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Ausblick – auf einen anderen Typ von Indifferenz

Niemand wird bestreiten, daß die Apostel


des politischen Indifferentismus, hätten sie
sich so klar ausgesprochen, […] längst zum
Teufel gejagt worden wären […].1
Karl Marx

Politisch indifferent sein heißt politisch


gesättigt sein. »Gleichgültig«, »indifferent«
verhält sich gegenüber dem Stück Brot
nur der Satte; der Hungrige dagegen wird
in Fragen des Stückes Brot stets »Partei«
ergreifen. »Gleichgültigkeit und Indifferenz«
gegenüber dem Stück Brot bedeutet nicht,
daß der Betreffende kein Brot braucht,
sondern daß er […] ein warmes Plätzchen in
der »Partei« der Satten gefunden hat.2
W. I. Lenin

Descartes hat unter dem Namen der Indifferenz und am


Anbeginn der modernen Philosophie ein eigentümliches
Problem registriert und adressiert. Es besteht darin, dass
freie Wesen missverstehen können, was Freiheit ist. Das
Missverständnis liegt darin begründet, Freiheit mit einem
Vermögen zur beliebigen Wahl zu identifizieren. Das ist
eine problematische Annahme, denn diese Identifikation
schreibt der Freiheit eine Wirklichkeit vor ihrer Verwirkli-
chung zu. Aber Freiheit, die nicht verwirklicht ist, ist nicht
wirklich Freiheit. Dass menschliche Wesen nun Freiheit
1 Karl Marx, »Der politische Indifferentismus«, in: MEW, Bd. 18, Berlin
1976, S. 294–304, hier: S. 301.
2 W. I. Lenin, »Sozialistische Partei und parteiloser Revolutionismus«,
in: Werke, Bd. 10, Berlin 1970, S. 61–69, hier: S. 66.

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missverstehen können, bedeutet wiederum, dass sie sich
in und durch ein solches Missverständnis selbst missver-
stehen können. Verstehen sie Freiheit falsch, verstehen sie
das falsch, was freie Wesen zu freien Wesen macht. Das hat
sowohl theoretische als auch praktische Konsequenzen.
In der Folge handeln sie nicht (wirklich) als und wie freie
Wesen, sondern handeln nur so, als wären sie frei, obgleich
sie ihre Freiheit nicht verwirklichen. Sie verharren für
Descartes auf dem niedrigsten Grad der Freiheit. Der Grün-
dungsakt der modernen Philosophie bei Descartes ist nicht
nur mit der Einsicht verbunden, dass Freiheit – zumindest
graduell – von ihrer Verwirklichung abhängt, sondern dass
es zudem Verständnisse und Praxisformen der Freiheit ge-
ben kann, die problematische Verminderungen von Frei-
heit mit sich führen. Sie sind deswegen problematisch, weil
diese Konstellation nicht auf den ersten – und wohl auch
nicht auf den zweiten – Blick als solche erkannt wird.
Kant hatte diese Diagnose aufgenommen und modi-
fiziert. Das Indifferenzproblem geht bei ihm mit einer ei-
gentümlichen, impliziten Konsequenz einher. Sie ließ sich
wie folgt fassen: Sobald es ein problematisches Verständnis
von Freiheit gibt, kommt es zu einer eigentümlichen Re-
gression von genuin menschlicher Handlung zu tierischem
Verhalten. Ich handle dann als wäre ich nur ein Tier, wenn
ich handle als wäre ich frei, aber ein problematisches Ver-
ständnis von der Wirklichkeit meiner Freiheit habe. Dies
tue ich, so Kants Diagnose, wenn ich annehme, dass es ein
anderes denn rigoristisches, als ein dualistisches Verständ-
nis von Freiheit überhaupt geben kann, d. h. wenn ich an-
nehme, dass meine Handlungen weder gut noch böse oder
beides zugleich sein könnten. Diese Position vertritt der
Indifferentismus in seinen unterschiedlichen Spielarten.
Er behauptet, dass Handlungen aus Freiheit – genauer: die
Maximen der Handlungen, welche sich in und durch die
Handlungen verwirklichen – nicht immer und nicht immer
notwendig das eine oder das andere sein müssen. Damit

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richtet sich dieser für Kant nicht nur gegen ein angemes-
senes Verständnis von Freiheit, sondern zugleich gegen
die eigene Vernunft – und stellt damit noch die – für Kant
gerade begonnene – Philosophie als Untersuchung der Ver-
nunftverfasstheit in Frage. Denn die Vernunft kann keine
Indifferenz kennen.
Wie kann es dann zu Indifferenz kommen? Für Kant han-
delt sich bei der Indifferenz nicht bloß um einen epistemo-
logischen Fehler. Ein solches Verständnis von Freiheit wird
nicht allein in mir und meinem Verständnis von Freiheit
generiert. Vielmehr, so hatte sich durch die Auseinander-
setzung mit Carl Christian Erhard Schmid gezeigt, regist-
riert der Kantianismus, dass es Ideologien der Freiheit, d. h.
(philosophisch-)theoretische Positionen gibt, die sich für
die Indifferenz aussprechen und damit Propaganda für pro-
blematische, weil sich gegen die Vernunft richtende Frei-
heitsmissverständnisse betreiben. Für Schmid (und Kant) –
d. h. aus Blick des rationalistischen Rigorismus – sind diese
philosophischen Positionen repräsentativer Ausdruck, eine
Repräsentation grundlegend falscher Freiheitsverständ-
nisse, an deren Grund wiederum sittlich problematische
(d. h. böse) Orientierungen stehen. Es gibt Ideologien fal-
scher Freiheit, die es aber zugleich – aus Freiheit – gibt, weil
an ihrem Ursprung – im grundlegenden Sinne – eine böse
Maxime, die böse ist, weil sie sich aus Freiheit gegen Frei-
heit richtet.
Solche Fehlrepräsentationen von Freiheit sind im star-
ken Sinne Ideologien der Freiheit, weil sie im Akt ihrer
Konstitution ihre eigene Falschheit verschleiern und ihre
Boshaftigkeit nicht als eine solche erscheinen lassen. Weil
sie nicht als partikulare Entscheidungen gegen Freiheit und
Vernunft erscheinen und weil sie sich als vernünftige Deu-
tungsmöglichkeiten von Freiheit repräsentieren – d. h. als
Verständnisse, die auf der scheinbar neutralen Behauptung
aufruhen, dass Freiheit auch eine indifferente und neut-
rale Bestimmung haben kann –, können diese Ideologien

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eine eigentümliche Evidenz entwickeln. Dies macht die
Ideologie der Freiheit allererst zur Ideologie – denn keine
Ideologie spricht sich selbst als bloße Ideologie an. Die
Selbstverschleierung der Entscheidung gegen die Freiheit
am Grund einer solchen Ideologie der Freiheit ermöglicht
allererst deren privativen Effekt. Die Kantische Philosophie
hat im Hinblick auf ihre Kritik und Abwehr der Indifferenz
und ihrer pseudo-philosophischen Repräsentanten gezeigt,
dass Philosophie einen ideologiekritischen Charakter an-
nehmen muss und zudem, dass der philosophische Rati-
onalismus seine Kontur grundlegend in Opposition zur
Ideologie der Freiheit – dies gilt bereits für Descartes – an-
nimmt: jedoch nun in einer Opposition, die sie innerhalb
der Philosophie wiederholt und die Philosophie konstitutiv
zu einem Kampfplatz macht.3 Jedoch blieb die Kantische
und Schmidsche Position darin beschränkt, dass sie – weil
Freiheit kein Bereich des Müssens, sondern des vernünfti-
gen Sollens ist – gegen die Ideologien der Freiheit letztlich
nur hat ins Feld führen können, dass Menschen sich nicht
als Tiere verstehen sollten. Ob dieses Sollen aber eine prak-
tische Kraft hat, hängt wiederum von der jeweiligen Ent-
scheidung aus Freiheit für oder gegen die Freiheit ab, auf
die die rationalistische Philosophie keinen Einfluss hat. Ist
die Indifferenz bei Descartes eine Frage der Epistemologie
der Freiheit, obgleich sie praktische Konsequenzen zeitigt,
so ist sie bei Kant und Schmid eine Frage der Moral.
Hegel hatte diese Diskussion erneut erweitert und rekon-
textualisiert. Er hat gezeigt, dass die Indifferenz der Philo-
sophie nicht bloß äußerlich ist – etwa als freie Entscheidung
gegen Freiheit, die dann innerhalb der Philosophie eine Re-

3 In gewisser Weise gilt also für den modernen philosophischen Rati­


onalismus zumindest zu einem entscheidenden Teil das, was Deleuze
einmal über Nietzsche bemerkt hat, nämlich, dass »[d]ie gesamte Philo­
sophie Nietzsches […] abstrakt und unverstanden [bleibt], solange nicht
ausgemacht ist, gegen wen sie sich richtet.« Gilles Deleuze, Nietzsche und
die Philosophie, Hamburg 2002, S. 13.

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präsentation findet –, sondern dass man zudem verschie-
dene Typen von Indifferenz unterscheiden muss, die von der
Philosophie selbst hervorgebracht werden: Einerseits gibt
es eine Indifferenz, die nach dem Modell des Cartesischen
Zweifels befreiend ist, andererseits gibt es eine Indifferenz,
die sich in der Philosophie gegen die Praxis der Philosophie
selbst richtet. Die zweite Indifferenz ist Indifferenz gegen
die Indifferenz als Befreiung, die die Philosophie generieren
kann. Dieser Typ ontischer Indifferenz beruht weiterhin auf
einem Verständnis von Freiheit, das annimmt, man habe die
Freiheit – als Vermögen – im eigenen Besitz. Aber sie rich-
tet sich nicht nur gegen ein angemessenes Verständnis von
Freiheit – das in ihrer Verwirklichung und nicht in ihrer Ge-
gebenheitsannahme besteht –, sondern letztlich noch gegen
die Befreiung von diesem Verständnis, das die Philosophie
für Hegel hervorbringen kann. Es ist eine Indifferenz gegen
die eigene Befreiung von falschen Verständnissen und von
der Herrschaft unwirklicher Freiheit. Es gibt so bei Hegel
ein Verständnis von Freiheit – die ontische Indifferenz –,
das sich nicht von falschen Verständnissen von Freiheit
befreien lassen will. Eine Freiheit gegen die Befreiung von
falscher Freiheit. Das Freiheitsverständnis, auf das diese In-
differenz sich beruft, stellt »eine bloß gemeinte Freiheit«4
dar und diese bloße Meinung von Freiheit, diese gemeinte,
aber nicht gedachte oder praktizierte Freiheit führt in der
Konsequenz dazu, dass menschliche Wesen sich – sowohl
theoretisch als auch praktisch – heteronom bestimmen las-
sen. Bloß gemeinte Freiheit führt in Unfreiheit.
Mit Hegel hat sich so genauer bestimmen lassen, wie es
zu denken ist, dass menschliche Wesen überhaupt in he-
teronome Bestimmtheit geraten können und inwiefern
dies zum Verlust von Geschichtsbewusstsein und einer ei-
gentümlichen Objektifizierung führt. Es gibt einen Willen

4 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, in: ders., Werke, Bd. 13,
Frankfurt am Main 1986, S. 154.

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gegen die Befreiung, einen Willen zur (ontischen) Indiffe-
renz, der sich noch gegen jeden Versuch richtet, wahrhaft –
d. i. von mythischen Gegebenheitsannahmen befreit – (in
und mit der Philosophie) Freiheit zu denken. Diese Hal-
tung kann zumindest zum Teil – wie schon bei Kant und
Schmid – ein Produkt noch der (problematischen Form von)
Philosophie sein; sie kann aber auch ein Produkt geschicht-
licher Veränderungen sein, das sich noch von der Philoso-
phie, von den Ideologen der Freiheit in problematischer
Weise verhärtet findet. Es gibt so für Hegel nicht nur die
Behauptung der Möglichkeit von Indifferenz in der Philoso-
phie – als Ausdruck eines bösen Willens –, sondern zudem
einen bestimmten Typ von Philosophie, der nicht nicht In-
differenz hervorrufen kann. Anders gesagt, mit Hegel be-
trifft die Ideologiekritik, die konstitutiv mit dem modernen
Rationalismus verbunden ist, die Philosophie als Denken
der Freiheit selbst. Die Philosophie ist kein neutraler Raum,
sondern bleibt Kampfplatz. Hegel radikalisiert so Kant, der
sein Projekt als Schlichtung der endlosen Streitigkeiten ver-
standen hatte, indem er zeigt, dass es einen Klassenkampf
in der Philosophie gibt und dieser noch die Ontologie, die
Seinsweise von Freiheit betrifft.
Descartes hatte den Ursprung der Identifikation von Frei-
heit mit einem Vermögen als einen epistemologischen Fehler
beschrieben; Kant hatte ihn als moralische Entscheidung für
das Unmoralische, die noch ihren eigenen Entscheidungs-
charakter verschleiert, und so als vernunftwidrig charak-
terisiert. Hegel hat nun den Fokus der Untersuchung auf
den geschichtlich spezifischen Modus der Ontologie und
Verwirklichung problematischer Freiheitsverständnisse ge-
legt und die rückschlagenden und desaströsen Effekte der-
selben beschrieben, womit noch die Philosophie selbst zum
Terrain der Ideologiekritik zu werden hat.5 Die desaströsen

5 Lacan wird später dafür argumentieren, dass es eine Analyse noch der
psychoanalytischen Gemeinschaft geben müsse – was augenscheinlich zu

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Effekte der Ideologie der Freiheit, die sich als Indifferenz
zeigen, stellen sich nicht nur dann ein, wenn es ein falsches
Verständnis von Autonomie gibt, sondern zudem auch ein
falsches Verständnis von Heteronomie, von dem, was es
heißt, sich bestimmen zu lassen. Dies führt zu einem Miss-
verständnis, einer Missrepräsentation der eigenen Natur,
deren Konsequenzen sich buchstäblich gegen die freien
menschlichen Wesen selbst richten und eine eigentümliche
Regression von Freiheit zu Heteronomie und Zwang in der
Praxis wirklich werden lassen. Doch mit Hegel endet die
Geschichte der philosophischen Kritik an der Ideologie der
Freiheit nicht.6
Nach Hegel wird Kierkegaard beklagen, dass die ganze
»äußere und sichtbare Welt« »unter dem Gesetz der Gleich-
gültigkeit [frönt]«:7 alles gehört den bloß äußerlich Besit-
zenden. Dabei ist gleichgültig, ob diese ein Werk vollbrin-
gen oder vollbracht haben – und arbeiten – oder nicht. Ihr
materielles Vermögen allein macht sie in dieser Welt zu Be-
sitzern, sogar zu Besitzern der Freiheit, die alles das zu tun
vermögen, was sie tun wollen. Das eigentliche Problem mit
dieser stetig weiter um sich greifenden Indifferenz scheint
für Kierkegaard dort auf, wo die Besitzenden zugleich in
scheinbarer Demut bekunden, dass der äußere Besitz nicht
alles sei und es Dinge gibt, die wichtiger sind (spiritueller
Reichtum etwa). Das Problematische an einer solchen Be-
kundung besteht darin, dass sie praktisch folgenlos bleibt
oder zumindest bleiben kann – kein Besitzender entsagt in

der Schwierigkeit führt, dass diese nicht einfach von einem vorgegebenen
normativen Grund, etwa Freuds Lehre, getan werden könnte –, Hegel
antizipiert genau diesen Gedanken.
6 Obgleich die nachstehenden Denker nicht ohne Weiteres in die
Geschichte des modernen philosophischen Rationalismus zu gehören
scheinen, so behaupten sie doch alle in je unterschiedlicher Weise eine
Vernünftigkeit der Freiheit, die ich hier als Ausgangspunkt für die
folgende kurze Zusammenstellung nutze.
7 Sören Kierkegaard, Furcht und Zittern. Dialektische Lyrik, Erlangen
1882, S. 17.

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der Folge seinem Besitz oder ändert sein Leben und beginnt
mit einer anderen Form von Arbeit, sondern fühlt sich be-
reits ausreichend demütig in und durch die bloße Bekun-
dung, dass noch anderes zählt. Man kann sich aber leicht,
so Kierkegaard, mit dem Wissen befrieden und arrangieren,
dass es Wichtigeres gibt als Besitz, solange man besitzt. Ge-
nauer, man fühlt sich umso besser mit dem, was man hat,
wenn man beständig darauf verweist, was man nicht hat;
auf eine andere Welt, die die des Geistes oder auch Gottes
sein kann.
Das Wissen um die andere Welt bleibt bloß abstraktes
Wissen, ohne praktische Effekte. Man weiß, dass es auch
ein geistiges und nicht nur ein äußeres Leben gibt und ge-
steht umso lieber zu, als man damit vorgibt, mehr als nur
ein bloß äußeres Leben zu führen, obgleich man genau nur
dieses führt. Letztlich will ein solches »Wissen… in die Welt
des Geistes vermessen dasselbe Gesetz der Gleichgültigkeit
einführen«8 – wir sollen von einer anderen Welt, von einem
potenziellen Anderssein der Welt wissen und vor dieser de-
mütig das Knie beugen, aber da dieses Wissen leer bleibt
und keine praktischen Konsequenzen zeitigt, lässt es uns
zugleich gleichgültig. Kierkegaard pointiert so, dass es ein
Wissen davon geben kann, dass es mit einer Freiheit, die
nur auf dem aufruht, was man hat, nicht weit her ist – aber
es ist gerade das Eingeständnis eines solchen Wissens, das
zur gleichen Zeit ermöglicht, so weiter zu machen wie zuvor.
Es ist als würde man sagen: »Ich weiß sehr wohl, dass Frei-
heit als Vermögen nicht wirklich Freiheit ist, aber dennoch
handele und denke ich so als sei sie es.« Ein solches Wissen
bleibt dann nicht nur für unsere eigene Praxis gleichgültig,
vielmehr macht es noch die Sphäre des Glaubens zu einer
praktisch gleichgültigen Sphäre und führt zu einer eigen-
tümlichen Apologie der bestehenden Verhältnisse. So for-
muliert Kierkegaard eine Konsequenz, die bereits Hegel

8 Ebd.

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einmal als »weitgreifende, beinahe universelle Gleichgültig-
keit gegen sonst für wesentlich gehaltene Glaubenslehren«9
bezeichnet hatte.
Nach Hegel wird auch der große Anti-Hegelianer Scho-
penhauer, und darin zunächst ganz Kantisch, den Willen
so bestimmen, dass dieser in keiner Weise indifferent sein
kann, sondern entweder das Leben bejaht oder verneint.
Und er wird aus diesem Grund in seiner »Preisschrift über
die Freiheit des Willens« gerade die Bestimmung des freien
Willens als liberum arbitrium indifferentiae, als Freiheit, sich
in gleichgültiger Weise arbiträr zu entscheiden, als ein Stück
unhaltbarer Metaphysik angreifen und zurückweisen. Diese
Metaphysik der Freiheit ist aber, wie Schopenhauer ein-
sieht, zugleich nicht einfach aus der Welt zu räumen, weil
sie jedem beliebigen menschlichen Wesen natürlich und
d. h. spontan zukommt – also eine spontane Ideologie der
Freiheit darstellt, die in die Natur des menschlichen Geis-
tes eingelassen ist. »Das Selbstbewußtseyn eines Jeden sagt
sehr deutlich aus, daß er thun kann was er will. Da nun auch
ganz entgegengesetzte Handlungen als von ihm gewollt ge-
dacht werden können; so folgt allerdings, daß er Entgegen-
gesetztes thun kann, wenn er will.«10 Die spontane Ideologie
der Freiheit entspringt für Schopenhauer aus einem wirk-
mächtigen Irrtum: nämlich aus der Annahme eines jedem
Menschen gegebenen freien und als solchen gleichgültigen
Willens. Dabei handelt es sich um eine Verwechslung von
Ursache und Folge, die so wirkmächtig ist, dass sich noch
die ganze Geschichte der Philosophie für Schopenhauer in

9 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, S. 45.


10 Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Freiheit des Willens,
Hamburg 1978, S. 57. Nietzsche wird die Annahme, »den Glauben an
das indifferente wahlfreie Subjekt« einer bestimmten »Art Mensch«
zuschreiben, nämlich derjenigen, die es nicht aushält, die Verantwortung
für die eigene Entscheidung zu übernehmen. Vgl. Friedrich Nietzsche,
Zur Genealogie der Moral, in: Kritische Studienausgabe, Band 4, München
1999, S. 280.

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zwei Teile gespalten findet. Auf der einen Seite stehen die,
die die Willensfreiheit – also die Ideologie der Freiheit – ver-
teidigen und auf der anderen Seite jene eigentlichen Philo-
sophen, die diese zurückweisen. Nicht nur die Philosophie
ist Kampfplatz, ihre Geschichte ist damit eine Geschichte
von Freiheitskämpfen, von Kämpfen um Freiheit.
Nach Hegel geht auch sein wohl wirkmächtigster Schü-
ler, Karl Marx, das Problem der Indifferenz wieder an. Es ist
instruktiv, abschließend diese Marxsche Wiederaufnahme
ein wenig ausführlicher zu kommentieren. Schon der frühe
Marx macht die weitreichende Beobachtung, dass »die Nati-
onalökonomie den Arbeiter nur als Arbeitstier, als ein auf die
striktesten Leibesbedürfnisse reduziertes Vieh [kennt].«11
Er nimmt so explizit die regressiven Effekte in den Blick,
die ein bestimmtes Verständnis von Freiheit praktisch nach
sich zieht. Marx behauptet also, dass ein besonderes Gesell-
schaftssystem, nämlich der Kapitalismus, so organisiert ist,
dass es zu einer umfassenden und zugleich eigentümlichen
Animalisierung der Arbeiter (und d. h. zumindest potenzi-
ell aller Gesellschaftsmitglieder) kommt. Später hat Alain
Badiou dieser These eine neue Formulierung gegeben und
behauptet, dass der Kapitalismus »das Regime ist, das die
Idee verabsolutiert, dass der Mensch ein Tier ist«,12 also
überhaupt nur so zu funktionieren im Stande ist, wie er
funktioniert, weil er beständig die eigentümlichen Regres-
sionen – und eben nicht bloß Repressionen – hervorbringt,
denen Marxens Satz eine pointierte Fassung gibt. Der Ka-
pitalismus ist eine Ideologie der Freiheit.
Marx’ Diagnose ist komplexer, als sie auf den ersten Blick
scheinen mag. Denn die Reduktion, die den Kapitalismus
auszeichnet, ist nicht nur regressiv (der Kapitalismus be-
handelt Menschen als wären diese Tiere), sondern produk-
11 MÖPM, S. 476.
12 Alain Badiou / Frank Ruda / Jan Völker, »Wir müssen das affirmative
Begehren hüten«, in: Alain Badiou, Dritter Entwurf eines Manifests für den
Affirmationismus, Berlin 2009, S. 56.

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tiv. Die reduktive und reduzierende Operation produziert
genau die Natur, auf die sie den Arbeiter reduziert, und
zwar im Akt der Reduktion. D. h. dass es für Marx nicht
einfach Menschen gibt, die bloß deswegen in tierischer
Weise leben, weil ihnen die materiellen Mittel fehlen, um
distinguierter zu sein. Es meint vielmehr, dass die Animali-
tät, das Tierische, auf das die Menschen reduziert werden,
selbst Produkt der bestehenden Verhältnisse ist, d. h. selbst
als wesentlicher Teil der Abstraktionsprozesse verstanden
werden muss, die den Kapitalismus zu dem machen, was er
ist. Anders gesagt: der Kapitalismus bringt ein spezifisches
Verständnis des Menschen als einem Tier hervor, auf das
er den Menschen dann durch die Organisation der Gesell-
schaft und ihre Abläufe bringt.13 Es handelt sich also nicht
um eine evolutionäre Regression, sondern um ein regressi-
ves gesellschaftliches Produkt.
Zugleich gilt aber auch, dass dieses Verständnis dem
Menschen nicht äußerlich ist und bleibt, sondern vielmehr
Teil seines Selbstverständnisses wird. Menschen, so Marx
These, beginnen sich aufgrund der materiellen Bedingun-
gen, in denen sie leben, und aufgrund der vorherrschenden
imaginären Repräsentation eben dieser Bedingungen mit
einer hoch abstrakten Entität, dem auf seine striktesten
Leibesbedürfnisse reduzierten Vieh zu identifizieren. Die-
ses Tier ist nicht einfach die körperliche Verfasstheit des
Menschen, sondern vielmehr ein Produkt von Abstrakti-
onsprozessen. Es handelt sich um ein abstraktes, um ein
künstlich hervorgebrachtes, d. h. um ein unnatürliches
Tier. Dieses Tier wird so zur Repräsentation des Wesens
des Menschen, das der Arbeiter ist. Der Mensch, der der
Arbeiter ist, wird zu einem Tier, das schon deswegen künst-
lich ist, so Marx, weil für es nichts anderes als sein Körper

13 Ausführlicher analysiere ich diese Operation der Reduktion in: Frank


Ruda, »Marx in the Cave«, in: Slavoj Žižek, Frank Ruda, Agon Hamza,
Reading Marx, London 2018, S. 62–100.

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zählt. Freiheit wird auf diese Weise zu einem Vermögen des
Körpers gemacht. Kurz gesagt, Marx’ These ist, dass der
Arbeiter im Blick der Ökonomie das ist, was er aus deren
Perspektive hat und was er hat, ist sein Körper.14
Was das freie Wesen, das der Mensch sein soll, ausmacht,
ist eine Identität von Sein und Haben und genau diese ist
es, die für Marx das eigentümliche Tier, das er ebenfalls sein
soll, bestimmt: Denn das Tier »ist unmittelbar eins mit sei-
ner Lebenstätigkeit. Es ist sie.«15 Weswegen »[a]n die Stelle
aller physischen und geistigen Sinne […] der Sinn des Ha-
bens getreten«16 ist. Wesentlich ist der Arbeiter über und
durch das bestimmt, was er hat. Wenn aber Freiheit ein we-
sentliches Merkmal auch des Arbeiters (qua menschlichem
Wesen) sein soll, wird diese mit dem identifiziert, was der
Arbeiter hat: mit dem Körper. Auf diese Weise wird Frei-
heit nicht nur mit einer Gegebenheit identifiziert, sondern
mit der Gegebenheit des Körpers und der der körperlichen
Vermögen. Jedoch gilt es in Rechnung zu stellen, dass nicht
nur das Tier, auf das der Arbeiter reduziert wird, ein abs-
traktes Produkt bestehender Verhältnisse ist, sondern da-
mit auch noch der scheinbar konkrete individuelle Körper
nichts anderes als Teil dieser Hervorbringung. Der Körper,
auf den die bürgerlichen Ökonomen den Arbeiter reduzie-
ren, ist selbst Produkt einer abstrahierenden Reduktion,
er ist bloßes, reduziertes und dennoch zugleich in dieser
Reduziertheit produziertes Leben. Produktion künstlicher
Natur, Naturalisierung von abstrakter Produktion.
Marx fasst das so, dass er statuiert, es gäbe für den Ar-
14 Badiou hat auch diesen Gedanken re-aktualisiert, indem er festge­
stellt hat, dass »[u]m die Gleichung Existenz = Individuum = Körper zu
validieren, die gegenwärtige doxa die Menschheit entschlossen auf eine
überspannte Vision der Animalität reduzieren [muss].« Alain Badiou,
Logiken der Welten. Das Sein und das Ereignis 2, Zürich / Berlin 2010, S. 18.
Übersetzung leicht modifiziert.
15 MÖPM, S. 516.
16 Ebd., S. 540. Marx nennt diesen eigentümlichen Austausch das
Hervorbringen »absolute[r] Armut«.

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beiter, d. h. potenziell für jeden innerhalb des Kapitalismus,
keinen eigentlichen Zweck seines Lebens mehr. Kein Zweck
»existiert mehr, nicht nur nicht in seiner menschlichen
Weise, sondern in einer unmenschlichen, darum selbst nicht
einmal tierischen Weise.«17 Für Marx ist der Arbeiter ein
Tier, das noch seiner Animalität beraubt ist. Das führt dazu,
dass »[d]as Tierische […] das Menschliche und das Mensch-
liche das Tierische«18 wird: Wenn der Arbeiter arbeitet,
fühlt er sich unfrei, aber er fühlt sich frei, wenn er in seiner
Freizeit isst, trinkt oder sich fortpflanzt. Innerhalb dieses
Modells der Freiheit – einer Freiheit, die in den flüchtigen
und indifferenten Instanziierungen seiner Körperfunkti-
onen besteht, – hat der Arbeiter das Gefühl und den Ein-
druck, dass sich Freiheit nur im ›Jetzt‹ seiner körperlichen
Funktionen verwirklichen lässt. Das impliziert, dass sobald
das ›Jetzt‹ (der Freizeit, des erhofften Wochenendes oder
des ersehnten Schlafs, etc.) vorbei ist, er aufhört, frei zu
sein (und wieder arbeiten muss). Weil aber strukturell jede
dieser ›Jetzt‹-Instanzen schon immer bereits in eine andere
›Jetzt‹-Instanz übergegangen ist, ist für den Arbeiter die
Freiheit immer bereits vergangen und was ist, ist so nur
ein permanent verschwindender Aufschub der Wiederauf-
nahme der Arbeit, die für ihn Unfreiheit bedeutet.
Im Kapital untersucht Marx Wert produzierende Arbeit in
ihrer elementarsten Form (als bloße menschliche Arbeit) als
»Verausgabung einfacher Arbeitskraft, die im Durchschnitt
jeder gewöhnliche Mensch, ohne besondere Entwicklung,
in seinem leiblichen Organismus besitzt.«19 Die politische
Ökonomie nimmt an, dass der Arbeiter in Besitz seiner je
besonderen körperlichen Funktionen ist – dort liegt seine
Freiheit – und diese als Vorbedingung der Arbeit im Allge-
meinen angesehen werden können – als eine Form ihrer

17 MÖPM, S. 548.
18 Ebd., S. 514 f.
19 MK1, S. 59.

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Verwirklichung. In ihnen liegt dann das, was der Arbeiter
bei der Arbeit einsetzt. Was auf diese Weise naturalisiert
wird, ist die Idee, dass, wann auch immer es eine besondere
Funktion des tierischen Körpers des Arbeiters gibt, ›der Ar-
beiter‹ der Name für dasjenige Wesen ist, dass diese Funk-
tionen hat und als Eigentümer dieser Funktionen identifi-
ziert werden kann. Der Körper kann nun in indifferenter
Weise zu allem Möglichen benutzt werden. Der Arbeiter
wird in reduzierender Weise als tierischer Körper bestimmt
und die Freiheit des Arbeiters wird so zu einem gegebenen
Vermögen des Körpers. Einem Vermögen, das in gleichgül-
tiger Weise verwirklicht werden kann. Die Wahrheit der Be-
stimmung der Freiheit als Indifferenz zeigt sich bei Marx so
zudem als naturalisierende Reduktion des angenommenen
Subjekts der Freiheit auf seinen Körper, der aber zugleich in
all seiner Bestimmtheit ebenfalls ein reduktives Abstrakti-
onsprodukt der bürgerlichen Ökonomie ist.
Diese eigentümliche »downward synthesis«20 ist Effekt
der gesellschaftlichen Organisation des spezifischen Frei-
heitsverständnisses, die das Bürgertum und ihre kapitalis-
tische Weltökonomie einsetzt. So ermöglicht diese immens
verkürzte Skizze der Marxschen Perspektive die These zu
wagen, dass die beständigen Freiheitsmissverständnisse,
die in der modernen Philosophie unter dem Begriff der
Indifferenz registriert, diagnostiziert und analysiert wer-
den, sich nicht angemessen verstehen lassen, wenn man
sie nicht auch in Verbindung mit der geschichtlich spezifi-
schen, politischen und ökonomischen Organisation der Ge-
sellschaft, in der die Philosophie eingebettet ist, zusammen
liest. Oder um es hier nicht als Desiderat, sondern positiv zu
fassen: wenn die moderne rationalistische Philosophie we-
sentlich Ideologiekritik der Ideologie der Freiheit ist, dann
ist ein wesentlicher Bestandteil der Philosophie Kritik des
Kapitals, Kritik des Kapitalismus und der ihm spezfischen

20 ZLN, S. 108.

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Ausformungen der Freiheit.21 Aber eine bloß kritische Pers-
pektive ist nicht ausreichend, wie bereits Descartes wusste.
Es bedarf zudem eines Schritts aus der notwendigen Kri-
tik heraus und zur Überwindung des Kritisierten. Wie geht
man also um mit der Kritik der Indifferenz als Kritik der
Idelogie der Freiheit? Was folgt aus ihr?
Diese Frage stellt sich umso dringlicher, wenn sich mit
Hegel bemerken lässt, dass das menschliche Wesen ein
nicht bloß körperliches, sondern auch ein geistiges Wesen
ist und das »Leben des Geistes« darin besteht, dass er »seine
Wahrheit nur« gewinnt, »indem er in der absoluten Zeris-
senheit sich selbst findet«.22 Wie kann man man mit den ei-
gentümlichen Effekten der Ideologie der Freiheit umgehen
oder sie um-gehen, sie hinter sich lassen oder zumindest
damit beginnen? Marx hatte bemerkt, dass die Klasse, wel-
che die Gesellschaft so einrichtet, wie wir sie kennen, näm-
lich die Bourgeoisie, ein beständiges Interesse daran hat, die
gesellschaftlichen Verhältnisse »fortwährend zu revolutio-
nieren«, genauer: »Die Bourgeoisie kann nicht existieren«,
ohne diese beständige Revolutionierung. So scheint dieser
Klasse selbst »eine höchste revolutionäre Rolle«, nämlich
die eines beständigen Modernisierers zuzukommen, indem
und weil sie »[a]lles Ständische und Stehende verdampft«
und einen Prozess beständig weiter vorantreibt, dessen Pro-
dukt eine »zersplitterte Masse«23 von selbst Zersplitterten
ist. Aber obgleich man es hier mit einer beständigen Mo-
dernisierungsbewegung zu tun hat, trügt der Schein. Denn
»mit dieser Gesellschaftsformation« – der bürgerlich-kapi-
talistischen Gesellschaft – »schließt«, wie Marx ebenfalls

21 Dieser Gedanke wird u. a. Lenin dazu führen, noch die Demokratie


als Regierungsform abzulehnen. In dieser gibt es zwar mehr Freiheit als
in einer Monarchie, aber zugleich taucht in ihr das Problem auf, dass die
demokratische Freiheit leicht für bereits wirkliche Freiheit gehalten wird.
22 HPHÄ, S. 36.
23 Alle folgenden Zitate stammen aus: Marx / Friedrich Engels, Manifest
der Kommunistischen Partei, S. 471, S. 464, S. 465, S. 470.

Ausblick – auf einen anderen Typ von Indifferenz 223

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nachdrücklich festgehalten hat, »die Vorgeschichte der
menschlichen Gesellschaft ab.«24 Dass man es bei dieser
Gesellschaftsformation mit einer vorgeschichtlichen zu
tun hat, zeigt, dass – zumindest für Marx – der Schritt,
den bereits Descartes als Schritt in die Moderne und ge-
gen das vormoderne Verständnis von Freiheit, der Schritt,
den Kant versucht hat, zu wiederholen und dessen Vorbe-
dingungen ich im letzten Kapitel mit Hegel markiert habe,
noch zu tun ist.
Die Moderne ist in diesem Sinne kein unvollendetes Pro-
jekt, sondern eines, das bisher noch nicht wirklich konse-
quent begonnen wurde. Oder genauer: Es bedeutet auch,
dass man es bei den Modernisierungen, welche die Bour-
geoisie über die von ihr organisierte Gesellschaft bringt,
um einen eigentümlichen Modus der Modernisierung dem
Anschein nach, d. h. lediglich um scheinbare Modernisie-
rung handelt. Scheinbar ist diese Modernisierung, weil in
der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zwar eine Ver-
flüssigung und Dynamisierung aller vormals festen Bestim-
mungen statt hat, aber diese beständige Veränderung nur
dazu da ist, um strukturell nichts wirklich zu verändern.
Es ist eine Veränderung ohne Veränderung, eine Transfor-
mation, die alles transformiert, außer das, was wirkliche
Transformation ermöglicht. Oder genauer: die festgefahren
ist, auf einen Modus der Veränderung und deswegen nichts
verändert; denn Veränderung, die nicht verändert, was Ver-
änderung bedeutet, ist keine.
Beständige, überall gleich-gültige Veränderung wird so
zu einem Mittel, um alles beim Alten zu belassen. Das be-
deutet aber auch, dass die Vorgeschichte, welche in der bür-
gerlichen-kapitalistischen Gesellschaftsorganisation und
ihrer politischen Ökonomie ihre maximalste und letzte
Erscheinungsform erreicht, eine beständig vormodern –

24 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 13,
Berlin 1971, S. 3–160, hier: S. 8.

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im Sinne Descartes’ – bleibende Gesellschaft beschreibt.25
Oder noch einmal anders formuliert: Mit der scheinbaren
Modernisierungsbewegung der bürgerlichen Gesellschaft
wird – und zwar im gleichen Zug – immer wieder eine Vor-
moderne – die Vormoderne, der Mythos der Gegebenheit
der Freiheit – produziert. Für Marx gilt: Vorgeschichtliche
Veränderung ist nicht wirklich Veränderung, da wirkliche
Veränderung sich nur geschichtlich denken lässt und die
Reduktion des Menschen zum Tier, wie schon bei Hegel,
wirkliche geschichtliche Bewegung aussetzt. Der Schritt
von der Vorgeschichte zur wirklichen Geschichte ist ein
Schritt, der den Modus von Veränderung notwendig ver-
ändern muss. Marx’ Name dafür, zumindest eine Zeit lang,
ist Revolution.
Die Vorgeschichte beschreibt bei Marx einen spezifi-
schen Typus der indifferenten Vormoderne und der Vor-
moderne der Indifferenz, die sich beständig modifiziert und
transformiert, um die gleiche zu bleiben – und die in ihrer
Gestalt bereits selbst ein Produkt der (kapitalistischen) Mo-
derne oder Modernisierung ist. Aus seiner Perspektive ist
die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsorganisation die
Antwort darauf, wieso es beständig zu einem Rückfall in die
oder zu einem Beharren der Vormoderne kommt, obgleich
die moderne Philosophie den Schritt gegen das vormoderne
Freiheitsverständnis bereits seit Jahrhunderten getan hat
oder zumindest versucht hat zu tun.26 Die bürgerlich-­

25 Denn mit der Moderne beginnt im starken Sinne das Nachdenken


über Geschichtlichkeit qua Geschichtlichkeit, so dass mit dem Übergang
von Vormoderne in Moderne genau der Übergang von Vorgeschichte zu
Geschichte beschrieben ist. Hilfreich zu diesem Zusammenhang sind die
Überlegungen in: Fredric Jameson, Mythen der Moderne, Berlin 2004.
26 Aus der Warte der hier angebotenen Lesart muss man nicht, wie der
klassische und orthodoxe Marxismus dies getan hat, Descartes’ philo­
sophisches Unternehmen als Ausdruck des beginnenden bürgerlich-
kapitalistischen Projekts begreifen, sondern kann, wie ich versuche zu
zeigen, vielmehr eine verbindende Linie zwischen Descartes’ Kritik der
Indifferenz und Marx’ Kritik der bürgerlichen politischen Ökonomie

Ausblick – auf einen anderen Typ von Indifferenz 225

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kapitalistische politische Ökonomie und ihre Einrichtung
der Welt ist so eine unendlich und vielfältig reduktiv (und
eigentümlich regressiv) wirksame Indifferenz-Ideologie.27
Wenn es aber bedeutet, dass die moderne bürgerliche Gesell-
schaft strukturell vormodern (weil vorgeschichtlich) ist, wie
lassen sich die Bedingungen spezifizieren, derer es bedarf,
um den Schritt in die Moderne zu tun? Wie entkommt man
dieser eigenartigen »gespenstischen Gegenständlichkeit«,28
die Marx nicht nur der Elementarform der politischen
Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft, der Ware, zuge-
schrieben hat, sondern die man mit Marx ebenso der in der
Persistenz der Vormoderne und Vorgeschichte, kurz: in der
Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft selbst am Werk
sehen kann? Wie entkommt man der gespenstischen Ge-
genständlichkeit der Vorgeschichte und ihrem Modell der
Freiheit als Indifferenz?
Die Beschreibungen und Analysen gewinnen an Drastik
und Intensität. Vielleicht gilt es daher nüchtern nach einem
möglichen Ausweg zu fragen und diese Frage an die nüch-
terne Philosophie des modernen Rationalismus zu richten.
Die Antwort wird die moderne Philosophie ab Descartes
ebenfalls geben und sie wird auf den ersten Blick eine über-
raschende sein. Denn sie führt zunächst nicht zu dem, was
man erwarten könnte – etwa zu einer korrigierenden und
direkten Verteidigung eines positiven Verständnisses von
Freiheit gegen die falschen Deutungen der Freiheit als ei-
nes Vermögens und ihrer Wirkungen. Die Antwort wird
darin vielmehr so ausfallen, dass Freiheit nur dann (als)

etablieren. Für eine einflussreiche klassische Lesart: Franz Borkenau,


Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, Darmstadt 1976,
S. 268 ff.
27 Einer ihrer Aspekte, nämlich der der Bürokratie, findet sich in eher
sozialgeschichtlicher Weise, untersucht in: Michael Herzfeld, The Produc-
tion of Indifference. Exploring the Symbolic Roots of Western Bureaucracy,
Chicago / London 1992.
28 MK1, S. 52.

226 Ausblick – auf einen anderen Typ von Indifferenz

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wirklich gedacht und wirklich gemacht werden kann, wenn
Freiheit, d. h. die Gegebenheit der Freiheit, selbst aufs Spiel
gesetzt wird. Es gilt den Schritt von der ontischen zur onto-
logischen Indifferenz zu tun. Denn nur durch die Annahme
letzterer, wird deutlich, dass es – wenn es um die Freiheit
geht – nichts gibt, an das man sich halten, auf das man sich
berufen, oder das man bereits als sein Vermögen ansehen
kann.
Alain Badiou hat einmal davon gesprochen, dass es
Heideggers zu Beginn erwähnte Analyse der Indifferenz
als Symptom und Ausdruck des Nihilismus (d. h. der Vor-
herrschaft der Technik) zu erweitern gilt, um das, was er
einen »marxistischen Begriff der Indifferenz«29 nennt, der
die Bewegung des allgemeinen Äquivalents, des Geldes als
Wertausdruck, und die damit verbundene allgemeine Wa-
renindifferenz in Rechnung stellt. Und er hat zudem gel-
tend gemacht, dass es nicht nur in unserer Zeit deswegen
weiterhin etwas Indifferentes gibt, sondern dass es, um sich
dessen Bewegung nicht hilflos auszuliefern, den Begriff der
Indifferenz zu spalten gilt.30 Während auf der einen Seite
eine Indifferenz alle Hierarchien und Kategorien ins Wanken
bringt und somit Ausdruck einer Vergessenheit von Differenz
ist, steht auf der anderen Seite eine Indifferenz, die vom allge-
meinen Äquivalent und dessen Bewegung abgezogen ist, eine
Indifferenz, die noch die Unterscheidung von Differenz(iertheit)
und Indifferenz(iertheit) unterläuft.31 Während die erste In-
differenz, die ich im Vorherigen als Ideologie der Freiheit
bestimmt habe, dazu führt, dass es letztlich keine Welt,
sondern nur eine allumgreifende Umwelt gibt – »und wenn
es keine Welt gibt, gibt es nur die Natur«,32 was wiederum
auch bedeutet, dass man genau deswegen das »bestialische

29 Badiou, Le séminaire: Heidegger, S. 61.


30 Ebd., S. 63 f.
31 Ebd., S. 80 f.
32 Alain Badiou, Le séminaire: Images du temps présent. 2001–2004, Paris
2014, S. 105.

Ausblick – auf einen anderen Typ von Indifferenz 227

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Herz«, die wesentliche Tierheit des Menschen behaupten
kann33 –, ist es gerade die zweite Form der Indifferenz, die
ich ontologische Indifferenz nenne und die in einer an das
vorliegende Buch anschließenden Studie mit den Begriffen
Fatalismus und Komik verbunden wird, die hier einen Aus-
weg anzuzeigen vermag: eine möglich-unmögliche Rettung
der Freiheit durch deren Abschaffung als Gegebenheit.34
Das Ende kann an dieser Stelle so nur mit dem Ausblick
auf eine anstehende Wiederholung gemacht werden: Ein
erneuter Durchgang durch die Geschichte des modernen
philosophischen Rationalismus ist notwendig, der eine
wirklich theoretisch-praktische Orientierung bereitstellen
wird, die sich gegen jede Form der Freiheit richtet, die schon
allein deswegen einfach zu haben wäre, weil man sie immer
schon zu haben meint. Der Kampf gegen die Ideologie der
Freiheit muss in die nächste Runde gehen.

33 Ebd, S. 107.
34 Frank Ruda, Gegen-Freiheit. Komik und Fatalismus, Konstanz 2018 (im
Erscheinen).

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