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Willensschwäche und innerer Mensch

in Röm 7 und bei Origenes1


Zur christlichen Tradition des Handelns wider besseres Wissen
von Jörn Müller
(Institut für Philosophie, Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Residenzplatz 2, D-97070 Würzburg)

Handeln wider besseres Wissen bzw. Willensschwäche, also das »Phäno-


men, dass jemand nicht tut, was er für das Beste hält, obwohl er es tun könn-
te«2, ist eine ebenso alltägliche wie rätselhafte Erscheinung: Wie kann es sein,
dass zwischen unserem rationalen Urteil und unserem faktischen Handeln ein
so eklatanter Bruch auftritt, wenn wir uns doch ansonsten überwiegend als
animal rationale erleben (oder uns zumindest so verstehen), dessen Entschlüs-
se und Taten auf unseren vernünftigen Überzeugungen fußen? Die von Do-
nald Davidson3 in der Philosophie der Gegenwart angestoßenen Diskussionen
über dieses Problem weisen jedoch – wie so manche aktuelle Diskussion einer
sich rein »systematisch« (und d. h. im Kern leider oft schlicht: »ahistorisch«)
verstehenden Philosophie – eine gewisse »Traditionsvergessenheit« auf: Den
vorherigen Reflexionen zur Thematik wird kaum oder nur am Rande Auf-
merksamkeit geschenkt. Am ehesten findet noch die Antike Beachtung: An-
knüpfungspunkt sind hier meist die Diskussionen über die Möglichkeit oder
Unmöglichkeit von Unbeherrschtheit (Çkras–a) im Anschluss an die sokrati-
sche Leugnung dieses Phänomens im Protagoras (351b–358e), von der Platon
sich später im vierten Buch der Politeia (v.a. 439e–440a) wieder distanziert4;
1
Der nachfolgende Text ist aus einem Vortrag hervorgegangen, den ich im Mai 2008 in
Münster bei einem Treffen des Arbeitskreises »Neues Testament und antike Philosophie«
innerhalb der Gesellschaft für antike Philosophie (GANPH) gehalten habe. Für wertvolle
Hinweise möchte ich Hermut Löhr, der dieses Treffen auch organisiert hatte, sowie Stefan
Krauter herzlich danken.
2
U. Wolf, Zum Problem der Willensschwäche, ZphF 39 (1985) 21–33, hier 21.
3
Vgl. D. Davidson, How is Weakness of the Will Possible?, in: ders.: Essays on Action and
Events, Oxford 1980, 21–42 (ursprünglich in: J. Feinberg [Hg.], Moral Concepts, Oxford
1969, 93–113; dt. in: ders., Handlung und Ereignis, Frankfurt a.M. 1985, 43–72).
4
Für die These, dass Platon seine berühmte Seelenteilungslehre in der Politeia einführt,
um dem Phänomen innerer Konflikte und damit dem willensschwachen Handeln über-
haupt erst gerecht werden zu können, womit er zugleich die Leugnung der Çkras–a aus
dem Protagoras revidiert, argumentieren u. a. T. Irwin, Plato’s Ethics, New York / Oxford
1995, 209, und J. Annas, Platonic Ethics, Old and New, Ithaca/London 1999, 118f.; kri-
tisch hierzu: G.R. Carone, Akrasia in the Republic: Does Plato Change His Mind?, OSAP
20 (2001) 107–148. – Dass Sokrates eine skeptische Position in Sachen Willensschwäche

ZNW 100. Bd., S. 223–246 DOI 10.1515/ZNTW.2009.0012


© Walter de Gruyter 2009
224 Jörn Müller

die bekanntesteund auch noch in der Gegenwart viel beachtete philosophische


Analyse des Phänomens findet sich im siebten Buch der Nikomachischen Ethik
des Aristoteles.5
Die antike und die gegenwärtige Diskussion sind sich dabei in einem
Punkt einig, nämlich dass Willensschwäche nichts mit dem Willen zu tun
hat: »Willensschwäche« ist eine einfach aus Konvenienzgründen beibehalte-
ne Kurzformel für die Bezeichnung eines bestimmten Handlungstyps, näm-
lich des Handelns gegen ein eigenes Urteil (engl.: acting against one’s judge-
ment ) bzw. gegen einen Vorsatz. Während die Antike nun ein ausgeprägtes
Willenskonzept noch nicht in entwickelter Form besaß, weil es frühestens von
Augustin ausgearbeitet wurde, gilt die Heranziehung des Willens zur Erklä-
rung und Analyse von Handlungen in gegenwärtigen philosophischen Krei-
sen meist als verdächtig, teilweise sogar als vollkommen obsolet.6 Dies hat im
Übrigen auch dazu geführt, dass der gewichtige Anteil des Mittelalters an der
Problemgeschichte der Willensschwäche in der aktuellen Diskussion weitge-
hend übersehen wird und man sich nur auf die »prä-voluntaristische« Antike
bezieht.7 In jüngster Zeit setzt sich jedoch zunehmend die Einsicht durch, dass
die historische Diskussion der Willensschwäche wesentlich mehr ist als eine
bloße Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der klassischen antiken Çkrasià
und dass auch andere Traditionen hier eine nicht zu vernachlässigende Rolle
spielen. Im Folgenden soll einer solchen »alternativen« Tradition nachgegan-

hatte, ist auch außerhalb des Corpus Platonicum dokumentiert; vgl. Xenophon, Mem. III,
9,4 sowie Aristoteles, Eth. Nic. VII 3, 1145b 25–27, und M. Mor. II 4, 1200b 25–28.
5
Eine immer noch lesenswerte umfassende Darstellung der aristotelischen Position in punc-
to Çkras–a bietet J.J. Walsh, Aristotle’s Conception of Moral Weakness, New York / Lon-
don 1963. Vor allem die komplexe psychologische bzw. handlungstheoretische Analyse des
akratischen Handelns in Eth. Nic. VII 3 hat eine Unmenge an Forschungsliteratur nach
sich gezogen; einen guten status quaestionis in Verbindung mit einem originellen Ansatz
bieten neuerdings M. Pickavé / J. Whiting, Nicomachean Ethics 7.3 on Akratic Ignorance,
OSAP 34 (2008) 323–371.
6
Zur antiken Vorgeschichte des Willensbegriffs vgl. die immer noch grundlegende Studie
von A. Dihle, Die Vorstellung vom Willen in der Antike, Göttingen 1985; s. auch C. Kahn,
Discovering the Will: From Aristotle to Augustine, in: J.M. Dillon / A.A. Long (Hg.), The
Question of Eclecticism, Berkeley 1988, 234–259; C. Horn, Augustinus und die Entstehung
des philosophischen Willensbegriffs, ZphF 50 (1996) 113–132; R. Sorabji, The Concept of
the Will from Plato to Maximus the Confessor, in: T. Pink / M.W.F. Stone (Hg.), The
Will and Human Action. From Antiquity to the Present Day, London / New York 2004,
6–29. Die philosophische Kritik des Willensbegriffs im 20. Jahrhundert wurde vor allem
beeinflusst durch G. Ryle, The Concept of Mind, London 1949, Kap. 3.
7
Diese Lücke wird jedoch in jüngster Zeit zunehmend geschlossen; vgl. vor allem R. Saa-
rinen, Weakness of the Will in Medieval Thought: From Augustine to Buridan (STGMA
44), Leiden u. a. 1994, und die Beiträge in: T. Hoffmann / J. Müller / M. Perkams (Hg.),
Das Problem der Willensschwäche in der mittelalterlichen Philosophie / The Problem of
Weakness of Will in Medieval Philosophy (Recherches de Théologie et Philosophie mé-
diévales: Bibliotheca 8), Leuven u. a. 2006.
Willensschwäche und innerer Mensch in Röm 7 und bei Origenes 225

gen werden, die ihre Wurzeln im Neuen Testament hat und die man deshalb
auch als eine genuin »christliche« Version der Diskussion über Willensschwä-
che ansehen kann.
Meine Ausführungen gliedern sich in drei Teile:
(1) Zuerst wird die Keimzelle für diese Tradition, Röm 7,14–25, untersucht und einige zentrale
Probleme herausgearbeitet, die mit diesem Text und seiner Interpretation in Sachen Willens-
schwäche in Verbindung stehen.
(2) Am Beispiel des ersten erhaltenen Römerbriefkommentars, der von Origenes stammt, soll
schlaglichtartig gezeigt werden, wie dieser Text zur Basis höchst origineller Interpretationen
des Phänomens der Willensschwäche geworden ist; dabei spielt v.a. der Begriff des »inneren
Menschen« aus Röm 7 eine zentrale Rolle.
(3) Abschließend sollen im Vergleich mit der antiken Çkras–a-Diskussion einige zentrale
Merkmale eines genuin christlichen Verständnisses von Willensschwäche herausgestellt wer-
den, die zeigen, dass in Röm 7 keine bloße Fortschreibung der antiken Debatte vorliegt, son-
dern eine neuartige und gehaltvolle subjektphilosophische Interpretationslinie des Problems
begründet wird, von deren reflexivem Potenzial auch die gegenwärtige Diskussion noch pro-
fitieren kann.

1. Die Kluft zwischen Wollen und Tun:


Das Problem der Willensschwäche in Röm 7
Sucht man nach einem locus classicus für das spezifisch christliche Ver-
ständnis der Willensschwäche, so wird man im siebten Kapitel des Römerbriefs
des Apostels Paulus fündig. Der um 55/56 in Korinth entstandene Römer-
brief, den Melanchthon als Handbuch der christlichen Dogmatik (compen-
dium theologiae christianae) bezeichnete, gilt auch noch heute vielen Exegeten
als »Geburtsstunde christlicher Theologie«, insofern hier nicht nur die innere
Logik des Evangeliums aufgedeckt, sondern der Versuch unternommen wird,
das Evangelium an der Wirklichkeit insgesamt zu bewahrheiten.8 Seine her-
ausragende Bedeutung wird sinnfällig schon dadurch dokumentiert, dass er
trotz anfänglich eher schleppender Rezeptionsgeschichte bereits früh an die
Spitze des Corpus Paulinum gestellt wurde. In Röm 7,14–25 findet sich nun
folgende oft zitierte und interpretierte Passage:9
14 Wir wissen nämlich,10 dass das Gesetz geistlich ist; ich aber bin fleischlich, unter die
Sünde verkauft. 15 Denn ich begreife mein Handeln nicht. Denn nicht, was ich will, das führe
ich aus, sondern was ich hasse, das tue ich. 16 Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so
stimme ich dem Gesetz bei, dass es gut ist. 17 Nunmehr vollbringe nicht mehr ich es, sondern

8
Vgl. hierzu M. Theobald, Der Römerbrief (EdF 294), Darmstadt 2000, dessen For-
schungsbericht zuverlässig über alle literarischen Aspekte des Römerbriefs informiert.
9
Die nachfolgende Übersetzung stammt von mir, wobei die diversen für diese Passage vor-
liegenden Übersetzungen berücksichtigt wurden.
10
Von den neueren Übersetzern entscheidet sich hier nur U. Wilckens, Der Brief an die Rö-
mer II (EKK VI/2), Zürich u. a. 1980, für die Lesart o⁄da mËn statt o“damen (85) und
übersetzt deshalb: »Ich weiß nämlich« (73).
226 Jörn Müller

die in mir wohnende Sünde. 18 Denn ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts
Gutes wohnt. Das Wollen ist zwar bei mir vorhanden, das Vollbringen des Guten aber nicht.
19 Denn nicht das Gute, das ich will, tue ich, sondern das Böse, das ich nicht will, führe ich
aus. 20 Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so vollbringe nicht mehr ich es, sondern die in
mir wohnende Sünde. 21 Ich finde also das Gesetz, dass bei mir, der ich das Gute tun will, das
Böse vorhanden ist. 22 Denn nach dem inneren Menschen stimme ich dem Gesetz Gottes mit
Freuden zu. 23 Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meiner
Vernunft widerstreitet und mich gefangen hält im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern
ist. 24 Ich elender Mensch! Wer wird mich retten aus diesem Todesleib? 25 Dank aber sei
Gott, durch Jesus Christus unseren Herrn. So diene ich nun mit meiner Vernunft dem Gesetz
Gottes, mit meinem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde.11

In der traditionsgeschichtlichen Forschung, wie sie Hommel u. a. präsen-


tiert haben, ist hier häufig ein enger Zusammenhang mit der antiken Çkras–a-
Tradition, v.a. mit der toposartigen Medea-Sentenz von Ovid: video meliora
proboque, deteriora sequor (Met. 7,20f.) hergestellt worden.12 Auch wenn vor
dem Bildungshintergrund von Paulus weder eine Lektüre von Euripides bzw.
Ovid noch eine Kenntnisnahme zeitgenössischer stoischer Diskussionen über
die Medea ausgeschlossen sind, nimmt die jüngere Forschung jedoch an, dass
Paulus hier nicht direkt zitiert, sondern eher einen ihm geläufigen Topos ver-
wendet.13
Dieser behauptete Zusammenhang setzt allerdings zumindest voraus,
dass Röm 7 und die antiken Texte auf ein und dasselbe Phänomen referieren.
Gerade in der evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts hat es allerdings
nicht an Stimmen gefehlt, die diese Voraussetzung nachhaltig in Frage gestellt
haben: Bultmann etwa hielt es für »ganz unmöglich«, dass es Paulus in Röm
7,14ff. »an der billigen Einsicht: ›video meliora proboque, deteriora sequor‹ «
gelegen habe bzw. dass es hier überhaupt um wie auch immer geartete psy-
chologische Befunde gehe, und legte stattdessen eine transsubjektive Deutung
11
Der Vers Röm 7,25b ist verschiedentlich als spätere, nicht von Paulus stammende »Rand-
glosse« verdächtigt worden, obwohl gerade er in der Auslegung des Textes von Röm
7,14ff. in der Folgezeit eine wichtige Rolle gespielt hat; vgl. die ausführliche Diskussion bei
H. Lichtenberger, Das Ich Adams und das Ich der Menschheit. Studien zum Menschen-
bild in Römer 7 (WUNT 164), Tübingen 2004, 150–160, der den Satz für nicht-paulinisch
hält.
12
Vgl. H. Hommel, Das 7. Kapitel des Römerbriefs im Lichte antiker Überlieferung, in:
ders., Sebasmata. Studien zur antiken Religionsgeschichte und zum frühen Christentum
II, Tübingen 1984, 141–173, bes. 157–163, der im Rückgriff auf Sammlungen in der älte-
ren Forschungsliteratur außer Euripides und Platon auch noch Zitate von Plautus, Diodor
und Ovid präsentiert. Siehe auch die gegenüber Hommel um weitere Belege – insbesondere
aus stoischer Feder (Seneca und Epiktet) – vermehrten Analysen bei G. Theißen, Psycho-
logische Aspekte paulinischer Theologie, Göttingen 1983, 213–223, und Lichtenberger,
Das Ich Adams (s. Anm. 11), 176ff.
13
Vgl. Theißen, Psychologische Aspekte (s. Anm. 12), 221: »Paulus ist im Zusammenhang
der antiken Reflexion über den Widerspruch von Wollen und Tun zu sehen. Seine Kennt-
nis populärphilosophischer Traditionen schloss wahrscheinlich den Topos vom ,inneren
Willensschwäche und innerer Mensch in Röm 7 und bei Origenes 227

vor.14 Diese »anti-psychologische« Lesart hat sein Schüler Käsemann unzwei-


deutig unterstrichen: »Begnügt sich der Apostel hier mit solcher erfahrbaren
Binsenweisheit (sc.: dass der Mensch mit sich selber nicht fertig wird), arbeitet
er mit verfehlten Mitteln und betreibt eine schlechte oder richtiger überhaupt
keine Theologie, sondern tatsächlich eine am ethischen Problem orientierte
Psychologie.«15 Auf der Gegenseite des Spektrums stehen dezidierte theolo-
gische Versuche, diesen Text gerade in psychologischer Hinsicht zu themati-
sieren16 und ihn auch mit modernen philosophischen Ansätzen zur Willens-
schwäche abzugleichen.17
Die Klärung dieser exegetischen Problematik übersteigt den Skopus der
gegenwärtigen Ausführungen (ebenso wie die theologische Kompetenz ihres
Autors), zumal man zu einer ausführlichen Diskussion auch noch das noto-
rische »Ich-Problem« von Röm 7 heranziehen müsste.18 Deshalb begnüge ich
mich vorliegend mit der Feststellung, dass der Text definitiv eine psychologi-
sche Lesart zulässt – so wurde er auch in der nachfolgenden Tradition zumin-
dest weitgehend verstanden, wie wir am Beispielfall des Origenes noch sehen
werden – und dass diese sich bei näherem Hinsehen auch als höchst fruchtbar
für das Verständnis der Willensschwäche in toto erweist.
Eine »Phänomennähe« zur antiken Çkras–a-Diskussion zeigt sich je-
denfalls in einigen Formulierungen. Einen deutlichen Anklang an die »Medea-
Sentenz« enthalten V. 15 (»Denn nicht, was ich will, das führe ich aus, sondern

Konflikt‘ mit ein. Er braucht deswegen nicht Euripides gelesen zu haben. Topoi sind keine
Zitate.« Am nächsten kommt der paulinischen Formulierung des Konflikts eine Stelle bei
Epiktet, Diss. II, 26,4–5: Á jËlei oŒ poieÿ ka» Á mò jËlei poieÿ. Da Epiktet zwar ein
Zeitgenosse des Paulus, dabei jedoch jünger als dieser war, erscheint hier die Annahme
eines Zitats im Römerbrief eher unwahrscheinlich. Die gravierenden inhaltlichen Unter-
schiede des Ichs von Röm 7 zur Darstellung der Medea bei Euripides, Seneca und Epiktet
sind überzeugend von R. von Bendemann, Die kritische Diastase von Wissen, Wollen und
Handeln. Traditionsgeschichtliche Spurensuche eines hellenistischen Topos in Römer 7,
ZNW 95 (2004) 35–63, herausgearbeitet worden.
14
Vgl. R. Bultmann, Römer 7 und die Anthropologie des Paulus, in: ders., Exegetica, Tü-
bingen 1969, 198–209.
15
E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen 3 1974, 193.
16
Vgl. die psychoanalytisch orientierten Deutungen von Röm 7 bei A. Vergote, Der Beitrag
der Psychoanalyse zur Exegese. Leben, Gesetz und Ich-Spaltung im 7. Kapitel des Römer-
briefs, in: X. Léon-Dufour (Hg.), Exegese im Methodenkonflikt. Zwischen Geschichte
und Struktur, München 1973, 73–116, und Theißen, Psychologische Aspekte (s. Anm. 12),
181–268.
17
Vgl. A. van den Beld, Romans 7:14–25 and the Problem of Akrasia, RelS 21 (1985) 495–
515, bes. 507–515.
18
Seit W.G. Kümmel, Römer 7 und die Bekehrung des Paulus (UNT 17), Leipzig 1929, 74–
138, gilt die autobiographische Deutung des Ichs in Röm 7 auf Paulus hin als diskreditiert.
Gemeint sein könnte aber ein typisches bzw. ein adamitisches Ich. Einen ausführlichen und
instruktiven Überblick über die Auslegungstradition des Ich-Problems von Origenes bis
in die jüngste Zeit bietet Lichtenberger, Das Ich Adams (s. Anm. 11), 13–105.
228 Jörn Müller

was ich hasse, das tue ich«) bzw. V. 19 (»Denn nicht das Gute, das ich will, tue
ich, sondern das Böse, das ich nicht will, das führe ich aus«). Hier wird ein
Riss zwischen Wollen und Tun, zwischen jËlein und katergàzesjai/poieÿn/
pràttein sichtbar;man könnte hier von exekutiver Willensschwäche sprechen,
insofern sich ein vorhandenes Wollen nicht in ein entsprechendes äußeres Tun
zu übersetzen vermag. Doch was heißt »wollen« (jËlein) hier genau? Im Cor-
pus Paulinum bezeichnet das Wortfeld jËlein/jËlhma/jËlhsic u. a. eine prin-
zipiell indeterminierte sittliche Stellungnahme des Menschen gegenüber Gott
und seinen Geboten, also eine Entscheidung für oder gegen Gott.19 Der gute
Wille ist durch seine rückhaltlose Unterwerfung unter den göttlichen charakte-
risiert, der schlechte oder böse aber dadurch, dass er auf seine »Eigenständig-
keit« pocht. Das ist die Pointe von Jesu Gebet am Ölberg: »Doch nicht mein,
sondern dein Wille (jËlhma) geschehe.«20 Das menschliche Wollen ist vor die-
se Optionen, den Gehorsam oder den Ungehorsam gegen Gott und seine Ge-
bote, gestellt: Es ist somit noch keineswegs als ein per se auf das Gute fixiertes
oder immanent vernünftiges Wollen bestimmt, denn jËlhma kann auch für
den sündhaften menschlichen oder teuflischen Willen verwendet werden.21
Im vorliegenden Kontext ist der Begriff des jËlein aber primär bestimmt
durch eine evaluative Approbation, die dem faktischen Handeln verwehrt
bleibt: In seinem Wollen erkennt das Ich das Gesetz, gegen das es im Handeln
verstößt, als gut an (V. 16); das Wollen steht also (im Gegensatz zum Handeln)
sub ratione boni. Dies verdeutlicht auch die dublettenartige Wiederaufnahme
von V. 15–18 in V. 19–21: In V. 19 wird das Wollen, das im Handeln nicht zum
Tragen kommt, explizit als das Wollen des Guten (ÇgajÏn) gekennzeichnet,
während das Tun im Gegensatz dazu das Böse (kakÏn) realisiert. Insofern die-
ses gute Wollen in V. 23 und 25b, explizit mit der Vernunft (no‹c) verknüpft
wird, liegt es nahe, jËlein zumindest an dieser Stelle als ein vernünftiges, i.e.
auf ein erkanntes Gut orientiertes Wollen zu interpretieren, so dass hier eher
ein in der Tradition des platonischen Gorgias (466a–468e) stehender Willens-
begriff diagnostiziert werden kann: Der Wille ist ein rational informiertes Stre-
ben nach dem Guten.22
Doch ist damit auch gesagt, dass die Differenz von Handeln und Wol-
len in Röm 7 analog zum antiken Muster erklärt wird, indem das Problem
auf einen Mangel an Wissen seitens des Akteurs zurückgeführt wird? Steht
hier immer noch das sokratische Paradoxon: »Niemand handelt willentlich

19
Für eine genaue Analyse aller relevanten Stellen vgl. H. Löhr, Paulus und der Wille zur
Tat. Beobachtungen zu einer frühchristlichen Theologie als Anweisung zur Lebenskunst,
ZNW 98 (2007) 165–188.
20
Lk 22,42; vgl. auch Mk 14,36 par. Mt 26,39.
21
Vgl. Lk 12,47; 1Kor 7,37; Eph 2,3.
22
Vgl. in diesem Sinne auch C. Horn, The Concept of Will in Plotinus, in: S. Stern-Gillet /
K. Corrigan (Hg.), Reading Ancient Texts. II. Aristotle and Neoplatonism, Leiden/Boston
2007, 153–178.
Willensschwäche und innerer Mensch in Röm 7 und bei Origenes 229

(absichtlich) schlecht«23 im Hintergrund, so dass falsches Handeln prinzipiell


einem Mangel an Einsicht geschuldet ist? Eine solche Deutung legt etwa Lu-
thers Übersetzung für V. 15a nahe: »Denn ich weiß nicht, was ich tue.« Dazu
passt allerdings nicht, dass in den vorangehenden Versen 7–13, die eine Art
Vorgeschichte von V. 14–25, erzählen, die Pointe gerade darin besteht, dass
das Subjekt sich durch die Promulgation des Gesetzes seiner Sündhaftigkeit
bewusst wird: Es weiß also, dass es gegen das Gesetz verstößt und erkennt die-
ses Gesetz als Fixpunkt seines Wollens ja auch als gut an.24 Das existentielle
Problem des späteren Ichs ist also nicht Unwissenheit in dem Sinne, dass es
nicht bewusst realisiert, dass es sündig handelt: Es ist vielmehr die in der be-
wusst erfahrenen Differenz von eigenem Wollen und Tun sich öffnende Kluft
der Selbstentfremdung des Akteurs. V. 15a meint letztlich: »Denn ich begrei-
fe mein Handeln nicht.«25 Es ist diese Dissoziierung des Handelns von dem
auf Wissen um das Gute beruhenden Wollen des Ichs, die den Akteur in die
Verzweiflung stürzt.26 Damit liegt hier aber eindeutig eine bewusste innere
Dissonanz vor: Das beschriebene Handeln ist somit als klarsichtige Willens-
schwäche zu beschreiben, also als ein Handeln gegen eine bewusst als richtig
bzw. gut erkannte Norm, das nicht irgendeiner Unwissenheit des Akteurs oder
Unbewusstheit des Konflikts geschuldet ist. Der in Röm 7 verwendete Willens-
begriff mag also auf dem im Gorgias entwickelten sub-ratione-boni -Modell
beruhen, aber die mit ihm verbundene Beschreibung des sittlich schlechten
Handelns fällt ganz anders aus: Der Mangel an Erkenntnis betrifft nicht den
Handlungsgegenstand, sondern das Selbstverständnis des Akteurs im bewusst
vollzogenen Tun des Schlechten. Der Akteur versteht sich in seinem Handeln
selbst nicht mehr und erfährt damit eine existenzielle Selbstentfremdung.
Insofern die Möglichkeit einer klarsichtigen Willensschwäche in der anti-
ken Çkras–a-Erklärung philosophischer Provenienz nie eindeutig eingeräumt
worden ist, scheint sich Paulus auf die Seite der Tragiker (und insbesonde-

23
Vgl. Platon, Gorg. 509e; Prot. 345d; Soph. 228c; Tim. 86b–87b; Resp. 382a.413a.444a.
589c; Leg. 734b.860c–d.
24
Richtig erkannt hat dies Theißen, Psychologische Aspekte (s. Anm. 12), 223, der die
Modellierung des Ichs an Hand des Sündenfalls (in V. 7–13) und mittels des Medea-Topos
(V. 14ff.) wie folgt differenziert: »Der entscheidende Unterschied ist der: Adam glaubt im
Augenblick der Tat, für sich etwas Positives zu erlangen; er wird über die wahren Fol-
gen betrogen. Die Einsicht folgt der Sünde. Bei Medea aber ist der kognitive Konflikt
im Augenblick des Verbrechens voll bewusst.« Siehe auch ebd. nt. 68: »Von 7,14 an aber
spricht nicht mehr ein getäuschtes Ich, sondern ein Ich, das sich in wachsendem Maße
über seine aussichtslose Lage im klaren ist.«
25
So die meines Erachtens korrekte Übertragung des Verses, wie sie sich in der »Einheits-
übersetzung« findet.
26
So paraphrasiert Hommel, Das 7. Kapitel (s. Anm. 12), 148, Röm 7,15 wie folgt: »Was
nämlich das betrifft, was ich praktisch tue, so bin ich nicht einsichtig: qua Wollen verfüge
ich über Einsicht, nicht aber qua Handeln: theoretisch (o⁄da) und willensmäßig (jËlein)
weiß ich allerdings Bescheid.«
230 Jörn Müller

re von Euripides) zu schlagen, die ein bewusstes Handeln gegen die Vernunft
in literarischen Gestalten wie der Medea und der Phaedra modelliert haben.27
Doch bei diesen Figuren ist der ausschlaggebendeFaktor für das willensschwa-
che Handeln meist ein Unterliegen der Vernunft im internen Kräftemessen mit
den Affekten, wie es paradigmatisch am Ende des großen Medea-Monologs
bei Euripides formuliert wird:
Und ich erkenne das Schreckliche, das ich zu tun gedenke,
Doch mein Zorn (jumÏc) ist stärker als meine Überlegungen,
der schuld ist an den größten Übeln für die Sterblichen.28

Von einem solchen »Affektsturm« bzw. einer Überwältigung durch die


Begierde o.ä. ist in Röm 7 aber insgesamt gar nicht die Rede. Auch wenn der
Text die klassische Kontraposition von no‹c und s¿ma anklingen lässt, ist der
eigentliche Konflikt zwischen dem »geistigen Gesetz« (nÏmoc pneumatikÏc)
und dem »fleischlichen Ich« angesiedelt. Ohne in die Tiefenexegese gehen zu
können, erscheint eine Reduktion des Gegensatzes von sàrx und pne‹ma auf
einen an Platons Phaidon geschulten Leib-Seele-Dualismus das paulinische
Denken doch zu sehr zu vereinfachen: Dies zeigt sich schon daran, dass bei
der Aufzählung der »Werke des Fleisches« in Gal 5,19ff. eben nicht nur kör-
perlich fundierte Begierden wie Esslust und Sexualtrieb (also gewissermaßen
»die üblichen Verdächtigen«), sondern auch Abgötterei, Zauberei, Neid u. ä.
genannt werden. Das anthropologische Vokabular von sàrx und pne‹ma ist
bei Paulus somit reichhaltiger als die allzu nahe liegende Dichotomie von ma-
teriellem Körper und immaterieller Seele.29
Entscheidend ist nun, dass Paulus in Röm 7 insgesamt nicht von einem
offen ausgetragenen inneren Kampf oder einem »Bürgerkrieg« zweier solcher
Antagonisten spricht, sondern von der Herrschaft des Fleisches über den Men-
schen als ganzen: Das Ich wird nicht temporär von der Begierde überwältigt,
sondern es ist komplett an die Sünde verkauft.30 Ein zentraler Gedanke dabei
ist, dass der Mensch erst in seinem sündigen Handeln das Gesetz der Sünde

27
Vgl. Euripides, Medea 1021–1080; Hippolytos 375–387 (zur Phaedra).
28
Euripides, Medea 1078–1080.
29
Vgl. hierzu J. Frey, Die paulinische Antithese von »Fleisch« und »Geist« und die
palästinisch-jüdische Weisheitstradition, ZNW 90 (1999) 45–77, der an Hand der Qum-
ran-Texte zeigt, dass das der sàrx-pne‹ma-Antithese zugrundeliegende Phänomen der
»Dualisierung der Weisheit« bereits in der palästinisch-jüdischen Weisheitstradition
vorliegt. E. Brandenburger, Fleisch und Geist. Paulus und die dualistische Weltsicht
(WMANT 29), Neukirchen-Vluyn 1968, hatte hingegen diese dualistische Weisheitstradi-
tion primär im hellenistischen Judentum, wie es insbesondere von Philon von Alexandrien
repräsentiert wird, verortet. Die Parallelen zwischen Röm 7 und den Sündenbekenntnissen
in den Qumran-Texten werden von H. Braun, Römer 7,7–25 und das Selbstverständnis des
Qumran-Frommen, ZThK 56 (1959) 1–18, deutlich herausgearbeitet.
30
Hier liegt auch der deutlichste Unterschied zu der oft als »Parallelstelle« zu Röm 7 heran-
gezogenen Passage Gal 5,16–18, wo ein innerer Kampf von sàrx und pne‹ma beschrieben
Willensschwäche und innerer Mensch in Röm 7 und bei Origenes 231

in sich »findet« (V. 21). Erst in der sittlichen Verfehlung wird sich das Sub-
jekt bewusst, nach welchen Maßstäben es wirklich handelt: Es wandelt nach
dem Fleische, richtet sich also an Präferenzen aus, die dem pneumatischen
Gesetz entgegengesetzt sind. Mit sàrx wird somit eine dem Menschen inner-
liche Wertordnung bezeichnet, die er im willensschwachen Handeln leidvoll als
die faktisch handlungsleitende erfährt, die aber ihrerseits nicht einfach auf die
sinnlich-leibliche Seite des Menschen reduziert werden kann: Der Antagonis-
mus von Intellekt und Emotion, der die griechische Çkras–a-Debatte wie ein
roter Faden von den Tragikern bis zu den Philosophen durchzieht, spielt hier,
wenn überhaupt, nur noch eine Nebenrolle. Paulus’ Darstellung des willens-
schwachen Handelns lässt sich deshalb in keines der beiden antiken Çkras–a-
Deutungsmuster einfügen: weder in das kognitivistische Modell der Philoso-
phen noch in das affektive Schema der Tragiker.
Am nächsten erscheint Paulus der antiken philosophischen Tradition in
Röm 7 noch, wenn er die Begrifflichkeit des inneren Menschen (Ísw änjrw-
poc), die erstmalig in Platons Politeia begegnet, aufgreift.31 Dabei wird der
innere Mensch, der dem Gesetz freudig zustimmt und das faktische Handeln
ablehnt, in Röm 7 offensichtlich in »traditioneller« Manier mit dem an der
Stelle wörtlich erwähnten no‹c identifiziert: Damit ist das moralische Ich im
Wesentlichen in die Vernunft gesetzt.32 Paulus operiert an dieser Stelle also of-
fensichtlich mit einem weiteren und einem engeren Ich-Begriff: Bezeichnet das
weitere Ich den sündig handelnden Menschen in seiner Ganzheit, so steht dem
Fleisch im Innenraum des Ganzen doch noch ein eigentliches bzw. innerstes
Ich entgegen, das durch den Einfluss der Sünde noch nicht korrumpiert ist:
die als innerer Mensch verstandene Vernunft. Wie wir am Beispiel von Ori-
genes sehen werden, setzen aber just am Verständnis dieses Terminus spätere
Interpreten von Röm 7 in Abweichung von Paulus’ Identifikation an und ge-
winnen gerade dadurch dem willensschwachen Handeln von Röm 7 weitere
Deutungsfacetten ab.
Paulus’ konsequente Rede von der »Herrschaft der Sünde« wirft nun
ein gewichtiges Problem auf: In den beiden dublettenartigen Gedankengängen
zum willensschwachen Handeln kommt das Ich nämlich zu der Schlussfolge-

wird. Vgl. Lichtenberger, Das Ich Adams (s. Anm. 11), 255: »Röm 7 und Gal 5,17 sind nach
Form, Situation und Aussage streng voneinander zu trennen.«
31
Vgl. Platon, Resp. 589a–b (‚nt‰c änjrwpoc). Hierzu und zum Wiederaufleben der Me-
tapher im Mittelplatonismus vgl. T.K. Heckel, Der Innere Mensch. Die paulinische Ver-
arbeitung eines platonischen Motivs (WUNT 2/53), Tübingen 1993, 11–41.
32
Für die weitgehende Identifizierung des inneren Menschen mit dem no‹c, die sich z. B.
auch bei Philo von Alexandrien (vgl. Congr. 97) findet, vgl. C. Markschies, Art. Innerer
Mensch, RAC 18 (1998) 266–311, der festhält, dass unter dem inneren Menschen »weit-
gehend einlinig entweder (unscharf) die Seele allgemein oder (präziser) der no‹c verstan-
den« (ebd. 310f.) wurde. Markschies meint allerdings im Widerspruch zu den meisten alt-
kirchlichen und modernen Interpreten, dass Paulus in Röm 7 keine »reine Identifikation«
von innerem Menschen und Vernunft im Sinn gehabt habe (ebd. 281).
232 Jörn Müller

rung, dass hier eben nicht mehr das Ich die handelnde Instanz ist, sondern
die »in ihm wohnende Sünde« (V. 17.20), die den Akteur zu ihrem Gefange-
nen macht (V. 23). Wertet man diese Formulierungen handlungspsychologisch
aus, liegt der Schluss nahe, dass die im Fleisch wohnende Sünde das Handeln
des unerlösten Menschen komplett determiniert, ohne dass hier dem bewusst
denkenden bzw. wollenden Ich noch eine reale Einflussmöglichkeit verbliebe.33
Im Verständnis einer analytischen Handlungstheoriewäre dann auf Grund der
offensichtlich fehlenden Intentionalität des Handelnden »gar nicht von einer
Handlung, sondern von einem bloß mechanischen Geschehen oder Erleiden«
bzw. von »einem grundlosen, allenfalls kausaler Erklärung zugänglichem Syn-
drom« die Rede.34 Im Sinne eines solchen praktischen Selbstverlustes hat etwa
Karl Barth in der ersten Fassung seines wirkmächtigen Römerbriefkommen-
tars V. 17 kommentiert: »[I]ch bin es gar nicht, der mein persönliches Leben
lenkt und bestimmt, sondern da ist ein fremder Tyrann, der für mich denkt, re-
det und handelt.«35 Insofern hier weder von freiem Handeln noch von selbstbe-
stimmten Tun die Rede zu sein scheint – das Ich ist ja wortwörtlich versklavt –,
würde damit die Anwendung des Begriffs »Willensschwäche« in seiner Un-
terscheidung von »Zwang« insgesamt problematisch. So nimmt es auch nicht
Wunder, dass der analytische Philosoph R.M. Hare in seiner Bestreitung des
Phänomens der Willensschwäche gerade Paulus als Kronzeugen ins Feld ge-
führt hat: Letztlich handle es sich in Röm 7 um die Formulierung von nichts
anderem als zwangsneurotischem Verhalten.36 Damit ginge aber ein zentrales
definitorisches Moment von willensschwachem Tun, in dem auch die morali-
sche Zensur des Phänomens begründet liegt, verloren: die Möglichkeit, auch
anders handeln zu können.
Diese Passagen werfen aber nicht nur ein Problem für die philosophisch
wünschenswerte Abgrenzung von willensschwachem und zwanghaftem Han-
deln auf, sondern auch für die Frage nach der Willensfreiheit des sündigen
Subjekts von Röm 7 insgesamt: Verfügt dieses Ich überhaupt noch über ein
liberum arbitrium bzw. über ein posse non peccare? Schließlich hat Luther in
seiner Debatte mit Erasmus von Rotterdam gerade Röm 7 für seine These vom

33
Zu diesem Resultat kommt auch ein »nicht-theologischer« Interpret wie Dihle, Vorstellung
(s. Anm. 5), 96.
34
G. Bader, Römer 7 als Skopus einer theologischen Handlungstheorie, ZThK 78 (1981)
31–56, hier 38.
35
K. Barth, Der Römerbrief, Bern 1919, 210. In der zweiten Auflage wird dies allerdings
zu Gunsten der einen sündhaften Realität bzw. des einen Ichs zurückgenommen; vgl.
K. Barth, Der Römerbrief, 2. Aufl. in neuer Bearbeitung, München 1922, 245: »Wer sagt
mir, ob jenes Ich, das tut, wie ihm gelüstet, und jenes andere Ich, das nicht will, was jenes
tut, nicht im tiefsten Grunde doch identisch sind? Ob nicht am Ende all mein grimmiges
Ausschlagen gegen mich selbst seine Münchhauseniade ist, die sich durchaus innerhalb
der vier Wände des einen Sündenhauses ,Ich‘ abspielt.« (Hervorhebung im Original).
36
Vgl. R.M. Hare, Freedom and Reason, Oxford 1963, 77–85.
Willensschwäche und innerer Mensch in Röm 7 und bei Origenes 233

servum arbitrium des Menschen in Stellung gebracht.37 Wie soll man aber ei-
nem Ich, das so offensichtlich seiner rationalen Handlungssteuerung beraubt
ist, seine Taten noch als persönlich zu verantwortende Akte zuschreiben? Wie
sehr durch die Formulierungen in Röm 7 der Eindruck einer Negation der
Willensfreiheit erweckt wird, zeigt sich allein schon daran, mit wieviel Energie
die Kirchenväter versuchen, einer solchen Auslegung entgegenzutreten. Der
erste in dieser langen Reihe von Verteidigern der Freiheit ist Origenes.

2. Der Wille als innerer Mensch: Origenes’ Interpretation des Römerbriefs


Der erste uns erhalten gebliebene Römerbriefkommentar wurde um die
Mitte des 3. Jahrhunderts von Origenes angefertigt und ist uns in verkürzter
Fassung in einer lateinischen Übersetzung durch Rufin (ca. 406/07 angefer-
tigt) sowie in einer Reihe griechischer Fragmente erhalten.38 Schon in der Ein-
leitung seines Kommentars legt Origenes gewissermaßen die Karten auf den
Tisch und kündigt an, für die Willensfreiheit in den Ring zu steigen gegen
diejenigen, die gestützt auf einzelne Zitate »versuchen, den Sinn der ganzen
Schrift zu verkehren, das heißt die Lehre, dass Gott dem Menschen die Wil-
lensfreiheit (arbitrii libertatem ) gewährt hat«, zu bestreiten.39 Dies ist primär
gegen den Determinismus der Gnostiker gerichtet, aber diese Aussage muss
sich natürlich auch und nicht zuletzt am 7. Kapitel des Römerbriefs bewähren.
Ein hermeneutischer Schlüssel für Origenes’ Interpretation ist nun seine
Identifikation des inneren Menschen in Röm 7:
Der innere Mensch, d. h. der Wille und der Vorsatz (interior homo, hoc est voluntas et
propositum), stimmt mit dem Gesetz Gottes überein und freut sich daran, wenn er anfängt,
sich zum Herrn zu bekehren.40

Mit der stehenden Wendung »voluntas et propositum«, die als feste Kol-
lokation immer wieder von Origenes verwendet wird, ist nun nicht ein konkre-
ter singulärer Willensakt gemeint (z. B.: »Ich will jetzt spazieren gehen«), son-
dern ein wesentlich umfassenderes Verhaltensmuster (als Beispiele nennt Ori-
37
Zum Verständnis von Röm 7 bei Luther, den Reformatoren und im Pietismus vgl. jüngst
S. Krauter, Römer 7 in der Auslegung des Pietismus, KuD 52 (2006) 126–150.
38
Vgl. hierzu die Überblicke bei C.P. Hammond Bammel, Der Römerbrieftext des Rufin
und seine Origenes-Übersetzung (VL 10), Freiburg 1985, 13–58, sowie T. Heither, Trans-
latio Religionis. Die Paulusdeutung des Origenes in seinem Kommentar zum Römerbrief
(BoBKG 16), Köln/Wien 1990, 12–23. Mittlerweile sind alle erhaltenen Texte inklusive
Übersetzung von T. Heither in sechs Bänden in den Fontes Christiani erschienen; nach-
folgend zitiere ich sowohl die Originaltexte als auch die Übersetzungen des Römerbrief-
kommentars nach dieser Ausgabe.
39
Origenes, Römerbriefkommentar (ab hier: CRom), praef.; ed. T. Heither, I 63 (nach die-
sem Schema auch alle nachfolgenden Zitate aus dem Römerbriefkommentar des Ori-
genes).
40
CRom 6,9; III 277.
234 Jörn Müller

genes: keusch zu bleiben41 , Geduld zu üben42 , Gott zu dienen43 ). Diese Unter-


scheidung von genereller Willensorientierung und konkreter Einzelhandlung
markiert Origenes auch in seiner Auslegung des Bildes vom guten und vom
schlechten Baum in Mt 7,18:
Hier wird offenbar der Vorsatz und Wille (propositum et voluntas) des Menschen als gu-
ter oder schlechter Baum bezeichnet, als Früchte aber seine Werke. Wenn jemand sein Sinnen
und seinen Vorsatz der Gerechtigkeit zuwendet, dann wird er sich ohne Zweifel schämen und
sich selbst wegen seiner früheren Taten anklagen, die er unter der Macht der Sünde beging.44

Der Wille bezeichnet also die Ausrichtung auf ein allgemeines Ziel der
Lebensführung, und d. h. einen höherstufigen Vorsatz, der sich erst noch in
singulären Akten zum Ausdruck zu bringen hat. Ob wir gut oder böse sind,
ist letztlich von diesem übergeordneten Willensvorsatz abhängig.45
Dieses Grundmuster bestätigt auch der fragmentarisch erhalten geblie-
bene griechische Paralleltext, der explizit den stoisch geprägten Begriff der
prÏjesic als Äquivalent zu propositum einbringt: In Röm 7,14ff. »handeln
die Schlechten anders, als sie es sich vorgenommen haben (parÄ tòn prÏ-
jesin)«.46 Es gibt Menschen, die ihrer widerrechtlichen Begierde »unterlegen
sind, nachdem sie den Vorsatz hatten, nach dem Gesetz zu leben«.47 Dieser
Begriff des Vorsatzes erlaubt Origenes auch eine klare Unterscheidung zwi-
schen denjenigen, die »aus Vorsatz« (proposito) sündigen, und denen, die dies
»aus Schwäche« (infirmitate) tun.48 Damit ist hier ein distinkter Begriff von
Willensschwäche herauspräpariert: Wer gegen seinen Willen handelt, verstößt
im einzelnen Handeln gegen seinen allgemeinen Handlungsvorsatz, folgt also
einer selbst aufgestellten Maxime bzw. Handlungsregel nicht.
Signifikant ist nun, wie Origenes durch die Einbringung des Willens-
begriffs das psychologische Szenario der griechischen Çkras–a-Diskussion
verändert. War dieses geprägt durch die Opposition von Vernunft und Affekt,

41
Vgl. Origenes, Princ. III 1,4; ed. H. Görgemanns / H. Karpp, 470 (griech. Text: prÏjesic).
42
Vgl. CRom 6,9; III 273.
43
Vgl. CRom 6,10; III 286: personam, quam supra in semet ipso descripsit, quasi voluntate
iam et proposito ad meliora conversi et mente atque animo legi Dei subservientis (...).
44
CRom 6,5; III 219. Eine Unterscheidung zwischen einem (langfristigen) Vorsatz und seiner
konkreten Realisierung insinuiert auch CRom 1, frgm. 11 (Staab); VI 53: »Mit einem Wort,
das er dazwischengestellt hat: ›damit meine Arbeit Frucht bringt‹, weist er darauf hin,
dass die Frucht nicht allein in der freien Entscheidung (proa–resic) besteht, sondern zu
gegebener Zeit das Werk nötig hat.«
45
CRom 7,16; IV 158: Ut boni enim aut mali simus, nostrae voluntatis est ; vgl. auch Princ.
I 5, 3; 201: Ursache der Bosheit der abgefallenen Geistwesen ist der Vorsatz ihres Willens
(propositum sui arbitrii ).
46
CRom 6, frgm. 41; VI 205. Zur prÏjesic bei den Stoikern vgl. auch T. Kobusch, Christ-
liche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität, Darmstadt 2006, 109f.
47
CRom 2, frgm. 8 (Ramsbotham); VI 61.
48
Vgl. CRom 2,3; I 173.
Willensschwäche und innerer Mensch in Röm 7 und bei Origenes 235

so betritt mit dem Willen nun ein distinkter dritter Akteur die Bühne. Dieser
Wille wird der Seele zugeordnet, insofern sie in der Anthropologie des Ori-
genes in einer Mittelposition zwischen Fleisch und Geist angesiedelt ist.49 Die
Seele ist frei, sich mittels ihres Willens dem Geist oder dem Fleisch zuzuwen-
den; die voluntas animae ist, wie Origenes das ausdrückt, zwischen die voluntas
carnis und die voluntas spiritus gestellt, und muss sich für die eine oder ande-
re Seite im Sinne einer übergreifenden Willensorientierung entscheiden. Der
Wille der Seele ist hier also primär ein Vermögen zur sittlichen Selbstwahl,
und in dieser Entscheidung ist ihre Freiheit durch keinerlei Zwang oder Not-
wendigkeit determiniert – das ist der Kern von Origenes’ Freiheitslehre. Im
Hinblick auf die moralische Gesinnung denkt Origenes in absoluten Gegen-
sätzen, die kein Mittleres zulassen, und in seiner Fokussierung der Sittlichkeit
auf die moralische Qualität des Willens vermeint man manchmal wirklich, den
»Kant der antiken Ethik« (E. Schockenhoff) zu hören.50 Dabei lässt er auch
das zu, was Kant eine »Revolution der moralischen Gesinnung« genannt hat,
also ein komplettes und radikales Abrücken von einer früheren Wahl, vom
Guten zum Bösen hin oder umgekehrt: Gerade hierin liegt die kontinuierliche
Dynamik der Willensfreiheit bei Origenes.51
Origenes fasst dabei das Verhältnis von Geist und Fleisch als einen dauer-
haften innerseelischen Bürgerkrieg auf,52 wobei seine bevorzugte Referenz Gal
5,17 ist:
»Denn das Fleisch begehrt wider den Geist, der Geist aber wider das Fleisch; denn
diese liegen im Streit miteinander, damit53 ihr nicht das tut, was ihr wollt.«

49
Vgl. Origenes, Princ. III 4, 2; 611: »Es bleibt also nur die Möglichkeit, dass es vom Willen
der Seele (de huius animae voluntate) gesagt wird; diese Seele hat die Fähigkeit zu einem
eigenen Willen, welcher dann dem Willen des Geistes widerstrebt. Und wenn dem so ist,
ergibt sich, dass der Wille dieser Seele gewissermaßen in der Mitte steht zwischen Fleisch
und Geist; sie dient und gehorcht nämlich einem von den beiden, den sie jeweils zum Herrn
gewählt hat«; vgl. auch CRom 1,18; I, 149.
50
Zur schroffen Antithese von gutem und bösem Willen bei Origenes vgl. E. Schockenhoff,
Zum Fest der Freiheit. Theologie des christlichen Handelns bei Origenes (TTS 33), Mainz
1990, 239–241.
51
Vgl. Princ. III 1, 23; 557: »Es machen also nach dieser Vorstellung einige auf Grund ih-
rer Willensentschlüsse (proairËseic) Fortschritte vom Schlechteren zum Besseren, andere
sinken vom Besseren zum Schlechteren herab, wieder andere verharren im Guten oder stei-
gen vom Guten zum Besseren auf, andere wiederum bleiben beim Schlechten oder werden
vom Schlechten, wenn sich die Schlechtigkeit ausbreitet, noch schlechter.« Zur Dynamik
der Freiheit bei Origenes im Blick auf den Römerbriefkommentar vgl. auch Heither, Trans-
latio (s. Anm. 38), 196–210.
52
Zu diesem anthropologischen »combat spirituel« vgl. auch H. Crouzel, L’anthropologie
d’Origène dans la perspective du combat spirituel, RAM 31 (1955) 364–385.
53
—na kann hier auch konsekutiv (mit »so dass«) wiedergegeben werden. Für die finale Deu-
tung plädiert F. Mußner, Der Galaterbrief (HThK 9), Freiburg u. a. 1974, 377.
236 Jörn Müller

Origenes fasst diesen Text nun – entgegen heutiger exegetischer Praxis54 –


als eine Art Parallelstelle bzw. Kommentartext zu Röm 7 auf: Dass das sün-
dige Subjekt nicht das zu tun vermag, was es will, ist darauf zurückzuführen,
dass es weder ganz nach dem Fleisch wandelt (denn sonst würde es aus Vor-
satz sündigen) noch ganz nach dem Geiste (denn sonst würde es überhaupt
nicht sündigen). Der Sünder von Röm 7 ist vielmehr »teils im Fleisch, teils im
Geiste« (ex parte in carne, ex parte in spiritu 55), und das erklärt sein willens-
schwaches Handeln:
Wer noch nicht vom Geist erfüllt ist, wird in all dem auch gegen seinen Willen besiegt
(vincitur ... etiam contra voluntatem). Denn sein Wille ist noch nicht so stark und widerstands-
fähig, dass er im Inneren fest entschlossen ist, bis zum Tod für die Wahrheit zu kämpfen. Sein
Wille kann noch nicht sagen: »Ja ist Ja, und Nein ist Nein« (Mt 5,37); und deshalb kann er
nicht das tun, was er will, sondern er tut, was er nicht will. (…) Dennoch ist dieser Mensch,
der hier vorgestellt wird, nicht ganz und gar dem Guten entfremdet, vielmehr hat er begon-
nen, mit seinem Vorsatz und Willen (proposito quidem et voluntate) das Gute zu suchen, doch
gelingt es ihm noch nicht, das Gute in Tat und Werk zu verwirklichen. Denn in denen, die an-
fangen umzukehren, findet sich eine gewisse Schwäche (quaedam infirmitas ): Wenn jemand
sogleich alles Gute vollbringen will, folgt dem Willen nicht unmittelbar die Ausführung.56

Der Willensschwache, dessen Rolle Paulus hier nach Origenes im Sinne


einer Prosopopoiie annimmt57, ist somit ein reuiger Sünder, der gerade ange-
fangen hat sich zu bekehren: Er hat seinen moralischen Aufstieg begonnen,
indem er seinen Willen im Rahmen der sittlichen Selbstwahl bereits dem Gu-
ten zugewandt hat. Die Revolution in der Gesinnung, d. h. die neue Willens-
ausrichtung auf das Gute verfängt aber nicht augenblicklich: Ebenso wenig
wie derjenige, der weise sein will, dadurch auch schon eo ipso weise ist, kann
man durch den Willen, gut zu sein, auch schon direkt gut handeln. In beiden
Fällen bedarf es einer gehörigen Portion an Eifer und Übung, um den Willen
auch in die Tat umzusetzen. Es gibt also notwendig einen Hiat zwischen der
neuen Willensorientierung und der konkreten Realisierung. Doch es mangelt
dem willensschwachen Akteur nicht nur einfach an Übung im ungewohnten
Guten, sondern er steht auch noch wesentlich unter dem Einfluss seiner al-
ten Lebensführung, in welcher er der Sünde verfallen war: Die »Krankheit
der Gewohnheit« (morbus consuetudinis)58 hält ihn noch in ihren Klauen und
verhindert, dass sich seine neue Gesinnung und die sich damit verbindenden
Vorsätze sofort ins Werk zu setzen vermögen. Wenn etwa ein Choleriker sich

54
Vgl. o. Anm. 30.
55
Vgl. CRom 6,11; III 288, zur Charakterisierung des Menschen von Röm 7 im Kontrast zu
dem vollständig im Geist lebenden Menschen von Röm 8.
56
CRom 6,9; III 273.275.
57
Vgl. hierzu S.K. Stowers, Romans 7.7–25 as a Speech-in-Character (prosopopoiia), in:
T. Engberg-Pedersen (Hg.), Paul in his Hellenistic Context, Edinburgh 1994, 180–202,
bes. 188–191.
58
CRom 6,9; III 276.
Willensschwäche und innerer Mensch in Röm 7 und bei Origenes 237

ehrlich und fest vornimmt, nicht mehr zornig zu werden, ist das noch keine Er-
folgsgarantie, wie Origenes es an einem Beispiel verdeutlicht: »Weil aber durch
lang andauernde Gewohnheit das Laster des Jähzorns ihn beherrscht, wider-
steht es auch dem Willen und Vorsatz, und normalerweise bricht der Zorn sich
mit gewohnter Kraft Bahn.«59 Der willensschwach Handelnde ist bei Origenes
schlicht und elementar ein Rückfälliger, der weiterhin in den Klauen seiner
Gewohnheit gefangen ist. Der Habitus als zweite Natur erscheint in dieser con-
suetudo wesentlich als Quelle der Sünde – ein Motiv, das Augustin später so-
wohl in seiner Römerbriefauslegung als auch in seinen Confessiones aufgreifen
und zur Deutung der postlapsarischen menschlichen Natur als ganzer machen
wird.60 Insofern diese sündige consuetudo bei Origenes noch durchgängig als
Resultat einer vorherigen freien und prinzipiell indeterminierten Willensfestle-
gung des einzelnen gedeutet wird, ist damit das willensschwache Handeln aber
zumindest »voluntarium in causa«, d. h. es wäre vermeidbar gewesen, wenn
sich der Mensch zuvor anders entschieden hätte: »Was ursprünglich von frei-
er Entscheidung abhing, ist durch die Wirkung langer Gewohnheit jetzt zur
Natur geworden (longi usus affectu iam versum sit in naturam ).«61
In der jeweiligen Situation selbst freilich ist eine absolute Handlungs-
freiheit des Individuums in dem Sinne, dass es genauso gut auch anders han-
deln könnte (libertas indifferentiae), auch bei Origenes für Röm 7 nicht gege-
ben: Dafür ist der neue Wille zum Guten noch nicht stark genug und deshalb
wird er auch von der Macht der Gewohnheit noch überwältigt bzw. besiegt.
Die Rede von einem Handeln gegen den Vorsatz insinuiert somit erst einmal
keine Einschränkung der Willensfreiheit im Sinne moralischer Selbstbestim-
mung, sondern eine temporäre Restriktion der situativen Handlungs- und Ent-
scheidungsfreiheit: Die sittliche Gesinnung vermag sich nicht im konkreten
Handeln zu realisieren.62 Einer der Hintergründe ist hierbei die Qualität dieses
Wollens, und zwar nicht primär in moralischer Hinsicht, sondern im Blick auf
seine Stärke: Die allgemeine Willensausrichtung ist noch nicht so »fest und wi-
derstandsfähig«, dass sie nicht im konkreten Einzelfall von einer ihr im Kern
zuwiderlaufenden Versuchung überwunden werden könnte. Vorsätze können,
wie Origenes ausdrücklich betont, eine verschiedene Qualität und Stärke ha-
ben, und nur die Wurzeln eines wirklich »guten« Vorsatzes reichen tief genug,
um gegen äußere Widrigkeiten gefeit zu sein.63 Hier kommt somit explizit die
59
CRom 6,9; III 274.276: sed quoniam longo usu et consuetudine diutina vitium in eo iracun-
diae dominatum est, obsistit etiam voluntatis et proposito ac solito sibi usa itinere vis furoris
erumpit.
60
Vgl. hierzu J. Müller, Zerrissener Wille, Willensschwäche und menschliche Freiheit bei
Augustinus: Eine analytisch motivierte Kontextualisierung von Confessiones VIII, PhJ 114
(2007) 49–72.
61
Princ. II 6, 5; 369; Vgl. auch ebd., I 6, 3; 226: permanens et inveterata malitia velut in
naturam quandam ex consuetudine convertatur.
62
Vgl. in diesem Sinne auch Heither, Translatio (s. Anm. 38), 205–207.
63
Vgl. CRom 7,8; IV 97.99.
238 Jörn Müller

wörtliche Bedeutung von ,Willensschwäche‘ auf die Tagesordnung: Umgangs-


sprachlich bezeichnet dieser Ausdruck nämlich nicht einen bestimmten Hand-
lungstyp – wie in der philosophischen Debatte – sondern eine Disposition, aus
der heraus ein bestimmtes Tun möglich bzw. erklärbar ist.
Der als Wille verstandene innere Mensch muss nicht zuletzt deswegen,
wie Origenes im Anschluss an Paulus betont, von Tag zu Tag erneuert, und
d. h. in der Festigkeit seiner Ausrichtung auf das Gute habituell gestärkt wer-
den, um nicht immer wieder rückfällig zu werden. Ganz in diesem Sinne be-
tont Origenes auch den immerwährenden Kampf des inneren gegen den äuße-
ren Menschen.64 Der innere Mensch, der im willensschwachen Handeln seiner
alten Gewohnheit unterliegt, wird also von Origenes nicht in Anlehnung an
den antiken no‹c-Begriff im Sinne theoretischer Vernunft, sondern als eine ge-
nuine Kategorie des Praktischen gedacht.65 Entscheidend ist hierbei, dass der
als Wille verstandene innere Mensch nicht als eine statische, sondern als eine
dynamische Größe begriffen wird, die zum Aufstieg ebenso wie zum Fall be-
fähigt ist.66
Das genuin praktische Moment in Origenes’ Verständnis des inneren
Menschen zeigt sich auch in einem korrespondierenden Verständnis von
Selbsterkenntnis. In seinen Homilien zum Hohelied unterscheidet Origenes
zwei Formen der seelischen Selbsterkenntnis: Neben die Erkenntnis dessen,
was die Seele ihrem Wesen nach ist, tritt die Erforschung ihrer inneren Be-
wegungsantriebe und Handlungsmotive, so dass die Seele in ihren Affekten
und Akten erkannt wird.67 Dies betrifft z. B. auch die Ursachenforschung im
Falle sündigen Handelns, bei dem Origenes an dieser Stelle mit explizitem Be-
64
Dies wird besonders deutlich im 121. Brief des Hieronymus, in dem dieser in enger Anleh-
nung an Origenes’ Römerbriefkommentar das siebte Kapitel auslegt: [Apostolus] non de
se loquitur, sed de eo, qui post peccata vult agere paenitentiam, et sub persona sua fragilitatem
describit condicionis humanae, quae duorum hominum, interioris et exterioris, pugnantium
inter se bella perpetitur (Hieronymus, Ep. 121, ed. I. Hilberg [CSEL 56], Wien/Leipzig
1913, 34). Auch Eusebius, Praep. Ev. 12, 27, 6, ed. K. Mras (GCS 43), Berlin, II 1954, 118,
sieht Röm 7,22f. als Beleg eines »Krieges gegen sich selbst«.
65
Vgl. hierzu Kobusch, Christliche Philosophie (s. Anm. 46), 64f. Zum »inneren Menschen«
bei Origenes vgl. auch W. Keuck, Sünder und Gerechter. Rm 7,1–25 in der Auslegung der
griechischen Väter, Diss. Theol. Tübingen 1956, 257–270, sowie Markschies (s. Anm. 32),
289–293.
66
Zum Thema des spirituellen Aufstiegs bei Origenes vgl. F. Cocchini, Il progresso spirituale
in Origene, in: J. Driscoll / M. Sheridan (Hg.), Spiritual Progress. Studies in the Spirituality
of Late Antiquity and Early Monasticism (StAns 115), Rom 1994, 29–45.
67
Vgl. Origenes, In Canticum Canticorum II, ed. W.A. Baehrens (GCS 33), Leipzig 1925,
143: Videtur ergo mihi duplici modo agnitionem sui capere animam debere, quidve sit ipsa et
qualiter moveatur, id est quid in substantia et quid in affectibus habeat; ut puta ut intelligat,
si boni affectus sit aut non boni, et recti propositi aut non recti; et si quidem recti sit, si erga
omnes virtutes eundem tenorem habeat, tam in intelligendo quam in agendo. Vgl. auch ebd.
p.145: Haec est una species [scil. cognitionis sui ipsius], qua ,intelligere semet ipsam‘ anima
in affectibus et actibus suis debeat.
Willensschwäche und innerer Mensch in Röm 7 und bei Origenes 239

zug auf Röm 7,15 klar zwischen einem vorsätzlich schlechten Tun und einem
Tun aus bloßer Schwäche heraus unterscheidet.68 Die antike Forderung des
gn¿ji sautÏn bzw. des Scito te ipsum erhält hier eine dezidiert praktische
Wendung, gepaart mit einer therapeutischen Intention: Ein wirksames An-
tidot für willensschwache Anwandlungen ist die permanente Aufmerksam-
keit auf sich selbst, d. h. jeder soll »auf seine eigenen Affekte und Regungen
achtgeben, ob nicht sein Leitvermögen (ôgemonikÏn) Wohlgefallen, Zustim-
mung (sugkatàjesic) und Neigung zu dieser bestimmten (Handlung) ent-
wickelt aus bestimmten Beweggründen«.69 In diesem Sinne schreibt Origenes
den Versuchungen sogar eine positive Funktion zu: Sie sind nützlich, insofern
sie dafür sorgen, »dass unser eigentliches Wesen ans Licht kommt oder die im
Herzen verborgenen Gedanken bekannt werden.«70 Die natürlichen Regun-
gen (primi motus naturales ), die der Akteur verspürt, kehren sein verborgenes
Inneres gleichsam nach außen, machen es offenbar,71 und zwar in einer Form,
die selbst dem in der moralischen Selbstillusion Befangenen keinen Spielraum
mehr zum Selbstbetrug bietet. Auch die Willensschwäche, verstanden als Han-
deln gegen den eigenen Vorsatz, kann Zeugnis für dieses Phänomen geben:
Denn, um ein Beispiel anzuführen, wenn jemand sich entschlossen hat, enthaltsam zu
leben und geschlechtlichen Verkehr zu meiden, so ist nicht die Frau, die er sieht, die hin-
reichende Ursache dafür, den Vorsatz außer Kraft zu setzen; denn er handelt auf jeden Fall
(deshalb) zuchtlos, weil er Wohlgefallen fand an dem Kitzel und der Glätte der Lust, da er
nicht willens war, dagegen Widerstand zu leisten und seinen Entschluss durchzuhalten (mò
beboulhmËnoc mhd‡ t‰ kekrimËnon kur¿sai).72
Gefordert ist also weit mehr als ein bloßes Widerstehen im Konfliktfall;
das wahre Remedium liegt in der inneren Aufmerksamkeit auf sich selbst, was
Origenes mit Bezug auf Prov 4,23 (Omni custodia serva tuum cor ) formuliert:
»Darum müssen wir bei Tag und Nacht unser Herz mit aller Wachsamkeit
hüten«.73 Der innere Mensch muss sich selbst genau im Auge behalten, um
seiner Willensschwäche entgegenwirken zu können.

68
Vgl. ebd. p.144: Sed et in eo opus videtur esse animae cognoscentis semet ipsam, si haec
ipsa, quae operatur mala, ex affectu ea et studio operetur an fragilitate quadam, et, ut ille
ait, quasi ›quod non vult agens, et quae odiens facit‹.
69
Princ. III 1, 4; 469.
70
Vgl. Origenes, De oratione 29, 17, ed. P. Kötschau (GCS 3), Leipzig 1899, 391f.
71
Vgl. Origenes, Hom. in Luc. 26, ed. M. Rauer (GCS 49), Berlin 1959, 155: »Und selbst
wenn Deine Seele von irgendeiner Versuchung übermannt wurde, so hat Dich nicht die
Versuchung zur Spreu gemacht, sondern, da Du schon Spreu warst, zeigte die Versuchung
offen, was Du heimlich gewesen bist (ostendit te esse tentatio quod latebas).«
72
Princ. III 1, 4; 469.471.
73
ebd. III 3, 6; 601: Propter quod die noctuque cor nostrum omni custodia conservandum est.
240 Jörn Müller

Ein weiteres zentrales Motiv der origeneischen Interpretation von Röm 7


ist die Vieldeutigkeit von »Gesetz« (nÏmoc) im Römerbriefkommentar.74 Im
Blick auf den Gesetzesverstoß, der in Röm 7,7–8 artikuliert wird, hält er fest,
dass damit nicht das mosaische Gesetz gemeint ist, sondern das jedem Men-
schen beiwohnende natürliche Gesetz:
Wenn also diese alle [z. B. Adam] und noch ungezählte andere ihre Sünde erkannten,
bevor es das Gesetz des Mose gab, kann es zweifellos nicht das mosaische Gesetz sein (…).
Vielmehr geht es um jenes Gesetz, von dem wir schon oft gesprochen haben, das ins Herz der
Menschen geschrieben ist, »nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes«
(2Kor 3,3), und einen jeden lehrt, was zu tun und zu lassen ist. Dieses Gesetz also lässt den
Menschen seine Sünde erkennen.75

Dabei entwickelt er eine Art »entwicklungspsychologische« Lesart des


Naturgesetzes, in dem dieses dem Menschen zugleich mit der Entwicklung sei-
ner Vernunft immer weiter zugänglich wird. Natürlich entwirft Origenes hier
kein elaboriertes Stufenmodell der Entwicklung der moralischen Urteilsfähig-
keit, wie es sich im 20. Jahrhundert bei Lawrence Kohlberg im Anschluss an
Piagets kognitive Entwicklungspsychologie findet, aber auffällig ist doch die
mehrfach wiederholte Betonung des Wachstums bzw. der Dynamik dieses Pro-
zesses: Die Einsicht in das natürliche Gesetz ist – analog zur Entwicklung der
Vernunft – kein blitzartiger deus ex machina, sondern das Resultat eines gra-
duellen Prozesses.76 Diese lex naturalis ist dann auch mit der in Röm 7,23 an-

74
Eine Sammlung und Analyse aller einschlägigen Passagen zur Mehrdeutigkeit von nÏmoc
in Origenes‘ Römerbriefkommentar findet sich bei M. Harl, Origène et l’interprétation de
l’Épître aux Romains. Étude du chapître IX de la Philocalie, in: J. Fontaine / C. Kannengie-
ßer (Hg.), Epektasis. Mélanges patristiques offerts au cardinal Jean Daniélou, Beauchesne
1972, 305–316. Zum Verständnis des Gesetzesbegriffs in Röm 7 vor Origenes (bei Tatian,
Clemens von Alexandrien, Ptolemäus, Basilides und Irenäus) vgl. F. Bahr, »Als aber das
Gebot kam« (Röm 7,9b). Funktion und Wirkung des Gesetzes in der Röm 7-Deutung vor
Origenes’ Römerbriefkommentar, Diss. Erlangen/Nürnberg 2001.
75
CRom 6,8; III 257; vgl. auch das griechische Fragment 37 (Ramsbotham); VI 199, zur Stel-
le: »Unter Gesetz verstehen wir hier nicht nur das Gesetz des Mose, das die Begierde ver-
bietet, sondern auch das natürliche Gesetz. Die Begierde (‚pijum–a) ist uns ja von Natur
aus beigegeben als eine Leidenschaft (pàjoc) (…) Auch Adam wusste es [scil. das natürli-
che Gesetz] schon, und zwar schon vor dem Gesetz des Mose.« C.P. Hammond Bammel,
Philocalia IX, Jerome, Epistle 121, and Origen’s Exposition of Romans VII, JThS NS 23
(1981) 50–81, meint, dass die exklusive Identifikation von nÏmoc in Röm 7,7 mit dem Na-
turrecht eine »Verkürzung« durch Rufin sei; das mosaische Gesetz sei (wie es auch das
gerade zitierte Textstück nahezulegen scheint) mitgemeint. Für die eindeutige Identifika-
tion spricht jedoch m.E. Philokalie IX, CRom VI, 193.195.
76
Vgl. hierzu Philokalie IX, CRom VI 193.195: »Das ,in die Herzen eingeschriebene Gesetz‘,
auch bei den Heiden, ,die von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist‘, ist kein
anderes als das, was gemäß dem allgemeinen Denken (katÄ tÄc koinÄc ‚nno–ac) von
Natur aus der führenden Kraft (ôgemonikÏn) eingeprägt ist. Es wird immer bestimmender
Willensschwäche und innerer Mensch in Röm 7 und bei Origenes 241

gesprochenen lex mentis, gegen die der Willensschwache handelt, identisch.77


Mittels seiner Vernunft ist der Mensch damit sein eigener Gesetzgeber, d. h.
sittliche Forderungen müssen nicht als ein externes Gebot an ihn herangetra-
gen werden, sondern erwachsen in ihm selbst durch die graduell sich entwi-
ckelnde vernünftige Einsicht in das sittlich Gute und Böse.78
Das geistige Gesetz, gegen das willensschwach gehandelt wird, fasst Ori-
genes somit als eine dem Menschen natürlich beigegebene Moralität, als in-
ternalisierte Norm des Gewissens auf, wobei er sich u. a. auf die einschlägige
Passage in Röm 2,14f. berufen kann.79 In seiner bekannten und höchst wirk-
mächtigen Deutung der Ezechiel-Vision sieht Origenes im Gewissen den Adler
bzw. den Geist (spiritus ) als ein viertes Vermögen, das oberhalb der klassischen
Seelentrichotomie Platons angesiedelt80 und dem Menschen »wie ein Erzie-
her« beigegeben ist.81 Handelt der Mensch willensschwach, so handelt er auch
gegen dieses innere Gesetz und seinen Spruch, das iudicium conscientiae.82
Bezeichnenderweise schlagen spätere Interpreten, beginnend mit Johan-
nes Chrysostomus, konsequenterweise auch vor, den inneren Menschen in
Röm 7 mit dem Gewissen zu identifizieren.83 Für die Entwicklung der Wil-
lensschwäche ist dies insofern ein zentraler Schritt, als damit die Idee einer
genuin moralischen Willensschwäche als ein »agere contra conscientiam «, al-
so ein Handeln gegen ein situationsbezogenes Urteil über das moralisch Ge-
botene bzw. Verbotene, in den Vordergrund rückt. In der klassischen Antike
ist hingegen aus verschiedenen Gründen die Divergenz zwischen prudentieller
Willensschwäche (ich tue nicht das, was ich für das für mich persönlich Bes-
te/Nützlichste/Angenehmste halte) und ihrem moralischen Pendant (ich tue

und wächst gleichzeitig von Tag zu Tag mit der Fülle unserer Einsicht.« Vgl. zu dieser
Dynamik der inneren Offenbarung auch Heither, Translatio (s. Anm. 38), 187–195.
77
Vgl. CRom 5,6; III 123.
78
In diesem Sinne sagt Origenes im Anschluss an Paulus, dass der heidnische Grieche zwar
nicht das äußere Gesetz hat, sich aber »selbst Gesetz ist« (ipse sibi est lex): CRom 2,8; I 214.
Vgl. auch CRom 5,1; III 59: »Bis das natürliche Gesetz auftritt, ist die Sünde nämlich
tot. (…) Denn dann gibt es ja ein inneres Gesetz, das Verbote aussprechen, es gibt eine
Erkenntnis, die aufzeigen kann, was man nicht tun darf.«
79
Röm 2,14f.: »Denn wenn die Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das vom
Gesetz Geforderte tun, sind sie, obwohl sie das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie
zeigen damit, dass die Forderung des Gesetzes in ihre Herzen geschrieben ist; ihr Gewissen
legt Zeugnis davon ab (…).«
80
Vgl. Origenes, Hom. in Ez. 1, 16, ed. W.A. Baehrens (GCS 33), Leipzig 1925, 340.
81
Vgl. Origenes, CRom 2, 9; I 231.
82
Vgl. Origenes, CRom 4,3; II 192.
83
Vgl. hierzu Keuck, Sünder und Gerechter (s. Anm. 65), 277–279, mit den entsprechenden
Nachweisen. Diese Identifikation findet sich auch ähnlich bei Augustin formuliert: intus
hominis quod conscientia vocatur (Enarr. in Psalmos 45, 3). Philo hatte bereits mit dem
Ausdruck des »wahren Menschen«, der inhaltlich in dieser Tradition steht, die Funktion
des Gewissens beschrieben; vgl. Markschies, Innerer Mensch (s. Anm. 32), 277f.
242 Jörn Müller

nicht das, was ich für das moralisch Richtige bzw. Gebotene halte) nicht in
dieser Form ausgeprägt.
Eine spezifisch christliche Ingredienz ist hierbei auch, dass die Einsicht
in das moralisch falsche Verhalten nicht bloß im Sinne einer kognitiven Dis-
sonanz registriert wird, sondern auch affektive Konsequenzen hat: Wer nicht
das tut, was er für richtig hält, reagiert auf diese Verfehlung normalerweise mit
»Gewissensbissen« bzw. einem Gefühl der Reue. Mit Blick auf die Phänomen-
beschreibung der Willensschwäche ist dies ein wichtiges Strukturmerkmal,
denn es ist ja prinzipiell möglich, dass ein ursprünglich gegenläufiges Urteil
im Handeln sozusagen »adaptiert« wird, d. h. dass der Akteur sein Handeln in
der Nachbetrachtung doch noch billigt. In einem solchen Fall kann man aber
nur in einem eingeschränkten Sinne von Willensschwäche sui generis sprechen
(angebrachter wäre »Wankelmütigkeit« o. ä.). Durch die Betonung der kogni-
tiven wie auch der affektiven Zensur des willensschwachen Handelns durch
das Gewissen wird auch eine Abgrenzung vom bewusst schlecht bzw. böse
Handelnden erreicht: Der Verstockte bereut sein Tun ja gerade nicht, insofern
sein schlechtes Tun auf seinen Überzeugungen und seinem Charakter beruht.
Die Reue ist als Indiz für das Fortbestehen eines kontrafaktischen Wunsches
bzw. einer kontrafaktischen Volition, die sich vom tatsächlichen Tun distan-
ziert, ein wichtiges, erst in der christlichen Lesart des Handelns wider besse-
res Wissen klar akzentuiertes phänomenologisches Abgrenzungsmerkmal von
willensschwachem Handeln gegenüber anderen Formen der Schlechtigkeit.84
Von der Identifikation des inneren Menschen mit dem Gewissen geht so-
mit eine Deutungslinie der Willensschwäche aus, die insbesondere über Peter
Abaelard und den Sentenzenkommentar des Petrus Lombardus bis in die
Hochscholastik hinein wirksam bleibt: Handeln gegen das eigene Gewissen
konstituiert eine genuine Form moralischer Willensschwäche.85 Nicht min-
der wirkmächtig ist allerdings Origenes’ direkte Identifikation des inneren
Menschen mit dem Willen und seine Römerbriefauslegung in Sachen Willens-
schwäche: Wenn man genauer hinsieht, erkennt man hier deutlich die Wurzel
für Augustins Analyse des »unwilligen Handelns« (invitus facere) in seinem
Frühwerk sowie für sein Modell des zerrissenen Willens in Confessiones VIII,
das eine bedeutende Neufassung des Problems der Willensschwäche bietet.86

84
Zur Reue als zentralem und gegenüber der Antike auch spezifischem Konzept der christ-
lichen Philosophie vgl. Kobusch, Christliche Philosophie (s. Anm. 46), 112–117.
85
Vgl. hierzu J. Müller, Das Problem der Willensschwäche bei Petrus Abaelardus, in: Hoff-
mann/Müller/Perkams (Hg.), Problem (s. Anm. 7), 123–145.
86
Zu der bei Augustin grundgelegten Diskussion über das unwillige Handeln vgl. Saarinen,
Weakness (s. Anm. 7), 1994, 20–86; zur augustinischen Neuinterpretation der Willens-
schwäche in den Confessiones vgl. C. Horn, Willensschwäche und zerrissener Wille. Au-
gustinus‘ Handlungstheorie in Confessiones VIII, in: M. Fiedrowicz (Hg.), Unruhig ist
unser Herz. Interpretationen zu Augustins Confessiones, Trier 2004, 105–122, und Mül-
ler, Willensschwäche (s. Anm. 60).
Willensschwäche und innerer Mensch in Röm 7 und bei Origenes 243

3. Das christliche Verständnis der Willensschwäche im Ausgang von Röm 7


Was kennzeichnet nun diese »christliche« Traditionslinie in der Willens-
schwäche? Willensschwäche wird primär als ein moralisches Problem verhan-
delt, das in seiner anthropologisch-existenziellen Tragweite nicht bloß einen
(handlungstheoretischenoder sonstigen) ›Spezialfall‹ bildet, sondern bis an die
Wurzeln der condicio humana reicht. Dies zeigt auch die bei Origenes deutlich
werdende Einbettung des Phänomens in das Modell einer sittlichen Progres-
sion des Akteurs, der auf der höherstufigenEbene seines Wollens einen Vorsatz
gefasst hat, dem er im Handeln nicht gerecht wird: Der willensschwach Han-
delnde ist damit – gegen die dekontextualisierenden Verkürzungen der moder-
nen Debatte auf die jeweilige Handlungssituation gesprochen – immer ein Ak-
teur mit einer individuellen Geschichte, ohne die sein Tun gar nicht in vollem
Umfang intelligibel ist. Der Beitrag, den Röm 7 und das direkt oder indirekt an
diese Passage anknüpfende Schriftgut in der Problemgeschichte der Willens-
schwäche leisten, wird nun v.a. sichtbar, wenn man einen Vergleich mit der
vorherigen Çkras–a-Diskussion anstellt. Dabei sind fünf wesentliche Punkte
zu nennen:
(1) Die Charakterisierung willensschwacher Handlungen rückt mit
Röm 7 zunehmend von den meist kognitivistisch orientierten Deutungen der
antiken Philosophie ab: Die Möglichkeit »klarsichtiger Willensschwäche«,
d. h. eines Handelns gegen ein simultan präsentes und nicht kognitiv verzerr-
tes Vernunfturteil wird konsequent in den Blick genommen. Dies führt aber
nicht automatisch zu einer rein »affektiven Deutung« des Phänomens im Sin-
ne einer Überwältigung der Vernunft durch die Leidenschaft, sondern zu ei-
ner komplexeren Fassung des Verhältnisses von Geist und Fleisch als inner-
seelischen Kräften in ihrem Einfluss auf das menschliche Handeln. Die theo-
logische Erforschung von Röm 7 unter dem Gesichtspunkt »Willensschwä-
che« hat sich hier teilweise selbst Fesseln angelegt, indem sie die Passage oft
nur in die von der antiken Çkras–a-Diskussion stammenden Interpretations-
muster von »kognitiver« versus »affektiver« Deutung einzuordnen versucht
hat.87 Die Pointe von Röm 7 ist aber gerade, dass hier abseits dieser Schablo-
nen eine ganz neue subjektphilosophische Dimension der Willensschwäche
eröffnet wird: Der willensschwach Handelnde durchläuft in seinem Tun des
als schlecht Erkannten eine Selbsterkenntnis im Blick auf seine de facto wirk-
samen Präferenzen, die sich gegebenenfalls massiv von seinem (idealisierten)

87
Vgl. etwa die Darstellungen bei Hommel, Das 7. Kapitel (s. Anm. 12); Theißen, Psycholo-
gische Aspekte (s. Anm. 12), 213–223, Lichtenberger, Das Ich Adams (s. Anm. 11), 176–
186; M. Theobald, Römerbrief. Kapitel 1–11, Stuttgart 3 2002, 211–218. Dihle, Vorstel-
lung (s. Anm. 6), 94, erkennt hingegen klarer, dass die paulinische Antwort auf die Fra-
ge, warum man trotz vorhandener Einsicht in das Gute schlecht handelt, »völlig anders
[ist], als man sie aus Euripides oder Platon kennt.« Eine inhaltliche Abgrenzung vollzieht
im Rahmen seiner traditionsgeschichtlichen Spurensuche auch von Bendemann, Diastase
(s. Anm. 13).
244 Jörn Müller

Selbstbild unterscheiden. Neben der existenziellen Erfahrung der Selbstent-


fremdung eröffnet sich hier auch die Möglichkeit, Willensschwäche im Kon-
text von Phänomenen der Selbsttäuschung zu interpretieren, wie das später
Augustin88, Bernhard von Clairvaux89 und andere christliche Denker getan
haben.
(2) Die Originalität und Innovationsfähigkeit des paulinischen Ansatzes
zeigt sich auch darin, dass die in Röm 7 anklingende »Medeasentenz« bzw.
das Phänomen der Willensschwäche in der antiken Philosophie nicht mit dem
platonischen Motiv des inneren Menschen in Verbindung gebracht worden
sind.90 Willensschwäche ist ein Problem, das an den Grundwurzeln menschli-
cher Personalität ansetzt, wofür die Figur des versklavten inneren Menschen
eine Art Chiffre bildet. Diese Chiffre ist nun, wie wir gesehen haben, verschie-
denen Deutungen zugänglich: Der innere Mensch kann als Vernunft, als Wille
oder auch als sittliches Gewissen ausgelegt werden. Je nachdem, welche dieser
Bedeutungen im Vordergrund steht, ergeben sich unterschiedliche Konzeptua-
lisierungsmöglichkeiten für die Beschreibung wie auch für die kausale Analyse
des Handelns wider besseres Wissen. Die Willensschwäche wird durch die Ver-
knüpfung mit dem Motiv des inneren Menschen aus ihrer antiken Engführung
auf den Antagonismus von vernünftigem Urteil und leidenschaftlicher Begier-
de befreit und auf eine psychologisch wie auch subjektphilosophisch komple-
xere Grundlage gestellt.
(3) Das innere Konfliktszenario der Çkras–a wird auf jeden Fall da-
durch substantiell erweitert, dass über den antiken Dualismus von Vernunft
und Sinnlichkeit hinaus der Wille als dritte Instanz die seelische Bühne be-
tritt. Willensschwaches Handeln wird nun, und zwar ad verbum, kausal auf
die ›Schwäche des Willens‹ in der Umsetzung seiner höherstufigen Vorsätze
zurückgeführt, wie wir bei Origenes gesehen haben. Willensschwäche ist ei-
ne volitionale Disposition, aus der heraus Handeln wider besseres Wissen er-
klärbar ist. Damit liegt aber ein anderer Willensbegriff zugrunde als derjenige,
der paradigmatisch von A. Dihle u. a. dem Christentum zugeschrieben wird:
Der involvierte menschliche Wille ist kein in jeder Situation absolut selbst-
mächtiges und indeterminiertes Vermögen, das sich gegenüber den Urteilen
der Vernunft und gegenüber den Strebungen der Sinnlichkeit wie ein unab-
hängiger Schiedsrichter frei entscheiden kann. Unter Zugrundelegung eines
solchen starken Willensbegriffs, wo der Wille ›König im Reich der Seele‹ ist,
wäre Willensschwäche in der Tat kein nachhaltiges und v.a. kein eigenständi-
ges Problem, weil es letztlich mit dem vorsätzlichen bzw. boshaften Sündigen
koinzidieren würde. Die Pointe der Sündenerfahrung, wie sie in Röm 7 artiku-

88
Zur Psychologie der Selbsttäuschung bei Augustinus vgl. v.a. Conf. VIII u. X.
89
Vgl. Bernhard von Clairvaux, De gratia et libero arbitrio XII 38 (zur Selbsttäuschung des
Apostels Petrus), sowie C. Trottmann, Bernard de Clairvaux sur la faiblesse de la volonté
et la duperie de soi, in: Hoffmann/Müller/Perkams (Hg.), Problem (s. Anm. 7), 147–172.
90
Vgl. Heckel, Der Innere Mensch (s. Anm. 31) 170.
Willensschwäche und innerer Mensch in Röm 7 und bei Origenes 245

liert wird, ist hingegen gerade die Schwäche bzw. die Machtlosigkeit des guten
Willens, die ihre Wurzel aber wieder in seiner sittlichen ›Vorgeschichte‹, in der
ihn dominierenden Gewohnheit (consuetudo) hat.
(4) Damit gerät allerdings die christliche Tradition in ein ähnliches Di-
lemma wie die antike Çkras–a-Diskussion, das sie allerdings wesentlich klarer
erkennt als letztere: Wenn der Wille in der jeweiligen Situation zu schwach bzw.
ohnmächtig ist, um sein höherstufiges Wollen in die Tat umzusetzen, kann na-
türlich für den Willen nicht mehr ein Prinzip der prinzipiell indeterminierten
alternativen Handlungsmöglichkeiten (im Sinne einer libertas indifferentiae)
reklamiert werden: Lauert dann aber nicht hier doch wieder das Problem, dass
willensschwaches Handeln als kompulsives Tun nicht verantwortlich dem Sub-
jekt zugeschrieben werden kann, wie es ja auch die suggestiven Formulierun-
gen von Röm 7 teilweise nahelegen? Insofern das Christentum einen unauflös-
lichen Zusammenhang von Sünde und Verantwortung bzw. Schuld und Stra-
fe zugrunde legt, führt dieses Problem zu recht verschiedenen Modellen, wie
willensschwaches Handeln dem menschlichen Individuum dennoch zugerech-
net werden kann: Origenes etwa knüpft an den stoischen synkatathesis -Begriff
an91 , bei Augustin wird seine Erbsündenlehre zur zentralen Erklärungsressour-
ce, und die späteren Voluntaristen im 13. Jahrhundert (wie Johannes Duns
Scotus und Wilhelm von Ockham) machen aus dem schwachen Willen letztlich
doch ein starkes, sich kausal selbst determinierendes Vermögen, um die volle
Zuschreibung (imputabilitas ) des willensschwachen Handelns an den Akteur
zu gewährleisten. Der moraltheologische »Systemzwang« erweist sich so letzt-
lich als produktiver Faktor für das Verständnis der Willensschwäche. Die Wil-
lensschwäche ist dabei zugleich auch ein Testfall, an Hand dessen sich die Aus-
differenzierung des Willensbegriffs selbst vollzieht: Der Wille wird also nicht
nur in die Debatte über willensschwaches Handeln eingebracht, sondern in ihr
und durch sie auch selbst wesentlich modifiziert und transformiert.
(5) In bewusster Abgrenzung zum intellektualistischen Optimismus wei-
ter Teile der antiken Debatte, derzufolge dem Menschen eine restlose Über-
windung der Willensschwäche durch den Erwerb von Wissen bzw. ethischen
Tugenden möglich ist, betont die christliche Diskussion eher die menschli-
che Hilflosigkeit angesichts dieses Phänomens: Willensschwäche ist eine Art
konstitutiver Bestandteil der condicio humana (zumindest in ihrer postlapsa-
rischen Form), und ihre endgültige Ausmerzung ist nicht allein aus eigener
Kraft, sondern nur mittels der göttlichen Gnade möglich. Wie groß der Eigen-
anteil menschlicher Bemühungen an diesem Prozess ist, wird natürlich je nach
theologischer Gnadenkonzeption unterschiedlich bewertet, aber der Grund-
gedanke, dass der Mensch die Heilung seines schwachen Willens nicht allein
bewirken kann bzw. dass er ohne göttliche Hilfe stets hochgradig »rückfall-
gefährdet« ist, verbindet die verschiedenen christlichen Positionen doch mit-
einander.

91
Vgl. Origenes, Princ. III, 1, 3; 467.
246 Jörn Müller

Nimmt man diese gegenüber der antiken Çkras–a-Debatte höchst eigen-


ständigen Impulse zusammen, ist die in der theologischen Forschung ausgie-
big diskutierte Frage, ob Paulus nun Platon, Aristoteles, Epiktet, Euripides
bzw. Ovid gelesen hat oder nicht, letztlich eine problemgeschichtlichecura pos-
terior. Entscheidender ist, dass das siebte Kapitel seines Römerbriefs nicht
nur theologische, sondern auch höchst differenzierte philosophische Über-
legungen zum Problem der Willensschwäche in Gang gesetzt hat, die über die
Vermittlung von Origenes bei Augustin einen ersten Höhepunkt finden und
schließlich im 13. Jahrhundert kulminieren: Dann wird diese christliche Tra-
dition nämlich in ein differenziertes Verhältnis mit der im Rahmen der Wieder-
entdeckung des Aristoteles wieder vollständig präsenten antiken Çkras–a-
Tradition gesetzt und letztlich zu einer Synthese verschmolzen.92 Der auch
in diesem Transformationsprozess wirksam bleibenden, genuin ›christlichen‹
Fokussierung auf die Schwäche des Willens als Kernbestand des Handelns
wider besseres Wissen verdanken sowohl die Problemgeschichte der Willens-
schwäche als auch die gegenwärtige Debatte über »weakness of the will« bei
Donald Davidson und anderen dabei letztlich weit mehr als bloß ihren Namen.

92
Vgl. hierzu die Beiträge in Hoffmann/Müller/Perkams, Problem (s. Anm. 7), sowie mei-
ne noch ungedruckte Habilitationsschrift: »Willensschwäche im Denken der Antike und
des Mittelalters. Eine Problemgeschichte von Sokrates bis Johannes Duns Scotus« (Bonn
2007), die Ende 2009 in der Reihe »Ancient and Medieval Philosophy« erscheint.

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