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Sartre liest Kant - Phänomenologie der Transzendentalphilosophie und des

transzendentalen Scheins
"Man muß Kant zugeben, daß 'das *Ich denke* alle meine Vorstellungen *muß begleiten
können*'. Muß man aber daraus den Schluß ziehen, daß *tatsächlich* ein Ich alle
unsere Bewußtseinszustände begleitet und wirklich die oberste Synthese unserer
Erfahrung tätigt? Das hieße doch wohl, dem Kantischen Gedanken Gewalt antun. Weil
das Problem der Kritik ein Geltungsproblem ist, behauptet Kant gar nichts im
Hinblick auf die faktische Existenz des *Ich denke*.
Er scheint ganz im Gegensatz dazu sogar vollkommen klar gesehen zu haben, daß es
Bewußtseinsmomente ohne 'Ich' gibt, weil er die Formulierung wählt '*muß* begleiten
*können*'. Es geht ja denn auch in Wahrheit darum, die Möglichkeitsbedingungen der
Erfahrung zu bestimmen. Eine dieser Bedingungen ist die, daß ich meine
Wahrnehmungen wie meine Gedanken jederzeit als die *meinigen* denken kann: das ist
alles.
Es gibt nun aber eine gefährliche Tendenz in der Gegenwartsphilosophie [...], die
darin besteht, die von der Kritik eruierten Möglichkeitsbedingungen *als reale
Größen aufzufassen*. Diese Tendenz führt manche Autoren beispielsweise dazu, sich
die Frage zu stellen, was das 'transzendentale Bewußtsein' denn wohl *sein* könne.
Wenn man sich die Frage so stellt, ist man natürlich gezwungen. dieses Bewußtsein -
das unser empirisches Bewußtsein konstituiert - als etwas Unbewußtes zu begreifen.
Aber [...] Kant hat sich niemals mit der Art und Weise beschäftigt, in der das
empirische Bewußtsein *faktisch* konstituiert wird, er hat es in keiner Weise in
Form eines neuplatonischen Emanationsprozesses aus einem höheren Bewußtsein, einem
konstitutiven Überbewußtsein deduziert.
Das transzendentale Bewußtsein ist für ihn nur das Ganze der zur Existenz eines
empirischen Bewußtseins notwendigen Bedingungen. Folglich urteilt man über ein
*Faktum* und nicht über einen Rechtsanspruch, wenn man das transzendentale Ich zu
einem *Realseienden umdeutet* [...] und das wiederum heißt, daß man sich auf eine
von der Kantischen völlig verschiedene Überlegungsebene begibt."
(Sartre, Die Transzendenz des Ego (1936))

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