2008 (after a gap of 10 years). The
last execution in the other nations was: Antigua & Barbuda (1991), Dominica (1986) Grenada
(1978) St Lucia (1995), St Vincent and the Grenadines (1995), and Barbados (1984).
21
One in Grenada, one in St Vincent and the Grenadines, and 11 in Barbados. All 11 in
Barbados are due to be resentenced now that Barbados has renounced the mandatory death
penalty for murder and it looks likely that, after the facts in these cases have been reconsidered
and a discretionary penalty applied, the number remaining on death row will be much reduced.
22
Of the 100 interviewees, 70 were males and 30 female and 58 were aged between 30 and
60. Thirty-nine said they were Roman Catholic or Anglican and 44 were non-conformist or
belonged to a Christian sect. Only 17 identified themselves as non-religious. Among the 27
‘politicians’, eleven supported the party in power and nine supported the opposition, seven
were independent. Taking into account all respondents, 22 said that they supported the gov-
ernment and 19 supported the opposition. In order to ensure confidentiality, the findings are
714 Roger Hood
Respondents were first asked whether personally they were strongly/firmly in fa-
vour of retaining the death penalty; tended to favour retaining it; tended to favour
abolishing it; or were strongly/firmly in favour of abolishing it. They happened to
be almost equally divided: 48 in favour of retention and 52 favouring abolition,
but a higher proportion (22/52) of those in favour of abolition were strongly/firmly
in favour of it (58%), whereas only 18 of the 48 in favour of retention (38%) held this
opinion strongly.25
When those who favoured retention were asked what was their own main reason
for doing so 84% chose a retributive response: “It is necessary to show that murder is
reported for the six OECS countries and Barbados as a ‘block’, and we believe that this is
justified by the fact that all the states involved have, with a few exceptions, followed a similar
(and perhaps united) policy on the subject of capital punishment. Given that we would need to
keep the interview relatively short, a structured questionnaire was devised and the questions
mainly asked the respondent to choose which of a number of optional statements or reasons
best reflected their opinion, and to rank the main reason 1. If they wished to choose other
reasons as well, these were to be ranked 2 or 3 etc. They were under no obligation to rank any
other reason if they did not regard it as relevant. This method of choosing ‘no rank’ had the
advantage of highlighting how many informants regarded a possible reason as of no si-
gnificance or relevance.
23
In the hope of gaining a good response rate, the invitations were kindly sent by the Dean
of the Law Faculty of the University of the West Indies.
24
As many as 61% (43/71) of respondents from five countries (Barbados, Grenada, St
Lucia, St Kitts and Nevis, St Vincent and the Grenadines) had been unaware that since De-
cember 2007 and up to December 2018 their government had consistently voted against the
Resolution brought forward biannually at the UN General Assembly by a majority of nations
in favour of instituting a universal moratorium on death sentences and executions. Only 20 of
the 100 interviewed from the seven countries had known that all these countries (with the
exception of Dominica) had, in 2017, signed the Note Verbale sent to the UN Secretary
General protesting against such a resolution and dissociating themselves from it. See footnote
10, above.
25
It should be noted, of course, that this does not show what proportions would have taken
one view or the other if it had been possible to collect a truly representative sample of all so-
called “opinion formers” in the population of these countries. Nevertheless, the difference is
large enough to be indicative.
Public Opinion Surveys and the Abolitionist Cause 715
the very worst crime” (44%), or, “There will always be some murderers who deserve
to be executed” (40%). Only 10% chose as their main reason the deterrence argu-
ment: [that] “murders would increase”, and none chose “Because I believe public
opinion is opposed [to abolition] and I am a democrat” as their main reason. Indeed,
90% of them did not even choose (rank) this as a reason. And among those who were
in favour of abolition the main reasons given by two-thirds were that “Death has no
extra deterrent effect than long imprisonment”, or it is “an abuse of human rights/
murder by the state”, or because “wrongful conviction and execution is possible”.
These were all positive reasons for abolition: only eight percent chose as their
main reason the opinion it was redundant: “pointless with no executions”.
Subsequently they were asked why they thought that their governments had failed
to support abolition of capital punishment. Then, the majority of respondents thought
that it was mainly “because [their government] believed that the majority of citizens
are still in favour of it, [so] there is no pressure to do so” (46% chose this as the main
reason and another 38% as another reason: only 16% failed to mention it as a reason
at all). Twenty-four percent thought that the main reason was that “politicians think
support for abolition would make them unpopular and/or stir up opposition in the
media”; and another 21% chose, as their main reason, that their government“, like
other OECS countries and Barbados, believe it is [an] especially necessary deterrent
to control the incidence of murder”.
So, there was a large gap between what the informed respondents had stated was
their justification for retaining capital punishment and the reasons they attributed to
their governments for not abolishing the death penalty. In particular, none of the
‘opinion formers’ who favoured retention of the death penalty had chosen “public
opinion is opposed” as the main reason for being in favour (and 90% had not chosen
it as a reason at all), whereas the majority of them thought that the government be-
lieved that the majority of citizens were in favour of retention and not ready to em-
brace abolition.
So, were those among this body of well-informed opinion-leaders as committed to
retention of the death penalty, and opposed to its abolition, as they believed that their
government is?
Certainly, the majority of the 48 retentionist informants were not in favour of
changing the already very restrictive scope and application of the death penalty in
their country.26 Half selected the option “to leave the law and practice as it is”, ex-
pressing themselves content that it was now restricted to “the ‘worst of the worst’
26
The Eastern Caribbean Court of Appeal and the United Kingdom Privy Council laid
down in the case of Trimmingham v The Queen [2009] UKPC 25, that the death penalty can
only be imposed on the ‘worst of the worst’ cases where there is absolutely no prospect of the
reformation of the defendant. And, the Judicial Committee of the Privy Council in Pratt and
Morgan v The Attorney General for Jamaica [1993] 4 All ER 769, (PC), ruled that to retain a
person under a death sentence for longer than five years on death row is unconstitutional,
being a cruel and inhuman punishment. After five years, if the person has not been executed,
the death sentences should be commuted to life or other terms of imprisonment.
716 Roger Hood
murders […] in circumstances that warrant the death penalty […]” [and] “is not being
used frivolously or recklessly” […] “and only in extremely rare cases”. Another six of
the 48 endorsed the view that it should be “restricted in use still further if possible”.
Only 18 of the 48 (18% of the total 100 persons interviewed) endorsed the statement
“the death penalty should be retained but made less restrictive, so that it could be
implemented more effectively”. Some of them mentioned the need for more certainty
of punishment – including more effective policing and not allowing the length of the
appeal process to restrict the carrying out of the sentence – but most wanted the no-
tion of the “worst of the worst” to be extended to include certain specific types of ill-
defined murder, such as:
“Death penalty for malicious murders, killing of law-enforcement officials, domestic mur-
ders, death penalty for crimes of passion”; “for malicious murders, family annihilations,
cold-hearted killers”; or “when people show no remorse and glorify a crime, then [the
death penalty] should be used”.
As mentioned earlier, several surveys have asked respondents how they would
compare the likely effectiveness of a policy of “more executions” as a way of con-
trolling violent crime leading to death, compared with other social and criminal jus-
tice policies.27 The 100 ‘opinion formers’, both retentionists and abolitionists were
asked to rank in order of effectiveness a selection of nine social and criminal justice
policies (see Table 1). Only 10 (six retentionists and four abolitionists) endorsed
“more executions” as likely to be effective: only two ranked it first as the most ef-
fective and 90% did not choose it as an effective measure at all. The proportions
of retentionists and abolitionists who rejected the policy of more executions was
very similar: 79% and 83% respectively. This was also the case when ranking ‘longer
prison sentences’, which 88% of retentionists and 92% of abolitionists declined to
endorse.
In contrast, 76% chose first either “better moral education of young people against
the use of violence”, or “more effective policing in bringing offenders to justice”, or
“reducing poverty and improving housing” as the most effective policies. A slightly
higher proportion of the abolitionists favoured the educational and ameliorative ap-
proach. Retentionists more often than abolitionists chose ‘more effective policing in
bringing offenders to justice’.
27
Hood 2018, 239 – 240.
Public Opinion Surveys and the Abolitionist Cause 717
Table 1
More Executions Ranked Against Alternative Policies
Aimed to Control Violent Crime Leading to Death (N = 100)
Nine policies Ranked Chosen as Not Total
first additional chosen N
policy
Better moral education of young people against
45* 28 100
the use of violence28
More effective policing in bringing
16** 35 49 100
offenders to justice29
Reduce poverty and improve housing 15*** 34 51 100
The three main policies chosen 76
Better control of the drug trade 4 44 52 100
Better control and possession of firearms 6 42 52 100*
Better services to prevent
3 41 56 100
domestic violence
Better preventive treatment of the mentally ill 4 28 68 100
Longer prison sentences 5 14 81 100
More executions 2 8 90 100
Note: * 50% of retentionists and 40% of abolitionists; ** 21% of retentionists and 12% of abolitionists; *** 8% of
retentionists and 21% of abolitionists.
What did the 100 respondents think the effect would be on the behaviour of the
general population if the government were to proceed to legislate for complete abo-
lition? Table 2 shows that when presented with various possible outcomes, only 19
(seven of the 52 abolitionists and 12 of the 48 retentionists) endorsed the view that
“there would be strong public dissatisfaction, in the media and elsewhere, against the
decision and repeated calls for its reinstatement”. Even though only eight of the 100
respondents believed that the majority of the public would accept abolition immedi-
ately, a large majority (68) agreed with the opinion that there “might be some dem-
onstrations or expressions of dissatisfaction leading up to abolition, but the majority
of the public would come to accept it once the law was passed”. Altogether, this
amounted to 76 of the 100 informants, including two-thirds (66%) of those who
said they were in favour of retaining the death penalty.
It is clear that supporting retention of capital punishment did not imply that the
majority of our informants believed abolition would be unacceptable to the majority
of the population of their country once it had passed into legislation.
28
One abolitionist (a lecturer) said: “It is not about moral education; we have an educa-
tional system that is not sufficient, which allows people to funnel into criminal activities. We
don’t need more ‘Jesus’, we need a better educational system.”
29
A senior criminal justice administrator noted: “The justice system is very important, and
we need to improve it and restore the faith of citizens in the justice system.”
718 Roger Hood
“There would be objection to abolishing it but not at the level of demonstrations. There is no
push back [my country] will eventually accept it.”
“If we were to have demonstrations it would have been done already, because it has already
been de facto abolished.”
Table 2
Estimated Public Reaction if the Death Penalty were to be Abolished
(N = 100, Percentages Rounded)
Likely public reaction Reten- Abolition- Total
tionists ists
N % N %
Demonstrations of strong public dissatisfaction,
in the media and elsewhere, 12 26 730 14 19
and repeated calls for its reinstatement.
Some demonstrations or expressions of dissatisfaction
leading up to abolition, but the majority of the public 27 56 41 79 68
would come to accept it once the law was passed.
The majority of the public would immediately
5 11 3 6 8
accept it.
Relatives of victims or others might take law
4 9 1 2 5
into their own hands.
Total 48 52 100
With regard to the position they would take themselves were the government of
their country to bring forward legislation to abolish the death penalty all informants
were asked: “Would you personally be willing to either support or not to oppose an
act of parliament to abolish capital punishment completely in your country?”. This
revealed that only 12 of the 100 informants, all of them retentionists, said they would
strongly oppose such legislation by “definitely” voting against it. This included only
seven of the 18 who had said they were strongly and vigorously in favour of retention.
In fact, 70 of the 100 informants said they would either support the legislation (51), or
at least not oppose it (19): the remaining 18 would confine themselves to raising ob-
jections or were not prepared to commit themselves to a decision at this time. The
supporters of an abolition act were fairly evenly balanced between those who said
they would give vigorous support (27) and those who would support but “not take
the lead” (24).
It appeared, therefore, that the majority of ‘opinion formers’ interviewed who fav-
oured retention of the death penalty:
30
It is interesting to note that one criminal justice professional who favoured abolition
believed that people had been calling for the death penalty because of an increase in crime and
therefore suggested that it “would make sense to take into consideration victims’ rights […] a
balance between thinking about defendants’ rights and victims’ rights, including the provision
of victim support, whether in terms of access of information, physical and emotional support,
or financial assistance”.
Public Opinion Surveys and the Abolitionist Cause 719
However, there was little consensus among those who said they favoured abolition
as to how this could best be achieved. None of the alternative strategies put to them
was ranked first by more than a quarter of them. Nevertheless 31 of the 52 (60%) gave
some support to “by creating an influential civil society pressure group Citizens
Against the Death Penalty”; and half supported “by a legal challenge to the consti-
tutionality of the death penalty”. But, significantly, only a handful favoured “by the
government announcing an official moratorium and signing the next UN resolution in
favour of a universal moratorium”.31 Nor was looking to political leadership from the
apex of government a favoured tactic. In fact, 90 per cent showed no hope that “seek-
ing to persuade the prime minister to lead a movement for abolition” would be worth-
while. Nevertheless, these findings may well prove valuable to those in the region
who wish to promote abolition.
31
Favoured as first choice by 3 (6%) and not chosen at all by 40 (77%). “By persuading the
Prime Minister to lead a movement for abolition” was chosen as first choice by only one of the
52 and not chosen at all by 47 (90%).
32
See footnote 10, above.
720 Roger Hood
This survey showed that almost all the informants who favoured retention shared
their government’s view that the question of abolition should not be influenced by, or
follow the policy adopted by, the majority of nations. When asked:
“Does the fact that, in recent years, since 1989, the number of counties worldwide that have
completely abolished [the death penalty] has now risen from 35 to 106 – [and] that eight
states of the USA have abolished capital punishment [New York, Illinois, New Mexico, Con-
necticut, Maryland, New Jersey, Delaware and Washington] – alter your view on whether
your country should follow the international trend?”,33
forty-four of the 48 (92%) answered No: “it makes no difference; I would still
support the death penalty”; four said they were “not sure” or expressed no opinion;
but none said Yes.
Their reasons for rejecting these facts as a guide to policy were all concerned with
their view that:
• “Each country must consider its own, even unique, circumstances”;
• “Do not follow the multitude; take a society position on the matter, consider the
values of a society; because [our country] is independent and capable of making its
own decisions”;
• “Doesn’t mean what they are doing is the right thing. Other countries have differ-
ent social issues and lobby groups who pressure for change. We don’t have that
here”;
• “I don’t believe that the morality and perspective that influence the views of other
countries is correct and relevant to [my country]. I don’t think they are more en-
lightened”;
• “We are a sovereign state”.
Similarly, when retentionists were told that “only two countries in South and Cen-
tral America (Guyana and Belize) retained the death penalty but had not enforced it
for many years”, and were asked whether this affected their view on whether their
country should join the majority of abolitionist nations in its region, only two of
the 48 said this would change their mind. So, 94% said definitely “No: I would
still be opposed”.34
However, when informants who lived in the five countries35 that had always voted
against the resolution at the UN calling for a worldwide moratorium on the death pen-
alty and executions were asked whether they thought their government’s policy
should be reconsidered and reversed, more than half (56%) thought that it should.
But this was because more than three-quarters (78%) of the supporters of abolition
33
See Hood & Hoyle 2015, 10 – 48; also Hood & Hoyle 2018.
34
One respondent did not express an opinion.
35
Barbados, Grenada, St Kitts and Nevis, St Lucia, and St Vincent and the Grenadines (but
not Antigua and Barbuda or Dominica).
Public Opinion Surveys and the Abolitionist Cause 721
favoured this change of policy. In fact, only a third of the retentionists did so and only
26% of retentionists favoured reversal of the policy of always signing the Note Ver-
bale of dissent to the moratorium.36
This is very strong evidence that most of these retentionist informants, drawn from
the ‘opinion formers’ in these countries, gave no weight to the international or region-
al movement to embrace abolition. Furthermore, they were the most resistant to their
country moving forward to associate itself with the universal trend towards complete
elimination of capital punishment.
The overwhelming reason which emerged from these questions of why abolition-
ist and retentionist informants thought their government was opposed to joining the
international movement for abolition is clear from the following opinions:
• “Because it would be unpopular among citizens. Easy way out (abolitionist).”
• “The government is afraid to lose political capital because the people think it is a
deterrent to crime (abolitionist).”
• “Because the law has a view that is in keeping with the views of the people and they
don’t want to emulate the international community (retentionist).”
• “Because our politicians are driven solely by the desire to do or not to do what is
politically expedient. Politicians believe that the public would be against the abo-
lition of the death penalty because our people believe in revenge and punishment
(abolitionist).”
• “They are led by the opinions of the people – that is democracy (retentionist).”
• “Because the government is hiding behind a collective CARICOM [Caribbean
Community] approach […]. It is a deep sense of ‘culture that still rules how we
deal with violence and crime. They [the government] do not have the political
will to stand up for human rights’ (abolitionist).”
3. In Conclusion
To sum-up: According to the ‘opinion formers’ interviewed for this survey, the
reasons why these governments have failed to bring forward legislation to abolish
capital punishment completely is their unwillingness to follow international trends,
on the grounds of national sovereignty, cultural exceptionalism, assumptions about
the deterrent effect of having the death penalty on the statute book, the strength of
public sentiments and concern for maintaining electoral popularity.
Yet the findings of this survey suggest that those ‘opinion formers’ who supported
the retention of the death penalty and their government’s resistance to the internation-
al moratorium, did not personally accept that assumptions about the strength of pub-
36
The informants in Dominica were not asked this question.
722 Roger Hood
lic opposition to abolition should determine the issue. When questioned more closely,
most of these knowledgeable and influential citizens did not believe that a policy of
executing those convicted of murder was likely to be effective in reducing violent
crime leading to death, nor did they predict that there would be a serious reaction
from the public if the death penalty were to be abolished completely and – with
only a few exceptions – they would not oppose or reject total abolition of capital pun-
ishment if their government were to take the lead.
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Dynamiken der Punitivität
Konsistenz und Ambivalenz als Strukturmerkmale der Einstellung
zur Todesstrafe, 1964 – 2014
1. Einleitung
Zu keiner anderen Sanktionsart als der Todesstrafe hat es in der Vergangenheit
eine so breite Diskussion über das Verhältnis von öffentlicher Meinung, Kriminalpo-
litik und Kriminaljustiz gegeben.1 Und zu keiner anderen Sanktionsart wurden welt-
weit – auch in Deutschland – derart häufig Fragen in Bevölkerungsumfragen gestellt,
von Markt- und Meinungsforschungsinstituten ebenso wie von Kriminologen und
Sozialwissenschaftlern. Dies hat zu einer Vielfalt von Ergebnissen geführt, wie es
sie bei vielen Themen, auch in ihrer partiellen zeitlichen Verdichtung, nicht gibt.
Die Vielfalt der Erhebungen und Befunde hat es ermöglicht, die Dynamik des
Wandels über längere Zeiträume hinweg zu beschreiben. Sie hat aber auch gezeigt:
Die Ergebnisse können institutsbedingt gelegentlich sehr stark voneinander abwei-
chen, die Mehrheitsverhältnisse sich sogar in ihr Gegenteil verkehren. Während 1978
z. B. eine Umfrage des Instituts für Demoskopie für die Befürwortung der Todesstra-
fe einen Anteil von 31 % erbrachte, für die Gegner von 51 % und für die Unentschie-
denen von 18 %, lagen die Prozentzahlen in einer EMNID-Umfrage aus dem gleichen
Jahr (in der gleichen Abfolge) bei 58 %, 40 % und 1 %. Während in dem einen Fall
die Gegner in der Mehrheit waren, waren es im anderen Fall die Befürworter (Reu-
band 1980, 541 f.).
Auch wenn der unterschiedliche Umgang mit der Kategorie für Meinungslosig-
keit (bzw. dem Umgang mit den Angaben „unentschieden“, „weiß nicht“ oder „keine
Angabe“) eine Teilerklärung liefert2, dürfte der eigentliche Grund für die unter-
1
Zum Verhältnis von öffentlicher Meinung, Kriminalpolitik und Kriminaljustiz siehe Al-
brecht (2004) und mit Bezug speziell zur Todesstrafe Albrecht (2013).
2
Während in den Umfragen des Instituts für Demoskopie die Kategorie „unentschieden“
dem Interviewer bei dieser Frage üblicherweise zur Verfügung steht, gibt es in den EMNID-
Umfragen lediglich eine Residualkategorie für „keine Angaben“. Eine derartige Praxis be-
wirkt einen niedrigen Anteil von Personen, die sich zu der Frage nicht äußern können oder
wollen. In welcher Weise diejenigen antworten, die vom Interviewer zur Meinung gedrängt
werden und sich schließlich doch noch Position beziehen, scheint von den gesellschaftlichen
726 Karl-Heinz Reuband
schiedlichen Ergebnisse doch in der jeweiligen Spezifikation von Tat und Täter zu
suchen sein: Während in der Erhebung des Instituts für Demoskopie mit der dort üb-
lichen Standardfrage gefragt wurde: „Sind Sie grundsätzlich für oder gegen die To-
desstrafe?“, hieß es in der Umfrage des EMNID Instituts (in der dort gebräuchlichen
Standardfrage) „Sind Sie dafür oder dagegen, dass ein Mörder, für den keine mildern-
den Umstände sprechen, mit dem Tode bestraft wird?“
Den Täter mit einem Mord in Verbindung zu bringen und mildernde Umstände
unter den Begehungsbedingungen auszuschließen, schafft zwangsläufig einen ande-
ren kognitiven Bezugsrahmen als eine Formulierung, in der die Todesstrafe als ab-
strakte Sanktion bloß genannt wird. Dass der Anteil an Befürwortung umso höher
liegt, je schwerwiegender das genannte Delikt ist, lässt sich auch aus anderen Um-
frageergebnissen ableiten (vgl. u. a. Noelle-Neumann & Köcher 1997, 766; Zittel-
mann 1998). Es handelt sich also um kein Spezifikum des hier gewählten Vergleichs.
Das aber bedeutet: Die Befunde reflektieren einen Widerspruch. Wer „grundsätz-
lich“ gegen die Todesstrafe ist, kann logischerweise auch nicht in Ausnahmefällen
dafür sein.
Rahmenbedingungen nicht unabhängig und damit zeitlich z. T. auch variabel zu sein (vgl.
Reuband 1990).
Dynamiken der Punitivität 727
Aber ist die Diskrepanz, die sich im Fall der Fragen zur Todesstrafe darbietet, ein
Hinweis für die Existenz von „Non-Attitudes“, von Meinungslosigkeit oder Indiffe-
renz auf Seiten der Befragten? Ist sie ein Hinweis dafür, dass sich die Befragten mit
der Thematik nicht auseinandergesetzt haben und eher spontan, ad hoc und erratisch
antworten? Oder sind dafür primär andere Einflussgrößen verantwortlich? Schließ-
lich müssen Inkonsistenzen auf der Einstellungsebene nicht nur ein Ausdruck von
Meinungslosigkeit oder Indifferenz sein. Sie können auch aus Ambivalenzen er-
wachsen, können Ausdruck einer unentschiedenen Haltung sein.
Paul F. Lazarsfeld (1968/1944) hat als Erster in seinen wahlsoziologischen Arbei-
ten widersprüchliche soziale Einflüsse zum Thema gemacht und in diesem Zusam-
menhang den Begriff der „cross pressures“ eingeführt. Für ihn erwachsen die „cross
pressures“ aus multipler Gruppenzugehörigkeit, die mit divergierenden Interessen,
Orientierungen und Erwartungen auf Gruppenebene verbunden sind und den Einzel-
nen dadurch widersprüchlichen Einflüssen aussetzen (vgl. auch Berelson, Lazarsfeld
& McPhee 1968/1954). Letztlich spiegeln sich die „cross pressures“ (auch wenn La-
zarsfeld dies nicht weiter ausführt) auf der Einstellungsebene wider und wirken von
hier auf das Verhalten ein. So ist es mehr als folgerichtig, dass das „cross pressures“-
Konzept, an Lazarsfeld anknüpfend, von anderen Autoren gelegentlich auch mit
Fokus auf der Einstellungsebene angewandt wurde (so bei Kriesberg 1949). Eine ei-
gene Forschungstradition entwickelte sich daraus freilich nicht.
In der Folgezeit fiel das Konzept von Lazarsfeld weitgehend der Vergessenheit
anheim. Zwar erlebte es in den letzten Jahren im Hinblick auf die Einstellungsebene
unter dem Begriff der „Ambivalenz“ (von anderen Ansätzen ausgehend, ohne Rekurs
auf Lazarsfeld) in der neueren sozialpsychologischen und politikwissenschaftlichen
Literatur in veränderter Form eine Art Wiederauferstehung (vgl. u. a. Craig & Mar-
tinez 2005). Von einer Rezeption dieser Perspektive ist man allerdings in der sozial-
wissenschaftlichen und kriminologischen Forschung bislang noch weit entfernt. Die
Widersprüchlichkeit und Ambivalenz, die Einstellungen auszeichnet, wird zu wenig
reflektiert und noch weniger zum Thema gemacht.
„Cross pressures“ oder „Ambivalenzen“ auf der Einstellungsebene ausgesetzt zu
sein, bedeutet, unterschiedliche Erfahrungen, Bewertungen und Einstellungen einzu-
nehmen, die eine eindeutige Position in Entscheidungssituationen erschweren. Es
gibt Kognitionen und Argumente sowohl für als auch gegen den Sachverhalt. Und
je nach Aktivierung des Bezugsrahmens ist es unter diesen Umständen für den Ein-
zelnen subjektiv naheliegend, mal eher in die eine oder andere Richtung zu tendieren,
sich z. B. unter bestimmten Umständen mal eher für die Todesstrafe und mal eher
gegen die Todesstrafe auszusprechen. Die Tatsache, dass spektakuläre kriminelle Er-
eignisse die Zahl der Befürworter der Todesstrafe in die Höhe treiben, ist dafür ein
Beispiel (vgl. Oppeln-Bronikowski 1970). Und die Effekte unterschiedlicher Frage-
formulierungen, mal mit und mal ohne Bezüge zu Tat und Täter, sind dafür ein wei-
teres Beispiel. Als funktional äquivalent dazu könnte man ebenfalls Folgefragen oder
konfrontative Nachfragen ansehen, die neue Akzente setzen und den Bezugsrahmen
728 Karl-Heinz Reuband
verschieben (dazu vgl. Reuband 1989; 2008). Fragen dieser Art sind bislang in der
Forschung eine Rarität gewesen, weswegen das Wissen darüber, unter welchen Be-
dingungen wie geantwortet wird, rudimentär ist.
3
Der Datensatz ist im GESIS-Datenarchiv unter der Nr. ZA 0054 archiviert.
4
So wurden z. B. die Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen lange Zeit face-to-face
durchgeführt, ehe man auf einen telefonischen Befragungsmodus überging. In den akademisch
ausgerichteten Studien – wie ALLBUS, General Social Survey – ist man hingegen bei den
face-to-face-Befragungsmodalitäten geblieben, nicht zuletzt auch weil man auf die Vorlage
von Listen nicht verzichten und so die Möglichkeit des Langzeitvergleichs nicht kontami-
nieren wollte.
5
Die zufallsgenerierten Festnetznummern wurden freundlicherweise für uns von GESIS
nach dem Gabler-Häder-Verfahren generiert.
6
Die meisten Bürger waren zum Zeitpunkt der Erhebung noch über Festnetz erreichbar
(Reuband 2014), eine Analyse von Personen mit und ohne Zugang über Festnetz (untersucht
Dynamiken der Punitivität 729
Desgleichen dürfte der Wechsel des Befragungsmodus – von face to face zu telefo-
nisch – ohne größere Auswirkungen sein. Untersuchungen zu den Auswirkungen der
beiden Erhebungsverfahren bei anderen Themen haben in der Regel keine oder keine
bedeutsamen Effekte auf der inhaltlichen Ebene erbracht.
In der Frageformulierung differieren die Erhebungen leicht. In der Umfrage von
1964 war der Frage zur Todesstrafe zunächst die Frage vorgeschaltet, ob man gehört
oder gelesen habe, dass in letzter Zeit die Wiedereinführung der Todesstrafe gefor-
dert worden sei („Haben Sie davon gehört, dass in letzter Zeit die Wiedereinführung
der Todesstrafe gefordert wurde?“). Wurde die Frage bejaht – dies war bei nahezu
allen Befragten der Fall (94 %) – schloss sich die Frage an: „Und wie ist Ihre persön-
liche Einstellung dazu: Sind Sie für die Wiedereinführung der Todesstrafe oder sind
Sie dagegen?“.7
In der Erhebung von 2014 wurde die Vorfrage in die Frage zur Todesstrafe inte-
griert: „Hin und wieder wird in der Öffentlichkeit diskutiert, ob man die Todesstrafe
wieder einführen sollte. Wie ist Ihre persönliche Einstellung dazu: Sind Sie für die
Wiedereinführung der Todesstrafe oder sind Sie dagegen?“ Die Vorfrage wie in der
Erhebung von 1964 zu stellen, hätte keinen Sinn gemacht, da es zum Zeitpunkt der
Erhebung keine öffentliche Diskussion über die Wiedereinführung der Todesstrafe
gab und es auch in den vorangegangenen Jahren keine gegeben hatte.
Wurde die Todesstrafe abgelehnt, so folgte in beiden Erhebungen: „Sind Sie unter
allen Umständen gegen die Wiedereinführung der Todesstrafe oder sollte sie für be-
stimmte schwere Verbrechen wieder eingeführt werden?“. Sprach sich jemand dar-
aufhin für die Todesstrafe aus, nachdem er sie zuvor noch abgelehnt hatten, so folgte
1964 als offene Frage: „Für welche Verbrechen sollte man die Todesstrafe wieder
einführen?“ (2014 wurde diese Frage nicht gestellt). In der Erhebung von 1964 wur-
den insgesamt 1.879 Personen befragt, in der Umfrage von 2014 waren es 1.013 Per-
sonen, davon 843 in Westdeutschland. Aus Gründen der Vergleichbarkeit stellen die
westdeutschen Befragten die Basis der folgenden Analysen dar. Wo Vergleiche über
die Zeit angestellt werden, wird der gewichtete Datensatz verwendet, ansonsten der
ungewichtete.8
am Beispiel von Düsseldorf und gestützt auf eine postalische Befragung von uns mit Adressen
aus dem Einwohnermelderegister) erbrachte keine nennenswerten Unterschiede. Die Art des
Telefonbesitzes übte auch bei den Jüngeren unter 30 Jahren keinen statistisch signifikanten
Einfluss aus auf die Forderung nach härteren Strafen („Um Kriminalität zu verhindern, brau-
chen wir in Deutschland strengere Strafen“) oder die Befürwortung der Todesstrafe („Sind Sie
grundsätzlich für oder gegen die Todesstrafe?“).
7
Als Antwortkategorien standen dem Interviewer zur Verfügung: „Für die Wiedereinfüh-
rung – Dagegen – Keine Meinung“. Analog die Kategorien in der Erhebung von 2014, wobei
die Kategorien „Weiß nicht“ und „Keine Angabe“ für den Interviewer in Klammern jeweils
mit dem Vermerk „nicht vorlesen“ versehen waren.
8
In der 1964er Erhebung wird der Gewichtungsfaktor verwendet, wie er von DIVO zur
Verfügung gestellt wurde. Für 2014 wird ein Gewichtungsfaktor verwendet, der von uns auf
der Basis der Merkmale Geschlecht, Alter und Bildung – in Anlehnung an den Mikrozensus –
erstellt wurde.
730 Karl-Heinz Reuband
Ähnlich wie bei EMNID setzt der rückläufige Trend in den Erhebungen von DIVO
etwas früher ein als in den Umfragen des Instituts für Demoskopie. So sprachen sich
bei DIVO, wie man Tabelle 1 entnehmen kann, in den Jahren 1954 und 1958 72 % der
Bundesbürger für die Wiedereinführung Todesstrafe aus, 1961 war der Anteil auf
63 % gesunken und belief sich 1964 unter den Befragten, die von der öffentlichen
Diskussion über die Wiedereinführung der Todesstrafe gehört hatten (das waren
fast alle), auf 55 %. Würde man diejenigen, die bisher nichts von der öffentlichen Dis-
kussion gehört hatten, auf den Kreis der übrigen Befragten aufteilen – hier sind ver-
schiedene Szenarien denkbar9 – , würde sich der Anteil der Befürworter und der Geg-
9
Eine wahrscheinliche Variante wäre, entweder die Befragten in ähnlicher Weise aufzu-
teilen wie diejenigen, die von der Diskussion um die Wiedereinführung der Todesstrafe gehört
Dynamiken der Punitivität 731
ner erhöhen, aber an dem Tatbestand eines rückläufigen Trends würde sich nichts
ändern.
Und wie verhält es sich mit dem Meinungsbild heutzutage? 50 Jahre später ist der
Anteil der Befürworter auf 15 % geschrumpft. Der niedrige Wert ist kein Spezifikum
der Frageformulierung der Untersuchung. Ein annähernd vergleichbares Niveau
weist eine Umfrage des Instituts für Demoskopie aus jüngerer Zeit aus: Hier wählten
im Jahr 2016 auf die Frage zur Beurteilung verschiedener Maßnahmen der Verbre-
chensbekämpfung aus der vorgegebenen Liste 17 % der Befragten die Option „To-
desstrafe für besonders schwere Verbrechen“ (Köcher 2016, 5, Tabelle A8). Auf
ein ähnlich niedriges Niveau der Zustimmung deuten Befunde der Standardfrage
des Instituts für Demoskopie zur Todesstrafe („grundsätzlich für oder gegen“) aus
den Vorjahren hin.
Nicht viel anders die Voten, die in Hessen beim Volksentscheid über die Abschaf-
fung der Todesstrafe aus der Landesverfassung im Oktober 2018 im Kontext der
Landtagswahl anfielen. 17 % der Bürger stimmten gegen die Abschaffung des ent-
sprechenden Passus, 83 % stimmten dafür (Zeit-Online 2018). Ob sich die hohe
Zahl derer, die für eine Abschaffung des Paragraphen votierten, primär auf eine ent-
sprechend hohe Zahl an Gegnern der Todesstrafe gründet oder auf die Erkenntnis der
Irrelevanz des Paragraphen – Bundesrecht gilt vor Landesrecht (und auf Bundesebe-
ne ist mit dem Grundgesetz die Todesstrafe abgeschafft) –, ist allerdings eine offene
Frage. Würde man die Frage zur Todesstrafe formulieren wie einst das EMNID In-
stitut, würde sich für die neuere Zeit (so einer eigenen Umfrage von 2012 zufolge)
zwar ein etwas höherer Wert ergeben als in der hier verwendeten DIVO Fragekon-
struktion, aber es würde sich an dem Grundtatbestand einer überwiegenden Ableh-
nung der Todesstrafe nichts ändern.10
Auffällig am Vergleich der DIVO Umfragen aus den 1950er und den frühen
1960er Jahren mit der Umfrage aus dem Jahr 2014 ist, dass nicht nur die Zahl der
Befürworter in der Zwischenzeit erheblich gesunken ist, sondern auch die Zahl
derer, die keine Meinung äußerten. Dass dieser Anteil gesunken ist, hat nichts mit
unterschiedlichen Optionen für die Interviewer zu tun – denn auch in der Erhebung
von 2014 standen ihnen diese Kategorien explizit zur Verfügung (sie waren nur
nicht – ebenso wie 1964 – den Befragten vorzulesen).
Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass der Wechsel des Befragungsmodus für den
Rückgang verantwortlich ist. Für einen höheren Anteil an unentschiedenen Antwor-
haben, oder sich an den sozialen Merkmalen der Befragten zu orientieren und die Daten
entsprechend zu gewichten. In den Umfragen des Instituts für Demoskopie, die auf den Aspekt
des „Grundsätzlichen“ rekurrieren, ist der Rückgang weniger stark als in den Umfragen des
DIVO Instituts. Waren beim Institut für Demoskopie 1952 55 % grundsätzlich für die Todes-
strafe, waren es 1960 54 % und 1964 49 % (Reuband 1980, 541).
10
Unter Verwendung der EMNID-Frageformulierung kamen wir in einer bundesweiten
Telefonumfrage, durchgeführt über das CATI-Telefonlabor des Instituts für Sozialwissen-
schaften der Universität Düsseldorf – gestützt auf eine Zufallsstichprobe und der Last-birth-
day-Methode – auf einen Wert von 24 % (unveröffentlicht).
732 Karl-Heinz Reuband
ter gegebenen Umständen – für eine Mobilisierung zugunsten der Todesstrafe (wie-
der) anfällig machen.
Grundlegend anders die Situation, in welcher die Gegner die Mehrheit bilden und
Veränderungen auf der Aggregatebene nicht (mehr) stattfinden. Weder gibt es einen
Meinungsdruck auf die Gegner der Todesstrafe, noch gibt es eine Art „Kompositi-
onseffekt“, der aus Austauschprozessen auf der Aggregatebene herrührt. Unter die-
sen Bedingungen müsste man unter den Gegnern eher stabile, auskristallisierte Ein-
stellungen erwarten als im zuvor genannten Fall. Die Übergangsrate zur Befürwor-
tung müsste schwächer sein.
Die Ergebnisse entsprechen der Erwartung: 1964 lag der Anteil derer, die durch
die Nachfrage zu den Befürwortern wechselte, bei 54 % der Befragten, 2014 waren es
nur noch 20 %. Der Wert hat sich mehr als halbiert (vgl. Abbildung). Durch den
Wechsel in das Lager der Befürworter verschieben sich die Gesamtwerte. In der Er-
hebung von 1964 steigt der Anteil an Befürwortung auf 77 % (ein Wert, der sich von
denen der 50er Jahre nicht mehr unterscheidet). In der Erhebung von 2014 ist der
Anstieg in der Befürwortung aufgrund der geringeren Wechselrate hingegen weniger
groß, die Gegner bleiben in der Mehrheit.
Welche Art von Delikten haben die Befragten im Blick, wenn sie sich trotz zuvor
deklarierter Gegnerschaft auf Nachfrage hin für die Todesstrafe entscheiden? Dazu
stehen Befunde nur aus der Erhebung von 1964 zur Verfügung. Es handelt sich bei
den Delikten – wie eine offene Anschlussfrage deutlich macht – nahezu ausschließ-
vierung, in dessen Verlauf kognitive Inkonsistenzen „bereinigt“ werden. Unter diesen Bedin-
gungen besteht in der Übergangsphase der Ambivalenz und kognitiven Inkonsistenz eine
Zeitlang eine „Anschlussfähigkeit“ an unterschiedliche Positionen.
734 Karl-Heinz Reuband
Und was sind die Gründe, welche Befragte trotz Nachfrage dazu bringen, auf der
Position der Gegnerschaft zu verbleiben (hierzu liegen ebenfalls nur für 1964 Daten
vor)? Wie man Tabelle 2 entnehmen kann, werden am häufigsten ethische Begrün-
dungen angeführt: die Menschen hätten kein Recht, anderen Menschen das Leben
zunehmen. Es entspräche nicht den religiösen Prinzipien. Es bestehe die Gefahr
eines Justizirrtums. Es bestehe die Möglichkeit des politischen Missbrauchs. Und
nicht wenige Befragte zweifeln an der abschreckenden Wirkung der Todesstrafe
überhaupt. Dass sie keine ausreichende Sühne sei, wird von einem Zehntel der Be-
fragten angeführt (was als Aussage etwas mehrdeutig ist: Meinen sie, dass jedem
Menschen die Möglichkeit gegeben werden soll, sich seiner Schuld zu stellen?
Oder dass man viel härter mit den Tätern umgehen müsse?).
stellungsebene reduziert? Sollte der Wechsel eine mehr oder minder zufällige Kon-
stellation sein, so könnte er – dem „Non-Attitudes“-Konzept von Converse folgend –
aus Meinungslosigkeit oder Ignoranz erwachsen. Es könnte aber auch eine nachläs-
sige Art des Umgangs mit der Interviewsituation widerspiegeln – Ausdruck einer ge-
ringen Kooperationsbereitschaft, bei der sich der Befragte nur begrenzt darum be-
müht, die Fragen so genau wie möglich zu beantworten und wo die Antworten erra-
tische Züge tragen.
Wir können der Thematik lediglich in der Erhebung von 2014 nachgehen, da nur
hier auch Fragen zum Interviewverlauf gestellt wurden. Diese waren vom Interview-
er am Schluss der Befragung zu beantworten. Als Indikator für kognitive Kompeten-
zen, wie sie mit der Meinungslosigkeit verbunden ist, kann man das vom Interviewer
wahrgenommene Frageverständnis heranziehen, desgleichen das vom Befragten be-
kundete politische Interesse. Je geringer das Frageverständnis und je geringer das po-
litische Interesse, desto häufiger dürfte die Beantwortung eher zufällig erfolgt und
ein Ausdruck von Meinungslosigkeit sein.
Als Indikator für die Motiviertheit des Befragten kann man die vom Interviewer
wahrgenommene Kooperationsbereitschaft verwenden sowie den Eindruck, dass der
Befragte die Fragen so genau wie möglich zu beantworten versuchte. Je geringer die
Kooperationsbereitschaft und je geringer das Bemühen um eine genaue Beantwor-
tung, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass die Fragen mit einer gewissen Nach-
lässigkeit beantwortet werden und die Antworten eher Konstellationen als wahre
Einstellungen widerspiegeln.13
Für Auswirkungen der kognitiven Kompetenz und der Motiviertheit auf das Ant-
wortverhalten zur Todesstrafe ergeben sich in der Tat gewisse Hinweise. Wessen Fra-
geverständnis vom Interviewer als „mittelmäßig“ oder „schlecht“ eingestuft wird,
wechselt häufiger von der Gegnerschaft zur Befürwortung der Todesstrafe als je-
mand, dessen Verständnis vom Interviewer als „sehr gut“ oder „gut“ beurteilt
wird. Desgleichen wechselt jemand, der kein oder geringes politisches Interesse
hat, häufiger als jemand, der sich „sehr stark“ oder „stark“ politisch interessiert.
So wechseln z. B. unter denen, die überhaupt kein politisches Interesse haben,
36 % in die Gruppe der Befürworter, während es unter denen, die „sehr stark“ poli-
tisch interessiert sind, nur 16 % sind. Befragte mit mittlerem politischem Interesse
nehmen eine Zwischenposition ein.
Nicht nur die kognitive Kompetenz, sondern ebenfalls die Motiviertheit übt einen
Effekt auf die Wechselneigung aus. Unter denen, deren Kooperationsbereitschaft im
Interview als „sehr gut“ eingestuft wird, wechseln 13 % zur Befürwortung, unter
denen, die dies „mittelmäßig“ tun, sind es 25 %. Bei der Frage, wie sehr der Befragte
13
Wahrgenommene Fragenkompetenz und Kooperationsbereitschaft sind nicht unabhän-
gig voneinander. Offensichtlich schlägt sich die geringe Motiviertheit der Befragten darin
nieder, sich weniger ernsthaft mit der Frage auseinanderzusetzen, vielleicht gar nicht genau
zuzuhören und allzu schnell eine Antwort zu geben. Im Rahmen einer OLS-Regressionsana-
lyse unter Kontrolle sozialer Merkmale ergibt sich ein beta von .38 (p < 0,001).
736 Karl-Heinz Reuband
bemüht war, die Fragen so genau wie möglich zu beantworten, zählen unter denen,
denen der Interviewer ein „sehr starkes“ Bemühen zubilligte, 16 % zu den Wechslern.
Und unter denen, denen ein geringes Bemühen attestiert wurde, 31 %. Freilich: In
allen der hier genannten Fälle bilden die Befragten die überwältigende Mehrheit,
denen die Interviewer eine hohe Kompetenz und hohe Motiviertheit attestieren.
Die Auswirkungen der weniger Kompetenten und wenig Motivierten auf das Ant-
wortverhalten halten sich in Grenzen.
Und wie verhält es sich mit den inhaltlichen Orientierungen der Befragten, die den
Wechsel vollziehen? Wie sehr spiegelt sich in dem Wechsel eine Hinwendung zu
mehr Konsistenz und zu einer Reduktion von Ambivalenz wider? Dass der Wechsel
zur Befürwortung nicht einem bloßen Zufall geschuldet ist, sondern aus Sicht der
Befragten subjektiv durchaus Sinn macht und einer Art ideologischer Systematik un-
terliegt, wird an den Antworten auf Fragen zur Kriminalität und Kriminalitätsbe-
kämpfung deutlich (vgl. Tabelle 3): Die Wechsler nehmen eine Zwischenposition
zwischen den Befürwortern und den Gegnern der Todesstrafe ein, wobei sie erkenn-
bar mehr Gemeinsamkeiten mit den Befürwortern als den Gegnern aufweisen. Dies
gilt für die Wahrnehmung der persönlichen Bedrohung ebenso wie für die Wahrneh-
mung der Kriminalitätsentwicklung. Und es gilt für die Beurteilung der abschrecken-
den Wirkung harter Strafen ebenso wie für die Ansicht, die Gerichte würden zu milde
urteilen.
Tabelle 3
Einstellung zu Kriminalität unter Befragten mit stabiler und
wechselnder Einstellung zur Todesstrafe, 2014 (in %)
Gegnerschaft Wechsel zur Befürwortung
Befürwortung
Persönliche Kriminalitätsfurcht 36 45 47
Kriminalitätszunahme in der
40 62 67
Bundesrepublik
Abschreckung durch harte Strafen 33 56 70
Justiz: zu milde Strafen 52 73 88
Frageformulierungen: „Manche Menschen haben ja Angst, es könnte ihnen etwas passieren, sie könnten Opfer
eines Verbrechens werden. Wie sehr fühlen Sie sich durch Verbrechen bedroht? Würden Sie sagen, Sie fühlen
sich sehr bedroht – etwas bedroht – oder nicht bedroht?“ (hier: sehr bedroht, etwas bedroht); „Haben Sie den Ein-
druck, dass die Zahl der Verbrechen in Deutschland insgesamt zunimmt oder würden Sie das nicht sagen?“ (Split:
zunimmt – stabil ist – oder abnimmt?)“; „Glauben Sie, dass man durch harte Strafen die Kriminalität senken
kann?“ (Split: … senken kann oder glauben Sie das nicht?)“; „Finden Sie, dass die deutschen Gerichte mit den
Angeklagten im Allgemeinen zu hart oder zu milde umgehen?“
gleichermaßen stark ein, aber es ist unverkennbar, dass die genannten Variablenkom-
plexe einen Effekt ausüben, und zwar sowohl in Form des situationsspezifischen Ein-
flusses (wie Kooperationsbereitschaft im Interview) als auch der kriminalitätsbezo-
genen Vorstellungen (wie Glaube an die abschreckende Wirkung harter Strafen). Die
persönliche Kriminalitätsfurcht bleibt hingegen unbedeutend, und auch das Ver-
ständnis der Fragen erreicht keine bedeutsame Effektstärke, das politische Interesse
als Indikator für kognitive Reflexion hingegen sehr wohl.
Bezieht man zusätzlich als Kontrollvariablen die sozialen Merkmale Geschlecht,
Alter und Bildung ein, die mit diesen Variablen im Zusammenhang stehen, aber
ebenfalls einen eigenständigen Effekt ausüben könnten15, so wird deutlich: Von
den sozialen Merkmalen ergibt sich lediglich für die Bildung ein eigenständiger Ef-
fekt. Je niedriger die Bildung, desto größer die Wahrscheinlichkeit des Meinungs-
wechsels. Die anderen, zuvor genannten Variablen inhaltlicher Art behalten davon
unabhängig in der Regel ihren Einfluss bei. Dies gilt für das Kooperationsverhalten
ebenso wie für die kriminalitätsbezogenen Vorstellungen (wobei sich der Effekt der
wahrgenommenen Kriminalitätszunahme als etwas grenzwertig erweist).16
Die Indikatoren für kognitive Kompetenz und Meinungslosigkeit schwächeln hin-
gegen und erreichen nicht das Signifikanzniveau (und davon ist nun auch das poli-
tische Interesse betroffen). Womöglich ist die Erfassung kognitiver Kompetenz und
Meinungslosigkeit in unserer Untersuchung etwas zu global und müsste stärker
issue-spezifisch ausgerichtet sein, um die Bedeutung für die Einstellung zur Todes-
strafe angemessen zu erfassen. Vermutlich ist aber auch das vom Interviewer wahr-
genommene Verständnis der Fragen stärker situationsbedingt als gedacht, so dass
dessen Effekt geschwächt wird, sobald die Kooperationsbereitschaft als Variable
in der Analyse berücksichtigt wird.17
15
In der Analyse wurden Alter und Bildung als metrische bzw. (quasi-)metrische Variablen
eingeführt. Würde man die Variablen jeweils dichotomisieren (Fachhochschulreife/Abitur) vs.
andere, unter 50 Jahre vs. 50 Jahre und älter) würde sich an den grundlegenden Befunden
nichts ändern.
16
Der Effekt verfehlt knapp das 0,05-%-Niveau. Wenn man jedoch die Ostdeutschen
miteinbezieht, wird dies Niveau erreicht (was partiell der höheren Fallzahl geschuldet sein
dürfte, aber auch einer etwas stärkeren Bedeutung dieser Variablen unter den ostdeutschen
Befragten).
17
Dafür spricht: Rechnet man das Frageverständnis und das politische Interesse unter
Kontrolle der Bildung, ergeben sich für das Fragverständnis und das Interesse signifikante
Effekte. Führt man das Kooperationsverhalten zusätzlich ein, reduziert sich jedoch der Effekt
des Frageverständnisses und ist nicht mehr signifikant. Das politische Interesse verschwindet
als signifikanter Effekt, wenn man die Wahrnehmung der Strafpraxis als zu milde als Variable
einführt.
738 Karl-Heinz Reuband
Tabelle 4
Wechsel zur Befürwortung der Todesstrafe nach Nachfrage an die Gegner
in Abhängigkeit von kognitiver Kompetenz, Motiviertheit und Einstellungen
zur Kriminalität (Odds Ratios der logistischen Regressionsanalyse)
Verständnis der Fragen (-) 1,14 1,13
Politisches Interesse (-) 1,60* 1,38
Kooperation im Interview (-) 2,10** 2,04**
Bemühen Beantwortung (-) ,82 ,80
Kriminalitätszunahme 1,58+ 1,58+
Justiz: zu milde Strafen 1,84* 1,72*
Abschreckung durch harte Strafen 1,75* 1,64*
Persönliche Kriminalitätsfurcht 1,14 1,13
Geschlecht – ,93
Alter – ,99
Bildung – ,74**
Nagelkerke R2 .121 .141
– nicht in Modellrechnung einbezogen
+ p < 0,10 *p < 0,05 **p < 0,01
Frageformulierungen: (Fragen an Interviewer): „Generelles Verständnis der Fragen durch den Befragten: sehr gut –
gut – mittelmäßig – schlecht – sehr schlecht – keine Einschätzung/weiß nicht“; (Fragen an Befragten): „Wie stark
interessieren Sie sich für Politik? Sehr stark – stark – mittel – wenig oder überhaupt nicht“; (Fragen an Interviewer):
Kooperationsbereitschaft des Befragten im Verlauf des Interviews: sehr gut – gut – mittelmäßig – schlecht – sehr
schlecht – anfangs gut, später schlechter – anfangs schlecht, später besser – keine Einschätzung/weiß nicht“; „Wie
stark war der Befragte bemüht, die Fragen ernsthaft und möglichst genau zu beantworten: sehr stark – stark – wenig –
überhaupt nicht“. (Übrige Frageformulierungen siehe Tabelle 3).
Variablen jeweils dichotomisiert (0,1). Codierung = 0 bei Fragenverständnis = sehr gut; Politikinteresse = sehr
stark/stark; Kooperation = sehr gut; Bemühen Beantwortung = sehr stark; Kriminalitätszunahme = nimmt zu; Jus-
tiz zu milde Strafen = zu milde; Abschreckung = Ja; Codierung = 1 bei Persönliche Kriminalitätsfurcht = sehr
bedroht/etwas bedroht. Referenzkategorie (= 0) die restlichen Antworten der jeweiligen Fragen (einschl. weiß
nicht). Geschlecht 0 = Mann, 1 = Frau; Alter in Jahren; Bildung 1 = Volks-/Hauptschule, 2 = mittlere Reife,
3 = Fachhochschulreife, 4 = Abitur.
7. Schlussbemerkungen
Die Sanktionseinstellungen der Bürger sind komplexer als gewöhnlich angenom-
men. Dies hat sich am Beispiel der Einstellung zur Todesstrafe gezeigt, dürfte für
diese jedoch nicht allein typisch sein. Je nach den Akzenten, die in den Frageformu-
lierungen gesetzt werden, unterscheiden sich die Antwortverteilungen in Umfragen
z. T. erheblich. Es kann sogar zeitweise dazu kommen, dass sich mal eine Mehrheit
und mal eine Minderheit für die jeweilige Sanktion – für oder gegen die Todesstrafe –
ausspricht. Konfrontative Nachfragen, so zeigte die vorliegende Analyse, können
eine ähnliche Wirkung entfalten, wobei sich das Ausmaß des dadurch hervorgerufe-
nen Wandels je nach Zeitperiode unterscheidet.
So ist in einer Zeit, in welcher die Mehrheit zu den Befürwortern der Todesstrafe
zählt, die Bereitschaft der Gegner, infolge der Nachfrage zu den Befürwortern über-
zuwechseln, größer als in Zeiten, in denen die Gegnerschaft in der Bevölkerung über-
Dynamiken der Punitivität 739
wiegt. Diese dürfte auf Seiten des Individuums mit dem Ausmaß kognitiver und so-
zialer Stützung für die jeweilige Position zu tun haben. Und es dürfte, so unsere An-
nahme, auch etwas mit der Dynamik des Einstellungswandels und den Zu- und Ab-
stromquoten zu tun haben, die vom Lager der Befürworter und der Gegner ausgehen
und spezifische Kompositionseffekte begründen.
Wie viele Befragte durch die Nachfrage von der einen Position zur anderen über-
wechseln, dürfte nicht nur von der Verbreitung von Befürwortung und Gegnerschaft
in der Gesellschaft abhängen, sondern auch von dem Bezugsrahmen, der durch die
Fragen geschaffen wird. Allgemein zu fragen, ob man sich bei „bestimmten schwe-
ren Verbrechen“ eine Ausnahmesituation vorstellen könne, schafft ein weniger be-
drohliches Szenario als die Nennung konkreter schwerer Delikte (wie Mord oder Se-
xualverbrechen). Dementsprechend ist unter gegebenen Umständen von einem noch
etwas größeren Mutationspotential im Interview auszugehen, als es die Zahlen über
die Wiedereinführung der Todesstrafe für „schwere Verbrechen“ aussagen.
Dass ein nennenswerter Teil der Befragten durch Nachfragen zu einer anderen Po-
sition wechselt, macht deutlich, wie sehr unterschiedliche Kognitionen und Vorstel-
lungen auf Seiten des Befragten nebeneinander bestehen können und dadurch eine
Anschlussfähigkeit für unterschiedliche Positionen besteht – sowohl auf Seiten
der Gegner der Todesstrafe, die in diesem Beitrag Gegenstand der Analyse waren,
als auch auf Seiten der Befürworter (die wie anderen Studien zeigen, ebenfalls
einem Wandlungspotential unterliegen und durch Nachfragen mehrheitlich zur Ab-
lehnung der Todesstrafe gebracht werden können, dazu vgl. Reuband 2008).
Auch wenn ein Teil der Befragten den Wechsel aus eher zufälligen, erratischen
Momenten heraus vollzieht, ist doch unverkennbar, dass ein maßgeblicher Effekt
von der Dissonanzreduktion ausgeht: Die Befragten wechseln in eine Richtung,
die eine größere Überstimmung mit ihren sonstigen Überzeugungen herstellt. Es
wird vermehrt eine kognitive Konsistenz im Bereich der „Law and Order“-Orientie-
rungen geschaffen. Aus dieser Sicht findet eine Art „ideologische“ Bereinigung statt.
Wie sehr das neue Antwortmuster bei weiteren Folgefragen stabil bleiben würde
(oder auch eine Rückkehr zur Ausgangsposition stattfinden könnte), ist eine andere,
bislang nicht untersuchte Fragestellung.
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Transitional Justice in Deutschland –
die Mauerschützen vor Gericht
Von Walter Perron
Hans-Jörg Albrecht hatte von 1993 bis 1997 einen Lehrstuhl an der Technischen
Universität Dresden inne und war mit dem Prozess der Wiedervereinigung, seinen
Folgen und insbesondere den Problemen der strafrechtlichen Aufarbeitung der soge-
nannten „DDR-Regierungskriminaliät“ täglich konfrontiert. Später bildete das
Thema der „Transitional Justice“ einen zentralen Schwerpunkt der von ihm mitge-
gründeten und maßgeblich getragenen „International Max Planck Research School
on Retaliation, Mediation and Punishment“ (REMEP). Seinen 70. Geburtstag, der
zwischen den 30. Jahrestagen des Mauerfalls und der deutschen Wiedervereinigung
liegt, nehme ich zum Anlass, einen Blick zurück auf den Umgang der bundesdeut-
schen Justiz mit den Schüssen an der deutsch-deutschen Grenze zu werfen.
„Transitional Justice“ bedeutet wörtlich „Übergangsjustiz“. Gemeint ist damit die
Aufarbeitung eines gerade überwundenen Zustands der Diktatur oder eines autoritä-
ren Staatssystems durch Gerichte des nachfolgenden Staates, hauptsächlich in der
Form strafrechtlicher Verfolgung, aber auch durch Entschädigung und Rehabilitie-
rung der Opfer.1 Die Bundesrepublik Deutschland musste sich im 20. Jahrhundert
zweimal mit einer solchen Übergangssituation auseinandersetzen: erstens nach
ihrer Gründung im Jahre 1949 mit den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen2
und zweitens ab 1990 nach dem Zerfall der Deutschen Demokratischen Republik
mit dem Vorgehen der Befehlshaber und Funktionsträger der Deutschen Demokra-
tischen Republik gegen die eigenen Bürger. In beiden Fällen war die juristische Auf-
arbeitung des vergangenen Unrechts mit schwierigen Problemen behaftet und verlief
nicht in jeder Hinsicht optimal. Ich werde zunächst kurz auf die strafrechtliche Auf-
arbeitung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen eingehen, weil die dabei ge-
wonnenen Erfahrungen die Basis für den Umgang mit der sogenannten „DDR-Re-
gierungskriminalität“ bildeten. Danach werde ich mich näher mit der Verfolgung
der DDR-Fälle befassen und am Ende fragen, ob die Anwendung des Völkerstraf-
rechts eine bessere Alternative gewesen wäre.
1
Vgl. Arnold, in: Eser, Sieber & Arnold 2000, 44.
2
Zur strafrechtlichen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen durch
die Gerichte der Deutschen Demokratischen Republik vgl. z. B. Rottleuthner 2016, 254 f.
sowie näher Keldungs 2019, 90, 113, 173, 186, 202, 228, 247; Jasch & Kaiser 2017, 42, 153,
182.
744 Walter Perron
bauten und erst spät beseitigten Hindernisse immer wieder neue Anklagen erhoben
und Prozesse geführt werden, auch wenn die über 90 Jahre alten Täter wahrschein-
lich kein Gefängnis mehr von innen sehen werden.8
Die Unzulänglichkeiten der strafrechtlichen Aufarbeitung der Verbrechen der Na-
zizeit hatten zwei wesentliche Ursachen:9 Zum einen die grundlegende Entschei-
dung, die betreffenden Taten an den Maßstäben des allgemeinen deutschen Straf-
rechts zu messen. Wegen des damit geltenden Rückwirkungsverbots mussten die
Taten nach dem zur Tatzeit geltenden Recht strafbar sein, obwohl die Täter damals
faktisch sicher sein konnten, dass sie nicht verfolgt würden. Die Gerichte lösten die-
ses Problem dadurch, dass sog. „Führerbefehle“, d. h. Anweisungen Adolf Hitlers,
die insbesondere die Judenverfolgung betrafen, nicht als Rechtsnormen eingestuft
und daher als irrelevant angesehen wurden.10 Außerdem wurden die schlimmsten
förmlichen Gesetze gemäß der sogenannten Radbruchschen Formel als unwirksam
erachtet, soweit sie in unerträglichem Widerspruch zur Gerechtigkeit standen und die
Gleichheit aller Menschen bewusst verleugneten.11 Mit diesen Maßnahmen konnten
zwar die größten Strafbarkeitslücken vermieden werden, aber der historischen Wahr-
heit, dass das Rechtssystem im Nationalsozialismus völlig korrumpiert war, wurde
man damit nicht gerecht.12
Zum anderen wurden die allgemeinen Grundsätze des Strafrechts in einer extrem
täterfreundlichen Weise ausgelegt. Bahnbrechend war die zu einem anderen Sach-
verhalt im Jahr 1962 ergangene Entscheidung des Bundesgerichtshofs im Staschyn-
skij-Fall:13 Ein russischer Geheimagent hatte zwei russische Emigranten in München
auf Befehl seines vorgesetzten Offiziers ermordet, wobei Letzterer die Tatmodalitä-
ten (Ort, Zeit, Waffe etc.) genau festgelegt hatte. Der Bundesgerichtshof sah diesen
Offizier als mittelbaren Täter an, während der die Tat unmittelbar ausführende Ge-
heimagent lediglich als Gehilfe eingestuft und zu einer deutlich gemilderten Strafe
verurteilt wurde, weil er keinen „Täterwillen“ gehabt, sondern lediglich den Willen
seines Vorgesetzten in die Tat umgesetzt habe.14 Diese Haltung wurde in der Folge
immer wieder auch auf die Täter des Nationalsozialismus angewendet. Selbst KZ-
Wächter, die eigenhändig den Gashahn aufdrehten oder bei Massenerschießungen
Hunderte ermordeten, kamen als Gehilfen mit Strafen von knapp über drei Jahren
Gefängnis davon.15 Eine im Jahr 1968 wirksame Änderung des Strafgesetzbuches
hatte außerdem zur Folge, dass viele Fälle der Mordbeihilfe rückwirkend schon
8
Vgl. Keldungs 2019, 189 ff.; Rottleuthner 2016, 263.
9
Vgl. Werle 1992, 2533 ff.
10
OLG Frankfurt a. M., HESt 1, 67, 71; s. auch BGHSt 2, 234, 237; Papier & Möller 1999,
3290.
11
Etwa in BGHSt 2, 234, 237; s. auch Papier & Möller 1999, 3290 f.
12
Vgl. Werle 1992, 2534.
13
BGHSt 18, 87.
14
BGHSt 18, 87, 89 ff.
15
Vgl. Kuchenbauer 2009, 17 f.; Rottleuthner 2016, 259; Werle 1992, 2533.
746 Walter Perron
1960 verjährten und nicht mehr verfolgt werden durften.16 Schließlich verschonte der
Bundesgerichtshof die Richter des Nationalsozialismus nahezu vollständig: kein ein-
ziger Richter des sogenannten Volksgerichtshofs wurde für seine grob menschen-
rechtswidrigen Urteile strafrechtlich belangt.17 Erst spät haben andere Richter des
Bundesgerichtshofs diese Haltung bedauert und teilweise auch für die Zukunft kor-
rigiert.18
16
Vgl. Rottleuthner 2016, 259; Werle 1992, 2531.
17
Vgl. BGHSt 41, 317, 339 f.; Rottleuthner 2016, 258.
18
BGHSt 41, 317, 339 f.
19
Vgl. näher Marxen & Werle 1999, 7 ff.; Zimmermann, in: Eser & Arnold 2000, 17 ff.
20
Vgl. die Überblicke bei Kreicker et al., in: Eser & Arnold 2000, 49 ff.; Marxen & Werle
1999, 8 ff.
Transitional Justice in Deutschland – die Mauerschützen vor Gericht 747
dem Westen an Verwandte oder Freunde in der DDR geschickt worden waren, zu ent-
nehmen. In den Haftanstalten der DDR wurden Strafgefangene immer wieder grob
misshandelt. Die großen sportlichen Erfolge der DDR, insbesondere bei Olympi-
schen Spielen, wurden durch systematisches Doping erreicht, ohne dass den Sport-
lern oder ihren Eltern mitgeteilt wurde, welche Präparate sie einnahmen und mit wel-
chen gesundheitlichen Risiken und Nebenwirkungen dies verbunden war. Schließ-
lich war die Führungselite der DDR durchaus korrupt und beging in nicht geringem
Ausmaß Amtsmissbrauch zur Steigerung des eigenen Lebensstandards.
Alle diese Missstände führten zu einer großen Unzufriedenheit der Bevölkerung.
Als dann massive wirtschaftliche Probleme hinzukamen und die Sowjetunion zer-
brach, die durch politischen und militärischen Druck wie auch finanzielle und wirt-
schaftliche Unterstützung das DDR-Regime installiert und am Leben gehalten hatte,
erzwang die Bevölkerung mit Demonstrationen und massenhaften Ausreiseversu-
chen die Öffnung der Grenzen und den Rücktritt der Machthaber.21 Es fanden
freie demokratische Wahlen statt und das neue ostdeutsche Parlament beschloss
mit Zweidrittelmehrheit, die DDR aufzulösen und der Bundesrepublik Deutschland
beizutreten. Die Einzelheiten wurden zwischen den beiden Staaten ausgehandelt und
in einem „Einigungsvertrag“ festgeschrieben.22 Konsequenz dieses Beitritts war,
dass mit einem Schlag das gesamte Rechtssystem der Bundesrepublik auch auf
die neuen, zuvor zur DDR gehörenden Territorien anzuwenden war. Sehr schnell
nach der Wiedervereinigung wurden deshalb Gerichte und Staatsanwaltschaften
nach dem bundesdeutschem System aufgebaut und zu einem weit überwiegenden
Anteil mit Personen besetzt, die ihre Ausbildung in Westdeutschland erhalten hatten.
Die eigenen Juristen der DDR waren demgegenüber schon deshalb in der Minder-
zahl, weil die DDR als sozialistischer Staat sehr viel weniger Juristen benötigte; au-
ßerdem wurden viele, die mit dem alten Regime zu stark verbunden waren, nicht in
das neue System übernommen. De facto waren es deshalb westdeutsche Gerichte, die
nach der Wiedervereinigung über die Taten der Repräsentanten der DDR zu urteilen
hatten.23
Was die strafrechtliche Aufarbeitung der sogenannten DDR-Regierungskrimina-
lität anging, so legte der Einigungsvertrag fest, dass eine Verurteilung nur möglich
21
Vgl. z. B. die Webseite „Chronik der Wende“ (https://www.chronikderwende.de/ [24. 09.
2019]) des Rundfunk Berlin-Brandenburg.
22
Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen
Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990 (BGBl. 1990 II
889).
23
Mein Vater war bis zu seiner Pensionierung im Februar 1992 Richter in Rheinland-Pfalz
gewesen. Kurz darauf wurde er für den Aufbau der Justiz in Thüringen reaktiviert und arbei-
tete noch fünf Jahre in Erfurt, die meiste Zeit als Vorsitzender einer Zivilkammer am Land-
gericht. In seiner Kammer waren vier weitere Richterinnen und Richter tätig: Ein erfahrener
Rechtsanwalt und zwei junge Assessorinnen aus Hessen sowie ein Richter, der seine Ausbil-
dung in der DDR erhalten hatte und in die bundesdeutsche Thüringer Justiz übernommen
wurde. Das Zahlenverhältnis von vier Westrichtern und einem Ostrichter dürfte typisch ge-
wesen sein.
748 Walter Perron
war, wenn es sich sowohl nach dem Recht der Bundesrepublik als auch nach dem
Recht der DDR um eine Straftat handelte.24 Damit sollte der Tatsache Rechnung ge-
tragen werden, dass die Soldaten, Polizisten, Richter und Staatsanwälte der DDR
deren damaliges Rechtssystem anwendeten und eine rückwirkende Ersetzung dieses
Rechts durch das Recht der Bundesrepublik mit dem Grundsatz „nullum crimen sine
lege“ nicht vereinbar wäre. Eine strafrechtliche Verfolgung der Funktionsträger der
DDR war damit nur zulässig, wenn diese mit ihren Taten auch gegen das DDR-Recht
verstoßen hatten.
24
Vgl. Art. 315 Abs. 1 S. 1 EGStGB.
25
Vgl. zu den Sachverhalten näher Rummler 2000, 7 ff.
26
So der Sachverhalt in der ersten, grundlegenden Entscheidung BGHSt 39, 1.
27
So der BGHSt 39, 353 zugrunde liegende Sachverhalt.
28
Vgl. BGHSt 40, 218, 219.
29
Nach § 112 DDR-StGB war jede vorsätzliche Tötung als Mord zu bestrafen, sofern nicht
besondere mildernde Umstände vorlagen.
30
Vgl. Rummler 2000, 477 ff.
Transitional Justice in Deutschland – die Mauerschützen vor Gericht 749
31
Eingehend Rummler 2000, 253 ff.
32
Vgl. Rummler 2000, 260.
33
Vgl. Rummler 2000, 254, 268 ff.
34
Vgl. Rummler 2000, 254.
35
Siehe auch BGHSt 39, 1, 20 f.
36
Vgl. BGHSt 39, 1, 3, 11 ff. sowie eingehend zum Grenzregime der DDR und zur Be-
fehlslage der Soldaten Rummler 2000, 68 ff., 161 ff.; siehe auch Kreicker, in: Eser & Arnold
2000, 63 ff.
37
Überblick bei Rummler 2000, 278 ff., 353 ff.
750 Walter Perron
Strafzumessung zu bestehen. So wurden alle Soldaten, die selbst die tödlichen Schüs-
se abgaben, im Unterschied zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen als un-
mittelbare Täter und nicht als Gehilfen angesehen.50 Ihre Vorgesetzten, die als Zwi-
schenglieder in der Befehlskette zwischen der politischen Spitze und den ausführen-
den Soldaten standen, wurden im Falle konkreter Einzelbefehle als Anstifter, bei le-
diglich allgemeinen „Vergatterungen“ dagegen als Gehilfen verurteilt.51 Die
Mitglieder der politischen Führung, insbesondere des Nationalen Verteidigungsrats,
wurden demgegenüber als mittelbare Täter eingestuft:52 Trotz der uneingeschränkten
Verantwortlichkeit der Grenzsoldaten hätten die Handlungen der Hintermänner „na-
hezu automatisch“ zur Tatbestandsverwirklichung geführt. Die Hintermänner hätten
die Organisationsstrukturen der DDR und die darauf beruhende unbedingte Bereit-
schaft der Grenzsoldaten, die Befehle auszuführen, benutzt und dadurch das Gesche-
hen weit mehr beherrscht als dies in vielen anderen anerkannten Fallgruppen der mit-
telbaren Täterschaft der Fall sei.53
Diese Einstufungen wirkten sich auch nachhaltig auf die Strafzumessung aus.
Ganz allgemein ließen die Gerichte hier zumeist große Milde walten. So wurde
bei Grenzsoldaten, die die tödlichen Schüsse abgaben, in aller Regel nur ein minder
schwerer Fall des Totschlags angenommen und eine Freiheitsstrafe von unter zwei
Jahren verhängt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.54 Den Ange-
klagten wurde zugutegehalten, dass es sich um eine historische Ausnahmesituation
gehandelt hatte, deren Wiederholung nicht zu befürchten sei, sowie dass sie in einem
Dienstverhältnis standen, auf Befehl handelten und im Falle der Weigerung erheb-
liche Repressalien zu befürchten hatten;55 sie seien in gewisser Weise ebenfalls
Opfer des Systems der DDR gewesen.56 Von den Vorgesetzten der mittleren
Ebene, die die Beschlüsse und Befehle der politischen Führung nach unten weiter-
gaben, wurden nur sehr wenige verurteilt, und alle nur zu Freiheitsstrafen unter zwei
Jahren, deren Vollstreckung ebenfalls zur Bewährung ausgesetzt wurde. Lediglich
die insgesamt 16 Mitglieder der politischen Führungsebene, die man noch zur Ver-
antwortung ziehen konnte, wurden mehrheitlich zu längeren Freiheitsstrafen zwi-
schen drei und siebeneinhalb Jahren verurteilt und mussten tatsächlich ins Gefängnis
gehen.57
50
Vgl. BGHSt 39, 1, 31 f.; zu den Konstellationen der Mittäterschaft bei gemeinsamem
Handeln mehrerer Soldaten vgl. Rummler 2000, 433 ff.
51
Vgl. Rummler 2000, 440 ff.
52
BGHSt 40, 218, 230 ff.; siehe auch BGHSt 45, 270.
53
BGHSt 40, 218, 236; BGHSt 45, 270, 296.
54
Vgl. Rummler 2000, 52.
55
Vgl. Rummler 2000, 489 ff. mit umfassenden Nachweisen zu den Entscheidungen der
Landgerichte in erster Instanz.
56
BGHSt 39, 1, 36; BGHSt 39, 168, 193.
57
Vgl. näher Rummler 2000, 52 ff.
Transitional Justice in Deutschland – die Mauerschützen vor Gericht 753
Insgesamt hat sich die bundesdeutsche Justiz im klaren Gegensatz zur Verfolgung
der NS-Verbrechen um eine zügige und umfassende strafrechtliche Aufarbeitung der
DDR-Regierungskriminalität bemüht. Im Ergebnis kam es freilich nur zu wenigen
Anklagen und noch viel weniger Verurteilungen: So wurden zwar knapp 75.000 Er-
mittlungsverfahren gegen Funktionsträger der DDR eingeleitet.58 Anklagen wurden
dagegen nur in 1.737 Fällen erhoben; in 753 Fällen kam es zu Verurteilungen, 336
Verfahren endeten mit Freisprüchen und der Rest wurde eingestellt.59
58
Vgl. Marxen, Werle & Schäfter 2007, 25.
59
Vgl. Marxen, Werle & Schäfter 2007, 39 ff.
60
Vgl. z. B. Marxen & Werle 1999, 252 ff.; Rossig & Rost, in: Eser & Arnold 2000, 521 ff.;
Rummler 2000, 527 ff.
61
Vgl. z. B. Kreicker & Ludwig, in: Eser & Arnold 2000, 537 ff.; Laufhütte 2001, 528;
Marxen & Werle 1999, 241 ff.; kritisch dagegen wegen der milden Strafen und der geringen
Zahl der Verurteilungen Schroeder 2000, 3022; Wassermann 2000, 404.
62
Vgl. Marxen 2012, 90 f.
754 Walter Perron
lichkeit als schon zur Tatzeit bestehendes Völkergewohnheitsrecht ansehen und hätte
möglicherweise eine Bestrafung der Funktionsträger der DDR darauf stützen kön-
nen.63 Das Völkerstrafrecht war damals aber noch nicht so weit entwickelt, dass
die Verhandlungspartner des Einigungsvertrages darauf ohne zusätzliche Präzisie-
rungen hätten zurückgreifen können. Heute sieht es dagegen anders aus. Insbeson-
dere beinhaltet das Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs eine gut ausge-
arbeitete Regelung, die zudem in Deutschland mit dem Völkerstrafgesetzbuch auch
in das nationale Recht transferiert wurde. Zumindest die schlimmsten Formen der
DDR-Regierungskriminalität würden sich danach als Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit einstufen lassen.64
Für die bundesdeutschen Gerichte hätte eine Anwendung des Völkerstrafrechts
freilich keine wesentliche Erleichterung bedeutet. Einige Probleme wären zwar weg-
gefallen, aber dafür hätten andere hohe Hürden überwunden werden müssen. Es wäre
zwar nicht notwendig gewesen, auf das zur Tatzeit geltende innerstaatliche Recht zu-
rückzugreifen. Das Recht der DDR konnte schon deshalb kein angemessener Beur-
teilungsmaßstab sein, weil der wesentliche Charakter von Systemunrecht gerade in
der formellen Legalisierung solcher Verbrechen durch die jeweiligen Machthaber
liegt. Bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit könnten sich die Täter auch nicht
darauf berufen, sie hätten nur Befehle ausgeführt.65 Schließlich wäre es mit dem völ-
kerstrafrechtlichen Instrument der Vorgesetztenverantwortlichkeit leichter gewesen,
die Befehlshaber und Mitglieder der politischen Führung für die Taten der Soldaten,
Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit etc. strafrechtlich haftbar zu ma-
chen.66
Auf der anderen Seite stellt der Tatbestand des Verbrechens gegen die Mensch-
lichkeit aber sehr hohe Anforderungen an eine Verurteilung.67 So muss es sich
nicht nur um besonders schwere Einzeltaten handeln, die in Art. 7 des Rom-Statuts
und § 7 VStGB enumerativ aufgelistet sind. Diese Taten müssen vielmehr darüber
hinaus einen objektiven Teil eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs
gegen die Zivilbevölkerung bilden, und der Täter muss dies subjektiv auch wissen.68
Im Fall der Mauerschützen und der zu Freiheitsstrafen verurteilten Ausreisewilligen
dürften diese Merkmale des sogenannten „Kontext-Elements“ zweifellos verwirk-
licht sein:69 Die politische Führung der DDR befürchtete – nicht ganz ohne
63
Die Richter Cabral Barreto sowie Pellonpää und Zupančič bezweifeln in ihren abwei-
chenden Meinungen zur Entscheidung EGMR v. 22. 03. 2001, 37201/97 (K.-H. W./Deutsch-
land) dies freilich. Eindeutig bejahend dagegen Werle 2001, 3005.
64
Siehe auch Werle 2001, 3005.
65
Vgl. Art. 33 Abs. 2 des Statuts des IStGH.
66
Vgl. Art. 28 des Statuts des IStGH.
67
Vgl. die Kommentierung zu Art. 7 IStGH-Statut bei Triffterer & Ambos 2016, 144 ff.;
Ambos 2018, 261 ff.; Werle & Jeßberger 2016, 419 ff.; siehe auch Barthe 2012, 249 ff.
68
Vgl. Triffterer & Ambos 2016, 165 ff.; Ambos 2018, 267 ff.; Werle & Jeßberger 2016,
427 ff.; siehe auch BGH NJW 2019, 2627, 2633; NJW 2019, 1818, 1825 f.
69
Vgl. Werle 2001, 3005.
Transitional Justice in Deutschland – die Mauerschützen vor Gericht 755
Grund – ein Ausbluten ihres Staates durch Abwanderung und verfolgte deshalb sys-
tematisch, planvoll und mit dem politischen Ziel der Bestandserhaltung fast alle, die
die DDR verlassen wollten. Ausgehend von einer extrem restriktiven Verwaltungs-
praxis bei der Erteilung von Ausreiseerlaubnissen über die strafrechtliche Verfol-
gung und Verurteilung von Personen, die ihren Willen zum Verlassen der DDR öf-
fentlich kundtaten, bis hin zu den Todesschüssen an der Grenze sollten die Bürger mit
allen Mitteln von einer Auswanderung insbesondere in die Bundesrepublik Deutsch-
land abgehalten werden. Dieser systematische Angriff richtete sich auch gegen einen
konkreten Teil der Zivilbevölkerung, der durch den Willen, den Staat zu verlassen
und dies in die Tat umzusetzen, hinreichend abgrenzbar und zahlenmäßig groß
genug war, um den Anforderungen des Völkerstrafrechts zu genügen.70 Soweit es da-
gegen um Personen ging, die sich innerhalb der DDR auflehnten, um Veränderungen
zu erreichen, und deshalb auf vielfältige Weise schikaniert, teilweise auch länger ein-
gesperrt und körperlich misshandelt wurden, dürfte der Nachweis eines systemati-
schen, planvoll organisierten Angriffs schwerer fallen, auch wenn ein solcher Angriff
ebenfalls naheliegt.
Darüber hinaus erfassen die einschlägigen Straftatbestände nicht jeden Beitrag zu
einem solchen systematischen Angriff, sondern nur besonders schwere Einzeltaten.
An erster Stelle steht insoweit „Mord“, der nicht wie im deutschen StGB eine qua-
lifizierte Form der Tötung voraussetzt, sondern im Wesentlichen dem deutschen Tot-
schlagstatbestand entspricht.71 Dementsprechend begnügt sich das deutsche VStGB
mit der bedingt vorsätzlichen Tötung eines Menschen, während der Internationale
Strafgerichtshof wegen des insoweit abweichenden Wortlauts des Rom-Statuts
einen direkten Tötungsvorsatz verlangt.72 Würde man dem Internationalen Strafge-
richtshof folgen, dann könnten die jungen Soldaten, die die Todesschüsse an der
deutsch-deutschen Grenze abgegeben hatten, zumeist nicht wegen eines Verbrechens
gegen die Menschlichkeit belangt werden, weil sie den Tod der Flüchtenden regel-
mäßig zwar in Kauf nahmen, zumeist aber nicht als sicher und notwendig ansahen.73
Ihre höheren Vorgesetzten und die militärischen und politischen Führungspersonen
der DDR wären dagegen auch nach Ansicht des Internationalen Strafgerichtshofs
strafbar: Aus deren distanzierter Perspektive war nämlich sicher, dass zumindest
in einigen Fällen Flüchtende getötet würden.
Die Verurteilung von Regimegegnern und Ausreisewilligen zu längeren Freiheits-
strafen kann grundsätzlich ebenfalls ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar-
70
Vgl. Hall & Ambos, in: Triffterer & Ambos 2016, 172 ff.; Werle & Jeßberger 2016,
427 ff.; siehe auch Gierhake 2019, 1781.
71
Vgl. Hall & Stahn, in: Triffterer & Ambos 2016, 178 ff.; Werle & Jeßberger 2016, 446 f.
72
Vgl. Werle 2018, § 7 VStGB Rn. 47.
73
In diese Richtung wohl auch die Richter Cabral Barreto sowie Pellonpää und Zupančič
in ihren abweichenden Meinungen zur Entscheidung EGMR v. 22. 03. 2001, 37201/97
(K.-H. W./Deutschland).
756 Walter Perron
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Transitional Justice in Deutschland – die Mauerschützen vor Gericht 759
1. Einleitung
Mit Hans-Jörg Albrecht verbindet mich vor allem die „Frühzeit“ seiner wissen-
schaftlichen Karriere, als wir gemeinsam am Max-Planck-Institut für ausländisches
und internationales Strafrecht in Freiburg – sozusagen Tür an Tür – unsere Disser-
tationen erstellten, die wir am selben Tag Anfang 1979 mit dem Rigorosum beende-
ten. Nach der Habilitation haben sich unsere Wege getrennt, er kehrte letztlich zurück
nach Freiburg, die Distanz zu Greifswald hätte räumlich nicht größer sein können.
Dennoch verbanden und verbinden uns immer wieder gleiche Forschungsfragen,
von denen ich eine für seine Festschrift aufgreifen möchte: Die elektronische Über-
wachung (EÜ) von Straftätern. Auch wenn unsere Sichtweisen kriminalpolitisch
nicht immer kongruent waren,1 so möchte ich als Gemeinsamkeit das Bemühen
um eine kritische Reflexion und eine Orientierung an einem maßvollen Strafrecht
hervorheben, wie sie beispielhaft bereits in unserem Beitrag in der Monatsschrift
für Kriminologie 1981 über die „Empirische Begründbarkeit von Kriminalpolitik“
zum Ausdruck kam (Albrecht, Dünkel & Spieß 1981).
Die Frage, wie Straftäter erfolgreich ohne Freiheitsentzug wiedereingegliedert,
kontrolliert und überwacht werden können, beschäftigt die Strafrechtswissenschaf-
ten mindestens seit Ende des 19. Jahrhunderts als die Suche nach Alternativen zur
damals eindeutig dominierenden Freiheitsstrafe (FS) in der kriminalpolitischen De-
batte einen ersten Höhepunkt erreichte. Franz von Liszt beeinflusste diese Debatte
wesentlich, indem er vor allem die kurze Freiheitsstrafe für schädlich erachtete
und Alternativen wie die Geldstrafe jedenfalls für die Gruppe der sog. Gelegenheits-
täter auszubauen empfahl (von Liszt 1905, 171, 173). In der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts wurden die Geldstrafe und die Strafaussetzung zur Bewährung
bzw. Bewährungsstrafen i.S. der englischen probation als Antwort auf die sich ver-
schärfende Krise des mit zunehmender Überbelegung konfrontierten Strafvollzugs
1
Gerade zum vorliegenden Thema ist meine kriminalpolitische Sicht zum Potenzial der
EÜ deutlich zurückhaltender vgl. Dünkel, Thiele & Treig 2017; Dünkel 2017; 2018 und
nachfolgend, während Albrecht sich dazu eher positiv geäußert hatte, vgl. Albrecht 2002;
2003; 2005; eher zurückhaltend wird das Potenzial der EÜ auch in der von Albrecht betreuten
Dissertation von Meuer 2019 eingeschätzt.
762 Frieder Dünkel
gefunden. Die Suche nach einer effektiveren Kontrolle von Straftätern im Rahmen
ambulanter Sanktionen war die Begleitmusik der punitiven Wende („punitive
turn“) der 1980er und 1990er Jahre, die von Garland 2008 als „Kultur der Kontrolle“
treffend charakterisiert wurde. Die jüngste Weiterentwicklung in dieser Richtung
wurde durch die Entwicklung von neuen Formen der Überwachungstechnik ermög-
licht, zunächst durch radiofrequenzgestützte Technik (RF) telefonischer Kontrollan-
rufe im Rahmen des elektronisch überwachten Hausarrests, in jüngerer Zeit aber
überwiegend durch GPS-gestützte Systeme, die den Aufenthalt des Probanden ermit-
teln und zugleich die Etablierung von Ge- und Verbotszonen des Aufenthalts ermög-
lichen (Elektronische Aufenthaltsüberwachung, EAÜ, vgl. Haverkamp 2014). Die
EÜ bzw. EAÜ darf man sicherlich als eines der dynamischsten Entwicklungsfelder
des strafrechtlichen Sanktionensystems ansehen mit aktuell weitreichender Aus-
strahlungswirkung in den Bereich des Polizeirechts, etwa wenn es um die Überwa-
chung von Gefährdern bzw. potenziellen Terroristen u. ä. geht (vgl. hierzu den „Aus-
blick“ von Meuer 2019, 169 ff.). Die Entwicklung fordert eine kritische Betrachtung
nicht nur unter der Perspektive der „Modern Penality“ bzw. der Einflussnahme pri-
vaten Unternehmertums auf das Sanktionenrecht (Page 2013; Feely 2016), sondern
auch mit Blick auf die kriminologische Evidenz zur Frage der Effizienz in spezial-
und generalpräventiver Sicht (vgl. die vielfältigen Meta-Analysen zum Thema „what
works?“) sowie in strafrechtsdogmatischer bzw. menschenrechtlicher Sicht zur
Frage der Beachtung der traditionellen Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und
nicht zuletzt der Menschenwürde. Der nachfolgende Beitrag stützt sich u. a. auf Er-
kenntnisse eines EU-geförderten Projekts (Hucklesby et al. 2016, das die Länder Bel-
gien, England/Wales, Deutschland, die Niederlande und Schottland betraf) und ein
umfassenderes Anschlussprojekt unter Einschluss von 12 weiteren Ländern, das sich
aktuellen kriminalpolitischen Entwicklungen und verfassungsrechtlichen Fragen der
EÜ widmete (Dünkel, Thiele & Treig 2017).
2
Vgl. Nellis 2014; speziell zu den Entwicklungen in den USA vgl. Lilly & Nellis
2013, 21 ff.
Elektronische Überwachung in Europa 763
und sind, jedoch den wohl zutreffenden Eindruck vermitteln, dass die EÜ zumindest
in Form von Pilotprojekten in der überwiegenden Zahl der Europaratsmitgliedsstaa-
ten eingeführt wurde (vgl. zuletzt Aebi & Hashimoto 2018, 18 f.).
Betrachtet man die Zahlen der pro Stichtag unter EÜ stehenden Personen oder die
Fallzahlen pro Jahr, so werden die Probleme der Europaratsstatistiken evident, denn
in SPACE II wurden für 2018 nur bzgl. 24 von 35 Ländern, die EÜ als strafrechtliche
Sanktion oder zur U-Haftvermeidung einsetzen, Daten mitgeteilt.3 Renzema &
Mayo-Wilson berichteten für das Jahr 2003 eine überschlägig berechnete Zahl von
100.000 elektronisch überwachten Straftätern in den USA und etwa 9.000 im gesam-
ten Europa, davon 77 % allein im Vereinigten Königreich.4 Seither gab es einen ge-
radezu atemberaubenden weiteren Anstieg in Europa, wie die Zahlen in einigen der
hier betrachteten Länder zeigen. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass sich in jüngs-
ter Zeit der „Boom“ gelegt hat und mit dem allgemeinen Rückgang der registrierten
Kriminalität und der Verurteilten- sowie (teilweise auch) Gefangenenraten in etli-
chen Ländern auch die EÜ-Zahlen sinken (z. B. England & Wales, Schweden).
Den im Ausmaß erstaunlichen Zuwachs des Gebrauchs von EÜ in Europa kann
man im Zusammenhang mit den kommerziellen Interessen der privaten Betreiberfir-
men sehen, die über eine starke Lobby verfügen und schon in den 1980er Jahren in
den USA durch fast schon aggressive Werbekampagnen ihre Technik „verkauften“
(vgl. Gable 2015; Feely 2016). Insoweit ist eine neue Qualität des strafrechtlichen
Umgangs mit Tätern entstanden (vergleichbar der Privatisierungstendenzen im Straf-
vollzug in den USA), die die Grundlagen des Staatsverständnisses und des staatli-
chen Gewaltmonopols tangiert und gefährden kann. Traditionell bestimmt der
Staat die Strafzwecke und wie Strafen vollstreckt werden sollen. In einigen Berei-
chen sind nunmehr private Unternehmer „ins Spiel“ gekommen, z. B. im Jugendhil-
fe- und Jugendstrafrecht. Allerdings sind diese „Mitspieler“ zumindest in den kon-
tinentaleuropäischen Staaten, insbesondere Deutschland, nicht auf Gewinnerzielung
angelegte („non-profit“) Organisationen (häufig im Wesentlichen durch die Kommu-
nen finanziert oder bezuschusst). Mit dem Eintritt von profit-orientierten Unterneh-
men bei der Privatisierung von Gefängnissen ebenso wie bei der EÜ ändert sich die
Struktur und darauf basierend die Kriminalpolitik entscheidend, denn der private
Sektor tritt jetzt mit ganz anderen Methoden der Kommerzialisierung und der Ver-
3
Zugleich werden Unzulänglichkeiten bzgl. der berichteten Zahlen offensichtlich, wenn
etwa zum 31. 12. 2014 für England & Wales 271 angegeben werden, während der Landesbe-
richt in unserer Studie eine Zahl von knapp 14.000 Fällen ausweist, vgl. Hucklesby &
Holdsworth 2017, 184. Die enorme Diskrepanz könnte dadurch zustande gekommen sein, dass
in SPACE II nur die EÜ-Fälle im Rahmen der Unterstellung unter Bewährungsaufsicht ge-
meldet werden, während die in England & Wales hauptsächlich angewendete Form die EÜ als
eigenständige („stand-alone“), nur von den privaten Betreiberfirmen begleitete Sanktion ist.
4
Vgl. Renzema & Mayo-Wilson 2005, 215. Der elektronisch überwachte Hausarrest wurde
in den USA 1983 eingeführt, vgl. Weigend 1989, 299; vgl. zu den Anfängen auch Gable 2015,
6, der detailliert die ökonomischen Zusammenhänge beschreibt und u. a. auf das Marketing für
GPS-Systeme seit 1998 verweist; zu den Lobby-Interessen der privaten Betreiberfirmen vgl.
insbesondere auch Feely 2016.
764 Frieder Dünkel
marktung mit dem Ziel der Expansion der von ihm angebotenen Sanktionen und
Maßnahmen auf.5 Rationale Kriminalpolitik und insbesondere eine reduktionistische
Strategie der Vorrangstellung weniger eingriffsintensiver Sanktionen wird dadurch
erschwert. Wie auch die Länderstudien in Dünkel, Thiele & Treig 2017 zeigen,
gehen die privaten Betreiber ganz gezielt auf Regierungen zu und setzen sie mit Ver-
tragsgestaltungen unter Druck, die ihnen eine bestimmte Abnahme von Geräten ga-
rantiert (siehe etwa das Beispiel Litauen).6 Eine ähnliche Zurückhaltung und niedrige
Akzeptanz bei der Justiz kann man in Griechenland erkennen.7
Obwohl sich die EÜ in einigen Ländern sehr dynamisch entwickelt hat (insbeson-
dere in England & Wales, Norwegen, Frankreich, Schottland und Belgien), muss man
doch die insgesamt marginale Rolle, die die verschiedenen Formen der EÜ im Ge-
samtsystem der strafrechtlichen Sozialkontrolle spielen, hervorheben.
Die SPACE II-Statistik des Europarats weist seit 2013 den Anteil von Personen
mit EÜ an der Gesamtzahl ambulanter Sanktionen Verbüßender aus, die von Bewäh-
rungshilfeorganisationen betreut werden. Im Durchschnitt waren es im Jahr 2013
3 % (Median: 1,0 %) mit den Spitzenwerten von 4,4 % in Belgien, 5,4 % in Frank-
reich und 7,8 % in Norwegen (vgl. Aebi & Chopin 2014, 17 f.). Der Survey für 2016
wies einen Median von 1,2 % mit den Spitzenwerten von 3,3 % in Belgien, 5,6 % in
Frankreich und 12,9 % in Norwegen aus (Aebi & Chopin 2018, 18 f.).
Die SPACE II-Statistik für Ende Januar 2018 ergibt einen Anteil von im Median
1,2 % an den von der Bewährungshilfe betreuten Personen mit EÜ, wobei für Frank-
reich (6,1 %) und Norwegen (13,3 %) erneut ein leichter Anstieg, in einigen anderen
Ländern (z. B. Belgien) aber auch rückläufige bzw. stagnierende Zahlen erkennbar
werden. In Deutschland mit 0,04 % spielt die EÜ ebenso wie in den in Abbildung 1
ausgewiesenen Ländern in Ost- und Südeuropa praktisch keine Rolle.8
5
Diese Kritik ist nicht neu, sondern wurde schon in der Anfangsphase der Einführung von
EÜ von Kritikern hervorgehoben, vgl. insbesondere Lindenberg 1997; Albrecht 2005, 7 f. war
bei seinem internationalen Überblick zur EÜ zurückhaltender und sah direkt auf die Sankti-
onspraxis Einfluss nehmende kommerzielle Interessen nur in England & Wales und den USA
als gegeben und keinesfalls als vorherrschend. Die Beispiele bei Dünkel, Thiele & Treig 2017
zeigen allerdings, dass kommerzielle Interessen in vielen Ländern klar erkennbar sind,
wenngleich ohne gravierenden Einfluss auf die Sanktionspraxis, insbesondere was die Redu-
zierung der Gefangenenraten anbelangt, vgl. dazu unten 4.
6
Vgl. Sakalauskas 2017, 397 ff.. Die Regierung mietete im Beispielsfall eine bestimmte
Anzahl von Geräten an und bezahlte viel Geld als Fixpreis, egal wie häufig – oder besser
selten – die Richter die EÜ-Maßnahme anordneten. Demgemäß war die EÜ in den ersten
Jahren teurer als der Strafvollzug und die Regierung musste bei den Praktikern für eine häu-
figere Anordnung zur Verbesserung der Kosten-Nutzen-Bilanz werben (was aus menschen-
rechtlicher Sicht inakzeptabel ist, weil Grundsätze der Verhältnismäßigkeit außen vor blei-
ben).
7
Vgl. Pitsela 2017, 376 ff.
8
Die Tabelle 2.1 in SPACE-II für 2018 gibt für Serbien einen Anteil von 25,1 % elektro-
nisch überwachter Bewährungshilfeprobanden an, vgl. Aebi & Hashimoto 2018, 18 (429 von
1.707); da die absoluten Zahlen von Bewährungshilfeprobanden bei absolut mehr als 10.000
Elektronische Überwachung in Europa 765
Quelle: Aebi, M.F. & Hashimoto, Y. Z. (2018): SPACE II – Council of Europe Annual Penal Statistics: SPACE II,
survey 2018. Strasbourg, Council of Europe, Tabelle 3, S. 18 – 19 (ohne Serbien mit einem ausgewiesenem Anteil
von 25,1 %.
Ein vergleichbares Bild ergibt sich bei Betrachtung der unter elektronischer Über-
wachung stehenden Probanden der Bewährungshilfe pro 100.000 der Wohnbevölke-
rung (Abbildung 2). Belgien, Frankreich und Schottland kommen hier auf beachtli-
che Raten. Setzt man sie in Vergleich zu den Gefangenenraten (ebenfalls pro 100.000
der Wohnbevölkerung, in Belgien: 88; Frankreich: 104; Schottland: 143), so wird
deutlich, dass das Verhältnis von Gefangenen zu EÜ-Probanden im günstigsten
Fall bei 6,5 : 1 (F), 6,8 : 1 (BE) bzw. 8,7 : 1 (SCO) liegt, in allen anderen Ländern
macht die EÜ nur einen Bruchteil von z. B. knapp 30 : 1 (Schweden) oder 24 : 1
(Österreich) aus, was die allenfalls Nischenfunktion der EÜ im Gesamtsystem der
strafrechtlichen Sozialkontrolle verdeutlicht.
Gefangenen so extrem niedrig erscheinen, wurde der Wert als fragwürdig eingestuft und nicht
in Abbildung 1 aufgenommen.
766 Frieder Dünkel
Quelle: Eigene Berechnungen anhand von Aebi, M.F. & Hashimoto, Y. Z. (2018): SPACE II – Council of Europe
Annual Penal Statistics: SPACE II, survey 2018. Strasbourg, Council of Europe, Tabelle 2, S. 16 f.
Neuerdings werden in der auf den Strafvollzug bezogenen Statistik SPACE-I des
Europarats die Zahlen und Anteile von Gefangenen erfasst, bei denen die Gefängnis-
strafe (teilweise) unter elektronischer Überwachung vollstreckt wird (z. B. in Verbin-
dung mit Hausarrest). In diesen Fällen stellt die EÜ eine vollstreckungsrechtliche
Modifikation der Freiheitsstrafe dar, sie ist statistisch gesehen keine Alternative
zur FS, da die Überwachten weiterhin als Gefangene gezählt werden. Funktional
stellt sie allerdings eine Alternative dar, die insofern bzgl. eines Net-widening we-
niger problematisch ist, als sie tatsächlich Freiheitsentzug ersetzt. Einschränkend
ist allerdings auch hier zu hinterfragen, ob nicht auch weniger eingriffsintensive For-
men der Kontrolle und Aufsicht z. B. im Rahmen einer vorzeitigen Entlassung in
Frage gekommen wären. Ein Net-widening ist damit nicht gänzlich auszuschließen.
Aus Tabelle 1 ist zu entnehmen, dass die Vollstreckung unbedingter Freiheitsstrafen
unter EÜ in Österreich, Polen und vor allem Frankreich9 beachtliche Anteile aus-
macht, im Übrigen quantitativ jedoch bedeutungslos bleibt.
9
Die Zahlen für Frankreich haben für die Berechnung von Überbelegungsquoten folgen-
reiche Konsequenzen. Aebi & Tiago 2018, 65 berechnen bei 59.548 Haftplätzen eine Bele-
gungsquote von 116,3 % und damit die zweithöchste Überbelegungsquote im europäischen
Vergleich. Zieht man jedoch von den absoluten Gefangenenzahlen von 69.596 die 10.241
unter elektronischer Überwachung ab, so kommt man auf eine tatsächliche Belegung von
59.355, die nominell knapp unter der Belegungsfähigkeit des Strafvollzugs liegt.
Elektronische Überwachung in Europa 767
Tabelle 1
Anteil von Gefangenen unter elektronischer Überwachung
im europäischen Vergleich, 2018
Land Gefangene insgesamt Davon: unter elektronischer Anteil
(31. 01. 2018) Überwachung in %
Deutschland 64.193 0 0,0 %
Griechenland 10.036 6 0,06 %
Georgien 9.407 10 0,1 %
Zypern 643 1 0,2 %
Russland 602.176 6.753 1,1 %
Niederlande 9.315 245 2,6 %
Spanien
59.129 1.927 3,3 %
(insg.)
Österreich 8.960 363 4,1 %
Polen 73.822 4.709 6,4 %
Frankreich 69.596 10.241 14,7 %
Quelle: Eigene Berechnungen anhand von Aebi & Tiago 2018, Tabelle 2.1, 24 f.
ter bis zu 6 Monaten erfasst. In Dänemark waren Trunkenheitsfahrer mit FS von bis
zu 3 Jahren die Zielgruppe bei der Einführung 2005, später erfolgte eine Ausweitung
auf maximal 5 Monate FS, in Norwegen werden bis zu 4 Monate FS durch EÜ ersetzt,
in Finnland kommt die Front-door-Variante nur in Betracht, wenn die vorrangige Al-
ternative der Gemeinnützigen Arbeit als aussichtslos erscheint. Im Übrigen wird in
Finnland hauptsächlich die Back-door-Variante im Rahmen einer bis zu 6-monatigen
Vorverlegung des Entlassungszeitraums vor der regulären bedingten Entlassung nach
zwei Drittel oder der Hälfte der Strafe verfolgt. Schweden (bis 6 Monate), Dänemark
und Norwegen (bis 4 Monate) haben diese Variante ebenfalls eingeführt (vgl. Lappi-
Seppälä 2019). In Österreich kommt die Back-door-Variante bei Strafresten bis zu
einem Jahr in Betracht.
Die Ausweitung der EÜ im „Feld des Strafrechts“ („penal field“)11 hat viel mit der
Entwicklung von technischen Überwachungsmöglichkeiten in der Gesellschaft all-
gemein zu tun. In Zeiten der sich ausweitenden Videoüberwachung, freiwilligen
Selbstüberwachung (z. T. aus medizinischen Gründen) und der Offenlegung des Pri-
vaten im Internet verlieren die EÜ und die Privatisierung der strafrechtlichen Sozi-
alkontrolle gewissermaßen ihren Schrecken (Nellis 2017, 280). Der Datenschutz
wird nicht mehr in dem Maße als ein schützenswertes Grundrecht erlebt, wenn Men-
schen freiwillig intimste Dinge ins Netz stellen. All das kann auch die Einstellung zur
EÜ als mehr oder wenig eingriffsintensive Maßnahme verändern, wenngleich EÜ in
dem Zwangskontext der Führungsaufsicht – wie die Studie von Bräuchle zeigt – als
durchaus sehr eindrücklich und belastend erlebt wird.12
Die Gründe für die Einführung und Ausweitung der EÜ waren in den meisten Län-
dern der hohe Belegungsdruck (Überbelegung) im Strafvollzug der 1980er, bis an-
fangs der 2000er Jahre. Deshalb war das dominierende Motiv die Reduzierung der
Gefangenenraten. Allerdings blieb auch das Resozialisierungsziel von Bedeutung,
11
Vgl. zur spezifischen Begrifflichkeit Page 2013, 152 ff., der unter Bezugnahme auf
Konzepte von Bourdieu das „Feld“ und Variationen des kriminalpolitischen Outputs im
Kontext der Akteure, ihrer kulturell geprägten Handlungsroutinen, ihrer Sozialisation und
ihres „Habitus“ im Zusammenspiel mit verschiedenen Interessensgruppen analysiert (vgl.
hierzu auch Nellis 2017, 283). Bei an sich ähnlichen ökonomischen Strukturen mag dieser
Ansatz dazu beitragen, die Sonderrolle Deutschlands zu erklären, indem ein grundlegendes
Misstrauen der (im guten Sinn) konservativen Justiz eine breite Anwendung von EÜ bislang
im Gegensatz zu einigen Nachbarländern ausschließt. Gleiches kann man auch in den süd-
europäischen Ländern erkennen. Möglicherweise war der Siegeszug der EÜ in England &
Wales gerade deshalb möglich, weil es der Regierung politisch gelang die gegenüber der EÜ
negativ eingestellten Bewährungshilfeorganisationen weitgehend auszuschalten bzw. zu neu-
tralisieren. Ähnlich ist die Entwicklung in Belgien einzuschätzen, wo die EÜ in weitem
Umfang als „Stand-alone“-Sanktion ohne begleitende Maßnahmen der Bewährungshilfe aus-
gebaut wurde. Dass gleiche Tendenzen in Baden-Württemberg nicht funktioniert haben (siehe
hierzu Dünkel, Thiele & Treig 2017, 13 sowie Schwedler & Wössner 2015 m.jew.w.N.), hängt
mit einem in Deutschland wichtigen und möglicherweise entscheidenden Faktor (oder
„Spieler“ im „penal field“) zusammen: Der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung, die Pri-
vatisierungstendenzen enge (im Allgemeinen nahezu unüberwindbare) Grenzen setzt.
12
Vgl. Bräuchle 2017, 139 ff., 147 ff., 149; ausführlich auch Bräuchle 2016, 143 ff.
Elektronische Überwachung in Europa 769
weil man glaubte, dass die EÜ mehr zur Wiedereingliederung beitragen kann als der
herkömmliche Strafvollzug (s. dazu unten 5.). Zugleich wurde insbesondere in den
skandinavischen Ländern, Österreich und den Niederlanden die wesentliche Bedeu-
tung der Bewährungshilfe und anderer sozialer Unterstützungssysteme hervorgeho-
ben und die EÜ als (zusätzliches) Mittel gesehen, die Resozialisierungsmaßnahmen
i.S. der sozialen Integration zu unterstützen, sei es im Rahmen der unmittelbaren
Strafaussetzung zur Bewährung oder im Zusammenhang mit den Entlassungsvorbe-
reitungsmaßnahmen sowie der Nachbetreuung (z. B. bei der bedingten Entlassung
oder Führungsaufsicht).
Im Gegensatz dazu haben England & Wales und (für den Bereich kurzer Freiheits-
strafen bis zu einem Jahr) auch Belgien die EÜ als alleinstehende Sanktion ohne so-
zialarbeiterische Begleitung eingeführt. In diesen Fällen stellt die EÜ eine Art Frei-
heitsbeschränkungsstrafe dar, die keinerlei resozialisierungsorientierte Hilfeangebo-
te beinhaltet.
Die neue Technologie der GPS-basierten Überwachung ermöglichte es zum
Schutz von (potenziellen) Opfern Inklusions- und Exklusionszonen einzurichten,
mit denen eine Annäherung des Täters an das Opfer (z. B. in Fällen häuslicher Gewalt
oder eines Sexualdelikts) unterbunden werden kann. EÜ mit dieser Zielsetzung wird
in einigen wenigen Ländern und nur in wenigen Einzelfällen, z. B. in England &
Wales, Deutschland, den Niederlanden und Spanien, praktiziert.
Ein im Vergleich zu den o.g., eher auf Täter mit geringen Risiken orientierten EÜ-
Maßnahmen divergierender kriminalpolitischer Ansatz wird in Deutschland, Frank-
reich, den Niederlanden oder der Schweiz mit der Einbeziehung auch besonders „ge-
fährlich“ erscheinender Täter erkennbar, die u. U. auch über den Zeitraum der Ver-
büßung einer Freiheitsstrafe hinaus überwacht werden können, wenn von ihnen kon-
krete Risiken im Hinblick auf die Begehung schwerster Taten gegen Leib und Leben
ausgehen. Sie sollten nach Vollverbüßung ihrer Freiheitsstrafe eigentlich freie Men-
schen sein, jedoch akzeptiert die Gesellschaft in diesen wenigen Einzelfällen nicht,
dass sie gänzlich ohne Überwachung entlassen werden. In den genannten Ländern
sind daher der deutschen Führungsaufsicht bzw. der Bewährungsaufsicht vergleich-
bare Überwachungssanktionen geschaffen worden. Auch hier gilt allerdings, dass die
EÜ ultima ratio der Überwachung in Ergänzung zu sozialarbeiterischen Hilfeange-
boten der Bewährungs- bzw. Führungsaufsichtshilfe sein soll.13 In Deutschland stand
die Einführung der GPS-basierten Überwachung im Jahr 2011 im Zusammenhang
mit der vom EGMR aufgrund eines Urteils von 2009 aus Rechtsgründen (Verstoß
gegen Art. 5 EMRK) angeordneten Freilassung von nach wie vor als „gefährlich“
eingestuften Gefangenen aus der Sicherungsverwahrung.14 In Frankreich lag der
Fokus mehr auf terroristischen Tätern und ihrem sozialen Umfeld, eine Frage die
13
Beispielhaft wird dies daran deutlich, dass in Deutschland 2015 bei ca. 37.000 Füh-
rungsaufsichtsfällen (die alle eine Negativprognose aufweisen) nur knapp 75 unter elektroni-
scher Überwachung standen, Reckling 2016, 113 ff.; Dünkel, Thiele & Treig 2017a, 485.
14
Vgl. zu den Details und Hintergründen Dünkel, Thiele & Treig 2017, 20.
770 Frieder Dünkel
spiel könnten die Niederlande sein. Der „dramatische“ Rückgang der Gefangenen-
rate von 128 pro 100.000 der Wohnbevölkerung im Jahr 2006 auf 85 im Jahr 2012 und
schließlich 53 im Jahr 2018 (vgl. Dünkel 2018a) fand im Wesentlichen statt, bevor die
EÜ zu einer quantitativ bedeutsamen Maßnahme wurde (vgl. zur Entwicklungen von
Gefangenenraten im europäischen Vergleich Dünkel 2017a; 2018a m.w.N.). Der An-
stieg von elektronisch überwachten Straftätern mit einer durchschnittlichen Überwa-
chungsdauer von 4 Monaten könnte in gewissem Umfang den weiteren Rückgang der
Gefangenenraten nach 2012 befördert haben, doch zeigen die Feinanalysen, dass der
Großteil des Rückgangs mit den gesunkenen Zahlen registrierter (schwerer) Delin-
quenz einerseits und der Ausweitung alternativer Sanktionsformen, insbesondere der
Strafaussetzung zur Bewährung, jenseits der EÜ-Programme zu tun hatte (vgl. Dün-
kel 2017a).
Deutschland hat nur ca. 70 Straftäter unter GPS-basierter EÜ (als zusätzliches
Kontrollelement im Rahmen der Führungsaufsicht für Straftäter, die eine längere
Freiheitsstrafe voll verbüßt haben oder aus dem Maßregelvollzug trotz weiterhin be-
stehender Gefährlichkeit entlassen werden mussten) und weitere 80 Straftäter unter
RF-basierter EÜ in einem der 16 Bundesländer (Hessen), das als einziges diese Form
der EÜ praktiziert. Die Frage, ob EÜ einen Beitrag zur Reduzierung der Gefangen-
raten leistet oder geleistet hat, stellt sich schon von den quantitativen Verhältnissen
(bei ca. 64.000 Gefangenen) in Deutschland nicht. Wie in den Niederlanden auch ist
die Strafvollzugsbelegung in Deutschland seit Mitte der 2000er Jahre vor allem
wegen des Rückgangs schwerer registrierter Kriminalität gesunken (Dünkel 2018a).
In unserem europäischen Vergleich fanden wir Indikatoren für einen positiven
Einfluss von EÜ auf die Gefängnispopulation nur in den Ländern, die rechtliche „Si-
cherungen“ eingeführt haben, die bewirken, dass die EÜ tatsächlich nur ansonsten zu
vollstreckende Freiheitsstrafen ersetzt, beispielsweise indem die EÜ nur als Vollstre-
ckungsersatz bei bereits verhängten unbedingten Freiheitsstrafen angeordnet werden
kann. Eine solche Strategie kann insbesondere gelingen, wenn die Bewährungshil-
feorganisationen eingebunden werden, die exzessivem Gebrauch und Net-wide-
ning-Strukturen entgegenwirken können. Entsprechende rechtliche Absicherungen
funktionieren z. B. in England & Wales nicht oder kaum, weil die Bewährungshilfe-
organisationen weitgehend aus den Strukturen, in denen die EÜ praktiziert wird, her-
ausgenommen wurden. Die privaten Betreiberfirmen stellen nicht nur die Technik
bereit, sondern sind auch für die Überwachung zuständig (die allerdings keine sozi-
alarbeiterischen Hilfestellungen beinhaltet).
Gute Beispiele für die Vermeidung eines schlichten Net-widening sind Finnland,
Österreich und in gewissem Umfang (im Vorfeld der Strafrestaussetzung zur Bewäh-
rung) die Niederlande (s. o.).
In Österreich wird die EÜ bei Gefangenen angewandt, die die letzte Phase (ma-
ximal 1 Jahr) ihrer Freiheitsstrafe zu Hause in Form des Hausarrests verbüßen kön-
nen. Voraussetzung ist, dass der Gefangene über eine Arbeit und Wohnung verfügt,
Gewalt- und Sexualtäter sind ausgenommen, d. h. die EÜ ist auf gut sozial integrierte
772 Frieder Dünkel
Täter mit günstiger Prognose fokussiert. Das Problem ist nicht so sehr ein mögliches
Net-widening, da die EÜ tatsächlich nur in Fällen zur Anwendung gelangt, die sich
im Strafvollzug befinden oder bei denen Strafvollzug unausweichlich erscheint. Al-
lerdings bleibt die Frage unbeantwortet, ob diese Fälle günstiger Prognose nicht auch
ohne EÜ im Rahmen der normalen (oder ggf. intensivierten) Bewährungshilfe aus-
reichend überwacht werden könnten.
In Finnland ist die EÜ als gerichtliche Sanktion vorgesehen, aber mit der doppel-
ten „Absicherung“ gegen ein Net-widening, indem sowohl die vorrangige Geldstrafe
wie auch der Ersatz durch Gemeinnützige Arbeit als ungeeignet erscheinen müssen,
d. h. die EÜ ist die absolute ultima ratio vor einem ansonsten unausweichlichen Frei-
heitsentzug. Auch im Rahmen der vorzeitigen Entlassung aus dem Strafvollzug folgt
der finnische Gesetzgeber einem tatsächlich haftersetzenden (d. h. die Vollzugspopu-
lation reduzierenden) Ansatz, indem den Gefangenen die Gelegenheit gegeben wird
bis zu 6 Monate vor der „regulären“ bedingten Entlassung (die in Finnland quasi-au-
tomatisch erfolgt) die Strafe (i.V.m. EÜ) zu Hause zu verbüßen. Aus diesem Grund
werden in diesen Fällen tatsächlich Haftplatzkapazitäten eingespart (Lappi-Seppälä
& Lähteenmäki 2017). Allerdings gibt es auch in Finnland problematische Entwick-
lungen, die man als Net-widening-Strategien ansehen kann. Seit einigen Jahren tra-
gen Gefangene im offenen Vollzug elektronische Überwachungsgeräte, z. B. wenn
sie sich außerhalb des Anstaltsareals zu Freizeitaktivitäten aufhalten. Dies soll die
Vollzugsbediensteten von lästigen Kontrollmaßnahmen entlasten und die Feststel-
lung ermöglichen, wo sich die entsprechenden Insassen gerade aufhalten. Hierbei
handelt es sich ohne Zweifel um eine zusätzliche und intensivierte (und in vielen Fäl-
len vermutlich unnötige) Maßnahme sozialer Kontrolle.
Auch in Schweden hat der Gesetzgeber betont, dass die EÜ lediglich unbedingte
Freiheitsstrafen und nicht andere Alternativen zur Freiheitsstrafe ersetzen soll. Inso-
fern könnte man annehmen, dass der in den letzten Jahren beobachtbare Rückgang
der Gefangenenrate in Schweden17 etwas mit der Ausweitung der EÜ zu tun hat. In
der Tat weist Lappi-Seppälä (2019) sowohl für Schweden wie auch für Norwegen
nach, dass mit der Ausweitung der EÜ zeitgleich die Strafvollzugsbelegung zurück-
ging. Allerdings ist der Beitrag der EÜ begrenzt, da durch die EÜ nur kurze Freiheits-
strafen von bis zu 6 Monaten erfasst werden.18 Zugleich zeigt Lappi-Seppälä 2019 für
17
Von 78 im Jahr 2010 auf einen historischen Tiefstand von 53 pro 100.000 im Jahr 2016
(= -32 %), vgl. Dünkel 2017a; 2018a.
18
50 % der EM-Sanktionen 2013 – 2015 ersetzten Freiheitsstrafen von bis zu einem Monat,
weitere 30 % von bis zu 3 Monate und nur 20 % FS von 3 – 6 Monaten, vgl. Yngborn 2017,
428. In den Anfangsjahren nach der Einführung der EÜ wurden infolge der Einführung der EÜ
Gefängnisse geschlossen und es gab Probleme, die Strafvollzugsbediensteten weiter zu be-
schäftigen. Die Zahlen von Personen unter EÜ sind in den letzten 10 Jahren u. a. deshalb
rückläufig, weil Schweden auf die Ausweitung der weniger eingriffsintensiven Alternative der
Gemeinnützigen Arbeit baut. Gegenwärtig wird gleichwohl auch über einen Ausbau der EÜ
diskutiert, um dem sich abzeichnenden Belegungsdruck entgegenzuwirken und den Neubau
von Haftplätzen zu vermeiden, vgl. https://www.svt.se/nyheter/inrikes/fler-borde-kunna-avt-
Elektronische Überwachung in Europa 773
jana-straff-med-fotboja. Ich danke Rita Haverkamp für den Hinweis auf diese bemerkens-
werte Entwicklung in Schweden, vgl. im Übrigen auch Lappi-Seppälä 2019.
19
Vgl. i.E. Yngborn 2017, 429 ff.; Lappi-Seppälä 2019.
20
Vgl. hierzu zusammenfassend mit Blick vor allem auf das Jugendstrafrecht Horsfield
2015, 40 ff.
774 Frieder Dünkel
22
Dies ist eine klassische Frage der Generalpräventionsforschung („deterrence“), auf die
hier aus Raumgründen nicht näher eingegangen werden kann, vgl. dazu im Kontext der EÜ
Dünkel 2018, 70 ff. m.w.N.
23
Vgl. Bales et al. 2010, XI, die im Rahmen des qualitativen Teils ihrer Untersuchung
negative Effekte der Stigmatisierung in verschiedenen Bereichen (etwa Arbeitsplatzsuche)
feststellen konnten; ebenfalls Nellis 2015, 26 und Meuer 2019, 121 ff.
24
Vgl. Renzema & Mayo-Wilson 2005, 231; Renzema 2013, 258 ff., 260 f.; zusammen-
fassend Meuer 2019, 21 ff.
Elektronische Überwachung in Europa 777
nisse sind nicht immer eindeutig interpretierbar.25 Immerhin zeichnen sich anhand
der nachfolgend zusammengefassten Studien einige Erkenntnisfortschritte, zugleich
aber auch wiederkehrende Probleme ab.
Kanadische Forschung zeigte, dass im Vergleich von elektronisch überwachten
Probanden mit EÜ gegenüber Bewährungsprobanden unter „normaler“ Bewährungs-
aufsicht ohne EÜ keine geringere Rückfälligkeit der elektronisch Überwachten er-
kennbar war (vgl. Wallace-Capretta & Roberts 2013, 51). Wallace-Capretta & Ro-
berts 2013, 51 stellten weiterhin fest: „Ein signifikanter Anteil der Straftäter mit
elektronischer Überwachung waren Straftäter mit niedrigen Risikoskalenwerten,
die möglicherweise ebenso erfolgreich“ im Rahmen der herkömmlichen Bewäh-
rungshilfemaßnahmen hätten betreut werden können, was natürlich die Frage
eines Net-widening aufwirft.
Das Ergebnis, dass ein Rückfall während der Zeit elektronischer Überwachung
die Ausnahme bleibt, geht mit den Ergebnissen der oben aufgeführten Generalprä-
ventionsforschung konform, wonach die wahrgenommene erhöhte Entdeckungs-
wahrscheinlichkeit einen gewissen individuellen Abschreckungseffekt (zugleich
auch i.S.d. negativen Spezialprävention) bewirkt. Allerdings stellt Renzema in sei-
nem aktuellen Evaluationsbericht fest: „EÜ ist heutzutage eine schlichte und billige
Bestrafungsform geworden, die mit Resozialisierung nichts zu tun hat. Dementspre-
chend versuchen die meisten Anwender der EÜ bei ihrem Ansatz abzuschrecken
sowie einigermaßen human und kostengünstig zu strafen, schon gar nicht, der EÜ
irgendeinen resozialisierenden Effekt als Zielvorstellung beizugeben“ (Renzema
2013, 266).
Meta-Analysen zur Evaluation der EÜ zeigen i. d. R. keine überlegenen Effekte
der EÜ im Hinblick auf die Rückfallvermeidung im Vergleich zu den traditionellen
ambulanten Sanktionen,26 dafür aber eine Fülle von Problemen der EÜ-Probanden in
anderen Bereichen des Alltagslebens wie Stress in der Familie, das Empfinden der
Überwachung als schwere (psychische) Belastung, mögliche Stigmatisierungen in
der Gemeinde, bei der Freizeit (z. B. beim Sport). Dies entspricht den deutschen For-
schungsergebnissen zur Klientel der Führungsaufsichtsprobanden mit EÜ (alle
Hochrisikotäter), die das Tragen der elektronischen Fußfessel als große Belastung
empfanden (vgl. Bräuchle 2017, 147 f.).
Ein eher positiv evaluiertes Projekt betrifft die schwedische Studie von Marklund
& Holmberg 2009. Allerdings muss man die positiven Ergebnisse bezogen auf EÜ-
Probanden im Kontext des schwedischen Resozialisierungsmodells sehen, da die EÜ
25
Insofern hat sich an dem Befund von Albrecht 2002, 103, dass „gravierende For-
schungslücken, die sich zunächst auf der methodischen Seite bemerkbar machen und sich
sodann insbesondere auf die Frage des Net-widening beziehen …“, nicht viel geändert.
26
So auch schon Albrecht 2002, 96 f., 103 f. Leider fehlt es in Deutschland, abgesehen von
der insoweit schon von der Fallzahl her nicht aussagekräftigen Evaluationsstudie bzgl. der
Modellphase (vgl. Mayer 2004) nach wie vor an einer umfassenden Auswertung des hessi-
schen Projekts, vgl. hierzu auch Dünkel, Thiele & Treig 2017 sowie Rehbein 2017.
778 Frieder Dünkel
27
Vgl. Marklund & Holmberg 2009; Renzema 2013, 259; Wennerberg 2013, 121 ff.
Elektronische Überwachung in Europa 779
28
Vgl. Renzema & Mayo-Wilson 2005; Renzema 2013, 258 m.jew.w.N.; ähnlich Henne-
guelle, Monnery & Kensey 2016, 649 (stärkere „Effekte“ bei Probanden mit früherer Inhaf-
tierung); soweit handelt es sich in allen Studien um kombinierte Maßnahmen therapeutischer
bzw. sozialarbeiterischer Interventionen i.V.m. EÜ; auch insoweit sind die Ergebnisse aller-
dings nicht einheitlich: In der schwedischen Studie von Marklund & Holmberg 2009 waren die
Rückfallraten der Low- und Medium-risk-Täter nach einem Risikozeitraum von drei Jahren
signifikant niedriger, während bei den High-risk-Tätern keine signifikanten Unterschiede zur
Vollzugsgruppe auftraten.
29
Vgl. Council of Europe 2014, Rec. (2014) 4, Commentary to Rule 8, unter Verweis auf
Wennerberg 2013, s. o.
780 Frieder Dünkel
30
Vgl. dazu Dünkel 2018, 63 ff. mit Hinweis auf Nr. 57 der Probation Rules (Rec. [2010]
1), wonach elektronische Überwachung als Teil der (Bewährungs-)Aufsicht mit anderen In-
terventionen und Hilfeangeboten i.S. des Resozialisierungsgrundsatzes kombiniert werden
soll, um die soziale Integration und einen Ausstieg aus der kriminellen Karriere („desistance“)
zu fördern.“ In Rule 8 der Empfehlungen zum Electronic Monitoring (Rec. [(2014] 4) wird zur
Möglichkeit, EÜ als alleinstehende Überwachungsmaßnahme einzusetzen, betont, dass:
„Elektronische Überwachung … zwar auch als alleinstehende Maßnahme der Aufsicht und
Kontrolle genutzt werden“ kann, „um während der Zeit der Überwachung Straftaten zu ver-
hindern. Um aber längerfristige rückfallreduzierende Wirkungen zu erzielen, sollte EÜ mit
anderen professionellen Interventionen und Unterstützungsmaßnahmen verbunden werden,
die die soziale Integration von Straftätern fördern.“ Im Kommentar zu den Empfehlungen wird
ausführlich auf die möglichen Wirkungen im Hinblick auf den Abbruch von kriminellen
Karrieren Bezug genommen, vgl. Dünkel, Thiele & Treig 2017a, 506 f.
Elektronische Überwachung in Europa 781
31
Das hat schon Albrecht 2002, 103 f. angemahnt. Forschungslücken bestehen in
Deutschland und international weiterhin mit Blick auf das unter Verhältnismäßigkeitsge-
sichtspunkten vertretbare Anwendungspotenzial; zur Wirkung von EÜ zur Rückfallvermin-
derung wurden mit der Dissertation von Meuer 2019 nunmehr bedeutsame Erkenntnisse vor-
gelegt, vgl. i.E. oben 5.
32
Auch in den am EU-finanzierten Ausgangsprojekt beteiligten Ländern spielten abgese-
hen von Deutschland derartige Überlegungen keine Rolle, vgl. dazu den zusammenfassenden
Beitrag von Hucklesby et al. 2017, 247 ff.
782 Frieder Dünkel
33
In diesem Sinn bereits Albrecht 2003, 258 ff., der mit Blick auf Front-door-Varianten den
„intermediären“ Charakter des elektronisch überwachten Hausarrests zwischen herkömmli-
chen Bewährungsstrafen oder Gemeinnütziger Arbeit und der unbedingten Freiheitsstrafe
hervorhebt.
34
Bei trotz Tagessatzsystem mit einkommensabhängigen Tagessatzhöhen und Ratenzah-
lungsmöglichkeiten nicht bezahlten Geldstrafen, die in der Ersatzfreiheitsstrafe enden (vgl.
§ 43 StGB), könnte man einen Anwendungsbereich sehen. Gerade dort werden aber in den
meisten Bundesländern mit Projekten der Gemeinnützigen Arbeit ebenfalls erfolgreiche
Haftvermeidungsmodelle praktiziert, sodass für die EÜ nur die Fälle verbleiben, die sowohl
die Geldstrafe nicht bezahlen, als auch bei der Ersatzsanktion der Gemeinnützigen Arbeit
scheitern. Diese Klientel bringt allerdings angesichts der desolaten Lebenslagen, instabilen
Lebenssituation und persönlichkeitsbezogenen Auffälligkeiten die Voraussetzungen für die
Anordnung der EÜ i. d. R. nicht mit (zum Ganzen Dünkel & Scheel 2006, 167 ff. m.w.N.). Das
baden-württembergische Modellprojekt, das diese Klientel als eine von drei Zielgruppen an-
visierte, scheiterte u. a. deshalb und wurde dementsprechend beendet, vgl. Schwedler & Wö-
ssner 2015).
35
Berechnet nach Strafverfolgungsstatistik 2017, 160; vgl. zur langfristigen Entwicklung
Heinz 2017, 217 ff., 223 ff., der zu Recht darauf verweist, dass die Strafrechtsreform von 1969
Elektronische Überwachung in Europa 783
diesem Zusammenhang Initiativen ergreifen sollte, wird man über weitere Möglich-
keiten der Ersetzung kurzfristiger Freiheitsstrafen durch die Einführung der Gemein-
nützigen Arbeit als originäre Sanktion oder Ersatzsanktion nachdenken müssen, was
der deutsche Gesetzgeber bislang nachhaltig versäumt hat. Zudem handelt es sich bei
den zu einer unbedingten kurzen Freiheitsstrafe Verurteilten um eine großenteils er-
heblich problembelastete Personengruppe, die für die EÜ i. d. R. ungeeignet er-
scheint.
Gleiche Vorbehalte sind Überlegungen entgegenzuhalten, bei kurzen widerrufe-
nen Strafaussetzungen oder Strafrestaussetzungen die EÜ zur Widerrufsvermeidung
einzusetzen. Auch hier dürfte das Potenzial – auch wenn man von einer Widerrufs-
quote von ca. 30 % bei den Freiheitsstrafen mit Unterstellung unter Bewährungshilfe
ausgeht36 – angesichts des weitreichenden und u. U. ausbaufähigen Instrumentariums
des § 56 f StGB37 auf Einzelfälle beschränkt bleiben.
Von daher gibt es im Bereich der Front-door-Varianten im deutschen Sanktionen-
system keinen sinnvollen (substantiellen) Anwendungsbereich. Eine Einführung der
EÜ hätte entweder zur Folge, dass sie weitgehend unverhältnismäßig eingesetzt
würde, indem weniger eingriffsintensive Sanktionen nicht hinreichend genutzt wer-
den, oder sie bliebe auf wenige Einzelfälle beschränkt, was mit erheblichen Kosten
verbunden wäre.
Ebenfalls zur Front-door-Variante bzgl. Freiheitsentzugsvermeidung gehört die
Anwendung der EÜ zur Untersuchungshaftvermeidung. Ein sinnvoller Anwen-
dungsbereich ist schon rechtsdogmatisch nicht erkennbar (so auch Harders
2014, 119, 263 f.): Soweit „Fluchtgefahr“ vorliegt, kommt die EÜ grundsätzlich
nicht in Betracht, weil sie die Flucht nicht wirklich verhindern kann. Ist keine Flucht-
gefahr gegeben, kommt die Untersuchungshaft nicht in Betracht. Es bleibt allenfalls
die dogmatisch problematische Grauzone einer gewissen Fluchtgefahr, die durch die
EÜ beseitigt werden kann.
Es gibt weiterhin empirische Anhaltspunkte dafür, dass die EÜ nur dann im Hin-
blick auf die Rückfallvermeidung vielversprechend ist, wenn die elektronische Über-
wachung in ein sozialarbeiterisches/sozialpädagogisches Gesamtkonzept der Be-
währungs- und Straffälligenhilfe unter dem Primat des Resozialisierungsgrundsatzes
integriert ist, wie dies beispielhaft in Schweden, Österreich und den Niederlanden
praktiziert wird (vgl. oben 5.). EÜ als eine alleinstehende Maßnahme für Täter
mit geringem Rückfallrisiko, wie sie nach der Sanktionspolitik und -praxis in Eng-
land und (teilweise Belgien) vorgesehen ist, ist deshalb entschieden abzulehnen.
mit der nur noch ausnahmsweise zu verhängenden kurzen Freiheitsstrafe unter 6 Monaten
einen nachhaltigen Erfolg mit Blick auf den Bedeutungszuwachs der Geldstrafe hatte, dass die
kurze Freiheitsstrafe aber andererseits nach wie vor eine bedeutende Rolle spielt.
36
Vgl. zuletzt Bewährungshilfestatistik 2011, 17 ff.
37
Insbesondere die Erteilung anderer Auflagen und Weisungen oder die Verlängerung der
Bewährungszeit, vgl. § 56 f Abs. 2 StGB.
784 Frieder Dünkel
Es gibt eine andere Gruppe von Straftätern, bei denen die EÜ auch unter verfas-
sungsrechtlichen bzw. menschenrechtlichen Aspekten gerechtfertigt werden kann,
ohne dass es um die Ersetzung von Freiheitsentzug im eigentlichen Sinn geht, da
hier überragende Gesichtspunkte des Opferschutzes eine tragende Rolle spielen.38
Gemeint ist die Führungsaufsicht gem. § 68b Abs. 1 Nr. 12 StGB. Erneut ist
Deutschland ein gutes Beispiel für einen im Wesentlichen angemessenen und zu-
rückhaltenden Gebrauch dieser besonders eingriffsintensiven (GPS-gestützten)
Maßnahme. Entwickelt wurde sie im Anschluss an die Rechtsprechung des
EGMR, die 2009 dazu führte, dass etliche als besonders gefährlich geltende Insassen
aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden mussten (s. o. 2.). Demgemäß han-
delt es sich um Tätergruppen, die entweder die Freiheitsstrafe voll verbüßt haben
oder aus dem Maßregelvollzug aus verfassungsrechtlichen Gründen zu Entlassen-
de,39 die jeweils als besonders gefährlich im Hinblick auf die konkrete Gefahr der
Begehung von schweren Gewalt- oder Sexualdelikten anzusehen sind. Die Führungs-
aufsicht oder ähnliche Sanktionen für gefährliche Täter, die ihre Strafe voll verbüßt
haben, gibt es auch in Frankreich und den Niederlanden. Der Rechtsstaat muss aller-
dings gewährleisten, dass in relativ kurzen Abständen eine Prüfung vorgenommen
wird, ob die weitere elektronische Überwachung jenseits der „normalen“ Bewäh-
rungsaufsicht geboten ist. Zeitlich unbefristete EÜ-Maßnahmen, wie sie in Deutsch-
land theoretisch möglich sind, sind verfassungsrechtlich nicht vertretbar.
Perspektiven für Deutschland könnte man allein in der Variante einer Vorverle-
gung der bedingten Entlassung vor der regulären Entlassung nach der Hälfte oder
zwei Dritteln der Strafe sehen. Insofern sind die Erfahrungen in Finnland und Öster-
reich u. U. richtungsweisend. Allerdings ist auch hier stets zu prüfen, ob eine solche
vorverlegte Entlassung „auf Probe“ nicht auch im Rahmen der herkömmlichen Be-
gleitung durch die Bewährungshilfe leistbar wäre (zumal es sich ja um Fälle mit eher
günstiger Prognose handelt), sodass sich die EÜ ggf. als zusätzliche Beschwer und
damit unverhältnismäßige Maßnahme darstellen könnte, wofür es Hinweise in Öster-
reich gibt (s. o.).
Alles in allem wird deutlich, dass bei einem richtigen verfassungsrechtlichen Ver-
ständnis die EÜ über ein „Nischendasein“ nicht hinausgelangen kann und wird. Ge-
rade in medial aufgeregten Zeiten und überzogenen (weil nicht einlösbaren) Sicher-
heitsversprechen wird die Politik gut daran tun, eine Kriminalpolitik mit Augenmaß
38
So hält Kaiser die gegenwärtige Regelung des § 68b Abs. 1 Nr. 12 StGB in der engen
Begrenzung auf Gewalt- und Sexualtäter, von „denen eine besonders hohe Gefahr ausgeht“
mit dem GG und der EMRK vereinbar ist, eine Ausweitung auf andere Tätergruppen aber
nicht, „da sie zu einer Unverhältnismäßigkeit der Grundrechtseingriffe führen würde“, vgl.
Kaiser 2015, 237 f.
39
Normalerweise werden aus dem Maßregelvollzug (psychiatrisches Krankenhaus oder
Sicherungsverwahrung, §§ 63, 66 StGB) nur Insassen entlassen, deren Rückfallrisiko mit
Blick auf weitere Straftaten niedrig ist (vgl. § 67d Abs. 2 StGB, § 454 Abs. 2 StPO), jedoch
kann u. U. aus Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten die Weitervollstreckung nicht mehr ver-
fassungsgemäß sein, vgl. z. B. BVerfGE 70, 297, 312 f.
Elektronische Überwachung in Europa 785
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40
So schon Schüler-Springorum 1991, 281: „Eine Politik des Zweimaldenkens würde nie
agieren, ohne erst zu reflektieren, würde die nächstliegende Reaktion immer erst einmal in
Frage stellen, bevor sie zu ihr oder einer anderen greift, würde Kritik internalisieren und nicht
bloß absorbieren. … Eine solche Kriminalpolitik würde die Folgen ihres Handelns voraus-
denken …“ Diese Aussagen von Schüler-Springorum sind heute aktueller denn je, und zu-
gleich gibt es wenig Hoffnung, dass sich die Kriminalpolitik aus dem medial aufgeheizten
Verstärkerkreislauf des „more of the same“ lösen könnte.
786 Frieder Dünkel
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Elektronische Überwachung in Europa 789
1
In der schweizerischen Terminologie entspricht die „bedingte“ Strafe (Art. 42 StGB) der
Strafaussetzung zur Bewährung.
792 Martin Killias
sogar von rund 3.000 auf über 5.000 zugenommen. Unter diesem Gesichtspunkt war
die Reform tatsächlich ein Misserfolg (Simmler 2016)2.
Die hohe Popularität des „Bedingten“ hat sich besonders während der Beratung
der Vorlage im Parlament gezeigt. Entgegen den Entwürfen von Schultz, der Exper-
tenkommission und des Bundesrates beschlossen die Parlamentarier, dass auch Geld-
strafen bedingt ausgesprochen werden können, wovon die Gerichte heute in etwa im
gleichen Umfang wie früher bei den Freiheitsstrafen Gebrauch machen. Der Durch-
schnittsverurteilte verlässt das Gericht heutzutage auch bei relativ schweren Verbre-
chen mit einer bedingten Geld- oder Freiheitsstrafe (Killias 2018)3. Nachdem dies
vom Parlament so beschlossen war, „entdeckten“ Praktiker, dass bei der Schnittstelle
von Übertretungen zu Vergehen mit schweren Inkonsistenzen zu rechnen wäre.
Übertretungen werden nämlich gemäß Art. 103 StGB ausschließlich mit Bußen
(im Sinne von Art. 106 StGB) bestraft. Diese können nicht bedingt aufgeschoben
werden4, sind also innert einer gewissen Frist zu begleichen, wobei das Gericht im
Urteil direkt festlegt, in wie viele Tage Freiheitsentzug die Buße bei Nichtbezahlung
umzuwandeln ist. Wer beispielsweise mit einer Alkoholintoxikation von mehr als 0,5
(aber weniger als 0,8) Promille am Steuer erwischt wird, begeht eine Übertretung
(Art. 103 StGB) und wird somit mit einer Buße bis zu 10.000 Franken bestraft.
Auch wenn bei deren Bemessung das Gericht gemäß Art. 106 Abs. 3 StGB die finan-
ziellen Umstände des Verurteilten zu berücksichtigen hat, geschieht dies recht sum-
marisch und trifft dementsprechend Betroffene unter Umständen relativ hart. Ent-
schließt sich jemand, der um diese Abstufungen weiß, den spätabendlichen Trinkan-
lass mit einer weiteren Runde zu beenden, um auf über 0.8 Promille zu kommen, wird
er vom Gericht eines Vergehens (Art. 91 Abs. 2 lit. a SVG5) schuldig gesprochen –
mit der Folge, dass er mit einer normalerweise bedingten Geldstrafe davonkommen
wird, die er in aller Regel nie zu bezahlen haben wird.
2
Die Hauptursachen waren die Verlängerung der durchschnittlichen Aufenthaltsdauer,
dies wegen der Popularität stationärer therapeutischer Maßnahmen, die überwiegend in Ge-
fängnissen vollzogen werden, sowie die Verschiebung der Strafskala nach oben als Folge der
höheren Limiten für den bedingten Strafvollzug (von 18 auf 24 bzw. 36 Monate) – letzteres hat
Kuhn (1993) präzise vorausgesagt.
3
Anhand von Daten des European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics
(Aebi et al. 2010, Tab. 3.2.3.6, 3.2.3.7 und 3.2.3.10) konnte Killias (2018) zeigen, dass bei
Delikten wie (schwerer) Körperverletzung, Vergewaltigung und Raub von 100 Verurteilten in
der Schweiz weitaus weniger ins Gefängnis wandern als in fast allen anderen 21 Ländern mit
verfügbaren Daten, nämlich maximal 4 von 10. Diese Daten bezogen sich auf das Jahr 2006,
neuere sind leider nicht erhältlich. Es darf vermutet werden, dass die 2007 in Kraft getretene
Strafrechtsreform die Extremposition der Schweiz (als das Land, „wo man nicht ins Gefängnis
kommt“) noch akzentuiert hat.
4
Das Gesetz sieht ausdrücklich vor, dass die Bestimmungen über die bedingte Strafe auf
Übertretungen nicht anwendbar sind (Art. 105 Abs. 1 StGB).
5
Straßenverkehrsgesetz, in Verbindung mit der Verordnung der Bundesversammlung über
Alkoholgrenzwerte im Straßenverkehr.
Geld- statt Freiheitsstrafen: Die Mittelschicht kommt nicht ins Gefängnis 793
gend Verurteilte ohne festen Wohnsitz in der Schweiz, was insofern einleuchtet, als
Vollstreckungsmaßnahmen gegenüber Personen im Ausland weitaus weniger Er-
folgsaussichten haben. Von den verbleibenden Fällen werden 50 % bezahlt – vom
Verurteilten oder häufiger von ihm nahestehenden Personen. In weniger als 10 %
kommt es schließlich zu einer vollzogenen Ersatzfreiheitsstrafe, was belegt, dass
sich die mit diesen Geschäften befassten Stellen intensiv bemühen, andere Lösungen
zu finden.
Unter den nicht-bezahlten finanziellen Sanktionen machen die Bußen mit 90 bis
95 % den Löwenanteil aus. Dies erscheint verständlich, weil Bußen – wie oben er-
läutert – immer unbedingt ausgesprochen und die Modalitäten der Umwandlung
schon im Urteil festgelegt sind (Art. 106 Abs. 2 StGB). Geldstrafen werden demge-
genüber nur selten unbedingt verhängt und können, wenn sie nicht bezahlt werden,
nur auf richterliche Anordnung hin – also in einem neuen Verfahren – in Ersatzfrei-
heitsstrafen umgewandelt werden (Art. 36 Abs. 1 StGB). Dazu werden Bußen rou-
tinemäßig – wie erläutert – auch in Fällen von Vergehen oder Verbrechen neben einer
anderen (bedingten) Strafe ausgesprochen. Dies führt dazu, dass Bußen insgesamt
weit häufiger vorkommen als unbedingte Geldstrafen.
Wie steht es nun mit den ausstehenden Beträgen? Auch hier zeigt sich bei den
Bußen eine sehr große Bandbreite, die tiefste betrug gerade mal 19, die höchste
5.000 Franken. In 75 % der Fälle betrug die Buße maximal 350 Franken, in 25 %
sogar nur 100 Franken oder weniger. Dabei werden tiefere Bußenbeträge eher begli-
chen, wenn auch allenfalls „last minute“ und von Dritten, während die in Ersatzfrei-
heitsstrafe umgewandelten und vollzogenen Bußen im Durchschnitt deutlich höher
waren. Bei den Geldstrafen zeigt sich dasselbe Bild, wenn auch die Beträge deutlich
höher sind. Die höchste Geldstrafe betrug 27.000, die tiefste 30 Franken, wobei der
ausstehende Betrag in der Hälfte der Fälle über 1.800 Franken ausmachte.
Was die Art der Delikte anbelangt, zeigt sich, dass Strafen wegen Straßenver-
kehrsdelikten eher verjähren (wohl vor allem bei im Ausland wohnenden Verurteil-
ten) oder aber bezahlt werden. Bei den vollzogenen Ersatzfreiheitsstrafen dominie-
ren Verurteilungen wegen Schwarzfahrens in öffentlichen Verkehrsmitteln14, was
wohl mit dem sozialen Profil dieser Gruppe zusammenhängt. Umgekehrt dürften
Straßenverkehrsdelinquenten besser situiert sein, was an sich bereits durch den Be-
sitz eines Motorfahrzeugs nahegelegt wird. Tatsächlich bestätigen die beigezogenen
Steuerdaten diesen Befund.
Wie schon in verschiedenen früheren Untersuchungen, wurden unserem Team
auch für die vorliegende Untersuchung die Daten des Steueramtes zur Verfügung ge-
stellt15. Dabei zeigte sich, dass nur bei wenigen der verjährten Fälle bei den Steuer-
behörden Daten verfügbar waren – offensichtlich überwiegen auch nach dieser Quel-
14
Einer Übertretung, Art. 57 Abs. 3 Personenbeförderungsgesetz.
15
Die damit zusammenhängenden datenschutzrechtlichen Fragen konnten in einer ein-
wandfreien Weise (anonymisiert) gelöst werden. Wir verweisen dazu auf den Schlussbericht
(Biberstein & Killias 2019).
796 Martin Killias
le in dieser Gruppe Verurteilte ohne Wohnsitz in der Schweiz. Von den übrigen Ver-
urteilten hat nur die Hälfte eine Steuererklärung eingereicht. Offenbar handelt es sich
hier oft um Personen ohne regelmäßiges Einkommen – oder aber solche, die generell
im Umgang mit Amtsstellen Mühe bekunden, ihren Verpflichtungen nachzukom-
men. Soweit Angaben vorliegen, verfügen von der Umwandlung in Freiheitsentzug
Betroffene über deutlich weniger Einkünfte als diejenigen, die sich diesem Ausgang
in letzter Minute zu entziehen wussten.
Diese Informationen aus amtlichen Akten wurden ergänzt durch eine Befragung
der mit dem Inkasso direkt befassten Personen sowie einer Befragung aller infolge
der Umwandlung in den Strafvollzug eingewiesenen Verurteilten. Die Insassen-Be-
fragung war als Vollerhebung konzipiert. Zielgruppe waren alle 185 Betroffenen, von
denen sich 106 (oder 57 %) an der Befragung beteiligten. Die Ausschöpfungsrate war
somit angesichts der Umstände, die nicht unbedingt optimale Kooperation erwarten
ließen, erfreulich hoch.
Zu den Gründen, weshalb es zur Umwandlung einer finanziellen Sanktion über-
haupt gekommen ist, sagten gut 80 %, dass sie nicht über die nötigen Mittel verfügt
hätten, um den ausstehenden Betrag zu begleichen. Daneben sagten aber immerhin
9 %, dass sie nicht bezahlen wollten, und weitere 12 %, dass es ihnen leichter falle,
die Strafe im Freiheitsentzug zu verbüßen als zu bezahlen. Es zeichnet sich hier be-
reits ab, was vertiefte Analysen bestätigten. Einerseits sind Personen in prekären fi-
nanziellen Verhältnissen häufiger von Ersatzfreiheitsstrafen betroffen, was an sich
nicht erstaunt. Nicht weniger als 70 % sind auch nicht zum ersten Mal in einem Ge-
fängnis. Weniger bekannt sein dürfte, dass es sich zu einem großen Teil um Men-
schen ohne ein relevantes soziales Netzwerk handelt, das sie in solchen Lagen mo-
bilisieren könnten. Einsamkeit ist insofern ein erheblicher Risikofaktor. Viele Gefan-
gene äußern denn auch die Hoffnung, sie würden noch vor Ende ihrer Strafe auf ir-
gendeine Weise „ausgelöst“, wobei nicht beurteilt werden kann, wie realistisch
solche Hoffnungen tatsächlich sind.
Daneben gibt es aber auch eine kleinere Gruppe von Betroffenen, die sich mit sehr
hohen Beträgen konfrontiert sehen. Oft geschieht dies infolge des Widerrufs einer
bedingten Geldstrafe mit hohen Beträgen. In aller Regel lag der Anlass in erneuter
Straffälligkeit während der Probezeit. Was immer auch die Gründe gewesen sein
mögen, Verurteilte sehen sich unter solchen Umständen mit sehr hohen Forderungen
konfrontiert, die sie aus den laufenden Einkünften oder ihrem Vermögen kaum be-
zahlen können. Wenn nun noch, wie bei Bußen, der Freiheitsentzug zeitlich begrenzt
ausfällt, d. h. maximal drei Monate beträgt (Art. 106 Abs. 2 StGB), befinden sich sol-
che Personen nur selten in der Lage, die nötigen Beträge im verfügbaren Zeitraum
legal zu beschaffen. In solchen Fällen mag in der Tat die Entscheidung, die Strafe
lieber in Form einer Ersatzfreiheitsstrafe zu verbüßen, einer gewissen – zumindest
ökonomischen – Rationalität nicht entbehren.
Geld- statt Freiheitsstrafen: Die Mittelschicht kommt nicht ins Gefängnis 797
unrealistisch hohen Beträgen zuzuschreiben. Es wurde schon lange moniert, dass die
Festsetzung der Tagessätze viel zu wenig sorgfältig geschieht, dies nicht aus Nach-
lässigkeit der Gerichte, sondern weil der Gesetzgeber und die Exekutive den Gerich-
ten keinerlei Richtlinien in die Hand geben, wie schwierige Situationen (wie etwa
diejenigen von vermögenden aber einkommenslosen Verurteilten, oder von solchen
ohne bekannte bzw. regelmäßige Einkünfte) zu handhaben sind.18
18
Dazu Killias et al. 2017, Rz 1326 – 1328.
19
Vor der Strafrechtsreform von 2002/2007 wurde Gemeinnützige Arbeit sehr häufig und
überwiegend erfolgreich praktiziert, allerdings nicht als eigenständige Sanktion, sondern als
Vollzugsform kurzer unbedingter Freiheitsstrafen. Ab 2007 wurde sie eine Hauptstrafe und
konnte daher nur noch von Gerichten verhängt werden. In der Folge brachen (wie leicht
vorauszusehen war) die Zahlen völlig ein (Simmler 2016; Michlig 2011). Mit dem Gesetz über
Geld- statt Freiheitsstrafen: Die Mittelschicht kommt nicht ins Gefängnis 799
5. „Sinnlose“ Ersatzfreiheitsstrafen?
Schließlich stellt sich auch die Frage nach dem ökonomischen „Sinn“ der Ersatz-
freiheitsstrafe. Diese wurde auch in Deutschland unlängst massiv in Frage gestellt
(Lobitz & Wirth 2018, 16 ff.; Treig & Pruin 2018, 10 ff.; Wirth, Pfalzer & Gerlach
2018, 9). In der vorliegenden Untersuchung wurde daher mit Hilfe der Spezialisten
des Amts für Justizvollzug auch untersucht, wie sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis
konkret präsentiert. Bei einer solchen Rechnung stellt sich stets die Frage, inwieweit
indirekte Kosten (wie der Unterhalt von Gefängnissen, die Finanzierung von Verwal-
tungsabteilungen usw.) zu berücksichtigen sind. Werden die Einnahmen vor allem
aus bezahlten Bußen und Geldstrafen allen Kosten (einschließlich Personalaufwand,
Unterbringungskosten von Gefangenen usw.) gegenübergestellt, ergibt sich für den
Kanton Zürich ein Defizit von 28 Franken pro Tag vollzogener Ersatzfreiheitsstrafe.
Ohne die erwähnten indirekten bzw. Fixkosten resultiert dagegen ein Ertrag von
knapp unter 190 Franken pro Hafttag. Verglichen mit dem Strafvollzug im Allgemei-
nen erweist sich das System der Eintreibung von Geldstrafen und Bußen über die
(Drohung mit) Haft als sehr preisgünstig oder, je nach Berechnungsart, sogar ertrag-
reich20.
Nun darf aber nicht allein der buchhalterische Verlust oder Ertrag berücksichtigt
werden. Würde die Ersatzfreiheitsstrafe abgeschafft, wäre mit einer stark verringer-
ten Glaubwürdigkeit des ganzen Sanktionensystems zu rechnen. Es darf davon aus-
gegangen werden, dass die immerhin häufige Bezahlung dieser Schulden häufig un-
terbliebe, wenn die Betroffenen den Eindruck gewännen, dies alles beruhe letztlich
auf ihrem guten Willen und geschehe damit „freiwillig“. Ebenso würde das System
einen starken Legitimationsverlust erreichen, wenn in der Öffentlichkeit die Er-
kenntnis Platz greifen würde, die Bezahlung solcher Sanktionen sei letztlich den Be-
troffenen anheimgestellt. Ein Laborexperiment am Institut von Ernst Fehr an der
Universität Zürich hat gezeigt, dass Menschen viel dafür investieren, damit Leute,
die die Regeln brechen, bestraft werden (de Quervain et al. 2004). Eine rein rechne-
die Änderung des Sanktionenrechts von 2015 wurde sie wieder zu einer Vollzugsform
(Art. 79a Abs. 1 StGB). Es bleibt offen, ob sie zu ihrer alten Bedeutung zurückfindet.
20
Zu den Einzelheiten siehe den Schlussbericht sowie Biberstein & Killias 2019 sowie
Killias & Biberstein 2020.
800 Martin Killias
rische Betrachtungsweise nach dem Nutzen und den Kosten solcher Sanktionen trägt
diesen symbolischen Bedürfnissen zweifellos nicht Rechnung. Die Durchsetzung fi-
nanzieller Sanktionen über die Umwandlung in andere Vollzugsformen einschließ-
lich der Ersatzfreiheitsstrafe „lohnt“ sich daher vermutlich sehr wohl. Dies gilt auch
für die Umwandlung unbezahlter Bußen wegen der Benützung öffentlicher Ver-
kehrsmittel ohne Bezahlung des Fahrpreises. Würden solche Sanktionen am Ende
nicht mehr vollstreckt, ergäbe sich sehr bald die Nebenwirkung, dass der Kauf
eines Fahrausweises letztlich „freiwillig“ sei und nur „Dumme“ diesen bezahlten.
Dabei dürfen die Nachteile eines kürzeren Freiheitsentzugs nicht überbewertet
werden. Wie die Kontakte mit den Beamten des Amtes für Justizvollzug zeigten, be-
mühen sich diese intensiv, die kurze Haftzeit zu einer Stabilisierung der Lebensver-
hältnisse der Betroffenen zu nutzen. Oft ohne Tagesstruktur, würden diese andern-
falls wohl langfristig auf dieser Bahn verharren. Die These ist hier nicht, dass kurzer
Freiheitsentzug „nütze“, aber dennoch zeigen die Beobachtungen der Vollzugsorga-
ne, dass die meisten Betroffenen nach mehrmaligem Kurzaufenthalt in einem Ge-
fängnis ihrem Leben eine andere Wendung zu geben versuchen. Im Übrigen
haben systematische Literaturübersichten – etwa im Rahmen des Campbell-Netz-
werkes – gezeigt, dass Gefängnisaufenthalte (vor allem solche von kürzerer
Dauer) zwar nicht an sich „nützen“, aber auch nicht unbedingt schaden (Villettaz,
Gilliéron & Killias 2014, 49 ff.). Es wäre an der Zeit, dass sich die Kriminalpolitik
von den überholten Vorstellungen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts21 löst und diese
Fragen unaufgeregter angeht – wie dies der Jubilar bereits in seiner Doktorarbeit (Al-
brecht 1980) angeregt hatte.
21
Prägend war hier nicht, wie allgemein vermutet wird, Franz von Liszt (1883), sondern
der französische Strafrichter und Philanthrop Arnould Bonneville de Marsangy (1864). Die
Vorstellung, kurze Gefängnisaufenthalte seien schädlich, entwickelte er in Analogie zur Be-
obachtung von Medizinern seiner Zeit, dass Spitäler oft Brutstätten aller möglichen Viren sind
und man sich auch bei kurzem Aufenthalt dort anstecken könne. Kriminalität galt damals
bekanntlich als eine Art ansteckende Krankheit.
22
Solche Studien gab etwas später auch in der Schweiz (Stemmer & Killias 1992). Sie
fanden kaum Eingang in die Literatur zur Strafrechtsrevision, ganz im Gegensatz zu krass
Geld- statt Freiheitsstrafen: Die Mittelschicht kommt nicht ins Gefängnis 801
nachwirkenden Zeitgeist zufolge indessen vor allem als Ort zur Behandlung (oder
was immer man darunter verstand) dienen, in aussichtslosen Fällen allenfalls auch
zur bleibenden Verwahrung. Es kam in den Jahren nach 2007 somit zu einer massiven
Ausweitung der mit einer Maßnahme auf unbestimmte Zeit einsitzenden Gefange-
nen (Simmler 2016).
Letztlich haben unsere Daten bestätigt, dass ein sehr erheblicher Teil der Bußen
und Geldstrafen weiterhin im Gefängnis „bezahlt“ werden. Vor diesem Hintergrund
war die Warnung vor der Verabschiedung der Strafrechtsreform in der Schweiz, dass
es in der Folge weniger zu einer Abschaffung als einer Umverteilung der Freiheits-
strafe kommen könnte, nicht unberechtigt. Solche Warnungen wurden damals in den
Wind geschlagen.23 Inzwischen hat sich dies in damals unvorstellbarem Ausmaß be-
wahrheitet. Wenn über die Hälfte – 2018 genau 53 % – der Einweisungen in ein Ge-
fängnis auf umgewandelte Bußen und Geldstrafen entfallen, kann man nicht von
einer Bagatelle sprechen, auch wenn von allen Bußen und Geldstrafen nur wenige
Prozente umgewandelt werden. Dabei ist dies alles nur ein Teil des Problems.
Dazu kommt nämlich die Regelung in Art. 41 Abs. 1 lit. a und b StGB, wonach
das Gericht eine unbedingte24 Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten verhängen
kann, wenn dies (lit. a) zur Abschreckung des Täters oder (lit. b) erforderlich er-
scheint, weil eine andere Strafe voraussichtlich nicht vollzogen werden könnte.
Diese Bestimmung war bereits im ersten Vorentwurf von Schultz (1987) enthalten
und hat in der Folge alle Beratungen überstanden. In der Praxis wird sie vor allem
gegenüber mittellosen ausländischen Beschuldigten angewendet, die – etwa nach
Einbrüchen – in Untersuchungshaft versetzt und in der Folge mit einem Strafbefehl
belegt werden, in welchem ihnen eine Freiheitsstrafe (typischerweise in der Länge
der erlittenen Haft) auferlegt wird, bevor sie ausgeschafft werden. Im Jahre 2007 be-
traf dies noch 1.904 Verurteilte, in den folgenden Jahren jedoch bis zu 4.462 (im Jahre
2013)25 und noch immer 2.941 im Jahre 2018. Da diese Verurteilten während ihrer
gesamten Haftzeit in der Regel in Untersuchungshaft verbleiben, erscheinen sie nicht
in der Statistik der Einweisungen in den Strafvollzug, sind also in den Eintritten
(2018: 8.444) nicht inbegriffen. Würde man sie dazurechnen, ergäbe sich somit
eine Gesamtzahl der „Eintritte“ von 11.385. Davon wäre 7.444 Personen26 nur des-
fehlerhaften Analysen (wie die Studie von Knaus 1973; dazu Killias 1994), die bis heute in
den Kommentaren munter weiter zitiert werden.
23
Gelegentlich auch sehr heftig. Dem Autor wurde zum Beispiel an einem Kolloquium
entgegengeschleudert: „Mit solchen Behauptungen verlassen Sie den Boden einer sachbezo-
genen Diskussion.“
24
Mit dem Gesetz über die Änderung des Sanktionenrechts (in Kraft seit 01. 01. 2018)
können diese Kurzstrafen theoretisch auch bedingt verhängt werden.
25
In den Jahren zwischen 2011 und 2014 war die Schweiz von einer Welle internationaler
Einbruchskriminalität betroffen, die sich in diesen Zahlen niederschlug.
26
Nämlich 3.080 umgewandelte Bußen, 1.423 umgewandelte Geldstrafen und 2.941 un-
bedingte Kurzstrafen gemäß Art. 41 StGB.
802 Martin Killias
halb die Freiheit vorübergehend entzogen worden, weil sie mittellos waren. Das
wären dann genau 65 %.
Vor diesem Hintergrund kann man wohl kaum bestreiten, dass die Schweiz die
kurzen Freiheitsstrafen nicht abgeschafft, sondern sozial umverteilt hat. Der Vorwurf
der Klassen-Justiz, der sich implizit gegen die Gerichte und Justizpersonen richtet,
wäre unberechtigt. Geschaffen wurde vielmehr eine Art Klassen-Strafrecht, demzu-
folge das Gefängnis einer untersten Schicht vorbehalten bleibt. Das erinnert stark an
das römische Strafrecht, wo die „humiliores“ in die Metalla (Bergwerke) eingewie-
sen wurden27, wogegen die „honorationes“ mit Vermögenskonfiskation und/oder
Verbannung belegt wurden (Mommsen 1990, 1009 f., 1046 f.). Anders als in früheren
Zeiten, wo es für die obersten Zehntausend allenfalls Sonderregelungen mit Privile-
gien gab, verhält es sich in der Schweiz heute so, dass die Durchschnittsbevölkerung
kaum mit dem Gefängnis konfrontiert ist, da dieses nur einer relativ kleinen untersten
Schicht (sowie ausländischen Beschuldigten ohne inländischen Wohnsitz) vorbehal-
ten ist, also gewissermaßen den untersten Zehntausend. Vielleicht sichert gerade dies
heute dem reformierten Strafrecht der Schweiz eine erstaunlich breite soziale Akzep-
tanz. Auch trägt dies wohl wesentlich zum Fehlen eines jeglichen Problembewusst-
seins in der schweizerischen Öffentlichkeit und sogar unter den Strafrechtlern bei.
Menschen am Rande der Gesellschaft haben bekanntlich keine Stimme und ihre Er-
fahrungen teilen sich der breiteren Öffentlichkeit kaum mit. Ob das aber auch „ge-
recht“ genannt werden darf? Die Zweifel bleiben, und der Jubilar war immer ein be-
sonders intensiver Zweifler, gerade auch, wenn es um Fragen der Ungleichheit und
der Behandlung der untersten Schichten geht. Ihm gebührt unser Dank, vor allem
auch weil er immer wieder und hartnäckig auf das Schicksal derer hingewiesen
hat, die vor lauter Sorge um „Effizienz“ (zu) leicht vergessen gehen.
Literaturverzeichnis
Aebi, M.F. et al. (2010): European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics 2010.
4. Aufl. Den Haag.
Albrecht, H.-J. (1980): Legalbewährung bei zu Geldstrafe und Freiheitsstrafe Verurteilten. Frei-
burg i.Br.
Biberstein L. & Killias, M. (2019): Ersatzfreiheitsstrafen im Kanton Zürich. Schlussbericht für
das Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich.
Bonneville de Marsangy, A. (1864): De l’amélioration de la loi criminelle en vue d’une justice
plus prompte, plus efficace, plus généreuse et plus moralisante. 2 Bände. Paris.
27
So die Digestenstelle D. 48, 19, 38, 3.
Geld- statt Freiheitsstrafen: Die Mittelschicht kommt nicht ins Gefängnis 803
Villettaz, P., Gilliéron, G. & Killias, M. (2014): The effects on re-offending of custodial versus
non-custodial sanctions. Stockholm; www.campbellcollaboration.org.
Wirth, W., Pfalzer, S. & Gerlach, S. (2018): „Ersatzfreiheitsstrafe – lohnt sich das?“ Forum
Strafvollzug 1, S. 9.
Die Staatsanwaltschaft – „der“ kriminalpolitische
Akteur im System strafrechtlicher Sozialkontrolle
Von Wolfgang Heinz
Vorbemerkung
Angesichts der Vielfalt von Forschungsinteressen des Jubilars gibt es kein Thema,
über das ich schreiben könnte, das nicht eine enge Berührung mit Forschungsarbeiten
von Hans-Jörg Albrecht aufwiese. Die Auswahl, worüber zu Ehren des Jubilars ein
Beitrag verfasst werden könnte, fällt deshalb schwer. Dass ich mich letztlich für die
Staatsanwaltschaft entschieden habe, hat mehrere Gründe. Strafrechtliche Sozial-
kontrolle und deren Akteure sind der basso continuo aller Studien seit Gründung
der Forschungsgruppe Kriminologie des MPI. Fragen der Gleichheit der Rechtsan-
wendung, wie sie auch im folgenden Beitrag aufgeworfen werden, galt schon sehr
früh das Erkenntnisinteresse des Jubilars. Mit Rolle und Bedeutung der Staatsanwalt-
schaft haben sich sowohl Günther Kaiser als auch Hans-Jörg Albrecht explizit aus-
einandergesetzt. Deshalb schien es mir nicht allzu fernliegend, anknüpfend an mei-
nen Beitrag zur Staatsanwaltschaft in der Festschrift für Günther Kaiser1, nunmehr
auch Hans-Jörg Albrecht eine Studie zur Staatsanwaltschaft zu widmen, die dank des
inzwischen ausgeweiteten und statistisch verfügbaren Materials bisherige Befunde
auf breiter gewordenen Datenbasis überprüfen und neuen Fragestellungen nachge-
hen kann.
1
Heinz 1998.
806 Wolfgang Heinz
tung, unabhängig von der Zahl der Beschuldigten, nur die schwerste, das Verfahren
beendende Erledigungsart nachgewiesen. Wird beispielsweise in einem Verfahren
gegen drei Beschuldigte, bei einem Beschuldigten Anklage erhoben, bei dem Zwei-
ten das Verfahren gem. § 153a StPO und beim dritten Beschuldigten gem. § 170 II
StPO eingestellt, dann wird statistisch nur die Anklage ausgewiesen. Bei der perso-
nenbezogenen Aufbereitung wird dagegen die Erledigungsart bei Verfahren gegen
mehrere Beschuldigte für jeden Einzelnen differenziert erfasst, allerdings auch je-
weils nur die schwerste (also Anklage, wenn ein Teil angeklagt, ein anderer Teil ein-
gestellt wird). Weiterhin nicht erfasst werden aber soziodemografische Merkmale
des/der Beschuldigten, wie Alter und Geschlecht.
Angaben zu den Delikten, die den Ermittlungsverfahren zugrunde lagen, wurden
zunächst nur für „Vergehen im Straßenverkehr“ erhoben.6 1986 wurde die StA-Sta-
tistik erweitert auf „Besondere Wirtschaftsstrafsachen“,7 1998 wurden auch „Betäu-
bungsmittelstrafsachen“, „Umweltstrafsachen“ und „Strafsachen gegen die sexuelle
Selbstbestimmung“ aufgenommen, wobei zusätzlich danach unterschieden wurde,
ob es sich um eine Straftat der „Organisierten Kriminalität“ handelt. Seit dem Be-
richtsjahr 2004 wird das Verfahrensaufkommen bei den Staatsanwaltschaften nach
einem Sachgebietskatalog der verletzten Strafvorschriften differenziert, der derzeit
32 Positionen umfasst.8 In der veröffentlichten StA-Statistik werden die Erledigungs-
arten allerdings nur für folgende Sachgebiete detailliert ausgewiesen: „Straftaten
gegen die sexuelle Selbstbestimmung“, „vorsätzliche Körperverletzungen“, „Dieb-
stahl und Unterschlagung“, „Betrug und Untreue“, „Straftaten im Straßenverkehr“,
„Wirtschafts- und Steuerstrafverfahren, Geldwäschedelikte“, „Straftaten nach dem
Betäubungsmittelgesetz“. Seit 2016 werden in der veröffentlichten Statistik auch
nachgewiesen „Einschleusung von Ausländern und Straftaten nach dem Aufenthalts-
und dem Asylgesetz und dem Freizügigkeitsgesetz / EU“. Die Nachweise beschrän-
ken sich in der veröffentlichten StA-Statistik auf Ermittlungsverfahren. Die jeweilige
Zahl der betroffenen Personen wird nur nachrichtlich mitgeteilt. Intern werden die
Erledigungsarten aber für jedes Sachgebiet und auch für die Personen aufbereitet.
Für den vorliegenden Beitrag werden diese personenbezogenen Daten ausgewertet.9
Die Nachweise zur Erledigungsart beschränken sich auf deren Art. Inhaltliche
Differenzierungen fehlen weitgehend. Über die bei § 45 JGG angeregten bzw. ange-
ordneten Auflagen und Weisungen fehlen jegliche Nachweise. Entsprechendes gilt
für Einstellungen nach § 37 Abs. I BtMG. Eine Ausnahme bildet lediglich die Ein-
6
Die Nachweise für dieses Sachgebiet beschränkten sich bis 1997 auf Erledigung durch
Anklage, Strafbefehl, Einstellung mit Auflage, Privatklage und sonstige Erledigung.
7
Diese Erweiterung sollte die vom MPI Freiburg ausgewertete, bis 1985 durchgeführte
„Erhebung über Wirtschaftsstrafsachen bei den Staatsanwaltschaften“ ablösen.
8
Seit 2014 werden die Sachgebiete 30 und 31 für die „Serien-, Banden- und Gewaltkri-
minalität“ nicht mehr erhoben. Ergänzt wurden die Sachgebiete 2009 durch die drei Sachge-
biete 52, 53, 54 für Straftaten von Amtsträgern. Der Katalog der Sachgebiete ist jeweils im
Anhang der amtlichen Veröffentlichung der StA-Statistik wiedergegeben.
9
Der Verf. ist dem StatBA für die Überlassung dieser Daten zu Dank verpflichtet.
808 Wolfgang Heinz
stellung nach § 153a I StPO; freilich sind die Nachweise auf die Art der Auflagen/
Weisungen beschränkt.
Bei den nachgewiesenen Erledigungsarten, also auch bei Einstellungen aus Op-
portunitätsgründen, wird nicht danach differenziert, ob sie gegen Jugendliche, Her-
anwachsende oder Erwachsene, ob sie unter Anwendung von Jugendstrafrecht oder
unter Anwendung von allgemeinem Strafrecht erfolgten. Infolgedessen lassen sich
die auf Strafbefehlsanträge oder auf die verschiedenen Opportunitätseinstellungen
entfallenden Anteile nicht exakt berechnen.
Bei Opportunitätseinstellungen, die durch die Erfüllung von Auflagen, Weisun-
gen oder erzieherischen Maßnahmen aufschiebend bedingt sind, war ursprünglich
eine Wartefrist von einem Monat einzuhalten, ehe die Zählkarte ausgefüllt werden
durfte.10 Diese Regelung wurde 1994 geändert: „Bei vorläufiger Einstellung gilt
das Verfahren mit der entsprechenden Verfügung des Staatsanwalts als erledigt;
eine Erfüllung von Auflagen, Weisungen oder erzieherischen Maßnahmen ist
nicht abzuwarten.“11 Seitdem ist hier mit einer gewissen, mangels vergleichender
Prüfung in ihrer Höhe unbekannten Überschätzung zu rechnen, insbesondere bei Ein-
stellungen gem. § 153a StPO.
Im Unterschied zur Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), die seit 1984 Mehr-
fachtatverdächtige auf Länderebene und seit 2009 auf Bundesebene nicht mehr dop-
pelt erfasst (sog. echte Tatverdächtigenzählung) werden in der StA-Statistik sowohl
Verfahren als auch Personen so oft im Berichtsjahr gezählt, wie Verfahren abge-
schlossen werden. Die Zahl der Verfahren, also der statistische Geschäftsanfall, ist
deshalb davon beeinflusst, ob z. B. gegen mehrere Beschuldigte nur ein Verfahren
geführt wird oder aber mehrere selbständige Verfahren geführt werden. Entsprechen-
des gilt bei Verfahrenstrennung oder bei Aufnahme von Verfahren gegen Personen,
die in den polizeilichen Ermittlungsakten namentlich aufgeführt werden. Diese
Mehrfachzählung mag teilweise erklären, weshalb die Zahl der Beschuldigten in
der StA-Statistik – bereinigt sowohl um die Zahl der Beschuldigten in Verkehrsstraf-
sachen als auch um den Anteil der nicht von der Polizei eingeleiteten Verfahren12 –
um den Faktor 1,7 höher ist als die Zahl der Tatverdächtigen desselben Berichtsjah-
res.13
10
§ 8 III der Anordnung über die Zählkartenerhebung StA-Statistik 1978. Diese Regelung
wurde 1981 präzisiert, indem durch bundeseinheitliche Anordnung bestimmt wurde, dass „bei
Einstellung mit Auflage … die Zählkarte erst nach Erledigung der Auflage auszufüllen“ ist.
11
§ 6 II der Anordnung über die Zählkartenerhebung StA-Statistik 1994.
12
Rund 80 % aller Ermittlungsverfahren werden von der Polizei eingeleitet.
13
Vgl. Heinz 2020, Schaubild 156.
Die Staatsanwaltschaft – „der“ kriminalpolitische Akteur 809
14
Nicht berücksichtigt wird im Folgenden die quantitativ bedeutungslose Zahl der Er-
mittlungsverfahren der Staatsanwaltschaften beim Oberlandesgericht.
15
Anklagen vor dem Amtsgericht oder Landgericht, Antrag auf Entscheidung im be-
schleunigten Verfahren, Antrag auf vereinfachtes Jugendverfahren.
810 Wolfgang Heinz
Quelle: StA-Statistik
Entsprechend dem Anstieg der polizeilich registrierten Kriminalität bzw. der poli-
zeilich ermittelten Tatverdächtigen ist auch der erledigte Geschäftsanfall der StA an-
gestiegen. Die Entwicklung der absoluten Zahlen erledigter Ermittlungsverfahren18 ist
16
Abgaben an die Verwaltungsbehörde als Ordnungswidrigkeit, Abgaben an eine andere
Staatsanwaltschaft.
17
Verbindungen mit einer anderen Sache, vorläufige Einstellungen (ohne Opportunitäts-
einstellungen) sowie sog. anderweitige Erledigungen.
18
Zeitreihendarstellungen ab 1981 sind nur verfahrensbezogen möglich, weil erst ab 1998
die Erledigungsarten personenbezogen differenziert aufbereitet worden sind.
Die Staatsanwaltschaft – „der“ kriminalpolitische Akteur 811
freilich auch durch die sukzessive Einbeziehung von 8 Ländern, also durch die räum-
liche Erweiterung der StA-Statistik, beeinflusst (Abbildung 2). Aber auch bei Be-
rücksichtigung nur jener 8 Länder, die bereits 1981 die StA-Statistik eingeführt hat-
ten, sind die absoluten Zahlen von 2,1 Mio auf zuletzt (2018) 3,3 Mio. gestiegen.
Quelle: StA-Statistik
Legende:
objektive Verfahren: Eröffnung eines Sicherungsverfahrens, Durchführung eines objektiven Verfahrens
sonstige Erledigungen: sonstige (vorläufige) Einstellung (keine Opportunitätseinstellung), Verbindung mit einer
anderen Sache, sonstige Erledigungsart
Abgaben an andere …: Abgabe an die Verwaltungsbehörde als Ordnungswidrigkeit, Abgabe an eine andere Staats-
anwaltschaft
170 II StPO: Einstellung mangels hinreichenden Tatverdachts, Schuldunfähigkeit des Beschuldigten (§ 20 StGB)
sonstige Opp.Einst. ohne Auflagen: Opportunitätseinstellungen gem. §§ 153c I–III, 154 I, 154b I–III, 154c–f StPO
Opp.Einst. ohne Auflagen i.e.S.: Einstellungen gem. §§ 153 I, 153b I StPO einschl. § 29 V BtMG, § 45 I, II JGG,
§ 31a BtMG
Opp.Einst. mit Auflagen: Einstellungen gem. § 153a I StPO, § 45 III JGG, § 37 I BtMG bzw. § 38 II i.V.m. § 37 I
BtMG
Anklage i.w.S.: Anklagen vor dem Amtsgericht oder Landgericht, Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Ver-
fahren, Antrag auf vereinfachtes Jugendverfahren
sind usw. Damit ließe sich ein Teil der Zunahmen bei § 170 II StPO erklären. Ent-
scheidbar wäre dies erst dann, wenn die StA-Statistik, wie die PKS, eine „echte“ Be-
schuldigtenzählung hätte und mit den Daten der PKS in verlaufsstatistischen Analy-
sen verknüpfbar wäre.
Im statistisch überblickbaren Zeitraum 1981 bis 2018 haben sich die Erledigungs-
strukturen der StA deutlich geändert. Der Anstieg der absoluten Zahlen führte in den
acht Ländern, die seit 1981 die StA-Statistik führen, nicht zu einem entsprechenden
Anstieg von Anklagen/Strafbefehlsanträgen; deren absolute wie relative Zahlen gin-
gen vielmehr deutlich zurück. Der steigende Geschäftsanfall wurde stattdessen auf-
gefangen vor allem durch Sanktionsverzicht, teils durch Sanktionsverzicht wegen
Bagatelle, teils durch scheinbaren Sanktionsverzicht. Zu einem deutlich geringeren
Maße wurde die Zunahme auch durch vermehrte verfahrenstechnische Erledigungen
aufgefangen.19
Quelle: StA-Statistik
Legende: vgl. Legende zu Abb. 2.
19
Kein anderes Bild ergibt sich, wenn auf die Erledigungsarten im gesamten Bundesgebiet
abgestellt wird. Die Werte für 2018 ändern sich nur geringfügig (in Klammern Werte für das
frühere Bundesgebiet ohne BE, HE, SH): Anklagen i.w.S.: 9,0 % (9,1 %), Strafbefehl: 10,9 %
(11,5 %), Opp.Einst. mit Aufl.: 3,4 % (3,6 %), Sank.Verz. wg. Bagatelle: 18,1 % (17,6 %),
scheinbarer Sank.Verz.: 10,7 % (10,2 %), 170 II StPO: 28,6 % (27,9 %), verf.techn. Erl.:
19,2 % (20,1 %).
Die Staatsanwaltschaft – „der“ kriminalpolitische Akteur 813
Die aus der Sicht der Öffentlichkeit, der Medien und der Politik bedrohlich „stei-
gende Kriminalität“ wurde demnach von der StA durch Einstellungen, und zwar ganz
überwiegend als Bagatelle, „erledigt“. Ob dies darauf beruht, dass geringfügige
Straftaten zugenommen haben oder darauf, dass sich die Schwereeinschätzung der
Staatsanwaltschaft geändert hat oder aber auf der Einsicht, dass spezialpräventiv
häufig bereits der Umstand genügt, dass gegen den Täter wegen einer Straftat ermit-
telt wird und deshalb eine Bestrafung nicht erforderlich ist, lässt sich den statisti-
schen Zahlen allerdings nicht entnehmen.
Die 1986, 1998 sowie vor allem 2004 erfolgte Differenzierung der Nachweise
nach Sachgebieten hat die Aussagemöglichkeiten wesentlich erweitert. Seit 2004
wird nicht mehr nur, wie zuvor, die Art der Erledigung für die Ermittlungsverfahren
mitgeteilt (unabhängig von der Zahl der Beschuldigten in diesen Verfahren), sondern
auch für die Beschuldigten. Damit ist erstmals eine Analyse möglich, deren Grund-
gesamtheit die Zahl der von Ermittlungsverfahren betroffenen Beschuldigten (Mehr-
fachzählungen eingeschlossen) ist.
Für die Erfassung des Sachgebiets in der StA-Statistik ist der Deliktschwerpunkt
des Ermittlungsverfahrens maßgebend. Der derzeit geltende Sachgebietskatalog um-
fasst insgesamt 32 Sachgebiete, die in 12 Sachgebietsgruppen gegliedert sind. Deren
zahlenmäßige Besetzung weist erwartungsgemäß große Unterschiede auf (Tabelle
1). Auf die Mehrzahl aller Einzelsachgebiete entfallen weniger als 1 % aller Beschul-
digten. Zwei Drittel aller Beschuldigten finden sich in den fünf Sachgebieten „vor-
sätzliche Körperverletzungen“ (10,0 %), „Diebstahl und Unterschlagung“ (12,9 %),
„Betrug, Untreue“ (19,3 %), „Verkehrsstraftaten“ (16,6 %) sowie „Straftaten nach
dem Betäubungsmittelgesetz“ (7,8 %).
Diese anteilmäßige Verteilung der Beschuldigten auf die Einzelsachgebiete
blieb im Zeitraum 2005 bis 2018 weitestgehend konstant. Ausnahmen bildeten
„Betrug, Untreue“ sowie „Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz“, deren
Anteile 2018 um 3,7- bzw. 2,3 %-Punkte höher lagen als 2005; der Anteil der Sach-
gebietsgruppe „Diebstahl und Unterschlagung“ ging dagegen um 3,7 %-Punkte zu-
rück. Auf den nicht weiter differenzierten Rest („sonstige Straftaten“) entfielen
22,8 %.
814 Wolfgang Heinz
Tabelle 1
Von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren betroffene Personen
nach Sachgebietsgruppen. Deutschland 2018
Von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren betroffene
5.622.962 100
Personen
SG 10 – 13: Staatsschutzsachen 44.671 0,79
SG 15, 16: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung 79.705 1,42
SG 20, 21: Straftaten gegen das Leben und die körperliche
571.827 10,17
Unversehrtheit
dar.: SG 21: vorsätzliche Körperverletzungen (564.374) (10,04)
SG 25, 26: Eigentums- und Vermögensdelikte 1.808.668 32,17
dar.: SG 25: Diebstahl und Unterschlagung (725.999) (12,91)
dar.: SG 26: Betrug, Untreue (1.082.669) (19,25)
SG 35, 36: Verkehrsstraftaten 934.793 16,62
SG40 – 44: Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, Geldwäschedelikte 173.139 3,08
dar.: SG 40, 41, 44: Wirtschaftsstrafsachen § 74c GVG, sonstige
(98.753) (1,76)
Wirtschaftsstrafsachen
SG 45: Straftaten gegen die Umwelt 19.680 0,35
SG 50 – 54: Korruptionsdelikte und Straftaten von Amtsträgern 57.515 1,02
SG 55, 56: Einschleusung von Ausländern und Straftaten nach dem
Aufenthalts- und Asylverfahrensgesetz sowie dem Freizügigkeitsge- 201.898 3,59
setz/EU
SG 60, 61: Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz 439.977 7,82
SG 65, 66: Sonstige besondere Straftaten 7.170 0,13
SG 90, 98, 99: Sonstige Straftaten 1.283.919 22,83
Quelle: StA-Statistik
Die Art der Erledigung unterscheidet sich in Abhängigkeit vom jeweiligen Sach-
gebiet ganz erheblich. Um Zufallsschwankungen auszugleichen, wurden für die fol-
gende Auswertung Durchschnittswerte der gegen Personen in den Jahre 2005 bis
2018 erledigten Verfahren gebildet. Dass die Erledigungsarten angesichts von Unter-
schieden sowohl hinsichtlich des Tat- und Schuldnachweises als auch von Beweis-
schwierigkeiten deutlich differieren, ist erwartungsgemäß (Abbildung 4).
Die Staatsanwaltschaft – „der“ kriminalpolitische Akteur 815
Quelle: StA-Statistik
Legende: vgl. Legende zu Abb. 2.
Die Bandbreite der für erforderlich erachteten Sanktionierung reichte bei den hier
untersuchten Sachgebieten im Schnitt der Jahre 2005 bis 2018 von 17 % bis zu 34 %.
Die höchste Sanktionierungsrate weisen – und zwar in jedem einzelnen Jahr – die
Verkehrsstraftaten auf. Die Wirtschaftsstrafsachen weisen dagegen die geringste
Sanktionierungswahrscheinlichkeit auf, lediglich in wenigen Jahren der jüngsten
Zeit weisen die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Körperverletzun-
gen und Betrug teilweise noch geringere Sanktionierungsraten auf. Erwartungsge-
mäß ist die Anklagerate bei Kapitalverbrechen am höchsten, und zwar ausnahmslos.
Erwartungswidrig ist dagegen, dass die Anklagerate bei Wirtschaftsstrafsachen bis
2011 am geringsten war; erst seit 2012 ist die Anklagerate bei Verkehrsstraftaten
um gut 1 %-Punkt geringer. Erwartungsgemäß ist dagegen wiederum, dass sowohl
die Strafbefehlsrate als auch die Rate der Opportunitätseinstellungen mit Auflagen
durchgängig bei Verkehrsstraftaten am höchsten, bei Kapitalverbrechen am gerings-
ten sind.
Am häufigsten kommt es zu Sanktionsverzicht wegen Bagatelle bei Betäubungs-
mittelstraftaten, lediglich 2007 bis 2009 wiesen die Verkehrsstraftaten eine etwas hö-
here Rate auf. Dass bei Kapitalverbrechen kaum Anlass besteht (im Schnitt 1,5 %),
von dieser Einstellungsmöglichkeit Gebrauch zu machen, versteht sich.
816 Wolfgang Heinz
Aus der Perspektive der Beschuldigten ist die alle Erledigungsarten berücksich-
tigende Betrachtungsweise nicht angemessen. Denn aus Sicht des Beschuldigten
wird durch die verfahrenstechnischen Erledigungen die Entscheidung über eine
Sanktionierung nur aufgeschoben; in den Fällen des scheinbaren Sanktionsverzichts
wurde oder wird in anderer Sache sanktioniert. Da auf diese aufschiebenden Ent-
scheidungen je nach Sachgebiet zwischen 10 % und 40 % aller Entscheidungen ent-
fallen, verändert sich entsprechend den daraus resultierenden Unterschieden in den
jeweiligen Grundgesamtheiten auch die Höhe der jeweiligen Erledigungsarten sowie
zum Teil auch die Rangordnung der einzelnen Sachgebietsgruppen. Im Folgenden
werden deshalb nur noch die das jetzige Verfahren aus Sicht den Beschuldigten ab-
schließenden Sanktionierungsentscheidungen berücksichtigt, die entweder lauten
auf „Sanktionierung erforderlich“ oder auf „Sanktionsverzicht“, entweder wegen
Bagatelle oder mangels hinreichenden Tatverdachts. Die Gegenüberstellung der An-
teile der Erledigungsarten aus staatsanwaltschaftlicher und aus der Beschuldigten-
perspektive verdeutlicht die Unterschiede.
Auch aus Beschuldigtenperspektive bleibt hinsichtlich der Sanktionierungs-
wahrscheinlichkeit die Spitzenstellung der Verkehrsstraftaten – auch über alle
Jahre hinweg – erhalten. Im Durchschnitt weisen zwar weiterhin die Wirtschafts-
strafsachen die geringste Sanktionierungswahrscheinlichkeit auf. Seit 2010 ist sie
jedoch sowohl bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung als auch bei
Tabelle 2
Von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren betroffene Personen nach Sachgebietsgruppen in Abhängigkeit
von unterschiedlichen Grundgesamtheiten. Durchschnitt 2005 – 2018. Deutschland
Endgültig erledigte Verfahren
Alle erledigten Verfahren (Perspektive der StA)
(Perspektive des Beschuldigten)
Sank. Sank. Verz. Sank.
§ 170 II StPO „aufgeschoben“ Sank. Verz. wg. Bagatelle § 170 II StPO
erforderl. wg. Bagatelle erforderl.
alle Sachgebiete 24,5 18,2 31,3 26,0 33,1 24,6 42,3
SG 15: sexuelle Selbstbest. 22,8 5,6 57,0 14,6 26,7 6,6 66,8
SG 20: Kapitalverbrechen 31,1 1,5 54,0 13,4 35,9 1,7 62,4
SG 21: vors. Körperverl. 23,3 22,7 42,9 11,1 26,2 25,5 48,3
SG 25: Diebstahl/Unterschl. 30,6 19,2 24,5 25,8 41,2 25,8 33,0
SG 26: Betrug/Untreue 23,2 12,8 25,6 38,4 37,6 20,7 41,7
SG 35, 36: Verkehrsstraft. 34,2 11,2 23,4 31,2 49,8 16,3 34,0
SG 40, 41, 44: Wirtschaftsstr. 16,9 22,8 29,2 31,2 24,5 33,1 42,4
SG 60, 61: BtMG-Straftaten 26,5 26,2 28,3 19,0 32,7 32,3 35,0
Quelle: StA-Statistik
Die Staatsanwaltschaft – „der“ kriminalpolitische Akteur
817
818 Wolfgang Heinz
Tabelle 3
Erledigungsstrukturen in staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren
der SG 15, 20 und 40, 41, 44. Arithmetisches Mittel 2005 – 2018 nach Ländern
SG 15: SG 20: SG 40, 41, 44:
Straftaten gegen Kapitalverbrechen Wirtschaftsstrafsachen
die sexuelle i.S.v. § 74 II GVG i.e.S.
Selbstbestimmung
Sank. Sank. § 170 Sank. Sank. § 170 Sank. Sank. § 170
erfor- Verz. wg. II erfor- Verz. wg. II erfor- Verz. wg. II
derl. Bagatelle StPO derl. Bagatelle StPO derl. Bagatelle StPO
BW 29,2 4,8 66,1 36,4 1,3 62,3 23,6 31,7 44,7
BY 31,1 3,1 65,9 36,9 1,3 61,8 34,2 22,2 43,6
BE 24,8 2,9 72,2 24,7 0,6 74,7 20,2 19,9 59,8
BB 24,1 6,0 69,9 30,6 1,0 68,4 45,7 22,6 31,6
HB 30,1 4,8 65,2 49,5 1,4 49,1 32,3 27,3 40,3
HH 26,7 7,3 66,1 47,8 1,0 51,2 22,9 27,6 49,5
HE 27,8 7,7 64,5 41,3 3,1 55,6 17,3 27,5 55,2
MV 26,8 6,7 66,5 35,5 1,8 62,7 27,8 30,1 42,1
NI 25,1 6,2 68,7 41,0 2,1 56,9 30,1 24,5 45,5
NW 25,0 8,4 66,5 32,0 1,4 66,7 23,6 34,7 41,7
RP 24,3 7,9 67,8 34,7 2,0 63,4 31,1 23,1 45,7
SL 31,7 4,2 64,1 47,2 1,8 51,0 32,9 21,3 45,8
SN 30,7 4,7 64,6 37,6 0,8 61,5 38,7 23,5 37,7
ST 25,4 7,2 67,4 48,5 1,3 50,2 27,6 27,4 45,0
SH 22,2 8,7 69,1 33,0 4,3 62,7 41,2 29,6 29,2
TH 30,4 5,5 64,1 45,8 2,1 52,1 28,0 30,2 41,8
BRD 26,6 6,5 66,8 35,9 1,7 62,4 27,1 29,0 43,9
Quellen: Polizeiliche Kriminalstatistik; Strafverfolgungsstatistik
Quelle: StA-Statistik
Legende: vgl. Legende zu Abb. 2.
Im Zeitraum 2005 bis 2018 nahm in allen Ländern der Anteil von Einstellungen
mangels hinreichenden Tatverdachts zu, zumeist in der Größenordnung von um die
10 %-Punkte. Der entsprechende Rückgang erfolgte vor allem bei Anklagen sowie
bei Sanktionsverzicht wegen Bagatelle.
Bei SG 25 „Diebstahl und Unterschlagung“ betragen die Unterschiede zwischen
den drei Messgrößen um die 20 %-Punkte. Am geringsten sind sie bei Einstellungen
gem. § 170 II StPO mit 17,9 %-Punkten (HH: 26,1 % – BB: 44,0 %), gefolgt von
erforderlicher Sanktionierung mit 20,2 %-Punkten (MV: 33,7 % – BY: 53,9 %). Re-
20
Vgl. Meinberg 1985, 121 f.
Die Staatsanwaltschaft – „der“ kriminalpolitische Akteur 821
lativ am größten sind sie bei Sanktionsverzicht wegen Bagatelle mit 22,6 %-Punkten
(BY: 16,5 % – HH: 39,1 %).
Quelle: StA-Statistik
Legende: vgl. Legende zu Abb. 2.
Zwischen 2005 und 2018 hat sich die Erledigungspraxis wenig geändert. Die Ver-
änderungen betragen zumeist weniger als 5 %-Punkte. Tendenziell sind die Ankla-
gen und die Opportunitätseinstellungen mit Auflagen leicht zurückgegangen, die
Strafbefehlsanträge und die Einstellungen gem. § 170 II StPO dagegen leicht gestie-
gen.
Aktuell kommen auf 100 für erforderlich erachtete Sanktionierungen insgesamt
zwischen 94 (BY) und 211 (HH) Einstellungen, und zwar entweder als Sanktionsver-
zicht wegen Bagatelle (BY: 33 – HH: 129) oder als Einstellungen gem. § 170 II StPO
(BY: 61 – ST: 128). Von drei Beschuldigten wird in HH nur bei einem eine Sanktio-
nierung angestrebt, in BY dagegen bei gut jedem Zweiten.
Im Unterschied zu SG 25 sind bei SG 26 „Betrug und Untreue“ die Unterschiede
zwischen den Ländern bei Einstellungen gem. § 170 II StPO mit 26,3 %-Punkten am
größten (HB: 27,5 % – BB 53,8 %). Die Spannweite der für erforderlich gehaltenen
Sanktionierungen beträgt 21,2 %-Punkte (SH: 27,0 % – HB: 48,2 %). Geringfügig
geringer ist die Spannweite bei Sanktionsverzicht wegen Bagatelle mit 19,6 %-Punk-
ten (BY: 11,0 % – HH 30,6 %).
822 Wolfgang Heinz
Seit 2005 sind die auf angestrebte Sanktionierungen entfallenden Anteile in fast
allen Ländern leicht rückläufig. Aufgefangen wurde dies teils durch Einstellungen
gem. § 170 II StPO, teils durch Sanktionsverzicht wegen Bagatelle.
Quelle: StA-Statistik
Legende: vgl. Legende zu Abb. 2.
Auf 100 angestrebte Sanktionierungen kamen 2018 zwischen 122 (HB) und 354
(HB) Einstellungen, und zwar entweder als Sanktionsverzicht wegen Bagatelle (BY:
37 – HH: 152) oder als Einstellung gem. § 170 II StPO (HB: 66 – SH: 231).
Mit die größten Unterschiede zwischen den Ländern hinsichtlich der Sanktionie-
rungswahrscheinlichkeit bestehen bei SG 35, 36 „Verkehrsstraftaten“. Der Unter-
schied zwischen BE mit 36,2 % als erforderlich erachteter Sanktionierung und
BW mit 65,6 % beträgt immerhin 29,4 %-Punkte. Diese Differenz beruht vor
allem auf Unterschieden bei Einstellungen gem. § 170 II StPO. BW hat hier nur
einen Anteil von 21,5 %, BE von 48,7 %. Nicht sehr groß sind dagegen die Unter-
schiede zwischen den Ländern bei Sanktionsverzicht wegen Bagatelle (BY:
9,7 % – SH: 21,8 %).
Die Anteile der durch Anklage i.w.S. erledigten Verfahren sind gegenüber 2005
leicht zurückgegangen, im Schnitt um 5 %-Punkte. Überwiegend trifft dies auch auf
Strafbefehlsanträge zu. Hinsichtlich der auf Opportunitätseinstellungen entfallenden
Die Staatsanwaltschaft – „der“ kriminalpolitische Akteur 823
Anteile ist die Entwicklung gegenläufig; in einigen Ländern sind sie leicht gestiegen,
in anderen dagegen zurückgegangen.
2018 reichte die Bandbreite der Einstellungen pro 100 angestrebte Sanktionierun-
gen von 58 (BW) bis 200 (BE).
Quelle: StA-Statistik
Legende: vgl. Legende zu Abb. 2.
Dass dementsprechend auch die Unterschiede der Einstellungen, bezogen auf für
erforderlich erachtete Sanktionierungen, extrem groß sind, ist erwartungsgemäß. Sie
reichen 2018 von 130 (BY) bis 711 (SH), was vor allem auf den Unterschieden in den
Raten des Sanktionsverzichts wegen Bagatelle beruht (SN: 62 – SH 478).
Quelle: StA-Statistik
Legende: vgl. Legende zu Abb. 2.
4. Zusammenfassung
Bis zur Einführung der StA-Statistik war über die Erledigungsstrukturen der
Staatsanwaltschaft nur aus einigen wenigen, regional und zeitlich beschränkten Ak-
tenanalysen etwas bekannt. Aus der Gegenüberstellung der Tatverdächtigen- und der
Verurteiltenzahlen war ersichtlich, dass die Staatsanwaltschaft diejenige Institution
ist, die die Mehrzahl aller Tatverdächtigen ausfiltert. Die 1981 eingeführte Verfah-
rensstatistik sollte eine bessere Durchschaubarkeit der Tätigkeit der Staatsanwalt-
schaften ermöglichen. Durch wiederholte Erweiterung der Erhebungs- und Aufberei-
tungsmerkmale, insbesondere durch die 2004 eingeführten Sachgebiete, sind die
Nachweise inzwischen differenzierter geworden. Freilich bestehen weiterhin erheb-
liche Mängel, die die Analysemöglichkeiten beschränken. Infolge ihrer Eigenschaft
als Verfahrensstatistik ist nicht abschätzbar, inwieweit die Veränderung des Ge-
Die Staatsanwaltschaft – „der“ kriminalpolitische Akteur 825
Literaturverzeichnis
21
BVerfGE 90, 145, 190 f.
22
Vgl. zuletzt Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten 2020, 23 ff.
„Und immer geht’s ums Geld“
Einstellung gegen Geldauflage, Verwarnung mit Strafvorbehalt
und Geldstrafe im Vergleich
1. Einleitung
Den Jubilar, dem dieser Beitrag mit den besten Wünschen zu seinem runden Ge-
burtstag gewidmet ist, kenne ich seit nunmehr über 30 Jahren, genauer gesagt seit
1989. Damals habe ich als frischgebackener Absolvent des Ersten Juristischen
Staatsexamens an einer Sommerakademie der Studienstiftung des Deutschen Volkes
in der ländlichen Idylle von Alpbach in Österreich teilgenommen. Dieses Seminar
wurde von meinem späteren Doktorvater, Günther Kaiser, zusammen mit Hans-
Jörg Albrecht geleitet. Im selben Jahr begann ich – das Einstellungsgespräch führte
Hans-Jörg Albrecht – am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales
Strafrecht (MPI)1 zunächst neben dem Referendariat als wissenschaftlich geprüfte
Hilfskraft. Kurz nach meiner Promotion im Jahr 1996 wurde Hans-Jörg Albrecht Di-
rektor des MPI und zugleich Leiter der Forschungsgruppe Kriminologie. Er betreute
fortan meine Habilitationsschrift über Organisierte Kriminalität2, wofür ich ihm noch
heute zu besonderem Dank verpflichtet bin.
Gemäß dem von Hans-Heinrich Jescheck geprägten, geflügelten Wort vom
„Strafrecht und Kriminologie unter einem Dach“,3 das die Forschungstätigkeit des
früheren MPI über Jahrzehnte ausgezeichnet hat, lassen sich auch wesentliche Arbei-
ten von Hans-Jörg Albrecht als eine geglückte Verbindung normativer und empiri-
scher Untersuchungen beschreiben. Belege dafür sind in erster Linie seine beiden
großen Qualifikationsschriften über die Geldstrafe und die Strafzumessung bei
schwerer Kriminalität.4
1
Das „MPI“ firmiert seit Anfang des Jahres 2020 als Max-Planck-Institut zur Erforschung
von Kriminalität, Sicherheit und Recht.
2
Kinzig 2004.
3
Siehe dazu den Titel des Kolloquiums zum 90. Geburtstag Jeschecks (Albrecht & Sieber
2006).
4
Albrecht 1980 sowie Albrecht 1994.
828 Jörg Kinzig
5
Bis ins Jahr 1978 geht der Aufsatz von Albrecht (1978) zurück.
6
Albrecht 2017.
7
Albrecht 1980, 53 ff.
8
Albrecht 1980, 315 ff.
9
Daran, dass auch den Auflagen und Weisungen im Wege des § 153a StPO Sanktions-
charakter zukommt, besteht heutzutage kaum Zweifel, vgl. nur Beulke 2008, § 153a Rn. 8.
„Und immer geht’s ums Geld“ 829
10
Diese Aussage gilt, streng genommen, nur eingeschränkt. So bleibt dem Beschuldigten
die Möglichkeit, nach einer vorläufigen Einstellung nach § 153a Abs. 1 S. 1, 2 Nr. 2 StPO den
festgelegten Geldbetrag nicht zu bezahlen, was freilich wegen des in § 153a Abs. 1 S. 1 StPO
normierten Zustimmungserfordernisses des Beschuldigten und der sonst drohenden Anklage
durch die Staatsanwaltschaft nur ausnahmsweise der Fall sein wird. Selbst die Geldstrafe muss
nicht zwangsläufig eine Geldzahlung zur Folge haben. Jedoch riskiert die betreffende Person
bei ihrer etwaigen Uneinbringlichkeit, eine Ersatzfreiheitsstrafe antreten zu müssen (vgl. § 43
StGB).
11
Vgl. aber die Ausnahme des § 153a Abs. 1 S. 7 StPO mit einem Verweis auf § 153a
Abs. 1 S. 2 StPO.
830 Jörg Kinzig
rend die Verwarnung mit Strafvorbehalt (§§ 59 – 59c StGB) und die Geldstrafe
(§§ 40 – 43 StGB) im Strafgesetzbuch normiert sind.
Allen drei Instituten kann eine Anklage nach § 170 Abs. 1 StPO vorausgehen.
Während dies bei der Verwarnung mit Strafvorbehalt und der Geldstrafe häufig
der Fall sein dürfte,12 ist selbiges bei der Einstellung gegen Geldauflage eher die Aus-
nahme.
Unterschiede existieren auch, was den Grad des erforderlichen Tatverdachts bzw.
den Schuldnachweis angeht. Während sowohl eine Verwarnung mit Strafvorbehalt
als auch eine Geldstrafe nach § 261 StPO die Überzeugung des Gerichts von der
Schuld des Angeklagten voraussetzen, ist der für die Einstellung gegen Geldauflage
erforderliche Verdachtsgrad in § 153a StPO nicht explizit normiert. Für die Ausle-
gung bedeutend ist hier zunächst, dass sich die Formulierungen in § 153a Abs. 1
S. 1 StPO („kann die Staatsanwaltschaft … von der Erhebung der öffentlichen
Klage absehen … wenn … die Schwere der Schuld nicht entgegensteht“) und
§ 153 Abs. 1 S. 1 StPO („kann die Staatsanwaltschaft … von der Verfolgung abse-
hen, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre“) voneinander unter-
scheiden. Hier wird aus der indikativen Fassung des § 153a Abs. 1 S. 1 StPO für
den Schuldnachweis und dem expliziten Rekurs auf das Absehen von der Erhebung
der öffentlichen Klage gegenüber dem Absehen von der bloßen Strafverfolgung in
§ 153 Abs. 1 S. 1 StPO gefolgert, dass für die Anwendung des § 153a Abs. 1 S. 1
StPO ein höherer Verdachtsgrad vorausgesetzt ist.13 Gemeinhin wird ein hinreichen-
der Tatverdacht für erforderlich gehalten. Eine förmliche Feststellung der Schuld er-
folgt jedoch nicht.14 Während Urteile, in denen eine Verwarnung mit Strafvorbehalt
ausgesprochen oder eine Geldstrafe verhängt wird, nach § 267 StPO begründet wer-
den müssen, wird dies bei einem Vorgehen nach § 153a StPO weder für die Einstel-
lung an sich noch für die Art und/oder Höhe der Auflage verlangt.15
Ein weiterer Unterschied zwischen den drei Normkomplexen liegt darin, dass
§ 153a Abs. 1 S. 1 StPO nur auf Vergehen Anwendung findet, während eine Verwar-
nung mit Strafvorbehalt und eine Geldstrafe auch eine strafrechtliche Reaktion auf
ein Verbrechen darstellen können. Am Beispiel einer Verurteilung wegen Raubes
nach § 249 StGB: Während der Normalstrafrahmen in Abs. 1 von einem Jahr bis
12
Neben einer Anklage kommen hier auch eine Nachtragsanklage nach § 266 Abs. 2 StPO,
ein Antrag auf Aburteilung im beschleunigten Verfahren nach §§ 417, 418 StPO und weitaus
häufiger die Einreichung eines Strafbefehlsantrages nach §§ 407 Abs. 1, 2 Nr. 1, 409 StPO in
Betracht.
13
Vgl. Beulke 2008, § 153a Rn. 39.
14
Vgl. Stuckenberg 2016, 372 m.w.N.; Weigend 2016, 418 m.w.N.
15
Vgl. Diemer 2019, § 153a Rn. 34; Weigend 2016, 419; Beulke 2008, § 153a Rn. 125 für
den Gerichtsbeschluss; vgl. aber Nr. 89 Abs. 3 RiStBV, die vorsieht, dass dem Anzeigeer-
statter ein mit Gründen versehener Bescheid erteilt wird.
„Und immer geht’s ums Geld“ 831
15 Jahren reicht, kann es etwa im Fall eines Versuchs über die Regelung der §§ 49
Abs. 1, 47 Abs. 2 StGB16 zur Verhängung einer Geldstrafe kommen.
Zudem weichen die Obergrenzen der von dem Beschuldigten maximal zu entrich-
tenden Geldbeträge voneinander ab. Bedenklich ist in diesem Zusammenhang, dass
ausgerechnet der vergleichsweise wenig formalisierte § 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StPO
keine Obergrenze der zu zahlenden Geldsumme enthält, wenngleich teilweise in der
Literatur aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine Begrenzung abgeleitet wird,
ohne diese jedoch genauer zu konkretisieren.17 Berühmt geworden ist der Fall des
Formel-1-Managers Bernie Ecclestone, in dem das Landgericht München I das
wegen des Vorwurfs der Korruption geführte Verfahren gegen eine Rekordsumme
von 100 Millionen US-Dollar (rund 75 Millionen Euro) einstellte.18 „The sky‘s the
limit“ hat daraufhin Thomas Weigend anschaulich formuliert.19 Demgegenüber ist
eine Geldstrafe nach § 40 Abs. 1 S. 2 StGB auf 360 Tagessätze, im Fall der Bildung
einer Gesamtstrafe nach § 54 Abs. 2 S. 2 StGB auf maximal 720 Tagessätze be-
schränkt. Da der maximale Tagessatz nach § 40 Abs. 2 S. 3 StGB auf 30.000 Euro
festgesetzt werden kann, endet demnach die Geldstrafe schon bei einer Gesamtsum-
me von 10,8 bzw. 21,6 Millionen Euro.20 Die bei der Verwarnung mit Strafvorbehalt
nach § 59 Abs. 1 S. 1 StGB in Aussicht gestellte Geldstrafe ist bei 180 Tagessätzen
gekappt, darf also einen Betrag von 5,4 Millionen Euro nicht übersteigen.
In kostenrechtlicher Hinsicht haben sowohl der zu Geldstrafe Verurteilte als auch
der mit einer Verwarnung mit Strafvorbehalt Sanktionierte nach § 465 Abs. 1 S. 1
und 2 StPO die Kosten des Verfahrens zu tragen. Bei der Einstellung gegen Geldauf-
lage fallen die Auslagen der Staatskasse nach § 467 Abs. 1 StPO dieser zu Last. Die
notwendigen Auslagen des Angeschuldigten werden dagegen nach § 467 Abs. 5
StPO der Staatskasse nicht auferlegt, wenn das Verfahren nach § 153a StPO am
Ende endgültig eingestellt wird.
Unterschiede ergeben sich auch im Registerrecht. Nach § 4 Nr. 1 BZRG sind
rechtskräftige Entscheidungen einzutragen, in denen auf Strafe erkannt wird, also
auch eine Geldstrafe. Dies gilt nach Nr. 3 auch für die Verwarnung mit Strafvorbe-
halt. Demgegenüber wird eine Einstellung gegen Geldauflage nicht im Bundeszen-
tralregister erfasst.21
16
Vgl. etwa Kinzig 2019, § 47 Rn. 9. Für das Jahr 2018 weist die Strafverfolgungsstatistik
(vgl. Tabelle 3.3, 222) 24 Fälle des § 249 StGB aus, die mit einer Geldstrafe endeten.
17
So etwa Peters 2016, § 153a Rn. 68; Diemer 2019, § 153a Rn. 13.
18
Weitere prominente Beispiele für die Anwendung des § 153a StPO finden sich bei
Brüning 2018, 586.
19
Weigend 2016, 414.
20
Darauf machen zu Recht Gaede & Kubiciel (2014) in einer Kommentierung der Ein-
stellung im Falle Bernie Ecclestone aufmerksam.
21
Kritik daran bei Köhler 2019, 33. Es erfolgt jedoch nach § 492 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 StPO
eine Eintragung in das zentrale staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister.
832 Jörg Kinzig
22
Statistisches Bundesamt 2019. Zu den defizitären Angaben in dieser Statistik vgl. Rat für
Sozial- und Wirtschaftsdaten 2020, 23 ff.
23
Dazu gehören nicht nur Einstellungen nach § 153a StPO, sondern etwa auch solche nach
§ 45 Abs. 3 JGG; vgl. zur Erledigungspraxis der Staatsanwaltschaft auch Bundesministerium
der Justiz und für Verbraucherschutz 2019, 19 ff.
24
Das Jahr 2002 wurde als Ausgangspunkt gewählt, weil es sich um das erste Jahr handelt,
das im Internet unter www.destatis.de in der Statistik erfasst ist.
25
Zur personenbezogenen Entwicklung bei den staatsanwaltschaftlichen Erledigungen vgl.
auch Heinz 2017, 66 ff.
26
BVerfGE 133, 168.
„Und immer geht’s ums Geld“ 833
Tabelle 1
Von der Staatsanwaltschaft beim Landgericht und von der Amtsanwaltschaft
erledigte Ermittlungsverfahren/Zahl der von Ermittlungsverfahren
betroffenen Personen von 2002 bis 201827
Jahr Personen, Einstellung unter darunter § 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StPO
gegen die Auflagen (Geldbetrag für gemeinnützige
ermittelt wurde Einrichtung oder Staatskasse)
2002 5.437.811 269.877 (5,0 %) keine Angabe
2005 5.865.447 268.494 (4,6 %) 219.488 (81,7 %)
2010 5.428.911 209.195 (3,9 %) 167.586 (80,1 %)
2015 5.723.811 182.773 (3,2 %) 147.516 (80,8 %)
2016 5.922.002 181.798 (3,1 %) 147.567 (81,2 %)
2017 5.559.507 176.625 (3,2 %) 144.852 (82,0 %)
2018 5.622.962 174.365 (3,1 %) 144.514 (82,9 %)
Doch können Einstellungen unter Auflagen, wie gesehen, auch durch die Gerichte
erfolgen (§ 153a Abs. 2 StPO). Angaben darüber finden sich in der Statistik der Straf-
gerichte. Von den Verfahren, die die Amtsgerichte im Jahr 2018 gegen 711.704 Be-
schuldigte erledigten, wurde gegen deutlich mehr als 50.000 Personen und damit bei
zuletzt 7,7 % das Verfahren nach § 153a Abs. 2 StPO eingestellt (Tabelle 2). Dieser
Anteil ist seit Jahren recht stabil, während die absolute Zahl dieser Erledigungsart
seit dem Jahr 2005 um mehr als 25 % zurückgegangen ist. In 73,8 % dieser Einstel-
lungen (2018) wurde dem Angeklagten die Zahlung eines Geldbetrags auferlegt.
Demnach gewinnen in diesem Stadium des Verfahrens die nicht enumerativ aufge-
zählten sonstigen Auflagen oder Weisungen (10,3 %) und die Wiedergutmachung
des Schadens nach § 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StPO (6,4 %) an Relevanz.
27
Quelle: Staatsanwaltschaftsstatistik, zuletzt Tabelle 2.4.1.
834 Jörg Kinzig
Tabelle 2
Vor dem Amtsgericht erledigte Verfahren von 2002 bis 201828
Jahr Zahl der Einstellung gegen Auflage oder Geldbetrag für gemeinnützige
einzelnen Weisung nach § 153a StPO Einrichtung oder Staatskasse
Beschuldigten (Abs. 1 S. 2 Nr. 2)
2002 962.228 71.030 (7,4 %) 53.977 (76,0 %)
2005 999.406 73.829 (7,4 %) 53.071 (71,9 %)
2010 888.322 68.235 (7,7 %) 46.982 (68,9 %)
2015 739.848 57.603 (7,8 %) 41.206 (73,8 %)
2016 728.441 55.854 (7,8 %) 40.176 (71,9 %)
2017 717.864 55.374 (7,7 %) 40.258 (72,7 %)
2018 711.704 54.866 (7,7 %) 40.479 (73,8 %)
Doch nicht nur vor dem Amtsgericht, auch vor dem Landgericht 1. Instanz können
Verfahren nach § 153a Abs. 2 StPO eingestellt werden. Wie Tabelle 3 ausweist, ist
die Verfahrensbeendigung vor diesem Gericht mit nur rund 400 Fällen jährlich aller-
dings selten, was in erster Linie darauf zurückzuführen sein dürfte, dass in dieser Ein-
gangsinstanz ganz überwiegend Verbrechen verhandelt werden.
Tabelle 3
Vor dem Landgericht 1. Instanz erledigte Verfahren von 2002 bis 201829
Jahr Zahl der Einstellung gegen Auflage oder Geldbetrag für gemeinnützige
einzelnen Weisung nach § 153a StPO Einrichtung oder Staatskasse
Beschuldigten (Abs. 1 S. 2 Nr. 2)
2002 19.611 311 (1,6 %) 231 (74,3 %)
2005 19.413 346 (1,8 %) 290 (83,8 %)
2010 19.635 411 (2,1 %) 314 (76,4 %)
2015 17.953 460 (2,6 %) 370 (80,4 %)
2016 18.136 529 (2,9 %) 438 (82,8 %)
2017 18.224 446 (2,4 %) 365 (81,8 %)
2018 18.515 388 (2,1 %) 316 (81,4 %)
Zahlenmäßig häufiger sind dagegen Verfahren, die vor dem Landgericht mit einer
Einstellung gegen Auflagen nach § 153a Abs. 2 StPO in der Berufungsinstanz enden
(Tabelle 4). Dies betraf in den letzten Jahren etwas mehr als 2.000 Beschuldigte jähr-
lich bei ebenfalls in absoluten Zahlen rückläufiger Tendenz. Auch hier spielt die
Geldauflage nach § 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StPO eine quantitativ bedeutende Rolle.
28
Quelle: Statistik Rechtspflege Strafgerichte 2018, Angaben nach einzelnen Beschul-
digten; zuletzt Tabelle 2.3.
29
Quelle: Statistik Rechtspflege Strafgerichte 2018, Angaben nach einzelnen Beschul-
digten; zuletzt Tabelle 4.3.
„Und immer geht’s ums Geld“ 835
Tabelle 4
Vor dem Landgericht in der Berufungsinstanz erledigte Verfahren von 2002 bis 201830
Jahr Zahl der Einstellung gegen Geldbetrag für gemeinnützige
einzelnen Auflage oder Weisung Einrichtung oder Staatskasse
Beschuldigten nach § 153a StPO (Abs. 1 S. 2 Nr. 2)
2002 58.544 3.015 (5,1 %) 2.390 (79,3 %)
2005 60.377 2.813 (4,7 %) 2.179 (77,5 %)
2010 55.377 2.506 (4,5 %) 1.894 (75,6 %)
2015 47.049 2.268 (4,8 %) 1.700 (75,0 %)
2016 48.178 2.263 (4,7 %) 1.667 (73,7 %)
2017 47.768 2.243 (4,7 %) 1.670 (74,5 %)
2018 47.947 2.240 (4,7 %) 1.646 (73,5 %)
Wenden wir uns nun der Verwarnung mit Strafvorbehalt und damit der Strafver-
folgungsstatistik zu. Wie Tabelle 5 ausweist, fristet die Verwarnung mit Strafvorbe-
halt seit Jahrzehnten ein Schattendasein. Nur rund 1 % aller Verurteilten31 wird mit
dieser Sanktion bedacht. Das Anliegen des Reformgesetzgebers des Jahres 2006,
„eine moderate Erweiterung der Verwarnung mit Strafvorbehalt“ zu bewirken,32
hat sich somit allenfalls ansatzweise erfüllt.33 Zu einer stärkeren Anwendung des
§ 59 StGB hat auch nicht der in absoluten Zahlen deutliche Rückgang der Einstel-
lungen nach § 153a StPO durch die Staatsanwaltschaft beigetragen (vgl. Tabelle 1).
Im Vergleich zur Verwarnung mit Strafvorbehalt sind allein die amtsgerichtlichen
Einstellungen nach § 153a Abs. 2 StPO fast zehn Mal häufiger (vgl. Tabelle 2). In
knapp der Hälfte der Fälle eines Vorgehens nach § 59 StGB liegt die vorbehaltene
Strafe zwischen 31 und 90 Tagessätzen, wobei der Anteil derjenigen Personen,
denen eine Geldstrafe von (nur) 16 bis 30 Tagessätzen in Aussicht gestellt wird,
in der Vergangenheit fast kontinuierlich angestiegen ist.
Schaut man, wegen welcher Tatbestände eine Verwarnung nach § 59 StGB er-
folgt, ergibt sich folgendes Bild: Unter den 6.153 im Jahr 2018 Verwarnten dominier-
ten solche wegen (einfachen) Betrugs (§ 263 Abs. 1 StGB) mit 1.280 (20,8 %). Es
folgten die einfache Körperverletzung (§ 223 StGB) mit 621 (10,1 %), einfacher
Diebstahl (§ 242 StGB) mit 405 (6,6 %), Verkehrsdelikte ohne Trunkenheit mit
374 (6,1 %), Beleidigung (§ 185 StGB) mit 341 (5,5 %) sowie Straftaten nach
dem BtmG mit 288 (4,7 %) Angeklagten.34
30
Quelle: Statistik Rechtspflege Strafgerichte 2018, Angaben nach einzelnen Beschul-
digten; zuletzt Tabelle 5.3.
31
Inklusive der Verwarnten mit Strafvorbehalt.
32
Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Modernisie-
rung der Justiz (2. Justizmodernisierungsgesetz), BT-Drs. 16/3038, 25.
33
Zur Anwendung zwischen 1975 und 1994 vgl. Neumayer-Wagner 1998, 74: Zwischen
1986 und 1994 lag der Anteil der Verwarnten durchweg zwischen 0,5 % und 0,6 %.
34
Quelle: Statistik Strafverfolgung, zuletzt Tabelle 3.4.
836 Jörg Kinzig
Tabelle 5
Verurteilte mit Hauptstrafen nach allgemeinem Strafrecht und Verwarnte
mit Strafvorbehalt von 2002 bis 2018a)
Jahr Verurteilte mit Verwarnte 5 – 15 16 – 30 31 – 90 91 – 180
Hauptstrafe mit Straf- Tagessätze Tagessätze Tagessätze Tagessätze
nach allgemei- vorbehalt
nem Strafrechtb)
2002 5.101 439 1.454 2.567 641
623.370
(0,8 %) (8,6 %) (28,5 %) (50,3 %) (12,6 %)
2005 7.074 633 1.983 3.708 750
681.078
(1,0 %) (8,9 %) (28,0 %) (52,4 %) (10,6 %)
2010 8.083 987 2.657 3.731 708
712.885
(1,1 %) (12,2 %) (32,9 %) (46,2 %) (8,6 %)
2015 7.015 791 2.444 3.203 577
681.160
(1,0 %) (11,3 %) (34,8 %) (45,7 %) (8,2 %)
2016 6.461 711 2.341 2.874 535
682.606
(0,9 %) (11,0 %) (36,2 %) (44,5 %) (8,3 %)
2017 6.492 716 2.344 2.880 552
662.868
(1,0 %) (11,0 %) (36,1 %) (44,4 %) (8,5 %)
2018 6.153 644 2.367 2.674 468
659.213
(0,9 %) (10,5 %) (38,5 %) (43,5 %) (7,6 %)
a)
Quelle: Statistik Strafverfolgung, zuletzt Tabellen 3 und 3.4.
b)
Addiert wurden dazu die Verwarnten mit Strafvorbehalt.
Werfen wir nun einen Blick auf die Praxis der Geldstrafe. Tabelle 6 weist ein-
drucksvoll die unveränderte Dominanz der Geldstrafe bei den Verurteilten mit
Hauptstrafe nach allgemeinem Strafrecht aus.35 Sie ist seit dem Jahr 2002 sogar
noch gestiegen, so dass nunmehr (2018) gegen 84,3 % der genannten Personengrup-
pe eine Geldstrafe verhängt wird. Dabei nimmt seit einiger Zeit der prozentuale An-
teil der Geldstrafen mit höheren Tagessätzen ab 31 zu. Während noch im Jahr 2002
der Anteil der Verurteilten mit 31 und mehr Tagessätzen bei insgesamt (nur) 49,4 %
lag, beträgt er derzeit immerhin 57,8 %. Dabei hat speziell der Anteil der zu Tages-
sätzen zwischen 91 und 180 Verurteilten von absolut rund 25.000 (2002) auf mehr als
43.000 und damit von 5,0 % auf 7,9 % zugelegt. Ganz so düster ist die Lage also nicht
mehr, wie sie der Jubilar noch im NomosKommentar beschreibt.36
Im Vergleich der Tagessatzhöhen von Verwarnung mit Strafvorbehalt und Geld-
strafe zeigen sich zudem unterschiedliche Entwicklungen. Während bei dem Vorge-
hen nach § 59 StGB der Anteil der höheren Tagessatzzahlen zwischen 31 und 180
von 62,9 % im Jahr 2002 auf 51,1 % im Jahr 2018 zurückgegangen ist (vgl. Tabel-
le 5), stieg er im gleichen Zeitraum bei den Geldstrafen von 48,9 % auf 57,2 % (Ta-
belle 6).
35
Zur Entwicklung der Geldstrafe vgl. auch Heinz 2017, 111 ff.
36
Albrecht 2017, § 40 Rn. 3 f.
Tabelle 6
Verurteilte mit Hauptstrafen nach allgemeinem Strafrecht und zu Geldstrafe Verurteilte von 2002 bis 2018a
Jahr Verurteilte mit Hauptstrafe davon 5 – 15 16 – 30 31 – 90 91 – 180 181 – 360 361
nach allgemeinem Geldstrafe Tagessätze Tagessätze Tagessätze Tagessätze Tagessätze Tagessätze
Strafrecht und mehr
2002 493.083 68.394 181.285 216.364 24.653 2.050 337
618.269
(79,8 %) (13,9 %) (36,8 %) (43,9 %) (5,0 %) (0,4 %) (0,1 %)
2005 545.971 66.289 196.367 250.672 29.671 2.620 352
674.004
(81,0 %) (12,1 %) (36,0 %) (45,9 %) (5,4 %) (0,5 %) (0,1 %)
2010 575.068 65.196 202.618 268.952 34.882 3.063 357
704.802
(81,6 %) (11,3 %) (35,2 %) (46,8 %) (6,1 %) (0,5 %) (0,1 %)
2015 567.054 57.359 198.900 269.002 38.414 3.114 265
674.145
(84,1 %) (10,1 %) (35,1 %) (47,4 %) (6,8 %) (0,5 %) (0,0 %)
2016 568.314 54.688 198.147 271.347 40.624 3.248 260
676.145
(84,1 %) (9,6 %) (34,9 %) (47,7 %) (7,1 %) (0,6 %) (0,0 %)
2017 551.957 48.594 188.809 269.733 41.455 3.110 256
656.376
(84,1 %) (8,8 %) (34,2 %) (48,9 %) (7,5 %) (0,6 %) (0,0 %)
2018 550.312 45.784 186.222 271.511 43.301 3.270 224
„Und immer geht’s ums Geld“
653.060
(84,3 %) (8,3 %) (33,8 %) (49,3 %) (7,9 %) (0,6 %) (0,0 %)
a
Quelle: Statistik Strafverfolgung, zuletzt Tabellen 3 und 3.3.
837
838 Jörg Kinzig
In seiner Dissertation stellte der Jubilar anhand eines Vergleichs von Geld- und
Freiheitsstrafe fest, dass im oberen Bereich von 180 bis 360 Tagessätzen (entspre-
chend einer Freiheitsstrafe von sechs bis zwölf Monaten) die Geldstrafe statistisch
„kaum mehr eine Rolle“ spiele.37 Die Zahlen aus dem Jahr 2018 belegen (Tabelle
7), dass die Geldstrafe auch in diesem Bereich maßvoll an Bedeutung gewonnen
hat. Betrug der Anteil der Geldstrafe im Bereich von sechs bis zwölf Monaten im
Jahr 1976 nur 2,3 %, ist er nunmehr (2018) auf immerhin 9,0 % angestiegen.
Zudem wird in diesem Bereich mit der Freiheitsstrafe mit Bewährung von einer wei-
teren ambulanten Sanktion vermehrt Gebrauch gemacht (Anstieg von 60,8 % auf
71,3 %). Der Befund einer zunehmenden Bedeutung der Geldstrafe gilt in etwas ge-
ringerem Ausmaß auch für den Bereich bis zu 180 Tagessätzen/zu sechs Monaten
(Anstieg von 89,3 % auf 93,3 %) und – auf deutlich niedrigerem Niveau – auch
für den Bereich über 360 Tagessätzen/über einem bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe
(Anstieg von 0,8 % auf 1,1 %).38 Der Vergleich zwischen den Jahrgängen 1976 und
2018 belegt im Übrigen den dramatischen Bedeutungsverlust der Freiheitsstrafe
ohne Bewährung. Betrug im Jahr 1976 im Bereich von eins bis zwei Jahren der Anteil
der Freiheitsstrafen ohne Bewährung noch 88,5 %, waren es zuletzt im Jahr 2018 nur
noch 29,9 %.39
Betrachtet man zuletzt die Entwicklung der Höhe der Tagessätze (Tabelle 8), zeigt
sich vor allem ein deutlicher Rückgang der Geldstrafen mit Tagessätzen von bis zu
fünf Euro. Wiesen diese im Jahr 1990 noch einen Anteil von 11,9 % auf,40 lag er 2002
bei 7,4 %, um mittlerweile nach einem stetigen Rückgang nur noch 1,5 % zu betra-
gen. Die Praxis scheint in diesem Bereich auch ohne Änderung des Normprogramms
des § 40 Abs. 2 S. 3 StGB die zum Teil im Schrifttum geäußerte Kritik nachvollzo-
gen zu haben, wonach sich mit diesem Mindestmaß „Ernst und Bedeutung der Kri-
minalstrafe – auch bei Minderbemittelten – nicht deutlichmachen“ lasse.41 Der Preis
für den zunehmenden Verzicht auf die Verhängung niedriger Tagessatzhöhen kann
jedoch ein Anstieg von Ersatzfreiheitsstrafen sein.42
37
Albrecht 1980, 199 ff.
38
Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang, dass eine Geldstrafe über 360 Tagessätze nur
bei einer Gesamtstrafenbildung nach § 54 Abs. 2 S. 2 StGB möglich ist.
39
Vgl. zu dieser Entwicklung auch Heinz 2017, 118 ff., insbesondere Schaubild 60.
40
Heinz 2017, 115.
41
Grube 2020, Vor § 40 Rn. 12; Radtke 2016, § 40 Rn. 54; zuvor bereits Kintzi 2001,
201 f.; dagegen: Albrecht 2017, § 40 Rn. 18; vgl. auch OLG Naumburg, B. v. 10. 05. 2012 – 1
Ss 8/12.
42
Vgl. den Anstaltsleiter der JVA Plötzensee, Dr. Uwe Meyer-Odewald, in seiner Stel-
lungnahme zur Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags zum Gesetzent-
wurf BT-Drs. 19/1689 vom 18. April 2018 – Aufhebung der Ersatzfreiheitsstrafe – am 03. 04.
2019, der für eine zu hohe Festsetzung des Tagessatzes insbesondere das Vorgehen per
Strafbefehl verantwortlich macht.
„Und immer geht’s ums Geld“ 839
Demgegenüber hat der Anteil der Geldstrafen mit einer Tagessatzhöhe ab 25 Euro
deutlich zugelegt. Entfielen darauf im Jahr 2002 noch 26,2 % aller Geldstrafen,
waren es im Jahr 2018 immerhin 37,0 %.
Tabelle 7
Geldstrafe und Freiheitsstrafe im Vergleich 1976 und 201843
FS bis 6 Monate FS bis 12 Monate FS 1 bis 2 Jahre
(= 180 Ts.) (= 360 Ts.) (> 360 Ts.)
1976 abs. % abs. % abs. %
Geldstrafe 491.883 89,3 % 608 2,3 % 70 0,8 %
FS mit Bewährung 44.695 8,1 % 16.288 60,8 % 878 10,7 %
FS ohne Bewährung 14.390 2,6 % 9.807 37,0 % 7.260 88,5 %
Insgesamt 550.968 100,0 % 26.803 100,0 % 8.208 100,0 %
2018
Geldstrafe 546.818 93,3 % 3.270 9,0 % 224 1,1 %
FS mit Bewährung 29.240 5,0 % 25.857 71,3 % 14.407 69,1 %
FS ohne Bewährung 10.042 1,7 % 7.163 19,7 % 6.228 29,9 %
Insgesamt 586.100 100,0 % 36.290 100,0 % 20.859 100,0 %
Eindrucksvoll ist der hohe Anteil von Verurteilungen nach der Abgabenordnung,
wenn hohe Anzahlen an Tagessätzen mit hohen Tagessätzen zusammentreffen. Von
326 Personen im Jahr 2018 mit einer Geldstrafe von 181 – 360 Tagessätzen, bei denen
der Tagessatz zugleich mehr als 50 Euro betrug, wurden allein 231 und damit 70,9 %
wegen Straftaten nach der Abgabenordnung verurteilt.44
43
Zahlen aus dem Jahr 1976 nach Albrecht 1980, 201; im Übrigen vgl. Statistik Strafver-
folgung Tabellen 3.1. und 3.3.
44
Quelle: Statistik Strafverfolgung 2018, Tabelle 3.3.
Tabelle 8
840
Höhe der Tagessätze von 2002 bis 2018a
Jahr Geldstrafe bis 5 Euro 5 – 10 Euro 10 – 25 Euro 25 – 50 Euro mehr als 50 Euro
2002 492.746 36.508 (7,4 %) 113.903 (23,1 %) 213.408 (43,3 %) 120.197 (24,4 %) 8.730 (1,8 %)
2005 545.619 30.196 (5,5 %) 154.366 (28,3 %) 221.380 (40,6 %) 129.200 (23,7 %) 10.477 (1,9 %)
2010 574.711 17.852 (3,1 %) 185.703 (32,3 %) 222.580 (38,7 %) 135.966 (23,7 %) 12.610 (2,2 %)
2015 566.789 12.144 (2,1 %) 170.232 (30,0 %) 214.562 (37,9 %) 154.339 (27,2 %) 15.512 (2,7 %)
2016 568.054 11.719 (2,1 %) 163.656 (28,8 %) 211.653 (37,3 %) 164.587 (29,0 %) 16.439 (2,9 %)
2017 551.701 9.611 (1,7 %) 147.568 (26,7 %) 203.174 (36,8 %) 173.276 (31,4 %) 18.072 (3,3 %)
2018 550.088 8.493 (1,5 %) 136.927 (24,9 %) 201.273 (36,6 %) 183.240 (33,3 %) 20.155 (3,7 %)
a
Quelle: Statistik Strafverfolgung, zuletzt Tabellen 3 und 3.3.
Jörg Kinzig
„Und immer geht’s ums Geld“ 841
wobei die Vorschrift „insbesondere (aber nicht nur) gegen Ersttäter Anwendung“
finde.50 Auch Beulke hält § 153a StPO bei einer Schuld „im mittleren Bereich“
für anwendbar. Davon könne dann nicht mehr die Rede sein, „wenn Freiheitsstrafen
in Rede stehen, bei denen eine Strafaussetzung nicht mehr möglich wäre.“51 Nach
Diemer brauche „die Schuld nicht gering zu sein“, dürfe „aber auch nicht schwer
sein, so dass von einem mittleren Schuldausmaß auszugehen ist.“52 Nach Peters
komme „§ 153a nur in Fällen der ,mittleren Kriminalität‘ und nur bei mittlerer
Schuld in Betracht“, nicht mehr bei einer Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung
nicht zur Bewährung ausgesetzt werden könne.53
Soweit sich präzisere Aussagen finden, nehmen diese zur Bestimmung der
„Schwere der Schuld“ in § 153a Abs. 1 S. 1 StPO auch auf die Verwarnung mit Straf-
vorbehalt und die Geldstrafe Bezug. Teilweise wird dabei vorgeschlagen, dass § 153a
StPO nur anwendbar sei, wenn im Falle einer Verurteilung eine Geldstrafe erfolgen
würde.54 Andere Stimmen ziehen einen Vergleich zur Verwarnung mit Strafvorbehalt
und vertreten die Ansicht, die Grenze der Schwere der Schuld sei bei einer Geldstrafe
von bis zu 180 Tagessätzen zu ziehen.55 Diese Ansicht überzeugt zum einen aufgrund
der Intention des Gesetzgebers des Jahres 1974, mit der Einführung des § 153a StPO
durch das EGStGB ein prozessuales Gegenstück zur Verwarnung mit Strafvorbehalt
nach § 59 StGB zu schaffen.56 Zum anderen erscheint es sinnwidrig, wenn Einstel-
lungsmöglichkeiten im Ermittlungsverfahren zur Verfügung stünden, die über die in
einem Urteil nach Hauptverhandlung möglichen mildesten Sanktionsmöglichkeiten
hinausgehen.57
50
Meyer-Goßner & Schmitt 2019, § 153a Rn. 7.
51
Beulke 2008, § 153a Rn. 32; vgl. auch Beukelmann 2019, § 153a Rn. 12 f., wonach ein
Vorgehen nach § 153a StPO bei im Fall einer Verurteilung zur Bewährung auszusetzenden
Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr möglich sei.
52
Diemer 2019, § 153a Rn. 10.
53
Peters 2016, § 153a Rn. 12. Vgl. auch Schäfer, Sander & van Gemmeren 2017,
Rn. 30, 37: Anwendung bis in die mittlere Kriminalität hinein. Die Formulierung „mittlere
Kriminalität“ geht auf die Begründung des Bundesrates zu dem Entwurf eines Gesetzes zur
Entlastung der Rechtspflege aus dem Jahr 1991 zurück (BT-Drs. 12/1217). Dort heißt es auf
S. 34: „Die vorgeschlagene Regelung … gibt … der Praxis die Möglichkeit, auch im Bereich
der mittleren Kriminalität von der Erhebung der öffentlichen Klage gegen Auflagen und
Weisungen abzusehen.“
54
So Radtke 1994, 207 f.; Loos 1995, 572; Scheinfeld 2008, 856; dazu ausführlich, aber
ablehnend Kluth 2016, 116 ff.
55
Kluth 2016, 129 ff., 131 ff. mit weiteren Nachweisen zu Autoren, die geringere Tages-
satzzahlen für maßgebend erachten.
56
Vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Einführungsgesetzes zum
Strafgesetzbuch (EGStGB), Bt-Drs 7/550, S. 297 unter Bezug auf § 59 StGB: „Die Einstel-
lung unter Auflagen oder Weisungen würde in zahlreichen Fällen auch im Verfahren bis zur
Hauptverhandlung eine entsprechende Erledigung ermöglichen.“
57
Vgl. Kluth 2016, 131 ff., 142 f.
„Und immer geht’s ums Geld“ 843
Damit stellt sich aber unweigerlich ein Problem, das der Jubilar in seiner Kom-
mentierung zu § 59 StGB zu Recht aufgeworfen hat: Welche Fälle bleiben nach
der Ausweitung des § 153a StPO für eine Verwarnung mit Strafvorbehalt überhaupt
noch übrig?58 Die Frage stellt sich umso drängender, als die Verwarnung mit Straf-
vorbehalt im Gegensatz zu § 153a StPO deutlich stärker konturiert ist. Zu den Vor-
aussetzungen des § 59 StGB zählen: – die Verwirkung einer Geldstrafe bis zu 180
Tagessätzen; – eine günstige Legalprognose; – besondere Umstände von Tat und
Täter und – das Nichtgebotensein einer Verurteilung zu Strafe zur Verteidigung
der Rechtsordnung. Schaut man auf die oben genannten einer Verwarnung mit Straf-
vorbehalt regelmäßig zugrunde liegenden Delikte, ist zunächst nicht einsichtig,
warum bei einem einfachen Betrug, einer einfachen Körperverletzung oder einem
einfachen Diebstahl nicht das Verfahren schon durch die Staatsanwaltschaft vor An-
klageerhebung oder spätestens durch das Gericht im Hauptverfahren eingestellt
wurde, zumal ein Vorgehen nach § 59 Abs. 1 StGB ja voraussetzt, dass sich Tat
und Täter durch die darin genannten Besonderheiten auszeichnen.
Daher scheint es eher erklärungsbedürftig, warum die Strafverfolgungsstatistik
immer noch Fälle von Verwarnungen mit Strafvorbehalt aufweist, wenn doch ihre
vergleichsweise engen normativen Voraussetzungen spätestens im Stadium der
Hauptverhandlung eine Ahndung nach § 153a StPO nahelegen. Es kommt hinzu,
dass die deutlich formlosere und sanktionsärmere Einstellung gegen eine Auflage
auch den Verfahrensbeteiligten nur Vorteile bringt.59
Dass ein Vorgehen nach § 153a StPO nicht normativ genauer von der Verwarnung
mit Strafvorbehalt abgeschichtet wurde, ist auch deswegen erstaunlich, weil bemer-
kenswerterweise bereits der Gesetzgeber die Vorteile eines Vorgehens nach § 59
StGB gegenüber einer Einstellung nach § 153a StPO betont hat. So werden der Ver-
warnung mit Strafvorbehalt im bereits erwähnten Entwurf des 2. Justizmodernisie-
rungsgesetzes gegenüber der Anwendung des § 153a StPO „wesentliche Vorzüge“
attestiert. Denn sie werde „in einem unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten abgesi-
cherten Verfahren verhängt“ und ihr liege „eine gerichtliche Schuldfeststellung zu-
grunde.“60
Erklären lässt sich das Überleben der Verwarnung mit Strafvorbehalt wohl nur mit
zwei Phänomenen. Zum einen kann es für eine Einstellung an den erforderlichen Zu-
stimmungen der Prozessbeteiligten fehlen. Das wird in erster Linie die Staatsanwalt-
schaft sein. Fallkonstellationen dieser Art hat Dencker bereits im Jahr 1986 als solche
des „Amtsrichters Rache“ beschrieben.61 Denkbar sind auch Situationen, in denen es
„der schwierige Angeklagte“ ist, der die Zustimmung verweigert. Als Beispiel kann
58
Albrecht 2017, § 59 Rn. 7.
59
Vgl. Neumayer-Wagner 1998, 86 ff.
60
Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Modernisie-
rung der Justiz (2. Justizmodernisierungsgesetz), BT-Drs. 16/3038, 58; vgl. auch Heintschel-
Heinegg 2020, § 59 Rn. 5.
61
Dencker 1986, 399 ff.
844 Jörg Kinzig
ein Verfahren des AG Wuppertal aus dem Jahr 2007 dienen. Dort erhielt der Ange-
klagte aufgrund sogenannten „Schwarzsurfens im Internet“ wegen eines tateinheit-
lichen Verstoßes gegen §§ 89 S. 1, 148 Abs. 1 S. 1 TKG (Verstoß gegen das Abhör-
verbot für Nachrichten) und gegen §§ 44, 43 Abs. 2 Nr. 3 BDSG (unbefugtes Bereit-
halten personenbezogener Daten) eine Verwarnung mit Strafvorbehalt. Einer ur-
sprünglich ins Auge gefassten Einstellung des Verfahrens, für die der Angeklagte
allerdings auf seinen Laptop hätte verzichten müssen, hatte der Angeklagte nicht zu-
gestimmt.62
Zum anderen dürfte der Rückgriff auf eine Schuldfeststellung nach § 59 StGB ge-
genüber dem Weg über § 153a StPO nicht selten der Symbolkraft geschuldet sein, die
man sich von einem Urteil erhofft.63 Als ein Beleg dafür kann der berühmt gewordene
Fall Daschner angeführt werden. Daschner, damaliger Polizeivizepräsident von
Frankfurt/M., hatte bekanntlich während der Entführung eines Jungen im Jahr
2002 angeordnet, dass dem Verdächtigen Gäfgen mit dem Einsatz physischen
Zwangs zu drohen sei, um ihn zur Preisgabe des Verstecks des Kindes zu veranlassen.
Hier begründete das Landgericht Frankfurt/M. seine Verwarnung bemerkenswerter-
weise damit, die Verteidigung der Rechtsordnung habe es geboten, „dass ein Schuld-
spruch erfolgt, nicht aber eine Bestrafung. Es musste klargestellt werden, dass die
bestehenden Gesetze und die in ihnen verkörperten Verfassungsgrundsätze von Re-
präsentanten der Staatsgewalt beachtet werden, auch in Situationen, in denen es per-
sönlich sehr schwer fallen mag, sich danach zu richten.“64 Hierzu sei in Erinnerung
gerufen, dass eine Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StGB
voraussetzt, dass die Verteidigung der Rechtsordnung die Verurteilung zu Strafe
nicht gebietet. In der Lesart des Landgerichts ist also die schwierige Unterscheidung
zu treffen, ob die schillernde Rechtsfigur der Verteidigung der Rechtsordnung zwar
bereits einen Schuldspruch (dann ist kein Vorgehen nach § 153a StPO mehr mög-
lich), aber noch nicht die Verurteilung zu einer Geldstrafe erfordert.
Die genannten Schwächen des § 153a StPO und dessen weitgehend mit der Ver-
warnung mit Strafvorbehalt deckungsgleicher Anwendungsbereich führen folgerich-
tig zu Vorschlägen, eine Abschaffung der Einstellung gegen Auflagen durch einen
Ausbau des Anwendungsbereichs des § 59 StGB zu kompensieren.65
Im Übrigen wird die Wahl zwischen einer Verwarnung mit Strafvorbehalt und der
Verhängung einer Geldstrafe im Bereich bis zu 180 Tagessätzen im Wesentlichen
durch die Voraussetzung des § 59 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB gesteuert. Danach setzt
die Verwarnung mit Strafvorbehalt voraus, dass nach der Gesamtwürdigung von
62
AG Wuppertal, NStZ 2008, 161.
63
Neumayer-Wagner 1998, 99 ff. sieht darin eine Fallgruppe zur „Aufrechterhaltung des
sozialethischen Unwerturteils“.
64
LG Frankfurt, NJW 2005, 692 (696).
65
Siehe umfassend Bommer, Deiters, Eser u. a. 2019, die § 153a StPO abschaffen und die
„Verwarnung“ nach § 59 StGB dagegen ausbauen wollen; vgl. auch Deiters 2015.
„Und immer geht’s ums Geld“ 845
Tat und Persönlichkeit des Täters besondere Umstände vorliegen, die eine Verhän-
gung von Strafe entbehrlich machen.66
Ist der Weg zu einer Geldstrafe frei, ist abschließend noch auf die Schwierigkeit
hinzuweisen, im Bereich von Strafen zwischen sechs Monaten und einem Jahr zwi-
schen der Anordnung einer Geld- und einer Freiheitsstrafe zu differenzieren. Hans-
Jörg Albrecht schreibt dazu: „Abgesehen von dem durch § 47 geregelten Verhältnis
kurzer Freiheitsstrafen zur Geldstrafe fehlt es bislang an Kriterien für die Entschei-
dung zwischen Geldstrafe und Freiheitsstrafe bei Strafen zwischen sechs Monaten
und einem Jahr, wenn man von einer zweifelhaften, aber in der Praxis dominierenden
Berücksichtigung der (einschlägigen) Vorstrafenbelastung absieht.“67
Die Praxis räumt in diesem Bereich in einer bemerkenswerten Uniformität immer
noch ganz weitgehend Freiheitsstrafen den Vorrang gegenüber der Geldstrafe ein.
Die vor einer Freiheitsstrafe unter sechs Monaten nach § 47 StGB gesetzlich veran-
kerte Bremse scheint im Bereich darüber fast völlig gelöst.68 Das belegen die oben in
Tabelle 7 genannten Zahlen mit der eindeutigen, wenn auch etwas verringerten Do-
minanz der Freiheitsstrafe.
Thematisiert wird das Problem, wie zwischen Freiheits- und Geldstrafe im Be-
reich zwischen sechs und zwölf Monaten zu wählen ist, nur selten. Im Praktikerkom-
mentar von Fischer wird die Frage – soweit ersichtlich – gar nicht angesprochen.69 Im
Übrigen fallen die Stimmen in der Literatur, wie in diesem Bereich zu verfahren ist,
sehr unterschiedlich aus: Teilweise wird eher affirmativ die gängige Praxis wieder-
gegeben.70 Unter Gleichheitsaspekten nicht unproblematisch erscheint der an ande-
rer Stelle erteilte Rat, „bei vermögenden Tätern, die erfahrungsgemäß gegenüber
einer höheren Geldstrafe recht empfindlich sind“, verstärkt von einer Geldstrafe Ge-
brauch zu machen.71
Demgegenüber stellen andere Autoren den explizit oder impliziert propagierten
Vorrang der Freiheitsstrafe infrage. Nach Miebach & Maier seien in diesem Bereich
„der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, das Maß der Schuld sowie präventive Überle-
gungen“ für die Wahl der Strafart maßgebend. Könne danach auf das gewichtigere
Unwerturteil, das mit der Verhängung einer Freiheitsstrafe gegenüber einer Geldstra-
66
Vgl. etwa Kinzig 2019, § 59 Rn. 11 ff.
67
Albrecht 2017, § 40 Rn. 16.
68
Vgl. Streng 2012, Rn. 164.
69
Erschwert wird die Suche des Rechtsanwenders nach Hinweisen für ein geeignetes
Vorgehen dadurch, dass unklar ist, wo Informationen zu einem Problem zu finden sind, zu dem
keine explizite Regelung existiert: bei den Erläuterungen zu § 40, zu § 46 oder zu § 47 StGB?
70
Vgl. etwa Grube 2020, Vor § 40 Rn. 40, wobei es nicht von vornherein ausgeschlossen
sei, „auch in diesen Fällen … auf eine angemessen hohe Geldstrafe zu erkennen.“ Heintschel-
Heinegg 2020, § 46 Rn. 126 spricht gar von einer „Umwandlung“ der Freiheits- in eine
Geldstrafe.
71
Schäfer, Sander & van Gemmeren 2017, Rn. 1193.
846 Jörg Kinzig
fensanktion verbunden ist, verzichtet werden, sei eine Geldstrafe festzusetzen.72 Ver-
gleichsweise ausführlich hat sich Wolters der Thematik gewidmet. Er wendet sich
zunächst zutreffend gegen eine schlichte Umkehr des Grundsatzes des § 47 StGB
in diesem Bereich mit der Folge, „dass die Verhängung der Strafe als Freiheitsstrafe
die Regel und die Geldstrafe die Ausnahme“ sei,73 wobei er im Folgenden mit von
sechs Monaten bis zu einem Jahr steigendem Strafquantum „eine lineare Entwick-
lung“ hin von einer Geld- zu einer Freiheitsstrafe favorisiert.74
Die genannten unterschiedlichen Ansichten sind auf eine nur schwer mit der Ver-
fassung vereinbare Abstinenz des Gesetzgebers in einer wichtigen Frage zurückzu-
führen, bei der immerhin die Würfel über die Freiheitsentziehung eines Angeklagten
fallen.75 Jedenfalls ist dem Gesetz kein Vorrang der Freiheits- gegenüber der Geld-
strafe zu entnehmen. Im Übrigen hat das Gericht in diesem grundrechtssensiblen Be-
reich seine Entscheidung sorgfältig zu begründen. Dabei wird, je näher sich die Stra-
fe der Grenze von einem Jahr nähert, desto eher eine Freiheitsstrafe in Betracht kom-
men. Reicht jedoch eine Geldstrafe aus, wäre eine Freiheitsstrafe schon aus Gründen
der Verhältnismäßigkeit verfehlt.76
5. Zusammenfassung
Ein normativer und rechtstatsächlicher Vergleich von Geldauflage, Verwarnung
mit Strafvorbehalt und Geldstrafe lässt sich wie folgt resümieren.
1. Die Voraussetzungen der drei Sanktionen, mit denen ein Beschuldigter in einem
Strafverfahren zur Zahlung eines Geldbetrages verpflichtet werden kann, sind un-
terschiedlich dicht ausgestaltet. Die auch nach der Gesetzesreform des Jahres
2006 restriktive Normierung der Verwarnung mit Strafvorbehalt korrespondiert
nach wie vor mit einem geringen Anwendungsbereich.
2. § 153a StPO ist sowohl in seinen Anforderungen als auch in seinem Umfang, ins-
besondere was die Höhe der Geldauflage angeht, geradezu obszön vorausset-
zungsarm. Schon deswegen ist ein Vorgehen nach § 153a StPO an sich auf
Fälle „geringfügiger Kriminalität“ zu beschränken.77 Dabei empfiehlt es sich,
72
Miebach & Maier 2016, § 46 Rn. 132.
73
Wolters 2016, vor § 46 Rn. 22.
74
Wolters 2016, § 47 Rn. 7 ff.
75
Dies gilt, auch wenn Albrecht zu Recht auf eine zunehmende Konvergenz zwischen
Geld- und Freiheitsstrafe im Bereich von bis zu einem Jahr hinweist, vgl. Albrecht 2017, § 40
Rn. 7.
76
Vgl. Kinzig 2019, § 46 Rn. 64; in diese Richtung auch Miebach & Maier 2016, § 46
Rn. 132.
77
Auch in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Verständigungsgesetz
(vgl. BVerfGE 133, 168 (226)) wird ein „Absehen von der Strafverfolgung“ auf Fälle ge-
ringfügiger Kriminalität begrenzt, „in denen der Rechtsfrieden nicht ernsthaft beeinträchtigt
und eine Kriminalstrafe zum Schuldausgleich nicht zwingend geboten ist, so dass ein öffent-
„Und immer geht’s ums Geld“ 847
die Grenze der Schwere der Schuld, bis zu der noch eine Einstellung gegen eine
(Geld-)Auflage in Betracht kommt, bei einer Geldstrafe von bis zu 180 Tagessät-
zen zu ziehen.
3. „De lege ferenda“ scheint es angebracht, das Verhältnis zwischen § 153a StPO
und § 59 StGB (mindestens) neu zu justieren, § 153a StPO zu präzisieren oder
gar ganz abzuschaffen. Dabei sind auch die Rückwirkungen auf das Rechtsinstitut
der Verständigung im Strafverfahren in den Blick zu nehmen. Der AE – Abge-
kürzte Strafverfahren im Rechtsstaat erscheint dafür als taugliche Diskussions-
grundlage.
4. In rechtstatsächlicher Hinsicht scheint das Potential eines Vorgehens nach § 153a
StPO derzeit ausgeschöpft. Daran hat auch die Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichts zum Verständigungsgesetz augenscheinlich nichts geändert. Dem-
gegenüber hat die Geldstrafe seit Beginn dieses Jahrhunderts auf hohem Niveau
weiter an Bedeutung gewonnen. Dies gilt in moderater Art und Weise auch für
den Bereich zwischen 91 bis 180 Tagessätzen.
5. Dass im Bereich zwischen sechs und zwölf Monaten keine gesetzlichen Vorgaben
darüber existieren, ob eine Freiheits- oder eine Geldstrafe anzuordnen ist, ist
rechtsstaatlich bedenklich. Die in der Praxis vorherrschende Einstellung, die Frei-
heitsstrafe als Regel und die Geldstrafe als Ausnahme vorzusehen, hat keine nor-
mative Grundlage.
Diese Thesen können erst den Anfang einer noch zu führenden Diskussion bilden.
Es ist zu wünschen, dass sich auch Hans-Jörg Albrecht daran in gewohnter und be-
währter Weise beteiligen wird.
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848 Jörg Kinzig
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Die Auswirkungen von zwei Aktenuntersuchungen
auf den Verlauf des Strafverfahrens in der Türkei
Von Feridun Yenisey
1. Einführung
Die erste Aktenuntersuchung über den Verlauf des Strafverfahrens in der Türkei
von 1998, deren Ergebnisse als wissenschaftliche Grundlage für eine Reform1 des
Strafverfahrens im Jahr 2004 gedient haben, wurde unter der Betreuung des verehr-
ten Jubilars Hans-Jörg Albrecht durchgeführt. Zusammen mit meinem Lehrer Sulhi
Dönmezer haben wir 1.117 Gerichtsakten von Istanbuler Strafgerichten mit Ent-
scheidungen untersucht, die vor 1998 rechtskräftig geworden waren.2 Damals galten
Verfahrensverzögerungen und die Verletzung des Fair-Trial-Prinzips als die wich-
tigsten Probleme. In den Akten wurden deswegen die einzelnen Handlungen der Ver-
fahrensbeteiligten untersucht, und es zeigte sich, dass es im Allgemeinen sehr lange
Wartezeiten zwischen einzelnen Handlungen gab, die Ermittlungen oberflächlich
und innerhalb von kurzer Zeit geführt wurden und die Hauptverhandlung zusammen
mit der Rechtsmittelphase Jahre dauerte. Nach dem Inkrafttreten der neuen Strafpro-
zessordnung3 (Ceza Muhakemesi Kanunu; CMK), hat die Bahçeşehir Universität
zwischen Oktober 2011 und Februar 2012 die zweite Aktenuntersuchung durchge-
führt, wieder unter der wissenschaftlichen Betreuung von Hans-Jörg Albrecht (465
Akten vom Friedensgericht, 322 vom Amtsgericht und 212 vom Schwurgericht).4
Auch die Ergebnisse dieser zweiten Aktenuntersuchung haben bei den jüngsten Än-
derungen indirekt Auswirkungen auf die Regelungen zur Verfahrensbeschleunigung
und zur Untersuchungshaft gehabt.
1
Die 1985 eingesetzte Kommission zur Erarbeitung eines neuen Strafgesetzbuchentwurfs
unter dem Vorsitz von Sulhi Dönmezer stellte den ersten Entwurf im Jahr 1987 fertig. Später
wurde die Aufgabe der Reformkommission erweitert und mehrere Gesetze wurden vorberei-
tet, zu denen die Strafprozessordnung, das Strafvollzugsgesetz und das Jugendschutzgesetz zu
zählen sind, die ein gesamtes System bilden. Die neuen Gesetze wurden im September 2004
verabschiedet und traten 2005 in Kraft; Tellenbach 2008, 2.
2
Dönmezer & Yenisey 2000.
3
Für die deutsche Übersetzung und Einführung siehe Arslan 2017. Das neue Gesetz hat im
Allgemeinen die Grundprinzipien des alten, von der deutschen StPO fast wortwörtlich rezi-
pierten Gesetzes Nr. 1412 von 1929 übernommen. Es gibt aber einige grundlegende Abwei-
chungen, über die wir im Folgenden sprechen werden.
4
Yenisey & Nuhoğlu 2015, 7.
852 Feridun Yenisey
2. Ermittlungsverfahren
Das Strafverfahren läuft in der Türkei in zwei Phasen ab: Ermittlungsphase und
Verfolgungsphase. Die Ermittlungsphase beginnt mit der Feststellung des Staatsan-
walts, dass tatsächliche Anhaltspunkte für eine begangene Straftat vorliegen. Falls
dies bei einem angezeigten Sachverhalt nicht der Fall ist, ermittelt er überhaupt
nicht und entscheidet darüber, dass er nicht einschreiten wird (Art. 158/6 CMK).
Diese Betonung der Unschuldsvermutung wurde im Jahre 2017 durch die Änderung
in der Strafprozessordnung durch die Rechtsverordnung mit Gesetzeskraft (KHK)
Nr. 694 verstärkt, die durch Gesetz Nr. 7078 im Jahr 2018 bestätigt wurde.5 Dieser
rechtstaatliche Schutz des Bürgers vor möglichen strafprozessualen Zwangsmaßnah-
men wurde schon vor vielen Jahren vorgeschlagen und ist zu begrüßen.6
Die Staatsanwaltschaft ist verpflichtet, Ermittlungen aufzunehmen, wenn hinrei-
chende tatsächliche Anhaltspunkte einen Tatverdacht begründen (Art. 160 CMK;
wie StPO 152/2). Die Beurteilung erfolgt gemäß der Einschätzung einer durch-
schnittlichen Person, d. h. ob im Allgemeinen ein solcher Anschein entsteht
(Art. 160/1 CMK).
Die Staatsanwaltschaft führt die Ermittlungen entweder selbst durch oder beauf-
tragt damit die Kriminalpolizei (Art. 161/1 CMK).7 Die Kriminalpolizei darf nur
dann ermitteln, wenn der Staatsanwalt es angeordnet hat. Eine eigenständige Ermitt-
lung durch die Polizei wurde in der Türkei in Reaktion auf die Ergebnisse der Ak-
tenuntersuchung verboten.8 Trotzdem wurden Anzeigen über Straftaten oder Straf-
5
Yenisey & Nuhoğlu 2019, 571.
6
Unter dem Begriff ,staatsanwaltschaftlicher Bescheid über Nichteinschreiten‘
(koğuşturmama kararnamesi) hatte Kunter ein wissenschaftliches Prinzip formuliert (Kunter
1989, 797). Bei unseren Vorschlägen nach der Aktenuntersuchung 1998 hatten wir zur Stär-
kung von Beschuldigtenrechten dieses Erfordernis ebenfalls betont (Dönmezer & Yenisey
2000, 268).
7
Die Aufgaben der Kriminalpolizei sind in Art. 164 CMK geregelt, aber eine besonders
ausgebildete organisatorische Einheit innerhalb der Sicherheitskräfte gibt es nicht. Beamte
von verschiedenen Dezernaten werden vorübergehend auf diese Posten berufen und führen
dann die justiziellen Anordnungen des Staatsanwalts aus. Die Gründung einer Kriminalpolizei
in der Türkei wird immer diskutiert, aber bis heute ohne Erfolg (Yenisey 2015, 417 ff.).
8
Nach den Ergebnissen der Aktenuntersuchung hat die Staatsanwaltschaft in den 1.117
Akten in 143 Fällen selbst zusätzliche Ermittlungen durchgeführt, aber in 906 Fällen keine
(Dönmezer & Yenisey 2000, 154) und die Zusammenfassung der polizeilichen Ermittlungs-
Die Auswirkungen von zwei Aktenuntersuchungen 853
anträge9 vor und nach der Reform im Allgemeinen bei der Polizei eingereicht.10 Das
Hauptanliegen des Gesetzgebers von 2005 war die Stärkung der Befugnisse der
Staatsanwaltschaft, um die Polizei unter einer rechtlichen Kontrolle zu halten,
was aber tatsächlich nicht umgesetzt wurde. Die Polizei ist noch immer die führende
Kraft bei Ermittlungen.11
Die Polizei hat als erste Ermittlungshandlung am häufigsten Vernehmungen durch-
geführt.12 Die polizeiliche Tatortarbeit, Bringen des Beschuldigten zum Tatort13, Ge-
genüberstellung des Beschuldigten mit dem Zeugen oder dem Verletzten, und die kör-
perliche Untersuchung waren die übrigen Ermittlungshandlungen der Polizei.
Eine Vernehmung des Beschuldigten vor der Klageerhebung ist in der Türkei ge-
setzlich nicht vorgeschrieben.14 Trotzdem wurde der Beschuldigte am häufigsten von
der Polizei vernommen.15
Die Aussagebereitschaft des Beschuldigten ändert sich auch nach der Art des Vor-
wurfs, je nach dem aburteilenden Gericht.16 Der Gesetzgeber hat Maßnahmen getrof-
fen, um unzulässige Vernehmungsmethoden zu verhindern. Zu diesem Zwecke hat
ergebnisse in eine Anklageschrift umgewandelt (Dönmezer & Yenisey 2000, 168). Dieses
Verhalten, was zu Verzögerungen in der Hauptverhandlung führte, wurde mit der enormen
Arbeitslast der Staatsanwälte erklärt.
9
Die Zahl der eigenständigen Ermittlungen ist jedoch gesunken (auf 294 gegenüber 367
vor 1998). Von den mutmaßlich begangenen Straftaten erfuhren die Verfolgungsbehörden
meistens durch einen Strafantrag oder eine Anzeige (501 gegenüber 1998 nur 274 + 7 durch
Privatklage). Die Zahl von Anzeigen ist gesunken (183 gegenüber 437 vor 1998) (Dönmezer
& Yenisey 2000, 91).
10
Vor der Reform erhielten von den begangenen Straftaten in 1.117 Akten in 560 Fällen die
Polizei und in 398 Fällen die Staatsanwaltschaft Kenntnis. Nach 2005 erhielten von den
Straftaten in 1.000 untersuchten Akten 515 zuerst die Polizei, 8 die Gendarmerie und 397 die
Staatsanwaltschaft Kenntnis. Bei einzelnen Straftaten erhielten auch sonstige Behörden zuerst
Kenntnis (Dönmezer & Yenisey 2000, 91).
11
Die gesetzwidrigen eigenständigen Ermittlungen der Polizei machen die dadurch ge-
wonnenen Beweismittel unbrauchbar (Gökçen et al. 2018, 540).
12
Es gab 167 Vernehmungen vor 1998, 204 Vernehmungen vor 2012, 74 Personendurch-
suchungen vor 2012, 104 vor 1998 sowie 64 vorläufige Festnahmen vor 2012 und 52 vor 1998
(Dönmezer & Yenisey 2000, 95). Es gibt aber Fälle, wo die Polizei überhaupt nicht ermittelte,
dann nämlich, wenn die Strafsache unter die Zuständigkeit der später abgeschafften Frie-
densgerichte fiel.
13
Eine der Vorschriften, die durch die Ergebnisse der Aktenuntersuchung (Dönmezer &
Yenisey 2000, 105) berührt worden sind, ist die Tatortbesichtigung des Staatsanwalts, wobei
der Beschuldigte den Tatort zeigt (Art. 85 CMK). Vorher gab es Angriffe der Bevölkerung
gegen den mutmaßlichen Beschuldigten, der durch die Polizei eigenständig zum Tatort ge-
bracht wurde. Nunmehr soll der Staatsanwalt darüber entscheiden und selber dabei sein.
14
Wir hatten vorgeschlagen, dies als eine Sollvorschrift einzuführen (Dönmezer & Yenisey
2000, S. 101), was aber nicht geschah.
15
Dönmezer & Yenisey 2000, 102.
16
Dönmezer & Yenisey 2000, 103.
854 Feridun Yenisey
man auch eine ärztliche Kontrolle eingeführt. So wird der Beschuldigte zum Beispiel
kurz nach der Festnahme und alle 24 Stunden körperlich untersucht.
Die körperliche Untersuchung zur Beweisgewinnung ist ausführlich geregelt in
Art. 75 CMK, wobei die Ergebnisse17 der ersten Aktenuntersuchung berücksichtigt
wurden. Auf diese Weise war ein Rückgang an solchen Fällen zu beobachten. Die
Einwilligung des Verletzten wurde eingeholt in 13 Fällen bei der ersten Aktenunter-
suchung, was bei der körperlichen Untersuchung eine wichtige Rolle spielt. Warte-
zeiten auf die gerichtsmedizinischen Untersuchungen sind eine Ursache für Verzö-
gerungen im Strafverfahren, die aber für die Wahrheitsfindung von erheblicher Be-
deutung sind. Die meisten von ihnen wurden in polizeilichen Labors durchgeführt.18
Die Zeugen der Tat wurden auch meistens von der Polizei vernommen,19 es gab
überwiegend nur einen Zeugen, manchmal gibt es aber mehrere Zeugen.
Die Opfer wurden geladen und vom Staatsanwalt vernommen.20 Die Opferrechte
sind nun im Strafprozess geregelt, was in den vorherigen Gesetzen mangelhaft war.
Das Gesetz regelt umfangreiche Rechte für den Verletzten, die 2019 durch das Gesetz
Nr. 7188 noch ausgeweitet worden sind (Art. 236 CMK). Obwohl der Beschuldigte
in der Türkei im Ermittlungsverfahren vor der Anklageerhebung nicht angehört wer-
den muss, ist die Ladung und Anhörung des Verletzten und des Antragstellers im Er-
mittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft, und im Hauptverfahren durch das
Gericht oder den Vorsitzenden als eine „Soll“-Vorschrift ausgestaltet worden
(Art. 233 CMK). Das Opfer und der Antragsteller haben ein Antragsrecht auf Be-
weiserhebung, Akteneinsicht und die Beauftragung eines Opferanwalts für bestimm-
te Delikte in der Ermittlungsphase (Art. 234/1 CMK). Das Opfer, das durch die be-
gangene Straftat seelisch belastet worden ist, darf während des ganzen Verfahrens
nur einmal und in Anwesenheit eines Experten vernommen werden (Art. 236
CMK); diese Vernehmung wird auf Video aufgenommen (Art. 52/3 CMK). Die Ver-
letzten haben aber von ihren Rechten in den letzten Jahren nicht sehr viel Gebrauch
gemacht.
Die Zahl der richterlichen Anordnungen über Durchsuchungen beim Beschuldig-
ten selbst und seiner Wohnung betrug in den Akten aus der Zeit vor 1998 nur 7, und in
232 Fällen hatte die Polizei ohne eine richterliche Anordnung oder staatsanwalt-
schaftliche Weisung Personen und Wohnungen durchsucht.21 Die Polizei machte da-
17
In den 1.117 Akten gab es 232 körperliche Untersuchungen. Darunter wurde das Opfer
bei 87,29 % der Sexualstraftaten untersucht, ob es noch Jungfrau ist (Dönmezer & Yenisey
2000, 106). Diese Feststellung führte zur Einführung eines neuen Straftatbestandes von Ge-
nitaluntersuchung im neuen Strafgesetzbuch in Artikel 287 TCK: Wer ohne Beschluss eines
zuständigen Richters eine Person zur Genitaluntersuchung schickt oder eine solche vornimmt,
wird mit drei Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft.
18
Dönmezer & Yenisey 2000, 108.
19
Dönmezer & Yenisey 2000, 104.
20
Soyaslan 2018, 495.
21
Dönmezer & Yenisey 2000, 150.
Die Auswirkungen von zwei Aktenuntersuchungen 855
mals also die Hausdurchsuchungen meistens ohne richterliche Anordnung und holte
die mündliche Einwilligung des Betroffenen ein, als ob es um einen eiligen Fall
ginge. Diese Befunde der Aktenuntersuchung bewegten den Grundgesetzgeber zur
Abschaffung von Durchsuchungen aller Art ohne vorherige schriftliche Erlaubnis
des Richters, in Eilfällen einer sonstigen zuständigen Stelle (Art. 20 tVerf). Heute
hat sich dieses Problem durch die strenge Haltung des Kassationsgerichts erledigt:
unrechtmäßig erlangte Beweise sind verboten und unverwertbar (Art. 217/2 CMK).
Die Handhabung von Untersuchungshaft war und ist noch immer ein Problem in der
Türkei.22 Die türkische Strafprozessordnung erfordert für die Anordnung der Untersu-
chungshaft einen dringenden Tatverdacht, einen besonderen Haftgrund und die Ver-
hältnismäßigkeit der Untersuchungshaft (Art. 100/1 CMK).23 Diese materiellen Vor-
aussetzungen sind strenger als die in Art. 5/1c EMRK.24 Der Haftbefehl muss in An-
wesenheit25 des Beschuldigten erlassen werden (Art. 100/1 CMK).26 Auch die Prüfung
der Untersuchungshaft erfolgt nach Anhörung des Beschuldigten oder seines Verteidi-
gers (Art. 108/1 CMK). Der Erlass eines Steckbriefs in Abwesenheit ist möglich, ist
aber nur erlaubt nach Nichterscheinen des Beschuldigten auf eine ordnungsgemäße La-
dung (Art. 98/1 CMK). Der Beschuldigte, der aufgrund eines Streckbriefs festgenom-
men wird, wird innerhalb von vierundzwanzig Stunden dem zuständigen Richter vor-
geführt. Falls dies nicht möglich ist, so wird die Vernehmung durch den Einsatz von
Ton- und Bildübertragung durchgeführt (Art. 94/2 CMK).
Die Strafprozessordnung von 1929 sah nur sehr beschränkte Möglichkeiten der
Pflichtverteidigung vor, der Beschuldigte konnte sich aber in allen Fällen einen Ver-
teidiger wählen oder sich von der Rechtsanwaltskammer einen solchen bestimmen
lassen (Art. 136 ff.). Wir mussten dennoch feststellen, dass in der Aktenuntersuchung
von 1998 in 300 der 1.117 Akten der Beschuldigte keinen Verteidiger hatte.27 Ein
Pflichtverteidiger war in 48 Fällen vorhanden.28
22
In den 1.117 Akten gab es 178 Untersuchungshaftanordnungen (Dönmezer & Yenisey
2000, 143). Meistens wurden die Haftgründe nicht mit konkreten Tatsachen verbunden.
23
2004 wollte der Gesetzgeber die Häufigkeit der Untersuchungshaft senken, indem er die
Formulierung der Untersuchungshaftgründe umfangreich beschrieben hat und verlangte, dass
der Richter bei der Begründung seiner Entscheidung die Beweise, die den dringenden Tat-
verdacht, das Vorliegen der Haftgründe und die Angemessenheit der Verhaftungsmaßnahme
genau anführt (Art. 101/2 CMK).
24
Arslan 2018, 37.
25
Damals gab es 13 Fälle, die in Abwesenheit des Beschuldigten entschieden wurden
(Dönmezer & Yenisey 2000, 114).
26
Şahin & Göktürk 2019a, 307.
27
Dönmezer & Yenisey 2000, 91.
28
Die Verteidigung war gegenüber den Zwangsmaßnahmen eher passiv und hat gegen die
richterlichen Entscheidungen selten Einspruch erhoben. Es gab bei der Untersuchungshaft 32
Fälle von Einsprüchen gegen die richterliche Anordnung; nur 2 Einsprüche waren erfolgreich
(Dönmezer & Yenisey 2000, 152).
856 Feridun Yenisey
Das Gesetz sieht heute eine Pflichtverteidigung in Fällen vor, in denen es um eine
Tat geht, die mit mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht ist (Art. 150 CMK).
Der Verteidiger wird von der Anwaltskammer berufen, wenn der Beschuldigte selbst
keinen wählt.29
29
Bei der Aktenuntersuchung vor 2012 haben wir 80 Akten festgestellt, in denen ein
Pflichtverteidiger bestellt war (Dönmezer & Yenisey 2000, 126).
30
So wurden vor 1998 in 39 Akten Sachverständige beauftragt (Dönmezer & Yenisey 2000,
157); die Zahl in der Zeit vor 2012 betrug 232. Eine ausführliche Aufklärung des Sachverhalts
im Ermittlungsverfahren ist dienlich für den zügigen Ablauf der Hauptverhandlung. Deswe-
gen ist es zu begrüßen, dass die Zahl der Sachverständigengutachten im Ermittlungsverfahren
gestiegen ist. Die Wartezeit auf ein Gutachten sollte verkürzt werden, weil seine Länge ein
regelmäßiges Problem im Bereich der Verfahrensverzögerung ist. Es ist aber im Interesse
einer zügigen Hauptverhandlung, ein langes Ermittlungsverfahren durchzuführen.
31
Dieses strenge Legalitätsprinzip wurde vor 2004 gelockert durch Antragsdelikte, Pri-
vatklage und Strafbefehl (so gab es in den 1.117 Akten z. B. 187 Fälle, die durch Strafbefehl
erledigt wurden; Dönmezer & Yenisey 2000, 162). Der Gesetzgeber hat diese Ausnahmen
erweitert, wie wir unten sehen werden.
32
Karakehya 2016, 419.
Die Auswirkungen von zwei Aktenuntersuchungen 857
(uzlaştırma) (Art. 253, 254 CMK), iii.) die vorläufige Einstellung der Klageerhebung
(kamu davasının açılmasının ertelenmesi) (Art. 171/2 CMK) und iv.) der Strafbefehl
des Staatsanwalts (seri muhakeme usulü) (Art. 250 CMK).33
Verfahrensdauer und Effizienz der Strafjustiz sind wichtige Bausteine eines fairen
Verfahrens. Die Zahl der eingehenden Strafsachen und die Kapazitäten der Rechts-
pflege müssen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Zu diesem
Zwecke hatte die Reform von 2004 die Übertretungen aus dem Strafgesetzbuch her-
ausgenommen und als Ordnungswidrigkeiten in einem besonderen Gesetz geregelt.
Die Privatklage, das Adhäsionsverfahren und der Strafbefehl wurden abgeschafft. An
deren Stelle wurden neue Institute eingeführt, die den Schadensersatz für das Opfer
in den Vordergrund stellen, wie Mediation (Art. 253 CMK) und Sicherheitsleistung
bei der Justizkontrolle34 (Art. 109 CMK). In dem Gesetzestext sind einige konsen-
suale Aspekte und einige Elemente aus dem akkusatorischen Verfahrensmodell ein-
gefügt worden. Die erwartete Entlastung der ordentlichen Gerichte war dabei eben-
falls ein gewichtiges Argument, aber die zusätzliche Arbeitslast der Staatsanwalt-
schaft konnte man nicht vorhersehen. Da aber der Großteil der Arbeitslast der Ge-
richte bei kleiner und mittlerer Kriminalität liegt, hat der Gesetzgeber 2019 als
zusätzliche Alternativen zur Aburteilung vor Gericht zwei Strafbefehle türkischer
Art eingeführt (Art. 250 und 251 CMK), die wir unten beschreiben werden.
Die Arbeitslast der ordentlichen Gerichte ist immer ein Problem der türkischen
Strafjustiz gewesen. So hat man schon im Strafgesetz von 1925 einen Ausweg gefun-
den, indem man für Straftaten, die im Gesetz aufgezählt sind und die nur eine Geld-
strafe nach sich ziehen oder bei denen die gesetzlich vorgesehene Höchststrafe drei
Monate Gefängnisstrafe nicht überschreitet, keine öffentliche Klage erhebt, falls der
Täter die Mindeststrafe zusammen mit den Verfahrenskosten auf die Aufforderung
der Staatsanwaltschaft hin binnen zehn Tagen im Voraus bezahlt (jetzt Art. 75/1
TCK). Wo die Sache direkt bei Gericht anhängig ist, entfällt die öffentliche
Klage, wenn der Täter auf die Mitteilung des Richters hin den Betrag zusammen
mit den Verfahrenskosten zahlt (Art. 75/2 TCK). Bei Delikten, die durch Mediation
erledigt werden können, ist dieses Verfahren nicht anwendbar.
Die Mediation ist eines der wichtigsten Rechtsinstrumente zur Entlastung der Jus-
tiz, die die Dönmezer-Reformkommission vorgeschlagen und durchgesetzt hat. Die
Einführung der Mediation war dann auch eine der Voraussetzungen für einen Beitritt
der Türkei zur EU und wurde als eine Ausnahme vom Legalitätsprinzip (Art. 253
CMK) ausgestaltet. Die vorteilhafte Regelung zur Mediation im Jugendschutzgesetz
33
Nach der Anklage gibt es noch die Möglichkeit des gerichtlichen Strafbefehls (basit
yargılama usulü) (Art. 251, 252 CMK) und der „vorläufigen Einstellung der Urteilsverkün-
dung unter Auflagen mit Einwilligung des Angeklagten“ (hükmün açıklanmasının geri
bırakılması), siehe unten unter 4.
34
Die Justizkontrolle ist eine Art der „Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls“ (§ 116
StPO), wobei im türkischen Recht die Justizkontrolle eine eigenständige Entscheidung ist, und
ein Haftbefehl erst dann erlassen wird, wenn der Beschuldigte die auferlegten Maßnahmen,
wie z. B. Sicherheitsleistung, nicht erfüllt.
858 Feridun Yenisey
von 2005 (Çocuk Koruma Kanunu, Art. 24) wurde ebenfalls im Jahr 2006 der kom-
plizierten Erwachsenen-Mediation gleichgestellt. Die Einzelheiten des Mediations-
verfahrens sind durch eine Durchführungsverordnung geregelt (Art. 253/24 CMK).
Bei Straftaten, bei denen die Mediation zulässig ist und hinreichender Tatverdacht
vorliegt, macht der Mediator dem Beschuldigten und dem Opfer oder dem Verletzten
nach Ablauf einer „Abkühlungsperiode“ einen Mediationsvorschlag. Wenn der Be-
schuldigte am Ende des Mediationsverfahrens die Leistung in einem einzigen Akt
erbringt, wird das Ermittlungsverfahren gegen ihn eingestellt. Wird ein Ausgleich
erzielt, so verliert das Opfer sein Recht, eine Schadensersatzklage zu erheben;
falls eine Klage anhängig ist, so wird diese Klage als zurückgenommen erachtet.
Falls der Beschuldigte die Leistung nicht erbringt, so wird der Mediationsbericht
oder das Mediationsschriftstück als Dokument erachtet, das im Sinne des Art. 38
Vollstreckungs- und Konkursgesetz Nr. 2004 vom 09. 06. 1932 einem Urteil gleich-
gestellt ist (Art. 253/19 CMK).
Bei Straftaten, die auf Strafantrag hin ermittelt oder verfolgt werden, ist ein Aus-
gleichsversuch (Mediation) zwischen dem Beschuldigten und dem Opfer, der eine
natürliche Person oder juristische Person des Privatrechts ist, gesetzlich vorgeschrie-
ben (Art. 253/1 CMK). Die Zahl der Frauen, die Opfer einer Straftat waren, ist eben-
so wie die Zahl der Antragsdelikte gestiegen, was für die Anwendung der Mediation
von Bedeutung ist.35 Außerdem ist die Mediation zulässig bei Straftaten, die im Ge-
setz abschließend aufgezählt sind (Art. 253/1 CMK). Bei Straftaten gegen die sexu-
elle Integrität und bei Straftaten, bei denen eine Regelung über tätige Reue vorgese-
hen ist, ist ein Mediationsverfahren ausgeschlossen, auch wenn sie Antragsdelikte
sind. Obwohl die Mediation in vielen Ländern auch bei häuslicher Gewalt erfolgreich
angewendet wird, wird sie in der Türkei im Allgemeinen abgelehnt.
Wenn jemandem ein Mediationsvorschlag unterbreitet wird, wird er über das
Wesen der Mediation und die rechtlichen Konsequenzen der Annahme oder der Ab-
lehnung der Mediation belehrt (Art. 253/5 CMK). Das Mediationsverfahren ist nicht-
öffentlich durchzuführen. Der Beschuldigte, das Opfer, der Verletzte, der gesetzliche
Vertreter, der Verteidiger und der bevollmächtigte Vertreter dürfen an den Media-
tionsverhandlungen teilnehmen.
Die Erklärungen, die während der Mediationsverhandlungen abgegeben werden,
dürfen nicht als Beweismittel bei irgendeiner Ermittlung oder Verfolgung oder bei
einer Anklage verwendet werden; es gibt also ein Beweisverbot (Art. 253/20 CMK).
Die Entscheidungen, die am Ende der Mediation getroffen werden, können mit
den ordentlichen Rechtsmitteln angegriffen werden (Art. 253/23 CMK).
35
In den Aktenuntersuchungen war die Zahl der Offizialdelikte 855 vor 1998 und sank auf
561 vor 2012; demgegenüber betrug die Zahl der Antragsdelikte 232 vor 1998 und stieg auf
401 vor 2012 an. Strafantrag wurde in 184 Fällen an die Staatsanwaltschaft, in 84 Fällen bei
der Polizei und in 8 Sachen bei der Gendarmerie gestellt; 132 von ihnen wurden zurückge-
zogen. Laut Gesetz wird eine Festnahme bei Antragsdelikten der berechtigten Person mitge-
teilt (Art. 90/3 CMK), was in 18 Sachen geschah.
Die Auswirkungen von zwei Aktenuntersuchungen 859
Die Einstellung des Verfahrens kann auch erfolgen in Anwendung des Opportu-
nitätsprinzips (Art. 171/1 und 2 CMK), was in der Gesetzespraxis außerordentlich
selten vorkam (nur bei 3 Fällen vor 1998).36 Deswegen wurde 2006 eine neue Rege-
lung über die vorläufige Einstellung der Klageerhebung unter Auflagen eingeführt,
die dem Staatsanwalt die Möglichkeit dazu bietet, wenn bestimmte Voraussetzun-
gen37, die alle zusammen erfüllt sein müssen, vorliegen. Sie ermöglicht, unter Auf-
lagen für fünf Jahre die Erhebung der öffentlichen Klage aufzuschieben, obwohl hin-
reichender Tatverdacht besteht (Art. 171/2 CMK). Falls der Beschuldigte den Scha-
den in vollem Umfang ersetzt und innerhalb der Bewährungsfrist keine weitere vor-
sätzliche Straftat begeht, wird das Verfahren eingestellt (Art. 171/4 CMK).
Diese Regelung war nur anwendbar bei Antragsdelikten, die mit Gefängnisstrafe bis
zu einem Jahr bedroht sind. Der Gesetzgeber hat durch die Novelle von 2019 (Gesetz
Nr. 7188) die vorläufige Einstellung der Klageerhebung ausgeweitet, indem man die
Strafobergrenze auf bis zu drei Jahren erweitert und das Erfordernis, dass es sich
um ein Antragsdelikt handeln muss, aufgehoben hat. Nunmehr ist zu erwarten, dass
mit diesem alternativen Instrument eine stärkere Entlastung der Gerichte eintreten
wird.
Es gibt noch eine weitere Regelung im Strafgesetzbuch über die Verfahrensein-
stellung bei Rauschgiftkonsum oder bei Besitz von Betäubungsmitteln nur zum Ei-
genverbrauch.38 In solchen Fällen muss die Staatsanwaltschaft die Anklage für fünf
Jahre aussetzen, von denen mindestens ein Jahr unter Bewährung vergehen muss
(Art. 191/3 TCK). Die Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungen nach fünf Jahren
ein, falls der Beschuldigte die Bewährungsauflagen erfüllt (Art. 191/7 TCK).
Wenn der Beschuldigte innerhalb der Bewährungszeit die Auflagen der Behandlung,
Verbot von Ankauf und Konsum von Betäubungsmittel nicht erfüllt, so wird gegen
ihn Anklage erhoben (Art. 191/4 TCK). Die Zuwiderhandlungen gegen diese Aufla-
gen werden nicht als eine selbständige Tat verfolgt (Art. 191/5 TCK).
36
Vor 2005 wurde die Strafklage vorläufig eingestellt, wenn der Entführer oder der Ver-
gewaltiger das Opfer heiratete (Art. 434 des alten Strafgesetzes Nr. 765). Es gab auch andere
Beispiele von verschleierten Amnestien im Pressewesen.
37
Die Voraussetzungen sind: (a.) der Beschuldigte darf nicht bereits vorher wegen einer
vorsätzlichen Tat zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden sein (eine Verurteilung zu Geld-
strafe bildet also kein Hindernis); (b.) die Staatsanwaltschaft muss anhand der Ermittlungen
davon überzeugt sein, dass der Beschuldigte keine weiteren Straftaten mehr begehen wird; (c.)
die vorläufige Einstellung muss in dem Einzelfall für ihn und die Öffentlichkeit von größerem
Nutzen sein als es ein Strafverfahren wäre; (d.) der Schaden, der durch die Begehung der
Straftat für das Opfer und für die Allgemeinheit entstanden ist, muss im Wege der Zurücker-
stattung, durch in integrum restitutio oder durch Schadensersatz im vollen Umfang wieder-
gutgemacht worden sein (Art. 171 Abs. 3 CMK).
38
Wenn sich während des Hauptverfahrens herausstellt, dass die wegen Verkaufs von Be-
täubungsmitteln angeklagte Person mit der Absicht von Eigenkonsum gehandelt hatte, so wird
die Urteilsverkündung nach Art. 191 TCK aufgeschoben. Dieser Aufschub der Urteilsver-
kündung ist sehr verschieden vom Aufschub der Urteilsverkündung nach Schuldspruch gem.
Art. 231/5 CMK, da dies bereits am Anfang der Hauptverhandlung geschieht.
860 Feridun Yenisey
4. Hauptverfahren
Begründen die beim Abschluss des Ermittlungsverfahrens erhobenen Beweise
einen hinreichenden Verdacht, dass die Straftat begangen wurde, so bereitet der
Staatsanwalt eine Anklageschrift vor (Art. 170/2 CMK) und leitet sie dem zuständi-
gen Gericht zu. Die öffentliche Klage ist aber in dieser Phase noch nicht anhängig;
erst wenn das Gericht die Anklageschrift annimmt, gilt die Klage als erhoben
(Art. 175/1 CMK). In der Anklageschrift werden die Geschehnisse, welche die
dem Beschuldigten zur Last gelegte Straftat begründen, in ihren Zusammenhängen
39
Diese im Gesetz erschöpfend aufgezählten meistens opferlosen Tatbestände sind einige
aus dem dritten Teil des Strafgesetzbuches, Straftaten gegen die Gesellschaft: Besitzstörung,
vorsätzliche Gefährdung der Allgemeinheit, Gefährdung der Verkehrssicherheit, Lärmverur-
sachung, Geldfälschung, Siegelbruch, falsche Erklärung bei der Ausstellung einer öffentlichen
Urkunde, Bereitstellen von Orten und Möglichkeiten zum Glückspiel, Nutzung eines fremden
Personalausweises und vier weitere Straftaten aus besonderen Gesetzen. Diese Auswahl
wurde getroffen, um circa 200.000 Gerichtsakten jährlich rasch erledigen zu können.
Die Auswirkungen von zwei Aktenuntersuchungen 861
mit den vorhandenen Beweisen dargestellt (Art. 170/4), im Schlussteil werden die
den Beschuldigten entlastenden Umstände angeführt (Art. 170/5 CMK).
Eine Anklageschrift, die diese notwendigen Erfordernisse nicht erfüllt, ist an die
Staatsanwaltschaft zurückzugeben (Art. 174 CMK). Wenn das Gericht die Anklage-
schrift innerhalb von 15 Tagen nicht zurückgegeben hat, gilt sie als zugelassen
(Art. 174/3). Das Gericht kann die Anklageschrift zurückweisen (iddianamenin ia-
desi) (Art. 174 CMK), wenn ungenügend ermittelt wurde oder die Voraussetzungen
für eine Anklageschrift nicht erfüllt sind. Die Staatsanwaltschaft kann eine neue An-
klageschrift vorlegen, eine zurückgewiesene Anklageschrift hat keine Rechtswir-
kung. In der Türkei gibt es also kein echtes Zwischenverfahren.40
Dieses Zwischenverfahren türkischer Art wurde von der Dönmezer-Kommission
anhand der Ergebnisse der ersten Aktenuntersuchung von 1998 vorgeschlagen. In der
Zeit bis 2012 hat diese neue Bestimmung nur wenig Anwendung gefunden aufgrund
kollegialer Unterstützung zwischen Staatsanwälten und Richtern. Falls die Rückga-
be jedoch tatsächlich vorkam, entstanden öfter gespannte Beziehungen zwischen
beiden. Dieses Instrument wurde durch die Reform von 2004 eingefügt, weil sich
in der Aktenuntersuchung herausgestellt hatte, dass das Ermittlungsverfahren durch-
schnittlich 10 Tage und das Hauptverfahren Monate und Jahre dauerte.41 Der Gesetz-
geber wollte vermeiden, dass noch nicht ausreichend bearbeitete Akten vor das zu-
ständige Gericht kommen konnten. Die Erwartungen, dass in der Hauptverhandlung
nur umfassend ermittelte Sachverhalte vorgelegt und mangelhafte Ermittlungen ver-
mieden werden, die zu einer Zurückweisung der Anklageschrift führen, haben sich
leider nicht erfüllt. Die hohe Zahl von Freisprüchen belegt, dass noch häufig Ankla-
gen ohne hinreichende Ermittlungen erhoben werden.42
Das Hauptverfahren beginnt mit der Annahme der Anklageschrift, umfasst die
Hauptverhandlung und reicht bis zur Rechtskraft des Urteils. Es gibt jedoch einige
abweichende Regelungen im neuen Gesetz im Vergleich zum alten: Wird die Ankla-
geschrift zugelassen, so ist der öffentlichen Klage stattgegeben und das Hauptverfah-
ren eröffnet (Art. 175/1 CMK). Der Beschluss über die Zulassung der Anklageschrift
wird am Beginn der Hauptverhandlung verlesen (Art. 191/1 CMK). Die gerichtliche
Untersuchung ist durch die Erhebung der Klage bedingt (Art. 170, 175 CMK), und
das Urteil darf nur auf Beweismittel gestützt werden, die in der Hauptverhandlung
vor dem Gericht mündlich vorgetragen worden sind (Art. 217/1 CMK).43
Bei der vereinfachten Aburteilung hingegen hat das Gericht allgemeiner Zustän-
digkeit bei Straftaten, die mit Geldstrafe und/oder Gefängnis von höchstens zwei Jah-
ren bestraft werden, ein Ermessen, nach der Zulassung der Anklageschrift die Sache
40
Centel & Zafer 2018, 575.
41
Dönmezer & Yenisey 2000, 203.
42
Die Zahl der Freisprüche liegt bei ca. 20 % (so machten z. B. im Jahr 2013 Freisprüche
19,5 % aus, Verurteilungen 37,3 %, der vorläufige Aufschub der Urteilsverkündung 17,6 %
und die Einstellung des Verfahrens wegen Verjährung 10,3 %; Yücel 2019, 249).
43
Ünver & Hakeri 2019, 539.
862 Feridun Yenisey
44
Öztürk 2019, 335.
45
Die Voraussetzungen der vorläufigen Einstellung der Urteilsverkündung sind: (a.) der
Angeklagte darf vorher nicht wegen einer vorsätzlichen Tat verurteilt worden sein; (b.) das
Gericht muss anhand der persönlichen Merkmale des Angeklagten und seines Verhaltens und
seines Verhaltens während der Hauptverhandlung davon überzeugt sein, dass der Angeklagte
Die Auswirkungen von zwei Aktenuntersuchungen 863
über eine Mediation bleiben vorbehalten. Der Beschluss46 über die vorläufige Ein-
stellung der Urteilsverkündung kann mit der Beschwerde angefochten werden
(Art. 231/12 CMK).
Der vorläufige Aufschub der Urteilsverkündung verhindert, dass das Urteil für
den Angeklagten rechtliche Folgen entfaltet (Art. 231/5 CMK), aber der Angeklagte
unterliegt einer Bewährungsfrist von fünf Jahren. Das Gericht kann beschließen, dass
der Angeklagte bestimmte Verpflichtungen47 zu erfüllen hat. Die Verfolgungsverjäh-
rung ruht während der Bewährungszeit (Art. 231/8 CMK). Wurde während der Be-
währungszeit keine vorsätzliche neue Straftat begangen und hat sich der Angeklagte
entsprechend den Verpflichtungen gut geführt, so wird das Urteil, dessen Verkün-
dung vorläufig eingestellt worden ist, aufgehoben und ein Beschluss über die Einstel-
lung der öffentlichen Klage gefasst (Art. 231/10 CMK).48 Begeht der Angeklagte
während der Bewährungszeit eine neue Straftat oder handelt er entgegen den ihm
auferlegten Verpflichtungen, so verkündet das Gericht das Urteil.
5. Schlusswort
Die Diversion bei Streitigkeiten dient der Entlastung der Strafgerichtsbarkeit. Das
türkische Recht hat von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und zum Teil parallel
konstruierte Rechtsfiguren wie Verfahrenseinstellung gegen Zahlung der Mindest-
strafe, Mediation, vorläufige Einstellung der Klageerhebung unter Auflagen, be-
nicht erneut Straftaten begehen wird; (c.) der Schaden, der durch die Begehung der Straftat für
das Opfer und für die Allgemeinheit entstanden ist, muss im Wege der Zurückerstattung,
durch in integrum resitutio, oder durch Schadensersatz im vollen Umfang wiedergutgemacht
worden sein. Die Entscheidung über die vorläufige Einstellung der Urteilsverkündung wird
(d.) nicht getroffen, falls der Angeklagte damit nicht ,einverstanden‘ ist (Art. 231/6). Diese
letzte Voraussetzung wurde später eingefügt, um dem Angeklagten ein Wahlrecht zwischen
Beschwerde und Revision einzuräumen: nach der Rechtsprechung des Kassationsgerichts,
darf der Angeklagte gegen den Beschluss der vorläufigen Einstellung nur Beschwerde einle-
gen, und das Urteil nicht mit der Revision anfechten. Wenn er aber mit der vorläufigen Ein-
stellung der Urteilsverkündung nicht einverstanden ist, dann kann er direkt Revision einlegen.
Daher wurde dieses Wahlrecht eingeführt! Der vorläufige Aufschub der Urteilsverkündung ist
unzulässig bei Straftaten in Reformgesetzen der Republik, die unter dem Schutz des Artikels
174 der türkischen Verfassung stehen (Şahin & Göktürk 2019, 194).
46
Der Beschluss über die vorläufige Einstellung der Urteilsverkündung wird in dem dafür
vorgesehenen Computersystem gespeichert. Diese Daten dürfen nur dann für einen in Art. 231
CMK vorgesehenen Zweck verwendet werden, wenn der Staatsanwalt, der Richter oder das
Gericht es in Verbindung mit einem Ermittlungs- oder Hauptverfahren beantragt (Art. 231/13
CMK).
47
Falls er keinen Beruf oder kein Gewerbe erlernt hat, zu diesem Zweck an einem Erzie-
hungsprogramm teilzunehmen, falls er einen Beruf oder ein Gewerbe erlernt hat, in einer
öffentlichen Einrichtung oder privat unter der Aufsicht eines anderen, der in diesem Beruf
tätig ist, gegen Lohn zu arbeiten, bestimmte Orten zu meiden oder aufzusuchen oder eine nach
Ermessen zu bestimmende andere Verpflichtung zu erfüllen.
48
Özbek et al. 2019, 709.
864 Feridun Yenisey
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Wesentlich für die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Kran-
kenhaus als eine Maßnahme der Besserung und Sicherung ist, dass diese Anordnung
nicht durch die Tatschuld begründet und begrenzt wird, sondern mit dem Ziel des
Gesellschaftsschutzes begründet wird (Albrecht 2007, 524). Anders als bei Freiheits-
strafen ist im Strafgesetzbuch keine Höchstfrist für die gerichtlich angeordnete Un-
terbringung in der Psychiatrie angegeben (siehe dazu auch Schreiber & Rosenau
2015, 134 ff.). Mit der dauerhaften Unterbringung soll die Gesellschaft vor gefähr-
lichen Straftätern geschützt werden (Albrecht 2007, 556). Forensische Sachverstän-
dige beurteilen dann regelmäßig die Gefährlichkeit der untergebrachten Personen,
bewerten die Rückfallgefahr und haben somit Einfluss auf die Dauer der Unterbrin-
gung. Hans-Jörg Albrecht beschäftigte sich schon in den 1990er Jahren mit dem The-
menkomplex Gefährlichkeit und Prognose und wünschte sich mehr Studien und
Längsschnittuntersuchungen zu diesem Thema (Albrecht 1998).
Anhand der Daten der bundesweiten Rückfalluntersuchung (Jehle et al. 2016),
die seit 2008 an der Universität Göttingen und am Freiburger Max-Planck-Institut
für ausländisches und internationales Strafrecht (nunmehr: Max-Planck-Institut
zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht) durchgeführt wird, werden
in diesem Beitrag die Anordnungen, Beendigungen und die Dauer der Unterbringung
in einem psychiatrischen Krankenhaus im Zeitraum von 2004 bis 2016 untersucht.
2. Rechtliche Grundlagen
Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) gehört zu
den freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung des deutschen
Strafrechts. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus als Folge
einer rechtswidrigen Tat erfolgt, wenn die Straftat im Zustand der Schuldunfähigkeit
wegen seelischer Störungen (§ 20 StGB) oder der verminderten Schuldunfähigkeit
(§ 21 StGB) begangen wurde. Eine weitere Voraussetzung der Unterbringung ist,
866 Carina Tetal
dass „die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge
seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb
für die Allgemeinheit gefährlich ist“ (§ 63 StGB 1. Januar 1975 – 1. August 2016).
Mit dem Gesetz zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychia-
trischen Krankenhaus nach § 63 StGB und zur Änderung anderer Vorschriften vom
28. April 2016 ist der Begriff der rechtswidrigen Tat deutlich konkretisiert worden. In
der geänderten Fassung des § 63 heißt es seit Inkrafttreten des Gesetzes am 1. August
2016:
„rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt
oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird,
zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.“
In § 67 StGB wird die Reihenfolge der Unterbringung geregelt, wenn neben der
Unterbringung auch eine Freiheitsstrafe angeordnet wurde. Die Maßregel sollte vor
der Freiheitsstrafe vollzogen werden, wobei es von dieser Regel Ausnahmen gibt.
„Wird die Maßregel ganz oder zum Teil vor der Strafe vollzogen, so wird die Zeit
des Vollzugs der Maßregel auf die Strafe angerechnet, bis zwei Drittel der Strafe er-
ledigt sind“ (§ 67 StGB Abs. 4). Der Rest der Freiheitsstrafe kann zur Bewährung
ausgesetzt werden.
Möglich ist, dass die Anordnung der Unterbringung gleichzeitig mit der Ausset-
zung der Vollstreckung zur Bewährung erfolgt (§ 67b StGB). In diesem Fall wird
Führungsaufsicht angeordnet.
Wurde die Freiheitsstrafe vor der Unterbringung vollzogen, besteht die Möglich-
keit, dass die Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt wird (§ 67c Abs. 1 StGB).
Ist die Unterbringung drei Jahre nach der Anordnung nicht erfolgt, muss die Un-
terbringung vom Gericht neu angeordnet werden (§ 67c Abs. 2 StGB). Auch hier
könnte die Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt werden
oder das Gericht die Maßregel für erledigt erklären.
Die Dauer der Unterbringung wird in § 67d StGB geregelt. Die Entlassung aus der
Unterbringung in der Psychiatrie erfolgt in der Regel, indem die Unterbringung zur
Bewährung ausgesetzt wird, „wenn zu erwarten ist, daß der Untergebrachte außer-
halb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird“
(§ 67d Abs. 2 StGB 1. Juni 2013 – 1. August 2016). Mit der Gesetzesänderung aus
dem Jahr 2016 wurde das Wort erheblich eingefügt. Seitdem heißt es „keine erheb-
lichen rechtswidrigen Taten mehr begehen wird“ (§ 67d Abs. 2 StGB). Bei Entlas-
sung aus der Unterbringung auf Bewährung wird Führungsaufsicht angeordnet.
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB 867
Die Maßregel kann des Weiteren durch Erledigung der Unterbringung gemäß
(§ 67d Abs. 6) beendet werden. „Stellt das Gericht nach Beginn der Vollstreckung
der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus fest, dass die Vorausset-
zungen der Maßregel nicht mehr vorliegen oder die weitere Vollstreckung der Maß-
regel unverhältnismäßig wäre, so erklärt es sie für erledigt“ (§ 67d Abs. 6). Mit der
Gesetzesänderung 2016 wurden in § 67d Abs. 6 zwei Sätze eingefügt, damit sehr
lange Unterbringungszeiten speziell geprüft werden. „Dauert die Unterbringung
sechs Jahre, ist ihre Fortdauer in der Regel nicht mehr verhältnismäßig, wenn
nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte infolge seines Zustandes erhebli-
che rechtswidrige Taten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körper-
lich schwer geschädigt werden oder in die Gefahr einer schweren körperlichen oder
seelischen Schädigung gebracht werden“ (§ 67d Abs. 6 Satz 2). Im neuen Satz 3 geht
es um eine Unterbringungsdauer von zehn Jahren, hier soll das Gericht die Maßregel
für erledigt erklären, „wenn nicht die Gefahr besteht, daß der Untergebrachte erheb-
liche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich
schwer geschädigt werden.“ Für die Fortsetzung der Unterbringung nach sechs Jah-
ren reicht das Risiko, dass Opfer in Gefahr einer schweren Schädigung gebracht wer-
den. Bei der Überprüfung nach zehn Jahren tritt an die Stelle der Gefahr einer schwe-
ren Schädigung, die Schädigung durch Tötungs-, schwere Körperverletzungs- und
Sexualdelikte (Schmidt-Quernheim 2020, 260). Auch bei Erledigung der Unterbrin-
gung wird im Normalfall Führungsaufsicht angeordnet. Hier besteht aber auch die
Möglichkeit, dass das Gericht den Nichteintritt der Führungsaufsicht anordnet.
Das Gericht muss spätestens jährlich prüfen, ob die Unterbringung in der Psych-
iatrie noch berechtigt ist (§ 67e StGB).
Kommt es während der Führungsaufsicht erneut zu einer rechtswidrigen Tat oder
wird gegen die Weisungen der Führungsaufsicht verstoßen, kommt es zum Widerruf
der Bewährung und erneut zur Unterbringung (§ 67g StGB). Die Bewährung kann
auch widerrufen werden, wenn rechtswidrige Taten zu erwarten sind (§ 67g
Abs. 2 StGB).
3. Die Datenlage
Für die Forschung allgemein zugängliche Daten, um Analysen zur Unterbringung
in der Psychiatrie nach § 63 StGB durchzuführen, sind kaum vorhanden. Querengäs-
ser et al. haben in ihrem im Jahr 2017 erschienenen Artikel „Versorgungsforschung
im Maßregelvollzug oder das Stochern im Nebel“ auf die missliche Lage hingewie-
sen, in der sich die Versorgungsforschung im Bereich des Maßregelvollzugs in
Deutschland seit Längerem befindet. So stellte etwa das statistische Bundesamt
die Veröffentlichung bundesweiter Eckdaten im Bereich des Maßregelvollzugs im
Jahre 2015 ein. Zuletzt wurden Daten für die Jahre 2013/2014 publiziert. Damit
ist selbst die Erfassung einer groben demografischen Struktur der im Maßregelvoll-
zug Untergebrachten seither gänzlich dem Eigenengagement einzelner Personen
868 Carina Tetal
überlassen, obwohl die Antworten auf Fragen wie etwa der Unterbringungsdauer und
die Effizienz der Behandlungsmethoden gesamtgesellschaftlich von Bedeutung sind,
weil in diesem Bereich im Besonderen sowohl das Wohle und die Menschenwürde
des Einzelnen als auch die finanziellen Ressourcen1 und die Sicherheit der Gesell-
schaft als Ganzes betroffen sind.
Querengässer et al. (2017, 1293 f.) weisen auf den seit 2006 von der privaten
Firma ceus consulting GmbH erstellten Kerndatensatz Maßregelvollzug hin. Für die-
sen Datensatz werden in allen deutschen Bundesländern mit Ausnahme von Bayern
und Baden-Württemberg Daten erhoben. Es wird eine Online-Erhebung von Klini-
ken auf Länderebene durchgeführt, und jährliche Auswertungen werden vorgenom-
men. Die Länder bekommen vergleichende Ergebnisse geliefert. Querengässer et al.
(2017) kritisieren, dass der Datensatz für die Forschung nicht zugänglich ist. Aber
auch der Datensatz selbst wurde kritisiert. Unter anderem deshalb, weil es sich
um eine Querschnittserhebung handelt und Längsschnittuntersuchungen nicht mög-
lich sind.
Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über die wenigen für die Forschung zu-
gänglichen Daten gegeben.
In der Strafverfolgungsstatistik2 werden jährlich die Anordnungen der Maßregeln
der Besserung und Sicherung (§§ 61 ff. StGB), seit 2007 für das gesamte Bundesge-
biet, erfasst. So findet man hier die in einem Jahr angeordneten Unterbringungen in
einem psychiatrischen Krankenhaus, aufgeteilt nach Deliktsgruppen, Geschlecht,
Altersgruppen (Erwachsene, Heranwachsende und Jugendliche) und Angaben zur
Schuldfähigkeit.
Wollte man bis 2013 eine Aussage über die Situation des Maßregelvollzugs in
Deutschland treffen, so konnte man auf die Datenauswertung des statistischen Bun-
desamts3 zurückgreifen. Die dort erhobenen Daten bezogen sich auf die alten Bun-
desländer, einschließlich Gesamt-Berlin und Mecklenburg-Vorpommern. Sie gaben
differenziert nach den einzelnen Bundesländern Auskunft über die Art der strafrecht-
lich angeordneten Unterbringung, also ob eine Unterbringung nach § 63 StGB
(psychiatrisches Krankenhaus), nach § 64 StGB (Entziehungsfälle, mit und ohne
Trunksucht) oder nach § 126a StPO (einstweilige Unterbringung in einem psychia-
trischen Krankenhaus bzw. Entziehungsanstalt) erfolgte. Des Weiteren erfuhr man,
1
Die Kosten für eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus betrugen 2015
in Deutschland zwischen 232,22 E und 357,78 E, durchschnittlich wurde somit ein Betrag von
etwa 280 E pro Tag und Patient erreicht (vgl. Bundesrat Drucksache 539/15 vom 06. 11. 2015,
2 f.).
2
DeStatis Statistisches Bundesamt: Rechtspflege Strafverfolgung.
3
DeStatis Statistisches Bundesamt: Strafvollzugsstatistik. Im Psychiatrischen Kranken-
haus und in der Entziehungsanstalt aufgrund strafrichterlicher Anordnung Untergebrachte
(Maßregelvollzug). Diese Veröffentlichung gab es für die Berichtsjahre 2007 bis 2013 jähr-
lich.
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB 869
wie hoch die Gesamtbestandszahl der Maßregelpatienten4, die Anzahl der Neuanord-
nungen und die Anzahl der Entlassungen in den einzelnen Jahren war. Für die Ge-
samtgruppe der Maßregelpatienten gab es Auskunft über personenbezogene Merk-
male wie das Geschlecht, Alter und Familienstand.
Angaben über die Anzahl der aufgrund strafrichterlicher Anordnung in einem
psychiatrischem Krankenhaus Untergebrachten erhielt man von 1970 bis 2014
durch die Strafvollzugsstatistik.5
Die Kriminologische Zentralstelle (KrimZ) gab für die Berichtsjahre 2002 bis
2006 Veröffentlichungen zur Dauer der Unterbringung in der Psychiatrie und zu
den Gründen für die Beendigung des Aufenthalts heraus. Die letzte Veröffentlichung
dazu erschien von Dessecker 2008 für das Berichtsjahr 2006. Erfasst wurden die Mit-
teilungen aller Bundesländer mit Ausnahme von Hessen. Weitere Angaben waren
das Geschlecht, die Nationalität, Altersgruppen und Deliktsgruppen.
Traub & Weithmann (2014) untersuchten anhand von Daten, die die Forschungs-
datenzentren der Länder für die Strafverfolgungsstatistik erstellten, und anhand der
vom Statistischen Bundesamt erstellten Strafvollzugsstatistik für den Maßregelvoll-
zug die Entwicklung der Anordnungen zur Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus und der Anzahl an untergebrachten Maßregelpatienten von 1995 bis
2009. Untersucht wurde auf Länderebene für die alten Bundesländer inwiefern
sich soziodemografische und deliktsbezogene Merkmale veränderten. Sie stellten
fest, dass bei der Zunahme der Anordnungen in den vierzehn Jahren der Anteil
der mittelschweren Delikte wie Körperverletzung und Brandstiftung anstieg, aber
der Anteil von Personen, für die wegen einer schweren Straftat, wie einem Tötungs-
delikt oder einem Sexualdelikt, der Maßregelvollzug angeordnet wurde, abnahm.
In der Konstanzer Inventar- und Sanktionsforschung (KIS), die zuletzt 2017 mit
dem Berichtsstand 2015 von Heinz herausgegeben wurde, wurden die Informationen
zu den Maßregeln der Besserung und Sicherung, die die Strafverfolgungsstatistik, die
Strafvollzugsstatistik und die Maßregelvollzugsstatistik enthielten, weiter analysiert
(Heinz 2017, 141 ff.). So wurde unter anderem die Zahl der Anordnungen der Unter-
bringung im psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) in Verbindung gesetzt mit der
Gesamtzahl der Aburteilungen pro Jahr. Der Höhepunkt der Anordnungen wurde
2008 erreicht. Seitdem waren die Zahlen der Anordnung in der Psychiatrie rückläu-
fig. Aber wegen der langen durchschnittlichen Unterbringungsdauer nahmen die
Zahlen der im psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten weiter zu. Im Jahr
2015 waren zum ersten Mal wieder seit den frühen 1970er Jahren im früheren Bun-
desgebiet mehr Personen im psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) unterge-
bracht als Gefangene mit einer voraussichtlichen Vollzugsdauer von mehr als fünf
4
Meist wird in dem vorliegenden Beitrag der Begriff Maßregelpatient verwendet, da der
Großteil der Personen, die nach § 63 in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht
sind, Männer sind.
5
DeStatis Statistisches Bundesamt: Rechtspflege Strafvollzug. Diese Publikation erscheint
immer noch jährlich, aber ohne Angaben zum Maßregelvollzug.
870 Carina Tetal
Jahren (einschließlich lebenslänglich) (Heinz 2017, 146 f.). Heinz geht davon aus,
dass die Sicherungsfunktion der langen Freiheitsstrafe zunehmend durch die Unter-
bringung im psychiatrischen Krankenhaus ersetzt wird.
Allein mit diesen Informationen können aktuell keine Aussagen zum eigentlichen
Ziel der Maßregelvollzugsunterbringung – der Besserung und Sicherung des Einzel-
nen und damit dem Schutz der Allgemeinheit vor Rückfallstraftaten – getroffen wer-
den. Im Folgenden wird versucht, mit den Daten der bundesweiten Rückfalluntersu-
chung etwas Licht in das Dunkel zu bringen. Dabei wird untersucht, wie sich die An-
ordnungen und Beendigungen der Unterbringung seit 2004 verändert haben. Speziell
untersucht werden die primäre Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung und
die Dauer der Unterbringung.
angeordnet wurde. 2007 war der Anteil der Erwachsenen 88,6 %, 2016 lag der Anteil
bei 91,8 %. Annähernd 90 % der Anordnungen zur Unterbringung betrafen Männer,
wobei der Frauenanteil zwischen 2007 und 2016 leicht zunahm: 2007 lag der Frau-
enanteil knapp unter 10 %, 2016 betrug er 11,3 %. Zur Anordnung der Unterbringung
in der Psychiatrie kam es deutlich häufiger bei Männern als bei Frauen. Das Verhält-
nis bei allen Straftätern beträgt etwa 75 % Männer und 25 % Frauen.
Tabelle 1
Anordnungen der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB)
Deutsche
Gesamt Erwachsene7 Männlich Staats-
angehörigkeit
Jahr der Rechtskraft8 n n % n % n %
2004 1.177 1.054 89,5 1.059 90,0 976 82,9
2007 1.214 1.075 88,6 1.096 90,3 1.002 82,5
2010 1.036 920 88,8 914 88,2 858 82,8
2013 902 826 91,6 804 89,1 715 79,3
2016 870 799 91,8 772 88,7 654 75,2
Der Anteil an Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, für die die Unterbrin-
gung in der Psychiatrie angeordnet wurde, stieg in der Zeit von 2004 bis 2016 von
17 % auf 25 %. Der Anteil an Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit war
aber in der gesamten Zeitspanne höher als bei allen Abgeurteilten. Bei allen Abge-
urteilten war das Verhältnis 2004, 2007 und 2010 drei Viertel Deutsche und ein Vier-
tel nichtdeutsche Straftäter, 2013 betrug der Anteil der deutschen Straftäter zwei
Drittel und 2016 hatten 58 % der Abgeurteilten eine deutsche Staatsangehörigkeit.
Das Alter der Personen zum Zeitpunkt der Anordnung der Unterbringung in
einem psychiatrischen Krankenhaus betrug im Durchschnitt 36 Jahre. Für die an-
teilsmäßig meisten Personen wurde 2004, 2007 und 2010 die Unterbringung in
der Psychiatrie im Alter von Mitte zwanzig, 2013 und 2016 im Alter von etwa dreißig
Jahren angeordnet (Abbildung 1). Nach dem Peak fällt die Alterskurve stark ab und
es kommt zu einem zweiten Peak, was am deutlichsten bei den Anordnungen von
2004 mit einem Alter von annähernd 40 Jahren zu sehen ist. Knapp ein Drittel der
Anordnungen zur Unterbringung entfiel auf die Altersgruppe der 21- bis 30-Jährigen,
auf die Altersgruppe der 31- bis 40-Jährigen entfielen weniger als 30 %, 2010 sogar
nur 22 %. Ab dem Alter von 40 Jahren fielen die Alterskurven ab, wobei es aber auch
noch für über 80-Jährige Anordnungen in die Unterbringung gab.
7
Alter zum Zeitpunkt der Tat 21 Jahre oder älter.
8
Die aufgeführten Jahre sind die Bezugsjahre der Legalbewährungsstudie.
872 Carina Tetal
.04
2004
2007
2010
2013
.03
2016
Anteile (normiert)
.02
.01
0
20 30 40 50 60 70 80
Alter
Abbildung 1: Alter bei Anordnung der Unterbringung in der Psychiatrie
im Jahr der Rechtskraft
Tabelle 2
Anordnungen der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB)
mit und ohne Freiheits-/Jugendstrafe
Unterbringung
Isolierte Unterbringung
in der
Gesamt Unterbringung in der Psychiatrie
Psychiatrie
in der Psychiatrie neben F/JoB*
neben F/JmB*
Jahr der
n n % n % n %
Rechtskraft
2004 1.177 785 66,7 305 25,9 79 6,7
2007 1.214 811 66,8 320 26,4 79 6,5
2010 1.036 737 71,1 246 23,7 51 4,9
2013 902 677 75,1 177 19,6 42 4,7
2016 870 673 77,4 162 18,6 30 3,4
* F/JoB Freiheits- oder Jugendstrafe ohne Bewährung, F/JmB Freiheits- oder Jugendstrafe mit Bewährung
Bei zwei Dritteln aller Anordnungen zur Unterbringung in der Psychiatrie wurde
die Maßregel 2004 und 2007 isoliert angeordnet, 26 % der Personen wurden zeit-
gleich zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe ohne Bewährung und 7 % mit Bewährung
verurteilt (Tabelle 2). Ab 2007 nahm der Anteil der isolierten Anordnung der Maß-
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB 873
regel zu. 2010 gab es 71 %, 2013 75 % und 2016 77 % isolierte Anordnungen zur Un-
terbringung.
In Tabelle 3 sind die Anordnungen der Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus in Verbindung mit Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) und in Verbindung
mit verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) dargestellt. Es gab auch Personen, in
deren gerichtlicher Entscheidung Schuldunfähigkeit und verminderte Schuldfähig-
keit festgestellt wurde. Dazu konnte es kommen, wenn mehrere Taten in einer Ent-
scheidung abgeurteilt wurden. Die Anzahl der wegen Schuldunfähigkeit in einem
psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten blieb über die Jahre hinweg in
etwa gleich, obwohl die Zahl der Anordnungen in den Jahren abnahm. Somit
nahm der Anteil der Schuldunfähigen im Laufe der Jahre zu. Waren es 2004 und
2007 unter 50 %, stieg der Anteil im Jahr 2010 auf 50 %, 2013 auf 61 % und 2016
auf 64 %. Die Personen mit verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) nahmen im
gleichen Zeitraum etwas ab, von 30 % im Jahr 2004 auf 24 % im Jahr 2016. Insgesamt
nahm der Personenkreis mit Schuldunfähigkeit oder verminderter Schuldfähigkeit
um 10 Prozentpunkte zu, von 71,3 % auf 81,5 %.
Tabelle 3
Anordnungen der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB)
aufgrund Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB)
Schuldunfähig-
Schuldun- Verminderte
Gesamt keit/verminderte
fähigkeit Schuldfähigkeit
Schuldfähigkeit
Jahr der
n n % n % n %
Rechtskraft
2004 1.177 535 45,5 355 30,2 839 71,3
2007 1.214 586 48,3 343 28,3 867 71,4
2010 1.036 522 50,4 315 30,4 777 75,0
2013 902 552 61,2 227 25,2 729 80,8
2016 870 553 63,6 209 24,0 709 81,5
Tabelle 4
Häufigkeiten und prozentualer Anteil der maßgeblichen Straftat bei der Anordnung
der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB)
2004 2007 2010 2013 2016
Jahr der Rechtskraft n % n % n % N % n %
Sexueller
70 6,7 69 6,5 47 4,9 29 3,5 35 4,4
Missbrauch
Vergewaltigung 101 9,7 70 6,6 67 7,0 47 5,6 27 3,4
Tötungsdelikte 122 11,7 139 13,0 128 13,4 121 14,4 127 15,9
Körperverletzung 107 10,2 110 10,3 125 13,1 115 13,7 98 12,3
Schw. Körper-
239 22,8 259 24,3 229 24,0 226 26,9 211 26,4
verletzung
Diebstahl 15 1,4 12 1,1 8 0,8 11 1,3 10 1,3
Schwerer Diebstahl 42 4,0 35 3,3 27 2,8 9 1,1 22 2,8
Raub 59 5,6 71 6,7 44 4,6 53 6,3 48 6,0
Schwerer Raub 37 3,5 60 5,6 48 5,0 40 4,8 5 2 6,5
Brandstiftung 145 13,9 133 12,5 122 12,8 103 12,3 117 14,6
Sonst 109 10,4 108 10,1 110 11,5 86 10,2 52 6,5
Alle Delikte 1.046 100 1.066 100 955 100 840 100 799 100
Fehlende Werte9 131 148 81 62 71
Gesamt 1177 1214 1036 902 870
Beträchtlich war auch der Anteil an Personen, bei denen im Zusammenhang mit
einem Sexualdelikt die Unterbringung in der Psychiatrie angeordnet wurde. Hier ist
der Anteil von 2004 bis 2016 aber abnehmend. 2004 wurden 16 % aller Anordnungen
wegen eines Sexualdelikts ausgesprochen, 2016 waren es noch 8 %. Alle justiziellen
Aburteilungen nahmen in der Zeit von 2007 bis 2016 ab.10 Auch die Anzahl der Ab-
urteilungen wegen einer Sexualstraftat nahmen in diesem Zeitraum ab. Aber beim
prozentualen Anteil der Sexualstraftaten an allen Straftaten gab es bei Betrachtung
aller Aburteilungen kaum einen Unterschied. 2007 betrug der Anteil der Aburteilun-
gen wegen eines Sexualdelikts von allen Aburteilungen nach StGB ohne Straßenver-
kehr 1,5 %, 2010, 2013 und 2016 waren es 1,3 %. Seifert & Leygraf (2016, 240) stell-
ten einen Zusammenhang zwischen dem Rückgang der Anordnungen zur Unterbrin-
gung im Maßregelvollzug wegen sexuellen Missbrauchs als maßgeblicher Straftat
und dem Rückgang von verminderter Schuldunfähigkeit her. Laut Seifert & Leygraf
kommt es zur Einstufung vermindert schuldfähig häufig bei persönlichkeitsauffälli-
gen Personen, die wegen eines Sexualdelikts abgeurteilt wurden. Als ursächlich für
den Rückgang von verminderter Schuldunfähigkeit sehen Seifert & Leygraf einer-
seits, dass der Bundesgerichtshof gerade bei dieser Gruppe eine besonders gründli-
che Überprüfung der Unterbringungsvoraussetzungen anmahnte, andererseits ist an-
9
Die fehlenden Werte betreffen etwa zur Hälfte Fälle mit verstorbenen Maßregelpatienten
und zur anderen Hälfte Fälle, die im Bundeszentralregister als fehlerhafte Eintragung ge-
kennzeichnet sind.
10
Siehe Strafverfolgungsstatistik.
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB 875
2004 und 2013 knapp unter 30 % der Anordnungen zur Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus direkt mit Inkrafttreten der Rechtskraft zur Bewährung
ausgesetzt (Tabelle 5). 2016 kam es zu einer Verringerung der primären Aussetzung
zur Bewährung, bei knapp 20 % der Verurteilten erfolgte die Aussetzung zur Bewäh-
rung sofort mit dem Urteil.
Tabelle 5
Primäre Aussetzung der Maßregel zur Bewährung (§ 67b StGB)
Primäre Aussetzung Anordnung Psychiatrisches
Jahr der Rechtskraft
der Unterbringung Krankenhaus (§ 63)
n % n
2004 331 28,1 1.177
2007 367 30,2 1.214
2010 310 29,9 1.036
2013 249 27,6 902
2016 169 19,4 870
Die Zahl der Maßregelpatienten, die in den Jahren 2004, 2007, 2010, 2013 und
2016 den Aufenthalt in der Psychiatrie beendeten, nahm über die Jahre hinweg
zu, und zwar von 449 im Jahr 2004, 541 im Jahr 2007 auf 697 im Jahr 2016 (Tabel-
le 6). Im Jahr 2004 wurde nach einem Aufenthalt im psychiatrischen Krankenhaus
nach § 63 StGB bei 373 Maßregelpatienten die Unterbringung zur Bewährung aus-
gesetzt, weitere 76 Maßregelpatienten wurden entlassen, ohne dass die Maßregel zur
Bewährung ausgesetzt wurde. Erfasst wurde hier das erste Ende der Unterbringung.
Falls es jedoch durch einen Widerruf zu einer erneuten Unterbringung in der Psych-
iatrie kam und somit zu einer erneuten Entlassung, wurden diese Fälle hier nicht er-
fasst.
2016 wurden 535 Unterbringungen zur Bewährung ausgesetzt, und für 162 Per-
sonen endete die Maßregel, ohne dass sie zur Bewährung ausgesetzt wurde. 2007 und
2010 nahmen insbesondere die Aussetzungen der Unterbringung zu, 2013 und 2016
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB 877
kam es zu einer deutlichen Zunahme der Erledigungen der Unterbringung. Ein Grund
für die Zunahme der Beendigungen der Unterbringung in der Psychiatrie könnte eine
Gesetzesänderung des § 463 StPO – Vollstreckung der Maßregeln der Besserung und
Sicherung – sein, die am 20. 07. 2007 in Kraft trat. Mit Artikel 2 des Gesetzes zur
Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer
Entziehungsanstalt vom 16. 07. 2007 wurde in § 463 Abs. 4 StPO eingeführt, dass
bei der gerichtlichen Überprüfung der Berechtigung der Unterbringung in der Psych-
iatrie alle fünf Jahre das Gutachten eines Sachverständigen eingeholt werden muss.
Des Weiteren wurde mit der oben erwähnten Gesetzesänderungen zum § 67d Abs. 6
StGB vom April 2016 eingeführt, dass bei Maßregelpatienten mit einer Unterbrin-
gungsdauer von sechs und zehn Jahren speziell überprüft werden muss, ob die Vor-
aussetzung zur Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus noch vorliegt. Dem-
gemäß wurde § 463 Abs. 4 StPO dahingehend geändert, dass alle drei Jahre das Gut-
achten eines Sachverständigen eingeholt werden muss bzw. ab einer Unterbringungs-
zeit von sechs Jahren alle zwei Jahre.
Tabelle 6
Ende der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB)
Aussetzung Anordnung
der Unterbringung Ende der Unterbringung
Unterbrin- erledigt Unterbringung ohne primäre
gung Aussetzung
Jahr n % n % gesamt n
2004 373 83,1 76 16,9 449 846
2007 443 81,9 98 18,1 541 847
2010 520 84,4 96 15,6 616 726
2013 554 81,2 128 18,8 682 653
2016 535 76,8 162 23,2 697 701
Vergleicht man die Anzahl der Personen, die in einem Jahr in den Maßregelvoll-
zug hineinkamen (letzte Spalte Tabelle 6), mit der Zahl derer, die den Maßregelvoll-
zug verließen, zeigt sich, dass es in den Jahren 2004, 2007 und 2010 mehr Zugänge
als Abgänge gab. Wobei das Plus an Zugängen mit den Jahren abnahm. 2004 gab es
etwa 400 Zugänge mehr als Abgänge, 2007 waren es 300 und 2010 etwa 100. 2013
gab es etwas weniger Zugänge als Abgänge und 2016 kamen etwa genau so viele
Personen in den Maßregelvollzug hinein wie hinaus.
Die Entwicklung der Zugänge und Abgänge im Maßregelvollzug zeigt sich auch
in den durchschnittlichen jährlichen Belegungszahlen. Bis 2013 gab es dazu Anga-
ben in der Strafvollzugsstatistik für die alten Bundesländer und Berlin. Seit 2008 gibt
es Angaben über die Belegung des Maßregelvollzugs von ceus consulting für alle
Bundesländer mit Ausnahme von Bayern und Baden-Württemberg. König (2018,
104) veröffentlichte die durchschnittlichen Unterbringungszahlen von 2008 bis
2015 (ceus consulting 2017). Die Belegungszahlen nahmen bis 2012 zu und danach
ab. 2014 und 2015 sanken die Belegzahlen relativ stark. Weitere Angaben gab es von
878 Carina Tetal
Schmidt-Quernheim (2020, 257) für Nordrhein-Westfalen für die Jahre 2015 bis 2018
(ceus consulting 2020). Die durchschnittliche Belegung nahm 2016 weiter ab, 2017
gab es keine Veränderung und 2018 wieder eine deutliche Abnahme.
Tabelle 7
Ende der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB)
mit und ohne Freiheits-/Jugendstrafe
Isolierte Unterbringung in Unterbringung in
Gesamt Unterbringung in der Psychiatrie der Psychiatrie
der Psychiatrie neben F/JoB* neben F/JmB*
Jahr der
Beendigung n n % n % n %
der Unterbringung
2004 449 257 57,2 183 40,8 9 2,0
2007 541 345 63,8 189 34,9 7 1,3
2010 616 381 61,9 227 36,9 8 1,3
2013 682 429 62,9 250 36,7 3 0,4
2016 697 412 59,1 277 39,7 8 1,1
* F/JoB Freiheits- oder Jugendstrafe ohne Bewährung, F/JmB Freiheits- oder Jugendstrafe mit Bewährung
In Tabelle 7 werden die Fälle der Beendigung der Unterbringung in einem psych-
iatrischen Krankenhaus differenziert für Personen mit isolierter Maßregelanordnung
einerseits und Personen mit einer gleichzeitigen Verurteilung zu einer Freiheits- oder
Jugendstrafe andererseits dargestellt. Bei etwa 40 % der Personen, die ihre Unterbrin-
gung beendet hatten, lag auch eine Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe
ohne Bewährung vor. Hier zeigten sich von 2004 bis 2016 kaum Veränderungen. Zu
einer Entlassung aus der Unterbringung mit gleichzeitig vorliegender Bewährungs-
strafe kam es kaum, da es in diesen Fällen selten zur Unterbringung in der Psychiatrie
kam. Im Allgemeinen wurde in diesen Fällen sofort mit dem Urteil die Unterbrin-
gung zur Bewährung ausgesetzt.
5.3 Unterbringungsdauer
11
Die Dauer der Unterbringung wird anhand des Zeitpunkts der Aussetzung der Unter-
bringung bzw. der Erledigung der Unterbringung und des Zeitpunkts der Anordnung der Un-
terbringung (Rechtskraftdatum) berechnet.
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB 879
terbringung 2004 17,6 % und 2016 40,7 %. Bereits 2013 war fast jeder dritte Maßre-
gelpatient länger als zehn Jahre im psychiatrischen Krankenhaus untergebracht.
Tabelle 8
Unterbringungsdauer am Ende der Unterbringung
Ende der Ø Unter- Max. Unter- Unterbringungsdauer
Unterbringung bringungsdauer bringungsdauer mehr als 10 Jahre
Jahr n in Jahren in Jahren %
2004 449 6,6 25,6 17,6
2007 541 7,0 31,2 19,8
2010 616 7,5 34,5 25,2
2013 682 8,8 36,1 31,1
2016 697 9,6 38,2 40,7
In der Untersuchung von Dessecker (2008, 34) betrug die mittlere Unterbrin-
gungsdauer 2006 6,5 Jahre (alle Bundesländer außer Hessen). Bei 17 % der Maßre-
gelpatienten betrug die Unterbringungsdauer mehr als 10 Jahre, das Maximum lag
bei 43 Jahren.
Die mittlere Unterbringungsdauer stimmt mit der von ceus consulting ermittelten
Unterbringungsdauer in etwa überein, wobei die Daten von ceus consulting die An-
gaben von Bayern und Baden-Württemberg nicht enthielten (siehe König 2018, 110.
Die Daten stammen aus ceus consulting 2017). Ceus consulting ermittelte die durch-
schnittliche Dauer der Unterbringung sowohl am 31.12. jeden Jahres seit 2009 als
auch für manche Jahre bei Beendigung der Unterbringung. Wobei hier auffällt,
dass 2010 die durchschnittliche Dauer der Unterbringung bei Beendigung überein-
stimmte mit der durchschnittlichen Dauer am Stichtag 31.12., jeweils 7,4 Jahre, aber
2012 ein deutlicher Unterschied zwischen der durchschnittlichen Dauer bei Entlas-
sung und der am 31.12. bestand. Bei Entlassung betrug die durchschnittliche Unter-
bringungsdauer 8,5 Jahre, am 31.12. waren es 7,7 Jahre. 2015 war diese Differenz
noch deutlich höher, 9,9 Jahre bei Entlassung und 8,1 Jahre am 31.12. Somit war
der Anstieg der Unterbringungsdauer am Stichtag 31.12. von 2010 bis 2015 nur ge-
ring, der Anstieg der Unterbringungsdauer der Beender in dieser Zeit mit 33 % aber
sehr deutlich.
Traub & Schalast (2017) schätzten die Unterbringungsdauer für die Jahre 1985 bis
2013 anhand der Angaben von jährlichen Anordnungen der Unterbringung in der
Strafverfolgungsstatistik und anhand der Zahl der Untergebrachten an einem Stich-
tag in der Strafvollzugsstatistik. Traub & Schalast (2017, 149) berechneten die „Epi-
demiologische Verweildauer (EV)“ als Schätzwert für die Dauer der Unterbringung
anhand der Formel:
EVJahr1 = BelegungJahr1/NeuanordnungenJahr1
Diese Schätzung ergab für die alten Bundesländer 1993 eine Unterbringungsdau-
er von 4,6 Jahren und 2013 von 9,1 Jahren. Nach dieser Berechnung verdoppelte sich
die Unterbringungsdauer in den 20 Jahren von 1993 bis 2013 nahezu. Am Ergebnis
880 Carina Tetal
von 2013 zeigt sich, dass Traub & Schalast (2017) mit ihrer Schätzung der Unterbrin-
gungsdauer eine gute Annäherung liefern. Jaschke & Jaschke (2017), die die Unter-
suchung von ceus consulting durchführten, beanstanden die Schätzungen von Traub
& Schalast zur Unterbringungsdauer auf Länderebene.12
Den Ergebnissen von ceus consulting ist zu entnehmen, dass die Unterbringungs-
dauer aller am 31.12. Untergebrachten von 2010 bis 2015 um 10 % anstieg. Viel deut-
licher aber mit 33 % war der Anstieg der Unterbringungsdauer bei Beendigung der
Unterbringung. Dies und die starke Zunahme des Anteils der Patienten mit einer Un-
terbringungsdauer von mehr als zehn Jahren weisen darauf hin, dass der Anstieg der
Unterbringungsdauer auch darauf zurückzuführen ist, dass besonders viele Langzeit-
patienten die Unterbringung beendeten. Inwiefern die Gesetzesänderung von 2007,
die Einführung von externen Prognosegutachten (§ 463 Abs. 4 StPO), einen Einfluss
auf diese Entwicklung hatte, kann nicht mit Gewissheit bestimmt werden.
12
Heinz Jaschke ist Geschäftsführer von ceus consulting.
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB 881
1.00
2004
2007
2010
0.75
Survival (Kaplan−Meier)
0.25 0.50
0.00
0 4 8 12
Zeit [Jahre]
Abbildung 2: Dauer der Unterbringung seit der Anordnung der Unterbringung
waren vor Beendigung der Unterbringung verstorben. Von den 707 Maßregelpatien-
ten waren nach sechs Jahren noch 58 % untergebracht.
Damit zeigte sich kein signifikanter Unterschied bei den lang Untergebrachten bei
Beginn der Unterbringung in den Jahren 2004, 2007 und 2010. In den ersten drei Jah-
ren nach Anordnung der Unterbringung kam es selten zu einer Beendigung, nur 14 %
der Maßregelpatienten beendeten ihre Unterbringung innerhalb von drei Jahren. Die
meisten Beendigungen der Unterbringung gab es nach vier, fünf und sechs Jahren
nach der Anordnung der Unterbringung. Hier wurden im Schnitt 9 % jährlich entlas-
sen. Mit einer Unterbringungszeit von mehr als sechs Jahren nahm der Anteil der
jährlichen Entlassungen wieder ab. In der Gruppe der Maßregelpatienten, die seit
2004 in der Unterbringung waren, zeigte sich, dass es nach zehn Jahren Unterbrin-
gung zu einer leichten Zunahme der Beendigungen (7 %) kam im Vergleich zu in den
Jahren kurz davor und danach.
6. Fazit
Die Zahl der Anordnungen der Unterbringung gemäß § 63 StGB nahm von 2007
bis 2016 ab. Insbesondere nahmen die Anordnungen der Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus mit gleichzeitiger Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe
ab. Des Weiteren ist ein deutlicher Rückgang bei der Anordnung der Maßregel in Ver-
882 Carina Tetal
bindung mit einer verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) zu sehen. Seifert & Ley-
graf (2016, 240) weisen darauf hin, dass dies häufig persönlichkeitsauffällige Perso-
nen betrifft, die wegen eines Sexualdelikts abgeurteilt werden.
Die Bestandszahlen der im Maßregelvollzug Untergebrachten nahmen seit den
1980er Jahren bis 2013 zu.13 Die Zunahme der Bestandszahlen bei gleichzeitiger Ab-
nahme der Anordnungen zur Unterbringung im Maßregelvollzug weist auf eine deut-
liche Zunahme der Unterbringungsdauer in diesem Zeitraum hin.
Die Zahl der Maßregelpatienten, die die Unterbringung beendeten, nahm in der
Zeit von 2004 bis 2016 zu. Wird die Unterbringungsdauer vom Zeitpunkt der Ent-
lassung aus betrachtet, nahm die durchschnittliche Unterbringungsdauer von 2004
bis 2016 deutlich zu, und vor allem die Zahl der Maßregelpatienten mit einer Unter-
bringungsdauer von mehr als zehn Jahren nahm stark zu. 41 % der Maßregelpatien-
ten, bei denen die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus 2016 been-
det wurde, waren länger als zehn Jahre untergebracht. 2007 war der Anteil der Be-
ender mit einer Unterbringungszeit von mehr als zehn Jahren 20 %.
Wird die Unterbringungsdauer aller am 31.12. Untergebrachten betrachtet, gab es
nur einen geringen Anstieg der Dauer von 2010 bis 2015. Dies und der starke Anstieg
des Anteils der Beender mit einer Unterbringungszeit von mehr als zehn Jahren wei-
sen darauf hin, dass die längere durchschnittliche Unterbringungsdauer bei Entlas-
sung dadurch zustande kam, dass überdurchschnittlich viele Langzeituntergebrachte
entlassen wurden.
Wird die Unterbringungsdauer prospektiv betrachtet, zeigt sich seit 2004 keine
Veränderung im Anteil der Personen mit langen Unterbringungszeiten. Nach
sechs Jahren sind nach Anordnungen der Unterbringung 2004 60 %, 2007 und
2010, 58 % der Untergebrachten weiterhin im Maßregelvollzug. Die Unterbrin-
gungsdauer im Maßregelvollzug sollte weiter mit Längsschnittdaten untersucht wer-
den, um zu überprüfen, ob die Gesetzesänderungen 2016 in § 67d Abs. 2 und Abs. 6
zu Veränderungen der Dauer der Unterbringung geführt haben.
Literaturverzeichnis
Albrecht, H.-J. (1998): Kriminologische und rechtspolitische Desiderate in der Gestaltung der
Forschungsperspektiven Forensischer Psychiatrie, in: H.-L. Kröber & K.-P. Dahle (Hrsg.),
Sexualstraftaten und Gewaltdelinquenz, Verlauf – Behandlung – Opferschutz. Heidelberg,
S. 135 – 150.
Albrecht, H.-J. (2007): Rechtliche Grundlagen der Forensischen Psychiatrie – eine international
vergleichende Perspektive, in: H.-L. Kröber, D. Dölling, N. Leygraf & H. Sass (Hrsg.), Hand-
buch der Forensischen Psychiatrie, Band 1 Strafrechtliche Grundlagen der Forensischen
Psychiatrie. S. 511 – 573.
13
Siehe DeStatis Statistisches Bundesamt: Strafvollzugsstatistik. Im Psychiatrischen
Krankenhaus und in der Entziehungsanstalt aufgrund strafrichterlicher Anordnung Unterge-
brachte (Maßregelvollzug) 2015, Berichtsjahr 2013, Bestandszahlen für alte Bundesländer.
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB 883
1
§ 177. Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung. (Fassung 1. April 1998 – 10. November
2016)
(1) Wer eine andere Person
1. mit Gewalt,
2. durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder
3. unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos
ausgeliefert ist,
886 Volker Grundies
nen Tätern analysiert. Sie sind in den ausgewerteten fünf Jahren in 5.869 Fällen das
schwerste Delikt oder zumindest neben einem anderen in Tateinheit verwirklichten
Delikt als gleich schwer eingestuft.2 Hierbei waren alle Fälle, in denen das Datum der
letzten abgeurteilten Tat3 vor dem April 1998 lag, ausgeschlossen, da hier eine Aus-
wertung aufgrund der am 1. April 1998 erfolgten Gesetzesänderung zu komplex ge-
worden wäre. Gleichfalls wurde die Vergewaltigung mit Todesfolge (§ 178) nicht er-
fasst, da sie zu selten angegeben war4. In Tabelle 1 sind die Häufigkeiten und die je-
weilige Sanktion differenziert nach den Absätzen des § 177 angegeben. In ca. 1 %
der Fälle wurde eine Geldstrafe und in fünf Fällen eine Verwarnung unter Strafvor-
behalt ausgesprochen. In 84 Fällen des § 177 war kein Absatz spezifiziert. Hier ließ
sich auch aufgrund der ausgesprochenen Sanktion vermuten, dass es sich meist um
Fälle des Absatzes 1 handelte. Aufgeführt sind in Tabelle 1 auch die sechs Fälle, bei
nötigt, sexuelle Handlungen des Täters oder eines Dritten an sich zu dulden oder an dem Täter
oder einem Dritten vorzunehmen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.
(2) [1] In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren.
[2] Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn
1. der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an
dem Opfer vornimmt oder an sich von ihm vornehmen läßt, die dieses besonders
erniedrigen, insbesondere, wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden
sind (Vergewaltigung), oder
2. die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird.
(3) Auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter
1. eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug bei sich führt,
2. sonst ein Werkzeug oder Mittel bei sich führt, um den Widerstand einer anderen Person
durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu verhindern oder zu überwinden, oder
3. das Opfer durch die Tat in die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung bringt.
(4) Auf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter
1. bei der Tat eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug verwendet oder
2. das Opfer
a) bei der Tat körperlich schwer mißhandelt oder
b) durch die Tat in die Gefahr des Todes bringt.
(5) In minder schweren Fällen des Absatzes 1 ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu
fünf Jahren, in minder schweren Fällen der Absätze 3 und 4 auf Freiheitsstrafe von einem
Jahr bis zu zehn Jahren zu erkennen.2 Die Schwereeinstufung erfolgte wie in der Straf-
verfolgungsstatistik anhand der Strafrahmen. Nicht berücksichtigt wurden damit 49 Fälle von
Mord und Totschlag, 40 Fälle des Missbrauchs von Kindern, 24 Fälle des (schweren) Raubs
und 15 Fälle gegen die persönliche Freiheit, in Tateinheit mit Vergewaltigung, wobei letztere
aber mit einer geringeren Strafandrohung verbunden war als das Hauptdelikt.
3
In den Daten ist nur das Datum der letzten abgeurteilten Tat angegeben. Leider fehlt es in
ca. 9 % der Fälle gänzlich.
4
Es konnten in den betrachteten fünf Jahren nur zwei Fälle eindeutig identifiziert werden.
Dabei wurden alle Fälle ignoriert, in denen kein Tatdatum angegeben war und die als Tat den
§ 178 Abs. 1 aufführten, den es in der relevanten Fassung des § 178 nicht gibt. Wie diese
geringe Anzahl zustande kommt ist nicht klar, zumal in der Strafverfolgungsstatistik im Mittel
4 Fälle/Jahr aufgeführt werden. Bezüglich des § 177 stimmen die in der Strafverfolgungssta-
tistik genannten Anzahlen mit dem Vorkommen im BZR im Großen und Ganzen überein,
wobei es in den einzelnen Jahren aber zu Abweichungen nach oben oder unten kommt. Dies
wird dadurch verursacht, dass in der Auswertung der BZR-Daten das Datum der Entscheidung
benutzt wurde, während die Strafverfolgungsstatistik das Rechtskraftdatum zu Grunde legt.
Die Sanktionierung von Vergewaltigungsdelikten 887
denen als schwerstes Delikt nur der minderschwere Fall (§ 177 Abs. 5) genannt
wurde. Diese sind offenbar Erfassungsfehler, da der minderschwere Fall nur in Zu-
sammenhang mit den anderen Absätzen des § 177 vorkommt, zumal die in ihm ge-
regelte Milderung von der Qualifizierung der Tat abhängt.
Tabelle 1
Häufigkeit und Sanktionen bei Vergewaltigung (2004, 7, 10, 13 und 16)
Paragraph Strafrahmen N Mittlere Median Anteil FoBa Anteil FmBb
Strafdauer Strafdauer
[Monate]
177 > 1 Jahr 81 25 21 27 % 72 %
177 (1) > 1 Jahr 2.606 19 16 21 % 77 %
177 (2) > 2 Jahre 2.553 38 30 59 % 41 %
177 (3) > 3 Jahre 215 49 42 73 % 26 %
177 (4) > 5 Jahre 408 70 69 89 % 11 %
177 (5) 6 18 21 50 % 17 %
a b
Freiheitsstrafe ohne Bewährung Freiheitsstrafe mit Bewährung
Die Vergewaltigung war in 62 % der Fälle mit einem oder mehreren anderen De-
likten verknüpft. In 34 % gab es zusätzlich eine Körperverletzung, in 16 % der Fälle
einen Missbrauch (von Kindern, Abhängigen oder Jugendlichen), in 11 % ein Delikt
gegen die persönliche Freiheit (Geiselnahme, erpresserischer Menschenraub) und in
2 % einen Raub.
Strafrahmen
70
> 3 Jahre
> 5 Jahre
50
Anzahl
30 20
10
0 40
0 1 2 3 5 7 9 11 13 15
Dauer der Strafe [Jahre]
Vergewaltigung
Der Median der Verteilungen der Strafhöhen (siehe Tabelle 2) verdoppelt sich fast
von Abs. 1 nach Abs. 2 (x 1,9), er verdreifacht sich fast (x 2,6) von Abs. 1 zu Abs. 3
und er vervierfacht (x 4,3) sich von Abs. 1 nach Abs. 4. Damit spiegeln sich hier die
aufsteigenden Mindeststrafen der Absätze wider, wenn auch deren Steigerungen bei
den Absätzen 3 und 4 nicht ganz erreicht werden. In ähnlicher Weise werden die Ver-
teilungen von Absatz zu Absatz breiter. In Tabelle 2 sind dazu die Werte der 5 %- und
95 %-Perzentile (p5 und p95) angegeben, zwischen denen dann 90 % (p5 – p95) der
Fälle zu verorten sind. Die Spannweite der Verteilungen (hier erfasst durch p5 – p95)
ist jeweils in etwa doppelt so groß wie der entsprechende Median. Mithin steigt die
Variation der Strafen mit der als normal angesehenen Schwere des Delikts. Dabei
nehmen auch die hier als Grenzen des Strafbereichs angenommenen 5 %- und
95 %-Perzentile ungefähr in ähnlicher Weise wie die Mediane jeweils relativ zu
den Werten für den 1. Absatz zu. Entsprechend dem Anstieg des 95 %-Perzentils
nimmt auch die Ausschöpfung der Strafrahmen zu, wobei dieser Effekt hauptsäch-
lich durch die Verengung der Strafrahmen verursacht wird, die durch die ansteigen-
den Mindeststrafen bei gleichbleibender Höchststrafe entsteht.
5
Es wurden jeweils Zeiträume von 3 Monaten (jeweils inklusive der Obergrenze und
exklusive der Untergrenze) zusammengefasst und in der Mitte des Zeitraums abgetragen.
Beispielsweise wurden Strafen > 21 Monaten bis < = 24 Monate bei 22,5 Monaten abge-
tragen. Strafen von genau zwei Jahren sind hier dann enthalten.
Die Sanktionierung von Vergewaltigungsdelikten 889
Tabelle 2
Ausschöpfung der Strafrahmen entlang der Absätze des § 177 a.F. (Monate)
Median p5 p95 p5–p95 Ausschöpfung
Abs. 1 16 6 42 36 18 %
Abs. 2 30 14 82 68 37 %
Abs. 3 42 12 106 93 48 %
Abs. 4 69 25 134 110 62 %
Weiter ist das knappe Viertel der Sanktionen, die unter der Untergrenze der
Strafrahmen zu liegen kommen, festzuhalten. Dies ist rechtlich nur bei dem Vor-
liegen von Milderungsgründen möglich. In Tabelle 3 ist aufgelistet, welche Milde-
rungsgründe jeweils angeführt wurden.6 Liegt die Strafdauer unter der regulären
Untergrenze des Strafrahmens, so wurde in ca. Dreivierteln aller Fälle mindestens
ein Milderungsgrund aufgeführt. Dies ist zwar wesentlich häufiger als bei Sanktio-
nen innerhalb des Strafrahmens (Milderungen in ca. einem Drittel der Fälle), doch
zu erwarten wären hier 100 % gewesen. Es ist zu vermuten, dass hier die Meldun-
gen an das BZR unvollständig waren. Eine Kontrolle der freitextlichen Deliktsbe-
schreibung ergab, dass nur in wenigen Fällen (ca. 1 %) in der freitextlichen Delikts-
beschreibung ein minderschwerer Fall erwähnt wurde, der im „Paragraphenfeld“
keine Entsprechung (§ 177 Abs. 5) hatte.7 Mithin gab es für knapp ein Viertel
der Fälle, bei denen die Sanktionsdauer unter der Untergrenze des Strafrahmens
lag, keine direkte Erklärung.
Tabelle 3
Anteile der Fälle des § 177 mit Sanktionen unter bzw. über der Untergrenze
des Strafrahmens sowie Anteile der erwähnten Milderungsgründe
Sanktionen unterhalb der Untergrenze des normalen Strafrahmens
§ 177 Fälle Minderschwer Beihilfe Verm. Versuch TOA Mind. 1
Schuldf. § 46a Milderung o.
minderschwer
Abs. 1 26,5 % 64,5 % 0,3 % 15,9 % 18,3 % 0,9 % 82,2 %
Abs. 2 17,6 % 14,9 % 1,1 % 26,2 % 30,9 % 2,7 % 64,4 %
Abs. 3 34,9 % 54,7 % 2,7 % 17,3 % 34,7 % 4,1 % 83,8 %
Abs. 4 37,5 % 52,9 % 0,0 % 25,5 % 20,3 % 0,7 % 77,8 %
Sanktionen über der Untergrenze des normalen Strafrahmens
Abs. 1 73,5 % 15,5 % 0,3 % 11,6 % 15,8 % 0,7 % 36,6 %
Abs. 2 82,4 % 2,5 % 0,7 % 15,0 % 11,6 % 1,3 % 27,1 %
Abs. 3 65,1 % 7,1 % 0,7 % 17,9 % 13,6 % 1,4 % 33,8 %
Abs. 4 62,5 % 0,4 % 19,2 % 15,7 % 1,2 % 37,5 %
6
Unter den Milderungsgründen wurden zwei Fälle, in denen der Versuch der Beteiligung
(§ 30) erwähnt war, nicht aufgeführt.
7
Andere Milderungsgründe, die im Paragraphenfeld keine Entsprechung gehabt hätten,
tauchten nicht auf.
890 Volker Grundies
Auch bei ca. einem Drittel der Fälle, deren Sanktion innerhalb des entsprechenden
Strafrahmens liegt, wurde mindestens ein Milderungsgrund aufgeführt. Hier wurden
die verminderte Schuldfähigkeit oder der Versuch (jeweils ca. 14 %) erwähnt und in
8 % der Fälle auch der minderschwere Fall. Sehr selten wurde die Beihilfe genannt
(0,5 %). Der Täter-Opfer-Ausgleich wurde in etwa 1,2 % der Fälle aufgeführt.
Allgemein dominiert unter den Milderungsgründen die Einstufung als minder-
schwerer Fall, d. h. die Erwähnung des 5. Absatzes.8 Dass dies gelegentlich auch
dann der Fall war, wenn der Abs. 2 als schwerstes Delikt erfasst wurde und somit
ein minderschwerer Fall ausgeschlossen scheint, liegt einerseits wohl daran, dass
in diesen Fällen gelegentlich zusätzlich Tathandlungen nach Abs. 1 vorlagen, auf
die sich dann der Abs. 5 beziehen mag (die Zuordnung der einzelnen im „Paragra-
phenfeld“ erwähnten Normen untereinander ist jeweils eine Frage der Interpretation
und kann nicht eindeutig erfasst werden). Andererseits ist nach der Rechtsprechung
(BGH 3 StR 253/99)
„trotz Vorliegens eines Regelbeispiels für einen besonders schweren Fall (z. B. § 177 Abs. 2
StGB) zu prüfen ob nicht Umstände vorliegen, die der Tat trotz Erfüllung eines Regelbei-
spiels das Gepräge eines minderschweren Falles geben könnten. Diese müßten allerdings in
einem ganz außergewöhnlichen Umfang schuld-mildernd sein.“ (siehe auch BGH 4 StR
163/05 u. a.).
Allgemein kann noch festgehalten werden, dass die als minderschwer eingestuf-
ten Fälle mit einer geringeren Vorstrafenbelastung assoziiert sind als die normalen
Fälle, wobei allerdings die Einstufung als minderschwerer Fall nicht oder nur mini-
malst von den Vorstrafen abhängt.
In ca. 28 % der Fälle wurden auch die verminderte Schuldfähigkeit (15,4 %) oder
der Versuch (16 %) aufgeführt, wobei die Überschneidung mit den minderschweren
Fällen gering ist.9 Dabei ist der Versuch unauffällig entlang der Absätze verteilt, wäh-
rend die verminderte Schuldfähigkeit entlang der Absätze häufiger konstatiert wird.10
8
Insgesamt wird in 17,4 % der Entscheidungen der minderschwere Fall erwähnt, bei der
Untersuchung von Albrecht (1994, 300) mit Fällen von 1980 aus fünf LG-Bezirken Baden-
Württembergs war diese Quote mit ca. 35 % doppelt so hoch. Sie ist jedoch nicht vergleichbar,
da damals das Gesetz noch anders strukturiert war und wohl große Teil des Abs. 1 (i. d. F. vom
1. April 1998) damals zu den minderschweren Fällen gerechnet wurden. Über die untersuch-
ten Jahre 2004, 2007, 2010, 2013 und 2016 zeigt sich keine Veränderung der Quote. Zwar
differieren die Quoten über die OLG-Bezirke in der aktuellen Untersuchung zwischen 8 und
24 %, für Baden-Württemberg liegen sie im bundesweiten Mittel. Aus den vorliegenden Daten
können die Gründe für eine Einstufung zu einem minderschweren Fall nicht bestimmt werden,
gleichwohl wird eine solche wahrscheinlicher, wenn keine Vorstrafen vorliegen.
9
In 4 % aller Fälle ist sowohl der minderschwere Fall erwähnt als auch der Versuch oder
die verminderte Schuldfähigkeit. Der Anteil der Versuche ist bei als minderschwer einge-
stuften Fällen leicht niedriger (14,7 %) als bei den Normalfällen (16,3 %). Dies gilt auch für
die verminderte Schuldfähigkeit mit 15,8 % bei den Normalfällen und 13,9 % bei den mind-
erschweren Fällen. Beide Ergebnisse sind aber nicht signifikant.
10
Anteile verminderter Schuldfähigkeit: Abs. 1 13 %, Abs. 2 17 %, Abs. 3 18 % und Abs. 4
21,5 % (statistisch signifikant).
Die Sanktionierung von Vergewaltigungsdelikten 891
Damit variiert der Anteil verminderter Schuldfähigkeit systematisch und spiegelt die
Schwere der Mindeststrafandrohungen wider (siehe auch Albrecht 1994, 321 ebenso
mit der Feststellung der Unabhängigkeit der Versuchsanteile). Auch eine höhere Vor-
strafenbelastung schließt die verminderte Schuldfähigkeit nicht aus, vielmehr wur-
den sie dann wohl eher erwogen. Dabei ist dieser Effekt unabhängig davon, dass mit
zunehmender Qualifikation über die Absätze auch die Vorstrafenbelastung ansteigt.
Die gesetzlich fixierte Strafrahmenverschiebung gemäß § 49 wurde in ca. 10 %
der Fälle fast ausnahmslos zusammen mit einem entsprechenden Milderungsgrund
aufgeführt. Er wurde offensichtlich seltener erwähnt als die auf ihn verweisenden
Milderungsgründe selbst.
Bezüglich der verhängten Strafen bei minderschweren Fällen bleibt festzuhalten,
dass die Strafdauern im Wesentlichen unterhalb der Mindeststrafe des entsprechen-
den Absatzes zu liegen kommen. „Offensichtlich verfolgt die Praxis eine Konzeption
der Sanktionsabschichtung, die die Mindeststrafandrohung des höher ansetzenden
Strafrahmens im Regelfall als Obergrenze des darunterliegenden Strafrahmens aus-
weist“ (Albrecht 1994, 314; siehe auch Greger 1987, 265). Dies ist in Abbildung 2 für
alle Absätze des § 177 a.F. zu sehen. Dort wird nochmals deutlich, dass halbjährige
Strafmaße bevorzugt werden und der 2-Jahresgrenze eine besondere Bedeutung zu-
kommt.11
In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass die minderschweren Fälle des
§ 177 Abs. 3 und 4 a.F., in denen eine Freiheitsstrafe von einem bis zehn Jahren an-
gedroht wird, härter bestraft wurden als der Normalfall des Abs. 1, bei dem die Straf-
androhung theoretisch höher ist (> 1 Jahr). Dies lässt sich auch nicht durch höhere
Anteile des Versuchs oder der verminderten Schuldfähigkeit erklären, da diese An-
teile im Fall des Abs. 1 niedriger sind als für die minderschweren Fälle der Absätze 3
und 4. Ebenso können eine höhere Vorstrafenbelastung oder eine häufigere Kombi-
nation mit anderen Straftaten als Ursache ausgeschlossen werden.
Tabelle 4
Strafdauern (Monate) des normalen und minderschweren Falls
der verschiedenen Absätze bei Vergewaltigung (§ 177 a.F.)
normal minderschwer
Abs. N Mittel Median N Mittel Median
1 1906 21,5 18 746 11,8 10
2 2399 38,3 30 115 24,4 21
3 163 56,5 51 50 26,0 24
4 309 79,3 78 97 40,0 39
Auffällig ist die Häufung von Fällen an der Zweijahresgrenze, die noch zur Be-
währung ausgesetzt werden können. Dagegen fehlen, verglichen mit einem fiktiven
glatten Verlauf, Fälle direkt oberhalb der zwei Jahre. Es scheinen hier also Fälle unter
11
Nach Albrecht (1994, 285) ist dies aber nur bei Vergewaltigung der Fall, nicht aber bei
Raub (§ 250 Abs. 3).
892 Volker Grundies
Abs. 1 Abs. 2
400
600
mind.schw. minder schwer
200 300
400
Anzahl
200
100
0
0
0 1 2 3 4 5+ 0 1 2 3 5 7 9 11 13 15
20
Abs. 3 Abs. 4
30
mind.schw. mind.schw.
10 15
Anzahl
20
5
10
0
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10+
0
die Zweijahresgrenze gedrückt worden zu sein. Falls dies durch die Aussetzbarkeit
der Strafe motiviert ist, sollte sich dies auch in einer höheren Aussetzungsrate dieser
zweijährigen Strafen verglichen mit etwas kürzeren Strafen zeigen. Tatsächlich sinkt
die Aussetzungsrate beginnend von fast 100 % bei Strafdauern von 6 Monaten bis auf
ca. 87 % bei Strafdauern von 18 bis 21 Monaten um dann an der Zweijahresgrenze
wiederum auf ca. 94 % anzusteigen (vgl. Abbildung 5 und Albrecht 1994, der aller-
dings keine höhere Aussetzungsquote der zweijährigen Strafen feststellen konnte
und für Strafen zwischen einem und zwei Jahren eine wesentlich geringere Ausset-
zungsquote unter 20 % verzeichnet).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Länge der Strafen bei Ver-
gewaltigung im Mittel zwischen dem 1,2- (Abs. 4) und 1,5-Fachen (Abs. 1+2) der
Mindeststrafen liegen. Um diesen Mittelwert verteilen sich die Strafen recht gleich-
mäßig mit einer Spannweite (p95–p5), die zwischen dem 1,9-Fachen der mittleren
Strafe (Abs. 1) und dem 1,5-Fachen (Abs. 4) variiert.12 Wie in Abbildung 3 darge-
stellt, ergeben sich damit Verteilungen, die weit unterhalb der Mindeststrafe im Ex-
tremfall bei einer Verwarnung beginnen, ihren Höhepunkt etwas oberhalb der Min-
deststrafe erreichen und bis etwa zum 3-Fachen der Mindeststrafe reichen. Damit
kommt der Strafrahmenobergrenze keine Bedeutung zu und die Mindeststrafe ist
eher ein Orientierungspunkt für die Mittlere Strafdauer als eine sich deutlich auswir-
12
Das entspricht etwa dem 2- (Abs. 4) bis 3-Fachen (Abs. 1) der Mindeststrafe.
Die Sanktionierung von Vergewaltigungsdelikten 893
kende Untergrenze. In die Nähe der Obergrenze kommen nur im Fall des Abs. 3 und 4
einige sehr wenige Fälle. Die maximal verhängte Strafe betrug 14 Jahre.
800
800
600
600
Anzahl
Anzahl
400
400
200
200
0
0
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Strafdauer §177 Abs.1 [Jahre] Strafdauer §177 Abs.2 [Jahre]
40
40
30
30
Anzahl
Anzahl
20
20
10
10
0
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Strafdauer §177 Abs.3 [Jahre] Strafdauer §177 Abs.4 [Jahre]
Abbildung 3: Verteilungen der Strafdauern entlang der qualifizierenden Absätze des § 177 a.F.
mit jeweils angepassten Normalverteilungen
13
Vgl. hierzu Sessar (1981) sowie Steinhilper (1986).
14
Nach Albrecht (1994, 293 ff.) war insbesondere die Täter-Opfer-Beziehung ausschlag-
gebend für die Einstufung zum minderschweren Fall. Fälle mit einer engen Täter-Opfer-
Beziehung wurden wesentlich häufiger als minderschwer eingestuft als Fremddelikte. Nach
der Rechtsprechung soll ein minderschwerer Fall vor allem dann in Betracht kommen, wenn
894 Volker Grundies
der § 177 a.F. durch die Variable Landgericht vs. Amtsgericht ein guter Proxy für die
Schwere der Fälle in der Regression enthalten.
In Tabelle 5 sind die Häufigkeiten sowie die Bedeutung der einzelnen Variablen für
die Erklärung der Sanktion aufgelistet. Die Häufigkeit des Vorkommens ist meist als
prozentualer Anteil der Fälle (N = 5785) angegeben. Die Wirkung wird durch den Re-
gressionsparameter beschrieben, der die durch die Variable verursachte Veränderung
auf der logarithmierten Skala der Strafdauer erfasst.15 Hier sei auf seine Interpretation
als prozentuale Veränderung hingewiesen: diese ergibt sich exakt als exp(Parameter)-1.
Als Daumenregel kann der Parameter selbst als prozentuale Veränderung interpretiert
werden, zumindest, wenn er klein ist. Allerdings ist die Wirkung nicht ganz zur Null
symmetrisch16. Somit sind die einzelnen Parameter in Tabelle 5 als relative Verände-
rung der Sanktionsdauer beim Vorliegen dieses Parameters zu interpretieren. Z. B. ver-
ringert sich die Strafdauer, wenn ein minderschwerer Fall (§ 177 Abs. 5) erwähnt
wurde, im Mittel um -35 % (Parameter = -0,44) oder die Strafe verlängert sich, falls
eine Anstiftung (§ 26) erwähnt ist, um 49 % (Parameter = 0,4). Etwas komplexer ist
die Interpretation des zum Tatbestand gehörigen Strafrahmens. Diese Variable hat ent-
sprechend der Absätze 1 – 4 insgesamt vier Ausprägungen, wobei der schwerste Straf-
rahmen (mindestens 5 Jahre § 177 Abs. 4) als Referenz erfasst ist. Die anderen Straf-
rahmen werden relativ zu diesem bewertet. D. h. liegt z. B. der Abs. 3 als schwerstes
Delikt vor, so verringert sich die Strafdauer relativ zum Vorliegen des Abs. 4 um ca.
-25 % (Parameter -0,28) etc. Rechnet man relativ zum Abs. 1, so verlängert sich die
Strafe für den Abs. 2 relativ zum Abs. 1 um das 1,5-Fache (Abs. 3 das 1,8-Fache
und Abs. 4 das 2,4-Fache). Vergleicht man damit die Mediane der tatsächlich verhäng-
ten Strafen (Tabelle 1 oder Tabelle 2) so erhält man wesentlich größere Unterschiede
(Abs. 2 das 1,9-Fache, Abs. 3 das 2,6-Fache und Abs. 4 das 4,3-Fache jeweils relativ zu
Abs. 1). Dies ist darauf zurückzuführen, dass die in der Regression berechneten Werte
unter Kontrolle der anderen Variablen bestimmt wurden, d. h. sie werden so berechnet,
als ob diese anderen Variablen unabhängig vom Strafrahmen wären und bei allen Straf-
rahmen jeweils gleich häufig auftreten. Dies ist aber keineswegs der Fall, so steigt z. B.
der Anteil der vor Landgerichten abgeurteilten Fälle und damit der Anteil der von der
zwischen Täter und Opfer bereits vor dem inkriminierten Akt sexuelle Beziehungen gegeben
waren oder wenn ein Täter aus einer bereits bestehenden Beziehung heraus „echte Liebesbe-
ziehungen“ anstrebt (BGH NStZ 1982, 26; BGH MDR 1963, 62). Weiter stellt Albrecht fest,
dass die Tatmittel und das Ausmaß der Gewalt und der Folgen nur einen geringen Einfluss auf
die Einstufung als minderschweren Fall haben. Wichtiger erscheint diesbezüglich die Legal-
biographie. Insgesamt könne aber nicht gut determiniert werden. Auch in der vorliegenden
Untersuchung ist zwischen der Einstufung als minderschwerem Fall und der Legalbiographie
ein zwar signifikanter aber wenig erklärender Zusammenhang festzustellen. Wie schon Al-
brecht feststellte, ist kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem minderschweren Fall
und dem Versuch vorhanden.
15
Weiterführendes zur Methodik findet sich in Grundies (2018) und Grundies (2016).
16
Zum Beispiel entspricht ein Parameter von 0,1 einer prozentualen Veränderung von
+10,5 %; -0,1 & -9,5 %; 0,2 & 22 %; -0,2 & -18 %; 0,3 & 35 %; -0,3 & -26 %; 0,5 & 65 %; -0,5
& -40 %; 1 & 172 %; -1 & -63 %.
Die Sanktionierung von Vergewaltigungsdelikten 895
Staatsanwaltschaft als schwer eingestuften Fälle vom Abs. 1 mit ca. 20 % über 52 %
(Abs. 2) und 74 % (Abs. 3) auf 94 % bei Fällen des Abs. 4. Die Werte in Tabelle 1
oder Tabelle 2 spiegeln hauptsächlich die Kombination der beiden Variablen Strafrah-
men und Landgericht wider, während die berechneten Parameter „nur“ die Verände-
rung mit dem Strafrahmen wiedergeben. Dies gilt analog auch für die anderen Parame-
ter, allerdings gehen dort meist keine so starken Veränderungen in den anderen Varia-
blen einher.
Bei der Interpretation der Parameter der kontinuierlichen Variablen (Alter, loga-
rithmierte Summe der Dauer früherer Freiheitsstrafen) ist zu beachten, dass hier die
Parameter mit der Veränderung der Variablen zu multiplizieren sind. So erhält bei-
spielsweise ein 30-Jähriger im Mittel eine um 3 % kürzere Strafe als ein 20-Jähriger
(10*0,003 = 0,03). Eine entscheidende Variable ist der Unterschied zwischen Amts-
gericht und Landgericht. Die Fälle, die vor einem Landgericht abgeurteilt wurden,
führen zu ca. 65 % längeren Strafen. Dies ist nicht weiter verwunderlich, werden
doch nur die schwereren Fälle vor den Landgerichten verhandelt.
Weggelassen wurden die Angaben zur Täterschaft (§ 25), da sie keine signifikan-
ten Auswirkungen hatten (N 235 4 %). Ebenfalls wurde die Erwähnung des § 49
(7,2 % aller Fälle) ignoriert, da in 98 % dieser Fälle der entsprechende Milderungs-
grund (Versuch, Beihilfe, verminderte Schuldfähigkeit und Täter-Opfer-Ausgleich)
verzeichnet war und dies somit zu einer Verdopplung der Angaben geführt hätte (der
§ 49 zeigte entsprechend auch keine relevante Auswirkung).
Unter den Variablen, die die Legalbiographie erfassen, erwies sich die aufsum-
mierte Dauer vorheriger Geldstrafen nicht als relevant. Angesicht der Schwere des
verhandelten Delikts spielen frühere Bagatelldelikte wohl keine Rolle. Anders ist
dies, wenn früher schon Freiheitsstrafen verhängt wurden, hier erwies sich die loga-
rithmierte17 Summe der Längen früherer Freiheitsstrafen als relevant. Zusätzlich zu
dieser Summe der Längen von Freiheitsstrafen mit oder ohne Bewährung war es von
Bedeutung, ob schon einmal eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung verhängt worden
war, und ob es schon eine oder mehrere einschlägige Vorstrafen gab. Ausschlagge-
bend ist hier aber, ob es eine solche Strafe schon gegeben hat und weniger wie viele.
So wurden bezüglich der einschlägigen Vorstrafen nur die Kategorien keine, eine und
mehr als eine berücksichtigt. Wie die Parameter zeigen, steigert vor allem die Dif-
ferenz von keiner zu einer einschlägigen Vorstrafe die Länge der Strafe um ca. 10 %,
weitere einschlägigen Vorstrafen (egal wie viele) führen dann aber nur noch zu einer
geringen Steigerung von zusätzlich ca. plus 3 % (zur Vorstrafenbelastung siehe auch
die Beispiele weiter unten und Tabelle 5).
17
Die Bildung des Logarithmus über die Summe der (bzw. auch einer einzelnen) Straf-
länge bewirkt, dass insbesondere eine erste Strafe (bzw. eine auch kurze Länge) von größerer
Bedeutung ist, als wenn bei schon gegebenen Strafen eine weitere hinzukommt oder eine
Strafe etwas länger ausfällt. Die Bedeutung weitere Straflängen wird immer geringer, je grö-
ßer die schon vorhandene Summe von Straflängen ist.
896 Volker Grundies
Das Geschlecht (0,6 % der Täter waren Frauen) war ebenfalls, auch aufgrund der
geringen Fallzahl, nicht signifikant. Die Nationalität war wegen der teilweise gerin-
gen Fallzahlen sinnvoll nur in Deutsch vs. Nichtdeutsch zu unterteilen. Hier werden
Ausländer etwa 6 % härter bestraft als Deutsche.18
Über die Jahre 2004, 2007, 2010, 2013 und 2016 ergaben sich keine Unterschiede
in der Härte der verhängten Sanktionen. Auffällig war in diesem Zusammenhang
aber der Rückgang der Fallzahlen (2004: 1792, 2007: 1597, 2010: 1118, 2013:
861 und 2016: 653).
Unter den strafmildernden Faktoren steht an erster Stelle der minderschwere Fall.
Sein Vorliegen reduziert die Strafe um 36 %. Es folgen die Beihilfe und der Täter-
Opfer-Ausgleich mit einer Reduktion von ca. 21 %. Beide sind aber sehr selten
(0,5 % bzw. 1,2 % der Fälle). Größere Bedeutung kommt dem Versuch (16 % der
Fälle) und der verminderten Schuldfähigkeit (15,4 % der Fälle) mit durchschnittlich
um 16 % bzw. 12 % niedrigeren Strafdauern zu.
Fasst man die einzelnen Variablen zu den Themenbereichen Delikt (qualifizierte
Tat + zusätzliche Tathandlungen), Tatumstände (minderschwerer Fall, Versuch, Tat-
mehrheit, verminderte Schuldfähigkeit etc.) und Legalbiographie zusammen, so er-
gibt sich, dass das Delikt zu ca. 37 % die Sanktion bestimmt. Des Weiteren wird die
Sanktion durch die Tatumstände (ca. 28 %), die Verurteilung vor einem Landgericht
(ca. 14 %) und die Legalbiographie (ca. 14 %) beeinflusst. Die weiteren nonlegalen
Faktoren (Alter, Nationalität und Geschlecht) erklären schließlich noch die restli-
chen 6 %.
18
Dieses Ergebnis zeigt sich allerdings erst in der multivariaten Analyse. Rein bivariat
betrachtet ergeben sich keine Sanktionsunterschiede. Entsprechend gibt es zwischen Deut-
schen und Ausländern einige Differenzen in der Tatbegehung: So ist die Vorstrafenbelastung
der Ausländer im Allgemeinen geringer. Dagegen ist der Anteil der minderschweren Fälle bei
Ausländern (10 %) geringer als bei Deutschen (17 %), ebenso wird bei Ausländer seltener eine
verminderte Schuldfähigkeit festgestellt (Ausländer 11 %, Deutsche 18 %). Die Häufigkeit der
Versuche ist gleich (16 %). In der multivariaten Analyse, bei der alle diese Unterschiede
kontrolliert werden, ergeben sich aber die genannten um 6 % verlängerten Strafen. Hier zeigen
sich gegenüber der Untersuchung von Albrecht (1994, 346 f.) einige Veränderungen: Dort
wurden Ausländer tendenziell leichter sanktioniert, was Albrecht vor allem auf den niedrige-
ren Anteil an Fremddelikten (Ausländer 11 %, Deutsche 29 %) und dem in Folge erhöhten
Anteil minderschwerer Fälle (Ausländer 44 %, Deutsche 35 %) zurückführte. Zugleich wurden
damals bei Ausländern mehr Versuche (42 %) registriert als bei Deutschen (33 %).
Die Sanktionierung von Vergewaltigungsdelikten 897
Tabelle 5
Deskription und Regressionsparameter bei Vergewaltigung (N = 5785, R2 = 0,69)
Anzahl Anteil Parameter Fehler p-Wert
Strafrahmen
> 5 Jahre 408 7,1 % Referenz
> 3 Jahre 215 3,7 % -0,28 0,03 0
> 2 Jahre 2.553 44,1 % -0,48 0,02 0
> 1 Jahre 2.693 46,6 -0,90 0,02 0
19
Soweit dieser nicht schon durch die Qualifizierungen der einzelnen Absätze erfasst
wurde.
20
Bei der Bayes prediction werden die für die jeweiligen Gerichtsbezirke unter Verwen-
dung des Hauptteils der Regression gewonnenen Mittelwerte der Residuen mit der ermittelten
Verteilung des random intercepts gefaltet. Dadurch werden die Mittelwerte der Residuen
etwas zur Mitte hin verschoben, und zwar umso stärker, je weiter außen sie liegen und je
größer ihr jeweiliger Fehler ist. Dadurch erhält man gerade für Bezirke mit geringen Fall-
zahlen wesentlich stabilere Ergebnisse, als wenn man direkt die gemittelten Residuen ver-
wenden würde. Die Bayes predictions werden in der Statistik als best linear unbiased predictor
angesehen (dazu und zu Mehrebenenmodellen allgemein Rabe-Hesketh & Skrondal 2005,
111).
Die Sanktionierung von Vergewaltigungsdelikten 899
wiederum etwas größere regionale Differenzen (17 % der LG-Bezirke liegen außer-
halb : 10 %).21
(7.1,16.0]
(4.0,7.1]
(−0.4,4.0]
(−3.5,−0.4]
(−6.6,−3.5]
[−12.0,−6.6]
Die Karte in Abbildung 4 zeigt, wie die Abweichungen von der mittleren Sank-
tionshärte über die Bundesrepublik verteilt sind. Sie zeigt in Grenzen ein ähnliches
Bild wie bei ,allen‘ Delikten: leichtere Sanktionen in Schleswig-Holstein und Baden,
härtere Sanktionen in Bayern. Allerdings gibt es auch einige Besonderheiten: So fällt
in Baden das LG-Karlsruhe durch härtere Sanktionen auf. Während über alle Delikte
ganz Südhessen hart sanktionierte, ist dies bei der Vergewaltigung nur das LG Frank-
furt usw. Insgesamt korrelieren die Abweichungen über die LG-Bezirke bei Verge-
waltigung nur mäßig mit den entsprechenden Abweichungen über ,alle‘ Delikte (r:
0,33). Am höchsten ist noch die Korrelation mit den Abweichungen bei Raub
(0,46).22
21
Grundies (2018) sowie weitere nicht publizierte Berechnungen des Autors.
22
Eine Faktorenanalyse über die verschiedenen deliktsspezifischen Abweichungen in der
Sanktionshärte ergab nur einen Faktor, d. h. es ist von einer gemeinsamen grundlegenden Basis
900 Volker Grundies
In LG-Bezirken, in denen milder sanktioniert wird, wird auch etwas häufiger auf
verminderte Schuldfähigkeit erkannt.23 Weitere Assoziationen etwa mit den Anteilen
des Versuchs, der minderschweren Fälle oder der Legalbiograhie sind nicht vorhan-
den.
(Punitivität) auszugehen. Allerdings ergibt die Faktorenanalyse sowohl für die Vergewalti-
gung wie auch für BtM-Delikte eine große Uniqueness von ca. 0,65 (Cronbachs a einer ge-
meinsamen Skala ist mit .88 sehr gut).
23
corr = -.22 (p: 0,02). Hier sollte aber keineswegs geschlossen werden, dass die Sank-
tionen in diesen LG-Bezirken niedriger sind, weil vermehrt auf verminderte Schuldfähigkeit
erkannt wurde. Dieser Effekt wurde zumindest in erster Näherung herausgerechnet. Vielmehr
scheint eine geringere Punitivität mit einer höheren Bereitschaft auf verminderte Schuldfä-
higkeit zu erkennen einherzugehen.
24
Das ist eine wesentlich höhere Aussetzungsrate als die 63 %, die Albrecht (1994) für
Fälle aus den Jahren 1980/81 feststellte. Allerdings sind die allgemeinen Aussetzungsraten für
1 bis 2-jährige Freiheitsstrafen von ca. 20 % 1980 bis auf ca. 70 % im Jahr 2010 angestiegen.
Auch für Freiheitstrafen von 6 bis 12 Monate stiegen die Aussetzungsraten in dieser Zeit von
ca. 70 % auf 80 % (Heinz 2014, 202).
25
Zum Beispiel beträgt die Odd Ratio bei einer 2-jährigen einschlägigen nicht ausgesetz-
ten Freiheitsstrafe gegenüber keiner Vorstrafe 0,03. D. h., dass fiktiv in diesen Fällen nur noch
ca. 29 % der Freiheitstrafen bis 2 Jahre ausgesetzt wurden (die über alle Fälle gemittelte
Aussetzungsrate bei Vergewaltigung beträgt ca. 93 %).
Die Sanktionierung von Vergewaltigungsdelikten 901
1
1000
.95
800
Anzahl Verurteilungen
Anteile Bewährung
600
.9
400
.85
200
.8
0
0 3 6 9 12 15 18 21 24
Strafdauer (Monate, Obergrenze inklusive)
Abbildung 5: Anteile der Aussetzung zur Bewährung entlang der Strafdauer (§ 177)
Zusammenfassung: Trotz der hoch abstrahierten Ebene der Daten konnten die ver-
hängten Strafdauern sehr gut erklärt werden, nicht zuletzt wegen der die Schwere des
Delikts widerspiegelnden Absätze des § 177 a.F. und der schon fixierten Entschei-
dung, ob vor einem Amts- oder Landgericht zu verhandeln sei. Auf dieser Basis
ergab sich im Gegensatz zu den Ergebnissen insbesondere bei leichteren Delikten
eine relativ gleichmäßige Sanktionspraxis in der gesamten BRD. Die Bedeutung
des minder schweren Falls in der Sanktionspraxis für die Unterschreitung der Min-
deststrafen, die schon von Albrecht (1994) herausgearbeitet wurde, zeigte sich auch
in diesen Daten. Die minder schweren Fälle überschreiten selten die Mindeststrafe
des Regelfalls. Die unteren Grenzen der Strafrahmen stellen einen guten Anhalts-
punkt für die Dauer der verhängten Strafen dar: Ein Drittel liegen unterhalb dieses
Wertes und entsprechend zwei Drittel darüber. Je niedriger die Minimalstrafe, desto
geringer ist die Ausschöpfung des Strafrahmens. Bestätigt wurde auch, dass der Dif-
ferenzierungsgrad der Strafen geringer ist, als dies nach der Gesetzeslage möglich
wäre. Soweit dies auf dem abstrakten Niveau der angewandten Normen möglich
war, konnten die von Albrecht herausgearbeiteten Zusammenhänge in der Strafzu-
messungspraxis repliziert werden.
902 Volker Grundies
Literaturverzeichnis
1. Introduction
The issue of drug control through criminal law has been a major topic in Western-
European criminal justice since the end of the nineteen-sixties, whereas comparable
trends of strengthening the criminal law approach to drug control in Croatia took off
rather delayed in the mid-1990s, after Croatia declared independence from the for-
mer Socialist Federal Republic of Yugoslavia (hereinafter: Yugoslavia). Prior to that,
in the former Yugoslavia, drug abuse and drug crime were not a topic of discussion as
a matter of criminal justice. Alike in other socialist/communist countries any notion
of a drug (or drug related) crime problem would have run against the stereotype of the
exemplary youth which in the ideal socialist/communist society is not susceptible to
the wicked temptations of the corrupt capitalist West. Ever since the question of penal
drug liberalisation1 has been a hot-topic in public and political debate, but it also
evolved into a well-established core topic in criminal law and criminology.
Amongst the scholars who largely contributed to the ongoing discussions on ille-
gal drug policy, Hans-Jörg Albrecht indeed stands out, as he not only critically and
innovatively has been scientizing the debate for decades, but also accomplished to do
this by truly living the idea of “criminal law and criminology under one roof”2. He
1
The terms “penal drug liberalisation” or “liberalisation policy” respectively, stand for the
decriminalisation of the mere possession of narcotic drugs without the intention of their
further resale and/or distribution (hereinafter: mere possession).
2
“Strafrecht und Kriminologie unter einem Dach” has been the leitmotif of the former
Max Planck Institute for Foreign and International Criminal Law in Freiburg im Breisgau
(MPI) for decades. Looking back at the fruitful cooperation between MPI’s criminology de-
partment, as headed by Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Jörg Albrecht, and the Zagreb Faculty of
Law’s criminal law department, as headed by Prof. Dr. Davor Derenčinović, one can only
confirm the significance and meaningfulness of this leitmotif, as well as its excellent trans-
position into practice. They are well-documented by countless success stories, ranging from
several collaborative research projects, a joint research group on ‘Balkan Criminology’
(www.balkan-criminology.eu), 6 PhDs at the MPI within less than one decade, 2 of these as
cotutelle PhDs together with the Zagreb Faculty, 3 co-organised annual international courses
like the one on ‘Crime Prevention Through Criminal Law & Security Studies’ (www.pravo.
unizg.hr/KP/crimeprevention), a co-edited and co-published criminological book series (www.
904 Davor Derenčinović and Anna-Maria Getoš Kalac
skilfully manages to approach the broad field of illegal drug policy from the perspec-
tive of a criminal law scholar, a (critical) criminologist and a sociologist, thereby not
only unravelling the countless complexities of all the different issues at stake, but also
providing for inter- and transdisciplinary, as well as open-minded findings.
Early on he realised (and empirically backed up) that:
“[…] quite paradoxical effects seem to be the consequence of tough drug laws and strict
enforcement. Large black markets, marginalized subcultures of drugs with tremendous dan-
gers for health and life of addicts, organization and rationalization of drug trafficking seem
to be the result of emphasizing repression and control as central elements in societal respons-
es to drug problems, an emphasis which can be demonstrated by the ongoing process of en-
larging police rights in controlling drug related behavior as well as increasing minimum and
maximum penalties up to grossly excessive levels.” (cit. Albrecht 1986, 17).
Some twenty years later in analysing the developments and impact of drug pol-
icies in Europe he finds that not only the promise of evidence-based drug policies
has still not been fulfilled, but also that:
“Criminal law based drug control continues to be a leading element in drug policies. The
increase in minimum and maximum criminal penalties for drug offences unfolding in the
1980ies is still impacting on sentencing and the prison system. Seen from available supply
data, nothing suggests that criminal law has had significant effects in cutting down the avail-
ability of various drugs, in discouraging drug trafficking or driving prices up” (cit. Albrecht
2010, 21).
Apparently the only significant thing that has changed is the dropping public con-
cern about illegal drugs and the nowadays rather unsensational coverage of drug-re-
lated news by the media, as well as the increase in nexus-discourses, linking drugs to
conflicts, violence, terrorism, organised crime, etc. (Albrecht 2010). The current sit-
uation in Croatia is no different in this regard – one could actually say that the country
is even less concerned with drug control, most likely due to the apparent lack of open
drug scenes as noticeable in most Western-European countries.
Given the still rather recent penal liberalisation in Croatian drug policy we reflect
on Albrecht’s highly valuable insights on drug control and critically assess the impact
and trends such liberalisation has so far produced in Croatia. Following his bright
example, we take a criminal law and criminological perspective, while embedding
our analysis in the overall Croatian social context. Given that slightly less than a dec-
ade has passed since Croatia ‘decriminalised’ the largest share of its criminal drug
offences, by down tuning possession for personal use to a misdemeanour, our anal-
ysis is both timely and necessary, while filling a considerable gap in European drug
policy research. After providing an overview of the past and present penal drug pol-
icy, with focus on the main policy justifications and their transposition into criminal
law, we address specific normative and practical challenges the Croatian criminal
justice system faces in implementing such liberalisation. These findings are then fur-
ther analysed and scrutinised in light of criminal justice statistics, public health sta-
tistics, seized narcotics statistics and prison statistics, in order to assess the overall
impact the liberalisation has had thus far and to detect most likely future trends.3 Fi-
nally, instead of simply taking a pro or con stand on the question of penal drug lib-
eralisation in general, and particularly in Croatia, we will conclude the paper at hand
by arguing that a one-size-fits-all approach in matters of illegal drug policy common-
ly disregards cultural, moral and even behavioural differences between countries, so-
cieties and regions, and that relevant policy decisions need to be rooted in scientific
knowledge, rather than opposing ideologies or world-views.
3
We are fully aware of all the pitfalls, misfits and dangers of simply contrasting data on
consumption, drug crimes, seizures, etc. with changes in penal drug policy, and drawing
conclusions about causal relationships solely on such a basis. “Drug use in general and in
particular the development of drug or addiction careers are the outcome of complex and not
yet fully understood processes which include individual risk components, social and economic
contexts.” (cit. Albrecht 2010, 13).
4
Highly simplified and put in a nutshell, there are basically two main political options/
parties in Croatia. The ‘left’ one, which essentially grew out of the former communist party
that ruled the former Yugoslavia for decades (Socijaldemokratska partija Hrvatske, SDP), and
the ‘right’ one which emerged at the end of the 1980’s (Hrvatska demokratska zajednica,
HDZ) leading up to the first free democratic elections in Croatia, while relying on a more
conservative discourse about issues of public interest. Although labelled ‘left’ and ‘right’,
neither of these two main Croatian political options actually fits the Western-European idea
about ‘left’ and ‘right’.
906 Davor Derenčinović and Anna-Maria Getoš Kalac
proach remained intact even after Croatia gained independence in 1991 and until
1998, when drug offences started being considered a threat to “values protected
by international law”. This shift nicely reflects the growing concern with drug
crime and places drug offences within a chapter of the CC that deals with most threat-
ening types of crimes for the state as well as for the international community as a
whole, like crimes against international humanitarian law, genocide, terrorism, etc.
Nowadays drug offences are considered “criminal offences against peoples’
health” and placed in the CC right after the criminal offence of “careless inspection
of meat used as food” and before the criminal offence of “unauthorized production
and circulating of substances forbidden in sports”. This last reallocation of drug of-
fences within different chapters of the CC again nicely reflects the decreased concern
with drug crime, while it moves the emphasis from its threat to the state and interna-
tional community as a whole to its threat to public and individual health. So, one
could say that Croatia picked up the criminal law approach to drug control with a
considerable delay in the mid-90s by criminalising mere possession,5 but that it
has meanwhile caught up with Western-European trends on drug policy liberalisa-
tion.
In 1996 the revised article 196, paragraph 1 criminalised “unauthorized posses-
sion of substances or preparations that have been declared narcotics by regulation”.
For this criminal offence, a fine was prescribed alternatively to imprisonment for up
to one year. That regulation remained in force until the adoption of the new Criminal
Code in 1997, which entered into force on 1st of January 1998 (hereinafter: CC97).
That law criminalised the mere possession in article 173, paragraph 1. The penalty
remained the same – fine or imprisonment for up to one year. Another clear indication
of harshening crime policy regarding drug offences was the significant increase of the
penalties for the most dangerous aggravated forms of the offence (organising a net-
work of resellers or intermediaries) – long-term imprisonment (up to forty years).
Prior to that, the maximum penalty for the same offence was imprisonment up to fif-
teen years.
The subsequent changes in the legislative framework in 2003 were primarily the
result of political debate on the concept of liberalisation. With that amendment, the
government of the left-wing coalition repealed Article 173 para. 1 of CC97, thus de-
criminalising mere possession. Consequently, mere possession remained solely pun-
ishable as a misdemeanour. However, this amendment was quashed on procedural
grounds by the Constitutional Court (Odluka Ustavnog suda Republike Hrvatske
broj: U-I-2566/2003, U-I-2892/2003). The double-track regime of criminal and mis-
5
In this regard, it needs to be noted that in the 1990s Croatia struggled with numerous other
challenges like state independence, aggression, armed conflict, refugees from occupied do-
mestic territories as well as neighbouring war affected countries, etc., to the effect that the
drug-threat and related moral panic discourses where far less prominent topics in political and
public discourse. One might even argue that Croatia in that sense never had such a drug-related
discourse, but rather skipped immediately to the topic of organised crime.
Croatian Drug Policy 907
demeanour penalisation was reinstated and remained in force for the next eight years.
Just until the next change of government.
In the new CC, which was adopted on the proposal of the right-wing coalition gov-
ernment in 2011 (hereinafter: CC11), mere possession was kept as a separate offence
with the following explanation:
“Special attention is paid to the criminal offence of drug abuse because it accounts for 15%
of all convictions. Within the Working Group, a discussion was held on the incrimination of
possession of drugs for personal needs under Article 173, paragraph 1 of the CC97. The in-
crimination was retained in the Final Draft of the Criminal Code to have a more substantial
preventive effect on future potential drug users” (Konačni prijedlog Kaznenog zakona 2011,
205).
However, the new left-wing coalition government that in the meantime came into
office in 2012 changed this provision due to the long period of vacation before the
adopted law entered into force. So, the CC11 version of art. 173 was revoked before it
even came into force. Then for the second time, mere possession was decriminalised
and remained only as a misdemeanour under the DAPA. Arguments for decriminal-
isation were, inter alia, the avoidance of double prosecution and punishment for mere
possession, European trends of liberalisation, and an overload of the criminal justice
system (Prijedlog Zakona o izmjenama i dopunama Kaznenog zakona 2012, 1 – 4).
A key argument in favour of decriminalisation was a judgment of the European
Court of Human Rights (Tomasović v. Croatia), which found a violation of Article 4
of Protocol No. 7 (right not to be tried or punished twice in the same case). The ap-
plicant with whom a small amount of heroin was found was first fined for a misde-
meanour under the provisions of the DAPA, and then given a suspended sentence of
imprisonment for the criminal offence under Article 173, paragraph 1 of the CC97.6 It
is very clear that, in executing the ECtHR decision, Croatia could have proceeded
otherwise than by amending the CC and decriminalising mere possession. For in-
stance, by amending the DAPA, by issuing instructions/guidelines of the State Attor-
ney’s Office, etc. (Tripalo 2003). Therefore, the argument of the Tomasović decision
was obviously used only as a pretext for the implementation of pre-election an-
nouncements about decriminalising mere possession anyway.
Finally, despite another change in government from left to right, for the past four
years mere possession remained a misdemeanour only. This indicates that the current
decriminalisation of mere possession, along with harsh punishment for criminal ac-
tivities along the drug supply and distribution chain, will remain in place in the future.
It is highly unlikely that the current right political option would in case of winning the
2020 parliamentary elections and after a full mandate go back to criminalising pos-
6
Previously, the Croatian Constitutional Court determined that this was not a violation of
the ne bis in idem principle. Still, the ECtHR corrected it and established the responsibility of
the state for the breach (ECtHR, Tomasović v. Croatia). The decision of the ECtHR, in this
case, was well-founded, given that there was indeed no difference in the essential elements of
the misdemeanour prescribed by DAPA and Article 173, paragraph 1 of the CC97.
908 Davor Derenčinović and Anna-Maria Getoš Kalac
session, as it is even more unlikely that the left political option, if successful at the
elections, would suddenly change direction on the issue of illicit drug liberalisation.
nificancy. This means that law enforcement agencies were not quite convinced about
the danger and social harmfulness of the committed crimes and gave preference to
out-of-court and treatment models for drug abusers (Državni zavod za statistiku
2010, 68).
The increased leniency in sentencing policy for mere possession in the referenced
period was, as has already been explained, accompanied by an opposing tendency to
tighten penalties prescribed by the law for the production and distribution of narcotic
drugs. As mentioned before, the punishment for mere possession remained un-
changed with the then prevailing narrative that the focus must remain on more severe
forms of drug-related crime (production, distribution, organised crime) in respect of
which criminal policy needs to be tougher. At the same time, keeping mere posses-
sion criminalised was justified with the importance of general prevention and a de-
terrent effect on potential drug users that also should have an impact on the reduction
of demand. From the perspective of evidence-based policy it is important to note that
there is no relevant study in Croatia that might provide solid evidence for this claim,
just as there is no study that might provide an empirical basis for the counter argu-
ments in favour of decriminalisation. Like in most crime areas, criminological re-
search in Croatia is still scarce and mainly has to rely on official state produced sta-
tistics and reports (Getoš Kalac & Bezić 2014).
As explained in more detail earlier, as of January 2013, mere possession is con-
sidered only a misdemeanour and is punishable by a fine, although in certain cases
misdemeanour convictions in Croatia may lead to imprisonment of up to 90 days
(Herceg Pakšić & Kovač 2019). Such an approach to drug offences reflects the divi-
sion of drug related crime and its offenders into two main categories – drug users and
addicts who ought to be treated rather than punished, and drug dealers, producers or
providers, as well as organised criminals who ought to be severely punished.
According to available official data provided by the Croatian Institute of Public
Health (EMCDDA’s national focal point) for 2017, Croatia is primarily a transit
country due to its location along the southern part of the Balkan route. In the past,
this route has been mainly used for smuggling heroin from Afghanistan, whereas
now along this route other narcotics and precursors are being smuggled towards
and from Western Europe. Most cannabis substances, mainly plant cannabis, origi-
nate from Albania, although cannabis is also being produced in Croatia (usually for
personal use). Cocaine, which traditionally originates from Southern and Central
American countries, is smuggled towards Croatia by sea or land from Western Eu-
rope. Amphetamine and other synthetic stimulating drugs are smuggled towards Cro-
atia from the Netherlands and Belgium. Plant cannabis remains the most frequently
seized narcotic in Croatia. More recent data indicate an intensification of smuggling
in heroine, although large seizures in this regard remain sporadic. There has been a
reported rise in seizures of pharmaceutical substances like methadone and benzodia-
zepine (EMCDDA Croatia).
910 Davor Derenčinović and Anna-Maria Getoš Kalac
Number of seizures
12000 MDMA
Heroin
Herbal cannabis
10000
Cocaine
Cannabis resin
8000 Cannabis plants
Amphetamine
6000
4000
2000
0
2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017
The data show a declining trend with a low point in 2009, followed by a conse-
quent rise back to 2006 levels in 2013. Interestingly, as of 2013, when mere posses-
sion had been decriminalised (which had basically already been publicly announced
in 2011 when the new CC that entered into force in 2013 was passed) Croatia has been
witnessing a rather dramatic rise in drug seizures, esp. MDMA, amphetamines, but
also cannabis. Whether this recent increase in the number of seizures is the conse-
quence of more frequent detection activities, better information and intelligence,
or a rise in criminal activities and drug markets is difficult to assess, since data in
this regard is not available. Nevertheless, there could be a connection to the decrim-
inalisation of drug abuse for personal consumption, that might be causing a rise on the
demand side that is being mirrored by an increase on the supply side. It is thus im-
portant to note the number of MDMA seizures has been continuously on the rise,
whereas heroin seizures have a declining trend.
Looking at the 2019 country drug report for Croatia and specifically the issue of
drug consumption the following picture on prevalence among young adults (15 – 34
years of age) in 2018 emerges: cannabis 16.0% (rather on the higher end in EU com-
parison); cocaine 1.6% (middle-lower end in EU comparison); MDMA 1.4% (mid-
level in EU comparison); amphetamines 2.3% (rather high in EU comparison); high
risk opioid use rate 3.1 per 1,000 (middle in EU comparison); drug induced mortality
rate among adults aged 15 – 64 years 23.4 cases/million (middle-lower end in EU
comparison); no HIV infections newly diagnosed and attributed to injecting drug
use (EMCDDA Croatia).
When it comes to registered criminal offences related to narcotics and psychotrop-
ic substances it must be pointed out that most criminal offences as well as misde-
Croatian Drug Policy 911
meanours have traditionally been related to personal usage. However, due to the 2013
penal liberalisation of mere possession, the criminal case load has dropped in recent
years and now accounts for approx. 2,000 cases per year, whereas the misdemeanour
case load has increased proportionally (see Figure 2). Regarding the phenomenology
of detected and prosecuted drug-crimes it should be noted that they are only excep-
tionally related to organised crime. So, for example in 2016 only 1 adult person was
even reported for this offence to the police, whereas in 2018 there were 33 reported
cases of unauthorised production and distribution of drugs committed by a criminal
organisation, and in 2019 only 21 such cases were reported.
10000
drug offences drug misdemeanours
9000
8000
7000
6000
5000
4000
3000
2000
1000
0
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
2017
2018
Figure 2: Impact of Penal Liberalisation on Cases of Reported Criminal Drug Offences (2000 – 2019)
and Drug Misdemeanours (2002 – 2019)
As expected and intended, the 2013 penal liberalisation had a major impact on the
drop of the drug-related case load of the criminal justice system. Although misde-
meanour courts are considered part of the criminal justice system in Croatia (as pre-
scribed/statutory misdemeanours are considered to be part of penal law in the broader
sense) the achieved drop in case load for criminal courts is rather significant. How-
ever, little (statistical) effects of the decriminalisation are noticeable when it comes to
the overall trend in prohibited abuse and trade in narcotic drugs, since both figures
taken together eventually provide for a rather constant level of reported incidents
(crimes and misdemeanours), after a somewhat anomalistic decrease in 2013 (see
Figure 3). This decline is clearly to be attributed to the new CC entering into
force and the misdemeanour novelty, rather than to a real decline of drug consump-
tion or the drug market. While the drug-related criminal offences display a much
more stable trend during the past 7 years, the misdemeanours of mere possession
show slightly more fluctuation, but also appear stable for the past 4 years, with a
slight decline. Whether and in what direction this trend will evolve should be closely
observed in future years, esp. considering the thesis that decriminalisation of drug
912 Davor Derenčinović and Anna-Maria Getoš Kalac
abuse for own purposes might be related to a rise in consumption and thereby obvi-
ously result in a rise on the demand side, leading to a rise on the supply side, too. This
would then have a consequent impact on illicit trade in narcotics and the whole crim-
inal milieu surrounding it.
16000
drug offences drug misdemeanours
14000
5494
5178
5191
12000
4596
4341
4607
9185
8722
4315
8314
8903
10000
2102
2313
7292
2195
2594
6709
8000
5546
6000
4000
2000
8717
7992
7529
8186
8346
7952
7882
7063
7784
7767
7295
2713
2729
2878
2838
2589
2274
2871
0
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
2017
2018
2019
Source: Ministry of Interior
What have been further effects of the decriminalisation of mere possession? Stat-
istical indicators suggest a significant decline in the number of reported, accused, and
convicted persons for drug related criminal offences under Articles 190 and 191 of
the CC11. Thus, in 2016, the share of finally convicted offenders for these criminal
offences fell below 5% (Livazović & Vuletić 2018, 273). This is also well reflected in
official police recorded incidents on criminal offences (see Figure 4).
Consequently, law enforcement, judiciary, and the prison system were all relieved
from the heavy caseload they had before due to handling drug cases. According to a
report by the Council of Europe, in recent years, the percentage of persons convicted
of drug abuse in the prison system has been around 18% (Aebi & Tiago 2020, 7),
while after decriminalisation of mere possession in Croatia, this percentage fell
below the European median:
“The trend of reducing the number of drug addicts is associated with a decrease in the total
number of prisoners, probation on an increasing scale, but also with the entry into force of the
new Criminal Code (CC/11) on 1st of January 2013, according to which owning drugs for
one’s own needs has shifted from criminal to misdemeanour liability, and this trend contin-
ued in 2017” (Ministry of Justice 2018, 38).
Croatian Drug Policy 913
100%
61040
69742
69188
72385
77887
71760
72702
67905
66689
66434
65544
67853
64876
59995
54122
56355
52986
51657
49013
53123
90%
80%
70%
total criminal offences
60%
drug offences
50%
40%
30%
20%
8717
8609
7338
7882
7952
8346
8186
7767
7784
7295
7992
7063
7529
2838
2871
2729
2878
2589
2274
2713
10%
0%
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
2017
2018
2019
Source: Ministry of Interior
Figure 4: Impact of Penal Liberalisation on Police Recorded Criminal Case Load Overall
from 2000 to 2019
Croatia, especially when it comes to methadone overdose) since 2013 (Vlada Repub-
like Hrvatske s.a., 5) on the other side. However, as noted earlier, we are fully aware
of all the pitfalls, misfits and dangers of simply contrasting data on consumption,
drug crime, seizures, opiate overdose. etc. with changes in penal drug policy, and
drawing conclusions about causal relationships solely on such a basis. Available re-
search on the matter has so far shown that the rate of drug-usage and the incidence of
drug problems are not dependent on a country’s particular type of drug policy, nor do
the demand for drugs and drug use depend on variations in criminal drug laws or drug
law enforcement (Albrecht & van Kalmthout 1999, 29).
ences between nations and regions. As demonstrated in the paper at hand, relevant
Croatian drug policy decisions have so far never been rooted in scientific knowledge
or sound empirical analysis, but in opposing ideologies and world-views, which are
publicly discussed only exceptionally with regards to political elections. This is not
only disappointing in terms of how (criminal) policy in Croatia works, but also sends
mixed messages to the public – there seems to be no consolidated political standpoint
on the dangers and harms of drug consumption. Considering thus the threats of drug-
related organised crime and illegal markets in Croatia as well as throughout the whole
region, the very least one could hope for is further training and the allocation of re-
sources for law enforcement agencies in the fight against organised crime, and not
lastly the fulfilment of the evidence-based policy promise in matters of drug
crime – on the European and on the national level. The issue is far too important
as to be left up to the sphere of pure speculation and ideologically rooted experimen-
tation.
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916 Davor Derenčinović and Anna-Maria Getoš Kalac
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A Difficult Relationship: Coexistence
Between a Regulated Cannabis Market
and a Prohibitionist Banking Policy
By Pablo Galain Palermo
1. Introduction
I feel a deep affinity with Professor Albrecht, a student-teacher bond in which my
admiration is to the fore and at the same time a friendship based on complicity and
affection. Hans-Jörg Albrecht may not be aware of his “responsibility” in awakening
in many Latin Americans (in general captivated by the systematic elaboration of the
German doctrinal study of law and abstract thought) an interest in a comprehensive
analysis of criminal law, which also includes national and international policy and an
understanding of social conflicts on the basis of an empirical knowledge of data on
the reality that precedes the norm and prohibitions and influences the charges brought
and the nature and type of sanction. The person in whose honour this book is pub-
lished has dedicated part of his profuse academic life to the quantitative and quali-
tative analysis of the legal and social problems related to public policy on crime. He
has particularly maintained a critical view of drug policies1 (particularly on the
“American Style Drug War”)2 and the consequences of them in relation to consump-
tion. Hans-Jörg Albrecht has taken an interest in violence,3 in the organised criminal
groups that operate transnationally4 and in other acts that occur in illegal markets5 and
preventative6 control and conflict resolution measures provided for in various legal
and/or social systems, in complex or traditional societies.7 One alternative to prohib-
ition and the policy of fighting drugs through the use of criminal law or other legal
sanctions is the regulation of the markets for substances that were formerly prohib-
ited, which does not require a new paradigm but rather providing spaces where they
are permitted or tolerated without breaking with the principles of prohibition. Of
1
Albrecht 2010, 11 – 21. Together with Paoli 2002, 75 – 89.
2
Albrecht 2001, 49 – 60.
3
Albrecht 2010a, 31 – 47.
4
Albrecht 2017, 207 – 218.
5
Albrecht 2004, 453 – 469.
6
Albrecht 2017a, 329 – 347.
7
Albrecht 2006, 1 – 12.
918 Pablo Galain Palermo
course, such a policy could end up contradicting the spirit of the international treaties
that serve as the normative framework for global policy in the area of drugs.8 In my
contribution to such a well-deserved tribute, I refer to the Uruguayan experiment in
regulating the cannabis market for recreational use, which has not led to a paradigm
shift but rather an exemption as part of a harm reduction policy for the legally pro-
tected asset (i. e. public health). I deal with the problems that the implementation of
this regulated market has had since 2013 due to endogenous factors (mistakes made
in the implementation) and exogenous ones (the fierce opposition of the banks to re-
ceiving money generated by this industry). This problem with the banks is not a minor
one as it endangers the proper functioning of the regulated market.
Control Board [INCB]) which semantically and symbolically unites – under the one
roof – everything to do with “drug” prevention and the prevention and repression of
crimes (UNODC).12
The 1998 United Nations General Assembly Special Session (UNGASS) on drugs
proclaimed as its goal “a drug free world”;13 however, recently the monolithic dis-
course and the international consensus on the issue seems to be cracking in some as-
pects related to cannabis.14 Following UNGASS’ drugs session in April 2016, a crack
emerged in this rigid discourse15 and so far, some states have resorted to experiments,
without breaking with the international legal system, not just with public policies on
legalisation and/or tolerance of consumption (non-criminal prosecution), but also
with the creation of regulated markets for recreational and medicinal use (legisla-
tive-administrative regulation).16 This new policy has become known as the “third
way”.17
In 2013 Uruguay became the first country in the world to regulate the productive
market and distribution of cannabis for recreational, medicinal and industrial use.
The personal consumption of drugs had been legalised since 1974 (Decree
14.294) and group consumption was tolerated in line with the jurisprudence on
non-prosecution.18 This regulated market needed time to comply with the objectives
set out in Art. 1 of Law 19,17219 as it overcame obstacles related to the ways of ob-
taining the product, precisely that which places the sale in the hands of a state mo-
nopoly.20 The implementation of the market has been marked by a complicated bu-
reaucracy to set in motion the methods of obtaining cannabis, a supply shortage,21 and
12
https://www.unodc.org/unodc/index.html [11. 09. 2020].
13
https://www.tni.org/en/article/the-unwritten-history-of-the-1998-united-nations-general-as
sembly-special-session-on-drugs [11. 09. 2020].
14
Bewley-Taylor, Blickman & Jelsma 2014, 36 ff.
15
Bewley-Taylor & Jelsma 2016 [Accessed 11. 09. 2020]; Jelsma 2016 [11. 09. 2020].
16
Galain Palermo, 2018, 859 – 908.
17
Fijnaut & De Ruyver 2015, 30 ff.
18
On this issue see my articles: Galain Palermo 2014, 34 – 53; 2015, 55 – 82; 2018, 859 –
908.
19
Art.1: “It is hereby declared to be in the public interest those actions aimed at protecting,
promoting and improving the public health of the population through a policy aimed a mini-
mising the risks and reducing the harm from the use of cannabis, that provides proper in-
formation, education and prevention on the consequences and prejudicial effects linked to the
said consumption as well as the treatment, rehabilitation and social reintegration of pro-
blematic drug users.”
20
On the legislative process and the implementation of the regulated market see: Gutiérrez
2016; Musto 2017; Sanjurjo 2013; Garat 2012; 2014; Compare with, Shannon 2016, 43 – 53.
21
http://www.ircca.gub.uy/aviso-sobre-dispensacion-en-farmacias/; https://www.elobserva
dor.com.uy/el-estado-y-empresarios-se-echan-culpas-el-faltante-cannabis-n1170921 [11. 09.
2020].
920 Pablo Galain Palermo
a lack of variety in the cannabis22 with a low concentration of THC23 and few points of
sale. Along with Hans-Jörg Albrecht24 we have observed the rise of a grey market25
which operates by taking advantage of possible failings in the law (e. g. prohibition on
the sale to tourists,26 exclusive sale through pharmacies, delays in implementing the
regulated medicinal market27) and the possible mistakes in the implementation (e. g.
political-bureaucratic red tape in the implementation of the medicinal market).28 Fur-
thermore, as well as these inconveniences there is the added absence and lack of pre-
cise official figures in various areas (for example, public health and criminal justice)29
22
Whilst in Canada 250 types of cannabis with different levels of Tetrahidrocannabinol
(THC, psychoactive component) and Cannabidiol (CBD, medicinal component) are produced,
in Uruguay just two types of recreational cannabis and one medicine whose component has to
be imported from Switzerland have been authorised. In Uruguay, the rules continue to be set
by Big Pharma. http://monitorcannabis.uy/regulacion-del-cannabis-en-canada-conferencia-del-
dr-mark-ware/?_sf_s=mark+ware; http://www.expocannabis.uy/cannabis-medicinal-las-difi
cultades-para-acceder-producir-y-recibir-farmacos-desde-el-exterior/ [11. 09. 2020].
23
This was stated by Dr Raquel Peyraube, president of the Uruguayan Society of Endo-
cannabinology http://www.porro.com.uy/la-marihuana-del-estado-pega-nada-segun-especiali
sta/. See also, https://www.pagina12.com.ar/71920-uruguay-con-sindrome-de-abstinencia
[11. 09. 2020].
24
https://csl.mpg.de/en/research/projects/implementation-and-consequences-of-legalizing-
marijuana-in-uruguay-2/.
25
http://monitorcannabis.uy/a-tres-anos-de-la-aprobacion-mercados-grises/ [11. 09. 2019].
The existence of a grey market is a controversial issue as the diversion of cannabis from the
regulated or white market for its (illegal) sale is according to Prof Albrecht a black market.
However, I am of the opinion that even though the logic of this market is that of a black
market, there is a difference between the grey market (made up of products diverted from the
regulated market) and the black market due to the legal origin of the product. I think one can
distinguish between an operator in the black market who sells a product that is totally unlawful
in origin and the operator of the grey market, who is regulated and forms part of the white
market in any one of its forms (self-grower, member of a cannabis club or a producer-seller
licensed by the state) and sells the substance produced when they are not authorised to do so.
Boyd and Peters defend the existence of the grey market as the setting in which products that
were legally produced are illegally distributed or sold. See Boyd & Peters 2006, 106 – 120. But
Albrecht also accepts the existence of grey markets for crimes related to trafficking and un-
lawful markets Albrecht 2001b, 89, 95.
26
http://internacional.estadao.com.br/noticias/geral,maconha-legalizada-no-uruguai-chega-
ao-trafico-e-a-turistas-governo-reage,70002176525 [11. 09. 2020].
27
https://www.elpais.com.uy/informacion/cannabis-medicinal-accede-recetas.html [11. 09.
2020].
28
The number of purchasers reached 33,239 by January 21st of 2019 and there were 17
pharmacies that sold it in all of Uruguay; http://monitorcannabis.uy/informe-de-dificultades-
en-la-implementacion-de-la-regulacion-del-cannabis-de-uso-medico-en-uruguay/ [11. 09.
2020]. In July 2020 the purchasers increased to 41,372 and the number of pharmacies fell to
14; https://www.ircca.gub.uy/ [18. 08. 2020].
29
This is how Baudean puts it in various reports on the application of justice, security and
social harmony, Baudean 2019.
A Difficult Relationship 921
for the proper analysis of regulation in terms of those areas set out in the law.30 Whilst
these problems are being overcome, a new problem has arisen which has further com-
plicated the supply of the market: the relationship and interaction of regulated market
operators with the banks and the financial world.31
In 2017, the private banks and even the Bank of the Republic of Uruguay (BROU)
announced that they would no longer offer their services to any agents involved in the
regulated (legitimate) cannabis market, arguing that to accept money from these ac-
counts would lead to difficulties in their foreign operations and with their payments
and securities clearance processes with bank headquarters located in the USA,32
whose federal system views cannabis as a forbidden substance and those who deal
in it as possible money launderers.33 The prohibition that pertains to the US banks
indirectly affects foreign banks that have accounts in correspondent banks in
order to process their transfers in US dollars.34 Thus, a legitimate market operating
at a national level bears the brunt of a public policy (in banking) that is based on the
legal situation pertaining to a third-party state. On the basis of not being able to carry
out inter-banking operations (clearance of payments and securities, mainly), the
banks have forced some pharmacies (points of sale of regulated cannabis produced
and supplied by the Uruguayan state) to desist from the sale of cannabis,35 putting at
risk the supply of the product to more than 41,000 duly registered consumers.
30
The regulatory process has been severely criticised by the international press: “The
secrecy and the lack of information are other factors in this unique Uruguayan process that
should bring the transparency of the legal world to the drugs world … Which is why the
legalisation sometimes takes on the airs of a great farce.”; https://elpais.com/internacional/
2016/12/11/america/1481489820_396161.html [11. 09. 2020].
31
https://findesemana.ladiaria.com.uy/articulo/2017/9/bancos-y-marihuana/#subscribe-foo
ter [11. 09. 2020].
32
https://www.telesurenglish.net/news/Mujica-Battles-Banks-Over-Legal-Cannabis-Sales-
in-Uruguay-20170817-0029.html [Accessed 11. 09. 2020].
33
https://edition.cnn.com/2019/03/14/perspectives/cannabis-businesses-banking/index.html
[11. 09. 2020].
34
http://www.bbc.com/mundo/noticias-41019446 [11. 09. 2020]. See Kilmer 2017,
www.rand.org [11. 09. 2020].
35
Jordan 2018.
922 Pablo Galain Palermo
use.36 Almost all of the states that have regulated recreational cannabis did so in re-
sponse to popular demand that through public consultations forced legislative
change.37 The regulation of the recreational cannabis markets is in clear conflict,
not only with US federal law, but also international treaties. This situation has led
to the banks that operate at a federal level deciding to avoid any type of transaction
with people who participate in any fashion in the regulated market of a substance that
is prohibited at a national level.
Due to the conflict with the banks, the cannabis industry in the USA has become a
cash-industry in which almost all transactions are made in cash,38 in a market which
in 2016, in Colorado alone, moved around one billion dollars.39 Those who wish to go
through banks employ strategies to get around the banking compliance systems,
through which societies are created to wipe clean any trace of the money coming
from the legal sale of cannabis, which is legal at a state level but illegal at a federal
level. In the USA, these operations could be considered as money laundering as the
production and sale of cannabis is forbidden under federal law. As far as substantive
criminal law is concerned, money laundering can only occur when one wants to wipe
clean any trace of the illicit origin of money arising from certain criminal activities
considered to be numerus clausus (predicate crimes) and not in any other circumstan-
ces.40 In Uruguay there could be no money laundering when the origin of the money is
lawful e. g. there is no money laundering when the money arises from any of the trans-
actions in the regulated market. As can be seen in the US case, the legal cannabis
industry is forced by the banking system to make one of three decisions: a) dispense
with their services and operate in cash; b) use local banks that take on the responsi-
bility vis à vis the federal banking norms; or c) behave illegally in order to remain
within it.
In the USA, the specialist literature holds that the only solution to the problem is
the removal by Congress of cannabis from Schedule I of the list (where the drugs that
cause greatest harm to health, with which there is a danger of addiction and have no
medicinal use are to be found) and to be relocated to Schedule II, along with the con-
trolled substances and those that have a medicinal use.41
36
Alaska, California, Colorado, Illinois, Maine, Massachusetts, Nevada, Oregon, Wash-
ington, Washington D.C., Vermont; https://thecannabisindustry.org/ [07. 08. 2020].
37
https://www.tni.org/files/gdpo1.pdf [11. 09. 2020]. The only case where it was a govern-
mental decision was in Vermont; https://legislature.vermont.gov/bill/status/2018/H.511 [11. 09.
2020].
38
https://www.reuters.com/article/us-usa-house-cannabis/bill-to-let-banks-work-with-canna
bis-companies-advances-in-us-house-idUSKCN1R91R6 [11. 09. 2020].
39
http://www.businessinsider.de/americas-marijuana-companies-cant-put-money-in-banks-
2015-11?r=US&IR=T [11. 09. 2020].
40
Galain Palermo 2020, 116 ff.
41
Personal communication of the author with Drs. Rosalie Liccardo Pacula and Beau
Kilmer from the RAND Drug Policy Research Center (20. 01. 2018). See https://www.rand.org/
[11. 09. 2020].
A Difficult Relationship 923
in international fora at the time, the goals of the Uruguayan policy were broader and
dealt with questions of: a) public health (harm reduction); b) social inclusion and pro-
tection of freedom (non-criminalisation of the consumer); c) fight against drug traf-
ficking and greater legal security (criminal policy) and d) uniting drug policy with the
duty to protect human rights (amalgamation of both international duties).50 The rea-
sons behind announcing different aims for the same policy locally and internationally
is not easy to explain, but the strong opposition of public opinion to the regulation of
the cannabis market as a harm reduction measure surely played a role. Fighting in-
security seems to be an easier accepted motive by a public that felt a fear of crime.
Although the policy on cannabis was announced as a public security measure,
from the objective data collated from the Uruguayan criminal system in the years
2009 and 2014 (cases prosecuted for drugs and murder), there is no noticeable rela-
tionship between cannabis and (lethal) violence that could lead one to believe that
regulating the market for this drug would result in a reduction in violent crime.
The data suggests that the hard illegal drug most associated with violence is cocaine
paste (crack),51 due to easy supply, low cost, highly addictive nature and a greater
capacity to destroy the body of the problematic consumer. At the same time the
legal cases indicate that the legal drug associated with violence is alcohol. 52 As
for cocaine paste, a criminal policy consisting of a hardening of criminal law was
proposed; whilst for alcohol some restrictions were placed on its sale and zero tol-
erance on driving under the influence.53 As for cannabis, a totally state-regulated sys-
tem for the production, transportation and sale was proposed.54
According to the law, the state assumes: “the control and regulation of the activ-
ities of importation, exportation, planting, growing, harvesting, production, procure-
ment in any form, storage, sale and distribution of cannabis and its derivatives, or
hemp when applicable.” (Art. 2 Law 19,172). To control these processes and act
as both police and judge in the administration and sanctioning of them, Art. 17 set
up the Institute for the Regulation and Control of Cannabis (IRCCA) as a non-
state legal body under public law.55 The law sets out three ways of obtaining cannabis:
50
See 2014, Expert Dialogue on Cannabis Regulation Models; https://www.tni.org/files/
download/informefinalsansebastian.pdf [11. 09. 2020].
51
This can also be seen in a recent study by the National Drugs Board (JND) carried out in
the “emergency ward” of a public hospital; https://www.gub.uy/junta-nacional-drogas/comuni
cacion/publicaciones/iii-estudio-sobre-consumo-de-drogas-en-consultantes-de-la-emergencia-
del [11. 09. 2020].
52
This data is analysed in a specific project on the regulation of the cannabis market in
Uruguay by the Max Planck Institute for the Study of Crime, Security and Law; https://csl.
mpg.de/en/research/projects/implementation-and-consequences-of-legalizing-marijuana-in-ur
uguay-2/ [20. 08. 2020]. On the problematic consumption of alcohol, see VI Encuesta Nacional
en Hogares sobre Consumo de Drogas, 2016 [12. 10. 2020].
53
Silva 2016.
54
Galain Palermo 2018; 2015; 2014; Walsh & Ramsey 2016.
55
See Cajarville 2016, 62 ff.
A Difficult Relationship 925
been exhausted. The low and interrupted amount of cannabis produced and supplied
in addition to the low price means that the legal cannabis supplied is quickly con-
sumed and many users are left with no supply. As there is an unmet demand and
there is a shortage in the market the supply from the illegal markets is strengthened.
Therefore, if this situation continues in the long term it will not compete with the
illegal market, but rather stimulate its development. The problem just described sug-
gests that the coverage of the system (production, distribution and points of sale)
should be quickly increased as it leaves legal consumers dissatisfied and unserved,
who may then turn to the grey or black market.
It is important to bear in mind that a regulated market monopoly requires a strict
system of control and oversight to avoid the diversion of the legal product and its
illegal distribution, as the emergence of grey markets is characteristic of monopolies
as has happened with alcohol and gambling to mention some examples governed by
the specialised doctrine.60
According to the calculations of the Cannabis Monitor in 2017, if every person
registered to obtain the product, received his or her 40 grams per month, the regulated
market would have taken 50% of the annual demand for cannabis in Uruguay from
the black market, which is equivalent to 22.5 million dollars not being received by the
black market operators.61 The international press has stated that “the system is col-
lapsing as production cannot keep up with demand.”62 For its part, the IRCCA report-
ed that in under a year of the whole regulated system being put into action, it had
already reached 54% of consumers in the market.63 In the period between 19. 07.
2017 and the 05. 04. 2018 there were 150,431 sales of 5 gram packets of cannabis
with a total of 752,155 grams being legally sold to 75.8% of the registered consum-
ers.64 Up to February 2nd 2019 each packet was priced at 220 Uruguayan pesos (ap-
proximately 6 Euros), thus the total value of sales was 902,580 Euros. According to
Daniel Radio, the new General Secretary of the National Drugs Board under the gov-
ernment of President Luis Lacalle, since 2017, the legal market has barely taken five
million dollars away from the illegal market so “the supply of psychoactive cannabis
for non-medical use is not sufficient, we are not able to meet demand.”65
60
Caulkins et al. 2012, 194, 221 ff.
61
According to the estimates of the Uruguayan Association of Cannabis Studies 80% of
the Uruguayan market is made up of Paraguayan cannabis. Ramsey 2013, 6; https://www.
insightcrime.org/images/PDFs/2016/uruguay_legalization.pdf [11. 09. 2020].
62
https://elpais.com/internacional/2018/04/16/mundo_global/1523868317_283821.html
[11. 09. 2020].
63
https://www.ircca.gub.uy/wp-content/uploads/2018/05/InformeMercadoReguladoCanna
bis-05abr2018.pdf, p. 2 [11. 09. 2020].
64
Ibídem, 7.
65
Semanario Búsqueda, Thursday 23rd of July 2020, 48.
A Difficult Relationship 927
66
Such a possibility had been foreseen in the USA, as one of the concerns of the regulators
of the Colorado model was the possible diverting of cannabis produced by private home
growers in the regulated market. See Pardo 2014, 734. An example of this is the cannabis
“tastings” offered by clubs to tourists; http://www.busqueda.com.uy/nota/turistas-apelan-
aplicaciones-y-tours-para-catar-marihuana-uruguaya/ls-283-356d86e01a49a9255822 [11. 09.
2020].
67
According to the press “for every sale of 2 kilos of cannabis the pharmacies earn 20,000
Uruguayan pesos”; https://www.elobservador.com.uy/gobierno-impulsa-la-creacion-minimerca
dos-marihuana-n1146892 [11. 09. 2020]. Twenty thousand Uruguayan pesos is approximately
570 Euros.
68
Data is from personal communication with the IRCCA on April 10th 2018.
928 Pablo Galain Palermo
This omission and lack of foresight should be seen as a serious endogenous defect of
the process of implementing a regulated market in Uruguay.
This endogenous defect, has however, been exacerbated by exogenous factors.
The problem that has arisen between the banks and the legal cannabis market,
goes far beyond what the law’s promoters could have foreseen when it came to im-
plementing an alternative path to the total prohibition of drugs internationally viewed
as illegal. Of course, the BROU cannot hold bank accounts for, nor work with, people
linked to the illegal cannabis market, who should be reported to the criminal justice
system where there is the slightest suspicion of a money laundering crime being com-
mitted; however, as for the operators in the legal cannabis market, the bank’s refusal
to open accounts is one of simple commercial interests that prioritise the international
banking system. That said, it should be clear that the situation of the banks in Uru-
guay and the USA is quite distinct, as in the USA what could be considered money
laundering under federal law (which prohibits all transactions with a prohibited sub-
stance), in Uruguay there is no offence as along as the money is not from an unlawful
source or a conduct that is typified as a predicate crime for money laundering. Thus,
there is no basis to the argument of preventing money laundering as a justification for
the Uruguayan banks’ actions regarding operators in the regulated cannabis market.
The private and state banks of Uruguay decided to close their doors on the regu-
lated market out of fear of losing their correspondence functions in the USA, with
which they operate in dollars at an international level. For the Uruguayan financial
system, the norms that regulate banking seem to take precedence over the norms on
public health, public security and human rights, which is the argument that was used
by Uruguay to defend Law 19,172 before UN bodies responsible for drug policy (in
Vienna, UNODC, and in New York, UNGASS 2016).69 Are we faced with competing
political interests that follow a logic different to that of the regulation of the Uruguay-
an cannabis market and which are decided upon according to the economic criteria of
maximising financial income and forces us to rethink the design of the regulated mar-
ket? If our starting point is that the cannabis law is a product of Parliament: What
democratic legitimacy validates the Uruguayan public banks’ position? It is true
that the banks are connected and globalised and that there exists a tacit principle
of not clashing with the norms of another bank with which there is a relevant business
relationship. However, a state bank should prioritise the common good and the util-
itarian principle of the greater good of the citizens, so on a cost-benefit basis, they
would have to decide between prioritising the local law or defend a good commercial
relationship at an international level. This is a clear example of the complexity con-
comitant with the implementation of national laws on (illegal) drugs, that propose to
consider them a (legal) product in the market.
69
Uruguay promoted Resolution 51/12 of 2008 which sought to adjust international human
rights instruments to encompass aspects related to drug policies. See also Junta Nacional de
Drogas, 2016; http://docplayer.es/80492685-Repercusiones-del-problema-mundial-de-las-dro
gas-en-el-ejercicio-de-los-derechos-humanos.html [04. 10. 2020]. On UNGASS 2016, Galain
Palermo 2018, 348 ff.
A Difficult Relationship 929
6. Final Remarks
From a political point of view, the Uruguayan authorities have stated that the only
possible solution to the problems between the regulated recreational cannabis market
and the banking system is for the USA to reclassify cannabis placing it in Schedule II
alongside controlled substances and substances for medical use.70 This is a simplistic
solution as it demands that they implement something which Uruguay itself has not
implemented. If it were the only possible solution this would mean that we would be
dealing with a situation where a law on national public drug policy was totally de-
pendent for its implementation on changes to a foreign legal system.
The partial implementation of the regulated recreational cannabis market has led
to inconveniences in the supply, a situation which has been worsened by the refusal of
the banks to receive funds from it, which has prevented more sales points from join-
ing the system. The state faces difficulties in guaranteeing the functioning of the mar-
ket, on the one hand, it cannot ensure access to cannabis for registered users and on
the other hand, it cannot provide financial security to those who have to supply con-
sumers. Thus, it has put at risk not only the proper functioning of the market but also
its very existence.
Meanwhile, the illegal (black and grey) markets continue to operate to meet the
demand of those who have not opted for the other legal means of procurement and
those tourists who are prevented from doing so.71 The regulated market policy should
be strengthened as in the case of a retreat or abandoning of it, it is the illegal market
that will be strengthened and as happens in the prohibitionist regimes, the only path-
way open to protect public health will be the application of criminal law, which as we
know has failed right from the beginning.
Uruguay should think in terms of a more developed regulated cannabis market,
with a greater volume of production and sales, with more providers in addition to
the pharmacies i. e. a market that without giving up on prevention and control of con-
sumption within a framework of discouraging it, can at the same time pursue trans-
parent financial and tax goals. It would be a regulated market orientated towards
harm reduction and human rights without preventing the participants in the market
meeting their economic aims (who will have to carry out significant investments to
set up a financial system outside that of the traditional one dominated by the banks)
nor the Uruguayan state which needs to collect taxes with which it can finance the
IRCCA, programmes for the prevention and the repression of drug trafficking, pro-
grammes for prevention and responsible consumption, the research programmes on
medicinal cannabis, the industrial initiatives and furthermore maintain a competitive
price and quality product without the need for it to be subsidised.
70
http://www.elobservador.com.uy/peligra-la-venta-marihuana-falta-solucion-bancaria-
n1106834 [11. 09. 2020].
71
http://www.montevideo.com.uy/Noticias/Uruguay-tuvo-el-mayor-aumento-en-consumo-
de-cocaina-y-cannabis-en-Sudamerica-uc336269 [11. 09. 2020].
930 Pablo Galain Palermo
The situation with the banks seems to force the regulated system to seek an extra
financial alternative and to proceed like those who carry out money laundering op-
erations, or in the end, carry out all operations in cash, which does not seem compat-
ible with a public policy that was implemented in order to improve security indica-
tors.
The conflict between the banks and the regulated cannabis market operators gives
rise to a complicated and irrational situation from a political point of view, which
endangers all the aims pursued by public policy on the issue of cannabis. On the
one hand, Uruguay is the first country in the world to regulate the cannabis market
for medicinal, industrial and recreational use, and on the other hand, it is the first one
where the finance and banking system forces the operators in the national legal mar-
ket to act according to the logic of a money laundering operation in order to keep their
accounts open, as if they were criminals participating in an illegal market.
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932 Pablo Galain Palermo
By Georgi Glonti
Introduction
There is growing support for drug decriminalization – the elimination of criminal
penalties for drug use and possession. Increasingly, international organizations and
countries around the world are changing their drug policies by ending the criminal-
ization of those who use and possess drugs for their own personal use. The Chief Ex-
ecutives Board of the United Nations (UN), representing 31 UN agencies, have
adopted a common position on drug policy that endorses decriminalization of pos-
session and use.This event comes just days before a key meeting of the Commission
on Narcotic Drugs in Vienna, which will review the UN’s 10-year Global Drug Strat-
egy, and plan for the next one.1
The statement also positions drug policy clearly within public health, human
rights, and sustainable development agendas. Previously, the UN and World Health
Organization (WHO) in a joint statement had expressed their support for countries
that decriminalize laws related to drug use and the possession of drugs for personal
use.2 A little earlier, the WHO has called for drug decriminalization as a necessary
measure for public health but this joint statement with the UN represents another sig-
nificant step in the global movement for drug decriminalization.3
However, the implementation of this approach is far from uniform; in some coun-
tries with decriminalization, people continue to face prison sentences for possessing
small quantities of drugs.4 One such country is Georgia, where decriminalization of
1
UN Chief Executives Board for Coordination. Second regular session of 2018 Manhasset,
NY, 07 and 08. 11. 2018; https://transformdrugs.org/un-chief-executives-endorse-decriminalisa
tion/.
2
Joint United Nations statement on ending discrimination in health care settings. 27 June
2017 Statement; https://www.drugpolicy.org/blog/united-nations-and-world-health-organiza
tion-call-drug-decriminalization.
3
UN and the WHO call for decriminalization of drugs; https://www.opulens.se/english/un-
and-the-who-call-for-decriminalisation-of-drugs/.
4
Harsh Punishment. The Human Toll of Georgia’s Abusive Drug Policies 13. 08. 2018;
https://www.hrw.org/report/2018/08/13/harsh-punishment/human-toll-georgias-abusive-drug-
policies.
934 Georgi Glonti
After such a fiery speech by the President, real repressions against drug users were
started. Penalties for drug-related crimes harshened significantly. Drug crimes (Ar-
ticle 260 of Criminal Code) received the qualification of, especially grave crimes.
Most articles of the criminal code related to drugs envisaged high fines and impris-
onment of up to 14 years and even life imprisonment, exceeding punishments for
theft, murder, rape, and so on. The legislation did not differentiate between drug
users and dealers. This made it possible to judge a person who purchased narcotic
substances for personal use and a person who did this for distribution on equal
legal grounds and to sentence them with penalties of equal severity.6
Thousands of Georgian citizens were criminalized for the use of drugs. Drug users
and their families moreover were often the ones paying money through plea-bargain-
ing. Data has shown that over 44 million GEL was collected from people who use
drugs between 2008 and 2009 while only 2 million GELwas spent on their treatment
and other rehabilitation services offered annually.7
The grim reality in Georgia, which followed was mass incarceration of people
who use drugs, total street-testing practices, and a serious deterioration of health
and social conditions of the community of drug users. One-third of the country’s pris-
5
President Mikheil Saakashvili’s Annual Report to the Parliament of Georgia, February 14,
2006 at the Spring Session, Pages 26 – 27 (on Georgian, translated to English by Author);
https://bit.ly/20XKbl.
6
Crime and Excessive Punishment: The Prevalence and Causes of Human Rights Abuse in
Georgia’s Prisons – Report 2014, Chapter 2. Criminal Justice Policy and Practices 2003 –
2012, page18; http://issa-georgia.com/files/publications/ENGLISH/OSGF/OSGF.pdf [06. 07.
2020].
7
Human Rights Education and Monitoring Center, Unethical Drug Policy, 2014; https://
emc.org.ge/en/products/araetikuri-narkopolitika-erovnuli-kanonmdeblobisa-da-praktikis-analizi
[06. 07. 2020].
Decriminalization of Drug-Related Crimes in Georgia 935
on population was incarcerated for drug-related offences, mostly for the possession
of illicit drugs for personal use. According to the criminal laws adopted in that time,
possession of drugs without the intent to distribute or supply in the amount of more
than small were a serious criminal violation, punishable with 20 years or lifetime im-
prisonment, depending on the amount involved.
The Georgian government’s zero-tolerance policy ended in complete collapse.
The number of inmates in Georgian prisons increased approximately threefold
which led to massive violations of human rights in the system (see table 1.) These
phenomena were the beginning of the end of the Saakashvili regime. His party “Na-
tional Movement” lost the parliamentary election in 2012.
Table 1
Number of Convicted Offenders and Prison Inmates in Georgia, 2001 – 20198
2001 2007 2012 2013 2016 2017 2018 2019
Number of Convicted
8,897 21,170 10,922 15,166 15,654 14,517 15,840 15,765
Offenders
Number of Prison
7,618 18,309 22,340 9,093 9,344 9,280 9,775 9,877
Inmates
Illegal production,
manufacturing,
acquisition, storage, 854 1,919 1,100 2,660 1,759 1,677 1,807 1,890
transportation and
sale of drugs
8
http://pc-axis.geostat.ge/PXweb/sq/cfce988a-5d59-4c5b-b6a3-c97434e4d0ff.
9
https://en.wikipedia.org/wiki/Georgian_Dream [06. 07. 2020].
10
The Law of Georgia on Amnesty was adopted on 12 January 2013. According to the
information of the Ministry of Corrections and Legal Assistance of Georgia, a total of 8,734
inmates were released from corrections facilities from 12 January 2013 to November 2014.
936 Georgi Glonti
professionals. Also, the prosecutors offered plea bargaining to the majority of drug
offenders which included the imposition of unlimited fines.
Under public pressure, the new government had tightened preventive measures.
Thus, according to figure 1 during the three years from 2013 to 2015 more than
150,000 citizens were mandatorily tested for drugs by the police, among which
only 47,000 – roughly a third – had a positive result.
In 2015, the Georgian Ministry of Internal Affairs (MIA) issued a new special in-
struction – ordinance No. 725 – which included step-by-step guidelines on how to
administrate mandatory drug testing. The Administrative Offences Code of Georgia
provided punishment for first-time offenders, a 500 GEL fine, and administrative de-
tention up to 15 days for the purchase or storage of a small amount of drugs without
the intent to sell and/or use a drug without a doctor’s prescription. Reoffending is
expected to increase accountability and punished with higher fines and up to one-
year imprisonment, and in aggravating circumstances, the punishment can reach
14 years or life sentences.12
Such harsh practices of the government have caused discontentment among the
public. In the period between 2015 and 2018, civil society was actively pushing
the government to adopt alternative drug laws which would include: administrative
liability instead of the criminal for the possession of small quantities for personal use;
setting the quantities of the substances for the personal use above a one-day period;
changes of the norms on mandatory drug testing (grounds for testing should be stipu-
lated before a test is administered). Unfortunately, none of these changes was adopt-
ed, and Georgia continues to apply harsh laws on people who use drugs. One of the
main accusations is that Georgian authorities use this harsh drug policy as a weapon
11
https://info.police.ge/uploads/5c374ea780a6a.pdf [04. 07. 2020].
12
https://matsne.gov.ge/en/document/view/2994508?publication=0 [06. 07. 2020].
Decriminalization of Drug-Related Crimes in Georgia 937
against their opposition, and as a significant resource to bolster the state’s income.
According to experts, this is why Georgia has not been in a hurry to liberalize legis-
lation. The state received more than GEL 13 million between 2009 and 2012 from the
payments of administrative violations. From 2013 to 2014 the country had received
GEL 11.1 million in the same way.13
During 2015 to 2018, human rights activists have begun the fight for the decrim-
inalization of drug possession by using such methods as unauthorized demonstra-
tions, flash mobs and other forms of protests. In December 2016, the organization
“White Noise Movement”14 held a protest outside the Parliament building calling
for the decriminalization of drugs, including cannabis.15 On New Year’s Eve of
2016, Girchi Party16 activists planted cannabis plants in 84 pots in the party’s Tbilisi
headquarters, in defiance of Georgian drug policy.17 Georgian police officers arrived
and confiscated the plants, but did not charge party members with any criminal of-
fence.18 On October 20 2018, Girchi Party activists held the Cannabis Legalization
Festival in the downtown of Tbilisi protesting the new aim of Parliament of
Georgia to pass a bill restricting the consumption of cannabis.19
13
https://jam-news.net/marijuana-decriminalized-in-georgia/ [05. 07. 2020].
14
The White Noise Movement (Georgian: ) is a political
group founded in 2015 in the Republic of Georgia focused on drug decriminalization.
15
https://www.opendemocracy.net/en/odr/fighting-back-against-georgia-s-war-on-drugs/
OpenDemocracy. 2016-12-15 [06. 07. 2020].
16
Girchi (Georgian: , “pine cone”) is a libertarian political party in Georgia.
17
https://en.wikipedia.org/wiki/Cannabis_in_Georgia_(country).
18
https://www.theguardian.com/world/2017/jan/24/georgia-eases-draconian-law-cannabis-
landmark-ruling [06. 07. 2020].
19
https://www.voanews.com/europe/green-defiance-challenges-law-power-georgia [05. 07.
2020].
20
Georgian citizen Tsikarishvili vs. Parliament Georgia Constitutional Court case 1/4/592
of October 24, 2015; https://constcourt.ge/en/judicial-acts?legal=1043.
938 Georgi Glonti
Court regarded the practice of instituting criminal proceedings and imprisonment for
the consumption of Marijuana as unconstitutional and declared that “everyone has
the right to choose their own method of relaxation, including the use of marijuana,
as this is a personal, protected sphere of human life” and stated that the abolishment
of such practices is necessary.
In this regard the decision of the Constitutional Court of Georgia No. 1/13/732 of
November 30, 2017, should be noted, in which the Court, unlike in other cases, did
not consider the constitutionality of the punishment imposed for one of the criminal
acts, but assessed specific actions related to criminal prosecution for a drug crime. In
particular, in its decision on constitutional lawsuit No. 725, the Court ruled that it was
clearly not disproportionate in general to deprive a person for specific actions of his
liberty, but that the severity of the imposed punishment – imprisonment from six to
twelve years, with accordance to Criminal Code of Georgia, was disproportionate.
In addition to the above-mentioned decisions, the Constitutional Court subse-
quently accepted for consideration five more constitutional lawsuits related to
drugs and supported all five of them. All decisions on this subject adopted by the Con-
stitutional Court have a common structure and reasoning, but differ in specific char-
acteristics, among them:
Georgian citizen J. Gvianidze, D. Chomeriki, and L. Gagishvili vs. Parliament of Georgia:21
The authors of the constitutional lawsuit requested that the content of Article 265 (2) of the
Georgian Criminal Code should be declared unconstitutional, because of the punishment by
imprisonment from seven to ten years for illicit sowing, growing or cultivating of the plant
containing narcotics (cannabis) in large quantities;
Georgian citizen Lasha Bakhutashvili vs the Parliament of Georgia:22 The authors of the
constitutional lawsuit requested that the following sanction should be declared unconstitu-
tional: Punishment by imprisonment from five to eight years for manufacturing, purchasing
and storage of 0.00009 grams dorsomorphin.
21
Citizen of Georgia Jambul Gvianidze, Davit Khomeriki and Lasha Gagishvili v. the
Parliament of Georgia Recording Notice 71/21/701, 722, 725 the Constitutional Court of
Georgia.
22
Citizen of Georgia Lasha Bakhutashvili v. the Parliament of Georgia Recording Notice
71/2/696.
Decriminalization of Drug-Related Crimes in Georgia 939
An analysis of the development of the criminal law related to drugs over the past
three years shows that there have been serious changes in the field of decriminaliza-
tion of consumption and liberalization of punishments in Georgia. In particular, there
was complete decriminalization of marijuana consumption, partial for storage and
cultivation (depending on quantity), sanctions for other drug crimes decreased on
average by 40 – 50%, with the exception of smuggling drugs on an especially
large scale.
In the 2018 Edition of Georgia’ Criminal Code, in comparison with the 2007
edition, articles: 260 Illegal Manufacturing, Production, Purchase, Storage, Trans-
portation, Transfer or Sale of Drugs, Their Analogs and Precursors, 265 Illegal
sowings or growing of plants containing narcotics, and Article 273. Illegal Produc-
tion, Purchase, Storage, Carrying, Transfer and/or Illegal Consumption without
Medical Prescription of a Narcotic Drug, it is Analog or a Precursor in Small Quan-
tity, were supplemented with a special clause that, in connection with the decrim-
inalization of purchase and possession (in a certain amount up to 100 grams) and
consumption of light drugs (Marijuana), providing for the exclusion of criminal
punishment for these acts.
The article 260 of the Criminal Code 2018 edition was supplemented with special
clause, which, following the decision of the Constitutional Court of Georgia, declares
unlawful the criminal punishment for possession of any drug by a minimum (micro-
scopic) amount, in particular, the drug Dorsomorphin in quantity (0.00009 gr.)
Also, Article 260 of the Criminal Code 2018 edition was supplemented with a spe-
cial note: which explains what should be considered as a voluntary rejection of con-
sump-tion of drugs and other psychoactive substances. In particular, a person must,
before the commencement of the investigation, declare in writing or through any
technical means of communication, about the intention to deliver drugs, their ana-
logues, precursors, new psychoactive substances, psychotropic substances, their an-
alogues or potent substances and actively assist in their seizure.
The article 265 of the Criminal Code 2018 edition was supplemented with a spe-
cial clause under the decision of the Constitutional Court of Georgia, declaring crim-
inal punishment unlawful for illegal sowing or growing of plants containing narcotics
(marihuana), for personal consumption purposes (amount up to 64 gr.), and declaring
imprisonment unlawful for a term of “six to twelve years” for the same action,
(amount up to 266 gr.)
Article 173.1 was newly included into the Georgian Criminal Code, which clearly
defines the penalties for the repeated purchase, possession, transportation, use and
sale of drugs. This provision significantly limits the application of measures related
to deprivation of liberty at the legislative level.
940 Georgi Glonti
Conclusion
The study showed that the reform of the criminal legislation, in particular the lib-
eralization of the punishment for drug crimes and the decriminalization of the con-
sumption, purchase, possession, transportation of small quantities of drugs, in gen-
eral, was successful. Despite a slight increase in the figures for drug crimes, the num-
ber of persons sentenced to imprisonment has not increased, and also the number of
victims was sharply reduced to whom law enforcement officials planted drugs with
the purpose of blackmailing.
Table 2a
2016 2017 2018 2019
% register- % solv- % register- solv- %s
registered solved solved registered
solved ed solved ed solved ed ed solved
Total registered crimes 35,097 – – 35,998 – – 37,987 – – 58,402
Total drug crimes 5,196 4,782 92% 4,762 4387 92% 3,961 3,322 84% 6,103 4,573 75%
Among them:
Art. 260 – Purchase, storage
2,473 2,163 82% 2,327 2063 89% 2,450 2,039 83% 3,071 2,338 76%
and selling drugs
Art. 261 – Purchase, storage
and selling of psychotropic 96 91 95% 79 77 97% 57 34 60% 127 92 72%
substances
Art. 262 – Drug smuggling 248 204 82% 200 164 82% 183 121 66% 190 106 56%
Art. 263 – Smuggling of
20 19 95% 18 8 44% 19 6 32%
psychotropic substances
Art. 265 – Illegal sowing,
growing or cultivation of 178 173 97% 128 121 94% 379 354 93% 796 716 90%
plants containing narcotics
Art. 273, 273’ – Repeated
2,165 2,123 98% 1,998 1941 97% 863 765 89% 1,884 1,306 69%
consumption of drugs
Decriminalization of Drug-Related Crimes in Georgia
Note: Criminal liability for committing the offenses referred to in this Chapter shall be lifted
up from the person who voluntarily hands over narcotics, analogy or precursor thereof, psycho-
tropic substance, its analogy or powerful substance if his/her action bears no signs of any other
crime.
2018
23
https://matsne.gov.ge/en/document/download/16426/157/en/pdf.
24
https://www.legislationline.org/documents/section/criminal-codes/country/29/Georgia/
show.
Decriminalization of Drug-Related Crimes in Georgia 943
inal liability stipulated for the crimes defined in this Chapter unless there are elements of
another offense in their actions.
2. For the purposes of this Chapter, voluntary turning in shall mean only such actions when a
person, before the commencement of investigation declared in writing or through any tech-
nical means of communication, about the intention to deliver drugs, their analogs, precur-
sors, new psychoactive substances, psychotropic substances, their analogs or potent substan-
ces and actively assists in their seizure.
3. For an act defined in this Article, a legal person shall be punished by liquidation or depri-
vation of the right to carry out activities and a fine.
4. Paragraphs two and four of this Article shall apply to any quantity of a new psychoactive
substance.
5. The aggravating circumstances provided for by paragraphs 3(a), 5(a) and 6(a) of this Article
shall not apply to new psychoactive substances.
6. This Article (except for paragraphs 1 and 2 of the note of this Article) shall not apply to
narcotic drugs, namely to cannabis plant and Marijuana, defined in the cells 73 and 92 of
the list “Narcotic Drugs” provided for in the table of Annex No 2 of the Law of Georgia
on Narcotic Drugs, Psychotropic
7. Substances and Precursors, and Narcological Assistance.
Law of Georgia No 3530 of July 25 2006 – LHG I, No 37, 07. 08. 2006, Art. 271
Law of Georgia No 5184 of July 3 2007 – LHG I, No 28, 18. 07. 2007, Art. 281
Law of Georgia No 2236 of April 16 2014 – website, 28. 04. 2014
Law of Georgia No 3975 of July 8 2015 – website, 17. 07. 2015
Ruling No 3/1/708,709,710 of the Plenary Session of the Constitutional Court of Georgia of
February 26 2016 – website, 15. 03. 2016
Decision No 3/1/855 of the Constitutional Court of Georgia of February 15 2017 – website,
21. 02. 2017
Decision No 1/8/696 of the Constitutional Court of Georgia of July 13 2017 – website,
20. 07. 2017
Law of Georgia No 1221 of July 26 2017 – website, 28. 07. 2017
2007
e) by the one who has previously committed one of the offenses referred to in this Chapter
of the Code,
– shall be punishable by prison sentences ranging from two to seven years in length.
3. The action referred to in Paragraph 1 or 2 of this Article, perpetrated:
a) in especially large quantities;
b) by an organized group, shall be punishable by prison sentences ranging from five to ten
years in length.
2018
– Decision No 1/9/701, 722, 725 of the Constitutional Court of Georgia of July 14 2017 – web-
site, 20. 07. 2017
3. An act defined in paragraph 1 or 2 of this Article that has been committed:
a) in particularly large quantities;
b) by an organized group; shall be punished by imprisonment for a term of six to twelve
years.
(The normative content, which provides for imprisonment for a term of “six to twelve years”
as a punishment for illegal sowing or growing of a narcotic drug defined in the horizontal cell 73
of Annex No 2 of the Law of Georgia on Narcotic Drugs, Psychotropic Substances, and Pre-
cursors, and Narcological Assistance, namely of cannabis (plant) of an amount disputed by
the claimant (up to 266 gr.), for personal consumption purposes, was declared unconstitutional)
– Decision No 1/9/701, 722, 725 of the Constitutional Court of Georgia of July 14 2017 – web-
site, 20. 07. 2017
Note: For the commission of an act under this Article, a legal person shall be punished by a
fine, deprivation of the right to carry out activities or by liquidation and a fine.
Law of Georgia No 2937 of April 28 2006 – LHG I, No 14, 15. 5. 2006, Art. 90
Law of Georgia No 3530 of July 25 2006 – LHG I, No 37, 7. 8. 2006, Art. 271
Law of Georgia No 5184 of July 3 2007 – LHG I, No 28, 18. 7. 2007, Art. 281
2007
Illegal preparation purchase, keeping of small quantities of narcotics, its analogy or precur-
sor for personal use or their use without doctor’s prescription, perpetrated after awarding an ad-
ministrative sentence for such practice,
– shall be punishable by fine or by socially useful labor from one hundred and twenty to one
hundred and eighty hours in length, or by jail time up to three months or by imprisonment for
the term not in excess of one year.
2018
Illegal production, purchase, storage, carrying, transfer or illegal consumption without med-
ical prescription of a narcotic drug, it is analog or a precursor in small quantity, committed by a
person who was subjected to an administrative penalty for committing an administrative offense
Decriminalization of Drug-Related Crimes in Georgia 947
under Article 45 of the Administrative Offences Code of Georgia, or who was convicted for this
crime,
– shall be punished by a fine or community service from 120 to 180 hours or by imprisonment
for up to one year.
(The normative content of the words of Article 273 “illegal consumption without medical
prescription”, which provides for criminal liability for the consumption of Marijuana, a narcotic
drug defined in the horizontal cell 92 of Annex No 2 of the Law of Georgia on Narcotic Drugs,
Psychotropic Substances and Precursors, and Narcological Assistance, was declared invalidat-
ed)
– Decision No 1/13/732 of the Constitutional Court of Georgia of November 30 2017 – web-
site, 04. 12. 2017
Note: The fine under this Article shall not be less than twice the amount of the fine defined by
the respective Article of the Administrative Offences Code of Georgia for the commission of the
respective act.
Law of Georgia No 2937 of April 28 2006 – LHG I, No 14, 15. 05. 2006, Art. 90
Law of Georgia No 5184 of July 3 2007 – LHG I, No 28, 18. 07. 2007, Art. 281
Ruling No 3/2/771, 775, 776, 777, 786, 787, 788 of the Plenary Session of the Constitutional
Court of Georgia of September 29 2016 – website 11. 10. 2016
Ruling No 1/16/770 of the Plenary Session of the Constitutional Court of Georgia of Decem-
ber 22 2016 – website 27. 12. 2016
Law of Georgia No 1221 of July 26 2017 – website, 28. 07. 2017
– Decision No 1/13/732 of the Constitutional Court of Georgia of November 30 2017 – web-
site, 04. 12. 2017
25
https://www.legislationline.org/documents/section/criminal-codes/country/29/Georgia/
show.
948 Georgi Glonti
3. The fine under paragraph 3 of this Article shall not be less than five times the amount of the
fine defined by the respective Article of the Administrative Offences Code of Georgia for the
commission of the respective act.
4. The fine under paragraph 4 of this Article shall not be less than six times the amount of the
fine defined by the respective Article of the Administrative Offences Code of Georgia for the
commission of the respective act.
5. The fine under paragraph 5 of this Article shall not be less than seven times the amount of the
fine defined by the respective Article of the Administrative Offences Code of Georgia for the
commission of the respective act.
6. For the commission of an act under paragraphs 2 – 10 of this Article, a legal person shall be
punished by liquidation, or by deprivation of the right to carry out activities and a fine.
Law of Georgia No 1221 of July 26 2017 – website, 28. 07. 2017
Ruling No 1/2/1282 of the Constitutional Court of Georgia of April 27 2018 – website,
03. 05. 2018
Law of Georgia No 3775 of November 30 2018 – website, 20. 12. 2018
V. Jugendkriminalität und Jugendkriminalrecht –
Youth Crime and Juvenile Justice
Rückgang der Kriminalität junger Menschen
im Kontext des Wandels der Jugendphase
Von Thomas Naplava
1. Einleitung
Die wissenschaftliche und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Jugendkri-
minalität in Deutschland war über viele Jahrzehnte hinweg vor allem von dem Be-
fund eines mehr oder weniger kontinuierlichen Anstiegs der registrierten Straftaten
junger Menschen geprägt. Der traditionell überwiegend besorgte Blick der Erwach-
senen auf die jeweils heranwachsende Generation fand in der Zunahme der von jun-
gen Menschen begangenen Straftaten immer neue Bestätigung, wodurch eine pro-
blemorientierte Betrachtung der Jugendkriminalität bestärkt wurde. Auch wenn
Zweifel an der Annahme eines realen Kriminalitätsanstiegs geäußert wurden (Cre-
mer-Schäfer 2011; Estrada 2001), war es für die Wahrnehmung und Bewertung der
Kriminalität junger Menschen wie bei anderen sozialen Problemen in der Regel auch
letztlich unerheblich, inwieweit diese Entwicklungstendenzen auf tatsächlichen Ver-
änderungen des Handelns junger Menschen oder auf veränderten gesellschaftlichen
Wahrnehmungs- und Reaktionsprozessen beruhten. Die Forschung zur Jugendkrimi-
nalität sowie die repressiv und präventiv ausgerichtete Kriminalpolitik erhielten un-
abhängig von dieser Frage fortlaufend neue Impulse und Rechtfertigungen, galt es
doch, ein stetig wachsendes soziales Problem zu verstehen und darauf aufbauend Lö-
sungen zu entwickeln. Dabei hat sich die Annahme weitgehend durchgesetzt, dass
Jugendliche nicht nur Probleme verursachen, sondern diese überwiegend erst auf-
grund ungünstiger Lebensumstände entstehen. Steigende Kriminalitätsraten führten
daher zu dem (Neben-)Effekt, dass Wissenschaft und Politik auch die Sozialisations-
bedingungen junger Menschen stärker in den Blick genommen haben. Dennoch blieb
zumindest in der (medialen) Öffentlichkeit der Fokus vor allem auf die jungen Straf-
täter und ihre Taten gerichtet, ohne dabei die sozialen und gesellschaftlichen Hinter-
gründe gebührend zu berücksichtigen. Rückblickend lässt sich sagen, dass von stei-
genden Kriminalitätsraten junger Menschen viele gesellschaftliche Akteure jeweils
auf ihre Weise profitiert haben: Die Medien konnten über steigende Kriminalitätsra-
ten berichten, die Politik konnte mit Strafverschärfungen und präventiven Maßnah-
men Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen, die Soziale Arbeit konnte sich im Rah-
men erweiterter Handlungsfelder kümmern und die Forschung konnte den gesell-
schaftlich und politisch nachgefragten Wissensbedarf bedienen.
954 Thomas Naplava
Seit einigen Jahren hat sich diese Situation gravierend verändert, ohne dass dies in
der Fachöffentlichkeit bislang große Aufmerksamkeit erzeugt hat (Albrecht 2014).
Nach der „Hochphase“ der (registrierten) Jugendkriminalität zwischen Ende der
1990er Jahre und Mitte der 2000er Jahre setzte ein kontinuierlicher Rückgang der
Kriminalität junger Menschen ein, wobei dieser Trend in einen langfristigen Rück-
gang der Kriminalität in Westeuropa und darüber hinaus eingebettet ist (Aebi & Linde
2010; Tseloni et al. 2010). Über nahezu alle Delikte hinweg sind die Kriminalitäts-
raten der Jugendlichen gesunken, teilweise bis auf drei Viertel im Vergleich zum
langfristigen Maximum (Albrecht 2014, 2016; Pfeiffer et al. 2018). Dass diese Ver-
änderungen bislang weitgehend unberücksichtigt geblieben sind, dürfte auf mehrere
Gründe zurückzuführen sein: Der Leitspruch „only bad news are good news“ gilt
nicht nur für Medien, wenn es darum geht, Aufmerksamkeit für ein Thema zu gewin-
nen. Unter der Bedingung einer tatsächlichen bzw. wahrgenommenen Problemver-
schärfung ergeben sich aussichtsreichere Möglichkeiten der Begründung und Finan-
zierung von problemorientierter Forschung sowie von Präventionsbemühungen. Aus
Sicht der Forschenden ist zudem in Rechnung zu stellen, dass Themen, die mit einem
zunehmenden gesellschaftlichen Problembewusstsein bedacht werden, ein deutlich
größeres Reputationspotential versprechen. Ein als stagnierend oder gar als schwin-
dend wahrgenommenes Problem hingegen erzeugt weniger Aufmerksamkeit und
steht zudem in größerer Konkurrenz zu anderen Themen. Mit Blick auf die jüngere
Entwicklung der Jugendkriminalität dürfte daher eine Beschäftigung mit diesem so-
zialen Problem im Angesicht der Thematisierung von Terrorismus und politischem
Extremismus schwieriger zu platzieren sein. Schließlich war die Auseinanderset-
zung mit Jugendkriminalität seit den 1990er Jahren in besonderer Weise von Gewalt-
delikten geprägt (Albrecht 1998; 2010). Da sich deren Rückgang im Vergleich zu an-
deren Delikten allerdings erst zeitverzögert vollzogen hat und sich im Zuge der
gesellschaftlichen Sensibilisierung gegenüber Gewalt der Blick auf immer weitere
Phänomene wie häusliche Gewalt, Gewalt in der Erziehung, Gewalt gegen Polizei-
beamte, Amoktaten, Terror und extremistische Gewalt erweitert hat, sind andere De-
likte und ihre Entwicklung insgesamt eher unberücksichtigt geblieben.
Vor diesem Hintergrund wird zunächst der Rückgang der Jugendkriminalität in
Deutschland in Kürze beleuchtet, um anschließend Antworten zur Frage nach Ursa-
chen des Rückgangs im Kontext einer sich verändernden Jugendphase zu erörtern.
Ausgangspunkt dabei ist, dass eine Vielzahl an sozialen Indikatoren zu den Soziali-
sationsbedingungen und zur Lebenswelt der Jugendlichen herangezogen werden
können, die in Verbindung mit theoretischen Ansätzen zur Erklärung abweichenden
Verhaltens einen Beitrag zum Verständnis des Rückgangs der Jugendkriminalität
leisten können. Diese Befunde werden abschließend mit den dem Wandel der Ju-
gendphase zugrunde liegenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Zusam-
menhang gesetzt und diskutiert.
Rückgang der Kriminalität junger Menschen 955
1
Korrigiert wurde die Zählweise der in unterschiedlichen Bundesländern mehrfach regis-
trierten Tatverdächtigen zu einer „echten“ Zählung, bei der die Tatverdächtigen (je Delikt) nur
einmal ausgewiesen werden.
956 Thomas Naplava
2
Die Prozentangabe bezieht sich auf den Zeitraum von 2009 bis 2018, da die Ziffern
zwischen 2008 und 2009 einen deutlichen Sprung verzeichnen, der u. U. auch aufgrund der
korrigierten Zählweise aufgetreten sein kann.
Rückgang der Kriminalität junger Menschen 957
ximum der TVBZ von 3.314,2 im Jahr 1998 bis 2016 auf einen Wert von 1.280,7 um
etwa 60 Prozent gefallen, wobei die Rate in den letzten beiden ausgewiesenen Jahren
wiederum leicht angestiegen ist.
Wie in Abbildung 4 zu erkennen ist, ist die Kriminalitätsrate zu Sachbeschädigun-
gen ebenfalls seit 2009 rückläufig. Nach dem Maximum der TVBZ von 1.443,7 im
Jahr 2008 ist die Rate bis zum Jahr 2018 auf einen Wert von 641,5 um etwas über
50 Prozent gesunken.3
Einen etwas anderen Verlauf weisen die Kriminalitätsraten zu Rauschgiftdelikten
auf, da diese einerseits zwischen 2004 und 2007 deutlich eingebrochen und nach
einer Phase der Stagnation seit 2012 wieder deutlich angestiegen sind. Der Rückgang
Mitte der 2000er Jahre betrug etwas unter 50 Prozent, der jüngere Anstieg seit den
2010er Jahren liegt etwas über 50 Prozent.
und können vor allem auf „den deutlichen Rückgang der Beteiligung junger Männer
an schweren Formen der Kriminalität“ (Albrecht 2016, 398) im Hellfeld zurückge-
führt werden. Zudem zeigen sich Rückgänge auch bei Kindern (8 bis unter 14-Jäh-
rige) und Heranwachsenden (18 bis unter 21-Jährige), wobei der Rückgang der Kri-
minalitätsrate der Kinder zeitlich vor dem Rückgang der Rate der Jugendlichen und
dieser wiederum vor dem der Heranwachsenden eingesetzt hat (Albrecht 2016). Dar-
über hinaus liegen Hinweise darauf vor, dass auch die Kriminalitätsraten von Jugend-
lichen ohne deutsche Staatsangehörigkeit einen Rückgang aufweisen, der sogar den
der deutschen Jugendlichen übertrifft (Walburg 2016), und dass sich parallele Ver-
änderungen auch im Dunkelfeld der von Jugendlichen berichteten Delinquenz zeigen
(Pfeiffer et al. 2018), so dass die Entwicklungen im Hellfeld nicht ausschließlich auf
veränderte Registrierungsprozesse zurückgeführt werden können. Da die leichten
Anstiege der Kriminalitätsbelastung bei Körperverletzungen und einfachen Dieb-
stahlsdelikten in den letzten Jahren dem allgemeinen Trend widersprechen, muss
an dieser Stelle offen bleiben, worauf dies zurückzuführen ist. Möglicherweise ste-
hen diese leichten Anstiege im Zusammenhang mit den jüngsten Zuwanderungspro-
zessen und damit einhergehenden Registrierungsprozessen (Glaubitz & Bliesener
2019). Der langfristige Anstieg der Sexualstraftaten im Hellfeld wiederum dürfte
Folge diverser Gesetzesänderungen, der Sensibilisierung gegenüber Kindesmiss-
brauch und der gesellschaftlichen Diskussion um sexuelle Opfererfahrungen sein,
Entwicklungen, die sich offenbar auch auf die Jugendlichen und deren Wahrneh-
mung auswirken (Hoffmann 2014).
in der Gesellschaft (Albrecht 2014; 2016). Vor diesem Hintergrund werden zunächst
ausgewählte Indikatoren zum Wandel der Sozialisationsbedingungen der Jugend-
phase vorgestellt und deren Relevanz für die Erklärung von Jugendkriminalität in
Verbindung mit kriminalsoziologischen Ansätzen erörtert. Abschließend werden
diese Überlegungen mit allgemeinen Veränderungen der Jugendphase auf der Grund-
lage gesellschaftstheoretischer Diagnosen in Beziehung gesetzt.
Der Begriff der Sozialisation umfasst zum einen die Vergesellschaftung des Indi-
viduums, also den Prozess, bei dem Individuen Mitglied einer Gesellschaft werden,
indem sie u. a. Werte, Normen, (Rollen-)Erwartungen und Handlungsmuster erlernen
und internalisieren, d. h. in ihr Selbstbild übernehmen. Zum anderen meint Soziali-
sation den Prozess der Individuation, bei dem Individuen das Selbstverständnis einer
eigenverantwortlich handelnden Persönlichkeit entwickeln. In Anlehnung an Mead
(1993) setzt sich die Persönlichkeit aus dem Verhältnis zwischen den inneren Antrie-
ben (das sog. „I“), den gesellschaftlichen Zuschreibungen (das sog. „Me“) und dem
Selbstbild bzw. der Identität (das sog. „Self“) zusammen. Sozialisation findet dem-
nach in einem wechselseitigen Prozess zwischen Gesellschaft und Individuum statt.
Die Persönlichkeitsentwicklung vollzieht sich dabei im Rahmen einer aktiven und
wechselseitigen Auseinandersetzung der eigenen Person mit der sozialen Umwelt.
So, wie die „äußere Realität“ die Personwerdung beeinflusst, so wirkt sich die „in-
nere Realität“ auf die individuelle Verarbeitung und Auseinandersetzung mit der so-
zialen Umwelt aus (Hurrelmann & Bauer 2015).
Aus sozialisationstheoretischer Perspektive werden in modernen Gesellschaften
den Lebensbereichen Familie, Bildung sowie Freizeit, Freunde und Konsum für
die Persönlichkeitsentwicklung im Jugendalter die größte Bedeutung beigemessen.
Allgemein ist für die Jugendphase charakteristisch, dass sich Jugendliche in Bezug
auf ihr Selbstverständnis und ihre biographische Orientierung sukzessive von den El-
tern und der Familie lösen und dafür stärker an Gleichaltrigen sowie an allgemeinen
gesellschaftlichen Erwartungen, Anforderungen und Möglichkeiten ausrichten, und
dass dabei die familiären Bindungen im Allgemeinen weiterhin eine gewisse prägen-
de Funktion behalten (Hurrelmann & Bauer 2015; Hurrelmann & Quenzel 2016).
Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Perspektive, dass die Entstehung von Jugend-
kriminalität in die Lebensverhältnisse der Jugendlichen eingebettet ist und daher ge-
wisse Zusammenhänge zwischen zeitlichen Veränderungen der Sozialisationsbedin-
gungen einerseits und der Kriminalitätsbelastung junger Menschen andererseits be-
stehen.
3.1 Familie
Hinsichtlich der Familie als primäre Sozialisationsinstanz, in der sich die Grund-
lagen der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder vollziehen, können für die vergan-
genen Jahrzehnte insbesondere Veränderungen der Familienformen und der Er-
werbstätigkeit der Mütter konstatiert werden (Hurrelmann & Quenzel 2016). Die Fa-
Rückgang der Kriminalität junger Menschen 961
Quellen: Angaben zu Scheidungsziffern vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung anhand von Daten des Sta-
tistischen Bundesamtes (www.bib.bund.de/Permalink.html?id=10237654), Angaben zu Alleinerziehenden vom
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung anhand von Daten des Mikrozensus des Statistischen Bundesamts
(www.bib.bund.de/Permalink.html?id=10308622), Angaben zur Erwerbstätigkeit der Frauen vom Wirtschafts-
und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Boeckler-Stiftung (www.boeckler.de/53509.htm).
Abbildung 5: Entwicklung der Scheidungsziffern (rechte Achse), des Anteils der Alleinerziehenden
und der Erwerbstätigkeit von Frauen (linke Achse)
Neben diesem Wandel der Familienformen hat sich die Erwerbsbeteiligung von
Frauen verändert, die vor 2007 bei Werten unter 60 Prozent stagnierte, seit 2007 deut-
lich angestiegen ist und im Jahr 2017 einen Wert von über 70 Prozent erreichte. Die
962 Thomas Naplava
Erwerbstätigenquote von Müttern liegt zwar insgesamt darunter, doch mit dem Alter
des jüngsten Kindes steigt die Quote bis auf den Wert aller Frauen.4 Sicherlich kann
die höhere Erwerbstätigenquote von Frauen nicht nur als Ausdruck gestiegener Frei-
heiten interpretiert werden, doch hinsichtlich der Sozialisationsbedingungen für die
Kinder und Jugendlichen folgt daraus, dass die Vorstellung einer traditionellen Ar-
beitsteilung zwischen Müttern und Vätern weiterhin an Bedeutung verliert und die
Eltern zunehmend als gleichberechtigte Partner in einem ausgeglichenen Machtge-
füge in der Familie gesehen werden können. Den Kindern wird nicht nur die gesell-
schaftliche Bedeutung von Erwerbsarbeit für die Lebensführung an sich, sondern
auch Eigenverantwortlichkeit, Selbstständigkeit und Leistungsorientierung dadurch
vermittelt, dass (auch) Mütter in der Erwerbsarbeit eine finanzielle Absicherung in
der Gegenwart und im Ruhestand sowie gesellschaftliche Anerkennung anstreben
(Bertram & Bertram 2018; Hurrelmann & Quenzel 2016). Auch wenn das elterliche
Erziehungsverhalten solche Effekte überdecken kann, signalisieren diese Verände-
rungen ungeachtet der denkbaren unmittelbaren Folgen für die Sozialisationsbedin-
gungen der Kinder und Jugendlichen die Möglichkeiten und die Bedeutung autono-
mer Entscheidungen für die eigene biographische Entwicklung.
Diese Aspekte sind für die Erklärung des Rückgangs der Jugendkriminalität in
Anlehnung an die Individualisierungsthesen von Beck (1986) insoweit von Bedeu-
tung, als sich dadurch den Jugendlichen am Beispiel der Eltern zeigt, welche mög-
lichen Konsequenzen biographische Entscheidungen nach sich ziehen können und
dass dabei allgemeingültige gesellschaftliche Vorgaben weitgehend fehlen, weswe-
gen die Risiken der Entscheidungen eigenverantwortlich abgewogen werden müs-
sen. Damit dies im Einklang mit persönlichen Bedürfnissen und Interessen gelingt,
ist eine möglichst langfristige Orientierung von biographischen Vorstellungen not-
wendig, auch wenn bei erweiterten Entscheidungsfreiheiten gewisse Umorientierun-
gen möglich sind. Trotz bzw. aufgrund dieser Freiheiten ist das Risiko hoch, dass Ent-
scheidungen nicht zum erhofften Ziel führen. Dies kann dazu beitragen, ein Bewusst-
sein für die Verantwortung eigenen Handelns zu entwickeln und die längerfristigen
Folgen dabei zu bedenken. Der allgemeinen Kriminalitätstheorie von Gottfredson
und Hirschi (1990) zufolge sind dies Bedingungen, unter denen soziale Abweichung
unwahrscheinlicher ist. Die von Gottfredson und Hirschi postulierte und in der frü-
hen Kindheit angelegte Persönlichkeitseigenschaft der Selbstkontrolle besteht u. a.
gerade darin, die (langfristigen) Folgen eigenen Handelns zu bedenken und daher
auf unmittelbare Belohnungen (eher) zu verzichten sowie Risiken abzuwägen
bzw. zu meiden. Die Anforderungen der Individualisierung an das Individuum müs-
sen daher nicht zwangsläufig zu den von Heitmeyer et al. (1998) angesprochenen
Desintegrationserscheinungen aufgrund der mit den Freiheiten verbundenen Unsi-
cherheiten führen, sondern können auch die von Beck (1986) beschriebenen neuen
Kontroll- und Reintegrationsprozesse hervorbringen.
4
Angaben des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Boeckler-
Stiftung (www.wsi.de/genderdatenportal).
Rückgang der Kriminalität junger Menschen 963
3.2 Bildung
Neben der Familie beeinflusst der Besuch von Einrichtungen des Bildungssys-
tems wie Kindertagesstätten und Schulen als Beispiele sekundärer Sozialisationsin-
stanzen die Persönlichkeitsentwicklung und den Verlauf der Jugendphase sowie die
sich daran anschließenden biographischen Entscheidungen. Insbesondere durch den
Schulbesuch entwickeln Jugendliche ihre Leistungsorientierung im Rahmen der
Qualifizierung für die Berufsausbildung und sie erweitern ihre sozialen Rollen
und sozialen Bindungen mit entsprechenden gesellschaftlichen Umgangsformen au-
ßerhalb der Familie (Hurrelmann & Bauer 2015). Hinsichtlich der Beteiligung von
Jugendlichen im Bildungssystem sind für die vergangenen zwei Jahrzehnte ebenfalls
zum Teil gravierende Veränderungen zu beobachten. Zunächst ist festzustellen, dass
sich die Verteilung der Schulabschlüsse deutlich verschoben hat (Abbildung 6).
Während mittlere Abschlüsse über den beobachteten Zeitraum nahezu unverändert
von zwei Fünfteln der Schülerinnen und Schüler erzielt wurden, ist der Anteil der
Schülerinnen und Schüler mit Hauptschulabschluss von ausgehend über einem Vier-
tel seit dem Jahr 2005 auf knapp ein Sechstel im Jahr 2017 gesunken. Der Anteil der
Schülerinnen und Schüler mit (Fach-)Hochschulreife hingegen lag bis 2004 nahezu
konstant bei einem Viertel, um in den Folgejahren auf etwas über ein Drittel deutlich
anzusteigen. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die ohne Abschluss geblieben
sind, lag bis zum Jahr 2001 bei etwas unter 10 Prozent, um in den nachfolgenden Jah-
ren auf etwa 5 Prozent zu sinken.
Qualifikationen und wachsender Flexibilität geprägt ist, die als Voraussetzungen für
einen sicheren Eintritt in den ersten Arbeitsmarkt den (sozialen) Druck vor allem auf
junge Erwerbspersonen verstärken (Luedtke 2014). Höhere Bildungsabschlüsse
gehen zudem mit einer optimistischeren Perspektive der Jugendlichen auf die eigene
Zukunft und deren Gestaltbarkeit einher (Leven et al. 2019a), auch wenn die damit
verbundenen größeren Entscheidungsfreiheiten individuell eine Herausforderung
darstellen können. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass mit höherer (schuli-
scher) Bildung auch die Ansprüche bzw. Erwartungen an Beruf und Einkommen stei-
gen, wodurch eine an Leistung und Erwerbsarbeit ausgerichtete biographische Aus-
richtung gefördert wird (Leven et al. 2019b). Dass sich solche Aspirationen in Bezug
auf die eigene Biographie bereits vor dem Schulabschluss ausbilden können, ist auch
daran abzulesen, dass sich die Schülerinnen und Schüler der siebten bis neunten Jahr-
gangsstufen in den vergangenen zehn Jahren zu etwa 50 Prozent weg von Hauptschu-
len und zu etwa einem Drittel weg von Realschulen, dafür jeweils etwa doppelt so
häufig zu Schulen, die mehrere Bildungsgänge anbieten, sowie zu integrierten Ge-
samtschulen hin orientieren.5 Diese Entwicklungen können als Hinweis darauf ge-
wertet werden, dass Jugendliche (und ihre Eltern) den biographischen Werdegang
frühzeitig zielgerichtet strukturieren und dabei Optimierungsmöglichkeiten zu rea-
lisieren suchen. Vor allem der Besuch einer integrierten Gesamtschule als vergleichs-
weise offene Schulform bietet in diesem Zusammenhang größere Möglichkeiten,
den individuell maximal erreichbaren Schulabschluss zu erreichen. Eine weitere
Grundlage für diese biographische Ausrichtung der Jugendlichen ist zudem in der
gegenüber früheren Zeiten höheren Bildung und beruflichen Qualifikation der Müt-
ter zu sehen, die als Ressourcen zur Förderung kognitiver Kompetenzen der Kinder
und Jugendlichen genutzt werden und dadurch auch die elterlichen Erwartungen an
die kindliche Leistungsfähigkeit steigern können (Bertram & Bertram 2018).
Im Einklang mit diesen Entwicklungen zeigt sich zudem, dass der Anteil der
Schülerinnen und Schüler, die ihre Schulzeit in Ganztagsschulen verbringen, in
den vergangenen Jahren in allen Schulformen weiterhin angestiegen ist (Sekretariat
der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik
Deutschland 2018). Dies dürfte zum einen den Veränderungen der Organisation
des familiären Zusammenlebens wie der häufigeren Erwerbstätigkeit der Mütter ge-
schuldet sein, zum anderen kann dies auch als ein Ausdruck einer stärkeren Ausrich-
tung der Lebensführung im Jugendalter am Bildungssystem und der damit verbun-
denen Leistungsorientierung interpretiert werden. Dies wird unterstützt durch die
massiv angestiegene Nutzung bezahlter Nachhilfeangebote 17-jähriger Schülerinnen
und Schüler, deren Quote in den Jahren 2000 bis 2003 noch bei 27 Prozent lag und in
den Jahren 2009 bis 2013 einen Wert von fast 50 Prozent erreichte (Hille et al. 2016).
In diesen Zusammenhang kann auch die gestiegene Nutzung von Privatschulen ge-
stellt werden, die gegenwärtig in Deutschland bei etwa 9 Prozent aller Schülerinnen
und Schüler liegt (Görlitz et al. 2018). Je nach Finanzierungsart einer Privatschule
5
Angaben der Kultusministerkonferenz (www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Statistik/
Dokumentationen/SKL_Teil_B.1_Schueler_allg_2017.xlsx).
Rückgang der Kriminalität junger Menschen 965
sind zwar die Möglichkeiten des Besuchs vom Wohlstand der Familienhaushalte ab-
hängig, doch verweisen diese Entwicklungen insgesamt auf die steigende Bedeutung
einer Investition in die Bildung der Kinder und Jugendlichen und können daher als
weiterer Indikator für die zielgerichtete Optimierung der Bildungs- und späteren Be-
rufskarriere gedeutet werden. Schließlich verweisen die Anstiege der monatlichen
Ausgaben privater Familienhaushalte insbesondere für den Besuch der unter dreijäh-
rigen Kinder in Kindertageseinrichtungen darauf, dass neben der berufsbedingten
außerfamiliären Betreuungsnotwendigkeit von jungen Kindern auch die frühkindli-
che Ausrichtung der Sozialisation an Bildungseinrichtungen im Sinne einer Investi-
tion in die Zukunft zur gesellschaftlichen Normalität wird (Schmitz et al. 2017).
Diese Veränderungen im Bildungsbereich der Jugendlichen können ebenfalls mit
dem Rückgang der Jugendkriminalität in Zusammenhang gestellt werden, da zahl-
reiche Studien zur Jugenddelinquenz enge Korrelationen zwischen der besuchten
Schulform und der Delinquenzbelastung nachgewiesen haben. Höhere Bildungsaspi-
rationen und schulische Erfolge gehen mit geringerer Delinquenzbelastung Jugend-
licher auf der Grundlage von Selbstberichten einher (u. a. Oberwittler et al. 2014).
Die höheren Schulabschlüsse und die biographisch frühe Ausrichtung an Aspekten
wie Qualifikation und Leistung können als Investitionen in die (berufliche) Zukunft
auch im Sinne der Kontrolltheorie von Hirschi (1969) mit dem Rückgang der Jugend-
kriminalität in Zusammenhang gestellt werden. Der Kontrolltheorie folgend werden
Individuen von Normabweichungen aufgrund ihrer sozialen Bindungen zu anderen,
zu sozialen Gruppen und zu gesellschaftlichen Institutionen abgehalten, da Norm-
verletzungen den Verlust der sozialen Bindungen bedeuten können. Die engere Bin-
dung der Jugendlichen an Bildungsinstitutionen (attachment) und die stärkere Über-
nahme von Verpflichtungen gegenüber diesen (commitment) rechnen sich als Inves-
titionen in die eigene Biographie nur, wenn sie nicht durch mögliche gesellschaftli-
che Sanktionen als Folge einer Normabweichung einem hohen Risiko ausgesetzt
werden. Dazu zählen zudem Überzeugungen und Wertevorstellungen (belief), die
auch in Anlehnung an die Anomietheorie von Merton (1968) als Anerkennung
von legitimen Mitteln wie Bildung und Leistung gelten können, um gesellschaftlich
anerkannte Ziele wie Beruf, Einkommen und Ansehen zu erreichen. Schließlich sind
die Jugendlichen aufgrund der Zeit, die sie in der Schule bzw. mit Aktivitäten zur
Qualifikation verbringen, seltener Situationen und sozialen Kontexten ausgesetzt,
in denen dem Ansatz der Routine-Activities folgend aufgrund ineffektiver Sozial-
kontrolle häufiger Straftaten begangen werden (Cohen & Felson 1979).
und Schule große Bedeutung zugesprochen wird (Hurrelmann & Bauer 2015). Hin-
sichtlich der Lebensbereiche Freizeit, Freunde und Konsum zeigen sich ebenfalls
zum Teil deutliche Veränderungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Obwohl
für die Freizeitgestaltung Jugendlicher die Zeit mit Freunden weiterhin dominiert,
orientieren sich Jugendliche tendenziell mehr als früher an Unternehmungen mit
der Familie und weniger an Aktivitäten mit Freunden und Besuchen von Partys
und Discotheken. So ist der Anteil der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren,
der in der Freizeit täglich oder mehrmals in der Woche etwas mit der Familie unter-
nimmt, von 17 Prozent im Jahr 1998 über 22 Prozent im Jahr 2008 auf 38 Prozent im
Jahr 2018 kontinuierlich gestiegen (Medienpädagogischer Forschungsverbund Süd-
west 2018), eine Entwicklung, die auch die Shell-Jugendstudien aufgedeckt haben
(Wolfert & Leven 2019). Diesem Trend steht gegenüber, dass der Anteil der 12-
bis 19-Jährigen, der sich täglich oder mehrmals in der Woche mit Freunden trifft,
von 85 Prozent im Jahr 1998 auf 71 Prozent im Jahr 2018 gesunken ist, wiederum
eine Entwicklung, die auch andere Studien belegen (Bohmann & Schupp 2016; Wol-
fert & Leven 2019). Dieser Rückgang der Freizeitbeschäftigung mit Freunden geht
damit einher, dass der Anteil der 12- bis 25-Jährigen, der regelmäßig Clubs oder Par-
tys besucht, von 31 Prozent im Jahr 2002 auf 24 Prozent im Jahr 2019 gefallen ist
(Wolfert & Leven 2019). Zudem verbringen Jugendliche darüber hinaus ihre Freizeit
häufiger im Kontext von Organisationen wie Sportvereine und Musikschulen (Boh-
mann & Schupp 2016; Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2018;
Hille et al. 2013).6
Diese Veränderungen zusammenfassend zeigt sich, dass für das Freizeitverhalten
der 17-Jährigen zwischen den Jahren 2001 und 2012 eine stärkere Ausrichtung an
bildungsorientierten Freizeitangeboten wie Musik, Ehrenamt und Sport von ausge-
hend unter 50 Prozent auf über 60 Prozent und demgegenüber eine gewisse Abkehr
von einer informellen Freizeitgestaltung wie Fernsehen, Computer spielen, Abhän-
gen und Freunde treffen von ausgehend etwa zwei Dritteln zu 55 Prozent zu beob-
achten ist (Hille et al. 2013). Die für die Freizeitgestaltung Jugendlicher insgesamt
große Bedeutung von Computern, Internet und Formen der Online-Kommunikation
werden durch mehrere Quellen angezeigt. Es sind nicht nur nahezu alle Jugendlichen
im Alter zwischen 12 und 19 Jahren mit Smartphones ausgestattet (Medienpädago-
gischer Forschungsverbund Südwest 2018), auch der Anteil der 17-jährigen Jugend-
lichen, der täglich Computer und das Internet nutzt, ist von etwas unter 30 Prozent in
den Jahren 2001 bis 2003 auf etwa 85 Prozent in den Jahren 2012 bis 2014 gestiegen,
wobei die Online-Kommunikation mit etwa 80 Prozent gegenüber Computerspielen
mit etwa 30 Prozent dominiert (Bohmann & Schupp 2016; Wolfert & Leven 2019).
Dies deutet darauf hin, dass Freunde bzw. Gleichaltrige nicht an Bedeutung für die
Jugendlichen eingebüßt, sondern sich die Kommunikationsformen in gewissem Um-
6
Dies belegen auch Zahlen des Deutschen Olympischen Sportbundes (Bestandserhebun-
gen unter www.dosb.de/medien-service/statistiken) und des Verbands deutscher Musikschulen
(Angaben des Deutschen Musikinformationszentrums unter www.miz.org/statistiken.html).
Rückgang der Kriminalität junger Menschen 967
fang auf Messenger-Dienste im Internet verlagert haben und daher häufiger in ande-
ren sozialen Kontexten als früher stattfinden.
Diese Veränderungen werden einerseits von einem längerfristigen Rückgang des
Alkoholkonsums und andererseits von einem erneuten Anstieg des Cannabiskon-
sums junger Menschen in den letzten Jahren begleitet (Abbildung 7). Die Jugendli-
chen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren gaben bis 2007 bei gewissen Schwankun-
gen zu etwa 20 Prozent an, Alkohol regelmäßig zu konsumieren. Dieser Anteil ist in
den Folgejahren bis 2018 kontinuierlich auf einen Wert von etwas unter 10 Prozent
gesunken. Diese Entwicklung steht im Einklang damit, dass Jugendliche weniger
Zeit mit Freunden verbringen und seltener Clubs und Partys besuchen (s. o.).
Zudem widerspricht diese Entwicklung den durch Medienberichte erzeugten Ein-
druck einer „immer besoffeneren Jugend“, die durch Alkoholexzesse (sog. Koma-
saufen) vor allem die eigene Gesundheit gefährdet (Werse 2014). Im Gegensatz
dazu hat sich die 12-Monats-Prävalenz des Cannabiskonsums dieser Altersgruppe
ausgehend von einem Wert von etwa 5 Prozent im Jahr 1994 auf einen Wert von
etwa 10 Prozent im Jahr 2004 verdoppelt, um bis zum Jahr 2010 wieder auf einen
Wert von etwa 5 Prozent zu fallen. In den Folgejahren ist der Wert wieder angestie-
gen und erreichte im Jahr 2018 etwa 8 Prozent. Diese Veränderungen spiegeln sich
auch in der Entwicklung der TVBZ Jugendlicher bei Rauschgiftdelikten wider (s. o.).
Quelle: Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (2019a, 2019b), angegeben sind Anteile des regelmäßigen
Alkoholkonsums und die 12-Monats-Prävalenz des Cannabiskonsums.
von Bedeutung, ein Trend, der im Einklang mit der bereits beschriebenen stärkeren
biographischen Orientierung an (schulischer) Qualifikation und Leistung steht.
Beide Entwicklungen können als Ausdruck einer stärkeren Bindung der Jugendli-
chen an konventionelle Wertevorstellungen der Gesellschaft im Sinne der Kontroll-
theorie von Hirschi (1969) verstanden werden. Der Rückgang der Jugendkriminalität
dürfte zudem dadurch beeinflusst worden sein, dass die Jugendlichen in größerem
Umfang als in den Jahrzehnten zuvor den besonderen Formen informeller Sozialkon-
trolle im familiären und schulischen Kontext ausgesetzt sind. Die gewisse Abwen-
dung der Jugendlichen von Freizeitaktivitäten wie Freunde treffen und (abends) aus-
gehen in Verbindung mit seltenerem Alkoholkonsum kann ebenfalls mit sinkenden
Delinquenzraten der Jugendlichen in Zusammenhang gebracht werden, denn damit
sind gerade diejenigen Freizeitaktivitäten seltener geworden, die in Anlehnung an
den Routine-Activity-Ansatz (Cohen & Felson 1979) typischerweise in sozialen
Kontexten mit vergleichsweise geringer Sozialkontrolle und vielfältigen Gelegen-
heiten zu Normabweichungen stattfinden. Diese Muster des Freizeitverhaltens der
Jugendlichen reduzieren schließlich auch die Wahrscheinlichkeit von Kontakten
zu anderen delinquenten Jugendlichen und delinquenten Cliquen, deren Bedeutung
für den Entstehungszusammenhang von Jugenddelinquenz nicht nur von der Lern-
theorie (Akers 1973) postuliert, sondern auch empirisch als belegt gelten kann
(u. a. Oberwittler et al. 2001). Inwieweit der jüngere Anstieg des Cannabiskonsums
mit Jugenddelinquenz in Beziehung steht, ist bei dem aktuellen Forschungsstand un-
klar (Baier et al. 2016; Rocca et al. 2019; Lu et al. 2019; Tcherni et al. 2016).
che Verständnis von Jugend als Schon- und Reifezeit hin zu einer Vorstellung von
Jugend als Phase der frühzeitigen und eigenverantwortlichen Qualifizierung und Op-
timierung verschiebt. Vor diesem Hintergrund könnte der Anstieg des Cannabiskon-
sums junger Menschen als Versuch gedeutet werden, den individuell erlebten Druck
gesellschaftlicher Erwartungen auszugleichen.
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Juvenile Delinquency in Greece
An Analysis of Prevention Mechanisms
By Effi Lambropoulou
1. Introduction2
This article presents the preliminary results from the Third Round of the Interna-
tional Self-Report Delinquency Study (ISRD3) in Greek schools carried out in April
and May of 2016 on 12 – 15 year old students.
Three rounds of the ISRD project have presently been carried out and a fourth one
will soon begin. The ISRD study consists of a large international network of resear-
chers, coordinated by the ISRD Steering Committee.3 The ISRD has a standard sur-
vey instrument (ISRD3 questionnaire) for all countries, and standardized data entry
software (EpiData).
The target group of the ISRD3 project is children in grades 7 to 9 (12 – 15 years of
age). The students are questioned about their experiences as offenders and victims of
crime. They are also questioned about their everyday lives and opinions.4 The present
article will only focus on the delinquency of juveniles, their family relationships and
their views about the police.
1
To Professor H.-J. Albrecht.
2
I am very much obliged to Dr. Dimitris Kalamaras, whose help and advice on this project
I was constantly looking for and sincerely appreciate.
3
See https://web.northeastern.edu/isrd/steering-committee/ [17. 02. 2020].
4
See https://web.northeastern.edu/isrd/summary/ [17. 02. 2020].
976 Effi Lambropoulou
2. Current Study
2.1 Research Questions
Control theory, contrary to the majority of crime theories, examines why a person
obeys the law and not why a person violates it.6 The answer lies in the bonds develo-
ped by the person with people, institutions and values. These bonds work protectively
so as not to lead to deviant behavior and, according to Hirschi, when these are absent,
inadequate or loose, deviance can be the result.7
Overall, social control theory’s major theses have received substantial empirical
support. According to sociology professor Barbara J. Costello, “control theory has
uncovered several clear facts of delinquency”.8 Delinquent youths have lower levels
of attachment to parents and school, lower levels of commitment to conventional
goals, especially striving to achieve long-term goals. They also tend to have a low
level of belief in the moral validity of laws and norms, they lack a sense of respon-
sibility and shame towards society and disregard social disapproval.
Therefore, they are more tolerant of crime and more likely to engage in deviant
behavior.9
Procedural justice (or procedural fairness) is the impartiality that is followed in
the proceedings of those who have the power to make decisions. Early research, in-
5
See https://web.northeastern.edu/isrd/ [17. 02. 2020]. For the objectives of ISRD, see
Enzmann et al. 2010, 161.
6
Pratt et al. 2011.
7
Hirschi 1969.
8
Costello 2010, 457.
9
Costello 2010, 457.
Juvenile Delinquency in Greece 977
itiated by Thibaut & Walker (1975), found that the perceived fairness of the legal
processes involving citizens was directly related to the citizens’ level of respect
and cooperation with the authorities.10 Moreover, later research by Tyler and others
concludes that when citizens make general evaluations about the legitimacy of power
holders (e. g. police officers, judges, probation officers), they are more concerned
about procedural fairness, namely how they are treated, than they are about the out-
come of the dispute.11
The research interest in procedural justice, particularly with regard to policing,
has increased since the mid-1990s, where studies have shown that the police can
gain greater acceptance of the legality of their actions and thus, achieve cooperation
and citizens’ compliance when dealing with them in procedural fairness.12 Eamon
Aloyo has made an interesting distinction between “regulatory” and “empirical” le-
gality. Regulatory legality refers to a set of standards by which an institution or status
is evaluated. Empirical legality refers to whether citizens consider a statute or an in-
stitution to be legitimate.13
and pencil, in the presence of one teacher and one or two interviewers.16 All partici-
pants had the written permission of their parents (mother or father).
3.2 Sample17
The ISRD3 project uses city sampling and it is recommended that each country
targets at least two cities (i. e. a total of 1,800 – 2,000 participants per country). The
majority of countries uses city-based samples, but some countries use national sur-
veys.
In the research conducted in Greece, students from 12 schools from the city centre
as well as the Greater Athens area participated in the survey.18 They represented 2.5%
of the public middle schools in the Central, North, East and West Attica Prefecture
(N: 475).19 These municipalities, including the city centre, make up a total of 1.5 mil-
lion inhabitants. From these schools, 1,251 valid questionnaires were collected.
The second Greek city used for the study was Komotini, the main city of the Thra-
ce prefecture in Northern Greece (approx. 55,000 inhabitants). Students from four
(80%) of the city’s five public middle schools participated, resulting in 668 valid que-
stionnaires.
In total, there were 1,919 valid questionnaires: 65.2% from Greater Athens and
34.8% from Komotini.
Girls made up 52.1% of the sample, and boys 47.7%. 95.1% of the respondents
were born in Greece.
For 87.4% of the respondents, their family’s income came from earnings, pension,
and property of their parents, 10.2% from unemployment benefits, and, for 2.3% of
the respondents, from other sources (e. g. alimony, money from relatives, e. g. support
from a grandparents’ pension); 4.7% of the sample did not respond. In addition, 49%
of the sample considered their family’s ability to meet its financial obligations “the
same as other families”, 22% more difficult than other families, while 29% found
their family’s easier to handle.
16
PhD candidates O. Matskidou (MA) and I. Horti (MA), the graduate students of the 4th
and 6th semester of the Department of Sociology at Panteion University (2016 – 17): S. Mal-
liou, K. Batzeli, T. Micha, A. Papailiou, I. Sarantou, S. Tatsi, E. Tsolakou and N. Horti. The
data entry to the EpiData was carried out by O. Matskidou, I. Horti, K. Batzeli & G. Kapsali.
Dr. D. Kalamaras converted the data from EpiData to SPSS (25), so that we can process it for
our research needs.
17
Due to the limited scope of the article, the information about the sample is rudimentary.
18
The Greater Athens region consists of the Athens municipality (City of Athens with 7
communities) and 34 more municipalities, divided in four regional units (Central, North,
South and West Athens), accounting for 2,641,511 people (in 2011).
19
Ilioupoli, Elliniko-Argyroupoli, Palaio Faliro, Kallithea, Ilion, Petroupoli, Peristeri,
Egaleo, Alimos, Nea Smyrni and Zografou.
Juvenile Delinquency in Greece 979
4. Findings
4.1 Self-Reported Delinquency and Feelings of Shame
Overall, the rate of students who reported that they had never committed an illegal
act ranges from 82.2% to 99.3%, with the exception of illegal downloading (57%).
Thus, the delinquency rates of the sample are low and, as they replied, of their peer
group too. The answer to the question “Does your peer group get used to occasionally
committing offenses/delinquent acts?”, 12.1% answered “Yes”, while 77.2% of the
sample answered “No”. Somewhat lower rates are recorded in the question “If a
member of your peer group commits an illegal act, is this accepted by the other mem-
bers or not?”, 18.3% of the sample answered “Yes” compared to 70.9% who said
“No, it is not acceptable”.
The only exception is a high rate of downloading pirated music and/or movies
with the knowledge that the act is illegal (Figure 1). Specifically, 43.1% of the sample
said that they had downloaded pirated music and movies at least once in the past,
41.9% said they had done so in the last year, and from them 58.4% more than six
times in the last year.
As regards violent offences (Figure 2), group fights and clashes in a football sta-
dium, on the street or other public place have the highest rate with 17.8% (n: 329).
Next is graffiti with 15.3% (n: 286), carrying a weapon, i. e. a dangerous object such
as a knife, a chain, or a stick of wood with 9.9% (n: 184). Beating someone up or
hurting someone with a dangerous object rises to 4.7% (n: 86) and is at about the
same level as vandalism (4.6%; n: 85).
The most frequent property offences, which were committed in the last year, cor-
respond to the lifetime prevalence of property offences, i. e. illegal downloading,
stealing/skimming, shoplifting, and car break. The most frequent violent offences,
similarly, are group fights, graffiti, carrying a dangerous object, battery and assault
with a dangerous object and vandalism.
The largest proportion of students from the total sample (45.4%), who admitted to
stealing from friends and other students, had committed it once and 29.2% twice. The
same applies to shoplifting, where 53.8% reported a theft once, and 22% twice.
Moreover, 50% of those who reported having stolen from a car had done so once
and 34% twice. A special case is illegal downloading, where 58.7% of the sample
who admitted to downloading, had committed it seven times and more, while only
7.3% once.
Juvenile Delinquency in Greece 981
As for the frequency of violent offences, 58.4% of juveniles who reported parti-
cipating in group fights had committed it once or twice, while 26% more than five
times. 57.1% of the youths who reported graffiti had done it up to two times, as had
done 85.6% of the sample who reported carrying a dangerous object. 72% of students
who admitted vandalism committed it up to two times (once: 51%, twice 21%), while
17.3% five and more.
As for drug law violations, the few questions, which were permitted to ask, show
that 98.4% of the sample had never used drugs and 99.1% had not used drugs in the
last 30 days.
In order to test whether the results for low delinquency confirm the hypotheses of
our research, we examined the bonds of students with their families. Thus, in the que-
stion “Who is involved in raising you?” 87.8% answered both mother and father,
which generally indicates a non-disorganized family (“broken home”). Furthermore,
in another question “How well do you get along with your parents?” a high rate of
students “totally agreed” that they were getting along well with their mother and fa-
ther. In more detail, 61.8% of the sample totally agreed that “they were getting along
well with their father”, and 68.9% totally agreed that “they were getting along well
with their mother”. Additionally, 73% strongly agreed that they “can easily get emo-
tional support and care from their parents”, and 77.6% strongly agreed that they
would “feel very bad disappointing their parents”, while only 1.4% completely dis-
agreed with this statement (Table 1). From the previous findings, it is evident that the
degree of attachment of students to their family is high.
According to Hirschi, loyalty to reference persons, such as parents (friends, te-
achers and school), is considered to be the most important factor through which
the individual creates social awareness, respect for the laws and for others, and ge-
nerally contributes to the internalization of social control. Having a person of refer-
ence is crucial to one’s mental balance, cultivating respect for others and lawful be-
havior.
Hirschi’s position that strong family bonding develops a sense of control is rein-
forced as, in this sample, high rates of attachment to parents (harmonious relation-
ships) are directly correlated to a low level of delinquent behavior.
The chi-squared test applied to determine whether emotional support from pa-
rents, as students perceive it, relates to any crimes against property, shows that in
most crimes against property there is a statistically significant difference between
those who feel emotional support from those who do not feel emotional support
(X2 ranges from 10.628 to 149.307; df 4, 5; p < .00120), apart from stealing of or
from a car, where the difference is not significant.
20
W2 (4) = 10.628; p = 0.059 only in the case of burglary, and X2 (5) = 15.782; p = .003
in the case of illegal downloading.
982 Effi Lambropoulou
Table 1
Family Bonds and Emotional Support (%)
I get along just my my I can easily get I would feel
fine with father mother emotional support and very bad
care from my parents disappointing
my parents
totally agree 61.8 68.9 73.0 77.6
rather agree 21.4 19.4 11.1
neither/nor 7.7 5.2 5.6 4.4
rather disagree 2.3 1.3 1.4 1.8
totally disagree 1.3 0.9 0.5 1.4
there is no such person 3.4 2.2 0.1 3.6
ambiguous
0.1 0.1 0.1
answer
TOTAL % 100.0 100.0 100.0 100.0
Quite similar are the results regarding violent crimes. There is found a statistically
significant difference between those who feel emotional support from those who do
not in several crimes (X2 ranges from 16.757 to 51.996; df 4, 5; and p < .001 in all
cases), apart from purposely hurting an animal, beating and causing physical harm to
someone, and participating in group fights.
A statistically significant difference also appears to exist between students who
declare that they wouldn’t “feel bad disappointing their parents” with those who
would feel bad in the majority of property crimes and, in particular, in car theft
(X2 (6) = 25.875; p < .001), shoplifting (X2 (6) = 19.605; p < .001), theft (X2 (6) =
19.127; p < .001), and burglary (X2 (6) = 14,909; p < .05). There is also a statisti-
cally significant relationship between students’ admitted disinterest whether they
would frustrate their parents, with few violent crimes, i. e. vandalism (X2
(5) = 27.058; p < .001), carrying a weapon/dangerous object (X2 (6) = 23.555;
p < .001) and group fights (X2 (6) = 21.047; p < .005).
Concerning parental supervision, most students answered that their parents know
where they are when they go out (87.6%) and with whom (85.4%), as well as that they
should call their parents if they are out and will get home late (85.3%).
Parents’ checking homework occurs to a lesser extent, where rates are evenly dis-
tributed across the scale, from “very often” to “not at all”. However, 40% declared
that their homework was always/most often checked by their parents, and 37% for the
films they watched.
The chi-squared test was likewise applied to determine whether parental supervi-
sion relates to any property and violent crimes. It was found a significant difference in
all property crimes between the juveniles saying that their parents had known where
they had been, what they were doing, and what friends they had been with, with those
Juvenile Delinquency in Greece 983
who said that their parents hadn’t known (X2 ranges from 18.113 to 92.920; df 4, 5;
p < .00121).
Furthermore, there is a significance difference in all violent crimes between the
juveniles saying that their parents had known where they had been, what they were
doing, and what friends they had been with, with those who said that their parents
hadn’t known (W2 ranges from 15.002 to 120.472; df 4; p < .001), apart from
“hurt an animal on purpose”.22
Therefore, the first conclusion is that strong family bonds combined with proper
parental supervision reduce the chances of delinquent behavior.
Afterwards it was examined whether a lack of shame for the “significant others” in
the student’s home, school, and peer group is associated with delinquency. 61.7% of
the students said they would feel ashamed if their best friend heard that they were
“arrested by the police for committing an illegal act”, 75.9% if their teacher found
out about it and 89.6% their parents (Table 2). Therefore, the second conclusion is
that parents are the strongest force of social control in adolescence and the most Si-
gnificant Other. In any case, the above results on the role of social control authorities
(family, teachers and school, friends) require further analysis.23
Table 2
Feelings of Shame (%)
Yes,
Imagine you were arrested by the police for committing a No, not Yes, a
very
crime, would you feel ashamed if … at all little
much
your best friend found out about it 11.7 26.5 61.7
your teacher found out about it 10.0 14.0 75.9
your parents found out about it 3.7 6.7 89.6
Starting with Tom Tyler’s Theory of Procedural Justice (PJT),24 we next examined
the students’ trust in the police and, in particular, their view of how police respond to
offenders and how this response is estimated by the juveniles.
As already discussed, for this theory, fair, lawful and respectful behavior of the
representatives of justice is not only morally desirable but also a prerequisite for ef-
fective justice. In particular, PJT focuses on how police authorities and other law en-
forcement agencies interact with the public, and how the characteristics of these in-
21 2
X (4) = 13.416; p = .010 only in the case of burglary and in one of the three main
questions checked.
22 2
X (5) =5192; p = 0.393 and in one of the three main questions checked.
23
Gottfredson & Hirschi 1990; see also Cohen & Felson 1979.
24
Tyler 2003.
984 Effi Lambropoulou
teractions influence citizens’ views of the police and affect their willingness to com-
ply with law.25 Consequently, the impact of the behavior of social control authorities/
law enforcement agencies (police, judges, etc.), as perceived by minors, is important
for the acceptance and internalization of social rules and laws by them.
Table 3
What Do Students Think About Police Discrimination
and How are they Treated by the Police (%)
When victims report crimes to the police, do you think the police treat people
of different races, different ethnic groups, or of foreign origin equally? (%)
No 57.4
Yes 42.5
(ambiguous answer) 0.2
Would you say the police generally treat young people with respect? (%)
(almost) never 14.2
sometimes 55.2
often 24.0
(almost) always 6.5
How often, would you say, the police make fair decisions when dealing with young
people? (%)
(almost) never 10.4
sometimes 49.8
often 31.3
(almost) always 8.3
(ambiguous answer) 0.2
How often, would you say, the police explain their decisions and actions to young people?
(%)
(almost) never 30.2
sometimes 43.3
often 20.3
(almost) always 6.2
The police are appreciative of how young people think (%)
agree strongly 5.7
agree 19.8
neither agree/nor disagree 34.4
disagree 30.1
disagree strongly 10.0
25
Tyler 1990; Tyler, Degoey & Smith 1996; Rawls 1999, 73 – 78.
Juvenile Delinquency in Greece 985
In this light, the following are some of the results of the views and attitudes toward
the police of 611 ninth-grade students (third middle-school class in Greece), from the
16 schools participating in our study.
The question as to whether the police treat victims of different races, different eth-
nic groups, or of foreign origin equally when they report crimes to the police is cru-
cial. 57.4% believe that the police do not treat all victims equally, while 42.5% be-
lieve that they treat everyone equally and they do not discriminate. According to the
first group, the police treat differently “immigrants, people of different ethnicity or
religion, people of low social income, Africans, anarchists, sports fans and crimi-
nals”. It is obvious that students in most cases may not have personal experience,
but that their perception is influenced by their environment, media, peers, and family.
However, it is interesting that many students find the police generally treating
young people with respect. 30.5% think this happens (almost) always/often,
14.2% (almost) never, and 55.2% sometimes.
Even more interesting is the answer to the question “How often would you say that
the police make fair decisions when dealing with young people?”: 39.6% believe this
happens (almost) always/often, 10.4% (almost) never, and 49.8% sometimes. More-
over, 26.8% believe that the police explain their decisions and actions to young peo-
ple (almost) always/often, 30.2% (almost) never and 43.3% sometimes. Yet, the re-
spondents of the sample seem to have a different view about whether the “police are
appreciative of how young people think”. 25.5% of the sample agree that the police
take into account how young people think, 34.4% neither agree nor disagree, but a
remarkable rate of 40.1% disagrees (Table 3).
More equally split are the answers of the juveniles to the question whether they
support the way the police act: 30.6% of students agree, 38.9% neither agree nor dis-
agree, while 30.6% disagree (Figure 3).
Interestingly, these responses of 15-year-old students correspond to the responses
of adult citizens from Greece in the European Social Survey (ESS) in 2010, which
also examined whether citizen respondents agree with the way police operate. The
sample responses (N: 2,562) in 2010 were as follows: 36% agree with the way police
usually operate, 39% neither agree nor disagree, while 25.2% disagree.26
The fact that the responses of adults to ESS research in 2010 and those of students
six years later do not vary much, probably reflects the impact of adults’ views on the
younger generation. Otherwise, the answer to the question “To what extent is it your
duty to do what the police tell you, even if you don’t understand or agree with the
reasons?” would be different. 58.3% of the students believe they are very obliged
to follow the instructions of the police, 28.2% said to feel quite obliged, and
13.6% not to feel obliged (Figure 4).
26
ESS Online analysis, ESS round 5 – 2010; https://www.europeansocialsurvey.org/fin
dings/topline.html.
986 Effi Lambropoulou
Figure 4: To what Extent is it your Duty to Do what the Police Tell you,
Even if you Don’t Understand or Agree with the Reasons? (%)
Juvenile Delinquency in Greece 987
The chi-squared test was applied to examine whether the students’ feelings of
shame (or not) in the case that they were arrested by the police for committing a
crime, and parents, friends or teachers would hear about it, relate to students’ feelings
of obligation to follow the instructions of the police. The differences in following
police instructions were found to be significant between those who said that they
would feel ashamed and those who wouldn’t in case of arrest (X2 ranges from
54.888 to 61.015; df 20; p < .001).
It was tested as well, whether the commitment of students to follow police instruc-
tions is related with their view about impartiality of police operations and equal treat-
ment of all people. No statistically significant differences were found between those
students who regard police acting in a discriminatory manner and those who think
that police treat all people equally or not in following police instructions
(X2 = 12.810; df 20; p = .89). This finding needs further examination too.
Concerning the effectiveness of the police and, in particular, the speed at which
they react to a crime (burglary or violent crime) near the students’ home, 29.3% be-
lieve that the police will be late, 44.4% that they will come in a reasonable time and
26.1% believe that the police will come quickly. Thus, the view of the students about
the effectiveness of the police is rather positive.
In conclusion, the respondents generally seem to have a neutral view of how the
police act, which may affect their subsequent behavior in relation to their involve-
ment in offenses and disorder, but mainly their belief in social rules. Despite the neu-
tral police view, the low self-reported delinquency by the students implies that the
majority follows law-abiding behaviors because they feel obliged to do so, rather
than because they trust in the police and respect the way they operate. And this com-
mitment to lawful and moral behavior appears to be the result of constructive soci-
alization and education strategies, namely the outcome of informal social control.
However, the fact that students strongly believe that the police generally treat
young people with respect (85.7%) and make fair decisions when dealing with
young people (89.4%), in relation with the obligation to follow police instructions
(86.5%), seems to override their neutral view and confirms Tyler’s theory of proced-
ural justice.
The percentages above coincide with the first findings of Greece’s recent partici-
pation in the seventh wave of the World Values Survey (WVS).27 The Greek survey
was carried out from 8 September 2017 to 16 October 2017 with 1,200 participants
over 18 years of age.28 In the results of this survey, police rank third in the list of tru-
sted institutions (65.4%), after universities and the armed forces, and even higher
than the church, which usually has a high trust level. Specifically, 20% of the sample
27
Until now, the Network of WVS carried out six surveys and the seventh is ongoing.
Greece participated in the 3rd and 4th through the EVS.
28
Koniordos 2018, Table D1, 15.
988 Effi Lambropoulou
trust the police very much and 51% quite much, i. e. 71% of the sample generally trust
the police.29
5. Other Studies
The limited scope of the article allows only to present in summary the studies exa-
mined30 by the author. They show that violent acts represent a significant rate of ju-
venile delinquency. Learning disabilities and repeated serious conflicts between fa-
mily members, parents having problems with alcohol or drugs related with unemp-
loyment often result in deviant behavior of the juveniles, which in turn lead adoles-
cents to be referred to official control authorities, whether these are counseling
stations or social workers appointed by the juvenile service or the courts. According
to the reviews, drugs do not appear to be a problem for young people, nevertheless
frequent alcohol use is noticeable, although the rates are low. Their findings confirm
that lack of emotional support from parents and frustration from the family are di-
rectly linked to delinquency.
In relation to drugs and alcohol use the overall findings of the ESPAD (European
School Survey Project on Alcohol and Other Drugs)31 research of 2015, which is
chronologically close to the Greek ISRD3 research in 2016, reveal that the drug
use of Greek students were below the European average to all illegal addictive sub-
stances, below the average to use in the age under 13, and to the access to illicit sub-
stances. The research was carried out by the Greek Monitoring Centre for Drugs that
participates in the ESPAD project on 3,202 Greek students at the age of 16.32
The average in lifetime use of cannabis was reported by 9.1% of the Greek stu-
dents, compared to the overall average of 16.5%. For lifetime use of illicit drugs other
than cannabis, tranquilizers or sedatives without prescription and New Psychoactive
Substances (NPS) the Greek results are somewhat below to the average results. By
contrast, lifetime use of inhalants is more common among the Greek students (13% to
7% ESPAD). Moreover, 66% of the Greek juveniles reported that alcohol use had
taken place during the last 30 days, which is above the average for all countries
(48%), and a slightly higher proportion (38%) than the ESPAD average (35%) repor-
ted that heavy episodic drinking had taken place during the same period. Cigarette
use in the last 30 days was also more or less in line with the ESPAD average (21% to
19% ESPAD). As the ESPAD report underlines “Even though several key indicators
were more or less in line with the ESPAD average, the overall picture for Greece in the
29
Dianeosis 2018, 106, 107, 113; Koniordos 2018, Table B3.3a, 44.
30
Kotaridi, Valassi-Adam & Malikiosi-Loizou 2007; Papazoglou 2011; Karamperi 2016;
Tamichtsis 2016.
31
EMCDDA 2016.
32
EKTEPN-Mental Health Research Institute 2017, Figure 2, 15; see also Kokkevi et
al. 2016.
Juvenile Delinquency in Greece 989
ESPAD context is a slightly mixed one, with lower results for cannabis use but higher
rates for alcohol use”.33
As for the previous rounds of ISRD, Greece has participated only in the first one
(1992 – 93).34 Its findings have surprisingly several similarities but also differences
with the third round.
The difference is observed in the rates of overall delinquency, but not particularly
in its structure. Thus, 96.9% of respondents said they had committed an offense at any
time in their lives, and 85.1% in the last year.35 The high delinquency rates might be
related to the age range of the ISRD1 (14 – 21 years),36 as well as the big number of
offenses (33) included in its list, especially “youth offences” (e. g. fare dodging tram/
bus/metro, truancy, and driving without licence).
65.3% of the sample had committed property offenses in their lifetime, 61% vio-
lent crimes, 12.2% drug law violations and 87% “juvenile offenses”: high rates were
reported for truancy (68.9%) and alcohol consumption (95.6%). Shoplifting is the
most common property crime (28%) committed in the last year, followed by burglary
(21%) and theft from vending machines or telephone booths (17.7%). Vandalism
(63.4%), group fights (34.5%), and graffiti (31.2%) are the most common violent cri-
mes in the last year, and fare dodging from the “youth” related offences (66.4%).37
In Greek ISRD3, the highest rates of property offenses are theft (“skimming”)
against a classmate or peer, followed by shoplifting and car break. Of the violent cri-
mes, the highest rates are group fights in playing fields, on the street or other public
place before or after an athletic event and graffiti.38
Boys had significantly committed more offences than girls (91% to 79.3% last
year),39 as in our survey, however at a much lower rate.40 The differences in all crimes
between boys and girls are significant (p < .001), apart from car and bicycle theft and
extortion. In the ISRD1 Greek research, adolescents aged 14 – 17 reported higher
rates of violent crimes than the 18 – 21 age group (63% to 39%); the 20 – 21 age
33
See http://www.espad.org/country/greece [17. 02. 2020].
34
Spinellis et al. 1994. Other self-report surveys have been carried out in the past, which
unfortunately cannot be presented here, see more in Spinellis et al. 1999, 293 – 294.
35
Spinellis et al. 1994, Table 3, 299.
36
Spinellis and her associates report that for financial reasons the sample was deviated
from the suggested random sampling and a modified proportionate sample was constructed for
the purposes of the inquiry. Specifically, the 1992 sample consisted of 400 students, 50% boys
and 50% girls, 288.
37
Spinellis et al. 1994, Table I, 310 – 311.
38
See Figures 1 and 2 respectively; about last year prevalence see section 4.1 of the present
article.
39
Spinellis et al. 1994, Table 5, 302.
40
Up to 57% of the boys had committed an illegal act last year, while up to 47% of the
girls; up to 22.2% of the boys, while up to 10.8% of the girls had committed a violent crime
last year, and up to 46% of the boys, while up to 38.4% girls a property crime last year.
990 Effi Lambropoulou
group reported most violations against drug law (19.7%), while the age group of 14 –
15 years reported the least of them (1.9%).41
Very interesting and generally similar to ours are the findings of young people’s
relationship with their family and their school commitments, even though the rese-
arch was conducted 24 years ago.
Systematic parental control and supervision is overall associated with lower crime
rates (82.1%) than inadequate control (92.7%).42 And while the difference is statis-
tically significant between these two groups in property offenses (30.8% to 46%),
juvenile offenses (69.3% to 91%) and drug law offenses (2.3% to 23.7%), it is not
for violent crimes (30.8% to 46.9%).43 Furthermore, the students with close family
relationships, in particular good relationships with the father, have fewer violations
of drug laws (3.1% to 14.9%), and the difference is statistically significant from those
who don’t. “Problem behavior” (e. g. fare dodging, truancy), besides, is strongly re-
lated, to a bad relationship with the father (36.3% to 84%).44
School interest and involvement in school activities is generally associated with
low rates of delinquency, i. e. “juvenile delinquency” and “problematic” behavior.
Finally, overall school repetition has a statistically significant relationship with
high rates of delinquency.45
6. Discussion
The preceding empirical analysis confirmed the working hypotheses of this arti-
cle. The low delinquent rates of students in the sample is related to close ties with
their family and good relationships with their parents, emotional support from
them, a high level of parental supervision, and feelings of shame in the event of
an illegal act being discovered by their relatives.
Therefore, Hirschi’s theory about the importance of attachment to meaningful
persons is reinforced, in association with belief in social norms and institutions
(school, police), as well as the belief that these are important.
From the responses of our subsample of 15-year-old students about the police,
despite their reserve and neutral attitude, their willingness to comply with their in-
structions is remarkable and initially confirms Tyler’s theory of Procedural Justice,
which surely needs to be further tested by the Greek study. Commitment to obeying
the law and being true and honest (and the opposite) are primarily - but not exclusiv-
ely, products of constructive socialization, nurturing and education strategies, i. e. the
41
Spinellis et al. 1994, Table 6, 302.
42
Spinellis et al. 1994, Table VII, 304, 316.
43
Spinellis et al. 1994, 304.
44
Spinellis et al. 1994, Table IX, 317.
45
Spinellis et al. 1994, Table WII, 317.
Juvenile Delinquency in Greece 991
outcome of informal and not of formal social control. If this acceptance and willing-
ness to obey laws is encouraged and developed not only by the family, but also by the
school and the state, it will strengthen students’ trust in the legitimacy of police de-
cision-making and the necessity of obeying laws, provided that the police themselves
will make professional and impartial decisions, as well as stay in close proximity to
the younger generation. Finally, the influence of peers and (social) media is important
too and these aspects will be included in the next ISRD survey.
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Eine sozialräumliche Perspektive
auf den Kriminalitätsrückgang
Die Entwicklung der Jugenddelinquenz in Köln
nach den MPI-Schulbefragungen 1999 und 2011
1. Einführung
Dass die Kriminalitätshäufigkeit in vielen Ländern seit vielen Jahren sinkt, wurde
als „das wichtigste kriminologische Phänomen der Gegenwart“ bezeichnet (Farrell
et al. 2014, 421) und hat international eine entsprechende Aufmerksamkeit erfahren
(Baumer et al. 2018; Farrell et al. 2011; Tcherni-Buzzeo 2019; Tonry 2014; van Dijk
et al. 2012; Zimring 2006). Dabei steht die Entwicklung der Jugendkriminalität be-
sonders im Mittelpunkt. Aus vielen westlichen Ländern wird übereinstimmend über
sinkende Zahlen der Jugendkriminalität berichtet: So aus Spanien (Fernández-Mo-
lina & Bartolomé Gutiérrez 2020), Finnland (Salmi 2009; Elonheimo 2014), Däne-
mark (Balvig 2011), Schweden (Estrada 2019; Svensson & Ring 2007; Svensson &
Oberwittler 2021; Vasiljevic et al. 2020), den USA (Arnett 2018; Grucza et al. 2018;
Moss et al. 2019), England & Wales (Griffiths & Norris 2020), Schottland (Matthews
& Minton 2018), den Niederlanden (Berghuis & de Waard 2017; van der Laan et
al. 2019) und ebenso auch aus Deutschland. Hans-Jörg Albrecht (2014, 2016) hat
sich anhand der deutschen Entwicklung mehrfach mit dem Rückgang der Jugendkri-
minalität befasst und dabei zu Recht auf die unbefriedigende Forschungslage hinge-
wiesen, sowohl was die Datengrundlage und Messung der Kriminalitätsentwicklung
– besonders in Deutschland –, als auch was das Angebot an überzeugenden Erklä-
rungen betrifft. Letztlich hat der starke Kriminalitätsrückgang seit den 1990er Jahren
alle überrascht, und niemand hat bislang eine wirklich schlüssige Erklärung geliefert,
die als empirisch gesichert gelten kann (siehe auch Naplava in diesem Band).
Für eine befriedigende Datengrundlage mangelt es in Deutschland an regelmäßi-
gen, national-repräsentativen Dunkelfeldbefragungen zur selbstberichteten Jugend-
delinquenz, wie es sie in einigen europäischen Ländern, z. B. in Schweden, gibt
(siehe die oben zitierte Literatur). Daher wird in Deutschland häufig mit der polizei-
lich registrierten Jugendkriminalität argumentiert. Diese verzeichnet bei Eigentums-
delikten und Raub schon seit den 1990er Jahren dramatische Rückgänge der jugend-
lichen Tatverdächtigen, während bei Körperverletzungsdelikten der Trend noch bis
994 Dietrich Oberwittler und Dominik Gerstner
in die Mitte der 2000er Jahre nach oben zeigte und sich erst dann drehte (Albrecht
2016; Naplava, in diesem Band). Es steht zu vermuten, dass der lange Anstieg der
registrierten Jugendgewalt, der nicht durch eine entsprechende Tendenz in den ver-
fügbaren Dunkelfeldstudien begleitet wird, zu einem bedeutsamen Anteil auf ein ver-
ändertes Anzeige- und Registrierungsverhalten von Opfern und Polizei zurückzufüh-
ren ist (Baier 2020; Köllisch 2007; 2009; Oberwittler & Köllisch 2004; Pfeiffer et
al. 2018; vgl. international Kivivuori 2014; O’Brien 2003; Weaver et al. 2019).
Bei den in Deutschland durchgeführten wiederholten Dunkelfeldbefragungen
handelt es sich um lokale und bestenfalls regionale Studien. Die Befragungen des
Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) konnten einen sinken-
den Trend der Jugenddelinquenz unabhängig von der Polizeilichen Kriminalstatistik
– sowohl bei Eigentums- als auch Gewaltdelikten – seit dem Ende der 1990er Jahre
belegen (Baier 2020; Baier & Windzio 2008; Pfeiffer et al. 2018). Der Anteil der be-
fragten Jugendlichen, die in den letzten zwölf Monaten mindestens ein Gewaltdelikt
begangen hatten (also die Prävalenzrate), sank im rechnerischen Mittel einer Reihe
von lokalen und regionalen Studien des KFN zwischen 1998 und 2015 von 18,4 % auf
4,9 % (Pfeiffer et al. 2018: 15). Die Prävalenzrate des Ladendiebstahls halbierte sich
zwischen 1998 und 2005 von 32,7 % auf 16,9 % (Baier & Windzio 2008). Auf der
Basis wiederholter repräsentativer Befragungen an bayerischen Schulen kamen
Fuchs et al. (2009, 97) zu dem Ergebnis, dass die schulische Gewalt zwischen
1994 und 2004 „auf breiter Front und in allen Schularten zurückgegangen ist“.
Obwohl Dunkelfeldbefragungen größere Chancen als die Polizeiliche Kriminal-
statistik bieten, nicht nur die Entwicklung der Jugenddelinquenz zu beschreiben, son-
dern diese auch mithilfe von Fragen zu kriminologisch relevanten Dimensionen wie
Eltern-Kind-Beziehung, Einstellungen und Freizeitroutinen zu erklären, sind ent-
sprechende Analysen noch unterentwickelt. Häufig werden lange Zeitreihen der Kri-
minalität mit entsprechenden Zeitreihen von potenziellen Beeinflussungsfaktoren
wie Bildungsabschlüsse, Arbeitslosenraten etc. verglichen und daraus denkbare Zu-
sammenhänge abgeleitet, die aber letztlich nicht belegt werden können (Albrecht
2016; Baumer et al. 2018; Naplava in diesem Band; Pfeiffer et al. 2018). Eine neuere
niederländische Studie bietet erstmals eine systematische multivariate Analyse der
Bedeutung verschiedener Einflussfaktoren für den Delinquenzrückgang, indem
drei Querschnitts-Wellen einer national-repräsentativen Dunkelfeldbefragung ge-
meinsam ausgewertet werden (van der Laan et al. 2019). Weitere Fortschritte in
der Erklärung des Kriminalitätsrückgangs sind von komplexeren Analysen unter
Einschluss von Faktoren sowohl auf der Mikroebene individueller Neigungen, Ein-
stellungen und Verhaltensroutinen als auch auf der Makroebene gesellschaftlicher
Veränderungen zu erwarten. Doch selbst dadurch ist es unwahrscheinlich, dass
wir die unerwartete Entwicklung restlos aufklären können.
Dieser Beitrag unternimmt gar nicht erst den Versuch, einen Überblick über den
Erkenntnisstand zum Rückgang der Jugenddelinquenz zu geben oder vertiefende
Analysen zu einzelnen Aspekten vorzustellen. Stattdessen wollen wir zum einen
Eine sozialräumliche Perspektive auf den Kriminalitätsrückgang 995
2. Datengrundlage
Die MPI-Schulbefragungen fanden 1999 und 2011 im Abstand von zwölf Jahren
in jeweils zwei Städten statt: 1999 in Köln und Freiburg (Oberwittler et al. 2001a),
2011 in Köln und Mannheim (Oberwittler et al. 2014). Die MPI-Schulbefragung
1999 wurde außerdem auch in Gemeinden des Landkreises Breisgau-Hochschwarz-
wald durchgeführt (Oberwittler et al. 2001b; Oberwittler & Köllisch 2003) und hatte
einen kleineren Vorläufer in einer Schulbefragung in der Stadt Emmendingen im sel-
ben Jahr (Oberwittler & Würger 1999), womit im Abstand von 25 Jahren an eine
frühe Selbstberichtsstudie des Max-Planck-Instituts im gleichen Ort angeknüpft
wurde (Villmow & Stephan 1983). Dieser Vergleich der selbstberichteten Delinquenz
über eine Generation erbrachte starke Indizien dafür, dass der Anstieg der Jugend-
kriminalität in der offiziellen Kriminalstatistik auch von einer Zunahme des Anzei-
geverhaltens getrieben wurde (Köllisch & Oberwittler 2004a; Oberwittler & Köl-
lisch 2004).
Beide MPI-Schulbefragungen waren Teil von DFG-geförderten Forschungspro-
jekten.2 Bei der MPI-Schulbefragung 1999 lag der Fokus neben der Bedeutung
der sozialräumlichen Kontexte auch auf der Methodik von Schulbefragungen und
der Validierung von Selbstberichten (Naplava & Oberwittler 2002; Köllisch & Ober-
wittler 2004b), auf den Mechanismen des Übergangs vom Dunkel- ins Hellfeld (Köl-
lisch 2005; 2009) sowie auf der interethnischen Gültigkeit von Delinquenztheorien
1
Außerdem möchten wir auch allen Kolleg*innen und Mitarbeiter*innen am MPI danken,
die zum Erfolg der beiden Befragungen sehr viel beigetragen haben: Harald Arnold, Beate
Ehret, Tilman Köllisch, Thomas Naplava, Stefan Schiel und Michael Würger sowie allen stu-
dentischen Hilfskräften und Interviewer*innen in Freiburg, Köln und Mannheim, mit einem
besonderen Dank an Rebekka Endler. GESIS hat uns dankenswerterweise bei beiden Befra-
gungen logistisch unterstützt. Die MPI-Schulbefragung 2011 wurde in Köln in Kooperation
mit dem Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Universität zu Köln durchgeführt.
2
1999: Ob 134/3 – 1 und 3 – 2; 2011: Al 376 – 11/1.
996 Dietrich Oberwittler und Dominik Gerstner
Für die folgenden Auswertungen haben wir die Befragten an Sonderschulen in der
MPI-Schulbefragung 1999 weggelassen. In den meisten Auswertungen verwenden
wir die jeweils verfügbaren Stichproben – 3.320 Befragte an 35 Schulen im Jahr
1999, 4.128 Befragte an 30 Schulen im Jahr 2011, bei einigen Auswertungen jedoch
nur Befragte an den Schulen, die sowohl 1999 als auch 2011 dabei waren. Dieser Zu-
schnitt hat den Charme, dass man den Wandel im abweichenden Verhalten von Ju-
gendlichen nachfolgender Alterskohorten für die exakt gleiche Stichprobe von Schu-
len in Köln betrachten kann. Die Ergebnisse unterscheiden sich in beiden Varianten
jedoch kaum voneinander.
Das in beiden Befragungen identische Erhebungsinstrument der selbstberichteten
Delinquenz war eine Liste von 14 strafbaren Handlungen, bei denen die Schüler*in-
nen jeweils angeben sollten, ob sie diese bereits jemals in ihrem Leben begangen hat-
ten, wie oft in den letzten zwölf Monaten – wobei keine Häufigkeiten vorgegeben
wurden, sondern eine Zahl in ein leeres Feld einzutragen war –, und wie oft die Po-
lizei davon erfahren hatte. Der Wortlaut aller Items ist in Tabelle 2 (im Anhang) wie-
dergegeben. Jeweils drei Items deckten Sachbeschädigungen, leichte und schwere
Eigentumsdelikte sowie Gewaltdelikte ab; außerdem wurde nach dem Konsum
und dem Verkauf illegaler Drogen gefragt. In den folgenden Auswertungen verwen-
den wir außerdem ein Instrument, anhand dessen die Schüler*innen als Mitglieder
von devianten und gewaltbereiten Cliquen identifiziert wurden. Weitere Einzelheiten
zum Erhebungsinstrument sind in Blank et al. 2003 sowie auch in der online zugäng-
lichen Sammlung sozialwissenschaftlicher Skalen ZIS dokumentiert (Oberwittler et
al. 2002).3
Aufgrund des identischen Studien- und Stichprobendesigns und Erhebungsinstru-
ments können wir mit einigem Vertrauen davon ausgehen, dass Veränderungen zwi-
schen den beiden Befragungen keine methodischen Artefakte sind, sondern Ände-
rungen im delinquenten Verhalten der Jugendlichen reflektieren.
3. Ergebnisse
3.1 Starker Rückgang der selbstberichteten Delinquenz
Wir beschränken uns in diesem Beitrag weitgehend auf einfache, deskriptive Aus-
wertungen und verzichten auf elaborierte und multivariate Analysen, die notwendig
wären, um unsere Interpretationen und Schlussfolgerungen weiter zu verfolgen.
Daher ist die folgende Darstellung eher als ein explorativer Einstieg in das Thema
Kriminalitätsrückgang zu verstehen.
Wie zu erwarten bestätigen unsere Ergebnisse insgesamt das Bild, das bereits
durch andere Selbstberichtsstudien bekannt ist (Pfeiffer et al. 2018): Die Neigung
von Jugendlichen zum delinquenten Verhalten ist deutlich gesunken. Tabelle 2
3
https://doi.org/10.6102/zis160 [15. 10. 2020].
998 Dietrich Oberwittler und Dominik Gerstner
(im Anhang) bietet einen detaillierten Überblick über die Prävalenzraten aller 14 De-
likte nach Jahr und Geschlecht. Die Prävalenzraten geben an, wie viele Jugendliche
ein bestimmtes Delikt mindestens einmal im Jahr begangen haben. So sank der Anteil
der Jugendlichen, die im letzten Jahr einen (oder mehrere) Ladendiebstahl begangen
hatten, von 27 % im Jahr 1999 auf 15 % im Jahr 2011; das entspricht nur noch 56 %
des Ausgangsniveaus (Spalte „Rückgang um Faktor“). Während die Prävalenzraten
von Graffiti Sprühen und anderen Sachbeschädigungen weniger stark abgenommen
haben, ist der Rückgang beim Autoaufbruch (49 % des Ausgangsniveaus) und beim
Diebstahl eines Autos oder motorisierten Zweirades (34 % des Ausgangsniveaus) be-
sonders auffällig. Dies könnte eine teilweise Bestätigung der „security hypothesis“
(Farrell et al. 2011) sein, nach der die Einführung der elektronischen Wegfahrsperre
den Diebstahl von Motorfahrzeugen effektiv verhindert hat.
Der fallende Trend bei der Delinquenz gilt grundsätzlich für Jungen und Mädchen
gleichermaßen. Allerdings gibt es unterschiedliche Tendenzen beispielsweise beim
Ladendiebstahl, der bei Mädchen weniger stark zurückgegangen ist als bei Jungen,
und bei den Prävalenzraten der Körperverletzung, die im Gegensatz dazu bei Mäd-
chen ca. um die Hälfte und bei Jungen nur um ca. ein Drittel gesunken sind.
In den Abbildungen 1a – c fassen wir die einzelnen Delikte zu Deliktsbereichen zu-
sammen und berichten die Prävalenzraten des letzten Jahres differenziert nach Schul-
typen. Für diese Auswertungen haben wir die Stichproben auf diejenigen Kölner Schu-
len beschränkt, die an beiden Befragungen teilgenommen haben (siehe Tabelle 1, rech-
te Spalte). Die Ergebnisse unterscheiden sich jedoch kaum von denen der Gesamtstich-
proben. 1999 hatten 12,8 % der befragten Schüler*innen an Gymnasien mindestens
eines von drei Gewaltdelikten begangen, zwölf Jahre später waren es noch 9,7 %.
Bei Schüler*innen an Realschulen fiel die Prävalenzrate der Gewaltdelikte von
24,4 % auf 18,2 %, und bei Hauptschüler*innen von 31,5 % auf 18,8 %. Besonders
drastisch ist die Entwicklung bei der Zugehörigkeit zu devianten und gewaltbereiten
Cliquen, die sich bei Real- und Hauptschüler*innen mehr als halbiert hat. Bei Gym-
nasiast*innen spielten solche Cliquen dagegen nie eine bedeutende Rolle. Hier wird
sehr deutlich, dass der Rückgang der Jugenddelinquenz nicht gleichmäßig in allen
sozialen Schichten und Lebenslagen, sondern am stärksten in den unteren Bildungs-
schichten stattgefunden hat, in denen Delinquenz zuvor auch besonders verbreitet
war (vgl. Albrecht & Howe 1992). Durch den besonders starken Rückgang der De-
linquenz bei Jugendlichen aus diesen unteren Bildungsschichten ist es im Zeitverlauf
zu einer Nivellierung der sozialen Unterschiede in der Jugenddelinquenz gekom-
men: Schüler*innen der unterschiedlichen Schulformen haben sich in ihrem Verhal-
ten angenähert. Besonders auffällig ist dies bei den leichten Eigentumsdelikten
(Laden-, Fahrrad- und sonstiger Diebstahl, Abbildung 1b): 1999 begingen annähernd
doppelt so viele Hauptschüler*innen wie Gymnasiast*innen solche Eigentumsdelik-
te (42,3 % vs. 24,2 %), 2011 lagen die Schüler*innen der drei Schulformen nur noch
wenig auseinander (Hauptschule 22,7 %, Realschule 22,2 %, Gymnasium 18,4 %).
Beim Konsum illegaler Drogen gab es 2011 sogar gar keine nennenswerten Unter-
schiede der Prävalenzraten mehr, während 1999 noch die Realschüler*innen an der
Eine sozialräumliche Perspektive auf den Kriminalitätsrückgang 999
24.4%
23.4%
18.2% 18.8%
17.2%
12.8%
11.1%
9.7%
7.6%
6.5%
4.2%
Nur Befragte an Schulen, die 1999 und 2011 teilgenommen haben (1999 N=2518, 2011 N=3485)
Abbildung 1a: Anteil der befragten Jugendlichen, die im letzten Jahr mindestens
ein Gewaltdelikt begangen haben oder einer devianten Clique angehören
(1999 und 2011, nach Schultyp)
24.2%
22.2% 22.7%
18.4%
13.1%
8.1%
3.7% 5.0%
2.2% 1.7%
leichte Delikte schwere Delikte leichte Delikte schwere Delikte leichte Delikte schwere Delikte
Gymnasium Realschule Hauptschule
Nur Befragte an Schulen, die 1999 und 2011 teilgenommen haben (1999 N=2518, 2011 N=3485)
Abbildung 1b: Anteil der befragten Jugendlichen, die im letzten Jahr mindestens
ein leichtes bzw. schweres Eigentumsdelikt begangen haben
(1999 und 2011, nach Schultyp)
Spitze der Schultypen gelegen hatten. Unsere Befunde widersprechen denen von
Fuchs et al. (2009), die über einen in etwa gleichbleibenden Abstand im Gewaltver-
halten zwischen den Schulformen Gymnasium, Realschule und Hauptschule berich-
teten. Sie haben jedoch nur die Gewalt im Schulkontext untersucht und das wesent-
lich bedeutsamere delinquente Verhalten außerhalb der Schule ausgeklammert.
1000 Dietrich Oberwittler und Dominik Gerstner
14.4%
12.6%
11.7% 11.3%
Nur Befragte an Schulen, die 1999 und 2011 teilgenommen haben (1999 N=2518, 2011 N=3485)
Abbildung 1c: Anteil der befragten Jugendlichen, die im letzten Jahr mindestens
einmal illegale Drogen konsumiert haben (1999 und 2011, nach Schultyp)
Neben der Prävalenzrate spielt auch die Inzidenz, also die Häufigkeit, mit der De-
likte auch mehrfach begangen werden, eine sehr wichtige Rolle für den Kriminali-
tätsrückgang. Wir haben in den Abbildungen 2a – b die Inzidenzraten der Täter*innen
für einige Deliktsbereiche dargestellt und differenzieren wiederum nach dem Schul-
typ. Die durchschnittliche Zahl der Taten bezieht sich jeweils nur auf die Täter*in-
nen, die in dem entsprechenden Deliktsbereich mindestens eine Tat angegeben
haben. Diese arithmetischen Mittelwerte werden stark von einer kleinen Anzahl
von Jugendlichen beeinflusst, die extrem viele Taten berichtet haben. Dies ist aber
keine statistische Verzerrung, sondern spiegelt den allgemeingültigen Befund wie-
der, dass eine kleine Minderheit von Tätern*innen für rund die Hälfte aller Straftaten
verantwortlich ist (Boers 2019). Die Abbildungen 2a – b zeigen, dass bei Gewalt- und
schweren Eigentumsdelikten die durchschnittlichen Häufigkeiten der Mehrfach-Tat-
begehungen bei Real- und Hauptschüler*innen gefallen sind, während Befragte an
Gymnasien 2011 erwartungswidrig mehr Delikte berichten als 1999. Allerdings be-
ruhen die Werte für Schüler*innen an Gymnasien auf den Angaben von jeweils nur
rund 30 Befragten, so dass dieses Ergebnis vielleicht mit mangelnder Robustheit zu
erklären ist.
Betrachtet man den Rückgang der Prävalenzraten und der Inzidenzraten zusam-
men, so ergibt sich aus den MPI-Schulbefragungen ein rechnerischer Rückgang der
Jugendkriminalität in Köln, gemessen an dem Volumen der von Jugendlichen began-
genen Delikte, im Bereich der Gewaltdelikte um ca. 60 % und der schweren Eigen-
tumsdelikte um ca. 70 %. Dies ist ein wahrhaft dramatischer Rückgang innerhalb von
zwölf Jahren.
Eine sozialräumliche Perspektive auf den Kriminalitätsrückgang 1001
7.7
1999 2011 7.0
5.3 5.5
3.5
3.1
Abbildung 2a: Durchschnittliche Anzahl der Gewaltdelikte von Tätern, die im letzten Jahr
mindestens ein Gewaltdelikt begangen haben (1999 und 2011, nach Schultyp)
1.9 2.0
Zum Abschluss unseres Beitrags kommen wir auf einen wichtigen Aspekt zu spre-
chen, der unseres Erachtens in der bisherigen Diskussion viel zu kurz gekommen ist:
Der Kriminalitätsrückgang ist ein Prozess des sozialen Wandels, der in bestimmten
1002 Dietrich Oberwittler und Dominik Gerstner
Sozialräumen verortet werden kann. Ebenso wie Kriminalität (zumindest die Krimi-
nalität in öffentlichen Räumen) räumlich extrem ungleich verteilt und besonders
stark in einigen relativ eng umgrenzten Sozialräumen konzentriert ist (Sherman et
al. 1989), so ist auch der Rückgang der Kriminalität kein sozialer Prozess, der die
Gesellschaft gleichmäßig erfasst, sondern er ist ebenfalls sozialräumlich relativ
eng eingrenzbar und betrifft bestimmte soziale Orte ganz besonders. Diese Erkennt-
nis ist auch in Hinblick auf die Suche nach den Ursachen und Triebkräften des Kri-
minalitätsrückgangs nicht zu unterschätzen. Eine Analogie ist der ebenfalls drama-
tische Rückgang der Mordraten in den USA nach 1993: Dieser ereignete sich nicht
flächendeckend in den gesamten USA und in allen soziodemographischen Gruppen
gleichermaßen, sondern beinahe ausschließlich in den sozial besonders benachteilig-
ten Stadtvierteln der Großstädte und in der Gruppe der jugendlichen und jungerwach-
senen afroamerikanischen Männer (Becker 2018; Friedson & Sharkey 2015). Natür-
lich liegt dies zunächst daran, dass die Mordrate zuvor in eben diesen Sozialräumen
und soziodemographischen Gruppen entsprechend stark angestiegen war. Es wäre
jedoch ein Fehler, dies als ein lediglich statistisches Phänomen anzusehen. Vielmehr
ruft es dazu auf, sich eingehender mit den spezifischen sozialen Bedingungen zu be-
fassen, die in diesen Orten sowohl für eine besonders hohe Kriminalitätsbelastung
gesorgt haben als auch dazu führen können, dass diese Belastungen überwunden
oder zumindest deutlich reduziert werden können. Eine lange Tradition der krimino-
logischen Forschung tut eben dies mit Hilfe entsprechender Ansätze, angefangen mit
den klassischen Theorien der Sozialen Desorganisation und der Subkulturen (Cullen
2015; Krivo et al. 2018; Sampson et al. 2018).
Als erste Näherung an die sozialräumliche Dimension des Kriminalitätsrückgangs
haben wir die selbstberichteten Delikte in den MPI-Schulbefragungen 1999 und 2011
nach dem Kriterium des Wohnsitzes der befragten Jugendlichen den Kölner Stadtvier-
teln zugeordnet. Da die MPI-Schulbefragungen von Anfang an einen sozialräumlichen
Analyseansatz verfolgt haben, wurden die Jugendlichen anhand ihrer Wohnadressen
den ungefähr 280 Kölner Stadtvierteln zugeordnet. Die Kölner Stadtviertel sind eine
relativ kleinräumliche Gliederungsebene mit durchschnittlich etwa 3.500 Einwohnern.
Dies ermöglichte komplexe Analysen des Zusammenwirkens der individuellen und so-
zialräumlichen Einflüsse auf das delinquente Verhalten von Jugendlichen im Rahmen
von Mehrebenenmodellen (Oberwittler 2004a; 2004b; 2018). Die nachfolgenden Ab-
bildungen der Delinquenzhäufigkeiten nach Stadtviertelkontexten können solche
Mehrebenenmodelle nicht ersetzen und sind explorativ gemeint.
In den Abbildungen 3a–d geben kurvilineare Regressionslinien die bivariaten Zu-
sammenhänge der durchschnittlichen Delinquenzhäufigkeiten der befragten Jugend-
lichen mit der konzentrierten Benachteiligung der Stadtviertel wieder, gemessen
durch die amtliche Rate der Sozialhilfe bzw. Hartz IV-Empfänger im Alter bis
14 Jahre. Diese Regressionslinien repräsentieren den Zusammenhang zwischen bei-
den Merkmalen und berücksichtigen, dass dieser über den Wertebereich unterschied-
lich ausgeprägt sein könnte. Dabei werden nur Stadtviertel betrachtet, in denen min-
destens 20 Jugendliche befragt wurden. Die schwarze Linie repräsentiert den jewei-
Eine sozialräumliche Perspektive auf den Kriminalitätsrückgang 1003
ligen Zusammenhang im Jahr 1999 und die graue Linie im Jahr 2011. Bei allen vier
Indikatoren der Jugenddelinquenz zeigt sich im Zeitvergleich eine entscheidende
Veränderung: Während 1999 ein deutlicher Anstieg der Delinquenzneigung mit
der zunehmenden Konzentration sozialer Benachteiligungen in den Stadtvierteln
zu beobachten ist, signalisieren die weitgehend flachen Linien für das Jahr 2011
die Abwesenheit eines solchen Zusammenhangs. Beim Drogenkonsum hat sich
der Zusammenhang mit der sozialräumlichen Benachteiligung sogar umgedreht:
2011 konsumierten die Jugendlichen in den wohlhabendsten Stadtvierteln Kölns
am häufigsten illegale Drogen, 1999 waren ihnen die Jugendlichen in den benachtei-
ligten Viertel noch voraus gewesen. Der Rückgang der Jugenddelinquenz hat sich
also nicht gleichmäßig vollzogen, sondern ganz besonders in den am meisten benach-
teiligten Wohngebieten Kölns. In gewisser Weise ist dies logisch, denn dort war die
Delinquenzneigung der Jugendlichen zuvor besonders stark. In den „besseren“ Vier-
teln Kölns konnte sie dagegen kaum noch sinken, weil sie schon 1999 recht gering
war.
Gewaltdelikte
95% CI 1999
2011
3
durchschn. Anzahl Delikte
1 1.5 2
.5
0 2.5
−1 0 1 2 3
konzentrierte soziale Benachteiligung
Stadtviertelebene (20+ Befragte), 1999 N=49 / 2011 N=55 (1 Ausreißer entfernt)
95% CI = Konfidenzintervall
−1 0 1 2 3
konzentrierte soziale Benachteiligung
Stadtviertelebene (20+ Befragte), 1999 N=49 / 2011 N=55 (1 Ausreißer entfernt)
95% CI = Konfidenzintervall
schwere Eigentumsdelikte
1
95% CI 1999
2011
.8
durchschn. Anzahl Delikte
.2 .4
0 .6
−1 0 1 2 3
konzentrierte soziale Benachteiligung
Stadtviertelebene (20+ Befragte), 1999 N=49 / 2011 N=55 (1 Ausreißer entfernt)
95% CI = Konfidenzintervall
95% CI 1999
2011
durchschn. Anzahl Delikte
2 3 4 5 6 1
0
−1 0 1 2 3
konzentrierte soziale Benachteiligung
Stadtviertelebene (20+ Befragte), 1999 N=49 / 2011 N=55 (1 Ausreißer entfernt)
95% CI = Konfidenzintervall
Doch hat das Einebnen der sozialräumlichen Unterschiede Konsequenzen für die
Erklärungsmodelle der Jugenddelinquenz: Die Befunde zu den sozialräumlichen
Verstärkungseffekten der Jugenddelinquenz – das bedeutendste Ergebnis der MPI-
Schulbefragung 1999 (Oberwittler 2004a; 2004b) – lässt sich mit den Daten der
MPI-Schulbefragung 2011 nicht mehr replizieren; die Prädiktoren der konzentrier-
ten Benachteiligung in den Wohngebieten bleiben in Mehrebenenmodellen bedeu-
tungslos. Die empirische Bestätigung und Allgemeingültigkeit der Theorieansätze,
die zur Erklärung von Einflüssen des sozialräumlichen Kontexts auf das Verhalten
von Jugendlichen herangezogen werden, erscheinen dadurch „gefährdet“, oder bes-
ser gesagt abhängig von der jeweiligen Kriminalitätslage und dem sozialhistorischen
Kontext. Dieser unerwartete Befund fordert dazu auf, sich eingehender mit den so-
zialen Triebkräften zu beschäftigen, die in diesen Stadtvierteln den dort ganz beson-
ders starken Rückgang der Jugenddelinquenz bewirkt haben könnten.
4. Zusammenfassung
Der starke Rückgang der Kriminalität seit mittlerweile mehr als zwei Jahrzehnten
stellt die Kriminologie vor große Herausforderungen. An der Tatsache dieses Rück-
gangs gibt es angesichts unterschiedlicher empirischer Daten aus vielen Ländern kei-
nen Zweifel mehr. Besonders gut dokumentiert ist der Rückgang des straffälligen
Verhaltens von Jugendlichen dank wiederholt – in Deutschland allerdings nur
1006 Dietrich Oberwittler und Dominik Gerstner
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Anhang 1012
Tabelle 2
Anteil der befragten Jugendlichen, die im letzten Jahre mindestens einmal ein Delikt begangen haben (1999 und 2011)
1999 2011 Rückgang
Ich habe in den letzten 12 Monate (alleine oder mit anderen zusammen) … total Jungen Mädchen total Jungen Mädchen um Faktor
… mit einer Spraydose irgendwo Sprüche oder Bilder (Graffiti)
1 10.4 % 15.1 % 6.5 % 8.7 % 13.2 % 4.8 % 0.84
aufgesprüht.
… etwas absichtlich in der Schule, in Parks, Telefonzellen,
2 15.5 % 21.9 % 10.1 % 11.8 % 16.0 % 8.1 % 0.76
in der U-Bahn beschädigt oder zerstört.
3 … Autos, Motorräder oder Motorroller usw. absichtlich beschädigt. 5.2 % 8.6 % 2.3 % 2.9 % 4.9 % 1.1 % 0.55
… ein Fahrrad oder ein Teil eines Fahrrads gestohlen
4 11.7 % 21.6 % 3.4 % 6.5 % 10.9 % 2.7 % 0.56
(z. B. Sattel, Rad).
5 … in einem Geschäft etwas gestohlen. 26.9 % 30.7 % 23.7 % 14.9 % 16.0 % 14.0 % 0.56
6 …. jemandem eine Sache oder Geld gestohlen. 9.6 % 12.0 % 7.6 % 7.2 % 9.7 % 5.0 % 0.75
7 … ein Auto aufgebrochen. 1.7 % 2.9 % 0.7 % 0.8 % 1.5 % 0.3 % 0.49
8 … ein Auto, Motorrad, Motorroller usw. gestohlen. 3.3 % 5.7 % 1.2 % 1.1 % 1.8 % 0.5 % 0.34
… irgendwo eingebrochen, um etwas zu stehlen
9 3.6 % 6.4 % 1.2 % 1.9 % 2.9 % 1.0 % 0.53
(in ein Haus, Keller, Laden).
10 … Drogen genommen (Haschisch, Ecstasy usw.). 17.2 % 20.3 % 14.5 % 12.2 % 14.7 % 10.0 % 0.71
11 … Drogen an andere verkauft. 5.0 % 8.2 % 2.3 % 2.8 % 4.2 % 1.6 % 0.57
Dietrich Oberwittler und Dominik Gerstner
1. Einführung
Die jugendstrafrechtlichen Bestimmungen als ein Teil der griechischen Strafge-
setzgebung sind vom Inkrafttreten des Strafgesetzbuches1 und der Strafprozessord-
nung, jeweils am 01. 01. 1951, bis zur ersten umfassenden Reform im Jahre 2003 für
mehr als fünfzig Jahre fast unverändert geblieben.2 Durch das Gesetz über die Reform
der Jugendstrafgesetzgebung und andere Vorschriften (Gesetz Nr. 3189/2003), das
am 21. 10. 2003 in Kraft getreten ist, haben die materiell- und verfahrensrechtlichen
Regelungen eine grundlegende Novellierung erfahren.3 Ein eigenständiges Jugend-
gerichtsgesetz ist aber nicht geschaffen worden. Immerhin ist seit dem 01. 01. 1951
ein besonderer Abschnitt innerhalb des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches für
Jugendliche vorgesehen. Es handelt sich um den achten Abschnitt, der ursprünglich
den Titel Minderjährige Straftäter hatte und mit der ersten Reform in Spezielle Re-
gelungen für Minderjährige umbenannt worden ist. Die Position des Kindes in der
griechischen Rechtsordnung ist nach dem Jahrtausendwechsel durch die Gründung
der unabhängigen Verwaltungsbehörde des griechischen Ombudsmanns bzw. des
Ombudsmanns für Kinder wesentlich gestärkt worden. Der Ombudsmann für Kinder
hat die Aufgabe, die Kinderrechte zu verteidigen und zu fördern (Art. 3 Abs. 1 des
1
Das griechische Strafgesetzbuch (grStGB) von 1950 (in Kraft seit dem 01. 01. 1951) ist
ins Deutsche übersetzt von Karanikas 1953. Ferner ist das grStGB ins Englische übersetzt von
Lolis 1973 mit einer Einführung von Mangakis 1973, 1 – 33. Ferner ist das griechische Straf-
gesetzbuch im Jahre 2017 von Billis herausgegeben und ins Englische übersetzt worden von
Chalkiadaki & Billis 2017, 65 f. Über das griechische Strafrecht und das strafrechtliche
Sanktionensystem siehe Philippides 1954, 408 f.; Androulakis 1980, 138 f.; Pitsela 1988,
149 f.; Spinellis & Spinellis 1999, 35. f.; Anagnostopoulos & Magliveras 2000, 103 f.
2
Beispielsweise Literatur auf Deutsch vor der ersten umfassenden Reform der griechi-
schen jugendstrafrechtlichen Regelungen im Jahre 2003 siehe Middendorff 1956, 102 f.;
Pasiotopoulou-Poulea 1986; Rupp-Diakojanni 1990; Petoussi & Stavrou 1996, 146 f.; Pitsela
1997, 155 f.; 1998, 1085 f.; 2000, 131 f.; Chaidou 2002, 191 f.; Pitsela 2004, 355 f.
3
Dazu Spinellis & Tsitsoura 2006, 309 f.; Spinellis 2007, 171 f.; Pitsela 2010b, 1183 f.;
2011b, 505 f., 512 f., 522 f.
1014 Angelika Pitsela
Gesetzes Nr. 3094/2003),4 und gilt in Griechenland inzwischen als eine unverzicht-
bare Errungenschaft.
Sieben Jahre nach dem ersten Reformgesetz hat das zweite Reformgesetz
Nr. 3860/2010 über die Verbesserungen der Jugendstrafgesetzgebung. Vorbeugung
und Bekämpfung der Viktimisierung und der Kriminalität von Minderjährigen, das
am 12. 07. 2010 in Kraft getreten ist, wesentlich zur Modernisierung des (materiellen
und formellen) Jugendstrafrechts sowie des Jugendhilferechts beigetragen.5 Im Jahre
2015 haben zwei weitere Gesetze die jugendstraf- und jugendhilferechtlichen Be-
stimmungen nachhaltig reformiert und die Kinderrechte in der Jugendgerichtsbarkeit
gestärkt.6 Mit den vorerwähnten Reformgesetzen wurde aber nur eine Auswahl der
Reformgesetze angesprochen, die seit der Jahrtausendwende grundsätzlich zu einer
Milderung des Jugendstrafrechts und zu einer Stärkung der rechtlichen Stellung Ju-
gendlicher beigetragen haben. Anders als in Westeuropa und den USA geht die Ent-
wicklung in Griechenland nicht hin zu mehr Strafhärte für jugendliche Rechtsbre-
cher.7 Schließlich sind am 01. 07. 2019 das neue Strafgesetzbuch (Ratifizierung
durch das Gesetz Nr. 4619/2019) und die neue Strafprozessordnung (Ratifizierung
durch das Gesetz Nr. 4620/2019) Griechenlands in Kraft getreten.8 Die jugendstraf-
rechtlichen Bestimmungen haben auch wichtige Neuerungen und grundlegende Än-
derungen erfahren.
2. Harmonisierungsbemühungen
der jugendstrafrechtlichen Bestimmungen mit
den internationalen Menschenrechtsstandards
Die griechische Jugendstrafrechtsgesetzgebung befindet sich somit seit Anfang
des 21. Jahrhunderts – nach einem langjährigen legislativen Stillstand – in einem
Modernisierungs- sowie Anpassungsprozess: d. h. Anpassung an die veränderten ge-
sellschaftlichen Verhältnisse (Stichwörter: Europäische Integration, Zuwanderung
aus den Nachbarländern und griechischstämmiger Personen aus dem Gebiet der ehe-
4
Zu Interventionen und Feststellungen des Ombudsmanns für Kinder über die Anwendung
der Kinderrechte in Griechenland, Sonderbericht über die Anwendung der Internationalen
Kinderrechtskonvention in Griechenland 2012 – 2018, siehe www.synigoros.gr [25.06.20].
5
Dazu Pitsela 2012, 478 f.; Pitsela & Giagkou 2013, 1003 f., 1014 f.; siehe im Allgemei-
nen Billis 2013, 187 f., 203 f.
6
Gesetz Nr. 4322/2015 „Reform strafrechtlicher Bestimmungen, Abschaffung der Haft-
anstalten von Typ C und andere Vorschriften“, in Kraft seit dem 27. 04. 2015 und Gesetz
Nr. 4356/2015 „Pakt über das Zusammenleben, die Ausübung von Rechten sowie strafrecht-
liche und sonstige Regelungen“, in Kraft seit dem 24. 12. 2015.
7
Gesetzliche Verschärfungen im strafrechtlichen Umgang mit Jugendlichen sind z. B. in
Frankreich im Zeitraum von 2002 bis 2012 zu beobachten; dazu Décarpes 2015, 305 f.; siehe
auch Stump 2003, 88 f., 184 f.; siehe ferner Marek 2009, 635 f.
8
Siehe Bitzilekis, Kaiafa-Gbandi & Symeonidou-Kastanidou 2020, 253 f., 257 f., 262 f.
Die Entwicklung des Jugendstrafrechts in Griechenland 1015
9
Ratifizierung der KRK durch das Gesetz Nr. 2101/1992. Ferner hat Griechenland sowohl
das Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den
Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornographie (durch das Gesetz
Nr. 3625/2007) ratifiziert (in Kraft seit dem 24. 12. 2007) als auch das Fakultativprotokoll zum
Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kindern an be-
waffneten Konflikten (durch das Gesetz Nr. 3080/2002, in Kraft seit dem 10. 12. 2002). Das
Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend ein Mittei-
lungsverfahren (Resolution A/RES/66/138 der Generalversammlung der Vereinten Nationen
vom 19. Dezember 2011), in Kraft seit dem 14. April 2014, ist von Griechenland weder un-
terzeichnet noch ratifiziert worden.
10
Erst durch das Gesetz Nr. 2462/1997 ratifiziert. Der Internationale Pakt über bürgerliche
und politische Rechte enthält spezielle Garantien zugunsten der straffällig gewordenen Ju-
gendlichen, wie das Verbot der Verhängung der Todesstrafe in Art. 6 Abs. 5, die getrennte
Unterbringung von jugendlichen und erwachsenen Beschuldigten in Art. 10 Abs. 2b, die ge-
trennte Unterbringung von jugendlichen und erwachsenen Tätern sowie die altersgemäße
Behandlung in Art. 10 Abs. 3 Satz 2, die nichtöffentliche Verkündung des Urteils bei entge-
genstehenden Interessen des Jugendlichen in Art. 14 Abs. 1 und die Verfahrensgestaltung, die
auf das Alter und die Förderung der Wiedereingliederung der Jugendlichen Rücksicht nimmt
in Art. 14 Abs. 4 IPbürgR.
11
Siehe den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (durch
das Gesetz Nr. 1532/1985 ratifiziert); das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von
Diskriminierung der Frau (durch das Gesetz Nr. 1342/1983 und ihr Fakultativprotokoll durch
das Gesetz Nr. 2952/2001 ratifiziert); das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame,
unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (durch das Gesetz Nr. 782/1988
ratifiziert); das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und ihr
Fakultativprotokoll (durch das Gesetz Nr. 4074/2012 ratifiziert). Das Fakultativprotokoll zum
Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Be-
handlung oder Strafe (OPCAT: Optional Protocol to the UN Convention against Torture) ist
durch das Gesetz Nr. 4228/2014 ratifiziert worden, während die Aufgabe des Nationalen
Präventionsmechanismus gegen Folter und Misshandlung der griechische Ombudsmann
wahrnimmt; Das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor erzwungenem
Verschwindenlassen ist durch das Gesetz Nr. 4268/2014 ratifiziert worden. Griechenland hat
aber die Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Migranten und Mitglieder
ihrer Familien von 1990, die am 01. 07. 2003 in Kraft trat, noch nicht ratifiziert.
12
Exemplarisch dazu Höynck, Neubacher, Ernst & Zähringer 2020, 29 f., 363 f., 819 f.;
Neubacher 2009, 275 f.; Pitsela 2009, 645 f.; Jung 1998, 1047 f.
1016 Angelika Pitsela
mente des Europarates wie die Europäische Konvention über die Ausübung von Kin-
derrechten20 sowie folgende Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates
explizit Beachtung: die Empfehlung Nr. R (87) 20 über die gesellschaftlichen Reak-
tionen auf Jugendkriminalität, die Empfehlung Rec (2000) 20 über die Rolle des
frühzeitigen psychosozialen Einschreitens zur Verhütung kriminellen Verhaltens,
aber auch die Empfehlung Rec (2003) 20 über „Neue Wege im Umgang mit Jugend-
delinquenz und die Rolle der Jugendgerichtsbarkeit“21.
Die Bemühungen zur Harmonisierung der griechischen jugendstrafrechtlichen
Vorschriften mit den Bestimmungen der Kinderrechtskonvention, insbesondere
mit den Empfehlungen des Ausschusses für die Rechte der Kinder in den „Abschlie-
ßenden Bemerkungen“ (Concluding Observations 2002, 2012)22, sowie mit den
Empfehlungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und un-
menschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT)23 spiegeln sich in
mehreren Reformgesetzen wider. Die Empfehlungen beider Ausschüsse werden
sehr ernst genommen und erfahren zunehmende Akzeptanz.
Auf der Ebene der Europäischen Union werden im Zusammenhang mit den ju-
gendstrafrechtlichen Menschenrechtsstandards – abgesehen von der EU-Grundrech-
techarta – drei Dokumente erwähnt: die Mitteilung der Kommission im Hinblick auf
eine EU-Kinderrechtsstrategie (2006), die Stellungnahme des Europäischen Wirt-
schafts- und Sozialausschusses zum Thema „Verhütung von Jugendkriminalität,
Wege zu ihrer Bekämpfung und Bedeutung der Jugendgerichtsbarkeit in der Euro-
päischen Union“ (2006) sowie der „Bericht über Jugenddelinquenz: die Rolle der
Frau, der Familie und der Gesellschaft“ vom Ausschuss des Europäischen Parla-
ments für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter (2007)24.
Die EU-Richtlinie 2016/800 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
11. Mai 2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige
oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind (ABl. L 132 vom 21. 05. 2016,
20
Ratifizierung durch das Gesetz Nr. 2501/1997.
21
Zumindest explizit fanden keine Beachtung die Empfehlung CM/Rec (2008) 11 über die
Europäischen Grundsätze für die von Sanktionen und Maßnahmen betroffenen jugendlichen
Straftäter sowie die Leitlinien für eine kindergerechte Justiz (Guidelines on child-friendly
Justice); exemplarisch dazu Dünkel, Baechtold & van Zyl Smit 2009, 297 f.
22
Siehe CRC/C/GRC/2 – 3, paras. 68 und 69 (2012) und CRC/C/15/Add. 170, para. 79
(2002).
23
Exemplarisch dazu Kaiser 1994, 66 f.; Nowak 1988, 537 f. Das CPT hat bis heute sieben
periodische und neun ad hoc Besuche in griechischen Hafteinrichtungen im Zuständigkeits-
bereich des Justizministeriums abgestattet. Zusätzlich hat das CPT eine öffentliche Stellung-
nahme (Public Statement) am 15. 03. 2011 abgegeben, die schärfste Maßnahme, über welche
diese Institution gegenüber einer Vertragspartei verfügt (siehe Art. 10 Abs. 2 des Europäi-
schen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender
Behandlung oder Strafe). Der Strafvollzug liegt seit Juli 2019 im Zuständigkeitsbereich des
Ministeriums für Bürgerschutz (vorher: Ministerium für öffentliche Ordnung und Bürger-
schutz).
24
Siehe Geng 2014, 27.
1018 Angelika Pitsela
S. 1), befasst sich u. a. mit der Ausweitung des Rechts auf Zugang zu einem Vertei-
diger (Art. 6), des Rechts auf individuelle Begutachtung (Art. 7) und dem Ausbau des
Anwendungsbereichs der audiovisuellen Aufzeichnung von Beschuldigtenverneh-
mungen (Art. 9)25. Übergeordnetes Ziel der Richtlinie ist die Stärkung des gegensei-
tigen Vertrauens für ein gemeinsames Verständnis von Rechtstaatlichkeit durch Min-
deststandards.26 Deshalb verdient besondere Aufmerksamkeit, dass diese gemeinsa-
men Mindeststandards innerhalb der Europäischen Union Anwendung finden. Grie-
chenland hat die EU-Richtlinie 2016/800 durch das Gesetz Nr. 4689/2020 in der
nationalen Gesetzgebung umgesetzt.
25
Ausführlich dazu Bock & Puschke 2019, 224 f.
26
Dazu Drenkhahn 2015, 288 f. (292).
27
Bereits in den 1970er Jahren war die unbestimmte Jugendstrafe in den skandinavischen
Ländern (z. B. in Dänemark im Jahre 1973, Norwegen im Jahre 1975 und Schweden im Jahre
1979), in Schottland sowie England und Wales, aber auch in anderen Ländern Europas
(nämlich im Jahre 1988 in Österreich und im Jahre 1990 Deutschland) abgeschafft worden, die
eine Vorbildfunktion für die griechische Strafgesetzgebung hatten.
28
Ausführlich hierzu Panagos 2017, 1685 f., 1694 f.; Pitsela 2014, 359 f.; Artinopoulou
2013, 101 f.; Pitsela 2011, 623 f., 664 f.; Artinopoulou 2009, 237 f.
29
Dazu Lambropoulou 2010, 905 f.; Giovanoglou 2015, 331 f.; Giovanoglou & Parosanu
2015, 81 f.
Die Entwicklung des Jugendstrafrechts in Griechenland 1019
Rechte der Kinder in der Jugendgerichtsbarkeit und die Abschaffung der Strafregis-
tereintragung der Gerichtsurteile mit Erziehungsmaßnahmen. Somit beschränkt sich
in Griechenland die Registereintragung auf die Jugendstrafe. Ein Erziehungsregister
gibt es nicht.
Die jugendstrafrechtlichen Bestimmungen im achten Abschnitt des Allgemeinen
Teils des grStGB waren auch Gegenstand der Reformbemühungen, die deren Moder-
nisierung durch die Verabschiedung der neuen Strafgesetzgebung im Jahr 2019 her-
beigeführt haben. Die wichtigsten Änderungen im jugendstrafrechtlichen Bereich
lassen sich wie folgt zusammenfassen: Der Begriff des Minderjährigen und der
des jungen Erwachsenen sind neu bestimmt worden. Als Minderjährige gelten nun-
mehr Personen, die zur Zeit der Tatbegehung 12 Jahre, aber noch nicht 18 Jahre alt
sind (Art. 121 Abs. 1 grStGB). Zuvor lag die Grenze gemäß dem grStGB von 1950
bei 7 Jahren und beim ersten Reformgesetz von 2003 bei 8 Jahren. Minderjährige im
Alter von 12 bis unter 15 Jahren sind per Gesetzesdefinition zwar nicht strafrechtlich
verantwortlich (Art. 126 Abs. 1 grStGB), doch unterliegen sie trotz ihrer Strafun-
mündigkeit ab dem vollendeten 12. Lebensjahr der Strafverfolgung. Ferner müssen
sie vor einem Jugendgericht erscheinen, das nach Art. 1 des grStPO ein Strafgericht
ist, und die Erziehungs- oder Heilmaßnahmen werden auf sie angewendet. Da die 12-
bis unter 15-Jährigen nicht strafbar sind, können sie nicht zur Jugendstrafe verurteilt
werden. Ab 15 Jahren werden Jugendliche strafrechtlich zur Verantwortung gezogen.
Kinder unter 12 Jahren können strafrechtlich nicht verfolgt werden. Sie kommen
weder vor ein Jugendgericht, noch dürfen ihnen gegenüber Erziehungs- oder Heil-
maßnahmen angeordnet werden.
Die im Gesetz vorgesehenen ambulanten Erziehungsmaßnahmen (Art. 122
grStGB) sind nach ihrer Schwere eingestuft und haben Vorrang: Dabei handelt es
sich um den Verweis/Verwarnung, die Unterstellung des Minderjährigen unter die
Erziehungsverantwortung der Eltern oder des Vormunds, die Unterstellung des Min-
derjährigen unter die Erziehungsverantwortung einer Pflegefamilie, die Unterstel-
lung des Minderjährigen unter die Fürsorge von Jugendschutzvereinigungen, Ju-
gendeinrichtungen oder Jugendgerichtshelfern, die Vermittlung zwischen dem min-
derjährigen Täter und dem Opfer, um sich beim Opfer zu entschuldigen, und im All-
gemeinen um die außergerichtliche Regelung der Tatfolgen, die Entschädigung des
Opfers oder die sonstige Beseitigung oder Minderung der Tatfolgen, die Teilnahme
an sozialen und psychologischen Programmen von staatlichen, städtischen, kommu-
nalen oder privaten Trägern, den Besuch von Berufsschulen oder anderen Ausbil-
dungs- oder Berufsausbildungseinrichtungen und die Teilnahme an speziellen Ver-
kehrserziehungsprogrammen. Nachrangig sind demgegenüber die Leistung gemein-
nütziger Arbeit, die Unterstellung des Minderjährigen unter die Fürsorge und Auf-
sicht von Jugendschutzvereinigungen oder Jugendgerichtshelfern und die
Unterbringung des Minderjährigen in einem geeigneten staatlichen, städtischen,
kommunalen oder privaten Erziehungsheim. Die Anordnung der Unterbringung in
einem Erziehungsheim, die einzig vorgesehene stationäre Erziehungsmaßnahme,
kommt nur dann vor, wenn alle anderen milderen Maßnahmen bereits gescheitert
Die Entwicklung des Jugendstrafrechts in Griechenland 1021
sind, um den Minderjährigen von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten (Ul-
tima-ratio-Stellung der Heimunterbringung). Sowohl das Subsidiaritäts- als auch das
Proportionalitätsprinzip werden explizit anerkannt.
33
Ausführlich hierzu Bitzilekis, Kaiafa-Gbandi & Symeonidou-Kastanidou 2020, 259 f.
(Fn. 8).
34
Im Allgemeinen darf der Freiheitsentzug bei einem Menschen unter 18 Jahren nur „als
letztes Mittel und nur für die kürzeste angemessene Zeit“ eingesetzt werden (siehe Art. 37b
der Kinderrechtskonvention, Mindestgrundregeln der Vereinten Nationen über die Jugendge-
richtsbarkeit, Nr. 13, 19.1) und nur auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben (siehe Regeln der
Vereinten Nationen zum Schutz von Jugendlichen im Freiheitsentzug, Nr. 1 und 2).
35
Über das jugendstrafrechtliche Sanktionensystem siehe Pitsela 2016, 581 f., 589 f.; im
Allgemeinen siehe Pitsela & Chatzispyrou 2017, 174 f., 190 f.; über den Hausarrest mit
elektronischer Überwachung siehe Pitsela 2017, 363 f.; für einen Einblick in die gemeinde-
bezogenen Sanktionen und Maßnahmen siehe Tsitsoura 2002, 271 f.; Courakis 1994, 257 ff.
36
Dazu Pitsela & Sagel-Grande 2004, 208 f.
1022 Angelika Pitsela
det hatte,37 zur Jugendstrafe, wenn die Tat ein Verbrechen war und Gewaltelemente
enthielt, sich gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit richtete oder be-
rufsmäßig oder fortgesetzt begangen wurde.38 Demnach war die Verhängung einer
Jugendstrafe bei der Aburteilung eines Vergehens ausgeschlossen. Ferner musste
sich aus der speziellen und umfassenden Begründung des Gerichtsurteils ergeben,
warum die Erziehungs- oder Heilmaßnahmen unter Berücksichtigung der besonde-
ren Tatumstände und der Persönlichkeit des Täters in dem vorliegenden Fall nicht
ausreichten (Art. 127 Abs. 1 grStGB). Selbst bei diesen Verbrechen hatten die Erzie-
hungs- oder Heilmaßnahmen Vorrang bzw. stellten die „normale“ Reaktion dar. Nur
wenn die Erziehungs- oder die Heilmaßnahmen nicht ausreichten und die Verhän-
gung der Jugendstrafe als notwendig erachtet wurde, verhängte das Gericht diese
Strafe.
Gemäß den Neuregelungen aus dem Jahr 2015 wurde die Jugendstrafe gegenüber
Personen verhängt, die das 15. Lebensjahr vollendet hatten, wenn ihre Tat bei einem
Erwachsenen ein Verbrechen wäre, das mit lebenslanger Freiheitsstrafe sanktioniert
werden kann. Es handelte sich dabei um schwere Verbrechen, die in der Praxis relativ
selten vorkommen und kaum von Jugendlichen begangen werden (z. B. vorsätzliche
Tötung in Art. 299 Abs. 1 grStGB, Raub mit Todesfolge in Art. 380 Abs. 2 grStGB
und Brandstiftung mit Todesfolge einer großen Anzahl von Menschen in Art. 264
Abs. 1 grStGB). Die Jugendstrafe konnte ferner bei Vergewaltigungstaten
(Art. 336 grStGB) eines 15 bis 18-Jährigen verhängt werden, wenn das Opfer jünger
als 15 Jahre alt war. Die Jugendstrafe konnte schließlich gegenüber einem Jugend-
lichen ab 15 Jahren verhängt werden, wenn er während der zuvor verhängten Unter-
bringung in einem Erziehungsheim eine Straftat beging, die bei einem Erwachsenen
ein Verbrechen gewesen wäre. Beging ein 15- bis 18-Jähriger eine Straftat, die bei
einem Erwachsenen ein Verbrechen gewesen wäre, konnte ihm die Einweisung in
ein Erziehungsheim angedroht werden.
Die Anordnungsvoraussetzungen der Jugendstrafe haben sich im neuen grStGB
von 2019 wieder geändert. Seither darf die Jugendstrafe gegenüber Jugendlichen, die
das 15. Lebensjahr vollendet haben, verhängt werden, wenn die Tat ein Verbrechen39
37
Für einen Vergleich der Altersgrenzen strafrechtlicher Verantwortlichkeit siehe Dünkel
2015, 527 f., 536 f. Das Strafmündigkeitsalter liegt in Dänemark, Finnland und Schweden bei
15 Jahren, siehe Nemitz 2002, 137 f., 140; Cornils 2002, 27 f., 29; Haverkamp 2002, 337 f.,
339. Siehe auch Dünkel 1999, 291 f.
38
Diese Bestimmung ist stark von Nr. 17.1c der Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen
für die Jugendgerichtsbarkeit beeinflusst.
39
Das neue grStGB hat die Dichotomie der Straftaten in Verbrechen und Vergehen ein-
geführt, welche im Wesentlichen der Zweiteilung der Freiheitsstrafen in Zuchthaus (zeitig,
lebenslang) und Gefängnis (10 Tage bis 5 Jahre) entspricht. Verbrechen sind rechtswidrige
Taten, die im Mindestmaß mit einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren oder darüber bedroht sind.
Vergehen sind rechtswidrige Taten, die mit einer Freiheitsstrafe von 10 Tagen bis 5 Jahre oder
mit Jugendstrafe oder mit Geldstrafe oder mit der Leistung gemeinnütziger Arbeit bedroht
sind (Art. 18 StGB). Abweichend von der Zweiteilung der Straftaten nach den allgemeinen
Bestimmungen in Verbrechen und Vergehen ist jede Tat, die mit der Jugendstrafe – unab-
Die Entwicklung des Jugendstrafrechts in Griechenland 1023
ist und Gewaltelemente enthält oder sich gegen das Leben oder die körperliche Un-
versehrtheit richtet (Art. 127 Abs. 1 grStGB).
Der Strafrahmen der Jugendstrafe wurde im Jahre 2003 (Gesetz Nr. 3189/2003)
nicht reformiert. Die Dauer der Jugendstrafe betrug damals mindestens fünf und
höchstens zwanzig Jahre, wenn die begangene Tat im allgemeinen Strafrecht mit
einer Freiheitsstrafe von über zehn Jahren bedroht war. In jedem anderen Fall betrug
sie mindestens sechs Monate und höchstens zehn Jahre. Diese Regelung stammte aus
dem grStGB von 1950 und wurde erst im Jahre 2010 geändert. Erstmals wurde durch
die Reform von 2003 aber festgelegt, dass die Dauer der Unterbringung in einer Ju-
gendstrafanstalt im Gerichtsurteil genau bestimmt werden muss (Art. 127 Abs. 2
grStGB). Seit 2003 gibt es nur noch die bestimmte Jugendstrafe, deren Dauer wie
im allgemeinen Strafrecht vom Gericht durch das Strafurteil festgesetzt wird.
Nach der Reform von 2010 (Gesetz Nr. 3860/2010) betrug das Mindestmaß der
Jugendstrafe sechs Monate und ihr Höchstmaß fünf Jahre, wenn die begangene
Tat im allgemeinen Strafrecht mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren be-
droht war. Wenn die begangene Tat im allgemeinen Strafrecht mit einer Freiheitsstra-
fe von über zehn Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht war, durfte die
Dauer der Unterbringung in einer Jugendstrafanstalt weder zwei Jahre unterschreiten
noch zehn Jahre übersteigen und bei besonders schweren Straftaten konnte in Aus-
nahmefällen eine Jugendstrafe von bis zu fünfzehn Jahren verhängt werden. Somit
blieb die Mindestdauer der Jugendstrafe sechs Monate, während das Höchstmaß
der Jugendstrafe von zwanzig Jahren auf zehn Jahre bzw. in Ausnahmefällen auf
fünfzehn Jahre reduziert wurde.40
Die Dauer der Jugendstrafe betrug nach den Bestimmungen des Gesetzes
Nr. 4322/2015 mindestens zwei und höchstens zehn Jahre, wenn für die begangene
Tat Freiheitsstrafe von mehr als zehn Jahren oder lebenslange Freiheitsstrafe vorge-
sehen war; in jedem anderen Fall reichte die Dauer von mindestens sechs Monaten
bis höchstens fünf Jahre (Art. 54 a.F. grStGB). Somit betrug das Mindestmaß der Ju-
gendstrafe sechs Monate und das Höchstmaß fünf Jahre (wie bei der Reform von
2010: sechs Monate bis fünf Jahre, davor 1951 – 2003 sechs Monate bis zehn
Jahre), wenn die begangene Tat nach dem allgemeinen Strafrecht mit einer Freiheits-
strafe von bis zu zehn Jahren bedroht war. Ferner durfte die Dauer der Jugendstrafe
hängig von ihrer Dauer – bestraft wird, ein Vergehen. Demnach wird auch die schwerwie-
gendste von Jugendlichen begangene strafbare Handlung per Gesetzesdefinition als Vergehen
bezeichnet, da die Jugendstrafe die einzige Strafe ist, die ihnen auferlegt werden kann. Somit
erfolgt die rechtliche Einordnung der Tat eines Jugendlichen nicht wie im allgemeinen
Strafrecht. Die Jugendstrafe, die eingriffsintensivste Sanktion des Jugendstrafrechts, darf als
Reaktion auf Verbrechen im Sinne des allgemeinen Strafrechts verhängt werden (Art. 127
Abs. 1 grStGB). Das Alter des Täters beeinflusst somit die rechtliche Natur der begangenen
Straftat. Strafbare Handlungen verlieren ihren Charakter als Verbrechen, wenn sie von Ju-
gendlichen begangen werden. Die Tat behält ihren rechtlichen Charakter als Vergehen, auch
wenn der Jugendliche nach der Vollendung des 18. Lebensjahrs abgeurteilt wird.
40
Dazu Pitsela 2012, 484 f. (Fn. 5).
1024 Angelika Pitsela
weder zwei Jahre unterschreiten noch zehn Jahre übersteigen (bei der Reform von
2010: 2 – 10 bzw. 15 Jahre, davor 1951 – 2003: 5 – 20 Jahre), wenn die begangene
Tat nach dem allgemeinen Strafrecht mit einer Freiheitsstrafe von über zehn Jahren
oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht war. Die Möglichkeit, in Ausnahmefäl-
len eine Freiheitsstrafe von bis zu fünfzehn Jahren zu verhängen, war also entfallen.
Das Höchstmaß der Jugendstrafe hat sich also zwischen 2010 und 2015 halbiert.
Nach der geltenden Rechtsbestimmung (Art. 54 grStGB) beträgt die Dauer der
Jugendstrafe mindestens sechs Monate und höchstens fünf Jahre, wenn die begange-
ne Tat mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren bedroht ist. Wenn die began-
gene Tat mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit einer Freiheitsstrafe von über zehn
Jahren bedroht ist, kann die Dauer der Unterbringung in einer Jugendstrafanstalt
weder zwei Jahre unterschreiten noch acht Jahre übersteigen. Somit beträgt die
Dauer der Jugendstrafe mindestens sechs Monate (unverändert seit 1951) und höchs-
tens acht Jahre.
Die Jugendgerichte sind grundsätzlich zurückhaltend bei der Verhängung frei-
heitsentziehender Sanktionen. In der jugendgerichtlichen Sanktionenpraxis domi-
nierten bis zum Jahre 2010 – nicht zuletzt wegen der begrenzten Kapazitäten und
der desolaten Verhältnisse im Erziehungswesen und im Strafvollzug41 – die ambulan-
ten Erziehungsmaßnahmen.42 Die Entwicklung der Dauer der Jugendstrafe ist durch
mildere Strafen infolge der Herabsetzung der oberen Grenze des Strafrahmens ge-
kennzeichnet, obwohl das Höchst- und Mindestmaß der Jugendstrafe in Griechen-
land im Vergleich zu anderen Ländern (z. B. Niederlande, Schweiz) ziemlich hoch
ist.
5. Junge Erwachsene
Eine Einbeziehung der jungen Erwachsenen (18- bis unter 25-Jährige) in das Ju-
gendstrafrecht43 hat durch die Reformen des Jugendstrafrechts von 2010 und 2015
bedauerlicherweise nicht stattgefunden. Junge Erwachsene werden in der Regel
nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt. Das Jungerwachsenensein des Täters kann
dann bei der Strafzumessung allenfalls mildernd berücksichtigt werden.44 Wenn Mil-
derungsgründe vorliegen, verbüßen junge volljährige Straftäter ihre Freiheitsstrafe
im Jugendstrafvollzug (Art. 133 grStGB, 12 grStVollzGB), der im Hinblick auf
41
Siehe Pitsela 2010a, 409 ff., 372 f.; Papadopoulou, Moisiadis & Pitsela 2010, 683 ff.
Vgl. Lambropoulou 2001, 33 f.
42
Es ist das letzte Jahr, für das Daten des griechischen Statistischen Amtes über die Ge-
richtsstatistik elektronisch zur Verfügung stehen: www.statistics.gr [25.06.20]; zu den Ver-
besserungsmöglichkeiten der griechischen Kriminalstatistiken siehe Spinellis & Kranidioti
1995, 67 f.
43
Über die internationalen Entwicklungen beim kriminalrechtlichen Umgang mit Heran-
wachsenden siehe Neubacher 2017, 121 f.; Sagel-Grande 2017, 1713 f.
44
Vgl. Persson 2015, 378 f.
Die Entwicklung des Jugendstrafrechts in Griechenland 1025
45
Das Ministerkomitee des Europarates erwägt in der Präambel, dass das Alter der ge-
setzlichen Volljährigkeit nicht unbedingt mit dem Alter der Reife übereinstimmt und dass bei
jungen erwachsenen Straftätern bestimmte Reaktionen erforderlich sein können, die mit denen
für jugendliche Straftäter vergleichbar sind. Deshalb empfiehlt es den Regierungen der Mit-
gliedstaaten sich bei der Gesetzgebung und in ihrer Politik und Praxis von den in dieser
Empfehlung enthaltenen Grundsätzen und Maßnahmen leiten zu lassen, wie etwa um der
Verlängerung der Übergangszeit zum Erwachsenenalter Rechnung tragen zu können, junge
Erwachsene unter 21 Jahren wie Jugendliche zu behandeln sowie die gleichen Maßnahmen
auf sie anzuwenden, wenn der Richter der Meinung ist, dass sie noch nicht so reif und ver-
antwortlich für ihre Taten sind, wie es von Erwachsenen zu erwarten ist.
46
Siehe De la Cuesta & Blanco Cordero 2015, 406 f.
1026 Angelika Pitsela
6. Ausblick
Einflüsse auf das griechische Jugendstrafrecht ergeben sich aus völkerrechtlichen
Verpflichtungen, insbesondere aus der Kinderrechtskonvention. Diese Konvention,
aber auch andere internationale Menschenrechtsstandards zur Jugendgerichtsbarkeit
dienen oft als ein willkommener Anlass für notwendige Reformen im Bereich des
Jugendstrafrechts. Dazu gehören die Einführung der strafrechtlichen Verantwortlich-
keit mit der Vollendung des 18. Lebensjahres, die Anhebung des Strafmündigkeits-
alters auf das vollendete 15. Lebensjahr,47 die Einführung der staatsanwaltlichen Di-
version, die Bereicherung des Katalogs der ambulanten Erziehungsmaßnahmen, die
Einführung der ambulanten therapeutischen Behandlung, die Abschaffung der zeit-
lich unbestimmten Sanktionen, die Absenkung der Strafrahmen der Jugendstrafe, die
Stärkung der Rechtsstellung jugendlicher Täter (etwa das Recht des Kindes auf An-
hörung beim Absehen von der Verfolgung und bei der Gewährung der bedingten Ent-
lassung, das Recht auf Berufung bei allen Rechtsfolgen des Jugendstrafrechts, das
Recht auf Bestellung eines Pflichtverteidigers oder die Abschaffung der Strafregis-
tereintragung der Gerichtsurteile mit Erziehungsmaßnahmen).
Die Arbeiten an dem Gesetzentwurf über Jugendhilfeeinrichtungen für junge
Menschen, der Diagnose- und Therapiezentren, offene und halboffene Begegnungs-
stätten sowie halboffene Einrichtungen für die soziale Wiedereingliederung vorsieht,
sind bereits abgeschlossen. Der Gesetzentwurf bezieht sich auf gefährdete, drogen-
abhängige und delinquente Jugendliche sowie auf Jugendliche mit psychischen Pro-
blemen. Angesichts der erforderlichen personellen und sachlichen (organisatori-
schen, technologischen, finanziellen) Ressourcen, die für die Umsetzung der Rechts-
normen in der Praxis bereitgestellt werden müssten, ist es jedoch eher unwahrschein-
lich, dass der Gesetzesentwurf – auch wenn er in naher Zukunft als Gesetz in Kraft
treten sollte – tatsächlich umgesetzt werden kann.
Ferner werden die Gesetzesbestimmungen zum Aufgabenbereich der Jugendge-
richtshilfe überarbeitet. Eine besondere Herausforderung stellt die Betreuung und
47
Siehe Nikolaou 2017, 1661 f., 1670 f.
Die Entwicklung des Jugendstrafrechts in Griechenland 1027
48
Der (ehemalige) Justizminister setzte sich für eine drastische Einschränkung des An-
wendungsbereichs der Jugendstrafe ein. Die Jugendstrafe sollte fast nur noch für die vor-
sätzliche Tötung vorgesehen sein. Da Jugendliche dieses Verbrechen äußerst selten begehen,
wird mit einer Abschaffung der Jugendgefängnisse gerechnet. Siehe Pitsela 2015, 202 f. (210).
1028 Angelika Pitsela
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Jugend als Strafschärfungsgrund?
Zur Rechtswirklichkeit der jugendstrafrechtlichen Sanktionspraxis
„Einigkeit besteht sicher darin, dass nur das präventiv Nützliche gewollt ist und dass Straf-
recht und Freiheitsentziehung selbstverständlich Ausdruck einer ultima ratio staatlichen
Handelns seien, bewährte Aussagen .., die nicht einmal mehr im Ansatz verdecken können,
dass darunter völlig unterschiedliche Praktiken nicht nur verstanden, sondern auch imple-
mentiert werden können“ (H.-J. Albrecht, Gutachten D zum 64. Dt. Juristentag 2002, 1.1)
1
Zur kriminalpolitischen Gesamtkonzeption der Strafrechtsreform s. die BGH-Entschei-
dung 1 StR 353/70 (BGHSt 24, 40, hier: 42 f.), nach der „die Strafe nicht die Aufgabe hat,
Schuldausgleich um ihrer selbst willen zu üben, sondern nur gerechtfertigt ist, wenn sie sich
zugleich als notwendiges Mittel zur Erfüllung der präventiven Schutzaufgabe des Strafrechts
erweist. … Grundsätzlich geht deshalb die Geldstrafe der Freiheitsstrafe, die Aussetzung dem
Vollzug vor, soweit dies der Rechtsgüterschutz im Hinblick auf die zu erwartende kriminal-
politische Wirksamkeit zulässt“.
1036 Gerhard Spiess
2
Berechnung nach Strafverfolgungsstatistik 2018, Tab. 3.1, 4.1, 6.2.
3
Ausgewertet werden, jew. zuletzt für 2018, Daten der StA-Statistik (Fachserie 10 Reihe
2.6: Staatsanwaltschaften) und der der (unveröff.) Statistik Einzelsachgebiete Beschuldigte;
Justizgeschäftsstatistik Strafsachen (FS 10 Reihe 2.3: Strafgerichte) und StV-Statistik (FS 10
Reihe 3: Strafverfolgung) des Statistischen Bundesamtes Wiesbaden www.destatis.de.
Jugend als Strafschärfungsgrund? 1037
4
Verfahren, die von der StA entweder durch Diversion (§§ 45 JGG; 153, 153a StPO),
durch Strafbefehlsantrag oder Anklage abgeschlossen wurden.
5
Eine umfassende Darstellung der Befundlage findet sich inzwischen in dem Gutachten
Heinz 2020.
1038 Gerhard Spiess
6
Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes (1. JGGÄndG)
vom 27. 11. 1989 (BT-Drs. 11/5829), A. Zielsetzung, S. 1 (Hervorhebungen hinzugefügt).
7
Als Bagatelldelikte wurden zusammengefasst die Schlüsselzahlen der PKS 2018, Tab. 20
(www.bka.de): SZ 2240 Vorsätzl. einfache Körperverletzung § 223 StGB; SZ 2250 Fahrl.
Körperverletzung § 229 StGB; SZ 326* Einf. Ladendiebstahl; SZ 5150 Erschleichen von
Leistungen § 265a StGB; SZ 6730 Beleidigung §§ 185 – 187, 189 StGB; SZ 67400 Sachbe-
schädigung §§ 303 – 305a StGB, jedoch ohne gemeinschädliche Sachbeschädigung SZ
674020; SZ 7250 Straftaten gg. d. Aufenthalts-, Asyl-, Freizügigkeitsgesetz/EU.
Jugend als Strafschärfungsgrund? 1039
Schaubild 1: Anklage- und Einstellungspraxis der StA nach allg. Vorschriften und nach JGG8
8
Berechnung nach Daten der (unveröffentl.) StA-Statistik Einzelsachgebiete Beschuldigte
2018; % bezogen auf die durch Anklage (einschl. Antrag auf vereinfachtes Jugendverfahren),
Strafbefehlsantrag oder staatsanwaltliche Diversion (§§ 45 JGG; 153, 153a StPO) abge-
schlossenen Verfahren.
9
Beispiele bei Spiess 2012b m.w.N.; zur rechtlichen Bewertung („Maßnahmenexzesse“)
Heinz 2020, 847 ff.
1040 Gerhard Spiess
10
Nach Daten der Tab. 6.2 der StV-Statistik 2018; bedingte Jugendstrafen ohne solche i.V.
mit § 16a JGG.
Jugend als Strafschärfungsgrund? 1041
Im Ergebnis wird gegen Heranwachsende – nicht trotz, sondern wegen der An-
wendung von Jugendstrafrecht – häufiger als gegen Erwachsene unbedingte Frei-
heitsstrafe (Jugendstrafe) verhängt; zusammen mit Jugendarrest wird jeder 7. Her-
anwachsende und jeder 5. Jugendliche freiheitsentziehend sanktioniert; von den
(durchschnittlich erheblich höher vorbelasteten!) Erwachsenen nur jeder 20.
Die 2012 neu eingeführte Möglichkeit der Verhängung eines sog. Einstiegs- oder
Warnschussarrests (§ 16a JGG) in Verbindung mit einer zur Bewährung ausgesetzten
Jugendstrafe ist als „Kriminalpolitik wider besseres Wissen“12 in der Fachwelt über-
wiegend ablehnend aufgenommen worden.13 Einstiegsarrest neben bedingter Ju-
gendstrafe „darf nur verhängt werden, um die Aussichten für eine erfolgreiche Be-
wältigung der Bewährungszeit und damit die Vermeidung künftiger Straftaten zu
verbessern“ (Brunner & Dölling 2017, § 16a Rn 2). Dagegen ergab die durch das
Bundesjustizministerium beauftragte Evaluation des § 16a im Querschnittsvergleich
der regional extrem unterschiedlichen Praxis, dass § 16a JGG tatsächlich nicht zur
häufigeren Strafaussetzung von Jugendstrafen, sondern als zusätzliches Strafübel ge-
nutzt wird (Klatt et al. 2016, 209 f.). Dies zeigen auch die Daten der Strafverfol-
gungsstatistik seit Einführung des § 16a (Schaubild 3): Der zunehmende Einsatz
von § 16a-Arresten führte nicht etwa zu einer höheren Aussetzungsrate, vielmehr
scheint er in der Praxis dazu genutzt zu werden, den Arrest zusätzlich mit einer an-
11
Prozent bezogen auf Verurteilte der jew. Gruppe; Straftaten insgesamt; Daten der
Strafverfolgungsstatistik 2018.
12
So Verrel & Käufl 2008; zu den ernüchternden internationalen Befunden zu vergleich-
baren Praktiken („shock probation“, „short sharp shock“, „scared straight“ u. a.) siehe schon
Albrecht et al. 1981, 321 f.; Heinz 2006, 91 f., 96 m.w.N.
13
So auch das ablehnende Votum der strafrechtlichen Abteilung des 64. Deutschen Ju-
ristentages (München 2002, Bd. II/1, N 109 ff.; www.djt.de).
1042 Gerhard Spiess
Schaubild 3: Jugendstrafe und Jugendarrest nach Einführung des § 16a JGG („Einstiegsarrest“)14
Dass der Verlauf durch Jugendarrest tatsächlich überwiegend alles andere als
günstig beeinflusst wird, war schon anhand der notorisch schlechten Legalbewäh-
rung in allen bisherigen Jahrgängen der Rückfallstatistik zu erwarten.15 „Eine spe-
zialpräventive Überlegenheit von Jugendarrest gegenüber formellen ambulanten
Sanktionen konnte bisher empirisch nicht bestätigt werden. In sämtlichen Legalbe-
währungsstudien war die Rückfallrate nach Jugendarrest höher als nach formellen
ambulanten Sanktionen, selbst bei der nach Auffassung der Richter wegen schädli-
cher Neigungen stärker rückfallgefährdeten Gruppe, deren Jugendstrafe zur Bewäh-
rung ausgesetzt worden war“ (Heinz 2020, 2250 f.).16
14
Prozent bezogen auf die Zahl der im jew. Jahr zu Jugendstrafe oder Jugendarrest Ver-
urteilten.
15
Die Raten erneuter Registrierung innerhalb von 3 Jahren nach Tab. B 2.2.3.a in Jehle et
al. 2016, 299 waren beim Jugendarrest mit 64 % höher als nach bedingten (61 %) und ebenso
so hoch wie nach unbedingten Jugendstrafen (64 %); bei den nach JGG informell oder formell
Sanktionierten insgesamt 41 %; nach Erziehungsmaßregeln und ambulanten Zuchtmitteln
52 %.
16
Auch die o.g. Evaluation der § 16a-Praxis (Klatt et al. 2016 mit allerdings noch kurzen
Untersuchungszeitraum) konnte keinen Beleg für eine signifikante Verbesserung der Rück-
fallraten finden; „Wie man das bewerten möchte, ist vor allem eine rechtspolitische Frage.
Wollte man radikal verfassungsrechtlich-rechtsstaatlich argumentieren, läge die Forderung
nach Abschaffung der mit § 16a JGG neu eingeführten Sanktion nahe. Ein mehr an Frei-
heitsentzug bedarf starker Gründe, die die bisher verfügbaren Daten nicht liefern“ (S. 217).
Jugend als Strafschärfungsgrund? 1043
17
Ostendorf 2015, 32 f. m.w.N.
18
Schaffstein 1939, 129. Zutreffend nennt Schumann (2017, 328) bei den unbestreitbaren
„Kontinuitäten zur NS-Zeit“ neben der Jugendstrafe wegen „schädlicher Neigungen“ § 17
Abs. 2 JGG auch die Rechtsmittelbeschneidung in § 55 JGG und die Verweigerung des Rechts
auf notwendige Verteidigung bei Verhängung von Jugendarrest; letztere in eklatantem Wi-
derspruch zu Art. 40 Abs. 2 b (v) UN-Kinderrechtskonvention und Art. 6 EU-Richtlinie 2016/
800 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren gegen Minderjährige (dokumentiert in Höynck
et al. 2020, 89 – 116; 859 – 874).
1044 Gerhard Spiess
hin, diese Einordnung wird – was die spezialpräventive Wirkung betrifft19 – durch die
erschreckend hohen Rückfallraten nach Jugendarrest eindrucksvoll bestätigt.
Fazit (2): Nicht die Anwendung des JGG begünstigt die Heranwachsenden, allen-
falls die Nicht-mehr-Anwendbarkeit des JGG (und damit des Jugendarrests) nach
Vollendung des 21. Lebensjahres.
Die Erweiterung der Palette ambulanter Auflagen und Weisungen im JGG war, so
die Intention des JGGÄndG 1990, dazu bestimmt, stationäre Sanktionen zu ersetzen
durch pädagogisch sinnvolle Maßnahmen, die geeignet sind, Lernprozesse und Ver-
antwortungsübernahme zu fördern. Dieses begrüßenswerte Ziel ist in der Entwick-
lung der jugendstrafrechtlichen Sanktionspraxis überwiegend unterlaufen worden:
Unverändert hoch blieb der Anteil der freiheitsentziehenden Sanktionen; nicht ein-
getreten ist der erwartete Bedeutungsgewinn erzieherisch ausgestalteter Erziehungs-
maßregeln, zugenommen hat der Anteil der ahndenden Zuchtmittel zu Lasten des
Anteils von Erziehungsmaßregeln. Unter den ambulanten Zuchtmitteln dominiert
mit zuletzt 70 % die Arbeitsauflage; mit 5 % nur marginal ist der Anteil von Aufla-
gen, die auf Wiedergutmachung zielen (Schaubild 4). Fachlich begleitete ambulante
Maßnahmen wie Täter-Opfer-Ausgleich oder soziale Trainingskurse bleiben in der
Praxis weitgehend ungenutzt (Spiess 2015). Erziehungsmaßregeln werden überwie-
gend nicht als eigenständige Reaktion, sondern zu zwei Dritteln neben Zuchtmitteln
verhängt. „Nur helfende, stützende, betreuende, chancenverbessernde Maßnahmen
sind in der jugendstrafrechtlichen Urteilspraxis die seltene Ausnahme, ahndende
Sanktionen sind die Regel“ (Heinz 2020, 1591, 1620).
Fazit (3): Auch an den kaum ausgeschöpften – und wenn, dann überwiegend im
Rahmen eines punitiven Sanktionscocktails eingesetzten – erzieherischen Reakti-
onsmöglichkeiten des JGG zeigt sich, wie sehr „der Erziehungsgedanke im Jugend-
gerichtsgesetz verkommen (ist) zu einem Rechtfertigungsinstrument unangemesse-
ner Ahndung“ (Viehmann 1989, 114).
greift die Diskussion, wenn sie, wie auch weithin die Kommentarliteratur, auf die
Vorzüge der eigentlich erzieherisch nutzbaren Reaktionsmöglichkeiten des JGG
und seiner Verfahrensflexibilität abhebt, ohne vorrangig Überlegungen anzustellen,
wie einer notorisch unverhältnismäßigen Sanktionspraxis begegnet werden kann,
einer Sanktionspraxis, die zudem durch die rechtsstaatswidrige (selbstredend „erzie-
herisch“ begründete) Verkürzung der Verfahrensrechte und Verteidigungsmöglich-
keiten im JGG insbesondere bei der Verhängung von Jugendarrest begünstigt wird.21
Die Sanktionspraxis des Allgemeinen Strafrechts hat sehr weitgehend (und sehr
erfolgreich) Freiheitsentzug durch nichtfreiheitsentziehende Alternativen und förm-
liche Sanktionierung durch Diversion ersetzt – ohne dass präventiv nachteilige Fol-
gen zu belegen sind. Die empirische Bestätigung der Austauschbarkeitsthese22 gilt
nicht minder für das Jugendstrafrecht; sie hat „für die rechtspolitische Ausgestaltung
des Sanktionensystems weitreichende Bedeutung, da eine Bestätigung derselben
auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit sowie
des Grundsatzes ,in dubio pro libertate‘ eine weitere Verlagerung hin zu weniger ein-
greifenden und humaneren Sanktionen nahelegt“ (Albrecht et al. 1981, 314). Es gibt
gute Gründe, auch gegen den metaphysischen Appeal klassischer und neoklassischer
21
Deutliche Kritik am Zurückbleiben hinter internationalen Standards des Europarats und
der Vereinten Nationen bei Dünkel 2014; Handlungsempfehlungen bezüglich Schlechterstel-
lung und Rechtswegeinschränkungen im JGG im Gutachten Heinz 2020.
22
Zur Austauschbarkeitsthese siehe schon Albrecht, Dünkel & Spiess 1981; Albrecht 1982,
zuletzt Albrecht 2019, 168.
1046 Gerhard Spiess
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236.
23
Vgl. die prägnante Formulierung in BGH 1 StR 353/70 (BGHSt 24, 42), wonach „die
Strafe nicht die Aufgabe hat, Schuldausgleich um ihrer selbst willen zu üben, sondern nur
gerechtfertigt ist, wenn sie sich zugleich als notwendiges Mittel zur Erfüllung der präventiven
Schutzaufgabe des Strafrechts erweist.“
Jugend als Strafschärfungsgrund? 1047
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Juvenile Criminal Justice in Mainland China
Between Welfare and Justice
By Jing Lin
1. Introduction
In ancient China, dominated by the Confucianism philosophy, rites (Li, ) rather
than law played a major role in social order maintenance. Accordingly, old Chinese
strongly believed in the power of education in shaping people’s thoughts and behav-
iors. As the old saying stated “all humans are born with good nature” (ren-zhi-chu,
xing-ben-shan, , ), educational approaches shall be carried out for ju-
venile offenders. Though the educational approach and sympathizing with juvenile
offenders have a long history in China, it was generally perceived that juvenile jus-
tice, in modern sense, has not been established until the 1980s in mainland China.
During the republican rule of the Kuomintang government, juvenile justice in the
sense of institutional construction began to form. In 1933, a juvenile prison was es-
tablished in Ji’nan and, a year later, one more in Wuchang.1 However, these institu-
tions were closed along with the collapse of the transitional government.2 A mile-
stone in the development of the juvenile institutional system in modern sense
could be traced back to the era of the Peoples Republic of China in the year 1984,
when the first juvenile tribunal was set up in Changning district, Shanghai.3 In com-
parison to Germany’s first juvenile court setting up in 1908 in Frankfurt, and the first
juvenile prison in 1911,4 juvenile justice in the sense of institutional construction in
mainland China has a shorter history.
In comparison to German Youth Court Law (Jugendgerichtsgesetz, JGG) issued in
1923, the separation of juvenile justice from adult criminal justice is a remarkable
new conception in China. A particular code similar to Youth Court Law – a special
code for handling juvenile cases – cannot be found in today’s China. Provisions on
juvenile justice scatter in adult criminal law and criminal procedural law. The amend-
ment to the Criminal Procedure Code (CPC) in 2012 (the Amendment) is widely
deemed a milestone for the reform of juvenile justice, as it includes a particular chap-
1
See Zhao 2014, 104.
2
See Yang 2018.
3
See Yao 2001.
4
See Albrecht 2004, 445.
1050 Jing Lin
ter entitled “Criminal Procedure for Minors” (art. 266 – 276 CPC, hereafter juvenile
chapter of the CPC). Some rules which apply to juvenile offenders exclusively have
been introduced by the Amendment, such as conditional non-prosecution and sealing
up criminal records. Since then, juvenile justice has sought to distance itself from
adult criminal justice.
Notwithstanding, leniency for juvenile offenders could be traced back to Zhou dy-
nasty (BC1046-BC 771). In the Rites of Zhou (Zhouli, ), the juvenile was pro-
vided as one of the three vulnerable groups (the juvenile, the elderly and the mentally
disabled) with sentencing leniency. Similar provisions could be found in later rules in
ancient China. In accordance with article 30 of Minglilv ( ), the first chapter of
Tanglv ( ), people who are over seventy years old, younger than fifteen, or dis-
abled can be punished with a financial penalty instead, in case they commit a crime
with sentencing less than exile.5 This was further developed by article 11 of the Code
of Qing Dynasty ( ), prescribing that criminals under the age of twelve can-
not be held criminally responsible, yet meanwhile, reformatory education should be
implemented.
Influenced by German “modern school of criminal law” represented by Franz von
Liszt, the idea of rehabilitation has growing influence in recent China. Punishment is
no longer a single goal of criminal justice. Other values including rehabilitation and
resocialization have been stressed, in particular, in the fields of juvenile justice.
Liszt’s argument is perceived to be in line with cost-benefit thinking and a conception
of social welfare as a basic task of the state,6 and thus has its wide influence beyond
Germany.
In China, the justice model of juvenile justice has been challenged by the juvenile
chapter of the CPC, in which the principle of juvenile justice has been regulated as
“education shall play a major role, while punishment serves as secondary instrument
for juvenile cases” (art. 266 CPC). Youth courts in China are specially designed to
visualize the goal of education and persuasion. Defendant-friendly style round-
table settings in courtrooms have been used to ease the tension between parties,
and to demonstrate the approach of cooperation and persuasion.
Meanwhile, the growth of cases of youth violence has been targeted as a result of
excessive leniency for juvenile offenders. The argument by a twelve-year old offend-
er – “I ONLY kill my mom, not someone else”7 – shocks the public and causes a heat-
ed discussion on the rationality of the current youth justice. A recent debate on the
minimum age of criminal liability could be perceived as a signal of rethinking of a
critical question, i. e., whether juvenile offenders are overprotected, while other
stakeholders’ interests such as the rights of victims are not properly fulfilled? Similar
5
See Zhao 2014, 104.
6
See Albrecht 2004, 444.
7
For more details of this case, see https://news.china.com/social/1007/20181211/346473
47_all.html [01. 02. 2019].
Juvenile Criminal Justice in Mainland China 1051
As shown in Figure 1, the overall number of offenders has fluctuated and shows an
upward trend in the past decades. The overall number of offenders has doubled, in-
creasing from approximately 0.6 million in 1990 to more than 1.2 million in 2016.
Since 2010, the overall number remains more than one million with a peak in 2015
(1,232,695). In contrast, the number of juvenile (under the age of 18) and young (ages
8
See Albrecht 2002.
9
Zhang 2008.
10
See Shen & Hall 2014, 274.
11
See http://wenshu.court.gov.cn/index [20. 11. 2019].
1052 Jing Lin
18 to 25) offenders has fluctuated slightly and shows a steadily downward trend since
2008.
12
Sources of statistics for figure 1 – 3, see Law Yearbook of China (1991 – 2017). All
numbers relate to convicts.
Juvenile Criminal Justice in Mainland China 1053
Official data do not provide specific information on any patterns of juvenile crime.
With the help of literature derived from previous studies, a basic profile has been
drawn by Zhao et al.13 which suggests that the majority of crimes committed by ju-
veniles and young offenders are property-related crimes, opportunistic crimes (rather
than premeditated case) and carried out by groups (rather than individual crime); they
occur in public areas such as plazas, bus stops, railway stations, entertainment cen-
ters, and so on. The offenders usually have poor education, and their average age is
declining these years. That is also visualized by the crime trend of reduced percen-
13
Zhao et al. 2014.
1054 Jing Lin
tages of young offenders between the age of 18 and 25. In addition, residential sta-
bility and family stability is highly related to juvenile crimes. That is, juvenile im-
migrants in urban areas and “left behind” juveniles in rural areas (“migrant/floating
population”) are more likely to commit crimes in comparison to other groups of ju-
veniles.14
A semi-official research institute initiated by the Supreme Court – China Justice
Big Data Research Institute – has issued the Big Data Report on Juvenile Offenses,
which illustrates juvenile crimes patterns in recent years. In accordance with the sta-
tistics for the year 2016 and 2017, more than 14,000 cases belong to the category of
theft, followed by robbery with more than 4,000 cases. Other quite frequently com-
mitted crimes are assault (approx. 4,000), gang violence (approx. 4,000), and rape
(approx. 2,000).15 The statistics are consistent with the above-mentioned research
findings, i. e., the dominancy of property-related crimes. As regards the education
of these offenders, the data are again in line with the above research findings:
1.19% of the offenders belong to the group of illiteracy and 17.7% only went to pre-
liminary school (for 5 – 6 years), which yet violated the nine-year compulsory edu-
cation. The majority of offenders (68.08%) went to middle school, that is three more
years after preliminary school, which is still perceived as insufficient-educated in to-
day’s China. In comparison to female juveniles, males are more likely to commit a
crime, who account for 93.44% of overall juvenile offenders. As regards regional dis-
tribution, juveniles in rural areas (82.06%) are more likely to commit a crime, as com-
pared to those from urban areas (17.94%). This could be explained by the phenom-
enon of left-behind children in rural areas while their parents as part of the migrant
labor force are moving to city areas. Those left-behind children are less disciplined by
the family bonds. In almost 6,000 cases, the juvenile offenders are from “migrant/
floating” families, followed by other abnormal family structures including divorced
family (approx. 3,000 cases) and other single family (approx. 1,000 cases). Again, it
is in line with the above finding that the factor “migrant/floating population” signif-
icantly relates to juvenile offense.16
crimes exclusively (ages fourteen to sixteen), minors with full criminal responsibility
yet with sentencing leniency (ages sixteen to eighteen) and adults (ages above eigh-
teen). A concept of young adult (Heranwachsender in German), which stems from
the idea that the concept of adolescence requires flexibility because of variations in
maturation,17 is not fully acknowledged in China. Minors aged sixteen to eighteen
bear full criminal responsibility yet with sentencing leniency and shall be prosecuted
in accordance with the juvenile procedural rules regulated in the juvenile chapter of
CPC. However, unlike the German concept of individual assessment of young adults,
judges in China do not have discretion on the utilization of the juvenile chapter of
CPC according to the standard treatment of this age group.
17
See Albrecht 2004, 451.
18
See Albrecht 2004, 451.
19
See Albrecht 2004, 453.
20
See Xue & Liu 2004, 65 – 74.
1056 Jing Lin
data available to support this argument. In accordance with statistics21, a slight sen-
tencing leniency in regard to imprisonment can however be observed. As shown in
Figure 4, a lower percentage of juveniles have been sentenced to a longer prison term
(more than 5 years) while the percentages of juveniles who have been sentenced to
less than 5 years and less than 3 years respectively are somewhat higher.
21
Sources of statistics for juveniles see Justice Big Data Research Institute (2017), for
adults see Law Yearbook of China (2015; 2016).
Juvenile Criminal Justice in Mainland China 1057
ties, juvenile procurators are encouraged to attend training courses, and even to ob-
tain a professional qualification of psychological consultant (art. 58 – 64 Guidelines).
The following rules regulated in the juvenile chapter of the CPC apply to juvenile
offenders as special provisions. Some rules are countermeasures against the labeling
effect, such as conditional non-prosecution and seal of criminal records. Some rules
focus on extra support and protection due to the immaturity of juvenile offenders,
including restriction of pretrial detention, exclusion of public trial, compulsory de-
fense and on-site support from proper adults. All together, these rules indicate that the
legislator pursues to balance between justice and welfare elements in juvenile justice.
Pretrial detention in the context of Chinese criminal justice includes criminal de-
tention (xing-shi-ju-liu, , art. 82 CPC) and arrest (dai-bu, , art. 81
CPC). Both of these compulsory measures enforced by the police restrain the free-
dom of suspects. A major difference lies in the approval authority, i. e., criminal de-
tention applies in emergency (e. g., suspects are committing crimes) and an order is
issued within the police authority, while arrest shall be approved by procuratorates.
Pretrial detention is restricted in juvenile proceedings. In accordance with the
Rules for Criminal Procedure of the Procuratorate issued by the Supreme Procura-
torate in 2019, an arrest order cannot be issued for a juvenile suspect in case that (1.)
there is no suspicion of a severe crime but rather of a minor crime, (2.) no or only
slight danger for social security, (3.) and his family or school or the local community
and residents’ committee have necessary facilities and competence for custody or
assistance and education (art. 463). In case the suspect has shown repentance, he
might also not be arrested even if he has committed a severe crime (art. 463). Before
approving an arrest order, a procuratorate shall arraign a juvenile criminal suspect
and hear the opinion of a defense lawyer (art. 280 CPC). Figure 5 shows that the num-
ber of approved pretrial detentions by procuratorates have been declining steadily in
recent years. In 2013, 74.77% of the arrest application have been approved; until
2017 it declined to 66.41%. In addition, juvenile suspects shall be detained in sep-
aration from adults (art. 280 CPC), to prevent exposure of juveniles to crime through
contact with adult offenders. However, in comparison to other jurisdictions, the rate
of pretrial detention is still high in China. The rate remains lower than 7% for both
juveniles and adults in Germany,22 while it is more than 60% in China.23
22
Statistics for the period from 1975 to 2015, see Heinz 2015, 152.
23
Statistics for the period from 2011 to 2015, see Law Year Book of China, 2012 – 2016.
1058 Jing Lin
24
Statistics see Wang 2019.
25
See Albrecht 2004, 471.
26
Details of the case see http://www.jsjc.gov.cn/wsjcy/gs/wcnrxxjc/201612/t20161215_
109727.shtml [01. 11. 2019].
Juvenile Criminal Justice in Mainland China 1059
ative impact for the 17-year-old remains, despite of the efforts from both the procu-
ratorate and psychiatrist.
27
He 2019.
1060 Jing Lin
an effect resulting from the ambiguity of the legislation which provides that, “for a
juvenile criminal suspect or defendant who has not retained a defender, a court, a
procuratorate, [or (and)] a public security authority shall notify a legal aid agency
to assign a lawyer to defend him or her” (art. 278 CPC). It is however quite vague
and unclear who shall be obliged to initiate legal aid – either of these three institu-
tions, or all of them.
In addition, guardians of a juvenile offender shall be notified to be present during
the police interrogation and court hearings. In case this is not feasible or not proper
(e. g., if the guardians are victims), other suitable adults including social workers can
be involved instead (art. 281 CPC). As Albrecht argued, involvement of social work
professions strengthens the welfare approach and enlarges mistrust toward criminal
law and criminal justice.28 Such arrangement is however of great significance in cur-
rent China, since legal aid lawyers, in most cases, have not yet been involved at the
stage of investigation.
From 2013 to 2015, in total, approx. 150,000 juvenile suspects (offenders) have
been provided legal aid services, and around 220,000 suitable adults have been in-
volved in the interrogation or court hearings.29 In accordance with national statistics
during the period, 150,071 juvenile offenders have been tried during the same peri-
od.30 That is, almost all juvenile offenders have professional support from legal aid
providers and spiritual support from proper adults during the court hearings. From
this point, the rule of legal aid for juvenile offenders has been soundly followed.
Criminal records bear the risk of labeling effects for convicted juveniles. Influ-
enced by German Youth Courts Law (JGG), which allows deletion of the criminal
record for a law-abiding individual after youth penalty, the juvenile chapter of the
CPC accepts sealing of criminal record for a juvenile. However, some slight differ-
ences exist. The Chinese model focuses on the severity of a crime, i. e., it applies to
juveniles sentenced to a fixed-term imprisonment of no more than five years (art. 286
CPC), while the German model focuses on personal characteristics of the juveniles,
i. e., progress in rehabilitation: clearance applies when the juvenile has proved by be a
law-abiding individual (art. 97 JGG). In addition, in China the record will not be de-
leted completely, but rather be sealed, and it can be disclosed to a judicial authority
for the investigation and trial of other cases. However, no specific rules clarify how
shall the criminal record be used by the judicial authority. In practice, it will either be
considered in deciding a pretrial detention or in sentencing, based on the rule of se-
vere punishment for recidivism. Besides, a none-criminal-record certificate, which is
often required in seeking for a job or for similar purposes, is often failed to be issued
28
See Albrecht 2004, 449.
29
Statistics see http://gjwft.jcrb.com/2016/5y/wj30n/index.shtml [01. 11. 2019].
30
Statistics from Law Yearbook of China, 2014 – 2016.
Juvenile Criminal Justice in Mainland China 1061
for juvenile offenders whose criminal record have been sealed. Though the procura-
torates are obliged to issue such a certificate in accordance with the art. 88 of Guide-
lines for Criminal Prosecution Involving Minors (for Trial Implementation), in prac-
tice, community police are responsible for such applications. Since this Guideline is
issued by the Supreme Procuratorate, it does not apply to the police and can be hardly
followed. Thus, the primary goal – avoiding labeling effect – can hardly be achieved
in practice.
legislator and limited enforcement capacity lead to a peculiar profile of current ju-
venile justice. Notwithstanding, considering the short history of the juvenile chapter
of the CPC (2012), a prosperous future of juvenile justice in China may be expected.
More than 7,200 judges serve at juvenile tribunals in today’s China exclusively.35 The
Supreme Procuratorate has set up a special department for juvenile criminal cases in
2019. In addition, Law on Community Service that came into force in July 2020 is
vital for sound enforcement of juvenile justice.
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The Juvenile Justice System in the Czech Republic:
Successes and Failures
By Helena Válková
1. Introduction
It is not so long since we in the Czech Republic welcomed the adoption of a new,
special legislation aimed at responding more effectively to crimes committed by ju-
venile delinquents aged 15 up to 18. Children under the age of fifteen, who have com-
mitted crimes for which juveniles and adult offenders face criminal charges, have not
been neglected by this law either.1
The Youth Justice Act came into effect on 1 January 2004.2 The period of more
than fifteen years of its application in practice offers us a good opportunity to sum-
marize which of its objectives have been achieved, and to what extent. Only an in-
dependent criminological research, which unfortunately has not been carried out yet,
would be able to reveal the real effectiveness of this law in the necessary detail. The
official statistics which are meanwhile available must be interpreted with caution and
with a view to their considerable limits; therefore, it is difficult to offer an objective
answer to our question, albeit certain conclusions can be drawn.
What can already be drawn from the available sources is that over the past fifteen
years there has been a gradual decline in the extent of both the recorded criminal ju-
venile delinquency and otherwise punishable criminal offenses by children under the
age of 15 – not only in absolute figures, but also in terms of the relative proportion of
delinquent juveniles in the total number of adolescents of the relevant age categories.
However, whether this positive long-term trend can be attributed solely or predom-
inantly to the new system of treatment of delinquent youths as codified in a particular
piece of law – The Youth Justice Act of 2003 –, or to other factors contributing sig-
nificantly to this favorable development, such as the increased latency of some cur-
rent forms of crime (especially cybercrime), or to changes of macro-social signifi-
cance that our society is undergoing at the beginning of the 21st century – the answer
1
Under the Youth Justice Act, children under 15 can only be penalized by “educational
obligations” or educational restictions, by “verbal reprimand with a warning”, by imposing an
“outpatient educational programme”, supervision by a probation officer, protective education,
or by protective medical treatment.
2
Act No. 218/2003 Coll. of Laws, On The Liability of Youth for Unlawful Acts and
Judiciary in Youth Matters (The Youth Justice Act).
1066 Helena Válková
to this question is difficult to find without research monitoring these factors which
potentially influence the current scale, structure and intensity of youth delinquency.3
2. Changes in Legislation:
Governing Judicial Practice in Youth Matters
Since its adoption in 2003 to the present time (i. e., 2020), the Youth Justice Act
remained largely unchanged in substance, although it has been amended no less than
twenty times. Having said that, none of the amendments reconfigured its basic prin-
ciples and original systematics, or introduced measures or procedures that would
contradict its original philosophical foundations based on the principles of restorative
justice. It can therefore be stated that after the adoption of the Youth Justice Act, crim-
inal policy – at least as regards the pertinent legislation – has remained stable over the
past fifteen years.
Of course, the current juvenile justice concept has also stimulated fundamental
changes in the penal code, the code of criminal procedure, and in other related pieces
of legislation. In view of the importance of these changes, it is necessary to mention
above all the major reform of substantive criminal law implemented by the adoption
of the new Criminal Code which came into effect on 1 January 2010.4 Some of the
innovations introduced with its adoption have been successfully tested exactly in the
field of youth justice. Of particular importance is the emphasis on the broader appli-
cation of alternative procedures and sanctions stipulated by a number of provisions of
the new Criminal Code. Furthermore, the importance of cooperation between crim-
inal judges, prosecutors and probation officers, who have gradually become indis-
pensable collaborators imposing and enforcing alternative sanctions, was strength-
ened. The very inspiration from the good practice of the application of the Youth Jus-
tice Act, which were taken as a blueprint for a number of corresponding provisions of
the new Criminal Code, makes it possible to assess Act No. 218/2003 Coll. of Laws
as a piece of successful legislative work.
On the other hand, it is also worth noting that opposite voices attempting to push
the criminal liability of juvenile delinquents and the related punishment in the direc-
tion of stricter criminal repression, were up to now fortunately not successful. The
common denominator of such policy concepts has always been the intention to pro-
mote rapid, populist responses to exceptional, severe case scenarios (usually a mur-
der or a crime with a sexual motive, committed by a child under 15 or by a juvenile).
As a rule, proponents of such views would plea for a reduction of the minimum age of
criminal liability from the current limit of fifteen years down to fourteen and even
thirteen. At the same time, it was proposed that penalties for murder, rape with serious
consequences, and other severe crimes committed by juvenile delinquents should be
3
For more details, see Válková, Kuchta, Hulmáková et al. 2019, pp. 277 – 307.
4
Act No. 40/2009 Coll. of Laws, The Criminal Code.
The Juvenile Justice System in the Czech Republic: Successes and Failures 1067
dramatically raised. Until now, the advocates of stricter measures have not been able
to launch such legislative adjustments which could significantly tighten up criminal
policy towards delinquent youth in the Czech Republic.5 Their failure is, in a way, an
indirect indication that the basic parameters of the original legislation are adequate.
Indeed, Czech legislation is fully compatible with European standards as tradition-
ally enforced by the Council of Europe6 and, in the last ten years or so, also with those
laid down in EU regulations.7 In comparison with the current legislation of other EU
member states, the Czech youth justice law can be rated – in terms of the extent of the
rights guaranteed to juvenile offenders and the system of sanctions applicable to
them – among the most balanced ones. This can, however, not yet be said about
its application practice where considerable hesitance towards the use of all the stat-
utory options offered to the competent authorities and institutions still prevails.8
5
Válková 2018, pp. 333 – 343.
6
The European Convention on the Protection of Human Rights and Fundamental Free-
doms (domestically introduced through Act No. 2019/1992 Coll. of Laws) which, in the field
of penal youth justice, is further elaborated in a number of important documents such as, e. g.,
the Guidelines of the Committee of Ministers of the Council of Europe on Child-friendly
Justice, adopted on Nov. 17, 2010; notwithstanding its formal character of a set of legally non-
binding recommendations, the document is a strong political appeal to all member states, all
the more in light of the fact that it is regularly referenced and applied in the case law of the
European Court on Human Rights.
In June 2014, the Parliamentary Assembly of the Council of Europe passed its Resolution
on the Child-friendly Juvenile Judicial System, which stressed the necessity to treat minors
who are at odds with law, on the basis of their rights and with respect for their needs.
7
At EU level, it is, first of all, Article 24 of the Charter of Fundamental Rights of the
European Union which is designed to ensure respect for the interests of the child in all cases in
which any of the EU’s legal norms is applied.
8
For similar conclusions, see Hulmáková 2020.
9
Directive (EU) 2016/800 of the European Parliament and of the Council of 11 May 2016
on procedural safeguards for children who are suspects or accused persons in criminal pro-
ceedings, O.J. L 132/1.
1068 Helena Válková
Summarizing the main changes in the existing juvenile criminal law, those are few
in number, but certainly not marginal in regard to their potential impact. Their prac-
tical application in criminal proceedings against a juvenile could, in the future, con-
tribute significantly to making the juvenile justice system more efficient.
Specifically, these amendments provide for:
* the legal rule that a person, whose age of 18 is uncertain, is considered to be a child;
* an extended and specified catalogue of information on their rights and possibilities
of exercising them, which must be communicated to the juvenile in a comprehen-
sible form appropriate to their age, mental maturity and state of health, and with
regard for the ongoing stage of criminal proceedings;
* extended grounds for the necessary defense for juveniles who have not reached the
age of 21, from the moment when measures under the Youth Justice Act are applied
against the person or when acts under the Code of Criminal Procedure are carried
out, if the court and the prosecutor consider it appropriate in the light of the
achieved level of intellectual and moral maturity of the juvenile and with regard
of the circumstances of the case;
* extended rights of the juvenile person to have a legal guardian or another adult
person of trust designated by the juvenile participating in the criminal proceed-
ings; if the juvenile fails to propose a concrete person as guardian, or proposes
someone who may reasonably be expected to be unable to properly defend the
child’s interests, the judge or the chair of the chamber or senate and in the pre-
trial period the prosecutor shall appoint someone else; such a qualified adult
can be someone close to the juvenile, or an officer from a socio-legal child protec-
tion authority, or a person with experience in youth education, or a lawyer;
* additional obligation to explore the individual background of the juvenile ‘without
undue delay’, in other words, at the earliest appropriate stage, preferably before the
indictment is filed; at the same time, it is necessary to ensure that the individual
assessment of the juvenile is kept up-to-date in regard to any event of a substantial
change in their situation, both in the preparatory phase and in the course of the
main trial;
* codification of the preferential treatment of the accused child and provision of the
audiovisual recording of the questioning of the child, if this is appropriate and tech-
nically possible given the circumstances of the case and those of the child;
* the legal obligation to separate a juvenile from adults in custody even after he/she
has reached the age of 18, if justified by their personal circumstances and not con-
trary to the interests of other juveniles sharing the same place.
Overall, the 2019 amendments of the Youth Justice Act are in line with the require-
ments of the 2016 EU Directive. The new provisions are a further step in the right
The Juvenile Justice System in the Czech Republic: Successes and Failures 1069
10
For an overview of legal documents adopted by the Council of Europe and the European
Union on the protection of children under 18 and young adults up to 21, see Válková, Kuchta,
Hulmáková et al. 2019, ref. 30.
11
This chapter contains statistics and charts used with the kind consent by their originator
Jana Hulmáková as they were first presented at the international expert conference “Fifteen
Years of the Youth Justice Act”, held in Prague on 14 May 2019.
1070 Helena Válková
The Youth Justice Act further emphasizes the protection of the juvenile from stig-
matization, and the preference for the use of diversionary procedures combined with
restorative elements, which is a manifestation of the codified provision of the sub-
sidiarity of repression according to which, for example, an unconditional custodial
sentence should only be used as an extreme, exceptional sanction for cases of the
most severe crimes.
The answer to the question whether these principles have actually been adhered to
in practice, is provided, albeit partially, by the prosecutorial and judicial statistics.
However, when evaluating them, i. e., when analyzing trends and the current situation
in the area of the punishment of juveniles, we have to take into account some further
significant legislative developments, especially the adoption of new Criminal Code
No. 40/2009 Coll. of Laws, as well as the effects of the presidential amnesty of 2013.
When comparing the absolute numbers of the sanctions imposed, it is also necessary
to take into consideration the general trends in juvenile delinquency records which
reveal a significant gradual decline in the number of juveniles brought to criminal
justice since the Youth Justice Act came into force.
8,000
7,000
6,000
5,000
4,000
3,000
2,000
1,000
0
2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018
prosecuted persons 7,374 5,959 5,248 5,317 6,080 5,845 5,417 3,990 3,786 3,654 2,951 2,571 2,248 2,061 2,094 2,107
indicted persons 6,006 4,590 4,191 4,055 4,508 4,339 4,147 3,177 3,091 3,033 2,389 2,116 1,846 1,674 1,729 1,779
convicted persons 3,558 3,235 3,069 2,773 2,949 2,882 2,718 2,389 2,203 2,186 1,983 1,593 1,403 1,312 1,231 1,278
unconditional sentence of imprisonment (persons) 213 213 190 181 174 200 220 201 190 159 82 88 76 67 63 58
increase in the longer terms of one to five years. This shift is closely related to the
change in the structure of juveniles sentenced to unconditional prison sentences
(see Figure 2). Obviously, there is an increased number of chronic offenders with
a number of risk factors that call for personalized intensive treatment so as to min-
imize the likelihood of recidivism after their release.
100%
90%
80%
70%
60%
50%
40%
30%
20%
10%
0%
2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018
up from 5 to 10 years 1 2 3 1 3 2 1 0 0 0 3 1 5 2 0
up from 1 to 5 years 28 33 32 28 24 26 34 29 33 45 37 53 45 38 47
up to 1 year 72 66 65 71 74 71 66 71 67 55 60 46 51 60 53
Finally, one of the further objectives of the Youth Justice Act is the realization of
the principles of restorative justice. Accordingly, particular emphasis is placed on the
use of diversion combined with restorative elements at the earliest possible moment
in the preliminary proceedings. However, additional statistics show that in practice
only conditional discontinuation of criminal proceedings against juveniles is more
often pronounced, whereas settlement or termination of criminal proceedings is
used very sporadically. In this respect, the restorative orientation of criminal policy,
unfortunately, has not yet become more prominent in the Czech judicial practice.
Despite these adverse aspects of the application practice, it can be pointed out that
over the past 15 years, a rather significant change has occurred in the general ap-
proach towards the treatment of delinquent youth prioritizing educational measures
and, consequently, the reduction of criminal repression to its necessary minimum.
Whether this trend will be maintained in the Czech Republic in the future will un-
doubtedly also depend on the direction in which the general criminal policy applied
to adult offenders will evolve.
13
Source: see footnote 12.
1072 Helena Válková
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VI. Folgewirkungen von Strafe und Strafvollzug –
Consequences of Conviction and the Correctional System
Strafen über Strafen
Strafrechtliche und nichtstrafrechtliche Zusatzsanktionen in Deutschland
1. Einleitung
Die in den Strafgesetzen vorgesehenen Strafandrohungen determinieren im We-
sentlichen die mit dem Schuldausgleich und den anderen Strafzwecken verbundenen
Rechtsfolgen, die der (potenzielle) Straftäter bzw. die (potenzielle) Straftäterin1 im
Falle strafrechtlich relevanter Devianz zu gewärtigen hat. Mit diesem Kodifikations-
konzept verbunden ist jedenfalls implizit, auch im Sinne des verbindlichen verfas-
sungsrechtlichen Rahmens der strafrechtlichen Sanktionierung – Vorhersehbarkeit,
Gleichbehandlung, Verhältnismäßigkeit, richterliches Strafmonopol, u.v.a.m. –, die
Erwartung einer strikten Begrenzung der staatlichen Eingriffsgewalt auf die gesetz-
lich angedrohte (Kriminal-)Strafe.
Die Realität ist freilich eine ganz andere und lässt die eben formulierte Annahme
in zahlreichen Lebensbereichen als Fiktion erscheinen. Hans-Jörg Albrecht ist einer
der wenigen, der sich wissenschaftlich seit langer Zeit mit den vielfältigen Formen
weiterer, in der Fachwelt wie auch der größeren Öffentlichkeit nur wenig thematisier-
ten Beschränkungen bestimmter politischer und bürgerlicher Rechte Verurteilter und
manchmal auch bloß Verdächtig(t)er, die niemals angeklagt und/oder verurteilt wer-
den, befasst. Ein aktuelles rechtsvergleichendes Forschungsprojekt, das der Jubilar
noch in seiner Zeit als Direktor und Leiter der kriminologischen Abteilung des (ehe-
maligen) Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht an-
gestoßen hat und dessen Ergebnisse in Kürze publiziert werden,2 hat den Versuch un-
ternommen, die Vielzahl der strafrechtlichen und nichtstrafrechtlichen Zusatzsank-
tionen, die auf eine strafrechtliche Verurteilung folgen können, systematisch zusam-
menzustellen und (rechts-)vergleichend3 zu analysieren. Entsprechende Regelungen
1
Aus Platzgründen wird im Weiteren bei funktional-abstrakten Rollen-, Funktions-, Tä-
tigkeits- und Berufsbezeichnungen in nicht-personalisierten Sinnzusammenhängen auf Gen-
derdopplungen verzichtet.
2
Ein erster Überblick ist publiziert bei Fitrakis 2018. Der finale Forschungsbericht, hrsg. v.
Michael Kilchling (Freiburg), Angelika Pitsela (Thessaloniki) und Lucija Sokanović (Split),
wird 2021 in der Publikationsreihe des MPI im Verlag Duncker & Humblot, Berlin erscheinen.
3
Siehe auch den Beitrag von José Luis de la Cuesta (in diesem Band).
1076 Michael Kilchling
gibt es in den meisten Ländern, nicht nur in Europa. Der vorliegende Beitrag präsen-
tiert einige ausgewählte Beispiele aus Deutschland.
Ein gutes Beispiel sind die strafrechtlichen Wahl- und Amtsbeschränkungen, ge-
regelt in § 45 StGB. Albrecht, der diese Regelungen im Nomos-Großkommentar be-
arbeitet, spricht diesbezüglich schon in der ersten Auflage von vormodernen und stig-
matisierenden Rechtsfolgen, die an Ehrenstrafen erinnerten und mit einem moder-
nen, auf Schuldausgleich und Prävention ausgerichteten Strafrecht unvereinbar
seien.4 Ihre Hochphase erlebten diese Strafen, deren Ursprünge bis ins Römische
Recht zurückverfolgt werden können, im 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert.5
Mit ihrem stigmatisierenden Charakter zielten sie darauf ab, ehemalige Straftäter
von der (vollwertigen) Teilnahme am bürgerlichen Leben auszuschließen. Albrecht
erkennt in den strafrechtlichen Beschränkungen des passiven Wahlrechts und Zu-
gangs zu öffentlichen Ämtern mit gutem Grund auch Elemente eines Berufsverbo-
tes.6 Tatsächlich ergeben sich im Hinblick auf die Auswirkungen für die Betroffenen
auch Parallelen zu dem (präventiv-strafrechtlichen) Berufsverbot im Maßregelrecht.
Berufsbezogene Restriktionen haben freilich eine weit größere Dimension, als der
beschränkte Fokus auf die strafrechtlichen Regeln zunächst erkennen lässt.
Neben den erwähnten dogmatischen Widersprüchen stehen insbesondere die viel-
fältigen berufsbezogenen Barrieren im Hinblick auf ihren Umfang und ihre wenig
resozialisierungsfreundlichen Auswirkungen in seltsam offenem Kontrast zu den
klaren Konturen, die das Recht auf Resozialisierung durch die Rechtsprechung
des deutschen Bundesverfassungsgerichtes erfahren hat.7 Im Grunde konterkarieren
sie die vielfältigen und im Wortsinne oft mühsamen Bemühungen um Resozialisie-
rung geradezu – der englische Begriff der reintegration bringt den diametralen Ge-
gensatz zur Exklusion sogar noch deutlicher zum Ausdruck. Schon in den frühen
1970er Jahren hat das BVerfG die Devise ausgegeben, dass die Resozialisierung
als verfassungsrechtliches Prinzip nötigenfalls auch gegen resozialisierungsfeindli-
che gesellschaftliche Tendenzen durchgesetzt werden müsse.8 Gerade der berufliche
(Wieder-)Einstieg ist bekanntlich eine entscheidende Bedingung für gelingende Re-
sozialisierung.9 Nichtsdestotrotz scheint es so, dass die in früheren Zeiten vorwie-
gend strafrechtlich ausgestalteten restriktiven Eingriffe10 in die Berufsausübung
4
Albrecht 1995 u. 2017, jew. § 45 Rn. 1.
5
Siehe zur Geschichte der Ehrenstrafen ausführlich Weinrich 2009, 79 ff.
6
Albrecht 2017, § 45 Rn. 7.
7
Grundlegend etwa BVerfG, 1 BvR 14/76 v. 21. 06. 1977, BVerfGE 45, 187 ff., 238 f.; auf
diese Leitpassage verweist das Gericht in späteren Entscheidungen zur Resozialisierung re-
gelmäßig.
8
BVerfG, 1 BvR 536/72 v. 05. 06. 1973 (Lebach-Entscheidung), BVerfGE 35, S. 202 ff.,
236 f.
9
Ausführlicher hierzu z. B. Jacobs & Larrauri 2016.
10
Auffallend ist auch die terminologische und inhaltliche Parallele zu den vielfältigen sog.
„restriktiven Maßnahmen“, die auf UN- und EU-Ebene als neuartige nicht-punitive Sanktio-
nen gegen Terrorverdächtige und andere missliebige Individuen, Gruppen und Staaten ent-
Strafen über Strafen 1077
und viele andere Lebensbereiche strafrechtlich auffälliger Personen infolge des all-
gemeinen Paradigmenwechsels zur Prävention heute sogar wieder deutlich an Be-
deutung gewonnen haben. Statt wie früher im strafrechtlichen kehren diese heutzu-
tage eher im verwaltungsrechtlichen Gewand auf die gesellschaftliche Bühne zurück.
Auch in anderen Rechtsbereichen wie dem Arbeits- und Wirtschaftsrecht gibt es ver-
gleichbare Entwicklungen. Besonders exemplarisch zeigt sich der Bedeutungszuge-
winn der außerstrafrechtlichen Disziplinierungs- und Sanktionierungsregime auch in
der immer rigideren Compliance-Kultur,11 die die kapitalistische Wirtschaft offenbar
in eine Art moralisches Paradies zu verwandeln sucht, in dem jeder Regelverstoß
weitreichende persönliche Konsequenzen nach sich ziehen kann.
Zusätzliche Dynamik hat die Entwicklung hin zur nachstraflichen gesellschaftli-
chen Exklusion schließlich auch durch den Ausbau der intensiven Überwachung mit
dem Instrument der fortschreitend restriktiveren, elektronisch überwachten Aus-
schlusszonen erhalten. Als besonders krasses Beispiel kann hier die Situation in ei-
nigen US-Bundesstaaten gelten. Miracle Village im Bundesstaat Florida12 ist ein aus
der Not ehemaliger Sexualstraftäter heraus entstandener (Nicht-)Ort, die sich dort
niedergelassen haben, weil sie nach ihrer Haftentlassung aufgrund der dann einset-
zenden weitreichenden Bewegungs- und Aufenthaltsrestriktionen und Näherungs-
verbote kaum eine reale Chance auf ein Leben in besiedelten Gegenden (sprich:
der bürgerlichen Zivilisation) haben.13
wickelt wurden. Siehe nur die nach dem 11. 09. 2001 erlassene EU-Verordnung 881/2002
(ABl. L 139/9) oder die EU-Verordnung 2018/275 gegen Personen aus Belarus (ABl. L 54/1).
11
Erinnert sei beispielhaft an die kontroversen Diskussionen im Zusammenhang mit der
Verurteilung von Uli Hoeneß wegen seiner ausschließlich als Privatperson verschuldeten
Steuerhinterziehung. Als er nach verbüßter Freiheitsstrafe in seine Funktionen als Präsident
und Vorsitzender des Aufsichtsrats beim FC Bayern München zurückkehrte, wurde nicht nur
in Wirtschaftszeitungen ernsthaft die Frage erörtert, ob Vorstandsmitglieder anderer börsen-
notierter Unternehmen wie Adidas, BMW oder Siemens im Hinblick auf die Grundsätze der
Unternehmensethik ihrerseits weiter im – durch das Stigma der Vorstrafe des Herrn H.
scheinbar ebenfalls bemakelten (?) – Aufsichtsrat des Clubs verbleiben könnten. Vgl. z. B.
Süddeutsche Zeitung v. 10. 08. 2016: www.sueddeutsche.de/sport/fc-bayern-warum-hoeness-
auf-keinen-fall-aufsichtsratschef-werden-sollte-1.3114713 [30. 08. 2020].
Mit ähnlicher Stoßrichtung wurde kurz darauf die Forderung laut, der wegen des damals
gerade bekannt gewordenen Dieselskandals zurückgetretene VW-Chef Martin Winterkorn,
gegen den zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht strafrechtlich ermittelt wurde, müsse auch seinen
Posten als Mitglied des Aufsichtsrats bei dem Münchner Club umgehend aufgeben. Vgl. z. B.
Süddeutsche Zeitung v. 16. 08. 2016: www.sueddeutsche.de/sport/fussball-uli-hoeness-winter
korn-bleibt-bayern-aufsichtsrat-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-160818-99-134388 [30. 8.
2020].
12
Eindrückliche Einblicke in die dortigen Lebensumstände geben z. B. Sanburn 2014 und
Iaboni 2015.
13
Rechtliche und kriminologische Perspektiven u. a. bei Tewksbury 2007, Levenson 2008,
Ehrhardt Mustaine 2014, Levenson & Zgoba 2015.
1078 Michael Kilchling
Albrecht weist also völlig zu Recht auf Parallelen zum Feindstrafrecht hin14 –
wobei dieses konzeptionell freilich auf eine kleine Gruppe nicht resozialisierungsge-
eigneter bzw. nicht resozialisierungswilliger gefährlicher Täter zugeschnitten ist,15
während die vielfältigen Lebensführungsbeschränkungen, die hier behandelt wer-
den, potenziell jede Person betreffen können, die einmal in Konflikt mit der Strafjus-
tiz geraten ist.
18
Vgl. Blitsa & Michalopoulou 2018.
19
Siehe z. B. den für Förderanträge relevanten Vordruck „Declaration on honour on ex-
clusion criteria and selection criteria“: https://eacea.ec.europa.eu/sites/eacea-site/files/declarati
ononhonour_rem_and_civ.pdf [30. 08. 2020]. Rechtsgrundlage für die zahlreichen Aus-
schlussszenarien ist u. a. Art. 13 der EU-Verordnung 390/2014 (Abl. L 115/3), der zum Schutz
der finanziellen Interessen der Union auch im Rahmen der Forschungsförderung „wirksame
Kontrollmaßnahmen“ […] „zur Vorbeugung gegen Betrug, Korruption und sonstige rechts-
widrige Handlungen“ [Hervorh. v. Verf.] verlangt. Das ist im Grunde eine Blankovollmacht
für die Erfindung weiterer Ausschlusstatbestände.
1080 Michael Kilchling
25
Auf der Basis einer wenig später erwirkten einstweiligen Anordnung des BVerfG
konnten die Betroffenen bereits vor der Anpassung des BWahlG an der Europawahl im Mai
2019 teilnehmen; siehe BVerfG, 2 BvQ 22/19 v. 15. 04. 2019, NVwZ-RR 2019, 705 (und
online).
26
Die revidierte Fassung des § 13 BWahlG sieht einen Ausschluss demgemäß nur noch auf
der Grundlage richterlicher Einzelfallentscheidungen vor; vgl. Gesetz zur Änderung des
Bundeswahlgesetzes und anderer Gesetze v. 18. 06. 2019, BGBl. I., 834.
27
Vgl. u. a. Hirst v. United Kingdom (74025/01), Frodl v. Austria (20201/04), Greens bzw.
M.T. v. United Kingdom (60041/08, 60054/08).
28
Albrecht 2017, Rn. 6 (m.w.N.).
29
2018 wurde lediglich eine Aberkennung gem. § 45 Abs. 2/5 registriert, vgl. Statistisches
Bundesamt, Strafverfolgung 2018, Tab. 5.1; Angaben zu früheren Jahren bei Oelbermann
2011, 227 f.
30
Eigene Kalkulation auf der Basis der Einzeldeliktsnachweise bei Statistisches Bundes-
amt, Strafverfolgung 2018, Tab. 3.1.
31
Ausführlicher Nelles 1991, Sobota 2015 u. 2017.
1082 Michael Kilchling
3.2 Berufsverbot
Ein weiteres, auch explizit als solches benanntes Berufsverbot findet sich im Maß-
regelrecht. Dieses kann gem. § 70 StGB verhängt werden aus Anlass einer rechtswid-
rigen Tat, die unter Missbrauch des Berufes oder Gewerbes oder unter grober Verlet-
zung der mit ihnen verbundenen Pflichten begangen wurde,33 wenn die Gefahr wei-
terer erheblicher Straftaten bei fortgesetzter Ausübung des Berufes oder Gewerbes
bestehen würde. Die Dauer des Verbotes beträgt regulär ein bis fünf Jahre; es
kann für immer angeordnet werden, wenn zu erwarten ist, dass die Regelfrist zur Ab-
wehr der vom Täter drohenden Gefahr nicht ausreicht. Die Anordnung unterliegt
dem speziellen maßregelrechtlichen Verhältnismäßigkeitsvorbehalt34 und kann zur
Bewährung35 ausgesetzt werden. Verstöße und Umgehungen sind als eigenes Status-
delikt pönalisiert.36 In der Praxis spielt das strafrechtliche Berufsverbot nur eine un-
tergeordnete Rolle;37 zumeist betrifft es spektakuläre Missbrauchsfälle im anwaltli-
chen, ärztlichen, pflegerischen oder pharmazeutischen Umfeld mit einer Vielzahl
von Opfern.38
32
Weinrich 2009, 190. Bezeichnend erscheint in diesem Kontext, dass die gerichtlichen
Anordnungen gem. § 45 Abs. 2/5 StGB in der amtlichen Strafverfolgungsstatistik als „Ab-
erkennung von Bürgerrechten“ tituliert werden (s. o. Fn. 29). Genau das ist es.
33
Ein solcher berufstypischer Zusammenhang zwischen Tätigkeit und Tat wird verneint,
wenn die Berufsausübung dem Täter lediglich die Möglichkeit verschafft hat, Straftaten zu
begehen; vgl. z. B. BGH, 2 StR 182/07, StV 2008, 80.
34
§ 62 StGB.
35
§ 70a StGB.
36
§ 145c StGB sieht Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr vor.
37
2018 wurden 83 Berufsverbote gem. § 70 StGB verhängt; Statistisches Bundesamt,
Strafverfolgung 2018, Tab. 5.
38
Lebenslange Berufsverbote wurden in jüngerer Zeit etwa im Fall des Bottroper Apo-
thekers Peter S. wegen der Abgabe gepanschter und dadurch mutmaßlich unwirksamer
Krebsmedikamente in 14.500 Fällen (2018) oder des Oldenburger Krankenpflegers Niels H.
wegen der Ermordung von 85 Patienten (2019) verhängt.
39
Nicht berücksichtigt sind an dieser Stelle ordnungsrechtliche Fahrverbote.
Strafen über Strafen 1083
3.4 Exkurs
46
§ 69a Abs. 2 ermöglicht Ausnahmen (nur) in besonderen Fällen, etwa für landwirt-
schaftliche Maschinen, Militärfahrzeuge oder Feuerlöschzüge. Böse 2017, § 69 Rn. 15 spricht
an anderer Stelle von „Gnadenentscheidungen“.
47
Die Kosten für einen Neuerwerb können mit E 1.500,– bis 2.700,– zu Buche schlagen.
Hinzu kommen ca. E 500 für die MPU. Angaben nach www.adac.de [15. 05. 2019].
48
Ausführlicher Böse 2017, § 69a Rn. 2 ff.
49
Als Indiz hierfür kann auch die Diskussion um die – vom BGH gebilligte – Verlängerung
der Sperrfrist contra legem um eine mögliche überschneidende Haftzeit betrachtet werden, die
zwar in der punitiven Variante vorgesehen ist (§ 44 Abs. 3 S. 2), bei § 69 aber eindeutig
systemwidrig ist; zum Ganzen Molketin 2001.
50
Vgl. § 69 Abs. 1 S. 2 StGB.
51
2018 wurden 27.417 Fahrverbote und 92.131 Fahrerlaubnisentziehungen verzeichnet;
Statistisches Bundesamt, Strafverfolgung 2018, Tab. 5. Flächendeckende Stichtagszahlen sind
nicht verfügbar; bei Zugrundelegung einer mittleren Sperrdauer von zweieinhalb Jahren er-
gäbe sich eine geschätzte Gesamtzahl von ca. 230.000 Personen, denen jeweils aktuell die
Fahrerlaubnis entzogen ist.
Strafen über Strafen 1085
Die mit Abstand größte Gruppe, die zusätzlich zu den strafrechtlichen auch be-
rufs-, gegebenenfalls auch statusrechtliche Konsequenzen zu erwarten hat, sind
die beamteten Berufe.53 Neben den einfachen bzw. temporären Disziplinarsanktio-
nen fallen in unserem Kontext vor allem die statusrelevanten Sanktionen besonders
ins Gewicht: die Zurückstufung und die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis
(§§ 9, 10 BDG); letztere zieht als weitere Konsequenz den Wegfall der Pensions-
und der privilegierten Krankenversorgungsansprüche nach sich.54 Bei Straftaten,
die im Ruhestand begangen werden, drohen Kürzung oder Verlust des Ruhegehalts
(§§ 11, 12 BDG). Der Verlust des Beamtenstatus ist zwingend bei Verurteilung zu
Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr, bei bestimmten Staatschutz- und Amts-
delikten sechs Monaten.55 Fakultativ ist er bereits bei geringeren Strafen möglich,
auch bei Geldstrafe.56 Er ist um Übrigen irreversibel; eine erneute Aufnahme in
den öffentlichen Dienst ist nicht möglich, auch nicht im Angestelltenverhältnis
(§ 10 Abs. 5 BDG). Es gilt mithin die gesetzliche Prämisse, wer sich einmal als un-
würdig erwiesen hat, gilt für immer als unwürdig. Die beamtenrechtlichen Folgen
52
Anders, nämlich als individuelle Zusatzeinschränkung, könnte die fakultative Füh-
rungsaufsicht gem. § 68a Abs. 1 StGB zu bewerten sein. Sie wurde im Jahr 2018 lediglich in
21 Fällen verhängt; Statistisches Bundesamt, Strafverfolgung 2018, Tab. 5. Auch hier gibt es
keine Stichtagszahlen; insgesamt standen 2014 ca. 36.700 Personen unter Führungsaufsicht;
Kinzig 2018, 142 f. Weitere Hinw. bei Dessecker 2019.
53
2019 hatten ca. 1,7 Mio. Angehörige des Öffentlichen Dienstes Beamtenstatus; hinzu
kommen ca. 170.000 Berufs- oder Zeitsoldaten; Statistisches Bundesamt online [15. 09.
2020].
54
Ausführlich zum Rechtsfolgensystem z. B. Brüning 2017, 80 ff.
55
Vgl. § 41 BBG für Bundes- bzw. § 24 BeamtStG für Landes- und Kommunalbeamte.
56
So wurde z. B. in Freiburg ein Lehrer in Probezeit nach Verurteilung zu einer Geldstrafe
von 120 Tagessätzen wegen Blendens eines Hubschraubers mit einem Laserpointer entlassen;
Badische Zeitung vom 27. 05. 2020: https://www.badische-zeitung.de/gundelfinger-nach-laser
pointer-attacke-auf-polizeihelikopter-zu-geldstrafe-verurteilt-185894475.html [30. 08. 2020].
1086 Michael Kilchling
sind im Rahmen der Strafzumessung gem. § 46 StGB unter dem Aspekt der Re- bzw.
Entsozialisierungsrelevanz zu berücksichtigen.57 Die Strafgerichte sind traditionell
darum bemüht, dies bei der Sanktionsfindung tatsächlich zu berücksichtigen und so-
weit vertretbar eine tatschuldunterschreitende Strafe von weniger als einem Jahr fest-
zusetzen;58 regelmäßig ist aus den Entscheidungsgründen veröffentlichter Urteile
eine hohe Sensibilität59 für und nicht selten auch ein gewisses Unbehagen über
diese weitreichenden Zusatzsanktionen herauszulesen.
Weniger bekannt sind in der Öffentlichkeit die berufsbeschränkenden Regelun-
gen außerhalb des Beamtenrechts. Das betrifft zunächst die approbierten Berufe,
die der Kontrolle durch Berufskammern und deren justizunabhängigem Berufs-
und Disziplinarrecht unterliegen. Rechtsanwälte, Notare, Steuerberater, Wirtschafts-
prüfer, Angehörige medizinischer und pharmazeutischer Berufe, Architekten und
Bauingenieure sind die namhaftesten Beispiele. Rechtlicher Anknüpfungspunkt
der Nichtzulassung bzw. des temporären oder endgültigen Ausschlusses ist auch
hier, in Ablehnung an das Beamtenrecht, die – standesrechtliche – Unwürdigkeit auf-
grund beruflichen oder außerberuflichen Fehlverhaltens.60
Auch jenseits der öffentlich-rechtlich regulierten Berufe existieren in zahlreichen
privaten Berufszweigen rechtliche Rahmenbestimmungen, die im Falle strafrechtli-
cher Auffälligkeit negative Konsequenzen für die Berufsausübung auslösen können.
Dies gilt zunächst für Tätigkeiten, die eine behördliche Erlaubnis voraussetzen, etwa
nach der Gewerbeordnung, dem Gaststättengesetz, dem Personenbeförderungsge-
setz, dem Kreditwesengesetz oder dem Schornsteinfeger-Handwerksgesetz.61 Die er-
forderliche Erlaubnis, Genehmigung, Bestellung etc. kann von der zuständigen Be-
hörde wegen Fehlens der erforderlichen Zuverlässigkeit versagt bzw. eine bestehen-
de Erlaubnis etc. zurückgenommen oder die weitere Ausübung z. B. eines Gewerbes
untersagt werden. Im Fall der Gewerbeuntersagung (§ 35 GewO) sind die Verwal-
tungsbehörden an die strafgerichtlichen Feststellungen zu den Voraussetzungen
der Untersagung gebunden, nicht jedoch hinsichtlich des eigenen Rechtsfolgener-
messens; bei negativer Prognose ist die Untersagung zwingend. Im Erlaubnisverfah-
ren gibt es keine solche Bindungswirkung. Unzuverlässigkeit ist ein typischer unbe-
stimmter Rechtsbegriff. Sie begründen kann nach ständiger Rspr. eine Straftat ebenso
wie eine Ordnungswidrigkeit. Diese müssen nicht rechtskräftig festgestellt sein;62 die
57
Vgl. Streng 2012, Rn. 716 ff. sowie bereits Streng 1988.
58
Dies kann eine mögliche Erklärung für die vergleichsweise geringe Zahl gerichtlicher
Anfechtungen sein; insgesamt wurden 2019 bei den Verwaltungsgerichten 621 Disziplinar-
fälle entschieden; Statistisches Bundesamt, Verwaltungsgerichte 2019, Tab. 1.2.5.1.
59
Die Richterschaft gehört ja selbst zu den potenziell Betroffenen.
60
Vgl. z. B. §§ 7 Nr. 5, 114 BRAO; dieses u. weitere Beispiele ausführl. bei Beck 2012.
61
§ 35 GewO; §§ 4 Abs. 1 Nr. 1, 15 GastG; §§ 13 Abs. 1 Nr. 2, 25 PBefG; §§ 33 Abs. 1
Nr. 2 u. 3, 35 Abs. 2 Nr. 3 KWG; §§ 9a Abs. 2 Nr. 7a–c, 12 Abs. 1 Nr. 2 SchfHwG; u.v.a.m.
62
Vgl. Marcks 2019, § 35 Rn. 42. Es genügt der Anfangsverdacht gem. § 170 Abs. 1 StPO;
unerheblich ist, ob die Staatsanwaltschaft den Sachverhalt auch verfolgt (OVG Münster, NJW
2015, 3387). Die Bewertung des – bei Einstellungen gem. § 170 Abs. 2 oder §§ 153 ff. StPO
Strafen über Strafen 1087
nur mutmaßlichen – strafrechtlichen Verhalten liegt also faktisch in der Hand der Verwal-
tungsbehörden und Verwaltungsgerichte.
63
Ausführlicher zu den Voraussetzungen Marcks 2019, § 35 Rn. 28 ff.
64
Die GewO trat erstmals 1883 in Kraft, das GastG im Jahr 1930.
65
Vgl. Fn. 61 zum Schornsteinfeger-Handwerksgesetz v. 26. 11. 2008, BGBl. I, 2242.
66
BVerwG, GewA 1982, 294.
67
Bundesamt für Justiz, Übersicht über die Eintragungen im Gewerbezentralregister
(Teilregister für natürliche Personen), Stand: 31. Dezember 2018, Tab. 01 u. 03. Die Zahl der
Entscheidungen mit deliktischem Bezug ist allerdings nicht separat ausgewiesen und dürfte
daher niedriger sein.
68
Siehe z. B. Marcks 2019, § 35 Rn. 34.
69
Vgl. § 1 Abs. 2 KSchG.
1088 Michael Kilchling
70
Man erinnere sich nur an die medial vieldiskutierte fristlose Kündigung der Berliner
Supermarktkassiererin wegen Unterschlagung zweier Pfandbons im Wert von insgesamt
E 1,30 (Fall „Emmely“), die erst in dritter Instanz vom BAG aufgehoben wurde. In Anbetracht
der über 30-jährigen Betriebszugehörigkeit sah das Gericht eine Abmahnung als angemessen
an. Grundsätzlich könne in vergleichbaren Fällen aber auch eine ordentliche Kündigung in
Frage kommen. Vgl. BAG, NZA 2010, 1227 (und online).
71
Diese ist nicht gleichzusetzen mit einer Verhältnismäßigkeitsabwägung zwischen dem
angerichteten Schaden und den mit dem Arbeitsplatzverlust verbundenen Nachteilen; vgl.
Ascheid et al. 2017, § 626 BGB, Rn. 277. Dies erklärt die immer wieder bekanntwerdenden
Bagatellfälle um belegte Brötchen, Frikadellen, Maultaschen, etc.; weiter Rspr.-Hinw. aaO.,
Rn. 275.
72
Rspr.-Hinw. z. B. bei Ascheid et al. 2017, § 1 KSchG, Rn. 256 ff.
73
Bei Untersuchungshaft rekurriert man auf die unabsehbare Dauer, bei Strafhaft hingegen
auf deren konkrete Dauer.
74
Vgl. § 35 GewO; dazu Morgenstern 2019, 68 ff.
Strafen über Strafen 1089
fen im Allgemeinen und Haftstrafen im Besonderen große Bedeutung zu. Diese las-
sen sich freilich umgehen, indem er sich vom Bewerber ein Führungszeugnis vorle-
gen lässt.75
Aber auch am anderen Ende der Einkommensskala lauern Risiken. Auch für
CEOs, Vorstände und Manager auf der Leitungsebene greifen bei bestimmten Straf-
taten gesetzliche Tätigkeitsverbote.76 Entsprechende Fälle bedeuten oft einen tiefen
Einschnitt in die berufliche Karriere der Betroffenen.77 Über den Bereich strafrecht-
lich relevanten Fehlverhaltens hinaus gewinnt im Unternehmensbereich auch die zu-
nehmende Dichte an Soft-law-Standards zu Unternehmensethik und Compliance,
insbesondere durch die Weiterentwicklung des Unternehmensstrafrechts, immer grö-
ßere Bedeutung. Sie haben mutmaßlich vergleichbare Abschreckungswirkung wie
die gesetzlichen Disqualifizierungsbestimmungen. Die geforderte Selbstunterwer-
fung unter diese zusätzlichen – nichtstaatlichen – Kontroll- und Disziplinierungsre-
gime gilt heute als selbstverständliche Voraussetzung für die Bestellung.
4.2 Adressatenkreis
75
Zum Ganzen Milthaler 2006; kritisch Jacobs & Larrauri 2016, die von „criminal record-
based employment discrimination“ sprechen.
76
Z. B. § 76 Abs. 3 Nr. 2/3 AktG, § 6 Abs. 2 Nr. 2/3 GmbHG.
77
Zum Ganzen Martin 2007 (zit. S. 38).
78
Auf einer älteren Website des Bundesamtes für Justiz ist für Juli 2011 eine Gesamtzahl
von ca. 6,3 Millionen Personen angegeben, vgl. https://web.archive.org/web/20110719121935/
http://www.bundesjustizamt.de/cln_115/nn_2036868/DE/Themen/Buergerdienste/BZR/BZR__
node.html?__nnn=true [30. 8. 2020].
79
Strafmündige Bevölkerung: 63,8 Mio.; vgl. Statistisches Bundesamt, Strafverfolgung
2018, 509.
80
Eine kriminologische Studie aus den späten 1970er Jahren hat auf der Basis verschie-
dener Modelle errechnet, dass etwa ein Drittel der Dreißigjährigen (Männer) in Deutschland
schon mindestens einmal im Leben wegen eines Vergehens oder Verbrechens verurteilt wurde;
vgl. Keske 1979.
1090 Michael Kilchling
Relevanz entfalten können.81 Schließlich setzen, wie beschrieben, nicht alle Maßnah-
men stets eine rechtskräftige Verurteilung voraus.
5. Ausblick
Als (Zwischen-)Ergebnis ist festzuhalten, dass Deutschland über einen komple-
xen Mix deliktsbezogener Zusatzsanktionen verfügt, die im Hinblick auf ihren Ur-
sprung, ihre Begründung, ihren Anwendungsbereich, ihren Rechtscharakter, ihre In-
tensität und Reichweite sowie ihre potentiellen weiteren Folgewirkungen einen ko-
härenten konzeptionellen Rahmen vermissen lassen. Eine grobe Zweiteilung ist
gleichwohl erkennbar. Die erste Gruppe betrifft die strafrechtlichen Begleitsanktio-
nen, die – mit Ausnahme der (ihrerseits hybriden) Eingriffe in das Recht zum Führen
von Kraftfahrzeugen – bereits normativ restriktiv angelegt sind und von der Gerichts-
praxis nur zurückhaltend angewendet werden. Die große Mehrzahl der Restriktio-
nen, gerade auch die berufsbezogenen, findet sich außerhalb des strafrechtlichen
Normenbestandes. José Luis de la Cuesta spricht zurecht von versteckten („hidden“)
Maßnahmen.82 Obwohl sie einen konkreten Bezug zu strafrechtlich relevantem Vor-
verhalten haben, sind die daran anknüpfenden Konsequenzen der strafrichterlichen
Entscheidung faktisch entzogen (es sei denn sie werden bei der Strafzumessung an-
tizipiert wie im Fall der beamtenrechtlichen ,Höchststrafe‘). Mitunter wird kritisiert,
dass das Straf- bzw. Strafprozessrecht mit seinen weitreichenden Verfahrensgaran-
tien durch das Ausweichen in das Verwaltungsrecht quasi ausgehebelt werde.83 In
der Tat macht es einen Unterschied, ob eine Maßnahme am Ende eines ordentlichen
Strafverfahrens richterlich angeordnet oder von einer Verwaltungsbehörde oder
sonstigen Stelle verfügt wird. Innerhalb der jeweiligen Bereiche, ebenso wie zwi-
schen ihnen, gelten beispielsweise ganz unterschiedliche Ermessensregeln und Ver-
hältnismäßigkeitsmaßstäbe. Noch problematischer als die verwaltungsrechtlichen
erscheinen unter systemischer Perspektive schließlich die parallelen privaten Sank-
tionsregime, da sie als echte Konkurrenz zum staatlichen Strafmonopol verstanden
werden könnten.
Das Prinzip als solches ist konzeptionell dem Grundsatz nach freilich bereits im
zweispurigen Sanktionensystem mit seiner Unterscheidung von schuldabhängiger
Strafe und zusätzlicher84 präventiver Intervention – einschließlich solcher mit fakti-
scher Sanktionswirkung – angelegt. Dabei sollen die präventiven Instrumente rein
81
Dies gilt im strafrechtlichen Kontext inzwischen flächendeckend und darüber hinaus
auch in anderen Bereichen wie z. B. im Rahmen der Beurteilung der gewerberechtlichen Zu-
verlässigkeit; vgl. § 11c Abs. 1 Nr. 2 GewO.
82
Siehe oben Fn. 3; Fitrakis 2018 tituliert sie, nicht weniger treffend, als „invisible pu-
nishments“.
83
Siehe z. B. Rauls & Feltes 2019.
84
Der kumulative Einsatz von Strafe und Maßregel ist statistisch die bei Weitem häufigste
Konstellation.
Strafen über Strafen 1091
85
Zum Ganzen ausführlicher Morgenstern 2019, 72 ff. (m.w.N.).
86
In diesem Sinne Meijer et al. 2019, 1.
87
Albrecht 1999.
1092 Michael Kilchling
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1
GICCAS IT 1372 – 19. English translation by Dr. Miren Odriozola, Lecturer in Criminal
Law. University of the Basque Country (UPV/EHU).
2
Under Spanish Criminal Law, barring from public employment or office, as well as pro-
fession, trade, industry or commerce or any other right is a type of punishment; it can also
constitute a security measure (Article 96.3: 1 – 5 years) if the subject committed the offense by
abuse of the office or in relation thereto, and presents the danger of committing other similar
acts again (Article 107). There are two modalities of barring: absolute barring – a dys-
functional anachronism (De Vicente Remesal 2014, 60) that can range from 6 to 20 years – and
special barring (from 3 months to 20 years). However, in other legal systems, such as Germany,
they are considered accessorial consequences (Nebenfolgen). Albrecht 2017, 1907.
3
Díez Ripollés 2014, 6.
4
Albrecht 2000, 131.
1096 José Luis de la Cuesta
1. Access to Employment
Spanish labor law does not mention criminal records among the causes of prohib-
ited discrimination in employment,5 and the practice shows that – even if Article 73.2
of the 1979 Penitentiary Organic Act orders that criminal records should never justify
“social or juridical discrimination” – they can have a negative influence in employ-
ment after conviction.6
1.1 Traditionally a clean criminal record was legally (or by means of a regulation)
required to access a public position or employment in the Administration, in the Po-
lice, in the Army …
Nowadays, in the absence of a general legal regulation, sectorial rules in different
fields (security & justice, health, contact with vulnerable collectives, gambling, cus-
toms and taxes, transport …) refer to criminal records as an element that needs to be
considered to get access to a long list of professions in the public and private sector.
Experts mention the following at the national level:7 prosecutors, judges, judicial
secretaries, prison officers, civil servants in the Justice Ministry, lawyers, notaries,
fire department officers, gatekeepers in public spectacles and other recreational ac-
tivities, directors of private insurance services, private security guards, employees in
areas of special security at airports, staff of adoption agencies, owners of private
education centers, school transport drivers, dental professionals, medical veterinar-
ians, betting offices’ and lottery’s administrators, gambling licensees and employees
in gambling houses, customs and commission agents, employees at the Treasury and
Spanish Bank, tobacco commerce licensees, accounts auditors, managers of financial
and crowd funding companies, drivers of vehicles for the transport of persons and
goods, among others.
Regulations at the regional and local level demand similar requirements for other
professionals (such as taxi drivers in various cities).
1.2 The content of all these norms is not unitary and sometimes the decision maker
is given a frame of discretion. As a consequence, not having a clean criminal record
does not always entail an automatic exclusion of the candidate; instead, it tends to
depend more on the nature of the offense and other elements.
For example, Article 8.5 of Act 45/2015 on volunteer activities prevents the fol-
lowing from engaging in this kind of activities: individuals who have criminal re-
cords – unless they have already been or should have been canceled – for domestic
or gender violence and a list of various offenses against life, integrity, freedom, moral
integrity or sexual freedom or indemnity of the partner or children; or for illegal traf-
5
Jacobs & Larrauri 2012, 12 f.
6
Jacobs & Larrauri 2016, 1 ff.; Kurtovic & Rovira 2017, 505 ff.
7
Larrauri 2013, 1 ff.
Hidden and Less Visible Consequences of Conviction 1097
8
This provision was very much criticized by the organizations working in this field, taking
into account that some volunteering activities are very much related to rehabilitation, and that
persons who have previously committed an offense take part successfully supporting other
people with their experience; https://www.eldiario.es/sociedad/ONG-rechazan-antecedentes-
obstaculo-voluntariado_0_379712597.html [20. 05. 2020].
9
Regulated by Royal Decree 1110/2015, whose constitutionality is questioned. Molina
Blázquez 2016; Marco Francia 2018, 1 ff.; see also Fernández-Pacheco Estrada 2019, 46 ff.
10
Larrauri Pijoan 2014, 723 ff.
11
Larrauri 2011, 54.
12
Jacobs & Larrauri 2016, 5.
13
Jacobs & Larrauri 2010, 17 ff. In the same line, Article 11 d) of Act 5/2001 (Castilla-La
Mancha) (abrogated in 2018), on the Prevention of Mistreatment and Protection of Battered
Women, which permitted the reproduction of the final convictions on domestic violence, was
considered unconstitutional by most experts. Bustos Gisbert 2002, 11 ff.
1098 José Luis de la Cuesta
The Central Register of Convicted Persons is the competent file in Spain and all
punishments14 imposed to natural and juridical persons by a final judicial decision
must be registered there. Established with the purpose of serving the needs of the ju-
dicial system regarding recidivism and the decisions related to the suspension of the
execution of punishments, entries concerning criminal records (including also those
derived from foreign judgments) can be notified exclusively to the competent judges
(if they have been canceled, indicating this fact), to the person concerned, and in the
cases strictly foreseen by the law (Article 137.4):15 for instance, by prosecutors and
the judicial police.16
Non-favorable police records can also have a negative incidence to obtain various
permits. Integrated in official files, these data refer to information related to the pre-
vention and investigation of penal offenses or administrative infractions17 and they
deserve the protection established by Organic Act 11/1999 on data protection.
In any case, long time ago, the Constitutional Court declared (Decision 77/1985)
that requiring criminal records for the access to certain professions is not unconstitu-
tional – since it does not entail an absolute exclusion of all kinds of employment – and
the non-public nature of these data and files is not necessarily an obstacle to consider
them in private employment selection processes,18 since requiring the person con-
cerned to provide a certificate is not legally forbidden19 in an explicit way.
2. Immigration
As in the other countries, the impact of conviction (and post-conviction) on the
status of foreigners is very relevant in Spain.
2.1 Criminal records are usually an obstacle for foreigners to get access to resi-
dence and/or work permits in Spain. The absence of prison records in Spain or in
14
According to Article 137, security measures are also registered, being “only recorded in
the certifications the Bureau issues for use by Judges or Courts of Law, or the administrative
authorities, and in the cases established by Law”.
15
In a similar vein, Article 8 of Royal Decree 1110/2015, establishes that direct access to
the data contained in the Sex Offender Registry is limited to judges and courts (that can even
have notice of the entries that have been canceled), prosecutors and the judicial police. Public
entities for the protection of children may also ask for data in order to evaluate the situation of
lack of protection of a child (Article 9.4).
16
With the same purpose, Article 6 of Royal Decree 95/2009 also mentions the competent
authorities in the control of passports and entry to Spain, together with the police in charge of
weapons licenses.
17
Article 43 of Organic Act 4/2015 on the Protection of Public Safety established the
Central Registry of Infringements against Public Security, which gathers the information
needed in order to appreciate recidivism in further administrative proceedings.
18
Critically, Larrauri 2016, 10 f.
19
Jacobs & Larrauri 2012, 3 refer that “it is widely believed that employers rarely make
such request”, but “there are no empirical studies to confirm that impression”.
Hidden and Less Visible Consequences of Conviction 1099
the country where the applicant resided in the last five years is a general requirement
to obtain initial administrative permits. However, the presence of criminal records
does not necessarily prevent their renewal: these are to be considered taking into ac-
count the incidence of pardons or conditional sentences or the suspension of the
execution of sentences of deprivation of freedom (for instance Article 31 Organic
Act 4/2000); in this sense, the case law20 has repeatedly underlined that non-favor-
able police reports exclusively based on police records should not be sufficient in
order to reject the permit.
2.2 Access to Spanish nationality can also be denied due to the presence of criminal
or police records, since they can be understood as an evidence of the lack of the
necessary “good civil conduct” (Article 22.1 Civil Code). However, the case law con-
siders that this “anachronistic” juridical concept should not be automatically excluded
because of the presence of criminal records and should also be affirmed in the absence
of conducts against public order, public security or public health or when a normal ful-
fillment of the civic duties which can be reasonably required21 is appreciated.
2.3 According to Act 12/2009, criminal records related to serious crimes, together
with the fact of being a threat for the community, can result, among others, in exclu-
sion and denial of asylum (Article 9), subsidiary protection (Article 12 b), and family
reunification (Article 41.5); they are even key elements in order to decide the with-
drawal of previous decisions (Article 44.1 a & c). In line with Article 33.2 of the 1951
Geneva Convention, they can also be an obstacle to the recognition of the principle of
“non-refoulment”.22
2.4 With regard to foreigners’ freedom of movement and residence, even if
Article 19 of the Constitution only refers to Spanish citizens, the Constitutional
Court extended this right to foreigners (Decision 94/1993), allowing only the limi-
tations established by the law or by a judicial decision. Article 5.2 of Organic Act 4/
2000 includes, in this sense, the possibility of restriction of foreigners’ right to move-
ment and residence by reasons of public security. Such decision needs to be adopted
with full respect for the sanctioning proceeding and in an individualized, proportional
and motivated way. According to this Article, the restrictive measures will not over-
come the essential and proportional time according to the circumstances, and may
only consist in the periodical presentation before the competent authorities or in
moving away from certain borders or specific places.
2.5 Nevertheless, the greatest incidence of conviction refers to deportation.
2.5.1 Post-conviction deportation is foreseen in the Spanish Penal Code
– as a security measure, called to substitute other security measures applicable to
foreigners not legally resident in Spain (it forbids that they return before ten
years) (Article 108); and
20
See also Decision 46/2014 of the Constitutional Court.
21
Galparsoro & Bárcena 2014, 22 ff.
22
Galparsoro & Bárcena 2014, 25 ff.
1100 José Luis de la Cuesta
23
Furthermore, deportation of a European Union citizen is exceptional (only when it
entails a serious risk against public order or public security) and stricter requirements apply to
deportation of a foreigner who has resided in Spain during the last ten years.
24
European Union citizens can reside in the territory of the Union and do not need an
initial authorization, but must register at the Central Register of Foreigners, acquiring the
status of permanent resident after 5 years. Nevertheless, entrance and residence can be res-
tricted by reasons of public order, public security or public health; and therefore, criminal
records can be an evidence of some of these reasons, within certain limits (see Article 15.5
Royal Decree 240/2007).
25
In a critical sense, Larrauri 2016, 8 f.
26
Larrauri 2016, 9 ff.; see also, Galparsoro & Bárcena 2014, 4 ff.
27
Larrauri 2016, 5.
28
Larrauri 2016, 5.
29
García España 2016, 4 ff.
Hidden and Less Visible Consequences of Conviction 1101
having been convicted, inside or outside Spain, due to an intentional penal offense
which is punished with “deprivation of liberty”30 of more than one year.
Experts criticize the excessive administrative discretion connected to administra-
tive deportation, and particularly, the large extent of Article 57.2 and its automatism,
as well as its condition of “collateral consequence” (if not formally, at least materi-
ally) of a penal nature, which is added after the criminal sentence and infringes the
“ne bis in idem” rule. However, Decision 236/2007 of the Constitutional Court did
not accept this objection, since it considered that deportation as a punishment and
administrative deportation have a “different legal basis”.31
2.5.3 The adoption of a “unitary vision” of the legal regime of deportation is ab-
solutely urgent in order to put an end to the inconsistencies of the present “crimmi-
gration”32 approach, which results in an unacceptable violation of “basic principles
and rights” of our legal system. The 2015 reform of Article 89 of the Penal Code33
fought, in a positive way, against the automatism of deportation, introducing criteria
which allow a better “individualization of the punishment of foreigners”.34 It is some-
thing that should also be introduced in the administrative regulation following the
jurisprudence of the European Court of Human Rights.35 Nevertheless, there are
still various points that deserve to be reconsidered in order to avoid, for instance,
the excessively afflictive penal treatment of foreigners who have roots in the coun-
try,36 as well as deportation of persons living in Spain, whose minor children hold
Spanish nationality. This should be considered contrary to Article 39 of the Spanish
Constitution, since the child is placed in a very difficult alternative, generating a risk
against his/her psycho-affective stability. It is also contrary to the most basic princi-
ples of familiar protection: if they remain in Spain, they will be raised in the absence
of the holder of the parental rights; and if they want to maintain the relationship with
his/her parents, they are obliged to leave Spain.37
2.5.4 Last but not least, even if the arrest of foreigners and their internment in a
Penitentiary Establishment are, in principle, submitted to the general regulation ap-
plicable to Spanish citizens,38 foreigners awaiting repatriation, delivery or the exe-
30
García España 2016, 20 recalls that Article 89 PC refers, however, to “imprisonment” of
more than one year, leaving outside its frame of application other punishments which entail a
deprivation of liberty defined by Article 35 PC: particularly, the personal subsidiary res-
ponsibility for failure to pay fines and permanent traceability.
31
Critically, Larrauri 2016, 13.
32
García España 2016, 29.
33
See Iglesias Ríos 2015, 173 ff.
34
García España 2016, 15.
35
Roig Torres 2014, 423 ff.
36
García España 2018, 119 – 144. On the juridical and practical problems of long-term
permits of residence in case of criminal records, see also Galparsoro & Bárcena 2014, 6 ff.
37
Galparsoro & Bárcena 2014, 6 f.
38
No separate legal treatment is foreseen for foreign prisoners apart from some specific
provisions on certain aspects as communication with embassies and consulates, collaboration
1102 José Luis de la Cuesta
3. Other Restrictions
Notwithstanding the difficulties in the access to employment or in the treatment of
foreigners and immigration, there are more examples of negative effects related to
penal convictions that are not directly foreseen by the criminal code or the penal
legislation.
Leaving aside those cases of inconsistencies between penal and administrative
legislation (for instance, in the electoral field)40 which result in “invisible”41 conse-
quences not foreseen by the Penal Code or Penitentiary rules,42 further restrictions
related to criminal (and even police or administrative) records are particularly nota-
ble in other areas:
3.1 This is the case of certain licenses, such as the licenses for gun ownership and/
or hunting license (Article 97, Royal Decree 137/1993, Weapons Regulation) where
criminal and police records are usually considered as an indicator of the risk that pos-
sessing and using weapons can generate (Article 98 Royal Decree), leading as a con-
sequence to the refusal of the permit/license.43 Furthermore, with regard to the legis-
lation on the juridical regime of ownership of potentially dangerous animals, records
of interpreters in prison and deportation …). Santacruz Iglesias, 2014. However, the absence
of specific normative provisions – together with the automatic identification of the absence of
regular documentation with a high risk of evasion – results in a source of institutional dis-
crimination in the day-to-day prison life, since it does not help surmount the barriers to
participation in prison life, to the enjoyment of term-release permits and visits and to their
access to open regime and parole. De la Cuesta 2007, 751 ff.
39
García España 2017; Martínez Escamilla 2016, 18 ff.
40
Larrauri 2015, 154.
41
Mauer & Chesney-Lind 2002.
42
In fact, contrary to the restrictions introduced by the new Penal Code to the punishment
of barring in the electoral field, all those who are finally convicted to deprivation of liberty are
ineligible during the term of the sentence (Article 6.2), as well as those convicted by judicial
decision, even if not final, if the crimes committed are rebellion, terrorism, crimes against
Public Administration or against State institutions, Brandáriz García 2012, 2.
43
In this sense, the case law has insisted on the need for an adequate consideration of the
personal and specific conduct, since the absence of penal convictions, as such, does not ensure
the right to own and carry weapons, and it allows a less restrictive treatment concerning
hunting, where poaching, and other infringements of hunting and weapons regulation, together
with the personal dangerousness and administrative or penal offenses due to drunk-driving,
constitute the most frequent reasons for denying a license. Palacios Blanco 2003.
Hidden and Less Visible Consequences of Conviction 1103
may be an obstacle to obtain a license to own dangerous dogs (Article 3.1.b & c of
Royal Decree 287/2002, implementing Act 50/1999).
3.2 Criminal records can also have negative consequences related to family law.
On the one hand, concerning guardianship, Article 243 of the Civil Code excludes
from the exercise of guardianship not only the individuals who have been judicially
deprived of (or suspended in) the exercise of parental rights, and safekeeping and
education rights, fully or partially, but also those convicted to imprisonment during
the term of the sentence. Individuals convicted for any offense that may entail that
they will not perform guardianship adequately and persons with bad conduct or
who lack a known way of living (Art. 244) cannot be guardians either.
On the other hand, even if criminal records are not mentioned by national legis-
lation as an obstacle to the declaration of eligibility for international adoption (see
Article 10 of Act 54/2007), regional legislation in this area proceeds differently
and often requires the absence of criminal records.44
3.3 Concerning pensions and social aids, the Constitutional Court (Decision 114/
1987), long time ago, declared unconstitutional to remove the payment of the retire-
ment pension as a consequence of the commission of a penal offense. Nevertheless,
there are various examples in regional regulations regarding social and welfare allow-
ances where criminal records are taken into consideration in the procedure of adopt-
ing a decision (for instance, Article 7 of Decree 115/2006 – Extremadura – related to
social housing). Similarly, even if victim compensation is not to be affected by the
commission of further offenses or by criminal records, according to Article 3 of Act
35/1995, on the assistance of victims of violent offenses and offenses against sexual
freedom, the behavior of the beneficiary (contributing directly or indirectly to the
crime), her/his relationship with the perpetrator or the fact of belonging to an organ-
ization dedicated to violent offenses can justify the denial or reduction of the com-
pensation, if it becomes contrary to equity or public order.
3.4 In the academic field, academic titles or examinations should not be affected
as such by criminal records,45 but several regulations include as a strict requirement
the absence of criminal records in order to have access to student loans and grants.46
44
Article 16 of Decree 45/2005, on the adoption of children in Castilla-La Mancha, refers
to the absence of criminal records that could be considered negative for the protection and
development of the child. Article 233 – 11 of Act 25/2010, concerning the second book of the
Catalan Civil Code, allows using criminal records in the proceedings on custody in order to
determine the suitability of the person concerned. And Article 11 & 12 of Decree 114/2008
(Historical Territory of Bizkaia, in the Basque Country) not only pays attention to the criminal
records of the petitioner, but also requires the presentation of the criminal records of all the
persons aged more than 18 who live with her/him.
45
Nevertheless, Articles 2 & 5 of the obsolete 1975 Decree on Academic Discipline define
as serious infringements “those constituting penal offenses”, which can be sanctioned with
definitive or temporal separation of the service (for teachers and employees) (Article 3 a) or
temporal or definitive barring and/or expulsion (Article 6 a) of students.
46
See, for instance, Article 3.1 f of Order 16/2016 (Generalitat Valenciana).
1104 José Luis de la Cuesta
3.5 Among many other examples, individuals who have criminal records because
of their participation in an intentional offense can neither be members of a Jury
(Article 9, Organic Act 5/1995) nor notaries in relation to a popular initiative
(Article 10, Organic Act 3/1984). Individuals who are punished because of the per-
petration of serious crimes against life, personal integrity, freedom, sexual freedom
or indemnity, terrorism or any other serious crimes that generate a serious risk for life,
health or physical integrity can be submitted to the practice of biological and DNA
sampling (even coercive) (Art. 129 bis Penal Code). Furthermore, according to Ar-
ticle 71 of Act 9/2017, adopted to implement Directives 2014/23/EU and 2014/24/
EU, natural and juridical persons (and their managers and/or representatives) can be
excluded from contracts in the public sector not only if they are punished with barring
from the exercise of a profession, industry or commerce, but also in case of conviction
due to a long list of offenses.
4. Final Remarks
Even if the nuclear effects of criminal sanctions are clearly established by the law
according to the corresponding nature of each punishment (deprivation of liberty,
property, restriction of freedom …), day-to-day life shows that many other conse-
quences that affect civil rights often arise in the implementation of sentences or as
an additional consequence of them, thus aggravating the social exclusion of ex-of-
fenders, even for the rest of their life.47
Leaving aside the well-known example of prison sentences – where inmates face
serious problems to exercise their civil and/or political rights not limited by the prison
sentence unless a special regulation ensures the means to make them compatible with
the prison regime –, these effects (if not hidden, at least less visible) often come from
sectorial regulations that go beyond the contents and extent of the penal code, for
instance, in the electoral field or concerning deportation, which is a particularly seri-
ous case of normative discordance that deserves, naturally, very hard criticism.
Furthermore, an analysis of sectorial norms and practices clearly shows how often
police and criminal records, notwithstanding their not public nature, produce impor-
tant consequences in convicts’ rights even after the execution of the punishment. This
is particularly the case of foreigners’ law, where previous convictions and criminal
(or even administrative) records can result not only in deportation, but also in the de-
termination of ineligibility for residence and/or work permits (and renewal) and the
denial of access to nationality and international protection measures.
In a more general sense, the absence of criminal records is too often a legal or
regulatory requirement to exercise certain rights or to get access to services, aids
… and, particularly, to employment. It can, thus, happen that the penal judge does
47
Díez Ripollés 2014, 8.
Hidden and Less Visible Consequences of Conviction 1105
References
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Justice in Europe, in: P. Green & A. Rutherford (eds.), Criminal Policy in Transition, Oñati
International Series on Law and Society. London, pp. 131 – 150.
Albrecht, H.-J. (2017): Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts, § 45,
in: U. Kindhäuser, U. Neumann & H.-U. Paeffgen, Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch.
Baden-Baden, pp. 1907 – 1909.
Brandáriz García, J.A. (2012): La inhabilitación especial para el derecho de sufragio pasivo:
fundamento y deficiencias de una pena de aplicación masiva. Diario La Ley 5937, 1 – 6.
De la Cuesta, J.L. (2007): Chapter 24. Spain, in: A.M. van Kalmthout, F.B.A.M. Hofstee-van
der Meulen & F. Dünkel (eds.), Foreigners in European Prisons, Vol. 2. Nijmegen, 751 – 780.
48
According to Article 45 of the Penal Code, it needs to “be duly reasoned and specified in
the sentence”.
49
In this case, the offense should have been committed “by abuse of office or in relation
thereto and when an evaluation of the circumstances concurring may lead to the conclusion of
the danger of him committing the same offense or other similar ones again” (Article 107 Penal
Code).
1106 José Luis de la Cuesta
Strafen gelten heute als unverzichtbar. Nicht nur sind sie in der Alltagskultur tief
verwurzelt, sie werden in der Straftheorie als ein wesentliches Element betrachtet,
das den Zusammenhalt der Gesellschaft gewährleisten soll (Abraham 2018,
247 ff.; Hassemer 2009). Strafrecht lässt sich viel leichter einführen als abschaffen.
Selbst einzelne Tatbestände, deren Anwendung in der Praxis zu absurden Konse-
quenzen führen kann, lassen sich kaum sinnvoll einschränken, wenn sie einmal
von Parlamenten beschlossen und in Kraft getreten sind. Beispiele kann das Sexual-
strafrecht ebenso liefern (Simon 2017) wie der im Umfeld der Tötungsdelikte mar-
ginale, aber symbolisch umso stärker aufgeladene Tatbestand der Werbung für den
Abbruch der Schwangerschaft (§ 219a StGB; Frommel 2018).
In dieser Lage ist es angebracht, erneut darauf hinzuweisen, dass Strafen viele Fol-
gen haben: rechtliche und soziale, gewollte und ungewollte, unmittelbare und ferner
liegende. Das hat Hans-Jörg Albrecht schon früh getan, als er sich im Rahmen eines
Freiburger Großprojekts über die Geldstrafe im System strafrechtlicher Sanktionie-
rung mit der Legalbewährung nach Verurteilungen zu Geld- und Freiheitsstrafen be-
schäftigt hat (Albrecht 1982, 7 ff.). Damals bestand ein großes wissenschaftliches In-
teresse, die Praxis der Geldstrafe als dominierende strafrechtliche Normalsanktion
umfassend zu erforschen. Zugleich ging es darum, die Sanktionensysteme mehrerer
Länder zum Gegenstand von Strafrechtsvergleichung zu machen, die der Geldstrafe
unterschiedliche kriminalpolitische Positionen einräumten (Grebing 1978).
International vergleichende Forschungen über Systeme der Kriminaljustiz und
ihre Sanktionen haben seither bedeutend zugenommen. Damit hat sich comparative
criminal justice als neue Disziplin etabliert (Harrendorf 2017). Diese Forschungen
gehen davon aus, dass sich Systeme der Kriminaljustiz verschiedener Länder im Hin-
blick auf ihre Effektivität beurteilen lassen. Das soll unabhängig davon gelten, ob
man sie typologisch einem Modell der materiellen Gerechtigkeit (substantive justice
model) zuordnen kann, das wie in den meisten westeuropäischen Ländern beispiels-
weise durch eine politischen Einflüssen weitgehend entzogene Staatsanwaltschaft
gekennzeichnet ist, oder ob ein Modell der demokratischen Verantwortlichkeit (de-
mocratic accountability model) nach dem Vorbild der USA angemessener erscheint,
in dem das Justizpersonal weitgehend von Ergebnissen lokaler, regionaler oder na-
tionaler Wahlen abhängig ist (Tonry 2016a). Solche Vergleiche kann man darauf be-
ziehen, wie sich verschiedene Strafarten verteilen, welche Rolle besonders harte
Sanktionen wie etwa unbefristete Freiheitsstrafen im Verhältnis zu kurzen Freiheits-
1110 Axel Dessecker
entziehungen oder ambulanten Alternativen spielen und wie hoch die Gefangenen-
rate ausfällt. Wenn man sich auf die Hauptsanktionen des Strafrechts bezieht, über
deren Anwendung in den meisten Ländern annähernd vergleichbare amtliche Statis-
tiken geführt werden, gibt es offensichtlich gute Gründe dafür, diese Daten auch für
vergleichende Darstellungen heranzuziehen.
Was die rechtlichen Folgen von Verurteilungen betrifft, konzentrieren sich ver-
gleichende Untersuchungen zumeist auf Verteilungen der Hauptsanktionen und
deren Erklärung mit Merkmalen des Strafrechts, des Strafzumessungsrechts, des
Systems der Kriminaljustiz und des politischen Systems insgesamt (Albrecht
2017; Tonry 2016b). Vergleichende kriminologische Forschungen zur Legalbewäh-
rung, die weniger auf amtliche Statistiken als auf Daten der Strafregister aufbauen,
betrachten die Wirkungen bestimmter Sanktionsformen ebenfalls eher global
(Yukhnenko et al. 2019). Dem entspricht es, dass über die rechtliche Anwendung
eher unübersichtlich geregelter Kollateralfolgen wenig oder nichts zu erfahren ist,
obwohl auch diese einschneidende Wirkungen haben können.
Weniger umfassend erforscht sind andererseits die sozialen Folgen von Strafen.
Dies gilt trotz einer seit langem immer wieder formulierten Strafrechtskritik und
trotz des hohen Anspruchs, dass gerade der Strafvollzug zur Resozialisierung führen
soll. Soweit empirische Forschungsarbeiten zu Haftfolgen vorliegen, sind sie zu
einem guten Teil darauf angelegt, ausgefeiltere Therapieprogramme wie etwa solche
sozialtherapeutischer Einrichtungen mit dem Regelvollzug zu vergleichen (Wössner
2014). Die Möglichkeiten der Verallgemeinerung solcher Erkenntnisse sind schon
dadurch begrenzt, dass die Sozialtherapie zwar bis heute eine Orientierungsfunktion
für die Entwicklung des Justizvollzugs in Deutschland erfüllt, sich vom Regelvollzug
der Freiheitsstrafe aber schon im Hinblick auf die Personalausstattung der zuständi-
gen Vollzugseinrichtungen deutlich unterscheidet. Allgemein wird gerade aus prak-
tischer Sicht in den letzten Jahren das Erfordernis eines zwischen Vollzugseinrich-
tungen und ambulanten sozialen Diensten abgestimmten Übergangsmanagements
betont. Einschlägige Forschungen konzentrieren sich jedoch auf die Kooperations-
formen der beteiligten Stellen (Matt 2016; Wegel 2019). Dass auf der Seite ehema-
liger Gefangener soziale Defizite vorhanden sind, wird weitgehend als gegeben vor-
ausgesetzt. Umgekehrt interessiert sich die in den letzten Jahren vor allem im inter-
nationalen Maßstab ausgebaute Forschung zu Prozessen des Ausstiegs aus Krimina-
litätskarrieren weniger für Defizite, eher für Ressourcen ehemaliger Gefangener, die
imstande sind zu erklären, dass auf die Dauer nicht Rückfälligkeit, sondern legales
Verhalten der Normalfall ist (Graebsch 2019; Shapland & Bottoms 2017).
Der vorliegende Beitrag ist nicht darauf angelegt, rechtliche und soziale Folgen
von Strafen umfassend zu erörtern. Die weiteren Ausführungen beschränken sich
notwendig auf einige allgemeine Hinweise und ausgewählte Beispiele. Zunächst
ist zu betonen, dass die Vielfalt der Sanktionen, die an eine strafgerichtliche Verur-
teilung anknüpfen, in der kriminologischen Diskussion unzureichend berücksichtigt
wird (1.). Daran schließt der Vorschlag an, unmittelbare rechtliche Folgen und Kol-
Rechtliche und soziale Folgen von Strafen 1111
lateralfolgen einer Verurteilung zu unterscheiden (2.). Weiter wird erörtert, wie sich
soziale Folgen strafrechtlicher Verurteilungen aus der Sicht allgemeiner soziologi-
scher Handlungstheorien darstellen lassen (3.). Abschließend werden mit Arbeit
und Familie zwei Felder sozialen Handelns fokussiert (4.).
Manche Sanktionsformen passen nicht in das Schema von Strafen und Maßregeln.
Hier hilft es wenig, unter dem Einfluss aktueller Entwicklungen der Kriminalpolitik
immer neue Vorschläge vorzubringen, eine dritte Spur des Sanktionenrechts zu er-
öffnen (Dessecker 2004, 18 f.), sei es bezogen auf Wiedergutmachung oder Vermö-
gensabschöpfung oder eine andere Gruppe von Sanktionen. Nicht umsonst hat sich in
den letzten Jahrzehnten keiner dieser Vorschläge durchgesetzt.
Das deutsche Kriminalrecht kennt zahlreiche Nebenentscheidungen (Kett-Straub
& Kudlich 2017, 155 ff.), die sich rechtssystematisch nur schwer auf einen Nenner
bringen lassen. Mit dem Fahrverbot (§ 44 StGB) existiert zwar nur eine einzige aus-
drücklich so bezeichnete Nebenstrafe. Trotz ihrer Ausrichtung auf Fälle der leich-
teren Delinquenz im Straßenverkehr ist sie durch die Gesetzesänderung von 2017 er-
weitert worden. Mittlerweile wird das Fahrverbot dementsprechend auch wegen an-
derer Delikte verhängt.1
Darüber hinaus gibt es nicht wenige Nebensanktionen mit jeweils eigenen Zielen,
die teils im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs geregelt sind, teils in Spezialge-
setzen. Manche unter ihnen lassen sich als Strafen verstehen, andere nicht. Dass sie
einen Sanktionscharakter haben und für die Betroffenen gravierende Folgen haben
können, gilt unabhängig von ihrer rechtlichen Einordnung. Hinzu kommt die Erwä-
gung, dass präventive Zielsetzungen bei einigen dieser Nebenfolgen von Bedeutung
sind. Das lässt sich insbesondere für die in den letzten Jahrzehnten mehrfach erwei-
terten Instrumente der Vermögensabschöpfung (§§ 73 ff. StGB) annehmen (Saliger
2017, 1000 ff.). Folgt man einer neueren Auffassung zur dogmatischen Begründung
von Nebenfolgen im deutschen Strafrecht, sind diese insgesamt dadurch gekenn-
zeichnet, dass sie der positiven Generalprävention dienen. Das bedeutet andererseits,
dass traditionell als Nebenfolgen verstandene Sanktionen wie etwa die Bekanntgabe
der Verurteilung gerade nicht mehr mit diesem Begriff zu erfassen sind (Sobota 2015,
158 ff.).
Die Schwierigkeiten wachsen, wenn man die Grenzen des deutschen Kriminal-
rechts überschreitet und daran interessiert ist, nationale Sanktionensysteme mitein-
ander zu vergleichen. Zudem ist damit zu rechnen, dass sich Rechtsfolgen und sozia-
le Folgen von Strafen überlagern.
1
Das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens
vom 17. 08. 2017 (BGBl. I 3202) ist am 24. 08. 2017 in Kraft getreten. In den Jahren 2017 und
2018 erfolgten nach der Strafverfolgungsstatistik jeweils rund 17 % der Verurteilungen zu
Fahrverbot wegen Straftaten außerhalb des Straßenverkehrs (Statistisches Bundesamt 2019,
356).
Rechtliche und soziale Folgen von Strafen 1113
2
Siehe für die USA das seit 2012 betriebene National Inventory of Collateral Conse-
quences of Conviction; https://niccc.csgjusticecenter.org/.
1114 Axel Dessecker
3. Soziale Folgen
Wenn von den sozialen Folgen des Strafens die Rede ist, dürften schlichte Etiket-
tierungsansätze zu kurz greifen. Sie lassen sich jedoch ebenso wie die im Folgenden
angesprochenen soziologischen Handlungstheorien in umfassendere Theorien der
Kriminalität (Hess & Scheerer 2004) integrieren.
Die klassische Formulierung des Problems der unbeabsichtigten Folgen sozialen
Handelns stammt bekanntlich von Robert K. Merton (1936). Auch in einer späteren
Stellungnahme warnt Merton (1968, 48) vor der
„Tendenz, die soziologischen Beobachtungen auf die positiven Beiträge zu beschränken, die
ein soziologisches Phänomen zu dem sozialen oder kulturellen System leistet, in das es ein-
gebunden ist (…).“
Wichtig ist gerade für empirische Forschungen die Annahme, dass ein Phänomen
mehrfache Folgen haben kann und dass es möglich ist, eine „Nettobilanz der Gesamt-
folgen“ zu berechnen, besonders im Zusammenhang mit der „Gestaltung und Um-
setzung von Politik“ (Merton 1968, 48 f.).
Neuere Theorien haben diesen Ansatz fortgeführt. So betont Hans Haferkamp
(1983), dass neben erkannten und geplanten Handlungsfolgen, die in mehr oder we-
niger großem Ausmaß (oder überhaupt nicht) eintreten, auch Verhaltenswirkungen
als unbeabsichtigte Verhaltenseffekte zu berücksichtigen sind. Er weist darauf hin,
dass vor allem in Handlungszusammenhängen – die von mehreren Akteuren organi-
siert werden und sich auf zeitlich und räumlich verteilte weitere Handlungen bezie-
hen – das Problem der Unüberschaubarkeit von Folgen auftritt (Haferkamp 1983,
82 ff.).
Rechtliche und soziale Folgen von Strafen 1115
Einen Extremfall bildet die Konstellation, in der nicht der ursprünglich in erster
Linie geplante Effekt eintritt, sondern das Gegenteil. Auf solche Pervertierungen
handlungsleitender Intentionen ist besonders Raymond Boudon (1979) eingegangen.
Die allgemeinere Kategorie paradoxer Effekte definiert er als
„individuelle oder kollektive Effekte, die sich aus dem Zusammentreffen individueller Ver-
haltenssequenzen ergeben, ohne Teil der von den Akteuren mit ihren Handlungen verfolgten
Absichten zu sein.“
4. Beispiele
Was bisher entwickelt wurde, lässt sich anhand von Beispielen leicht konkretisieren.
4.1 Arbeit
4.2 Familie
Das Normprogramm des modernen Strafrechts ist nicht darauf angelegt, die Fa-
milien verurteilter Personen in „Sippenhaft“ zu nehmen. Dass Ehe und Familie durch
den Staat geschützt werden, gilt unabhängig von einem Gefängnisaufenthalt (Art. 6 I
GG). Die neueren Strafvollzugsgesetze sind dementsprechend darauf angelegt, Kon-
takte zu Familienangehörigen bis hin zu Langzeitbesuchen zu unterstützen, sofern es
nicht – wie bei Straftaten gerade gegenüber diesen Personen – besondere Gründe für
Ausnahmen gibt.
Aus der Sicht des Jugendhilferechts liegt die Einordnung des Entzugs der elter-
lichen Sorge (§ 1666 BGB) als Kollateralfolge einer strafrechtlichen Verurteilung
ziemlich fern; es handelt sich um eine Ausnahme für besonders schwere Sorgerechts-
verletzungen. Dennoch wird gelegentlich über Einzelfälle berichtet, in denen ein
Sorgerechtsentzug im Zusammenhang mit der Strafverfolgung von Eltern zumindest
erwogen wurde. Die veröffentlichte Rechtsprechung der Familiengerichte liefert
weitere Beispiele.3
Dagegen spricht einiges für die Annahme, dass zumindest der Vollzug längerer
Freiheitsstrafen nicht selten zu sozialen Folgen führt, die nicht allein die Gefangenen
selbst betreffen, sondern genauso ihre Familienangehörigen. Allerdings ist der Be-
stand an Forschungsergebnissen zu dieser Frage begrenzt (Borchert 2018).
4.3 Ausblick
Diese Beispiele lassen erwarten, dass eine genauere Betrachtung rechtlicher Fol-
gen und sozialer Folgen von Strafen lohnen würde. In beiderlei Hinsicht scheinen
Praxis und Wissenschaft meist unausgesprochen davon auszugehen, welche Konse-
quenzen eine strafrechtliche Verurteilung für die betroffene Person haben wird. Das
unübersichtliche Feld der Kollateralfolgen lässt aber mindestens erahnen, dass schon
die rechtlichen Auswirkungen strafrechtlicher Verurteilungen weit über den Rege-
lungsgehalt des Strafgesetzbuchs hinaus reichen können. Was die sozialen Folgen
von Strafen betrifft, fällt auf, dass über Lebenslagen ehemaliger Strafgefangener
in Deutschland wenig systematische Informationen vorhanden sind, obwohl soziale
Integration als Ziel strafrechtlicher Interventionen sogar Verfassungsrang besitzt.
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Prison Privatization as a Potential Hazard
to Democratic States1
By Anthozoe Chaidou
In view of the high cost and the limited government budgets for criminal justice,
and particularly the correctional system, the idea of privatization has been gaining
ground, mainly with respect to the construction and maintenance of facilities, but
also their management. Despite the firm faith in its public character prevailing in Eu-
ropean countries, there are clear signs of a trend towards various forms of privatiza-
tion in the correctional system, in accordance with the long-standing respective poli-
cies of the Anglosphere.2
It is no coincidence that the United States and the United Kingdom pioneered in
this process of privatization: Following the neoliberal doctrine of “more market, less
state” and the associated policies of Margaret Thatcher (after 1979) and Ronald Rea-
gan (after 1981), the criminal justice system became part of the liberalization agenda,
including the privatization of such crucial public sectors as security and corrections.3
As with other areas of public expenditure, such as education and health, the correc-
tional system was targeted as being too expensive and inefficient.4 The emphasis was
on the financial aspect, thus paving the way for the involvement of the private sector.
The first private facility in the United States, the Silverdale Detention Center in Ten-
1
Translated and edited by T. Serassis.
2
Australia, Canada, New Zealand, the United Kingdom, and the United States. “It is
interesting that the development of privately operated prisons has emerged in a few English-
speaking countries. Part of this results from language barriers, making it difficult for American
firms to penetrate markets where English is not spoken widely (such as France, where the
Mitterand Government held discussions with officials of the Corrections Corporations of
America in the 1980s)” (McDonald 1994, 36).
3
According to Serassis 2003, 376, “privatization has been on the front line of neo-li-
beralism, given that it deprives the state of several of its functions, degrading it to the mere
‘regulator’ of the market system. Moreover, privatization in the criminal justice system con-
stitutes a direct intrusion into the ‘hard core’ of the state, ultimately putting into question its
very existence”.
4
As Tom Beasley, co-founder of CoreCivic, put it: “For two hundred years, nobody but
government had operated our prisons and jails. That lack of a comparative operation, that
absolute lack of competition, had lulled states and local governments into indifference in
dealing with what had become the lowest priority of government responsibilities – prisons”.
“A New Industry Emerges to Meet a Very Real Need” (https://www.corecivic.com/about/hi
story) [10.03. 2020].
1122 Anthozoe Chaidou
5
https://www.corecivic.com/facilities/silverdale-detention-center [10. 03. 2020].
6
Mason 2012, 2; Deckert & Wood 2011, 219. CoreCivic manages today 125 facilities in
the United States; https://www.corecivic.com/facilities [10. 03. 2020]. The other industry lea-
der, GEO Group, manages 129 secure facilities and processing centers (https://www.geogroup.
com/Locations) [10. 03. 2020], including facilities in Australia, Scotland and South Africa. A
third company, Management and Training Corporation, operates 23 correctional facilities, 12
prison and detention medical departments, and 5 detention centers (https://www.mtctrains.
com/about-us) [10. 03. 2020]. In addition, there is a large number of firms which provide
services and products to the corrections sector, from health care and education to surveillance
and security equipment (Kirchhoff 2010, 27 – 29).
7
“The prison population began to climb in the late 1970s as states and the federal gover-
nment cracked down on crime. One turning point was New York State’s 1973 imposition of
mandatory sentencing laws for drug offenses, under the administration of Gov. Nelson
Rockefeller. Other states followed. Initiatives included mandatory sentences for repeat armed
career criminals. […] In 1994, California voters and legislators approved Proposition 184, the
so-called Three Strikes Law. Among other things, the law set a minimum sentence of 25 years
to life for three-time offenders with prior serious or violent felony convictions. As this wave of
laws took effect, the imprisonment rate – based on the number of adults sentenced to terms of
more than one year – jumped from 133 per 100,000 in 1979 to 504 per 100,000 at the end of
2008. More than 2.3 million people were in the custody of state or federal prisons and local
jails at the end of 2008.” (Kirchhoff 2010, 6 – 8). See also Brickner & Diaz 2011.
8
Cahalan & Parsons 1986, 33. According to the Bureau of Justice Statistics (2019, 3), at
the end of 2017, the number of prisoners was 1,489,363, after reaching a peak of 1,615,487 in
2009.
9
The United States Immigration and Naturalization Service (INS) was an agency of the
U.S. Department of Labor from 1933 to 1940 and the U.S. Department of Justice from 1940 to
2003. It ceased to exist under that name when most of its functions were transferred to three
new entities – U.S. Citizenship and Immigration Services, U.S. Immigration and Customs
Enforcement, and U.S. Customs and Border Protection – within the newly created Department
of Homeland Security. The Immigration and Customs Enforcement (ICE), which is re-
sponsible for the operation of detention centers for illegal immigrants, was formed under the
Homeland Security Act of 2002. ICE has consistently been the best client of the private prison
industry: Among the immigrant detention population, 26,249 people – 73% of the total– were
confined in privately run facilities in 2017. The privately detained immigrant population grew
by 442% since 2002 (The Sentencing Project 2019).
10
https://www.corecivic.com/facilities/houston-processing-center [10. 03. 2020]. See also
Mason 2012, 2; Deckert & Wood 2011, 219.
Prison Privatization as a Potential Hazard to Democratic States 1123
A third factor that facilitated the further expansion of privatization is the economy
itself, in a twofold manner: The prison industry11 is a multi-billion one, based on pub-
lic contracts, while at the same time attracting huge amounts of money by investors
(banks and the stock market). In a rather precarious environment, the correctional
system presented itself as a relatively secure and profitable business opportunity.12
As Welch & Turner (2007 – 08, 57) describe the situation:
[…] on Wall Street the larger corrections industry has created a bull market – further evi-
dence that crime does indeed pay. Tremendous growth in the prison population, coupled with
astonishing increases in expenditures, has generated a lucrative market economy with seem-
ingly unlimited opportunities for an array of financial players: entrepreneurs, lenders, in-
vestors, contractors, vendors, and service providers. In 2000, the World Research Group
and the Reason Foundation hosted their Fifth Privatizing Correctional Facilities conference
in San Antonio, Texas, under the banner “Grow Profits and Maximize Investment Oppor-
tunities in This Explosive Industry”. Without much hesitation, corporate America has caught
the scent of new public money. The Dallas meeting included representatives from AT&T,
Merrill Lynch, Price Waterhouse, and other golden logo companies. The prison industry
also has attracted other capitalist heavyweights, including the investment houses of Gold-
man Sachs and Salomon Smith Barney, who compete to underwrite corrections construction
with tax-exempt bonds that do not require voter approval. Defense industry titans Westing-
house Electric, Alliant Techsystems, Inc., and GDE Systems, Inc. (a division of the old Gen-
eral Dynamics) also have entered the financial sphere of criminal justice, not to mention
manufacturers of name-brand products currently cashing in on the spending frenzy in cor-
rections.
On the other hand, the financial crisis and economic globalization in production
and trade led to the deterioration of many industrial and agricultural communities,
which were witnessing plants shutting down or agricultural production diminishing
in value, leaving large parts of the population unemployed or impoverished. Whereas
in the past a correctional facility constituted a negative element, triggering reactions
against the establishment of a new one or towards the removal of an existing one,
local authorities took to pains to attract private facilities (especially minimum-secu-
rity ones), which would secure jobs and businesses. In the words of Welch & Turner
(2007 – 08, 57):
11
Selman & Leighton (2010, 78) use the term “prison-industrial complex”, “which in turn
is part of a larger criminal justice–industrial complex. These terms derive from the idea of the
military-industrial complex that President (and former general) Dwight D. Eisenhower warned
of in his Farewell Address”. Chambliss (2001, 33) coined the broader term “law enforcement-
industrial complex”, which “is sustaining some of the fastest-growing corporations and some
of the most-powerful lobbies in the country. Providing equipment to law enforcement agencies
and food for 2 million prisoners is a huge industry. In addition, states are increasingly turning
over the ownership and management of prisons to private corporations.”
12
In a recent report Worth Rises (2019), “a non-profit advocacy organization dedicated to
dismantling the prison industry”, exposes over 3,900 companies profiting off the carceral state
across 12 sectors – ranging from construction to transportation and healthcare to tele-
communications; https://worthrises.org/picreport2019 [10. 03. 2020]. For a detailed description
of the prison industry see Kirchhoff 2010, 25 – 29.
1124 Anthozoe Chaidou
Imprisonment has become big business, and the bitter “not-in-my-backyard” attacks on pris-
ons have been replaced with proud proclamations, such as the sign in Canon City, Colorado,
reading “Corrections Capital of the World”. The mayor of Canon City boasts, “We have a
nice, nonpolluting, recession-proof industry here”. In Leavenworth, Kansas, a community
that recently added a private prison to an already extensive corrections system that features a
federal penitentiary, a state prison, and a military stockade, a billboard quips “How about
doin’ some TIME in Leavenworth?” Bud Parmer, site acquisition administrator for the Flori-
da Department of Corrections conceded, “There’s a new attitude… small counties want a
shot in the arm economically. A prison is a quick way to do it”. Economically strapped
towns induce jail and prison construction by offering land, cash incentives, and cut-rate
deals on utilities; in return for these accommodations, locals receive jobs and spurs to
other businesses such as department stores, fast-food chains, and motels, all of which con-
tribute to the tax base.
13
According to a 2004 study by Iowa State University, “small towns that acquired a state
prison during the 1990s had higher poverty levels, higher unemployment, lower household
wages and lower housing values than similar towns without a prison” (Kirchhoff 2010, 31).
14
The operator was the Corrections Company of Australia (CCA), which is a consortium
equally owned by the Corrections Corporation of America, the John Holland construction
group, and Wormald’s Security Ltd. (Harding 1992, 1). In 2007 it was taken over by Serco. It
closed in 2012 and re-opened in 2016 under public control (“Borallon prison re-opens as
‘training centre’ jail”, Brisbane Times, 15 March 2016; https://www.brisbanetimes.com.au/
national/queensland/borallon-prison-reopens-as-training-centre-jail-20160315-gnj60h.html)
[10. 03. 2020].
15
Australian Government Productivity Commission: Report on Government Services 2020
– Section 8: Corrective services, released on 29 January 2020; https://www.pc.gov.au/research/
ongoing/report-on-government-services/2020/justice/corrective-services [10. 03. 2020]. In
terms of absolute numbers, the United States has the lead with 121,718 prisoners in 2017 (after
a peak in 2012 with 137,220), representing 8.2% of the total state and federal prison popula-
tion. Since 2000, the number of inmates in private prisons has increased 39% (The Sentencing
Project 2019, 1).
Prison Privatization as a Potential Hazard to Democratic States 1125
G4S.16 The involvement of private companies continued in the next decades under
both Conservative and Labour Parties (Panchamia 2012, 1; Helyar-Cardwell
2012, 6), raising the number of private prisons, contractually managed by private
companies such as Sodexo Justice Services, Serco Custodial Services and G4S Jus-
tice Services, to 14.17
In Canada, Management and Training Corporation was awarded in 2001 by the
then provincial conservative government a contract to operate the Central North Cor-
rectional Centre, in Penetanguishene, Ontario. Following serious protests, the con-
tract was not renewed when a liberal government came to power. The same happened
with the Miramichi Youth Detention Facility in New Brunswick, a facility financed
and built by GEO, which the province has leased back from the company since
1998.18
In New Zealand the Auckland Central Remand Prison (Mount Eden Prison) be-
came in July 2000 the first private prison, operated by GEO Group Australia. In 2005
it was taken under public control by the Labor government and in 2010 it was con-
tracted to Serco by the National government, until it was given back to the New Zea-
land Department of Corrections in 2015, as a result of serious problems. Since then
New Zealand has turned to the Public-Private Partnership model.19
A Public-Private Partnership (PPP) can be defined as “a long-term contract be-
tween a private party and a government entity, for providing a public asset or service,
in which the private party bears significant risk and management responsibility and
remuneration is linked to performance”.20 These partnerships are primarily used in
various areas of state responsibility, such as health, education, and public utilities,
but they have been increasingly invading the justice system for the provision of
goods and services, even in sensitive areas, such as security or corrections. In the cor-
rectional system, they can include financing the building of a prison and operating
certain functions such as maintenance, healthcare, catering or the provision of reha-
bilitation and educational activities by private companies. Several European coun-
16
In 2012 it was brought under state control (“G4S loses Wolds prison contract”, BBC, 8
November 2012; https://www.bbc.com/news/uk-20252359) [10. 03. 2020].
17
See H.M. Prison Service: Contracted-out prisons; https://www.justice.gov.uk/about/
hmps/contracted-out [10. 03. 2020]. Two additional private prisons operate in Scotland on be-
half of the Scottish Prison Service; https://www.sps.gov.uk/Corporate/Prisons/Prisons.aspx
[10.03. 2020].
18
B. Poynter: “Private prison companies look to Canada as industry faces lawsuits in US”,
The Guardian, 19 June 2012; https://www.theguardian.com/world/2012/jun/19/private-prison-
companies-canada-lawsuits [10. 03. 2020].
19
In 2015 the Auckland South Corrections Facility was established. It is a high security
men’s prison for Maori, operated by Serco New Zealand under a Public-Private Partnership
with the Department of Corrections; https://www.corrections.govt.nz/about_us/getting_in_
touch/our_locations/auckland_south_corrections_facility [10. 03. 2020].
20
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troduction [10. 03. 2020].
1126 Anthozoe Chaidou
tries, including France and Germany,21 tend to employ this model of “soft” privati-
zation.22 It should be noted that – apart from its general popularity as a business tool –
the PPP model was also an “entrepreneurial maneuver” of the prison industry: Ac-
cording to Selman & Leighton (2010, 109),
the expansion of private prisons revealed a number of problems with their operations – riots,
escapes, and human rights violations to name just a few. In response to these events and the
media coverage of them, private prisons toned down their rhetoric about how poorly the gov-
ernment ran prisons and their own claims about superiority. The new talking points empha-
sized public-private partnerships and focused criticism on the contracts they had negotiated
with government agencies. This implicitly put the blame on government when the compa-
nies tended to have the upper hand because they had more expertise with contracts than gov-
ernment did. (p. 104) […] In response to problems at CCA [Corrections Corporation of
America – CoreCivic] facilities, spokesperson Susan Hart suggested, “Let’s all be working
together to come up with the best solution”. Apparently, the problem was not low wages,
high turnover, and minimal staffing; what was needed was “a better way to privatize”.
When the hype about superiority and managing an entire state prison system was no longer
tenable, the rhetoric became about public-private partnerships.
The efficiency of private prisons in comparison with public prisons – the main
argument of the neo-liberal model – has been extensively questioned and to a
large extent debunked.23 Both in financial terms and with respect to operation and
outcome, the private sector does not seem to have delivered what it proclaimed. Tak-
ing into consideration all relevant parameters, private prisons did not prove to be less
21
France started outsourcing maintenance services as early as 1987 (Guilbaud 2011). In
Germany, the Justizvollzugsanstalt Waldeck, which opened in July 1996, was built by a private
company and leased to the Ministry of Justice of Mecklenburg-Vorpommern; http://www.
justiz-in-mv.de/jvaw/facts-in-english [10. 03. 2020]. In January 2001, the Justizvollzugsanstalt
Hünfeld in Hessen was the first semi-private prison in Germany, constructed and maintained
by Serco GmbH; sovereign functions and security remained in state hands (Bericht der Ver-
einigung Hessischer Strafverteidiger; http://www.stvh.org/sites/default/files/jva.pdf [10. 03.
2020]. It is no surprise that the new prison was welcomed as an economic opportunity, espe-
cially for employment (V. Wolff: “Justizvollzugsanstalt Hünfeld gibt Arbeitslosen eine Chan-
ce”, Die Welt, 22 June 2005; https://www.welt.de/print-welt/article677687/Justizvollzugs
anstalt-Huenfeld-gibt-Arbeitslosen-eine-Chance.html) [10. 03. 2020]. For the situation in Ger-
many and the constitutional implications, see also Nowak 2017, 126 – 128.
In Greece, the newly elected conservative government, in regulating the relocation of the
Korydallos Prison Complex outside of Athens, introduced the PPP model for the construction
and maintenance of the new facilities (article 185 of Law 4662/07 – 02 – 2020). A similar
model is being used for immigrant detention centers, in view of the gravity and urgency of the
problem.
22
Penal Reform International (2015), 24 – 25. See also Cabral & Saussier 2013. As Nor-
wak (2017, 131) points out: “the separation of the security functions from the administrative
functions makes it difficult to create a uniform policy and to define goals and the global prison
industry is not that interested in investing in a public-private partnership with an unclear
division of labor and powers”.
23
See among others: Mason 2012, 6 – 12; Gran & Henry 2007 – 08, 175 – 177; Austin &
Coventry 2001; Brown 2004, 106 – 108. Selman & Leighton (2010) offer a detailed analysis in
chapter 5: A Critical Look at the Efficiency and Overhead Costs of Private Prisons (129 – 158).
Prison Privatization as a Potential Hazard to Democratic States 1127
expensive and their operation has been rather problematic and subject to accusations
and lawsuits on several occasions. This situation is clearly demonstrated in a mem-
orandum on “Reducing the Use of Private Prisons” issued by Sally Yates, Deputy At-
torney General of the Obama Administration, on 18 August 2016:
Time has shown that private prisons compare poorly to our own Bureau [of Prisons] facili-
ties. They simply do not provide the same level of correctional services, programs, and re-
sources; they do not save substantially on costs; and as noted in a recent report by the De-
partment’s Office of lnspector General, they do not maintain the same level of safety and
security. The rehabilitative services that the Bureau provides, such as educational programs
and job training, have proved difficult to replicate and outsource – and these services are
essential to reducing recidivism and improving public safety.
Her memorandum included a quite ambitious statement: “For all these reasons, l
am eager to enlist your help in beginning the process of reducing – and ultimately
ending – our use of privately-operated prisons”.24
In addition to the criticism on cost-efficiency and performance it has received,
prison privatization raises an important issue regarding the role of the state.
On the basis of the Weberian definition of the state as “a human community that
(successfully) claims the monopoly of the legitimate use of physical force within a
given territory”,25 criminal justice is considered the “hard core” of the state, to be
administered and controlled solely by its institutions. This ensures the democratically
legitimized operation of the system, based on the rule of law. Privatization in correc-
tions violates this principle and jeopardizes the fundamental human rights to personal
liberty and dignity. In a milestone decision in 2009, the Supreme Court of Israel de-
24
The memorandum (https://www.justice.gov/archives/opa/file/886311/download [10. 03.
2020]) followed a damning investigation report by the Federal Bureau of Prisons (2016). As a
result, within an hour of the news on the government’s intention, the shares of the Corrections
Corporation of America (now CoreCivic), the nation’s biggest operator of private prisons, had
fallen in value by 52% and those of the GEO group, the second-largest private prison firm, also
fell by more than 45%. (For an extensive report, see Swaine, Laughland & Kasperkevic: US
Justice Department Announces it will End Use of Private Prisons, The Guardian, 18 August
2016; https://www.theguardian.com/us-news/2016/aug/18/us-government-private-prisons-use-
justice-department [10. 03. 2020]. However, on 9 November, the day after Donald Trump won
the elections, the Corrections Corporation of America saw its stock price jump 43 percent; its
leading competitor, the GEO Group, rose 21 percent. (“Under Mr. Trump, Private Prisons
Thrive Again”, Editorial, The New York Times, 24 February 2017; https://www.nytimes.com/
2017/02/24/opinion/under-mr-trump-private-prisons-thrive-again.html [10. 03. 2020]. On 21
February 2017, Jeff Sessions, Attorney General of the Trump Administration, rescinded Yates’
memorandum; https://www.justice.gov/oip/foia-library/attorney_general_memorandum_advi
sing_the_federal_bureau_of_prisons_that_the_department_will_continue_to_use_private_pri
sons.pdf/download [10. 03. 2020]. Stocks of the two companies rose more than 100 percent.
(Watkins & Tatum: “Private Prison Industry Sees Boon under Trump Administration”, CNN
Politics, 18 August 2017; https://edition.cnn.com/2017/08/18/politics/private-prison-depart
ment-of-justice/index.html) [10. 03. 2020].
25
Formulated in his 1919 essay “Politik als Beruf” (“Politics as a Vocation”). Weber 1991,
78.
1128 Anthozoe Chaidou
clared unconstitutional the “Prisons Ordinance Amendment Law, which was passed
by the Israeli Knesset (Parliament) and permitted the establishment of private pris-
ons. The ruling was based on an argument of principle (the purpose of the modern
democratic state) and not on a pragmatic argument (the pros and cons of prison pri-
vatization). According to Justice D. Beinisch:26
[T]he state – through the government and the various security services that are subordinate to
it – has exclusive authority to resort to the use of organized force in general, and to enforce
the criminal law in particular. […] The monopoly given to the state – through the executive
branch and the bodies acting through it – with respect to the use of organized force is of
importance in two spheres. In one sphere, we need to take into account that the democratic
legitimacy for the use of force in order to restrict the liberty of individuals and to deny var-
ious human rights relies on the fact that organized force exercised by and on behalf of the
state is what causes the violation of those rights. Were this force not exercised by the com-
petent organs of the state, in accordance with the powers given to them and in order to further
the general public interest rather than a private interest, this use of force would not have de-
mocratic legitimacy, and it would constitute de facto an improper and arbitrary use of vio-
lence. In the other sphere, the fact that the organized force is exercised by a body that acts
through the state and is subject to the laws and norms that apply to anyone who acts through
the organs of the state and also to the civil service ethos in the broad sense of this term is
capable of significantly reducing the danger that the considerable power given to those bod-
ies will be abused, and that the invasive powers given to them will be exercised arbitrarily or
in furtherance of improper purposes.
She raises the issue of transparency and accountability, which is of utmost impor-
tance and has been extensively discussed. For example, in the United States private
firms are generally not covered by the freedom of information and open records laws,
as are public prisons and other government functions, and are thus not obliged to dis-
close information about their operation, including incidents that occur in their facili-
ties.27 Instead, they have every reason to suppress serious incidents or scandals, as
these would eventually compromise their contracts and entrepreneurial reputation.
A more direct effect of prison privatization to the criminal justice system has to do
with prisoners, to the extent that, cynical as this may sound, they constitute the actual
clientele of private prisons. Whereas public prisons have no interest in increasing
their population (on the contrary, every effort is made to decrease the number of in-
mates), private firms rely on a steady input (even better an increase in the number) of
prisoners. Despite their proclamations and commitment, rehabilitation and preven-
tion of recidivism – which are the cornerstones of modern corrections – cannot be
financially favorable for corporations, which seek to increase their revenues and prof-
its. In addition, any legislation or policy involving decriminalization or leniency in
26
Decision HCJ 2605/05: Academic Center of Law and Business v. Minister of Finance,
64; https://versa.cardozo.yu.edu/sites/default/files/upload/opinions/Academic%20Center%20of
%20Law%20and%20Business%20v.%20Minister%20of%20Finance.pdf [10. 03. 2020].
27
L.-B. Eisen: “Private Prisons Lock Up Thousands of Americans With Almost No
Oversight”, Time, 8 November 2017; https://time.com/5013760/american-private-prisons-do
nald-trump [10. 03. 2020]. See also Gran & Henry 2007 – 08, especially 176 – 177.
Prison Privatization as a Potential Hazard to Democratic States 1129
sentencing would threaten their business. Private firms have a vested interest in con-
trolling and expanding their “market”, in order to protect their investment. The sit-
uation is best reflected in the following quotation from a report by Corrections Cor-
poration of America:28
The movement toward privatization of correctional and detention facilities has encountered
resistance from certain groups, such as labor unions and others that believe that correctional
and detention facilities should only be operated by governmental agencies. Moreover, neg-
ative publicity about an escape, riot or other disturbance or perceived poor conditions at a
privately managed facility may result in publicity adverse to us and the private corrections
industry in general. […] Our growth is generally dependent upon our ability to obtain new
contracts to develop and manage new correctional and detention facilities. This possible
growth depends on a number of factors we cannot control, including crime rates and sen-
tencing patterns in various jurisdictions and acceptance of privatization. The demand for
our facilities and services could be adversely affected by the relaxation of enforcement ef-
forts, leniency in conviction and sentencing practices or through the decriminalization of
certain activities that are currently proscribed by our criminal laws. […] Legislation has
been proposed in numerous jurisdictions that could lower minimum sentences for some
non-violent crimes and make more inmates eligible for early release based on good behavior.
Also, sentencing alternatives under consideration could put some offenders on probation
with electronic monitoring who would otherwise be incarcerated. Similarly, reductions in
crime rates could lead to reductions in arrests, convictions and sentences requiring incarcer-
ation at correctional facilities.
28
Corrections Corporation of America: Annual Report to the U.S. Securities and Exchange
Commission 2005, 21 – 22; https://www.sec.gov/Archives/edgar/data/1070985/000095014
405002154/g93600e10vk.htm [10. 03. 2020]. An almost exact quotation is reproduced in every
yearly report, up to the most recent 2018 Report; https://corecivic.gcs-web.com/static-files/
60371436-e930-40bc-8cfa-830d12b4edd0 [10. 03. 2020].
29
See among others: The Sentencing Project 2018, 11; Deckert & Wood 2011, 231;
Brickner & Diaz 2011; Mason 2012, 12 – 16. The case of the memorandum on “Reducing the
Use of Private Prisons” issued by Sally Yates and revoked by Jeff Sessions (see above) is one of
the most indicative examples of the close interconnection of the corrections industry with
political power.
30
Mason 2012, 12 – 16; Brickner & Diaz 2011. For an extensive coverage of the case, see
W. Richey: “‘Kids for cash’ judge sentenced to 28 years for racketeering scheme”, The Chri-
stian Science Monitor, 11 August 2011; https://www.csmonitor.com/USA/Justice/2011/0811/
Kids-for-cash-judge-sentenced-to-28-years-for-racketeering-scheme [10. 03. 2020].
1130 Anthozoe Chaidou
In conclusion, in view of the serious legal and political issues raised, as well as the
problematic experience so far, prison privatization should be regarded as an alarming
phenomenon, even precarious for modern democratic states. It is a promising sign
that a reversal of the trend is apparent in some countries, where the state regains con-
trol of private correctional facilities. At the same time, however, conservative gov-
ernments – even in Europe – transfer sovereign powers to the private sector, under
the pressure of escalating social and economic problems, as well as of lobbying
and other strategies by the corporations. This could result in a further weakening
of the modern democratic state and in the consequent risk of deterioration in funda-
mental human rights.
As a recent editorial in the Guardian so eloquently put it:31
It should not be possible to make profits out of prisons. The power to lock people up, de-
priving them of their liberty and separating them from their families, is a responsibility
that should be the preserve of the state. Yet a pro-market ideology has seen private compa-
nies become responsible for about one in seven of the UK’s 92,000 prisoners – a proportion
second only to Australia. Allowing companies to make money out of punishing people,
which is what prisons are for – along with rehabilitation and public protection – was a
bad idea when it started under John Major’s government in the 1990s and remains one
today. This is a point of principle, one based upon the idea, evidenced by international stud-
ies, that private investment would distort public policy against more lenient sentencing and
discourage moves to prevent reoffending.
References
31
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May 2019; https://www.theguardian.com/commentisfree/2019/may/13/the-guardian-view-on-
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York.
Äquivalente Gesundheitsversorgung
in Pflegeheimen und Haftanstalten
Von Arthur Kreuzer
1
In einer früheren Vortragsfassung erstmals dargelegt auf dem 24. Deutschen Präventi-
onstag in Berlin am 20. 05. 2019.
1134 Arthur Kreuzer
Aber gilt das alles wirklich für alle Menschen, auch für inhaftierte Straftäter, psy-
chisch Kranke in Kliniken, demente alte Bewohner in Pflegeheimen, „verwahrloste“
Heimkinder, Schülerinnen und Schüler in kirchlichen oder reformpädagogischen In-
ternaten, Soldaten in Kasernen der Bundeswehr, Flüchtlinge in Abschiebeheimen?
Das war und ist nicht selbstverständlich und allseits akzeptiert. Von Goffman als „to-
tale Institutionen“ charakterisierte, mehr oder minder geschlossene Institutionen nei-
gen dazu, ihnen anvertraute Menschen zu verwalten, zu reglementieren, zu behan-
deln nach ideologischen und ökonomischen Verständnissen. Da ist wenig Platz für
freie Arztwahl, kostenintensive Behandlung, Beschwerden über Missbräuche aller
Art, die korrigierende Eingriffe von außen ermöglichen. Die Institutionen pflegen
sich abzuschotten gegenüber Kritik und Kontrolle (dazu z. B. Kreuzer 2012).
Sogar das Verständnis von der Geltung der Grundrechte an sich in diesen Institu-
tionen musste erst in Wissenschaft und Praxis geschaffen, in der Rechtsprechung
durchgesetzt werden. Man bediente sich rechtlich sogar lange eines Kunstgriffs,
grundrechtsfreie Räume zu legitimieren: das sogenannte „besondere Gewaltverhält-
nis“. Es gelte in Einrichtungen, in denen die Insassen in besonderer Weise gewaltun-
terworfen seien, in denen der Zweck der Anstalt gebiete, Gewaltunterworfenen zu-
mindest sachnotwendig Grundrechte vorzuenthalten. Im Strafvollzug verbiete
zudem das Wesen des Strafübels eine unbegrenzte Ausübung vieler Grundrechte.
So lernten wir es noch im Jurastudium in den sechziger Jahren.
Das Grundgesetz musste also erst rechtswissenschaftlich, in der Rechtsprechung
und in der Praxis für diese Einrichtungen „entdeckt“ und umgesetzt werden. Es ge-
schah nach und nach. Die Psychiatrie-Enquete etwa prüfte seit 1971 menschen-
rechtswidrige Zustände in geschlossenen Kliniken und Heimen. Sie resümierte
1975, „dass eine sehr große Zahl psychisch Kranker und Behinderter in den statio-
nären Einrichtungen unter elenden, zum Teil als menschenunwürdig zu bezeichnen-
den Umständen leben müssen“ (Deutscher Bundestag 1975). Grundlegende Refor-
men wurden daraufhin eingeleitet. Mit wenigen Strafvollzugswissenschaftlern
machten wir um 1970 auf Missstände in Haftanstalten aufmerksam; es dürfe
keine grundrechtsfreien Räume geben; in Grundrechte dürfe lediglich auf gesetzli-
cher Grundlage eingegriffen werden; auch ein Gefangener sei Rechtssubjekt und
Grundrechtsträger; der Begriff des „besonderen Gewaltverhältnisses“ sei einzig be-
schreibend, keine Rechtsquelle für Eingriffe und Grundrechtsschmälerungen (insbe-
sondere Schüler-Springorum 1969; ferner Kreuzer 1970). Dem folgte bald das Bun-
desverfassungsgericht und verwarf die Lehre vom „besonderen Gewaltverhältnis“2.
Es verlangte eine gesetzliche Grundlage für den Strafvollzug und etwaige Grund-
rechtseinschränkungen. Diese Gesetze gab es erst seit 1976 im Bund, später in
den Ländern.
Weitere grundrechtsferne Räume gilt es immer wieder zu entdecken. Meist tragen
Skandale zum Nachdenken bei. So befand kürzlich Heribert Prantl überpointiert zu
der hier anschließend punktuell zu untersuchenden Pflege insgesamt: „Das deutsche
2
Entscheidung v. 14. 03. 1972, BVerfGE 33, 1 ff.
Äquivalente Gesundheitsversorgung in Pflegeheimen und Haftanstalten 1135
2. Beispiel: psychologisch-psychotherapeutisch-psychiatrische
Behandlung in Pflegeheimen
2.1 Daten zur Situation
Der Anteil im Rentenalter Stehender hat sich in der Bevölkerung im Laufe von
vier Jahrzehnten auf 22 % verdoppelt. Dazu gehören zunehmend Hochaltrige und
Pflegebedürftige. Von den über 85-Jährigen sind etwa vier Fünftel pflegebedürftig.
Es sind überwiegend Frauen. Bei steigender Tendenz gibt es gegenwärtig 3,4 Millio-
nen pflegebedürftiger Menschen i.S.d. Pflegeversicherungsgesetzes, darunter etwa
ein Viertel mit Migrationshintergrund. Die meisten werden in der häuslichen Umge-
bung gepflegt. Rund 850.000 befinden sich in Einrichtungen vollstationärer Alten-
pflege.
In der stationären Pflege dominieren unter den psychischen Störungen die demen-
tiellen. Nach einer Studie von 2015 mit Daten der AOK waren davon über zwei Drit-
tel der in Heimen Betreuten betroffen. Diesen Störungen galt bislang das Hauptau-
genmerk der öffentlichen Diskussion. Aber sie gehen oft einher mit weiteren psychi-
schen Störungen. So sollen 20 bis 50 % in der stationären Betreuung unter Depres-
sionen leiden. Hinzu kommen bei vielen Wahnkrankheiten. Manche Störungen
haben langjährige Ursachen, etwa in nicht bewältigten traumatischen Lebensereig-
nissen. Außerdem sind psychosoziale Probleme zu beachten, die sich aus der Entste-
hung von Pflegebedürftigkeit, dem Wechsel in ein Heim, Einsamkeit und Auseinan-
dersetzungen im neuen Umfeld ergeben können.5
3
https://www.sueddeutsche.de/politik/pflege-aktion-sos-1.4306317 [18. 11. 2019].
4
Vgl. die Stellungnahme dieser Arbeitsgruppe, die vom Landespräventionsrat übernom-
men worden ist: „Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung für ältere Menschen
in der Stationären Pflege“ vom 01. 11. 2019 (demnächst auf der Website des Hess. LPR ein-
sehbar).
5
Zur Datenlage z. B.: Statistisches Bundesamt 2018; Schwinger, Jürchott & Tsiasioti 2017,
255 ff.
1136 Arthur Kreuzer
2.2 Rechtsanspruch
Wie steht es mit dem Rechtsanspruch auf entsprechende Behandlung? Was ver-
langt vor allem die Menschenwürde nach Art. 1 GG?
Reichweite und inhaltliche Konkretisierung von Menschenwürde sind immer
wieder neu zu klären. Das Menschenbild ist stets im Wandel. In manchen anderen
und vor allem früheren Gesellschaften war nicht einmal das Lebensrecht der
Alten gesichert, zumal, wenn sie als bloße Kostgänger erschienen. Das ist heute über-
holt. Zum jetzt unstrittigen Kern der Menschenwürde gehört neben dem Lebensrecht
an sich, dass niemand aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden darf, dass jeder
eine zweite Chance erhalten muss, dass keiner erniedrigt, gedemütigt, zum bloßen
Objekt degradiert werden darf. Nicht so selbstverständlich ist der Anspruch auf um-
fassenden Gesundheitsschutz. Er muss inhaltlich im gesellschaftlich-politischen
Diskurs allzeit nach sich wandelnden medizinischen Erkenntnissen, demografischer
Entwicklung, ökonomischen Lagen und sich ändernden sozialethischen Bewertun-
gen neu ausgehandelt werden.
Rechtlich gilt heute nach § 27 SGB V, dass alle Versicherten Anspruch haben „auf
Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, eine Krankheit zu erkennen, zu heilen,
ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.“ Kran-
kenbehandlung umfasst dabei auch Psychotherapie durch Ärzte oder Psychothera-
peuten. Allerdings erscheint es angezeigt, dass dieser allgemein geltende Rechtsan-
spruch im Sinne des Äquivalenzprinzips gesetzlich und versicherungsrechtlich kon-
kretisiert wird für die Heimpflege. Zusätzlich sollten von den dafür zuständigen me-
dizinischen Organisationen Evidenz- und Konsens-basierte Leitlinien entwickelt
werden zu bestimmten psychologisch-psychotherapeutisch-psychiatrischen Be-
handlungserfordernissen und Behandlungsformen für Pflegeheim-Bewohner.
6
BGH Urt. v. 02. 04. 2019 – VI ZR 13/18.
1138 Arthur Kreuzer
7
Zu Daten zur Verbreitung von Drogen, Drogenabhängigkeit, Behandlung und Substitu-
tion Opiatabhängiger z. B.: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) e.V. 2019, insb. 11,
29 ff., 152 ff., 180 ff.; Pont et al. 2018.
Äquivalente Gesundheitsversorgung in Pflegeheimen und Haftanstalten 1139
8
Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Be-
handlung Opiatabhängiger v. 19. 02. 2010, Deutsches Ärzteblatt 2010; 107(11): A-511/B-447/
C-439; überarbeitete Fassung v. 27./28. 04. 2017, Deutsches Ärzteblatt 2017; 114(40): A-
1829/B-1553/C-1519.
1140 Arthur Kreuzer
Im 3. Leitsatz wird ein staatlicher Ermessensspielraum bei der Wahl der Behand-
lungsmethode anerkannt, der aber dem genannten Grundsatz gerecht werden muss.
Zur Substitutionsbehandlung wird ausgeführt:
„4. Die Verweigerung der Fortsetzung einer Substitutionsbehandlung kann jedenfalls dann
nicht damit begründet werden, den Gefangenen durch die in Haft erzwungene Überwindung
seiner Drogensucht zu resozialisieren und ihn so dazu zu befähigen, außerhalb der Haftan-
stalt ein drogenfreies Leben zu führen, wenn eine vorherige stationäre Suchttherapie man-
gels Erfolgsaussichten beendet worden war.“
Damit wird anerkannt, dass auch in Haftanstalten nicht realitätswidrig ein Absti-
nenz-Paradigma in der Behandlung durchgesetzt werden darf und kann – dieses ge-
stützt auf die rechtlichen Verpflichtungen, zu resozialisieren und Sicherheit in der
Haft zu gewährleisten durch striktes Unterbinden jeglichen Suchtmittelumgangs.
Süchtigen Gefangenen darf nicht eine Abstinenz aufgezwungen werden, die aner-
kanntermaßen Süchtige außerhalb der Haft überfordern und bei ihnen scheitern
würde. Es muss beachtet werden, dass Drogenabhängigkeit zugleich eine Krankheit
mit hohen Risiken der Rückfälligkeit ist. Alkohol- und Drogenabhängige gelangen
meist erst nach vielen Rückfällen in eine stabilere Entwicklung. Sicherheitsbelange
und Resozialisierungsbemühen müssen also pragmatisch ausbalanciert werden. Er-
kenntnisse zur Suchtbehandlung draußen müssen soweit möglich in der Haft eben-
falls umgesetzt werden.
9
EGMR, Urt. v. 01. 09. 2016 – 62303/13 (Wenner ./. Deutschland), Strafverteidiger 38,
2018, 619.
1142 Arthur Kreuzer
Noch immer ist Substitutionsbehandlung in der Haft nicht bei allen infrage kom-
menden Gefangenen möglich. Hinderungsgründe sind das als vorrangig geltende
Abstinenzziel, die Sorge um Sicherheit, der nicht überall als erfüllbar erscheinende
zusätzliche Verwaltungsaufwand, der Mangel an für solche Behandlungen spezifisch
geschultem ärztlichem Personal. Weiterhin besteht ein Nord-Süd- und Ost-West-Ge-
fälle in der haftinternen Substitutionsbehandlung. Von einem Abdecken des tatsäch-
lichen Bedarfs kann keine Rede sein. Die ehemalige Bundes-Drogenbeauftragte
Mortler hat vor kurzem im Bundestag den Mangel an Möglichkeiten der Substituti-
onsbehandlungen bereits außerhalb, erst recht innerhalb deutscher Haftanstalten ge-
rügt.10 Nur ein kleinerer Teil der infrage kommenden inhaftierten Drogenabhängigen
erhält die Chance. Doch die Lage verbessert sich. Vorbild könnten die vom nord-
rhein-westfälischen Justizministerium veranlassten, 2010 überarbeiteten Behand-
lungsempfehlungen sein.11 Schlusslicht waren bisher die süddeutschen Länder; Bay-
ern hat aber aufgrund der EGMR-Entscheidung inzwischen dafür gesorgt, dass es
nunmehr wenigstens in der Hälfte der Haftanstalten Substitution gibt.
Vor allem wird gegen das Äquivalenzprinzip verstoßen, wenn Substitutionsbe-
handlungen, die vor der Haft eingeleitet waren, in der Haft indikationswidrig abge-
brochen werden. Nur bei wenigen gelingt haftintern eine Entwöhnung. Was draußen
fachärztlich als angezeigt erschien, muss auch in der Haft angeordnet und fortgeführt
werden dürfen. Anderenfalls verstärken sich der Druck zu illegalen Praktiken, Mor-
talitätsrisiken nach Haftentlassung, schnelle Rückfälligkeit in Abhängigkeit und Kri-
minalität sowie Infektionsrisiken. Substitutionsbehandlung muss nach ärztlicher
Diagnose in Haftanstalten eingeleitet werden können entsprechend den Vorgaben
der Richtlinien der Bundesärztekammer. Ein Übergangsmanagement muss dafür
Sorge tragen, dass außerhalb oder innerhalb der Haft begonnene Substitutionsbe-
handlungen bei Haftantritt oder nach der Entlassung mit Unterstützung oder Umstel-
lung der jeweiligen Krankenversicherungsträger weitergeführt werden können.
Würden mehr infrage kommende Inhaftierte substituiert, leistete man wertvolle
Beiträge zur Vorbeugung gegen subkulturell-kriminelle Verstrickungen in der
Haft, zur Infektionsprophylaxe, zur rechtzeitigen Vorbereitung von Entlassungen
und Übergängen in haftexterne Behandlungen sowie langzeitiger Rehabilitation,
zur Minderung von Risiken weiteren sozialen Abgleitens und krimineller Rückfäl-
ligkeit sowie Mortalität nach der Entlassung. Dann ließen sich Überleitungen in haft-
externe Behandlungseinrichtungen rechtzeitig vorbereiten und die Kostentragung
nachfolgender Behandlung durch Krankenkassen gewährleisten.
10
https://www.drogenbeauftragte.de/fileadmin/dateien-dba/Drogenbeauftragte/2_Themen/
2_Suchtstoffe_und_Abhaengigkeiten/7_Heroin/Downloads/ParlamentariParla_Abend_Substitu
tionstherapie_Rede_DdB_08_05_2019.pdf [09. 12. 2019].
11
Dazu: Justizministerium des Landes NRW 2010; zu Handlungsempfehlungen auch: In-
itiative Gesundheit in Haft 2019.
Äquivalente Gesundheitsversorgung in Pflegeheimen und Haftanstalten 1143
kamen, dass im Großen und Ganzen keine Zunahme des Drogenkonsums festgestellt
wurde. Zu den negativen Befunden gehörten die in unserer Vergleichsuntersuchung
2002 herausgestellten (Hoffmann et al. 2002, 63 ff.): Von den allen zugänglichen Au-
tomaten gehen Anreize für erneuten intravenösen Drogengebrauch bei Gefangenen
aus, die sich in der Haft vom Drogenumgang oder wenigstens vom intravenösen Kon-
sum lösen wollen. Aus Automaten bezogene Spritzen haben einen großen Stellen-
wert im illegalen intramuralen Markt. Sie werden – benutzt oder unbenutzt – oft
an andere weitergegeben. Nicht jeder Gefangene traut sich, selbst den Automaten
zu benutzen wegen der Gefahr, beobachtet und daraufhin stärker kontrolliert zu wer-
den. Es gab sogar ein Verhaltensmuster, wonach der Spritzenlieferant die Hälfte aus
der aufgezogenen Spritze erhält, die andere Hälfte der Drogenlieferant. Bei häufigen
Defekten von Automaten kommt es zu Zerstörungen und vermehrtem Einsatz ge-
brauchter Spritzen.
Wir kamen daher zu der Empfehlung, zunächst Modelle zu erproben, in denen
Diamorphin und Spritzen an für diese Substitution zugelassene Gefangene einzeln
in einem Gesundheitsraum kontrolliert zum unmittelbaren Gebrauch und zur Rück-
gabe der Spritzen daselbst abgegeben werden. Dann können Signalwirkungen, HIV-
und Hepatitis-Infektionen und subkultureller Missbrauch vermieden werden. Wer
dabei anhaltend vereinbarte Regeln bricht, muss vom Programm wieder ausgeschlos-
sen werden. Diese Ausgestaltung von Diamorphin-gestützter Substitution würde
indes nur sehr wenigen Gefangenen zugutekommen. Dem Verlangen nach Spritzen
bei anderen Gefangenen würde nicht entsprochen. Sogar nicht alle für Diamorphin-
Substitution infrage kommenden Gefangenen würden am Programm der Einzelver-
gabe teilnehmen, weil manche die Rahmenbedingungen des konkreten individuellen
Drogengebrauchs im Gesundheitsraum nicht selbst gestalten könnten.
Es gibt Fachleute wie Heino Stöver (2018, 458 – 463), die den hier vertretenen zu-
nächst restriktiven Standpunkt zu Spritzentausch-Programmen nicht teilen: Diamor-
phin- und Spritzenvergabe seien ausschließlich nach medizinischen Kriterien zu be-
urteilen; der Aspekt der Sicherheit in der Anstalt sei deswegen in diesem Zusammen-
hang nicht maßgeblich. Dagegen ist einzuwenden, dass Sicherheitserwägungen in
jeder Strafanstalt bei allen für andere riskanten Praktiken im Gesundheitsbereich
zu beachten sind. Das Äquivalenzprinzip kann nicht vernachlässigen, dass Spritzen-
tausch über Automaten außerhalb einer Anstalt ganz anders funktioniert als in der
Haft; es schafft draußen weniger Risiken des Missbrauchs, jedoch erhebliche Verbes-
serungen in der Infektionsprophylaxe, drinnen erhebliche Risiken. Mögliche Fremd-
schädigungen, die erkennbar von einer ansonsten gesundheitspolitisch positiv einzu-
schätzenden Maßnahme des Gesundheitsdienstes ausgehen, müssen daraufhin ge-
prüft und bewertet werden, ob sie auch in der Haft verantwortbar sind. Doch sollte
man den Weg weitergehen, an Modellen zu erproben, ob und wie eine Diamorphin-
gestützte Substitution und eventuell darüber hinaus gehender Spritzentausch am bes-
ten in Haftanstalten praktiziert werden können. Die Problematik der Spritzenvergabe
an Diamorphin-substituierte Opiatabhängige ließe sich außerdem künftig mindern,
wenn sich die Umstellung auf Praktiken oraler Einnahme des Substituts als gangbare
Äquivalente Gesundheitsversorgung in Pflegeheimen und Haftanstalten 1145
Alternative zu Injektionen erwiese. Allerdings wird man es derzeit nicht als rechts-
widrig ansehen müssen, wenn sich zuständige Ärzte in Haftanstalten bei der Ermes-
sensentscheidung, ob eine und welche Substitutionsbehandlung angezeigt sei, auf
den Standpunkt stellen, die mit einer Diamorphinsubstitution verbundenen Vorkeh-
rungen könnten nicht verwirklicht werden, zumindest seien die mit solcher Substi-
tution verbundenen Risiken nicht beherrschbar, weshalb nur eine Substitution mit an-
deren Medikamenten wie Methadon angeordnet werden könne. Nach Informationen
eines maßgeblich im Raum Frankfurt am Main für die Substitution Drogenabhängi-
ger zuständigen Psychiaters ist es möglich, bislang Diamorphinsubstituierte nach
Haftantritt in eine Behandlung mit einem anderen Substitut überzuführen und
nach Haftentlassung die ursprüngliche Diamorphinsubstitution wieder aufzuneh-
men.
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1146 Arthur Kreuzer
1. Geschichte: Verständigungsschwierigkeiten
in Forschung und Praxis
Als Hans-Jörg Albrecht und auch der Autor vor etwa 35 Jahren die Bühne der For-
schung in Kriminologie und Forensischer Psychiatrie betraten und sich etwas später
als Antragsteller in einem Sonderforschungsbereich der Deutschen Forschungsge-
meinschaft kennenlernten, gab es gerade erste Ansätze fachübergreifender Zusam-
menarbeit und vor allem die Idee der Interdisziplinarität, die zu einer Intensivierung
der Forschung und zu einem Wissenstransfer zwischen den Forschern beitragen soll-
te. Tatsächlich waren beide Fächer aber zunächst weitgehend damit beschäftigt, die
Grundlagen für eigene empirisch quantitative Untersuchungen zu schaffen. Interdis-
ziplinäre Ansätze blieben auf vereinzelte Aktivitäten in Forschungsprojekten und in
der Lehre beschränkt. Wissenschaftliche Arbeiten in der Forensischen Psychiatrie
konnten immer noch durch den Satz von Bleuler über das „autistische, undiszipli-
nierte Denken in der Medizin“ (Bleuler 1962) charakterisiert werden. Die Praxis
war vor allem bei der Begutachtung weiterhin durch den Schulenstreit zwischen
den psychopathologisch orientierten Vorgaben der Heidelberger Schule (z. B.
Schneider 1929; Witter 1970) und den tiefenpsychologischen Ansätzen psychoana-
lytischer Verstehensmodelle (Schorsch & Becker 1977) oder den Erklärungsmodel-
len, die sich von einer Konstitutionspsychologie ableiteten (Kretschmer 1977), ge-
prägt.
Darüber hinaus spielte in den akademischen Auseinandersetzungen der Gnosti-
zismus-Agnostizismusstreit eine bedeutsame Rolle, nämlich die Frage, ob überhaupt
beurteilt werden kann, ob ein Mensch aufgrund eigener Entscheidung auch hätte an-
ders handeln können, als er dies bei seinem kriminellen Akt machte. Die agnostische
Position, die u. a. von Schneider, Witter, Haddenbrock vertreten wurde, ging von der
Annahme aus, dass die Frage nach der Willensfreiheit und den Einbußen an Steue-
rungsfähigkeit im Einzelfall wissenschaftlich nicht beantwortbar sei. Demgegenüber
vertraten die Verfechter einer gnostischen Position, z. B. Mende, Schüler-Springorum
oder Venzlaff, die Auffassung, dass wissenschaftlich begründete Aussagen über Ein-
sichts- und Steuerungsfähigkeit durchaus möglich seien (Müller & Nedopil 2017).
1148 Norbert Nedopil
Auch der Dialog zwischen Psychiatern und Juristen war von Verständigungs-
schwierigkeiten und manchmal auch von grundsätzlichen Meinungsverschiedenhei-
ten geprägt (Nedopil 1999).
Empirische Untersuchungen im engeren Sinn waren in der forensischen Psychia-
trie, aber auch in der Kriminologie, eher die Ausnahme. Es fehlte an verbindlichen
Begrifflichkeiten und Definitionen, sowie überhaupt an Maßstäben und quantitativer
Methodik, die über ein Abzählen von Fällen hinausging.
Eine vergleichbare Vielfalt an eher einzelgängerischen Denkmustern und Be-
handlungsstrategien fand sich im psychiatrischen Maßregelvollzug. Verbindliche
Behandlungskonzepte und Interventionsstrategien gab es oftmals nicht einmal inner-
halb einer Einrichtung, geschweige denn zwischen den einzelnen Akteuren unter-
schiedlicher Professionen (Psychiatrie, Psychologie, Arbeitstherapie, Pädagogik,
Sozialpädagogik, Strafvollstreckungskammern, Bewährungshilfe), die mit der Kli-
entel befasst waren.
schieden, führten zur Entwicklung des Static 99 (Hanson & Thornton 1999). Mit
Hilfe der Untersuchung der Vorhersagemethoden erfahrener Sachverständiger und
der Analyse von deren Treffsicherheit wurde in Verbindung mit bereits veröffentlich-
ten empirischen Untersuchungen von Merkmalslisten zur Risikoerfassung bei psy-
chisch gestörten Straftätern die Integrierte Liste der Risikofaktoren (ILRV, Nedopil
1997) erarbeitet. Die damals erhobene Forderung nach der Errechnung von Basisra-
ten über die Rückfallhäufigkeit von Straftätern nach Haftentlassung, die in der ILRV
erfragt wurden, wurde von Kriminologen und dem Bundesjustizministerium aufge-
griffen. Deliktbezogene Rückfallraten wurden bislang drei Mal mit unterschiedlich
langen Beobachtungszeiträumen veröffentlicht (Jehle et al. 2003; 2010; 2016).
Mit unterschiedlichen empirischen Methoden wurde eine Vielzahl derartiger In-
strumente geschaffen, die empirische Untersuchungen und quantitative Aussagen er-
möglichten. Die Ergebnisse der Untersuchungen führten wiederum zu einer Verbes-
serung der Instrumente. Bereits 2010 wurden über 470 derartige Merkmalslisten ge-
schaffen, deren Konstruktion, Aussagekraft und Anwendungsmöglichkeiten selbst
für Fachleute nicht überschaubar sind (Chambers et al. 2009).
Entscheidend für die Entwicklung der Prognoseforschung, aber auch für das Fach
und die interdisziplinäre Zusammenarbeit insgesamt, ist nicht die Schaffung immer
neuer Instrumente, sondern dass durch diese Instrumente und deren Anwendung eine
gemeinsame, verbindliche und z. T. auch quantitativ differenzierende Sprache gefun-
den wurde.
Führungsaufsicht wurde auf eine neue rechtliche Grundlage gestellt und die foren-
sischen Ambulanzen wurden in das Strafgesetzbuch (§§ 68a bis 68c, 68e, 68f) auf-
genommen. 2011 wurde die elektronische Aufenthaltsüberwachung, die eine weiter-
gehende Kontrolle der risikoträchtigen Patienten nach deren Entlassung ermöglicht,
legalisiert (§ 68b Abs. 1 Nr. 12 StGB). 2016 erfolgten die Gesetzesrevisionen zum
Maßregelvollzug, die auch eine Differenzierung bezüglich des Restrisikos, welches
der Allgemeinheit zugemutet werden kann, enthielten (§§ 63, 64, 67, 67d StGB).
Etwas später kamen die Änderungen der landesrechtlichen Maßregelvollzugsgesetze
hinzu, die rechtliche Festschreibungen zur Unterbringung und Behandlung ein-
schlossen und somit auch therapeutisches Handeln weit mehr und rigider als früher
unter richterliche Kontrolle stellten.
Auch im klinischen Umgang mit den Untergebrachten und den aus der Unterbrin-
gung Entlassenen hat sich vieles geändert, namentlich die Einführung der ambulan-
ten Nachsorge für Patienten, die aus dem Maßregelvollzug entlassen wurden (Stüb-
ner & Nedopil 2009) und z. T. auch für Strafgefangene, die zuvor den Vollzug in so-
zialtherapeutischen Abteilungen absolviert hatten (Tippelt et al. 2012). Durch diese
Nachsorge soll verhindert werden, dass sich erkennbare Risiken zu realen Gefahren
wandeln. Es geht also nicht mehr um die Treffsicherheit einer Prognose, sondern um
das Vorbeugen und Verhindern einer Verwirklichung von Risiken und damit um das
Erkennen dieser Risiken (Nedopil 2013).
Von forensisch psychiatrischer bzw. von interdisziplinärer Seite hat sich das Kon-
zept der Prognose geändert. Es ist sehr viel deutlicher geworden, dass es um Risiko-
management und weniger um die Richtigkeit einer Prognose geht. Auch für die
Rückfallprognose bei Straftätern gilt die Aussage von Harari (2017): „Welchen
Sinn macht es Prognosen abzugeben, wenn diese nichts ändern? Einige komplexe
Systeme, wie z. B. das Wetter, sind sich der Prognosen nicht bewusst. Der Prozess
der menschlichen Entwicklung reagiert im Gegensatz dazu aber auf Prognosen. In
der Tat, je besser die Vorhersagen sind, desto mehr Reaktionen rufen sie hervor.
Es wird mehr Wissen geschaffen und Menschen ändern ihr Verhalten und damit wer-
den die Grundlagen unserer Prognosen und auch die Prognosen selbst überholt und
hinfällig.“ Es ist eine Feststellung, die medizinisches Wirken ausgesprochen oder un-
ausgesprochen schon lange beherrscht, bei der Neuorientierung der Prognosefor-
schung in der forensischen Psychiatrie in den 1990er Jahren allerdings vergessen
wurde.
Die heutige Frage lautet somit wissenschaftlich formuliert: Was können wir tun,
um eine ungünstige Prognose zu falsifizieren? Oder mit anderen Worten: Ziel von
Risikoeinschätzung und Risikomanagement ist nicht eine möglichst hohe Treffer-
quote, sondern die Falsifizierung der ungünstigen und die Verifizierung der günsti-
gen Prognose. Auch die Begrifflichkeiten werden den neuen Paradigmen angepasst.
Es geht nicht mehr um die Prognose, sondern um eine Risikoeinschätzung. Der
grundsätzliche Unterschied besteht darin, dass Prognosen voraussagen sollen, was
geschehen wird. Ihre Richtigkeit erweist sich, wenn das eintrifft, was vorausgesagt
Risikomanagement bei Straftätern als interdisziplinäre Aufgabe 1151
haben. Dies gelang bisher am besten, wenn sie speziell auf die Risikomerkmale aus-
gerichtet waren, die sich als deliktrelevant erwiesen haben, d. h. die Neigung des Be-
treffenden zu Normverstößen, Gewalttätigkeiten oder sexueller Übergriffigkeit im
Fokus haben (Andrews & Bonta 1994; 2017). Auch in diesem Bereich ist die Anzahl
der therapeutischen Ansätze nur schwer zu überblicken. Die Grundsätze und Wirk-
prinzipien sind jedoch dahingehend relativ ähnlich, dass sie auf kognitiv-behaviora-
len Methoden beruhen und dass die Risiken und (kriminogenen) Bedürfnisse des Be-
troffenen angegangen werden müssen. Die Intensität der Behandlung soll sich an der
Gefährlichkeit des Täters orientieren. Menschen mit hohem Risiko sollen intensiver
behandelt werden als jene mit niedrigem Risiko. Die Therapie soll auf die änderbaren
Risikofaktoren (z. B. soziale Isolierung, antisoziale Einstellungen, begünstigende
Einstellungen zur Gewaltanwendung, fehlende Tagesstrukturierung, mangelnde
Ausbildung, ideologische Vereinseitigung, Substanzmissbrauch, misslungene fami-
liäre Beziehungen, Mangel an prosozialer, selbstbestätigender Freizeitgestaltung) im
Einzelfall fokussieren und der Ansprechbarkeit der Betroffenen in Bezug auf kogni-
tive Fähigkeiten, Lernstil, Motivation etc. angepasst sein.
Die Therapie sollte darüber hinaus zu einer Steigerung der Lebensqualität führen,
deren Verlust wiederum für den Betroffenen schmerzlich wäre und damit von ihm
vermieden werden würde (Good Lives Model Ward et al. 2007; Franqué & Briken
2013). Diese Therapiekonzepte werden getragen von einem interdisziplinären Be-
handlungsteam, in welchem alle Mitglieder, Psychiater, Psychologen, Sozialpädago-
gen, Ergotherapeuten und Pflegekräfte gemeinsam und übereinstimmend nicht nur
das gleiche Ziel verfolgen, sondern auch vergleichbare Rollenmodelle vorleben
und die gleiche Strategie vertreten sollten (Müller-Isberner et al. 2018).
In beiden Bereichen, Risikoeinschätzung und Behandlung bei psychisch gestör-
ten Straftätern, sind die individuellen und selten allgemein vermittelbaren Vorge-
hensweisen, die den jeweiligen persönlichen Interessen und klinischen Erfahrungen
einzelner Therapeuten entsprangen, zunehmend in den Hintergrund gedrängt und
durch allgemein verbindliche und für Außenstehende transparente Konzepte ersetzt
worden. Dadurch werden die Kommunikation vereinfacht, die Vorgehensweise über-
prüfbar, die Methoden lehr- und lernbar gemacht; gleichzeitig werden sie durch em-
pirische Auswertungen und Analysen auch verbesserbar und in ihrer Effektivität ge-
steigert.
Transparenz und Effektivitätsnachweis sind erforderlich, weil durch die Geset-
zesänderungen zunehmend die Strafvollstreckungskammern der Gerichte als weitere
Akteure in das therapeutische Setting mit eingreifen. Dies geschieht nicht nur zuneh-
mend häufiger bei Behandlungen gegen den Willen strafrechtlich untergebrachter
Patienten (Koller 2014; Nedopil 2016), sondern auch weil sie dazu verpflichtet
sind, zu überprüfen, ob eine adäquate Behandlung angeboten und kompetent durch-
geführt wurde (siehe Empfehlungen Kröber et al. 2019).
Vor diesem Hintergrund ist nahezu zwangsläufig eine multidisziplinäre Herange-
hensweise erforderlich, um gemeinsam die Aufgaben, namentlich die Sicherheit für
Risikomanagement bei Straftätern als interdisziplinäre Aufgabe 1153
die Allgemeinheit und das Wohlbefinden und die Wahrung der individuellen Rechte
des einzelnen Betroffenen, zu erfüllen.
– die Möglichkeit der Betreuung besonders schwieriger Klienten, mit denen eine
Berufsgruppe allein überfordert wäre,
– eine Kostenreduktion,
– eine informelle Zusammenarbeit und die Entwicklung von Verständnis für die
Aufgaben und Probleme der anderen Berufsgruppen,
– die Verpflichtung zu dem erforderlichen Perspektivenwechsel, der bei der Nach-
sorge notwendig ist, und
– eine Verbesserung der Betreuungskonstanz.
Allerdings sollten auch die denkbaren Nachteile nicht übersehen werden. Sie be-
stehen darin,
– dass vertrauliche Informationen ausgetauscht werden und damit die Schweige-
pflicht unterhöhlt wird,
– dass eine größere Kontrolle und intensivere Eingriffe in das Leben der Betroffenen
über einen längeren Zeitraum erfolgen und
– dass der interdisziplinäre Arbeitsprozess auch mit Zeit und Kosten verbunden ist,
die möglicherweise ausgeglichen werden müssen.
Aus der Gegenüberstellung von Vor- und Nachteilen wird ersichtlich, dass es kla-
rer Regelungen von Verantwortlichkeiten, klarer Grenzsetzungen (z. B. über den
Umfang des Informationsaustausches) und einer Strukturierung der Zusammenarbeit
bedarf, dass unter solchen Bedingungen aber die praktischen Vorteile überwiegen
(Thomson et al. 2018).
Und wiederum ist damit eine Werteentscheidung verbunden, wie die Vor- und
Nachteile gegeneinander abgewogen werden. Damit wird ersichtlich, dass normati-
ves Denken in den Abwägungsprozess beim interdisziplinären Risikomanagement
mit einbezogen werden muss.
Eine solche interdisziplinäre Zusammenarbeit gelingt aber nur, wenn eine ge-
meinsame Sprache und ein gemeinsames Grundverständnis zwischen den Akteuren
gefunden wird und diese wiederum die Sichtweisen, Aufgaben und Grenzen der an-
deren Akteure in den Grundzügen verstehen.
gestellt. Seit 1990 wurden die interdisziplinären, von Psychiatern, Psychologen und
Juristen gemeinsam durchgeführten Seminare zunächst in Niederpöcking und ab
2010 unter neuer Leitung in Tutzing für deutschsprachige Fachleute veranstaltet
(Nedopil 2008). Von 2004 bis 2012 wurden regelmäßige interdisziplinäre Seminare
mit der Spezialabteilung der Polizei, die in Bayern für die kriminalpräventive Nach-
sorge entlassener Sexualstraftäter verantwortlich ist (HEADS), veranstaltet (Horn &
Nedopil 2006), 2011 begannen nach dem gleichen Konzept wie zuvor in Niederpö-
cking englischsprachige Seminare, die von einer europäischen Gruppe forensischer
Psychiater, der 2004 gegründeten Ghent-Group (Gunn & Nedopil 2005) organisiert
werden (Nedopil et al. 2012). Der Jubilar hat, ohne zu zögern, die Bitte des Autors
zur Mitwirkung angenommen und ist von Anbeginn bis heute bei den jährlich ver-
anstalteten Sommer-Seminaren der Vertreter der Rechtswissenschaften, der mit der
ihm eigenen internationalen Erfahrung und Übersicht die juristische Perspektive der
jeweiligen Themen eingebracht und die psychiatrischen und psychologischen Sicht-
weisen hinterfragt hat. Er hat dabei vielen Teilnehmern nicht nur die Augen geöffnet
und ihnen Perspektivenwechsel ermöglicht, er hat ihnen auch die Scheu genommen,
mit Juristen in einen vertieften Diskurs zu treten. Beides, die Fähigkeit zum Perspek-
tivenwechsel und die Bereitschaft zum Diskurs, ist aber erforderlich, wenn man die
Aufgabe eines interdisziplinären Risikomanagements ernst nimmt.
Viele Aufgaben, die für eine funktionierende interdisziplinäre Zusammenarbeit
beim Risikomanagement erforderlich sind, wurden inzwischen geleistet: Die sprach-
liche Verständigung wurde durch eine operationalisierte Terminologie vereinfacht,
die jeweiligen Ansätze wurden im Rahmen des Möglichen quantifizierbar und die
Effekte von Interventionen messbar, die Aufgabenstellung (des Risikomanagements)
ist von unerfüllbaren Forderungen (z. B. nach der Vorhersage langfristiger Straffrei-
heit nach einer Entlassung) auf erreichbare Zwischenziele (z. B. die mittelfristige
Kontrolle von Risiken) verlagert worden. Die Akteure dieser Aufgabenstellung
haben die Möglichkeit, gemeinsam sinnvolle Lösungen zu finden. Für die Human-
wissenschaftler wurden Weiterbildungsmöglichkeiten geschaffen, die ihnen die Per-
spektiven der anderen Akteure und insbesondere der Juristen nahebringen und ihnen
den Zugang zum Diskurs eröffnen. Bedauerlicherweise wird die Interdisziplinarität
von Seiten der Juristen kaum ernst genommen. Vergleichbare Anstrengungen für in-
terdisziplinäre Weiter- und Fortbildung, wie dies von Seiten der Humanwissenschaf-
ten geschieht, gibt es kaum, obwohl alle Juristen, die an den psychiatrischen Semi-
naren mitgewirkt haben, den Gewinn für das eigene Denken und die eigene Arbeit
anerkennen.
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1158 Norbert Nedopil
1. Einleitung
Der Umgang mit Menschen, die gegen die Regeln der Gesellschaft verstoßen
haben, ist seit Jahrtausenden immer wieder Anlass für kontroverse Reaktionen gewe-
sen. Dominierten bis in die Neuzeit die Körperstrafen und übertrafen sich einige Jahr-
hunderte in der Grausamkeit der Sanktionen, so setzte sich ab dem 17. Jahrhundert
mehr und mehr der Gedanke durch, dass man Menschen auch durch den Entzug von
Freiheit bestrafen könne, zugleich verbunden mit dem ebenfalls positiven Effekt,
möglicherweise auch künftig gefährliche Personen von der Gesellschaft – zumindest
zeitweise – fernzuhalten. Erst später kam der Gedanke hinzu, man könne in dieser
Zeit des Strafvollzugs auch die Betreffenden bessern bzw. – modern – sie resoziali-
sieren. Geschah dies zu Beginn durch die Vorstellung, dass eine Bibel auf dem Haf-
traum, der Blick zum Himmel und gelegentlich ein wenig Aufenthalt an der frischen
Luft zur Buße und Einkehr und damit zu einem straffreien Leben motivieren könne,
versuchte man sich später in einer Vielzahl von Behandlungsstrategien, bis hin zu den
heutigen, teils standardisierten Programmen. Man könnte auch sagen, jede Epoche
und jede Kultur hat den Strafvollzug, den sie verdient, und nicht selten ist gerade
der Umgang mit den Rechtsbrechern ein Gradmesser und Indikator für das Maß
an Humanität in einer Gesellschaft (vgl. Matthews 2009).
Der emeritierte Direktor des Freiburger Max-Planck-Instituts für ausländisches
und internationales Strafrecht, heute Max-Planck Institut zur Erforschung von Kri-
minalität, Sicherheit und Recht, Hans-Jörg Albrecht hat sich in seinem umfangrei-
chen wissenschaftlichen Werk immer wieder den Themen Strafe und Strafvollzug,
intensiv angenommen. Hierzu gehören z. B. frühe Arbeiten zu den Alternativen
zur Inhaftierung (Albrecht 1979) oder zur Jugendstrafe (Albrecht 1986) ebenso
wie zur gemeinnützigen Arbeit (Albrecht 1988) und, fast schon logische Konse-
quenz, zur Ersatzfreiheitsstrafe, deren Norm er kommentiert (Albrecht 2017). Dar-
über hinaus hat sich Albrecht in seinem Werk mit einer Fülle weiterer strafvollzug-
licher Themen, wie dem elektronisch überwachten Hausarrest als Alternative zur
Freiheitsstrafe (z. B. Albrecht 2001), der Verfassungsmäßigkeit des Jugendstrafvoll-
zugs (Albrecht 2003), der Todesstrafe (Albrecht 2010) oder der Überbelegung des
1160 Joachim Obergfell-Fuchs
2. Veränderungen im Justizvollzug
im 21. Jahrhundert
2.1 Strukturelle Veränderungen
Geht man der Frage nach, wie ein Wandel im deutschen Strafvollzug aussehen
könnte, so bietet sich zunächst der Blick auf die Veränderung der Gefangenenzahlen
und Sicherungsverwahrten an, wie sie das Statistische Bundesamt jährlich zum
Stichtag 31.03. eines jeden Jahres ausweist. Dabei werden hier, wie auch in den nach-
folgenden Darstellungen, die Gesamtzahlen, d. h. Frauen und Männer, berücksich-
tigt, wobei der Anteil weiblicher Gefangener lediglich 5,9 % (31. 03. 2019) an der
Gesamtzahl der Inhaftierten ausmacht.
Wie Abbildung 1 zeigt, kann man erkennen, dass im Laufe der ersten Dekade des
21. Jahrhunderts zunächst die Gefangenenzahlen moderat anstiegen. Ab 2008
kommt es jedoch zu einem nennenswerten Rückgang bis 2016 um rund 27 %.
Erst in den vergangenen beiden Jahren scheint dieser Rückgang zu stagnieren. Aller-
dings findet man deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern.
Während in den ostdeutschen Ländern nahezu durchweg ein Rückgang der Gefan-
genenzahlen bis 2019 beobachtet werden kann, nehmen in z. B. den westlichen Stadt-
staaten Hamburg und Bremen die Zahlen nach 2016 wieder nennenswert zu: In Ham-
burg um rund 14 % und in Bremen um rund 7 %. Aber auch in Flächenländern wie
z. B. Baden-Württemberg (+ 10 %) können Zuwächse bei den Gefangenenzahlen
verzeichnet werden. Auf mögliche Gründe dieser Abweichungen soll am Ende
des Beitrags nochmal eingegangen werden.
Die Entwicklung des Strafvollzugs in Deutschland seit der Jahrtausendwende 1161
70000
60000
50000
40000
N
30000
20000
10000
0
2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018
Jahr
6,800,000 2,500,000
Fallzahlen
6,600,000
Tatverdächtige 2,400,000
6,400,000
2,300,000
6,200,000
Tatverdächtige
6,000,000 2,200,000
Fälle
5,800,000 2,100,000
5,600,000
2,000,000
5,400,000
1,900,000
5,200,000
5,000,000 1,800,000
2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018
Jahr
Über den zeitlichen Verlauf der Gefangenenzahlen kann man im Grunde sagen,
dass in der Gesamtbetrachtung der ersten beiden Dekaden des neuen Jahrtausends
die Zahlen insgesamt eher rückläufig sind. Gleichwohl sind gerade seitens des Jus-
tizvollzugs in einigen Bundesländern in den vergangenen Jahren Stimmen laut ge-
worden, dass man vor einer erheblichen Überbelegung stünde und eine menschen-
würdige und rechtmäßige Unterbringung, nicht möglich sei (u. a. Südkurier 2019,
Frankfurter Allgemeine Zeitung 2018). Man könnte nun angesichts der Zahlen erwi-
dern, dass noch vor 10 bis 15 Jahren alles sehr viel schlimmer gewesen sei und man
deutlich mehr Gefangene gehabt habe, es wird dann aber meist darauf verwiesen,
dass es zu strukturellen Veränderungen gekommen und die erhebliche Belastung
der letzten Jahre insbesondere durch eine Zunahme der Untersuchungsgefangenen
(U-Gefangenen) entstanden sei (Norddeutscher Rundfunk 2019a).
Betrachtet man die in Abbildung 3 dargestellten diesbezüglichen Zahlen, so kann
man tatsächlich feststellen, dass die Anzahl der U-Gefangenen seit 2013 erheblich,
nämlich um rund 19 % zugenommen hat. Dieser Trend entspricht nicht so ganz den
oben dargestellten Zahlen der verurteilten Gefangenen, hier ist der Anstieg deutlich
moderater und setzt auch erst später ein. Ebenfalls keine Entsprechung findet sich in
den Kriminalitätszahlen, dort kam es zwar ebenfalls seit 2013 zu einem Anstieg, al-
lerdings danach zu einem Rückgang der Fallzahlen, wohingegen die U-Gefangenen
auf hohem Niveau verharren. Auch eine Analyse der Haftgründe bietet keinen rech-
ten Aufschluss, zwar nimmt seit 2012 der Anteil des Grundes der Fluchtgefahr leicht
zu, allerdings mit einer nur sehr moderaten Steigerung von 92,1 % auf 94,1 % (Sta-
tistisches Bundesamt 2013b – 2019b).
Die Entwicklung des Strafvollzugs in Deutschland seit der Jahrtausendwende 1163
40000
35000
30000
Untersuchungsgefangene
25000
20000
15000
10000
5000
0
2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018
Jahr
Mehr Aufschluss scheint dagegen eine vom Norddeutschen Rundfunk beim Sta-
tistischen Bundesamt in Auftrag gegebene Sonderauswertung zur U-Haft zu geben.
Demnach sei es in den vergangenen Jahren zu einem besonders starken Anstieg auf-
grund einer deutlichen Zunahme ausländischer U-Gefangener gekommen (Nord-
deutscher Rundfunk 2019b). Man kommt zum Schluss, dass das Risiko ausländischer
Straftäter in U-Haft zu kommen, weit größer ist als das vergleichbarer deutscher
Täter, da bei diesen oftmals eine erhöhte Fluchtgefahr aufgrund geringerer sozialer
Integration angenommen wird. So weist Holznagel (2012) darauf hin, dass Migran-
ten aufgrund ihres ausländischen Passes oder zumindest der Verwandtschaft im Aus-
land selbst bei weniger schweren Delikten ein höheres Risiko als hier lebende Deut-
sche haben, in Untersuchungshaft zu kommen, da die Gefahr besteht, dass sie sich
dem Strafverfahren entziehen werden.
Bei aller Besorgnis, gerade über die Zunahme der U-Gefangenen, muss man je-
doch feststellen, dass trotz des aktuellen Anstiegs bei weitem nicht das Niveau wie zu
Beginn des Jahrtausends erreicht wird. Dies zeigt, in Verbindung mit den oben dar-
gestellten Zahlen der verurteilten Gefangenen, dass sich so etwas wie ein „punitive
turn“ (vgl. Pratt 2002; Frost 2006), wie er zu Beginn des Jahrtausends in den USA
beschrieben wurde, und ein „Überschwappen“ in die westlichen Länder Europas,
darunter auch Deutschland (vgl. Sack 2010), so nicht abzeichnet.
1164 Joachim Obergfell-Fuchs
3000
Haftplätze
2500
Gefangene
2000
1500
1000
500
0
2000 2003 2006 2009 2012 2015 2018
Im Folgenden soll die Ebene der allgemeinen Zahlen verlassen und der Frage
nachgegangen werden, ob sich in den vergangenen beiden Dekaden des neuen Jahr-
tausends die Zusammensetzung der Gefangenen im deutschen Justizvollzug verän-
dert hat.
Ein erster Blick soll dabei auf die Altersstruktur der Gefangenen gerichtet werden.
Zwar ist der Fokus der Öffentlichkeit und durchaus auch der Kriminologie meist auf
junge Straftäterinnen und Straftäter gerichtet, zahllose Konzepte ranken sich um die
Vermeidung von Haft für junge Menschen sowie um deren Resozialisierung und ge-
eignete Wiedereingliederungsmaßnahmen (vgl. Dünkel 2017; Lutz 2017; Wirth
2017). Betrachtet man jedoch die Altersverläufe in Abbildung 5, so muss man fest-
stellen, dass seit der Jahrtausendwende der Anteil der jungen Gefangenen unter 25
Jahren deutlich abgenommen hat. So sank dieser von 21,1 % im Jahr 2000 auf 13,4 %
im Jahr 2019. Dieser Rückgang ist nicht nur in den relativen sondern auch in den ab-
soluten Zahlen erkennbar, waren 2000 12.853 junge Menschen inhaftiert, waren es
2019 noch 6.6798, nahezu eine Halbierung. Ein solcher Rückgang ist unter krimino-
logischen Gesichtspunkten begrüßenswert, denn der Strafvollzug ist sicherlich einer
der am wenigsten geeigneten Orte für eine gelingende Sozialisation junger Men-
schen (vgl. Kotynek u. a. 2012).
1166 Joachim Obergfell-Fuchs
60.0
50.0
40.0
% 30.0
20.0
10.0
0.0
2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018
Jahr
unter 25 Jahre 25 - 39 Jahre 40 Jahre und älter
Dieser Rückgang geht allerdings „auf Kosten“ der älteren Inhaftierten jenseits des
40. Lebensjahres. Hier stieg der Anteil zwischen 2000 und 2019 von 25,7 % auf
35,6 % und auch der Anstieg in den absoluten Zahlen ist, wenngleich moderater
und nicht so deutlich wie der Rückgang bei den jungen Gefangenen, nennenswert
und erheblich (2000: 15.609; 2019: 18.010). Auch wenn man bei 40jährigen und Äl-
teren schwerlich von alten und gebrechlichen Menschen sprechen kann, so stellt eine
Zunahme der Zahlen in dieser Altersgruppe den Strafvollzug vor andere, neue Pro-
bleme. Mit steigendem Alter ist mit einer Zunahme der gesundheitlichen Probleme
der Insassen zu rechnen, was neben vermehrten Kosten im Strafvollzug auch die Not-
wendigkeit eines erhöhten Betreuungsaufwandes mit sich bringt. Zudem sind die
baulichen Bedingungen der Vollzugsanstalten, die oftmals Ende des 19., Anfang
des 20. Jahrhunderts erbaut wurden, nicht auf die Belange von älteren Menschen
mit vielfältigen Einschränkungen angelegt. Ebenfalls erschwert ist mit steigendem
Alter die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt und das soziale Leben nach
der Haftentlassung. Solchen Entwicklungen wird im Vollzug in den letzten Jahren
durchaus Rechnung getragen, so finden sich spezielle Einrichtungen für ältere Ge-
fangene und auch die Themen ältere Gefangene, Krankheit, Sterben und Tod im Voll-
zug wurden in neuerer Vergangenheit immer wieder diskutiert (Görgen & Greve
2005; Legat 2008), wenngleich der Fokus weiterhin auf die jüngeren und jungen Ge-
fangenen ausgerichtet ist.
Ein indirekter Zusammenhang zum Alter ergibt sich mit der Dauer der zu verbü-
ßenden Freiheitsstrafe. Im Grunde sollten Strafmaß und Alter weitgehend voneinan-
Die Entwicklung des Strafvollzugs in Deutschland seit der Jahrtausendwende 1167
der unabhängige Variablen sein. Lässt man Aspekte wie Jugend- vs. Erwachsenen-
strafrecht oder eine verfestigte kriminelle Persönlichkeit außer Acht, so könnte man
einen Altersanstieg, zumindest partiell, auch durch einen längeren Verbleib der Ge-
fangenen in den Anstalten erklären. Dabei muss man berücksichtigen, dass die Ver-
weildauer in den deutschen Anstalten bei weitem nicht an das Maß z. B. der USA
heranreicht und lebenslange Freiheitsstrafen, Freiheitsstrafen von mehr als 10 Jahren
oder auch die Sicherungsverwahrung, d. h. Sanktionen bei denen die Gefangenen im
Strafvollzug nennenswert altern, eher selten sind (vgl. Walmsley 2018; Ferdinand &
Kury 2008).
Tatsächlich kann man aber feststellen, dass der Anteil der Gefangenen mit langer
Freiheitsstrafe von 5 bis 15 Jahren von 11,0 % im Jahr 2000 auf 7,7 % im Jahr 2019
abgenommen hat (Statistisches Bundesamt 2001a – 2020a). Auch der Anteil der Ge-
fangenen mit mittlerer Dauer der Freiheitsstrafe von 2 bis 5 Jahren hat von 2000
(24,0 %) zu 2019 (22,6 %) leicht abgenommen. Eine leichte Zunahme kann man da-
gegen bei Gefangenen mit lebenslanger Freiheitsstrafe feststellen, lag der Anteil
2000 bei 3,0 %, so ist er bis zum Jahr 2019 auf 3,9 % gestiegen. Diese Steigerung
kann jedoch nicht die Zunahme der älteren Gefangenen erklären.
Leichte Zunahmen ergeben sich ebenfalls bei den kürzeren Freiheitsstrafen. In der
Kategorie 9 bis 24 Monate zeigt sich zwischen 2000 und 2019 ein moderater Anstieg
von 26,0 % auf 28,3 % und in der Kategorie bis 9 Monate von 36,0 % auf 37,5 %.
Dies ist insofern bemerkenswert, da es sich um Freiheitsstrafen handelt, die – theo-
retisch – zur Bewährung hätten ausgesetzt werden können. Die Gründe, weshalb dies
nicht geschehen ist, mögen vielfältig sein: die Häufigkeit und Schwere früherer Stra-
fen, Umstände in der Person und Persönlichkeit des Verurteilten u.v.a.m. Für den
Strafvollzug bedeuten diese kürzeren Freiheitsstrafen jedoch, dass bei einem steigen-
den Anteil von Gefangenen die Möglichkeiten resozialisierender Maßnahmen einge-
schränkt sind. Behandlungsprogramme und insbesondere Therapien sind meist auf
eine längere Zeitdauer ausgerichtet und auch Maßnahmen der beruflichen (Re)Inte-
gration, wie z. B. Berufsausbildungen, können bei kurzen Strafen häufig nur begon-
nen aber nicht abgeschlossen werden, so dass es dem später Haftentlassenen bzw. den
Einrichtungen des Übergangsmanagements obliegt, die begonnenen Entwicklungen
möglichst positiv fortzusetzen. Dies wird jedoch oftmals durch die dann auftretende
Vielzahl destabilisierender Faktoren in Freiheit erschwert (Andrews u. a. 1990; Wö-
ssner u. a. 2016).
Als besonders kritisch sind in diesem Zusammenhang die Ersatzfreiheitsstrafen
zu erwähnen, die immerhin rund 7 % aller Insassen ausmachen (Deutscher Bundes-
tag 2018). Zum einen handelt es sich um eine meist sehr kurze Dauer der Inhaftie-
rung, zum anderen um eine oftmals recht schwierige Klientel, bei denen eine
Zwangsvollstreckung aussichtslos ist (vgl. Lobitz & Wirth 2018). Da gerade bei Er-
satzfreiheitsstrafen die Diskrepanz zwischen der Sanktion (teils nur dreistellige Be-
träge) und den Kosten für die Unterbringung im Strafvollzug (ca. 120 E pro Tag) of-
fensichtlich wird, ist hier das Bemühen groß, durch Verrichtung freier Arbeit die
1168 Joachim Obergfell-Fuchs
25.0
20.0
15.0
10.0
5.0
0.0
2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018
Jahr
Vielfach stellt der Strafvollzug in der kriminellen Karriere eines Straftäters die
„ultima ratio“ dar. Nach vielfältigen Verwarnungen, Auflagen, Strafbefehlen, Geld-
strafen und schließlich zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafen wird dann ent-
weder, weil gewissermaßen „das Maß voll ist“ und die Betreffenden immer wieder
vor Gericht erscheinen, weil man in den Bewährungswiderruf hineinsteuert oder aber
schlicht, weil die Straftat zu schwer ist und nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt
werden kann, die unbedingte Freiheitsstrafe verhängt. Entsprechend sind bei den In-
sassen der Vollzugsanstalten Vorstrafen meist eher die Regel, als die Ausnahme. Dies
macht auch Abbildung 7 deutlich. Es ist auffallend, dass der Anteil der Vorbestraften
im neuen Jahrtausend deutlich angestiegen ist. Waren im Jahr 2000 noch 60,3 % der
Insassen vorbestraft, so stieg deren Anteil bis 2014 auf 71,7 %, ging danach aber,
wenn auch auf hohem Niveau, bis 2019 wieder leicht zurück auf 68,3 %. Hier
mag der noch zu diskutierende höhere Anteil nichtdeutscher Strafgefangener eine
Rolle spielen, selbst wenn diese in ihrem Heimatland bereits registriert worden
wären, so ist dies oftmals nicht bekannt.
1170 Joachim Obergfell-Fuchs
74.0
72.0
70.0
68.0
66.0
64.0
%
62.0
60.0
58.0
56.0
54.0
2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018
Jahr
40.0
35.0
30.0
25.0
20.0
%
15.0
10.0
5.0
0.0
2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018
Jahr
1 Vorstrafe 2 - 4 Vorstrafen 5 - 10 Vorstrafen ≥ 11 Vorstrafen
Abbildung 8: Zahl der Vorstrafen bei vorbestraften Gefangenen 2000 – 2019 in Deutschland
(Strafgefangene und Sicherungsverwahrte insgesamt) –
Stichtag 31.03. eines jeden Jahres
Kritischer als die Vorstrafen wird v. a. in der Öffentlichkeit der Umstand der Wie-
dereinlieferung diskutiert. Immer wieder werden teils abstrus hohe Zahlen nicht nur
zur Wiederverurteilung, sondern auch zur erneuten Rückkehr in den Strafvollzug er-
wähnt. Dabei macht nicht selten der Begriff des „Drehtürvollzugs“ die Runde, mit
anderen Worten, kaum sind die Gefangenen zur Tür draußen, kommen sie auch
schon wieder und verbüßen die nächste Haftstrafe.
Wie Abbildung 9 zeigt, ist der Anteil der wiedereingelieferten Gefangenen, also
jener, die bereits zuvor schon inhaftiert waren, zwar hoch, aber nicht so überbor-
dend wie teils angenommen. Zwar muss man hier Alter, Ausländerstatus, soziale
Integration, Substanzmissbrauch, Einbindung in subkulturelle Aktivitäten und
viele weitere Variablen berücksichtigen, dies würde hier jedoch den Rahmen
sprengen. Arbeiten zur Desistance-Forschung können hierzu mehr Aufschluss
geben (vgl. Laub & Sampson 2003; Stelly & Thomas 2005). Waren im Jahr
2000 38,6 % der inhaftierten Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten bereits
zuvor schon mindestens einmal im Strafvollzug untergebracht gewesen, so stieg
der Anteil in den Folgejahren deutlich an und erreichte 2015 mit 41,1 % einen Hö-
hepunkt. Interessanterweise kam es danach bis 2019 zu einem nennenswerten und
stetigen Rückgang auf zuletzt 38,5 %. Bedeutet dies nun, dass die aktuellen Insas-
sen „braver“ geworden sind? – Wohl eher nicht. Auch hier dürfte der rasant ange-
stiegene und unten eingehender zu diskutierende Ausländeranteil im Strafvollzug
eine Rolle spielen. Bei ausländischen Gefangenen ist oftmals nicht bekannt, ob sie
1172 Joachim Obergfell-Fuchs
bereits zuvor im Heimatland eine Haftstrafe verbüßen mussten, dies gilt v. a. für die
Gruppierungen, die im Zusammenhang mit der sogenannten „Flüchtlingskrise“
2015/2016 nach Deutschland kamen.
42.0
41.0
40.0
39.0
38.0
%
37.0
36.0
35.0
34.0
2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018
Jahr
Ein auffallendes Bild ergibt sich, wenn man die Gruppe der Wiedereingewiesenen
eingehender betrachtet und der Frage nachgeht, wie groß der Abstand zwischen der
aktuellen und der letzten Inhaftierung war. Im Hinblick auf den Rückfall wurde
immer wieder bestätigt (vgl. Jehle u. a. 2016, 179 ff.), dass die ersten zwei bis drei
Jahre nach der Haftentlassung besonders kritisch sind. Mit Blick auf eine erneute In-
haftierung kann das anhand der Daten bis 2003 ebenfalls bestätigt werden (vgl. Ab-
bildung 10). Über die Zeit hinweg sinkt allerdings dieser Anteil. Waren im Jahr 2000
noch 31,5 % der Wiederinhaftierten im ersten Jahr nach ihrer Entlassung eingewie-
sen worden, so waren es 2019 nur noch 26,2 %. Und auch der Anteil derer, die im
zweiten Jahr nach der Entlassung erneut wiedereingewiesen wurden, ging, nach
einem Anstieg zwischen 2001 und 2006, bis 2019 auf 17,8 %, zurück. Ohnehin
scheint dieses zweite Jahr das vergleichsweise „günstigste“ zu sein. Recht deutlich
angestiegen ist allerdings der Anteil derjenigen, die im dritten bis fünften Jahr nach
Entlassung erneut eingewiesen wurden. Lag der Wert im Jahr 2000 bei 28,2 %, so
stieg er bis 2019 auf 31,6 %. Damit ist dieser Zeitraum mittlerweile der kritischste
für eine erneute Inhaftierung. Ebenfalls angestiegen ist der Anteil derjenigen, die be-
reits sechs Jahre und länger in Freiheit waren, von 20,1 % im Jahr 2000 auf 24,4 % im
Jahr 2019.
Die Entwicklung des Strafvollzugs in Deutschland seit der Jahrtausendwende 1173
Über die Ursachen einer solchen Verschiebung kann man allenfalls spekulieren.
Sie zeigt aber, dass das „Drehtürargument“ zunehmend an Bedeutung verliert und
mehr Gefangene in den Strafvollzug kommen, die es draußen schon einmal längere
Zeit „probiert“ haben, letztlich aber doch gescheitert sind. Dies stellt neue Heraus-
forderungen an Resozialisierungsbemühungen und insbesondere an das Übergangs-
management und die Nachsorge, die einen längeren Zeitraum nach der Haftentlas-
sung ins Auge fassen muss, als dies vielleicht bislang üblich war. Gerade das
wenig kritische zweite Jahr mag hier die scheinbare Sicherheit schaffen, die oder
der Haftentlassene habe es nun geschafft und zur Reduktion der Anstrengungen füh-
ren, gerade wenn z. B. Bewährungszeiten auf drei Jahre angelegt sind.
Immer wieder wurde in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten auf die Über-
repräsentation ausländischer Gefangener im Strafvollzug im Vergleich zu ihrer
Häufigkeit in der Bevölkerung hingewiesen (Walter 2010). Mögliche Ursachen
hierfür, so Holznagel (2012), könnten neben der höheren Tatbelastung auch Kom-
munikationsbarrieren vor Gericht oder ein mangelndes Vertrauen in eine günstige
Sozialprognose aufgrund des Vorlebens, der Lebensverhältnisse oder des Verhal-
tens nach der Tat sein, so dass Freiheitsstrafen nicht zur Bewährung ausgesetzt wer-
den. Wegen erhöhten Fluchtrisikos aufgrund der Möglichkeit des Sich-Absetzens
ins Ausland werden vollzugsöffnende Maßnahmen blockiert und die Chance der
vorzeitigen Entlassung gemindert, so dass Ausländer länger im Strafvollzug ver-
bleiben (Walter 2010).
35.0
30.0
25.0
20.0
%
15.0
10.0
5.0
0.0
2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018
Jahr
1. Jahr 2. Jahr 3. - 5. Jahr 6. Jahr und später
35.0
30.0
25.0
20.0
%
15.0
10.0
5.0
0.0
2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018
Jahr
3. Fazit
Die Analysen haben gezeigt, dass sich der Strafvollzug im Laufe der zurücklie-
genden nur 20 Jahre teils deutlich verändert hat. War bis zur Mitte des ersten Jahr-
zehnts des neuen Jahrtausends eine erhebliche Belegung der Haftanstalten kenn-
zeichnend, so gingen die Gefangenenzahlen danach deutlich zurück, was vielfach
zur Umstrukturierung der Vollzugslandschaft führte. Kleinere Einrichtungen und
Außenstellen wurden geschlossen, dadurch Haftplätze abgebaut und es erfolgte
eine Konzentration auf die wirtschaftlich rentableren mittelgroßen Einrichtungen
mit 400 bis 600 Plätzen. Diese wurden teils neu gebaut oder neu konzipiert (z. B.
in Baden-Württemberg die Anstalten Offenburg und Rottweil). Aufgrund der sinken-
Die Entwicklung des Strafvollzugs in Deutschland seit der Jahrtausendwende 1175
den Gefangenenzahlen wähnte man sich beim Abbau von Haftplätzen auf der „siche-
ren Seite“. Allerdings setzte in der Strafhaft ab 2016, in der Untersuchungshaft be-
reits etwas früher, die Umkehr des Trends ein, die Gefangenenzahlen stiegen rapide
und deutlich an und trafen auf weniger Haftplätze als dies noch 10 Jahre zuvor der
Fall gewesen war. In der Folge kam es zu erheblicher Überbelegung mit oftmals nicht
rechtskonformer Unterbringung.
Verschärft wurde die Situation durch die deutlich steigende Zahl nichtdeutscher
Gefangener. Gerade im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/2016 kamen
vermehrt junge Männer nach Deutschland, mit geringen Sprachkenntnissen, gerin-
gen schulischen und beruflichen Qualifikationen, jedoch mit großen Hoffnungen
und Erwartungen und nicht zuletzt vielfach traumatisiert. Vor allem in den westli-
chen Bundesländern war dieser Zuwachs an ausländischen Gefangenen recht
stark – in einigen Anstalten lag der Ausländeranteil zeitweise bei mehr als 70 Pro-
zent – in den ostdeutschen Ländern fiel er eher moderat aus, ein Grund für die ein-
gangs genannten Diskrepanzen zwischen den Bundesländern. Für den Strafvollzug
bedeutete dies eine enorme Herausforderung, der man mit Bild-Wörterbüchern,
Video-Dolmetschern (auch in Verbindung mit Telemedizin), Sprachkursen für Be-
dienstete u. Ä. zu begegnen versuchte. Darüber hinaus wurde auch durch die Ausbil-
dung Muslimischer Seelsorger versucht, den sich verändernden kulturellen und re-
ligiösen Gegebenheiten der neuen Gefangenenpopulation Rechnung zu tragen
(vgl. Schaffer & Obergfell-Fuchs 2018).
Auch wenn dies begrüßenswerte Entwicklungen sind, so ist es doch ein Kennzei-
chen der Vollzugspolitik, dass sie eher auf Herausforderungen reagiert, wenn sie ein-
getreten sind, als diesen proaktiv zu begegnen. Angesichts der oben gezeigten Trends
einer älter werdenden, schwierigeren und in Freiheit vielfach gescheiterten Klientel
sollte es, auch mit Blick auf die sich immer wieder verändernde Kriminalitätsent-
wicklung, eine Aufgabe der Vollzugspolitik sein, kurzfristigen Trends zu widerste-
hen, wie z. B. auf temporär sinkende oder steigende Gefangenenzahlen umgehend
und nachhaltig zu reagieren. Vielmehr gilt es Entwicklungen langfristig zu analysie-
ren und Vorausberechnungen durchzuführen. In aller Regel folgt dem Hoch ein Tief
und umgekehrt. Kriminologische Analysen langer Zeitreihen und eine Beobachtung
von Entwicklungen mit Augenmaß sind daher vonnöten.
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On the Relationships Needed to Be Properly Handled
in the Process of Penalty Execution in Prisons
By Wang Ping
At the meeting of the heads of the national Department of Justice (bureau) held at
the end of 2002, the Ministry of Justice of China for the first time systematically put
forward the requirements of promoting the legalization, scientization and socializa-
tion of prison work (hereinafter referred to as “three modernizations”). In 2003, the
Opinions on Further Promoting the Legalization, Scientization and Socialization of
Prison Work (hereinafter referred to as the Opinions) was officially issued by the
Ministry of Justice, which makes specific provisions on the guidelines and objectives
of promoting “three modernizations”, the main tasks and measures of “three modern-
izations”, and how to strengthen the leadership of promoting “three modernizations”.
This is the main measure taken by the Ministry of Justice since the beginning of the
21st century to improve the quality of education and treatment of criminals and the
overall level of prison work1. Since then, on the basis of “three modernizations”, the
Ministry of Justice has put forward the new requirements of the informatization and
standardization of prison management and the specialization of prison police, which
is the extension and further development of “three modernizations”.
Next, from the perspective of “three modernizations”, I am going to discuss sev-
eral relationships that need to be properly handled in the process of penalty execution
in prisons.
The Opinions point out that the legalization of prison work is to form a complete
system of laws, regulations and rules, put all prison work into the track of legaliza-
tion, manage according to law, standardize operation and practically manage prison
according to law. The main tasks are to make the prison police2 firmly establish the
1
See the Ministry of Justice of China 2003.
2
In China, it in fact means all the formal staff who works in prison systems. For they all
have the titles of the prison officers (not only guard officers), they are usually and formally
called “prison police”.
1180 Wang Ping
concept of the supremacy of law, consciously develop a good sense of law enforce-
ment, comprehensively improve the legal literacy and law enforcement level, form a
strict and complete system of laws, regulations and rules and systems for prison work,
establish a fair, standardized, efficient and orderly prison legal work procedure and
supervision system, and ensure all aspects of law enforcement in prisons meet the
requirements of the law. For that, the specific measures taken mainly include:
1. Actively promoting the improvement and perfection of prison law and relevant
regulations, involving prison administration, prison production management,
prisoners’ rights and obligations, and law enforcement and then promoting the
argumentation and drafting of relevant rules and regulations matching the prison
law.
2. Standardizing the operation mechanism of law enforcement. Prison administra-
tive organs and prisons should formulate corresponding work plans, work disci-
plines, work norms and work standards to ensure the consistency of law enforce-
ment while tightening the procedures for prison law enforcement and working out
procedures and rules for prison law enforcement.
3. Improving the accountability system for law enforcement by establishing and im-
proving the publicity system for law enforcement, the assessment system for law
enforcement, and the accountability system for law enforcement mistakes, and by
strengthening the responsibility for law enforcement in prisons as well as estab-
lishing the supervision system of law enforcement and discipline enforcement
and the mechanism of power restriction, and strengthening the investigation
and punishment system of illegal and criminal acts.3
Generally speaking, the above formulation of the Opinions is appropriate except
for the wording of “legalization” instead of “rule of law”. “Rule of law” is different
from “legal system”. In theory, a correct understanding of the relationship and differ-
ence between “legal system” and “rule of law” is very important for a correct under-
standing and handling of the relationship between prison security and human rights
of criminals.
In the theory circle, the major difference between them is that the former stands for
rule by law while the latter stands for rule of law. “Legal system” refers to laws and
systems in a static sense, while in a dynamic sense, it refers to activities and processes
such as legislation, law enforcement, judicature, law-abiding, supervision of law en-
forcement, and handling affairs according to law. “Rule of law” emphasizes the man-
agement of the state and society through law, which represents rationality, efficiency,
civilization, democracy and order, and is opposite to “rule of man”. Legal system
belongs to the category of system while rule of law belongs to the category of meth-
od.4 Legal system emphasizes the role of law as a ruling tool, which is used by people,
so in which case, it is likely for some people to be above the law. And rule of law
3
See the Ministry of Justice of China 2003.
4
Jianming 1997.
Relationships Needed to Be Properly Handled in Process of Penalty Execution 1181
emphasizes the rule of law rather than the rule of people. Anyone must live under the
law. Even if above ten thousand people, you are still under the law. No one has the
privilege of transcending the law. In this way, on the one hand, everyone’s rights are
restricted, and on the other hand, everyone’s rights are protected. The connotation of
“rule of law” is richer than that of “legal system” and rule of law places more em-
phasis on harmony.5 Therefore, just as the concept of socialist rule of law, the wording
of rule of law in prison work may be better and in line with the general consensus of
the theoretical community. Although there are differences between rule of law and
legal system, they are not opposites. The legal system is the foundation and prereq-
uisite of the rule of law. To implement the rule of law, we must have a complete legal
system, and the rule of law is the foothold and final destination of the legal system.
Therefore, the two are interrelated. Of course, if someone claims that the two in the
above opinion have the same meaning, they should also give an explanation to avoid
misunderstanding by others.
The core of the legalization of prison work is to deal with the relationship between
prison security and the protection of human rights of criminals. Sometimes there are
conflicts of values between prison security and criminals’ human rights. Overempha-
sis on prison safety and order may weaken some rights of criminals, such as the time
of entertainment activities, the frequency and time of meeting relatives and friends,
the protection of personal privacy, the ownership of personal hobbies, the opportunity
to contact with the outside society, etc. On the contrary, overemphasizing the rights of
criminals and giving them too many rights may bring harm to the prison security and
order. Things are not as simple as some people think. They think that as long as crim-
inals are given more rights, prison security and order will become better, as if the two
are always complementary. In fact, they are often opposites. After the criminals have
a strong sense of rights, even if they actually have more and more rights, which may
not meet their rising expectations, so that they will still feel dissatisfied, which will
have a negative impact on prison security and order. They may not be grateful to pris-
on administrators, because they think these rights are their own, regulated by law, not
the gift of prison administrators,6 which those who work in prison systems may often
encounter.7 In the 1960s, the surging human rights movement in American society led
to the frequent riots among American prison inmates, which is a typical example of
the conflict between prison security and criminals’ human rights.
5
Here legal system is just a sword while rule of law water. Of course water is more
harmonious than swords. The swords are stiff and cold while water is flexible and gentle.
6
They are right, in a sense that these rights are given by law, not by any individual prison
administrator.
7
On a visit to China, a foreign warden said at dinner that prisoners were like spoilt children
who would never be satisfied. The more you give them, the more they would cry.
1182 Wang Ping
“In the 1960s, the ant colonial struggle for national independence and democracy in the third
world was surging, which encouraged the American people. The increasingly awakened
American people set off a huge and far-reaching struggle for democratic rights. As an in-
tegral part of the whole struggle for democracy and rights, the riots in American prisons
have undergone fundamental changes, and the so–called ‘intentional prison riots‘ are
also on the rise.”8
In September 1971, the prisoner riot in Attica Prison, New York State, was the
bloodiest, most violent and deadliest prison riot in American prison history. 43 peo-
ple died and more than 80 people were injured, including prison guard officers and
prisoners.9
Prison is the organ of penalty execution, and safety and order are the basic prem-
ise. Generally speaking, the number and degree of prisoners’ rights should be based
on the fact that they do not affect prison safety and order. If prison safety and normal
order are not guaranteed, then the prison will not function properly, which is not al-
lowed in any country. In this sense, it can be said that prison safety and order is the
primary task of prison work.
On the other hand, since giving criminals a lot of rights will bring a lot of troubles
to prison safety and management, can we refuse to give them these? In a society ruled
by law, this is absolutely impossible. Prison theorists and practical departments have
the following different interpretations: first, because criminals are “human”, we
should stick to the humanitarianism and protect the rights of criminals; second, crim-
inals are “citizens”, enjoying the rights prescribed by law; third, this helps to change
criminals and protect the rights of criminals.
The above three explanations for the protection of the rights of criminals are dif-
ferent from each other, so the meanings given by them are also different. The first
explanation starts from a purely humanitarian standpoint (also can be said to be a
purely moral and ethical point of view) and holds that criminals are also human be-
ings and our own kind, so the rights of criminals should be protected. Some even be-
lieve that the protection of the rights of criminals is an end in itself, and cannot be
used as a means to achieve other purposes, or as a means to educate and change crim-
inals.
The second explanation is to understand the significance of protecting the rights of
criminals from the perspective of acting according to law. Because the Constitution
and laws stipulate that the rights of criminals should be protected, as law enforcers,
they should of course act according to law and protect the rights that criminals still
enjoy.
The third interpretation is to understand the protection of criminals’ rights as a
means, that is, as an effective means of educating and changing criminals. Only
by protecting the rights of criminals can we effectively educate and change criminals.
8
Zhiliang 2009, 88 – 89.
9
Zhiliang, 2009, 96.
Relationships Needed to Be Properly Handled in Process of Penalty Execution 1183
The above three different interpretations are correct in a certain sense, and people
often interpret the protection of the rights of criminals on the basis of the above three
different meanings at the same time, which makes the interpretation more compre-
hensive and reasonable, and to a certain extent avoids one-sidedness and absolute-
ness. But in my opinion, these explanations are far from enough. Protecting the rights
of criminals is ultimately to protect the rights of everyone.
In the sense of rule of law, the so-called power restriction mainly restricts the
power of the strong, because it is difficult for the weak to have any power; the so-
called right protection mainly protects the rights of the weak, because the rights
of the weak are more vulnerable to infringement. In the family, the protection of
rights mainly refers to the protection of the rights of wives and children, because
wives and children are usually weak. In schools, for teachers and students, the so-
called protection of rights mainly refers to the protection of students’ rights, because
students are comparatively weak. In prison, for the police officers and prisoners, the
so-called protection of rights mainly refers to the protection of prisoners’ rights, be-
cause prisoners are the weak and prison police officers are the strong. Although crim-
inals are vicious, they are also still vulnerable in prisons.
The significance of protecting the rights of the weak is not only to protect the
rights of the weak, embody humanitarianism, and educate and change them, but
also to have a deeper and higher goal in the sense of modern rule of law: that is,
to protect everyone’s rights from illegal infringement and for “justice for all”. If a
person is always strong, generally speaking, his rights will not be easily violated.
But few people in their life are always in a favorable situation; always the winner,
more often than not, he or she is hit, attacked and punished at some time, some
place and some circumstances. Therefore, the relationship between the weak and
the strong, the relationship between the minority and the majority, is not static,
but often in the process of development and change. In this dynamic analysis, it
can be clearly seen that only when the rights of the weak are effectively protected
can the rights of the majority of people and even the rights of all people finally be
truly protected. To protect the rights of the weak is actually to protect the rights of
each and every one of us, because each and every one of us may become the
weak. The operation mechanism of a democracy and rule of law society should be
to act according to the will of the majority and respect the rights of the minority.
The essence of the rule of law is to limit the power of the strong and protect the rights
of the weak.
On the one hand, criminals have committed serious acts endangering society, vio-
lated criminal law and have been punished according to law. Therefore, they are “vi-
cious groups” and should deserve the punishment and education accordingly. But on
the other hand, the social status of criminals in prisons is at the bottom of the society,
who are one of the most vulnerable groups in the vulnerable groups. So they are very
vulnerable to harm, and their rights regulated by law are very easy to be violated.
Therefore, the protection of the rights of criminals has a very special significance.
1184 Wang Ping
In this sense, it can be said that the protection of the rights of criminals is the last
barrier to protect the human rights of a country. Only when the rights of criminals
are effectively guaranteed can everyone’s human rights be ultimately and effectively
guaranteed. If the basic rights of criminals are effectively guaranteed, it can basically
show that this country is a country of rule of law and civilization, and this society is a
society of rule of law and civilization. Prison is one of the most sensitive parts of the
human rights situation in a country and society. Prison is the window of national and
social civilization. Now there are all kinds of “social insurance”. I believe that it is
one of the most important insurance in all social insurance to effectively protect the
rights of criminals. It guarantees that even if one day everyone is at the bottom of the
society and becomes a criminal, he still enjoys the dignity as a person and is still pro-
tected by the law of civilized society. This is the interpretation of the significance of
the rule of law for the prison to respect and protect the rights of criminals.10
As there are often contradictions and conflicts between prison safety and criminal
human rights in practice, but both are extremely important and cannot be abandoned,
so we can only seek moderation and balance and cannot go to extremes, so as not to
lead to excessive bias towards either side. China’s prison management department
claims that ensuring the safety and stability of the prison is the primary task, and ed-
ucating and changing criminals is the purpose. This is right and full of dialectical
unity. On the basis of that, this article makes some adjustments and supplements:
“to ensure the safety and stability of the prison is the primary task, education and
treatment of criminals and protection of the rights of criminals are the purpose of
prison work”, and the expression of “protection of the rights of criminals” may be
more comprehensive. Some people may wonder which of the two has the priority.
And I once was puzzled by it and felt that the official formulation was somewhat con-
tradictory. Now I think this formulation is appropriate, because the primary task and
the purpose are both opposites and unified, that is, the relationship between them is
dialectical. It can’t be said who is always in the first place. On the premise that the
security order can be ensured, the prison work should put the education and treatment
of criminals first; if there are serious problems in prison security and order in some
special periods, then ensuring prison security and order is the first task.
10
See my book Ping 2002, 12. The above point of view of mine had caused some con-
troversy in the past few years. Some people appreciated it, some people disagreed with it, and
some people felt puzzled, thinking how I can have such a strange idea .Now this concept as a
legal common sense has been accepted by more and more people.
Relationships Needed to Be Properly Handled in Process of Penalty Execution 1185
The Opinions point out that the scientization of prison work is to use scientific
methods to improve the overall level of prison work. The main tasks are to advocate
the scientific concept, study and grasp the working rules with scientific theories,
thoughts and methods; to perfect and innovate the prison working system and mech-
anism, to explore the effective ways and methods for the treatment of criminals, and
to enhance the effectiveness of educational treatment, to reasonably allocate the
human, material, financial and other resources of the prison, and to vigorously im-
prove the scientific culture of the prison police officers, and to improve the scientific
and technological content of prison management.11
It can be seen that the Opinions have a broad understanding of the scientific con-
cept of prison work, which is showed in: 1. the renewal of concepts and the scienti-
zation of thinking methods; 2. the scientization of education and treatment methods;
3. the improvement of the scientific and technological content of prison management
and the realization of the informatization of prison work; 4. the improvement of the
scientific and cultural quality of prison police officers. Here, I will only talk about my
own views on the scientific methods of educational treatment of criminals.
The Opinions put forward specific requirements for the scientific methods of ed-
ucation and treatment of criminals: we should actively explore and strengthen indi-
vidual treatment measures in the whole process of education and treatment. From the
beginning of entering prison, it is necessary to make a comprehensive analysis of the
criminal’s crime type, punishment term, crime reason, bad habit degree, personality
type, personal risk, gender, age, education level, occupation and other factors through
psychological test and other means, scientifically formulate the individual education
and treatment plan of the criminal and the specific education and treatment goal im-
plemented by stages, and explore the establishment of the treatment plan based on
this. We will improve the evaluation, feedback and control system for the quality
of criminal education and treatment. In the process of educational treatment; we
should give full play to the role of psychological counseling and psychotherapy of
criminals, and take psychological correction as an important part of educational treat-
ment of criminals.12
In terms of scientific ways and means of educational treatment of criminals, the
criminal quality evaluation system and criminal correction technology implemented
in Jiangsu, Beijing, Hunan, Xinjiang and other provinces and cities, as well as the
more widespread implementation of criminal psychological correction nationwide,
11
The Ministry of Justice of China 2003.
12
The Ministry of Justice of China 2003.
1186 Wang Ping
are representative, which indicates that the ways and means of educational treatment
of criminals in China are stepping into a scientific era.
At the end of 2003, in order to effectively promote the overall quality construction
strategy of rehabilitation of criminals in Jiangsu Province, and strive for a new break-
through in the work of rehabilitation of criminals, Jiangsu Provincial Prison Admin-
istration established the task force of „theory and practice of quality evaluation of
rehabilitation of criminals”, and began the research, design and theoretical explora-
tion of quality evaluation of criminal treatment. The research group drew lessons
from the advanced theories and practices of foreign countries, combined with the
new situation of national conditions and the change of criminal structure; considered
the realistic conditions, and met the forward-looking needs of the development of
treatment of criminals in the reform of prison system. They not only widely collected
relevant theoretical and practical data at home and abroad, but also visited other pro-
vincial prison systems that have carried out relevant theoretical and practical explo-
ration. On this basis, the research group designed 11 pre investigation tools, and con-
ducted relevant investigations in 11 prisons in Jiangsu Province with three prisons of
which selected for key retest. On the basis of researching more than one million data,
they finally completed the book “Quality Assessment of Criminal Rehabilitation” in
more than eight months, which was published by Law Press in October 2004.13 The
book summarizes and divides the practical operation contents of the evaluation of the
quality of criminal treatment into the following five aspects: the detection of crim-
inals in prison, the evaluation of the quality of the process of treatment of criminals,
the evaluation of the quality of the rehabilitation of criminals out of prison, the eval-
uation of the quality of the treatment of individual criminals of special groups, and the
individual treatment of criminals. Its operation content and technology are of high
scientific significance.
At present, the research results have been widely used in the prison system of
Jiangsu Province. Guangxi, Hainan, Jiangxi and other provinces have learned
from the prison system of Jiangsu Province and applied the research results and prac-
tical experience of Jiangsu Province in their prison work. Beijing Municipal Bureau
of Prison Administration, Hunan Provincial Bureau of Prison Administration and
Xinjiang Autonomous Region Bureau of Prison Administration have also set up a
task force for the quality assessment of criminal rehabilitation, to carry out the re-
search on the quality assessment of criminal rehabilitation, and to promote the re-
search results in the practice of prison criminal rehabilitation.
The evaluation of treatment quality solves the problems of scientific evaluation
tools, methods and procedures, but not the problem of how to change criminals ac-
cording to their criminal causes, especially the problem of scientific correction tech-
nology. For this reason, Jiangsu Provincial Prison Administration has set up a re-
search group since 2006 to carry out the research on the correction technology of
criminals and popularize it in the prison system of Jiangsu. The achievement of
13
Airong 2004, 268 – 269.
Relationships Needed to Be Properly Handled in Process of Penalty Execution 1187
the research, the Original Theory of Correction Technology, was published by Law
Press in March 2007. The book generalizes and divides the correction technology of
criminals into nine aspects: the classification and treatment technology of criminals,
the management technology of criminals, the education and correction technology of
criminals, the labor correction technology of criminals, the psychological correction
technology of criminals, the clinical treatment and rehabilitation technology of crim-
inals, the correction technology of individual cases of criminals, the evaluation tech-
nology of correction quality of criminals, and the information technology of correc-
tion of criminals.14 Induction and discussion are very comprehensive, systematic, in-
novative and at the leading level in the country.
It can be said that the scientific assessment of the quality of treatment of criminals
and the scientific correction technology of criminals are the “two wings” of the bird
of the scientific education and treatment of criminals. The organic combination of the
two sides will raise the scientific degree of the methods of education and treatment of
criminals to a new level.
Evidence-based correction is a new trend of scientific development of criminal
correction methods in western countries in recent years. The so-called evidence-
based correction refers to a series of correction activities carried out by practitioners
in the field of correction, which follow the principle of the best evidence, with the
support of the individual correction experience of practitioners and the correction ob-
jects, aiming at the criminal characteristics of the correction objects. The emergence
of evidence-based correction is the result of the infiltration of the spirit of natural
science into the field of correction practice. Traditional correction decision-making
and correction practices are more based on individual experience. Although these
correction practices are correct to some extent, they lack creativity, and it is difficult
to ensure the effectiveness of correction in the face of complex criminal individuals.
Evidence-based correction changes the traditional custom of “correction based on
individual experience”, and instead does the decision-making and implementation
of correction according to the best evidence proved by practice. These evidences re-
lated to criminals are often based on the meta-analysis of a large number of studies on
similar issues. Under the guidance of strict scientific norms, evidence-based correc-
tion tries to find out the individual needs of criminals, to reveal the crux of the cor-
rection problem and to prescribe the right medicine. Evidence-based correction re-
duces the reliance on individual experience of correction managers, improves the ac-
curacy of correction, promotes normalization of correction while paying attention to
correction facts, and realizes the unity of correction facts and norms to the greatest
extent.
The “best practice” of evidence-based correction originated in Canada, but it has
spread across the United States in the past decade and has been adopted by major
correction institutions and government organizations. Evidence-based correction
in Canada is also supported by legislation. For example, in the evidence-based cor-
14
Airong 2007, 31 – 33.
1188 Wang Ping
rection of some judicial districts in Canada, the provision of a correction plan for
criminals is authorized by legislation and clearly written in the correction policy.
However, according to the legislative practice of foreign countries, most countries
have not yet unified legislation to regulate evidence-based correction. In the United
States, for example, almost every state has evidence-based correction, but there is
still a lack of uniform legislation on evidence-based correction nationwide, only a
few states have made broad provisions on it. But almost every state has its own man-
ual on evidence-based correction. Studies in several countries have shown that clear
guidance can improve the correction effect, and these guidelines have been included
in the certification standards of the correction project.
In September 2012, the seminar on “evidence-based correction methods and prac-
tices and criminal correction in China” sponsored by the Institute of Crime Preven-
tion of the Ministry of Justice opened in the city of Yixing, Jiangsu Province. Five
experts from Canada, Hong Kong and Taiwan, China University of Political Science
and Law and Shanghai University of Political Science and Law made theme reports at
the seminar, and representatives from 24 provincial Departments of Justice (bu-
reaus), prison bureaus, relevant departments and institutions attended the seminar
and training. The leaders in charge of the Ministry of Justice attending the meeting
pointed out that on the basis of summing up China’s traditional experience and ab-
sorbing the successful experience of foreign criminal correction, the Ministry of Jus-
tice would carry out evidence-based correction trial work in some prisons and com-
munity correction institutions with good economic conditions, rich correction expe-
rience and good research foundation. This marked a new attempt to make the meth-
ods of correction more scientific.
It should be noted that scientific education and treatment mainly refers to the sci-
entific methods of educating and rehabilitating criminals and the technicalization of
corrective measures, not the content of education and treatment itself. Prison educa-
tion and treatment of criminals generally includes three aspects: ideological educa-
tion, cultural education and vocational and technical education. The contents of ed-
ucation and treatment in these three aspects should be scientific, that is, the ways,
methods and correction techniques of ideological education, cultural education
and vocational and technical education of criminals should be scientific, so as to im-
prove the effect of ideological education, cultural education and vocational and tech-
nical education of criminals. The relationship between content of education and treat-
ment and the scientific methods of education and treatment is the one between pur-
pose and means, and cannot be confused.
In order to educate and change criminals scientifically, we need to properly handle
the relationship between content and form, and between purpose and means. Espe-
cially for the ideological education of criminals, we must deal with the relationship
Relationships Needed to Be Properly Handled in Process of Penalty Execution 1189
between science and belief correctly, and should not overstate the role of scientific
education.
In a certain sense, we can say that man is a machine. We can use scientific methods
and means to change him, correct his psychology and behavior.15 But on the other
hand, man is not a machine. He has reason, thought and his own belief. This is
the essential attribute that distinguishes man from all other creatures.16 In this
sense, it is necessary to solve the problem of belief in education. The power of belief
is infinite, and the role of belief education in educating and changing criminals can-
not be ignored.
The problem of belief is what is commonly referred to as world outlook, outlook
on life, values, ideals and beliefs. What is the nature of the world, material or spiri-
tual? Where does life come from and how to face death? How can one live to be
meaningful, to give or to take? How to have value, struggle or enjoyment? These
problems cannot be completely solved by science, although science helps people
find the truth to some extent. Science and belief can be regarded as two juxtaposed
categories. Science cannot solve the problem of belief completely. If we say that sci-
ence can simply solve the problem of belief, it seems that people with high education
and high education level are more likely to have scientific world outlook, outlook on
life and values, correct ideals and beliefs than people with illiteracy, which is not the
case in fact.
Einstein said: “Science without faith is lame, and faith without science is blind.”
That is to say, when human beings lack science, they become ignorant because they
can’t see the real face of the material world; when human beings don’t have faith,
they become faltering because they lose their way ahead. Only the organic combi-
nation of science and belief can build a sound, healthy and harmonious society,
and individuals can have a good life.
Compared with western countries, ideological education of criminals is the char-
acteristic of China’s prisons. We not only offer ideological education courses, but
also attach great importance to the ideological education of criminals in practice,
and put it in the first place. Western countries tend to neglect the role of ideological
education and generally do not offer ideological education courses. For example, in
the United States, from society (including family and school) to prison, there is ba-
sically no ideological education system. Although there are priests and psychologists
in American prisons, the actual educational effect of priests is limited, and the work
15
There is a philosophical book called “Man is a Machine” by De La Mettrie, a French
philosopher of the enlightenment who lived from 1709 to 1751. His most famous work is
“Man is a Machine”, published in 1748. The Chinese version of this book was published by the
Commercial Press in September 1959. Based on a wealth of medical, anatomical, and phy-
siological evidence that the state of mind is determined by the state of the human organism, the
author holds that moving matter produces living creatures, sentient animals, and rational
human beings, refuting the idealist view that the mind is an independent spiritual entity while
emphasizing the dependence of the mind on matter.
16
So philosophers could write another book: Man is not a Machine.
1190 Wang Ping
17
Professor Huaizhi of Peking University once pointed out that there are two main reasons
for the low efficiency of American prisons: one is the lack of comprehensive labor reform
system, the other is the lack of effective ideological education system. And the comprehensive
labor reform system and the effective ideological education system are the strengths of our
prisons, and the traditions that we should not lose. For more details, see Huaizhi 1997, 491.
Relationships Needed to Be Properly Handled in Process of Penalty Execution 1191
plays a role in maintaining unity and preventing secession. When the country is div-
ided, the cohesion plays a powerful role in promoting unity and ending division.18
Especially at the time of national crisis, lofty aspirations such as “everyone is respon-
sible for the rise and fall of the nation”, “one should put the nation first”, and “one
should serve the country faithfully” among others that embody the unity of the nation,
have touched countless people with lofty ideals and inspired them to strive for the
whole nation.
“Great unity” includes both political and ideological unity. Therefore, the Chinese
nation has always stressed a high degree of unity in ideology and the social interven-
tion in individual ideology. If there are people who run counter to the will of the ruling
class, society always teaches them with great patience, which embodies the tradition-
al spirit of “educating people without tiredness”. In the process of changing crimi-
nals, prisons in China attach importance to the ideological education of criminals
and have achieved success, which, in a sense, is the result of this deep national cul-
tural tradition.
Traditional culture is often the coexistence of essence and dross. The “unified
view” emphasizes the overall interests and the consistency of people’s thoughts
and behaviors, which is conducive to maintaining social stability and ideological ed-
ucation for criminals. This is a positive aspect of traditional culture, but it also has its
negative effects, such as ignoring personal interests and rights. Therefore, when we
carry out ideological education for criminals, we must pay attention to the cultivation
of criminals’ awareness of rights and the protection of their actual rights. In this
sense, we can say that our inheritance of traditional culture is not a comprehensive
inheritance without analysis, but a critical inheritance, that is, to absorb its essence
and reject its dross.
New China had once been affected by the extreme left ideological trend for a rel-
atively long period when it had been often seen to politicize, moralize and ideologize
all people’s thoughts, opinions and behaviors and ideological education had seemed
to be everywhere, and become a good way for some people to persecute others. As a
result, people were in danger. Although these extreme left thinking trends have be-
come history, they should not be ignored. We must always reflect on them to prevent
the tragedy from repeating. But these tragedies, these extreme left thoughts, were not
caused by ideological education itself. On the contrary, the positive effect of ideolog-
ical education was seriously affected by these extreme left thoughts.
In recent years, due to the negative effects of market economy, coupled with many
vacuum and loopholes in the transformation process of the old and new systems, the
number of criminals has increased rapidly and the harm is very serious. Many social
evils that have long been extinct have resurrected. Corruption, bribery and other cor-
rupt phenomena have intensified. Money worship has a large market and the social
atmosphere has been seriously polluted. This phenomenon inevitably has affected the
18
Guitin 1990, 317.
1192 Wang Ping
prison’s ideological education of criminals. The moral and belief crisis has penetrat-
ed into some prisons. Some prison managers are influenced by the negative phenom-
ena in the current society, suffering from moral crisis, belief crisis, and right and
wrong crisis in varying degrees. This makes some prisons neglect the ideological ed-
ucation of criminals, and think that ideological education is dispensable, weakening
the ideological education of criminals in some prisons. In addition, the pressure in
prison production has also weakened the ideological education of criminals in
some prisons.
On the other hand, the current social background also makes the ideological edu-
cation of criminals in prison more difficult. If the contradiction between the content
and method of traditional education and the current social reality cannot be explained
reasonably, it will be difficult for criminals to be convinced, and the effect of ideo-
logical education will suffer, or even rarely work. Therefore, in view of the changed
objective environment, it is imperative to update the content and form of ideological
education for criminals to make them advanced, scientific and effective.
We stress the importance of ideological education for criminals, but we do not
stick to it blindly. To effectively educate and change criminals, we must combine
ideological education with other means of correction, which is the scientific attitude
we should adopt.
19
Yunjie 1990, 4.
Relationships Needed to Be Properly Handled in Process of Penalty Execution 1193
numerous people. This kind of cultural contradiction and irrationality does not come
from the outside, but from the internal structure of culture, from the duality and un-
certainty of cultural meaning, value and function.20
There is also a paradox in penalty execution in prisons. If the limited function of
penalty execution in prisons is mainly due to the influence and restriction of various
external factors inside and outside prisons, then the paradox of penalty execution in
prisons is due to the inherent contradiction and irrationality of penalty execution in
prisons itself. The paradox of penalty execution in prisons has a series of manifes-
tations. I am going to mainly discuss two internal contradictions closely related to
the efficiency of education and treatment of criminals, that is, the contradiction be-
tween the adaptation of criminals in prisons and resocialization of criminals, and that
between the closed prison and the open society.
From the sociological point of view, anti-sociality is the essential feature of crim-
inal behavior. The process of prison education and treatment of criminals is the one
for the rehabilitation of criminals. The so-called anti-social nature of criminals refers
to the quality or tendency of criminals’ personality which is contrary to social norms
and social values. The anti-sociality of criminals is mainly formed in the process of
individual socialization. The so-called socialization refers to the psychological and
personality development process of human beings who have been learning and ac-
cepting social norms and social values since their birth, so as to change from a “bio-
logical person” to a “social person”. Through the study of certain social norms and
social values in the process of socialization, these social norms and social values
gradually get into the core of individual personality and become the internal self-
worth criterion. Therefore, the process of socialization is the one of individual per-
sonality formation. The normal socialization process can lead to the formation of pro-
social personality and the occurrence of prosocial behavior. And anti-socialization
(the process of individual learning and accepting values and norms that conflict
with traditional social values and norms, is also a form of socialization, but its content
and results are just opposite to normal socialization) and defective socialization may
lead to the anti-social personality tendency and the anti-social behavior, and the ex-
treme form of anti-social behavior is criminal behavior.
Since anti-sociality is mainly formed by learning, generally speaking, it should
also be able to be transformed. The treatment of anti-sociality of criminals is in
fact the process of resocialization of criminals. The mild anti-social nature can be
eliminated by one’s own efforts, while the anti-social nature of criminals can only
be transformed by external intervention and correction.21 One of the basic tasks of
20
Yunjie 1990, 5.
21
Mingzheng 1995, 122.
1194 Wang Ping
penalty execution in modern prisons is to re-socialize criminals, that is, to correct and
transform the anti-social nature of criminals through penalty execution in prisons, so
that their mentality and behavioral habits can conform to social norms and social
value standards, and becoming law-abiding citizens earning their own livings, in-
stead of breaking the law again. Therefore, resocialization of criminals is the core
of penalty execution in modern prisons.
But there have been many kinds of antinomy in history, and penalty execution in
prisons is no exception. In the resocialization of criminals, the penalty execution in
prisons often affects the process of resocialization and may even strengthen the anti-
sociality of criminals. One of the main reasons for this is the adaptation of criminals
in prisons.
The term “adaptation” was first proposed by Donald Clemmer, an American so-
ciologist. In the 1930s, he took the lead in investigating the subculture of male prisons
in the United States, and wrote the book Prison Community in which the term “adap-
tation” appeared for the first time.
According to Donald Clemmer’s explanation, adaptation refers to the process of
prisoners’ learning and internalization of prison culture. The specific content can be
divided into three aspects: first, the learning and acceptance of prison subculture; sec-
ond, the learning and acceptance of formal rules and systems formulated by prison
authorities; third, the learning and acceptance of prison general culture.22 Among
them, the study and acceptance of prison subculture by criminals is the core content
of adaptation.
There is a corresponding cultural system in every social organization, and prison
is no exception. Prison culture reflects the whole life of prison, which is a specific
social organization. It is a combination of concept culture, system culture and utensil
culture of prison. Prison culture in which prisoners live affects the behavior of pris-
oners in an all-round way.
“History is the mixture of merit and sin, and culture is the aggregation of civili-
zation and ignorance.”23 Every culture contains not only gold but also dirt. As a kind
of social culture, prison culture is a combination of mainstream culture and subcul-
ture. Mainstream culture is the ideology and culture of the ruling class in a specific
historical period. It is the sum total of moral ethics, social norms, aesthetic emotions
and religious beliefs that dominate in a specific historical period. Marx said: “The
ideology of the ruling class is the dominant ideology in every era. That is to say, a
class is not only the dominant material force in the society, but also the dominant
spiritual force in the society. The class that controls the means of material production
also controls the means of spiritual production. Therefore, the minds of those who
have no means of spiritual production are generally dominated by the ruling
22
See China University of Political Science and Law Press 1995.
23
Jin 1988.
Relationships Needed to Be Properly Handled in Process of Penalty Execution 1195
class.”24 So is the mainstream culture of prison, which is an official culture and the
expression of mainstream culture in prison. The mainstream culture of prison
changes with the development of society, and is generally recognized by the
whole society no matter in any era.
“Subculture refers to the unique cultural form different from the mainstream cul-
ture. Subculture always tends to deviate from mainstream culture more or less.”25
Subculture has the general cultural features of a society, but it also boasts its own
unique value orientation, lifestyle and code of conduct. Prison subculture is a unique
way of life for prison inmates, which is the sum of informal unwritten norms, values,
habits and unique behavior patterns that are popular in the criminal community. Pris-
on subculture is not only a part of human subculture system, but also a special man-
ifestation of subculture in a special region. Prison is the most intensive area of sub-
culture and the distribution center of subculture. The accumulation, adaptation, in-
heritance, integration and differentiation of many subcultures takes place here.
Therefore, prisoners in prison live in a dual cultural background. On the one
hand, they are educated by the mainstream culture of prison, on the other hand,
they are influenced and restricted by the subculture of prison; on the one hand,
they should accept the mainstream culture of prison, make efforts to realize rehabil-
itation; on the other hand, they have to respect the subculture of prison, so as to deep-
en the degree of adaptation.26
Some scholars have summarized the prison subculture phenomenon into the fol-
lowing aspects: 1. rules among criminals; 2. jargon among criminals; 3. tattoos
among criminals; 4. homosexuality among criminals, 5. violence among criminals.
Some scholars also put the anti-social consciousness of criminals, subgroups of crim-
inals, products of criminals’ spiritual activities, prison reaction, characteristics of
criminals, prison adaptation, prison personality, prison brand, etc. into the category
of prison subculture.27
On the characteristics of prison subculture, some scholars have summarized it into
the following aspects28 :
1. Low level. The culture with reason and conscience is a high-level culture and the
culture that should be pursued by human beings, while the prison subculture is a
low-level culture, which results in a series of limitations, crudeness and weirdness
in criminals’ thinking ability, aesthetic concept, life attitude, behavior mode, etc.,
such as tattoos among criminals and homosexuality among criminals.
2. Privacy. Prison subculture is “hidden” in the process of its generation, inheritance
and integration, and in both its form and content. The prison subculture can only
24
Marx & Engels 1972, 52.
25
Su-min 1990, 145.
26
Ping 1991.
27
Mingzheng 1992, 317 – 325.
28
Ping 1991.
1196 Wang Ping
operate in the prison subculture group due to the limitation of its activities, so it is
not easy to be found and perceived by people. Even after being discovered, the
prison subculture is often regarded as a mysterious thing and power, and it is dif-
ficult to find out its true meaning.
3. Antagonism. Prison subculture is a confrontation of prison mainstream culture,
which appears as anti-prison mainstream culture. The antagonism between main-
stream culture and subculture is especially strong in prison. This kind of antag-
onism mainly shows that prisoners rebel against the existing moral norms, fight
against the laws and regulations, and destroy the order of various prison regula-
tions. Many illegal and criminal activities in prison are the result of subculture
accumulation, or directly reflect the subculture of prison. For example, some pris-
oners, in order to avoid productive labor and to resist various supervision regu-
lations, would devour objects, cut off their hands or feet, and even commit suicide.
This is incredible for ordinary people, but it happens from time to time in prison.
4. The uniqueness of communication. Subculture exists in any society, while prison
culture spreads in its unique form, characterized by “concentration from outside
to inside and diffusion from inside to outside”. The generation and development
of prison subculture cannot be separated from the soil of the outside society and
the influence of the outside social subculture. Every new inmate is a carrier of the
subculture of the external society, at the same time, he is facing the problem of
adapting to the subculture of the prison. The prisoners in prison often face the
problem of the integration of the two subcultures. A new subculture of prison
will be formed after the integration of subculture of external society and original
subculture of prison. Prison is not only the place where the subculture of the out-
side world is concentrated, but also the starting point for the proliferation of the
prison subculture to the outside world. With the release or escape of prisoners,
those who have not been completely transformed spread the prison subculture
to every corner of the external society, so as to be a part of the subculture of
the external society. Recidivists and their reimprisonment bring the external so-
cial subculture, which integrates with the original subculture of prison. Such on-
going interaction between these two cultures has created a vicious circle of sub-
culture transmission. This is the basis for some people in the west to refer to pris-
ons as “dye vats” and “schools of crime”.
5. Continuity. Although the subculture of prison is opposed by the mainstream cul-
ture of prison, once the cultural mode is established, it tends to keep on. Even
under external pressure, the prisoners in prison will not easily give up their orig-
inal cultural preferences. Prison subculture has strong adhesiveness, and every
prisoner is affected by it to varying degrees. The prisoners who accept the
group culture and adapt to the “system” can obtain certain power and status
among the prisoners, otherwise they will be excluded by the criminal group.
Many subcultural phenomena in prison are treated as “prison customs” because
they are kept for a long time. Any culture is not a backwater. It should be inno-
Relationships Needed to Be Properly Handled in Process of Penalty Execution 1197
vated and developed with the development of the times. However, due to cultural
inertia and conservatism, the rate of change is relatively slow. The change of pris-
on subculture is even more so. Prison subculture often treats the change of culture
not actively, but passively or even reactively, which results in the repetition and
simplification of prison subculture.
As a process of learning and accepting prison subculture, the prisoners’ adaptation
is the process of anti-socialization, and of criminalization to a certain extent. In the
process of adaptation, criminals learn each other’s criminal skills and bad habits,
leading to further decline of moral concepts and further loss of sense of shame.
The prisoners after adaptation accept the informal values, habits and norms of the
criminal community, and at the same time, they have immunity to the dominant val-
ues of society and the rules formulated by the prison authorities, which greatly re-
duces their positive impact. Therefore, the adaptation may not only make it more dif-
ficult to transform and re-socialize criminals, but also deepen the degree of anti-so-
cial behavior of criminals, resulting in a large number of recidivists.
Strictly speaking, the contradiction between the closed prison and the open soci-
ety should also belong to the category of the contradiction between the adaptation and
the resocialization of criminals. However, due to its outstanding influence on the pris-
on efficiency, it is necessary to discuss the contradiction between the closed prison
and the open society in particular. The traditional prison environment is far from the
normal social environment. As a full-control institution, prison, like other full-con-
trol institutions such as psychiatric hospitals, concentration camps and monasteries,
also strictly controls people’s behavior according to a set of special rules and prac-
tices. Prisoners live in an almost isolated environment. Closed environment and some
humiliating facilities, clothing, activities and rituals tend to cause mental trauma and
personality degradation to prisoners.
American professor Philip George Zimbardo did an experiment to prove the
above statement. He used the basement of a building at Stanford University as a si-
mulated prison to recruit a group of college students without criminal records for the
experiment. By lot, some students acted as “prisoners” and some as “guards”. Al-
though the participants in these trials had obvious normal human status, this environ-
ment (simulated prison) quickly presented the characteristics of the full control in-
stitution: three “prisoners” had serious trauma reactions in the first four days of the
trial, so they had to be “released” in advance. The rest of the “prisoners” and “guards”
soon behaved like real prisoners and guards. One third of the “guards” abused their
power and made the “prisoners” despondent. Although the remaining “guards” did
not take part in such actions, they did not stop others from abusing the “prisoners”.
That is to say, the “guards” and “prisoners” quickly showed the behavior pattern un-
derstood as conforming to the status in a way different from that in a free society a few
1198 Wang Ping
days ago. Professor Philip George Zimbardo had planned to carry out the experiment
for two weeks. Later, he felt that the mental damage to the participants was so great
that he had to stop the experiment after six days into the experiment.29
The gap between the closed prison and the normal social life inevitably affect the
efficiency of prison education and treatment of criminals and the larger the gap, the
lower the efficiency of prison education and treatment of criminals. In fact, it is very
difficult for a person to get out of a normal social life and into an abnormal social
environment, but at the same time act as in a normal social life. This is the paradox.
Professor Norval Morris with the University of Chicago in the United States has at
least revealed the essence of this problem to a certain extent: imprisonment is un-
doubtedly a kind of expulsion of criminals from human society, which expels crim-
inals into a worse place than the general social conditions, and criminals must return
to society from this worse place, so it can be said that this is a strange and useless
expulsion. After the criminals are expelled, not only can they not live a meaningful
life, but also they are cut off from the society, which damages their mental health and
sociality, making it more difficult for them to return to the society.30 Some western
scholars point out that under the condition of imprisonment, prisoners are deprived of
the minimum sense of responsibility. Like children, they are prescribed when to eat
and sleep, when to work and when to rest, all of which they do not need to nor can
decide by themselves. As a feature of a normal society, upholding one’s rights should
be encouraged. In prison, however, prisoners’ insistence on their rights is often re-
garded as disobedience to discipline and thus will be punished. Prison life, which
is different from the normal life of society, is deeply branded on every prisoner.
This brand is hard to disappear for a long time for some prisoners after they are re-
leased from prison, even goes with their whole lives, making them “prisoners” who
are not in prison.
The contradiction between the adaptation and the resocialization of criminals, be-
tween the closed prison and the open society, profoundly reveals the drawbacks and
defects of imprisonment and traditional prisons when it comes to the change of crim-
inals. In order to alleviate these contradictions and crises, western countries have
adopted many treatment programs. The main measures can be divided into two as-
pects:
The first is to control the source of the application of imprisonment in legislation
and trials, to get rid of the dependence of the society on imprisonment as much as
possible, and to make imprisonment become a tool that can only be used in case
of necessity. In western countries, some behaviors which do no serious harm to
the society constituted a crime according to the traditional concept of penalty, but
now they are no longer considered as a crime or a crime punished by deprivation
of liberty. This is the so-called decriminalization, or the trend of non-imprisonment
penalty. In the United States, for example, since 1963, many states have legalized one
29
See Huaizhi 1997, 510 – 511.
30
Ganmei 1979, 282.
Relationships Needed to Be Properly Handled in Process of Penalty Execution 1199
or more forms of gambling. By 1975, 29 states had legalized horse racing gambling, 8
states legalized casino gambling, and at least 6 states had other types of legal gam-
bling. In the 1960s and early 1970s, the United States treated possession of marijuana
as a felony. However, with the proliferation of drugs and drug abuse, some states fur-
ther relaxed control on marijuana. From 1973 to 1978, 11 state legislatures passed
laws to decriminalize possession of marijuana and not to deal with it as a crime.31
When entering the trial stage through the legislative checkpoint, there are new
checkpoints in front of the application of imprisonment, which is a large number
of choices of punishment types or punishment systems that limit or replace the im-
prisonment. The choice of punishment is mainly reflected in two aspects: one is to
choose a large number of fine penalties. In some western countries, the trend of pen-
alty system changing from imprisonment to fine penalty is obvious. The other is to
choose to apply the restrictive punishment. Limiting freedom punishment is not dep-
rivation of personal freedom, but restriction, that is, not detaining prisoners in a cer-
tain place, but allowing them to stay in society and maintain their normal life as usual
under certain conditions stipulated by law, such as community service in the United
States, social service orders in Britain, etc.
There are two main measures of the criminal system in this respect. One is to
choose the application of probation. In modern western countries, probation is a
force comparable to fine, and its impact on the status of imprisonment is the hot
topic of western scholars. Because probation is mainly applicable to the criminals
who commit minor crimes and should be punished with short-term imprisonment,
but for the consideration of criminal policy, it is not necessary to sentence or execute
the sentence for the time being, so probation has long been regarded as an important
means to replace short-term imprisonment. Since the Second World War, the appli-
cation of probation in western countries has been expanding day by day.
The other is to change the traditional way of execution of imprisonment, and im-
plement the open correction system, such as labor release system, learning release
system, homecoming system in which prisoners are given time off to go home for
a holiday, weekend detention system and so on. The main function of this measure
is not to cut off the relationship between criminals and the external society as much as
possible, so that criminals have sufficient psychological preparation and adaptability
for returning to society.
Before the reform and opening up, Chinese society was basically closed. At that
time, with the relatively small gap between the closed prison environment and the
external society and the favorable social macro environment, the efficiency of the
prison was relatively high, and the effect of changing criminals was relatively
good. However, since the reform and opening up, Chinese society has been more
and more open, and the distance between the traditional closed prison life and the
modern open social life has gradually widened, which is bound to affect the effect
31
See Yupei, Chunxi, & Wen 1991, 393 – 394.
1200 Wang Ping
The Opinions clearly define the concept, task and basic measures of the sociali-
zation of penalty execution in prisons. Socialization of prison work means that prison
work should make full use of social resources and social forces to do a good job in
prison work on the basis of adhering to the principle of giving priority to prison police
officers. The main task is to use social resources to gradually establish a multi-level
and all-round social assistance and education system, to create a socialized transfor-
mation environment, to realize the socialization of transformation strength, transfor-
mation means, transformation content and the socialization of prison work logistics
support, and to realize the benign interaction between prison work and the social en-
vironment.32 The specific measures are:
1. To create a transformation environment conducive to the reintegration of crimi-
nals. To create a socialized atmosphere in prison, we should try our best to keep
criminals in a socialized environment, shorten the distance between prison life
and social life, and improve the ability of criminals to adapt to social life after
they are released from prison. And we should also give a chance to criminals
to visit the society on a regular basis, so that criminals can personally feel the at-
mosphere of modern social life and the development of the society.
2. To establish and improve the network of social assistance and education. The
party and government organs, the army, schools, social organizations, community
organizations and other institutions, as well as people from all walks of life, will
32
See The Ministry of Justice of China 2003.
Relationships Needed to Be Properly Handled in Process of Penalty Execution 1201
plete freedom, thus facing a dramatic change in their life. Without proper adjust-
ment, they are very easy to commit crimes again. Therefore, after the prisoners are
released from prison, they should still be supervised, managed and educated for a
certain period of time, so that they will not repeat their mistakes due to various
difficulties, and can smoothly return to society and become law-abiding citizens.
4. It is beneficial to mobilize community forces to educate and correct criminals.
Putting eligible criminals in the community and letting them live among the mass-
es can mobilize the public and all sectors of society to participate in the supervi-
sion, education and correction of criminals.
5. It is conducive to saving penalty execution resources and reducing the cost of pen-
alty execution. The high cost of imprisonment is a common problem in the world.
Compared with imprisonment correction, community correction can save the cost
of penalty execution and reduce the financial burden of the country.
6. It is conducive to the implementation of the criminal policy of tempering justice
with mercy. There are many reasons for criminals to commit crimes, and social
harmfulness of criminals varies. Some people’s crimes are minor and their sub-
jective malice is not serious. If all these criminals are sentenced to imprisonment,
this will not get the support of the public; if community correction is applied, we
not only maintain the dignity of the law, but also consider the actual situation of
the case, which has the effect of supporting the right and removing the evil. The
application of community correction to the defendant in the case of injury caused
by civil disputes is conducive to the defendant’s active performance of the obli-
gation of compensation, protection of the legitimate rights and interests of the vic-
tim, and the alleviation and elimination of conflicts. For the case that the defend-
ant is the main labor force in the family, the application of community correction
can maintain the livelihood of the family and avoid the family being broken be-
cause of the imprisonment of its family members.
Due to the promotion of academic circle and press as well as the urgent need of
reality, China began to consider the implementation of community correction. On
July 10, 2003, after full discussion and consultation, the Supreme People’s Court,
the Supreme People’s Procuratorate, the Ministry of Public Security and the Ministry
of Justice jointly distributed the Notice on Carrying Out the Pilot Work of Commun-
ity Correction, and decided to carry out the pilot work of community correction in
Beijing, Shanghai, Tianjin, Jiangsu, Zhejiang and Shandong since 2003.
The main contents of the above notice are as follows:35
1. Defining the nature of community correction.
2. Identifying the objects of community correction. The scope of application of
community correction mainly includes the following five kinds of criminals:
35
The Supreme People’s Court, the Supreme People’s Procuratorate, the Ministry of Public
Security & the Ministry of Justice 2003.
Relationships Needed to Be Properly Handled in Process of Penalty Execution 1203
those who have been placed under surveillance; those who have been given a re-
prieve; those who have been allowed to temporarily serve their sentences out of
prison, specifically including: those who have serious diseases and need to be
taken out of prison for medical treatment, those who are pregnant or are breast-
feeding their own babies, those whose life cannot be taken care of by themselves,
and are allowed to temporarily serve their sentences out of prison without the dan-
ger of doing harm to society, and those who are released on parole; those who are
deprived of political rights, and serving a sentence outside an incarceration facili-
ty. If the above conditions are met, minor offenders with minor crimes and minor
subjective maliciousness, old offenders, sick offenders and disabled offenders, as
well as the first offenders and negligent offenders with minor crimes, shall be
taken as the key objects to apply the above-mentioned non-custodial measures
and implement community correction.
3. The task of community correction has been determined. According to the criminal
law, criminal procedure law and other relevant laws, regulations and rules, we
should strengthen the management and supervision of community prisoners to
ensure the smooth implementation of punishment. Through various forms, we
should strengthen the ideological education, legal education and social moral ed-
ucation of the community prisoners, correct their bad psychology and behaviors,
and make them repent, abandon evil to good, and become law-abiding citizens. To
help community prisoners solve their difficulties in employment, life, law and
psychology, so as to help them adapt to social life smoothly.
4. The working mechanism of community correction is stipulated. The notice re-
quires the relevant departments of public prosecution, public security, judge
and judicial administration to perform their respective responsibilities and coop-
erate with and support each other to ensure the smooth implementation of the pilot
work.
In January 2005, the Supreme People’s Court, the Supreme People’s Procurator-
ate, the Ministry of Public Security and the Ministry of Justice jointly issued the No-
tice on Expanding the Scope of the Pilot Work of Community Correction. Before the
2008 Beijing Olympic Games, the scope had been extended to 25 provinces. In Oc-
tober 2009, the Supreme People’s Court, the Supreme People’s Procuratorate, the
Ministry of Public Security and the Ministry of Justice jointly issued the Opinions
on Comprehensively Promoting the Pilot Work of Community Correction, which
made it clear that the nationwide trial implementation of community correction
would start in 2009. On February 25, 2010, the Standing Committee of the National
People’s Congress passed the Criminal Law Amendment (8), which came into force
on May 1, 2010. The results of the above theoretical research and the experience of
judicial practice were included in the criminal code, and community correction even-
tually rose to the legal provisions.
On December 28, 2019, the 15th meeting of the Standing Committee of the 13th
National People’s Congress voted to pass the Community Correction Law of the Peo-
1204 Wang Ping
ple’s Republic of China, with a total of 9 chapters and 63 articles. It took China nearly
17 years to go from its first pilot work of community correction in July 2003 to July 1,
2020 when the Community Correction Law shall come into effect. According to
Jiang Aidong, director of the Administration of Community Correction of the Min-
istry of Justice, after years of efforts, community correction has developed rapidly
and achieved remarkable results. According to the data, in the past 16 years, 4.78
million people have received community correction and 4.11 million have been re-
leased. In recent years, the recidivism rate of community correction objects has been
kept at a low level of 0.2%.36 This shows that China’s community correction work
plays an important role in maintaining social harmony and stability, promoting the
construction of safe China and rule of law, and advancing the progress of judicial
civilization.
It should be noted that although the function of prison education and treatment of
criminals is limited, it has its own effect and should not be abandoned. On the con-
trary, I have always advocated that prison should make its own efforts in educating
and changing criminals as much as possible, so as to reduce the recidivism rate of
prisoners and make its own contribution. Franz von Liszt, the famous German crim-
inal law master once said: “correct the correctable criminals, and make the uncorrect-
able criminals do not harm”37, which means that due to the limited prison conditions,
some criminals may not be well rehabilitated. For those criminals who are not well
changed, the prison and the society should strive to prevent them from harming the
society. And most criminals can still be educated and changed through efforts. There-
fore, the prison should make the greatest efforts. In addition, prison not only has the
function of educating and changing criminals, but also has many others such as ret-
ribution, deprivation and deterrence. These functions are not only out of the pursuit of
penalty execution in prisons, but also of the need of reality. Under the historical con-
ditions of modern society, imprisonment and prison are still indispensable means of
punishment for defending society, maintaining social order and stability, and in a
sense, they are also one of the most powerful means of punishment. We can only
try our best to overcome their disadvantages, but it is impossible to abolish imprison-
ment and prison.
References
36
See Ningning 2020, 5.
37
See Von Liszt 2000, 13.
Relationships Needed to Be Properly Handled in Process of Penalty Execution 1205
1. Einleitung
Das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straf-
taten, das im Jahr 1998 in Kraft trat, hatte zur Folge, dass Sexualstraftäter mit einer
Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren ab dem Jahr 2003 in eine sozialtherapeuti-
sche Anstalt zu verlegen und dort zu behandeln waren (vgl. StVollzG § 9). Dies war
der Hintergrund, vor dem der Jubilar gemeinsam mit dem Sächsischen Staatsminis-
terium der Justiz und seinem Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Strafrecht, Strafpro-
zessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Kriminologie der TU Dresden die Idee für eine
groß angelegte Längsschnittstudie zur Evaluation der Sozialtherapie entwickelte.
Denn es durfte durchaus kritisch hinterfragt werden, ob der Fokus auf die Behand-
lung der Zielgruppe der Sexualstraftäter1 gerechtfertigt war. Einerseits ergibt sich al-
lein aus der Tatsache, dass sexuelle Übergriffe auf Seiten der Opfer zu lebenslangen
psychischen und physischen Folgen führen können (vgl. Campbell 2002; Oshodi et
al. 2020; Romans et al. 2002), ein besonderer Behandlungsbedarf dieser Tätergrup-
pe. Andererseits können auch Gewaltstraftaten mit traumatisierenden Opfererfah-
rungen und schwerwiegenden Folgen bis hin zum Tod des Opfers verbunden sein
(vgl. Fetzer & Pezzella 2019; Krahé & Greve 2002). Zudem legen Zahlen zum Rück-
fallverhalten von Sexualstraftätern ein vergleichsweise geringes einschlägiges Rück-
fallrisiko nahe (Jehle et al. 2016). Und schließlich stellte sich die maßgebliche Frage,
ob die sozialtherapeutische Behandlung das erklärte Vollzugsziel (künftig ein Leben
ohne Straftaten zu führen) bei den Gefangenen, bei denen die Verlegung in die So-
zialtherapie zur Erreichung dieses Ziels angezeigt ist, überhaupt zu erreichen ver-
mag. Denn zu inkonsistent waren und sind die empirischen Ergebnisse zur Wirksam-
keit der Sexualstraftäterbehandlung (Albrecht & Ortmann 2000; Ortmann, Albrecht
& Obergfell-Fuchs 2004).
1
Um die Lesbarkeit zu erleichtern, werden die wegen eines Sexualdelikts bzw. Gewalt-
delikts verurteilten Personen im Folgenden als Sexual- bzw. Gewaltstraftäter bezeichnet,
wobei dabei ausdrücklich darauf hingewiesen werden soll, dass die Personen damit nicht
stigmatisiert werden sollen.
1208 Gunda Wössner
2
Hefendehl (2013, 12 ff.) macht in diesem Zusammenhang auf die Relativierung des
Vollzugsziels der Resozialisierung aufmerksam und spricht gar von einem Paradigmenwech-
sel, durch den im Zuge der Föderalismusreform Resozialisierungsinteressen zugunsten des
Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit abgewertet wurden.
Sexualstraftäter in sozialtherapeutischen Anstalten des Freistaates Sachsen 1209
Vergleich mit der Tätergruppe Gewaltstraftäter und der Vergleich mit nicht sozialthe-
rapeutisch behandelten Tätern zu den angerissenen Fragen wichtige Erkenntnisse
liefern kann.
In Anbetracht des Umfangs des hier vorgestellten Langzeitprojekts vermag dieser
Beitrag nur einige ausgewählte Forschungsergebnisse zu skizzieren und – zur Ein-
ordnung dieser – eine kurze Darstellung des Studiendesigns zu geben. Im Fokus sol-
len grundlegende Ergebnisse zum Rückfallverhalten mit Blick auf die zentralen For-
schungsfragen stehen. Als Hauptkriterium wird hier der Rückfall laut Bundeszentral-
register, also dem Hellfeld, herangezogen. Auch wenn der Einsatz von Rückfall als
Erfolgskriterium etwa zum Zwecke der Evaluation und damit zur Beurteilung und
ggf. Weiterentwicklung kriminalpolitischer Maßnahmen kritisch gesehen werden
kann, so betont Albrecht (2013b), dass gerade im Bereich der schweren Kriminalität,
wie sie Sexualdelikte darstellen, der Rückgriff auf offizielle Rückfallstatistiken eine
zentrale Datengrundlage zur Risikoeinschätzung ist.
3
Mittlerweile haben die Autoren die General Theory of Crime leicht modifiziert, siehe
Gottfredson & Hirschi 2020.
1210 Gunda Wössner
tails von Anstalt zu Anstalt variiert (vgl. Guéridon 2016; Wössner 2014). Zudem be-
finden sich die Interventionen in ständigem Wandel.4
4
Näheres zum sozialtherapeutischen Behandlungskonzept Sachsens, das Gegenstand der
Studie ist, findet sich in Wössner, Hefendehl & Albrecht 2013.
Sexualstraftäter in sozialtherapeutischen Anstalten des Freistaates Sachsen 1211
t1 t2 t3 t4.1 t4.2
n = 403 n = 277
n = 144
- zu Beginn der - kurz vor der
- ca. 1,5 Jahre nach
Inha!ierung Ha!entlassung
der Entlassung
- halb- - Aktenanalyse,
- qualita"ve
strukturierte Mitarbeiter- Auskün!e aus dem
Interviews,
Interviews zur befragung,
selbstberichtete
Bundeszentralregister
Biografie Entlassungs-
Delinquenz
vorbereitung
Erfassung der
Maßnahmen in Ha!
Abbildung 1: Untersuchungsdesign
Grundlage für die Rückfalluntersuchung sind die Rückfalldaten des offiziell re-
gistrierten Hellfelds (BZR-Auszüge) bezogen auf die Ausgangsstichprobe von 403
Projektteilnehmern. Da hiervon sechs Probanden zum Zeitpunkt der Rückfallanaly-
sen verstorben waren, 22 sich noch in Haft bzw. Sicherungsverwahrung befanden und
für 14 Probanden falsche oder keine Bundeszentralregisterauszüge geliefert wurden,
umfasste die Stichprobe zur Analyse des Rückfalls 361 Probanden. Ein Überblick
über kriminalbiographische Merkmale sowie die Altersstruktur der Teilnehmer ist
Tabelle 1 zu entnehmen.6 Insgesamt nahmen 214 ursprünglich wegen eines Sexual-
delikts (53 %; davon 76 wegen Vergewaltigung und 138 wegen sexuellen Miss-
brauchs) und 189 wegen eines Gewaltdelikts (47 %) verurteilte Gefangene an der
Untersuchung teil. Dabei waren 192 Probanden als Sozialtherapieteilnehmer
(Sotha), 152 Probanden im Regelvollzug Untergebrachte und 59 als Sozialtherapie-
abbrecher (Sotha-Abbrecher) einzuordnen.
Tabelle 1
Kriminalbiographische Merkmale der Studienteilnehmer
Nach Vollzugsart
Regelvollzug Sotha Sotha-Abbruch
M SD M SD M SD
Alter bei erster Straftat 19,9 9,25 20,3 8,33 20,6 9,38
F (2, n = 339) = 0,13; p = 0,88
Anzahl Vorregistrierungen 5,8 4,24 4,3 4,16 5,8 4,67
F (2, n = 388) = 5,63; p < 0,01
Anzahl Vorstrafen 4,0 4,23 2,9 3,70 4,5 4,69
F (2, n = 368) = 4,94; p < 0,01
Alter bei Indexdelikt 28,7 11,69 27,8 9,48 29,6 11,01
F (2, n = 320) = 0,63; p = 0,53
Fortsetzung nächste Seite
6
Um einen Überblick über alle Teilnehmer zu erhalten, beziehen sich die Angaben auf die
Bruttostichprobe ohne die Sicherungsverwahrten und noch in Haft befindlichen Probanden,
soweit die Daten vorlagen. Dadurch können sich differierende Stichprobengrößen als Grund-
lage der Berechnungen ergeben.
Sexualstraftäter in sozialtherapeutischen Anstalten des Freistaates Sachsen 1213
Fortsetzung Tabelle 1
Nach Deliktsgruppen
Gewalt Vergewaltigung Missbrauch
M SD M SD M SD
Alter bei erster Straftat 17,1 4,32 20,0 7,12 25,6 12,22
Kruskal-Wallis7: chi2 (2, n = 339) = 47,42; p < 0,001
Anzahl Vorregistrierungen 5,9 3,96 4,6 4,25 4,2 4,64
F (2, n = 388) = 6,68; p < 0,01
Anzahl Vorstrafen 3,8 3,80 2,9 3,94 3,4 4,52
F (2, n = 368) = 1,30; p = 0,27
Alter bei Indexdelikt 23,5 7,04 28,8 9,74 34,9 11,48
Kruskal-Wallis: chi2 (2, n = 320) = 74,74; p < 0,001
7
Da die Voraussetzung der Varianzhomogenität für die Anwendung der einfachen Vari-
anzanalyse nicht gegeben war (Bartlett Test: p < 0,001; Levene Test: p < 0,01), wurde der
Kruskal-Wallis Test angewendet.
1214 Gunda Wössner
Tabelle 3
Rückfallverhalten 3 Jahre nach Haftentlassung nach Vollzugsart
Sozialtherapie Regelvollzug Sotha-Abbrecher Gesamt
(N = 185) (N = 130) (N = 46) (N = 361)
n % n % n % n %
75 40,5 72 55,4 28 60,9 175 48,5
In der logistischen Regression bestätigten sich die nach Vollzugsart und Täter-
gruppen gefundenen Unterschiede: Im Vergleich zu den Gewaltstraftätern war die
Wahrscheinlichkeit für den allgemeinen Rückfall bei den Vergewaltigungstätern
nur weniger als halb so hoch (OR = 0,4; p < 0,001). Die Rückfallwahrscheinlichkeit
der Missbrauchstäter entsprach nur etwa einem Drittel des Risikos der Gewaltstraf-
täter (OR = 0,3; p < 0,001). Die Sotha-Abbrecher hatten gegenüber den Sozialthe-
rapievollteilnehmern ein doppelt so großes Rückfallrisiko (OR = 2,2; p < 0,01),
wobei sich das Rückfallrisiko zwischen Sotha und Regelvollzug nicht signifikant un-
terschied (OR = 1,2; p = 0,26). Nimmt man in dieses Modell die Anzahl der Vorstra-
fen der Probanden und das Alter bei Indexdelikt mit auf, so verschwindet der täter-
gruppenspezifische Effekt (Vergewaltigungstäter: OR = 0,8; p = 0,42; Miss-
brauchstäter: OR = 0,9; p = 0,37). Die höheren Rückfallraten der Gewaltstraftäter
sind also vornehmlich mit den Prädiktoren Vorstrafe (OR = 1,2; p < 0,001) und
Alter bei Indexdelikt (OR = 0,9; p < 0,001) zu erklären (R2 = 0,20; obs = 284;
Chi2(4) = 78.6; p < 0,001). Der Effekt hinsichtlich der Vollzugsart verstärkt sich
bei Berücksichtigung der Vorstrafen: Die Sotha-Abbrecher hatten gegenüber den So-
zialtherapievollteilnehmern ein fast zweieinhalb mal so großes Rückfallrisiko
(OR = 2,4; p < 0,01), das Rückfallrisiko der Regelvollzugsprobanden war 1,7
mal höher als das der Sozialtherapieteilnehmer – ein Unterschied, der sich allerdings
auch in diesem Modell nicht als statistisch bedeutsam erwies (OR = 1,7; p = 0,50).
Im Regelvollzug verbliebene Sexualstraftäter wurden nicht einschlägig rückfäl-
lig. Die die Sozialtherapie abbrechenden Sexualstraftäter hatten diesbezüglich ein
höheres Rückfallrisiko als Sozialtherapieteilnehmer (OR = 4,23; p < 0,05; Vorstra-
fen: OR = 2,21; p < 0,05). Bei den Gewaltstraftätern lag für die Regelvollzugspro-
banden nur ein tendenziell signifikanter Effekt vor (OR = 2,0; p = 0,07), für die
Sotha-Abbrecher ließ sich überhaupt kein signifikanter Effekt finden (OR = 1,52;
p = 0,48; Vorstrafen: OR = 1,61; p = 0,07).
Die nach Täter- und Vollzugsgruppen differenzierende logistische Regression
unter Einbezug der Vorstrafen kann als Ausgangsmodell für die weiteren Analysen
etwa zum Einfluss verschiedener Merkmale auf den Rückfall betrachtet werden.
Gemäß der Logik der Anlage der Untersuchung werden Sexual- im Vergleich mit
Gewaltstraftätern untersucht und die Vollzugsart Sozialtherapie hinsichtlich ihres
Zusammenhangs mit Rückfall analysiert. Die kriminelle Vorbelastung ist studien-
übergreifend ein zentraler Prädiktor für Rückfallverhalten (vgl. Albrecht & Grundies
2007) und wurde daher (in logarithmischer Form) in das Grundmodell miteinbezo-
Sexualstraftäter in sozialtherapeutischen Anstalten des Freistaates Sachsen 1215
gen. Auf der Grundlage dieses Modells folgten weitere Analysen.8 Zunächst wurde
für jede einzelne Prädiktorvariable aus den Bereichen Biographie, Kriminalbiogra-
phie, Tatmerkmale, Persönlichkeit, Kriterien der Risikoeinschätzung, Nachentlas-
sungssituation und Behandlung während des Vollzugs sowie weitere vollzugliche
Marker eine Regressionsanalyse zum Rückfallverhalten durchgeführt, um den Ein-
fluss der jeweiligen Variablen zu prüfen.
Tabelle 4 gibt einen Überblick über die prominentesten signifikanten Prädiktor-
variablen zum allgemeinen Rückfall. Entgegen den Erwartungen hatten behand-
lungsbezogene Faktoren keinen Einfluss. Lediglich beim Interventionsbedarf, der
angibt, in wie vielen verschiedenen Bereichen der Gefangene laut Vollzugsplan In-
terventionsbedarf hatte, war über die beide Tätergruppen hinweg ein signifikanter
Zusammenhang mit dem Rückfall festzustellen: Das Rückfallrisiko stieg mit der
Häufigkeit der Bereiche, für die ein Interventionsbedarf ausgemacht wurde. Hierun-
ter fielen ganz verschiedene Aspekte, wie u. a. Störungseinsicht, Umgang mit der Tat,
Aggressionsbereitschaft, Impulskontrolle, adäquates Sozialverhalten, Arbeitskonti-
nuität, Schul- und Berufsausbildung, Entwicklung realistischer Zukunftsperspekti-
ven, Empathie, Emotionsregulation, Dominanzstreben, dissoziale Einstellung bzw.
Persönlichkeit und narzisstische Kränkbarkeit. Neben den in Tabelle 4 dargestellten
statistisch bedeutsamen Korrelaten des Rückfalls sank das Risiko für allgemeinen
Rückfall bei Gewaltstraftätern bedeutsam, wenn sie als Kind keinen körperlichen
Misshandlungen ausgesetzt waren (OR = 0,53; p < 0,10). Ferner wiesen Gewalt-
straftäter, deren Indexdelikt ein Tötungsdelikt war, eine geringere Rückfallwahr-
scheinlichkeit auf (OR = 0,28; p < 0,01). Angst vor Mithäftlingen (OR = 1,23;
p < 0,01) und die Infragestellung der Legitimität von Gesetzen9 (OR = 1,12;
p < 0,10) erhöhten das allgemeine Rückfallrisiko dieser Tätergruppe.
Interessant sind des Weiteren die Ergebnisse zur Nachentlassungssituation: Be-
sonders für die Gewaltstraftäter waren die Rückkehr an den gleichen Ort wie vor
der Haft, aber vor allem das Sichern des Lebensunterhalts durch andere Mittel als
reguläre Arbeit ein Hochrisikofaktor (Bezug von ALG II bzw. die Unterstützung
durch Dritte sowie „diverse Geschäfte“ wie Schwarzarbeit und anderes). Für Sexu-
alstraftäter waren keine zusätzlich zu den in Tabelle 4 dargestellten Prädiktoren im
Zusammenhang mit allgemeinem Rückfall von statistisch signifikanter Bedeutung.
Zu den nicht statistisch bedeutsamen Prädiktoren des allgemeinen Rückfalls zählten
tätergruppenübergreifend u. a.: Entlassungsvorbereitung, Teilnahme an diversen
Maßnahmen wie Einzelgespräche, soziales Kompetenztraining, Sucht oder auch In-
tensität der Behandlung (behandlungsbezogene Faktoren), Drogenprobleme in der
Herkunftsfamilie, Trennung der Eltern (Biographie), SOC (Nachentlassungssituati-
on). Tatmerkmale des Indexdelikts wie Täter-Opfer-Beziehung, Geschlecht der
8
Wurde in der logistischen Regression hinsichtlich der Tätergruppe feiner differenziert
zwischen Gewaltstraftätern, Vergewaltigungstätern und Missbrauchstätern, so ergab sich kein
Unterschied im Regressionsmodell.
9
Gemessen mit dem PRISKLIM zu t2.
1216 Gunda Wössner
Opfer und Anzahl der Opfer waren ebenfalls nicht statistisch für den allgemeinen
Rückfall bedeutsam.
Tabelle 4
Odds Ratios der logistischen Regression einzelner Einflussvariablen
zur Vorhersage allgemeinen Rückfallverhaltens
Gesamt Gewalt- Sexual-
straftäter straftäter
Behandlungsbezogene Faktoren
Interventionsbedarf 1,06 (p = 0,06) 1,07 1,04
Andere Vollzugsmerkmale
Lockerungen 0,85* 0,84 0,83
Verstöße im Vollzug10 50,87* 50,74** 48,3**
Keine Reststrafenaussetzung 1,93 * 1,66 2,28*
Persönlichkeitsbezogene und biographische Merkmale
Jahrgang 1,07*** 1,1*** 1,05**
Verhaltensauffälligkeiten im Jugendalter# 0,20*** 0,15** 0,28*
Keine Lehre 3,54** 2,87** 4,55**
Jemals in psychotherapeutischer Behandlung# 0,55* 0,6 0,43*
Alleinlebend zum Tatzeitpunkt 3,35** 6,89* 2,38
IQ 0,65* 0,56* 0.73
Ich-bezogene Unbeherrschtheit11 1,68*** 1,69* 1,69**
Kriminalbiographie
Alter erste Straftat 0,91*** 0,81*** 0,93**
Kriterien der Risikoeinschätzung
VRAG12 1,08*** 1,08** 1,08**
10
Der OR-Wert von 50 bei der Skala zu Vorkommnissen im Vollzug muss wie folgt in-
terpretiert werden: Normalerweise gibt der OR an, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für den
Eintritt des Ereignisses (hier Rückfall) ist, wenn sich die Bezugseinheit um eine Einheit er-
höht. Bei der vorliegenden logarithmischen Skala lagen die Skalenwerte zwischen 0 und 1,2.
Das bedeutet, dass der jeweilige individuelle Skalenwert mit dem OR-Wert von 50 multipli-
ziert werden muss, um die tatsächliche Erhöhung des Rückfallrisikos zu erhalten. Drei Pro-
banden wiesen einen Skalenwert von größer als 1 auf, bei diesen Probanden liegt das Rück-
fallrisiko somit um 50mal höher als bei Probanden, die keine Verstöße aufwiesen. Dies traf auf
45 % der Probanden zu. Weitere 45 % haben einen Skalenwert von 0,06 bis 0,35. Bei diesen
Probanden ist das Rückfallrisiko um jeweils 50x0,06 bis 50x0,35 erhöht.
11
Faktor 1 der in vier Faktoren resultierenden Faktorenanalyse der psychometrischen
Testverfahren (Principal Factor Analyis mit Varimax Rotation) zum Zeitpunkt t1 (t2 :
OR = 1,70; p < 0,01; Gesamtsample). Faktor 2 konnte als emotionale Irritierbarkeit inter-
pretiert werden, Faktor 3 als Unsicherheit/Gehemmtheit und Faktor 4 als Einfühlungsvermö-
gen. Signifikante OR ergaben sich hier für das Gesamtsample für Faktor 3 zu t1: OR = 0,67;
p < 0,01 sowie Faktor 4 zu t1: OR = 0,74; p < 0,05).
12
Beim Violence Risk Appraisal Guide (VRAG) handelt es sich um ein von Quinsey et al.
(2006) entwickeltes Instrument, das bei Gewalt- und Sexualstraftätern eingesetzt werden
kann, um das Risiko einer erneuten Verurteilung mit einem Sexual- bzw. Gewaltdelikt ein-
zuschätzen (Rossegger, Gerth & Endrass 2013, 141).
Sexualstraftäter in sozialtherapeutischen Anstalten des Freistaates Sachsen 1217
Tabelle 4
Odds Ratios der logistischen Regression einzelner Einflussvariablen (Fortsetzung)
Gesamt Gewalt- Sexual-
straftäter straftäter
Führungsaufsicht anhängig 1,57* 1,47 1,66
Nachentlassungssituation
Arbeitsstelle bei Haftentlassung vorhanden## 0,29* 0,19* 0.35
Rückkehr gleicher Wohnort## 3,50** 4,24* 2,86
Lebensunterhalt (Konstante: Reguläre Arbeit)
„Diverse Geschäfte“ 4,30* 15,87* 1,67
ALG II (Hartz IV), Dritte 5,56** 24,42** 1,54
*** p < 0,001 ** p < 0,01 * p , 0,05 #1 = ja, 2 = nein ## 0 = nein, 1 = ja
Die Tabelle gibt die Ergebnisse getrennt durchgeführter logistischer Regressionen mit jeweils einer Einflussva-
riablen wieder.
13
Hinsichtlich des allgemeinen Rückfalls wiesen die Gewaltstraftäter ein OR von 2,23 bei
der Differenz der Ich-bezogenen Unbeherrschtheit zwischen t1 und t2 auf (p < 0,05). Frühere
Analysen legen zudem nahe, dass die Probanden zum ersten Untersuchungszeitpunkt zu ex-
tremeren Antworttendenzen neigten, wohingegen sich beim zweiten Untersuchungszeitpunkt
eine Tendenz zur Mitte andeutete (Wössner & Schulz 2013, 126 f.).
1218 Gunda Wössner
matik konstatiert wurde. Hier zeigte sich ebenfalls kein statistisch signifikanter Zu-
sammenhang mit dem Rückfallverhalten (OR = 1,07; p = 0,92). Zudem ergab sich
hinsichtlich biographischer Merkmale bei den wegen eines Sexualdelikts verurteil-
ten Probanden, die vor der Haft Drogen konsumierten (nicht Alkohol oder Nikotin),
ein niedrigeres Rückfallrisiko (OR = 0,14; p < 0,01). Lebten die Probanden zum
Zeitpunkt der Tat in eher ungeordneten bzw. provisorischen Verhältnissen (mit
„Kumpel“, Geschwister, Großeltern, verschwägerten Verwandten), so war dies mit
einem OR von 6 verbunden (p = 0,06). Für die übrigen bereits oben aufgeführten
und hier nicht ausdrücklich erwähnten Prädiktorvariablen ließen sich darüber hinaus
keine statistisch bedeutsamen Effekte auf den einschlägigen Rückfall finden.
Wurde für die Auswertung des einschlägigen Rückfalls nicht nach Tätergruppen
differenziert, ließen sich Einflüsse feststellen, die vornehmlich auf den Einfluss der
Gewaltstraftäter in diesen Analysen zurückzuführen waren. Hervorstechende Prä-
diktoreinflüsse für einschlägigen Rückfall bei Gewaltstraftätern ging vor allem
davon aus, ob sie selbst in ihrer Kindheit Gewalt ausgesetzt waren und ob sich die
Probanden den Lebensunterhalt nach der Entlassung mit diversen Geschäften oder
über Dritte sicherten (vgl. Tabelle 5). Für den einschlägigen Rückfall bei den Gewalt-
straftätern ließ sich darüber hinaus ein signifikanter Zusammenhang mit dem Schul-
abschluss (vor Haft) finden: Ein mindestens der Mittleren Reife entsprechender
Schulabschluss senkte die Wahrscheinlichkeit des Rückfalls um zwei Drittel (OR
= 0,33; p = 0,06). Lockerungen und die Strafrestaussetzung zur Bewährung hatten
keinen Einfluss auf den einschlägigen Rückfall, weder bei den Sexual- noch bei den
Gewaltstraftätern (vgl. Tabelle 5). Sozialtherapieabbrecher zu sein war in diesen
Analysen jeweils ein signifikanter Prädiktor für den einschlägigen Rückfall der Se-
xual-, nicht jedoch der Gewaltstraftäter.
Die Vorstrafen hatten bei den einfachen auf dem Grundmodell basierenden Re-
gressionsmodellen fast ausnahmslos einen signifikanten Einfluss. Bezüglich des ein-
schlägigen Rückfalls ging der Einfluss der Vorstrafen jedoch bei einigen Variablen
verloren, so etwa für die Gewaltstraftäter bei den die Nachentlassungssituation erfas-
senden Prädiktoren, bei Merkmalen der Tat (Geschlecht der Opfer, Täter-Opfer-Be-
ziehung, Opferanzahl) oder wenn hinsichtlich dissozialer Einstellungen bzw. Persön-
lichkeit Interventionsbedarf bestand bzw. für die Sexualstraftäter bei Vorstrafen mit
Sexualdelikten, eigene Kinder zu t1, selbst Opfer von sexuellem Missbrauch und
ebenso bei den die Nachentlassungssituation erfassenden Prädiktoren. Beim allge-
meinen Rückfall waren die Vorstrafen in den Modellen für die Nachentlassungssitua-
tion nicht mehr signifikant, dies allerdings nur für die Gewaltstraftäter. Hier spielten
die Vorstrafen ebenso keine Rolle mehr, wenn die Prädiktorvariablen jeweils Tö-
tungsdelikte, das Anstaltsklima oder die psychometrisch erfassten Persönlichkeits-
merkmale waren.
Mit Blick auf die zum Erhebungszeitpunkt t3 eingeführte Sense of Coherence
Scale (SOC, Singer & Brähler 2014) ist noch folgendes Ergebnis von Interesse:
Die Sozialtherapieprobanden wiesen ein signifikant höheres Kohärenzgefühl auf
Sexualstraftäter in sozialtherapeutischen Anstalten des Freistaates Sachsen 1219
als die beiden anderen Gruppen, F(2, n = 141) = 6,69; p < 0,01. Probanden, die die
Sozialtherapie vollständig durchliefen, erlebten also zum Zeitpunkt des Interviews in
Freiheit ihr Leben als verstehbarer, geordneter, eher aus eigener Kraft beeinflussbar
und eher der Mühe wert, sich dafür anzustrengen, als die anderen Vollzugsgruppen.
Die Tätergruppen unterschieden sich diesbezüglich nicht.
Tabelle 5
Odds Ratios der logistischen Regression einzelner Einflussvariablen
zur Vorhersage einschlägigen Rückfallverhaltens
Gesamt Gewaltstraftäter Sexualstraftäter
Behandlungsbezogene Faktoren
Beschwerden eingelegt# 0,75 1,00 0,29+
t1-t2-Veränderung in Ich-bezogener
2,52** 1.94+ 2,57+
Unbeherrschtheit
Andere Vollzugsmerkmale
Lockerungen 1,01 1,03 0,86
Verstöße im Vollzug 3,56+ 5,37* 0,22
Keine Reststrafenaussetzung 0,79 1,04 1,19
Persönlichkeitsbezogene und biographische Merkmale
Jahrgang 1,08*** 1,09** 1,04
Verhaltensauffälligkeiten im Jugendalter# 0,25* 0,14** 1,52
Keine Lehre 4,98*** 2,68* 7,17**
Jemals in psychotherap. Beh. # 0,45* 0,34** 1,20
Körperliche Gewalt in Familie# 0,65 0,48* 1,78
Kriminalbiographie
Alter erste Straftat 0,91* 0,86 * 0,94
Vorstrafe Sexualdelikt 1,06 0,58 2,01*
Kriterien der Risikoeinschätzung
VRAG 1,10*** 1,11*** 1,07+
Führungsaufsicht anhängig 1,70* 1,54+ 2,27
Nachentlassungssituation
Rückkehr gleicher Ort## 2,96+ 1,99 7,32
Lebensunterhalt (Konstante: Reguläre Arbeit)
„Diverse Geschäfte“ 2,37 6,36+ -
ALG II (Hartz IV), Dritte 2,85+ 7,29* 0,77
*** p < 0,001 ** p < 0,01 * p < 0,05 + p , 0,10 # 1 = ja, 2 = nein ## 0 = nein, 1 = ja
Die Tabelle gibt die Ergebnisse getrennt durchgeführter logistischer Regressionen mit jeweils einer Einflussvaria-
blen wieder.
14
Bereits publizierte Ergebnisse finden sich u. a. bei Gauder (in Vorbereitung), zum Zu-
sammenhang zwischen Hellfeld des Rückfalls und selbstberichteter Delinquenz Wössner &
Hefner (2020), zum Zusammenhang von therapeutischer Veränderung und Rückfall Wössner
& Schwedler (2014), zum Lebensverlauf nach Haftentlassung Wössner, Gauder & Czudno-
chowski oder abschließende Ergebnisse des Projekts bei Wössner (in Vorbereitung).
Sexualstraftäter in sozialtherapeutischen Anstalten des Freistaates Sachsen 1221
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Kaiser, G., Kury, H. & Albrecht, H.-J. (eds.) (1991): Victims and Criminal Justice. Kriminolo-
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Albrecht, H.-J. (1990): Braucht die Politik die Amnestie? Anmerkungen zum Problem der Am-
nestie aus der Perspektive der Rechtsentwicklung im Ausland, in: W. Greve (Hrsg.), Amnes-
tie, Gnade, Politik. Loccumer Protokolle 62/1988. Loccum, S. 67 – 95.
Albrecht, H.-J. (1990): Möglichkeiten und Grenzen des Umweltstrafrechts zur Erzwingung um-
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Münster, S. 169 – 188.
Albrecht, H.-J. (1990): Kriminologische Perspektiven der Wiedergutmachung. Theoretische
Ansätze und Empirische Befunde, in: A. Eser, G. Kaiser & K. Madlener (Hrsg.), Neue
Wege der Wiedergutmachung im Strafrecht. Internationales strafrechtlich-kriminologisches
Kolloquium in Freiburg i.Br. Beiträge und Materialien aus dem Max-Planck-Institut für aus-
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Albrecht, H.-J. (1990): Das Jugendstrafverfahren gegenüber „Mehrfachauffälligen“, in: Deut-
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fällige – Mehrfach Betroffene. Erlebnisweisen und Reaktionsformen. Bonn, S. 86 – 98.
1266 Publikationsverzeichnis – List of Publications
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Kriminalität als Herausforderung, Strategien der Bewältigung. Zeitschrift für die gesamte
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Albrecht, H.-J. (1989): Comparative Research on Crime and Delinquency – The Role and Rel-
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Albrecht, H.-J. (1989): Drug Policy in the Federal Republic of Germany, in: H.-J. Albrecht &
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Albrecht, H.-J. & van Kalmthout, A. (1989): Preface, in: H.-J. Albrecht & A. van Kalmthout
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Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Vol. 41. Freiburg
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Albrecht, H.-J. & van Kalmthout, A. (1989): European Perspectives on Drug Policies, in:
H.-J. Albrecht & A. van Kalmthout (eds.), Drug Policies in Western Europe. Kriminologische
Forschungsberichte aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales
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Medidas Privativas de Libertad y no Privativas de Libertad bajo la Luz de la Investigación
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Albrecht, H.-J. (1988): Freie Straffälligenhilfe im internationalen Vergleich, in: Evangelische
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Albrecht, H.-J. (1988): Präventionsprogramme im Betrieb: Eine neue Form sozialer Kontrolle
am Arbeitsplatz? Drogalkohol 12, S. 37 – 57.
Albrecht, H.-J. (1988): Kriminell weil arbeitslos? Arbeitslos weil kriminell? Bewährungshilfe
35, S. 133 – 148.
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Gruppe 8: Strafrecht. 2. Bearbeitung, 8/580. Lieferung 33. S. 1 – 6.
Albrecht, H.-J. & Schädler, W. (1988): Die gemeinnützige Arbeit auf dem Weg zur eigenstän-
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Albrecht, H.-J. (1987): Drogenpolitik und Drogenstrafrecht. Bewährungshilfe 34, S. 267 – 279.
Albrecht, H.-J. (1987): Formen der Arbeitsteilung und Kooperation zwischen Personen und In-
stitutionen im Bereich sozialer Arbeit und Strafrecht. Bericht über das Forumsgespräch.
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Konzepte. Ergänzungslieferung Nr. 5. S. 41 – 91.
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Jugendstrafe und Jugendstrafvollzug. Stationäre Maßnahmen der Jugendkriminalrechtspfle-
ge im internationalen Vergleich. Teilband 2: Süd- und osteuropäische Länder sowie außer-
europäische Staaten. Kriminologische Forschungsberichte aus dem Max-Planck-Institut für
ausländisches und internationales Strafrecht Vol. 20/2. Freiburg i.Br., S. 1211 – 1306.
1270 Publikationsverzeichnis – List of Publications
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pflege. Bewährungshilfe 32, S. 121 – 134.
Albrecht, H.-J. (1985): Alkohol und Kriminalität – theoretische Verknüpfungen und empirische
Befunde. Bewährungshilfe 32, S. 345 – 357.
Albrecht, H.-J. (1985): Umweltkriminalität: Zusammenhänge zwischen Umweltstrafrecht und
offiziell registrierter Umweltkriminalität. Der Landkreis. Zeitschrift für kommunale Selbst-
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Kriminologie und Strafrechtsreform 60, S. 185 – 186.
Albrecht, H.-J. (1977): Tagungsbericht. Bericht über das Colloquium „Die Erledigung von
Wirtschaftsstrafsachen durch Staatsanwaltschaften und Gerichte“. Zeitschrift für die gesam-
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Autorinnen und Autoren – List of Authors
Ambos, Kai, Prof. Dr. Dr. h.c., Georg-August-Universität Göttingen, Abteilung für ausländi-
sches und internationales Strafrecht, Deutschland.
Armborst, Andreas, Dr., bis 2020 Leiter des Nationalen Zentrums für Kriminalprävention,
Bonn, Deutschland.
Arnold, Harald, Dipl.-Psych., ehem. Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales
Strafrecht, Freiburg im Breisgau, Deutschland.
Arnold, Jörg, Prof. Dr., Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und
Recht, Freiburg im Breisgau, Deutschland.
Arroyo Zapatero, Luis, Prof. em., Dr. Dr. h.c. mult., Universidad Castilla-La Mancha, Instituto
de Derecho Penal Europeo e Internacional, Ciudad Real, Spanien.
Chaidou, Anthozoe, Prof. Dr., Panteion-Universität für Politik- und Sozialwissenschaften,
Athen, Griechenland.
De la Cuesta, José Luis, Prof. Dr. Dr. h.c., Universität des Baskenlandes und Baskisches Institut
für Kriminologie, San Sebastián, Spanien.
Derenčinović, Davor, Prof. Dr., Universität Zagreb, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Zagreb,
Kroatien.
Dessecker, Axel, Prof. Dr., Georg-August-Universität Göttingen und Kriminologische Zentral-
stelle (KrimZ), Wiesbaden, Deutschland.
Dölling, Dieter, Prof. Dr., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland.
Dünkel, Frieder, Prof. em., Dr., Universität Greifswald, Rechts- und Staatswissenschaftliche
Fakultät, Lehrstuhl für Kriminologie, Greifswald, Deutschland.
Entorf, Horst († 2020), Prof. Dr., ehem. Goethe-Universität Frankfurt, Fachbereich Wirtschafts-
wissenschaften, Frankfurt am Main, Deutschland.
Eser, Albin, Prof. em., Dr. Dr. h.c. mult., M.C.J., Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kri-
minalität, Sicherheit und Recht, Freiburg im Breisgau, Deutschland.
Feltes, Thomas, Prof. Dr., Ruhr-Universität Bochum, Deutschland.
Fijnaut, Cyrille, Prof. em., Dr. Dr. h.c., Tilburg University, Tilburg, Niederlande.
Frisch, Wolfgang, Prof. em., Dr. Dr. h.c. mult., Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Freiburg
im Breisgau, Deutschland.
Galain Palermo, Pablo, Prof. Dr., Universidad Andrés Bello, Santiago de Chile; Direktor, Ob-
servatorio Latinoamericano para la investigación en Política Criminal y en las reformas en el
Derecho Penal (OLAP), Montevideo, Uruguay.
Geissler-Frank, Isolde, Prof. Dr., Evangelische Hochschule Freiburg, Freiburg im Breisgau,
Deutschland.
1276 Autorinnen und Autoren – List of Authors
Lin, Jing, Assoc. Prof. Dr., China University of Political Science and Law (CUPL), Institute of
Evidence Law and Forensic Science, Beijing, V.R. China.
Lukas, Tim, Dr., Akad. Rat, Bergische Universität Wuppertal, Deutschland.
Naplava, Thomas, Prof. Dr., Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Abtei-
lung Duisburg, Mülheim an der Ruhr, Deutschland.
Nedopil, Norbert, Prof. em., Dr., Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der
Ludwig-Maximilians-Universität München, Deutschland.
Nogala, Detlef, Dr., CEPOL – European Union Agency for Law Enforcement, Budapest, Un-
garn.
Obergfell-Fuchs, Joachim, Dr., Leiter Bildungszentrum Justizvollzug und Kriminologischer
Dienst Baden-Württemberg, Stuttgart, Deutschland.
Oberwittler, Dietrich, Prof. Dr., Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicher-
heit und Recht, Freiburg im Breisgau, Deutschland.
Palidda, Salvatore, Prof. em., Dr., Universität Genua, Italien.
Perron, Walter, Prof. Dr. Dr. h.c., Albrecht-Ludwigs-Universität Freiburg, Institut für Strafrecht
und Strafprozessrecht, Freiburg im Breisgau, Deutschland.
Ping, Wang, Prof. Dr., China University of Political Science and Law (CUPL), Criminal Justice
Institute, Beijing, V.R. China.
Pitsela, Angelika, Prof. em., Dr., Aristoteles-Universität Thessaloniki, Rechtswissenschaftli-
che Fakultät, Thessaloniki, Griechenland.
Reuband, Karl-Heinz, Prof. em., Dr., Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Deutschland.
Schabas, William, Prof., LL.D. LL.D. h.c. mult., Middlesex University London, Department of
Law, Vereinigtes Königreich.
Sevenig, Eva, Dr., Deutsche Hochschule der Polizei, Münster, Deutschland.
Sieber, Ulrich, Prof. em., Dr. Dr. h.c. mult., Direktor Emeritus, Max-Planck-Institut zur Erfor-
schung von Kriminalität, Sicherheit und Recht, Freiburg im Breisgau, Deutschland.
Spiess, Gerhard, Dipl.-Soz., Universität Konstanz, Fachbereich Rechtswissenschaft, Konstanz,
Deutschland.
Streng, Franz, Prof. em., Dr. Dr. h.c., Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Er-
langen, Deutschland.
Sutterer, Peter, Magister Artium (M.A.), Hochschullehrer, Hochschule für den Öffentlichen
Dienst in Bayern, Fürstenfeldbruck, Deutschland.
Terblanche, Stephan S., Prof., J.D., University of South Africa (UNISA), College of Law, De-
partment of Criminal and Procedural Law, Pretoria, Südafrika.
Tetal, Carina, Dr., Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht,
Freiburg im Breisgau, Deutschland.
Válková, Helena, Prof. JUDr., CSc., Justizministerin a.D., Philosophische Fakultät der Karls-
Universität und College of Entrepreneurship and Law, Prag, Tschechische Republik.
Weigend, Thomas, Prof. em., Dr., Universität zu Köln, Deutschland.
1278 Autorinnen und Autoren – List of Authors
Winterdyk, John A., Prof. Dr., Mount Royal University, Faculty of Arts, Economics, Justice and
Policy Studies, Calgary, Alberta, Kanada.
Wittenberg, Jochen, Dr., Deutsche Hochschule der Polizei, Münster, Deutschland.
Wössner, Gunda, Dr., Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und
Recht, Freiburg im Breisgau, Deutschland.
Yenisey, Feridun, Prof. Dr., Bahçeşehir Universität Istanbul, Juristische Fakultät, Beşiktaş/Istan-
bul, Türkei.
Yue, Liling, Prof. Dr., China University of Political Science and Law (CUPL), Criminal Justice
Institute, Beijing, V.R. China.
Zhao, Shuhong, Assoc. Prof. Dr., Beijing Normal University, College for Criminal Law Sci-
ence, Beijing, V.R. China.