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Die Neuauflage eines Buches reizt wohl jeden Autor dazu, einige Teile um-
zuschreiben, andere wegzulassen und vielleicht sogar neue hinzuzufügen.
Ein Buch ist ja wie ein Haus, das zu Umbauten und Anbauten einlädt. Doch
wie ein Haus durch starke Eingriffe seinen ursprünglichen Charakter ver-
liert, so verändert sich auch die Gesamtkonzeption eines Buches, wenn man
es umschreibt. Zudem besteht die Gefahr, dass Änderungen an einer Stelle
Eingriffe an zahlreichen anderen Stellen zur Folge haben – ein umgeschrie-
benes Buch wird unversehens zu einem neuen Buch. Um die Gesamtkon-
zeption und die Balance zwischen den einzelnen Teilen nicht zu gefährden,
habe ich darauf verzichtet, Texteingriffe vorzunehmen.1 Es sind lediglich
Druckfehler in der ersten Auflage korrigiert worden. Zudem sind die Ver-
weise auf Publikationen, die sich vor sechs Jahren noch im Druck befanden,
ergänzt worden. Die Neuauflage gibt mir aber die Gelegenheit, auf einige
methodische und konzeptionelle Fragen einzugehen, die Rezensenten sowie
einige Leserinnen und Leser aufgeworfen haben.
Ein erstes Problem wirft bereits der Untertitel des Buches auf. Warum
ist von skeptischen Debatten die Rede, wenn es im Mittelalter doch (ganz
anders als in der Antike und in der Frühen Neuzeit) keine skeptische Schule
gab und sich auch kein Autor als Skeptiker bezeichnete? Wird hier nicht
künstlich ein Untersuchungsgegenstand konstruiert? Dies wäre der Fall,
wenn versucht würde, eine philosophische Schule zu identifizieren und
diese von anderen Schulen oder Strömungen abzugrenzen. Das Ziel des vor-
liegenden Buches besteht jedoch darin, eine starre Gegenüberstellung von
Schulen oder gar Lehrmeinungen zu vermeiden. Nicht Schulbildungen,
sondern einzelne Argumente – skeptische ebenso wie antiskeptische – und
1
In einigen Aufsätzen habe ich aber Kernthesen wieder aufgenommen und teilweise wei-
terentwickelt, teilweise auch in leicht modifizierter Form für ein englischsprachiges Publi-
kum aufbereitet. Zu erwähnen sind vor allem: „Seeing and Judging. Ockham and Wodeham
on Sensory Cognition“, in: Theories of Perception in Medieval and Early Modern Philosophy,
hrsg. von S. Knuuttila & P. Kärkkäinen, Dordrecht: Springer 2008, 151–169; „Skepticism“,
in: The Cambridge History of Medieval Philosophy, hrsg. von R. Pasnau, Cambridge / New
York: Cambridge University Press 2010, 384–396; „Could God Deceive Us? Skeptical Hy-
potheses in Late Medieval Epistemology“, in: Rethinking the History of Skepticism. The Miss-
ing Medieval Background, hrsg. von H. Lagerlund, Leiden: Brill 2010, 171–192; „Scepticism
and Metaphysics“, in: The Oxford Handbook of Medieval Philosophy, hrsg. von J. Maren-
bon, Oxford / New York: Oxford University Press (im Druck); „Can We Trust Our Senses?
Fourteenth-Century Debates on Sensory Illusions“, in: Uncertain Knowledge, hrsg. von D.
Denery / K. Ghosh, Turnhout: Brepols (im Druck).
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wurden, oder eher um solche, die wir heute führen, vielleicht inspiriert von
mittelalterlichen Argumenten? Falls wir es sind, die solche Debatten führen
oder gar inszenieren, scheint es kaum zulässig, von skeptischen Debatten im
Mittelalter zu sprechen.
Darauf ist zunächst zu erwidern, dass in diesem Buch verschiedene phi-
losophische Auseinandersetzungen rekonstruiert und ausgewertet werden,
die tatsächlich im Mittelalter stattgefunden haben. So setzte sich Johannes
Duns Scotus direkt mit Heinrich von Gent auseinander und versuchte zu
zeigen, dass dessen vermeintliche Verteidigung der Möglichkeit von Wissen
skeptische Konsequenzen hat (§§ 4 und 8). Thomas von Aquin ging ausführ-
lich auf die Hypothese von täuschenden Dämonen ein, die in der augustini-
schen Tradition immer wieder vorgebracht wurde, und setzte sich zum Ziel,
sie zu entkräften (§ 12). Und Johannes Buridan kritisierte explizit Nikolaus
von Autrécourts fundamentalistische Auffassung von Wissen (§§ 32–33),
die er als zu eng gefasst und unbrauchbar kritisierte. Diese Beispiele zei-
gen nicht nur, dass es historisch klar situierbare Debatten gab, sondern sie
belegen auch, wie fruchtbar die scholastische Methode war: Positionen von
Vorgängern oder Zeitgenossen wurden im Rahmen einer Textkommentie-
rung detailliert rezipiert und kritisiert. Wenn in diesem Buch einige dieser
Kontroversen diskutiert werden, soll nicht zuletzt auch deutlich gemacht
werden, dass die scholastische Methode die argumentative Auseinander-
setzung mit gegnerischen Positionen förderte und dabei den Kontrahenten
einen großen Freiraum ließ.
Allerdings kann nicht bestritten werden, dass die Einwände und Prob-
leme, die diskutiert werden, an einigen Stellen über das hinausgehen, was
sich explizit in den mittelalterlichen Texten findet. Immer wieder weise ich
aus heutiger Sicht auf die Schwierigkeiten einer Position hin, teilweise auch
auf deren implizite Voraussetzungen oder Konsequenzen. So argumentiere
ich, dass Thomas von Aquin von einem „epistemologischen Optimismus“
ausging, wenn er skeptische Hypothesen zu entkräften versuchte (§ 18).
Freilich sprachen weder Thomas noch seine Kontrahenten explizit von
einem solchen Optimismus. Oder ich weise darauf hin, dass Ockham gar
nicht das Ziel verfolgte, ein unerschütterliches Wissensfundament zu legen;
er ging vielmehr von einer reliabilistischen Konzeption von Wissen aus
(§ 21). Aber natürlich berief sich Ockham nicht ausdrücklich auf eine sol-
che Konzeption. Die Rede von einem epistemologischen Optimismus oder
einem Reliabilismus ist eine moderne Ausdrucksweise, die eingesetzt wird,
um bestimmte Konzeptionen zu charakterisieren und auszuloten. Werden
mittelalterliche Debatten dadurch nicht verzerrt? Werden sie nicht heutigen
Debatten, in denen tatsächlich von Optimismus und Reliabilismus die Rede
ist, einfach untergeordnet?
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Leibniz und anderen Autoren verstehen, muss man zunächst untersuchen, wie
es überhaupt zu einer solchen Krise kam und welche Reaktionen auf sie mög-
lich waren. Es liegt dann nahe, bei spätmittelalterlichen Debatten anzusetzen
und zu fragen, ob und wie sie eine skeptische Krise auslösten. Im vorliegenden
Buch wird diese Frage aber nicht behandelt. Warum nicht? Wird damit nicht
ein zentraler Aspekt der spätmittelalterlichen Debatten ausgeblendet?
In der Tat habe ich bewusst darauf verzichtet, eine skeptische Krise als
den Orientierungs- oder gar Kulminationspunkt für diese Debatten zu be-
stimmen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Ein erster Grund liegt ganz ein-
fach darin, dass es äußerst umstritten ist, ob im 16. Jahrhundert tatsächlich
eine solche Krise ausfindig gemacht werden kann.4 Wer sich zur Erfor-
schung mittelalterlicher Texte auf eine gewagte Annahme der Frühneu-
zeitforschung beruft, wählt von Anfang an eine problematische historio-
graphische Konstruktion. Ein weiterer Grund liegt in der besonderen Art
von Skeptizismus, die zur Debatte stand. Selbst wenn im 16. Jahrhundert
tatsächlich eine skeptische Krise ausbrach, wie Popkin argumentiert, war sie
vorwiegend durch die Rezeption des Pyrrhonismus ausgelöst worden. Des-
halb spricht Popkin auch von einer crise pyrrhonienne.5 Die Quellen dieser
antiken Form von Skeptizismus blieben im Mittelalter aber weitgehend
unbeachtet, wie in der Einleitung gezeigt wird (§ 2). Viel einflussreicher
waren Argumente aus der akademischen Tradition und vor allem solche, die
erst im Mittelalter entwickelt wurden. Dazu gehören Täuschungshypothe-
sen, die sich auf die göttliche Allmacht berufen, aber auch Hypothesen im
Rahmen der christlichen Dämonologie (§ 35). Es wäre methodisch verfehlt,
eine Auseinandersetzung mit Argumenten, die nicht durch den Pyrrhonis-
mus angeregt waren, als Vorläufer für eine genuin pyrrhonische Krise zu
betrachten. Noch ein dritter Grund spricht dagegen, spätmittelalterliche
Debatten mit Blick auf eine skeptische Krise zu lesen. Ein solcher Interpre-
tationsansatz wäre teleologisch angeregt. Er würde suggerieren, dass Dis-
kussionen im 13. und 14. Jahrhundert auf ein späteres Ziel hinführten, ja
geradezu darauf ausgerichtet waren. Von Bedeutung wären sie dann nur im
Hinblick auf dieses Ziel. Oder überspitzt ausgedrückt: Skeptische Debatten
im Mittelalter wären bloß als eine Vorstufe für die eigentliche skeptische
Debatte interessant, die erst im 16. Jahrhundert einsetzte. Von einer solchen
starken Annahme soll hier abgesehen werden. Sicherlich ist es sinnvoll zu
fragen, welche Parallelen oder auch Differenzen es zwischen skeptischen
Einwände gegen die Annahme einer Krise diskutiere ich in „Was There a ‚Pyrrhonian
4
Crisis’ in Early Modern Philosophy? A Critical Notice of Richard H. Popkin“, Archiv für
Geschichte der Philosophie 86 (2004), 209–220.
5
Vgl. R. Popkin, The History of Scepticism, 3 und 5.
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Debatten im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit gab.6 Dies bedeutet aber
nicht, dass mittelalterliche Debatten teleologisch mit Blick auf frühneuzeit-
liche Kontroversen gelesen werden sollten. Sie sind als eigenständige phi-
losophische Auseinandersetzungen zu betrachten, die teilweise auf antikes
Material zurückgriffen, teilweise aber auch neue Argumente in die Debatte
einbrachten. Ob und wie sie zu einer skeptischen Krise im 16. Jahrhundert
beitrugen (wenn es denn eine solche Krise gab), ist gesondert zu untersu-
chen und fällt in das Aufgabengebiet einer Rezeptionsgeschichte.
Dieses Buch konzentriert sich auf Debatten zwischen 1267/68 und 1376/77
und deckt damit nur eine relativ kurze Periode ab. Die Beschränkung auf
diese Periode wird in der Einleitung begründet (§ 3). Aber natürlich müssen
in zukünftigen Studien auch weitere Perioden näher betrachtet werden. Wich-
tig ist zum einen das 12. Jahrhundert, in dem vor allem John of Salisbury eine
zentrale Rolle für die Wiederaufnahme und Weiterentwicklung antiker skep-
tischer Argumente spielte.7 Zum anderen müssen auch das späte 14. und das
15. Jahrhundert in den Blick genommen werden. Von besonderer Bedeutung
sind dabei moraltheologische Kontexte, in denen der Begriff der „moralischen
Gewissheit“ entwickelt wurde.8 Schließlich gilt es auch, spätscholastische Au-
toren des 16. Jahrhunderts zu untersuchen. Dabei ist nicht nur zu prüfen, ob
und wie weit sie frühere skeptische Debatten weiterentwickelten, sondern es
ist auch zu untersuchen, ob sie im Lichte neu rezipierter antiker Quellen auch
neue Argumente in die Debatten einbrachten. Diese Erweiterungen erfordern
umfangreiche Studien. Um es wieder im Bild des Hausbaus auszudrücken: Es
sind nicht bloße Umbauten oder Anbauten erforderlich, sondern ganz neue
Häuser, die neben diesem Haus gebaut werden sollten.
Ich danke Sanja Dembić und Luz Christopher Seiberth, die das ganze
Buch sorgfältig gelesen und Druckfehler in der ersten Auflage korrigiert
haben.
Berlin, im April 2012
6
Diese Frage habe ich selber in zwei neueren Aufsätzen diskutiert: „Strategischer Zweifel.
Die Funktion skeptischer Argumente in der Ersten Meditation“, in: René Descartes: Medita-
tionen über die Erste Philosophie, hrsg. von A. Kemmerling, Berlin: Akademie Verlag 2009,
11–30; „Woran können wir zweifeln? Vermögensskeptizismus und unsicheres Wissen bei
Descartes“, in: Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550–1850, hrsg. von
C. Spoerhase u.a., Berlin & New York: W. de Gruyter 2009, 43–62. Einen genuin frühneuzeit-
lichen Umgang mit skeptischen Argumenten untersuche ich in „Spinozas Antiskeptizismus“,
Zeitschrift für philosophische Forschung 61 (2007), 1–26.
7
Dies hat vor allem Ch. Grellard in Jean de Salisbury. Humanisme et scepticisme, Habilita-
tion Tours 2011, gezeigt.
8
Dazu ausführlich R. Schüßler, Moral im Zweifel, 2 Bde., Paderborn: Mentis 2002 und
2006 ; idem, „Jean Gerson, Moral Certainty and the Renaissance of Ancient Scepticism“,
Renaissance Studies 23 (2009), 445–462.
VORWORT
„Wer an allem zweifeln wollte, der würde auch nicht bis zum
Zweifel kommen. Das Spiel des Zweifelns selbst setzt schon die
Gewissheit voraus.“
XIV Vorwort
Vorwort XV
XVI Vorwort
Vor knapp zwanzig Jahren habe ich mich als Student in einer Hausarbeit
zum ersten Mal mit skeptischen Debatten im Mittelalter befasst. Meine Ein-
schätzung dieser Debatten hat sich in der Zwischenzeit natürlich verändert.
Doch mein Interesse, das Ruedi Imbach als mein erster akademischer Leh-
rer geweckt und gefördert hat, ist unverändert stark geblieben. Er hat mir
die Augen für eine faszinierende intellektuelle Landschaft geöffnet. Dafür
bleibe ich ihm stets dankbar.
INHALT
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
II Z
weifel an der absoluten Gewissheit (Thomas
von Aquin, Siger von Brabant, Petrus Johannis
Olivi, Wilhelm Crathorn, Johannes Rodington,
Gregor von Rimini, Peter von Ailly) . . . . . . . . . 117
XVIII Inhalt
Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403
§ 35 Die Epistemologisierung des Zweifels . . . . . . . . . . . . . . . 403
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417
1. Literatur vor 1700 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417
2. Literatur nach 1700 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419
PersonenRegister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
SachRegister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435
Einleitung
Einleitung
2 Einleitung
„Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine
Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn
nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das ge-
schehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte
oder müßte geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei,
wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe
sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso-
gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das,
was nicht ist. Man sieht, daß die Folgen solcher schöpferischen Anlage bemerkens-
wert sein können. [...] Solche Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem
feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Kon-
junktiven.“1
Wer also fragt, ob wir tatsächlich über Wissen verfügen oder ob wir nicht
auf vielfältige Weise getäuscht werden und bloß glauben, etwas zu wissen,
erweist sich als ein „Möglich keitsmensch“: Er formuliert Hypothesen,
die – seien sie auch nur ein Gespinst von Dunst, Einbildung und Träume-
rei – unsere Wissensansprüche auf den Prüfstand stellen. Sobald wir mit
Täuschungshypothesen konfrontiert werden, müssen wir nämlich zu-
gestehen, dass unsere Wissensansprüche einer Rechtfertigung bedürfen.
Erst wenn wir eine Rechtfertigung liefern, die alle vorgebrachten Zweifel
zerstreut, können wir glaubhaft machen, dass wir nicht bloß über eine mehr
oder weniger geordnete Menge von Meinungen verfügen, sondern tatsäch-
lich über Wissen. Und erst dann können wir Einwände, die gegen unsere
Wissensansprüche erhoben werden, mit gutem Grund zurückweisen.
Auf den ersten Blick scheint es nicht allzu schwierig zu sein, die gefor-
derte Rechtfertigung zu liefern. Werden wir etwa gefragt, ob wir tatsäch-
lich wissen, wie alt wir sind, oder ob wir nicht einer Dokumentenfälschung
zum Opfer gefallen sind, können wir antworten: Es mag wohl sein, dass die
Geburtsurkunde, auf die wir unser Wissen stützen, manipuliert worden ist.
Aber wir können die Echtheit dieser Urkunde mit Rekurs auf andere Do-
kumente, etwa auf Krankenhausunterlagen und Taufurkunden, überprüfen.
Selbst wenn die erste Rechtfertig ung sich als anfechtbar erweist, können wir
eine weitere Rechtfertigung anführen, die zeigt, dass wir tatsächlich über
Wissen verfügen.
Doch könnten die weiteren Dokumente, die wir zur Rechtfertigung
anführen, nicht auch gefälscht sein? Diese Frage verdeutlicht, dass hier
ein grundsätzliches Rechtfertigungsproblem besteht. Jede Rechtfertigung
scheint wieder anfechtbar zu sein und eine weitere Rechtfertigung zu er-
fordern. Wenn wir versuchen, diesem Problem zu entgehen, scheinen wir
unweigerlich in einem Trilemma gefangen zu sein: (1) Wir können für jede
Rechtfertigung eine weitere Rechtfertigung anführen, geraten dadurch aber
1
Musil 1978, 16.
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2
Stroud 1999, 293: „The threat of scepticism is what keeps the theory of knowledge
going.“
3
Vgl. Sextus Empiricus, PH I, 164–169; ausführlich dazu Barnes 1990, 36–57. Zur systema-
tischen Bedeutung dieses Trilemmas (auch „Agrippas Trilemma“ oder im deutschsprachigen
Raum „Münchhausen-Trilemma“ genannt) vgl. Albert 1965, 11–15, und Williams 2001,
58–68.
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4 Einleitung
weitere prominente Periode ist die frühe Neuzeit. Mit den berühmten Täu-
schungsszenarien, die Descartes in der Ersten Meditation entwirft, weist
er darauf hin, dass jede alltägliche Rechtfertigung angefochten werden
kann, und er eröffnet damit eine skeptische Debatte, die bis heute anhält.
Genau diese Szenarien – insbesondere die Hypothese vom täuschenden
Dämon – werfen nämlich die Frage auf, ob Wissen prinzipiell möglich ist.
Lässt sich angesichts der Tatsache, dass ein Dämon uns alle Gedanken ein-
geben kann, überhaupt der Anspruch erheben, ein Wissen von materiellen
Gegenständen, von anderen Menschen und von unserem eigenen Körper
zu haben? Müssen wir nicht zugestehen, dass wir höchstens ein Wissen
von unseren eigenen Gedanken besitzen, nicht aber von dem, worauf sich
die Gedanken angeblich beziehen? Angesichts dieser Fragen ist es nicht er-
staunlich, dass das allgemeine Rechtfertigungsproblem, das in der Antike
ausführlich diskutiert wurde, in der frühen Neuzeit immer mehr zu einem
Problem der Rechtfertigung unseres Wissens von einer materiellen Außen-
welt wurde.
Und wie steht es mit dem Mittelalter? Wurden auch in dieser Periode
der Philosophie geschichte Wissensansprüche prinzipiell angefochten?
War die skeptische Herausforderung der auslösende Faktor für eine
kritische Prüfung und Analyse des Wissensbegriffs? Blickt man auf die
Forschungsgeschichte, scheint es eine simple Antwort auf diese Fragen
zu geben: In der Tat gab es im Mittelalter einen Skeptizismus, der sich
vor allem im 14. Jh. herausbildete und die gesamten spätscholastischen
Debatten bis in die frühe Neuzeit hinein prägte. Bereits in den Anfängen
der philosophischen Mediävistik wurde diese Antwort formuliert, freilich
mit einem negativen Unterton. So behauptete F. Brentano in einer 1895
publizierten Schrift, mit Thomas von Aquin habe die mittelalterliche Phi-
losophie ihren Höhepunkt erreicht, kurz darauf habe aber das „Stadium
des Verfalles“ begonnen, denn Wilhelm von Ockham habe die Grundlage
für eine „revolutionäre und skeptische Tendenz“ gelegt.4 Ockham habe
infrage gestellt, dass wir von Gott und der materiellen Welt ein sicheres
Wissen gewinnen können, ja er habe sogar bezweifelt, dass von mora-
lischen Geboten Wissen möglich sei. Denn was auch immer wir zu wissen
glauben, es könnte immer sein, dass der allmächtige Gott eingreift und uns
irgendwelche Meinungen eingibt, die nicht auf die Welt zutreffen. Da eine
göttliche Manipulation nie ausgeschlossen werden könne, seien wir nie in
der Lage, unser Wissen absolut zu rechtfertigen. Dadurch, so Brentano, sei
ganz allgemein das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der menschlichen
Vernunft geschwunden.
4
Brentano 1968, 14–15 (Erstveröffentlichung 1895).
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5
Michalski 1969, 69 (Erstveröffentlichung 1926): „Plus j’ai étudié le criticisme et le scep-
ticisme au XIVe siècle, plus je suis arrivé à me convaincre, que ce qui paraissait la propriété
exclusive ou extraordinaire de tel ou tel écrivain, n’était en réalité, que le résultat d’un courant
plus général, qui se frayait un chemin dans la mentalité de l’époque.“
6
Vgl. Gilson 1937, 86.
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6 Einleitung
7
Sie finden bis in die neuere Forschung hinein Nachfolger. So schließt sich ihnen Kennedy
an, der in einer Reihe von Arbeiten die These vertritt, das ganze 14. Jh. sei gleichsam skeptisch
unterwandert gewesen; vgl. Kennedy 1983, 1985 und 1993. In seiner Gesamtdarstellung der
mittelalterlichen Philosophie behauptet auch Kenny 2005, 92, die Erwägung eines göttlichen
Eingreifens in den Erkenntnisprozess habe den Weg zu einem Skeptizismus geebnet. Er sieht
daher in den Oxforder und Pariser Debatten des 14. Jhs. eine „analytical-sceptical tradition“
(ibid., 104). Mit Blick auf diese historiographische Kategorisierung stellt Tachau 1988, 75, kri-
tisch fest: „Perhaps the most stubborn truism of twentieth-century accounts of late medieval
scholastic philosophy is that, beginning with Duns Scotus, theologians became determined
skeptics in epistemology.“
8
Vgl. Boehner 1958 (Erstveröffentlichung 1943).
9
Boehner 1958, 269.
10
Eine Darstellung und konzise Auswertung dieser Studien bieten Leppin 1998 und Karger
1999.
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zahlreicher Philosophen des 14. Jhs. sahen nun mehrere Interpreten das
besondere Merkmal der Debatten dieser Zeit.11 R. Pasnau fasste diese Ein-
schätzung in einer Übersichtsdarstellung zusammen, indem er bemerkte,
die scholastischen Autoren hätten sich gar nicht für die skeptische Frage
interessiert, ob Wissen möglich sei, sondern vielmehr die kognitionstheo-
retische Frage diskutiert, wie Wissen erworben werde. Erst ganz am Ende
des Mittelalters, im Übergang zur frühen Neuzeit, habe die skepti sche
Herausforderung wieder an Bedeutung gewonnen.12
Lässt sich also trotz eines gegenteiligen ersten Eindrucks kein skepti-
scher Autor ausfindig machen? Ist der mittelalterliche Skeptizismus eine
historiographische Fiktion? Die Hauptschwierigkeit, diese Fragen zu be-
antworten, liegt in den historiographischen Hypothe ken, mit denen sie
belastet sind. In die bloße Formulierung der Fragen flossen (und fließen teil-
weise auch in der neuesten Forschung) nämlich mehrere Annahmen. Ers-
tens wird angenommen, es gehe darum, eine skeptische Position ausfindig
zu machen und diese in den Schriften eines bestimmten Philosophen oder
einer bestimmten Gruppe von Denkern zu lokalisieren. Je nach Standpunkt
werden diese Schriften dann zitiert, um den Nachweis dieser Position zu
erbringen oder um gerade umgekehrt zu zeigen, dass sich keine Anzeichen
dieser Position finden. Zweitens wird die Zuschreibung einer skeptischen
Position mit einer negativen Bewertung verbunden. So wird – in Brentanos
drastischen Worten ausgedrückt – die Ausarbeitung und Verbreitung einer
skeptischen Position als „Stadium des Verfalles“ gesehen, das zu einer Ab-
wertung des Vertrauens in die Leistungsfähigkeit der menschlichen Ver-
nunft führte. Wer wie Brentano tatsächlich eine solche Verfallserscheinung
sieht, sucht ihren Anfangs- und Endpunkt zu bestimmen. Wer hingegen
wie Boehner die spätmittelalterlichen Autoren vor dem Dekadenz-Vor-
wurf in Schutz nehmen will, versucht zu zeigen, dass Ockham und seine
Nachfolger „nicht unter der philosophischen Erfahrung des Skeptizismus
gelitten haben.“13 Ob nun anklagend oder apologetisch argumentiert wird,
in jedem Fall wird der Skeptizismus negativ beurteilt. Drittens wird der
Auslöser für das Entstehen einer skeptischen Position in einer bestimmten
theologischen Theorie gesehen, nämlich in der Allmachtslehre, die sämtliche
philosophischen Diskussionen bestimmte. Folgt man Michalski und Gilson
Als Beispiele seien erwähnt: Maier 1967, de Rijk 1985, 214–218, Adams 1987, 588–601,
11
Tachau 1988, Kaufmann 1994, 229–238, Biard 1997, 55–83, Robert 2002.
12
Pasnau 2003b, 214: „Skepticism simply ceased to be a prominent topic of discussion until
the end of the Middle Ages. Instead, attention was focused on how knowledge is acquired.
Here the issue was not how to define knowledge – the question that Plato originally posed
and that dominated later twentieth-century epistemology – but how to understand the cogni-
tive operations that generate it.“
13
Boehner 1958, 292. Auch Day 1947, 210, spricht von einem „Erleiden“ des Skeptizismus.
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8 Einleitung
(und nach ihnen prominenterweise auch Blumenberg),14 ist diese Lehre die
treibende Kraft für erkenntnistheoretische Diskussionen. Schließt man sich
hingegen Boehner an, ist sie ebenfalls dominant, dient aber eher der Stär-
kung des Wissensanspruchs, weil ja im Falle eines göttlichen Eingreifens
auf jeden Fall wahre Überzeugungen entstehen. Viertens schließlich wird
die skeptische Position einer bestimmten Strömung zugeschrieben, nämlich
dem Ockhamismus, der je nach Standpunkt für den Verfall der spätmittel-
alterlichen Philosophie verantwortlich gemacht oder vor diesem Vorwurf in
Schutz genommen wird.
Will man der Frage nachgehen, ob es im Mittelalter einen Skeptizismus
gegeben habe, muss man sich zunächst mit diesen vier Annahmen aus-
einandersetzen, die explizit oder implizit die meisten Forschungsdebatten
bestimmt haben.15 Für die Skeptizismus-Problematik gilt in besonderem
Maße, was für die mittelalterliche Philosophie im Allgemeinen gilt: Eine
Beschäftigung mit dieser Epoche der Philosophie muss immer mit einer
kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichtsschreibung einhergehen.
Seit dem späten 19. Jh. haben sich nämlich historiographische Schemata he-
rausgebildet, die bis in die Gegenwart hinein die Wahrnehmung der mittel-
alterlichen Texte bestimmen. Erst wenn diese Schemata kritisch betrachtet
werden, zeigt sich, ob sie für eine Textanalyse hilfreich sind oder ob sie im
Gegenteil den Blick auf diese Texte beeinträchtigen und verstellen. Betrach-
ten wir also die vier genannten Annahmen.
Gemäß der ersten Annahme wird skeptisches Philosophieren mit dem
Einnehmen einer skeptischen Position identifiziert.16 Es wird suggeriert,
ein Skeptiker stelle eine bestimmte Behauptung auf – entweder die starke
Behauptung, Wissen sei prinzipiell unmöglich, oder die schwächere Be-
hauptung, Wissen sei auf natürlichem Weg zwar möglich, könne aber von
Gott jederzeit zunichte gemacht werden. Diese Annahme übersieht indes-
sen, dass skeptische Probleme im Mittelalter in einer dialektischen Situation
diskutiert wurden, in der zunächst eine Frage gestellt und dann bejahende
und verneinende Antworten erörtert wurden. Das Ziel bestand nicht im
Einnehmen und Verteidigen einer skeptischen Position, sondern im Aus
14
Vgl. Blumenberg 1988, 205–233 (Erstveröffentlichung 1966).
15
Einen alternativen Forschungsansatz verfolgte Schmitt, der sich auf die Rezeption der an-
tiken Quellen konzentrierte und zum Schluss kam, es sei nicht sinnvoll, von einem Skeptizis-
mus im Mittelalter zu sprechen, weil der pyrrhonische Skeptizismus fast unbekannt gewesen
sei und der akademische Skeptizismus nur punktuell rezipiert worden sei (vgl. Schmitt 1972,
5–10). So berechtigt dieser Hinweis auf das antike Erbe auch ist, reduziert er doch skeptische
Fragestellungen auf einen ganz bestimmten Typ und lässt jene Typen unberücksichtigt, die
genuin mittelalterlichen Ursprungs sind.
16
So spricht Gilson 1937, 82, ausdrücklich von „Ockham’s last position on the question“
und von einer „Ockhamist thesis“.
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Beide Beispiele werden in dieser Studie ausführlich analysiert; vgl. zu Heinrich von Gent
17
§ 5, zu Crathorn § 16.
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10 Einleitung
18
Vgl. Quästionen zum ersten Sentenzenbuch, q. 1 (ed. Hoffmann 1988, 123).
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ist. Seiner Ansicht nach kann man erst dann von Wissen im strengen Sinn
sprechen, wenn nicht ein beliebiger kognitiver Zustand vorliegt, sondern ein
Zustand, mit dem auf stabile, untrügliche und unkorrigierbare Weise das
Wesen eines Gegenstandes erfasst wird. Folglich kann man einem Menschen
auch nur dann Wissen zusprechen, wenn er über einen solchen kognitiven
Zustand verfügt. Ob dies eine überzeugende Auffassung von Wissen ist, soll
an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Und ob Heinrichs Erklärung der
kognitiven Mechanismen, die einen solchen Zustand ermöglichen, plausibel
ist, sei hier ebenfalls dahingestellt; bereits mittelalterliche Autoren – allen
voran Johannes Duns Scotus – formulierten kritische Einwände.19 Entschei-
dend ist hier nur die Funktion der skeptischen Fragestellung, die keines-
wegs „zersetzend“ war, sondern durchaus positiv – auch und gerade dann,
wenn sie kritische Einwände hervorrief und eine rege Debatte auslöste. 20
Was B. Stroud mit Blick auf die gegenwärtigen Diskussionen sagte, trifft
auch auf die mittelalterlichen Disputationen zu: Ge rade die Bedrohung
durch den Skeptizismus treibt die Erkenntnistheorie voran. Erst durch die
skeptische Herausforderung wird nämlich klar, dass der auf den ersten Blick
selbstverständlich erscheinende Wissensbegriff einer Analyse bedarf und
dass Wissensansprüche gerechtfertigt werden müssen.
Auch die dritte Annahme, die in den theologischen Diskussionen über
göttliche Allmacht die treibende Kraft für skeptische Debatten sieht, muss
einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Zunächst gilt es zu beach-
ten, dass die Omnipotenzlehre nur ein Auslöser für skeptische Debatten
war, aber keineswegs der einzige. Auch andere Theorien und Problem
stellungen, die teilweise auf antiken Vorlagen beruhten und teilweise
genuin mittelalterlichen Ursprungs waren, bildeten den Ausgangspunkt
für solche Debatten. Dies möge wiederum ein Beispiel verdeutlichen,
nämlich jenes der Sinnestäuschungen. Wenn man einen Holzstab sieht,
der halb ins Wasser eingetaucht ist, erscheint er gebrochen, und diese Er-
scheinung bildet die Grundlage für die falsche Meinung, dass der Holzstab
tatsächlich gebrochen ist. Beispiele dieser Art veranlassten Petrus Aureoli
Selbst wenn sie keine erkenntnistheoretische Debatte ausgelöst hätte, wäre sie nicht
20
12 Einleitung
im frühen 14. Jh. dazu, grundsätzlich zu fragen, was man in einer Wahr-
nehmungssituation erfasst und worüber man Meinungen bildet. 21 Bezieht
sich jemand, der in diesem Fall eine Meinung erwirbt, nur auf den als ge-
brochen erscheinenden Holzstab und damit auf einen „erscheinenden Ge-
genstand“? Handelt es sich dabei um eine besondere Entität, die nicht mit
dem Holzstab im Wasser identifiziert werden kann? Ist dann nur noch ein
unmittelbarer Zugang zu dieser besonderen Entität möglich? Es ist leicht
ersichtlich, dass hier nicht einfach ein Spezialproblem vorliegt. Da nämlich
in jeder Wahrnehmung – auch in einer veridischen – einer Person etwas
erscheint, könnte man geneigt sein zu sagen, dass sich eine Person immer
primär auf einen „erscheinenden Gegenstand“ bezieht und von diesem Ge-
genstand eine Meinung erwirbt. Der besondere Fall der Sinnestäuschung
verdeutlicht nur auf prägnante Weise, was für jede Wahrnehmung gilt.
Doch wie ist dann noch ein direkter Zugang zu realen Gegenständen in der
materiellen Welt möglich? Wie lässt sich dann noch behaupten, dass wir
Meinungen oder gar ein Wissen von realen Gegenständen haben? Müssten
wir nicht bescheidener sagen, dass nur ein Wissen von erscheinen den
Gegenständen möglich ist? Genau diese Fragen lösten im 14. Jh. eine rege
Debatte über den Gegenstand des Wissens aus. Während einige Autoren
in der Tat behaupteten, Wissen beziehe sich primär nur auf erscheinende
Gegenstände, behaupteten andere (unter ihnen prom inenterweise Ock-
ham), die Annahme besonderer erscheinender Gegenstände sei ein ontolo
gischer Fehler; wenn Wissen überhaupt möglich sei, könne es sich nur auf
reale Gegenstände beziehen. Wie dieses Beispiel zeigt, löste bereits die
Analyse natürlicher Wahrnehmungsprozesse skeptische Debatten aus. 22 Es
wäre daher irreführend, einzig und allein in der theologisch motivierten
Hypothese eines übernatürlichen Eingreifens ein skeptisches Potenzial zu
sehen.
Natürlich spielte die theologische Allmachtslehre, die sowohl in der
christlichen als auch in der jüdischen und islamischen Kultur tief verwurzelt
war, ebenfalls eine wichtige Rolle für die Genese skeptischer Debatten. 23 Bei
einer Analyse der Verwendung dieser Lehre in philosophischen Kontexten
ist allerdings Vorsicht geboten. Wenn mittelalterliche Philosophen von der
Omnipotenzlehre Gebrauch machten, verfolgten sie nicht die Absicht,
21
Vgl. Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3, sect. 14 (ed. Buytaert 1956, 696–698),
ausführl ich dazu § 21.
22
Denery 2005, 3, stellt daher zu Recht fest, dass diese Beispiele auf die Kluft zwischen
Erscheinendem und Existierendem aufmerksam machten und daher gleichsam die Eingangs-
tür zu einer grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Analyse bildeten, nicht bloß zu einer
Untersuchung einzelner Ausnahmefälle.
23
Vgl. zu der Verwurzelung in diesen Kulturen Rudavsky 1985 und Perler & Rudolph
2000.
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Trotz dieser Analogie besteht natürlich auch eine entscheidende Disanalogie. Der all-
25
14 Einleitung
Vgl. Popkin 2003. Freilich stellte der Pyrrhonismus auch für den frühneuzeitlichen
29
Skeptizismus nur einen Ausgangspunkt dar. Für eine kritische Diskussion der These Popkins
vgl. Perler 2004c.
30
Diese Handschriften sind in drei wichtigen Bibliotheken überliefert, nämlich in Paris,
Venedig und Madrid, und stammen aus der Zeit zwischen dem späten 13. und dem frühen
14. Jh. Zur Datierung der Handschriften vgl. Wittwer 2003.
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16 Einleitung
31
Vgl. Wittwer 2006. Er korrigiert überzeugend Floridi 2002, 67–68, der die Zuschreibung
zu Niccolò da Reggio unkritisch von Mutschmann übernimmt.
32
So lässt sich nicht nachweisen, dass Petrus von Alvernia diesen kannte, wie gelegentlich
angenommen wird; vgl. Wittwer 2006.
33
Vgl. Wittwer 2002.
34
Vgl. Floridi 2002, 70–77 und 80–87. Es gab sogar noch eine weitere Übersetzung des
Grundrisses, die möglicherweise wenige Jahre vor Etiennes Ausgabe entstand und aus der
Feder von Johannes Paez de Castro stammt. Diese Übersetzung übte allerdings keinen Ein-
fluss auf die Rezeption aus.
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35
Dies ist gegenüber Floridi 2002, 15, zu betonen, der behauptet: „The point is that the
Middle Ages show no significant interest in skeptical arguments within the restricted philo-
sophical and theological debates that may address issues concerning the nature and reliability
of knowledge, in discussions of ethical, religious, and epistemological questions at ‚a scien-
tific level,‘ as we would say nowadays.“ Diese starke These, die durch keine Textbelege oder
Textanalysen gestützt wird, lässt sich in mindestens zweifacher Hinsicht anfechten. Erstens:
Die Tatsache, dass die mittelalterlichen Autoren kein Interesse für jene Form von skeptischen
Argumenten zeigten (oder dass sie schlichtweg keine Kenntn is von dieser Form hatten), die
Floridi im Pyrrhonismus verankert, beweist noch lange nicht, dass sie kein Interesse für
skeptische Argumente hatten. Zweitens: Ob tatsächlich keine „wissenschaftliche Ebene“ für
die Behandlung epistemologischer Fragen vorhanden war, muss mit Blick auf mittelalterliche
Texte untersucht werden und darf nicht von vornherein angenommen werden.
36
Grellard 2004 weist zu Recht darauf hin, dass man zunächst eine Typologie skeptischer
Argumentationen erstellen muss (und zwar nicht nur mit Blick auf antike Vorlagen), bevor man
darüber urteilt, ob es im Mittelalter einen Skeptizismus gegeben hat oder nicht.
37
Vgl. zur Rezeption Schmitt 1972, 18–42. Freilich dominierte die augustinische Quelle
gegenüber der ciceronischen. Augustins Contra academicos wurde durch andere Texte (etwa
De diversis quaestionibus 83, q. 9) ergänzt, in denen ebenfalls skeptische Probleme erörtert
werden. Auf der Grundlage dieser Texte referiert bereits Johannes von Salisbury in Policrati-
cus VII die akademische Position.
38
So etwa von Bonaventura, De scientia Christi, q. 4 (ed. Speer 1992, 114), Heinrich von
Gent, Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson 2005, 12–13), Wilhelm von Ockham, Ordinatio I, prol.,
q. 1 (OTh I, 43), Nikolaus von Autrécourt, Correspondence I.15 (ed. de Rijk 1994, 54–56).
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18 Einleitung
dass wir gelegentlich auf einer irreführenden Basis Urteile bilden.39 Diese
Stellen erwiesen sich nicht nur als wichtig, weil sie die klassischen Beispiele
präsentierten, die von den mittelalterlichen Autoren übernommen wurden.
Sie waren auch von Bedeutung, weil sie auf ein grundsätzliches Problem auf-
merksam machten: Wie können wir je sicher sein, dass wir mithilfe unserer
natürlichen kognitiven Fähigkeiten ein Wissen von den materiellen Gegen-
ständen gewinnen, wenn uns diese Gegenstände doch manchmal ganz anders
erscheinen, als sie wirklich sind? Solange uns kein Kriterium zur Verf ügung
steht, mit dem wir überprüfen können, ob die Gegenstände tatsächlich so
sind, wie sie uns erscheinen, können wir uns nie auf die Erscheinungen ver-
lassen. Doch wie können wir ein Überprüfungskriterium gewinnen, wenn
uns die Gegenstände immer in einer konkreten Situation auf diese oder jene
Weise erscheinen? Wir können nie so etwas wie einen Gottesstandpunkt
einnehmen, von dem aus wir die Gegenstände so erfassen, wie sie „an sich“
sind; wir sind immer an eine bestimmte Perspektive gebunden. Können
wir also grundsätzlich nur ein Wissen davon erwerben, wie uns die Gegen-
stände gerade erscheinen? Oder sind wir trotz eines fehlenden Kriteriums
in der Lage, etwas darüber zu erfahren, wie sie wirklich sind? Diese Fragen
verdeutlichen, dass die Täuschungsfälle nicht bloß als bizarre Ausnahme-
fälle diskutiert wurden, sondern Anlass gaben, grundsätzlich zu fragen, ob
und wie wir je ein zuverlässiges Wissen gewinnen können.
Das zweite Element der akademischen Skepsis, das sich in der mittelalter-
lichen Rezeption als folgenreich erwies, war die Unterscheidung zwischen
dem Wahren (verum) und dem, was dem Wahren ähnlich ist (veri simile).
Die Akademiker betonten, ein Mensch könne das Wahre nicht erkennen und
folglich auch kein Wissen vom Wahren erwerben. Wenn ein Wissen möglich
sei, so nur von dem, was dem Wahren ähnlich ist.40 Diese Unterscheidung,
warf natürlich sogleich die Frage auf, wie wir je bestimmen können, was
dem Wahren ähnlich ist, wenn wir das Wahre selbst nicht erfassen. Augustin
wies mithilfe eines vergleichenden Beispiels auf dieses Kernproblem hin.41
Angenommen, jemand sieht einen Mann und sagt, er sei seinem Vater ähn-
lich, behauptet aber gleichzeitig, den Vater nicht zu kennen. Diese Person
scheint unglaubwürdig zu sein; denn nur wer den Vater kennt, kann von
dessen Sohn sagen, er sei ihm ähnlich. Ebenso kann nur jemand, der das
Wahre erfasst, von etwas anderem sagen, es sei dem Wahren ähnlich. Somit
39
Vgl. Cicero, Acad. II, §§ 81–82 (für Sinnestäuschungen), §§ 47–48 und §§ 51–54 (für
Wahnsinn und Träume). Zu allen Formen siehe konzis Augustin, Contra academicos II, 5,
11.
40
Vgl. Augustin, Contra academicos II, 7, 16 – II, 8, 20; ausführlich dazu Fuhrer 1993 und
1997, 174–232.
41
Vgl. Augustin, Contra academicos II, 7, 16.
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scheint ein Skeptiker, der behauptet, das Wahre nicht zu erkennen, wohl
aber das, was dem Wahren ähnlich ist, unglaubwürdig zu sein. Entweder
er verzichtet ganz auf die Rede von dem, was dem Wahren ähnlich ist, und
gibt damit jeden Erkenntnis- und Wissensanspruch preis. Oder aber er
hält daran fest, dass er das dem Wahren Ähnliche erkennt, muss dann aber
wohl oder übel zugeben, dass er auch den dafür relevanten Maßstab – das
Wahre – erkennt. Die mittelalterlichen Leser wurden auf dieses Problem auf-
merksam und wählten es als Ausgangspunkt, um grundsätzlich zu klären,
was es heißt, das Wahre zu erkennen. Bedeutet dies, einfach einen Gegen-
stand mit allen seinen Eigenschaften zu erkennen (was nur teilweise oder
gar nicht der Fall ist, wenn bloß das dem Wahren Ähnliche erkannt wird)?
Oder heißt dies, das Wesen eines Gegenstandes zu erkennen, d.h. genau das,
was ihn trotz aller Veränderungen zu einem Gegenstand einer bestimmten
Art macht? Besonders Heinrich von Gent und seine Nachfolger diskutierten
diese Fragen im Detail, um dadurch den Wissensbegriff zu klären. Wenn
nämlich für Wissen im strengen Sinn das Erkennen des Wahren erforderlich
ist, dieses aber immer ein Erkennen des Wesens erfordert, kann Wissen nur
essentialistisch verstanden werden. Das heißt: Nur wer das Wesen erfasst,
kann den Anspruch erheben, etwas zu wissen. Doch wie kann dieser Wis-
sensanspruch begründet werden? Wie können wir trotz der offensichtlichen
Fälle, in denen es uns aufgrund irreführender oder unvollständiger Sinnes-
informationen nicht gelingt, das Wesen eines Gegenstandes zu erkennen,
Wissen beanspruchen? Welche besonderen kognitiven Prozesse müssen wir
in Anschlag bringen, um diesen Anspruch aufrechterhalten zu können?
Diese Fragen verdeutlichen, dass die akademische Rede von „dem Wahren“
unweigerlich eine Grundsatzdebatte über die Anfechtung und Begründbar-
keit eines essentialistischen Wissensanspruches auslöste.
Die skeptischen Debatten im Mittelalter beruhten aber nicht nur auf
früheren skeptischen Diskussionen, sondern – so paradox es auf den ersten
Blick auch erscheinen mag – auch auf dezidiert antiskeptischen Diskussio-
nen. Die wohl einflussreichste Diskussion dieser Art war jene rund um den
aristotelischen Begriff des Wissens. Aristoteles führte diesen Begriff be-
kanntlich ein, indem er feststellte, dass es für Wissen im strengen Sinn nicht
ausreicht, einfach festzustellen, dass etwas der Fall ist. Vielmehr muss man
auch angeben können, warum etwas der Fall ist und gar nicht anders der Fall
sein kann. Das heißt, man muss Gründe – sogar notwendige Gründe – für
einen bestimmten Sachverhalt angeben. Dies kann man Aristoteles zufolge
nur tun, wenn man einen syllogistischen Beweis für diesen Sachverhalt for
muliert, d.h. wenn man zeigt, wie aus bestimmten Prämissen genau jene
Konklusion folgt, die den Sachverhalt bezeichnet. Wenn es sich dabei um
einen Beweis handeln soll, der tatsächlich Wissen und nicht bloß eine wahr-
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20 Einleitung
42
Vgl. Anal. Post. I, 2 (71b21–22), ausführlich dazu Detel 1993, Bd. 2, 62–66.
43
Einen konzisen Überblick über die Rezeption bietet Serene 1982.
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zeichnet, wie er wirklich ist. Doch selbst wenn es keine Kluft zwischen Sein
und Schein gibt, stellt sich ein weiteres Problem. Es könnte sehr gut sein,
dass wir mehrfach festgestellt haben, dass auf das Auftreten eines Blitzes
ein Geräusch folgt. Doch vielleicht folgt nur manchmal, aber nicht immer
ein Geräusch. Aufgrund der Tatsache, dass wir in einigen Fällen etwas be-
obachtet haben, folgt nicht, dass es sich in allen Fällen so verhält oder gar
verhalten muss. Daher dürfen wir nicht einfach annehmen, dass wir eine
Prämisse gewinnen, die in allen Fällen wahr ist. Wir sind nur zu folgender
Aussage berechtigt: Aufgrund der Fälle, die wir beobachtet haben, ist es
sehr wahrscheinlich, dass das Erlöschen von Feuer ein Geräusch ist. Mehr
als Wahrscheinlichkeit lässt sich hier nicht gewinnen.
Angesichts dieser Überlegungen ist es nicht erstaunlich, dass die aristoteli-
sche Wissenstheorie gleichsam das Sprungbrett für skeptische Überlegungen
bildete. Ein besonders klares Beispiel dafür findet sich bei Adam Wodeham,
einem Autor des 14. Jhs. Er schloss sich der aristotelischen Auffassung an,
dass unter Wissen im strengen Sinn immer demonstratives Wissen zu verste-
hen ist, fügte dann aber gleich hinzu, dass es kein unbezweifelbares Wissen
gibt. „Alles Wissbare ist bezweifelbar“, lautet seine These.44 Wenn nämlich
die Prämissen eines Beweises aus den genannten Gründen anfechtbar sind,
lässt sich auch die aus ihnen gewonnene Konklusion anfechten – jedes de-
monstrative Wissen ist so gut oder so schlecht wie die Prämissen, auf denen
es beruht. Und Prämissen, die auf der Grundlage der Sinneswahrnehmung
gewonnen werden, können nie als unbezweifelbar gelten. Dieses Beispiel
verdeutlicht, dass die Auseinandersetzung mit einer Theorie, die im Kern
antiskeptisch angelegt war, durchaus skeptische Überlegungen stärkte und
Anlass gab zu einer Revision oder Einschränkung der Wissensansprüche.
Und natürlich führte eine Beschäftigung mit dieser Theorie auch dazu, dass
der zugrunde liegende Wissensbegriff geprüft und präzisiert wurde.
Nicht nur Aristoteles’ eigene Theorie, sondern auch seine Darstellung von
Vorgängertheorien bildete einen wichtigen Ausgangspunkt für die mittel-
alterlichen Debatten. Indem Aristoteles die Probleme und Aporien, die von
vorsokratischen Philosophen aufgeworfen worden waren, schilderte, bot
er den mittelalterlichen Autoren nämlich einen Einstieg in skeptische Dis-
kussionen, und zwar unabhängig davon, ob sie sich Aristoteles’ Lösungen
für diese Probleme anschlossen oder nicht. Zwei Beispiele mögen dies ver-
anschaulichen. Im vierten Buch der Metaphysik stellt Aristoteles die These
Heraklits vor, dass die Dinge sich permanent verändern; man kann nicht
zweimal in denselben Fluss steigen.45 Diese These veranlasste verschiedene
Vgl. Lectura secunda, dist. 1, q. 3, § 2 (ed. Wood 1990, 227); ausführlich dazu § 25.
44
22 Einleitung
46
Vgl. Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 43).
47
Vgl. Met. IV, 4 (1005b35–1006a28).
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Es ist ein Irrtum zu glauben, Gott könne eine Kugel nicht nach oben fliegen
lassen, weil dies in der Natur oder gemäß der Natur unmöglich sei, denn
„gemäß der Natur“ kann nicht nur im Sinne von „gemäß den aktuell gelten-
den Naturgesetzen“ verstanden werden, sondern auch im Sinne von „gemäß
dem, was Gott auch gegen die Naturgesetze bewirken kann“. In diesem
Sinne kann Gott sehr wohl etwas Unmögliches bewirken.
Damit wird der Raum des Möglichen erweitert. Neben dem, was gemäß
den Naturgesetzen möglich ist, muss immer auch das berücksichtigt wer-
den, was rein logisch möglich ist, d.h. was dem Gesetz der Widerspruchs-
freiheit nicht widerspricht. Entscheidend ist dabei nicht, dass das Mögliche
tatsächlich verwirklicht wird (selbst wenn Gott nie eine Kugel nach oben
fliegen lässt, ist es möglich, dass sie nach oben fliegt), sondern dass das
Mögliche nicht durch die Naturgesetze begrenzt wird. Bildlich gesprochen
könnte man sagen, dass der Raum des Möglichen über den Raum des natur-
gesetzlich Möglichen hinausgeht und einen neuen Horizont eröffnet. Diese
Überlegung erwies sich als folgenreich für die Naturphilosophie, denn
nun eröffneten sich Möglichkeiten, die über das hinausgingen, was durch
48
Articuli condemnati, art. 147 (ed. Piché 1999, 124): „Quod impossibile simpliciter non
potest fieri a deo, uel ab agente alio. – Error, si de impossibili secundum naturam intelliga-
tur.“
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24 Einleitung
oder könnte es nicht jederzeit der Fall sein, dass ein übernatürlicher Prozess
stattfindet? Welches Kriterium steht uns dann zur Verfügung, um den über-
natürlichen Prozess vom natürlichen zu unterscheiden? Darüber hinaus
taucht aber noch ein weiteres, grundsätzlicheres Problem auf. In welchem
Raum des Möglichen müssen wir uns bewegen, wenn wir unsere Wissens-
ansprüche rechtfertigen? Man könnte argumentieren, dass eine Rechtfer-
tigung wie „Ich weiß, dass vor mir ein Baum steht, weil es naturgesetzlich
unmöglich ist, dass ich einen Baum-Gedanken habe, ohne dass dieser von
einem tatsächlich präsenten Baum verursacht wurde“ ausreicht. Doch man
könnte ebenso gut argumentieren, dass dies keine befriedigende Rechtfer-
tigung sein kann, weil sie ja die Möglichkeit eines Überschreitens des natur-
gesetzlich Möglichen missachtet. Wenn hier überhaupt eine Rechtfertigung
befriedigend sein kann, so könnte man fortfahren, dann nur eine solche, die
selbst das mögliche Eingreifen Gottes ber ücksichtigt. Doch wie könnte eine
absolute Rechtfertigung aussehen? Ist der Anspruch auf eine solche Recht-
fertigung nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt? Diese Fragen ver
deutlichen, dass die Erweiterung des Raumes des Möglichen nicht bloß zu
bizarren Gedankenexperimenten Anlass gab, wie man zunächst vermuten
könnte, sondern eine grundsätzliche Debatte darüber auslöste, was es über-
haupt heißt, Wissensansprüche befriedigend zu rechtfertigen.
Schließlich gibt es einen weiteren genuin mittelalterlichen Ausgangs-
punkt für skeptische Diskussionen: die Species-Theorie. Unter dem Ein-
fluss verschiedener griechischer und arabischer Vorlagen versuchten die
scholastischen Autoren ab der Mitte des 13. Jhs. nicht nur zu rechtfertigen,
dass wir Wissen haben, sondern auch im Detail zu erklären, wie wir Wissen
erwerben. Sie unterzogen dafür den kognitiven Prozess, mit dem Wissen
erworben wird, einer genauen Analyse und kamen zu dem Schluss, dass wir
nur mithilfe besonderer kognitiver Entitäten, sog. Species (species), einen
epistemischen Zugang zu den Gegenständen in der Welt haben.51 Doch die
Annahme derartiger Entitäten warf ihrerseits Probleme auf, wie am Beispiel
Crathorns bereits deutlich geworden ist. Angenommen, ich kann nur da-
durch ein Wissen vom Baum im Garten erwerben, dass ich zuerst eine sinn-
liche Species erwerbe, die mir alle sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften
(Farbe, Geruch usw.) darstellt, und dann eine intelligible Species, die mir
die Form des Baumes zugänglich macht. Worauf bezieht sich dann mein
Wissen: nur auf die Species oder auf die durch die Species zugänglich ge-
machten Eigenschaften und auf die Form des Baumes? Nimmt man die erste
Möglichkeit an, gelangt man unweigerlich zu einer solipsistischen Position,
Vgl. zur Entstehung und Ausbreitung dieser Theorie, die bis weit in das 17. Jh. hinein
51
26 Einleitung
denn dann kann jede Person nur von den Species, die in ihren Sinnen und
im Intellekt existieren, ein Wissen gewinnen; ein Wissen von der Außen-
welt ist dann ausgeschlossen. Angesichts dieser verheerenden Konsequenz
wählte kein mittelalterlicher Autor diese Option. Doch die zweite Möglich-
keit wirft ebenfalls Probleme auf. Wenn nämlich nur durch die Species ein
Wissen von den Gegenständen in der Außenwelt gewonnen wird, scheint
nur noch ein vermitteltes Wissen möglich zu sein: Gegenstände (bzw. ihre
Formen und Eigenschaften) sind nur Wissensobjekte, insofern sie durch
Species dargestellt werden. Diese Art von Wissen ist aber leicht anfechtbar.
Denn wie können wir sicher sein, dass durch die Species tatsächlich Gegen-
stände in der Außenwelt dargestellt werden? Mit Gewissheit sind uns ja nur
die Species präsent. Wir können höchstens annehmen oder vermuten, dass
die Species durch Gegenstände in der Außenwelt verursacht werden und
dass sie deshalb auf diese Gegenstände verweisen; beweisen können wir dies
nicht. Dafür müssten wir die Species und die durch sie dargestellten Gegen-
stände von einem neutralen Standpunkt aus betrachten und feststellen, dass
die Species tatsächlich auf etwas in der Außenwelt verweisen. Diesen Stand-
punkt können wir aber nie einnehmen.
Angesichts dieser Problemlage ist es nicht verwunderlich, dass mehrere
mittelalterliche Autoren (etwa Petrus Johannis Olivi im späten 13. Jh. und
Crathorn im frühen 14. Jh.) die Frage aufwarfen, wie wir den Anspruch,
dass wir von den Gegenständen in der Außenwelt tatsächlich ein Wissen
haben, rechtfertigen können.52 Auch hier handelt es sich um eine funda
mentale skeptische Frage, denn es geht nicht einfach darum, dass wir in
Einzelfällen ungenaue oder unvollständige Species haben, die uns vielleicht
nur ein eingeschränktes Wissen ermöglichen. Zur Debatte steht vielmehr die
Frage, wie wir überhaupt einen Wissensanspruch aufrechterhalten können,
wenn wir den Wissenserwerb mithilfe einer Species-Theorie erklären.
Die verschiedenen Ausgangspunkte der mittelalterlichen Diskussionen
verdeutlichen, dass es kaum zulässig wäre, skeptische Debatten auf einen
einzigen Punkt zu reduzieren oder sie nur als Appendix zur antiken Skepsis
zu sehen.53 Ebenso unzulässig wäre es freilich, gleich in jeder kritischen Dis-
kussion eine skeptische Debatte zu sehen.54 Es gilt vielmehr, jene Debatten
52
Vgl. zu diesen Autoren ausführlich §§ 15–16.
53
Frede 1988, 70, hat bereits darauf hingewiesen, dass es trotz des unbestreitbaren Einflus-
ses antiker Quellen irreführend wäre, im Mittelalter nur eine Wiederaufnahme der antiken
Skepsis zu sehen. Durch die Omnipotenzlehre und die Theorie der intuitiven Erkenntnis
kamen neue Faktoren ins Spiel, die den skeptischen Debatten eine dezidiert epistemologische
Ausrichtung gaben.
54
Dies ist gegenüber Michalski 1969 einzuwenden, der vorschnell Kritizismus mit Skepti-
zismus gleichsetzte. Die Kritik am Wissen von einzelnen Gegenständen und Sachverhalten
(z.B. der Unsterblichkeit der Seele oder der Existenz Gottes) stellt nämlich noch nicht eine
§ 3 Methodische Vorbemerkungen 27
§ 3 Methodische Vorbemerkungen
Infragestellung von Wissen schlechthin dar. Es ist vielmehr das Merkmal jeder kritischen
philosophischen Diskussion, dass einzelne Thesen auf den Prüfstand gestellt werden. Ent-
scheidend für eine skeptische Frage ist, dass sie die Möglichkeit von Wissen prinzipiell in
Zweifel zieht.
55
So behauptet Nikolaus von Autrécourt, aus der Position seines Diskussionsgegners
Bernhard von Arezzo würden noch absurdere Konsequenzen folgen als aus jener der aka-
demischen Skeptiker (Correspondence I.15, ed. de Rijk 1994, 54–56: „... absurdiora sequuntur
ad positionem vestram quam ad positionem Academicorum.“) Genau um diese Konsequenzen
zu vermeiden, weist Nikolaus die Position Bernhards zurück. Dieses Beispiel verdeutlicht,
dass das Etikett ‚akademisch‘ teilweise verwendet wurde, um eine reductio ad absurdum vor-
zunehmen: Wenn eine Position in die akademische mündet, ist sie absurd; also kann sie nicht
korrekt sein; also muss eine Gegenposition entwickelt werden. Das Etikett ‚akademisch‘
wurde somit aus strategischen Gründen eingesetzt.
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11:27
28 Einleitung
So listet Buridan in In Anal. Post. I, q. 2 insgesamt vierzehn skeptische Argumente auf,
56
§ 3 Methodische Vorbemerkungen 29
Folge, dass einzelne Texte und Autoren nur partiell berücksichtigt werden.
So wird beispielsweise Siger von Brabant nur mit Blick auf seine Reaktion auf
eine skeptische Hypothese in den Blick genommen; seine sonstige Erkennt-
nistheorie bleibt weitgehend ausgeblendet. Gleiches gilt für Walter Chatton,
Franziskus von Mayronis, Johannes Rodington, Adam Wodeham und Gregor
von Rimini. Die Fokussierung auf eine konkrete Fragestellung soll aufzeigen,
wie scholastische Autoren mit der skeptischen Herausforderung umgingen
und welche Lösungsstrategien sie einsetzten. Mittelalterliche Debatten sind
nicht zuletzt aufgrund ihrer Vielfalt faszinierend. Unterschiedliche Autoren
wählten nämlich unterschiedliche Ausgangspunkte, formulierten das Kern-
problem auf unterschiedli che Weise und gelangten zu unter schiedlichen
Resultaten. Gerade diese Vielfalt, nicht die vermeintliche Einheit einer skepti
schen Strömung oder gar einer Schule, gilt es zu berücksichtigen.
Jede philosophiehistorische Auseinandersetzung mit dieser Vielfalt sieht
sich allerdings mit zwei grundlegenden Anforderungen konfrontiert. Zum
einen müssen die mittelalterlichen Texte in ihrem historischen Kontext re-
konstruiert und mit Blick auf die im Kontext relevanten Fragen ausgewertet
werden. Zum anderen muss aber auch untersucht werden, welche systema-
tisch interessanten Erklärungsmodelle sie bieten und wie überzeugend sie
mit Einwänden gegen diese Modelle umgehen. Diese beiden Anforderungen
sind nicht leicht miteinander vereinbar; denn was im historischen Kontext
relevant ist, stimmt nicht immer mit dem überein, was in systematischer
Perspektive überzeugend erscheint. In der vorliegenden Studie kann diese
Spannung nicht aufgelöst werden. Sie stellt eine Herausforderung für jede
Untersuchung dar, die sich weder auf rein philologische und ideengeschicht-
liche Analysen beschränkt noch vergangene Debatten anachronistisch aus
rein gegenwärtiger, systematisch orientierter Perspektive rekonstruiert.
Trotzdem soll versucht werden, beiden Anforderungen so weit wie möglich
Rechnung zu tragen, indem die mittelalterlichen Debatten im jeweiligen
Kontext situiert und vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Fragestel-
lungen rekonstruiert werden, gleichzeitig aber auch kritisch ausgewertet
und teilweise mit Blick auf gegenwärtige Debatten systematisch erschlossen
werden. Das Herstellen eines Bezugs zu heutigen Diskussionen birgt freilich
methodische Gefahren in sich. Drei Gefahren sollen von Anfang an gebannt
werden.
Zunächst besteht die Gefahr, dass in den mittelalterlichen Quellen – genau
wie in gegenwärtigen Texten – nur nach Diskussionen zum Begriff des Wis-
sens und den damit verbundenen Wissensansprüchen gesucht wird. Dadurch
würde die Untersuchung aber stark eingeschränkt, denn unter „Wissen“
(scientia) verstanden die meisten mittelalterlichen Autoren eine ganz be-
stimmte epistemische Form, nämlich demonstratives Wissen im aristoteli
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30 Einleitung
nicht empirischer oder rein psychologischer Natur sein darf. Gerade im angeblich exzessiven
Empirismus und Psychologismus Ockhams sah Gilson den Ausgangspunkt für „the straight
road to scepticism“ (Gilson 1937, 90).
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§ 3 Methodische Vorbemerkungen 31
I
Zweifel am natürlichen Wissen
(Heinrich von Gent und
Johannes Duns Scotus)
„Kann ein Mensch etwas wissen?“ Mit dieser Frage eröffnet Heinrich von
Gent sein philosophisches Hauptwerk, die Summa quaestionum ordinaria-
rum, und verdeutlicht damit, dass die Erkenntnistheorie im späten 13. Jh.
immer mehr in den Vordergrund gerückt ist. Wenn von Wissen die Rede ist,
darf nicht einfach vorausgesetzt werden, dass Wissen möglich ist und dass wir
durch natürliche kognitive Prozesse einen zuverlässigen Zugang zu materiellen
Gegenständen, aber auch zu intelligiblen Objekten und zu uns selber haben.
Vielmehr muss zuerst untersucht werden, ob Wissen überhaupt möglich ist.
Erst in einem zweiten Schritt können dann die verschiedenen kognitiven Pro-
zesse, die den Erwerb von Wissen ermöglichen, und die verschiedenen Arten
von Wissen genauer geprüft werden. Indem Heinrich ganz allgemein nach der
Möglichkeit von Wissen fragt, verdeutlicht er zudem, dass nicht bloß ein be-
stimmter Bereich von Wissen zur Debatte steht. So stellt sich nicht einfach die
Frage, ob trotz der Sinnestäuschungen, denen wir gelegentlich zum Opfer fal-
len, ein Wissen von sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen möglich ist. Diese
Frage, die sich auf ein spezielles Problem – die unzuverlässige Fundierung
empirischen Wissens – bezieht, ist schon von Heinrichs Vorgängern ausgiebig
diskutiert worden.1 Heinrich geht über diese Diskussionen hinaus, indem er
die prinzipielle Frage aufwirft, ob Wissen möglich sei. Diese Frage lässt sich
freilich nur beantworten, wenn feststeht, was überhaupt unter Wissen zu ver-
stehen ist und welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit wir einer Per-
son Wissen zuschreiben können. Daher eröffnet die Frage nach der Möglich-
keit von Wissen nicht nur eine intensive Auseinandersetzung mit skeptischen
Argumenten, insbesondere mit jenen der akademischen Skeptiker, denen Hein
rich große Beachtung schenkt. 2 Sie dient immer auch als Ausgangspunkt für
eine grundsätzliche Klärung des Wissensbegriffs.
Wenn Heinrich nach der Möglichkeit von Wissen fragt, verfolgt er
1
So etwa von Anselm von Canterbury, der in De veritate, 6 (ed. Enders 2001, 26–32) das
Problem der Sinnestäuschungen diskutiert.
2
Wie Schmitt 1972, 39–41, gezeigt hat, gehört Heinrich zu den ersten mittelalterlichen Au-
toren, die sich intensiv mit Ciceros Academica und Augustins Contra Academicos beschäftigt
haben.
I
Zweifel am natürlichen Wissen
(Heinrich von Gent und
Johannes Duns Scotus)
„Kann ein Mensch etwas wissen?“ Mit dieser Frage eröffnet Heinrich von
Gent sein philosophisches Hauptwerk, die Summa quaestionum ordinaria-
rum, und verdeutlicht damit, dass die Erkenntnistheorie im späten 13. Jh.
immer mehr in den Vordergrund gerückt ist. Wenn von Wissen die Rede ist,
darf nicht einfach vorausgesetzt werden, dass Wissen möglich ist und dass wir
durch natürliche kognitive Prozesse einen zuverlässigen Zugang zu materiellen
Gegenständen, aber auch zu intelligiblen Objekten und zu uns selber haben.
Vielmehr muss zuerst untersucht werden, ob Wissen überhaupt möglich ist.
Erst in einem zweiten Schritt können dann die verschiedenen kognitiven Pro-
zesse, die den Erwerb von Wissen ermöglichen, und die verschiedenen Arten
von Wissen genauer geprüft werden. Indem Heinrich ganz allgemein nach der
Möglichkeit von Wissen fragt, verdeutlicht er zudem, dass nicht bloß ein be-
stimmter Bereich von Wissen zur Debatte steht. So stellt sich nicht einfach die
Frage, ob trotz der Sinnestäuschungen, denen wir gelegentlich zum Opfer fal-
len, ein Wissen von sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen möglich ist. Diese
Frage, die sich auf ein spezielles Problem – die unzuverlässige Fundierung
empirischen Wissens – bezieht, ist schon von Heinrichs Vorgängern ausgiebig
diskutiert worden.1 Heinrich geht über diese Diskussionen hinaus, indem er
die prinzipielle Frage aufwirft, ob Wissen möglich sei. Diese Frage lässt sich
freilich nur beantworten, wenn feststeht, was überhaupt unter Wissen zu ver-
stehen ist und welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit wir einer Per-
son Wissen zuschreiben können. Daher eröffnet die Frage nach der Möglich-
keit von Wissen nicht nur eine intensive Auseinandersetzung mit skeptischen
Argumenten, insbesondere mit jenen der akademischen Skeptiker, denen Hein
rich große Beachtung schenkt. 2 Sie dient immer auch als Ausgangspunkt für
eine grundsätzliche Klärung des Wissensbegriffs.
Wenn Heinrich nach der Möglichkeit von Wissen fragt, verfolgt er
1
So etwa von Anselm von Canterbury, der in De veritate, 6 (ed. Enders 2001, 26–32) das
Problem der Sinnestäuschungen diskutiert.
2
Wie Schmitt 1972, 39–41, gezeigt hat, gehört Heinrich zu den ersten mittelalterlichen Au-
toren, die sich intensiv mit Ciceros Academica und Augustins Contra Academicos beschäftigt
haben.
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freilich nicht das Ziel, diese Möglichkeit anzuzweifeln und eine skepti-
sche Position einzunehmen. Er zielt im Gegenteil darauf ab, skeptische
Einwände zu widerlegen und die Möglichkeit eines sicheren und stabilen
Wissens zu verteidigen. Unmissverständlich hält er fest, dass jeder Mensch
zum Erwerb von Wissen fähig ist, ja dass die „eigentliche, natürliche Tä-
tigkeit einer menschlichen Seele“ in nichts anderem als in einem solchen
Erwerb besteht.3 Allerdings betont er ebenso unmissverständlich, dass ein
Mensch allein aufgrund seiner natürlichen kognitiven Ausstatt ung nichts
wissen kann. Wissen ist nur mithilfe göttlicher Illumination möglich.
Heinrich argumentiert ausführlich für die These, „dass ein Mensch einzig
aufgrund natürlicher Anstrengung – ohne besondere göttliche Erleuch-
tung – nichts wissen kann.“4 Diese These wirft freilich neue skeptische
Fragen auf. Können wir noch von der Möglichkeit von Wissen sprechen,
wenn ein Mensch von sich aus kein Wissen erwerben kann? Wird natürli-
ches Wissen dadurch nicht diskreditiert? Und hat die stete Abhängigkeit
von einer „göttlichen Erleucht ung“ nicht zur Folge, dass ein Mensch seine
epistemische Autonomie verliert? Angesichts dieser Fragen ist es nicht er-
staunlich, dass bereits im ausgehenden 13. Jh. Einspruch gegen Heinrichs
These erhoben wurde. Johannes Duns Scotus attackierte sie mit scharfen
Worten. Er warf Heinrich vor, seine Argumente zugunsten einer Illu-
mination würden nur „für die Meinung der Akademiker“, d.h. der aka-
demischen Skeptiker, sprechen, ja es scheine, „dass diese Argumente die
Unmöglichkeit einer sicheren, natürlichen Erkenntnis zur Folge haben.“5
Bis in die frühe Neuzeit hinein wurde dieser Skeptizismus-Vorwurf wie-
derholt.6
Betrachtet man Scotus’ Reaktion auf Heinrichs Position, ergibt sich
ein höchst verwir render Befund: Eine antiskeptische Argumentations-
strategie, die auf eine Verteidigung der Möglichkeit von Wissen abzielt,
scheint skeptische Konsequenzen zu haben. Wie ist dies möglich? An
welchen Stellen schleicht sich ein Skeptizismus in Heinrichs Erkenntnis-
3
Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 34): „Operatio autem animae humanae propria naturalis
non est alia quam scire aut cognoscere.“
4
Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 29): „... arguitur quod non contingit hominem aliquid
scire ex sola naturali industria sine speciali illustratione divina.“ Vgl. auch ibid., q. 2 (ed.
Wilson, 61 und 63), q. 5 (ed. Wilson, 127) und q. 7 (ed. Wilson, 142–147).
5
Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 218 (ed. Vat. III, 132): „... primo ostendo quod istae
rationes non sunt rationes fundamentales alicuius opinionis verae, nec secundum intentionem
Augustini, sed sunt pro opinione academicorum.“ Ibid. n. 219 (ed. Vat. III, 133): „Istae ratio-
nes videntur concludere impossibilitatem certae cognitionis naturalis.“
6
So etwa von Philippus Faber in seinem Werk Adversus impios atheos disputationes qua-
tuor philosophicae (1627), in dem er auf Gianfrancesco Picos Wiederaufnahme von Heinrichs
Argumenten im Examen vanitatis (Opera omnia II, 1091–1105) reagierte. Vgl. Schmitt 1963
und Porro 1994, 426.
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theorie ein? Um welche Art von Skeptizismus handelt es sich dabei? Und
wie versucht Scotus ihn zu überwinden? Diese Fragen sollen im Folgenden
erörtert werden. Sowohl Heinrichs antiskeptische Intention als auch Scotus’
Skeptizismus-Vorwurf lassen sich indessen nur im Rahmen des jeweiligen
erkenntnistheoretischen Modells verstehen. Denn erst wenn der Wissens-
und Erkenntnisbegriff der beiden Autoren klare Konturen gewinnt, kann
bestimmt werden, wel chen Platz skeptische und antiskeptische Über-
legungen im jeweiligen Begriffsraster einnehmen. Daher werde ich in einem
ersten Schritt Heinrichs Unterscheidung verschiedener Wis sensbegriffe
näher betrachten und seine Antwort auf skeptische Einwände untersuchen
(§§ 5–6). Danach werde ich sein Erkenntnismodell, das sich auf göttliche
lllumination beruft, und Scotus’ Kritik an diesem Modell analysieren, um
mögliche skeptische Konsequenzen auszuloten (§§ 7–8). Schließlich werde
ich mich Scotus’ eigenem Modell zuwenden, das auf eine Verteidigung des
rein natürlichen Wissens abzielt (§ 9). Es gilt zu prüfen, ob und wie Scotus
eine Rückweisung des Illuminationsmodells und damit auch der möglichen
skeptischen Konsequenzen gelingt.
Jede Diskussion der komplexen Debatte zwischen Heinrich von Gent
und Johannes Duns Scotus muss von Anfang an zwei Punkte beachten. Ers-
tens darf den beiden Autoren nicht unterstellt werden, dass sie eine statische
Position verteidigt haben, die stets unverändert geblieben ist. Gerade im
Hinblick auf Heinrich haben akribische philologische und philosophische
Studien gezeigt, dass seine Erkenntnistheorie zahlreichen Revisionen und
Erweiterungen unterworfen war.7 Seine beiden Hauptwerke, die Summa
quaestionum ordinariarum und die Quodlibeta, sind über einen Zeitraum
von fast zwanzig Jahren entstanden und dokumentieren mehrere Etappen
einer philosophischen Entwicklung. Ich werde nicht sämtliche Entwick-
lungsschritte nachzeichnen, sondern mich auf zwei Textgruppen konzen-
trieren, die für die Skeptizismus-Problematik von besonderer Bedeutung
sind: die um 1276 entstandenen ersten Quaestionen der Summa und die
1279–80 verfassten Quodlibeta IV und V.8 Auch im Hinblick auf Scotus
gehe ich nicht auf sämtliche Entwicklungsschritte ein, sondern beschäf
tige mich nur mit den Quaestionen aus der Lectura und der Ordinatio,
in denen Scotus sich direkt mit Heinrichs Position auseinandersetzt. Wie
7
Seit der Pionierarbeit von Nys 1949 ist immer wieder auf die philosophische Entwicklung
Heinrichs hingewiesen worden, die besonders auf seine Erkenntnistheorie Auswirkungen
hatte; vgl. Macken 1972, Brown 1975, Marrone 1985 und Marenbon 1987, 144–153.
8
Eine chronologische Tabelle für die Entstehung der einzelnen Teile beider Werke bietet
Laarmann 1999, 50–51. Marrone 1985 schlägt bezüglich der Erkenntnis- und Wahrheits-
theorie eine hilfreiche Gliederung in drei Etappen vor: erste Etappe 1276–78, zweite Etappe
1279–85, dritte Etappe 1285–93.
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9
Vgl. Marrone 1985, 5.
10
Zur Präsenz dieser Tradition im 13. Jh. und zu ihrer Bedeutung für erkenntnistheoreti-
sche Debatten vgl. ausführlich Marrone 2001. Einen knappen Überblick bietet Owens 1982.
11
In seiner programmatischen Arbeit nahm Gilson 1926–27 eine solche Einteilung vor, die
sämtliche späteren Forschungen prägte. Auch Van Steenberghen ordnete in seiner Gesamt-
darstellung der Philosophie des 13. Jhs. Heinrich pauschal der Strömung des „augustinisme
avicennisant“ zu (vgl. Van Steenberghen 1991, 439) und grenzte ihn vom Aristotelismus
ab, sowohl vom sog. „heterodoxen“ als auch vom „orthodoxen“. Diese Einteilung ist nicht
nur problematisch, weil sie von vornherein eine gewisse Wertung vornimmt, sondern auch,
weil sie übersieht, dass einerseits die sog. Aristoteliker auch Gebrauch von augustinischen
Elementen machten und andererseits die sog. Augustinisten sehr wohl mit den Werken des
Aristoteles (insbesondere mit De anima) vertraut waren und darauf reagierten. Auch wenn
in der neueren Forschung kaum mehr eine scharfe Gegenüberstellung von Aristotelikern und
Augustinisten vorgenommen wird, hat sich doch die Charakterisierung Heinrichs als eines
die Gefahr in sich, dass sie die aristotelischen Elemente, die sich bei Hein-
rich durchaus und sogar in großer Zahl finden, einfach übersieht, und dass
sie von Anfang an eine Opposition zwischen zwei Schulen aufbaut, die von
Heinrich keineswegs intendiert war. Er betont ausdrücklich, dass er eine
Verbindung von Aristoteles und Platon anstrebt, keine Gegenüberstellung.12
Die Gefahr einer künstlichen Opposition soll daher im Folgenden vermie-
den werden, indem auf pauschale Etikettierungen verzichtet wird. Heinrich
und Scotus sollen einander nicht einfach als Vertreter zweier Schulen oder
Lehrmeinungen gegenüber gestellt werden. Es soll vielmehr untersucht
werden, wie sie in ihrer Beschäftigung mit skeptischen Überlegungen von
Elementen verschiedener Traditionen Gebrauch machten und wie sie ihre
Argumente vor dem Hintergrund dieser Traditionen entwickelten. Thesen
und Argumente, nicht einfach Schulen oder starre Lehrgebäude, sind in
einen Kontext einzubetten.
konservativen Denkers gehalten. So leitet Pasnau 2002, 93, seine Übersetzung der relevanten
Texte mit folgenden Worten ein: „Henry was in general a conservative voice in Paris, resistant
to the growing Aristotelianism of his day, sympathetic to the Augustinianism of Bonaven-
ture.“ Dass sich die Denker im späten 13. Jh. (vor allem an der Theologischen Fakultät in Paris,
an der Heinrich lehrte) kaum in zwei Lager aufspalten lassen, verdeutlicht Courtenay 2001 in
seiner nuancierten Darstellung der intellektuellen Landschaft. Auch Marrone 2000 hält fest,
dass man nur mit Einschränkungen von Schulen oder intellektuellen Lagern sprechen kann.
Er betont zu Recht, dass man nur mit Blick auf gemeinsame „analytical models“ mehrere
Denker einer Schule zuordnen sollte. Einen konzisen Überblick über die Historiographie und
die damit verbundene Zuteilung Heinrichs zu einem intellektuellen Lager vermittelt Porro
1996.
12
Summa, art 1, q. 4 (ed. Wilson, 104): „Dictum ergo utriusque et Aristotelis et Platonis
coniugendum est in omnibus istis generationibus istarum formarum...“ Wie Steel 2003 an-
hand konkreter Beispiele zeigt, ist Heinrichs Lektüre von Platon und Aristoteles freilich
immer durch Augustinus gelenkt. Daher wäre es kaum sinnvoll, nach rein platonischen oder
rein aristotelischen Theorieelementen zu suchen.
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klar und eindeutig. Ein Mensch kann nämlich etwas wissen, und zwar gemäß jeder
Art von Wissen und Erkennen.“13
In dieser These kommt eine Auffassung von Wissen im weiten Sinne (W1)
zum Ausdruck, die auf eine bestimmte Form von sicherer Erkenntnis ab-
zielt. Die Bedingungen für das Vorliegen solcher Erkenntnis können folgen-
dermaßen charakterisiert werden:
W1: Jemand hat Wissen im weiten Sinne, wenn er über eine sichere Erkennt-
nis verfügt, (i) durch die eine Sache so erfasst wird, wie sie ist, und (ii)
die ohne Täuschung und Irref ührung erfolgt.
Heinrich spricht nicht von einer Definition von Wissen. Daher darf nicht
angenommen werden, dass hier notwendige und hinreichende Bedingungen
formuliert werden. Es werden nur Minimalbedingungen festgehalten, die
erfüllt sein müssen, damit überhaupt von Wissen die Rede sein kann.14 Es
ist auch zu beachten, dass Wissen nicht mit Bezug auf eine propositionale
Struktur charakterisiert wird. Heinrich behauptet nicht, dass jemand einen
mentalen Akt oder Zustand der Form ‚Ich erfasse (oder denke, erkenne
usw.), dass p‘ haben muss, um über Wissen zu verfügen. Seine Aussage, dass
eine Sache (res) erfasst wird, deutet eher darauf hin, dass er auf einen nicht-
propositionalen Akt abzielt: Wer Wissen im weiten Sinne hat, bezieht sich
in bestimmter Weise auf einen Gegenstand.
Entscheidend ist nun die Art und Weise der Bezugnahme. Erstens muss
eine Korrespondenz gewährleistet sein, denn die Sache muss gemäß der
ersten Bedingung so erfasst werden, „wie sie ist“. Wie ist dies zu verstehen?
Heinrich präzisiert, dass es zwei Arten der kognitiven Bezugnahme und
damit auch zwei Arten der Korrespondenz gibt.15 Zum einen gibt es die
13
Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson, 10): „Dicendum quod scire large accepto ad omnem noti-
tiam certam qua cognoscitur res sicut est absque omni fallacia et deceptione, et sic intellecta et
proposita quaestione contra negantes scientiam et omnem veritatis perceptionem, manifestum
est et clarum quia contingit hominem scire aliquid, et hoc secundum omnem modum sciendi
et cognoscendi.“ Vgl. auch q. 2 (ed. Wilson, 35).
14
Betrachtet man die Bedingungen von einem modernen Standpunkt aus, fällt auf, dass keine
Rechtfertigungsbedingung formuliert wird. Heinrich sagt nicht, dass die Person auch Gründe
dafür angeben muss, dass sie eine Erkenntnis hat, die mit dem Gegenstand übereinstimmt und
ohne Täuschung erworben wurde. Dies darf indessen nicht gleich als ein Mangel gewertet
werden. Wie Pasnau 1997, 227, zu Recht feststellt, sollte man Heinrichs Erklärung von Wissen
im Rahmen eines externalistischen Projekts verstehen: Es reicht aus, dass eine bestimmte
Erkenntnis auf zuverlässige Weise erworben wurde und mit einem Gegenstand übereinstimmt,
ohne dass der zuverlässige Erwerb auch gerechtfertigt werden muss. Wie weiter unten noch
gezeigt wird, beruft sich Heinrich ausdrücklich auf die Zuverlässigkeit der Sinne, für die nicht
besondere Gründe angeführt werden müssen.
15
Für jede dieser beiden Arten muss zudem zwischen fremder und eigener Bezugnahme
unterschieden werden. Heinrich betont in Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson, 10–11), dass auch
durch fremdes Zeugnis Wissen gewonnen werden kann. In diesem Fall gibt es (a) einen sinn-
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sinnliche Bezugnahme, die durch die Aktivität der äußeren und inneren
Sinne ermöglicht wird. So kann sich jemand sehend, hörend usw. auf einen
Gegenstand beziehen, der unmittelbar vor ihm liegt. In seiner Erklärung
dieser Art von Bezugnahme stützt sich Heinrich auf die species-Theorie, die
zu seiner Zeit weit verbreitet war. Er hält fest, dass die Sinne besondere Enti-
täten, sogenannte species, aufnehmen müssen, die vom Gegenstand durch ein
Medium übertragen werden und Informationen über die wahrnehmbaren
Eigenschaften des Gegenstandes vermitteln.16 Die Präsenz dieser Entitäten
löst unmittelbar die Herstellung eines Vorstellungsbildes (phantasma) aus.
Eine Korrespondenz liegt vor, wenn das Vorstellungsbild den Gegenstand
genau so darstellt, wie er in der Wahrnehmungssituation präsent ist. Be
trachte ich etwa einen reifen Apfel, korrespondiert mein Zustand der sinn-
lichen Erkenntnis mit dem Apfel, wenn das Vorstellungsbild ihn mit allen
in dieser Situation sichtbaren Eigenschaften präsentiert: mit einer gewissen
Farbe, einem gewissen Glanz, einer gewissen Größe usw.
Neben der sinnlichen Bezugnahme gibt es auch die intellektuelle. Sie baut
auf der sinnlichen auf und setzt diese voraus. Denn jemand kann sich nur
dann geistig auf einen materiellen Gegenstand beziehen, wenn er ihn zuvor
sinnlich erfasst hat. Auch diese Art der Bezugnahme erklärt Heinrich mit-
hilfe der Standardtheorie seiner Zeit.17 Er hält fest, dass der aktive Intellekt
aus dem Vorstellungsbild eine species intelligibilis abstrahiert, die dem passi
ven Intellekt eingeprägt wird.18 Dank dieser kognitiven Entität kann sich
der Intellekt auch dann auf einen materiellen Gegenstand beziehen, wenn
dieser nicht mehr präsent ist, und er kann sich auf mehrere Gegenstände
derselben Art beziehen. Auch hier gilt wieder, dass eine Korrespondenz
vorliegt, wenn die Species den Gegenstand so darstellt, wie er ist – freilich
nicht mit den wahrnehmbaren Eigenschaften, sondern mit den wesentlichen
Eigenschaften, die ihn zu einem Gegenstand einer bestimmten Art machen.
Nun reicht die Korrespondenzbedingung allerdings nicht aus. In W1
lichen und intellektuellen Erkenntnisakt einer fremden Person und (b) einen eigenen intellek-
tuellen Erkenntnisakt, mit dem der Inhalt des fremden Aktes erfasst wird.
16
In Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson, 27) spricht er von einer species sensibilis, die das Auge
affiziert und von diesem aufgenommen wird. In Quodl. IV, q. 21 (ed. Badius, 136vH) und
ibid. XI, q. 5 (ed. Badius, 451S) hält er generell fest, dass die Sinne durch species affiziert und
in gewisser Weise verändert werden. Dies ist die Standardthese der species-Theorie, die in der
perspektivistischen Optik verankert ist. Vgl. zu diesem Hintergrund Smith 1981 und Tachau
1988, 3–20.
17
Dies gilt zumindest für die ersten Quaestionen der Summa. Heinrich unterwirft diese
Theorie in einer späteren Phase einer ausführlichen Kritik, wie ich in § 6 erläutern werde. Zur
allgemeinen Struktur dieser Theorie, wie sie im späten 13. Jh. weit verbreitet war, vgl. Spruit
1994, 4–24.
18
Vgl. Summa, art. 1, q. 5 (ed. Wilson, 125). Bereits in q. 1 (ed. Wilson, 27) betont Heinrich,
dass eine solche species aufgenommen wird.
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19
Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson, 12): „... intellectus ille vere rem percipit, sicuti est sine
omni deceptione et fallacia, cui in actione propria intelligendi non contradicit intellectus ve
rior vel acceptus a sensu veriori.“
20
Da Heinrich sehr wahrscheinlich keine direkte Kenntnis von der pyrrhonischen Tradi-
tion hatte, ist davon auszugehen, dass er dieses Argument in der akademischen Fassung durch
Augustin kannte, der ausdrücklich das Beispiel mit dem Holzstab diskutiert; vgl. Contra
academicos III, 11, 26.
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die Beweislast, sondern wer ausgehend von Einzelfällen gleich die ganze
Grundlage für empirisches Wissen infrage stellt. Es ist nämlich fragwürdig,
von der Mangelhaftigkeit oder Widersprüchlichkeit einiger Sinnesinforma-
tionen gleich auf die Mangelhaftigkeit aller Sinnesinformationen zu schlie-
ßen. Ebenso problematisch ist es, von der schwierigen Beurteilung einiger
Wahrnehmungsbeding ungen gleich auf die schwierige oder gar unmögliche
Beurteilung aller Wahrnehmungsbedingungen zu schließen. Konkret heißt
dies: Der Skeptiker – nicht der Antiskeptiker – muss begründen, warum
uns so ausgefallene Beispiele wie jenes des Holzstabes dazu bringen soll
ten, gleich sämtliche Sinnesinformationen infrage zu stellen. Heinrichs
Pointe besteht somit darin, dass er – ähnlich wie J. Austin in der modernen
analytischen Debatte25 – den Ball wieder an den Skeptiker zurückwirft
und ihn, der sich scheinbar für nichts rechtfertigen muss, unter Rechtfer-
tigungsdruck setzt.
Heinrich setzt sich noch mit einer anders gelagerten skeptischen Attacke
auseinander. Diese beruft sich auf das berühmte Wissensparadox im Menon
und lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: 26
(1) Nur wer bereits etwas weiß, kann etwas lernen.
(2) Wer aber bereits etwas weiß, lernt nichts, denn Lernen ist immer eine
Bewegung vom Nicht-Wissen zum Wissen.
(3) Also kann es niemanden geben, der etwas lernt.
(4) Wer nichts lernt, kann aber nichts wissen.
(5) Also kann es niemanden geben, der etwas weiß.
Das Paradox ergibt sich dadurch, dass einerseits Wissen die Voraussetzung
für Lernen ist, andererseits aber gerade die Erfüllung dieser Voraussetzung
Wissen unmöglich zu machen scheint. Auf welchem Weg lässt sich dieses
Paradox auflösen? Heinrich schlägt zwei Wege vor, die beide aristotelisch
motiviert sind. Der erste beruft sich auf eine Unterscheidung zweier Berei-
che des Lernens. 27 Zum einen kann sich das Lernen auf Schlussfolgerungen
beziehen. Dieses Lernen setzt das Erfassen von Prämissen voraus, aus denen
Austin 1962, 11–12, hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Rede von Fällen der
25
Täuschung oder Irreführung nur vor dem Hintergrund einer prinzipiell korrekten Wahrneh-
mung einen Sinn ergibt. Selbst der Skeptiker muss auf korrekte Wahrnehmung rekurrieren,
um eine Kontrastfolie für die Täuschungsfälle zu haben.
26
Vgl. Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson, 7) und ausführlich q. 10 (ed. Wilson, 167–168).
Dank der lateinischen Übersetzung durch Heinrich Aristipp war der Menon zwar bereits
im 12. Jh. bekannt, wurde aber kaum direkt rezipiert. Heinrich beruft sich auf die indirekte
Überlieferung durch Aristoteles, Averroes und Augustin, und er verwendet das Argument zu
eigenen Zwecken, ohne auf die berühmte Anamnesis-Theorie einzugehen. Daher steht hier
nicht Menons Paradox, wie es von Platon formuliert wurde, zur Debatte, sondern Heinrichs
Interpretation dieses Paradoxes.
27
Vgl. Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson, 26–27).
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Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson, 27): „... quia addiscens notitiam primorum principiorum
29
Oder müssen gewisse Lernschritte gemacht werden, sodass die ersten Prin-
zipien erst nach und nach erfasst werden? Und gibt es eine besondere In-
stanz, die für das Erfassen der ersten Prinzipien zuständig ist? Oder erfasst
sie derselbe Intellekt, der auch auf induktivem Weg – durch Erkennen und
Vergleichen einzelner Sachverhalte – Wissen gewinnt? Seit der Rezeption der
Zweiten Analytiken im 12. Jh. wurden diese Fragen ausführlich diskutiert.30
Heinrich geht allerdings nicht auf sie ein. Er weist lediglich darauf hin, dass
es bei jedem Lernen – auch bei jenem bezüglich erster Prinzipien – einen
Übergang von einem potentiellen in einen aktuellen Zustand gibt.31 Dieser
Übergang muss indessen nicht schlagartig erfolgen, denn es ist gut möglich,
dass jemand erst nach und nach zu einem klaren Verständnis der ersten
Prinzipien gelangt. Daher kann dieses Lernen in Stu fen erfolgen. Ent-
scheidend ist lediglich, dass es nicht ein weiteres Wissen von noch früheren
Prinzipien voraussetzt.
Natürlich könnte ein radikaler Skeptiker auch an diesem Punkt wie-
der einhaken und fragen, wie Heinrich denn so sicher sein kann, dass
es erste Prinzipien gibt und dass jeder Mensch sie stufenweise erfassen
kann. Werden hier nicht starke metaphysische und epistemologische Prä-
missen eingeführt? In der Tat macht Heinrich von Annahmen Gebrauch,
die er nicht weiter begründet, sondern mit Verweis auf die aristotelische
Wissenstheorie voraussetzt. Dieser Verweis verdeutlicht freilich, dass er
nicht einfach ein konservativer Augustinist ist, der sich dem immer stär-
ker werdenden Aristotelismus seiner Zeit widersetzt.32 In seinem bereits
erwähnten Rekurs auf die Zuverlässigkeit der Sinne und in seinem Ver-
weis auf die Prinzipienlehre folgt er durchaus Aristoteles, ja er verwendet
aristotelische Argumente zur Widerlegung skeptischer Einwände. Daher
könnte er auch die Inanspruchnahme erster Prinzipien aristotelisch be-
gründen. Würde etwa ein Skeptiker fragen, warum wir das Prinzip der
Widerspruchsfreiheit als erstes, nicht weiter begründbares Prinzip akzep-
tieren sollten, könnte er erwidern: Indem der Skeptiker eine Aussage wie
‚Du nimmst das Prinzip der Widerspruchsfreiheit in Anspruch‘ macht
und nicht gleichzeitig das Gegenteil behauptet, zeigt er, dass er selber von
diesem Prinzip Gebrauch macht. Selbst wenn er dieses Prinzip explizit
ablehnt, macht er von ihm Gebrauch, denn er macht ja die Aussage ‚Ich
akzeptiere das Prinzip der Widerspruchsfreiheit nicht‘ und nicht gleich-
zeitig die gegenteilige Aussage. Kurzum: Wie auch immer der Skeptiker
30
So etwa von Robert Grosseteste im ersten lateinischen Kommentar zu den Zweiten Ana-
lytiken. Vgl. Marrone 1983, 251–286.
31
Vgl. Summa, art. 1, q. 10 (ed. Wilson, 169 und 173–174).
32
Daher ist Vorsicht geboten, wenn – wie bereits erwähnt (vgl. Anm. 11) – Heinrich als
konservativer Augustinist charakterisiert wird.
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Indem Heinrich betont, dass man das Wesen einer Sache wahrnehmen muss,
um Wissen zu haben, formuliert er einen hohen Anspruch. Doch selbst wenn
33
Ein pyrrhonischer Skeptiker könnte natürlich einwenden, dass er streng genommen
keine assertorischen Aussagen macht, sondern nur schildert, wie ihm etwas erscheint. Daher,
so könnte er betonen, sei jede seiner Aussagen nur im Sinne von ‚Es scheint mir, dass ...‘ zu
verstehen (vgl. zu dieser „phainetai“-Regel Vogt 1998, 72–104). Doch auch in diesem Fall
müsste der Skeptiker das Prinzip der Widerspruchsfreiheit zugestehen, denn er sagt ja nicht
gleichzeitig ‚Es scheint mir nicht, dass...‘. Selbst die bloße Schilderung von Erscheinungen
kommt nicht ohne die Befolgung dieses fundamentalen Prinzips aus. Da Heinrich sehr wahr-
scheinlich keine direkte Kenntnis vom pyrrhonischen Skeptizismus hatte, geht er nicht auf
dieses Problem ein.
34
Vgl. zur Entstehung dieser Theorie in der Optik Tachau 1988, in der Kognitionstheorie
Spruit 1994.
35
Streng genommen handelt es sich dabei um das phantasma, das auf der Grundlage sämt
licher Sinnesinformationen gebildet wird. Heinrich spricht aber auch von der species sensibi-
lis, um das sinnliche Bild von einer intellektuellen Vorstellung abzugrenzen. Dies ist freilich
etwas verwirrend, weil er gleichzeitig auch das, wodurch eine einzelne Wahrnehmungseigen-
schaft in einem Sinn aufgenommen wird, mit dem Ausdruck ‚species sensibilis‘ bezeichnet, so
etwa in Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson, 27).
36
Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson, 8): „Ille non potest scire rem qui non percipit essentiam
et quidditatem rei, sed solum idolum eius, quia non novit Herculem qui solum vidit picturam
eius. Homo autem nihil percipit de re nisi solum idolum eius ut speciem receptam per sensus,
quae idolum rei est, non ipsa res.“
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wir von diesem Anspruch für einen Moment absehen und gemäß der oben
festgehaltenen Erläuterung von Wissen (W1) nur fordern, dass man sich auf
die Sache beziehen muss, wie sie in Tat und Wahrheit ist, ergibt sich ein Pro-
blem. Wie können wir behaupten, dass wir uns auf die Sache selbst beziehen
und nicht bloß auf ein inneres Bild? Könnte es nicht sein, dass wir nie zu
einer äußeren Sache vorstoßen, sondern gleichsam in unserer inneren Welt
der Bilder gefangen sind?
Heinrich ist nicht der einzige mittelalterliche Autor, der dieses Problem
aufwirft. Auch sein Zeitgenosse Petrus Johannis Olivi und Wilhelm Crat-
horn, ein Oxforder Autor des frühen 14. Jhs., sahen in der Species-Theorie
eine skeptische Gefahr.37 Dabei handelt es sich genau um jene Gefahr, die
in der Neuzeit Thomas Reid und andere Kritiker der Ideentheorie als
das Hauptproblem des Repräsentationalismus benannten. Wer innere re-
präsentierende Entitäten annimmt, verliert den direkten Zugang zu den
äußeren Gegenständen. Die äußeren Gegenstände sind dann nur vermittelt
durch innere Stellvertreter präsent. Und die Tatsache, dass man solche Stell-
vertreter erfasst, garantiert nicht, dass man auch einen Zugang zu äußeren
Gegenständen hat. Es könnte ja sein, dass ich ein Bild erfasse, das mir einen
Apfel darstellt, ohne dass ein Apfel vor mir liegt, genau wie ich ein Bild des
Herkules betrachten kann, ohne dass Herkules als Person aus Fleisch und
Blut vor mir steht. Kurz gesagt: Sobald ein Zwischenglied zwischen der er-
kennenden Person und dem äußeren Erkenntnisobjekt eingeführt wird, ist
es zweifelhaft, (a) wie diese Person noch einen Zugang zum äußeren Objekt
haben kann und (b) wie sie sicher sein kann, dass überhaupt ein äußeres
Objekt vorhanden ist.
Auf diesen Einwand scheint es eine einfache Replik zu geben. Man könnte
hier eine Unterscheidung zwischen kausalen und kognitiven Zwischen-
gliedern einführen, wie dies in heutigen erkenntnistheoretischen Debatten
häufig gemacht wird und wie dies auch Heinrichs Zeitgenossen und Vor-
gänger schon vorschlugen.38 Das heißt: Es mag zwischen der erkennenden
Person und dem äußeren Objekt zwar eine oder mehrere Entitäten geben,
die für eine erfolgreiche Erkenntnis erforderlich sind. Doch diese Entitäten
werden nicht selber erfasst, sondern ermöglichen als Hilfsmittel einen Zu-
gang zum äußeren Objekt. Wer etwa Sterne beobachten will, braucht dazu
ein Teleskop. Trotzdem betrachtet er durch das Teleskop hin durch die
Sterne, nicht das Teleskop selbst. In ähnlicher Weise könnte man auch die
Species als kausales Zwischenglied verstehen. Wer einen Apfel betrachten
Prominenterweise Thomas von Aquin, der in Summa theologiae I, q. 85, art. 2, corp.,
38
zwischen dem „medium quo“ und dem „terminus ad quem“ der Erkenntnis unterscheidet und
betont, dass die Species nur ein „medium quo“ ist.
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will, braucht eine Species als Hilfsmittel, das ihm einen Zugang zum Apfel
ermöglicht. Trotzdem betrachtet er durch die Species hindurch den Apfel,
nicht die Species.
Erstaunlicherweise wählt Heinrich nicht diese Argumentationsstrategie.
Er trifft vielmehr folgende Unterscheidung:
„... Folgendes ist zu sagen: Man kann das Bild einer Sache auf zweierlei Art wahr-
nehmen: auf eine Art als den Gegenstand der Erkenntnis. [Erfolgt das Wahrnehmen]
auf diese Art, ist es wahr, dass derjenige, der nur das Bild einer Sache wahrnimmt,
nicht die Sache selbst erkennt, so wie derjenige, der das auf einer Wand gemalte
Bild des Herkules sieht, dadurch nicht Herkules selbst sieht oder erkennt. Auf eine
andere Art [kann man das Bild] als den Grund des Erkennens [wahrnehmen]. Dann
ist es nicht wahr, [dass die Sache selbst nicht erkannt wird]. Allein dadurch, dass
die Species von einer Sache wahrgenommen wird, wird nämlich die Sache korrekt
erkannt. Beispielsweise wird ein Stein allein durch die sinnliche Species, die im
Auge aufgenommen wird, gesehen, und er wird allein durch die intelligible Species,
die im Intellekt aufgenommen wird, korrekt verstanden.“39
Für beide Arten des Wahrnehmens gilt offensichtlich, dass die Species wahr-
genommen wird. Sie spielt also bei beiden Arten mehr als eine rein kausale
Rolle. Entscheidend ist aber nicht, dass sie wahrgenommen wird, sondern
wie sie wahrgenommen wird. Wenn sie als der Gegenstand der Erkennt-
nis – und zwar als der einzige kognitiv zugängliche Gegenstand – wahr
genommen wird, ist es in der Tat unmöglich, einen äußeren Gegenstand zu
erkennen. Die Species ist dann so etwas wie ein innerer Schleier, der einen
Zugang zum äußeren Gegenstand versperrt. Und das bloße Erfassen oder
Wahrnehmen der Species garantiert dann nicht, dass auch ein äußerer Ge-
genstand erfasst wird. Doch Heinrich betont, dass sie nicht auf diese Art,
sondern als „Grund des Erkennens“ (ratio cognoscendi) wahrgenommen
wird. Dann ermöglicht das Wahrnehmen der Species einen Zugang zum äu-
ßeren Gegenstand. Denn indem eine Person die Species wahrnimmt, erfasst
sie immer auch den äußeren Gegenstand. Die Species verhüllt den äußeren
Gegenstand nicht, sondern enthüllt ihn.
Damit scheint der skeptische Einwand aber noch nicht aus dem Weg
geräumt zu sein. Wie können wir denn sicher sein, könnte der Skeptiker
nachbohren, dass die Species tatsächlich der Grund des Erkennens ist? Ist
es nicht denkbar, dass wir zwar eine Species erfassen, diese aber keinen Ge-
39
Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson, 27): „... dicendum quod percipere idolum rei contingit
dupliciter: uno modo tamquam obiectum cognitionis, – hoc modo verum est quod percipiens
solum idolum rei non cognoscit rem, sicut videns imaginem Herculis depictam in pariete (ex
hoc non videt neque cognoscit Herculem) –; alio modo tamquam rationem cognoscendi; sic
non est verum. Per solam enim speciem perceptam de re cognoscitur vere res, ut lapis vere
videtur per solam speciem suam sensibilem receptam in oculo, et vere intelligitur per solam
speciem suam intelligibilem receptam in intellectu.“
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40
Pasnau 1997, 226: „But although Henry does assert that our seeings and cognizings are
true, he just asserts this. He gives no argument for that claim, nor does he say anything that
might even partially ease the worries that the skeptic had raised about how we could ever
reach true beliefs about what is outside us.“
41
Summa, art. 1, q. 5 (ed. Wilson, 123): „Ad intellectum huius quaestionis notandum est
in principio quod omnis cognitio est per assimilationem cognoscentis ad cognitum.“ Heinrich
beruft sich hier explizit auf Aristoteles’ Kernthese in De anima. Dies zeigt einmal mehr, dass
er nicht einfach ein Augustinist ist, der sich dem Aristotelismus widersetzt.
42
Auch Heinrich verwendet diese Ausdrucksweise in Quodl. IV, q. 21 (ed. Badius, 136vG).
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tellekt auf dieser Grundlage eine intelligible Species bildet, nehme ich die
wesentliche Form des Apfels auf, d.h. genau jenes Strukturprinzip, das den
Apfel zu einem Apfel und nicht zu irgendeinem anderen Gegenstand macht.
Entscheidend ist dabei, dass der kausale Prozess, durch den die Formen
aufgenommen werden, garantiert, dass ich mich tatsächlich an den äußeren
Gegenstand assimiliert habe und dass die Species die Formen so darstellen,
wie sie wirklich sind. Natürlich sind unter bestimmten Umständen Irr-
tümer möglich. So kann es sein, dass ich aufgrund defekter Sinnesorgane die
wahrnehmbaren Formen nicht korrekt aufnehme. Es kann auch sein, dass
ich verschiedene Formen miteinander kombiniere (etwa wenn ich das Phan-
tasiebild von einer Chimäre herstelle) und dann irrtümlicherweise glaube,
es gebe genau diese Kombination von Formen in der materiellen Welt. Dabei
handelt es sich aber nur um lokale Irrtümer, die korrigiert werden können.
Und selbst diese Irrtümer sind nur vor dem Hintergrund eines im Prinzip
korrekten Mechanismus des Aufnehmens von Formen möglich.
Diese Erklärung des Erkenntnisprozesses wirft natürlich eine Reihe
von Problemen auf, die bereits im 13. Jh. ausgiebig diskutiert wurden. So
kann man fragen, um welche Art von Existenz es sich bei der „intentio-
nalen Existenz“ der Formen im Erkennenden handeln soll. Und man kann
weiter fragen, warum wir überhaupt in der Lage sind, auf der Grundlage
von Sinneswahrnehmung Formen in uns aufzunehmen. Doch diese Fragen,
die weit in die Wahrnehmungs- und Intentionalitätstheorie hinein reichen,
sollen hier nicht erörtert werden.43 Wichtig ist in diesem Zusammenhang
nur die Tatsache, dass Heinrich seine These, Species seien der Grund des
Erkennens, im Kontext einer aristotelisch inspirierten Assimilationstheorie
formuliert.44 Er operiert nicht mit einem Repräsentationsmodell, das innere
repräsentierende Entitäten von äußeren repräsentierten Gegenständen ab-
grenzt. Daher ist es für ihn selbstverständlich, dass wir durch das Erfassen
der Species einen Zugang zu äußeren Gegenständen haben. Denn die Species
stellen genau jene Formen dar, die auch in den äußeren Gegenständen vor-
kommen, und die Species können nur deshalb in uns existieren, weil wir
diese Formen in uns aufgenommen haben. Einzelne Fälle von irreführenden
Species sind un ter besonderen Bedingungen (etwa bei defekten Sinnes-
organen) natürlich möglich. Und natürlich ist es auch möglich, dass wir
Vgl. zur Entstehung dieser Terminologie und zu ihrer Verbreitung im 13. Jh. Knudsen 1982
und Tachau 1999.
43
Vgl. eine ausführliche Diskussion in Tweedale 1992, Tellkamp 1999, Burnyeat 2001,
Perler 2002, 42–60.
44
In Summa, art. 1, q. 5 (ed. Wilson, 123–126) fasst er die Grundthesen dieser Theorie mit
explizitem Verweis auf Aristoteles zusammen. Wie Nys 1949 bereits gezeigt hat, übernimmt
er in seiner frühen Phase das aristotelische Standardmodell seiner Zeit.
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Vgl. Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 36). Zum augustinischen Hintergrund dieser Unter-
45
als einen roten, runden, süßen Gegenstand zu erkennen. Dabei erfasse ich
freilich nicht essentielle oder unveränderbare Eigenschaften, sondern ein-
fach jene, die mir gerade präsent sind. Vital du Four, der gegen Ende des
13. Jhs. Heinrichs Position zusammenfasste und erläuterte, gab dafür ein
anschauliches Beispiel: Wenn ich ein Stück Zucker wahrnehme, kann ich
unmittelbar erfassen, dass es süß ist, aber ich bin nicht imstande, die Süße
zu erfassen.47 Modern ausgedrückt könnte man sagen, dass ich nicht die
Struktureigenschaft erfassen kann, die für das unmittelbar wahrgenom-
mene Süßsein verantwortlich ist.
Davon zu unterscheiden ist „die Erkenntnis der Wahrheit“ (cognitio
veritatis). Sie zeichnet sich dadurch aus, dass durch sie erstens nicht eine
beliebige Menge von Eigenschaften erfasst wird, sondern das Wesen eines
Gegenstandes, und dass zweitens geurteilt wird, dass ein konkreter Gegen-
stand dieses Wesen tatsächlich hat.48 Man könnte hier von einer essentiellen
Erkenntnis sprechen, für die gilt:
(2) Jemand hat eine essentielle Erkenntnis von x, wenn er erkennt, dass x
wesentlich F ist.
Somit habe ich erst dann eine essentielle Erkenntnis vom Apfel, wenn ich nicht
nur die jetzt gerade präsente Farbe oder Süße erfasse, die sich morgen schon
wieder verändern kann, sondern wenn ich das erfasse, was den Apfel genau
als Apfel auszeichnet und ihn auch morgen und übermorgen noch zu einem
Apfel macht. Heinrich spricht hier von einer Erkenntnis der Wahrheit, weil er
von einem ontologischen Wahrheitsbegriff ausgeht. Diesem Begriff zufolge ist
nicht primär ein Satz oder eine Aussage wahr, sondern der Gegenstand selbst,
der durch ein bestimmtes Wesen genau zu dem Gegenstand gemacht wird, der
er ist.49 Natürlich kann auch mit Bezug auf Sätze von Wahrheit gesprochen
47
Vital du Four, Quaestiones de cognitione, q. 8 (ed. Delorme 1927, 323): „Sicut, cum video
zucaram, bene apprehendo id quod dulce et verum dulce, sed per visum nullo modo possum
apprehendere dulcedinem...“ Diese Quaestio ist wahrscheinlich zwischen 1297 und 1300 ent-
standen. Zu Vitals Verhältnis zu Heinrich vgl. Marrone 2001, 267–268.
48
Heinrich betont in Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 36), diese Erkenntnis werde durch
eine „compositio et divisio“, d.h. durch ein positives oder negatives Urteil, gewonnen. Dieses
Urteil bezieht sich auf „quid sit in rei veritate, ut de homine quod sit verus homo“ (ibid.)
und daher auf das Wesen eines Gegenstandes. Wie Kann 2001, 46, zu Recht betont, baut
dieses Urteil auf einem einfachen Erfassen auf und ist daher das Produkt eines höherstufigen
geistigen Aktes.
49
In Quodl. II, q. 6 (ed. Wielockx, 32) hält Heinrich explizit fest: „[Intellectus] convertit se
super suum obiectum, non solum percipiendo id quod verum est, a quo movetur (sicut etiam
apprehendit et sensus), sed ipsam veritatem, quae est ipsa quidditas rei intellecta.“ Vgl. auch
Summa, art. 1, q. 12 (ed. Wilson, 189) und art. 34, q. 2 (ed. Macken, 175–177). Heinrich greift
hier auf einen Wahrheitsbegriff zurück, den bereits Anselm von Canterbury in De veritate, 7
(ed. Enders, 34) eingeführt hatte. Eine ausführliche Diskussion des Wahrheitsbegriffs bietet
Marrone 1985, 18–20. Zur Einbettung dieses Begriffs in eine Lehre von den transzendentalen
Bestimmungen des Seienden vgl. Aertsen 1996.
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werden, aber nur insofern sie bezeichnen, dass ein Gegenstand ein bestimmtes
Wesen hat. Die ontologische Wahrheit fundiert dann die propositionale. So ist
etwa die Wahrheit, dass das Wesen des Apfels dieses Stück Materie genau zu
einem Apfel macht, das Fundament für die Wahrheit des Satzes ‚Dies ist ein
Apfel‘.50
Doch wie lässt sich das Wesen eines Gegenstandes erkennen? Offen-
sichtlich können wir nicht auf Anhieb erkennen, was einen Gegenstand
konstituiert. Primär sind uns ja nur die wahrnehmbaren Eigenschaften zu-
gänglich. Wir brauchen Heinrich zufolge daher ein Modell (exemplar), mit
dessen Hilfe wir bestimmen können, welches Wesen ein Gegenstand hat.
Erst wenn wir so etwas wie ein Muster, eine Vorlage oder eben ein Modell
für Äpfel haben, können wir dieses Modell an einen konkreten Gegenstand
anlegen und beurteilen, ob der Gegenstand tatsäch lich die wesentliche
Apfel-Struktur hat. Oder wie Heinrich selbst sagt: „... die Wahrheit einer
Sache kann nur durch die Erkenntnis einer Übereinstimmung der erkann-
ten Sache mit ihrem Modell erkannt werden...“51 Daher lässt sich (2) noch
schärfer fassen:
(2*) Jemand hat eine essentielle Erkenntnis von x, wenn er mithilfe eines
Modells für F erkennt, dass x wesentlich F ist.
Für Heinrich ist nun diese essentielle Erkenntnis von fundamentaler Bedeu-
tung, weil nur sie ein Wissen im strengen Sinne ermöglicht. Er betont, dass
für dieses Wissen nicht einmal das Erfassen eines aktuell präsenten Gegen-
standes erforderlich ist:
„Es gibt nämlich kein Wissen von den Dingen, insofern sie in der Außenwelt aktuell
existieren, sondern nur insofern ihre Natur und ihr Wesen vom Geist erfasst wird,
ob die Dinge nun in der Außenwelt existieren oder nicht...“52
Ob nun ein Apfel vor mir liegt oder nicht, ich verfüge über ein Wissen im
strengen Sinn, wenn ich erfasse, was einen Apfel genau zu einem Apfel und
nicht zu irgendeiner anderen Frucht macht. Immer wieder weist Heinrich
darauf hin, es sei eine Sache, ein Wissen im weiten Sinne zu haben, mit
dem man diese oder jene wahrnehmbare Eigenschaft eines existierenden
Gegenstandes erfasst; eine ganz andere Sache sei es, zu wissen, dass eine
Zu dieser ontologischen Fundierung, die sich auch bei anderen Autoren des
50
13. Jhs. – unter ihnen Bonaventura und Thomas von Aquin – findet, vgl. Speer 1987, 42–52,
und Perler 2004a.
51
Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 39–40): „... veritas rei non potest cognosci nisi ex cogni-
tione conformitatis rei cognitae ad suum exemplar...“
52
Summa, art. 2, q. 2, ad 1 (ed. Badius, 24rG): „Non enim est scientia de rebus inquantum
sunt extra in effectu: sed inquantum natura et quidditas earum a mente est comprehensa: sive
res sint extra, sive non...“
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Sache ein bestimmtes We sen hat.53 Dies ist eine leicht nachvollziehbare
Unterscheidung. So ist es eine Sache, zu wissen, dass dieser Apfel hier süß
ist (jedes Kind, das in den Apfel beißt, kann dieses Wissen gewinnen); eine
ganz andere Sache ist es, zu wissen, welche biochemische Struktur dafür
verantwortlich ist, dass etwas ein Apfel ist und auch bleibt (nur Biologen
können nach aufwändigen Untersuchungen ein solches Wissen gewinnen).
Daher lässt sich von der bereits genannten Erklärung von Wissen (W1) eine
strengere unterscheiden:
(W2) Jemand hat Wissen im strengen Sinne, wenn er über eine sichere Er-
kenntnis vom Wesen von x verfügt, d.h. wenn er mithilfe eines Modells
für F mit Sicherheit erkennt, dass x wesentlich F ist.
Heinrich betont, dass diese Art von Wissen nur erworben werden kann,
wenn eine Übereinstimmung (conformitas) des Gegenstandes mit seinem
Modell festgestellt wird.54 Dazu ist ein Urteil erforderlich. Denn jemand
kann nur dann eine Übereinstimmung feststellen, wenn er den Gegenstand
mit dem Modell vergleicht und urteilt, dass der Gegenstand tatsächlich dem
Modell entspricht. Dies ist ein entscheidendes Detail. Es geht nicht einfach
darum, x als F zu erfassen (dies wäre auch durch einen sog. „einfachen“, d.h.
nicht-urteilenden Akt möglich), sondern es muss geurteilt werden, dass x
dem Modell entspricht und tatsächlich F ist.55
Die entscheidende Frage lautet nun, ob ein derartiges Urteil und damit
Wissen im strengen Sinne auf der Grundlage eines rein natürlichen kog
nitiven Prozesses möglich ist. Können wir etwa dadurch, dass wir einen
Apfel sehen, ein Wissen davon gewinnen, dass dies wesentlich ein Apfel ist?
Die Vertreter der Species-Theorie würden diese Frage sogleich bejahen. Sie
würden darauf insistieren, dass wir beim Anschauen des Apfels nicht nur
sinnliche Vorstellungsbilder erwerben, mit denen wir die wahrnehmbaren
Formen erfassen, sondern auch eine species intelligibilis, mit der wir die es-
sentielle Form erfassen. Sie würden zudem hinzufügen, dass diese Species in
53
Vgl. Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 35–36) und art. 6, q. 1 (ed. Badius, 42vB). Wie
Marrone 1985, 19–20, gezeigt hat, verweist Heinrich konstant auf die quidditas rei oder das
quod quid est rei, wenn er erklärt, worauf das Wissen im strengen Sinne abzielt.
54
Vgl. Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 39–40).
55
Kann argumentiert, dass dieses Urteil nicht im traditionellen Sinn als eine bejahende
Subjekt-Prädikat-Verbindung zu verstehen ist. Es finde sich „bei Heinrich kein zwingender
Hinweis auf eine propositionale Struktur, sondern lediglich auf den epistemischen Akt des
Zusammensetzens oder Trennens von Wahrnehmungsobjekt und Urbild.“ (Kann 2003, 165)
Sicherlich trifft es zu, dass nicht einfach ein Urteil der Form ‚x ist F’ gebildet werden muss.
Trotzdem muss eine propositionale Struktur vorhanden sein, denn der epistemische Akt des
Zusammensetzens oder Trennens kann nur vollzogen werden, wenn die Proposition ‚dass x
mit dem Urbild bzw. Modell übereinstimmt oder nicht‘ erfasst wird; auf diese Proposition
bezieht sich das Urteil.
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unserem Intellekt verbleibt, wenn wir sie einmal erworben haben, und dass
wir sie jederzeit wieder verwenden können. Habe ich etwa ausgehend von
einem konkreten Apfel einmal erfasst, was ein Apfel ist, habe ich ein Apfel-
Modell gewonnen und kann bei jedem Gegenstand, der mir in Zukunft
gezeigt wird, sagen, ob dies ein Apfel ist oder nicht, indem ich die Über-
einstimmung mit dem Modell prüfe. Die auf natürliche Weise gewonnene
Species garantiert somit, dass ich nicht nur bei einem einzigen Gegenstand,
sondern bei jedem Gegenstand einer bestimmten Art über ein Erfassen der
wahrnehmbaren Eigenschaften hinausgehen kann. Kurzum: Die intelligible
Species ist das Modell, das eine essentielle Erkenntnis und damit auch ein
Wissen im strengen Sinne ermöglicht.
Heinrich stimmt zu, dass die Species ein Modell darstellt. Doch dürfen
wir auch annehmen, dass es sich hier um ein absolut zuverlässiges und sta-
biles Modell handelt? Gegen diese Annahme führt Heinrich drei Einwände
an. Erstens verweist er auf die Veränderlichkeit der materiellen Gegen-
stände, die es unmöglich macht, ein stabiles Modell zu gewinnen.56 Für das
(von Heinrich freilich nicht explizit diskutierte) Apfel-Beispiel heißt dies:
Da der Apfel im Frühling klein und grün, im Herbst aber groß und rot ist,
kann ich allein aufgrund der natürlichen Wahrnehmung kein Apfel-Modell
gewinnen, das mir zeigt, was das Wesen des Apfels ist. Ich kann nur ein ad
hoc-Modell bilden, das mir den Apfel mit jenen Eigenschaften darstellt, die
er gerade hat.
Dieses Argument scheint auf den ersten Blick relativ schwach zu sein.
Man könnte sogleich einwenden, dass es neben allen veränderlichen Ei-
genschaften auch unveränderliche gibt. Bereits Scotus wies darauf hin, dass
doch jeder Gegenstand eine Natur hat, die keinen Veränderungen unter-
worfen ist, und dass diese Natur durchaus erfasst werden kann.57 So hat der
Apfel im Frühling und im Herbst eine bestimmte Fruchtfleisch- und Ober-
flächenstruktur, die immer gleich bleibt. Wenn ich diese Struktur bestimme,
kann ich doch erfassen, was wesentlich zum Apfel gehört.
Ein solcher Einwand würde freilich zu kurz greifen. Denn wie können wir
sicher sein, dass wir tatsächlich eine unveränderliche Natur erfassen? Selbst
die Fruchtfleisch- und die Oberflächenstruktur verändern sich permanent;
je nach Reifegrad ist das Fruchtfleisch hart oder weich, die Oberfläche rau
oder glatt. Streng genommen können wir nur eine detaillierte Beschreibung
der gerade wahrnehmbaren Struktur geben. Ob es sich dabei bereits um die
wesentliche Struktur handelt, ist eine Frage, die wir allein auf der Grund-
lage punktueller Wahrnehmung nicht beantworten können. Gianfrancesco
Pico della Mirandola, der im späten 15. Jh. Heinrichs Einwände wiederholte
und bekräftigte, wies zudem darauf hin, dass ein Gegenstand in sich wider-
streitende Eigenschaften hat und dass er sich schon aufgrund dieses inneren
Widerstreits permanent verändert.58 Je nach Situation konzentrieren wir uns
auf diese oder jene Eigenschaften im Veränderungsprozess. Doch wie sollen
wir dadurch zur Bildung eines stabilen Modells gelangen, das alle wider-
sprüchlichen Eigenschaften in sich vereint oder einige zugunsten anderer
ausscheidet? Wer wie Scotus behauptet, es gebe doch eine unveränderliche
Natur, nimmt von vornherein etwas an, was der Wahrnehmung nicht
zugänglich ist und höchstens postuliert werden kann.
Heinrich führt noch ein zweites Argument gegen die Möglichkeit an,
auf natürliche Weise ein stabiles Modell zu gewinnen.59 Der menschliche
Intellekt, so betont er, ist ebenfalls veränderlich und irrtumsanfällig. Daher
besteht keine Garantie, dass er das gewünschte Modell von sich aus bilden
kann.
Auch dieses Argument erscheint auf den ersten Blick kaum überzeugend.
Natürlich verändert sich unser Intellekt, könnte man erwidern, aber durch
alle Veränderungen hindurch bleibt eine kognitive Grundaktivität erhalten,
die uns erlaubt, ein stabiles Modell zu bilden. Und natürlich ist der In-
tellekt unter besonderen Bedingungen irrtumsanfällig. Wenn aber normale
kognitive Bedingungen vorliegen, funktioniert er genauso zuverlässig wie
die Sinne.
Diese Replik setzt freilich voraus, dass es tatsächlich eine stabile Grund-
aktivität des Intellekts gibt. Doch welche Garantie haben wir dafür? Wir
können nur feststellen, dass unser Intellekt zu diesem oder jenem Zeitpunkt
diese oder jene Eigenschaft erfasst, und wir können gegebenenfalls eine ge-
wisse Kontinuität beobachten. Aber dies allein zeigt nicht, dass der Intellekt
durch alle Veränderungen hindurch auch das Wesen erfasst und dass er auf
dieser Grundlage ein stabiles Modell bilden kann. Es könnte sehr gut sein,
dass ich etwa bezüglich des Apfels zu allen Zeitpunkten erfasse, dass er eine
harte Schale hat. Damit würde ich aber keineswegs eine wesentliche Eigen-
schaft erfassen. Dies gilt selbst dann, wenn normale kogn itive Bedingungen
und ein normales Funktionieren des Intellekts angenommen werden. Denn
wer garantiert uns, dass unser Intellekt tatsächlich so beschaffen ist, dass er
unter normalen Bedingungen das Wesen erfassen kann? Vielleicht funktio-
niert unser Intellekt perfekt, und trotzdem ist er nicht in der Lage, eine sta-
bile, immer gleich bleibende wesentliche Eigenschaft zu erfassen. (Zum Ver-
58
Examen vanitatis (Opera II, 1094): „Notum hoc experientia, notum: quia quod compo-
situm est ex pugnantibus inter se continuè qualitatibus, continuè secundum naturam mutari
necesse est, tametsi ipsa singulis momentis mutatio non percipiatur.“
59
Vgl. Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 43–44).
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gleich: Selbst wenn wir über ein perfekt funktionierendes Lichtm ikroskop
verfügen, können wir damit nicht die für einen Gegenstand wesentliche
Molekularstruktur erfassen – ganz einfach, weil ein Lichtmikroskop prinzi-
piell nicht dazu ausreicht.)
Schließlich führt Heinrich noch ein drittes Argument an, das zeigen
soll, dass wir auf natürlichem Weg kein Wissen im strengen Sinne erwerben
können.60 Wenn unser Intellekt tätig wird, so hält er fest, geschieht dies auf
der Grundlage eines Vorstellungsbildes. Dieses können wir aber im Schlaf
ebenso gut haben wie im Wachzustand, im Wahnzustand ebenso gut wie
in einem gesunden Zustand. Wir verfügen über kein Kriterium, das uns
erlauben würde, das eine Vorstellungsbild vom anderen zu unterscheiden.
Daher kann der Intellekt ebenso gut ausgehend von einem bloßen Traum-
gebilde wie von einer realen Darstellung einer Sache ein Modell von dieser
Sache bilden. Und daher ist es immer möglich, dass sich das Modell, das
der Intellekt bildet, gar nicht auf einen existierenden Gegenstand bezieht,
geschweige denn auf die wesentlichen Eigenschaften eines solchen Gegen-
standes.
Darauf könnte man sogleich erwidern, dass Heinrich doch selber dafür
argumentiert hat, dass die Sinne im Prinzip korrekt funktionieren und dass
sie im Prinzip korrekte Vorstellungsbilder liefern. Ausnahmen sind zwar
möglich, widerlegen aber nicht den Regelfall. Ja, die Ausnahmefälle sind nur
vor dem Hintergrund eines prinzipiell korrekten kognitiven Prozesses ver-
ständlich. Warum sollte man so ausgefallenen Fällen wie den Traum- und
den Wahnbildern eine so große Bedeutung schenken?
In der Tat funktionieren die Sinne im Prinzip zuverlässig. Doch das
Problem besteht darin, dass sie nur Aufschluss über die wahrnehmbaren
Eigenschaften eines Gegenstandes geben, nicht über sein Wesen. Doch
genau dieses Wesen muss man erfassen, um erstens zu wissen, was einen
Gegenstand überhaupt zu einem Gegenstand einer bestimmten Art macht,
und um zweitens bestimmen zu können, ob es sich dabei nur um einen
fiktiven Traumgegenstand handelt oder um einen Gegenstand, der tatsäch-
lich existiert oder zumindest existieren kann. Wenn ich – um ein modernes
Beispiel anzuführen – etwa von einem rosaroten Pferd träume, das durch
mein Schlafzimmer fliegt, so helfen mir die Sinne nicht zu entscheiden, ob
es tatsächlich einen solchen Gegenstand gibt, selbst wenn sie optimal funk-
tionieren. Die Sinne haben ja lediglich Eindrücke von Pferden, von rosaroten
und von fliegenden Gegenständen aufgenommen und abgespeichert; diese
Eindrücke bilden die Grundlage für das Vorstellungsbild. Um zu entschei-
den, ob dem Vorstellungsbild tatsächlich etwas in der realen Welt entspricht,
60
Vgl. Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 44–45).
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Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 45): „Igitur per tale exemplar impossibile est certam
61
das Modell betrachtet, das durch die Sinne von einer Sache abstrahiert wurde, wie
sehr dieses auch gereinigt und verallgemeinert wurde.“62
Dies ist natürlich ein skeptischer Schluss, der prinzipiell die Möglichkeit
eines natürlichen essentiellen Wissens infrage stellt. Wenn darunter nämlich
ein Wissen verstanden wird, das mithilfe eines sicheren Modells gewonnen
wird, dann ist der Erwerb eines solchen Wissens auf rein natürlichem Weg
prinzipiell ausgeschlossen. Die Beschaffenheit der Wissensobjekte und des
Wissenssubjekts macht ein solches Wissen unmöglich. Vital du Four spitzt
in seiner Zusammenfassung diesen Befund zu, indem er festhält, Wissens-
erwerb auf rein natürlichem Wege führe nur zu einer „nebelhaften Erkennt-
nis“ (in nebulosam cognitionem).63 Wir stochern mit den selbst erworbenen
Modellen gleichsam im Nebel herum, weil wir mit ihnen sehr wahrschein-
lich zwar einige wesentliche Eigenschaften der Gegenstände erfassen, aber
nie sicher sein können, dass wir tatsächlich die wesentlichen Eigenschaften
und nur diese Eigenschaften erfassen. Damit ist freilich nicht gesagt, dass
Wissen überhaupt nicht möglich ist. Zum einen gibt es ja das bereits ge-
nannte Wissen im weiten Sinne, und zum anderen fügt Heinrich (ihm
folgend auch Vital) sogleich hinzu, dass wir durch göttliche Illumination
durchaus Zugang zu einem sicheren und stabilen Modell haben, das uns die
wesentlichen Eigenschaften der Gegenstände präsentiert. Für Heinrich ist
es entscheidend, dass genau dieses zweite Modell Wissen im strengen Sinne
ermöglicht. Daher ist der skeptische Schluss nur eine Art Zwischenstation
in der ganzen Argumentation. Wie diese Zwischenstation überwunden und
Wissen gesichert wird, soll in § 7 genauer untersucht werden. Zunächst gilt
es aber festzuhalten, wie Heinrich überhaupt zu einem skeptischen Schluss
gelangt, auch wenn dieser nur einen transitorischen Charakter hat. Drei
Punkte gilt es zu beachten.
Erstens ist zu betonen, dass Heinrich keineswegs auf der Ebene der Sinne
ansetzt, um zu zeigen, dass sie unzuverlässig sind oder widersprüchliche
Informationen liefern. Ein solches Vorgehen, das für akademische Skeptiker
kennzeichnend ist, lehnt er mit explizitem Verweis auf Aristoteles ab, wie
mehrfach gezeigt wurde. Epistemologische Schwierigkeiten tauchen seiner
Ansicht nach erst auf der Ebene des Intellekts auf, denn erst hier stellt sich
die Frage, ob der Intellekt jene Aufgabe, die ihm gestellt wird, mit natür-
lichen Ressourcen überhaupt erfüllen kann. Kann er einzig und allein auf
der Grundlage eines sinnlichen Vorstellungsbildes ein sicheres und stabiles
Modell für das Wesen eines Gegenstandes bilden? Nur bezüglich dieser
Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 45): „Patet etiam quod certam scientiam et infallibilem
62
veritatem, si contingat hominem cognoscere, hoc non contingit ei aspiciendo ad exemplar ab
stractum a re per sensus quantumqumque sit depuratum et universale factum.“
63
Vital du Four, Quaestiones de cognitione, q. 8 (ed. Delorme 1927, 327).
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dass Dinge in der Welt ein Wesen haben und dass sie kraft dieses Wesens
eine synchrone und diachrone Identität besitzen.66 Erst das Vorhandensein
bestimmter wesentlicher Eigenschaften und Strukturen in der Welt legt
seiner Ansicht nach fest, welche Dinge überhaupt möglich sind und welche
nicht. Mit diesem Essentialismus steht Heinrich freilich nicht isoliert da.
Auch viele seiner Zeitgenossen akzeptieren ihn, versuchen aber gleichzeitig,
dem skeptischen Problem zu entrinnen, indem sie einen anderen Ausweg
wählen, nämlich eine Verteidigung der These, dass das Wesen der Dinge auf
rein natürlichem Weg sicher und stabil erkannt werden kann. Es gilt nun zu
untersuchen, warum Heinrich glaubt, dass eine solche Verteidigung nicht
gelingen kann.
66
Auf die fundamentale Rolle des Essentialismus hat bereits Paulus 1938, 12–13, aufmerk-
sam gemacht: „La métaphysique, telle qu’il [sc. Henri de Gand] la pratique, ne débute point
vraiment par la saisie de l’être objectif, mais par la saisie de l’idée d’être, et son projet consiste
[...] à chercher quels objets de pensée se rangent en son extension, quels caractères conviennent
à ces objets a priori, la question ne se posant qu’ensuite d’énoncer les rapports qu’ils ont aux
choses concrètes.“
67
Vgl. STh I, q. 85, art. 1, ad 2.
68
Vgl. STh I, q. 85, art. 6, corp., und Super Boetium de Trinitate, q. 5, art. 3 (ed. Leonina L,
147–149); eine detaillierte Analyse dieser umstrittenen These bietet Kretzmann 1991.
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liche Irrtümer ausgeschlossen sind. Doch diese betreffen nicht das Erfassen
des Wesens, sondern nur die Urteile, die über die konkrete Beschaffenheit
eines Gegenstandes gefällt werden. Wenn ich etwa das Wesen des Apfels aus
diesem oder jenem Vorstellungsbild abstrahiere, kann ich Thomas zufolge
beim bloßen Erfassen des Wesens keinen Fehler begehen. Natürlich kann
es sein, dass ich das Wesen zunächst nur undeutlich erfasse und deshalb
noch einige Überlegungen anstellen muss, um genau bestimmen zu können,
welches Wesen ich erfasst habe. Doch im Kern habe ich das Wesen korrekt
erfasst. Erst wenn ich dann Urteile über den konkreten Gegenstand fälle,
in dem das Wesen instantiiert ist, können Fehler auftauchen. So begehe ich
etwa einen Fehler, wenn ich urteile, dass der vor mir liegende Apfel Federn
hat. Dann fälle ich nämlich das abwegige Urteil, dass das Wesen des Ap-
fels in etwas vorkommt, was auch noch die Eigenschaft des Gefiedertseins
hat – eine unmögliche Verbindung. Doch das bloße Erfassen des Wesens,
das mith ilfe der intelligiblen Species gelingt, ist davon nicht betroffen.
Die Abstraktionstheorie ist natürlich weitaus komplexer, als sie in
dieser gerafften Darstellung erscheint.69 Aber bereits die kurze Zusam-
menfassung zeigt, dass sie auf mindestens drei gehaltvollen Thesen beruht.
Erstens setzt sie eine Essentialismusthese voraus. Es wird angenommen,
dass in jedem Gegenstand ein allgemeines Wesen instantiiert ist und dass
der Intellekt von Natur aus imstande ist, dieses Wesen zu erfassen, indem
er von allen individuierenden Bedingungen absieht. Zweitens wird eine
Instrumentalitätsthese vorausgesetzt. Thomas nimmt an, dass der mensch-
liche Intellekt ein geeignetes kognitives Instrument – die intelligible Spe-
cies – bilden kann, durch das ihm das allgemeine Wesen zugänglich wird.
Drittens schließlich setzt er eine Infallibilitätsthese voraus. Der Intellekt
ist seiner Ansicht nach von Natur aus so beschaffen, dass er das allgemeine
Wesen unter optimalen Bedingungen korrekt erfasst und sich in Wesens-
urteilen nicht irrt.
Genau diese drei Thesen erlauben es Thomas, die Ansicht zu ver-
teidigen, dass der menschliche Intellekt das Wesen eines Gegenstandes
von Natur aus erfassen kann, ohne dabei auf eine besondere Illumination
angewiesen zu sein.70 Doch seine Verteidigung steht und fällt natürlich
69
Ich diskutiere sie ausführlich in Perler 2002, 62–70; siehe auch Pasnau 2002, 310–318, und
Stump 2003, 264–276.
70
Zumindest ist keine besondere Illumination erforderlich. Thomas beruft sich nur auf eine
allgemeine Illumination, um erfolgreiche Erkenntnis zu erklären. Denn nur weil der mensch-
liche Intellekt in einer Partizipationsrelation zu Gott steht, ist er zu korrekter Abstraktion
fähig. Thomas’ Theorie ist daher nicht eine rein naturalistische Theorie, d.h. eine Theorie, die
sich nur auf natürliche kognitive Vermögen und deren Aktivierung beruft. Sie ist immer in
eine Schöpfungstheorie eingebettet und setzt eine Relation zum Schöpfer als eine notwendige
Bedingung für erfolgreiche Erkenntnis voraus; vgl. zu dieser Relation ausführlich Smit 2001.
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mit der Gültigkeit der drei Thesen. Wie überzeugend sind nun diese The-
sen? Mit dieser Frage setzt sich Heinrich von Gent in seiner Analyse des
Abstraktionsprozesses auseinander. Er richtet sich dabei nicht ausschließ-
lich oder explizit gegen Thomas von Aquin, sondern konzentriert sich auf
die zu seiner Zeit dominante Standardtheorie. Die wichtigsten Elemente
dieser Theorie stimmen aber weitgehend mit jenen überein, die man in
den Texten des Thomas findet. Daher stellt Thomas’ Theorie eine gute
Kontrastfolie dar, um zu verdeutlichen, aus welchen Gründen Heinrich
die These, dass wir mit rein natürlichen Mitteln ein sicheres und stabiles
Wissen vom Wesen der Dinge gewinnen können, so problematisch er
scheint.
In den frühesten, um 1276 entstandenen Schriften begnügt sich Hein-
rich damit, die Abstraktionstheorie zusammenzufassen, ohne sie einer
genauen Analyse oder gar einer Kritik zu unterziehen.71 Erst in späteren
Quaestionen (ab 1279) formuliert er seine Kritik, indem er den Abstrakti-
onsprozess genauer untersucht und die Frage aufwirft, welche kognitiven
Entitäten in diesem Prozess eine Rolle spielen.72 Dabei setzt er bei einem
Vergleich der Sinne mit dem Intellekt an. Wenn jemand einen materiellen
Gegenstand wahrnimmt, so hält Heinrich fest, werden die Sinne der-
art von diesem Gegenstand affiziert, dass sie von einem potentiellen in
einen aktuellen Zustand überführt werden.73 Schaue ich etwa einen Apfel
an, der vor mir liegt, werden meine Augen derart durch Lichtstrahlen
affiziert, dass sie vom Zustand des bloß potentiellen Sehens in den Zu-
stand des aktuellen Sehens übergehen. Entscheidend ist dabei, dass es ein
Affiziert-werden im strengen Sinne gibt, denn den Augen wird tatsächlich
etwas eingeprägt. Dies stellt Heinrich zufolge keine Schwierigkeit dar,
denn materielle Sinnesorgane können durchaus materiell affiziert werden.
Auf der Grundlage einer materiellen Veränderung entsteht dann ein Vor-
stellungsbild, das im Gehirn existiert und somit ebenfalls von materieller
Natur ist. Erst jetzt kann der Intellekt aktiv werden. Wie die Sinne muss
auch er von einem potentiellen in einen aktuellen Zustand überführt
werden. Doch dies kann nicht dadurch geschehen, dass der Intellekt im
wörtlichen Sinne affiziert wird. Da er von immaterieller Natur ist, kann
ihm nichts eingeprägt werden. Heinrich betont daher, dass der Intellekt
keine „eingeprägte Species“ (species impressiva) aufnehmen kann, sondern
71
In Summa, art. 1, q. 5 (ed. Wilson, 124–126) begnügt er sich damit, die Kernthesen dieser
Theorie kurz darzustellen.
72
Gemäß der Werkeinteilung von Marrone 1985 handelt es sich dabei um die zweite Phase.
Eine detaillierte Entwicklungsgeschichte bietet Nys 1949, 51–98.
73
Vgl. Quodl. IV, q. 21 (ed. Badius, 136vG).
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74
Quodl. IV, q. 21 (ed. Badius, 136vH): „Intellectus vero materialis ab obiecto nullam
recipit speciem impressivam, sed solum expressivam, qua de potentia intelligente fit actu in-
telligens.“ Vgl. auch Quodl. IV, q. 8 (ed. Badius, 98rQ) und Quodl. V, q. 14 (ed. Badius, 174vZ
und 177rR).
75
Quodl. IV, q. 21 (ed. Badius, 136vH): „... ut ulterius potentia sentiens fiat actu sentiens
receptione speciei expressivae: non ut in subiecto sed in cognoscente.“
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jekt. Sie sei vielmehr derart in ihr, dass der Person eine bestimmte Informa-
tion kognitiv präsent ist und dass sie dadurch auch zu einer Erkenntnis fähig
ist. (Wiederum zum Vergleich: Die Nachricht auf dem Blatt Papier ist nicht
einfach materiell präsent, sondern für jeden, der über kognitive Fähigkeiten
verfügt, auch kognitiv präsent. Jeder, der sie liest, kann sie unmittelbar ver-
stehen und dadurch eine bestimmte Information erfassen.)
Versteht man die Unterscheidung von „eingeprägter“ und „ausgeprägter“
Species auf diese Weise, zeigt sich, dass Heinrich die rein materielle Ver-
änderung von der Informationsaufnahme unterscheiden will. Dies ist von
entscheidender Bedeutung für ein Verständnis der intellektuellen Tätigkeit.
Heinrich betont ja, dass der Intellekt nur eine „ausgeprägte“ Species aufneh-
men kann. Modern ausgedrückt heißt dies: Der Intellekt kann nur eine In-
formation aufnehmen, aber er kann nicht materiell verändert werden. Etwas
Immaterielles ist nämlich prinzipiell nicht materiell veränderbar. Genau
darin liegt der entscheidende Unterschied zwischen dem Intellekt und den
Sinnen. Freilich stellt sich dann sogleich die Frage, wie die Informationsauf-
nahme erfolgen soll. Auf diese Frage gibt Heinrich eine konzise Antwort:
Die Informationsaufnahme geschieht nicht durch die Herstellung einer be-
sonderen kognitiven Entität, einer intelligiblen Species, sondern einzig und
allein dadurch, dass der tätige Intellekt die Vorstellungsbilder erfasst, die
bereits einen Informationsgehalt haben. Er erfasst sie allerdings nicht unter
einem partikulären oder individuellen Aspekt, sondern unter einem univer
salen.76 Der Intellekt konzentriert sich also auf den universalen Informations-
gehalt der Phantasmata. Heinrich betont daher, dass das universale Objekt,
das der Intellekt erkennt, einzig und allein in den Vorstellungsbildern ist.77
Konkret heißt dies: Wenn ich dank der in den Sinnen „eingeprägten“ Species
eine Information über den vor mir liegenden Apfel habe, erfasse ich einfach
das Vorstellungsbild vom Apfel, konzentriere mich dabei aber nur auf die
allgemeinen Charakteristika des Apfels. Bildlich gesprochen könnte man
sagen, dass ich aus dem konkreten Vorstellungsbild eine Information über
die allgemeinen, wesentlichen Eigenschaften des Apfels herausziehe.
Doch wie kann ich einen universalen Gehalt gewinnen? Wie ist das
„Herausziehen“ zu verstehen? Auf diese kniffligen Fragen gibt Heinrich
folgende Antwort:
76
Quodl. V, q. 14 (ed. Badius, 176vO): „Intellectus autem possibilis speciem impressam
nullam recipit a phantasmate, sed actione agentis facientis phantasmata quantum est de se
solum in potentia moventia intellectum esse actu moventia et existentia in eo ut in cognos-
cente solum, et hoc sub ratione universalis quod idem re est ut est in cognoscente, scilicet
imaginativa sub ratione particularis, et in intellectu sub ratione universalis ...“
77
Quodl. V, q. 14 (ed. Badius, 177vR): „... et hoc quemadmodum universale obiectum in-
tellectui nostro non alibi existit nisi in phantasmate ...“
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„... die Species, die das universale Vorstellungsbild ist, wird nicht derart vom par-
tikulären Vorstellungsbild abstrahiert, dass sie real abgetrennt oder erzeugt oder
im Intellekt vervielfältigt wird, und zwar so, dass sie diesen dazu bringen würde,
im Intellekt einen Verstehensakt hervorzubringen. Sie wird von ihm nur durch eine
virtuelle Abtrennung von den materiellen und partikulären Bedingungen und durch
eine Absonderung dieser Bedingungen abstrahiert...“78
78
Summa, art. 58, q. 2, ad 2 (ed. Badius, 130rG): „... nec ipsa species quae est phantasma
universale, abstrahitur a phantasmate particulari per modum separationis realis aut genera-
tionis aut multiplicationis in intellectu: ut quem informat ad eliciendum in intellectu actum
intellectionis, sed solum per quamdam separationem virtualem conditionum materialium et
particularium, et illarum sequestrationem ab ipso ...“ Siehe auch Quodl. IV, q. 8 (ed. Badius,
97rM).
79
Vgl. Spruit 1994, 210.
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stellt. Er interessiert sich nicht für die Farbe dieser oder jener Blume, sondern
nur für die allgemeine Struktur des Gartens. In seiner Beschreibung trennt
er freilich nichts vom Garten ab und ignoriert auch nicht ganze Bereiche.
Er konzentriert sich einfach auf allgemeine geometrische Muster und lässt
Einzelheiten weg. Ähnlich ist nun auch die „virtuelle“ Abtrennung zu ver-
stehen, die der Intellekt vornimmt, wenn er das Vorstellungsbild erfasst. Er
konzentriert sich einfach auf die allgemeine Struktur dessen, was in diesem
Bild dargestellt wird, und lässt Einzelheiten weg. So gelingt es ihm, das Bild
in universaler Hinsicht zu erfassen. Dies ist möglich, weil im Individuellen
die universalen Elemente immer schon enthalten sind. Sie müssen lediglich
sichtbar gemacht werden.
Heinrich präsentiert somit keine selbstwidersprüchliche Erklärung, son-
dern eine Erk lärung, die auf die Unterscheidung verschiedener Aspekte oder
Hinsichten abzielt. Verkürzt ausgedrückt könnte man sagen: Entscheidend ist
für ihn nicht nur, welches Vorstellungsbild erfasst wird, sondern wie es erfasst
wird. Aufgrund dieser Tatsache hält Heinrich es für überflüssig, eine beson-
dere intelligible Species anzunehmen. Die Species ist im Grunde nichts anderes
als das Vorstellungsbild, das in universaler Hinsicht erfasst wird. Freilich setzt
Heinrich dabei voraus, dass der Intellekt über die Fähigkeit verfügt, diese
Hinsicht zu erfassen und damit auch das Wesen zu erkennen.80 Er macht somit
nicht nur eine starke metaphysische Annahme (nämlich dass die Dinge uni-
versale Aspekte haben, die in den Vorstellungsbildern präsent sind), sondern
eine ebenso starke psychologische Annahme (nämlich dass der Intellekt von
Natur aus dazu disponiert ist, die universalen Aspekte zu erfassen).
Wie verhält sich nun diese Erklärung des Erkenntnisvorganges zu jener,
die von den Vertretern der traditionellen Abstraktionstheorie, unter ihnen
Thomas von Aquin, geboten wird? Diese Frage lässt sich am besten beant-
worten, indem man Heinrichs Erklärung mit den drei Thesen konfrontiert,
auf denen die traditionelle Theorie beruht. Wie bereits erwähnt, setzt die
Abstraktionstheorie erstens eine Essentialismusthese voraus. Dieser These
stimmt Hein rich zweifellos zu. Er betont ja, das Erkenntnisobjekt des
Intellekts sei nicht der individuelle Gegenstand mit seinen einzelnen Ei-
genschaften, sondern das allgemeine Wesen. Diese These wird von Heinrich
sogar metaphysisch fundiert, denn er betont, jeder Gegenstand habe in
sich eine wesentliche Struktur, die durch eine geeignete kognitive Tätigkeit
sichtbar gemacht werden könne.81 Es ist somit nicht unser Intellekt, der eine
80
In Quodl. IV, q. 8 (ed. Badius, 97vN-98rP) beschreibt er diesen Vorgang als ein Zwei-
Schritt-Verfahren. In einem ersten Schritt wird auf noch unklare und ungenaue Weise der
universale Aspekt aus dem Vorstellungsbild herausgelöst. In einem zweiten Schritt wird das
Wesen dann klar erfasst, und es wird eine Definition für den Gegenstand gebildet.
81
Vgl. zu diesem universalienrealistischen Fundament Paulus 1938, 67–135.
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82
Spruit 1994, 211, wirft Heinrich vor, er habe ein naives Verständnis von Einprägen,
wenn er einfach annehme, eine intelligible Species müsse auf mechanische Weise eingedrückt
werden; Heinrich attackiere eine Species-Theorie, die niemand im 13. Jh. ernsthaft vertreten
habe. Dagegen ist einzuwenden, dass Heinrich auf ein fundamentales Problem aufmerksam
macht: Wie kann dem Intellekt überhaupt etwas eingeprägt werden, wenn er doch immateriell
ist? Selbst wenn die intelligiblen Species ontologisch als immaterielle „Qualitäten der Seele“
bestimmt werden (wie etwa von Thomas von Aquin), stellt sich immer noch die Frage, wie
einem immateriellen Intellekt eine immaterielle Qualität eingeprägt werden kann. Und wie
kann der Intellekt durch derartige Qualitäten verändert werden? Eine Veränderung kann auf
der Ebene des Intellekts nur kognitiver Art sein, d.h. der Intellekt kann nur Informationen
erfassen und gegebenenfalls aufnehmen.
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bildern doch die Infallibilität nicht infrage stellt. Jeder, der die empiristische
Grundthese einräumt, dass Erkenntnis auf der Grundlage von Sinneswahr-
nehmung gewonnen wird, muss doch zugestehen, dass Vorstellungsbilder
die Basis für eine Abstraktionsleistung darstellen. Die Frage ist hier nur,
wie die Abstraktion auf dieser Basis erfolgt. Folgt man Thomas von Aquin,
kann man daran festhalten, dass die Abstraktion ausgehend von den Vor-
stellungsbildern erfolgt und trotzdem infallibel ist. Denn wie veränderlich
und partiell die Vorstellungsbilder auch sein mögen, dem Intellekt gelingt
es im Prinzip immer (wenn vielleicht auch nicht auf Anhieb), die allgemeine
Struktur der Gegenstände korrekt zu abstrahieren. Er ist, wie es E. Stump
treffend ausgedrückt hat, mit einer Garantie zu erfolgreicher kognitiver Fä-
higkeit versehen, ähnlich wie ein gut konstruiertes Auto mit einer Garantie
zu erfolgreichem Fahren ausgestattet ist.83
Genau hier treten nun die Differenzen zwischen Thomas und Heinrich
zutage. Aus der Sicht Heinrichs stellt sich nämlich die Frage, was uns dazu
berechtigt, eine solche Garantie anzunehmen. Warum sollten wir davon aus-
gehen, dass der Intellekt von sich aus die allgemeine Struktur eines Gegenstan-
des und damit sein Wesen korrekt erfassen kann. Gerade die Tatsache, dass er
stets auf Vorstellungsbilder zurückgreifen muss, zeigt doch, dass es mehrere
Irrtumsquellen gibt – genau jene Irrtumsquellen, die in § 5 bereits ausführlich
dargestellt wurden. Erstens verändern sich die Gegenstände und damit auch
die Vorstellungsbilder, die wir von ihnen gewinnen. Es besteht keine Garantie
dafür, dass der Intellekt aus all den wechselhaften Bildern ein stabiles Modell
gewinnt. Zweitens ist auch das Vorstellungsvermögen wechselhaft und bringt
je nach Situation und Disposition unterschiedliche Vorstellungsbilder hervor.
Wenn sich der Intellekt auf eines dieser Bilder konzentriert und es in univer-
saler Hinsicht erfasst, kann es sehr wohl sein, dass er nur einen kleinen Aus-
schnitt erfasst. Drittens schließlich können Vorstellungsbilder auch im Traum
oder in Halluzinationen entstehen. Dann erfasst der Intellekt ein Bild, dem
nichts in der materiellen Welt entspricht. Kurzum: Solange der Intellekt sich
nur auf die Vorstellungsbilder stützt und nur diese in universaler Hinsicht
erfasst, kann sich immer ein Irrtum einschleichen. Genau aus diesem Grund
gelangt Heinrich zu dem Schluss, der bereits in § 5 zitiert wurde:
„Folgendes ist aber offensichtlich: Wenn ein Mensch sicheres Wissen [erlangen] und
eine untrügerische Wahrheit erkennen kann, so ist ihm dies nicht möglich, indem er
das Modell betrachtet, das durch die Sinne von einer Sache abstrahiert wurde, wie
sehr dieses auch gereinigt und verallgemeinert wurde.“84
Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 45): „Patet etiam quod certam scientiam et infallibilem
84
veritatem, si contingat hominem cognoscere, hoc non contingit ei aspiciendo ad exemplar ab
stractum a re per sensus quantumqumque sit depuratum et universale factum.“
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Wie sehr der Intellekt sich auch auf den universalen Gehalt eines Vor-
stellungsbildes konzentriert, es ist und bleibt wechselhaft und bietet kein
Modell, das auf untrügerische und stabile Weise die wesentliche Struktur
eines Gegenstandes darstellt. Erst wenn dieses Modell geprüft und stabili-
siert wird, kann sichere Erkenntnis gewonnen werden.
Damit behauptet Heinrich allerdings nicht, dass mithilfe des univer-
salisierten Vorstellungsbildes überhaupt keine Einsicht in die wesentliche
Struktur eines Gegenstandes gewonnen wird. Es gilt hier, sorgfältig zwei
Thesen voneinander zu unterscheiden. Gemäß einer starken These gelingt
es dem menschlichen Intellekt überhaupt nicht, auf natürlichem Weg we-
sentliche Strukturen zu erfassen; er hat dann nur Zugang zu individuellen
Gegenständen mit wahrnehmbaren Eigenschaften und daher überhaupt
keine Erkenntnis von ihrem Wesen. Würde Heinrich diese These vertreten,
würde er eine ähnlich Linie verfolgen wie später Locke, der bekanntlich
behauptete, die reale Essenz der Dinge sei dem menschlichen Geist ver-
schlossen. Davon zu unterscheiden ist eine schwächere These, der zufolge
der menschliche Intellekt zwar imstande ist, wesentliche Strukturen zu
erfassen, aber auf natürlichem Weg kein sicheres und stabiles Modell für
diese Strukturen bilden und daher auch keine sichere Erkenntnis erwerben
kann. Es ist zu betonen, dass Heinrich nur diese schwächere These ver
tritt,85 denn er behauptet nicht, wesentliche Strukturen seien dem Intellekt
prinzipiell verschlossen. Seine ganzen Ausführungen zur Art und Weise,
wie der Intellekt die Vorstellungsbilder erfasst und sich auf den univer-
salen Gehalt konzentriert, dienen ja einer Erklärung des Zugangs, den
der Intellekt zu den wesentlichen Strukturen hat. Was er bestreitet, ist die
These, dass der Intellekt bloß dadurch, dass er punktuell einen Zugang zu
wesentlichen Strukturen hat, schon über eine sichere Erkenntnis verfügt.
Ein moderner Vergleich möge diesen zentralen Punkt veranschaulichen.
Nehmen wir einmal an, eine Person möchte eine Fremdsprache lernen.
Sie beginnt nun, einfache Texte in dieser Sprache zu lesen, Gesprächen zu-
zuhören und sich vielleicht nach und nach auch selber an Gesprächen in
dieser Sprache zu beteiligen. So eignet sich diese Person schrittweise eine
Kenntnis der Sprache an. Sie hat sogar Zugang zur „wesentlichen Struktur“
dieser Sprache, d.h. zur grammatischen Struktur, denn in all den Texten
und Gesprächen, die sie gelesen und gehört hat, manifestiert sich ja diese
Struktur. Trotzdem hat diese Person noch keine sichere Kenntnis von dieser
Sprache erworben. Es könnte ja sein, dass sie auch grammatische Fehler,
die sie gehört hat, unkritisch zur Struktur der Sprache gezählt hat. Erst
Dies ist gegenüber Pasnau 1995, 63 und 72, zu betonen, der Heinrich die stärkere These
85
86
Quodl. IV, q. 21 (ed. Badius, 136rE-F): „Dicendum ad hoc quod intellectus nobis con
iunctus potest ex natura sua intelligere et universalia rerum sensibilium ut obiecta abstracta
[...] et similiter particularia ...“ Auch in Quodl. IV, q. 8 (ed. Badius, 97vN) hält er ohne Ein-
schränkung fest, dass der Intellekt durch eigene Erkenntnisakte das Wesen erfassen kann.
Brown 1973 geht erstaunlicherweise nicht auf diese Stelle ein und stützt sich auf frühe und
späte Schriften, ohne eine Entwicklung in Erwägung zu ziehen.
87
So Paulus 1938, 5, der die frühe Illuminationstheorie für „tout à fait exceptionnelle et
spéciale“ hält.
88
So Marrone 2001, 372.
89
Dies hat Macken 1972 detailliert gezeigt.
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90
Quodl. IX, q. 15 (ed. Macken, 262): „Attingendo autem illas incorporeas rationes illus-
tratione quadam ab illa specie lucis aeternae, etsi non ut obiecto cognito, sed ut ratione co-
gnoscendi, cognoscit de illis sinceram veritatem quam ex sensibus et phantasmatibus haurire
non posset, secundum quod alibi diffusius exposuimus ...“ Die Rede von den „nubila phantas-
matum“ (ibid., 263) übernimmt Heinrich von Augustin.
kann, die untrügerisch und unveränderlich das Wesen der Gegenstände dar-
stellen, dann ist rein natürliches Wissen im strengen Sinne nicht möglich.91
Das Wissen ist dann so sicher oder unsicher wie die sinnliche Grundlage
in den Vorstellungsbildern. Es muss durch etwas, was nicht im natürlichen
Erkenntnisprozess erworben wird, stabilisiert werden.
Hier zeigt sich einmal mehr, dass Heinrich nicht einfach als traditioneller
oder gar rückständiger Augustinist bestreitet, sicheres Wissen könne auf
natürlichem Weg gewonnen werden, um dann die Illuminationstheorie als
wundersamen Ausweg aus dieser skeptischen Sackgasse zu präsentieren. Er
setzt vielmehr beim aristotelischen Abstraktionsmodell an und versucht zu
zeigen, dass dieses Modell eine innere Spannung aufweist. Einerseits geht
es nämlich in empiristischer Manier davon aus, dass Wissen immer auf der
Grundlage von Vor stellungsbildern gewonnen wird und dass derartige
Bilder wechselhaft und teilweise defizitär sind. Andererseits nimmt dieses
Modell an, dass aus den Vorstellungsbildern auf infallible Weise das Wesen
der Gegenstände abstrahiert werden kann. Aber wie ist Infallibilität auf
fallibler Grundlage möglich? Offensichtlich nur, wenn angenommen wird,
der menschliche Intellekt könne die Defizite irgendwie kompensieren und
Fehler korrigieren. Aber was ermöglicht die Kompensation und Korrektur?
Wenn hier nicht dogmatisch angenommen werden soll, dass der Intellekt
über wundersame Fähigkeiten verfügt, muss erläutert werden, wie eine
Kompensation von Defiziten und eine Beseitigung von Fehlern erfolgen
kann.92 Genau diesem Problem widmet sich Heinrich in seiner Illumina
tionstheorie.
Bislang ist deutlich geworden, dass das Kernproblem für Heinrich darin be-
steht, die Sicherheit und Stabilität eines essentiellen Wissens zu garantieren.
91
Freilich ist dann Wissen im weiten Sinne trotzdem möglich. Daher kann Heinrich in den
frühen wie in den späten Schriften zugestehen, natürliches Wissen sei möglich, und trotzdem
an der Forderung nach Illumination festhalten. Bei der Interpretation seiner Aussagen gilt es
stets zu prüfen, welchen der beiden Wissensbegriffe er verwendet.
92
Natürlich nimmt auch Thomas von Aquin nicht dogmatisch eine Infallibilität des In-
tellekts an. Er begründet sie, indem er darauf hinweist, dass der menschliche Intellekt alles
durch eine Partizipation an den göttlichen Ideen erkennt; vgl. STh I, q. 84, art. 5, corp. Genau
diese Partizipationsrelation ermöglicht erfolgreiche Erkenntnis. Dies verdeutlicht, dass Hein-
rich und Thomas in einem entscheidenden Punkt übereinstimmen: Der menschliche Intellekt
allein kann keine Erkenntnis gewinnen. Die entscheidende Frage lautet, wessen der Intellekt
bedarf: einer besonderen Illumination oder einfach einer erfolgreichen Abstraktionsfähigkeit,
die durch die Partizipationsrelation gleichsam in den Intellekt eingebaut ist? Die Antwort auf
diese Frage trennt Thomas und Heinrich voneinander.
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Bereits in den frühen Schriften schlägt er für dieses Problem eine Lösung
vor, die auf den ersten Blick einfach und vor einem platonisch-augusti-
nischen Hintergrund plausibel erscheint: Sicherheit wird erst erreicht, wenn
zu dem erworbenen Modell für einen Gegenstand ein weiteres Modell hin-
zukommt, das nicht auf Vorstellungsbildern beruht und nicht durch Abs-
traktion erworben wird. Dieses zweite Modell ist göttlichen Ursprungs.
Oder wie Heinrich festhält: „Das zweite Modell ist die göttliche Kunst, die
die idealen Gründe für alle Dinge in sich enthält ...“93 Nur dieses Modell
stellt auf stabile und sichere Weise das Wesen eines Gegenstandes dar. Und
genau durch dieses Modell müssen wir „erleuchtet“ werden.
In dieser Lösung kommt natürlich die bekannte platonische These zum
Ausdruck, dass die „idealen Gründe“ jeden einzelnen Gegenstand zu dem
machen, der er wesentlich ist, und dass sie daher die Vorlage oder eben das
Modell für jeden Gegenstand darstellen. Wollen wir mit Sicherheit wissen,
wie ein Gegenstand wesentlich beschaffen ist, müssen wir einen Zugang zu
seinem idealen Modell haben. Wenn diese These auch eine lange Tradition
hat,94 wirft sie doch eine Reihe von Problemen auf. Zunächst stellt sich die
simple, aber zentrale Frage, welchen Zugang wir zum idealen Modell haben.
Können wir es direkt sehen oder geistig erfassen? Dies würde voraussetzen,
dass wir einen direkten Zugang zum göttlichen Geist haben, da das ideale
Modell ja in ihm existiert. Im diesseitigen Leben gibt es aber kein direktes
Sehen oder Erfassen des göttlichen Geistes, wie die mittelalterlichen Au-
toren einhellig feststellten.95 Welchen Zugang haben wir dann zum idealen
Modell? Diese Frage ist nicht nur von theologischem Interesse, insofern sie
eine Klärung der Relation zwischen menschlichem und göttlichem Geist
verlangt, sondern in mindestens so hohem Maße auch von epistemologi
scher Bedeutung. Sobald nämlich behauptet wird, dass essentielles Wissen
nur mithilfe eines idealen Modells gewonnen wird, muss die epistemische
Relation zu diesem Modell geklärt werden. Es reicht nicht aus, in metapho-
rischer Weise von einer „Erleuchtung“ durch dieses Modell zu sprechen.
Der Verweis auf ein ideales Modell wirft noch ein weiteres Problem auf.
93
Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 40): „Secundum exemplar est ars divina continens om-
nium rerum ideales rationes ...“ Heinrich spricht auch von einem „exemplar aeternum“ und
einem „divinum exemplar“ (ibid., 50 und 52).
94
Bereits Grabmann 1924 hat in seiner Pionierstudie auf die Bedeutung dieser Tradition für
die mittelalterlichen Debatten hingewiesen. Einen detaillierten Überblick über die Rezeption
der augustinischen Tradition im 13. Jh. bietet Marrone 2001. Zur augustinischen Vorlage vgl.
Porro 1994.
95
Bonaventura wies in De scientia Christi, q. 4 (ed. Speer 1992, 112) ausdrücklich darauf
hin, dass es keinen Unterschied zwischen dem diesseitigen und dem jenseitigen Leben gäbe,
wenn wir schon im diesseitigen Leben einen direkten Zugriff auf Ideen im göttlichen Geist
hätten.
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Wozu benötigen wir überhaupt ein Modell, das wir ausgehend von der Sin-
neswahrnehmung erwerben, wenn wir mit einem solchen Modell ohnehin
kein sicheres Wissen gewinnen können? Ist dieses Modell angesichts des
idealen Modells nicht überflüssig? Falls es tatsächlich überflüssig ist, scheint
der ganze Verweis auf natürliche kognitive Prozesse entbehrlich zu sein; nur
die Relation zum idealen Modell hat dann noch einen epistemischen Wert.
Falls es allerdings nicht überflüssig ist, muss der Zusammenhang zwischen
den beiden Modellen gek lärt werden. Es reicht nicht aus, einfach von einem
„zweifachen Modell“ (duplex exemplar) zu sprechen, wie Heinrich dies
tut.96 Eine solche Redeweise wirft nämlich sogleich die Frage auf, ob denn
nicht ein Unsicherheitsfaktor in unserem Wissen bestehen bleibt. Wie kann
man sicheres Wissen gewinnen, wenn einfach ein sicheres Modell mit einem
unsicheren kombin iert wird? Bereits Duns Scotus wies darauf hin, dass aus
einer solchen Kombination nur etwas Unsicheres resultieren kann, genau
wie aus der Kombination einer notwendigen mit einer kontingenten Prä-
misse nur eine kontingente Konklusion folgt.97 Diese Kritik lässt sich leicht
veranschaulichen. Angenommen, ich gewinne aus der regelmäßigen Be-
obachtung von Pferden ein Modell, das mir Pferde mit den Eigenschaften
F, G und H präsentiert. Und angenommen, ich habe irgendeinen Zugang
zu einem weiteren, nicht durch Sinneswahrnehmung erworbenen Modell,
das mir Pferde mit den Eigenschaften F, I und K präsentiert. Wenn ich
nun die beiden Modelle einfach kombiniere, schreibe ich den Pferden die
Eigenschaften F, G, H, I und K zu. Dann ist es aber sehr gut möglich, dass
ich ihnen irrtümlicherweise Eigenschaften zuschreibe, die nicht zu ihrem
Wesen gehören. Das kombinierte Modell bietet keine Sicherheit, dass ich den
Pferden nur die wesentlichen Eigenschaften zuschreibe. Natürlich habe ich
noch zwei weitere Möglichkeiten. Ich kann das erworbene Modell sogleich
verwerfen und den Pferden bloß die Eigenschaften F, I und K zuschreiben;
dann wird aber der ganze natürliche kognitive Prozess überflüssig. Oder ich
bilde die Schnittmenge aus den beiden Modellen und schreibe den Pferden
nur F zu; dann riskiere ich, Eigenschaften wegzulassen, die Pferde haben.
Alle drei Optionen erweisen sich somit als unbefriedigend. Offensicht-
lich benötigen wir eine Erklärung dafür, wie aus der Kombination zweier
Modelle sicheres Wissen von den wesentlichen Eigenschaften gewonnen
werden kann.
Schließlich stellt sich noch ein drittes Problem. Wenn das durch Sinnes-
wahrnehmung erworbene Modell tatsächlich unzureichend ist und durch
ein göttliches Modell ergänzt werden muss, werden natürliche Prozesse
Vgl. explizit Summa, art. 1, qq. 2 und 3 (ed. Wilson, 40 und 84).
96
Konkret heißt dies: Wie auch immer ich die beiden Pferde-Modelle kom-
biniere, ich muss in irgendeiner Weise durch das zweite, nicht selber
erworbene Modell „erleuchtet“ werden; damit wird meine Erkenntnis von
Pferden zu einem übernatürlichen Akt. Diese Argumentation läuft auf eine
radikale Skepsis bezüglich der natürlichen kognitiven Tätigkeiten hinaus.
Wie sehr wir uns auch bemühen, korrekte Erkenntnis zu gewinnen, auf rein
natürlichem Weg ist dies nicht möglich. Angesichts dieser scheinbar nahe-
liegenden Konsequenz ist es nicht erstaunlich, dass in der älteren Forschung
kritisch bemerkt wurde, die Illuminationstheorie münde unweigerlich in
einen Skeptizismus bezüglich der natürlichen Erkenntnisfähigkeiten.99
Doch hat die Illuminationstheorie, wie Heinrich sie verteidigt, tatsäch-
lich skeptische Konsequenzen? Führt sie zur Preisgabe natürlicher Erkennt-
nisansprüche? Zur Beantwortung dieser Fragen muss Heinrichs Erklärung
der Illumination genauer betrachtet werden. Der erste, ganz entscheidende
Punkt besteht darin, dass seiner Ansicht nach das zweite Modell nicht das
Objekt ist, das der menschliche Intellekt erfasst, sondern nur der „Grund
des Erkennens“ (ratio cognoscendi).100 Damit hat Heinrich von vornherein
die Frage, wie wir dieses Modell denn geistig sehen oder erfassen können,
zurückgewiesen. Da das Modell nicht das Objekt eines besonderen episte-
mischen Aktes ist, muss man auch keinen solchen Akt erklären. Die ein-
zigen epistemischen Akte, die es zu erläutern gilt, sind die Akte des Intel-
lekts, die auf das den Dingen immanente Wesen ausgerichtet sind. Und bei
diesen Akten handelt es sich um natürliche Akte, zu denen jeder Mensch
fähig ist. Die entscheidende Frage lautet hier nur, warum jeder Mensch
dazu fähig ist. Welche Voraussetzungen müssen (ganz abgesehen von der
98
Wilhelm von Ware, Questiones super IV libros Sententiarum, q. 19 (ed. Daniels, 316):
„Item, si lumen supernaturale requiritur in omni cognitione intellectuali, cum omnis actus
accipiat denominationem et qualificationem ex modo et ratione operandi, sequitur quod
omnis talis operatio esset supernaturalis.“
99
So etwa Gilson 1934, 328: „... pour qui conserve telle quelle l’illumination augustinienne,
le scepticisme est inévitable sur le plan purement philosophique.“ Freilich besteht Gilson zu-
folge das Verdienst von Matthaeus von Aquasparta, Roger Marston und anderen Autoren des
13. Jhs. darin, dass sie dieses Problem bereits erkannt haben.
100
Vgl. Summa, art. 1, q. 2 und q. 3 (ed. Wilson, 52 und 71).
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Heinrich beruft sich auf die perspektivistische Optik, der zufolge species in medio vom
102
sichtbaren Gegenstand auf das Auge übertragen werden. Vgl. zu Heinrichs Verwendung
dieser Theorie Tachau 1988, 28–39.
103
Summa, art. 1, q. 3 (ed. Wilson, 76): „Et propter ista tria dicitur Deus a sanctis aliquando
ratio intelligendi ut lux, aliquando ut species sive forma, aliquando vero ut exemplar sive idea
vel regula.“
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104
Summa, art. 1,q. 3 (ed. Wilson, 77): „Deus enim ut lux in mente non facit illuminando
nisi quod oculum mentis a nebulis pravarum affectionum et fumo phantasmatum purget...“
105
Summa, art. 1, q. 3 (ed. Wilson, 83): „Et nota quod licet conceptum perfectae similitu-
dinis in mente format solummodo divinum exemplar, quod est causa rei, cum hoc tamen ad
conceptus formationem necessarium est exemplar acceptum a re, ut est species et forma rei
a phantasmate accepta in mente. Sine illa enim nihil de re quacumque concipere potest in-
tellectus noster in tali statu vitae in quali sumus.“ Siehe auch ibid., q. 4 (ed. Wilson, 103–104).
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Wir haben es bei der Illumination also nicht mit einem übernatürlichen Vor-
gang zu tun, der an die Stelle des natürlichen Prozesses tritt. Illumination
ergänzt und vervollkommnet viel mehr den unverzichtbaren natürlichen
Erkenntnisprozess. Allerdings stellt sich dann immer noch die bereits
erwähnte Frage, wie das natürliche Modell mit dem von Gott gewähr-
ten – werde es auch nur als allgemeine Vorlage oder als generelle Prägung
unseres Geistes verstanden – kooperieren kann. Wie lässt sich die Rede von
einem „zweifachen Modell“ (duplex exemplar) deuten, wenn darunter nicht
einfach die Verbindung zweier getrennter Modelle zu verstehen ist? Ebenso
unbeantwortet bleibt bislang auch Wilhelm von Wares Frage, ob sich nicht
eine übernatürliche Komponente in den natürlichen Erkenntnisprozess ein-
schleicht. Denn wenn der natürliche Prozess auch unverzichtbar ist, muss
doch irgendeine göttliche Komponente hinzukommen. Wird dadurch nicht
der ganze Prozess gleichsam durch Übernatürliches kontaminiert? Diese
zentralen Fragen lassen sich am besten beantworten, indem man ein mo-
dernes Beispiel zu Veranschaulichung heranzieht. Versucht man nämlich,
Heinrichs Theorie in seiner eigenen Sprache zu erläutern, besteht die Ge-
fahr, dass man sich stets innerhalb seiner Lichtmetaphorik bewegt.
Stellen Sie sich vor, Sie möchten auf Ihrem Computer einen deutschen
Text schreiben. Sie setzen sich dann einfach vor den Bildschirm, aktivieren
Ihr Wissen von der deutschen Grammatik und Rechtschreibung und geben
einen Text ein. Nun sind Sie aber durch die zahlreichen Schreibvarianten,
die im Zuge der Rechtschreibreform entstanden sind, etwas verunsichert
und aktivieren deshalb das Korrekturprogramm, das auf Ihrem Computer
installiert ist. Jedes Wort, das Sie eingeben, wird automatisch von diesem
Programm geprüft. Freilich ersetzt das Programm nicht Ihre Tätigkeit (Sie
müssen den Text nach wie vor selber schreiben), sondern nimmt nur eine
unterstützende Funktionen wahr, und zwar in zweifacher Hinsicht. Einer-
seits enthält es den ganzen deutschen Wortschatz und liefert dadurch eine
allgemeine Vorlage für die Wörter Ihres Textes, andererseits bietet es für
jedes falsch geschriebene Wort Korrekturvorschläge an. Ähnlich lässt sich
die Funktion der göttlichen Illumination verstehen. Sie ersetzt den natür-
lichen Erkenntnisprozess nicht (der menschliche Intellekt muss nach wie
vor selber Vorstellungsbilder gewinnen und sich auf den universalen Gehalt
dieser Bilder konzentrieren), sondern unterstützt diesen Prozess als eine
Art Korrekturprogramm. Genau genommen nimmt die Illumination eine
zweifache Funktionen wahr. Einerseits liefert sie die allgemeinen Vorlagen
oder Muster für sämtliche Gegenstände, andererseits prüft und korrigiert
sie die unvollständigen oder irreführenden Vorstellungsbilder, die durch
natürliche Prozesse erworben wurden.
Mithilfe dieses Vergleichs lässt sich nun die Rede von einem „zweifachen
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106
Daher spricht Heinrich in Summa, art. 1, q. 3 (ed. Wilson, 76) von einer „idea vel regula“,
die nicht nur eine deskriptive, sondern eine normative Funktion hat. Er betont damit eine
Funktion, die auch Bonaventura in De scientia Christi, q. 4 (ed. Speer 1992, 116) hervorhebt:
„... necessario requiritur ratio aeterna ut regulans et ratio motiva ...“
107
Quodlibet IX, q. 15 (ed. Macken, 262): „Sunt enim eadem cognita et praedicta intellecta
in phantasmatibus, et ipsae incorporeae rationes in ipsa veritate aeterna: non sunt enim aliud
quam ipsae naturae et essentiae rerum.“ Dieser These liegt die universalienrealistische An-
nahme zugrunde, dass ein und dasselbe Wesen verschiedene Instantiierungen haben kann: (a)
eine immaterielle im göttlichen Geist, (b) eine materielle in den menschlichen Vorstellungs-
bildern, (c) eine weitere materielle in den konkreten Gegenständen. Gerade weil es sich um
dasselbe Wesen handelt, präsentiert Gott den Menschen nicht ein besonderes kognitives
Objekt, sondern er macht genau das klar und deutlich, was sie von den Vorstellungsbildern
abstrahieren. Angesichts dieser metaphysischen Annahme lässt sich das Verhältnis der beiden
Modelle, das von neueren Kommentatoren als problematisch angesehen wird (vgl. Pasnau
1995, 55; Kann 2001, 51), ohne Verweis auf eine wundersame Relation erklären: Beide Mo-
delle haben denselben Inhalt, nämlich das Wesen eines Gegenstandes, stellen diesen aber auf
zwei unterschiedliche Weisen dar: klar (das göttliche Modell) oder unklar (das erworbene
Modell).
108
Vgl. Summa theol. I, q. 84, art. 5, und De veritate, q. 10, art. 6, corp. (ed. Leonina
XXII/2, 313), wo Thomas betont, die Erkenntnisfähigkeit des Intellekts gehe „sicut a prima
origine“ auf Gott zurück.
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109
Scotus spricht daher von einer „zweifachen Kausalität des göttlichen Intellekts“ im
Erkenntnisprozess. Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 267 (ed. Vat. III, 163) und ausführ-
lich dazu § 9.
110
In Summa, art. 1, q. 3 (ed. Wilson, 72) hält er fest, dass sogar die schlechten Menschen in
Genuss der Illumination kommen. Allerdings betont er ibid., q. 4 (ed. Wilson, 99), dass das
göttliche Licht „unumquemque secundum gradum sanitatis suae illustrat, unum plus, alterum
minus, quosdam perfecte, quosdam nihil.“ Mit dieser Einschränkung kann er der Tatsache
Rechnung tragen, dass es nicht einfach einen kognitiven Automatismus gibt, der jedem Men-
schen in gleicher Weise zu sicherem Wissen verhilft. Da die Illumination bei unterschiedlichen
Menschen in unterschiedlichem Grad wirkt, treten Wissensunterschiede auf.
111
Summa, art.1, q. 3 (ed. Wilson, 85): „Est enim in eo considerare aliquid materiale et
incompletum, et aliquid formale et completum, ut illud incompletum fiat perfectum et com-
pletum.“
112
Wenn die Illumination immer den menschlichen Erkenntnisprozess unterstützt, stellt
sich freilich die Frage, wie Irrtümer noch möglich sind. Warum wird nicht jeder Irrtum wie
durch ein Korrekturprogramm sogleich beseitigt? Soweit ich sehe, geht Heinrich nicht ex-
plizit auf diese Frage ein. Es bieten sich aber zwei Antworten an. Zum einen könnte man
erwidern, dass das Korrekturprogramm nur auf die konkret vorhandenen Vorstellungsbilder
angewendet werden kann. Wenn diese aber aufgrund besonderer Wahrnehmungsbedingun-
gen unvollständig und irreführend sind, ist keine perfekte Korrektur möglich. (Man denke
an die Situation, in der jemand im dicken Nebel einen dunklen Schatten sieht und glaubt,
einen Menschen zu erkennen. Auch die beste Illumination kann auf dieser dürftigen Grund-
lage keine korrekte Erkenntnis bewirken.) Zum anderen ist auch zu berücksichtigen, dass die
Korrektur durch Illumination einen Menschen nicht davon abhält, verschiedene Vorstellungs-
bilder zu kombinieren und dadurch zu irreführenden Meinungen zu gelangen. (Man denke an
jemanden, der die Vorstellungsbilder verschiedener Tiere kombiniert und dadurch zur Vor-
stellung von einer Chimäre gelangt.)
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Wie sich herausgestellt hat, verteidigt Heinrich von Gent die Möglichkeit
menschlicher Er kenntnis und versteht die Illumination als natürlichen
Bestandteil des Erkenntnisprozesses. Freilich bleibt dabei die Schwierig-
keit bestehen, dass zur Erklärung erfolgreicher Erkenntnis auf ein ideales
Modell rekurriert werden muss. Doch ist ein solcher Rekurs erforderlich?
Genau diese Frage stellt Johannes Duns Scotus in den Mittelpunkt seiner
kritischen Diskussion der Illuminationstheorie. Er versucht zu zeigen, dass
diese Theorie zur Erklärung kognitiver Prozesse überflüssig ist. Auch ohne
„Erleuchtung“ durch ein ideales Modell, so lautet seine Grundthese, ist Er-
kenntnis möglich. Und auch ohne ein solches Modell kann Wissen erwor-
ben werden. Entscheidend ist dabei, dass Scotus genau wie Heinrich von
Gent auf sichere und untrügerische Erkenntnis abzielt. Er behauptet nicht
einfach, dass wir uns mit selbst erworbenen, gelegentlich unvollständigen
oder unzuverlässigen Modellen für die Gegenstände begnügen müssen.
Ebenso wenig vertritt er die Ansicht, eine Erkenntnis, die wir ausgehend
von einem Modell für gesichert gehalten haben, könne sich später als unsi
cher oder gar als falsch herausstellen. Dies würde auf eine Veränderung der
epistemischen Ansprüche hinauslaufen. Scotus würde dann einfach ein in-
fallibilistisches Erkenntnisideal durch ein fallibilistisches ersetzen, wie dies
in gegenwärtigen erkenntnistheoretischen Debatten gelegentlich der Fall
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Scotus gibt ein anschauliches Beispiel für diese Art von Erkenntnis. Wer
den Terminus ‚Ganzes‘ erfasst, kann unmittelbar und mit Evidenz das Prin-
zip ‚Jedes Ganze ist größer als einer seiner Teile‘ erkennen, weil ‚Ganzes‘
nichts anderes bedeutet als ‚etwas, was aus Teilen besteht und größer ist als
jeder seiner Teile‘. Durch das bloße Erfassen der Bedeutung des Term inus
lässt sich das ganze Prinzip erkennen, und zwar ohne dass ein konkretes
Referenzobjekt für den Terminus angenommen werden muss. Damit zielt
Scotus auf die Erkenntnis analytischer Aussagen ab, für die sich leicht ein
115
Vgl. Williams 2001, 40–42.
116
In der Lectura beschränkt er sich auf drei Arten. Erst in der späteren Ordinatio dis-
kutiert er vier Arten. Ich konzentriere mich daher auf die spätere, ausgereiftere Diskussion.
Einen detaillierten Vergleich der beiden Textfassungen bietet Brown 1976 und 1984.
117
Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 230 (ed. Vat. III, 138–139): „... termini principiorum
per se notorum talem habent identitatem ut alter evidenter necessario alterum includat, et ideo
intellectus, componens illos terminos, ex quo apprehendit eos – habet apud se necessariam
causam conformitatis illius actus componendi ad ipsos terminos quorum est compositio, et
etiam causam evidentem talis conformitatis ...“ Vgl. auch Lectura I, dist. 3, pars 1, q. 3, n. 174
(ed. Vat. XVI, 293).
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einfach mit Rekurs auf eine analytische Aussage erklären. Wir analysieren
vielmehr die Bedeutungskomponenten des Terminus und gelangen zur Ein-
sicht, dass ‚Teile haben‘ und ‚größer sein als jeder seiner Teile‘ gleichsam in
der Bedeutung von ‚Ganzes‘ steckt und nur sichtbar gemacht werden muss.
Daher ist das Bilden und Erfassen einer analytischen Aussage nichts anderes
als das Explizieren der Bedeutungskomponenten. Unser Intellekt ist zu
einem solchen Explizieren imstande, weil er von sich aus – ohne Rückgriff
auf irgendein ideales Modell – die Bedeutungskomponenten erfassen und
einander zuordnen kann.
Mit einer solchen Erklärung entgeht Scotus einem Zirkel, er stützt sich
aber auf zwei gewichtige Annahmen, nämlich (1) dass bestimmte Ausdrücke
unabhängig von jeder Theorie und jeder Erfahrung feste Bedeutungskom
ponenten haben,123 und (2) dass der Intellekt trotz der Irrtumsanfälligkeit
der Sinne die Bedeutungskomponenten korrekt erfassen und analysieren
kann. Weil allein die Bedeutung der Termini die Wahrheit einer analytischen
Aussage garantiert, muss eine solche Aussage nicht durch die Erfahrung
bestätigt oder verifiziert werden. Und das heißt natürlich: Fehler oder Irr-
tümer, die sich in der Erfahrung einschleichen, spielen keine Rolle. Daher ist
auch keine Korrektur durch eine übernatürliche Illumination erforderlich.
Die Erkenntnis einer analytischen Aussage bedarf keiner Korrektur.
Würde sich Scotus mit dieser Erklärung begnügen, hätte er zwar eine Art
von Erkenntnis als sicher und irrtumsimmun etabliert, aber er hätte genau
jene Art nicht berücksichtigt, auf die sich Heinrich konzentriert, nämlich
die auf Erfahrung gestützte Wesenserkenntnis. Wie kann ich etwa erkennen,
dass ein Pferd eine bestimmte wesentliche Struktur hat? Eine bloße Ana-
lyse des Terminus ‚Pferd‘ bringt mich hier nicht weiter, denn die Bedeutung
dieses Terminus schließt viel ein, was nicht zum Wesen eines Pferdes gehört.
So verstehen wir unter einem Pferd normalerweise ein Lebewesen mit vier
Beinen, aber natürlich bleibt ein Pferd auch dann noch ein Pferd, wenn es
ein Bein verliert. Kurzum: Eine Bedeutungsanalyse ermöglicht nicht das
Erfassen des Wesens.
Scotus ist sich dieses Problems bewusst und versucht daher zu zeigen, dass
es noch eine zweite Art von sicherer Erkenntnis gibt, die ohne Illumination
möglich ist. Sie wird durch die Wahrnehmung zahlreicher Individuen einer
bestimmten Art gewonnen. Scotus erläutert sie anhand eines Beispiels.124
Darin liegt natürlich die Differenz zu Quine in der modernen Debatte, der bestreitet,
123
dass es derart unabhängige Bedeutungen gibt, und infolgedessen auch bestreitet, dass die
Unterscheidung von analytischen und synthetischen Aussagen sinnvoll ist. Vgl. Quine 1963,
42–46.
124
Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 235 (ed. Vat. III, 141–142) und Lectura I, dist. 3,
pars 1, q. 3, n. 177 (ed. Vat. XVI, 294–295).
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Wenn ich wiederholt festgestellt habe, dass eine bestimmte Pflanze eine
heilende Wirkung hat, und wenn ich zudem weiß, dass dies nicht zufällig
so ist, kann ich erkennen, dass diese Pflanze immer eine heilende Wirkung
hat und dass es somit zum Wesen dieser Pflanze gehört, zu heilen. Scotus’
Argumentation umfasst drei Schritte:
(1) Ich habe in zahlreichen Fällen die Erfahrung gemacht, dass die Indivi
duen einer bestimmten Art eine bestimmte Wirkung hervorrufen.
(2) Ich habe ein Wissen von dem Prinzip ‚Was in den meisten Fällen auf-
grund einer nicht zufälligen Ursache geschieht, ist die natürliche Wir-
kung dieser Ursache‘.
(3) Also erkenne ich, dass die Individuen einer bestimmten Art von Natur
aus immer eine bestimmte Wirkung hervorrufen.
Scotus betont, dass uns dieses Vorgehen erlaubt, auf untrügerische Weise
(infallibiliter) Erkenntnis zu gewinnen.125 Wie überzeugend ist seine Argu-
mentation? Betrachten wir die einzelnen Schritte. Schritt (1) kann sicherlich
zugestanden werden. Der mögliche Einwand, die Erfahrung könnte doch in
zahlreichen Fällen trügerisch sein, weil es zu zahlreichen Sinnestäuschungen
kommen könnte, lässt sich mit einem Verweis auf die allgemeine Zuverläs
sigkeit der Sinne zurückweisen. Scotus (und vor ihm schon Heinrich von
Gent) geht von der durchaus plausiblen Annahme aus, dass die Sinne im
Prinzip zuverlässig sind und daher im Prinzip zuverlässige Informationen
darüber liefern, welche Wirkung sich beobachten lässt, wenn bestimmte
Gegenstände vorliegen.
Schwieriger verhält es sich mit Schritt (2). Woher haben wir ein Wissen
von dem genannten Prinzip? Scotus hält lediglich fest, es „ruhe im Geist“,126
d.h. es sei potentiell vorhanden und könne aktualisiert werden. Doch wie
gewinnen wir dieses Prinzip? Wenn es nicht einfach angeboren ist (Scotus
deutet an keiner Stelle auf eine platonische Theorie des angeborenen Wissens
hin), muss es erworben sein. Es kann jedoch nicht durch eine bloße Analyse
des Terminus ‚Ursache‘ erworben sein, da es gewichtige Thesen beinhaltet,
nämlich (i) dass es einen entscheidenden Unterschied zwischen einer zufäl-
ligen und einer nicht zufälligen Ursache gibt und (ii) dass das, was in den
meisten Fällen auf die nicht zufällige Ursache folgt, deren Wirkung ist und
nicht bloß eine Begleiterscheinung oder ein korrelierendes Ereignis. Wie
125
Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 235 (ed. Vat. III, 141–142): „... dico quod licet ex-
perientia non habeatur de omnibus singularibus sed de pluribus, neque quod semper sed quod
pluries, tamen expertus infallibiliter novit quia ita est et semper et in omnibus – et hoc per
istam propositionem quiescentem in anima: ,quidquid evenit ut in pluribus ab aliqua causa
non libera, est effectus naturalis illius causae‘...“
126
Vgl. Anm. 125, wo er es „quiescentem in anima“ nennt.
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tung einiger Fälle nimmt Scotus an, dass in allen Fällen eine bestimmte Ur-
sache eine bestimmte Wirkung zur Folge hatte und, so kann man ergänzen,
auch in Zukunft zur Folge haben wird. Doch dies scheint ein überstürzter
induktiver Schluss zu sein. Man könnte sogleich einwenden, dass Scotus
doch nur von einigen Fällen – nämlich den selbst beobachteten – sagen kann,
dass eine bestimmte Ursache eine bestimmte Wirkung hervorbrachte. Ob es
sich in allen Fällen so verh ielt und auch in Zukunft verhalten wird, ist eine
offene Frage. Ein induktiver Schluss führt höchstens zu wahrscheinlichem
Wissen, aber nicht zu Erkenntnis „auf untrügerische Weise“, wie Scotus
annimmt. Bereits im 14. Jh. wies Nikolaus von Autrécourt darauf hin, dass
man ausgehend von der Beobachtung einiger Fälle höchstens einen habitus
conjecturativus erwerben kann, aber keine Erkenntnis, geschweige denn
sichere, infallible Erkenntnis.130 Warum glaubt Scotus, dass man ausgehend
von der Beobachtung einiger Fälle eine sichere Erkenntnis aller Fälle einer
bestimmten Art gewinnt?
Der Grund liegt auch hier in seiner aristotelisch geprägten Naturphi-
losophie. Wenn man nämlich annimmt, dass alle Individuen einer Art eine
bestimmte Natur haben und dass diese Natur für die kausalen Fähigkeiten
verantwortlich ist, kann man durchaus schließen, dass alle Individuen – auch
die nicht beobachteten – eine bestimmte Wirkung hervorbringen. Die innere
Natur garantiert gleichsam die Kausalrelation. So können wir selbst dann,
wenn wir nur hundertmal beobachtet haben, dass eine bestimmte Pflanze
eine heilende Wirkung hat, schließen, dass jedes Exemplar dieser Pflanzen-
art eine heilende Wirkung hat – ganz einfach, weil wir erfasst haben, dass
die innere Natur, die in jedem Exemplar vorhanden ist, für die heilende
Wirkung verantwortlich ist.
Ein solcher Rekurs auf die innere Natur der Gegenstände verdeutlicht,
dass Scotus’ Erklärung des empirischen Wissens in ein naturphilosophi-
sches Programm eingebettet ist und mit den Annahmen dieses Programms
steht und fällt.131 Akzeptiert man die Annahme, dass jeder Gegenstand
aufgrund seiner Natur etwas bewirkt, ist es sicherlich überzeugend, jedem
Menschen eine natürliche Erkenntnis wesentlicher kausaler Eigenschaften
zuzuschreiben. Verhält man sich jedoch skeptisch gegenüber dieser An-
nahme, bleibt auch eine Skepsis gegenüber der These bestehen, jeder könne
Vgl. Nikolaus von Autrécourt, Exigit ordo (ed. O’Donnell, 237), „tertia decima conclu-
130
sio“. Nikolaus zitiert die Beispiele von Rhabarber, der Cholera heilt, und von einem Magneten,
der Eisen anzieht. Die Beobachtung, dass in einigen Fällen eine bestimmte Wirkung auf eine
bestimmte Ursache gefolgt ist, erlaubt uns seiner Ansicht nach nicht, gleich zu schließen, dass
dies auf alle Fälle zutrifft. Wie Maier 1967, 390, bereits festgestellt hat, zielt Nikolaus mit
dieser Kritik sehr wahrscheinlich explizit auf Scotus ab.
131
Vgl. zu diesem naturphilosophischen Programm, insbesondere zu den aristotelischen
Prämissen, Cross 1998.
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132
Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 239 (ed. Vat. III, 145).
133
Vgl. Resp. V (AT VII, 352).
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134
Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 238 (ed. Vat. III, 145): „... ,nos vigilare‘ est per se
notum sicut principium demonstrationis ...“ Siehe auch Lectura I, dist. 3, pars 1, q. 3, n. 181
(ed. Vat. XVI, 296).
135
Dies ist das fünfte Autoritätsargument zugunsten eines natürlichen Wissens (vgl.
Summa, art. 1, q. 1; ed. Wilson, 9), dem Heinrich nicht widerspricht.
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Wenn ich etwa einen Holzstab sehe, der mir gebrochen erscheint, kann ich
nicht sicher sein, dass tatsächlich ein gebrochener Holzstab vor mir liegt;
ich könnte ja das Opfer einer Sinnestäuschung sein. Und da ich stets auf der
Grundlage der Sinnesinformation ein Urteil bilde, kann ich mir auch meines
Urteils nicht sicher sein. Wie lässt sich hier die skeptische Gefahr bannen?
Scotus versucht diese Frage zu beantworten, indem er eine vierte Art von
Erkenntnis als sicher etabliert, nämlich jene bezüglich der sinnlich wahr-
nehmbaren Objekte.136 Wie Heinrich betont er zunächst, dass man verschie-
dene Sinnesinformationen miteinander vergleichen muss. Im Gegensatz zu
Heinrich hält er aber nicht einfach fest, dass man den „korrekteren Sinn“
berücksichtigen sollte, sondern er erläutert, wie einander widersprechende
Informationen auszuwerten sind. Wenn im Falle des Holzstabes, der halb
ins Wasser eingetaucht ist, Gesichtssinn und Tastsinn einander wider-
sprechen, muss man auf den allgemeinen Satz ‚Nichts Hartes wird durch
etwas Weiches gebrochen oder weicht diesem aus‘ zurückgreifen. Aufgrund
dieses Satzes ist es klar, dass die Information des Tastsinns korrekt ist und
dass ein Urteil sich auf diese Information stützen muss. Entscheidend ist für
Scotus, dass man sich zur Auswertung der Sinnesinformation auf einen Satz
berufen muss, der allgemeine Gültigkeit hat und auf jede mögliche Situation
anwendbar ist.
Da Scotus lediglich sagt, der zur Evaluation erforderliche Satz „ruhe im
Geist“, jedoch nicht erläutert, wie dieser Satz erworben wird, könnte man
den Eindruck gewinnen, dass er gleichsam ein Kriterium herbeizaubert,
ohne dessen Genese zu erläutern und ohne es zu begründen. J. V. Brown
erhob aus diesem Grund den Vorwurf, Scotus operiere einfach mit einer
zweifelhaften „Metaphysik der Prinzipien“.137 Solange diese Prinzipien nicht
ihrerseits auf eine sichere Grundlage gestellt würden, könnten sie keine
sichere Erkenntnis fundieren.
In der Tat gibt Scotus keine detaillierte Begründung des genannten Sat-
zes und anderer allgemeiner Sätze oder Prinzipien. Es lässt sich jedoch eine
Begründung herleiten, wenn man das Erfassen dieser Sätze ähnlich versteht
wie jenes der analytischen Aussagen. Wer den Term inus ‚hart‘ erfasst, kann
Schritt für Schritt die Bedeutungskomponenten erfassen und dadurch er-
kennen, dass ‚hart‘ soviel bedeutet wie ‚gibt einem Widerstand nicht nach‘
oder ‚lässt sich nicht leicht biegen oder brechen‘. Sind einmal alle Bedeu-
tungskomponenten analysiert, lässt sich der ganze Satz gewinnen, und zwar
ohne dass er anhand eines konkreten Beispiels geprüft oder bestätigt wer-
den muss.
136
Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 240–245 (ed. Vat. III, 146–148).
137
Vgl. Brown 1984, 178 und 181.
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Eine solche Begründung hat nicht nur den Vorteil, dass sie sich auf ana-
lytische Fähigkeiten des menschlichen Intellekts beschränkt und vollstän-
dig auf göttliche Illumination verzichtet. Sie zeigt auch, wie ein Ausweg
aus der Sackgasse des Kriterienproblems gefunden werden kann. Scotus
zufolge sollte man nicht auf der Ebene der Sinne nach einem Kriterium su-
chen, das uns erlaubt, eine Sinnesinformation einer anderen vorzuziehen.
Bestimmt man ein solches Kriterium, etwa die Klarheit oder Evidenz des
sinnlichen Erlebnisses, besteht nämlich immer die Gefahr, dass es allzu
vage ist (wie zeigt sich, ob das visuelle Erlebnis evidenter ist als das tak-
tile?) und nicht neutral (soll die Evidenz des visuellen Erlebnisses als Maß-
stab für das taktile genommen werden oder umgekehrt?). Ein Kriterium
kann nur auf der Ebene des Intellekts bestimmt werden. Dieses ist nicht
psychologischer, sondern nur begrifflicher Art. Es wird nämlich nur ge-
prüft, ob die Behauptung, die auf der Grundlage einer Sinnesinformation
gemacht wird, begrifflich konsistent ist. Konkret heißt dies: Wenn ich
aufgrund meines visuellen Eindrucks von einem gebrochenen Holzstab
sage: ‚Der ins Wasser eingetauchte Holzstab ist gebrochen‘, oder sogar: ‚Er
wird durch das Wasser gebrochen‘, und wenn ich zudem der Aussage ‚Der
Holzstab ist ein harter Gegenstand‘ zustimme, dann behaupte ich, dass
ein harter Gegenstand durch etwas Weiches gebrochen wird. Dies ist aber
begrifflich inkonsistent, da die Bedeutung des Begriffs ‚hart‘ so festgelegt
ist, dass nichts, was unter diesen Begriff fällt, durch Weiches gebrochen
werden kann. Genau diese Inkonsistenz zeigt, dass der taktilen Informa-
tion der Vorzug zu geben ist.
Mit dem Verweis auf eine solche begriffliche Prüfung gelingt es Scotus
zu zeigen, dass widersprüchliche Sinnesinformationen uns keineswegs
dazu verleiten sollten, gleich jede empirisch fundierte Erkenntnis infrage
zu stellen. Und mit Rekurs auf die anderen, bereits genannten Arten der
Erkenntnis kann er nachweisen, dass es verschiedene Bereiche gibt, für
die keine göttliche Illumination erforderlich ist. Diese Bereiche lassen sich
folgendermaßen zusammenfassen:
(1) analytische Erkenntnis (z.B. ‚Ein Ganzes ist größer als jeder seiner
Teile‘)
(2) Erkenntnis kausaler Zusammenhänge (z.B. ‚Diese Pflanze hat eine
heilende Wirkung‘)
(3) Erkenntnis eigener Akte (z.B. ‚Ich höre etwas‘)
(4) Erkenntnis wahrnehmbarer Eigenschaften (z.B. ‚Dieser Stab ist nicht
gebrochen‘).
Doch mit dem Nachweis dieser illuminationsunabhängigen Arten der
Erkenntnis bietet Scotus noch keine Lösung für das Problem, das Hein-
rich von Gent in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt hatte, auch
wenn er selber die vier Arten anführt, um Heinrichs Illuminationstheorie
zurückzuweisen. Entscheidend ist für Heinrich nämlich die Frage, wie
eine essentielle Erkenntnis möglich ist. Wie können wir etwa erkennen,
was den Holzstab jetzt zu einem Holzstab macht und bewirkt, dass er
auch in Zukunft ein Holzstab bleibt? Diese Art von Erkenntnis geht über
die in (4) genannte hinaus, denn es geht ja nicht einfach um die Erkenntnis
einer wahrnehmbaren, stets veränderbaren, akzidentellen Eigenschaft. Sie
geht auch über (2) hinaus, denn problematisch ist nicht die Frage, wie wir
erkennen können, dass der Stab etwas bewirken kann, z.B. dass er Wärme
spenden kann, wenn er angezündet wird. Entscheidend ist die Frage,
wie wir das Wesen des Stabes erkennen können. Ist dies ohne eine gött-
liche Illumination möglich? Nur wenn Scotus diese Frage überzeugend
beantwortet, ohne auf göttliche Illumination Bezug zu nehmen, kann er
nachweisen, dass menschliches Wissen auch ohne übernatürliche „Kon-
tamination“ möglich ist. Und nur dann kann er der skeptischen Gefahr
entgehen, die er im Verweis auf ein göttliches Eingreifen in den Erkennt-
nisprozess sieht.
138
Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 258 (ed. Vat. III, 156–157).
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fest: „... es ist nämlich sicher, dass das Universale vom Intellekt verstanden
werden kann ...“139
Diese These provoziert sogleich zwei kritische Einwände. Der erste
bezieht sich auf die Aussage, das Erfassen des universalen Wesens und das
daraus resultierende essentielle Wissen sei auf rein natürlicher Grundlage
möglich. Postuliert Scotus damit nicht vorschnell eine Auto nomie des
menschlichen Intellekts? Muss er nicht berücksichtigen, dass der Intellekt
immer auf Gott angewiesen ist, da nur dieser die idealen Modelle für
sämtliche Erkenntnisobjekte hat und da nur er den menschlichen Intellekt
mit einer Erkenntnisfähigkeit ausstatten oder gar im Erkenntnisprozess
unterstützen kann? Im mittelalterlichen Kontext ist es doch undenkbar, den
Erkenntnisprozess vollständig zu naturalisieren. Der zweite Einwand be-
trifft die These, der Intellekt könne von den Vorstellungsbildern ein stabiles
kognitives Hilfsmittel abstrahieren. Heinrich von Gents Analysen, die in
§ 6 näher erläutert wurden, haben doch gezeigt, dass aus etwas Instabilem
nichts Stabiles abstrahiert werden kann. Ist dadurch nicht deutlich gewor
den, dass ein stabilisierender Faktor erforderlich ist, nämlich genau jener
Faktor, den Heinrich mit Verweis auf eine Illumination in den Erkenntnis-
prozess einbauen möchte?
Diese kritischen Fragen verdeutlichen, dass Scotus seine Verteidigung
natürlicher Wissensansprüche in zwei Richtungen hin absichern muss. Zum
einen muss er sich – bildlich gesprochen – nach oben absichern und nach-
weisen, dass der menschliche Intellekt keiner göttlichen Intervention oder
Unterstützung bedarf. Genauer gesagt muss er den Nachweis erbringen,
dass ein Mensch neben der allgemeinen göttlichen Aktivität (Gott hält als
Schöpfer ja sämtliche Gegenstände in Existenz) keine besondere göttliche
Aktivität (Intervention in jeden einzelnen Erkenntnisakt) benötigt, um das
Wesen der Gegenstände erkennen zu können. Zum anderen muss sich Sco-
tus auch nach unten absichern, denn er muss zeigen, dass trotz der Varia-
bilität und Instabilität der körperlichen Vorstellungsbilder stabile Species
abstrahiert werden können, die das Wesen darstellen. Beide Absicherungen
gilt es genauer in den Blick zu nehmen.
Betrachten wir zunächst die Absicherung nach oben und damit die Re-
lation des menschlichen Intellekts zu Gott. Wie jeder mittelalterliche Autor
betont Scotus, dass diese Relation eine notwendige Voraussetzung für er-
folgreiche Erkenntnis ist. Gäbe es keine solche Relation, könnte überhaupt
kein Intellekt aktiv werden. Der Grund dafür liegt nicht nur darin, dass
Gott prinzipiell jeden Menschen mit einer Erkenntnisfähigkeit ausstattet,
139
Ordinatio I, dist. 3, pars 3, q. 1, n. 348 (ed. Vat. III, 209): „... certum est enim quod
universale potest intelligi ab intellectu ...“ Siehe auch ibid., pars 1, q. 4, n. 258 (ed. Vat. III, 157)
und Lectura I, dist. 3, pars 3, q. 1, n. 266 (ed. Vat. XVI, 331).
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sondern vor allem darin, dass Gott alle Erkenntnisobjekte in sich enthält.
Scotus betont:
„... ich sage, dass alle verstehbaren Dinge im Akt des göttlichen Intellekts ein ‚versteh
bares Sein‘ haben, und in ihnen scheinen alle diesbezüglichen Wahrheiten auf,
sodass der Intellekt, der sie versteht und durch sie alle diesbezüglichen Wahrheiten
versteht, in ihnen wie in Gegenständen die notwendigen Wahrheiten sieht.“140
Wenn Scotus hier von einem „verstehbaren Sein“ spricht (an anderen Stellen
auch von einem „objektiven Sein“ oder einem „intentionalen Sein“),141 dann
zielt er auf die Existenzweise ab, die Gegenstände als Objekte von inten-
tionalen Akten haben. Denkt Gott beispielsweise an einen Stein, ist der
Stein mit „verstehbarem Sein“ das Objekt seines Denkaktes – modern ge
sprochen: sein intentionales Objekt. Entscheidend ist dabei, dass diesem
intentionalen Objekt kein reales Objekt in der materiellen Welt entsprechen
muss. Denn Gott kann auch an einen Stein denken, wenn kein einziger Stein
in der materiellen Welt existiert. Für Scotus steht sogar fest, dass alle Ge-
genstände primär als intentionale Objekte Gottes existieren; für einige gibt
es eine reale Entsprechung, für andere nicht. Wenn Menschen Gegenstände
erkennen, so ist ihnen dies nur möglich, weil Gott durch die Menge seiner
intentionalen Objekte festlegt, was überhaupt ein erkennbarer Gegenstand
ist. Konkret heißt dies: Nur weil Gott primär an einen Stein denkt und den
Stein somit als intentionales Objekt hat, ist ein Stein sekundär auch für den
Menschen etwas Erkennbares. Gott legt durch seine intentionalen Objekte
den Gegenstandsbereich des menschlichen Erkennens fest.
Nun könnte man sogleich einwenden, dass dies doch der These wider-
spricht, ein Mensch könne „auf rein natürlicher Grundlage“ (ex puris natu-
ralibus) etwas erkennen, zumal Scotus in der zitierten Passage festhält, der
menschliche Intellekt erkenne durch die Objekte des göttlichen Geistes alle
diesbezüglichen Wahrheiten. Heißt dies nicht, dass ein Mensch eine Wahr-
heit wie ‚Steine sind hart‘ nur dadurch erfassen kann, dass er einen Zugang
zu dem Stein hat, der im göttlichen Geist existiert und ein intentionales
Objekt für ihn darstellt? Scot us würde einer solchen Deutung entschieden
widersprechen. Ein Mensch hat keinen direkten Zugang zu den intentiona-
len Objekten Gottes, und diese Objekte wirken auch nicht auf wundersame
Weise auf den menschlichen Intellekt ein. Die intentionalen Objekte Gottes
sind vielmehr die Vorlage oder der Prototyp für die realen Objekte, zu
140
Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 262 (ed. Vat. III, 160): „... dico quod omnia intelligibi-
lia actu intellectus divini habent ,esse intelligibile‘, et in eis omnes veritates de eis relucent, ita
quod intellectus intelligens ea et virtute eorum intelligens necessarias veritates de eis, videt in
eis sicut in obiectis istas veritates necessarias.“
141
Vgl. eine Liste und Analyse dieser Ausdrücke in Perler 2002, 217–230, und Hoffmann
2002, 145–148.
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denen ein Mensch Zugang hat. Von diesen realen Objekten kann er dann das
Wesen abstrahieren. Scotus betont daher, es gebe eine „zweifache Kausalität
des göttlichen Intellekts“.142 Zum einen ist Gott die Ursache für das mensch-
liche Erkennen, weil er in sich intentionale Objekte erschafft und damit fest
legt, was überhaupt zum Bereich des Erkennbaren gehört. Zum anderen ist
er auch die Ursache, weil er durch das Erschaffen der intentionalen Objekte
die Vorlagen für die realen Objekte produziert und damit jene Gegenstände
in ihrer Struktur festlegt, zu denen der menschliche Intellekt einen Zugang
hat. Für Scotus ist dabei entscheidend, dass sich die realen Gegenstände in
ihrer Struktur nicht von ihrer Vorlage unterscheiden. Daher hat ein Mensch,
der die realen Gegenstände erfasst, einen Zugang zu derselben Struktur,
die sich auch in den intentionalen Objekten Gottes befindet, obwohl kein
direktes Sehen oder Erfassen dieser Objekte möglich ist.143
Ein modernes Beispiel möge diesen zentralen Punkt veranschaulichen.
Angenommen, ein Bildhauer denkt sich seltsame Wesen aus, die er in Stein
meißelt. Wenn wir die Skulpturen betrachten, erfassen wir genau die von
ihm ausgedachten Wesen. Der Bildhauer ist dann – ähnlich wie Gott – eine
zweifache Ursache für unser Erkennen. Zum einen hat er durch seine Ima-
gination festgelegt, welche Gegenstände überhaupt erkennbar werden kön-
nen; zum anderen hat er durch die Realisierung seiner künstlerischen Idee
bewirkt, dass wir konkrete Gegenstände erkennen. Wie für Gott gilt auch
für den Bildhauer, dass wir keinen direkten Zugang zu seinem Geist haben.
Wir können nur die geschaffenen Werke betrachten und dadurch genau jene
Strukturen erfassen, die auch in seinem Geist existieren. Trotzdem haben
wir in gewisser Weise einen Zugang zu den Prototypen in seinem Geist.
Aus diesem Grund betont Scotus, dass wir in gewisser Weise die versteh-
baren Dinge erfassen, wie sie „im göttlichen Licht“ erscheinen, aber eben
nicht direkt, sondern durch das Erfassen ihrer Struktur, die in materiellen
Dingen präsent ist.
Mit dieser Argumentation versucht Scotus einen Mittelweg zwischen
zwei Extrempo sitionen zu finden. Einerseits vermeidet er die radikale
These, ein Mensch sei in seinen kogn itiven Prozessen vollkommen autonom
und von jeder göttlichen Aktivität unabhängig. Dies widerspräche der von
allen mittelalterlichen Autoren geteilten Auffassung, dass erst die Existenz
göttlicher Ideen menschliches Erkennen ermöglicht.144 Diese Ideen legen
Lectura I, dist. 3, pars 1, q. 3, n. 192 (ed. Vat. XVI, 303): „... illud idem et sub eadem
143
ratione obiectiva quod est secundarium obiectum intellectus divini, est obiectum viatoris.“
144
Vgl. zu dieser augustinischen Grundthese, die sich bei allen christlichen Autoren von
der Spätantike bis in die frühe Neuzeit findet, die Beiträge in Boulnois & Schmutz & Solère
2002.
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Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 3, q. 1, n. 348–349 (ed. Vat. III, 209–210); Lectura I, dist. 3,
145
eine besondere kognitive Entität produziert, ist diese doch immer von dem
zugrunde liegenden Vorstellungsbild abhängig und daher genauso instabil
oder unvollständig wie dieses. Damit verlagert sich das Problem der In-
stabilität einfach von der sinnlichen Ebene auf die intellektuelle. Schließlich
kann ein dritter Einwand darauf hinweisen, dass vollständig unklar ist, wie
die Species überhaupt abstrahiert oder produziert wird. Haben wir es hier
mit einem „top down“-Verfahren zu tun, dem zufolge der Intellekt auf das
zugrunde liegende Vorstellungsbild einwirkt und auf wundersame Weise
einen universalen Gehalt abstrahiert? Oder muss man sich ein „bottom up“-
Verfahren vorstellen, dem zufolge im Vorstellungsbild selbst der universale
Gehalt auf ebenso wundersame Weise bereit gestellt wird, sodass der In-
tellekt ihn nur noch erfassen muss? Solange diese Fragen nicht beantwortet
werden, ist der Verweis auf intelligible Species eine bloße Spekulation.
Scotus ist sich dieser Schwierigkeiten bewusst und versucht deshalb im
Detail nachzuweisen, welche Funktion die intelligible Species hat und wie
sie durch natürliche Prozesse gewonnen werden kann.146 Dabei widerlegt
er alle drei Einwände. Um den ersten Einwand zu entkräften, führt er eine
Unterscheidung ein, die für seine ganze Kognitionstheorie von zentraler
Bedeutung ist. Wenn man vom „Aufnehmen“ einer Species oder einem
„Einprägen“ im Intellekt spricht, muss man sorgfältig zwischen zwei Vor-
gängen unterscheiden.147 Zum einen nimmt der Intellekt in der Tat etwas
auf, nämlich eine kognitive Entität, die – ontologisch gesehen – in die Kate-
gorie der Qualität gehört. So betrachtet gibt es im Intellekt eine reale Ver-
änderung. Sie stellt aber keineswegs etwas Mysteriöses dar, da die Species
ja eine immaterielle Qualität ist, die der immaterielle Intellekt durchaus
aufnehmen – genauer gesagt: in sich produzieren – kann, wie er auch Akte
und Zustände in sich produziert. Dem Intellekt wird ja nichts Materielles
eingeprägt. Zum anderen gibt es auch eine intentionale Veränder ung, denn
der Intellekt nimmt einen kognitiven Gehalt auf. Genau dieser Gehalt ist
in der Species präsent (oder „scheint in der intelligiblen Species auf“, wie
Scotus metaphorisch festhält)148 und ermöglicht es dem Intellekt, ein be-
stimmtes Objekt zu erfassen. Auch dies ist nichts Mysteriöses, denn ein
kognitives Hilfsmittel kann durchaus einen Gehalt haben, der sich über-
mitteln lässt.
146
Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 3, q. 1 (ed. Vat. III, 201–247) und Lectura I, dist. 3, pars 3,
q. 1 (ed. Vat. XVI, 325–348). Da ich bereits an anderer Stelle ausführlich die Genese und die
Funktion der Species erörtert habe (vgl. Perler 1996 und 2002, 198–217), gehe ich nur auf jene
Punkte ein, die für Scotus’ antiskeptische Argumentation relevant sind.
147
Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 3, q. 1, n. 386 (ed. Vat. III, 235).
148
Er verwendet mehrfach die Redeweise „relucens in specie“; vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars
3, q. 1, n. 386, n. 392, n. 396 (ed. Vat. III, 235, 239, 241).
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Wie diese Übermittlung erfolgt, lässt sich leicht anhand eines modernen
Beispiels ver anschaulichen. Wenn wir eine E-Mail erhalten, gibt es im
Computer eine reale Veränderung; ein Sektor der Festplatte wird elektro-
magnetisch beschrieben. Gleichzeitig erfolgt auch eine Informationsüber-
tragung. Denn durch den elektromagnetischen Prozess nimmt der Compu-
ter eine Information auf, die wir dann auf dem Bildschirm lesen können.
Ähnlich gilt auch für den Intellekt, dass er durch eine reale Veränderung die
Species aufnimmt und dadurch immer auch eine Information erhält; denn
die Species zeichnet sich dadurch aus, das sie eine bestimmte Information
in sich trägt.149 Oder in Scotus’ Terminologie ausgedrückt: Die reale Ver-
änderung des Intellekts dient einer intentionalen. Mit dieser Erklärung lässt
sich Heinrichs Vorwurf zurückweisen, es könne doch keine „eingeprägte
Species“ (species impressa) geben. Dieser Vorwurf würde nur dann zu-
treffen, wenn das Einprägen ausschließlich im Sinne einer materiellen Ver-
änderung des Intellekts verstanden würde. Doch genau diese Veränderung
ist hier nicht gemeint.
Damit ist allerdings der zweite Einwand noch nicht entkräftet, der darauf
insistiert, dass auf der Grundlage instabiler Vorstellungsbilder keine stabile
Species gewonnen werden kann. Heinrich betont ja, dass der Intellekt nur
die Vorstellungsbilder in universaler Hinsicht erfassen kann. Die Species
ist seiner Ansicht nach keine besondere Entität, sondern nichts anderes als
der universale Gehalt der Vorstellungsbilder. Und dieser Gehalt ist stets so
stabil oder instabil wie das jeweilige Vorstellungsbild.
Zur Widerlegung dieses Einwandes insistiert Scotus darauf, dass die Spe-
cies eine distinkte Entität ist, die vom zugrunde liegenden Vorstellungsbild
klar zu unterscheiden ist. Dass sie distinkt sein muss, ergibt sich für Scotus
aus einem Argument, das man „das Argument der Aspekt-Repräsentation“
nennen könnte. Er betont nämlich, dass ein kognitives Hilfsmittel ein Ob-
jekt stets unter einem bestimmten Aspekt repräsentiert.150 Wenn nun ein
Vorstellungsbild ein Objekt repräsentiert, so erfolgt dies stets unter einem
partikulären Aspekt. So stellt etwa das Vorstellungsbild, das ich von einem
galoppierenden Pferd gewinne, dieses Pferd immer als einen Gegenstand
mit einer besonderen Größe, Farbe, Bewegung usw. dar. Oder allgemein
ausgedrückt: Ein Vorstellungsbild repräsentiert x als F, G usw., wobei ‚F‘,
‚G‘ usw. partikuläre Eigenschaften bezeichnen. Die Species hingegen re-
149
King 2004 schlägt überzeugend vor, dieses In-sich-Tragen als eine Supervenienz-Relation
im modernen Sinne zu verstehen: Die Information hat keine selbständige Existenz, sondern
superveniert auf der Species, die eine reale Existenz im Intellekt hat.
150
Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 3, q. 1, n. 352 und n. 357 (ed. Vat. III, 211–212 und 215–216),
Lectura I, dist. 3, pars 3, q. 1, n. 268 (ed. Vat. XVI, 332) und eine ausführliche Analyse dieses
Arguments in Perler 2002, 200–204.
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präsentiert ein Objekt stets unter einem universalen Aspekt, denn sie stellt
nur die allgemeinen Wesensmerkmale dar, die ein Objekt haben muss, um
ein Objekt einer bestimmten Art zu sein. So stellt die Pferd-Species nur
die Merkmale dar, die jedes Pferd hat und die trotz der Veränderung der
jeweiligen Größe, Farbe, Bewegung usw. stets unverändert bleiben. Oder
wiederum allgemein ausgedrückt: Eine Species repräsentiert x als X, Y usw.,
wobei ‚X‘, ‚Y‘ usw. universale Eigenschaften bezeichnen. Entscheidend ist
nun, dass nicht ein und dasselbe kognitive Hilfsmittel einen Gegenstand so-
wohl in partikulärer wie in universaler Hinsicht repräsentieren kann. Daher,
so Scotus, kann das Vorstellungsbild nie ein Objekt in universaler Hinsicht
repräsentieren, wie sehr es auch von Partikularität „gereinigt“ wird. Es ist
eine Species erforderlich, die ein distinktes kognitives Hilfsmittel darstellt
und einen distinkten Repräsentationsaspekt aufweist.
Mit dieser Argumentation zielt Scotus nicht nur darauf ab, die ontolo-
gische These zu verteidigen, dass das Vorstellungsbild und die Species zwei
distinkte Entitäten darstellen: Die erste existiert im Vorstellungsvermögen
und damit in den inneren Sinnen, die zweite im Intellekt. Scotus verfolgt
damit auch die Absicht, die Species zu stabilisieren, ohne eine göttliche
Illumination in Anspruch zu nehmen. Wenn die Species nämlich vom Vor-
stellungsbild verschieden ist, wird sie – bildlich gesprochen – nicht von der
Instabilität des Vorstellungsbildes infiziert. Konkret heißt dies: Selbst wenn
ich nur über ein flüchtiges Vorstellungsbild von einem Pferd verfüge, das
lediglich einige partikuläre Eigenschaften des Pferdes darstellt und sich in
jeder neuen Wahrnehmungssituation verändert, kann ich daraus eine Spe-
cies abstrahieren, die genau jene universalen Eigenschaften darstellt, die ein
Pferd zu einem Pferd machen und in jeder Situation unverändert bleiben.
Die Species ist gleichsam immunisiert gegenüber der Veränderbarkeit und
Unvollkommenheit des Vorstellungsbildes.
Nun könnte man sogleich einwenden, dass diese Argumentation kei-
neswegs überzeugend ist. Warum sollte nicht ein und dasselbe kognitive
Hilfsmittel einen Gegenstand in partikulärer und in universaler Hinsicht
repräsentieren können? Dieser Einwand lässt sich anhand des Beispiels
veranschaulichen, das bereits in § 6 zur Illustration von Heinrichs Theorie
angeführt wurde. Wenn wir durch einen Garten spazieren, können wir
ihn in partikulärer Hinsicht erfassen, indem wir uns auf einzelne Pflanzen
konzentrieren, aber auch in universaler Hinsicht, indem wir die gesamte
Blumenanlage und ihr Verhältnis zu den Bäumen oder Wasserflächen erfas-
sen. Gelingt uns dies nicht mithilfe eines einzigen Photos, das gleichzeitig
einzelne Blumen und die gesamte Anlage darstellt? Wohl kaum. Wenn wir
den Garten in partikulärer Hinsicht erfassen wollen, können wir in der Tat
auf Photos zurückgreifen, jedoch auf eine Reihe von Photos, die jeweils aus
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151
Ordinatio I, dist. 3, pars 3, q. 1, n. 357 (ed. Vat. III, 215): „... repraesentativum secundum
totam virtutem suam repraesentans aliquid sub una ratione, non potest simul repraesentare
idem vel aliud sub alia ratione obiecti ...“
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nicht, wenn die Photos eine noch einigermaßen erkennbare Struktur dar-
stellen (auf vollkommen verbleichten Photos ist nichts mehr zu erkennen,
auch keine geometrische Struktur). Ähnlich gilt für den Intellekt, dass sich
das Defizit der sinnlichen Vorstellungsbilder nicht einfach auf die intelligi-
blen Species überträgt, zumindest dann nicht, wenn sie noch einigermaßen
erkennbare Strukturelemente der Gegenstände darstellen (auf vollkommen
verworrenen oder durch ungünstige Wahrnehmung „ausgebleichten“ Vor-
stellungsbildern ist nichts mehr zu erkennen). Da es sich hier um distinkte
kognitive Hilfsmittel handelt, die über eine eigene Darstellungsweise für
einen eigenen Aspekt verfügen, werden sie nicht durch die Instabilität und
Unvollkommenheit der Vorstellungsbilder infiziert.
Scotus’ These, dass der Intellekt auf der Grundlage wechselhafter und teil-
weise defizienter Vorstellungsbilder stabile Species bilden kann, ist freilich
keineswegs so harmlos, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Sie beruht zum
einen auf der metaphysischen These, dass in den Gegenständen selbst ein
Wesen vorhanden ist, das auch in den Vorstellungsbildern präsent ist und in
„reiner“ Form aus ihnen abstrahiert werden kann. Dies ist im Kern natürlich
eine universalienrealistische These: Es gibt ein Wesen bzw. eine Natur für
jeden Gegenstand, die im materiellen Gegenstand, aber auch in einem Vorstel-
lungsbild präsent sein kann. Nur diese These, die Scotus in seiner Diskussion
des Erkenntnisprozesses stillschweigend voraussetzt,152 erlaubt es ihm, die
weitere These zu vertreten, dass der Intellekt beim Produzieren der Species das
universale Wesen aus den Vorstellungsbildern herauslöst und dadurch einen
Gegenstand ausschließlich in universaler Hinsicht repräsentiert. Zum anderen
setzt Scotus auch eine gewichtige intellekttheoretische These voraus, nämlich
dass der Intellekt aufgrund seiner natürlichen Verfassung imstande ist, das
universale Wesen zu erfassen. Er hält es für selbstverständlich, dass der Intel-
lekt über die dazu erforderliche Abstraktionsfähigkeit verfügt. Ebenso selbst-
verständlich ist für ihn, dass die Abstraktionsleistung im Prinzip gelingt. Kon
kret heißt dies: Wenn ich über hinreichend klare Vorstellungsbilder von einem
Pferd verfüge, gelingt es meinem Intellekt, das Wesen des Pferdes gleichsam
zu extrahieren und eine Species zu bilden, die nur noch dieses Wesen darstellt.
Das Wesen wird dann, wie Scotus metaphorisch festhält, vom tiefer liegenden
„Nebel der Vorstellungsbilder“ befreit und auf der Spitze des Berges erfasst.153
152
Er begründet sie in Ordinatio II, dist. 3, pars 1, q. 1, n. 29–34 (ed. Vat. VII, 402–405) und
in Quaestiones super libros Metaphysicorum VII, q. 13, n. 60–66 (OPh IV, 238–241); konzis
dazu Noone 2003.
153
Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 276 (ed. Vat. III, 168–169): „Sed qui separat quiditates
intelligendo praecise eas conceptus per se – quae tamen relucent in phantasmate cum multis
aliis accidentibus adiunctis – ipse habet phantasma inferius quasi aerem nebulosum: et ipse est
in ‚monte‘ in quantum cognoscit illam veritatem ...“
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Natürlich gelingt dies nicht immer auf Anhieb und nicht in jedem einzelnen
Fall; Täuschungen und Irrtümer sind immer möglich. Doch im Prinzip ist
der Intellekt so gebaut, dass er das Wesen erfolgreich abstrahiert und in der
Species auch erfolgreich darstellt. Dies ist freilich keine selbst-evidente An-
nahme. Ein Skeptiker könnte hier einhaken und darauf hinweisen, dass die
ganze Erklärung einer rein natürlichen Erkenntnis mit der optimistischen An-
nahme eines in hohem Maße leistungsfähigen Intellekts steht und fällt. Wird
bezweifelt, dass der Intellekt von sich aus imstande ist, das Wesen erfolgreich
zu abstrahieren (etwa weil er auf Vorlagen für das, was es zu abstrahieren gilt,
angewiesen ist, und weil er diese Vorlagen nicht aus sich heraus generieren
kann), wird es natürlich auch zweifelhaft, dass der ganze Erkenntnisprozess
auf rein natürlichem Weg gelingt.
Wenn angenommen wird, dass der Intellekt das universale Wesen tatsäch-
lich mithilfe einer Species erfassen kann, taucht allerdings gleich der dritte
Einwand auf, der bereits erwähnt wurde. Wie kommt es zur Produktion
einer Species? Erschafft der Intellekt die Species gleichsam aus sich heraus?
Oder wirkt der äußere Gegenstand via Vorstellungsbild irgendwie auf den
Intellekt ein und bringt in ihm die Species hervor? Im späten 13. Jh. sind
beide Positionen vertreten worden. Scotus hält jedoch beide für unbefriedi-
gend.154 Würde der Intellekt die Species aus sich heraus erschaffen, würde die
Präsenz eines materiellen Objekts und eines Vorstellungsbildes überhaupt
keine Rolle mehr spielen. Der Intellekt könnte dann eine beliebige Species
hervorbringen und beliebige Gegenstände in universaler Hinsicht erfassen,
ganz unabhängig davon, welche Gegenstände überhaupt existieren und
präsent sind. Wäre umgekehrt der äußere Gegenstand die einzige Ursache
für die Species, wäre der Intellekt nur eine Art Aufnahmegefäß und würde
keine aktive Rolle mehr spielen. Der äußere Gegenstand würde dann ein
Vorstellungsbild verursachen, das seinerseits durch eine Art kausalen Auto
matismus eine Species hervorbrächte. Aus diesen Gründen hält Scotus es
für unerlässlich, eine Monokausalität zu verwerfen und ein Zusammenspiel
zweier hierarchisch geordneter Ursachen anzunehmen.155 Das heißt: Damit
eine Species entsteht, müssen sowohl der Intellekt als auch der Gegenstand
tätig sein. Dabei ist der Intellekt die übergeordnete Ursache und der äußere
Gegenstand die untergeordnete, ohne dass die übergeordnete Ursache die
untergeordnete ausschalten würde oder umgekehrt. Denn einerseits muss
der Gegenstand die Sinne affizieren und ein Vorstellungsbild hervorbringen;
ohne die Präsenz eines solchen Bildes kann der Intellekt nicht aktiv werden.
Andererseits muss der Intellekt von diesem Vorstellungsbild das Wesen des
154
Vgl. zur ersten Position Ordinatio I, dist. 3, pars 3, q. 2, n. 413–421 (ed. Vat. III, 250–
256), zur zweiten ibid., n. 427–449 (ed. Vat. III, 260–271).
155
Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 3, q. 2, n. 487 und n. 498 (ed. Vat. III, 289 und 294–295).
§ 10 Schlussfolgerungen 109
§ 10 Schlussfolgerungen
Wie die Analyse zentraler Texte gezeigt hat, ist weder Heinrich von Gent
noch Johannes Duns Scotus ein Skeptiker, selbst wenn man den schillern-
den Ausdruck ‚Skeptiker‘ in dreifacher Weise versteht. Erstens ist keiner der
beiden ein pyrrhonischer Skeptiker, denn keiner schlägt eine skeptische The-
rapie vor, der zufolge wir nur noch Meinungen oder Erscheinungen anderen
Meinungen oder Erscheinungen gegenüberstellen und uns eines Urteils
enthalten sollten. Beide vertreten die Auffassung, dass wir nicht nur Mei-
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§ 10 Schlussfolgerungen 111
Pasnau 2003a, 303: „This marks a turning point in the history of philosophy, the first
156
den kann. Wie in § 9 deutlich geworden ist, geht er von der Annahme aus,
dass dieses Wesen in den Vorstellungsbildern präsent ist und vom Intellekt
nur noch „herausgelöst“ werden muss. Doch genau hier liegt der entschei-
dende Punkt. Ist es plausibel anzunehmen, dass der Intellekt von sich aus
imstande ist, das Wesen zu erfassen und eine intelligible Species zu bilden,
die dieses Wesen stabil und sicher darstellt? Es ist nicht zuletzt eine Antwort
auf diese intellekttheoretische Frage, die der ganzen Auseinandersetzung
zwischen Heinrich und Scotus zugrunde liegt. Betont man wie Heinrich die
Begrenztheit der intellektuellen Möglichkeiten, ist die Frage zu verneinen;
eine rein naturalistische Strategie ist dann zu verwerfen. Unterstreicht man
hingegen wie Scotus die Leistungsfähigkeit des Intellekts, kann die Frage
bejaht und eine naturalistische Strategie verfolgt werden.
Es stellt sich zweitens aber auch die grundsätzliche Frage, was hier
unter einer naturalistischen Strategie zu verstehen ist. Sicherlich ist da-
runter nicht ein metaphysischer Naturalismus im modernen Sinn zu ver-
stehen, d.h. eine Position, der zufolge nichts anderes als materielle Entitäten
existieren.157 Scotus vertritt genau wie Heinrich die im 13. Jh. allgemein
akzeptierte These, dass der Intellekt immateriell ist und dass folglich auch
die intellektuellen Akte und Zustände, mit denen Wissen gewonnen wird,
immateriell sind. Wenn hier von einem Naturalismus die Rede ist, dann
nur in explanatorischer Hinsicht. Die Grundfrage lautet dann: Kann zur
Erklärung von sicherem und stabilem Wissen allein auf natürliche Prozesse
(seien diese nun immaterieller oder materieller Art) rekurriert werden, oder
muss auch etwas Übernatürliches in Anspruch genommen werden? Eine
Antwort auf diese Frage ist nicht so offensichtlich, wie es auf den ersten
Blick erscheinen mag. Denn wie in § 7 deutlich geworden ist, betont auch
Heinrich, dass die Illumination nicht ein mysteriöser, übernatürlicher Vor-
gang ist, sondern etwas, was allen Menschen zuteil wird und gleichsam in
den natürlichen Erkenntnisprozess eingebaut ist. Die entscheidende Frage
lautet daher, was hier unter natürlichen Vorgängen zu verstehen ist. Lässt
man in einer Erklärung dieser Vorgänge nur einen Verweis auf Vermögen,
Zustände und Prozesse zu, die auf natürlicher Grundlage (ex naturalibus)
bestehen, ist nur Scotus’ Erklärung naturalistisch. Er beschränkt sich ja
strikt auf Assim ilations- und Abstraktionsprozesse, zu denen jeder Mensch
aufgrund seiner sinnlichen und intellektuellen Vermögen fähig ist. Bezieht
man in eine Erklärung der natürlichen Vorgänge jedoch alles ein, was im
natürlichen Zustand (in naturalibus) vorliegt, auch die Relation zu Gott und
die jedem Menschen zuteil werdende Illumination, dann ist auch Heinrichs
Vgl. zu dieser Form von Naturalismus, die sorgfältig von anderen Formen zu unterschei-
157
§ 10 Schlussfolgerungen 113
Erklär ung naturalistisch. Er betont ja, dass Illumination keineswegs als die
Handlung eines willkürlich eingreifenden Gottes zu verstehen ist, sondern
als ein Vorgang, der in jeden natürlichen Erkenntnisprozess eingebaut ist.
Für die Skeptizismus-Problematik ist es von entscheidender Bedeutung,
was hier unter einer naturalistischen Erklärung verstanden wird. Wenn man
wie Scotus darauf insistiert, dass eine solche Erklärung nur in Anspruch
nehmen darf, was auf natürlicher Grundlage besteht, führt Heinrichs Illu-
minationsmodell unweigerlich in den Skeptizismus. Der Anspruch, Wissen
könne allein durch Assimilations- und Abstraktionsprozesse gewonnen
werden, lässt sich dann prinzipiell nicht einlösen. Aus diesem Grund wirft
Scotus Heinrich vor, seine Position habe „die Unmöglichkeit einer sicheren,
natürlichen Erkenntnis zur Folge.“158 Wenn man hingegen wie Heinrich
darauf beharrt, dass in einer Erklärung des Erkenntnisprozesses alles zu be-
rücksichtigen ist, was im natürlichen Zustand vorliegt, ergeben sich keines-
wegs skeptische Konsequenzen. Illumination ist dann ebenso Bestandteil
des natürlichen Prozesses wie Assimilation und Abstraktion. Es ist nicht
zuletzt die unterschiedliche Auffassung darüber, was hier unter „natürlich“
zu verstehen ist, die den Konflikt zwischen Heinrich und Scotus ausgelöst
hat. Wo Heinrich natürliche Prozesse sieht, wittert Scotus ein Abdriften ins
Übernatürliche und die Preisgabe eines natürlichen Erkenntnisanspruchs.
Es ist freilich nicht erstaunlich, dass Scotus im Illuminationsmodell eine
Bedrohung des natürlichen Erkenntnisanspruchs sieht. Dieses Modell weist
nämlich eine innere Spannung auf. Einerseits insistiert es auf der kognitiven
Autonomie des Menschen, indem es betont, dass ein Mensch nicht ein-
fach eine Marionette Gottes darstellt. Wissen wird nicht von Gott einge-
flößt oder von Anfang an in den menschlichen Geist gelegt. Jeder Mensch
kann und muss vielmehr seine sinnlichen und intellektuellen Vermögen
einsetzen, um Wissen zu gewinnen. Andererseits weist das Illuminations-
modell aber auch auf die kognitive Heteronom ie des Menschen hin, indem
es betont, dass die Aktivierung der natürlichen Vermögen zwar eine not-
wendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für den Erwerb von Wis-
sen ist. Stets muss durch eine „Erleuchtung“ eine Relation zu den idealen
Modellen für die Erkenntn isobjekte hergestellt werden. Doch wie lässt sich
diese Relation in den natürlichen Erkenntn isprozess einbauen, wenn ein
Mensch nicht von sich aus imstande ist, sie herzustellen? Oder verkürzt aus-
gedrückt: Wie lässt sich die Abhängigkeit von den idealen Modellen in den
autonomen kognitiven Prozess einbauen? Genau diese Frage erweist sich
als die Kernfrage für die Illuminationstheorie. Es reicht nämlich nicht aus,
einfach von der Illumination als dem „Grund des Erkennens“ zu sprechen,
Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 218 (ed. Vat. III, 133), zitiert in Anm. 5.
158
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wenn nicht präzisiert wird, wie es sich dabei um einen natürlichen Grund
handeln kann. Selbst wenn man davon absieht, von einem mysteriösen gött-
lichen Eingreifen zu sprechen, bleibt immer noch die Frage offen, wie der
natürliche Abstraktionsprozess durch etwas, was nicht in den natürlichen
Vermögen angelegt ist, ergänzt und korrigiert werden kann. Scotus zufolge
muss eine konsequente naturalistische Strategie ganz darauf verzichten,
ein solches Element im Erkenntnisprozess anzunehmen. Der „Grund des
Erkennens“, den Heinrich außerhalb der natürlichen Vermögen ansiedelt,
muss in diese Vermögen transponiert werden, nämlich als die Fähigkeit, in-
telligible Species und damit zuverlässige Modelle für die Erkenntnisobjekte
zu produzieren. Der Kernpunkt des Streites zwischen Heinrich und Scotus
betrifft somit die Frage nach der Grundlage für natürliches Erkennen. Liegt
sie letzten Endes außerhalb des Menschen (nämlich in Gott, der durch einen
Illuminationsprozess die natürlichen Prozesse stabilisiert und korrigiert)
oder innerhalb des Menschen (nämlich in der Fähigkeit, stabile und korrekte
Modelle für das Wesen der Gegenstände hervorzubringen)?
Doch wie konnte ein Streit darüber ausbrechen, ob die Grundlage für
natürliche Erkenntnis und damit auch für natürliches Wissen außerhalb
oder innerhalb des Menschen liegt? Ein entscheidender auslösender Faktor
ist der starke Wissensbegriff, von dem Scotus ebenso selbstverständlich aus-
geht wie Heinrich. Beide halten es für offensichtlich, dass jemand nur dann
über Wissen verfügt, wenn er über ein stabiles und zuverlässiges Modell
verfügt, das ihm erlaubt, das Wesen der Gegenstände zu erfassen. Genau
diese essentialistische Bedin g ung steht im Mittelpunkt von Heinrichs
strengem Wissensbegriff, wie in § 5 deutlich geworden ist. Sie bestimmt
auch Scotus’ Verteidigung der intelligiblen Species, deren Funktion ja darin
besteht, das Wesen der Gegenstände darzustellen. Es ist nicht zuletzt dieses
hohe Wissensideal, das Zweifel auf den Plan ruft. Denn wie können wir
sicher sein, dass wir das Wesen auf zuverlässige Weise aus Vorstellungs-
bildern abstrahieren können? Und wie können wir überhaupt sicher sein,
dass es ein stabiles und unveränderliches Wesen gibt, noch dazu ein uni-
versales Wesen, das in zahlreichen Gegenständen präsent ist? Diese Fragen
verdeutlichen, dass ein bestimmtes metaphysisches Programm skeptische
Debatten ausgelöst hat. Erst wenn angenommen wird, dass tatsächlich
ein universales Wesen in den Dingen existiert, stellt sich das Problem, ob
und wie dieses Wesen erfasst und zum Gegenstand von Wissen werden
kann. Kurzum: Es ist vor allem ein metaphysischer Essentialismus, der
skeptische Fragen provoziert. Dies verdeutlicht, dass die ganze Debatte
zwischen Heinrich von Gent und Johannes Duns Scotus keineswegs ein
rein epistemologischer Streit ist. Es handelt sich hier vielmehr um die epis-
temologische Konsequenz eines metaphysischen Programms.
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§ 10 Schlussfolgerungen 115
II
Zweifel an der absoluten Gewissheit
(Thomas von Aquin, Siger von Brabant, Petrus
Johannis Olivi, Wilhelm Crathorn, Johannes
Rodington, Gregor von Rimini, Peter von Ailly)
II
Zweifel an der absoluten Gewissheit
(Thomas von Aquin, Siger von Brabant, Petrus
Johannis Olivi, Wilhelm Crathorn, Johannes
Rodington, Gregor von Rimini, Peter von Ailly)
Auf diesen Hintergrund machte bereits Gregory 1974 und 1984 in Pionierstudien auf-
4
merksam.
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abgrenzen musste, die sich auf die skeptische Hypothese beriefen. So stellte
Johannes Buridan unwirsch fest:
„... einige äußerst üble Leute, die die Naturwissenschaften und die Ethik durch
folgende [Überlegung] zerstören wollen, sagen: In vielen ihrer Prinzipien und
Schlussfolgerungen gibt es keine einfache Evidenz; sie können nämlich durch Fälle,
die auf übernatürliche Weise möglich sind, falsifiziert werden.“5
Wer sich stets auf die Hypothese beruft, Gott könnte doch eingreifen und
alle natürlichen Kausalrelationen aufheben oder momentan außer Kraft set-
zen, stellt Buridan zufolge genau das infrage, was jede vernünftige Erkennt-
nis- und Wissenschaftstheorie annehmen muss: dass es gesetzesmäßige Ver-
knüpfungen zwischen äußeren wahrnehmbaren Gegenständen und inneren
Zuständen gibt und dass genau diese Gegenstände – nicht die wundersamen
Handlungen irgendeines manipulierenden Gottes – den Inhalt dieser Zu-
stände festlegen. Buridans ungehaltene Reaktion zeigt freilich, dass die
Hypothese von einem Täuschergott bereits im 14. Jh. als eine Bedrohung
für die Erkenntnistheorie wahrgenommen wurde. Es muss daher genauer
untersucht werden, wie diese skeptische Hypothese eingesetzt wurde,
welche Konsequenzen daraus gezogen wurden und welche antiskeptischen
Strategien entwickelt wurden, um diese Hypothese zu widerlegen oder zu
neutralisieren.
Wie die Hypothese vom Täuschergott war auch jene von einem täu-
schenden Dämon zu Descartes’ Zeiten keineswegs neu. Im Rahmen der
Dämonologie, die spätestens seit Augustin in der christlichen Tradition
einen wichtigen Platz einnahm, wurde ausführlich diskutiert, wie „ge-
fallene Engel“ in den Erkenntnisprozess eingreifen, diesen manipulieren
und dadurch die natürlichen kognitiven Mechanismen außer Kraft setzen
können.6 Daher soll in einem ersten Schritt (§§ 12–13) am Beispiel Thomas
von Aquins untersucht werden, welche Funktion die Diskussionen über
Dämonen für die Erklärung von Wissen und Erkenntnis besaßen. Dabei
soll vor allem geprüft werden, zu welcher Art von skeptischer Hypothese
die Dämonologie Anlass gab, wie weitreichend diese Hypothese war und
welche antiskeptischen Strategien Thomas wählte. Auch die von Descartes
verwendete Traumhypothese war nicht neu. Bereits Thomas’ Zeitgenosse
Siger von Brabant diskutierte sie. Deshalb soll in einem zweiten Schritt
5
Johannes Buridan, Kommentar zur Aristotelischen Metaphysik, lib. II, q. 1 (ed. Paris 1588,
f. 9ra): „... aliqui valde mali dicunt volentes interimere scientias naturales et morales eo quod
in pluribus earum principiis et conclusionibus non est evidentia simplex sed possunt f alsificari
per casus supernaturaliter possibiles ...“ Zu dieser Kritik am Gebrauch theologischer Hypo-
thesen in der Philosophie vgl. De Rijk 1997.
6
Vgl. zum theologischen Hintergrund Ries & Limet 1989, 291–352, und die in Linsen-
mann 2000, 31–98, versammelten Texte.
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nicht bloß antizipieren, sondern von diesen auch abweichen. Gerade die
Differenzen machen auf zentrale Punkte im mittelalterlichen Umgang mit
skeptischen Hypothesen aufmerksam.
Zweitens soll vermieden werden, die komplexen Debatten zur absoluten
Macht Gottes in normativer Perspektive als eine Dekadenz- oder Auf-
lösungserscheinung der spätmittelalterlichen Philosophie zu bewerten. In
der älteren Forschung ist diese Perspektive immer wieder gewählt worden,
wie in der Einleitung bereits erwähnt wurde. So stellte E. Gilson in einer
einflussreichen Studie fest, die im 14. Jh. deutlich zunehmenden Spekula-
tionen darüber, dass Gott jederzeit eingreifen und die natürliche Ordnung
beseitigen könne, hätten jede Erkenntnisgewissheit aufgelöst, ja eine „neue
intellektuelle Krankheit“ verursacht.7 Auch H. Blumenberg betonte, die
Allmachtslehre habe eine „Epochenkrise“ ausgelöst und dazu geführt,
dass jedes „Weltvertrauen“ verloren ging. Angesichts eines willkürlich
handelnden Gottes, der sich über jede Ordnung hinwegsetzen kann, sei jede
Gewissheit von einer natürlichen Ordnung – insbesondere von einer episte-
mischen Ordnung – hinfällig geworden.8 Diese pessimistische Einschät-
zung hat sich teilweise bis in die neuere Forschung hinein gehalten.9
Gegenüber dieser negativen Bewertung ist zu betonen, dass die Debatten
über Gottes Macht nicht darauf abzielten, im Detail zu bestimmen, was
Gott wirklich tut oder im Rahmen des physikalisch Möglichen tun könnte,
um die natürliche Ordnung zu zerstören. Sie dienten vorwiegend dazu,
in rein theoretischer Hinsicht den Bereich des Möglichen zu bestimmen
und dabei vor allem das logisch Mögliche vom physikalisch Möglichen zu
unterscheiden. Mit einem Verweis auf die absolute Macht Gottes sollte ge-
klärt werden, was prinzipiell denkbar und widerspruchsfrei formulierbar
ist. Daher hatten die Argumente, die sorgfältig die absolute Macht von der
geordneten unterschieden, vor allem eine methodische Funktion: Anhand
konstruierter Beispiele sollte bestimmt werden, was im Bereich des Denk-
baren liegt und als logisch mögliche Alternative zum realen Weltverlauf
erwogen werden kann.10 Wenn solche Beispiele unter anderem auch in
7
Vgl. Gilson 1937, 86.
8
Vgl. Blumenberg 1988, 170–171 (ursprünglich 1966 veröffentlicht).
9
So etwa bei Kennedy 1993 oder neuerdings bei Kenny, 2005, 173, der behauptet, Duns
Scotus habe „a road to skepticism“ geöffnet, die spätere Autoren – allen voran Ockham – be-
schritten haben. Dadurch sei das Vertrauen in sichere Erkenntnis immer mehr erodiert.
10
Courtenay 1985, 256, hält dies prägnant fest: „... potentia ordinata increasingly became
the realm of the realized, and potentia absoluta the realm of the unrealized possibilities,
counterfactuals, hypothetical arguments, secundum imaginationem.“ Wie Courtenay 1990,
19, zu Recht betont, diente die Unterscheidung verschiedener Arten der Allmacht als „ana-
lytical tool“, um den Bereich des logisch Möglichen zu bestimmen und vom Bereich des
Notwendigen abzugrenzen.
Zur Funktion der Engel im gesamten metaphysischen und kosmologischen Projekt des
11
schen diese Zuordnung auch nicht immer bestimmen können (ist die bleiche
Person voller Furcht? oder ist ihr nur übel?), sind doch Engel dazu in der
Lage. Dies wäre allerdings noch kein besonders bemerkenswerter Zugang
zum Innenleben einer Person, denn natürlich können auch Menschen ihre
Beobachtung des äußeren Verhaltens schärfen und dadurch lernen, immer
genauer auf innere Ursachen zu schließen. Wenn sie sorgfältig mögliche
Ursachen ausschließen, wie dies etwa in der ärztlichen Diagnose der Fall
ist, können sie eine ziemlich präzise, wenn vielleicht auch nicht vollkommen
perfekte Aussage über verursachende geistige Zustände machen.
Interessanter ist der direkte Zugang zu den Gedanken eines Menschen,
den Thomas den Engeln zuschreibt. Er behauptet, bei diesem Zugang seien
zwei Komponenten zu unterscheiden, durch die sich ein Gedanke aus-
zeichne: die sog. Species und der Gebrauch der Species.14 Damit verweist
Thomas auf ein zentrales Element seiner Kognitionstheorie. Genau wie der
frühe Heinrich von Gent und Duns Scotus (vgl. §§ 5 und 9) geht auch er von
der Annahme aus, dass Denken nur möglich ist, wenn vom Vorstellungs-
bild (phantasma) eine intelligible Species abstrahiert wird.15 Im Gegensatz
zum Vorstellungsbild stellt diese nicht einen individuellen Gegenstand mit
konkreten Eigenschaften dar, sondern das allgemeine Wesen oder die Form
eines Gegenstandes. Entscheidend ist für Thomas, dass die Species nicht das
Objekt des Denkens ist, sondern nur das kognitive Hilfsmittel, mit dem der
Intellekt sich auf ein bestimmtes Wesen bezieht.16 Wenn ich etwa an einen
Apfel denken will, muss ich auf der Grundlage eines Vorstellungsbildes von
einem konkret wahrgenommenen Apfel eine Species bilden, die mir das
Wesen eines Apfels (d.h. die in einer Definition zu berücksichtigenden we-
sentlichen Merkmale) anzeigt. Ich denke dann nicht an die Species, sondern
mit der Species an das, was einen Apfel genau zu einem Apfel macht. Erst
wenn ich in einem reflexiven Akt darüber nachdenke, wie ich an einen Apfel
denke, mache ich die Species zum Denkobjekt.
Für Thomas ist es nun wichtig, die Species vom Denkakt zu unterschei-
den. Denn dadurch, dass ich über eine Species verfüge, denke ich noch
gemein gesehen ein äußeres Verhalten für viele innere Vorgänge stehen kann. Doch es gebe
„im Besonderen einige Differenzen“, die es den Engeln ermöglichen, präzis den jeweiligen
inneren Vorgang zu bestimmen. Diese Aussage verdeutlicht, dass Thomas eine eindeutige
Relation zwischen inneren Vorgängen und körperlichen Zeichen annimmt. Die Möglichkeit,
dass ein innerer Vorgang unbestimmbar ist (etwa weil ein komplexes Konglomerat verschie-
dener Vorgänge vorliegt oder weil sich der innere Vorgang bei gleich bleibendem äußerem
Zeichen verändert), zieht er nicht in Betracht.
14
Vgl. De malo, q. 16, art. 8, corp. (ed. Leonina XXIII, 321).
15
Vgl. STh I, q. 85, art. 1–2, und Summa contra Gentiles I, cap. 53, n. 442 (ed. Pera, 64–65);
zur Species-Theorie vgl. ausführlich Spruit 1994, 156–174, Pasnau 1997, 195–219, Perler 2002,
61–80; Stump 2003, 262–276.
16
Vgl. STh I, q. 85, art. 2, corp; Sentencia libri De anima III, 2 (ed. Leonina XLV/1, 213).
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Vgl. De malo, q. 16, art. 8 (ed. Leonina XXIII, 321); STh I, q. 57, art. 4, corp.
17
Zur Erhärtung dieser These beruft sich Thomas in De malo, q. 16, art. 8 (ed. Leonina
18
XXIII, 321) auf ein metaphysisches Argument: Die Tätigkeit des Willens hängt von der
„höchsten Ordnung der Dinge“ ab, die nur dem höchsten Wesen zugänglich ist. Ein unterge-
ordnetes Wesen kann prinzipiell keinen Zugriff auf etwas haben, was ihm übergeordnet ist.
Dieses Argument verdeutlicht, dass eine enge Beziehung zwischen Metaphysik und Erkennt-
nistheorie bei Thomas besteht. Die Stellung in der hierarchischen Ordnung legt fest, auf
welchen Bereich sich die kognitiven Fähigkeiten eines bestimmten Wesens beziehen können.
19
Vgl. Med. III und IV (AT VII, 37 und 56).
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auf den Intellekt hat, das aktuelle Denken vollständig erfassen; ihm ist nicht
verborgen, ob ich jetzt gerade an einen Apfel oder an Schokolade denke. Und
er ist darüber hinaus auch imstande, auf das ganze Denken einzuwirken.
Für Thomas hingegen gibt es aufgrund der unentbehrlichen Mitwirkung des
Willens durchaus etwas, was dem Zugriff des Dämons entzogen ist. Dies hat
zur Folge, dass der Dämon sicherlich nicht mein aktuelles Denken festlegen
kann. Vollständige Manipulation ist schon aufgrund der Unzugänglichkeit
des Willens ausgeschlossen. Und das heißt natürlich: Eine radikale skep-
tische Hypothese, der zufolge ein Dämon mein ganzes aktuelles Denken
manipulieren könnte, ist von vornherein ausgeschlossen.
Thomas’ These, dass ein Dämon nur die Species erfassen kann, ist noch
in einer weiteren Hinsicht bemerkenswert. Wenn wir an etwas denken, kön-
nen wir dies auf unterschiedliche Weise tun, z.B. aufgeregt oder gelassen,
aufmerksam oder zerstreut. Es gibt, modern ausgedrückt, neben dem be-
sonderen Inhalt des Denkens immer auch eine spezifische Modalität. Wenn
nun ein Dämon nur die Species erfassen kann, so hat er nur zu dem, was den
Inhalt des Denkens festlegt (oder genauer: festlegen kann), einen Zugang.
Doch die besondere Modalität des Denkens bleibt ihm verborgen. So kann
er nicht wissen, ob ich gierig oder nur so nebenbei an Schokolade denke. 20
Die Redeweise, ein Dämon könne die Species erfassen (comprehendere)
oder erkennen (cognoscere), 21 wirft freilich die Frage auf, welche Art von
epistemischer Relation damit gemeint ist. Heißt dies, dass es so etwas wie
innere Objekte gibt, die ein Dämon unmittelbar betrachten kann? Dies
hätte zur Konsequenz, dass die Species als innere Objekte zu verstehen sind,
die auch wir irgendwie betrachten müssten, wenn wir sie in einem aktuellen
Denkakt verwenden wollten. Denken wäre dann primär die Hinwendung
zu inneren Gegenständen.
Diese Interpretation ist allerdings nicht zwingend. Da Thomas betont,
dass aus den Species die „inneren Wörter“ entstehen, 22 sind sie eher als ko-
gnitive Hilfsmittel mit einer begrifflichen Struktur zu verstehen. Konkret
20
Pasnau 2002a, 358, stellt kritisch fest, Thomas wähle in der Diskussion des Problems,
wie jemand – sei dies nun ein Dämon oder ein Mensch – einen Zugang zu einem anderen Geist
haben könne, prinzipiell die Außenperspektive und gehe nicht auf die entscheidende Frage
ein, wie es sich denn für jemanden anfühle, in einem bestimmten Zustand zu sein, z.B. einen
Schmerz zu fühlen oder eine Gelbwahrnehmung zu haben. Dazu ist zu bemerken, dass Tho-
mas auf der Ebene des Intellekts sog. Qualia (die freilich auch in der gegenwärtigen Debatte
umstritten sind) gar nicht berücksichtigen kann, weil es nur auf der Ebene der sensitiven Seele
sinnlich erfahrbare Zustände gibt. Die intellektuelle Ebene zeichnet sich dadurch aus, dass sie
nur für das abstrakte Erfassen, Urteilen und Schließen zuständig ist.
21
Diese Terminologie verwendet Thomas durchgehend in De malo, q. 16, art. 8, corp. (ed.
Leonina XXIII, 320–322) und in STh I, q. 57, art. 4.
22
Vgl. De potentia, q. 8, art. 1, corp.; De veritate, q. 4, art. 1, corp. (ed. Leonina XXII, Bd.
1, 119).
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heißt dies: Wenn ich aus dem Vorstellungsbild von einem saftigen, roten
Apfel eine Apfel-Species abstrahiere, so bilde ich einen Begriff, mit dem
ich Äpfel von Birnen und anderen Gegenständen unterscheiden kann. 23
Diesen Begriff setze ich dann ein, wenn ich ein Urteil über einen konkreten
Apfel bilde, z.B. ‚Dies ist ein saftiger Apfel‘. Über einen Begriff zu verfügen
bedeutet aber nicht, dass ich ein inneres Objekt oder gar ein inneres Bild
haben muss. Dies heißt nur, dass ich über etwas verfügen muss, was es mir
erlaubt, Prädikate in gesprochenen Sätzen zu verwenden. Daher ist die Bil-
dung der „inneren Wörter“ immer eine notwendige Voraussetzung für die
Äußerung gesprochener Wörter und Sätze. Ein Dämon muss somit genauso
wenig wie die denkende Person selbst auf wundersame Weise ein inneres
Objekt betrachten. Er muss nur einen Zugriff auf das Begriffsrepertoire der
entsprechenden Person haben.
Daraus entsteht jedoch noch keine unmittelbare skeptische Gefahr. Denn
das Begriffsrepertoire erfassen zu können (wie auch immer dies durch einen
direkten Zugriff auf den Intellekt möglich sein soll) heißt noch lange nicht,
es auch verändern und manipulieren zu können. So könnte man sagen: So-
lange ein Dämon nur feststellt, dass ich über die Begriffe verfüge, die es mir
erlauben, an Äpfel, Schokolade und viele andere Dinge zu denken, mag er ein
unliebsamer Eindringling in meine intellektuelle Privatsphäre sein, aber er
hat mich dadurch noch nicht manipuliert. Denn ich habe die Begriffe ja da-
durch erworben, dass ich ausgehend von der Sinneswahrnehmung konkreter
Gegenstände das Wesen von Äpfeln, Schokolade usw. abstrahiert habe. Die
sinnliche Grundlage meiner Begriffe garantiert, dass sie in Gegenständen
der materiellen Welt fundiert sind. Und da ein Dämon nicht einmal wissen
kann, woran ich aktuell denke, kann er sicherlich nicht meine aktuelle Ver-
wendung von Begriffen manipulieren. Mein aktuelles Denken ist gleichsam
immunisiert gegenüber dämonischen Übergriffen.
In der Tat sieht Thomas keine unmittelbare skeptische Gefahr. Dämonen
können nicht auf direkte Weise Denkakte hervorbringen oder zerstören.
Trotzdem können sie in die kognitiven Mechanismen eingreifen:
„... auf natürliche Weise können nämlich die menschlichen Sinne durch die Präsenz
wahrnehmbarer Körper verändert werden. Aber manchmal bewirken Dämonen,
dass den Menschen etwas erscheint, was in der Außenwelt in Tat und Wahrheit
nicht besteht.“24
23
Dies bedeutet allerdings nicht, dass ich auf einen Schlag einen vollständigen Begriff
habe. Wie Kretzmann 1991 gezeigt hat, kann ein ursprünglich ungenauer oder vager Begriff
Schritt für Schritt präziser gefasst werden. Thomas’ Theorie sieht durchaus eine graduelle
Abstufung verschieden präziser Begriffe vor.
24
De malo, q. 16, art. 11, corp. (ed. Leonina XXIII, 329): „... naturaliter enim humani
sensus a presentia sensibilium corporum immutantur. Set quandoque demones aliqua faciunt
hominibus apparere que in rerum exteriorum ueritate non subsistunt.“
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Aus dieser Feststellung lässt sich leicht eine skeptische Konsequenz ziehen.
Wenn Dämonen manchmal bewirken können, dass mir ein Objekt x er-
scheint, obwohl kein x in der Außenwelt existiert, können sie im Prinzip
jederzeit bewirken, dass mein auf Erscheinungen beruhendes Denken nicht
mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Und wenn sie mir die Erscheinungen
so perfekt eingeben, dass ich nicht merke, dass keine Übereinstimmung mit
äußeren Objekten vorliegt, können sie mich perfekt täuschen. Besteht also
trotz eines unmöglichen direkten Zugriffs auf das aktuelle Denken eine
skeptische Gefahr?
In der Tat liegt eine gewisse Gefahr vor. Dämonen können nämlich zum
einen sog. „äußere Zeichen“ hervorbringen, die eine bestimmte Sinneswahr-
nehmung und darauf aufbauend einen bestimmten Denkakt hervorrufen.
Zum anderen können sie auch auf der Ebene der inneren Sinne eingreifen
und die Vorstellungsbilder manipulieren. 25 Beides bewirken sie durch eine
lokale Veränderung von Materieteilen. So können sie etwa die in meiner
Umgebung vorhandenen Gegenstände derart anordnen, dass plötzlich vor
mir das Zeichen von einem galoppierenden Pferd auftaucht; dies verursacht
in mir die Wahrnehmung eines Pferdes. Sie können aber auch die in meinem
Gehirn vorhandenen Materiepartikel neu anordnen. Da Vorstellungsbilder
nichts anderes als materielle Bilder sind, die – wie Thomas in Übereinstim-
mung mit seinen Zeitgenossen annimmt – im Gehirn durch eine bestimmte
Anordnung von Säften und Partikeln entstehen, können die Dämonen da-
durch neue Vorstellungsbilder erzeugen. Konkret heißt dies: Ein Dämon
könnte jetzt in mein Gehirn eingreifen und in mir das Vorstellungsbild von
einer Chimäre erzeugen. Ebenso könnte er in mir das Vorstellungsbild von
einem galoppierenden Pferd hervorbringen, obwohl in meiner Umgebung
kein Pferd präsent ist. Das heißt, er könnte (a) Bilder von physisch unmög-
lichen Gegenständen und (b) Bilder von physisch zwar möglichen, aktuell
aber nicht vorhandenen Gegenständen und Sachverhalten hervorrufen.
Das mögliche Eingreifen in die Umgebung und in die inneren Sinne wirft
unterschiedliche skeptische Probleme auf. Betrachten wir zunächst den Fall
des Hervorbringens von „äußeren Zeichen“. Werden unter diesen Zeichen
reale, wahrnehmbare Gegenstände verstanden, stellt sich noch keine skeptische
Frage. Wenn ein Dämon nämlich bewirkt, dass vor mir ein galoppierendes
Pferd auftaucht und ich dann tatsächlich die Wahrnehmung eines galoppie-
renden Pferdes habe, stimmt meine Wahrnehmung mit einem Sachverhalt in
der Wirklichkeit überein – ich werde nicht getäuscht. Das Problem, das sich
hier stellt, ist weniger erkenntnistheoretischer als metaphysischer Natur. Es
Vgl. De malo, q. 16, art. 11, corp. und ad 6; ibid., art. 12, corp. (ed. Leonina XXIII, 329,
25
stellt sich nämlich die Frage, wie weit ein Dämon in seiner Neuanordnung der
vorhandenen Gegenstände gehen kann. 26 Ist er imstande, in die natürlichen
Kausalverhältnisse einzugreifen und plötzlich etwas auftauchen zu lassen, was
nicht von natürlichen Ursachen hervorgebracht wurde? Dies ist in metaphy-
sischer Hinsicht ein entscheidender Punkt. Ereignisse und Sachverhalte sind
dann nicht durch eine natürliche Ursachenkette vollständig determiniert. Die
Kette kann jederzeit unterbrochen und neu angeordnet werden.
Erkenntnistheoretisch bedeutsamer ist jedoch der Fall, in dem der Dämon
ein „äußeres Zeichen“ hervorbringt, das bloß die Präsenz eines realen Ge-
genstandes simuliert. Angenommen, ich wandere halb verdurstet durch die
Berge und ein Dämon lässt vor mir plötzlich das Bild von einem sprudelnden
Bergbach auftauchen. Er tut dies so perfekt, dass ich glaube, hier sei tatsäch-
lich ein Bergbach. Dann hat er mich natürlich getäuscht. Denn solange ich
das Bild nicht als bloßes Bild (oder als bloßes Zeichen und nicht als Bezeich-
netes) wahrnehme und es für einen echten Bergbach halte, stimmt das, was
ich glaube, nicht mit der Wirklichkeit überein. Und solange ich nicht anhand
bestimmter Kriterien herausfinden kann, ob es sich um ein bloßes Bild oder
um einen echten Bergbach handelt, kann ich die Täuschung auch nicht kor-
rigieren.
Noch verhängnisvoller ist der mögliche Eingriff in die inneren Sinne.
Wenn ein Dämon durch eine Manipulation des Gehirns die genannten
Szenarien (a) und (b) hervorrufen kann, ist er imstande, Vorstellungsbilder
zu erzeugen, die nicht mit einem äußeren Sachverhalt übereinstimmen. Und
wenn die Person, die diese Vorstellungsbilder verwendet, nicht in der Lage
ist festzustellen, dass sie durch Manipulation entstanden sind, täuscht sie
sich. Sie glaubt auch hier, etwas sei der Fall, was in Tat und Wahrheit nicht
der Fall ist.
Wie schwerwiegend ist nun diese Täuschungsmöglichkeit? Zunächst
gilt es zu beachten, dass sicherlich kein radikaler Außenweltskeptizismus
droht. Wie sehr der Dämon die Gehirnzustände auch manipulieren mag,
sie beruhen immer auf Sinneseindrücken, die ihrerseits von äußeren wahr-
nehmbaren Gegenständen stammen. Es gibt somit eine kausale Verbindung
zur Außenwelt. Und wer Vorstellungsbilder verwendet, kann auch sicher
sein, dass eine solche Verbindung besteht. Wenn ich etwa jetzt eine äußerst
lebhafte Vorstellung von einer Chimäre habe, kann ich zwar auf Anhieb
nicht sicher sein, ob es in der materiellen Welt tatsächlich eine Chimäre
gibt, aber ich kann doch gewiss sein, dass es etwas gibt, was den einzelnen
Diese Frage stellt sich vor allem, weil Thomas in STh I, q. 111, art. 4, corp. betont: „Potest
26
enim angelus opponere exterius sensui sensibile aliquod, vel a natura formatum, vel aliquod
de novo formando; sicut facit dum corpus assumit...“ Wenn ein Dämon etwas darstellt, was
nicht von der Natur hervorgebracht wurde, greift er in die natürliche Kausalkette ein.
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27
Freilich handelt es sich um ein unverzichtbares Element, weil nur mithilfe eines Vor-
stellungsbildes ein individueller Gegenstand erfasst werden kann; vgl. STh I, q. 85, art. 1.
Thomas ist kein Intellektualist, der Kognition einzig und allein auf der Ebene des Intellekts
ansiedelt.
28
Vgl. STh I, q. 85, art. 6; De veritate, q. 1, art. 12 (ed. Leonina XXII, 35–36); Summa
contra Gentiles III, cap. 108, n. 2835 (ed. Pera, 163).
29
Vgl. eine Analyse dieser These in Jenkins 1991 und Perler 2002, 66–70.
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11:28
Vgl. STh I, q. 85, art. 7, corp. In De veritate, q. 2, art. 2, corp. (ed. Leonina XXII, 45) hält
30
Thomas allgemein fest, dass es einen „ordo in cognoscibilibus“ gibt. Je besser der kognitive
Apparat eines Lebewesens ist, desto besser kann es die Formen der Gegenstände aufnehmen
und desto besser ist es auch in der Lage, wahre Urteile zu bilden.
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hat, muss das spontan gebildete Urteil ‚Hier liegt etwas Gebrochenes‘ mit-
hilfe der taktilen Wahrnehmung oder mit Rückgriff auf die Informationen
anderer Personen korrigieren. Ob sich ein Wahrnehmungsurteil auf einen
tatsächlich existierenden Gegenstand und tatsächlich existierende Eigen-
schaften bezieht, muss von Fall zu Fall überprüft werden.
Dies hat nun eine unmittelbare Konsequenz für die Bewertung des
Falles, in dem ein Dämon das Vorstellungsbild von einem zwar möglichen,
aber nicht wirklich existierenden Gegenstand eingibt. Genau wie die Fälle
von Wahrnehmungsurteilen, die auf ungenügender Sinnesinformation oder
auf Sinnestäuschungen beruhen, ist es auch in diesem Fall möglich, dass
ein falsches Urteil, etwa ‚Ein Pferd galoppiert vorbei‘, gebildet wird. Aber
auch hier muss das Urteil durch einen Vergleich mit anderen Urteilen, durch
Rückgriff auf andere Vorstellungsbilder und durch ein Abgleichen mit den
Urteilen anderer Personen korrigiert werden. Entscheidend ist dabei, dass
das Urteil im Prinzip korrigierbar ist und dass daher nicht eine radikale
Täuschungsgefahr droht. Gerade weil Urteile miteinander verflochten sind,
können sie abgeglichen und auf ihre Konsistenz hin geprüft werden.
Aber könnte ein Dämon das Gehirn nicht so perfekt manipulieren, dass
er eine Vielzahl von kohärenten Vorstellungsbildern erzeugt, die dann die
Grundlage für eine Vielzahl von kohärenten und konsistenten Wahrneh-
mungsurteilen bilden? Könnte es nicht sein, dass der Dämon mir nicht nur
das Vorstellungsbild von einem galoppierenden Pferd eingibt, sondern auch
von Wiesen, Stallungen usw., sodass ich schließlich ein komplexes, in sich
kohärentes Bild von einer ganzen Welt habe und zahlreiche Urteile über
diese Welt bilde – Urteile, die zwar perfekt aufeinander abgestimmt sind,
sich aber nicht auf eine reale Welt beziehen?
Eine solche Möglichkeit zieht Thomas nicht in Betracht, und zwar nicht
nur wegen der bereits erwähnten Grundthese, dass selbst eine komplexe
Menge von Vorstellungsbildern eine Verankerung in der Außenwelt haben
muss, sondern auch wegen einer viel weiter reichenden These, die man die
These des epistemologischen Optimismus nennen könnte. Immer wieder
betont Thomas, dass jeder Mensch über ein „natürliches Licht“ verfügt,
das dem Intellekt angeboren ist und ihn dazu befähigt, im Prinzip korrekte
Erkenntnis zu erwerben und wahre Wahrnehmungsurteile zu bilden. 31
Bei diesem Licht handelt es sich um nichts anderes als um ein Grundver-
mögen, das Gott jedem Menschen zuteil werden lässt. Thomas betont sogar,
dass durch dieses Licht „eine gewisse Einprägung der ersten Wahrheit“ im
menschlichen Intellekt vorhanden ist.32 Damit verweist er auf den metaphy-
31
Vgl. De malo, q. 16, art. 12 (ed. Leonina XXIII, 333); STh I, q. 12, art. 2, corp; ibid., q.
84, art. 5, corp.
32
STh I, q. 88, art. 3, ad 1: „... in luce primae veritatis omnia intelligimus et iudicamus,
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sischen Rahmen seiner Kognitionstheorie: In Gott sind alle Ideen von den
Dingen – von den möglichen ebenso wie von den wirklichen – vorhanden und
damit auch alle möglichen wahren Urteile über die Dinge. Da jeder Mensch in
einer Partizipationsrelation zu Gott steht, hat auch jeder Mensch in gewisser
Weise an diesen Ideen teil – nicht weil er sie direkt betrachten oder erfassen
könnte, auch nicht weil Gott sie ihm durch eine „Erleuchtung“ zukommen
ließe, sondern weil er über ein angeborenes Vermögen verfügt, die Dinge in
Übereinstimmung mit den göttlichen Ideen korrekt zu erfassen. Die Aktuali-
sierung dieses Vermögens erfolgt aber nur, wenn ein Kontakt zu wahrnehm-
baren Gegenständen besteht. Konkret heißt dies: Wenn ich ein Vorstellungs-
bild von einem Apfel habe, kann ich daraus das Wesen des Apfels abstrahieren,
weil aufgrund einer „Einprägung“ das Vermögen zu einem Erfassen dieses
Wesens bereits in mir vorhanden ist. Die Präsenz des Vorstellungsbildes ist
gleichsam der Auslöser für eine Aktualisierung dieses Vermögens.
Diese Argumentationslinie verdeutlicht, dass Thomas’ Kognitions-
theorie nicht nur empiristische, sondern auch rationalistische Elemente
enthält. Denn durch die empirisch erworbenen Vorstellungsbilder allein
kann keine Erkenntnis vom Wesen der Dinge gewonnen werden. Immer ist
auch die „Einprägung der ersten Wahrheit“ und damit etwas Angeborenes
erforderlich. Überspitzt ausgedrückt könnte man sagen: Gäbe es kein an-
geborenes Vermögen zu einem korrekten Erfassen, könnten auch die Vor-
stellungsbilder nicht adäquat ausgewertet werden. Dies ist nun für die
Skeptizismus-Problematik von Bedeutung. Da jeder Mensch über ein sog.
natürliches Licht verfügt, ist jeder von Natur aus imstande, auf korrekte
Weise Begriffe zu bilden und wahre Urteile über Dinge in der Welt zu fällen.
Irrtümer und Fehler sind in Einzelfällen zwar möglich, aber im Prinzip ist
der menschliche Intellekt so ausgestattet, dass er die Dinge in der Außen-
welt korrekt erfassen kann. Dies liegt daran, dass er das angeborene Ver-
mögen in Übereinstimmung mit den göttlichen Ideen aktualisiert, die ja die
Vorlagen für die Dinge in der Außenwelt sind.33 Metaphorisch gesprochen
inquantum ipsum lumen intellectus nostri, sive naturale sive gratuitum, nihil aliud est quam
quaedam impressio veritatis primae ...“
33
Daher ist es ausgeschlossen, dass ein Mensch irgendein Wesen, z.B. von einem Ein-
horn, erfindet, dann urteilt, dass ein Gegenstand mit einem solchen Wesen existiert, und
keine Möglichkeit hat, den Irrtum zu korrigieren. Da es keine Vorlage für ein solches Wesen
gibt, stellt ein Mensch bei genauer Prüfung fest, dass ein Einhorn ein Fabelwesen ist, das aus
unvereinbaren Bestandteilen besteht. Natürlich ist es möglich, dass ein Mensch im Irrtum
verharrt und weiterhin glaubt, ein Einhorn existiere genauso wie ein Pferd. Es gibt keinen
kognitiven Automatismus, der Irrtümer korrigiert. Entscheidend ist für Thomas jedoch, dass
ein Mensch prinzipiell die Möglichkeit hat, den Irrtum zu korrigieren. Dank der „Einprägung
der ersten Wahrheit“ ist der menschliche Intellekt gleichsam auf die wirklichen Gegenstände
abgestimmt und kann feststellen, welche Gegenstände tatsächlich existieren (oder zumindest
existieren können) und welche nicht.
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könnte man sagen, dass Gott den menschlichen Intellekt und die Dinge zu-
sammenschweißt, indem er durch seine Ideen gleichzeitig die Vorlagen für
das Wesen aller möglichen Dinge in der Außenwelt und für alle möglichen
Begriffe und Urteile im Intellekt gibt. Daher ist ein Szenario, dem zufolge
wir zwar eine kohärente Innenwelt haben, jedoch keine ihr entsprechende
Außenwelt, von vornherein ausgeschlossen. Oder verkürzt ausgedrückt:
Vollkommene Kohärenz ohne Korrespondenz ist unmöglich.
Dieser epistemologische Optimismus ist wohl der Hauptgrund, wes-
halb Thomas an keiner Stelle versucht, einen radikalen Skeptizismus zu
widerlegen oder zu bekämpfen. Wenn nämlich der menschliche Intellekt
von vornherein auf die Dinge in der Außenwelt abgestimmt ist und wenn
er von Natur aus die Fähigkeit hat, das Wesen dieser Dinge korrekt zu
erfassen, stellt sich gar nicht die Frage, ob er denn vollständig in die Irre
gehen könnte. Dämonen können zwar in Einzelfällen, aber nie im Gan-
zen Täuschungen bewirken, und selbst die Einzelfälle sind korrigierbar.
Thomas’ Begründung des epistemologischen Optimismus verdeutlicht
aber auch, dass seine Kognitionstheorie auf starken metaphysischen Prä-
missen beruht. Nur wenn man annimmt, (1) dass es im göttlichen Intel-
lekt Ideen für alle Dinge gibt, (2) dass der menschliche Intellekt in einer
Partizipationsrelation zu Gott steht und (3) dass der Intellekt aufgrund
dieser Relation selber Begriffe bilden kann, die den Dingen entsprechen,
kann man radikale skeptische Szenarien ausschließen. Die Immunisierung
gegenüber dem Skeptizismus gelingt nur mit einem voraussetzungsreichen
metaphysischen Apparat. Ein Skeptiker könnte natürlich diesen Apparat
infrage stellen und einwenden: Wie können wir denn sicher sein, dass Gott
uns die „Einprägung der ersten Wahrheit“ gegeben hat? Welche Gewissheit
haben wir dafür, dass die Begriffe, die wir durch eine Aktualisierung dieser
Einprägung bilden, genau den Dingen in der Außenwelt entsprechen? Wir
haben doch nur einen unmittelbaren Zugang zu unseren Begriffen und Ur-
teilen, können diese aber nicht von einem neutralen Standpunkt aus mit den
Dingen vergleichen. Daher können wir auch nicht beurteilen, ob tatsäch-
lich eine Übereinstimmung vorliegt.
Aus skeptischer Sicht sind solche Nachfragen in der Tat möglich. Doch
für Thomas sind sie irrelevant, weil er nicht von einem isolierten Denker
ausgeht, der nur über seine eigenen Begriffe und Urteile verfügt und sich
fragt, ob ihnen auch eine Außenwelt entspricht. Thomas situiert alle seine
Überlegungen zum Verhältnis von Begriffen und äußeren Gegenständen
innerhalb eines metaphysischen und schöpfungstheologischen Rahmens,
der festlegt, dass es tatsächlich eine Außenwelt gibt und dass aufgrund der
Ideen im göttlichen Intellekt eine perfekte Zuordnung von Begriffen und
Gegenständen besteht. Verkürzt ausgedrückt könnte man sagen: Thomas
geht von der Metaphysik zur Kognitionstheorie über und nicht umge-
kehrt. Daher ist ein Szenario, wie man es in Descartes’ Erster Meditation
findet, von vornherein ausgeschlossen. Freilich zeigt dieser methodische
Ansatz, dass Thomas’ Antiskeptizismus mit seinen metaphysischen und
schöpfungstheologischen Annahmen steht und fällt. Sobald man bezwei-
felt, dass es tatsächlich göttliche Ideen gibt, die Begriffe und Gegenstände
gleichsam zusammenschweißen, ja dass es überhaupt eine Garantie für die
Existenz materieller Gegenstände gibt, wird das, was Thomas für selbst-
verständlich hält, fragwürdig. Wenn ein Skeptiker gegen die thomasische
Theorie Einspruch erheben will, muss er daher primär den metaphysi-
schen Rahmen – nicht einzelne Elemente der Kognitionstheorie – infrage
stellen.34
Die bisherigen Analysen haben gezeigt, dass Thomas zwar eine Manipu-
lation der Sinnesvermögen einräumt und dadurch lokale Täuschungen für
möglich hält. Doch die Möglichkeit, dass ein Dämon in den menschlichen
Intellekt eingreifen und ihm direkt Gedanken eingeben könnte, denen keine
Gegenstände in der materiellen Welt entsprechen, schließt er kategorisch
aus. Dies liegt nicht nur daran, dass ein Dämon mangels eines Zugriffs auf
den Willen keinen aktuellen Denkakt hervorbringen kann. Der Grund
dafür liegt auch in einer Grundthese, die das Fundament für Thomas’ ge-
samte Kognitionstheorie bildet: Wenn der Intellekt tätig wird, gleicht er sich
an das zu Erkennende an und wird mit ihm identisch. Immer wieder betont
Thomas: „Jede Erkenntnis erfolgt durch eine Assimilation des Erkennen-
den an das Erkannte“35 und „Das aktuell Verstandene ist der Intellekt im
Akt“.36 Unter dem aktuell Erkannten oder Verstandenen ist hier nicht der
materielle Gegenstand zu verstehen, sondern die allgemeine Form (bzw. das
Wesen oder die Natur) des Gegenstandes. Genau diese Form nimmt der In-
tellekt auf und wird mit ihr identisch.
Es ist bezeichnend, dass Descartes in der Ersten Meditation genau diesen Ansatz wählt.
34
Er löst den metaphysischen Rahmen auf, indem er alle überlieferten Annahmen infrage stellt.
Wie Garber 1986 gezeigt hat, löst er damit auch die metaphysischen Grundlagen für die phy-
sikalische Erklärung der materiellen Welt auf: Er nimmt nicht mehr an, dass es Gegenstände
mit einer hylemorphistischen Struktur gibt und dass der menschliche Intellekt das Wesen die-
ser Gegenstände auch adäquat erfassen kann. Erst diese Einklammerung der metaphysischen
Annahmen ermöglicht einen radikalen Außenwelt-Skeptizismus.
35
De veritate, q. 8, art. 5, corp. (ed. Leonina XXII, Bd. 2, 235).
36
STh I, q. 14, art. 2, corp.; vgl. auch STh I, q. 85, art. 2, ad 1; Sentencia libri De anima III,
7 (ed. Leonina XLV/1, 236); Summa contra Gentiles II, cap. 60, n. 1383 (ed. Pera, 192).
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King 2007, 5: „Aquinas’s failure to say what intentional presence consists in makes repre-
40
sentationality into a mystery again, this time centered on the non-informing presence of the
form in the representer; it may well explain why Aquinas had few followers in philosophy of
psychology during the High Middle Ages.“
41
Putnam 1994, 71: „... but even if we could somehow make sense of the claim that objects
and events have intrinsic form, there still remains the question of the relation between that
form and the form of whatever it is that thinks about or represents the object. To say that the
relation is identity, whether ,identity‘ be taken literally or metaphorically, makes no sense.“
42
Vgl. Brower & Brower-Toland, Ms. Die Autoren räumen freilich ein, dass im Normalfall
Gedanken nur deshalb eine intrinsische Repräsentationsfunktion haben, weil sie auf der
Grundlage von Sinneseindrücken entstanden sind, die ihrerseits durch äußere Gegenstände
verursacht wurden. Sie weisen aber explizit darauf hin, dass auch ohne eine solche Kausalkette
eine intrinsische Repräsentationsfunktion möglich ist: „Nonetheless, Aquinas’s account, as
we interpret it, leaves open the possibility for a powerful being, such as God, to produce any
mental representation whatsoever in a subject immediately, and hence without the ordinary
causal processes.“
43
Ich habe in Perler 2002, 31–105, die Intentionalitätstheorie bereits eingehend untersucht,
allerdings ohne auf die Konsequenzen für die Skeptizismus-Problematik einzugehen.
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nach, ob die Aussage „Der Intellekt assimiliert sich an die Form eines
Gegenstandes und wird mit ihr identisch“ überhaupt verständlich und in
moderner Terminologie erklärbar ist. Um eine Antwort zu entwickeln,
empfiehlt es sich, die Aussage in den Kontext zu stellen, in dem Thomas sie
formuliert. Dieser Kontext ist durch zwei Annahmen bestimmt, die Thomas
von Aristoteles übernimmt: (i) Kognition ist ein Prozess der Veränderung,
bei dem ein Erkenntnisvermögen durch die Einwirkung eines Gegenstandes
aktualisiert wird. (ii) Der Prozess der Veränderung erfolgt mehrstufig; er
beginnt auf der Ebene der Sinne und setzt sich auf jener des Intellekts fort.
Ausgehend von diesen beiden Annahmen vertritt Thomas die These, dass
eine kognitive Assimilation nur erfolgen kann, wenn in einem ersten Schritt
die Sinne durch die Einwirkung eines wahrnehmbaren Gegenstandes ver-
ändert werden und dadurch die wahrnehmbaren Formen dieses Gegenstan-
des aufnehmen. Wenn ich etwa vor einem grünen Baum stehe, nehme ich
die Form des Grünseins auf – nicht weil meine Augen im wörtlichen Sinne
grün werden, sondern weil sie eine bestimmte Struktur aufnehmen, die im
Baum vorhanden ist. Thomas sagt daher, dass in den Augen nicht eine na-
türliche, sondern eine „intentionale Veränderung“ (immutatio intentionalis)
stattfindet.44 Dies ist nichts Mysteriöses, sondern ein Vorgang, für den die
Augen aufgrund ihrer physiologischen Beschaffenheit bestimmt sind. Mit
einem modernen Vergleich könnte man sagen: Genau wie ein Scanner so
konstruiert ist, dass er Texte reproduzieren kann, indem er durch einen be-
stimmten Mechanismus die Form- und Farbstruktur der Buchstaben in sich
aufnimmt, nehmen auch die Augen durch einen natürlichen Mechanismus
derartige Strukturen auf. Auf dieser Grundlage entsteht dann ein Vorstel-
lungsbild, das ebenfalls nichts Mysteriöses darstellt. Es ist, wie in § 12 be-
reits ausgeführt wurde, ein materielles Bild im Gehirn. Es bezieht sich zum
einen aufgrund einer Kausalrelation auf den äußeren Gegenstand. So ist
mein Vorstellungsbild nur deshalb ein Bild, das sich auf einen Baum – oder
genauer: auf diesen Baum vor mir – bezieht, weil ich von diesem konkreten
Baum sinnlich affiziert wurde. Zum anderen bezieht sich das Bild aber auch
aufgrund einer gewissen Isomorphie auf den äußeren Gegenstand. Durch
die „intentionale Veränderung“ sind nämlich genau jene Form- und Farb-
strukturen aufgenommen worden, die sich auch im Baum selbst befinden.
Daher lassen sich Strukturelemente des Bildes und des Baumes einander zu-
ordnen.
Auf der Grundlage des Vorstellungsbildes abstrahiert nun der Intellekt
eine Species, deren Inhalt nichts anderes ist als die allgemeine Form des
äußeren Gegenstandes. Für das Baum-Beispiel heißt dies: Der Inhalt der
44
Vgl. STh I, q. 78, art. 3, corp., ausführlich dazu Burnyeat 2001.
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Baum-Species ist nicht die konkrete Blatt-, Stamm- und Wurzelstruktur des
Baumes, der vor mir steht, sondern die Grundstruktur, die sich in jedem
Baum befindet. Genau diese Struktur erfasst der Intellekt, wenn er an einen
Baum denkt.45 Es ist hier entscheidend, genau zwischen der Species als
bloßem Hilfsmittel und dem Inhalt dieses Hilfsmittels zu unterscheiden.
Als Hilfsmittel betrachtet ist die Species ein bloßes Akzidens des Intellekts,
das zu einer bestimmten Zeit entsteht und abgespeichert wird. Der Inhalt
der Species hingegen ist nichts anderes als die allgemeine Form, die aus dem
Vorstellungsbild abstrahiert wird. Dabei handelt es sich um dieselbe Form,
die auch im äußeren Gegenstand existiert. Dies ist möglich, weil eine Form
(bzw. eine Natur oder ein Wesen) verschiedene Arten der Existenz haben
kann. Thomas betont:
„Die Natur selbst aber, der das Merkmal der Allgemeinheit zukommt, z.B. die
Natur des Menschen, hat ein zweifaches Sein: ein materielles, mit dem sie in der
natürlichen Materie ist; ein anderes, immaterielles aber, mit dem sie im Intellekt
ist.“46
Wenn ich an einen Menschen denke, erfasse ich somit dank des Inhalts der
Mensch-Species die allgemeine Form oder Natur des Menschen, und zwar
dieselbe Natur, die sich auch in allen menschlichen Individuen befindet.
Genau diese These mag allerdings den Vorwurf provozieren, Thomas’ Er-
klärungsansatz sei unverständlich. Was heißt es denn, dass dieselbe Form an
zwei Orten ist – im Intellekt und außerhalb des Intellekts? Und wie ist es
möglich, dass diese Form in den Intellekt gelangt? Ein Vergleich mit einem
modernen Beispiel mag hier wiederum Klarheit schaffen.
Stellen Sie sich vor, dass Sie soeben einen neuen Computer gekauft haben,
auf dem Sie verschiedene Programme – etwa Windows und ein E-mail Pro-
gramm – installieren. Dazu müssen Sie die Festplatte des Computers mit
diesen Programmen beschreiben bzw. konfigurieren, wie es in der Fach-
sprache heißt. Das heißt, dass Sie die Programme von einer CD oder aus
dem Internet herunterladen und auf der Festplatte abspeichern. Ist dieser
Vorgang einmal abgeschlossen, verfügen Sie auf Ihrem Computer genau
über die Programme, die auch auf der CD oder im Internet existieren. Sie
verfügen der Struktur nach sogar über dieselben Programme und können
Dies heißt allerdings nicht, dass er nur an die allgemeine Form des Baumes denkt. Da
45
immer auch das Vorstellungsbild verwendet wird, wie Thomas in STh I, q. 85, art. 1, betont,
werden gleichzeitig die allgemeine Form und die individuellen Merkmale erfasst.
46
Sentencia libri De anima II, 12 (ed. Leonina XLV/1, 116): „Ipsa autem natura cui aduenit
intentio uniuersalitatis, puta natura hominis, habet duplex esse: unum quidem materiale
secundum quod est in materia naturali; aliud autem inmateriale secundum quod est in intel-
lectu.“ Vgl. auch STh I, q. 84, art. 2, corp.: „Relinquitur ergo quod oportet materialia cognita
in cognoscente existere non materialiter, sed magis immaterialiter.“
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mit diesen nun arbeiten. Das Aufnehmen einer Form im Intellekt kann nun
in ähnlicher Weise als ein Konfigurationsprozess verstanden werden. Wer
etwa die Form eines Baumes erfasst, abstrahiert aus dem Vorstellungsbild
eine bestimmte Struktur und installiert diese gleichsam im Intellekt. Wie
man beim Computer zwischen dem Hilfsmittel (den elektromagnetischen
Beschreibungen der Festplatte) und dem Inhalt dieser Hilfsmittel (den
jeweiligen Programmen) unterscheiden muss, so gilt es auch beim Intellekt
zwischen dem kognitiven Hilfsmittel (der Species) und dessen Inhalt (der
jeweiligen Form) zu unterscheiden. Dies heißt freilich nicht, dass es sich
hier um zwei verschiedene Dinge handelt, denn der Inhalt ist nicht etwas,
was neben oder zusätzlich zur Species in den Intellekt aufgenommen wird.
Vielmehr gilt: Indem der Intellekt eine Species aufnimmt und wie eine Fest-
platte mit ihr „beschrieben“ wird, erhält er einen bestimmten Inhalt. Und
dieser Inhalt ist nichts anderes als die Form, die auch in einem äußeren Ge-
genstand existiert. Es handelt sich sogar um dieselbe Form bzw. um dieselbe
Programmstruktur, die nur in verschiedener Weise an zwei verschiedenen
Orten präsent ist.
Versteht man die Rede von der zweifachen Existenzweise einer Form auf
diese Weise, ist sie keineswegs obskur, sondern verständlich und in eine mo-
derne Sprache übersetzbar. Auch die These, dass eine Form aufgenommen
wird, erweist sich als nachvollziehbar. Damit ist nur gemeint, dass der Intel-
lekt durch eine Art Konfigurationsprozess eine Struktur aufnimmt. Je mehr
Formen aufgenommen werden, desto mehr wird der Intellekt konfiguriert.
Thomas bedient sich selber der berühmten aristotelischen Metapher von der
Wachstafel, um zu verdeutlichen, dass der Intellekt „beschrieben“ werden
kann.47 Wie bei jedem Vergleich gibt es freilich auch hier neben allen Ana-
logien einige Disanalogien. Die wichtigste besteht sicherlich darin, dass der
Intellekt – ganz im Gegensatz zum Computer – immateriell ist und dass
daher auch der Vorgang der Konfiguration als immaterieller Prozess zu ver-
stehen ist. Zudem ist zu beachten, dass der Intellekt – wiederum im Gegen-
satz zum Computer – aus einem aktiven und einem passiven Teil besteht.
Dem aktiven wird nichts eingeprägt, sondern er abstrahiert selber eine be-
stimmte Form aus einem Vorstellungsbild und prägt sie dann dem passiven
Intellekt ein. Eine Pointe der thomasischen Intellekttheorie besteht gerade
darin, dass der Intellekt als ein aktives Vermögen bestimmt wird, das zu
einer kognitiven Tätigkeit fähig ist.
Mithilfe dieses Erklärungsmodells lassen sich nun die scheinbar unver-
Freilich wird nur der passive Intellekt „beschrieben“. Für Thomas ist es entscheidend,
47
dass es immer auch einen aktiven Intellekt gibt, der die Formen aus den Vorstellungsbildern
abstrahiert und den passiven Intellekt damit „beschreibt“. Vgl. Sentencia libri De anima III, 4
(ed. Leonina XLV/1, 218–223).
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Freilich existiert dieselbe Form auf unterschiedliche Weise an beiden Orten: materiell
49
und immateriell. Darin liegt eine weitere Disanologie zum Computer. Denn wenn dieser Pro-
gramme aufnimmt, existieren diese sowohl auf der CD als auch im Computer auf materielle
Weise. Doch wie ist es möglich, dass eine Form oder ein Programm auf immaterielle Weise in
etwas existiert? Da Thomas die immaterielle Existenz als eine fundamentale Art der Existenz
betrachtet, die der materiellen Existenz sogar vorausgeht (alle Formen existieren ja primär
auf immaterielle Weise im göttlichen Geist), geht er nicht auf diese Frage ein. Man könnte
indessen die immaterielle Existenz als jene Existenzform verstehen, bei der es nur um die
formale Zuordnung bestimmter Elemente geht. Genau wie es bspw. bei einer mathematischen
Abbildung nicht um die materielle Wiedergabe geht, sondern nur um die eindeutige Zuord-
nung bestimmter Elemente, so geht es auch bei der immateriellen Existenz im Intellekt nur
um so etwas wie ein formales Muster, in dem die gegenseitige Relation sämtlicher Elemente
eindeutig festgehalten wird.
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stände verantwortlich sind. Wer als Nominalist These (2) zurückweist und
darauf insistiert, dass es höchstens individuelle Formen gibt, kann ebenfalls
einwenden, dass die Identitätstheorie keinen Sinn ergibt. Denn nur wenn
zugestanden wird, dass ein und dieselbe Form mehrfach instantiiert sein
kann, ist es sinnvoll, von derselben Form an verschiedenen Orten zu spre-
chen. Schließlich könnte ein radikaler Dualist auch These (3) zurückweisen
und den Einwand erheben, dass der Bereich der materiellen Gegenstände
mit demjenigen des immateriellen Intellekts völlig inkompatibel ist. Formen
können nicht in beiden Bereichen vorkommen, schon gar nicht mit unter-
schiedlicher Existenzweise.
Nur wenn alle drei Thesen zugestanden werden, ist es möglich, von der-
selben Form zu sprechen, die sowohl in materiellen Gegenständen als auch
im immateriellen Intellekt (oder sogar in zahlreichen Intellekten) existiert.
Erst im Rahmen des von Thomas vertretenen metaphysischen Realismus
wird die Identitätstheorie überhaupt formulierbar. Eine Kritik dieses Realis-
mus hat natürlich eine Kritik an der Identitätstheorie zur Folge, wie bereits
die spätmittelalterlichen Reaktionen auf die thomasische Kognitionstheo-
rie zeigen. Wenn etwa Ockham und seine Nachfolger die Rede von einer
formalen Identität ablehnen, dann vor allem, weil sie die metaphysischen
Grundlagen nicht akzeptieren. Ockham weist als Nominalist These (2)
kategorisch zurück. Und wenn frühneuzeitliche Autoren – etwa Descartes
und Locke – die Identitätstheorie zurückweisen, so richtet sich ihre Kritik
ebenfalls in erster Linie gegen die zugrunde liegenden metaphysischen The-
sen. Als Anti-Aristoteliker wenden sie sich vor allem gegen These (1), als
Nominalisten auch gegen (2). Wenn schließlich heutige Autoren, etwa H.
Putnam, dieser Theorie nicht zustimmen, so liegt auch bei ihnen der Haupt-
grund in der Ablehnung der metaphysischen Voraussetzungen. Für Putnam
ergibt weder die Annahme, jeder Gegenstand habe eine bestimmte Form,
noch die weitere Annahme, diese Form könne unterschiedliche Existenz-
weisen aufweisen, einen Sinn; daher lehnt er (1) und (3) entschieden ab.50
Es ist indessen entscheidend, die Ablehnung einer Theorie vom Vorwurf
der Unverständlichkeit oder Sinnlosigkeit zu unterscheiden. Man kann die
Identitätstheorie aufgrund einer Kritik an den zugrunde liegenden meta-
physischen Thesen durchaus ablehnen, muss sie daher aber noch lange nicht
ins Reich des Unverständlichen oder gar des Mysteriösen verbannen.
Wenn nun die erste Ausgangsfrage, die sich auf die Verständlichkeit
der Identitätstheorie bezieht, geklärt ist, stellt sich immer noch die zweite
Frage. Ist diese Theorie eine Art antiskeptische Wunderwaffe? Oder schafft
sie im Gegenteil die Voraussetzung für skeptische Szenarien? Um diese
50
Vgl. Putnam 1994, 71 und 74.
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ist, sondern eine Substanz mit einer anderen chemischen Struktur, die der
Einfachheit halber XYZ heißen soll. Wenn nun der Zwillingsbruder an
diese durstlöschende Flüssigkeit denkt, befindet er sich im genau gleichen
Hirnzustand wie ich. Und wenn wir ihm wie Thomas zudem einen immate-
riellen Intellekt zusprechen, der ausgehend von Vorstellungsbildern Species
bildet, können wir sogar sagen, dass er genau wie ich über eine Species
für die durstlöschende Flüssigkeit verfügt. Doch was ist der Inhalt dieser
Species? Da Thomas den Inhalt mit Bezug auf die Form des äußeren Gegen-
standes erklärt, von dem die Species gewonnen wurde, muss die Antwort
lauten: Der Inhalt ist XYZ, weil es auf der Zwillingserde nur die Flüssigkeit
mit dieser Form bzw. chemischen Struktur gibt. Denke ich hingegen an die
durstlöschende Flüssigkeit, die ich trinke, ist der Inhalt meiner Species H 2O,
ganz einfach weil es auf der Erde nur die Flüssigkeit mit einer solchen Form
bzw. chemischen Struktur gibt. Der Inhalt der Species und damit auch der
Inhalt eines Denkaktes wird durch die Form des jeweiligen Gegenstandes
bestimmt, auf dem die Species beruht. Um Putnams berühmten Leitspruch
in leicht abgewandelter Weise zu verwenden, könnte man sagen: „Bedeu-
tungen sind nicht im Intellekt“,53 d.h. die Inhalte von Species sind nicht in-
nere Entitäten, die unabhängig von einer Relation zu äußeren Gegenständen
existieren. Wenn sich die äußeren Gegenstände verändern, verändern sich
auch die Inhalte der Species.54
Dies hat nun eine Konsequenz für das Skeptizismus-Problem. Wenn
der Inhalt einer Species durch einen äußeren Gegenstand festgelegt wird,
kann es gar keine Species geben, ohne dass auch ein äußerer Gegenstand
existiert oder zumindest existiert hat. Das heißt, dass ich gar nicht eine
Species mit dem Inhalt H 2O haben kann, ohne dass es tatsächlich H2O
in meiner Umgebung gibt, genauso wenig wie mein Zwillingsbruder eine
Species mit dem Inhalt XYZ haben kann, ohne dass es in seiner Umgebung
XYZ gibt. Natürlich kann ich darüber hinaus Species für nicht-existierende
Gegenstände bilden, etwa für Chimären und goldene Berge. Aber der Inhalt
dieser Species setzt sich aus mehreren Formen zusammen, die ebenfalls
in der materiellen Welt existieren müssen oder zumindest existiert haben
müssen. Gäbe es kein Gold und keine Berge, hätte ich nie die Formen dieser
Gegenstände aufnehmen und miteinander verbinden können. Folglich wäre
Freilich können sich die äußeren Gegenstände nicht beliebig verändern. Die Ideen im
54
göttlichen Geist legen ja fest, welche Gegenstände es überhaupt geben kann. Daher gibt es
gemäß Thomas’ Externalismus (natürlich im Gegensatz zu jenem Putnams) streng genommen
zwei externe Instanzen, die für die Festlegung einer Bedeutung verantwortlich sind: (a) die
göttlichen Ideen, die die Menge aller möglichen Gegenstände festlegen, und (b) die innerhalb
dieser Menge aktuell realisierten Gegenstände, deren Form in den Intellekt aufgenommen
wird und den Inhalt einer Species festlegt.
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ich auch nicht in der Lage gewesen, die Species von einem goldenen Berg zu
bilden. Auch im Falle der Species, für die es keine unmittelbare Fundierung
in der materiellen Welt gibt, muss also zumindest eine mittelbare Fundie-
rung vorliegen.
Dass Thomas die Festlegung des Inhalts der Species mit Rekurs auf
äußere Gegenstände erklärt und damit von vornherein die Relation zu einer
Außenwelt als notwendige Bedingung für die Entstehung der Species be-
trachtet, zeigt sich nicht nur in seiner wiederholt geäußerten These, dass
Species immer auf Vorstellungsbildern beruhen, die wiederum von äußeren
Gegenständen stammen. Dies manifestiert sich auch in seiner Ablehnung
der Annahme, der Intellekt könne aus sich selbst heraus Species bilden und
alles erkennen. Hinter dieser Annahme verbirgt sich ein internalistisches
Modell, dem zufolge Species unabhängig von einer Relation zu äußeren Ge-
genständen hervorgebracht werden können und „an sich“ einen bestimmten
Inhalt haben. Thomas wendet dagegen ein, es sei gar nicht vorstellbar, wie
der Intellekt aus sich selbst heraus sämtliche Species bilden könnte; dazu
müsste er ja die Formen sämtlicher Gegenstände bereits in sich haben. Dies
sei nur Gott möglich, der von Anfang an die Formen aller Dinge in sich
vereine. Wir Menschen hingegen seien darauf angewiesen, die Species nach
und nach zu erwerben, indem wir die Formen der materiellen Gegenstände
aufnehmen. Diese Überlegung führt Thomas zu folgendem Schluss:
„Es verbleibt also, dass die materiellen Dinge, die erkannt werden, im Erkennenden
sind – nicht auf materielle, sondern vielmehr auf immaterielle Weise. Der Grund
dafür ist, dass der Erkenntnisakt sich auf das bezieht, was außerhalb des Erkennen-
den ist; wir erkennen nämlich auch das, was außerhalb von uns ist.“55
Bemerkenswert ist hier nicht nur, dass Thomas wiederum auf die zweifache
Existenzweise eines Gegenstandes bzw. dessen Form verweist. Mindestens
so bemerkenswert ist auch die Begründung, die er für diese These gibt. Weil
wir uns auf etwas beziehen, was außerhalb unseres Intellekts existiert, müs-
sen wir die Form dieses äußeren Gegenstandes in uns aufnehmen. Erkennt-
nis besteht nicht in einer Kontemplation innerer Objekte, die der Intellekt
aus sich selber hervorbringt oder die Gott auf wundersame Weise in den
Intellekt gelegt hat. Erkenntnis kommt (abgesehen vom Fall der Selbst-
erkenntnis) nur dadurch zustande, dass der Intellekt etwas erfasst, was au-
ßerhalb von ihm existiert.56 Weil ein äußerer Gegenstand aber nicht direkt
STh I, q. 84, art. 2: „Relinquitur ergo quod oportet materialia cognita in cognoscente
55
existere non materialiter, sed magis immaterialiter. Et huius ratio est, quia actus cognitionis
se extendit ad ea quae sunt extra cognoscentem: cognoscimus enim etiam ea quae extra nos
sunt.“
56
Selbst für die Selbsterkenntnis gilt, dass es sich dabei zwar um einen höherstufigen Akt
handelt, der sich primär auf einen eigenen intellektuellen Akt bezieht. Aber es muss einen Akt
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„einverleibt“ werden kann, muss der Intellekt dessen Form auf immaterielle
Weise in sich aufnehmen.
Thomas’ Pointe besteht freilich nicht einfach darin, dass er auf das
Aufnehmen der Form verweist, um die Möglichkeit von Erkenntnis zu er-
klären. Dies wäre an sich noch keine überzeugende antiskeptische Strategie.
Ein Skeptiker könnte nämlich sogleich einwenden, dass es uns vielleicht gar
nicht gelingt, Erkenntnis zu gewinnen, weil wir nicht imstande sind, eine
oder mehrere Formen aufzunehmen. Könnte es nicht sein, dass wir Formen
einfach erfinden? Und könnte es somit nicht sein, dass wir über zahlreiche
Species und damit auch über Erkenntnisakte mit einem wohldefinierten In-
halt verfügen, ohne dass es entsprechende äußere Gegenstände gibt? Genau
diesem möglichen skeptischen Einwand schiebt Thomas einen Riegel vor,
indem er darauf hinweist, dass wir Formen gar nicht aus uns selber schöpfen
können. Dies würde nämlich bedeuten, dass wir wie Gott alle Formen be-
reits in uns haben müssten. Wir müssten von Anfang an allwissend sein. Da
wir aber nicht allwissend sind (dies zeigt schon die simple Tatsache, dass
wir den Bestand unserer Species permanent erweitern), müssen wir Formen
erwerben. Und dies ist nur möglich, wenn es tatsächlich materielle Gegen-
stände gibt, deren Formen wir auf immaterielle Weise aufnehmen können.
Oder verkürzt ausgedrückt: Es muss äußere Gegenstände geben, damit wir
zum Erwerb von Formen und damit auch zum Erwerb von Species mit
einem wohldefinierten Inhalt fähig sind.
Versteht man Thomas’ Strategie auf diese Weise, findet man in ihr ein
transzendentales Argument gegen den Skeptiker: Die Bedingung der Mög-
lichkeit dafür, Species mit einem wohldefinierten Inhalt zu erwerben, ist
die Existenz einer Außenwelt. Gäbe es diese Welt nicht, könnten die Species
gar keinen Inhalt haben. Diese Strategie schließt natürlich nicht aus, dass es
im Einzelfall zu Irrtümern und Täuschungen kommen kann. So ist es gut
möglich, dass ich eine Species von einem goldenen Berg bilde, auf Anhieb
aber nicht merke, dass es sich um eine zusammengesetzte Species handelt,
und fälschlicherweise annehme, der Inhalt sei direkt durch einen äußeren
Gegenstand festgelegt worden. Doch ein Irrtum dieser Art lässt sich leicht
korrigieren. Ich muss einfach den Inhalt der Species prüfen. Wenn ich dann
feststelle, dass er widersprüchliche definitorische Merkmale enthält (von
einer Gesteinsformation, die nicht vollständig aus Gold bestehen kann,
wird behauptet, sie bestehe aus Gold), kann ich sogleich sagen, dass es sich
höchstens um eine zusammengesetzte Species handelt. Damit kann ich
erster Stufe geben, dessen Inhalt wiederum durch einen äußeren Gegenstand festgelegt ist,
damit überhaupt ein höherstufiger Akt vollzogen werden kann. Somit ist selbst im Fall der
Selbsterkenntnis die Relation zu einem äußeren Gegenstand eine notwendige Voraussetzung.
Vgl. STh I, q. 87, art. 1, sowie eine ausführliche Analyse in Putallaz 1991, 148–208.
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auch einsehen, dass diese Species nur indirekt auf äußeren Gegenständen
beruht.
Ein Irrtum ist auch hinsichtlich der Existenz eines äußeren Gegen-
standes möglich. Wenn ich etwa über eine Baum-Species verfüge, kann ich
fälschlicherweise glauben, vor mir stehe ein Baum, obwohl ich nur eine
Halluzination von einem Baum habe. Doch dieser Irrtum lässt sich ebenfalls
korrigieren. Existenzurteile beziehen sich nämlich immer auf individuelle
Gegenstände, und zur Bezugnahme auf Individuelles ist ein Vorstellungs-
bild erforderlich, wie Thomas betont.57 Das jeweilige Vorstellungsbild
kann jedoch überprüft werden. So kann ich mich fragen: Liegen korrekte
Wahrnehmungsbedingungen vor, die dazu geführt haben, dass ich jetzt von
einem präsenten Baum ein Vorstellungsbild habe? Oder bestehen besondere
Bedingungen (z.B. eine Krankheit, die Fieberträume und Halluzinationen
zur Folge hat), die zur Produktion eines Vorstellungsbildes führen, das
nicht auf etwas unmittelbar Präsentem beruht?
Diese Beispiele verdeutlichen, dass man sorgfältig zwei Probleme un-
terscheiden muss, wenn man Thomas’ Umgang mit der Skeptizismus-Pro-
blematik untersucht:
(1) Allgemeines skeptisches Problem: Kann ich aufgrund der Tatsache, dass
ich mithilfe von Species an Gegenstände denke, sicher sein, dass es tat-
sächlich Gegenstände in einer materiellen Welt gibt?
(2) Spezielles skeptisches Problem: Kann ich aufgrund der Tatsache, dass ich
mithilfe einer Species und eines Vorstellungsbildes an einen bestimmten
Gegenstand denke, sicher sein, dass es diesen Gegenstand in einer mate-
riellen Welt gibt?
Frage (1) beantwortet Thomas aufgrund seines externalistischen Ansatzes
eindeutig bejahend. Es könnte gar keine Species mit einem wohldefinier-
ten Inhalt geben, wenn es keine äußeren Gegenstände gäbe. Auf Frage (2)
hingegen ist aus Thomas’ Sicht keine eindeutig positive Antwort möglich.
Die bloße Präsenz einer Species garantiert nicht die Existenz eines be-
stimmten Gegenstandes. Da Bezugnahme auf Individuelles nur mit einem
Vorstellungsbild möglich ist, muss geprüft werden, welches Vorstellungs-
bild vorliegt, unter welchen Bedingungen dieses Vorstellungsbild erworben
wurde und unter welchen Bedingungen es aktuell verwendet wird. Nicht
nur die Fälle von Halluzinationen und Sinnestäuschungen, sondern auch
die in § 12 diskutierten Fälle dämonischer Manipulation zeigen, dass ein
Vorstellungsbild durchaus etwas darstellen kann, was nicht aktuell präsent
ist oder überhaupt nicht existiert. Thomas bietet somit keine Wunderwaffe
58
Vgl. Pasnau 1997, 298.
59
Vgl. Wilson 1978, 17–31.
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60
Vgl. Pasnau 1997, 301.
61
Natürlich könnte ein Skeptiker auch die Existenz von Species bestreiten, wie dies Peter
Johannis Olivi, Wilhelm von Ockham und andere mittelalterliche Autoren (vgl. Spruit
1994) – freilich ohne skeptische Absicht – getan haben. Aber auch er müsste zugestehen, dass
es zumindest Denkakte gibt, die einen wohldefinierten Inhalt haben. Wenn er sich nicht auf
die dogmatische Annahme festlegen will, dass Denkakte „an sich“ einen Inhalt haben, muss
er eine relationale Erklärung geben.
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Annahmen absieht und sich nur auf das zurückzieht, was unbezweifelbar ist.
Sein Ausgangspunkt ist vielmehr eine metaphysische Erklärung der Struk-
tur sämtlicher Gegenstände, einschließlich der materiellen Gegenstände.
Zur Erklärung dieser Struktur bedient er sich des Hylemorphismus und
eines Universalienrealismus, der die mehrfache Instantiierung von Formen
postuliert. Nachdem er diese metaphysischen Annahmen bereits getroffen
hat, wendet er sich der Frage zu, wie ein menschlicher Intellekt einen Zugang
zu äußeren Gegenständen haben kann. Wie sich gezeigt hat, beantwortet
er diese Frage, indem er sich auf die These von der mehrfachen Existenz-
weise der Formen beruft. Er situiert somit seine Identitätstheorie innerhalb
eines metaphysischen Rahmens. Natürlich kann nun ein Skeptiker diesen
Rahmen anzweifeln und die Frage aufwerfen, wie sicher Thomas denn sein
kann, dass es Gegenstände mit einer hylemorphistischen Struktur gibt und
dass die jeweilige Form dieser Gegenstände eine mehrfache Existenzweise
haben kann. Doch wenn der Skeptiker so argumentiert, wechselt er die Ar-
gumentationsebene. Er fragt dann nicht mehr nach der Überzeugungskraft
der Identitätstheorie, sondern nach der Plausibilität der metaphysischen
Voraussetzungen. Wenn es um die Beantwortung dieser Grundfrage geht,
kann Thomas den Ball wieder dem Skeptiker zuwerfen. Denn wie lässt
sich überhaupt sinnvoll von Gegenständen mit einer bestimmten Struktur
sprechen, wenn nicht die Existenz von Formen angenommen wird? Sobald
der Skeptiker fragt, wie eine Relation zu äußeren Gegenständen möglich ist,
muss auch er wohl oder übel über einen Begriff von Gegenständen verfügen.
Und wenn er von konkreten, voneinander unterscheidbaren Gegenständen
spricht, muss auch er ihnen eine minimale Struktur oder Form zuschreiben.
Kurzum, auch der Skeptiker muss über einen metaphysischen Begriff von
einem Gegenstand verfügen, um seine skeptische Grundfrage überhaupt
formulieren zu können. Daher muss sich der Skeptiker genauso wie Thomas
als Antiskeptiker auf eine metaphysische Grundlagendebatte einlassen.
Betrachtet man Thomas’ Argumentationsstrategie auf diese Weise, lässt
sich kaum sagen, dass er sich mit Verweis auf metaphysische Annahmen
einer petitio principii schuldig macht, während der Skeptiker metaphysisch
vollkommen „wertfrei“ argumentiert. Die Auseinandersetzung zwischen
den beiden erweist sich vielmehr als ein dialektisches Spiel. Beide müssen
über minimale metaphysische Annahmen verfügen, um überhaupt von
Gegenständen sprechen zu können, und beide müssen ihre Annahmen offen
legen.
Schließlich ist ein drittes Argument gegen Thomas’ antiskeptische Stra-
tegie vorgebracht worden. J. E. Brower und S. Brower-Toland haben die An-
sicht vertreten, Species seien intrinsisch intentional und hätten intrinsisch
einen Inhalt. Dass keine Relation zu äußeren Gegenständen erforderlich sei,
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zeige sich schon darin, dass Thomas zugestehe, nach dem Tod könne Gott
jede einzelne Species mit einem bestimmten Inhalt hervorbringen. Daher
vertrete Thomas keinen Externalismus, sondern im Gegenteil einen „ato-
mistischen Internalismus“.62
In der Tat räumt Thomas ein, dass der menschliche Intellekt, der vom
Körper abgetrennt ist (d.h. nach dem Tod und vor der Auferstehung), von
Gott Species erhalten kann.63 Allerdings trifft er diese Aussage mit mehreren
Einschränkungen. Eine erste, ganz entscheidende Einschränkung betrifft
die Unterscheidung verschiedener Zustände des Intellekts. Wenn er sich im
natürlichen Zustand befindet, so betont Thomas, muss er die Species auf der
Grundlage von Vorstellungsbildern gewinnen, und diese Vorstellungsbilder
können gar nicht ohne Relation zu äußeren Gegenständen gewonnen werden.
Zudem muss der Intellekt immer wieder die Vorstellungsbilder verwenden,
wenn er einen Zugang zu individuellen Gegenständen haben will. Die Ab-
trennung des Intellekts vom Körper und damit auch von der kausalen Kette,
die zu den äußeren Gegenständen führt, stellt eine Ausnahmesituation dar,
die nicht dem natürlichen Zustand entspricht, ja sogar „außerhalb der Natur“
(praeter naturam) angesiedelt ist, wie Thomas ausdrücklich sagt:
„Daher ist das Verstehen durch eine Hinwendung zu den Vorstellungsbildern
natürlich für die Seele, wie dies auch die Vereinigung mit dem Körper ist. Vom
Körper getrennt zu sein liegt aber außerhalb des Begriffs ihrer Natur, und ähnlich
ist Verstehen ohne Hinwendung zu den Vorstellungsbildern für sie außerhalb der
Natur.“64
62
Vgl. Brower & Brower-Toland, Ms., 48.
63
Vgl. STh I, q. 89, art. 1, ad 3.
64
STh I, q. 89, art. 1, corp.: „Unde modus intelligendi per conversionem ad phantasmata
est animae naturalis, sicut et corpori uniri: sed esse separatum a corpore est praeter rationem
suae naturae, et similiter intelligere sine conversione ad phantasmata est ei praeter naturam.“
§ 14 Die Traumhypothese
Die skeptische Gefahr, die Thomas von Aquin mit seiner Species-Theorie
zu bannen versuchte, verschwand dadurch nicht vollständig aus den phi-
losophischen Debatten. Im Gegenteil: Gerade der Versuch, die Genese der
Species mit Verweis auf Vorstellungsbilder zu erklären, die durch mate-
rielle Dinge verursacht werden, provozierte skeptische Fragen. Besonders
deutlich zeigt sich dies in einer 1272 verfassten Quaestio, die Thomas’
STh I, q. 89, art. 3, corp.: „... anima separata per huiusmodi species non accipit perfectam
65
Zeitgenosse Siger von Brabant diskutiert.66 Er erörtert die These, dass wir
nicht die Dinge in der materiellen Welt erfassen, sondern nur Erschei-
nungen oder Vorstellungsbilder, und dass diese Bilder „wie Träume sind,
sodass wir uns der Existenz keiner Sache gewiss sind.“67 Freilich stimmt
Siger dieser These nicht zu. Er führt sie aus dialektischen Gründen ein,
um zu verdeutlichen, an welchen Punkten der Skeptiker Wissensansprü-
che angreifen kann und wie dieser Angriff pariert werden kann.68 Doch
gerade weil die These im dialektischen Spiel eingeführt wird, verdient sie
Beachtung. Sie verdeutlicht nämlich, welche Annahmen, die Thomas in
seiner antiskeptischen Argumentation als selbstverständlich voraussetzt,
angefochten werden können.
Die These, die Siger zur Diskussion stellt, ist aus mindestens zwei Grün-
den bemerkenswert. Erstens fällt auf, dass sie nicht einfach annimmt, die
Vorstellungsbilder könnten nur dadurch entstehen, dass eine Kausalrelation
zu materiellen Gegenständen besteht. Ob tatsächlich eine solche Relation
vorliegt, wissen wir nicht. Wir können ja nur die Bilder selbst und ihren
jeweiligen Inhalt erfassen, nicht aber die Relation, die sie angeblich mit
materiellen Gegenständen verbindet. Der Inhalt der Vorstellungsbilder
kann aber auf mannigfache Weise entstanden sein – durch Traumaktivitäten
ebenso wie durch einen Kontakt zur realen Welt. Damit wird genau jene
Annahme infrage gestellt, auf der Thomas’ antiskeptische Strategie beruht,
nämlich dass die Relation zu materiellen Dingen eine notwendige Bedin-
gung dafür ist, dass die Vorstellungsbilder (und damit auch die von ihnen
abstrahierten Species) einen wohldefinierten Inhalt haben können.
Zweitens ist bemerkenswert, dass es sich um eine umfassende skeptische
These handelt. Es wird nicht einfach behauptet, dass wir in einigen Fällen
bloß über Vorstellungsbilder verfügen, die in keiner Kausalrelation zu
materiellen Dingen stehen. Diese moderate These würde auch Thomas zu-
gestehen; er weist ja explizit darauf hin, dass einige Vorstellungsbilder von
Dämonen verursacht werden. Hier wird jedoch behauptet, dass wir in allen
Fällen bloß über Vorstellungsbilder verfügen, die nicht von wirklichen Din-
gen verursacht wurden, sodass alle Vorstellungsbilder nur Traumbilder sind
und wir, wie Siger explizit festhält, uns der Existenz keiner Sache gewiss
sind. Die These zielt somit auf einen umfassenden Außenwelt-Skeptizismus
ab und lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
66
Diese Quaestio ist Bestandteil der Impossibilia. Vgl. zur Datierung Van Steenbergen
1977, 218.
67
Impossibilia II (ed. Bazán 1974, 73): „Proponebat secundo quod omnia quae nobis appa-
rent sunt simulacra et sicut somnia, ita quod non simus certi de existentia alicuius rei.“
68
Es wäre daher irreführend, Siger als Skeptiker zu bezeichnen, wie Dodd 1998, 91–92, in
seiner Kritik älterer Interpretationen zu Recht betont.
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(T) Es könnte sein, dass alle Vorstellungsbilder nur Traumbilder sind. Das
Erfassen von Vorstellungsbildern ermöglicht uns keinen sicheren episte-
mischen Zugang zu einer materiellen Außenwelt.
Was spricht für diese radikale These? Siger führt insgesamt drei Argumente
an. Das erste Argument lautet: 69 Man darf keiner Vorstellung vertrauen, die
nicht von einem höheren Erkenntnisvermögen geprüft wird. Das einzige
höhere Vermögen, das die sinnlichen Vorstellungsbilder prüfen könnte, ist
der Intellekt. Doch der Intellekt ist in seiner Tätigkeit immer von den zu-
grunde liegenden Sinnen abhängig. Daher gibt es keine neutrale Prüfinstanz
und wir können nie feststellen, ob die Vorstellungsbilder auch wirklich von
materiellen Gegenständen verursacht wurden und diese darstellen. Wir sind
gleichsam in der Welt der Vorstellungsbilder gefangen.
Dieses Argument beruht auf zwei Annahmen, die nicht weiter begrün-
det werden. Zunächst wird stillschweigend vorausgesetzt, dass immer eine
Prüfung der Vorstellungsbilder erforderlich ist; Vorstellungsbilder sind
nicht an sich zuverlässig und glaubwürdig.70 Diese Annahme ist keines-
wegs so selbstverständlich, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Man
könnte auch argumentieren, dass Vorstellungsbilder (oder zumindest eine
Teilmenge derartiger Bilder) sich durch ein inneres Merkmal auszeichnen,
das sie vertrauenswürdig macht. Bereits die Stoiker vertraten ja die These, es
gebe sog. „kataleptische Eindrücke“, die an sich klar und deutlich sind und
eine Zustimmung gleichsam erzwingen, ohne dass sie einem Prüfungsver-
fahren unterzogen werden.71 Eine solche These wird hier nicht in Betracht
gezogen, wahrscheinlich weil die Beispiele von Sinnestäuschungen den Aus-
gangspunkt für die ganze skeptische Überlegung bilden. Wer etwa einen
Holzstab betrachtet, der vor ihm liegt, und mal die Vorstellung von einem
geraden Stab gewinnt (nämlich wenn der Stab auf dem Boden liegt), mal die
Vorstellung von einem gebrochenen Stab (wenn er im Wasser liegt), hat Vor-
stellungen, die sich in gleicher Weise präsentieren. Es gibt hier kein inneres
Merkmal, das erlauben würde, die erste der zweiten vorzuziehen und als
vertrauenswürdig einzustufen. Es liegt nicht einmal ein Merkmal vor, das
anzeigen würde, dass die Vorstellungen tatsächlich von einem Holzstab ver-
ursacht wurden und nicht einfach im Traum entstanden sind. Daher ist ein
Prüfverfahren erforderlich, und zwar ein Verfahren, das von einem höheren
Vermögen angestellt wird.
Ein derartiges Verfahren ist aber unmöglich, weil hier noch eine zweite
Vgl. Impossibilia II (ed. Bazán 1974, 73–74).
69
Grellard 2004, 117, spricht treffend von einem „principe de confirmation“, das voraus-
70
gesetzt wird.
71
Dass es solche Eindrücke gibt, war freilich bereits unter den antiken Skeptikern strittig;
vgl. Sextus Empiricus, PH II, 4–5.
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72
Vgl. Impossibilia II (ed. Bazán 1974, 74).
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werden, welche Vorstellung jemand gerade hat. Es kann aber nicht beurteilt
werden, wie der durch die Vorstellung präsentierte Gegenstand tatsächlich
ist, ja es kann nicht einmal beurteilt werden, ob die Vorstellung einen wirk-
lich existierenden Gegenstand präsentiert. Auch dieses Argument beruht
auf der Annahme, dass es kein inneres Merkmal gibt, das es ermöglicht, eine
Vorstellung einer anderen vorzuziehen. Alle Vorstellungen, so wird unter-
stellt, sind gleichwertig und müssen daher auch in gleicher Weise berück-
sichtigt werden. Dies ist von Bedeutung, weil dadurch nicht nur die Vorstel-
lungen, die auf Sinnestäuschungen beruhen, den veridischen Vorstellungen
gleichgestellt werden. Auch Vorstellungen, die überhaupt keine Verankerung
in der materiellen Welt haben, müssen den auf natürliche Weise erworbenen
Vorstellungen gleichgestellt werden. Konkret heißt dies: Wenn eine Person
eine Vorstellung von einem Pferd hat, das durch die Luft fliegt, und eine
andere Person eine Vorstellung von einem galoppierenden Pferd, müssen
beide Vorstellungen einander gleichgestellt werden. Man darf nicht darauf
verweisen, dass die erste Person doch nur träumt oder eine Halluzination
hat. Aus dem bloßen Inhalt der Vorstellung geht nämlich nicht hervor, wie
sie erworben worden ist. Daher darf bei keiner Vorstellung angenommen
werden, dass sie durch einen wirklich existierenden Gegenstand verursacht
worden ist und diesen präsentiert. Und das heißt natürlich: Bei keiner Vor-
stellung darf ein Außenwelt-Bezug vorausgesetzt werden.
Schließlich führt Siger noch ein drittes Argument an, das die skeptische
These stützt.73 Er weist darauf hin, dass es keinen Grund gibt, dem Wa-
chenden mehr zu glauben als dem Schlafenden, dem Gesunden mehr als
dem Kranken, dem Wissenden mehr als dem Unwissenden. Damit macht er
nochmals auf das Kriterienproblem aufmerksam, diesmal freilich mit Bezug
auf den Gesamtzustand einer Person. Da es kein inneres Kriterium gibt, das
die Vorstellungen eines Wachenden gegenüber denjenigen eines Schlafenden
auszeichnet, kann nur berichtet werden, welche Vorstellungen diese oder
jene Person hat. Doch man kann nie eine Vorstellung einer anderen vor-
ziehen oder gar mit Sicherheit wissen, dass eine Vorstellung einen Gegen-
stand so präsentiert, wie er wirklich ist.
Dieses Argument scheint auf den ersten Blick leicht anfechtbar zu sein.
Es mag wohl sein, so könnte man einwenden, dass eine wache Person ihre
Vorstellungen nicht denjenigen einer schlafenden vorziehen kann oder dass
ein und dieselbe Person die Vorstellungen, die sie im Wachzustand hat, nicht
denjenigen vorziehen kann, die sie im Schlafzustand hat. Dies ist aber nicht
weiter schlimm, da die jeweiligen Vorstellungen von einem neutralen Stand-
punkt aus evaluiert werden können. So kann etwa eine andere Person mich
73
Vgl. Impossibilia II (ed. Bazán 1974, 74).
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beobachten und feststellen, wann ich schlafe und wann ich wach bin; sobald
ich mich an diese Person wende, kann ich beurteilen, welche Vorstellungen
ich wählen muss. Somit gibt es vielleicht kein inneres Kriterium (die Vor-
stellung selbst enthüllt nicht, ob sie im Wach- oder Schlafzustand präsent
ist), sehr wohl aber ein äußeres.
Dieser Einwand erweist sich bei näherer Betrachtung aber als unzuläng-
lich. Denn wie lässt sich mit Sicherheit ein neutraler Standpunkt bestimmen,
von dem aus der jeweilige Zustand evaluiert werden kann? Es könnte doch
sein, dass ich mich genau dann, wenn ich mich an eine angeblich unabhän-
gige Person wende, im Schlaf befinde. Vielleicht träume ich nur, dass es eine
neutrale Instanz gibt. Das Kriterienproblem wird somit nur verschoben und
nicht gelöst. Für jeden angeblich neutralen Standpunkt, von dem aus ein
Urteil über den jeweiligen Zustand gefällt wird, kann wieder gefragt wer-
den, nach welchem Kriterium er als tatsächlich neutraler und zuverlässiger
Standpunkt bestimmt wird. Damit bleibt natürlich das grundsätzliche Pro-
blem bestehen, das im dritten Argument aufgeworfen wird: Es gibt keinen
neutralen Standpunkt, von dem aus Wach- und Schlafzustand voneinander
unterschieden werden und der eine dem anderen vorgezogen werden kann.
Die drei Argumente verdeutlichen, dass die skeptische These nicht leicht
zurückgewiesen werden kann, zumindest dann nicht, wenn man die drei
Voraussetzungen akzeptiert, auf denen die These aufbaut: (i) die Annahme,
dass alle Vorstellungen geprüft werden müssen, (ii) das empiristische Prin-
zip und (iii) die Unmöglichkeit eines neutralen Kriteriums. Man könnte nun
versuchen, die These dadurch zu erschüttern, dass man diese Annahmen
infrage stellt und dadurch zeigt, dass die skeptische These ihrerseits Ein-
wänden ausgesetzt ist. Doch Siger von Brabant wählt nicht diesen Weg. Er
akzeptiert die drei Annahmen und weist die skeptische These trotzdem zu-
rück. Dazu beruft er sich auf folgendes Prinzip:
„Wir sind uns nämlich der Existenz der Gegenstände, die einem Sinn erscheinen,
gewiss, wenn diesem Sinn nicht ein erhabener Sinn widerspricht oder ein Intellekt,
der auf einem erhabeneren Sinn beruht.“74
74
Impossibilia II (ed. Bazán 1974, 74): „Nos enim sumus certi de existentia rerum nobis
ad sensum apparentium, cui sensui non contradicit sensus dignior vel intellectus acceptus ex
sensu digniore.“
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eindrücke miteinander vergleichen, aber ich verfüge über kein inneres Kri-
terium, das mir anzeigen würde, welcher der beiden Eindrücke vorzuziehen
ist. Ebenso problematisch verhält es sich mit jenen Fällen, bei denen die
Vorstellungskraft als ein innerer Sinn im Spiel ist. Wenn ich mir ein fliegen-
des Pferd vorstelle und den visuellen Eindruck von einem galoppierenden
Pferd habe, steht nicht von vornherein fest, dass ich den Gesichtssinn als
den „erhabeneren Sinn“ bevorzugen sollte. Warum sollte ein äußerer Sinn
dem inneren Sinn vorgezogen werden? Offensichtlich stellt sich hier wieder
das Kriterienproblem. Wenn ein Sinn nicht aufgrund innerer Merkmale an-
zeigt, dass er „erhabener“ ist, scheint es kaum möglich zu sein, ein neutrales
Kriterium zu formulieren, mit dessen Hilfe ein Sinn als der „erhabenere“
bestimmt werden kann.
Siger scheint sich dieses Problems bewusst zu sein. Er unternimmt kei-
nen Versuch, eine absolute Hierarchie der Sinne festzulegen oder ein neut
rales Kriterium zur Evaluierung der Sinne zu bestimmen. Trotzdem hält
er an der These fest, dass es eine unterschiedliche Zuverlässigkeit der Sinne
gibt, bestimmt diese aber situativ. Er betont, dass der Person, die über einen
gesunden Geschmackssinn verfügt, bezüglich des Geschmacks einer Sache
mehr zu glauben ist als jener, die einen durch Krankheit infizierten Sinn hat;
derjenigen, die nahe an einem Gegenstand ist, ist mehr zu glauben als jener,
die weit davon entfernt ist usw.75 Diese Beispiele verdeutlichen, dass es nicht
darum geht, eine absolute Hierarchie zu etablieren und beispielsweise zu
behaupten, dass der Geschmackssinn immer dem Tastsinn vorzuziehen ist.
Es geht vielmehr darum, in einer bestimmten Situation zu fragen, welcher
Gegenstand erfasst werden soll und welcher Sinn dafür am geeignetsten ist.
Daher kann auch kein absolutes Kriterium formuliert werden, mit dem ein
für allemal der „erhabenere Sinne“ bestimmt werden könnte.
Dieses situative Vorgehen mag im Alltag geeignet sein, die Sinne zu
evaluieren und dadurch ein Fundament für möglichst zuverlässige Urteile
zu schaffen. Doch ein Skeptiker würde sich dadurch kaum beeindrucken
lassen. Er könnte sogleich entgegnen: Welches Kriterium erlaubt uns denn,
mit Sicherheit zu wissen, dass der Geschmackssinn einer gesunden Per-
son am besten dazu geeignet ist, den Geschmack einer Sache zu erfassen?
Vielleicht bilden wir uns nur ein, dass dies der „erhabenere Sinn“ ist. Ja,
vielleicht nehmen wir nur an, dass irgendein Sinn zuverlässige Informa-
tionen über Gegenstände und Eigenschaften in der Welt liefert. Es könnte
sehr gut sein, dass wir bloß träumen, wir würden Gegenstände schmecken
oder sehen. Nichts im Geschmacks- oder Seherlebnis garantiert, dass wir
tatsächlich in Relation zu Gegenständen in der Welt stehen. Daher erlaubt
uns eine situative Auswertung der Sinne keineswegs, ein sicheres Wissen
davon zu gewinnen, dass wir mehr haben als bloße Traumeindrücke und
Traumvorstellungen.
Auf diesen Einwand geht Siger nicht ein. Der Grund dafür liegt wohl
darin, dass er seine gesamte antiskeptische Argumentation in einem aristo-
telischen Rahmen vorträgt. Innerhalb dieses Rahmens setzt er voraus, dass
wir über Sinne verfügen, die von Natur aus dazu bestimmt sind, im Prinzip
korrekt zu funktionieren und korrekte Informationen über Gegenstände
und Eigenschaften in der Welt zu liefern. Zwar ist es möglich, dass wir uns
unter besonderen Bedingungen täuschen und vielleicht sogar nur träumen,
wir würden etwas schmecken oder sehen. Doch dabei kann es sich nur um
einen Ausnahmefall handeln, der nicht den Normalfall widerlegt. Dass es
den Normalfall gibt und dass er gleichsam den Hintergrund bildet, vor dem
ein Ausnahmefall erst verstanden werden kann, steht für Siger fest. Einem
Skeptiker, der fragt, warum wir denn überhaupt die Grundthese akzeptie-
ren sollen, dass wir im Prinzip den Sinnen vertrauen können, kann nicht
geholfen werden, wie Siger ausdrücklich betont:
„Wer aber nicht akzeptiert, dass ein Sinn erhabener ist als ein anderer und dass
einer Sinneswahrnehmung an sich zu glauben ist, sondern ein Argument sucht, das
zeigen soll, dass es sich so verhält, wie es erscheint, dem kann kein Beweis vorgelegt
werden – er kann keiner Sache gewiss sein.“76
76
Impossibilia II (ed. Bazán 1974, 75–76): „Qui autem aliquem sensum esse digniorem
quam alium et alicui sensationi per se credendum non accipit, sed huius rationem quaerit quae
ostendat quod sit ita sicut apparet, huic nihil probari potest, iste de nullo certus esse potest.“
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Siger präsentiert hier ein Kohärenz-Argument. Wenn die Sinne, die äußeren
ebenso wie die inneren, in ihren Informationen vollkommen überein-
stimmen, wäre es unsinnig anzunehmen, dass sie einen Gegenstand nicht so
darstellen, wie er wirklich ist, oder dass sie überhaupt keinen realen Gegen-
stand darstellen.
Auch dieses Argument könnte allerdings von einem Skeptiker zurück-
gewiesen werden. Könnte es nicht sein, dass wir uns in einem umfassenden
Traum befinden, in dem alle visuellen, gustativen usw. Erscheinungen per-
fekt aufeinander abgestimmt sind, und wir trotzdem keinen Bezug zur Au-
ßenwelt haben? Könnte es nicht sein, dass alles nur ein kohärenter Traum
ist? Derartige Überlegungen werden von Siger nicht in Betracht gezogen.
Er setzt voraus, dass perfekte Kohärenz immer ein Zeichen für eine Kor-
respondenz mit Gegenständen in der materiellen Welt ist. Daher ist es für
ihn ausgeschlossen, dass ein kohärentes Netz von Erscheinungen und Vor-
stellungen vorliegt, diese aber nicht von Gegenständen in der Außenwelt
verursacht wurden und sich nicht auf diese beziehen. Aus diesem Grund
ist für ihn – ähnlich wie für Thomas von Aquin – ein radikaler Außenwelt-
Skeptizismus keine Option. Wir können zwar sinnvollerweise annehmen,
dass wir in einigen Fällen (nämlich wenn Inkohärenzen und Widersprüche
vorliegen) Erscheinungen und Vorstellungen haben, die entweder etwas dar-
stellen, was nicht in der Außenwelt existiert, oder etwas anders darstellen,
als es existiert. Doch es ist unsinnig anzunehmen, dass in allen Fällen ein
Bezug zur Außenwelt fehlt. Dann könnten wir nämlich gar nicht mehr er-
Impossibilia II (ed. Bazán 1974, 75): „Cum autem omnes sensus concorditer conveniant
77
in iudicio alicuis rei sensibilis, quibus etiam intellectus acceptus ex sensibus dignioribus non
contradicit, credere oppositum illius supernaturale videtur et miraculosum magis quam
naturale ...“
klären, wie wir überhaupt über kohärente Vorstellungen mit einem wohl-
definierten Inhalt verfügen. Aus diesem Grund stellt Siger der skeptischen
These, die aus dialektischen Gründen eingeführt wurde, eine antiskeptische
These gegenüber, die sich folgendermaßen formulieren lässt:
(AT) Es ist unwahrscheinlich, dass alle Vorstellungen nur Traumbilder
sind und keinen sicheren Zugang zu einer materiellen Außenwelt er-
möglichen. Wenn die Vorstellungen kohärent sind, ist es plausibel an-
zunehmen, dass sie von Gegenständen in der Außenwelt verursacht
wurden und diese darstellen.
Wenn Siger damit die Plausibilität einer antiskeptischen Position gezeigt
hat, hat er damit doch nicht eine Letztbegründung geliefert. Er bietet ja
keinen letzten Beweis dafür, dass die Vorstellungen tatsächlich von Gegen-
ständen in der Außenwelt verursacht werden. Wie sich gezeigt hat, gesteht
er freimütig ein, dass dem radikalen Skeptiker kein Beweis vorgelegt werden
kann. Damit verdeutlicht er, dass die Traumhypothese nicht vollständig
widerlegt, sondern nur als unplausibel zurückgewiesen werden kann.
Siger von Brabants These, dass die Vorstellungen uns einen Zugang zur
Außenwelt ermöglichen, weil die natürlichen kognitiven Vermögen uns
dazu befähigen, im Prinzip korrekte Vorstellungen zu haben, lässt indessen
ein Problem unberücksichtigt. Könnte es nicht sein, dass die natürlichen
Vermögen durch einen übernatürlichen Eingriff außer Kraft gesetzt oder
manipuliert werden? Bereits Thomas von Aquin wies ja darauf hin, dass
Gott sowohl auf der sinnlichen als auch auf der intellektuellen Ebene in
den kognitiven Prozess eingreifen könnte. Nach dem Tod ist dieser Eingriff
sogar der Normalfall. Gott, so stellte Thomas fest (vgl. § 13), kann nach
dem Tod Species im menschlichen Intellekt hervorbringen. Diese These gibt
sogleich zu einer skeptischen Frage Anlass: Könnte Gott dies nicht auch vor
dem Tod tun? Könnte er nicht jetzt gerade eine Species von Schokolade in
mir erzeugen, obwohl weit und breit keine Schokolade zu sehen ist? Und
könnte er nicht auch ein Vorstellungsbild in mir erzeugen, das mir eine
delikate Praline präsentiert? Dann würde ich (a) die allgemeine Form von
Schokolade erfassen und (b) mich auf ein individuelles Stück Schokolade
beziehen, obwohl in der mich umgebenden materiellen Welt keine Scho-
kolade vorhanden ist. Gott könnte dies so perfekt tun, dass ich diesen Fall
nicht von jenem unterscheiden könnte, in dem ich ausgehend von der Wahr-
nehmung einer unmittelbar präsenten Schokolade ein Vorstellungsbild und
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§ 15 Allmachtsargumente 163
eine Species erwerbe. Und das heißt natürlich: Gott könnte mich perfekt
täuschen.
Thomas räumt zwar ein, dass Gott genau wie ein Dämon die Vor-
stellungsbilder manipulieren könnte, und er betont, dass Gott darüber
hinaus auch in den Intellekt und sogar in den Willen eingreifen könnte.78
Trotzdem zieht Thomas nicht den skeptischen Schluss, dass wir nie sicher
sein können, ob Gott uns nicht gerade täuscht. Der Grund dafür liegt
nicht nur in dem in § 12 beschriebenen epistemologischen Optimismus,
sondern auch in einem theologischen Optimismus, der von vornherein
jede Täuschung ausschließt. Thomas begründet diesen Optimismus mit
folgendem Argument.79 Würde Gott einen Menschen täuschen, würde er
etwas Schlechtes tun, ja sich versündigen. Doch wer sich versündigt, voll-
zieht eine defiziente Handlung und zeigt dadurch, dass er keine vollkom-
mene Handlung vollbringen kann.80 Gott als allmächtiges Wesen kann
aber gar keine defiziente Handlung vollbringen; daher kann er auch nie-
manden täuschen. Dies ist ein a priori Argument gegen eine Täuschungs-
hypothese. Schon aus dem Begriff der uneingeschränkten Allmacht Got-
tes folgt, dass eine defiziente Handlung und damit auch eine Täuschung
unmöglich ist. Wir müssen uns daher nicht von Fall zu Fall vergewissern,
dass Gott uns nicht täuscht. Allein ein richtiges Verständnis des Begriffs
von göttlicher Allmacht zeigt, dass er uns nicht täuscht.
Ein weiteres Argument, das Thomas vorbringt, zielt in die gleiche Rich-
tung.81 Wer etwas bewirken will, so stellt er fest, muss dies auch wollen. Ein
Wesen kann aber nichts wollen, was der Natur seines Willens widerspricht.
Dem göttlichen Willen widerspricht nun alles, was nicht gut ist. Daher
kann Gott keine schlechte Handlung – etwa eine Täuschung – bewirken;
dies wäre seinem Willen entgegengesetzt. Auch hier handelt es sich um ein
a priori Argument. Schon aus einem richtigen Verständnis des Begriffs des
göttlichen Willens geht hervor, dass Gott niemanden täuschen kann.
Angesichts dieser beiden Argumente ist es nicht erstaunlich, dass Tho-
mas an keiner Stelle die Hypothese eines Täuschergottes diskutiert. Doch
warum, so kann man mit Blick auf die mittelalterlichen Allmachtstheorien
Scriptum super Sent., II, dist. 8, q.1, art. 5, ad 7: „Unde patet ex praedictis quod Daemones
78
imprimunt in phantasiam, sed Angeli etiam in intellectum; Deus autem solus in voluntatem.“
79
Vgl. STh I, q. 25, art. 3, ad 2; Summa contra Gentiles I, cap. 39, n. 316–323 (ed. Pera,
48–49).
80
Hinter diesem Argument verbirgt sich die Privationstheorie des Schlechten, die Tho-
mas’ gesamte Erklärung defizienter Akte zugrunde liegt: Schlechtes ist nichts anderes als ein
Mangel an Gutem. Etwas vollkommen Gutes hat keinen Mangel und führt daher auch keine
schlechten Handlungen aus. Vgl. zu dieser augustinisch inspirierten Begründung Kretzmann
& Stump 1991.
81
Vgl. De potentia, q. 1, art. 6, corp.
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Dies ist ein subtiles Argument, das sich folgendermaßen erläutern lässt.
Nehmen wir an, dass Gott nicht nur gemäß der jetzt geltenden Ordnung p
bewirken kann, sondern gemäß einer anderen Ordnung auch nicht-p. Nun
muss sich aber auch Gott an das Gesetz der Widerspruchsfreiheit halten. Er
82
Vgl. Courtenay 1990, 74–79, und Randi 1987, 13–33. Siehe auch Gelber 2004, 309–349.
83
Vgl. eine Diskussion sämtlicher relevanter Stellen in Courtenay 1990, 88–91.
84
De potentia, q. 1, art. 5, corp.: „Patet ergo quod absolute Deus potest facere alia quam
quae fecit. Sed quia ipse non potest facere quod contradictoria sint simul vera, ex suppositione
potest dici, quod Deus non potest alia facere quam quae fecit: supposito enim quod ipse non
velit alia facere, vel quod praesciverit se non alia facturum, non potest alia facere ...“
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§ 15 Allmachtsargumente 165
kann also nicht gleichzeitig p und nicht-p bewirken, ja er kann dies nicht
einmal gleichzeitig bewirken wollen. Ebenso wenig kann er zuerst p und
dann nicht-p bewirken wollen. Für Gott gibt es nämlich keine Zeitdiffe-
renzen, sondern eine umfassende Allgegenwart.85 Hat Gott sich einmal für
p entschieden, hat er sich immer – in einer permanenten Gegenwart – für p
entschieden und kann nicht mehr nicht-p wollen.
Die Annahme, dass Gott ebenso gut nicht-p wie p bewirken könnte, er-
weist sich angesichts dieser Argumentation als unhaltbar. Dadurch, dass
Gott sich für eine bestimmte Ordnung entschieden hat, hat er sich immer
für diese Ordnung entschieden, auch wenn er in dieser Entscheidung na-
türlich absolut frei ist. Der Verweis auf die absolute Macht dient nur dazu,
die prinzipielle Wahlfreiheit Gottes zu verdeutlichen. Doch die Wahl einer
bestimmten Ordnung schließt die plötzliche und willkürliche Wahl einer
anderen Ordnung aus. Daher sind selbst jene Ereignisse, die uns als Wunder
erscheinen, in zahlreichen Fällen nur Abweichungen von der natürlichen
Ordnung, aber nicht Ereignisse, die gegen diese Ordnung verstoßen oder
sie gar außer Kraft setzen. Sie finden innerhalb der von Gott verfügten Ord-
nung statt.86
Dies hat natürlich Konsequenzen für die Kognitions- und Erkenntnis-
theorie. Wenn Gott nicht willkürlich die natürliche Ordnung verändert,
sondern sich an die von ihm selbst gewählte Ordnung hält, dann hält er auch
die einmal gewählte epistemische Ordnung aufrecht. Konkret heißt dies:
Gott hat sich frei dafür entschieden, dass der Inhalt einer Baum-Species
durch die Form eines Baumes festgelegt wird. Würde er sich plötzlich dafür
entscheiden, dass der Inhalt dieser Species durch die Form eines Pferdes oder
durch ihn selber festgelegt wird, würde er sich aufgrund der Allgegenwart
sämtlicher Zeitpunkte gleichzeitig dafür entscheiden, dass der Inhalt durch
die Form eines Baumes festgelegt wird und dass er nicht dadurch festgelegt
wird. Dadurch würde er das Gesetz der Widerspruchsfreiheit verletzen.
Doch dieses Gesetz muss selbst Gott respektieren, wenn er eine Ordnung
herstellen will.
Angesichts dieser Argumentationslinie ist es nicht erstaunlich, dass Tho-
mas an keiner Stelle die Möglichkeit eines allmächtigen Täuschergottes er-
wägt. Doch spätere Autoren, die von der Annahme ausgingen, dass Gott sich
Thomas betont in Summa contra Gentiles III, cap. 99, n. 2756–2762 (ed. Pera, 152–153):
86
„... licet Deus interdum praeter ordinem rebus inditum aliquid operetur, nihil tamen facit
contra naturam.“ Wie Daston & Park 1998, 121, zu Recht festhalten, muss man daher die
wundersamen Ereignisse sorgfältig von den Wundern unterscheiden. Was wir als Wunder
bezeichnen, ist in Tat und Wahrheit häufig nur eine Abweichung vom uns bekannten Natur-
verlauf – eine Abweichung, die innerhalb der natürlichen Ordnung erfolgt.
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nicht einmal für eine bestimmte Ordnung entschieden hat, sondern gleich-
zeitig verschiedene Ordnungen aufrechterhalten kann oder innerhalb der
bestehenden Ordnung jederzeit eingreifen kann, machten durchaus von der
Hypothese eines Täuschergottes Gebrauch. Entscheidend ist dabei, dass sie
diese Hypothese explizit auf einen epistemologischen Kontext anwendeten.
Einer der ersten Autoren, die sich auf diese Hypothese beriefen, war der
Franziskaner Peter Johannis Olivi. In den um 1280 – also wenige Jahre nach
Thomas von Aquins Tod – verfassten Quästionen zu den Sentenzen knüpfte
er explizit an die von Thomas vertretene These an, dass der menschliche In-
tellekt nur mithilfe der Species eine Erkenntnis von äußeren Gegenständen
gewinnen kann.87 Olivi stellte jedoch infrage, dass mit diesen kognitiven
Entitäten tatsächlich ein direkter Zugang zu den äußeren Gegenständen
möglich ist. Er entwickelte ein Argument, das sich folgendermaßen zusam-
menfassen lässt:
(1) Species sind kognitive Entitäten im Intellekt, die etwas darstellen.
(2) Species können nur etwas darstellen, wenn sie auch als darstellende
Entitäten erfasst werden.
(3) Also müssen die Species vom Intellekt erfasst werden.
(4) Da die Species im Intellekt selbst sind, werden sie primär von ihm er-
fasst.
(5) Also sind die Species, nicht die äußeren Gegenstände, die primären
Erkenntnisobjekte des Intellekts.
(6) Also verhindern die Species, dass der Intellekt einen unmittelbaren
kognitiven Zugang zu den äußeren Gegenständen haben kann.
Olivi schließt sein Argument mit der Bemerkung ab, die Species würden
sich als innere Objekte zwischen den Intellekt und die äußeren Gegenstände
einschieben, und er fügt hinzu:
„... wenn sich etwas anderes zwischen den Blick des [intellektuellen] Vermögens
und das Objekt einschieben würde, dann verhüllte dies den Gegenstand und ver-
hinderte eher, dass dieser gegenwärtig an sich betrachtet wird, als dass es dazu ver-
helfen würde.“88
Offensichtlich enthüllen die Species einen Gegenstand nicht, indem sie seine
Form kognitiv zugänglich machen, sondern sie verhüllen ihn, indem sie sich
87
Vgl. Quaestiones, q. 58 (ed. Jansen II, 468–469). Zum Kontext dieser Stelle vgl. Pasnau
1997, 236–247, und Perler 2002, 109–127. Die Quaestionen gehen auf Olivis Studienzeit in
Paris zurück, sind in der vorliegenden Form aber erst in den frühen achtziger Jahren außer-
halb von Paris redigiert worden.
88
Quaestiones, q. 58 (ed. Jansen II, 469): „... si aliquid aliud interponeretur inter aspectum
potentiae et ipsum obiectum, illud potius velaret rem et impediret eam praesentialiter aspici in
se ipsa quam ad hoc adiuvaret.“
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§ 15 Allmachtsargumente 167
selber als primäre Objekte präsentieren und dadurch verhindern, dass der
Intellekt einen unmittelbaren Zugang zu den äußeren Gegenständen hat.
Angesichts dieses Fazits gibt es für Olivi nur zwei Möglichkeiten: Entweder
man hält an der Existenz der Species fest und gibt damit eine erkenntnis-
realistische Position preis. Alles, was wir dann primär erkennen, sind die
Species; die äußeren Gegenstände können höchstens als deren Ursache ver-
mutet werden. Oder aber man verteidigt die erkenntnisrealistische Position
und verzichtet auf die Annahme innerer kognitiver Entitäten.
Nun könnte man aus der Sicht des Thomas entgegnen, dass Olivis Kritik
allzu überstürzt erfolgt. Zwar trifft es zu, dass die Species etwas darstellen
und vom Intellekt primär erfasst werden; die Schritte (1) bis (4) können zu-
gestanden werden. Aber daraus folgt nicht, dass die Species die primären Er-
kenntnisobjekte sind und dass sie einen kognitiven Zugang zu den äußeren
Gegenständen verunmöglichen. Sie sind ja lediglich kognitive Hilfsmittel
und stellen nicht sich selber als Erkenntnisobjekte dar, sondern die Formen
von Gegenständen. Wie in § 13 dargestellt wurde, besteht die Pointe der tho-
masischen Theorie ja gerade darin, dass sie den Inhalt der Species dadurch
erklärt, dass sie auf Formen rekurriert, und zwar auf dieselben Formen, die
auch in den materiellen Gegenständen existieren. Es gibt hier keine inneren
Objekte, sondern nur Darstellungen von Formen. Dies lässt sich mit einem
modernen Beispiel veranschaulichen. Wenn wir eine E-Mail erhalten und
die Pixelbilder auf dem Bildschirm des Computers lesen, können wir in ge-
wisser Weise sagen, dass wir die Pixelbilder erfassen. Doch wir erfassen sie
nicht als eigenständige Objekte, sondern als Hilfsmittel, die eine Nachricht
visualisieren. Sie machen uns eine Nachricht zugänglich, und zwar dieselbe
Nachricht, die weit weg – etwa in Paris – abgeschickt wurde. Indem wir die
Pixelbilder lesen, erfassen wir die Nachricht aus Paris. Ähnliches gilt für
den kognitiven Prozess: Indem wir die Species mental „lesen“, erfassen wir
die Formen der materiellen Gegenstände. Daher ist es unangebracht, von
Entitäten zu sprechen, die den Zugang zur Außenwelt versperren.
Aus Olivis Sicht ist eine solche Verteidigung allerdings kaum überzeu-
gend, und zwar aus zwei Gründen. Erstens werden hier bestimmte meta-
physische Voraussetzungen gemacht, die alles andere als selbstverständlich
sind. Wie wissen wir denn, dass die Species tatsächlich Formen darstellen,
die sich auch in den äußeren Gegenständen befinden? Wie können wir über-
haupt gewiss sein, dass es universale Formen gibt, die dank der Species im
Intellekt existieren, aber auch außerhalb des Intellekts instantiiert sind? Der
ganzen Rede von mehrfach instantiierten Formen liegt eine universalienrea-
listische These zugrunde, die keineswegs evident ist. Sobald diese These fal-
len gelassen wird, ist es fraglich, ob die Species tatsächlich dieselben Formen
darstellen, die auch außerhalb des Intellekts existieren. Streng genommen
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kann man nur behaupten, dass es zwei Arten von Entitäten gibt, nämlich
die immateriellen Species und die materiellen Gegenstände, und dass be-
stenfalls eine Kausalrelation zwischen den beiden besteht.
Olivi würde aber auch die kognitionstheoretischen Voraussetzungen in-
frage stellen. Was uns im Intellekt präsent ist und was wir somit unmittelbar
erfassen, ist lediglich eine Species. Ob sie tatsächlich eine zweifach instanti-
ierte Form darstellt, ist eine offene Frage. Wir neigen zwar dazu, die Species
so zu interpretieren und sie somit auf etwas außerhalb unseres Intellekts zu
beziehen. Doch diese Bezugnahme ist keineswegs gesichert. Auf das Beispiel
mit dem Computer übertragen heißt dies: Was wir unmittelbar erfassen, ist
nichts anderes als ein Pixelbild auf unserem Bildschirm. Wir fassen dieses
Bild zwar so auf, dass es uns eine Nachricht darstellt, und wir interpretieren
es so, dass es dieselbe Nachricht darstellt, die in Paris abgeschickt wurde.
Aber ob tatsächlich eine Nachricht in Paris existiert, ist eine offene Frage.
Es gibt nichts im Pixelbild selbst, das auf eine real existierende Nachricht in
Paris verweisen würde. Ebenso wenig gibt es in der Species selbst etwas, das
auf einen äußeren Gegenstand verweisen würde. Die Species stellt zunächst
nur sich selber als ein inneres Objekt dar.
Dieses Argument scheint zunächst bloß auf eine bestimmte Interpreta-
tion der Species-Theorie abzuzielen und nur in begrenztem Maße skeptische
Konsequenzen zu haben. Man könnte nämlich aus Thomas’ Sicht erwidern:
Selbst wenn man annimmt, dass die Species zunächst nur sich selber dar-
stellt, steht sie doch in Kausalrelation zu einem äußeren Gegenstand. Sie
ist ja von einem Vorstellungsbild abstrahiert worden, das seinerseits durch
die Einwirkung eines äußeren Gegenstandes hervorgerufen wurde. Daher
können wir selbst dann, wenn wir bezweifeln, dass der Inhalt einer Species
durch die Form eines äußeren Gegenstandes festgelegt wird, sicher sein,
dass eine kausale Verbindung besteht und dass somit ein äußerer Gegen-
stand existieren muss, damit die Species überhaupt entstehen konnte.
Doch können wir sicher sein, dass tatsächlich eine solche Kausalrelation
besteht? Genau an diesem Punkt wird nun die Lehre von der göttlichen
Allmacht relevant. Olivi formuliert mit Rückgriff auf diese Lehre nämlich
folgendes Gedankenexperiment:
„Nehmen wir einmal an, dass Gott eine solche Species unserem [intellektuellen]
Blick präsentiert, ohne dass ein Gegenstand existiert oder ohne dass uns ein Gegen-
stand präsent ist. Dann würde ebenso gut ein Gegenstand gesehen wie in jenem Fall,
in dem tatsächlich einer anwesend und aktuell existent wäre, ja er wäre dort nicht
mehr oder weniger vorhanden.“89
89
Quaestiones, q. 58 (ed. Jansen II, 470): „... ponatur quod Deus talem speciem exhiberet
aspectui nostro re non existente aut a nobis absente, tunc ita bene videretur res sicut si esset
praesens et actu existens, immo non esset ibi nec plus nec minus.“
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§ 15 Allmachtsargumente 169
Mit diesem Gedankenexperiment weist Olivi darauf hin, dass die Kau-
salrelation zu einem äußeren Gegenstand nicht notwendig ist für die Ent-
stehung einer Species. Gott könnte in den Erkenntnisprozess eingreifen und
jederzeit eine Species erzeugen, ohne dass irgendein äußerer Gegenstand
existiert, der diese Species verursacht hat. Die Species würde dann nichts
anderes als sich selber darstellen. Für das Computerbeispiel heißt dies: Es ist
denkbar, dass ein Hacker unseren Computer manipuliert und ein Pixelbild
erscheinen lässt, ohne dass es jemanden in Paris gibt, der uns eine Nach-
richt geschickt hat. Wenn der Hacker eingreift, stellt das Pixelbild nur noch
sich selber dar und verweist nicht auf etwas in Paris. Da Gott genau wie der
Hacker jederzeit eingreifen könnte, könnte er jederzeit bewirken, dass die
Species nicht über sich selber hinausweist und nur sich selber darstellt. Wir
wären dann in der inneren Welt der Species gefangen.
Damit sind wir natürlich bei einem skeptischen Szenario angelangt, und
zwar bei einem Szenario, das zu einem Außenwelt-Skeptizismus führt. Es
wird nicht bloß bezweifelt, dass die Gegenstände uns aufgrund manipu-
lierter Vorstellungsbilder anders erscheinen, als sie tatsächlich sind. Und es
wird nicht mit Verweis auf Sinnestäuschungen oder dämonische Eingriffe
bezweifelt, dass dieser oder jener konkrete Gegenstand existiert. Vielmehr
wird global bezweifelt, dass wir ein sicheres Wissen von der Existenz ma-
terieller Gegenstände haben. Gott könnte nämlich immer eingreifen und
uns immer Species von materiellen Gegenständen einflößen, obwohl keine
derartigen Gegenstände existieren. Die Präsenz innerer Species erlaubt uns
nicht, sogleich auf die Existenz äußerer Gegenstände zu schließen.90
Dies bedeutet freilich nicht, dass Olivi eine skeptische Position einnimmt.
Er entwickelt das skeptische Szenario lediglich, um die Species-Theorie ad
absurdum zu führen. Seiner Ansicht nach darf man zur Erklärung des kog
nitiven Prozesses nicht auf kognitive Hilfsmittel rekurrieren, die irgendwie
zwischen dem Intellekt und den äußeren Gegenständen vermitteln. Vielmehr
muss man die These vertreten, dass der Intellekt mit seinen Akten direkt
auf die äußeren Gegenstände Bezug nehmen kann.91 Er setzt das skeptische
Szenario somit aus strategischen Gründen ein: Die Species-Theorie soll
bekämpft und durch die eigene Theorie, die eine direkte Relation zwischen
90
Pasnau 1997, 236–247, hat bereits darauf hingewiesen, dass sich aus Olivis „veil of
species“-Theorie skeptische Konsequenzen ergeben. Im Gegensatz zu Pasnau glaube ich aber
nicht, dass sich diese Konsequenzen unmittelbar aus der Species-Theorie, wie man sie bereits
bei Thomas findet, ergeben. Skeptische Probleme tauchen erst auf, wenn eine Umdeutung der
Species stattfindet: Kognitive Hilfsmittel (wie bei Thomas) werden als primäre kognitive Ob-
jekte interpretiert (wie bei Olivi). Es scheint mir daher problematisch, die Species-Theorie als
eine im Kern skeptische Theorie zu bezeichnen.
91
Vgl. zu diesem Erklärungsansatz, der eine unvermittelte Intentionalität postuliert, Perler
2002, 109–127.
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§ 15 Allmachtsargumente 171
für wahr gehalten wird, auch tatsächlich wahr ist. Zweitens kann ein Urteil
nur gefällt werden, wenn auch Termini zur Verfügung stehen. Diese werden
aber vom Intellekt gebildet, nicht von den Sinnen.
Kann es nun auf der Ebene der inneren Sinne eine Täuschung geben?
Auf den ersten Blick scheint dies der Fall zu sein, denn diese Sinne – ins-
besondere das Vorstellungsvermögen – scheinen Urteile zu bilden. Wer etwa
ein lebhaftes und deutliches Vorstellungsbild von einer Chimäre hat, urteilt
sogleich ‚Eine Chimäre rennt durch den Garten‘. Rodington weist aber
darauf hin, dass auch hier streng genommen kein sinnliches Urteil vorliegt.
Zwar kann das Vorstellungsvermögen verschiedene Eindrücke miteinander
verbinden und ein Vorstellungsbild hervorbringen, dem nichts in der ma-
teriellen Welt entspricht. Aber das Vorstellungsvermögen versammelt oder
verbindet eben nur Eindrücke und bildet keine Urteile.95 Natürlich kann
dann auf der Grundlage des Vorstellungsbildes ein Urteil gefällt werden,
aber dabei handelt es sich um ein Urteil des Intellekts, nicht des Vorstel-
lungsvermögens, und es bezieht sich bloß auf das Vorstellungsbild, nicht auf
einen Sachverhalt in der materiellen Welt. So kann jemand das Urteil ‚Mir
erscheint eine Chimäre, die durch den Garten rennt‘ bilden und damit auch
ein wahres Urteil fällen, wenn tatsächlich ein Vorstellungsbild von einer
Chimäre vorliegt. Erst wenn diese Person das Urteil ‚Eine Chimäre rennt
durch den Garten‘ bildet, täuscht sie sich, denn erst in diesem Fall wird das
Vorstellungsbild mit einem realen Sachverhalt verwechselt. Es ist aber nicht
das Vorstellungsvermögen, das sich täuscht, sondern der Intellekt, der nicht
berücksichtigt, dass sich sein Urteil nur auf ein inneres Bild und nicht auf
einen äußeren Sachverhalt bezieht.
Wenn nun streng genommen nur auf der Ebene des Intellekts Täuschun-
gen möglich sind, heißt dies noch lange nicht, dass der Intellekt sich auf-
grund irreführender Sinnesinformationen oder Vorstellungsbilder täuschen
muss. Wie Duns Scotus (vgl. § 9) verweist auch Rodington darauf, dass der
Intellekt bestimmte Prinzipien verwenden und Überlegungen anstellen
kann, um die Sinnesinformationen zu prüfen. Angesichts des Stabes, der ins
Wasser eingetaucht ist, kann er die Überlegung anstellen: „Nichts Hartes
wird durch etwas Weiches gebrochen; der Stab ist hart, das Wasser jedoch
weich; also kann der Stab nicht durch das Wasser gebrochen werden.“96
Es gibt somit Korrekturmechanismen, die es dem Intellekt ermöglichen,
Sinnesinformationen auszuwerten und in Einklang mit bestimmten Natur-
prinzipien zu bringen. Dies ist ein wichtiger Punkt in Rodingtons Argumen-
Rodington betont daher in Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3, q. 3 (ed. Nardi
95
§ 15 Allmachtsargumente 173
natürlich, dass ich nicht immer zweifeln muss, sondern nur dann, wenn ich
mich entscheide, den höherstufigen Akt zu vollziehen und mein Wissen zu
begründen oder zu rechtfertigen. Der Zweifel ist also nicht etwas, was mich
in jeder Situation gleichsam paralysiert. Ähnlich wie später bei Descartes
handelt es sich auch bei Rodington nicht um einen alltäglichen, sondern um
einen methodischen Zweifel, der nur dann auftaucht, wenn das alltägliche
Wissen geprüft werden soll.
Doch was ermöglicht den methodischen Zweifel? Warum glaubt Ro-
dington, dass wir genau dann, wenn wir uns für eine Prüfung unseres Wis-
sens entscheiden, jedes Wissen bezweifeln können? Hier wird wiederum
die Allmachtshypothese relevant. Rodington stellt nämlich folgende Über-
legung an:
„Dass aber Gott bewirken kann, dass ein Ding ein anderes zu sein scheint, wird
folgendermaßen bewiesen: Gott verfügt nicht über weniger Macht als der Teufel
oder ein Possenreißer. Diese bewirken aber, dass etwas erscheint, was nicht ist, und
dass ein Ding ein anderes zu sein scheint. Also kann Gott bewirken, dass einem
Menschen erscheint, dass ein Mensch nicht eine Substanz ist und Derartiges, auch
dass ein Mensch nicht ein Mensch ist.“98
98
Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3, q. 3 (ed. Nardi 1952, 80): „Quod autem
deus possit facere unam rem apparere aliam, probatur: non minoris potentie est deus quam
dyabolus vel ioculator; sed isti faciunt apparere quod non est, et unam rem apparere aliam;
ergo deus potest facere quod appareat homini quod homo non sit substantia et huiusmodi et
quod homo non sit homo.“
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lich ein Gegenstand vor mir, aber Gott bewirkt, dass er anders erscheint,
als er tatsächlich ist, und dass ich ihm daher im Urteil eine Eigenschaft zu-
schreibe, die er nicht hat.
Dies ist allerdings nicht die einzige Täuschungsmöglichkeit. Rodington
betont, dass Gott bewirken kann, „dass etwas erscheint, was nicht ist.“
Selbst wenn gar nichts vor mir liegt, kann er in mir das Vorstellungsbild von
einem Apfel erzeugen, das mich zu einem falschen Existenzurteil veranlasst.
Dies ist natürlich eine viel radikalere Täuschung, denn sie legt die Grundlage
für einen Außenwelt-Skeptizismus. Da Gott in jedem Fall bewirken könnte,
dass etwas erscheint, was nicht in der materiellen Welt existiert, und da er
dies in jedem Fall so perfekt tun könnte, dass ich die Erscheinung nicht von
einem realen Gegenstand unterscheiden kann, könnte ich mit allen meinen
Existenzurteilen falsch liegen. Gott könnte in mir eine vollkommene Innen-
welt von Erscheinungen erzeugen, ohne dass es eine ihr zugrunde liegende
Außenwelt gibt. Und selbst wenn er dies nur in einigen Ausnahmefällen tut,
könnte ich nicht wissen, wann meiner Erscheinung ein materieller Gegen-
stand entspricht und wann nicht. Gott könnte die Erscheinung ja so perfekt
erzeugen, dass es keinen phänomenalen Unterschied gibt.
Rodington führt sogar noch eine weitere Täuschungsmöglichkeit ein.
Auf den Einwand, dass doch zumindest die analytischen Aussagen von
der Täuschung ausgenommen seien, da diese Aussagen einzig aufgrund der
Bedeutung ihrer Termini erfasst werden, erwidert er:
„Erwiderung: Gott kann bewirken, dass diese Termini ihm nicht dies zu bedeuten
scheinen. Also kann er vernünftigerweise bezweifeln, ob Gott bewirkt, dass diese
Termini ihm dies nicht zu bedeuten scheinen. Nun könnte man einwenden: Bezüg-
lich der komplexen Aussage ‚Gott kann bewirken, dass etwas anders erscheint, als
es ist‘ kann ich nicht zweifeln; also habe ich diesbezüglich eine Gewissheit. Darauf
erwidere ich: Ich kann durchaus zweifeln, dass diese Termini dies bedeuten; Gott
kann bewirken, dass die Termini nicht dies zu bedeuten scheinen.“99
potest facere quod illi termini non appareant sibi significare illud; ergo rationabiliter potest
dubitare, utrum deus faciat quod termini illi non appareant sibi significare illud. Si dicatur:
,deus potest facere aliquid aliter apparere quam sit‘, de isto complexo non possum dubitare;
ergo respectu istius habeo certitudinem; [respondeo] quod possum dubitare an termini isti
significant illud, quod deus potest facere quod termini non appareant illud significare.“
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§ 15 Allmachtsargumente 175
kann nur nicht den Anspruch erheben, mit dieser Aussage über ein absolut
unbezweifelbares Wissen zu verfügen.
Nun könnte man erwarten, dass Rodington den methodischen Zweifel
ähnlich einsetzt wie später Descartes. Dies würde bedeuten, dass er mithilfe
der Allmachtshypothese alles Bezweifelbare aus seinem Wissenssystem ver-
bannen und nur noch das zurückbehalten würde, was absolut unbezweifel-
bar ist: die Gewissheit der eigenen geistigen Zustände. Auf dieser Grund-
lage könnte er dann ein neues Wissenssystem aufbauen. Rodington wählt
jedoch nicht diesen Weg. Er unterscheidet vielmehr drei verschiedene Arten
von sicherer Erkenntnis (certa cognitio) und Wissen (scientia). Erstens
gibt es die Art von Wissen, die dadurch erworben wird, dass ein Schluss
evidenter ist als sein Gegenteil. Dies ist die Art von Wissen, die Philosophen
normalerweise erwerben, wenn sie Argumente gegeneinander abwägen und
schließlich zu einem wohlbegründeten Schluss gelangen. Aber natürlich
handelt es sich nicht um ein absolut sicheres Wissen, weil immer Gegen-
argumente auftauchen können, die zu einer Schwächung oder gar zu einer
Widerlegung des Schlusses führen. Zweitens gibt es die Art von Wissen, bei
der jemand gleichsam zur Zustimmung zu einem Schluss gezwungen wird.
Rodington zufolge ist dies genau jenes Wissen, das durch mathematische
Beweise gewonnen wird. Wer nämlich die einzelnen Schritte in der Beweis-
führung erfasst, kann in diesem deduktiven Verfahren gar nicht anders, als
dem Schluss zuzustimmen. Doch darüber hinaus gibt es noch eine dritte
Art von Wissen, bei der „notwendigerweise dem Schluss zugestimmt wird,
sodass auf keine Weise bezweifelt werden kann, ob der Schluss wahr ist...“100
Die Anwendung der Allmachtshypothese auf verschiedene Gegenstandsbe-
reiche zeigt nun, dass diese dritte Art von Wissen ausgeschlossen ist. Da mit
Verweis auf das göttliche Handeln immer bezweifelt werden kann, (1) ob
die Gegenstände der materiellen Welt tatsächlich so sind, wie sie erscheinen,
(2) ob den Erscheinungen Gegenstände in der materiellen Welt entsprechen
und (3) ob die Termini, die sich auf alle Erscheinungen beziehen, überhaupt
eine Bedeutung haben, lässt sich kein zweifelsfreies Wissen gewinnen. Dies
führt natürlich zur Zweifelsthese zurück: Man kann immer daran zweifeln,
dass man etwas weiß.
Rodingtons Pointe besteht darin, dass er – ganz im Gegensatz zu Des-
cartes – nicht einen hohen Wissensanspruch aufrechterhält und alles ver-
wirft, was nicht absolut unbezweifelbar ist. Er senkt vielmehr den Wissens-
anspruch ab und betont, dass es durchaus Wissen gibt, aber nur Wissen
gemäß der ersten und der zweiten Art; unbezweifelbares Wissen ist aus-
100
Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3, q. 3 (ed. Nardi 75): „Tercio modo, quod
sic est evidens, quod necessario assentit conclusioni, quod nullo modo potest dubitare an con-
clusio sit vera ...“
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§ 15 Allmachtsargumente 177
Vgl. Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3, q. 3 (ed. Nardi 1952, 91, ad primum).
101
102
Vgl. Nardi 1952, 60–67.
103
So könnte er Lehrer 1990, 179, zustimmen: „Our only reply to the skeptic is that, even
if there is some chance that any of our beliefs may be in error and, even if, therefore, we do
not know for certain that any of them are true, still some of the things we accept are things
we are justified in accepting because all competitors are beaten or neutralized on the basis
of our acceptance system. Of course, what we accept may be wrong – we are fallible – but
if enough of what we accept is correct, then our justification will be undefeated and we will
have knowledge.“ Rodington könnte in diesem Sinne mithilfe seiner eigenen Terminologie
sagen: Ich gestehe zu, dass jedes meiner Urteile falsch sein könnte, weil Gott jederzeit ein-
greifen könnte. Ich habe keine absolute Gewissheit. Trotzdem bin ich gerechtfertigt, mein
bisheriges Wissen auch weiterhin für Wissen zu halten, weil ich es durch wohlbegründete
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Denn genau wie heutige Fallibilisten betonen, dass etwas nur so lange als
sicheres Wissen gelten kann, wie es nicht infrage gestellt wird, hält auch
Rodington fest, dass sicheres Wissen nur auf Abruf besteht. Solange wir
die Allmachtshypothese nicht formulieren, können wir Vieles als sicheres
Wissen akzeptieren. Wir müssen somit nicht in jedem Moment zweifeln,
sondern erst zu dem Zeitpunkt, zu dem die Hypothese vorgebracht wird.
Und selbst zu diesem Zeitpunkt geht nicht jedes Wissen verloren, sondern
nur das absolut sichere Wissen.
Rodington erreicht dieses Argumentationsziel, indem er sich auf die Hy-
pothese von einem allmächtigen Gott beruft, der direkt in den kognitiven
Prozess eingreift und bestimmte Erscheinungen erzeugt. Gegen dieses
methodische Vorgehen könnte aber mit Blick auf Thomas von Aquins Zu-
rückweisung einer Täuschungshypothese sogleich ein Einwand erhoben
werden: Die Annahme, dass Gott eingreifen und Erscheinungen erzeugen
könnte, denen nichts in der materiellen Welt entspricht, ja dass er sogar die
Bedeutung der Termini manipulieren könnte, läuft darauf hinaus, dass Gott
einen Menschen täuschen könnte. Doch eine Täuschung ist eine schlechte
Handlung, die ein Wesen, das nur Gutes bewirken will, gar nicht ausführen
kann. Bereits ein richtiges Verständnis des göttlichen Willens, der nur auf
gute Handlungen abzielt, verdeutlicht somit, dass eine Täuschung prinzi-
piell ausgeschlossen ist.
Rodington ist sich dieses Einwandes wohl bewusst, weist ihn aber zu-
rück, indem er betont, dass Gott streng genommen nicht täuscht. Nur
wer mit seinen Handlungen auf etwas Schlechtes abzielt, täuscht, aber
Gott intendiert mit seinen Manipulationen nichts Schlechtes.104 Diese Er-
widerung verdeutlicht, dass Rodington zufolge zwei Bedingungen erfüllt
sein müssen, damit eine Täuschung vorliegt. Die erste Bedingung könnte
man die Falschheitsbedingung nennen: Wer täuscht, muss in einer Person ein
falsches Urteil hervorbringen oder durch eine Manipulation der Sinne (z.B.
durch das Erzeugen einer Erscheinung im Vorstellungsvermögen) bewir-
ken, dass diese Person selber ein falsches Urteil bildet. Zweitens muss auch
eine Absichtsbedingung erfüllt sein: Wer täuscht, muss mit einer schlechten
Absicht in den kognitiven Prozess einer Person eingreifen. Da im Falle des
göttlichen Eingreifens die zweite Bedingung nicht erfüllt ist, liegt keine
Täuschung vor. Wird damit der Einwand, Gott könne prinzipiell nicht täu-
schen, erfolgreich zurückgewiesen? Die Antwort hängt davon ab, wie stark
man die These versteht, Gott könne prinzipiell nur Gutes bewirken. Wenn
Schlüsse erworben habe und weil es sich in praktischen Handlungen als korrekt erwiesen
hat. Die Tatsache, dass ich keine Letztbegründung habe, zeigt nicht, dass ich überhaupt keine
überzeugende Begründung oder Rechtfertigung habe.
104
Vgl. Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3, q. 3 (ed. Nardi 1952, 81).
darunter verstanden wird, dass jede Handlung Gottes auf etwas Gutes ab-
zielt, müsste nicht nur ausgeschlossen werden, dass eine schlechte Absicht
vorliegt, sondern es müsste zusätzlich gezeigt werden, dass eine gute Ab-
sicht besteht. So müsste man etwa nachweisen, dass Gott in mir das Urteil
‚Hier liegt keine Schokolade‘ hervorbringt, obwohl durchaus Schokolade
vorhanden ist, um mich davor zu bewahren, schon wieder zu Schokolade zu
greifen, und damit meine Gesundheit zu schützen. Einen derartigen Nach-
weis, der selbst dem Hervorbringen eines falschen Urteils ein gutes Ziel
zuordnet, erbringt Rodington nicht. Daher ist anzunehmen, dass er von
einem schwächeren Verständnis der These, dass Gott prinzipiell nur Gutes
bewirken kann, ausgeht. Gemäß diesem Verständnis reicht es aus, dass Gott
nichts Schlechtes hervorbringen will. Welche Folgen sich daraus ergeben,
wird damit offen gelassen. Für das moderne Beispiel heißt dies: Es reicht
aus, dass Gott keine schlechte Absicht hat, wenn er in mir das falsche Urteil
‚Hier liegt keine Schokolade‘ hervorbringt. Ob dadurch meine Gesundheit
geschützt wird oder ob ihr im Gegenteil geschadet wird, weil ich dann zu
wenig esse, ist dadurch noch nicht festgelegt.
Darüber hinaus ist festzuhalten, dass der entscheidende Punkt in Ro-
dingtons Argumentation nicht darin besteht, dass Gott wirklich eingreift
und eine bestimmte Absicht verfolgt. Rodington konstruiert nur ein Ge-
dankenexperiment, um zu zeigen, dass der Anspruch auf absolut sicheres
Wissen nicht aufrechterhalten werden kann. Wenn es denkbar ist, dass Gott
eingreift, und wenn es somit denkbar ist, dass unsere Urteile falsch sind,
ohne dass wir dies bemerken, ist es denkbar, dass wir uns in unseren Ur-
teilen irren. Um die skeptische Hypothese zu formulieren und den Wissens-
anspruch zu reduzieren, braucht Rodington nicht mehr als diese Denkbar-
keit.
§ 16 Hypothetische Gewissheit
Rodington war nicht der einzige Autor des 14. Jhs., der eine skeptische
Hypothese einsetzte, um das Ideal eines absolut sicheren Wissens infrage
zu stellen. Der Dominikaner Wilhelm Crathorn, der zur selben Zeit wie
Rodington in Oxford lehrte und 1330–1332 die Sentenzen kommentierte,
bediente sich mit Rückgriff auf die Allmachtstheorie ebenfalls einer derarti-
gen Hypothese.105 Im Gegensatz zu Rodington begnügte er sich nicht damit,
in pauschaler Weise zu behaupten, dass Gott irreführende Erscheinungen
105
Crathorns Vorname ist umstritten. Statt „Wilhelm“ geben einige Handschriften auch
„Johannes“ an. Vgl. dazu sowie zur Datierung die Einführung des Herausgebers zu den
Quästionen, 4–5.
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Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dass der Grund für diese radi-
kale These in der Unzuverlässigkeit der Sinneswahrnehmung liegt. Da wir
immer wieder Opfer von Sinnestäuschungen und Halluzinationen werden,
die uns nicht-existierende Gegenstände als existierend präsentieren, ist keine
untrügerische Erkenntnis von der Existenz wahrnehmbarer Gegenstände
möglich. Angesichts der zahlreichen Beispiele, die aus der antiken Debatte
bekannt waren und im frühen 14. Jh. ausgiebig diskutiert wurden,107 wäre
eine solche Begründung zu erwarten. Crathorn liefert jedoch eine andere
Begründung, die einmal mehr zeigt, dass theologische Debatten eine phi-
losophische Sprengkraft entwickeln konnten. Sein Ausgangspunkt ist die
Eucharistiedebatte: Wenn ein Ungläubiger eine Hostie oder ein beliebiges
Stück Brot sieht, kann er nicht erkennen, ob es geweiht ist oder nicht, d.h. er
kann nicht erkennen, ob es sich wirklich um Brot oder um den Leib Christi
handelt. Wenn nun im Geheimen ein Stück Brot geweiht wird, so fährt
Crathorn fort, kann ein Christ ebenso wenig erkennen, ob es sich um ein
Stück Brot oder um den Leib Christi handelt.108 Alle wahrnehmbaren Ei-
genschaften sind ja genau gleich, ob das Brot geweiht wurde oder nicht. Das
heißt aber, dass auch ein Christ ausgehend von der Sinneswahrnehmung
nicht erkennen kann, ob eine bestimmte Substanz existiert oder nicht. Da
indessen nur durch eine Erkenntnis der wahrnehmbaren Eigenschaften ein
Zugang zu einer Substanz möglich ist, kann selbst ein Christ nicht erkennen,
ob eine bestimmte Substanz vorhanden ist. Daher kann er nie mit absoluter
Gewissheit wissen, ob ein Urteil wie ‚Ein Brot existiert‘ wahr ist.
Diese Argumentation ist bemerkenswert, weil sie bei einer im mittel-
alterlichen Kontext weithin geteilten ontologischen Annahme ansetzt,
daraus aber eine radikale epistemologische Konsequenz zieht. Unter den
106
Quästionen, q. 1 (ed. Hoffmann, 122): „... pro statu isto non poterimus habere cognitio-
nem naturalem evidentem et omnino infallibilem de huiusmodi complexis: Lapis est; panis
est; aqua est; ignis est, et sic de aliis ex cognitione quacumque sensibili.“
107
Peter Aureoli diskutiert sie ausführlich in Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3,
sect. 14 (ed. Buytaert, 696–698).
108
Vgl. Quästionen, q. 1 (ed. Hoffmann, 122).
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Autoren des späten 13. und des 14. Jhs., die das Eucharistieproblem mit-
hilfe der Transsubstantiationslehre zu erklären versuchten, war es nämlich
unumstritten, dass sich eine Substanz verändern kann, während die wahr-
nehmbaren Eigenschaften unverändert bleiben.109 Das heißt, dass die Sub-
stanz des Brotes zur Substanz des Leibes Christi werden kann, während die
Farbe, die Härte, der Geruch usw. unverändert bleiben. Dieser Annahme
liegt eine ontologische Trennbarkeitsthese zugrunde:
(1) Eine Substanz ist real (nicht nur begrifflich) von ihren wahrnehmbaren
Eigenschaften verschieden und kann daher von diesen abgetrennt wer-
den.
Dieser These fügt Crathorn nun eine weitere hinzu, die im späten 13. und
im 14. Jh. ebenfalls weithin geteilt wurde. Sie geht von der simplen An-
nahme aus, dass wir nie „nackte“ Substanzen erfassen können. Substanzen
sind immer Träger von Eigenschaften, und wir haben als sinnliche Lebewe-
sen nur zu den sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften einen Zugang. So
können wir nie direkt die Substanz des Brotes sehen oder riechen, sondern
nur eine bestimmte Farbe und einen bestimmten Geruch. Liegt ein Bündel
von charakteristischen Eigenschaften vor, können wir auf eine bestimmte
Substanz schließen. Mit dieser Aussage verpflichten wir uns aber auf eine
These des indirekten Zugangs zu Substanzen, wie Crathorn betont:
(2) Eine Substanz kann nur über die wahrnehmbaren Eigenschaften erkannt
werden.
Es ist leicht ersichtlich, dass daraus ein skeptischer Schluss gezogen werden
kann:
(3) Da wir eine Substanz nur über die wahrnehmbaren Eigenschaften er-
kennen können, sie aber jederzeit von diesen Eigenschaften abgetrennt
werden kann, können wir eine Substanz nie mit Gewissheit erkennen.
Dieser Schluss ist brisant, weil er sich nicht nur auf das Spezialproblem der
Eucharistie bezieht, sondern generell das Problem der Erkenntnis von Sub-
stanzen aufwirft. Die Trennbarkeitsthese eröffnet nämlich die Möglichkeit,
dass eine Substanz nicht nur während der Wandlung, sondern in jeder Situa-
tion verändert werden kann. Daher besteht in jeder Situation eine Ungewiss-
heit, dass tatsächlich eine bestimmte Substanz vorliegt. Crathorn vertritt
aus diesem Grund die Ansicht, dass nicht nur das Urteil ‚Ein Brot existiert‘
zweifelhaft ist, sondern jedes Urteil über die Existenz einer Substanz. Kon-
109
Die Transsubstantiationstheorie bot freilich nicht die einzige Erklärung für das Eucha-
ristieproblem, sie stellte im späten 13. und im 14. Jh. aber die dominante Theorie dar, wie
Bakker 1999 in seiner umfassenden Darstellung belegt.
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kret heißt dies: Selbst wenn ich jetzt etwas Braunes, Süßes, Wohlriechendes
erfasse und ausgehend von diesem Bündel von Eigenschaften schließe, dass
hier ein Stück Schokolade liegt, kann ich mich irren. Es könnte sein, dass
die Substanz der Schokolade jetzt gerade durch eine andere Substanz ersetzt
wird.
Crathorn bezweifelt mit dieser Argumentation nicht, dass wir im Prin-
zip auf das Vorliegen einer bestimmten Substanz schließen können und dass
wir daher im Prinzip auch eine Erkenntnis von Substanzen haben. Doch es
besteht keine evidente und untrügerische Erkenntnis, wie er ausdrücklich
betont. Daher müssen wir unseren Erkenntnisanspruch einschränken und
können nur noch sagen: Wenn die Substanz nicht gerade durch göttliches
Eingreifen verändert wird, dann können wir bei Vorliegen bestimmter Ei-
genschaften auf das Vorliegen einer bestimmten Substanz schließen. Somit
verfügen wir nicht über eine absolute, sondern nur über eine hypothetische
Gewissheit von der Existenz einer Substanz.
Mit dieser Argumentation stellt Crathorn freilich nicht infrage, dass
Substanzen existieren. Fraglich ist nur, welche Substanz jeweils existiert.
Crathorn erwägt an keiner Stelle die Möglichkeit, dass ein Bündel von
Eigenschaften ohne einen Träger existieren könnte. Ausgehend von einer
aristotelischen Ontologie hält er es für evident, dass Eigenschaften immer
abhängige Entitäten sind und dass daher irgendeine Substanz existieren
muss, damit auch die wahrnehmbaren Eigenschaften existieren können.110
Crathorn bezweifelt auch nicht, dass wir Eigenschaften erfassen können,
die tatsächlich in der materiellen Welt existieren, und dass wir diese Ei-
genschaften im Prinzip auch korrekt erkennen können. Daher zielt er
nicht auf einen Außenwelt-Skeptizismus oder auf einen Relativismus ab,
dem zufolge wir Eigenschaften in unterschiedlichen Situationen ganz un-
terschiedlich erfassen und nie sagen können, welche Eigenschaften wirk-
lich existieren. Trotzdem hat seine Argumentation weitreichende Konse-
quenzen. Wenn wir die Substanzen nie mit absoluter Gewissheit erkennen
können, sind wir nie imstande zu sagen, welche Struktur die materielle
Welt hat. Wir können nur Aussagen darüber machen, auf welche Substanz
Crathorn weicht allerdings von der traditionellen aristotelischen Ontologie ab, indem
110
er betont, dass nicht absolut, sondern nur relativ festgelegt ist, was nun eine Substanz ist und
was eine akzidentelle Eigenschaft. Je nach Situation kann eine Substanz von einer anderen
abhängen und somit als ihr Akzidens fungieren. Quästionen, q. 13 (ed. Hoffmann, 394):
„Quinta conclusio est quod aliqua eadem res numero respectu diversarum rerum potest vere
dici substantia et accidens et quod una substantia potest vere dici subiectum alterius. [...] una
substantia potest dici accidens et vere esse accidens respectu alterius, et alia substantia illius
subiectum.“ Wenn die Abhängigkeitsrelation auch variabel ist, steht doch immer fest, dass es
zwei verschiedene Arten von Entitäten gibt: unabhängige und abhängige. Damit grenzt sich
Crathorn von einer radikal atomistischen Ontologie ab.
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Diese These ist radikal, weil sie genau das infrage stellt, was in der bishe-
rigen Argumentation noch vorausgesetzt wurde, nämlich dass wir einen
Zugang zu wahrnehmbaren Eigenschaften haben. Wie gelangt Crathorn
zu dieser Radikalisierung? Er wählt den gleichen Ausgangspunkt wie
Thomas von Aquin und zahlreiche andere Autoren, die von einer aristote-
lischen Wahrnehmungstheorie inspiriert sind. Damit wir einen Zugang
zu einem Gegenstand in der materiellen Welt haben können, so behauptet
er, müssen wir die wahrnehmbaren Eigenschaften aufnehmen. Dies ge-
lingt uns nur, wenn zunächst unsere äußeren Sinne affiziert werden und
dann in den inneren Sinnen „sensible Species“ (species sensibiles) für die
einzelnen Wahrnehmungseigenschaften gebildet werden. Entscheidend ist
dabei, dass eine sensible Species eine Eigenschaft immer so darstellt, wie
sie in einer konkreten Situation mithilfe eines bestimmten Sinnes erfasst
wird. Wenn ich etwa weißen Schnee sehe, stellt mir die sensible Species
eine bestimmte Farbe dar. Doch was genau sehe ich dann? Genau an die-
sem Punkt setzt Crathorn mit seiner skeptischen Argumentation an. Er
behauptet, eine Person, die über die sensible Species von Weiße verfüge,
sehe „gleichzeitig und ohne Unterschied“ die Weiße und die Species von
Weiße. Daher könne sie allein aufgrund dessen, dass sie eine Species hat,
111
Quästionen, q. 1 (ed. Hoffmann, 123): „Nona conclusio est ista quod ex cognitione
sensitiva non potest viator habere cognitionem certam et omnino infallibilem de exsistentia
cuiuscumque accidentis extra animam.“
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nicht sagen, ob sie nun die Species in sich selber sieht oder die weiße Farbe
in der materiellen Welt.112
Dieser Schluss wirkt auf den ersten Blick kaum überzeugend. Mit Blick
auf die thomasische Wahrnehmungstheorie könnte man sogleich zwei Ein-
wände vorbringen. Erstens ist die sensible Species nicht das, was gesehen
wird, sondern immer nur das, womit etwas gesehen wird. Genau wie die
intelligible Species im Intellekt ist sie nur ein kognitives Hilfsmittel. Daher
ist es irreführend zu sagen, die Species selbst werde gesehen. Es gibt hier
keinen Blick nach innen, sondern nur nach außen: auf die weiße Farbe in
einem konkreten materiellen Gegenstand. Zweitens könnte man auf die be-
reits ausführlich dargestellte Identitätstheorie verweisen und betonen, dass
der Inhalt einer sensiblen Species eine wahrnehmbare Form ist, und zwar
dieselbe Form, die auch in einem materiellen Gegenstand existiert. Selbst
wenn man zugesteht, dass die sensible Species irgendwie gesehen oder er-
fasst wird, muss man damit nicht behaupten, dass eine innere Entität erfasst
wird. Vielmehr wird ein und dieselbe Form bzw. Farbstruktur aufgefasst,
die auch im materiellen Gegenstand präsent ist.
Diese Einwände sind aus Crathorns Sicht nicht überzeugend. Gegen das
erste Argument spricht, dass Thomas selber feststellt, die sensible Species
könne abgespeichert und bei Bedarf wieder abgerufen werden, sodass mit
ihrer Hilfe auch dann etwas erfasst werden kann, wenn kein materieller
Gegenstand präsent ist.113 Dies bedeutet aber, dass eine sensible Species das
unmittelbare Objekt eines Erfassensaktes sein kann. Sie ist, wie Crathorn
betont, durchaus etwas, das unmittelbar gesehen werden kann, nicht nur ein
Hilfsmittel, mit dem etwas gesehen wird. Er räumt zwar ein, dass auch die
Eigenschaft in einem äußeren Gegenstand gesehen werden kann, fügt aber
gleich hinzu, dass die Species ein perfektes Abbild (similitudo) dieser Ei-
genschaft ist.114 Daher kann die wahrnehmende Person nie bestimmen, was
ihr unmittelbares Objekt ist, die Species oder die Eigenschaft im materiellen
Gegenstand. Konkret heißt dies: Wenn ich durch eine Schneelandschaft
spaziere und einen intensiven Eindruck von weißer Farbe habe, kann ich nie
sagen, was ich nun unmittelbar erfasse, die weiße Farbe des Schnees oder
eine Species von Weiße. Ich kann nur den Inhalt meines Wahrnehmungs-
zustandes beschreiben.
Auf das Argument, das sich auf die Identitätstheorie beruft, geht Crat-
horn nicht explizit ein. Doch vor dem Hintergrund seiner ockhamistisch
112
Quästionen, q. 1 (ed. Hoffmann, 123): „Videns albedinem simul et indistincte videt
albedinem et speciem albedinis, nec potest ex hoc solo quod videt distinguere inter albedinem
et speciem albedinis.“
113
Vgl. STh I, q. 78, art. 4, corp.; De veritate, q. 1, art. 11, corp. (ed. Leonina XXII, 35).
114
Vgl. Quästionen, q. 1 (ed. Hoffmann, 123).
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Quästionen, q. 1 (ed. Hoffmann, 124): „Deus posset nulla albedine exsistente vel nulla
116
praesente ipsi potenti videre unam speciem albedinis creare in illa parte cerebri potentis videre,
quae est primo receptiva speciei visibilis ipso hoc ignorante, et tunc iudicaret se videre albe-
dinem extra exsistentem et sibi obiectam et praesentem et tamen nulla talis esset. Igitur videre
colorem non est sufficiens causa ad concludendum colorem exsistentem extra videntem.“
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Gott könnte also jetzt gerade die Species von strahlend weißem Schnee
in mir erzeugen, ohne dass es in meiner Umgebung Schnee gibt. Da diese
Species der wirklichen Weiße perfekt gliche, würde ich glauben, dass ich
eine weiße Farbe außerhalb von mir sehe. Gotte hätte mich perfekt ge-
täuscht.
Crathorn zieht aus dieser Überlegung den Schluss, dass das bloße Sehen
einer Farbe oder das Wahrnehmen irgendeiner anderen Eigenschaft nicht
zu einer Existenzbehauptung bezüglich einer Eigenschaft in der Außen-
welt berechtigt. Natürlich kann der Sehende immer noch sagen: „Ich sehe
eine Farbe“ und „Die Farbe ist etwas“.117 Doch dies heißt noch lange nicht,
dass die Farbe etwas außerhalb seiner inneren Sinne ist. Sie ist primär nichts
anderes als der Inhalt einer sensiblen Species. Und da die sehende Person nie
weiß, ob und wann Gott eingreift, kann sie immer nur sagen: „Ich erfasse
den Inhalt einer sensiblen Species und sehe daher eine Farbe. Ob diese
Species von einer wirklichen Farbe verursacht wurde, entzieht sich meiner
Kenntnis. Daher habe ich keine evidente Gewissheit von einer materiellen
Eigenschaft.“ Wenn dieses Argument verallgemeinert und auf jeden Wahr-
nehmungsakt angewendet wird, folgt daraus natürlich ein umfassender Au-
ßenwelt-Skeptizismus. In jeder Wahrnehmung kann man daran zweifeln,
ob man wirklich Zugang zu einer materiellen Eigenschaft hat oder ob man
nur den Inhalt einer sensiblen Species erfasst.
Verbindet man dieses Argument mit jenem, das Crathorn ausgehend
vom Eucharistieproblem entwickelt, ergibt sich ein radikaler Skeptizismus:
Wenn wir nur über die wahrnehmbaren Eigenschaften einen Zugang zu den
Substanzen in der materiellen Welt haben, jedoch nie wissen können, ob wir
wirklich die wahrnehmbaren Eigenschaften oder nur die eigenen Species
erfassen, können wir nie sicher sein, (a) ob es überhaupt wahrnehmbare
Eigenschaften in einer Außenwelt gibt und (b) ob es Substanzen als Träger
solcher Eigenschaften gibt. Wir können immer nur unsere Wahrnehmungs-
zustände beschreiben und die Vermutung aufstellen, dass sie tatsächlich von
äußeren Eigenschaften hervorgerufen wurden und dass diese Eigenschaften
tatsächlich Substanzen als Träger haben.
Heißt dies, dass wir jeden Wissensanspruch aufgeben müssen? Crathorn
zieht nicht diesen radikalen Schluss. Er betont vielmehr, dass wir folgende
Überlegung anstellen können:
„... obwohl der Pilger [sc. der Mensch im diesseitigen Leben] einzig aufgrund der
sinnlichen Erkenntnis keine evidente und vollständig untrügerische Erkennt-
nis davon haben kann, dass solche sinnlich erfassten Eigenschaften außerhalb des
Sehenden existieren, kann er doch aufgrund der sinnlichen Erkenntnis und des
durch sich bekannten Satzes ‚Gott bzw. die erste Ursache tut nichts vergeblich und
auf übernatürliche Weise, um die Menschen in den Irrtum zu führen‘ mit Evidenz
schließen, dass solche sinnlich erfassten Dinge existieren ...“118
118
Quästionen, q. 1 (ed. Hoffmann, 126–127): „... licet viator ex sola cognitione sensitiva
non possit habere cognitionem evidentem et omnino infallibilem quod tales qualitates sensa-
tae sint extra videntem, tamen ex cognitione sensitiva et isto complexo per se noto: Deus vel
prima causa nihil agit frustra et supernaturaliter ad inducendum homines in errorem, potest
evidenter concludere tales res sensatas esse ...“ Ibid., 150: „Deus nullum effectum supernatu-
ralem producit ad verificandum mendacium vel ad inducendum multitudinem hominum in
errorem; hoc enim bonitati suae repugnaret.“
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rekt die äußeren Gegenstände erfassen. Er geht von der Annahme aus, dass
die sog. Hilfsmittel – insbesondere die sensiblen Species – selbst kognitive
Objekte sind, die unmittelbar präsent sind und erfasst werden können.
Damit legt er die Grundlage für einen Repräsentationalismus: Nur ver-
mittelt über innere repräsentierende Zustände haben wir einen Zugang zu
äußeren Gegenständen. Das bloße Erfassen der inneren Zustände gibt uns
keine Evidenz oder Gewissheit, dass ihnen tatsächlich äußere Gegenstände
entsprechen, ja dass überhaupt äußere Gegenständen existieren und als ihre
Ursachen fungieren. Eine Gewissheit können wir nur gewinnen, wenn wir
das Eingreifen einer übernatürlichen Ursache ausschließen.
Die These, dass wir nur über eine hypothetische Gewissheit verfügen,
kennzeichnet nicht nur Crathorns Erkenntnistheorie. Auch andere Autoren
des 14. Jhs., die das Eingreifen Gottes als theoretische Möglichkeit erwägen,
vertreten diese These.119 Ein besonders prominenter Verfechter ist Peter von
Ailly, der ausdrücklich zwei Arten der Evidenz und damit auch zwei Arten
der Gewissheit unterscheidet.120 Seiner Ansicht nach benötigen wir diese
Unterscheidung, um den beiden Extrempositionen zu entgehen, denen man
in erkenntnistheoretischen Debatten leicht verfallen kann. Die eine Position
ist jene der Akademiker, die behaupten, dass es überhaupt keine Evidenz
und damit auch überhaupt keine Gewissheit gibt. Die andere Extrem-
position wird von den Dogmatikern eingenommen, die gerade umgekehrt
behaupten, es gebe immer eine Evidenz und wir Menschen könnten daher
jede Wahrheit mit Gewissheit erkennen. Der Grundfehler beider Positionen
besteht Peter von Ailly zufolge darin, dass nicht differenziert wird, welche
Art von Evidenz jeweils vorliegt und welche Art von Gewissheit dadurch
möglich ist. Genau diese Differenzierung ist aber erforderlich, um die Er-
kenntnisansprüche angemessen einschätzen zu können.
Wenn wir eine Differenzierung vornehmen, so stellt Peter fest, müssen
wir festhalten, dass es in einigen Fällen eine „Evidenz schlechthin“ (evi-
dentia simpliciter) gibt, die sich durch drei Merkmale auszeichnet: (i) Es
liegt eine wahre Zustimmung vor, (ii) die Zustimmung wird ohne Furcht
gegeben und (iii) die Zustimmung wird auf natürliche Weise verursacht.121
Über diese Art von Evidenz verfügen wir, wenn wir das erste Prinzip und
analytische Aussagen erfassen. Dies kann man leicht anhand jenes Bei-
119
Jene Autoren, die diese These im Rahmen der Theorie der intuitiven Erkenntnis dis-
kutieren, sollen in Kapitel III ausführlich erörtert werden (vgl. §§ 22–24).
120
Er trifft diese Unterscheidung in seinem Sentenzenkommentar, der 1376/77 entstanden
ist. Vgl. zur Datierung der philosophischen Werke Chappuis / Pluta / Kaczmarek 1986. Wie
Maier 1967 in ihrer Pionierarbeit bereits gezeigt hat, schließt er an eine lebhaft geführte
Debatte an, an der sich vor ihm bereits Johannes Mirecourt, Johannes Buridan und andere
beteiligt hatten. Zum epistemologischen Kontext von Peters Diskussion vgl. Biard 1992.
121
Quaestiones super libros Sententiarum (ed. Straßburg 1490, dr): „Evidentia absoluta sim-
pliciter potest describi quod est assensus verus sine formidine causatus naturaliter.“
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spiels veranschaulichen, das bereits Duns Scotus diskutiert hat (vgl. § 9).
Wenn wir die Aussage ‚Ein Ganzes ist größer als jeder seiner Teile‘ erfassen
und ihr zustimmen, so tun wir dies mit absoluter, durch nichts zu beein-
trächtigender Evidenz, denn wir behaupten etwas, was immer und überall
wahr ist; wir geben unsere Zustimmung ohne zu zaudern oder uns sonst
irgendwie zu fürchten, dass wir einem Irrtum verfallen könnten; und wir
sind allein durch das Erfassen der Termini in der Lage, unsere Zustim-
mung zu geben. Selbst wenn Gott intervenierte und uns vorgaukelte, dass
etwas Ganzes vor uns liegt, obwohl kein materieller Gegenstand präsent
ist, würden wir immer noch über eine absolute Evidenz verfügen. Diese
Evidenz liegt nämlich darin begründet, dass wir eine Aussage erfassen,
deren Wahrheit durch die Bedeutung ihrer Termini gegeben ist, unabhän-
gig von der Existenz eines materiellen Gegenstandes.
Peter behauptet, dass darüber hinaus auch Aussagen über die eigenen
Akte mit absoluter Evidenz erfasst werden. Mit Verweis auf Augustinus
stellt er fest, dass etwa die Aussagen ‚Wir leben‘ oder ‚Wir fürchten uns‘ ab-
solut evident sind. Streng genommen müssten diese Aussagen in der ersten
Person Singular formuliert werden, denn nur ‚Ich fürchte mich‘ ist absolut
evident, solange ich mich fürchte – ganz einfach, weil mir mein eigener
mentaler Zustand unmittelbar präsent ist, und zwar unabhängig von der
Existenz materieller Gegenstände, ja sogar unabhängig von der Existenz
eines Gegenstandes, der mir Furcht einflößen könnte. Auch hier gilt wieder:
Selbst wenn Gott intervenierte und mir direkt die Furcht eingäbe, wäre die
Tatsache, dass ich mich fürchte, absolut evident. Daher kann ich auch die
Aussage ‚Ich fürchte mich‘ mit absoluter Evidenz erfassen.
Davon zu unterscheiden ist die „relative und bedingte Evidenz“ (eviden-
tia secundum quid et condicionata). Sie betrifft Aussagen über materielle
Gegenstände, denn das bloße Vorliegen eines Wahrnehmungszustandes, der
einen Gegenstand präsentiert, garantiert nicht, dass tatsächlich ein Gegen-
stand vorhanden ist. Peter betont:
„... was auch immer Gott mit einer oder mit mehreren sekundären Ursachen be-
wirken kann, kann er durch sich selbst bewirken. Und wenn zwei beliebige Dinge
gegeben sind, von denen das eine nicht Teil des anderen ist, kann Gott das eine
bewahren, wenn das andere zerstört ist. Folglich könnte er eine Wahrnehmung in
der Seele aufrechterhalten, während ein beliebiger äußerer Gegenstand zerstört ist.
Und so wird das Beweisziel erreicht.“122
122
Quaestiones super libros Sententiarum (ed. Straßburg 1490, dv): „... quicquid deus po-
test facere mediante causa secunda vel mediantibus causis secundis potest per seipsum. Et
quibuscunque duabus rebus datis quarum una non est pars alterius, deus potest unam illarum
conservare alia destructa. Et per consequens destructo quolibet sensibili extrinseco posset
conservare in anima sensationem et habetur propositum.“
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Gott könnte also jetzt gerade die Wahrnehmung von Schnee in mir auf-
rechterhalten, gleichzeitig aber den Schnee auf der Wiese zerstören.
Er könnte dies so perfekt tun, dass ich dies nicht bemerken würde und
glaubte, ich würde tatsächlich Schnee auf der Wiese sehen. Die Begrün-
dung, die Peter für diese These gibt, ist genau gleich wie jene, die sich
bereits bei Crathorn findet: Der Wahrnehmungszustand ist eine vom
äußeren Gegenstand distinkte Entität, und wenn zwei Entitäten distinkt
sind, können sie jederzeit voneinander getrennt werden. Auch Peter ver-
wirft somit die These, dass eine Relation der formalen Identität zwischen
dem Wahrnehmungszustand (oder genauer: dem Inhalt dieses Zustandes)
und dem äußeren Gegenstand besteht. Seiner Ansicht nach wäre es reine
Spekulation anzunehmen, dass eine Form aus einem Gegenstand abgelöst
und irgendwie in den Geist des Erkennenden aufgenommen wird. Ebenso
spekulativ wäre es zu behaupten, dass dieselbe Form im materiellen Ge-
genstand und im immateriellen Geist existiert. Wenn es überhaupt eine
Relation zwischen dem materiellen Gegenstand und dem Erkennenden
gibt, so ist dies nur eine Kausalrelation: Der Gegenstand wirkt auf die
Sinne ein und löst einen Wahrnehmungszustand aus. Aber wie jede andere
sekundäre Ursache kann auch diese durch die primäre Ursache, d.h. durch
Gott, ersetzt werden.
Heißt dies, dass wir nie wissen können, ob ein Wahrnehmungszustand
tatsächlich von einem materiellen Gegenstand verursacht wurde? Und hat
dies zur Folge, dass wir jeden Erkenntnisanspruch mit Bezug auf äußere
Gegenstände fallen lassen müssen? Genau um diesen Schluss zu vermeiden,
führt Peter den Begriff der bedingten Evidenz ein. Er behauptet, dass wir
nach wie vor einen Erkenntnisanspruch aufrechterhalten können, diesen
aber qualifizieren müssen. Das heißt: Wenn wir voraussetzen, dass Gott
nicht in den normalen Weltverlauf eingreift und kein Wunder bewirkt,
dann können wir jeden vernünftigen Zweifel ausschließen und sicher sein,
dass sich unsere Wahrnehmungszustände auf Gegenstände beziehen, die
tatsächlich existieren.123 Mit dem Verweis auf diese Bedingung versucht
Peter, die beiden bereits genannten Extrempositionen zu vermeiden und
einen Mittelweg einzuschlagen. Zum einen will er einer radikal skeptischen
Position entgehen, der zufolge wir über keine Evidenz verfügen und folglich
auf jeden Erkenntnisanspruch verzichten müssen. Zum anderen distanziert
er sich aber auch von einer dogmatischen Position, die das mögliche Ein-
greifen Gottes einfach ausblendet und behauptet, dass wir dank unserer
123
Quaestiones super libros Sententiarum (ed. Straßburg 1490, dv): „... loquendo de eviden-
tia secundum quid seu condicionata vel ex suppositione scilicet stante dei influentia generali et
cursu nature solito nulloque facto miraculo talia possunt esse nobis sufficienter evidentia sic
quod de ipsis non habemus rationabiliter dubitare.“
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Bislang ist deutlich geworden, dass die Hypothese von einem allmächtigen,
nicht an die natürliche Ordnung gebundenen Gott im 14. Jh. zunehmend
an Bedeutung gewann. Sie wurde jedoch nicht eingesetzt, um Erkennt-
nisansprüche vollständig zurückzuweisen, sondern höchstens, um sie ein-
zuschränken oder mit Bedingungen zu versehen. Und selbst wenn Gott
eingreift, so wurde angenommen, täuscht oder belügt er die Menschen
nicht. Ein gütiger Gott kann nämlich gar keine Täuschungsabsicht hegen.
Daher kann zwar theoretisch die Möglichkeit eines manipulierenden Gottes
erwogen werden, praktisch gesehen spielt sie aber keine Rolle. Wir können
uns darauf verlassen, dass der gütige Gott seine Macht, mit der er in die
Erkenntnisprozesse eingreifen kann, nicht ausübt, um uns zu täuschen.
Doch können wir tatsächlich sicher sein, dass Gott uns nicht täuscht?
Könnte es nicht sein, dass er uns trotz seiner Güte falsche Meinungen ein-
gibt? Oder könnte es nicht sogar sein, dass er uns wegen seiner Güte falsche
Meinungen eingibt, nämlich weil er uns in seiner weisen Voraussicht gewisse
Wahrheiten ersparen will? Verschiedene Philosophen und Theologen des
14. Jhs. widmeten sich diesen Fragen.124 Ein Autor, der sie besonders einge-
hend erörterte, war Gregor von Rimini. Er kommentierte im Studienjahr
1343–1344 an der Pariser Universität die Sentenzen und setzte wie vor ihm
Rodington und Crathorn und nach ihm Peter von Ailly bei der These an, dass
der Wahrnehmungszustand einer Person und der äußere Gegenstand zwei
distinkte Entitäten sind. Gott könnte jederzeit den Zustand hervorbringen,
ohne dass ein äußerer Gegenstand existiert, denn wie in jeder Kausalrelation
könnte Gott auch hier eine Entität ohne die Mithilfe einer anderen Entität
hervorbringen.125 Gregor ist sich bewusst, dass diese These ein Problem auf-
wirft. Wenn Gott in mir einen Wahrnehmungszustand verursacht, mit dem
ich eine weiße Wand sehe, ohne dass es tatsächlich eine weiße Wand gibt,
urteile ich entweder, dass die Wand existiert, oder ich urteile, dass sie nicht
existiert. Im ersten Fall bilde ich ein falsches Urteil, das durch die göttliche
Intervention verursacht wurde; Gott hat mich also getäuscht. Im zweiten
Fall bilde ich zwar ein wahres Urteil, aber es ist seltsamerweise durch einen
Wahrnehmungszustand ausgelöst worden, der normalerweise ein positives
124
Diese Diskussionen begannen 1320–1330 in Oxford (bei Robert Holkot, Thomas Brad-
wardine u.a.), setzten sich danach in Paris fort (bei Johannes Mirecourt, Pierre de Ceffons,
Gregor von Rimini, Hugolin von Orvieto, Peter von Ailly u.a.) und dominierten die Debat-
ten bis weit in das 15. Jh. hinein. Vgl. einen Überblick in Gregory 1974 und Genest 1984. Zur
Verknüpfung dieser Debatten mit Diskussionen über die futura contingentia, die hier nicht
analysiert werden sollen, vgl. Gelber 2004, 200–222.
125
Vgl. Lectura super primum et secundum Sententiarum I, dist. 3, q. 1 (Bd. I, 332). Vgl. zur
Datierung die editorische Einleitung (Bd. I, XII).
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127
Lectura I, dist. 3, q. 1 (Bd. I, 336): „... tunc deus per se et directe me falleret.“
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128
Robert Holkot, In quatuor libros Sententiarum quaestiones, lib. III, q. 1 (ed. Lyon 1518,
CCC, responsio): „Communiter et tamen proprie loquendo decipere vel fallere non est aliud
quam esse causam erroris alicuius, et sic capio ,fallere‘ et ,decipere‘ in articulo pertractrato.
Secundo modo capiuntur tales termini stricte et improprie, ut in diffinitione exprimente quid
nominis includuntur talia syncathegoreumata ,iniuste‘ vel ,malitiose‘ sive ,vitiose‘ vel ,deordi-
nate‘ vel aliquid equivalens. Et sic fallere importat causeare iniuste vel deordinate errorem.“
In den von Streveler & Tachau versammelten Quaestionen aus dem Sentenzenkommentar und
den Quodlibeta trifft Holkot ebenfalls diese Unterscheidung; vgl. Streveler & Tachau 1995,
156, sowie die in der Einleitung (ibid., 47–55) zitierten Stellen.
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Sinn Gott einem Menschen etwas Falsches sagen oder in ihm ein falsches
Urteil hervorbringen kann. Dafür greift er auf die Theorie der Lüge zurück,
die seit Augustinus ein fester Bestandteil der sprachphilosophischen Debat-
ten im Mittelalter war.129 Will man beurteilen, ob jemand – Gott oder ein
Mensch – lügt, muss man erstens prüfen, ob er überhaupt die Absicht hat,
mit seiner Aussage etwas anders darzustellen, als es ist. Man könnte dies die
Intentionsbedingung nennen. Es gilt nämlich, dass „man von niemandem
im strengen und eigentlichen Sinn behauptet, dass er etwas Falsches sagt,
wenn er mit seiner Aussage nicht beabsichtigt, das zu bezeichnen, was
falsch ist...“130 Dies ist eine entscheidende Bedingung, weil jemand mit ein
und derselben Aussage verschiedene Absichten verfolgen kann. So kann
jemand etwas ironisch äußern, d.h. derart, dass er im wörtlichen Sinn zwar
etwas Falsches sagt, jedoch auf eine übertragene Bedeutung abzielt und
daher nicht etwas Falsches behaupten will. Gregor stellt fest, dass auch Gott
etwas ironisch sagen kann, und gibt dafür ein anschauliches Beispiel. Wenn
Gott sagt: „Adam ist gleichsam eins mit uns“, so beabsichtigt er nicht, zu
behaupten, dass Adam tatsächlich mit Gott eins ist. Er äußert dies vielmehr
ironisch, um sich über Adam lustig zu machen, der sich auf die gleiche Stufe
stellt wie Gott. Da Gott gar nicht die Absicht hat, etwas Falsches zu sagen,
kann man auch nicht behaupten, er lüge.
Selbst wenn eine Aussage nicht in ironischer Absicht erfolgt, gilt es noch
zu prüfen, ob sie auch einen assertorischen Charakter hat, d.h. ob auch be-
hauptet wird, dass das, was gesagt wird, tatsächlich der Fall ist. Man könnte
dies die Behauptungsbedingung nennen, die Gregor ebenfalls mit einem an-
schaulichen Beispiel illustriert.131 Jemand kann zu sich selber sagen: „Gott
existiert nicht“, ohne damit gleich zu behaupten, dass Gott nicht existiert.
Er kann bloß den Gedanken erwägen, ohne ihm zuzustimmen. Dies ist auch
Gott möglich, d.h. auch er kann für sich selber Gedanken erwägen oder
den Menschen Gedanken eingeben, ohne damit etwas zu behaupten. Daher
kann Gott einem Menschen durchaus einen falschen Gedanken eingeben,
ohne ihn damit gleich zu täuschen oder zu belügen. Konkret heißt dies:
Gott könnte jetzt in mir den Gedanken an delikate Schokolade erzeugen.
Solange er in mir nicht auch die Behauptung erzeugt, dass Schokolade vor
mir liegt, hat er mich nicht getäuscht. Er hat mich bloß dazu gebracht, dass
ich einen Gedanken erwäge.
Die Behauptungsbedingung verdeutlicht, dass Gregor sorgfältig zwischen
129
Vgl. Lectura I, dist. 42–44, q. 2 (Bd. III, 390–391); zum Hintergrund dieser Analyse vgl.
Rosier-Catach 2004 298–304.
130
Lectura I, dist. 42–44, q. 2 (Bd. III, 390): „... nullus recte et proprie dicitur dicere falsum,
nisi intendat per suum dictum significare id, quod est falsum...“
131
Vgl. Lectura I, dist. 42–44, q. 2 (Bd. III, 391).
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Mit dieser Feststellung versucht Gregor die Annahme, dass Gott uns täu-
schen und belügen könnte, ad absurdum zu führen. Würden wir diese An-
nahme ernst nehmen, müssten wir Gott immer misstrauen. Und das heißt
natürlich, dass wir die Güte Gottes immer infrage stellen müssten. Genau
um dieser Konsequenz zu entgehen, betont Gregor, dass wir die Täu-
schungshypothese ausschließen müssen.
Genau wie Gregor lehnt auch Peter von Ailly in seinem Kommentar zu
den Sentenzen die Möglichkeit einer göttlichen Täuschung ab. Im Gegen-
satz zu Gregor begründet er diese These aber nicht damit, dass Gott dem
Menschen höchstens in ironischer oder nicht-assertorischer Weise etwas
Falsches mitteilen kann. Wenn Gott in seiner Allmacht unbegrenzt ist,
kann er durchaus in nicht-ironischer Weise etwas behaupten, das falsch ist,
und dies einem Menschen mitteilen. Daher stellt Peter zunächst fest, dass
Gott im Prinzip eine Täuschung verursachen kann. Doch er fügt sogleich
132
Lectura I, dist. 42–44, q. 2 (Bd. III, 391): „Est ergo prima conclusio quod deus in sensu
dato de dicere falsum non potest alicui dicere falsum volens quid is, cui dicit, assentiat illi
dicto.“
133
Vgl. Lectura I, dist. 42–44, q. 2 (Bd. III, 392 und 395).
134
Lectura I, dist. 42, q. 2, additio 158 (Bd. III, 398): „... si deus posset asserere falsum,
sequeretur quod quodlibet dictum eius non evidenter verum rationabiliter posset esse de falsi-
tate suspectum, et per consequens nulli tali incunctanter et indubitanter credere teneremus.“
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135
Quaestiones super libros sententiarum I, q. 12 (ed. Straßburg 1490, GG): „Secunda pro-
positio est quod deus non potest se solo causare deceptionem vel errorem in mente rationalis
creature. [...] Cum igitur quelibet deceptio sit quidam assensus, sequitur quod licet deus pos-
sit illam rem se solo causare in mente rationalis creature, non potest facere quod sit ei error vel
deceptio ipsa non concurrente etc.“
§ 18 Schlussfolgerungen 199
ausgedrückt könnte man sagen: Durch die Berufung auf die Allmachtslehre
legen sie zwar skeptisches Potenzial frei, doch der größere theologische
Rahmen verhindert, dass sie dieses Potenzial ausschöpfen.
§ 18 Schlussfolgerungen
scheint es eine einfache Antwort auf diese Frage zu geben. Das Dämon-Sze-
nario stellt für ihn keine radikale Bedrohung dar, weil der Dämon von vorn-
herein als ein Wesen bestimmt wird, das nur die Sinne manipulieren kann,
nicht aber den Intellekt. Und selbst wenn er in die Sinne eingreift, kann er
nur vorhandene Vorstellungsbilder manipulieren, aber nicht vollständig
neue Vorstellungsbilder erzeugen. Somit kann selbst ein Dämon nur eine
lokale Täuschung bewirken, aber er kann uns nicht global täuschen, weil er
nicht die natürliche Relation zur Außenwelt zunichte machen kann. Auch
in der Annahme eines allmächtigen Gottes sieht Thomas keine radikale Be-
drohung. Gott hat sich nämlich für eine bestimmte Ordnung entschieden,
in die er nicht willkürlich eingreift, und er kann aufgrund seiner Güte gar
keine Täuschungsabsicht hegen.
Betrachtet man Thomas‘ Auseinandersetzung mit Täuschungsszenarien
etwas genauer, zeigt sich allerdings, dass seine antiskeptische Strategie auf
tiefer liegenden theoretischen Annahmen beruht. Man könnte von drei
Formen des Optimismus sprechen, auf die sich Thomas beruft, um einen
Außenwelt-Skeptizismus abzuwehren. Erstens vertritt er einen metaphy-
sischen Optimismus, indem er davon ausgeht, dass es universale Formen
gibt, die auf verschiedene Weisen an verschiedenen Orten instantiiert sein
können. Dieser Optimismus ermöglicht es ihm, die These zu verteidigen,
dass ein und dieselbe Form im Intellekt und in einem materiellen Gegen-
stand existiert und dass wir daher in einer intelligiblen Species immer die
Form erfassen, die auch außerhalb des Intellekts vorkommt. Die Annahme,
dass wir in der mentalen Welt unserer Species gefangen sind oder dass wir
nur vermuten können, dass die Species auf materielle Gegenstände verwei-
sen, wird dadurch von Anfang an zurückgewiesen. Die Identitätsrelation
zwischen der Form im Intellekt und außerhalb des Intellekts schweißt die
mentale und die materielle Welt gleichsam zusammen. Zweitens geht Tho-
mas auch von einem epistemologischen Optimismus aus, indem er annimmt,
dass der menschliche Intellekt von Natur aus imstande ist, die Form eines
Gegenstandes korrekt zu erfassen. Wie in § 12 ausgeführt wurde, beruht
diese Annahme auf der These, dass jeder Intellekt in einer Partizipations-
relation zu Gott steht und dass daher in jedem Intellekt eine „Einprägung
der ersten Wahrheit“ vorhanden ist. Aufgrund dieser Einprägung ist der
Intellekt imstande, die jeweilige Form korrekt aus einem Vorstellungsbild
zu abstrahieren und korrekte Urteile zu bilden. Dass der Intellekt über Ur-
teile verfügt, die zwar kohärent sind, aber in keiner Verbindung zu einer
Außenwelt stehen, wird damit von vornherein ausgeschlossen. Drittens
schließlich wählt Thomas auch einen theologischen Optimismus, indem er
davon ausgeht, dass Gott aufgrund seiner Güte gar keine Täuschungsabsicht
haben kann. Im Gegenteil: Für Thomas ist Gott der Garant dafür, dass
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§ 18 Schlussfolgerungen 201
horn, dass wir mithilfe von sensiblen und intelligiblen Species tatsächlich
dieselben Formen aufnehmen, die auch in den materiellen Gegenständen
existieren. Was erlaubt uns, hier von der zweifachen Präsenz einer Form zu
sprechen? Oder grundsätzlicher gefragt: Mit welchem Recht wird hier ein
Universalienrealismus vorausgesetzt, dem zufolge ein und dieselbe Form an
verschiedenen Orten instantiiert sein kann? Wer eine Species erfasst, kann
doch zunächst nur feststellen, dass er Zugang zu einer kognitiven Entität
hat. Ob der Inhalt dieser Entität durch eine Form festgelegt wird, die auch
in einem materiellen Gegenstand vorkommt, ist metaphysische Spekulation
und steht keineswegs als eine evidente Tatsache fest. Auch Thomas’ theo-
logischer Optimismus lässt sich bezweifeln, wie Rodingtons und Peter
von Aillys Rekurs auf Allmachtsargumente verdeutlicht. Gott ist in keiner
Weise daran gebunden, immer jene natürliche Ordnung aufrechtzuerhalten,
für die er sich einmal entschieden hat. Er kann sehr wohl punktuell in diese
Ordnung eingreifen und Erscheinungen produzieren, denen keine Gegen-
stände in der materiellen Welt entsprechen. Dies widerspricht keineswegs
seiner Güte, weil Gott ja nicht mit schlechter Absicht in die Ordnung ein-
greift. Schließlich lässt sich auch Thomas’ epistemologischer Optimismus
bezweifeln, wie Crathorns Aussage, dass wir die natürlichen Substanzen
nicht mit absoluter Evidenz erkennen können, verdeutlicht. Denn mit
welchem Recht können wir annehmen, dass tatsächlich die „ersten Wahr-
heiten“ in unserem Intellekt präsent sind und dass wir daher in der Lage
sind, die Substanzen in der materiellen Welt zu erkennen? Es kann sehr
gut sein, dass wir nur wahrnehmbare Eigenschaften erfassen und bloße
Vermutungen über die zugrunde liegenden Substanzen aufstellen können.
Diese Vermutungen können auch falsch sein, weil Substanzen ausgetauscht
werden können, ohne dass wir dies bemerken.
Diese Reaktion auf die drei Formen des Optimismus verdeutlicht, dass
der Umgang mit skeptischen Hypothesen immer vom jeweiligen theo-
retischen Rahmen geprägt ist. Ob diese Hypothesen zu einem Außenwelt-
Skeptizismus führen oder ob sie entschärft werden, hängt davon ab, in
welchem Kontext sie diskutiert werden. Von besonderer Bedeutung ist die
Berücksichtigung des Kontextes, wenn die Debatten des 14. Jhs. mit Des-
cartes’ berühmter Diskussion der skeptischen Hypothesen in der Ersten
Meditation verglichen werden. Die mittelalterlichen Autoren – etwa Ro-
dington und Peter von Ailly – gehen auf derartige Hypothesen in einem
Kontext ein, in dem es ausschließlich darum geht, den Anspruch auf abso-
lute Gewissheit aufzugeben. Ihrer Meinung nach können wir angesichts der
Hypothesen nur noch sagen: Wenn Gott die natürliche Ordnung aufrecht
erhält und nicht anstelle der sekundären Ursachen handelt, dann können
wir sicher sein, dass unsere Erkenntniszustände von äußeren Gegenständen
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§ 18 Schlussfolgerungen 203
verursacht werden und dass sie sich auch auf diese Gegenstände beziehen.
Die absolute Gewissheit ist also durch eine hypothetische Gewissheit zu
ersetzen. Trotzdem besteht eine Gewissheit, die uns erlaubt, ein Wissen von
der materiellen Welt zu erwerben.
Ganz anders verhält es sich bei Descartes. Seine Reaktion auf die Hy-
pothese vom bösen Dämon besteht bekanntlich nicht darin, dass er nur
noch eine hypothetische Gewissheit in Anspruch nimmt. Er stellt vielmehr
jede Gewissheit bezüglich unseres Wissens von einer materiellen Welt in-
frage und zieht sich auf die Gewissheit der eigenen mentalen Zustände als
die einzige Gewissheit zurück. Es wäre daher unangemessen, in den mittel-
alterlichen Diskussionen skeptischer Szenarien nur eine Vorgeschichte des
Cartesianismus zu sehen. Die Verwendung der Täuschungshypothese bei
Rodington, Peter von Ailly u.a. unterscheidet sich in grundlegender Weise
von jener bei Descartes.137 Doch warum verwendeten die mittelalterlichen
Autoren diese Hypothese nicht, um jede Gewissheit von der Existenz einer
materiellen Welt zu bezweifeln? Mindestens zwei Gründe lassen sich an-
führen.
Der erste Grund liegt im Aristotelismus, dem die mittelalterlichen
Autoren verpflichtet waren. Dass es eine Welt mit Gegenständen aus Form
und Materie gibt, dass diese Gegenstände auf die Sinne einwirken und dass
die Sinneseindrücke Erkenntniszustände im Intellekt hervorrufen, war für
sie unstrittig. Fraglich war nur, ob diese natürliche Kausalkette punktuell
unterbrochen werden kann. Daher stellten sie nicht prinzipiell infrage, dass
durch natürliche kognitive Prozesse zuverlässige Erkenntnis gewonnen
werden kann. Mit ihrem Verweis auf die hypothetische Gewissheit stellten
sie nur infrage, dass immer und ausnahmslos natürliche Prozesse vorliegen.
Im Gegensatz dazu setzt Descartes die Täuschungshypothese und andere
skeptische Szenarien ein, um den Aristotelismus infrage zu stellen. Alle
überlieferten Meinungen – auch und vor allem die aristotelischen Meinun-
gen bezüglich der Struktur der materiellen Welt – sollen mithilfe dieser
Szenarien über Bord geworfen werden. Es soll gleichsam eine tabula rasa
geschaffen werden, um eine neue Grundlage für ein nicht-aristotelisches
Weltbild zu gewinnen.138 Aus diesem Grund stellt Descartes prinzipiell in-
137
Dies ist gegenüber älteren Interpreten (etwa Gregory 1974) festzuhalten, die in den spät-
mittelalterlichen Debatten nach Vorläufern für Descartes’ hyperbolischen Zweifel suchten.
Wie Bermúdez 2000 zu Recht betont, verwendet Descartes zwar Elemente der spätmittel-
alterlichen Diskussion, geht aber über diese hinaus, indem er einen globalen Außenwelt-
Skeptizismus einführt.
138
Daher behauptet Descartes am Anfang der Ersten Meditation (AT VII, 17), „einmal im
Leben“ müsse radikal gezweifelt werden, um „von den ersten Fundamenten“ an neu anzufan-
gen. Keiner der hier diskutierten mittelalterlichen Autoren wählt diese Strategie. Ihrer Meinung
nach kann man immer wieder zweifeln, aber immer nur punktuell.
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frage, dass es natürliche Kausalrelationen gibt, die uns mit einer Welt von
Gegenständen aus Form und Materie verbinden.
Der zweite Grund für die Differenz liegt im Erkenntnisprojekt, das
die mittelalterlichen Autoren verfolgen. Im Gegensatz zu Descartes, der
ein fundamentalistisches Projekt entwickelt und jede Erkenntnis auf eine
absolut unbezweifelbare Grundlage stellen will, verfolgen die bislang dis-
kutierten Autoren eher ein Projekt, das man in moderner Terminologie „re-
liabilistisch“ nennen könnte. Das heißt, sie versuchen zu zeigen, wie mithilfe
zuverlässiger kognitiver Prozesse, die von Natur aus stattfinden, korrekte
Erkenntnis von materiellen Gegenständen gewonnen werden kann. Sie stre-
ben also nicht danach, eine einzige, absolut unbezweifelbare Grundlage zu
finden und jede Erkenntnis auf diese Grundlage zurückzuführen, sondern
untersuchen, welche Erkenntnisbedingungen und welche kognitiven Me-
chanismen vorliegen müssen, damit korrekte Erkenntnis gewonnen werden
kann. Im Rahmen dieses reliabilistischen Projekts lässt sich durchaus ein-
räumen, dass in einigen Fällen keine korrekte Erkenntnis gewonnen wird,
nämlich genau dann, wenn Gott eingreift und die natürlichen Ursachen
außer Kraft setzt. Doch daraus folgt nicht, dass Erkenntnis gleich in allen
Fällen zweifelhaft wird. Vielmehr lässt sich spezifizieren, welche Erkennt-
nisbedingungen gelegentlich nicht erfüllt sind und warum dadurch punk-
tuell die zuverlässigen kognitiven Prozesse außer Kraft gesetzt werden. Aus
diesem Grund bringt Crathorn, Rodington, Gregor von Rimini und Peter
von Ailly die Feststellung, dass Gott manchmal in den Erkenntnisprozess
eingreifen kann, nicht gleich zu dem radikalen Schluss, dass jede Erkenntnis
von der materiellen Welt zweifelhaft ist und dass wir uns auf die Gewiss-
heit der eigenen mentalen Zustände beschränken müssen. Ihr Schluss lautet
vielmehr, dass wir nicht absolut behaupten dürfen, wir hätten immer und
bedingungslos eine unbezweifelbare Erkenntnis von der materiellen Welt.
Betrachtet man den mittelalterlichen Umgang mit skeptischen Szenarien
in dieser Perspektive, führt er weniger zu Descartes als zu gegenwärtigen
antiskeptischen Strategien, die sich auf die prinzipielle Zuverlässigkeit kog
nitiver Prozesse berufen. Die Beweislast liegt dann nicht beim Antiskepti-
ker, der von dieser Zuverlässigkeit ausgeht, sondern beim Skeptiker, der erst
einmal nachweisen muss, dass die Zuverlässigkeit in konkreten Fällen nicht
gegeben ist.139 Zahlreiche mittelalterliche Autoren gingen von der Zuverläs-
sigkeit aus, weil sie mit der bereits mehrfach erwähnten aristotelischen An-
nahme operierten, dass die materiellen Gegenstände aus Form und Materie
bestehen und dass der menschliche Intellekt von Natur aus so gebaut ist,
Vgl. zu dieser Umdrehung der Beweislast in der gegenwärtigen Debatte prägnant Hill
139
§ 18 Schlussfolgerungen 205
dass er die Form aufnehmen kann. Weil dieses Aufnehmen ein natürlicher,
zuverlässiger Prozess ist, kann im Normalfall eine korrekte Erkenntnis
gewonnen werden.
Doch welche Konsequenzen ergeben sich, wenn das Aufnehmen der
Form nicht mehr vorausgesetzt wird? Wie kann dann noch behauptet wer-
den, der Intellekt könne von Natur aus eine korrekte Erkenntnis gewinnen?
Diese Fragen stellen sich vor allem mit Blick auf Ockham und seine Nach-
folger, die bestritten, dass eine Form aufgenommen wird und dass eine for-
male Identität zwischen der Form im Intellekt und außerhalb des Intellekts
hergestellt wird. Wie lässt sich die These aufrechterhalten, dass wir einen
zuverlässigen kognitiven Zugang zur materiellen Welt haben, wenn die
mentale und die materiale Welt durch keine formale Identität gleichsam zu-
sammengeschweißt werden? Diese Frage gilt es im folgenden Kapitel näher
zu untersuchen.
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III
ZWEIFEL AN DER INTUITIVEN ERKENNTNIS
(WILHELM VON OCKHAM, WALTER CHATTON,
FRANZISKUS VON MAYRONIS, ADAM WODEHAM)
Das Erkenntnismodell, das Thomas von Aquin entwickelte, blieb weit über
das 13. Jh. hinaus einflussreich und diente bis in die frühe Neuzeit hinein
gleichsam als antiskeptische Waffe. Wenn es nämlich keinen Erkenntnis-
akt geben kann, ohne dass ein äußerer Gegenstand existiert, dessen Form
den Inhalt dieses Aktes festlegt, kann die Frage, ob denn ein Erkenntnis-
akt tatsächlich in Relation zu einem äußeren Gegenstand steht, gar nicht
auftauchen. Die Existenz eines äußeren Gegenstandes ist eine notwendige
Bedingung für die Existenz eines Aktes mit einem wohldefinierten Inhalt.
Und wenn dieser Inhalt in nichts anderem besteht als in der Form, die auch
im äußeren Gegenstand vorhanden ist und seine wesentlichen Eigenschaften
bestimmt, stellt sich auch nicht die Frage, ob der Erkenntnisakt das Wesen
des Gegenstandes korrekt darstellt. Aufgrund der formalen Identität muss
das Wesen korrekt dargestellt werden. Selbst ein Dämon kann hier nichts
manipulieren. Die Grundannahmen des thomasischen Modells lassen weder
einen radikalen Außenweltskeptizismus noch einen Skeptizismus, der die
prinzipielle Korrektheit unserer Bezugnahme auf eine Außenwelt infrage
stellt, aufkommen. Daher bietet Thomas weniger eine Lösung für skeptische
Probleme als eine Präventionsstrategie. Aufgrund der Annahmen, (a) dass
Erkenntnisakte nur durch eine Assimilation von Formen zustande kommen
und (b) dass es sich dabei um dieselben Formen handelt, die auch in den
materiellen Gegenständen vorkommen, taucht gar kein skeptisches Problem
auf, das es zu lösen gälte. Das Problem ist – wie man mit Wittgenstein sagen
könnte – aufgelöst und nicht gelöst worden.
Diese Auflösung ist freilich um einen hohen Preis erkauft, wie sich im
vorangehenden Kapitel gezeigt hat. Nur wenn man akzeptiert, dass es
universale Formen gibt, die vom Intellekt assimiliert werden, kann man
behaupten, dass dieselben Formen, die in den äußeren Gegenständen vor-
kommen, den Inhalt der Erkenntnisakte festlegen. Kurz gesagt: Nur wer
einem Universalienrealismus zustimmt, kann die thomasische Präventions-
strategie verfolgen. Wilhelm von Ockham hat bekanntlich den Univer-
salienrealismus abgelehnt und einen ontologischen Individualismus ver-
III
ZWEIFEL AN DER INTUITIVEN ERKENNTNIS
(WILHELM VON OCKHAM, WALTER CHATTON,
FRANZISKUS VON MAYRONIS, ADAM WODEHAM)
Das Erkenntnismodell, das Thomas von Aquin entwickelte, blieb weit über
das 13. Jh. hinaus einflussreich und diente bis in die frühe Neuzeit hinein
gleichsam als antiskeptische Waffe. Wenn es nämlich keinen Erkenntnis-
akt geben kann, ohne dass ein äußerer Gegenstand existiert, dessen Form
den Inhalt dieses Aktes festlegt, kann die Frage, ob denn ein Erkenntnis-
akt tatsächlich in Relation zu einem äußeren Gegenstand steht, gar nicht
auftauchen. Die Existenz eines äußeren Gegenstandes ist eine notwendige
Bedingung für die Existenz eines Aktes mit einem wohldefinierten Inhalt.
Und wenn dieser Inhalt in nichts anderem besteht als in der Form, die auch
im äußeren Gegenstand vorhanden ist und seine wesentlichen Eigenschaften
bestimmt, stellt sich auch nicht die Frage, ob der Erkenntnisakt das Wesen
des Gegenstandes korrekt darstellt. Aufgrund der formalen Identität muss
das Wesen korrekt dargestellt werden. Selbst ein Dämon kann hier nichts
manipulieren. Die Grundannahmen des thomasischen Modells lassen weder
einen radikalen Außenweltskeptizismus noch einen Skeptizismus, der die
prinzipielle Korrektheit unserer Bezugnahme auf eine Außenwelt infrage
stellt, aufkommen. Daher bietet Thomas weniger eine Lösung für skeptische
Probleme als eine Präventionsstrategie. Aufgrund der Annahmen, (a) dass
Erkenntnisakte nur durch eine Assimilation von Formen zustande kommen
und (b) dass es sich dabei um dieselben Formen handelt, die auch in den
materiellen Gegenständen vorkommen, taucht gar kein skeptisches Problem
auf, das es zu lösen gälte. Das Problem ist – wie man mit Wittgenstein sagen
könnte – aufgelöst und nicht gelöst worden.
Diese Auflösung ist freilich um einen hohen Preis erkauft, wie sich im
vorangehenden Kapitel gezeigt hat. Nur wenn man akzeptiert, dass es
universale Formen gibt, die vom Intellekt assimiliert werden, kann man
behaupten, dass dieselben Formen, die in den äußeren Gegenständen vor-
kommen, den Inhalt der Erkenntnisakte festlegen. Kurz gesagt: Nur wer
einem Universalienrealismus zustimmt, kann die thomasische Präventions-
strategie verfolgen. Wilhelm von Ockham hat bekanntlich den Univer-
salienrealismus abgelehnt und einen ontologischen Individualismus ver-
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1
Vgl. Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 38–39).
2
Vgl. Gilson 1937, 80–81; siehe auch Michalski 1969, 61–62 (Erstveröffentlichung 1923).
3
Vgl. Boehner 1958, 268–300 (Erstveröffentlichung 1943); Adams 1987, 588–601; Tachau
1988, 123–129; Kaufmann 1994, 236–238; Michon 1994, 75–79; siehe auch § 1.
4
Vgl. Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 31) und Reportatio II, q. 12–13 (OTh V, 259).
5
Vgl. Quodl. V, q. 5 (OT IX, 498), ausführlich dazu Karger 1999.
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Mit diesen durchaus berechtigten und in der neueren Literatur oft wie-
derholten Einwänden ist die Skeptizismus-Problematik aber nicht einfach
verschwunden. Es stellt sich nämlich die Frage, wie jemand korrekt urteilen
kann, dass ein Gegenstand nicht existiert, wenn Gott so perfekt eingreift,
dass die urteilende Person nicht feststellen oder überprüfen kann, ob der
Gegenstand existiert oder nicht. Angenommen, ich bewundere einen Stern
am klaren Nachthimmel und Gott zerstört in diesem Moment den Stern,
erzeugt oder erhält aber in mir visuelle Eindrücke vom Stern aufrecht, die
sich in keiner Weise von den Eindrücken unterscheiden, die ich hatte, als
der Stern noch existierte. Auf welcher Grundlage soll ich dann urteilen,
dass der Stern nicht existiert? Die Evidenzbasis ist doch genau die gleiche
wie zu dem Zeitpunkt, als der Stern noch existierte. Einfach zu behaupten,
es liege eine intuitive Erkenntnis vor, die zu einem korrekten Urteil führt,
reicht hier nicht aus. Es muss dargelegt werden, welche Faktoren für das
Zustandekommen des korrekten Urteils relevant sind. Ebenso wenig reicht
es aus, mit Verweis auf die späten Quodlibeta festzuhalten, dass nur ein
„Akt des Glaubens“ entsteht. Worin unterscheidet sich ein solcher Akt von
einem Akt der intuitiven Erkenntnis? Nach welchen Kriterien kann die er-
kennende Person selbst – nicht einfach ein äußerer Beobachter – beurteilen,
ob es sich nur um einen Akt des Glaubens oder um einen Akt der intuitiven
Erkenntnis handelt? Und warum sollte Gott nicht in der Lage sein, auch
einen Akt der intuitiven Erkenntnis aufrechtzuerhalten oder zu erzeugen,
wenn er doch jede individuelle Entität, die von einer anderen Entität real
verschieden ist, verursachen kann?
Angesichts dieser Fragen ist es nicht erstaunlich, dass die Debatte da-
rüber, ob Ockhams Position skeptische Konsequenzen hat, keineswegs zu
einem Abschluss gekommen ist. Pointiert hält K. Flasch fest: „... bereits
das Rechnen mit der Möglichkeit der Erkenntnis nicht existierender Dinge
war eine erkenntnistheoretische Katastrophe. Der Skeptizismus war dann
schwer abzuweisen: Man konnte nie wissen, ob man etwas sah, das exis-
tierte; man konnte nur wissen, daß man es ‚natürlicherweise‘ tat.“6 Es mag
vielleicht eine rhetorische Übertreibung sein, gleich von einer Katastrophe
zu sprechen. Doch es stellt sich in der Tat die Frage, ob ein Erkenntnis-
modell, das auf formale Identität verzichtet und einem Erkenntnisakt auch
dann einen wohldefinierten Inhalt zuschreibt, wenn kein äußerer Gegen-
stand vorhanden ist, nicht von vornherein ein skeptisches Potenzial hat. E.
Karger hat in der neuesten Debatte sogar die These vertreten, dass dieses
Modell im Grunde inkonsistent ist.7 Denn einerseits insistiert Ockham da-
6
Flasch 2000, 509–510.
7
Vgl. Karger (im Druck).
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rauf, dass eine intuitive Erkenntnis immer ein korrektes Existenzurteil zur
Folge hat und dass eine Täuschung somit ausgeschlossen ist. Andererseits
behauptet er, dass Gott jede individuelle Entität, die von anderen Entitäten
verschieden ist, erzeugen oder aufrechterhalten kann. Dies heißt aber, dass
er im Prinzip auch einen Erkenntnisakt erzeugen kann, der ein falsches
Urteil generiert, oder dass er sogar direkt ein falsches Urteil hervorbringen
kann. Somit schließt Ockham die Möglichkeit einer Täuschung aus und
räumt sie gleichzeitig ein.
Nicht erst moderne Kommentatoren stolperten über diese Schwierig-
keit. Bereits Ockhams Zeitgenossen und seine unmittelbaren Nachfolger
im frühen 14. Jh. erkannten, dass die Theorie der intuitiven Erkenntnis ein
skeptisches Potenzial in sich birgt.8 Einige versuchten dieses Potenzial zu
neutralisieren, indem sie Ockhams Theorie modifizierten und feststellten,
es könne gar keine intuitive Erkenntnis von etwas Nicht-Existierendem
geben.9 Andere hingegen räumten diese Möglichkeit ein, stellten aber so-
gleich fest, eine intuitive Erkenntnis könne somit keine Evidenz und kein
absolut sicheres Wissen garantieren. So betonte Adam Wodeham mit Ver-
weis auf die Möglichkeit des göttlichen Eingreifens:
„Kein solches Urteil [sc. bezüglich eines äußeren Gegenstandes] ist schlichtweg
evident, und zwar mit einer Evidenz, die jeden möglichen Zweifel ausschließt. Denn
mit der Tatsache, dass Gott oder die Natur jede Erkenntnis und jedes mögliche Ur-
teil im Geist verursachen könnte, wäre vereinbar, dass es sich wegen der absoluten
Macht Gottes der Sache nach nicht so verhalten könnte, wie durch die erfasste
Erkenntnis bezeichnet würde. Und ich gestehe zu, dass jeder erschaffbare Intellekt
von einer derart eingeschränkten Natur ist, dass er bezüglich jeder beliebigen kon-
tingenten Wahrheit über eine äußere Sache getäuscht werden kann, und zwar wenn
er auf kategorische Weise so zustimmt, dass sie existiert oder nicht existiert.“10
Selbst wenn jemand über eine intuitive Erkenntnis verfügt, ist damit nicht
garantiert, dass er ein korrektes Urteil über die Existenz oder Nicht-Exis-
tenz eines materiellen Gegenstandes fällt. Es ist immer möglich, dass Gott
eingreift und direkt ein falsches Urteil eingibt. Daher kann es im Bereich
der menschlichen Erkenntnis nie eine absolute Gewissheit und eine absolute
Evidenz geben. Angesichts dieses Schlusses, den Wodeham ausgehend von
8
Dies ist gegenüber Lee 2001, zu betonen, der meint, die ganze Skeptizismus-Debatte sei
erst in der Moderne entstanden.
9
Diese Konsequenz zog Robert Holkot im Quodlibet „Utrum theologia sit scientia“ (ed.
Muckle 1958, 130).
10
Lectura secunda, prol., q. 6, § 16 (ed. Wood 1990, 169): „Nullum enim tale iudicium est
simpliciter evidens evidentia excludente omnem dubitationem possibilem. Quia cum hoc
quod Deus vel natura causaret in mente omnem notitiam et iudicium possibile, staret quod de
potentia Dei absoluta non sic esset in re sicut per talem notitiam apprehensam significaretur.
Et concedo quod omnis intellectus creabilis est ita diminutae naturae quod decipi potest circa
quamcumque veritatem contingentem de re extra si sic assentiat categorice esse vel non esse.“
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11
Damit wird natürlich nur eine kleine Auswahl jener Autoren berücksichtigt, die sich mit
Ockhams Theorie der intuitiven Erkenntnis auseinander setzten. Einen umfassenden his-
torischen Überblick bietet Tachau 1988.
12
Eine kritische Auswertung dieser Opposition in der älteren Forschung bietet Karger
1999.
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13
Vgl. Adams 1987, 601.
dass einer Person etwas präsent ist, ohne dass ein materieller Gegenstand
vorhanden ist. Wie ist ein derartiger Fall zu verstehen? Wie versucht Ock-
ham ihn in sein Erkenntnisprojekt zu integrieren? Und wie beurteilt er das
skeptische Potenzial eines solchen Falles? Diese Fragen sollen im Folgenden
ebenso berücksichtigt werden wie jene, die den viel zitierten Fall des gött-
lichen Eingreifens betreffen. Daher soll auf eine grundsätzliche Klärung des
Wissensbegriffs und der Erkenntnisstandards, mit denen Ockham arbeitet
(§ 20), zunächst eine Analyse der Sinnestäuschungen und anderer problema-
tischer Fälle folgen (§ 21). Erst danach soll dann der berühmte Fall der über-
natürlich verursachten Erkenntnis eines nicht existierenden Gegenstandes
näher geprüft werden (§ 22). Abschließend sollen sowohl Einwände gegen
Ockhams Erklärungsmodell als auch Weiterentwicklungen, die sich im
frühen 14. Jh. finden, anhand ausgewählter Beispiele vorgestellt und kritisch
diskutiert werden (§§ 23–25). Diese frühe Rezeption ist von besonderem
Interesse, weil sie verdeutlicht, welcher Platz den skeptischen Argumenten
im Rahmen der gesamten Debatte über die Möglichkeit sicherer Erkenntnis
zugewiesen wurde.
Natürlich ist auch der Intellekt Gottes und derjenige eines Engels mögliches Wissenssub-
15
jekt. Ockham geht in Reportatio II, q. 12–14 (OTh V, 251–337) und in Quodl. I, q. 7 (OT IX,
41–45) ausführlich auf die Frage ein, durch welche Art von kognitiver Tätigkeit Engel Wissen
erwerben und wie sie dieses Wissen kommunizieren; vgl. eine Analyse in Panaccio 1997 und
Perler 2008. Ich beschränke mich im Folgenden auf das Wissen eines Menschen.
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gegen die Möglichkeit von sicherem Wissen nur mit Bezug auf den Intellekt
und dessen Tätigkeiten formuliert werden. Die Frage, ob Tiere, die nur über
sinnliche Vermögen verfügen, sicheres Wissen haben, ergibt keinen Sinn.
Da Tiere prinzipiell keine Wissenssubjekte sind, können sie weder sicheres
noch unsicheres Wissen haben. Dank ihrer äußeren und inneren Sinne sind
sie zwar imstande, Sinneseigenschaften zu erfassen und Gegenstände mit
Bezug auf diese Eigenschaften zu klassifizieren; sie haben eine „sinnliche
Erkenntnis“ und sogar eine gewisse sinnliche Urteilsfähigkeit, wie Ock-
ham einräumt.16 Doch sie sind prinzipiell nicht in der Lage, diese sinnliche
Erkenntnis in eine intellektuelle zu überführen und dadurch Wissen zu
generieren. Daher ergeben skeptische Argumente (etwa mit Verweis auf
Sinnestäuschungen oder göttliche Manipulationen) mit Bezug auf Tiere
keinen Sinn. Nur wo Wissen prinzipiell möglich ist, lässt sich der Anspruch
auf Wissen anfechten.
Ebenso eindeutig wie das Subjekt des Wissens bestimmt Ockham das
Objekt. Es ist „der ganze Satz, der erkannt wird“.17 Damit führt Ock-
ham eine These ein, die seine gesamte Erkenntnistheorie dominiert:
Wissen bezieht sich primär nicht auf Gegenstände und Sachverhalte,
sondern auf Sätze über Gegenstände und Sachverhalte. Daher handeln
auch alle Wissenschaften – selbst die sog. „Realwissenschaften“ wie etwa
die Physik – primär von Sätzen. Darunter sind freilich nicht gesprochene
oder geschriebene Sätze zu verstehen, sondern mentale. Ockham ver-
tritt die These, dass jeder Sprecher über eine mentale Sprache verfügt, die
sich aus einzelnen Sätzen zusammensetzt. Die Existenz dieser mentalen
Sätze ist eine notwendige Bedingung dafür, dass ein Sprecher überhaupt
gesprochene oder geschriebene Sätze formulieren kann.18 Konkret heißt
dies: Wenn ich ein Wissen von dem Baum gewinne, der vor mir steht, so
weiß ich nicht den grünen Baum (eine solche Ausdrucksweise wäre schon
grammatisch unkorrekt), sondern ich erfasse den mentalen Satz ‚Der Baum
ist grün‘, der den Sachverhalt, dass der Baum grün ist, bezeichnet. Sobald
ich diesen Satz erfasse, kann ich auch einen entsprechenden gesprochenen
Satz in deutscher, französischer oder irgendeiner anderen konventionellen
Sprache äußern. In moderner Terminologie könnte man sagen, dass Wissen
eine propositionale Einstellung ist, mit der ich eine Proposition erfasse.
Und die Proposition ist kein Fregescher Gedanke, sondern ein konkretes
16
Vgl. Reportatio IV, q. 14 (OTh VII, 313–315); dazu ausführlich Perler 2006.
17
Exp. in libros Physicorum, prol. (OPh IV, 9): „Nam obiectum scientiae est tota propositio
nota ...“
18
Vgl. zu dieser sprachphilosophischen Grundthese, die in der neueren Forschung aus-
giebig diskutiert worden ist und hier nicht weiter erläutert werden soll, Panaccio 1999, Lenz
2003, Panaccio 2004, Perler 2004b.
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Natürlich kann die Proposition auch einen Sachverhalt im Geist bezeichnen, nämlich
19
wenn sich das Wissen auf die eigenen intellektuellen Akte bezieht. Ockham berücksichtigt
diesen Sonderfall in Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 28–29), wo er auf das Wissen von rein
intelligiblen Zuständen – seine Beispiele sind Freude und Traurigkeit – eingeht. Doch auch in
diesem Fall hat das Wissen eine propositionale Struktur.
20
Vgl. Exp. in libros Physicorum, prol. (OPh IV, 9–10).
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21
Damit soll natürlich nicht bestritten werden, dass Ockham auch über eine Theorie der
göttlichen Ideen verfügt, die er in Ordinatio, dist. 35, q. 5 (OTh IV, 485–494) erläutert. Doch
erstens sind diese Ideen für ihn nicht ewige, unveränderliche Prototypen für die wesentlichen
Eigenschaften konkreter Gegenstände, sondern nichts anderes als göttliche Erkenntnisakte.
Und zweitens spielen sie für seine Erklärung der menschlichen Erkenntnisakte eine untergeord-
nete Rolle. Der menschliche Intellekt muss keine Übereinstimmung mit einer göttlichen Idee
feststellen. Ebenso wenig muss ihm diese Idee durch Illumination vermittelt werden. Er muss
lediglich auf der Grundlage der Sinneswahrnehmung mentale Sätze bilden, die sich direkt auf
die materiellen Gegenstände beziehen.
22
Es ist zu beachten, dass Ockham nicht von einer Definition von Wissen spricht, sondern
nur von verschiedenen Weisen, Wissen aufzufassen. Daher wäre es irreführend, notwendige
und hinreichende Bedingungen für Wissen zu formulieren. Es können höchstens Bedingun-
gen im Sinn von Merkmalen oder charakteristischen Kennzeichen angegeben werden, die
vorhanden sein müssen, damit von Wissen die Rede sein kann. Zudem ist zu beachten, dass
‚scientia‘ zwar häufig mit ‚Wissenschaft‘ oder ‚scientific knowledge‘ (vgl. Tachau 1988, 116)
übersetzt wird, hier aber zunächst im Sinn von ‚Wissen‘ zu verstehen ist. Von Wissenschaft
kann nur bei einer bestimmten Form von scientia (nämlich bei jener, die sich mit Sätzen über
Notwendiges befasst) die Rede sein.
23
Exp. in libros Phyiscorum, prol. (OPh IV, 5): „Una est quod scientia uno modo est certa
notitia alicuius veri...“
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betont, die sichere Erkenntnis müsse sich auf etwas Wahres, d.h. auf einen
wahren mentalen Satz, beziehen. Und wahr ist ein solcher Satz nur, wenn
er einen Sachverhalt genau so bezeichnet, wie er ist, d.h. wenn eine Kor-
respondenz vorliegt. 24 Damit führt Ockham von Anfang an ein Kriterium
ein, um Wissen von falscher Meinung zu unterscheiden. Berücksichtigt man
alle Kriterien, ergibt sich folgende Bestimmung von Wissen im ersten und
allgemeinsten Sinn:
W1: Eine Person verfügt über Wissen, wenn sie sich in einem kognitiven
Zustand befindet, der (i) eine direkte oder indirekte empirische Basis
hat, (ii) sicher ist und (iii) sich auf einen wahren mentalen Satz bezieht.
So verfüge ich über ein Wissen, dass der Baum grün ist, wenn ich den Baum
selber gesehen oder von ihm gehört habe und mich infolge dessen in einem
sicheren kognitiven Zustand befinde, der es mir erlaubt, den mentalen Satz
‚Der Baum ist grün‘ zu bilden und mich auf ihn zu beziehen. Freilich muss
ich mich nicht immer derart in einem kognitiven Zustand befinden, dass ich
bewusst einen Akt vollziehe. Ich kann auf der Grundlage eines Aktes auch
eine Disposition (habitus) erwerben, die ich bei Gelegenheit reaktiviere. 25 So
kann ich den Satz ‚Der Baum ist grün‘ einmal bilden und verfüge auch dann
noch über Wissen, wenn ich ihn gleichsam in meinem Geist abgelegt habe.
Ich bin nämlich jederzeit imstande, ihn wieder abzurufen und mich auf
ihn zu beziehen. Selbst wenn dieser Spezialfall des dispositionalen Wissens
beiseite gelassen wird, bleiben allerdings zwei zentrale Fragen offen: Was
heißt es, einen mentalen Satz zu bilden und sich auf ihn zu beziehen? Und
wie ist die Sicherheit des kognitiven Zustandes zu verstehen?
Beginnen wir mit der ersten Frage. Gemäß Ockhams später und endgül-
tiger Theorie, der sog. „Akt-Theorie“, ist ein mentaler Satz nichts anderes
als ein komplexer mentaler Akt, der sich aus Teilakten für die einzelnen
Termini zusammensetzt. 26 Einen mentalen Satz zu bilden heißt dann nichts
anderes, als einen komplexen mentalen Akt zu vollziehen. Die Pointe dieser
Erklärung besteht darin, dass auf jede Annahme besonderer Entitäten, die
sich gleichsam zwischen den Intellekt und die äußeren Gegenstände ein-
schieben, verzichtet wird. Wenn ich den mentalen Satz ‚Der Baum ist grün‘
24
Vgl. Exp. in librum Praedicamentorum, 9 (OPh II, 201), Exp. in librum Perihermeneias,
prooemium (OPh II, 376), Quodl. VI, q. 29 (OT IX, 697); ausführlich dazu Perler 2004a.
25
In Ordinatio I, prol. (OTh I, 11) stellt Ockham daher fest: „Alio modo acciptur scientia
pro habitu exsistente per se in genere qualitatis, distincto contra alios habitus intellectuales...“
Vgl. auch Exp. in libros Physicorum, prol. (OPh IV, 6), ausführlich dazu Goddu 1984, 24–27.
26
Vgl. Exp. in librum Perihermeneias, prooemium (OPh II, 351–358), Summa Logicae I, 12
(OPh I, 41–44), Quodl. IV, q. 35 und V, q. 13 (OTh IX, 469–474 und 531–536). Zum Über-
gang von der frühen fictum-Theorie zur späteren Akt-Theorie vgl. Adams 1987, 71–107, und
Lenz 2003, 73–173.
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bilde, erfasse oder konstruiere ich nicht eine besondere Entität mit „objek-
tiver Existenz“, wie Ockham in seiner früheren Theorie noch angenommen
hatte, und ich erfasse schon gar nicht eine abstrakte Entität, sondern ich
vollziehe einfach einen Akt, der sich unmittelbar auf den Baum und dessen
Farbe bezieht. Genau dadurch erkenne ich direkt, dass der Baum grün ist.
Ockham schließt von vornherein einen starken Repräsentationalismus aus,
der innere Abbilder oder andere Repräsentationen von äußeren Gegenstän-
den postuliert, und verteidigt einen direkten Erkenntnisrealismus.
Doch was heißt es, sich auf einen mentalen Satz zu beziehen? Ockham ist
sich bewusst, dass hier verschiedene epistemische Relationen möglich sind. 27
Jemand kann einen Satz bloß erfassen, ohne ihm zuzustimmen oder ihn ab-
zulehnen. So kann ich – um ein modernes Beispiel anzuführen – den Satz ‚Auf
dem Mars gibt es Lebewesen‘ einfach erwägen, ohne ihm zuzustimmen, ganz
einfach weil ich mir der Wahrheit dieses Satzes nicht sicher bin. 28 Vielleicht
habe ich den Satz von jemandem gehört und überlege nun, was für und gegen
seine Wahrheit spricht. Doch ich kann einen Satz auch erfassen und ihm zu-
stimmen oder ihn ablehnen. Genau auf diese Relation zielt Ockham ab, wenn
er von der „sicheren Erkenntnis von etwas Wahrem“ spricht. Es geht bei dieser
Erkenntnis darum, dass ein „urteilender Akt“ (actus iudicativus) vollzogen
wird. Denn nur wenn ich zustimmend oder ablehnend urteile, dass es auf dem
Mars Lebewesen gibt, habe ich Wissen und stelle nicht bloß eine Erwägung an.
Und wie steht es mit der Sicherheit, die bei der urteilenden Einstellung ge-
genüber dem mentalen Satz erforderlich ist? Ockham ist diesbezüglich nicht
sehr explizit. Er hält nur fest, dass wir trotz fehlender direkter empirischer
Basis von Wissen sprechen, weil wir dem Zugestimmten „ohne jeden Zweifel
anhängen“ und es auch wahr ist. 29 Diese knappe Formulierung verdeutlicht,
dass die Sicherheit nicht einfach ein psychologisches Charakteristikum ist.
Wenn ich dem Satz ‚Rom ist eine große Stadt‘ zustimme, habe ich nicht ein-
fach ein Evidenzerlebnis oder ein spontanes Gefühl, dass dieser Satz wahr
ist. Ich stimme vielmehr zu, weil ich alle vernünftigen Zweifel ausgeschlos-
sen habe, etwa indem ich die Berichte über Rom überprüft habe und zum
27
Vgl. Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 16), und Quodl. V, q. 6 (OTh IX, 500–503).
28
In Quodl. II, q. 3 (OTh IX, 118) erwähnt Ockham selber ein Beispiel für einen solchen
Fall. Der Satz ‚Gott ist dreifaltig und einig‘ ist „simpliciter neutra“; man kann ihn erfassen,
ohne ihm zuzustimmen. In Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 16–17) erwähnt Ockham auch
den Fall, in dem ein des Lateinischen Unkundiger einen lateinischen Satz erfasst, ohne ihm
zuzustimmen. Systematisch gesehen handelt es sich hier aber um einen anderen Fall. Es emp-
fiehlt sich, zwischen (a) dem Erfassen, das ein Verstehen der sprachlichen Bedeutung ein-
schließt, aber nicht zu einem Urteilen führt, und (b) dem Erfassen ohne einem Verstehen der
sprachlichen Bedeutung zu unterscheiden.
29
Exp. in libros Physicorum, prol. (OPh IV, 5): „...quia tamen eis sine omni dubitatione
adhaeremus et sunt vera, dicimur scire illa.“
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Schluss gekommen bin, dass der Satz tatsächlich wahr ist. Sicherheit ist somit
im Sinne von Zweifelsfreiheit zu verstehen. Heißt dies, dass jeder erdenk-
liche Zweifel ausgeschlossen ist? Wohl kaum. Ockham spricht nicht von
absoluter Zweifelsfreiheit oder von Untrüglichkeit. Es müssen vielmehr jene
Zweifel ausgeschlossen werden, die für die jeweilige Person relevant sind.
Konkret heißt dies: Ich muss nicht selber nach Rom reisen, um zweifelsfrei
dem Satz ‚Rom ist eine große Stadt‘ zustimmen zu können, sondern nur jene
Zweifel (z.B. an der Glaubwürdigkeit der Berichterstatter) ausschließen, die
angemessen und für diesen konkreten Fall relevant sind. Wenn ich derart
vorgehe, erreiche ich eine gewisse Stabilität. Ich schwanke dann nicht mehr
zwischen der Zustimmung zu verschiedenen Sätzen hin und her, sondern
bleibe bei meiner Zustimmung zu ‚Rom ist eine große Stadt‘.
Daraus ergibt sich bereits eine wichtige Konsequenz für die Einschätzung
skeptischer Argumente. Ockham zielt mit seinem Wissensbegriff nicht da-
rauf ab, infallibles, absolut unkorrigierbares und untrügerisches Wissen zu
begründen. Damit Wissen vorliegt, müssen nur jene Zweifel ausgeschlossen
werden, die relevant und dem Wissenssubjekt auch zugänglich sind. Aber
natürlich ist es immer möglich, dass neue Zweifel auftauchen, die vielleicht
dazu führen, dass der Wissensanspruch aufgegeben oder revidiert werden
muss. So kann es sehr wohl sein, dass ich bislang nur Berichte gelesen habe,
die Rom als eine große Stadt schildern. Wenn ich dann Berichte über Tokio
und andere Weltstädte lese, werden die ersten Berichte relativiert und ich
beginne an der Wahrheit des Satzes ‚Rom ist eine große Stadt‘ zu zweifeln.
Oder es kann auch sein, dass sich ein Zeuge, den ich bislang für vertrauens-
voll gehalten habe, als Schwindler herausstellt. Dann beginne ich an dem
von ihm berichteten Satz zu zweifeln. Das heißt natürlich, dass ich dann
nicht mehr behaupte, über Wissen zu verfügen. Der entscheidende Punkt
liegt darin, dass ich nicht ein für allemal unerschütterliches Wissen rekla-
mieren kann. Ich kann nur so lange einen Wissensanspruch erheben, wie ich
keinen vernünftigen Zweifel an der Wahrheit des mentalen Satzes habe.
Ockham begnügt sich nicht mit diesem ersten, sehr weit gefassten Wis-
sensbegriff, sondern führt noch einen zweiten ein:
„Auf eine andere Weise wird unter dem Wissen eine evidente Erkenntnis verstan-
den, nämlich wenn man sagt, etwas werde nicht nur aufgrund des Zeugnisses der
Berichtenden gewusst; auch wenn niemand berichten würde, dass es sich so verhält,
würden wir ihm [sc. dem Satz] aufgrund der unverknüpften Erkenntnis gewisser
Termini direkt oder indirekt zustimmen.“30
Exp. in libros Physicorum, prol. (OPh IV, 6): „Aliter accipitur scientia pro evidenti no-
30
titia, quando scilicet aliquid dicitur sciri non tantum propter testimonium narrantium, sed
etsi nullus narraret hoc esse, ex notitia aliqua incomplexa terminorum aliquorum mediate vel
immediate assentiremus ei.“
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31
Vgl. Exp. in libros Physicorum, prol. (OPh IV, 6).
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Offensichtlich liegt hier eine Kausalrelation vor, die sich anhand des ein-
fachsten Falles folgendermaßen erläutern lässt: Wenn ich über die Termini
‚Baum‘ und ‚grün‘ verfüge, die direkt die Bildung des wahren Satzes ‚Der
32
Es handelt sich daher nicht um einen deskriptiven, sondern um einen normativen
Wissensbegriff. Wie Michon 1994, 64–66, zu Recht betont, legt Ockham nicht eine psycho-
logische Theorie vor, die darlegt, durch welche psychischen Mechanismen Wissen zustande
kommt. Er erläutert vielmehr die Bedingungen, die erfüllt sein müssen (darunter auch nicht-
psychologische Bedingungen wie die Wahrheit des mentalen Satzes), damit tatsächlich Wissen
vorliegt. Mit Blick auf diese Bedingungen kann immer die Frage aufgeworfen werden, ob es
sich in einem konkreten Fall um wirkliches oder nur um vermeintliches Wissen handelt.
33
Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 5): „... dico quod notitia evidens est cognitio alicuius veri
complexi, ex notitia terminorum incomplexa immediate vel mediate nata sufficienter causari.“
Vgl. auch Quodl. V, q. 5 (OTh IX, 499), wo Ockham die Wahrheitsbedingung betont: „Quia
assensus evidens denotat sic esse in re sicut importatur per propositionem cui fit assensus ...“
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Baum ist grün‘ hervorrufen, und wenn ich diesen Satz dann so erkenne,
dass ich ihm zustimme (und ihn nicht bloß erwägend erfasse), habe ich eine
evidente Erkenntnis von der Tatsache, dass der Baum grün ist. Entscheidend
für die Evidenz ist eine Kausalrelation zwischen Termini und Satz, die wahr-
heitsgenerierend ist. Selbst wenn keine unmittelbare Kausalrelation vorliegt,
muss es eine lückenlose Kausalkette geben. Wenn ich etwa einen Baum im
Spiegel sehe, muss mein Bilden der Termini ‚Baum‘ und ‚grün‘ zuerst den
Satz ‚Der Baum im Spiegel ist grün‘ verursachen, der dann – zusammen
mit gewissen Annahmen über Spiegelbilder – den Satz ‚Der Baum, der das
Spiegelbild hervorgebracht hat, ist grün‘ verursacht. Diese Kausalkette ist
entscheidend, um jene Fälle auszuschließen, in denen die Termini gleichsam
lose nebeneinander stehen und nicht die Bildung eines Satzes verursachen.
So kann jemand, wie Ockham selber bemerkt, 34 einfach über die Termini
‚Sokrates‘ und ‚weiß‘ verfügen, ohne dass daraus gleich der Satz ‚Sokrates
ist weiß‘ entsteht, etwa weil die Termini durch pure Imagination hervor-
gebracht werden oder weil sie unabhängig voneinander gebildet und nicht
auf denselben Gegenstand bezogen werden.35
Doch wie gelange ich zu den Termini? Im einfachsten Fall ist mir dies
durch eine unmittelbare Sinneswahrnehmung möglich. Ich sehe den Baum
und die grüne Farbe; dies erzeugt in mir eine sog. „sinnliche Erkenntnis“.
Diese verursacht eine sog. „unverknüpfte intellektuelle Erkenntnis“, d.h. das
Bilden und Erfassen der mentalen Termini. Dies wiederum verursacht das
Bilden und zustimmende Erfassen des mentalen Satzes.36 Wir haben es also
mit einer natürlichen Kausalkette zu tun, die von einem Wahrnehmungsakt
ausgeht und garantiert, dass der Satz sich tatsächlich auf den grünen Baum
bezieht. Man könnte daher sagen, dass die Evidenz durch zwei Faktoren
hergestellt wird: zum einen durch einen kausalen Mechanismus, der einen
34
Vgl. Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 23).
35
Dies ist entscheidend, weil gemäß Ockhams Wahrheitstheorie ein Satz nur dann wahr
ist, wenn Subjekts- und Prädikatsterminus auf denselben Gegenstand bezogen werden;
vgl. Summa Logicae II, 2 (OPh I, 249–250). Wenn nun jemand Termini bildet, die nicht auf
denselben Gegenstand bezogen sind, kann gar kein Satz entstehen, der dieser Wahrheits-
bedingung genügt.
36
Für Ockham ist es entscheidend, dass das Bilden der Termini und das Erfassen des Satzes
zwei distinkte Akte sind; der zweite setzt immer den ersten voraus; vgl. Ordinatio I, prol.
(OTh I, 21). So kann jemand nicht aufgrund des bloßen Sehens eines Baumes gleich den Satz
‚Der Baum ist grün‘ erfassen und ihm zustimmen. Zuerst müssen die einzelnen Bestandteile
erfasst werden, die an sich bereits bestimmte Substanzen und Eigenschaften bezeichnen. Dies
verdeutlicht, dass Ockham keinen starken Propositionalismus vertritt, wie gelegentlich an-
genommen wurde (etwa von Biard 1981). Die kleinste semantische Einheit ist für ihn nicht
der Satz, sondern der Terminus, der durch die natürliche Kausalrelation zu einer Substanz
oder einer Eigenschaft und nicht erst durch seine Funktion innerhalb eines Satzes eine
Bezeichnungsfunktion erhält. Panaccio spricht daher zu Recht von einem „semantischen
Atomismus“ (Panaccio 2004, 53–55).
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wahren mentalen Satz generiert, zum anderen durch eine empirische Ver-
ankerung dieses Satzes in einer extramentalen Tatsache.37
Diese auf den ersten Blick simpel erscheinende Erklärung erweist sich
bei näherer Betrachtung als keineswegs harmlos oder selbstverständlich.
Sie beruht auf einigen gewichtigen theoretischen Annahmen, die Ockham
stillschweigend voraussetzt. Zunächst setzt er eine bestimmte Form von
metaphysischem Realismus voraus, denn er geht davon aus, dass es ganz
unabhängig von jeder kognitiven Tätigkeit individuelle Substanzen mit in-
dividuellen Eigenschaften gibt. Genau diese Eigenschaften, die über kausale
Fähigkeiten verfügen, sind dafür verantwortlich, dass ein kognitiver Pro-
zess überhaupt zustande kommt. So gibt es den Baum mit dem individuellen
Grünsein, das von Natur aus in der Lage ist, meinen Gesichtssinn zu akti-
vieren und eine Grünwahrnehmung auszulösen. Diese Annahme mag trivial
erscheinen, ist es aber keineswegs, wenn sie mit konkurrierenden Modellen
verglichen wird. Wie sich im vorangehenden Kapitel gezeigt hat, setzt auch
Thomas von Aquin eine bestimmte Art von metaphysischem Realismus vo-
raus. Doch im Rahmen seiner Metaphysik gibt es auch universale Formen,
die in den individuellen Substanzen instantiiert sind. Erst das Assimilieren
dieser Formen mithilfe besonderer kognitiver Entitäten (sog. „intelligibler
Species“) ermöglicht einen kognitiven Prozess. Das heißt konkret, dass erst
das Assimilieren der Form des Grünseins, die in dem vor mir stehenden
Baum, aber auch in anderen Bäumen und zahlreichen weiteren Gegenstän-
den instantiiert ist, eine Grünwahrnehmung ermöglicht. Ockham lehnt dies
entschieden ab. Wenn überhaupt von einer Assimilation die Rede sein kann,
so nur im Sinne einer Kausalrelation: Die individuelle Eigenschaft wirkt auf
die Sinne ein und löst dadurch direkt – ohne die Mithilfe irgendwelcher ver-
mittelnder Entitäten – einen kognitiven Prozess aus.38
37
Da Ockham an verschiedenen Stellen davon spricht, dass auch eine similitudo zwischen
den Termini und den äußeren Gegenständen bestehen muss (und zwar auch in jenen Werken,
in denen er die Akt-Theorie vertritt, etwa in Quodl. IV, q. 35, OTh IX, 474, oder in Quaest. in
Phys., q. 1, OPh VI, 398), könnte man vermuten, dass noch eine dritte Bedingung erfüllt sein
muss: Der mentale Satz (bzw. der Terminus als sein Bestandteil) muss in einer Abbildrelation
zu einem äußeren Gegenstand stehen. Diese Vermutung ist aber in zweifacher Hinsicht irre-
führend. Erstens ist der Satz bzw. der Terminus als sein Bestandteil kein inneres Bild, sondern
nichts anderes als ein mentaler Akt. Wenn Ockham von similitudo spricht, zielt er nicht auf
eine piktoriale Beziehung ab, sondern auf die genaue Zuordnung eines Aktes zu einem be-
stimmten Gegenstand. Zweitens rekurriert er auf eine similitudo, um zu erklären, wie sich
ein allgemeiner Terminus auch auf jene Gegenstände beziehen kann, von denen er nicht ver-
ursacht wurde. Es geht ihm somit vor allem um das Problem, wie etwa der Terminus ‚Baum‘
sich auch auf jene Bäume beziehen kann, die ich nie gesehen habe. Doch im Hinblick auf einen
singulären Terminus, dessen Bildung direkt durch einen Gegenstand verursacht wird, stellt
sich dieses Problem gar nicht. Daher ist für diesen Fall auch keine similitudo erforderlich.
38
Daher findet sich bei ihm eine radikale Umdeutung des Assimiliationsbegriffs, wie in
Reportatio II, q. 12–13 (OTh V, 273) deutlich wird: „... sic est illa assimilatio passi ad agens
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Eine zweite Annahme besteht darin, dass Ockham einen natürlichen kau-
salen Mechanismus voraussetzt, der ganz unabhängig von Selektions- oder
Auswertungsprozessen wirksam ist und den Inhalt eines Wahrnehmungs-
zustandes bestimmt. Wenn ich vor einem grünen Baum stehe, kann ich gar
nicht anders, als durch das Grünsein so affiziert zu werden, dass ich eine
Grünwahrnehmung habe und sogleich den Terminus ‚grün‘ bilde. Ich wähle
nicht diese besondere Eigenschaft aus, ich filtere sie auch nicht aus einem
Wahrnehmungsfeld heraus und abstrahiere sie nicht aus einer komplexen
Kombination von Farben und Gestalten. Auch diese Annahme ist nicht so
selbstverständlich, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Sie beruht auf der
aristotelischen Vorstellung, dass Wahrnehmung ein rezeptiver Vorgang ist:
Jedem Wahrnehmungssinn ist von Natur aus eine bestimmte Menge von
wahrnehmbaren Eigenschaften zugeordnet (dem Gesichtssinn die Farben,
dem Gehörsinn die Töne usw.), und jeder Wahrnehmungssinn wird dadurch,
dass er von einer Eigenschaft affiziert wird, von einem potentiellen in einen
aktuellen Zustand überführt. All dies läuft ohne bewusste Steuerungs- und
Auswahlprozesse ab. Natürlich sieht sich dieses Kausalmodell mit Schwie-
rigkeiten konfrontiert, sobald komplexe Wahrnehmungsprozesse betrachtet
werden. Angenommen, ich betrachte eine blühende Frühlingswiese, auf der
es grüne Gräser, gelbe und rote Blumen und viele andere Dinge gibt. Warum
kann ich mich dann zuerst auf die gelben Blumen konzentrieren und meine
Wahrnehmung darauf beschränken, um mich erst danach den roten Blumen
zuzuwenden? Muss ich hier nicht gezielt eine bestimmte Wahrnehmungs-
eigenschaft auswählen und eine andere aus meinem Blickfeld ausschalten?
Ockham geht nicht explizit auf einen solchen Fall ein. Er könnte ihn im
Rahmen seines Kausalmodells wohl nur erklären, indem er darauf insistie-
ren würde, dass zunächst alle Farben, die präsent sind, in gleicher Weise auf
den Gesichtssinn einwirken und dadurch einen komplexen Wahrnehmungs-
zustand hervorrufen. Erst in einem zweiten Schritt, wenn der Intellekt die
einzelnen Bestandteile dieses Zustandes analysiert und einige herausgreift,
findet ein Selektionsprozess statt. Doch diese Selektion kann nicht am An-
fang des Wahrnehmungsprozesses erfolgen, und sie spielt sich auch nicht
auf der Ebene der rein sinnlichen Vorgänge ab, die kausal festgelegt sind.
Selektion kann nur ein intellektueller Prozess sein, der auf dem sinnlichen
aufbaut.
Schließlich ist eine dritte Annahme zu beachten, die Ockham stillschwei-
gend voraussetzt. Er geht davon aus, dass die sinnlichen Wahrnehmungs-
zustände intellektuelle Zustände verursachen, die sprachlich strukturiert
per hoc quod recipit aliquem effectum causatum ab agente. Sed isto modo assimilatur intel-
lectus sufficienter per intellectionem causatam ab obiecto et receptam in intellectu, igitur non
requiritur species.“
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sind. Wenn ich eine Grünwahrnehmung habe, bilde ich automatisch den
mentalen Terminus ‚grün‘ und verbinde ihn mit anderen Termini, um etwa
den mentalen Satz ‚Der Baum hier ist grün‘ zu erzeugen.39 Die Pointe seiner
Erklärung von Evidenz liegt ja gerade darin, dass sie von Termini – nicht
von vorsprachlichen Zuständen oder von besonderen kognitiven Entitäten
wie etwa den intelligiblen Species – ausgeht und einen kausalen Mechanis-
mus annimmt, der bewirkt, dass aus den Termini automatisch Sätze gebildet
werden. Entscheidend ist dabei, dass dieser Mechanismus nicht das Beherr-
schen einer konventionellen Sprache voraussetzt. Nicht weil ich Deutsch
gelernt habe und über den Ausdruck ‚grün‘ verfüge, bin ich in der Lage,
einen mentalen Terminus zu bilden. Der mentale Terminus ist gerade umge-
kehrt der primäre Terminus und wird auf natürliche Weise gebildet, ja die
Existenz des mentalen Terminus ist eine notwendige Bedingung dafür, dass
überhaupt in einer konventionellen Sprache wie dem Deutschen ein Aus-
druck gebildet und geäußert werden kann, der eine Zeichenfunktion hat
und somit mehr ist als eine Ansammlung von Lauten. Jeder Mensch ver-
fügt über einen angeborenen Mechanismus, der es ihm erlaubt, mentale
Termini zu bilden und dadurch eine Grundlage für konventionelle Sprachen
zu schaffen. Ockham geht sogar so weit, dass er behauptet, alle Menschen
hätten die gleichen mentalen Termini.40 Ob wir nun ‚grün‘, ‚green‘ oder
‚vert‘ sagen – alle Menschen bilden den gleichen mentalen Terminus, wenn
Die These, dass ich auf natürliche Weise den Terminus ‚Baum‘ bilden kann, ist allerdings
39
nicht unproblematisch. Wie komme ich überhaupt zu diesem Terminus, wenn ich streng ge-
nommen nur in einer Kausalrelation zu wahrnehmbaren Eigenschaften stehe? Ich sehe ja nicht
die „nackte“ Substanz des Baumes, sondern nur dessen Grünsein und andere Eigenschaften,
wie Ockham ausdrücklich betont. Quodl. III, q. 6 (OTh IX, 225): „... et aliam experientiam
non habemus de substantia nisi per accidentia.“ Er nimmt aber an, dass das Wahrnehmen be-
stimmter charakteristischer Eigenschaften sogleich das Erfassen der Substanz ermöglicht, da
die Eigenschaften stets in einer Substanz inhärieren; wer diese abhängigen Entitäten wahr-
nimmt, erfasst immer auch die Entität, von der sie abhängen. Allerdings räumt Ockham ein,
dass die Eigenschaften keineswegs immer und ausnahmslos von einer bestimmten Substanz
abhängig sind. Gott könnte jederzeit sämtliche akzidentellen Eigenschaften zerstören und
trotzdem die Substanz aufrechterhalten, oder er könnte (wie im Falle der Transsubstantiation)
die Substanz austauschen und die akzidentellen Eigenschaften aufrechterhalten; vgl. Quodl.
IV, q. 22 (OTh IX, 404–406). Daraus ergibt sich ein skeptisches Problem, das Ockham aller-
dings nicht diskutiert: Wie kann ich sicher sein, dass die Eigenschaften, die ich wahrnehme,
einer ganz bestimmten Substanz inhärieren, sodass ich dann korrekterweise einen Terminus
für diese Substanz bilde? Könnte es nicht sein, dass ich z.B. beim Anblick von etwas Grünem,
Großem den Terminus ‚Baum‘ bilde, die Substanz des Baumes von Gott jedoch ausgetauscht
worden ist? Ockham könnte darauf nur antworten, dass es nie eine absolute Gewissheit gibt.
Ich kann nur sagen: Wenn die natürliche Ordnung weiterhin besteht, dann inhärieren die Ei-
genschaften einer bestimmten Substanz und dann kann ich auf natürliche und korrekte Weise
einen Terminus für diese Substanz bilden.
40
Vgl. Summa Logicae I, 1 (OPh I, 7–9). Diese These ist in der neueren Forschung schon
mehrfach analysiert worden, konzis von Panaccio 1999.
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sie in einer Kausalrelation zu grünen Dingen stehen. Auch dies ist keine
selbstverständliche Annahme. Sie setzt voraus, dass im Intellekt eines jeden
Menschen eine sprachliche Grundstruktur implementiert ist und dass diese
Struktur gleichsam mit einzelnen Termini aufgefüllt wird, sobald eine Kau-
salrelation zu materiellen Gegenständen besteht.
Die drei genannten Annahmen verdeutlichen, dass Ockhams Evidenz-
begiff in eine umfassende Theorie eingebettet ist, die eine Kausalrelation
zwischen Wahrnehmungsgegenständen und wahrnehmender Person ebenso
voraussetzt wie die Fähigkeit, Wahrnehmungsinputs sprachlich zu ver-
arbeiten. Im Kern zielt diese Theorie auf natürliche Mechanismen ab, deren
prinzipielle Zuverlässigkeit nicht infrage gestellt wird. Sie verfolgt aber nicht
das Ziel, ein subjektives Evidenzerlebnis, das unmittelbar und unkorrigier-
bar gegeben wäre, als Wissensgrundlage zu etablieren. Dies ist im Hinblick
auf die Frage, an welcher Stelle skeptische Einwände überhaupt vorgebracht
werden könnten, von Bedeutung. Ockham wählt nicht einen cartesischen
Ansatz, dem zufolge sämtliche metaphysischen Annahmen suspendiert
werden und damit auch die Kausalrelation zu Gegenständen in der mate-
riellen Welt infrage gestellt wird. Er zweifelt im Gegensatz zu Descartes
auch nicht daran, dass wir über zuverlässige kognitive Vermögen verfügen,
die es uns erlauben, auf der Grundlage von Wahrnehmungsinputs korrekte
mentale Sätze über Gegenstände in der materiellen Welt zu bilden. Wenn er
den Evidenzbegriff klärt, argumentiert er innerhalb einer metaphysischen
Theorie, deren Gültigkeit nicht angetastet wird. Sein Ansatz gleicht nicht
jenem Descartes‘, sondern eher jenem gegenwärtiger naturalistisch gesinnter
Philosophen, etwa demjenigen J. Fodors, der genau wie Ockham davon aus-
geht, (i) dass es eine Kausalrelation zu individuellen Gegenständen gibt, (ii)
dass aufgrund dieser Relation mentale Termini und Sätze gebildet werden
und (iii) dass ein angeborener Mechanismus die Produktion der mentalen
Sätze regelt.41 Daher ist ein radikaler Außenwelt-Skeptizismus von An-
fang an ausgeschlossen. Fragen wie „Könnte es nicht sein, dass ich den Satz
‚Dieser Baum hier ist grün‘ bilde, obwohl kein Baum vorhanden ist?“ oder
gar „Könnte es nicht sein, dass ich ein ganzes Netz von mentalen Sätzen
habe, denen keine Gegenstände in der materiellen Welt entsprechen?“
sind im Rahmen des Ockhamschen Erklärungsrahmens unangebracht.
Mentale Sätze müssen aufgrund der natürlichen Kausalrelation in Relation
zu einer materiellen Welt stehen. Die Termini dieser Sätze hätten gar keine
Bezeichnungsfunktion, wenn es keine solche Relation gäbe. Natürlich
Alle drei Thesen verteidigt Fodor (freilich ohne Verweis auf Ockham) in Fodor 1987. In
41
Fodor 1998, 1–23, vertritt er zudem – genau wie Ockham – einen semantischen Atomismus:
Einzelne Gegenstände verursachen Begriffe, die aufgrund dieser natürlichen Relation als
„Atome“ eine Bedeutung haben.
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kann es sein, dass einige Sätze, etwa ‚Eine Chimäre kann fliegen‘, gebildet
werden, die keine direkte Verankerung in der materiellen Welt haben. Aber
selbst diese Sätze müssen eine indirekte Verankerung haben. So wäre ich
nicht in der Lage, den Terminus ‚Chimäre‘ als einen sinnvollen Ausdruck zu
bilden und zu verstehen, wenn ich nicht wüsste, dass sich eine Chimäre aus
einem Löwen und einer Ziege zusammensetzt. Und die Termini ‚Löwe‘ und
‚Ziege‘ haben natürlich eine Verankerung in der materiellen Welt.42 Für alle
basalen Termini muss es eine solche Verankerung geben, und daher stehen
auch alle basalen mentalen Sätze in einer natürlichen Kausalrelation zur ma-
teriellen Welt.43 Werden die Termini dieser Sätze aufgrund einer unmittel-
baren Wahrnehmung gewonnen, liegt sogar eine Evidenz vor, die objektiv
überprüft werden kann. Wenn ich etwa dem mentalen Satz ‚Dieser Baum
hier ist grün‘ zustimme und ihn in einer konventionellen Sprache zum Aus-
druck bringe, kann eine andere Person prüfen, auf welcher Grundlage ich
diesen Satz gebildet und geäußert habe. Habe ich ihn im Schlaf gemurmelt?
Oder habe ich ihn in einer Situation ausgesprochen, in der ein Baum vor mir
steht? Verfüge ich über funktionierende Sinne, die es mir erlauben, adäquate
Wahrnehmungsinputs aufzunehmen? Verfüge ich zudem über ein funk-
tionierendes intellektuelles Vermögen, das mir erlaubt, die Inputs korrekt
sprachlich zu verarbeiten? Alle diese Fragen können im Prinzip von einer
anderen Person beantwortet werden, die die Leistungsfähigkeit meiner
kognitiven Vermögen und die konkrete Situation beurteilt.
So wenig, wie sich die Problematik des radikalen Außenwelt-Skeptizis-
mus stellt, taucht umgekehrt die Frage nach einem absolut sicheren und
unerschütterlichen Wissensfundament auf. Denn im Prinzip besteht eine
zuverlässige Kausalrelation zu materiellen Gegenständen, die es jedem
Menschen mit funktionierenden kognitiven Vermögen erlaubt, wahre
mentale Sätze zu bilden. Aber natürlich sind Abweichungen von diesem
Prinzip möglich.44 So kann es sehr wohl sein, dass ich zwar aufgrund eines
Wahrnehmungsinputs Termini bilde, die den Satz ‚Dieser Baum hier ist
grün‘ verursachen, aber trotzdem kein Baum vor mir steht, etwa weil ich
In Summa Logicae II, 14 (OPh I, 286–287) erklärt Ockham die Ausdrücke für fiktive
42
ein perfektes Baum-Hologramm sehe oder weil ich einer Fata Morgana
zum Opfer falle. Auch andere Fälle von Sinnestäuschungen, die Ockham
explizit diskutiert, sind möglich. Die Details dieser Diskussion sollen erst
in § 21 analysiert werden. Hier ist nur die allgemeine Stoßrichtung seiner
Argumentation relevant: Nicht immer und überall wird auf der Grundlage
einer Sinneswahrnehmung eine evidente Erkenntnis gewonnen. In seiner
Explikation der Evidenz will Ockham nur erläutern, durch welchen Mecha-
nismus im Prinzip wahre Sätze generiert werden. Doch dieser Mechanismus
kann durch verschiedene Faktoren beeinträchtigt werden. Deshalb muss die
Zustimmung zu mentalen Sätzen immer wieder überprüft werden.
Berücksichtigt man diesen Erklärungsrahmen, zeigt sich, dass die car-
tesische Frage, die seit Gilsons berühmtem Skeptizismus-Vorwurf immer
wieder an Ockham herangetragen wurde, im Grunde eine falsch gestellte
Frage ist. Wer nämlich fragt, ob Ockham mit seinem Erklärungsmodell
garantiert, dass absolut sicheres Wissen möglich ist, oder ob er umgekehrt
unser Wissen einer absoluten Sicherheit beraubt, setzt ein fundamentalisti-
sches Verständnis von Wissen voraus. Die implizite Annahme lautet: Ent-
weder es gibt ein absolut sicheres, d.h. untrügerisches und unkorrigierbares
Fundament und Wissen ist möglich, oder es gibt kein solches Fundament
und Wissen ist unmöglich. Doch Ockham verfolgt nicht das Ziel, ein ab-
solut sicheres Fundament zu etablieren. Er will vielmehr aufzeigen, durch
welche kognitiven Mechanismen Wissen im Prinzip entstehen kann. Ob
dieser Mechanismus tatsächlich korrekt funktioniert, muss gegebenenfalls
geprüft werden. Doch selbst wenn sich herausstellt, dass er unter besonde-
ren Bedingungen nicht korrekt funktioniert, ist damit die Möglichkeit von
Wissen nicht widerlegt. Es ist nur gezeigt, dass in einigen Fällen Korrek-
turen erforderlich sind – Korrekturen, die nur vor dem Hintergrund einer
im Prinzip erfolgreichen Bildung von wahren mentalen Sätzen möglich sind
und somit nicht gleich die Korrektheit aller Fälle infrage stellt. Im Gegen-
teil: Die Möglichkeit eines Irrtums setzt prinzipielle Korrektheit voraus.
Gegen diese antifundamentalistische Interpretation könnten indessen
zwei Einwände erhoben werden. Erstens könnte argumentiert werden,
dass Ockham doch auch „durch sich bekannte Sätze“ (propositiones per
se notae) annimmt, die absolut unbezweifelbar und unkorrigierbar sind.
Schafft er damit nicht ein infallibles Wissensfundament? In der Tat führt
Ockham derartige Sätze ein. Er fasst sie als Sätze auf, die allein aufgrund
der Kenntnis ihrer Termini erfasst und gewusst werden.45 Die klassischen
Beispiele sind für ihn – genau wie für Duns Scotus (vgl. § 8) – Sätze wie
45
Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 6): „Dicendum quod propositio per se nota est illa quae
scitur evidenter ex quacumque notitia terminorum ipsius propositionis ...“ Siehe auch Or-
dinatio I, dist. 3, q. 4 (OTh II, 438–439) und Quodl. V, q. 27 (OTh IX, 438).
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‚Ein Ganzes ist größer als jeder seiner Teile‘. Jeder, der in diesem Fall den
Subjektsterminus korrekt versteht, kann auch den ganzen Satz bilden,
denn der Subjektsterminus beinhaltet den Prädikatsterminus. Der Satz ist
allein aufgrund der Bedeutung seiner Termini wahr, nicht aufgrund des Be-
zugs zu diesem oder jenem konkreten Ganzen, das sinnlich erfasst wird.
Daher handelt es sich hier – modern gesprochen – um einen analytischen
Satz. Dieser kann sich im Gegensatz zu einem synthetischen Satz nicht
plötzlich als falsch herausstellen. Wenn die Bedeutung seiner Termini voll-
ständig erfasst wird, steht seine Wahrheit untrüglich und unrevidierbar fest.
Er bildet somit ein infallibles Fundament, allerdings nur für analytisches
Wissen. Ockham behauptet nicht, dass aus den analytischen Sätzen syn-
thetische deduziert werden können (was schwerlich möglich wäre) oder dass
die Infallibilität der ersten Art von Sätzen die Infallibilität der zweiten Art
garantiert. Er weist vielmehr darauf hin, dass die zweite Art klar von der
ersten zu unterscheiden ist und dass bei dieser Art durchaus die Möglich-
keit einer fehlenden Evidenz besteht. So kann jemand Sokrates nicht sehen,
sondern sich ihn und seine Weiße nur vorstellen, was zur Folge hat, dass er
nicht mit Evidenz dem Satz ‚Sokrates ist weiß‘ zustimmt und folglich auch
kein Wissen hat.46 Dies bedeutet, dass analytische Sätze nicht einfach die
Grundlage für synthetische bilden, ja dass es überhaupt kein einheitliches
Fundament für Wissen gibt.
Ein zweiter Einwand könnte darauf verweisen, dass Ockham auch ein
Wissen von den eigenen mentalen Zuständen annimmt, das infallibel ist. So
hält er fest:
„Es ist aber klar, dass unser Intellekt in diesem Leben nicht nur wahrnehmbare
Dinge erkennt, sondern im Besonderen und intuitiv auch gewisse intelligible Dinge,
die in keiner Weise den Sinnen unterstehen, nicht mehr als eine abgetrennte Sub-
stanz den Sinnen untersteht. Derart sind die Denkakte, Akte des Willens, schließ-
lich Zustände der Freude, der Traurigkeit usw., von denen ein Mensch die Erfahrung
macht, dass sie in ihm sind; dennoch sind sie nicht wahrnehmbare Dinge und unter-
stehen nicht den Sinnen. Dass aber Derartiges von uns im Besonderen und intuitiv
erkannt wird, ist klar, denn dies ist mir mit Evidenz bekannt: ‚Ich denke‘.“47
46
Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 6–7): „Si autem tantum cognosceret Sortem et albedinem
exsistentem in Sorte abstractive, sicut potest aliquis imaginari ea in absentia eorum, non sciret
evidenter quod Sortes esset albus, et ideo non est propositio per se nota.“
47
Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 39–40): „Patet etiam quod intellectus noster pro statu
isto non tantum cognoscit ista sensibilia, sed in particulari et intuitive cognoscit aliqua in-
telligibilia quae nullo modo cadunt sub sensu, non plus quam substantia separata cadit sub
sensu, cuiusmodi sunt intellectiones, actus voluntatis, delectatio consequens et tristitia et hui-
usmodi, quae potest homo experiri inesse sibi, quae tamen non sunt sensibilia nec sub aliquo
sensu cadunt. Quod enim talia cognoscantur a nobis in particulari et intuitive, patet, quia
haec est evidenter mihi nota ,ego intelligo‘.“ Vgl. auch Quodl. I, q. 14 (OTh IX, 79–80).
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Wenn das Erkennen der eigenen mentalen Zustände nicht von den Sinnen
abhängt, wie Ockham betont, dann sind auch keine Sinnestäuschungen
möglich. Und dann können Sätze über diese Zustände auch nicht durch
neue empirische Belege revidiert oder korrigiert werden. Ein Satz wie ‚Ich
denke‘ ist unkorrigierbar wahr, solange ich denke, und wird von mir als ein
selbst-verifizierender Satz erfasst. Denn indem ich den Satz erfasse, zeige
ich, dass ich denke.
Ist damit ein infallibles Wissensfundament geschaffen? In der Tat, aber
nur mit Bezug auf die relativ kleine Menge der Sätze über aktuelle mentale
Akte und Zustände. Sobald ich über Sätze wie ‚Ich denke‘, ‚Ich bin freudig
gestimmt‘, ‚Ich bin betrübt‘ usw. hinausgehe, eröffnen sich wieder Täu-
schungsmöglichkeiten, denn dann hängt die Bildung der Termini wieder
von der Aktivität der Sinne ab, die zwar im Prinzip zuverlässig funk-
tionieren, aber keineswegs immun sind gegen Fehlleistungen. Ockham be-
hauptet nicht, dass Cogito-Sätze das einzige unerschütterliche Fundament
bilden und dass das ganze Wissen auf diesem Fundament aufbauen muss.
Er unterscheidet sorgfältig zwischen Cogito-Sätzen, die ohne Mithilfe der
Sinne gebildet werden, und Sätzen über kontingente Sachverhalte in der ma-
teriellen Welt, die nur auf der Grundlage von Sinnesinformationen möglich
sind. Auch hier gilt wieder, dass die zweite Art von Sätzen nicht einfach aus
der ersten deduziert werden kann.
Diese Antwort auf die beiden Einwände zeigt nicht nur, dass der Ver-
weis auf analytische Sätze und Cogito-Sätze nicht dazu dienen kann, eine
fundamentalistische Interpretation zu stärken. Sie wirft auch ein Licht auf
Ockhams gesamte Strategie bei der Erklärung von Wissen. Er verfolgt nicht
das Ziel, ein einziges, absolut sicheres Wissensfundament zu bestimmen, um
dann zu zeigen, dass alles, was darauf beruht, ebenfalls absolut sicher ist.
Vielmehr unterscheidet er verschiedene Arten von Sätzen und damit auch
verschiedene Arten von Wissen, die einen unterschiedlichen Status haben.
Einige davon sind infallibel, andere nicht. Selbst wenn einige sich als falsch
herausstellen und revidiert werden müssen, bricht damit nicht das ganze
Wissenssystem zusammen. Es muss nur neu angepasst und immer wieder
auf die empirische Verankerung hin überprüft werden.
Dieser antifundamentalistische, fallibilistische Erklärungsansatz ist zu
beachten, wenn Ockhams berühmte Unterscheidung zwischen intuitiver
und abstraktiver Erkenntnis in den Blick genommen wird. Er verwendet
diese Unterscheidung, um zu verdeutlichen, dass das Erfassen von Termini
zwei Arten von Erkenntnissen ermöglicht: die intuitive Erkenntnis, die un-
mittelbar Existenzurteile zur Folge hat, und die abstraktive Erkenntnis, die
keine solchen Urteile zur Folge hat:
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„Aber [die beiden Arten von Erkenntnis] werden auf folgende Weise unterschieden:
Die intuitive Erkenntnis ist jene, kraft derer gewusst werden kann, ob ein Gegen-
stand existiert oder nicht, sodass – wenn der Gegenstand existiert – der Intellekt
sogleich urteilt, dass er existiert, und mit Evidenz erkennt, dass er existiert, es sei
denn, er werde vielleicht aufgrund einer Unvollkommenheit dieser Erkenntnis daran
gehindert. Und ebenso gilt: Wenn eine solche Erkenntnis bezüglich eines nicht exis-
tierenden Gegenstandes durch die göttliche Macht aufrechterhalten würde, könnte
er kraft dieser unverknüpften Erkenntnis mit Evidenz erkennen, dass der Gegen-
stand nicht existiert. [...] Die abstraktive Erkenntnis hingegen ist jene, kraft derer
bezüglich eines kontingenten Gegenstandes nicht mit Evidenz gewusst werden
kann, ob er existiert oder nicht.“48
Ockham fügt hinzu, dass der entscheidende Unterschied nicht nur in Ur-
teilen über die Existenz besteht, sondern auch in Urteilen über die kontin-
gente Beschaffenheit eines Gegenstandes. So urteile ich aufgrund einer in-
tuitiven Erkenntnis, dass der vor mir stehende Baum existiert, dass er grün
ist, dass er zehn Meter hoch ist usw. Wenn ich hingegen eine abstraktive
Erkenntnis habe, denke ich beispielsweise an den Baum, der vor dem Haus
meiner Kindheit stand. Ich urteile dann nicht, dass er existiert (er mag in
der Zwischenzeit gefällt worden sein), und ich urteile auch nicht, dass er
grün ist und eine bestimmte Höhe hat (er mag ja immer noch existieren,
aber verdorrt und verkrüppelt sein). Kurzum: Im Falle der abstraktiven
Erkenntnis stelle ich mir nur etwas vor, ohne zu urteilen, dass es sich in
Wirklichkeit so verhält. Im Falle der intuitiven Erkenntnis hingegen, die
auf einer unmittelbaren Wahrnehmung beruht, fälle ich ein solches Urteil.
Daher lassen sich die beiden Arten von Erkenntnis folgendermaßen cha-
rakterisieren:
Ordinatio I, prol., q. 1 (OT I, 31–32): „Sed distinguuntur per istum modum: quia notitia
48
intuitiva rei est talis notitia virtute cuius potest sciri utrum res sit vel non, ita quod si res
sit, statim intellectus iudicat eam esse et evidenter cognoscit eam esse, nisi forte impediatur
propter imperfectionem illius notitiae. Et eodem modo si esset perfecta talis notitia per po-
tentiam divinam conservata de re non exsistente, virtute illius notitiae incomplexae evidenter
cognosceret illam rem non esse. [...] Notitia autem abstractiva est illa virtute cuius de re
contingente non potest sciri evidenter utrum sit vel non sit.“ Vgl. auch Reportatio II, q. 12–13
(OTh V, 261) und Quodl. V, q. 5 (OTh IX, 496).
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Diese viel zitierte Unterscheidung soll hier nicht mit Blick auf alle Details
diskutiert werden.49 Es sollen nur jene Aspekte betont werden, die im Hin-
blick auf die Skeptizismus-Problematik relevant sind. In dieser Hinsicht fällt
sogleich auf, dass sich beide Arten von Erkenntnis auf einen individuellen
Gegenstand beziehen, und zwar in direkter Weise. Ockham wendet sich ent-
schieden gegen die Annahme, es gebe bei der einen oder anderen Erkenntnis
irgendwelche vermittelnde Entitäten (z.B. Gegenstände mit „intentionalem
Sein“ oder intelligible Species), die sich gleichsam zwischen den Erkennt-
nisakt und den erfassten Gegenstand einschieben.50 Wenn ich über den vor
mir stehenden Baum urteile, so richte ich mich direkt auf ihn, und wenn ich
an den Baum meiner Kindheit denke, beziehe ich mich ebenfalls direkt auf
ihn. Daher kann folgende skeptische Frage, die sich an einem repräsenta-
tionalistischen Modell orientiert, gar nicht auftauchen: Wie kann ich durch
das Erfassen einer inneren Repräsentation überhaupt sicher sein, dass es
einen korrespondierenden äußeren Gegenstand gibt? Für Ockham ist diese
Frage gegenstandslos, da sie die Annahme innerer Repräsentationen, die den
direkten Zugang zu äußeren Gegenständen verstellen, voraussetzt – genau
jene Annahme, die er im Rahmen seines direkten Erkenntnisrealismus von
vornherein ausschließt.51
Freilich bleibt damit immer noch die Möglichkeit offen, dass andere
skeptische Probleme auftauchen. Besonders im Hinblick auf die intuitive
Erkenntnis stellt sich die Frage, ob damit sicheres Wissen erworben wird.
Meistens wird diese Frage mit Blick auf die intuitive Erkenntnis von nicht
existierenden Gegenständen gestellt, die Ockham ja ausdrücklich zulässt.
49
Da der historische Ursprung und die terminologische Ausarbeitung dieser Unterschei-
dung schon mehrfach untersucht worden sind, gehe ich im Folgenden nicht darauf ein. Eine
umfassende Darstellung bietet die klassische Studie von Day 1947. Für eine konzise Analyse
vgl. Adams 1987, 501–525, und Karger 1999.
50
Er wendet sich vor allem gegen Scotus, der angenommen hatte, im Fall der abstraktiven
Erkenntnis werde der Gegenstand nur vermittelt durch eine Species erfasst. Dagegen insistiert
Ockham darauf, auch in dieser Erkenntnis werde der Gegenstand an sich und nicht „tantum
in quadam similitudine diminuta“ erfasst; vgl. Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 34). Auch in
Reportatio I, dist. 27, q. 3 (OTh IV, 242) hält er konzis fest: „Igitur sicut nihil est medium
inter obiectum intuitive cognitum et ipsam notitiam intuitivam, ita nihil erit medium inter
obiectum et notitiam abstractivam.“
51
Der Fall der Erinnerung mag problematisch erscheinen. Benötige ich nicht zumindest
für eine Erinnerung an den Baum meiner Kindheit eine innere Repräsentation? Der Baum
steht ja nicht unmittelbar vor mir, sodass ich mich auch nicht aufgrund von Sinneseindrücken
unmittelbar auf ihn beziehen kann. Ockham würde einen solchen Einwand zurückweisen.
Selbst ein Akt der Erinnerung, so stellt er in Reportatio II, q. 12–13 (OTh V, 261–262 und
271) fest, bezieht sich nicht primär auf eine Repräsentation, und selbst in diesem Fall ist keine
Species erforderlich. Es ist einzig und allein ein Habitus erforderlich, der aktiviert wird. Dann
entsteht ein Akt, der sich wiederum direkt auf das vergangene Objekt bezieht, mag es zum
gegenwärtigen Zeitpunkt existieren oder nicht. Vgl. ausführlich zur Theorie der Erinnerung
Adams 1987, 515–525.
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Diese Art von Erkenntnis, die durch göttliches Eingreifen zustande kommt,
verdient sicherlich eine Analyse und soll in § 22 genauer betrachtet werden.
Doch bereits die These, dass es eine intuitive Erkenntnis von existierenden
Gegenständen gibt, bedarf einer Prüfung. Garantiert diese Art von Erkennt-
nis sicheres Wissen? Habe ich etwa dadurch, dass ich über die Existenz und
die Farbe des vor mir stehenden Baumes urteile, ein sicheres Wissen davon,
dass der Baum tatsächlich existiert und tatsächlich grün ist? Kann ich jeden
Zweifel ausschließen? Mindestens drei Punkte gilt es hier zu beachten.
Erstens fällt auf, dass Ockham betont, das Urteil werde sogleich (statim)
gefällt, ohne dass eine Überlegung oder eine besondere Reflexion statt-
findet. Damit verdeutlicht er, dass ein kausaler Mechanismus vorliegt,
der natürlicherweise wirksam ist. Wenn ich – um sein eigenes Beispiel zu
zitieren – vor Sokrates stehe und eine Wahrnehmung von dessen weißer
Farbe habe, bilde ich sogleich die Termini ‚Sokrates‘ und ‚weiß‘ und stimme
sogleich den Sätzen ‚Sokrates existiert‘ und ‚Sokrates ist weiß‘ zu. Meine
kognitiven Vermögen sind so gebaut, dass sie beim Vorliegen eines be-
stimmten Wahrnehmungsinputs gar nicht anders können, als diese Urteile
zu fällen. Nicht einmal durch einen Willensentscheid, so betont Ockham,
könnte ich von diesen Urteilen abgehalten werden.52 Damit verweist er
genau auf die beiden bereits genannten Merkmale von Evidenz: Zum einen
gibt es einen natürlich verankerten kognitiven Mechanismus, der zum zu-
stimmenden Erfassen von wahren mentalen Sätzen führt; zum anderen
liegt eine empirische Verankerung dieser Sätze vor. Daher steht für Ock-
ham fest, dass eine intuitive Erkenntnis eine evidente Erkenntnis ist.53 Und
eine solche Erkenntnis beinhaltet, wie bereits mehrfach betont wurde, die
Zustimmung zu wahren Sätzen. Daher kann ein radikaler Zweifel sogleich
ausgeräumt werden. Fragen wie „Könnte es nicht sein, dass ich zwar eine
intuitive Erkenntnis habe, aber gänzlich falsche Urteile über einen Gegen-
stand fälle?“ können zurückgewiesen werden. Der kausale Mechanismus
garantiert, dass im Prinzip wahre Urteile über die Existenz und die kon-
tingenten Eigenschaften gebildet werden.
Zweitens fällt auch auf, dass Ockham präzisiert, der Intellekt stimme
sogleich zu, dass der Gegenstand existiert, wenn er existiert. Das Existenz-
urteil wird also nicht willkürlich oder auf einer beliebigen Basis gefällt. Dies
gilt es zu betonen, um Ockhams Erklärung der intuitiven Erkenntnis von
derjenigen späterer Autoren abzugrenzen. So soll Bernhard von Arezzo
gemäß der Darstellung des Nikolaus von Autrécourt behauptet haben, im
Falle einer intuitiven (und sogar klaren) Erkenntnis urteile jemand, dass
Vgl. Ordinatio I, prol., q. 7 (OTh I, 192).
52
Er hält in Ordinatio I, prol., q. 1 (OT I, 31) explizit fest: „... illa notitia Sortis et albedinis
53
virtute cuius potest evidenter cognosci quod Sortes est albus, dicitur notitia intuitiva.“
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ein Gegenstand existiert, ob er nun wirklich existiere oder nicht.54 Dies ist
sicherlich nicht Ockhams Auffassung. Da das Existenzurteil auf der Basis
von Termini gefällt wird, die ihrerseits auf der Basis einer direkten Wahr-
nehmung entstehen, muss ein Gegenstand existieren, damit er als existierend
beurteilt wird. Eine lückenlose Kausalkette führt vom Gegenstand zum Ur-
teil. Dies ist wiederum ein entscheidender Punkt im Hinblick auf mögliche
skeptische Einwände. Die Frage „Könnte es sein, dass ich in einer intuitiven
Erkenntnis urteile, dass ein Gegenstand existiert, obwohl er nicht existiert?“
würde Ockham eindeutig negativ beantworten. Es kann natürlich sein, dass
ich falsch urteile, aber dann habe ich keine intuitive Erkenntnis; ich schreibe
mir nur fälschlicherweise eine solche Erkenntnis zu. Es kann auch sein, dass
ich zwar eine intuitive Erkenntnis habe, aber über einen nicht existierenden
Gegenstand urteile. Doch dann urteile ich korrekt, dass er nicht existiert.
Die Möglichkeit, dass ich tatsächlich eine intuitive Erkenntnis habe und
trotzdem ein falsches Urteil fälle, ist von vornherein ausgeschlossen.
Dies heißt allerdings nicht, dass immer und ausnahmslos korrekte Urteile
hervorgebracht werden. Es gilt hier, einen dritten, in der Forschungsliteratur
meistens vernachlässigten Punkt zu beachten. An der zitierten Stelle, an der
Ockham die intuitive Erkenntnis erläutert, weist er explizit darauf hin, dass
der Intellekt „vielleicht aufgrund einer Unvollkommenheit dieser Erkennt-
nis“55 an der Bildung eines korrekten Existenzurteils gehindert werden
kann. Noch expliziter ist er an einer anderen Stelle:
„Dennoch ist zu beachten, dass es manchmal aufgrund einer Unvollkommenheit der
intuitiven Erkenntnis (nämlich weil sie sehr unvollkommen und obskur ist – entwe-
der wegen gewisser Hindernisse seitens des Objekts oder wegen gewisser anderer
Hindernisse) geschehen kann, dass keine oder wenige kontingente Wahrheiten über
einen derart intuitiv erkannten Gegenstand erkannt werden können.“56
schwarzer Mann ist präsent. In diesem Fall stellen die schlechten Sichtbedin-
gungen ein Hindernis für eine intuitive Erkenntnis dar. Heißt dies, dass wir
dann eine unkorrekte intuitive Erkenntnis haben? Keineswegs. Wie sich ge-
zeigt hat, ist eine intuitive Erkenntnis ja eine evidente Erkenntnis, und diese
beinhaltet immer die Zustimmung zu einem wahren Satz. Daher kann es
schon aufgrund der Evidenzbedingung keine unkorrekte intuitive Erkennt-
nis geben.57 In dem genannten Fall liegt vielmehr eine falsche Zuschreibung
einer intuitiven Erkenntnis vor. Aufgrund der besonderen Wahrnehmungs-
bedingungen haben wir bestimmte Wahrnehmungsinputs, die bewirken,
dass wir das falsche Urteil ‚Hier ist ein schwarzer Mann‘ bilden, und genau
deshalb glauben wir, wir hätten eine intuitive Erkenntnis – aber wir glauben
es eben bloß. Wenn wir die Wahrnehmungsbedingungen überprüfen, stellen
wir fest, dass die Wahrnehmungsinputs irreführend waren und dass wir
deshalb ein falsches Urteil gebildet haben.
Dies ist nun für die Skeptizismus-Problematik relevant. Auf die Frage
„Könnte es sein, dass wir trotz konkreter Wahrnehmungsinputs und trotz
korrekter Verarbeitung dieser Inputs falsche Urteile bilden?“ lässt sich aus
Ockhams Sicht antworten: Natürlich könnte dies der Fall sein. Ein Irrtum
ist immer möglich. Mit der Theorie der intuitiven Erkenntnis soll nicht ge-
zeigt werden, dass es einen kognitiven Mechanismus gibt, der ausnahmslos
korrekte Urteile generiert. Es soll nur erklärt werden, wie unter günstigen
Erkenntnisbedingungen derartige Urteile entstehen. Da wir nicht immer
in der Lage sind, auf Anhieb die günstigen Erkenntnisbedingungen von
den ungünstigen zu unterscheiden, ist es durchaus möglich, dass wir uns
(oder auch anderen Personen) irrtümlicherweise eine intuitive Erkennt-
nis zuschreiben. Die Unterscheidung zwischen intuitiver und abstraktiver
Erkenntnis ist nicht so zu verstehen, dass wir in jeder Situation die eine
oder die andere Erkenntnis haben müssen. Es ist auch schlicht und einfach
möglich, dass wir keine Erkenntnis haben – genau dann, wenn wir falschen
Urteilen zustimmen.
Diese Argumentation könnte einen akademisch inspirierten Skeptiker
allerdings zu einer Erwiderung veranlassen. Wenn wir die günstigen Wahr-
nehmungsbedingungen nicht auf Anhieb von den ungünstigen unterschei-
den können, so könnte er sagen, brauchen wir zumindest ein Merkmal oder
Dies ist gegenüber Karger 1999, 219, festzuhalten, die behauptet, es könne eine intuitive
57
Erkenntnis geben, die ein falsches Urteil verursacht. Diese These verträgt sich nicht mit Ock-
hams expliziter Aussage, dass der Intellekt im Falle einer intuitiven Erkenntnis mit Evidenz
erkennt dass ein Gegenstand existiert, wenn er existiert (vgl. Anm. 48). Und Evidenz be-
stimmt er als „die Erkenntnis eines wahren Verknüpften“ (vgl. Anm. 33) Daher muss in einer
intuitiven Erkenntnis einem wahren Satz zugestimmt werden. Es gilt hier, sorgfältig zwischen
(1) einer falschen intuitiven Erkenntnis und (2) der falschen Zuschreibung einer intuitiven
Erkenntnis zu unterscheiden. Ockham zufolge ist nur (2) möglich.
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58
Vgl. Adams 1987, 595–597.
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59
Natürlich ließe sich gegen dieses Vorgehen einwenden, dass es keine Lösung für das
Traum-Argument darstellt. Denn könnte es nicht sein, dass es kein Außen gibt? Ist es nicht
denkbar, dass alles – selbst die andere Person, die meine Zustände und ihr Zustandekommen
prüft – nur der Inhalt eines umfassenden Traumes ist? In der Tat bietet Ockham auf diese
Fragen keine direkte Antwort. Doch sie ergeben im Rahmen seiner naturalistisch und exter-
nalistisch ausgerichteten Theorie keinen Sinn. Denkakte können ja nur dann einen wohldefi-
nierten Inhalt haben, wenn es prinzipiell eine Kausalrelation zu äußeren Gegenständen gibt.
Daher könnte Ockham das radikale Traum-Argument mit folgender Gegenfrage zurückwei-
sen: Wie können die Gedanken im umfassenden Traum überhaupt einen Inhalt haben, wenn
es kein Außen gibt?
60
Scott 1969, 46: „In brief, it seems to be suggested by his discussions that if all knowledge
(in the strict sense) must be based on intuitive cognition, then even if we do sometimes know,
we can never know that we know.“
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63
In Ordinatio I, dist. 27, q. 3 (OTh IV, 238) hält er spitz fest: „... si enim omnes vices quibus
respexi dicta sua simul congregarentur, non complerent spatium uniuis diei naturalis...“ Dass
Aureolis Theorie nicht nur „Laster“, sondern auch Vorzüge aufweist, wird deutlich, wenn sie
in den umfassenden ontologischen und erkentnistheoretischen Rahmen eingebettet wird, den
Aureoli selber wählt. Vgl. dazu Denery 1998 und 2005, 117–136, sowie Perler 2002, 274–283.
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Aureoli geht von der These aus, dass in einigen Situationen die Erschei-
nung von materiellen Gegenständen und die tatsächliche Beschaffenheit
dieser Gegenstände auseinander klaffen. Er untermauert diese These mit
acht Beispielen, die zum größten Teil aus der antiken skeptischen Tradition
stammen und im 14. Jh. gut bekannt waren. Seine ersten drei Beispiele lau-
ten: 64 Wenn wir auf einem schwankenden Boot an einem Ufer vorbeifahren,
an dem Bäume stehen, haben wir die Erscheinung von sich bewegenden
Bäumen; die Bäume am Ufer bewegen sich aber nicht. Wenn wir einen bren-
nenden Stab schnell durch die Luft drehen, haben wir die Erscheinung von
einem Kreis; doch weder der Stab noch die Luft ist kreisförmig. Und wenn
wir einen Holzstab sehen, der halb ins Wasser eingetaucht ist, haben wir
die Erscheinung von einem gebrochenen Stab; der Holzstab ist aber nicht
gebrochen. Aureoli zufolge können wir diese Beispiele nur erklären, wenn
wir zugestehen, dass es hier zwei Arten von Gegenständen gibt, nämlich die
realen und die bloß erscheinenden, die nicht übereinstimmen. Er stellt daher
explizit die Gegenstände mit einem esse reale jenen mit einem esse apparens
(oder auch esse intentionale) gegenüber. Dieser ontologischen Gegenüber-
stellung liegt eine Überlegung zugrunde, die sich folgendermaßen rekon-
struieren lässt:
(1) Jeder Wahrnehmungsakt hat einen unmittelbaren Gegenstand.
(2) Der Wahrnehmungsakt richtet sich auf einen Gegenstand mit der Ei-
genschaft F.
(3) Der reale Gegenstand hat aber die Eigenschaft nicht-F.
(4) Ein Gegenstand kann nicht zur gleichen Zeit und in gleicher Hinsicht F
und nicht-F haben.
(5) Also können der unmittelbare Gegenstand des Wahrnehmungsaktes
und der reale Gegenstand nicht identisch sein.
(6) Also muss es sich beim unmittelbaren Gegenstand des Wahrnehmungs-
aktes um einen besonderen Gegenstand mit einem „erscheinenden Sein“
handeln.
Aureoli betont, dass die Schlussthese nicht nur für den besonderen Fall der
Sinnestäuschungen gilt, sondern für jeden Fall einer Wahrnehmung. Kon-
kret heißt dies: Auch wenn gut sichtbar ein runder Ball vor mir liegt und
ich korrekt einen runden Ball sehe, ist der Gegenstand, auf den ich mich
unmittelbar richte, ein Gegenstand mit „erscheinendem Sein“. In diesem
Fall stimmt der unmittelbare Gegenstand einfach mit dem realen Gegen-
stand überein; daher habe ich eine korrekte Wahrnehmung. Doch selbst in
64
Vgl. Ordinatio I, dist. 27, q. 3 (OTh IV, 231). Ockham zitiert hier wörtlich aus Petrus
Aureoli, Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3, sect. 14 (ed. Buytaert 1956, Bd. 1,
696–698).
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diesem Fall liegen zwei distinkte Gegenstände vor, die aufgrund der güns-
tigen Wahrnehmungsbedingungen perfekt aufeinander passen und ununter-
scheidbar sind.65 Korrekte und unkorrekte Wahrnehmung unterscheiden
sich nur darin, dass die beiden Gegenstände im ersten Fall gleichsam zu-
sammenfallen und im zweiten nicht, aber sie unterscheiden sich nicht darin,
dass jeweils zwei Gegenstände vorliegen: ein unmittelbar erscheinender
und ein realer in der materiellen Welt. Sinnestäuschungen treten zwar nur
selten auf, aber sie haben den Vorteil, dass sie diese Tatsache besonders präg-
nant verdeutlichen, da die beiden Gegenstände dann ganz offensichtlich
unverträgliche oder gar kontradiktorische Eigenschaften haben und nicht
identisch sein können.
Diese Argumentation geht von zwei Prämissen aus, die Aureoli still-
schweigend voraussetzt. Erstens nimmt er wie selbstverständlich an, dass
die Erklärung von Sinnestäuschungen immer auf der Ebene einzelner
visueller (oder auch taktiler, auditiver usw.) Akte und deren Gegenstände
ansetzen muss. Man könnte daher von einem objektbezogenen Ansatz
sprechen: Es gilt, den besonderen Gegenstand eines Wahrnehmungsaktes
zu erklären. Zweitens nimmt Aureoli ebenfalls wie selbstverständlich an,
dass es unterschiedliche Gegenstände mit einem je unterschiedlichen
ontologischen Status gibt, ja dass gerade die Sinnestäuschungen das Aus-
einanderklaffen von erscheinendem und realem Gegenstand verdeutlichen.
Diese Unterscheidung setzt eine reichhaltige Ontologie voraus. Zwar äußert
sich Aureoli nicht eindeutig bezüglich der Frage, wo denn die erscheinenden
Gegenstände anzusiedeln sind. In seiner Erläuterung des Beispiels mit dem
schwankenden Boot hält er nur fest, die sich bewegenden Bäume könnten
nicht in der Luft sein. In seiner Darstellung des Beispiels mit dem durch die
Luft geschwungenen Stab räumt er jedoch ein, dass der leuchtende Kreis
durchaus in der Luft ist. Offensichtlich ist er sich nicht ganz klar darüber,
ob der jeweilige erscheinende Gegenstand im Wahrnehmenden selbst (z.B.
in den inneren Sinnen) oder außerhalb des Wahrnehmenden existiert. Dass
er aber existiert und weder mit dem realen Gegenstand identifiziert noch
auf ihn reduziert werden kann, steht für Aureoli eindeutig fest. Und das
heißt natürlich: Er setzt eine Ontologie voraus, die verschiedene Typen von
Gegenständen unterscheidet.
Ockham setzt mit seiner Kritik genau an den beiden impliziten Prämis-
sen an. Betrachten wir zunächst die Annahme, hier müsse eine besondere
Art von Gegenständen erklärt werden. Dagegen wendet Ockham ein, dass
es gar nicht um die Bestimmung besonderer Gegenstände geht, sondern
65
Ordinatio I, dist. 27, q. 3 (OTh IV, 233): „Sed tamen non distinguitur imago seu res in
esse apparenti a reali, quia simul coincidunt in vera visione.“ Dies ist ein wörtliches Zitat aus
Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3, sect. 14 (ed. Buytaert 1956, Bd. 1, 698).
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66
Ordinatio I, dist. 27, q. 3 (OTh IV, 243–244): „Ad primam experientiam dico quod
quando aliquis portatur in aqua, nullus motus est in oculo nec obiective nec subiective, quia
nullus motus est ipsarum arborum. Tamen ista propositio ,arbores moventur‘ est obiective in
intellectu, et bene verum est quod intellectus potest formare propositiones et eis assentire vel
dissentire, sed hoc non est ad propositum.“
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67
Ordinatio I, dist. 27, q. 3 (OTh IV, 244): „Ex hoc tamen non sequitur motum aliquem ap-
parere, sed sequitur quod in sensu sunt apprehensiones aequivalentes quantum ad operationes
eliciendas apparitioni vel visioni qua motus apparet...“
68
Da ein falsches Urteil gebildet wird, kann keine intuitive Erkenntnis vorliegen. Dies
ist gegenüber Karger 1999, 219, festzuhalten, die mit Verweis auf die Sinnestäuschungen
behauptet: „Ockham admitted there to be cases where an intuitive cognition causes a false
judgment.“ Karger begründet diese Behauptung mit der Bemerkung, das Urteil werde auf
der Grundlage eines sinnlichen Erfassens gefällt, und ein solches Erfassen führe immer zu
einer intuitiven Erkenntnis. Dagegen ist erstens einzuwenden, dass Ockham in seiner De-
finition der intuitiven Erkenntnis festhält, dass sie evident ist, und evidente Erkenntnis be-
inhaltet immer eine Zustimmung zu wahren Urteilen (vgl. oben Anm. 33). Zweitens ist zu
bemerken, dass Ockham an der soeben zitierten Stelle ausdrücklich betont, es liege nur ein
sinnliches Erfassen vor, das äquivalent ist (aber keineswegs identisch mit) dem Erfassen, das
unter normalen Bedingungen zu einer veridischen Wahrnehmung und einem korrekten Ur-
teil führt. Daher sind zwei Fälle zu unterscheiden. (a) Unter normalen Bedingungen erfolgt
ein korrektes sinnliches Erfassen, das eine korrekte intuitive Erkenntnis im Intellekt und
damit auch ein korrektes Urteil verursacht. (b) Unter besonderen Bedingungen erfolgt ein
„äquivalentes“ sinnliches Erfassen, das bloß eine „äquivalente“ (aber nicht wirklich intuitive)
Erkenntnis und damit auch ein falsches Urteil verursacht.
69
Daher können sich Tiere streng genommen nicht täuschen. Sie können nur visuelle Ein-
drücke haben, die ihnen – genau wie den Menschen – Bäume als schwankend präsentieren.
Aber sie urteilen nicht, dass die Bäume sich bewegen. Auf den explizit formulierten Einwand,
dass die Bäume den Tieren doch schwankend erscheinen, antwortet Ockham in Ordinatio
I, dist. 27, q. 3 (OTh IV, 244): „Si autem praedicta propositio intelligatur sic quod in sensu
est aliqua apprehensio vel apprehensiones diversorum obiectorum virtute quarum a sentiente
possunt elici consimiles operationes operationibus elicitis a sentiente corpus vere motum, tunc
vera est propositio.“ Der entscheidende Punkt besteht darin, dass die Tiere nur „consimiles
operationes“ haben können. Da sie nur über eine sinnliche Seele verfügen, kann es sich dabei
nur um sinnliche Tätigkeiten handeln, nicht um Urteile.
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70
Ordinatio I, dist. 27, q. 3 (OTh IV, 245): „Quia tamen illae arbores, propter motum exsis-
tentis in navi qui non movetur nisi ad motum navis, in diversa distantia et aspectu videntur ab
exsistente in navi, ideo videntur arbores illae moveri.“
71
Die Klausel „im Normalfall“ weist darauf hin, dass hier nur von natürlichen Prozessen
die Rede ist. Der Spezialfall, in dem Gott eingreift und ohne die Kausalrelation zu einem
realen Gegenstand einen Wahrnehmungszustand hervorbringt oder aufrechterhält, soll erst
in § 22 analysiert werden.
72
Dass es sich dabei um ein methodologisches Prinzip handelt, das auf verschiedene Pro-
blembereiche (nicht bloß auf das berühmte Universalienproblem) angewendet werden kann,
verdeutlicht prägnant Boler 1985.
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genau so, wie es der Plan vorgibt. Nun fragt uns jemand: „Aber bist du denn
sicher, dass du einer bestimmten Straße folgen musst, um ans richtige Ziel
zu gelangen? Könnte es nicht sein, dass der Plan nicht stimmt? Musst du
nicht mithilfe eines sicheren Kriteriums überprüfen, ob das Straßennetz auf
dem Plan genau dem realen Straßenverlauf entspricht?“ Auf diese Fragen
würden wir wohl spontan antworten: „Nein, wir müssen keine dermaßen
aufwändige Prüfung anstellen. Natürlich kann es sein, dass der Stadtplan
einige Ungenauigkeiten oder Druckfehler aufweist. Aber im Prinzip ist er
zuverlässig und führt uns an das richtige Ziel. Die punktuellen Fehler kön-
nen wir entdecken und korrigieren, indem wir Inkohärenzen feststellen und
beseitigen.“ Ähnliches gilt nun auch für unsere Wahrnehmungsurteile: Wir
müssen nicht jedes einzelne Urteil mithilfe eines Kriteriums überprüfen,
sondern können voraussetzen, dass wir durch natürliche Sinneseindrücke
eine korrekte mentale Landkarte gewinnen. Natürlich kann es sein, dass
diese Karte punktuell Fehler aufweist. Doch diese können wir aufdecken,
indem wir Inkohärenzen feststellen (etwa wenn wir bemerken, dass die
Bäume nur vom schwankenden Boot aus in Bewegung zu sein scheinen
und von allen anderen Standpunkten aus unbewegt) und die Fehler punk-
tuell korrigieren. Irrtum an einigen Stellen führt nicht gleich zu einem Irr-
tumsverdacht an allen Stellen. Selbstverständlich können wir durch diese
punktuellen Korrekturen nie eine Gewissheit gewinnen, dass alle unsere
Wahrnehmungsurteile unumstößlich wahr sind. Doch diese allumfassende
Gewissheit ist auch nicht erforderlich, genauso wenig wie wir zum Auffin-
den einer Straße eine allumfassende Gewissheit bezüglich der Korrektheit
aller Straßenangaben auf dem Stadtplan benötigen.
Das zweite Merkmal des Ockhamschen Modells besteht darin, dass für
das Vorliegen von Wissen kein Wissen darüber, dass Wissen vorliegt, gefor-
dert wird. Wer nach einem Kriterium fragt, geht stillschweigend davon aus,
dass genau ein solches Metawissen erforderlich ist. So wird angenommen,
dass ich erst dann weiß, dass vor mir ein runder Ball liegt, wenn ich mit-
hilfe eines Kriteriums ausgeschlossen habe, dass hier eine perspektivische
Täuschung vorliegt. Doch genau diese Annahme weist Ockham zurück. Es
reicht aus, dass ich das Wissen durch zuverlässige Mechanismen erworben
habe. Ich muss hier keinen Metastandpunkt einnehmen und daher auch
nicht nach der Etablierung eines sicheren und neutralen Kriteriums suchen.
Natürlich kann dann der Fall auftreten, dass unzuverlässige Mechanismen
oder verzerrende Wahrnehmungsbedingungen vorliegen, sodass ich mir
fälschlicherweise Wissen zuschreibe. Doch wenn ein Fall in Relation zu
anderen Fällen gestellt wird, kann diese falsche Zuschreibung korrigiert
werden.
Versteht man Ockham auf diese Weise, ist er nicht nur Reliabilist, son-
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dern in gewisser Hinsicht auch Kohärentist.73 Entscheidend ist für ihn nicht,
ob einzelne Urteile anhand eines sicheren Kriteriums als unerschütterlich
wahre Urteile etabliert werden können. Wichtig ist vielmehr, dass Urteile
mit Blick auf andere Urteile geprüft und in ein ganzes Netz von Urteilen
eingebettet werden.
Nicht nur der Fall der Sinnestäuschungen, sondern auch jener der
Phantasievorstellungen wirft die Frage auf, wie denn das Zustandekommen
falscher Urteile erklärt werden kann, wenn doch ein natürlicher Mechanis-
mus besteht, durch den im Prinzip wahre Urteile generiert werden. Wie ist
es etwa zu erklären, dass ich mir einen rosaroten Elefanten vorstelle und
dem Urteil ‚Ein rosaroter Elefant fliegt durch das Zimmer‘ zustimme? Wie
kommt dieses falsche Urteil zustande? Wie kann es von wahren Urteilen
unterschieden und korrigiert werden? Ockham entwickelt keine ausführ-
liche Theorie fiktiver Gegenstände, aber seine Diskussion der Genese von
Vorstellungen enthält einige Aussagen, die Aufschluss darüber geben,
welchen Platz Urteile über fiktive Gegenstände in seiner reliabilistischen
Theorie einnehmen.
Wie jeder aristotelisch inspirierte Autor geht Ockham davon aus, dass
das Vorstellungsvermögen nicht nur für die Produktion von Vorstellungen
fiktiver Gegenstände verantwortlich ist, sondern für das Erzeugen sämt-
licher Vorstellungen (phantasmata), auf deren Grundlage Urteile gebildet
werden. Es müssen sogar Vorstellungen vorliegen, damit überhaupt Wahr-
nehmungsurteile entstehen können. Auch wenn vor mir beispielsweise ein
reales Pferd steht, muss ich zunächst über eine Vorstellung verfügen, um
dann ein Urteil wie ‚Dieses Pferd ist braun‘ bilden zu können.74 In seiner
Erläuterung der Genese und der Struktur von Vorstellungen grenzt sich
Ockham aber von vielen anderen Aristotelikern ab. Zunächst betont er, dass
eine Vorstellung nicht einfach ein inneres Bild ist, das dem äußeren Gegen-
stand gleicht, denn das Vorstellungsvermögen ist keine innere Leinwand,
auf der gleichsam mit inneren Farben äußere Gegenstände nachgezeichnet
werden. Ebenso entschieden lehnt Ockham die Assimilationstheorie ab, der
73
Damit soll freilich nicht bestritten werden, dass Ockham Wahrheit im Sinne einer Kor-
respondenztheorie als Übereinstimung eines Satzes mit dem „sic esse a parte rei“ erklärt; vgl.
Expositio in librum Praedicamentorum 9 (OPh II, 201). Doch entscheidend ist, dass diese
Korrespondenz nicht für isolierte Sätze überprüft werden kann. Vielmehr muss ein Satz mit
anderen Sätzen verknüpft und hinsichtlich seiner Kohärenz mit diesen Sätzen überprüft wer-
den. Es empfiehlt sich, hier sorgfältig zwischen der Frage nach der Natur der Wahrheit (die
Ockham korrespondenztheoretisch erklärt) und jener nach der Überprüfung von Wahrheit
(die er kohärenztheoretisch erklärt) zu unterscheiden. Vgl. dazu Kaufmann 1994, 188–198.
74
Dass hier zwei distinkte Akte vorliegen müssen, ergibt sich schon daraus, dass zwischen
der sensitiven Seele, die für Vorstellungen zuständig ist, und der intellektuellen Seele ein reale
Distinktion besteht. Vgl. Quodl. II, q. 10 (OTh IX, 157–159).
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Reportatio III, q. 3 (OTh VI, 121): „Quia omnia illa quae a philosophis et sanctis
76
doctoribus vocantur phantasmata, simulacra, idola, sunt ipsamet sensibilia prius sensata et
post phantasiata, et non species sensibilium. Eundem enim hominem quem prius vidi, nunc
imaginor, et non speciem hominis.“
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eines solchen Gegenstandes ist eine notwendige Bedingung für das Ent-
stehen eines Vorstellungszustandes.
Diese Erklärung wirft allerdings zwei Probleme auf. Erstens stellt sich
die Frage, worin sich denn die Vorstellung von einem intellektuellen Akt
unterscheidet, wenn sie ebenso wie ein solcher Akt auf einen äußeren Ge-
genstand gerichtet ist. Worin besteht etwa der Unterschied zwischen meiner
Vorstellung eines braunen Pferdes und meinem Denken an ein solches
Pferd? Zweitens taucht auch die Frage auf, wie denn die Vorstellung nicht
existierender Gegenstände oder die falsche Vorstellung existierender Ge-
genstände erklärt werden kann, wenn doch einzig und allein eine natürliche
Kausalrelation für die Entstehung von Vorstellungen verantwortlich ist. Es
scheint, als könnte ich mir gar keinen rosaroten Elefanten vorstellen, wenn
die Existenz eines materiellen Gegenstandes eine notwendige Bedingung
für die Entstehung meines Vorstellungszustandes ist.
Die erste Frage lässt sich beantworten, wenn Ockhams Grundthese von
der sprachlichen Verfasstheit des Denkens berücksichtigt wird. Eine Vor-
stellung unterscheidet sich dadurch von einem intellektuellen Akt, dass sie
keine Termini und keine Zusammensetzung von Termini zu ganzen Sätzen
beinhaltet. Daher kann auch ein Tier oder ein Säugling, der noch über keine
sprachlichen Fertigkeiten verfügt, Vorstellungen von Gegenständen haben.
Da eine sprachliche Strukturierung fehlt, erfolgt allerdings keine Kategori-
sierung der vorgestellten Gegenstände. Konkret heißt dies: Eine Kuh kann
sich genau wie ein Mensch auf ein Pferd beziehen und eine Vorstellung von
dessen wahrnehmbaren Eigenschaften gewinnen. Sie hat dann einen kom-
plexen Zustand, in dem ihr eine Fülle von Farben und Figuren präsent ist.
Und natürlich ist sie auch imstande, diese Vorstellung abzuspeichern und
bei späterer Gelegenheit zu reaktivieren. Doch sie ist nicht in der Lage, das
Pferd als Pferd oder als etwas Braunes zu erfassen, weil sie nicht die all-
gemeinen Termini ‚Pferd‘ und ‚braun‘ bilden kann, unter die sie den Gegen-
stand subsumieren könnte. Noch viel weniger ist sie in der Lage, zwei Pferde
als gleichartige Gegenstände zu erfassen und ein Urteil wie ‚Diese Pferde
sind braun‘ zu bilden. Sie kann nur einzelne Vorstellungen von einzelnen
Pferden bilden – Vorstellungen, die nicht mehr als eine komplexe Ansamm-
lung von Eigenschaften präsentieren.
Auf die zweite Frage geht Ockham explizit ein, indem er den Einwand
diskutiert, man könne doch auch im Schlaf Vorstellungen bilden, denen gar
nichts in der materiellen Welt entspricht, oder es gebe Verrückte, die Wahn-
vorstellungen haben, denen ebenfalls nichts in der Außenwelt entspricht.
Darauf antwortet Ockham lapidar:
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„Ich erwidere, dass es in diesen Fällen eine Menge von Akten gibt, die auf ver-
schiedene Weise angeordnet sind, denn diese Akte sind im gesunden Zustand
anders angeordnet als im kranken, im schlafenden anders als im wachen. Doch jeder
dieser Akte setzt einen ihm ähnlichen Akt im gesunden und im wachen Zustand
voraus.“77
Quodl. III, q. 20 (OTh IX, 283): „Respondeo quod in talibus est multitudo actuum di-
77
versimode ordinatorum, quia isti actus aliter ordinantur in sanitate et in infirmitate, et aliter
in vigilante et in dormiente. Sed quilibet illorum actuum praesupponit aliquem actum sibi
similem in sanitate et in vigilante.“
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physischen Verfassung sich jemand befindet, der berichtet, er habe die Vor-
stellung von einem rosaroten Elefanten.
Dieser Erklärungsansatz verdeutlicht, dass irreführende Phantasievor-
stellungen für Ockham genauso wenig ein radikales Problem darstellen wie
Sinnestäuschungen. Natürlich sind derartige Vorstellungen immer möglich,
aber sie bauen auf korrekten Vorstellungen auf. Auch hier gilt wieder: Irr-
tum ist nur vor dem Hintergrund prinzipieller Korrektheit möglich. Und
wie im Falle der Sinnestäuschungen müssen auch hier keine besonderen
Entitäten (Bilder, Species, erscheinende Gegenstände usw.) angenommen
werden, die den Zugang zu den materiellen Gegenständen gleichsam ver-
sperren. Denn wie wirr die Vorstellungen auch miteinander verknüpft
werden, ihre fundamentalen Bestandteile beziehen sich direkt auf Dinge
in der materiellen Welt. Die Frage ist hier nicht, was vorgestellt wird (reale
oder bloß vorgestellte Entitäten), sondern wie die realen Entitäten in den
verknüpften Vorstellungen präsentiert werden.
Nun könnte man aber immer noch einwenden, dass damit skeptische
Probleme noch nicht vollständig aus dem Weg geräumt sind. Könnte es nicht
sein, dass jemand trotz einer sorgfältigen Prüfung irreführende Phantasie-
vorstellungen als Grundlage für seine Urteile verwendet? Und könnte es
somit nicht sein, dass jemand falsche Urteile bildet, ohne deren Falschheit
zu bemerken? Auf diesen Einwand ist zu erwidern, dass auf der Grundlage
von Vorstellungen keine intuitiven Erkenntnisakte entstehen, sondern nur
abstraktive. Diese führen im Normalfall nicht zu Urteilen über die Existenz
oder die kontingente Beschaffenheit von Gegenständen. Ockham betont
ausdrücklich, dass jemand, der sich Sokrates in dessen Abwesenheit vorstellt
oder ihn halluziniert, nur eine abstraktive Erkenntnis von Sokrates gewinnt
und kein Existenzurteil fällt.78 Der natürliche kognitive Mechanismus stellt
sicher, dass überhaupt kein Urteil – also auch kein falsches – gebildet wird.
Hier wird einmal mehr das reliabilistische Leitmotiv deutlich: Jeder Mensch
ist mit einem kognitiven Apparat ausgestattet, der unter normalen Bedin-
gungen keine falschen Urteile hervorbringt. Doch natürlich sind auch Aus-
nahmen möglich, etwa wenn jemand, der unter Wahnvorstellungen leidet,
trotz Sokrates’ Abwesenheit ein falsches Urteil über ihn bildet. Wie bereits
erwähnt, lassen sich diese Urteile aber „von außen“ korrigieren, und selbst
wenn „von innen“ keine Korrektur erfolgt, heißt dies nicht, dass eine falsche
intuitive Erkenntnis vorliegt. Wie in § 20 bereits betont wurde, kann eine
intuitive Erkenntnis gar nicht falsch sein, weil sie stets evident ist und somit
ausschließlich eine Zustimmung zu wahren Urteilen zur Folge hat. Die Tat-
sache, dass jemand falsche Urteile fällt und sie nicht korrigiert, verdeutlicht
78
Vgl. Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 32).
Bislang ist deutlich geworden, dass für Ockham falsche Urteile nur vor
dem Hintergrund zahlreicher korrekter Urteile möglich sind. Die natürli-
chen kognitiven Mechanismen bringen nämlich im Prinzip wahre Urteile
hervor. Dieser antiskeptische Leitgedanke gilt zunächst nur für natürliche
kognitive Prozesse. Als Philosoph, der auch der theologischen These von
der uneingeschränkten Allmacht Gottes zustimmt, zieht Ockham indes-
sen auch übernatürliche Prozesse in Betracht, d.h. Prozesse, die durch das
direkte Eingreifen Gottes zustande kommen. Die Erwägung derartiger
Prozesse bedeutet allerdings nicht, dass Ockham annimmt, Gott greife
permanent in die kognitiven Vorgänge ein und setze natürliche Kausalre-
lationen außer Kraft. Wie in der Einleitung bereits erläutert wurde, dienen
Diskussionen über die göttliche Allmacht im Spätmittelalter nicht dazu,
genau zu bestimmen, was Gott faktisch tut, sondern was er widerspruchs-
frei tun könnte. Es geht darum, den Bereich des logisch Möglichen aus-
zuloten und vom Bereich des Unmöglichen abzugrenzen. Dieses Interesse
an einer Bestimmung des Möglichen motiviert auch Ockhams Überlegun-
gen. Er will untersuchen, was Gott in kognitiven Vorgängen (genauso wie
in anderen Vorgängen, die auf Kausalrelationen beruhen) widerspruchsfrei
tun könnte und was wir daher berücksichtigen müssen, wenn wir nicht
nur beschreiben wollen, wie Erkenntnisakte faktisch zustande kommen,
sondern darüber hinaus erklären wollen, welche Akte prinzipiell möglich
sind.
Dieser Erklärungsansatz wirft freilich die Frage auf, was Gott denn be-
wirken könnte. Welche Art von Erkenntnisakten könnte er durch ein di-
rektes Eingreifen hervorbringen, und wie ist das Verhältnis dieser Akte zu
jenen zu verstehen, die auf natürliche Weise entstehen? Zudem stellt sich die
Frage nach den Konsequenzen des möglichen göttlichen Eingreifens. Stellt
die Annahme, dass Gott jederzeit eingreifen könnte, die Zuverlässigkeit und
Gewissheit der natürlich verursachten Erkenntnisakte infrage? Diese Frage
ist mit Blick auf die bisherige Forschung von besonderem Interesse, denn
seit Michalskis und Gilsons einflussreichen Arbeiten ist immer wieder die
Vermutung geäußert worden, dass die Allmachtsthese dem Skeptizismus
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Tür und Tor öffnet.79 Angesichts dieser These sei es nämlich immer möglich,
dass jemand bloß glaubt, eine Erkenntnis von einem unmittelbar präsenten
Gegenstand zu haben, obwohl kein Gegenstand vorhanden ist – Gott könnte
immer einen Erkenntnisakt hervorrufen, der einen nicht gegenwärtigen
Gegenstand als gegenwärtig präsentiert. Um zu prüfen, ob sich tatsächlich
derartige Konsequenzen ergeben, empfiehlt es sich, zwei Diskussionen in
Ockhams Werk in den Blick zu nehmen, diese aber sorgfältig voneinander
zu unterscheiden: die frühe Diskussion im Sentenzenkommentar und die
spätere, vor allem durch Walter Chatton inspirierte Neubehandlung der
Thematik in den Quodlibeta.
Im Prolog zum Sentenzenkommentar stellt Ockham in einer kurzen
Nebenthese fest, aufgrund des göttlichen Eingreifens könne es eine intuitive
Erkenntnis von einem nicht existierenden Gegenstand geben.80 Bereits die
Tatsache, dass er diese Nebenthese sehr knapp behandelt (sie wird auf weni-
ger als einer Seite abgehandelt), verdient Beachtung. Es geht Ockham nicht
darum, die These zu vertreten, es könne jederzeit von existierenden wie
von nicht existierenden Gegenständen eine intuitive Erkenntnis geben, um
dann zu präzisieren, wie der Spezialfall der Erkenntnis von existierenden
Gegenständen zu verstehen sei. Die Argumentation verläuft gerade umge-
kehrt: Der Normalfall ist die auf natürlichen Kausalrelationen beruhende
intuitive Erkenntnis von existierenden Gegenständen. Die auf göttlicher
Aktivität beruhende intuitive Erkenntnis von nicht existierenden Gegen-
ständen ist bloß als Spezialfall zu berücksichtigen. Dieser Spezialfall stellt
aber den Normalfall nicht infrage; das göttliche Eingreifen „kontaminiert“
nicht natürliche Prozesse.
Dieser Erklärungsansatz ist für die gesamte Argumentationsstrategie
von Bedeutung. Die Nebenthese dient nicht dazu, sämtliche natürlichen
Erkenntnisprozesse infrage zu stellen. Im Gegensatz zu Descartes führt
Ockham die Nebenthese nicht ein, um zu zeigen, dass alle Erkenntnisakte
von einem allmächtigen Gott (bzw. von einem trügerischen Dämon) ver-
ursacht sein könnten. Er möchte nur verdeutlichen, dass einige Erkenntnis-
akte – genau jene, die sich auf nicht existierende oder nicht aktuell präsente
Gegenstände beziehen – derart verursacht sein könnten. Er erwägt nicht
die Möglichkeit, dass auch die Erkenntnisakte, die sich auf existierende
79
Eine kritische Auswertung dieses Forschungsansatzes, der neuerdings von Kenny 2005,
174–175, wieder aufgenommen worden ist, bieten Leppin 1998 und Karger 1999.
80
Vgl. Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 38). In Reportatio II, q. 12–13 (OTh V, 258) erwägt
Ockham auch den Fall, dass Gott eine intuitive Erkenntnis von einem zwar existierenden,
aber nicht gegenwärtigen Gegenstand hervorrufen könnte. Sein Beispiel lautet: Selbst wenn
ich nicht in Rom bin, kann Gott mir eine intuitive Erkenntnis von einem Gegenstand, der
sich dort befindet, eingeben. Der entscheidende Punkt ist auch hier, dass keine aktuelle Kau-
salrelation zu dem Gegenstand besteht.
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(P) Wenn x und y absolute, real verschiedene Entitäten sind, kann x ohne y
existieren und umgekehrt.
Dies ist ein allgemeines ontologisches Prinzip, das Ockham in verschiedenen
Kontexten anwendet, auch außerhalb der Erkenntnistheorie. Zwei Beispiele
seien erwähnt. In der Universaliendiskussion wendet er sich gegen Duns
Scotus’ Ansicht, innerhalb eines Gegenstandes gebe es zwei Komponenten
(allgemeine Natur und individuelle Eigenschaft), die zwar verschieden, aber
trotzdem untrennbar miteinander verbunden seien. Für Ockham ist dies
eine inkonsistente Position.82 Entweder sind die beiden Komponenten wirk-
lich verschieden; dann können sie auch voneinander getrennt werden. Oder
aber sie sind untrennbar miteinander verbunden; dann können sie nicht ver-
schieden sein. Entscheidend ist aufgrund von (P), dass reale Verschiedenheit
Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 38–39): „... omnis res absoluta, distincta loco et sub-
81
iecto ab alia re absoluta, potest per divinam potentiam absolutam exsistere sine illa, quia non
videtur verisimile quod si Deus vult destruere unam rem absolutam exsistentem in caelo quod
necessitetur destruere unam aliam rem exsistentem in terra. Sed visio intuitiva, tam sensitiva
quam intellectiva, est res absoluta, distincta loco et subiecto ab obiecto.“
82
Vgl. Ordinatio I, dist. 2, q. 4 (OTh II, 115–116).
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immer Trennbarkeit impliziert. Ein zweites Beispiel stammt aus der Emo-
tionentheorie. Ockham stellt fest, dass ein emotionaler Zustand normaler-
weise von einem Akt des sinnlichen Erfassens erzeugt wird, der wiederum
von einem äußeren Objekt verursacht wird. So erzeugt etwa die Präsenz
eines Wolfes das Sehen des Wolfes, und dieses wiederum ruft Furcht hervor.
Äußerer Gegenstand, sinnliches Erfassen und Emotion sind aber real ver-
schiedene Entitäten. Sie stehen faktisch zwar in einer Kausalkette, können
aber voneinander getrennt werden. So kann etwa die Furcht auch ohne das
Sehen oder das Sehen ohne eine Präsenz des Gegenstandes hervorgerufen
werden. Ockham weist darauf hin, dass Gott jede dieser Entitäten von einer
anderen absoluten Entität abtrennen und in Existenz erhalten kann. Auch
hier gilt wieder: Reale Verschiedenheit impliziert Trennbarkeit.83
Ähnlich gilt nun auch für den Erkenntnisakt und den äußeren Gegen-
stand, dass es sich um zwei absolute, real verschiedene Entitäten handelt;
folglich können sie voneinander getrennt werden. Die Allmachtshypothese
dient nur der Veranschaulichung dieser ontologischen These. Denn was im
Prinzip trennbar ist, kann von Gott auch wirklich getrennt werden. So kann
Gott den Akt, mit dem ich einen Stern erkenne, vom Stern am Himmel ab-
trennen, wie Ockham ausdrücklich betont. Allerdings ist zu beachten, dass
er nicht behauptet, Gott könne diesen Erkenntnisakt hervorbringen, wenn
nie ein Stern existiert hat oder wenn ich nie einen Stern gesehen habe. Er
beschränkt sich auf die These, dass „das Sehen verbleiben kann, wenn der
Stern zerstört ist.“84 Gott kann also lediglich den Akt, mit dem ich den Stern
erkenne, auch dann noch aufrechterhalten, wenn der Stern nicht mehr exis-
tiert und ich ihn nicht mehr sehe, aber er kann einen solchen Akt nicht ex
nihilo hervorbringen. Dies ist eine kleine, aber subtile Differenzierung, die
verdeutlicht, dass Ockham auch das göttliche Eingreifen im Rahmen einer
externalistischen Theorie erklärt. Das heißt: Ein Erkenntnisakt hat nicht an
sich einen bestimmten Inhalt. Vielmehr ist es der äußere Gegenstand, der
auf den Erkennenden einwirkt und dadurch den Inhalt festlegt.85 Wenn der
Inhalt einmal festgelegt ist, kann Gott den Akt vom Gegenstand ablösen
und weiterhin mit seinem spezifischen Inhalt aufrechterhalten. Aber selbst
Gott kann dem Akt nicht einen wohldefinierten Inhalt geben.
Diese Differenzierung verdeutlicht einen weiteren zentralen Unterschied
83
Vgl. Quaestiones variae, q. 6, art. 9 (OTh VIII, 251–252).
84
Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 39): „... ista visio potest manere stella destructa ...“ Ibid.:
„... visio coloris sensitiva potest conservari a Deo ipso colore non exsistente.“
85
Wie in Anm. 80 erwähnt wurde, erwägt Ockham auch den Fall, dass der Gegenstand
zwar existiert, aber nicht gegenwärtig ist. Für diesen Fall gilt, dass der Gegenstand zu einem
früheren Zeitpunkt wahrgenommen wurde und somit den Inhalt eines Erkenntnisaktes fest-
gelegt hat. Auch hier wird der Inhalt nicht auf wundersame Weise festgelegt; es fehlt nur eine
aktuelle Festlegung.
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zum cartesischen Ansatz. Ockham erwägt nicht die Möglichkeit, dass Gott
einen Akt mit einem bestimmten Inhalt hervorbringen und gleichsam in
den Geist legen könnte, ob nun ein äußerer Gegenstand existiert oder nicht.
Er diskutiert nur die Möglichkeit, dass Gott einen Akt, der bereits einen
Inhalt hat, auch nach der Zerstörung des äußeren Gegenstandes weiterhin
in Existenz erhalten kann. Damit ein Akt aber überhaupt einen Inhalt
haben kann, muss einmal ein äußerer Gegenstand existiert haben. Deshalb
setzt die Annahme eines manipulierenden Gottes immer schon die Existenz
einer Außenwelt voraus. Die cartesische Annahme, dass sämtliche Akte von
Gott (oder einem bösen Dämon) einen Inhalt erhalten könnten, ergibt für
Ockham keinen Sinn.
Radikaler Außenwelt-Skeptizismus ist somit von vornherein ausgeschlos-
sen. Doch besteht nicht die Möglichkeit, dass wir uns zumindest in einigen
Urteilen über die Außenwelt irren? Könnte es aufgrund des göttlichen Ein-
greifens nicht sein, dass ich nach der Zerstörung des Sternes weiterhin einen
visuellen Eindruck von einem Stern habe und urteile, dass der Stern noch
existiert? Auch diese skeptische Überlegung weist Ockham zurück. Wenn
der Stern nicht mehr existiert, Gott jedoch weiterhin einen visuellen Ein-
druck vom Stern in mir aufrechterhält, urteile ich korrekt, dass der Stern
nicht existiert.86 Dies ergibt sich bereits aus der Definition der intuitiven
Erkenntnis. Da diese Art von Erkenntnis immer eine evidente Erkenntnis
ist, Evidenz aber die Zustimmung zu einem wahren Urteil bedeutet, kann
es gar keine intuitive Erkenntnis geben, die ein falsches Urteil beinhaltet
oder die Grundlage für ein falsches Urteil bildet. Daher hält Ockham es für
ausgeschlossen, dass die These, auch von nicht existierenden Gegenständen
sei eine intuitive Erkenntnis möglich, Anlass zu skeptischen Befürchtungen
gibt. Diese These ist nicht mehr als die epistemologische Konsequenz, die
sich aus der Anwendung des ontologischen Prinzips (P) ergibt, noch dazu
eine Konsequenz, die den Erkenntnisbereich erweitert und nicht etwa mit
Einschränkungen versieht. Denn einem Menschen ist es nun möglich, nicht
nur über existierende Gegenstände wahre Urteile zu bilden, sondern auch
über nicht existierende. Die Bildung wahrer Urteile ist dank der göttlichen
Aktivität nicht immer und ausnahmslos an eine aktuelle, natürliche Kausal-
relation zu äußeren Gegenständen gebunden.
Ockhams These, dass von nicht existierenden ebenso wie von existieren-
den Gegenständen eine intuitive Erkenntnis möglich ist, eignet sich offen-
sichtlich nicht als Ausgangspunkt für skeptische Einwände. Sie verdeutlicht
im Gegenteil, dass er seinen robusten Erkenntnisrealismus sogar auf den
86
Vgl. Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 31 und 39); Reportatio II, q. 12–13 (OTh V, 259–260).
Auf diesen Punkt hat bereits Boehner 1958, 280, in seiner einflussreichen Kritik an Gilsons
Interpretation aufmerksam gemacht.
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Urteil ‚Der Stern existiert‘ bilde, kann Gott sehr wohl den Stern und das
Sehen zerstören, gleichzeitig aber das Urteil aufrechterhalten – eine absolute
Entität kann jederzeit von anderen absoluten Entitäten abgetrennt werden.
Bereits Walter Chatton, Ockhams Zeitgenosse und Kontrahent in Ox-
ford, wurde auf Probleme dieser Art aufmerksam. Die These, dass es nur
eine korrekte intuitive Erkenntnis von nicht existierenden Gegenständen
geben kann, ist in seinen Augen selbst im Rahmen des Ockhamschen An-
satzes unbefriedigend. Da Ockham in seinen Quodlibeta ausdrücklich auf
Chattons kritische Stellungnahme eingeht und sie zum Anlass für eine Re-
vision seiner im Sentenzenkommentar formulierten Position nimmt, lohnt
es sich, sie näher zu betrachten.
Chattons Haupteinwand lautet folgendermaßen: 87 Wenn Gott alles be-
wirken kann, was nicht das Gesetz der Widerspruchsfreiheit verletzt,
ist es falsch zu behaupten, Gott könne nicht bewirken, dass uns ein nicht
existierender (oder nicht präsenter) Gegenstand existierend (oder präsent)
erscheint. Ein Widerspruch würde nur vorliegen, wenn Gott bewirken
würde, dass uns ein nicht existierender Gegenstand gleichzeitig existierend
und nicht existierend erscheint. Doch dies ist hier nicht der Fall. Damit legt
Chatton den Finger auf einen der gerade genannten wunden Punkte in Ock-
hams Argumentation. Warum sollte Gott darauf beschränkt sein, in uns
nur den korrekten Eindruck oder die korrekte Erscheinung von einem nicht
existierenden Gegenstand zu erzeugen, sodass wir dann ein wahres Urteil
hervorbringen? Warum kann Gott nicht eine irreführende Erscheinung in
uns erzeugen oder direkt ein falsches Urteil? Dies mag vielleicht seiner Güte
widersprechen, aber es liegt sicherlich kein formaler Widerspruch zwischen
dem Urteil, dass ein Gegenstand existiert, und der faktischen Nicht-Exis-
tenz dieses Gegenstandes vor – Falschheit ist nicht dasselbe wie ein formaler
Widerspruch. Wenn Gott aber einzig und allein an das Gesetz der Wider-
spruchsfreiheit gebunden ist, wie Ockham selber einräumt, ist es durchaus
möglich, dass er direkt oder indirekt die Bildung eines falschen Urteils be-
wirkt.
Ockham weist diesen Einwand kategorisch zurück. Er behauptet, dass in
einem solchen Fall tatsächlich ein Widerspruch vorläge.88 Würde Gott näm-
lich bewirken, dass uns ein nicht existierender (oder nicht präsenter) Gegen-
stand x auf evidente Weise zu existieren scheint, hätten wir einerseits eine
evidente Erkenntnis, die eine Zustimmung zum wahren Urteil ‚x existiert
nicht‘ beinhaltet; evidente Erkenntnis beinhaltet ja definitionsgemäß eine
Zustimmung zu einem wahren Satz. Andererseits würden wir aufgrund der
87
Vgl. Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 3 (ed. Wey 1989, 98–99). Ockham zitiert diesen
Einwand wörtlich in Quodl. V, q. 5 (OTh IX, 496).
88
Vgl. Quodl. V, q. 5 (OTh IX, 498).
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Entscheidend ist hier, dass durch das göttliche Eingreifen nur eine abs-
traktive Erkenntnis entsteht. Damit lässt sich der Widerspruch vermeiden,
dass gleichzeitig und in gleicher Hinsicht ein wahres und ein falsches Ur-
teil gebildet werden. Wenn etwa Gott in mir die Erscheinung von einem
blühenden Baum aufrechterhält, den Baum im Garten aber zerstört, dann
glaube ich bloß, dass da draußen ein Baum steht, ich erkenne dies aber nicht
mit Evidenz. Und wenn ich etwas bloß glaube, kann es natürlich sein, dass
ich ein falsches Urteil bilde – was ich glaube, muss nicht mit etwas Realem
übereinstimmen.
In Ockhams Antwort, die sich deutlich von der Position im früheren
Sentenzenkommentar unterscheidet, fällt freilich auf, dass er Chatton un-
terstellt, dieser würde auf Evidenz abzielen und sich damit in einen Wider-
spruch verstricken. Doch Chatton hatte in seinem Einwand an keiner Stelle
von Evidenz gesprochen. Er hatte nur darauf hingewiesen, dass durch
göttliches Eingreifen auch ein falsches Urteil zustande kommen kann, und
genau diesen Punkt gesteht Ockham zu, auch wenn er betont, dass es sich
dann nur um eine abstraktive Erkenntnis handelt.
Was gewinnt Ockham mit dieser Antwort? Sicherlich kann er
nun – ganz anders als im Sentenzenkommentar – auch die Genese von
falschen Urteilen erklären. Er schränkt Gottes Allmacht nicht mehr auf
das Erzeugen wahrer negativer Existenzurteile über nicht existierende
Gegenstände ein. Und natürlich kann er im Rahmen seiner Gesamttheorie
eine konsistente Erklärung für die Genese falscher Urteile geben. Er kann
nämlich nach wie vor darauf insistieren, dass intuitive Erkenntnis aus-
Quodl. V, q. 5 (OTh IX, 498): „Tamen Deus potest causare actum creditivum per quem
89
credo rem esse praesentem quae est absens. Et dico quod illa cognitio creditiva erit abstractiva,
non intuitiva; et per talem actum fidei potest apparere res esse praesens quando est absens,
non tamen per actum evidentem.“
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Vgl. Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 31) und Quodl. V, q. 5 (OTh IX, 496).
90
Vgl. Boehner 1958, 280–287. Karger 1999, 214–216, hat diese Interpretation bereits aus-
91
führlich kritisiert. Allerdings kommt sie zum Schluss, dass es auch falsche intuitive Erkennt-
nis geben kann. Dies ist mit der von Boehner bereits gut belegten Kernthese Ockhams un-
vereinbar, dass intuitive Erkenntnis immer evidente Erkenntnis ist und somit keine falschen
Urteile verursachen kann.
92
Vgl. Reportatio V, q. 12–13 (OTh V, 261–262).
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93
Bereits Boehner 1958, 286, machte auf diese Schwierigkeit aufmerksam: „The psycho-
logical distinction of these two acts is not so easily drawn.“ Er räumte ein, dass Ockham kein
psychologisches Merkmal angibt, stellte dann aber die Vermutung auf, dass man trotzdem
„by experience“ die beiden Akte voneinander unterscheiden könne. Solange keine genauen
Merkmale oder Prozeduren genannt werden, ist dieser Verweis auf die Erfahrung aber nicht
hilfreich.
94
Quodl. V, q. 5 (OTh IX, 499): „Concedo tamen quod Deus potest facere assensum ei-
usdem speciei cum illo assensu evidenti respectu huius contingentis ,haec albedo est‘ quando
albedo non est; sed ille assensus non est evidens, quia non est ita in re sicut importatur per
propositionem cui fit assensus.“
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lich mit Rekurs auf zuverlässige, von außen beobachtbare kognitive Prozesse
erklärt wird, kann es kein inneres Merkmal geben, das erlauben würde,
korrekte Prozesse (und als Resultat daraus: wahre Urteile) von unkorrekten
zu unterscheiden. Heißt dies, dass Ockham letztendlich doch dem Skeptiker
Recht geben muss, der behauptet, dass wir nie wissen können, wann wir ein
wahres Urteil über die Existenz eines materiellen Gegenstandes fällen, weil
Gott immer eingreifen und in uns immer ein falsches Urteil hervorrufen
könnte, ohne dass wir es von einem wahren Urteil unterscheiden können?
Nicht ganz. Zwar muss Ockham einräumen, dass die skeptische Gefahr
insofern nicht gebannt werden kann, als es kein infallibles Zeichen gibt,
das es uns ermöglichen würde, wahre Urteile auf Anhieb von falschen zu
unterscheiden. Trotzdem sind wir in der Lage, eine Menge von wahren Ur-
teilen zu bilden und uns auch darauf zu verlassen, dass sie wahr sind. Dies
ist uns aus drei Gründen möglich.
Erstens geht Ockham – wie schon mehrfach betont wurde – davon aus,
dass wir grundsätzlich über zuverlässige kognitive Vermögen verfügen, die
es uns erlauben, im Prinzip wahre Urteile zu bilden. Auch Gottes mögliches
Eingreifen stellt diese prinzipielle Zuverlässigkeit nicht infrage. Deshalb
müssen wir uns nicht in jedem einzelnen Fall fragen, ob wir tatsächlich über
ein wahres Urteil verfügen. Wir können uns vielmehr darauf verlassen, dass
wir durch die Aktivierung unserer Vermögen meistens zu wahren Urteilen
gelangen. Es verhält sich hier ähnlich wie mit den Sinnestäuschungen. Die
Tatsache, dass wir manchmal unter besonderen Umständen (bei ungünstigen
Lichtverhältnissen, in verzerrter Perspektive usw.) falsche Urteile bilden,
stellt nicht infrage, dass wir meistens wahre Urteile bilden. Ebenso stellt die
Tatsache, dass wir manchmal unter besonderen Umständen (nämlich wenn
Gott punktuell eingreift) falsche Urteile bilden, nicht infrage, dass wir meis-
tens wahre Urteile bilden. Irrtum ist nur vor dem Hintergrund prinzipieller
Korrektheit möglich. Ockham würde sich gegen Descartes’ berühmten Ver-
gleich falscher Urteile mit faulen Äpfeln wenden.95 Descartes stellt nämlich
fest, wie man alle Äpfel aus dem Korb nehmen müsse, wenn sich einige faule
in ihm befinden, müsse man auch alle Urteile infrage stellen, wenn einige
von ihnen falsch sind. Dagegen würde Ockham sagen: Wie es ausreicht,
einfach die Äpfel im Korb zu inspizieren und die faulen herauszugreifen,
genügt es auch, die Urteile zu überprüfen und die falschen zu eliminieren.
Wir müssen nicht auf einen Schlag alle Urteile infrage stellen.
Doch wie können wir die falschen Urteile herausgreifen, wenn es kein
inneres Merkmal gibt, das es uns ermöglicht, die wahren von den falschen
zu unterscheiden? In der Antwort auf diese Frage liegt der zweite Grund,
weshalb Ockham keine radikale skeptische Gefahr sieht. An der oben zi-
tierten Stelle hält er fest, dass das falsche Urteil ‚Diese Weiße existiert‘, das
durch göttliche Intervention zustande gekommen ist, zwar von der gleichen
Art ist wie das wahre, aber nicht angibt, wie es sich der Sache nach ver-
hält. Das heißt, dass ein falsches Urteil nicht mit dem äußeren Sachverhalt
übereinstimmt. Wenn wir nun wahre Urteile von falschen unterscheiden
wollen, müssen wir genau diese Übereinstimmung prüfen. Dies bewerkstel-
ligen wir am besten, indem wir ein Urteil in Relation zu anderen Urteilen
stellen und uns fragen, ob sich ein kohärentes Ganzes ergibt, für das wir
eine Erfahrungsgrundlage haben. Fügt sich etwa ‚Dieses Weiße existiert‘
mit ‚Dieses Weiße existiert in einer Wand‘ und ‚Ich sehe und ertaste eine
Wand‘ zu einem Ganzen zusammen? Habe ich eine entsprechende visuelle
und taktile Erfahrung? Hat auch eine andere Person, die sich an meine Stelle
begibt, diese Erfahrung? Es geht also nicht darum, ein isoliertes Urteil zu
überprüfen, sondern eine Grundlage für ein kohärentes Netz von Urteilen
zu finden. Fügt sich ein Urteil nicht in ein solches Netz ein, kann es als
falsches Urteil eliminiert werden.
Natürlich lässt sich einwenden, dass damit die skeptische Gefahr nicht
vollständig gebannt ist. Denn könnte Gott nicht ein kohärentes Netz von
falschen Urteilen hervorbringen? Könnte er nicht die Simulation einer
ganzen Welt erzeugen? Natürlich könnte er dies. Doch Ockham zieht diese
Möglichkeit nicht in Betracht, weil sie dem ersten, bereits genannten Grund
zuwider liefe. Wenn wir im Prinzip über zuverlässige kognitive Vermögen
verfügen und Gott diese auch nicht beeinträchtigt, entsteht kein komplettes
Netz von falschen Urteilen. Es gibt nur einzelne Urteile, die von Gott punk-
tuell hervorgebracht werden und nach näherer Prüfung aussortiert werden
können. Umfassender Irrtum ist ausgeschlossen.
Schließlich ist ein dritter Grund zu beachten, der Ockham dazu ver-
anlasst, nicht daran zu zweifeln, dass unser Wissensanspruch durch die
Möglichkeit des göttlichen Eingreifens nicht tangiert wird. In § 20 ist bereits
dargelegt worden, dass für ihn Wissen nicht Metawissen (d.h. Wissen, dass
man über Wissen verfügt) impliziert. Um über Wissen zu verfügen, reicht es
aus, auf der Grundlage zuverlässiger kognitiver Mechanismen wahre Urteile
zu bilden. Somit verfügt eine Person auch dann über Wissen, wenn sie nicht
in jedem Einzelfall weiß, dass sie tatsächlich über Wissen verfügt‚ und wenn
sie kein aufwändiges Prüfungsverfahren anstellt. Ein Beispiel möge dies ver-
deutlichen. Nehmen wir an, ich hätte neunundneunzig Mal den Baum vor
meinem Fenster gesehen und das wahre Urteil ‚Im Garten steht ein Baum‘
gebildet. Ein einziges Mal hat Gott eingegriffen, und ich habe trotz der
Nicht-Existenz eines Baumes das Urteil ‚Im Garten steht ein Baum‘ gebildet.
Ich verfüge aber über kein inneres Merkmal oder Kriterium, um den einen
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Vgl. Pinborg 1979, 20. Zur Problematik der Rede von einer ockhamistischen Schule siehe
96
Position war zwar einflussreich und regte zu intensiven Debatten an, sie war
aber nicht die einzige relevante Position, und sie löste auch keine einheitliche
ockhamistische Strömung aus.97 Daher sollen nun die Erklärungsansätze,
die einige von Ockhams Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolgern ent-
wickelten, näher betrachtet werden. Sie sind nicht nur von Interesse, weil
sie implizite Annahmen Ockhams kritisch beleuchten, sondern auch weil
sie teilweise alternative Strategien im Umgang mit skeptischen Heraus-
forderungen aufzeigen und dadurch verdeutlichen, dass es weder eine ein-
heitliche skeptische Position noch eine einheitliche antiskeptische Reaktion
gab. Um den jeweiligen Erklärungsansatz genau zu erkennen, empfiehlt es
sich, wie bei Ockham zwei Typen von skeptischen Debatten sorgfältig von-
einander zu unterscheiden. Zum einen gibt es jene, die vom Problem der
Sinnestäuschungen ausgehen und sich auf natürliche Quellen des Irrtums
konzentrieren. Zum anderen finden sich aber auch Debatten, die sich auf
die Allmachtshypothese berufen und übernatürliche Quellen in den Blick
nehmen.
Der Franziskaner Walter Chatton, der 1321–1323 in London die Sen-
tenzen kommentierte und mit den Positionen seiner Ordensbrüder Petrus
Aureoli und Wilhelm von Ockham gut vertraut war,98 widmet sich ausführ-
lich beiden Quellen des Irrtums und versucht zu bestimmen, welche Kon-
sequenzen sich daraus für die Sicherheit oder Unsicherheit unseres Wissens
ergeben. Er beschränkt sich nicht darauf, die bereits erwähnten Einwände
gegen Ockhams Position vorzutragen, sondern erarbeitet auch einen eige-
nen Standpunkt. Betrachten wir zunächst seine Diskussion der Sinnestäu-
schungen, die sich eng an Petrus Aureolis Analysen orientiert.
Wie in § 21 bereits deutlich geworden ist, vertritt Aureoli in seiner Er-
klärung der Sinnestäuschungen drei Kernthesen. Erstens behauptet er, dass
in solchen Fällen nicht der reale Gegenstand das unmittelbare Objekt un-
serer Wahrnehmung und Erkenntnis ist, sondern ein Gegenstand mit „er-
scheinendem“ oder „intentionalem Sein“. Zweitens vertritt er die Ansicht,
dass es sich dabei um einen irreduziblen Gegenstand handelt, d.h. um eine
Entität, die weder auf reale materielle noch auf reale immaterielle Entitäten
reduziert werden kann. Drittens schließlich ist seiner Ansicht nach in jeder
Wahrnehmung dieser besondere Gegenstand das unmittelbare Objekt; im
97
Die Vielfalt der verschiedenen Schulen und Strömungen verdeutlicht prägnant Courtenay
1987.
98
Neben diesem ersten Kommentar zu den Sentenzen (auch als Reportatio bekannt) ver-
fasste Chatton 1328–1330 in Oxford noch einen zweiten, unvollendeten (die Lectura), der
sich auf das erste Buch beschränkt. Die Prologe zu den beiden Kommentaren, auf die sich die
folgenden Analysen konzentrieren, sind indessen identisch. Vgl. zur Datierung und zur Text-
fassung die editorische Einleitung in Reportatio et Lectura (ed. Wey 1989, 1–2).
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99
Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 2 (ed. Wey 1989, 89): „Probo primo, quia aliter
periret omnis nostra certitudo...“
100
Vgl. Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 2, „tertio“ (ed. Wey 1989, 87).
101
Exp. in librum Periheremeneias, prooem. (OPh II, 360): „... difficile est imaginari
aliquid posse intelligi intellectione reali ab intellectu, et tamen quod nec ipsum nec aliqua
pars sui nec aliquid ipsius potest esse in rerum natura, nec potest esse substantia nec accidens,
quale poneretur tale fictum.“
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Entität zuerst gesehen, wird nicht die Weiße gesehen, sondern die distinkte Entität,
die ein Zeichen ist ...“103
Offensichtlich sieht man nicht etwas Weißes in der materiellen Welt, son-
dern nur etwas erscheinendes Weißes – eine dritte Entität, die höchstens
als Zeichen auf das materielle Weiße verweisen kann. Damit ist natürlich
das Szenario eines starken Repräsentationalismus gegeben: Wir haben
keinen direkten Zugang zu Gegenständen in der materiellen Welt, sondern
nur zu repräsentierenden Zeichen, die auf solche Gegenstände verweisen.
Da wir die Gegenstände selbst nicht direkt erfassen, können wir auch nie
wissen, ob sie wirklich existieren. Wir können sie ausgehend von unseren
Repräsentationen höchstens erschließen. Angesichts dieser Konsequenz ist
es nicht erstaunlich, dass Chatton in der Annahme, besondere erscheinende
Gegenstände seien unsere primären Erkenntnisobjekte, ein fundamentales
epistemologisches Problem sieht. Er schließt seine Kritik mit folgender Be-
merkung ab:
„Daher scheint sich aus diesem [Argumentations]weg zu ergeben, dass kein äußerer
Gegenstand erkannt oder gesehen wird, sondern eine gewisse erschaffene Entität,
die einen äußeren Gegenstand bezeichnet. Es scheint sich auch zu ergeben, dass
Gott nicht das unmittelbare Objekt ist.“104
103
Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 2 (ed. Wey 1989, 87) : „... si ponatur illud ens dis-
tinctum, ipsum impediet visionem albedinis. Quia illud ens distinctum, si ipsum nec est illa
visio nec est ipsa albedo nec ambo simul, igitur est tertium ab eis. Si igitur illud ens distinctum
primo videatur, igitur albedo non videtur sed ens distinctum quod est signum ...“
104
Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 2 (ed. Wey 1989, 88) : „Unde ad istam viam vide-
retur sequi quod nulla res extra cognoscitur vel videtur, sed quoddam ens fictum significans
rem extra, nec quod Deus sit immediatum obiectum.“
105
Vgl. Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3, sect. 14 (ed. Buytaert 1956, Bd. 1,
698); zitiert in Anm. 65.
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Diese Verteidigung ist zwar berechtigt, löst aber nicht das zentrale Pro-
blem. Auch wenn erscheinender und realer Gegenstand perfekt überein-
stimmen, habe ich doch nur zum erscheinenden Gegenstand einen direkten
und unbezweifelbaren Zugang. Und da ich über kein unabhängiges Krite-
rium verfüge, mit dessen Hilfe ich bestimmen könnte, wann erscheinender
und realer Gegenstand übereinstimmen und wann nicht, kann ich höchs-
tens Vermutungen über eine Übereinstimmung aufstellen. So kann ich etwa
auf einem Spaziergang durch die Schneelandschaft die externen Wahrneh-
mungsbedingungen (Distanz zum Schnee, Sichtverhältnisse usw.) sowie die
internen Bedingungen (Funktionsfähigkeit meiner Augen) überprüfen und
zu dem Schluss kommen, dass es sich um ideale Bedingungen handelt, die
es mir erlauben, einen erscheinenden Schnee zu sehen, der tatsächlich mit
dem realen übereinstimmt. Doch wie genau ich die Bedingungen auch über-
prüfe, ich kann nie direkt den realen Schnee sehen. Ich habe nur einen un-
mittelbaren Zugang zum erscheinenden Schnee und kann bloß begründete
Annahmen über dessen Relation zum realen Schnee treffen. Da ich keinen
neutralen Standpunkt einnehmen kann, von dem aus ich sowohl den er-
scheinenden als auch den realen Schnee sehen könnte, komme ich nicht über
derartige Annahmen hinaus.
Diese Replik verdeutlicht, dass die Annahme einer dritten, repräsentie-
renden Entität unweigerlich das Problem aufwirft, dass der direkte Zugang
zu den materiellen Gegenständen gleichsam blockiert ist.106 Aureoli könnte
indessen noch eine zweite Verteidigung gegen Chattons Kritik vorbringen.
Wenn Chatton die Annahme besonderer erscheinender Gegenstände ab-
lehnt und betont, es seien die materiellen Gegenstände, die im Sinne einer
extrinsischen Denomination ‚erscheinend‘ genannt werden, mag dies viel-
leicht auf die veridische Wahrnehmung zutreffen. Doch es stimmt sicherlich
nicht für die Fälle der nicht-veridischen Wahrnehmung, also genau für jene
Fälle, die den Ausgangspunkt für die Theorie erscheinender Gegenstände
bilden. Wenn etwa ein gebrochener Stab gesehen wird, kann man nicht be-
haupten, Ausdrücke wie ‚gesehen‘ oder ‚erscheinend‘ würden sich nur auf
den Stab im Wasser beziehen, insofern er in Relation zu einer wahrnehmen-
Zumindest ist der direkte Zugang blockiert, wenn unter dem erscheinenden Gegen-
106
stand eine distinkte Entität verstanden wird. Aureoli deutet an mehreren Stellen an, darunter
könne auch nur eine intentionale „Seinsweise“ (modus essendi) des realen Gegenstandes ver-
standen werden; vgl. Perler 2002, 291–294 (mit Belegstellen). Dann würde jemand, der den
erscheinenden Gegenstand erfasst, im Falle der veridischen Wahrnehmung den Gegenstand
selbst erfassen, insofern er ihm auf intentionale Weise präsent ist. Doch Chatton geht nicht
auf diese Interpretation ein. Immer wieder betont er, der erscheinende Gegenstand sei ein
sowohl vom Wahrnehmungsakt als auch vom realen Gegenstand distinkter Gegenstand. Er
spricht in Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 2 (ed. Wey 1989, 87) ausdrücklich von einem
„ens distinctum“.
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den Person steht. Der materielle Stab ist ja nicht gebrochen. Und wenn beim
Schwingen eines brennenden Stabes durch die Luft ein feuriger Kreis gese-
hen wird, kann man ebenso wenig behaupten, ‚gesehen‘ sei eine extrinsische
Denomination für einen materiellen Kreis; es gibt hier keinen materiellen
Kreis. Zur Erklärung dieser Fälle, die auf die Diskrepanz zwischen realem
und gesehenem Gegenstand aufmerksam machen, müssen wohl oder übel
besondere Gegenstände angenommen werden.
Chatton ist sich bewusst, dass die Fälle der nicht-veridischen Wahr-
nehmung einer besonderen Klärung bedürfen. Im Gegensatz zu Aureoli ist
er aber der Ansicht, dass auch hier keine besonderen Entitäten postuliert
werden müssen. Vielmehr müssen die optischen Prozesse genauer betrachtet
werden. Chatton verdeutlicht dies unter anderem anhand der genannten
Beispiele.107 Im Falle des ins Wasser eingetauchten Stabs wird aufgrund der
Lichtbrechung eine Menge von visuellen Eindrücken erzeugt, die genau so
sind wie jene, die erzeugt würden, wenn der Stab tatsächlich gebrochen wäre.
Auf dieser Grundlage wird dann geurteilt, dass der Stab gebrochen ist. Ent-
scheidend ist dabei, dass kein besonderer Gegenstand erfasst wird. Es wird
bloß ein falsches Urteil über den materiellen Stab gefällt. Genau wie Ock-
ham sieht auch Chatton den Kern des Problems nicht in der unmöglichen
Bezugnahme auf den materiellen Gegenstand, sondern im falschen Urteil
über diesen Gegenstand. Daher kann er auch für diesen Fall die allgemeine
These aufrechterhalten, dass Ausdrücke wie ‚gesehen‘ und ‚erscheinend‘ nur
eine extrinsische Denomination für den materiellen Gegenstand sind. Es ist
der Stab im Wasser, der gesehen wird und über den geurteilt wird. Sobald
eingesehen wird, dass dieser Stab unter den besonderen Bedingungen ver-
zerrt erscheint, kann das falsche Urteil korrigiert werden.
Allerdings unterscheidet sich Chattons Erklärung des falschen Urteils
in zwei wichtigen Punkten von derjenigen Ockhams. Erstens behauptet
Ockham, dass nur der Intellekt ein Urteil bilden kann. Chatton hingegen
betont, dass ein „höheres Vermögen“ urteilt, und er lokalisiert dieses Ver-
mögen im Gemeinsinn (sensus communis), teilweise auch im Vorstellungs-
vermögen.108 Dies ist weit mehr als ein Detail. Indem Chatton das Urteil in
den inneren Sinnen ansiedelt, räumt er ein, dass es bereits auf einer prä-in-
tellektuellen Stufe Urteile geben kann – Urteile, die noch nicht die Bildung
und Verwendung von mentalen Termini erfordern. Wie diese Urteile genau
zustande kommen, erläutert er nicht. Doch er reiht sich mit seiner Aussage
in eine lange Tradition von Autoren ein, die sinnliche Urteile annehmen,
d.h. Urteile, die in der bloßen Zuordnung oder Trennung von Vorstellungen
107
Vgl. Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 2 (ed. Wey 1989, 93). Chatton diskutiert eine
Fülle von Beispielen, darunter auch solche, die Aureoli nicht erwähnt hatte.
108
Vgl. Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 2 (ed. Wey 1989, 96).
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109
Wie Tachau 1993 nachweist, lässt sich diese Tradition bis auf Avicenna und Alhazen zu-
rückführen. Ockhams These, dass nur der Intellekt urteilt, ist eine dezidierte Abweichung
von dieser Tradition und stellt im frühen 14. Jh. eine Innovation dar.
110
Dies gilt zumindest für den Normalfall. Ockham räumt ein, dass es in gewissen Fällen
eine Wirkung auf Distanz geben kann, z.B. wenn ein weißer Gegenstand aus der Ferne ge-
sehen wird; vgl. Reportatio III, q. 2 (OTh VI, 47–58). Es ist nicht zuletzt diese unplausible
Annahme, die Chatton dazu motiviert, die traditionelle Species-Theorie gegenüber Ockham
zu verteidigen.
111
Diese Abhängigkeit hat Tachau 1988, 190–191, bereits nachgewiesen.
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112
Vgl. Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 2 (ed. Wey 1989, 95–96).
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„... ich räume die Konklusion ein: Wir haben keine derartige Gewissheit, dass Gott,
der das Sehen ohne die Präsenz eines Gegenstandes verursachen kann, nicht in uns
einen Akt verursachen könnte, mit dem wir urteilen, dass es sich der Sache nach an-
ders verhält, als es [wirklich] ist. Damit ist dennoch Folgendes vereinbar: Wir haben
wohl eine derartige Gewissheit, dass wir durch natürliche Ursachen nicht derart in
einen unbezwingbaren Irrtum verfallen können.“113
Chatton zieht hier eine scharfe Trennlinie zwischen den Fällen natürlicher
und übernatürlicher Verursachung. Im natürlichen Fall verfügen wir durch-
aus über eine Erkenntnisgewissheit, weil uns die Präsenz eines materiellen
Gegenstandes im Prinzip zum korrekten Urteil veranlasst, dass ein Gegen-
stand präsent ist. Selbst in den Ausnahmefällen, in denen ein falsches Urteil
gebildet wird, ist eine Korrektur möglich, wie die Beispiele von Sinnestäu-
schungen zeigen. Im übernatürlichen Fall hingegen fehlt uns eine solche
Gewissheit. Gott könnte immer eingreifen und uns eine intuitive Erkennt-
nis eingeben, die uns zum Urteil verleitet, dass ein Gegenstand präsent
ist, obwohl keiner vorhanden ist. Diese Feststellung motiviert Chatton zu
einer Kritik an Ockhams Theorie der intuitiven Erkenntnis. Eine intuitive
Erkenntnis, die von Gott verursacht wird, stellt einen Gegenstand nicht als
nicht existierend dar. Vielmehr stellt sie ihn als existierend dar, ob er nun
existiert oder nicht.114 Daher ergibt es für Chatton keinen Sinn zu behaup-
ten, aufgrund der intuitiven Erkenntnis werde geurteilt, dass ein Gegen-
stand existiert, wenn er existiert, und dass er nicht existiert, wenn er nicht
existiert. Es wird immer geurteilt, dass er existiert, wie auch immer sich die
Welt verhalten mag.
Damit taucht natürlich wieder die skeptische Gefahr auf, die im Falle der
Sinnestäuschungen gebannt schien. Wie kann ich jemals sicher sein, dass
tatsächlich ein materieller Gegenstand existiert und präsent ist, wenn ich
in einer intuitiven Erkenntnis immer etwas als existierend beurteile? Es
könnte doch stets sein, dass Gott mir einfach eine intuitive Erkenntnis ein-
gibt, ohne dass ein realer Gegenstand präsent ist, und zwar ohne dass ich
dies aufgrund besonderer Merkmale (Klarheit, Intensität usw.) des Erkennt-
nisaktes bemerke. Muss man dieser Möglichkeit nicht einen Riegel vor-
schieben, etwa indem man betont, dass durch das göttliche Eingreifen ein
113
Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 2 (ed. Wey 1989, 92): „... concedo etiam conclu-
sionem: quod non habemus talem certitudinem quin Deus, qui potest causare visionem sine
praesentia rei, posset causare in nobis unum actum quo iudicaremus aliter esse in re quam
est. Tamen cum hoc stat quod habeamus talem certitudinem quod per causas naturales non
possemus sic poni in errore invincibili.“
114
Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 3 (ed. Wey 1989, 98) : „Contra istam opinionem
probo quod notitia intuitiva perfecta in creaturis, si a Deo conservetur, non repraesentat rem
non esse.“ Ibid., 102: „Ex isto sequuntur aliquae differentiae communiter usitatae. Prima est
quod per intuitivam nobis apparet res esse, sive res sit sive non sit.“
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Mechanismus ausgelöst wird, der zur Bildung des Urteils, dass der Gegen-
stand nicht existiert, führt?
Chatton ist sich dieses Einwandes wohl bewusst. Doch er hält ihn nicht
für überzeugend. Wenn Gott nämlich eine intuitive Erkenntnis hervor-
bringt, so ist diese genau gleich beschaffen wie in jenem Fall, in dem sie auf
natürliche Weise entsteht, und sie hat auch die gleiche Funktion. Chatton
veranschaulicht dies mithilfe eines Vergleichs.115 Wenn jemand den Satz
‚Diese Substanz existiert‘ bildet, so bezeichnet dieser Satz, dass eine be-
stimmte Substanz existiert, ob nun wirklich eine Substanz existiert oder
nicht. Das heißt, dass die semantische Funktion des Satzes (nämlich etwas
auszusagen oder zu bezeichnen) immer gleich ist, ob er nun wahr ist oder
falsch. Und wie der Satz hervorgebracht wurde (durch das Sehen einer wirk-
lich vorhandenen Substanz, durch bloßes Imaginieren usw.), spielt für seine
Funktion keine Rolle; jeder Satz zeichnet sich dadurch aus, dass er etwas
bezeichnet. Ähnlich gilt auch für die intuitive Erkenntnis, dass ihre Funk-
tion darin besteht, einen Gegenstand zu vergegenwärtigen, ob nun wirk-
lich ein Gegenstand existiert oder nicht. Dabei spielt es keine Rolle, wie die
intuitive Erkenntnis hervorgebracht wurde. Jede solche Erkenntnis zeichnet
sich dadurch aus, dass sie etwas darstellt oder bezeichnet.
Mit diesem Vergleich weist Chatton auf einen wunden Punkt in Ock-
hams früher Theorie der intuitiven Erkenntnis hin. Warum sollte eine intui-
tive Erkenntnis, nur weil sie von Gott hervorgebracht wird, mich dazu brin-
gen, einen Gegenstand als nicht existierend aufzufassen und ein negatives
Existenzurteil zu fällen? Wenn sie tatsächlich eine intuitive und nicht eine
abstraktive Erkenntnis ist, stellt sie etwas als existierend dar. Die Genese
dieser Erkenntnis hat auf ihre Funktion keinen Einfluss. Darüber hinaus
verdeutlicht Chatton mit seinem Vergleich auch, dass es hier – genau wie
beim Satz – zwei Aspekte zu unterscheiden gilt: den Gehalt einer intuitiven
Erkenntnis (was durch sie bezeichnet oder dargestellt wird) und ihr äußeres
Referenzobjekt. Eine solche Erkenntnis hat auch dann einen Gehalt, wenn
kein äußeres Referenzobjekt vorhanden ist. Daher kann durch das bloße
Erfassen des Erkenntnisaktes nicht bestimmt werden, ob seinem Gehalt
auch ein äußeres Objekt entspricht. Allerdings muss der Erkenntnisakt
immer einen Gehalt haben, d.h. er muss immer etwas darstellen, genauso
wie ein Satz immer etwas aussagen muss. Nur dadurch ist ein Erkenntnisakt
in seiner besonderen Funktion überhaupt erfassbar und von anderen Akten
unterscheidbar. Daher betont Chatton:
„... Gott kann keine intuitive [Erkenntnis] bewirken, ohne dass ein Gegenstand
dem Intellekt präsent ist, denn Gott kann keine intuitive [Erkenntnis] bewirken,
ohne dass ein Gegenstand präsent zu sein scheint, mag er nun existieren oder
nicht.“116
Dies ist eine subtile Differenzierung. Selbst Gott kann keinen Erkenntnis-
akt hervorbringen, ohne dass dieser einen Gegenstand darstellt; es kann
keinen Akt ohne Gehalt geben. Davon unabhängig ist jedoch, ob es in der
materiellen Welt tatsächlich einen Gegenstand gibt oder nicht. Jede Analyse
der intuitiven Erkenntnis muss deshalb genau zwischen (i) dem Akt selbst,
(ii) dem notwendigerweise existierenden Gehalt des Aktes und (iii) dem nur
kontingenterweise existierenden materiellen Gegenstand unterscheiden.
Entscheidend ist hier freilich, dass zwischen (i) und (ii) kein realer Unter-
schied besteht. Akt und Gehalt sind nicht zwei distinkte Entitäten. Der Ge-
halt ist vielmehr das, was den Akt zu einem Akt von etwas macht und ihn
dadurch als intentionalen Akt (im Gegensatz zu einem nicht-intentionalen
Akt, etwa einem Hochgefühl) auszeichnet.
Diese Differenzierung hat natürlich Konsequenzen für eine Ab-
grenzung der intuitiven Erkenntnis von der abstraktiven. Wenn in der
intuitiven Erkenntnis ein Akt aufgrund seines Gehaltes einen Gegenstand
darstellen kann, ohne dass in der materiellen Welt tatsächlich ein Gegen-
stand existiert, kann eine intuitive Erkenntnis auch irreführend sein. Sie ist
daher nicht – wie Ockham behauptet hatte – eine evidente Erkenntnis, die
immer wahre Urteile bewirkt. Aus diesem Grund charakterisiert Chatton
die intuitive Erkenntnis nicht mit Bezug auf die Urteile, die sie generiert,
sondern nur hinsichtlich der Art und Weise, wie sie einen Gegenstand dar-
stellt. In einer solchen Erkenntnis erfasst „die Seele einen Gegenstand so,
wie sie durch die äußere Sinneserfahrung einen Gegenstand wahrnimmt“,
während sie ihn in einer abstraktiven Erkenntnis nur so erfasst, „wie sie
einen Gegenstand durch einen Vorstellungsakt wahrnimmt.“117 Bezeich-
nend ist hier, dass Chatton die Art des Erfassens nicht an die Existenz eines
materiellen Gegenstandes bindet. So kann ich in einer intuitiven Erkenntnis
auch dann einen Baum so erfassen, wie ich ihn in einer visuellen Wahrneh-
mung erfasse, wenn kein Baum vorhanden ist und ich nicht wirklich einen
Baum sehe. Gott könnte in mir ja einen Akt erzeugen, der mir einen Baum
mit allen Farbschattierungen präsentiert. Entscheidend ist nicht, was in der
materiellen Welt vorhanden ist, sondern wie mir etwas im Akt präsent ist.
116
Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 3, „secundo“ (ed. Wey 1989, 102) : „... Deus non
potest facere intuitivam sine praesentia rei ad istum intellectum, quia Deus non potest facere
intuitivam quin per eam res appareat esse praesens, sive sit sive non sit.“
117
Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 3, „secundo“ (ed. Wey 1989, 102) : „... intuitiva
intellectiva est talis actus per quam anima sic intelligit rem sicut per sensationem exteriorem
sentit rem; et intellectio abstractiva est illa per quam anima sic proportionaliter intelligit rem
sicut per actum imaginandi sentit rem.“
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Heißt dies, dass ich aufgrund einer intuitiven Erkenntnis nie wissen
kann, wann wirklich ein Gegenstand existiert und wann nicht? Muss ich
daher jeden Wissensanspruch aufgeben? Chatton zieht nicht diese radikale
Konsequenz, die auf den ersten Blick naheliegend scheint. Der Grund
dafür liegt vor allem darin, dass er scharf zwischen dem natürlichen und
dem übernatürlichen Fall unterscheidet. Nur im übernatürlichen Fall, in
dem Gott eingreift, gibt es keine Garantie für die Existenz eines materiellen
Gegenstandes und daher auch kein sicheres Wissen von dessen Existenz. Im
natürlichen Fall hingegen muss ein materieller Gegenstand existieren, der
Species erzeugt und auf den Wahrnehmenden einwirkt. „Andernfalls“, so
betont Chatton, „hätten wir – wie gezeigt wurde – von den sinnlich wahr-
nehmbaren Dingen keine Gewissheit, die durch natürliche Ursachen ver-
ursacht wird.“118
Doch wie können wir je eine Gewissheit haben, wenn Gott doch jeder-
zeit eingreifen und eine intuitive Erkenntnis hervorbringen könnte, ohne
dass ein materieller Gegenstand auf uns einwirkt? Der Verweis auf natür-
liche Ursachen scheint nicht sehr hilfreich zu sein, wenn keine Kriterien
angegeben werden, mit deren Hilfe ein natürlich verursachter Erkenntnis-
akt von einem übernatürlich verursachten unterschieden werden kann. Da
Chatton keine Kriterien formuliert, ja darauf insistiert, dass natürlich und
übernatürlich verursachte Akte in gleicher Weise einen Gegenstand dar-
stellen, bietet seine Berufung auf natürliche Ursachen keinen Ausweg aus
der skeptischen Falle.
In der Tat gibt Chatton keine Kriterien an, mit denen ein Erkenntnisakt
intrinsisch – aufgrund innerer Merkmale oder phänomenaler Eigenschaf-
ten – als natürlich oder übernatürlich verursacht klassifiziert werden könnte.
Er führt aber eine wichtige Präzisierung ein, indem er festhält, wir könnten
„nur auf argumentative Weise“ erkennen, dass ein Gegenstand nicht gegen-
wärtig ist.119 Damit verweist er auf ein Verfahren, das auf extrinsische Merk-
male abzielt, insbesondere auf die Kohärenz einer Erkenntnis mit anderen
Erkenntnissen, die in einer längeren Argumentation überprüft wird. Ein
modernes Beispiel möge dies verdeutlichen. Angenommen, ich habe jetzt
gerade einen Erkenntnisakt, der mir einen rosaroten Elefanten im Garten
darstellt. Der Akt allein zeigt mir nicht an, ob tatsächlich ein Elefant im
Garten steht und ob dieser materielle Gegenstand die natürliche Ursache für
meinen Akt ist. Der Akt würde mir das Gleiche darstellen und wäre gleich
intensiv, wenn Gott ihn in mir verursacht hätte. Ich kann jedoch den Gehalt
118
Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art.2 (ed. Wey 1989, 91) : „... aliter, sicut probatum est,
non haberemus certitudinem de sensibilibus causatam per causas naturales.“
119
Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 2 (ed. Wey 1989, 103): „... non experimur nos co-
gnoscere quod res non sit praesens nisi arguitive tantum ...“
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dieses einen Aktes mit dem Gehalt anderer Akte vergleichen und mich etwa
fragen, ob mir kurz zuvor das Hereinspazieren eines rosaroten Elefanten
präsent war, ob ich je zuvor einen Elefanten mit dieser sonderbaren Farbe
gesehen habe, ob ich das Geräusch eines Elefanten höre usw. Wenn ich so
frage, gehe ich „argumentativ“ vor, denn ich versuche, den einen Erkennt-
nisakt in ein ganzes Netz von Erkenntnisakten einzubetten und seine
Kohärenz mit diesen Akten zu überprüfen. Stelle ich keine Kohärenz oder
gar einen Widerspruch zu anderen Akten fest, kann ich diesen einen Er-
kenntnisakt als übernatürlich verursacht klassifizieren. Das argumentative
Vorgehen ermöglicht mir also, die von Chatton geforderte Unterscheidung
zwischen natürlich und übernatürlich verursachten Erkenntnisakten zu
treffen. Und es erlaubt mir dann auch, mich auf die natürlich verursachten
Akte zu beschränken und dadurch ein sicheres Wissen von den materiellen
Gegenständen zu gewinnen.
Gegen diese Erklärung könnte ein Kritiker freilich sogleich den Einwand
erheben, dass das argumentative Vorgehen alles andere als ein zuverlässiges
Verfahren ist, wenn es darum geht, das Wissen zu sichern. Kohärenz ist
nämlich kein sicheres Kriterium für eine Korrespondenz mit der materiellen
Welt. Gott könnte mir ja einen Erkenntnisakt eingeben, dessen Inhalt so
perfekt mit allem übereinstimmt, was ich sonst noch erkannt habe und jetzt
gerade erkenne, dass er sich wunderbar in das Erkenntnisnetz einfügt, das
ich auf natürliche Weise erworben habe. So könnte er bewirken, dass ich
neben den vielen Tauben und Spatzen, die ich auf natürliche Weise im Gar-
ten erkenne, noch einen weiteren Erkenntnisakt habe, in dem mir eine Taube
dargestellt wird, obwohl keine weitere Taube existiert. Es gäbe in diesem
Fall keine Inkohärenz zwischen den natürlich verursachten Akten und dem
einen übernatürlich verursachten. Noch ein weiterer Einwand könnte vor-
gebracht werden: Wenn Gott jeden Akt verursachen kann, dann auch den
Akt der argumentativen Prüfung vorhandener Erkenntnisakte. Er könnte
also genau dann, wenn ich eine Kohärenz zwischen meiner Erkenntnis von
Spatzen, Tauben und einem rosaroten Elefanten festzustellen versuche, in-
tervenieren und mir einen Akt eingeben, mit dem ich tatsächlich eine Ko-
härenz feststelle. Ich wäre dann nicht nur das Opfer einer Täuschung erster
Stufe (Gott hat mir den Akt eingegeben, der mir einen rosaroten Elefanten
darstellt), sondern auch einer Täuschung zweiter Stufe (Gott hat mir den
Akt eingegeben, mit dem ich den ersten Akt überprüfe). Ein bloßer Verweis
auf ein argumentatives Verfahren schließt diese Täuschung nicht aus.
Chatton zieht diese subtilen Möglichkeiten nicht in Betracht, wahr-
scheinlich weil er – genau wie Ockham – in Gott keine Täuscherinstanz
sieht, sondern vielmehr den letzten Garanten für die Zuverlässigkeit unserer
kognitiven Fähigkeiten. Es wäre abwegig, einerseits anzunehmen, dass Gott
als Schöpfer die Menschen mit Fähigkeiten ausgestattet hat, die ihnen einen
kognitiven Zugang zur Welt ermöglichen, andererseits aber zu unterstellen,
dass Gott das Funktionieren dieser Fähigkeiten außer Kraft setzt und
willkürlich Erkenntnisakte eingibt. Daher gibt sich Chatton mit der Fest-
stellung zufrieden, dass wir im Prinzip unsere Erkenntnisakte argumentativ
überprüfen können, auch wenn wir nie eine letzte Gewissheit für die Kor-
rektheit unserer Erkenntnis haben. Denn sobald der Gehalt der Erkennt-
nisakte gleichsam von den materiellen Gegenständen abgetrennt wird, ist
eine Diskrepanz zwischen dem, was wir zu erkennen glauben, und dem,
was wirklich existiert, immer möglich. Chatton räumt daher ein, dass es
ihm gar nicht darum geht, eine absolute Gewissheit nachzuweisen. In der
Diskussion über die mögliche Abtrennbarkeit der Eigenschaften von ihren
Trägern stellt er fest:
„Ob Gott sie abtrennen könnte oder nicht, kümmert mich nicht, denn wir erwerben
wenig Wissen, bei dem Gott nicht die Gewissheit beseitigen könnte.“120
Walter Chatton war nicht der einzige Autor, der sich kritisch mit Aureolis
und Ockhams Position auseinandersetzte. Franziskus von Mayronis, der
zwischen 1308 und 1318 in verschiedenen französischen und italienischen
Ordensschulen der Franziskaner lehrte und im akademischen Jahr 1320–21
die Sentenzen an der Pariser Universität kommentierte, befasste sich eben-
falls kritisch mit deren Theorien.121 Genau wie Chatton konzentrierte er sich
120
Reportatio et Lectura, prol., q. 3, art. 3 (ed. Wey 1989, 202): „Sive Deus possit separare
sive non, non curo, quia paucas scientias acquirimus in quibus Deus non posset amovere
certitudinem.“
121
Zur Biographie und Datierung des Sentenzenkommentars vgl. ausführlich Roth 1936,
87–161, und konzis Hoffmann 2002, 220–221. Das erste Buch dieses Werks liegt in zwei
Fassungen vor, von denen die zweite unter dem Titel Conflatus als separate Schrift gedruckt
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wurde. Auch in den Quodlibeta, von denen die späteste Fassung der Disputatio generalis
(1323–1324 gehalten) zugrunde liegt, befasst sich Mayronis mit den erkenntnistheoretischen
Kernfragen. Die folgenden Analysen konzentrieren sich auf die relevanten Quaestionen aus
der ersten Fassung des Sentenzenkommentars, auf deren Bedeutung Maurer 1990 in einer
Pionierstudie bereits aufmerksam gemacht hat. Eine Analyse, die sich auf die zweite Fassung
stützt, bietet Cova 1976.
122
Vgl. Sent., prol., q. 19, fol. 11r, D und F.
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schungen, wie dies Petrus Aureoli getan hatte, sondern auch auditive, olfak-
torische und andere. Doch bereits sein scheinbar simpel anmutendes Haupt-
argument verdeutlicht, dass er diese Fälle aus einer bestimmten Perspektive
diskutiert: Epistemischer Misserfolg ist immer vor dem Hintergrund prin-
zipiellen Erfolgs zu sehen. Daher können Sinnestäuschungen nicht der Re-
gelfall sein, der die Zuverlässigkeit der Sinne vollständig infrage stellt. Sie
sind vielmehr der Ausnahmefall, der eine besondere Erklärung verlangt.
Wie lässt sich nun eine Erklärung finden, die einerseits den Einzelfällen
von Sinnestäuschung phänomenal gerecht wird, andererseits aber nicht die
Zuverlässigkeit der Sinneswahrnehmung pauschal infrage stellt? Zur Be-
antwortung dieser Frage greift Mayronis auf ein methodisches Prinzip Au-
gustins zurück.123 Dieser hatte festgestellt, dass Fehler auftreten, wenn zwei
Dinge, die einander ähnlich sind, miteinander verwechselt werden, oder
wenn sie einander einfach gleichgesetzt werden. Mayronis zufolge begehen
wir beide Fehler, wenn wir meinen, der Gesichtssinn oder irgendein anderer
äußerer Sinn würde uns täuschen. Wir verwechseln dann den äußeren Sinn
mit dem inneren, ja wir setzen die beiden einander einfach gleich. In Tat und
Wahrheit ist es nämlich nicht der äußere Sinn, der uns täuscht, sondern der
Gemeinsinn (sensus communis), also ein innerer Sinn. Und die Täuschung
besteht nicht darin, dass ein äußerer Sinn einen Gegenstand auf eine falsche
Weise präsentiert (es gibt gar keine falsche Präsentation, sondern nur eine
der jeweiligen Situation angemessene), sondern dass der Gemeinsinn ein
falsches Urteil über diesen Gegenstand fällt. Damit gibt Mayronis natürlich
die gleiche Erklärung für Sinnestäuschungen wie Chatton: Sinnestäuschun-
gen sind falsche Urteile auf einer sinnlichen Ebene. Dies löst aber noch nicht
das skeptische Problem. Man kann nämlich sogleich fragen, wie derartige
falsche Urteile überhaupt zustande kommen. Gibt es hier irgendeinen „er-
scheinenden Gegenstand“, über den der Gemeinsinn urteilt? Heißt dies,
dass kein unmittelbarer Zugang zu einem realen Gegenstand in der mate-
riellen Welt besteht? Zudem kann man auch fragen, wie denn falsche Urteile
von wahren unterschieden werden können. Welches Kriterium kann der In-
tellekt verwenden, um ein falsches Urteil des Gemeinsinns zu korrigieren?
Solange kein Kriterium genannt wird, scheint es unmöglich zu sein, Fehler
auf der sinnlichen Ebene auszumerzen. Und dann ist es natürlich auch nicht
möglich, den Ausnahmefall vom Normalfall zu unterscheiden.
Mayronis ist sich wohl bewusst, dass ein bloßer Verweis auf den Gemein-
sinn als Fehlerquelle noch keine Lösung darstellt. Er erklärt daher ausführ-
lich die Genese der falschen Urteile. Seiner Ansicht nach kommt jede Sin-
neswahrnehmung – eine veridische ebenso wie eine nicht-veridische – durch
123
Vgl. Sent., prol., q. 19, fol. 11r, G.
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eine zweifache Affektion des Wahrnehmenden zustande: eine reale und eine
intentionale.124 Zum einen wirkt der materielle Gegenstand nämlich auf die
Sinnesorgane ein und bringt in ihnen eine reale Veränderung hervor. So
werden etwa die Pupillen verändert, wenn die vom Gegenstand reflektierten
Lichtstrahlen auf ihnen auftreffen. Zum anderen gibt es aber auch eine in-
tentionale Veränderung, denn der Gegenstand (oder genauer: seine wahr-
nehmbaren Eigenschaften) werden auf intentionale Weise in den Sinnes-
organen aufgenommen. Mayronis erläutert zwar nicht, wie die intentionale
Veränderung genau zu verstehen ist, da er sich aber eng an Duns Scotus
anlehnt, der bereits von einer zweifachen Veränderung sprach,125 ist an-
zunehmen, dass er wie Scotus unter der intentionalen Veränderung die Auf-
nahme von Formen oder Strukturen versteht. So nimmt jemand, der einen
roten Gegenstand sieht, die Struktur der Röte auf. Die Pointe besteht darin,
dass dadurch keine materielle Veränderung stattfindet (die Augen werden
nicht plötzlich rot), sondern nur eine strukturelle. Genau jene Struktur,
die im roten Gegenstand vorhanden ist, ist nun auch in den Augen präsent
und wird an die inneren Sinne weitergeleitet. Zu Sinnestäuschungen kann
es kommen, wenn unter bestimmten Bedingungen Lichtstrahlen unter-
schiedlich vom Gegenstand reflektiert werden und beim Auftreffen auf den
Augen unterschiedliche intentionale Veränderungen bewirken. Mayronis’
Paradebeispiel ist die Taube, die uns in einem bestimmten Licht mehrfar-
big erscheint. Wir glauben, die Farben Rot, Grün, Blau usw. zu sehen, weil
durch den ersten Lichtstrahl die Aufnahme der Rot-Struktur bewirkt wird,
durch den zweiten die Aufnahme der Grün-Struktur usw., freilich ohne
dass diese Strukturen tatsächlich im Gefieder der Taube vorhanden sind.
Die Strukturen entstehen erst durch die besonderen Lichtverhältnisse. Weil
wir diese Strukturen aber im Kontakt mit der Taube aufgenommen haben,
fällt der Gemeinsinn das falsche Urteil, die Taube selber sei mehrfarbig.
Diese Erklärung ist im historischen Kontext zwar nicht innovativ; sie
lehnt sich eng an Avicennas Farben- und Wahrnehmungstheorie an.126 Im
Hinblick auf die Skeptizismus-Problematik ist sie aber von Bedeutung, weil
sie verdeutlicht, dass Mayronis keinen separaten erscheinenden Gegenstand
annimmt. Er spricht nur von einer intentionalen Veränderung im Wahr-
nehmenden, die dazu führt, dass der Gegenstand bzw. dessen Strukturen
Sent., prol., q. 19, fol. 11v, I : „Ad illud dico quod obiectum aliquid immutat realiter,
124
aliquid intentionaliter.“
125
Vgl. Duns Scotus, Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 3, n. 386 (Vat. III, 235), wo diese Rede-
weise auf den Intellekt angewendet wird; sie trifft aber auch auf die Veränderung in den
Sinnen zu. Auch Thomas von Aquin spricht in Sth I, q. 78, art. 3, corp., von einer „duplex
immutatio“ der Sinne; vgl. dazu eine ausführliche Analyse in Burnyeat 2001.
126
Dies hat Maurer 1990, 325, bereits nachgewiesen. Zur Präsenz der avicennischen Wahr-
nehmungstheorie in den lateinischen Debatten vgl. Hasse 2000, 107–127.
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127
Im Conflatus spricht Mayronis daher auch mehrfach davon, dass der Gegenstand „in
aliquo esse“ im Wahrnehmenden existiert (vgl. Belege in Cova 1976, 238). Damit vertritt er
freilich nicht die These, dass es im Wahrnehmenden eine distinkte, vom realen Gegenstand
separierbare Entität gibt, sondern er weist nur darauf hin, dass der reale Gegenstand, insofern
er im Wahrnehmenden ist, eine bestimmte Existenzweise hat.
128
Sent., prol., q. 19, fol. 11v, P : „Omne esse secundum quid fundatur in esse simpliciter, sed
illud esse, scilicet esse visum, est esse secundum quid, et fundatur in obiecto, ergo in obiecto
est aliquod esse simpliciter, in quo illud esse secundum quid, scilicet esse visum, fundatur.
Dico ergo quod oportet quod obiectum habeat aliud esse, non esse essentiae, quia tunc co-
gnosceretur abstractive tantum, sed esse existentiae actualis.“
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änderung erfahren können, wenn es keinen Apfel gäbe, der via Lichtstrahlen
auf mich einwirkt. Dieser Apfel am Baum ist nicht einfach das allgemeine
Wesen des Apfels, sondern ein konkreter, aktuell existierender Apfel. Selbst
wenn ich das Opfer einer Sinnestäuschung werde und irrtümlicherweise
meine, der Apfel sei grün, beruht das „gesehene Sein“ des grünen Apfels auf
dem realen, aktuell existierenden roten Apfel. Es gibt kein „gesehenes Sein“
ohne ein reales. Sogar wenn ich in ausgehungertem Zustand einen Apfel
halluziniere, beruht der bloß vorgestellte Apfel auf einem realen, den ich zu
einem früheren Zeitpunkt tatsächlich wahrgenommen habe. Auch hier gilt
wieder: Es gibt kein vorgestelltes Sein ohne ein reales.
Mit dieser Erklärung grenzt sich Mayronis natürlich von Ockham ab
und reiht sich in eine scotistische Tradition ein. Ockham hatte nämlich aus-
drücklich bestritten, dass es so etwas wie eine intentionale Veränderung
geben kann und dass ein Gegenstand mit einem „gesehenen Sein“ existieren
kann. Die einzige Veränderung, die seiner Meinung nach stattfinden kann,
ist real, nämlich eine Veränderung in den Wahrnehmungsorganen, die ein
Urteil im Intellekt auslöst. Demgegenüber hält Mayronis an Scotus’ These
fest, dass der Verweis auf eine reale Veränderung allein noch nicht viel er-
klärt. Es muss nämlich nicht nur erläutert werden, wie die Pupillen physisch
affiziert werden, sondern auch, was durch diesen Vorgang ausgelöst wird.
Was bewirkt die reale Veränderung im Wahrnehmenden? Welche Struktu-
ren nimmt er dadurch auf? Genau diese Fragen beantwortet Mayronis mit
seinem Verweis auf die intentionale Veränderung.
Damit kann Mayronis zwar auf elegante Weise erläutern, wie im Wahr-
nehmenden ein Gegenstand mit „gesehenem Sein“ entsteht und trotzdem
ein Zugang zum realen Gegenstand gesichert ist. Doch die zweite der oben
formulierten skeptischen Fragen bleibt noch unbeantwortet. Wie kann der
Fall, in dem eine normale intentionale Veränderung erfolgt und der Gegen-
stand korrekt aufgenommen wird, von jenem unterschieden werden, bei
dem aufgrund besonderer Wahrnehmungsbedingungen eine Täuschung
auftritt? Wie kann ich etwa den Fall, in dem ich den roten Apfel korrekt als
roten Apfel sehe, von dem Fall unterscheiden, in dem ich die graue Taube
als mehrfarbige Taube sehe und dann ein falsches Urteil fälle? Mayronis
formuliert keine detaillierten Kriterien. Er verweist nur darauf, dass das
falsche Urteil des Gemeinsinns korrigiert werden muss, wahrscheinlich weil
er annimmt, dass der Intellekt durch eine Evaluation der Wahrnehmungs-
bedingungen gleichsam intervenieren und die Fehlleistungen des Gemein-
sinns berichtigen kann. In vielen Fällen ist dies sicherlich eine überzeugende
Strategie. Wenn ich etwa eine Taube sehe, kann ich mich fragen, in welchem
besonderen Licht ich sie sehe, und ich kann die momentane Wahrnehmung
mit früheren vergleichen. Da Mayronis zudem von dem bereits erläuterten
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wenn es tatsächlich einen Gegenstand gibt, auf den sich der Akt bezieht,
hat er diese Funktion, und erst dann ist er nicht ein bloßer Akt, sondern ein
Erkenntnisakt.
Ein modernes Gedankenexperiment möge hier wiederum zur Ver-
anschaulichung dienen.130 Nehmen wir einmal an, unser Gehirn sei an einen
riesigen Computer angeschlossen und werde von einem bösen Neurowis-
senschaftler kontrolliert. Jeder einzelne Gehirnzustand kann von diesem
verschlagenen Menschen an einem Schaltpult auf künstliche Weise erzeugt
werden, ohne dass irgendeine natürliche Verbindung zu anderen Körper-
teilen oder zu Gegenständen in der materiellen Welt besteht. Nimmt man
diese Hypothese an, muss man zugestehen, dass jeder einzelne neuronale
Zustand ohne die Existenz eines materiellen Gegenstandes möglich ist.
Doch damit hat man noch nicht eingeräumt, dass jeder solche Zustand auch
ein kognitiver Zustand ist, d.h. ein Zustand, der sich auf etwas bezieht und
sich somit durch das Merkmal der Intentionalität auszeichnet. Man hat nur
die Existenz eines physikalischen Zustandes eingeräumt. Damit tatsächlich
ein kognitiver Akt vorliegt, muss auch Intentionalität vorliegen, und dies ist
nur möglich, wenn der Zustand in Relation zu etwas steht.
Versteht man Mayronis’ Unterscheidung von Akt und Erkenntnis auf
diese Weise, zeigt sich, dass sie auf einer Intentionalitätsthese beruht, die
folgendermaßen formuliert werden kann:
(I) Intentionalität ist eine zweistellige Relation zwischen einem Akt und
einem Gegenstand. Diese Relation kann nur existieren, wenn auch beide
Relata existieren.
Aufgrund dieser These ist es ausgeschlossen, dass ich einen roten Apfel
erkenne, ohne dass ein Apfel existiert. Mein Erkennen ist notwendigerweise
an einen Apfel gebunden. Selbst Gott kann kraft seiner absoluten Allmacht
diese Notwendigkeit nicht beseitigen. Bedeutet dies, dass Gott in seinem
Handeln derart eingeschränkt ist, dass er keine natürliche Kausalrelation
beseitigen kann? Keineswegs, wie Mayronis in einer präzisierenden Bemer-
kung festhält. Gott kann einen Erkenntnisakt sehr wohl ohne einen realen
Gegenstand als dessen Ursache bewirken, nicht aber ohne einen Gegen-
stand als dessen Zielpunkt.131 Konkret heißt dies: Gott kann sehr wohl in
mir einen Akt verursachen, mit dem ich einen Apfel erkenne, ohne dass ein
Apfel visuelle, taktile oder andere Reize in mir auslöst. Doch er kann keinen
solchen Akt hervorbringen, ohne dass er gleichzeitig auch einen Apfel her-
Es handelt sich natürlich um eine Variation des berühmten Experiments der Gehirne im
130
vorbringt oder in Existenz erhält, auf den sich der Akt bezieht. Denn selbst
wenn keine kausale Relation besteht, muss eine intentionale vorliegen, die
stets die Existenz beider Relata voraussetzt. Wenn ich also einen roten Apfel
erfasse, kann ich sicher sein, dass es einen Apfel gibt, auf den sich mein
Erkenntnisakt bezieht. Ich kann lediglich daran zweifeln, dass es tatsächlich
einen natürlichen Wahrnehmungsprozess gibt.
Diese Auffassung von Intentionalität bildet auch die Grundlage für May-
ronis’ Erklärung des Unterschiedes zwischen intuitiver und abstraktiver
Erkenntnis. Da es sich in beiden Fällen um intentionale Akte handelt, muss
es auch in beiden Fällen einen Bezugsgegenstand geben. Der Unterschied
besteht lediglich darin, dass sich ein Akt der intuitiven Erkenntnis auf einen
aktuell existierenden Einzelgegenstand bezieht, während sich ein Akt der
abstraktiven Erkenntnis auf ein Wesen bezieht, mag dieses nun aktuell in-
stantiiert sein oder nicht.132
Diese Erklärung verdeutlicht, dass der entscheidende Unterschied zwi-
schen Mayronis und Ockham in der Intentionalitätstheorie liegt, die das
Fundament für die Analyse der intuitiven Erkenntnis bildet. Für Ockham
sind intentionale Akte – allen voran Akte der intuitiven Erkenntnis – sog.
„absolute Entitäten“, die nur in einer kontingenten Relation zu einem Ge-
genstand stehen.133 Ob nun ein Apfel existiert oder nicht, mein Akt kann
Ockham zufolge in gleicher Weise einen Apfel präsentieren. Daher kann
Gott die gesamte mentale Innenwelt manipulieren, ohne die Außenwelt
zu tangieren. Für Mayronis hingegen, der intentionale Akte als relationale
Entitäten auffasst, muss Gott, wenn er denn eingreift, beide Relata der in-
tentionalen Relation manipulieren und somit gleichzeitig in die Innen- und
in die Außenwelt eingreifen. Daher stellt sich für Mayronis gar nicht das
Problem, das Ockham (und auch Chatton) beschäftigte, nämlich welche Art
von Urteil jemand fällt, wenn Gott eingreift. Urteilt diese Person korrekt,
dass der Gegenstand existiert, wenn er existiert, und dass er nicht existiert,
wenn er nicht existiert? Dass der Gegenstand des Erkennens nicht existiert,
ist gemäß der relationalen Auffassung von Intentionalität gar nicht möglich.
Daher gibt es hier nur eine Möglichkeit: Die Person, die einen Gegenstand
intuitiv erkennt, urteilt korrekt, dass dieser Gegenstand existiert.
Freilich sind damit noch nicht alle Probleme aus dem Weg geräumt. Ein
Problem besteht in der Annahme einer notwendigen Relation des Erkennt-
nisaktes zu einem Gegenstand. Wie ist diese Relation zu verstehen? Besteht
sie zusätzlich zum Akt? Oder ist der Akt selbst als eine Relation aufzufassen?
Mayronis deutet eine Antwort auf diese Fragen nur an, indem er festhält,
Vgl. Sent., prol. q, 19, fol. 10v, Q – fol. 11r, A; siehe auch q. 20, fol. 11v, Q.
132
der Erkenntnisakt und seine Relation zu einem Gegenstand seien zwar real
identisch, aber dennoch „auf gewisse Weise“ verschieden.134 In seiner Ana-
lyse der verschiedenen Arten von Distinktion erläutert er dann, dass es sich
hier um einen formalen Unterschied handelt.135 Damit reiht er sich einmal
mehr in die scotistische Tradition ein. Scotus hatte bekanntlich betont, dass
es neben der realen und der begrifflichen Distinktion noch eine dritte gibt,
nämlich die formale. Diese liegt vor, wenn verschiedene Dinge oder Aspekte
zwar voneinander verschieden sind, aber trotzdem immer zusammen vor-
kommen und nicht voneinander gelöst werden können. Das Paradebeispiel
dafür sind die göttlichen Attribute (Allmacht, Allwissenheit, Güte usw.), die
zwar voneinander verschieden sind, aber doch immer zusammen existieren
und gar nicht einzeln auftreten können.136 Überträgt man diese Erklärung
auf den Fall der Erkenntnisakte, heißt dies: Der Erkenntnisakt und die
Relation zu einem Gegenstand sind zwar verschiedene Dinge und können
auch begrifflich voneinander getrennt erfasst werden. Doch sie treten immer
zusammen auf. Daher gibt es weder den Erkenntnisakt ohne die Relation
noch umgekehrt die Relation ohne den Erkenntnisakt. Wenn wir die beiden
voneinander lösen, so höchstens in einer theoretischen Analyse; in der Welt
sind sie gleichsam zusammengeschweißt. Es ist nicht zuletzt dieser Rekurs
auf die formale Distinktion, der erklärt, warum ein Erkenntnisakt immer in
einer notwendigen Relation zu einem Gegenstand steht. Wenn nämlich Akt
und Relation unauflöslich zusammengeschweißt sind, kann es den Akt gar
nicht geben, ohne dass er in Relation zu etwas steht.
Es stellt sich allerdings sogleich noch ein weiteres Problem. Können
wir nicht in vielen Fällen etwas erkennen oder an etwas denken, was nicht
existiert? So kann ich doch sehr wohl an die Baumhütte meiner Kindheit
denken, die schon lange abgerissen worden ist, und ich kann sogar an Chi-
mären und andere fiktive Dinge denken, die nie existiert haben. Es scheint,
als würde Mayronis’ These, dass man nur dann etwas erkennen kann, wenn
es auch etwas gibt, wozu der Erkenntnisakt in Relation steht, diese Möglich-
keiten von vornherein ausschließen.
Dieses Problem lässt sich lösen, wenn man die bereits erwähnte Unter-
scheidung zwischen intuitiver und abstraktiver Erkenntnis berücksichtigt.
Nur im Falle der intuitiven Erkenntnis muss es einen aktuell existierenden
Gegenstand geben, auf den sich der Erkenntnisakt direkt bezieht. Im Falle
Sent., prol., q. 18, fol. 11r, C: „Et tunc dico quod notitia et sui relatio ad obiectum sunt
134
lichen Zustände.139 Dies bedeutet konkret, dass ich nicht nur die Vögel er-
kennen kann, sondern auch mein Sehen der Vögel. Solange dies möglich ist,
kann ich kontrollieren, ob meine intellektuelle Erkenntnis tatsächlich auf
einem sinnlichen Vorgang beruht. Kann ich dann sicher sein, dass tatsäch-
lich ein natürlicher sinnlicher Vorgang meinen Erkenntnisakt ausgelöst hat?
Wohl kaum. Wenn Gott überall eingreifen kann, so auch auf der sinnlichen
Ebene. Das heißt, er könnte gleichzeitig (a) einen intellektuellen Erkennt-
nisakt, (b) ein Bezugsobjekt für diesen Akt, (c) einen Akt des Sehens und
(d) einen Akt des Urteilens im Gemeinsinn hervorbringen. So würde ich
glauben, ein natürliches Sehen habe ein natürliches sinnliches Urteilen und
dies wiederum habe ein natürliches intellektuelles Erkennen verursacht – ich
wäre perfekt getäuscht.
In Mayronis’ Text findet sich keine Diskussion eines solchen Falles. Im
Rahmen seiner Theorie ist ein solches Szenario aber durchaus denkbar, denn
sobald man distinkte Akte im Erkenntnisprozess annimmt und einräumt,
dass Gott jede distinkte Entität hervorbringen kann, ist die Möglichkeit
gegeben, dass er auf der sinnlichen Ebene ebenso wie auf der intellektuellen
eingreift. Selbst die relationale Auffassung von Intentionalität schiebt dieser
Möglichkeit keinen Riegel vor. Daher gibt es keine absolute Gewissheit, dass
Akte des Sehens, des Vorstellens und des Erkennens auf natürliche Weise
entstanden sind. Es gibt nur eine Gewissheit, dass durch diese Akte etwas
gesehen, vorgestellt und erkannt wird, wie auch immer die Akte und ihre
Objekte zustande gekommen sind.
Die Debatte, die ausgehend von Fällen der natürlichen und der übernatür
lichen Täuschung rund um die Frage nach der Gewissheit unserer Erkennt-
nis geführt wurde, gewann im dritten Jahrzehnt des 14. Jhs. innerhalb von
kürzester Zeit an Bedeutung und beherrschte immer mehr die philosophi-
schen Debatten. In den Prologen zu den Sentenzenkommentaren wurde
nicht mehr die klassische Frage diskutiert, welche Art von Wissenschaft die
Theologie sei und welche Erkenntnis durch sie gewonnen werde. Vielmehr
wurde nun die grundsätzliche Frage erörtert, ob Erkenntnis überhaupt
möglich sei. Ein prägnantes Beispiel für diese Grundsatzdiskussion ist
Adam Wodehams zweiter Sentenzenkommentar, die Lectura secunda, die
139
Sent., prol., q. 20, fol. 12r, C: „Secunda difficultas: Utrum actus aliarum potentiarum
cognoscantur intuitive. Dico quod sic. [...] Ex hoc enim cognosco caelum moveri quia co-
gnosco intuitive actum potentiae sensitivae ad hanc veritatem terminatum.“
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zwischen 1329 und 1332 entstanden ist.140 Der ganze Prolog dieses Werks
befasst sich in allen sechs Quaestionen mit erkenntnistheoretischen Grund-
problemen. Als Schüler und Sekretär Ockhams schließt sich Wodeham in
einigen Punkten seinem ehemaligen Lehrer an. So verwirft er genau wie
Ockham (teilweise mit explizitem Verweis auf dessen Argumente) die An-
nahme, im Wahrnehmungsakt werde ein besonderer „erscheinender Gegen-
stand“ erfasst, und genau wie Ockham erklärt er die Sinnestäuschungen
als falsche Urteile über die realen Gegenstände. Doch in einigen Punkten
weicht Wodeham auch deutlich von seinem Lehrer ab. Es empfiehlt sich des-
halb, ihn als einen eigenständigen Denker in den Blick zu nehmen und jene
Stellen genauer zu betrachten, an denen er Ockham kritisiert.
Eine erste deutliche Abweichung von Ockhams Standpunkt ist bereits
in der Grundthese festzustellen, die Wodeham vertritt. Mit Verweis auf die
Möglichkeit eines göttlichen Eingreifens in den Erkenntnisprozess hält er
lapidar fest:
„... ich gestehe zu, dass wir uns durch keine Erkenntnis vergewissern können, dass
wir durch ihn [sc. Gott] nicht getäuscht werden können, wenn er es will.“141
Diese Aussage ist angesichts der Position, die sich in Ockhams Sentenzen-
kommentar findet, erstaunlich. Hatte Ockham nicht klar und deutlich fest-
gehalten, dass wir auf der Grundlage einer intuitiven Erkenntnis korrekt
urteilen, dass ein Gegenstand existiert, wenn er existiert, und dass er nicht
existiert, wenn er nicht existiert? Hatte er damit nicht jede Täuschungsmög-
lichkeit ausgeschlossen? Selbst wenn Gott eingreift und uns einen Erkennt-
nisakt eingibt, mit dem wir etwa einen Stern erfassen, urteilen wir korrekt,
dass der Stern nicht existiert.
Wodeham ist diese Position wohl bekannt, doch er hält sie nicht für
überzeugend, ja er wirft Ockham ausdrücklich vor, seine Erwiderung auf
die skeptische Herausforderung sei „nur eine Ausflucht,“ da man „weder
durch die Erfahrung noch durch ein rationales Argument“ wissen könne,
dass tatsächlich keine Täuschung vorliegt.142 Warum ist kein Wissen mög-
lich? Der Hauptgrund liegt darin, dass nicht auf der Grundlage ein und
derselben intuitiven Erkenntnis sowohl ein positives als auch ein negatives
Existenzurteil gefällt werden kann. Wodeham veranschaulicht dies anhand
eines Beispiels. Wenn ich zuerst den lebendigen Sokrates sehe und urteile,
dass er existiert, dann aber den Leichnam sehe und urteile, dass Sokrates
140
Zur Entstehungszeit und zu den verschiedenen Fassungen des Sentenzenkommentars
vgl. Courtenay 1978, 12–34; zur Wirkung dieses Textes auf spätere Debatten ibid., 113–159.
141
Lectura, prol., q. 2, § 5 (ed. Wood 1990, 41): „... concedo quod per nullam notitiam potest
nos sic certificari quin possimus decipimus ab eo si voluerit.“
142
Lectura, prol., q. 2, § 4 (ed. Wood 1990, 39): „... cuius responsio non est nisi evasio, quia
nec per experientiam nec per rationem scitur.“
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143
Vgl. Lectura, prol., q. 2, § 5 (ed. Wood 1990, 41).
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in einem Erkenntnisakt gegeben. Und dieser Akt kann von Gott so perfekt
aufrechterhalten werden, dass mir der Gegenstand auch dann noch präsent
zu sein scheint, wenn er nicht mehr existiert. Kurzum: Ich kann einen äu-
ßeren Gegenstand nie an sich erfassen, sondern nur so, wie er mir in einem
Erkenntnisakt präsent ist. Diese Präsenz kann immer fingiert sein.
Mit Blick auf Mayronis’ Diskussion dieses Problems (vgl. § 24) könnte
man allerdings sogleich einen Einwand erheben. Muss nicht jeder Erkennt-
nisakt ein Objekt haben, damit er überhaupt ein kognitiver Akt ist, und
muss Gott somit nicht den Erkenntnisakt zusammen mit dem Objekt auf-
rechterhalten, wenn er in den natürlichen Erkenntnisprozess eingreift? Es
ist doch abwegig zu behaupten, jemand erkenne etwas, z.B. einen Stern, und
es gebe trotzdem kein Objekt für diesen Erkenntnisakt.
Wodeham versucht diesen Einwand mit mehreren Argumenten zu ent-
kräften. Zunächst betont er genau wie Ockham, dass der Erkenntnisakt
eine absolute Entität ist, die unabhängig von jeder anderen absoluten Entität
existieren und aufrechterhalten werden kann.144 Damit weist er natürlich die
Annahme zurück, zwischen Erkenntnisakt und äußerem Objekt bestehe
eine notwendige Relation. Seiner Ansicht nach kann es hier höchstens eine
kontingente Relation geben. Das heißt: Nur wenn der Erkenntnisakt auf
natürliche Weise hervorgebracht wird, steht er in Relation zu einem exis-
tierenden und präsenten Gegenstand. Wird er hingegen auf übernatürliche
Weise bewirkt, kann er durchaus ohne eine solche Relation bestehen.
Doch wie, so kann man sogleich nachfragen, kann der Akt im zweiten
Fall noch ein Erkenntnisakt sein? Wie kann er etwas vergegenwärtigen,
wenn es doch nichts gibt, worauf er bezogen ist? Wodeham gibt keine
ausführliche Antwort auf diese zentrale Frage. Da er aber genau wie Ock-
ham Erkenntnisakte als Zeichen auffasst, lässt sich eine Erwiderung re-
konstruieren: Ein Erkenntnisakt vergegenwärtigt nicht dadurch etwas,
dass er in Relation zu einem aktuell existierenden Objekt steht, sondern
aufgrund seines Zeichencharakters, der durch irgend etwas – sei dies ein
äußeres Objekt oder Gott – einmal festgelegt worden ist. Man muss hier
genau zwischen diesem inneren Zeichencharakter und dem äußeren, aktuell
präsenten Objekt unterscheiden, wie sich anhand eines modernen Beispiels
leicht zeigen lässt. Wenn wir auf einer Landstraße ein Zeichen sehen, das
vor umher streunendem Wild warnt, muss nicht notwendigerweise ein Reh
oder ein Hirsch präsent sein. Selbst wenn kein Wild über die Straße läuft,
144
Lectura, prol., q. 2, § 5 (ed. Wood 1990, 41): „... experientia fidei compertum est Deum
possum conservare quodcumque absolutum sine quocumque alio realiter et totaliter distincto,
quantumcumque naturaliter unum requireret esse alterius ...“ Ibid., § 7 (ed. Wood 1990, 47)
betont Wodeham, dass auch der Akt des Sehens eine absolute und nicht eine relationale Entität
ist: „... visio est qualitas absoluta in potentia visiva.“
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145
Wodeham geht in der Diskussion dieser Kritik nicht nur auf Mayronis’ Haupteinwand
ein, sondern verwendet auch dessen Terminologie. Dies bedeutet freilich nicht unbedingt,
dass er genau Mayronis im Visier hat. Da die Unterscheidung zwischen einem Gegenstand
„in ratione terminantis“ und „in ratione causae“ bereits von Scotus verwendet wurde, kann
er auch auf Scotus abzielen, wie die Herausgeberin zu Recht bemerkt (ed. Wood 1990, 46,
Anm. 12), oder auf andere Autoren scotistischer Prägung.
146
Vgl. Lectura, prol., q. 2, § 7 (ed. Wood 1990, 46).
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festlegen. Da Gott definitionsgemäß die letzte Ursache von allem ist, kann
er somit den Zielpunkt für alles festlegen, auch für alle Erkenntnisakte.
Mit diesem Argument macht Wodeham einen raffinierten Schachzug. Er
stimmt der Auffassung zu, dass jeder Erkenntnisakt einen Zielpunkt haben
muss, und akzeptiert damit die von Mayronis vertretene Intentionalitäts-
these, zumindest in ihrer Minimalvariante: Jeder Erkenntnisakt bezieht
sich auf etwas. Gleichzeitig weist er die Auffassung zurück, dieses „etwas“
müsse in jedem Fall ein aktuell präsentes Objekt sein. Die Intentionalitäts-
these besagt nämlich nur, dass ein Erkenntnisakt als Zeichen auf etwas ver-
weist oder – bildlich gesprochen – wie ein Pfeil auf etwas ausgerichtet ist.
Sie legt aber nicht fest, dass es auch einen externen Punkt gibt, auf dem der
Pfeil auftrifft.
Welche Konsequenz zieht nun Wodeham aus diesen Argumenten? Eine
erste Konsequenz ist offensichtlich. Er weist die Behauptung zurück,
man könne immer folgern: „Ich erkenne einen Gegenstand mit intuitiver
Erkenntnis, also existiert dieser Gegenstand“ oder ganz einfach „Ich sehe
Peter, also existiert Peter“.147 Epistemische Verben wie ‚erkennen‘ und ‚sehen‘
sind für ihn keine Erfolgsverben, die ausdrücken, dass das Erkennen und
Sehen in der materiellen Welt verankert sind und eine Relation zu realen
Gegenständen herstellen. Streng genommen darf man nur sagen: „Ich sehe
Peter, also ist mein Akt des Sehens auf einen Gegenstand ausgerichtet“, oder
noch präziser ausgedrückt: „Ich sehe Peter, also habe ich ein visuelles Er-
lebnis, das aufgrund seines Zeichencharakters auf einen bestimmten Gegen-
stand verweist“. Doch dies erlaubt mir nicht, gleich zu urteilen, dass der
angepeilte Gegenstand in der materiellen Welt existiert. Dies heißt freilich
nicht, dass ich unter keinen Bedingungen Existenzurteile fällen kann.
Wodeham hält ausdrücklich fest, dass unter natürlichen Bedingungen ein
Gegenstand existieren muss, damit ich überhaupt etwas sehen und eine
intuitive Erkenntnis gewinnen kann. Würde man unter diesen Bedingungen
keine Kausalrelation zwischen Gegenstand und Erkenntnisakt annehmen,
„würde jedes Wissen, das durch Erfahrung gewonnen wird, zugrunde
gehen, denn jedes Wissen ist eine sichere Erkenntnis.“148 Daher kann man
unter natürlichen Bedingungen auch sicher sein, dass die Existenzurteile
über äußere Gegenstände wahr sind.
Damit ist das skeptische Problem freilich nicht gelöst. Da Gott jederzeit
eingreifen könnte und da ich über keine neutralen Kriterien verfüge, mit
148
Vgl. Lectura, prol., q. 3, § 2 (ed. Wood 1990, 66): „Prima est quod non potest visio na-
turaliter causari sine exsistentia et praesentia rei visibilis. [...] tunc [sc. wenn das Gegenteil
angenommen würde] periret omnis scientia accepta per viam experientiae, quia omnis scientia
est notitia certa.“
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149
Lectura, prol., q. 2, § 2 (ed. Wood 1990, 35): „... potest cognoscere evidenter quod Sortes
est vel quod Sortes est albus et huiusmodi – nisi Deus miraculose operetur hic ...“
150
Vgl. Lectura, prol., q. 6, § 16 (ed. Wood 1990, 169), zitiert in Anm. 10.
151
Lectura, prol., q. 3, § 2 (ed. Wood 1990, 227): „... dico quod omnis veritas scibilis est
dubitabilis.“ Damit schließt Wodeham an Ockham an, der in Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh
I, 76–77) allerdings einschränkend festgehalten hatte, dass nur ein Satz, der nicht analytisch
wahr ist, bezweifelt werden kann.
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152
Wodeham diskutiert dieses Beispiel explizit in Lectura, prol., q. 4, § 11 (ed. Wood 1990,
106) und erläutert die besonderen Wahrnehmungsbedingungen.
153
Lectura, prol., q. 3, § 4 (ed. Wood 1990, 231): „Sed nunc loquimur de veritate scibili quae
est conclusio syllogismi facientis scire ...“
154
Vgl. Lectura, prol., q. 3, § 4 und § 6 (ed. Wood 1990, 231 und 234–235).
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warum etwas der Fall ist. Daher sind analytische Urteile höchstens für eine
Bedeutungsexplikation hilfreich, im Hinblick auf einen Wissensgewinn
aber belanglos.155
Auch mit Bezug auf das zweite Problem ist Wodehams Präzisierung,
dass es hier um Wissbares im strengen Sinne geht, von Bedeutung. Gemäß
der aristotelischen Auffassung, an die sich Wodeham anschließt, darf im
Falle des demonstrativen Wissens ein Schlusssatz nämlich nicht aus irgend-
welchen Prämissen hergeleitet werden, sondern nur aus solchen, die wahr,
primär, unmittelbar und ursächlich sind.156 Doch wenn stets Bedingungen
wie ‚Wenn Gott nicht eingreift...‘ und ‚Wenn normale Wahrnehmungs-
bedingungen vorliegen...‘ formuliert werden müssen, gibt es im Bereich der
Urteile über materielle Gegenstände keine absolut wahren und primären
Prämissen; jede Prämisse ist mit den genannten Bedingungen zu versehen.
Dies hat natürlich zur Folge, dass auch der Schlusssatz – also das, was im
strengen Sinne wissbar ist – mit Bedingungen zu versehen ist. Daher kann
dem Schlusssatz nicht unbedingt zugestimmt werden. Wodeham betont:
„Jede Wahrheit ist bezweifelbar (und zwar in dem Sinne, den ich jetzt meine), denn
wenn sie im Geist festgesetzt wird, wird der Geist nicht auf natürliche Weise ge-
zwungen zuzustimmen, dass es sich so verhält, wie sie bezeichnet.“157
Der Geist wird nicht zu einer Zustimmung gezwungen, da er ja die Prämis-
sen immer anzweifeln kann – es könnte immer sein, dass sie aufgrund des
göttlichen Eingreifens falsch sind. Bemerkenswert an dieser Argumentation
ist, dass Wodeham hier auf die Wahrheit der Prämissen und des Schluss-
satzes abzielt, nicht auf die Gültigkeit des Schließens. Denn natürlich kann
ein Schluss, der von falschen Prämissen ausgeht, formal gültig sein. Doch
Wodeham interessiert sich nicht so sehr für den Syllogismus als ein Ver-
fahren des korrekten Schließens. Ihn beschäftigt vielmehr die Frage, ob
mithilfe eines Syllogismus tatsächlich Wissen gewonnen wird. Und Wissen
gibt es nur, wenn ein wahrer Schlusssatz vorliegt. Daher steht und fällt das
syllogistisch gewonnene Wissen mit der Wahrheit der Prämissen.
Diese Überlegung hat mindestens zwei Konsequenzen. Die erste besteht
in einer Absenkung des epistemischen Anspruchs. Kein Wissen – auch nicht
jenes, das gemäß den strengen Regeln, die für das beweisende Wissen gel-
155
Natürlich könnte man einwenden, dass durch eine Bedeutungsexplikation durchaus
Wissen gewonnen wird, nämlich Wissen von der genauen Bedeutung eines Ausdrucks. Wo-
deham würde dies sicherlich eingestehen, aber darauf insistieren, dass damit nur sprachliches
Wissen gewonnen wird. In der Auseinandersetzung mit dem Skeptiker geht es jedoch primär
um die Frage, ob ein Wissen von der materiellen Welt möglich ist.
156
Vgl. Anal. Post. I, 2 (71b21–22).
157
Lectura, prol., q. 3, § 2 (ed. Wood 1990, 227): „Item, omnis veritas est dubitabilis – ad
sensum in quo modo loquor – qua posita in mente non necessitatur naturaliter mens ad sic
esse assentiendum sicut ipsa significat.“
§ 26 Schlussfolgerungen
Sind Ockham und die Philosophen, die im frühen 14. Jh. an seine Erkennt-
nistheorie anknüpften, als Skeptiker zu bezeichnen? Diese Frage, die in der
Forschungsliteratur kontrovers diskutiert wurde, erweist sich bei näherer
Betrachtung als eine irreführende Frage, die nur irreführende Antworten
provozieren kann. Die Forschungsdebatte, die von Michalski und Gilson
ausgelöst wurde, setzte nämlich einen modernen Begriff von Skeptiker
Natürlich räumt Wodeham ein, dass es von den eigenen Akten eine sichere Erkenntnis
158
geben kann; vgl. Lectura, prol., q. 2, § 13 (ed. Wood 1990, 58–59). Doch erstens handelt es
sich dabei nicht um ein Wissen im strengen Sinn, sondern um ein inneres Erfassen (Wodeham
insistiert darauf, dass dafür ein distinkter Akt erforderlich ist), und zweitens bietet dieses
Erfassen keine Grundlage für ein Wissen von der Außenwelt. Ebenso wenig wie Ockham ver-
wendet Wodeham die Gewissheit der eigenen Akte als Fundament für alle Erkenntnisakte.
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§ 26 Schlussfolgerungen 301
voraus – einen Begriff, der maßgeblich von der cartesischen Tradition be-
stimmt war. Es wurde angenommen, der Skeptiker sei jemand, der explizit
oder implizit die Position vertritt, es gebe kein absolut sicheres, unbe-
zweifelbares Wissen, vor allem kein derartiges Wissen von materiellen
Gegenständen.159 Mit Blick auf die theologische Allmachtslehre wurde dann
die Frage erörtert, ob Ockham und seine Nachfolger eine übernatürliche
Täuschung ausschließen und dadurch die absolute Gewissheit und Unbe-
zweifelbarkeit unseres Wissens garantieren konnten. Dass es in der ganzen
Wissensdebatte tatsächlich um absolute Gewissheit und vollständige Unbe-
zweifelbarkeit ging, wurde dabei einfach unterstellt.160 Und dass die Debatte
im 14. Jh. primär um das Problem eines möglichen göttlichen Eingreifens
kreiste, wurde ebenfalls ohne nähere Begründung angenommen.
Die Textanalysen in diesem Kapitel zielten darauf ab, diese scheinbar
selbstverständlichen Annahmen infrage zu stellen. Bevor man kritisch
untersucht, ob absolute Gewissheit im Rahmen der Ockhamschen Theorie
möglich ist, muss man grundsätzlich fragen, welchen Wissensbegriff Ock-
ham verwendet und welche epistemischen Standards er bei der Wissens-
zuschreibung anlegt. Wie sich gezeigt hat, handelt es sich nicht um einen
fundamentalistischen und internalistischen Wissensbegriff, wie er aus der
cartesischen Tradition bekannt ist, sondern vielmehr um einen reliabilis-
tischen und externalistischen Begriff. Verkürzt ausgedrückt könnte man
sagen: Über Wissen verfügt jemand, wenn er durch zuverlässige kognitive
Prozesse wahre mentale Sätze bildet und ihnen zustimmt. Diese Prozesse
werden im Normalfall durch Sinneseindrücke von materiellen Gegenständen
ausgelöst und generieren wahre Sätze, die sich genau auf diese Gegenstände
beziehen. Damit eine Person über Wissen verfügt, muss sie nicht zusätzlich
ein höherstufiges Wissen haben, mit dem sie feststellt, dass tatsächlich zu-
verlässige Prozesse vorliegen. Es reicht aus, dass die wahren Sätze durch
zuverlässige Prozesse erworben werden. Es ist auch nicht erforderlich, dass
ausnahmslos wahre Sätze gebildet werden; Irrtümer und Fehler sind immer
möglich. Doch die Existenz einzelner Irrtümer stellt nicht gleich das ganze
Wissen einer Person infrage. Im Gegenteil: Die Rede von Irrtümern ist
nur vor dem Hintergrund prinzipieller Korrektheit und damit auch eines
159
So beginnt Kennedy 1983, 35, eine längere Abhandlung zum Skeptizismus-Problem mit
der Aussage: „It is well known that, in the second quarter of the fourteenth century, there
was a great distrust of the ability of philosophy to arrive at certainty on the most important
matters.“ Wie selbstverständlich geht Kennedy davon aus, dass die Gewissheit, um die es hier
geht, absolute Gewissheit ist, die eine unbezweifelbare Grundlage haben sollte.
160
Eine Ausnahme stellt Adams 1987, 594–601, dar, die betont, dass Ockham die hohen
epistemischen Standards, die von den akademischen Skeptikern gesetzt wurden, nicht akzep-
tiert. Rekonstruiert man seine Theorie, muss man zuallererst analysieren, wie er seine eigenen
Standards bestimmt.
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§ 26 Schlussfolgerungen 303
andere Autoren des 14. Jhs. eingehend das Problem der Sinnestäuschungen
erörterten. Entscheidend ist dabei, dass sie in ihren Lösungsversuchen
nicht die Annahme prinzipiell korrekter Prozesse infrage stellten, sondern
den genauen Grund für die Bildung einzelner falscher Sätze zu bestim-
men versuchten. Dieser Grund ist ihrer Meinung nach in den besonderen
Wahrnehmungsbedingungen zu suchen, nicht etwa in der Existenz „er-
scheinender Gegenstände“ oder in einer trügerischen Funktion der Sinne.
Damit verdeutlichten sie natürlich einmal mehr ihren reliabilistischen
Erklärungsansatz: Es geht nicht darum, infallible Prozesse zu erklären,
sondern Prozesse, die im Prinzip korrekt funktionieren, aber unter be-
sonderen, genau zu bestimmenden Bedingungen auch falsche Sätze her-
vorbringen können.
Allerdings ist damit das Täuschungsproblem noch nicht aus dem Weg
geräumt. Von einem modernen Standpunkt aus könnte man sogleich
folgenden Einwand gegen das gesamte reliabilistische Projekt erheben: Es
mag wohl sein, dass wir auf natürlichem Weg im Prinzip wahre Sätze über
die materielle Welt bilden und dadurch ein Wissen gewinnen. Da Gott aber
stets eingreifen kann und da wir die natürliche Situation nicht von der über-
natürlichen unterscheiden können, bleiben alle unsere Sätze einem Zweifel
ausgesetzt – alle Sätze über die Außenwelt könnten sich als falsch erweisen.
Dies gilt umso mehr, als es Ockham zufolge ja keine inneren Merkmale gibt,
die anzeigen, ob unsere Sätze wahr sind oder nicht.
Wie sich in diesem Kapitel gezeigt hat, war sich Ockham dieses Einwan-
des wohl bewusst und versuchte ihn zu entkräften. Ganz im Gegensatz zu
Thomas von Aquin ging er aber nicht von der These aus, selbst Gott könne
die Identität zwischen der Form eines Gegenstandes im Intellekt und außer-
halb des Intellekts nicht zerstören. Da es im Rahmen seiner Individualonto-
logie keine universalen Formen gibt, kann es auch keine formale Identität
zwischen den verschiedenen Instantiierungen einer Form geben. Ockham
zufolge kann es nur Akte der intuitiven Erkenntnis geben, die „absolute
Entitäten“ sind und somit von den materiellen Gegenständen distinkt sind.
Doch diese Akte bilden (zumindest gemäß Ockhams früher Theorie) die
Grundlage für wahre Sätze: Wenn Gott eingreift und einen Akt der intui-
tiven Erkenntnis aufrechterhält, der einen nicht mehr existierenden Gegen-
stand präsentiert, wird korrekt geurteilt, dass der Gegenstand nicht exis-
tiert. Die Anwendung der Allmachtshypothese hat somit nicht zur Folge,
dass die reliabilistische Theorie fallen gelassen wird. Sie wird vielmehr er-
weitert. Denn wie es im Falle des natürlichen Erwerbs intuitiver Erkenntnis
zuverlässige Prozesse gibt, die garantieren, dass prinzipiell korrekte Urteile
gebildet werden, gibt es auch im Falle des übernatürlichen Erwerbs ähnliche
zuverlässige Prozesse, die bewirken, dass über nicht existierende Gegen-
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§ 26 Schlussfolgerungen 305
Einzelfälle, in denen ich falsche Sätze bilde, nicht von den anderen Sätzen
unterscheiden. Somit bleiben alle Sätze einem Zweifel ausgesetzt.
Keiner der hier diskutierten Autoren zieht diesen Schluss, denn keiner
geht von der starken cartesischen Annahme aus, man müsse mit letzter
Sicherheit wissen können, welcher Satz wahr ist und welcher nicht. Wie sich
herausgestellt hat, räumt Chatton freimütig ein, dass „wir keine Gewissheit
haben“, dass Gott nicht eingreift und einen Akt verursacht, „mit dem wir
urteilen, dass es sich der Sache nach anders verhält“.161 Wodeham gibt sogar
unumwunden zu, dass „alles Wissbare bezweifelbar ist.“162 Damit geben
diese Autoren aber nicht jeden Erkenntnisanspruch preis. Sie weisen nur
darauf hin, dass es unangemessen ist, so etwas wie eine absolute Garantie
für unser Wissen zu fordern. Wir können unser Wissen höchstens auf ar-
gumentative Weise prüfen, wie Chatton feststellt, etwa indem wir auf die
Kohärenz achten und einzelne Sätze bzw. Urteile in einen Kontext stellen.
Bildlich ausgedrückt könnte man sagen: Wir können nur prüfen, ob wir über
ein stabiles epistemisches Netz verfügen, das wir nicht gleich wegwerfen
müssen, nur weil wir es nicht auf einem absolut sicheren Boden verankern
können und weil an einzelnen Stellen Undichtigkeiten auftauchen mögen.
Mehr als ein solches Netz dürfen wir ohnehin nicht erwarten.
Es gibt indessen noch einen weiteren Grund, der die hier vorgestellten
Philosophen dazu gebracht hat, trotz der Allmachtshypothese keinen radi-
kalen Zweifel zu formulieren. Bei dieser Hypothese handelt es sich nämlich
um eine allgemeine Hypothese, die nicht nur die Erkenntnisprozesse,
sondern alle natürlichen Prozesse betrifft. Für alle Prozesse gilt, dass sie
einen kontingenten Charakter haben – alles könnte aufgrund des göttlichen
Eingreifens auch anders sein, als es ist. A. Maier hat in einer Pionierstudie
bereits auf diesen Punkt aufmerksam gemacht:
„Dass Gott, ebenso wie er Wunder tun und die Naturordnung durchbrechen kann,
auch in übernatürlicher Weise in unsern Erkenntnisprozess eingreifen und in uns,
wenn er es für gut findet, einen Irrtum hervorrufen kann, galt im Grund allen für
selbstverständlich. In diesem Sinn, aber auch nur in diesem, weist die Philosophie
des 14. Jhs. in der Tat ‚skeptische‘ Tendenzen auf.“163
Wenn es nur in diesem Sinn skeptische Tendenzen gibt, stellt die Frage
„Kann ich sicher sein, dass meine intuitive Erkenntnis korrekt ist?“ keine
besondere Bedrohung dar. Ebenso gut kann man ja Fragen wie „Kann ich
sicher sein, dass Steine weiterhin nach unten fallen?“ oder „Kann ich sicher
sein, dass morgen die Sonne aufgeht?“ stellen. Auf alle diese Fragen lautet
161
Vgl. Anm. 113.
162
Vgl. Anm. 151.
163
Maier 1967, 418.
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die Antwort: Ich kann nie absolut sicher sein, weil es keine absolut notwen-
dige Ordnung gibt. Doch diese Antwort hat nicht zur Folge, dass nun alle
Erkenntnisansprüche hinfällig werden. Sie macht nur darauf aufmerksam,
dass in einer kontingenten Welt alles einen konditionalen Charakter hat:
Wenn die natürliche Ordnung weiterhin besteht, dann gibt es auch weiterhin
natürliche, durch Gesetze geregelte Vorgänge, darunter auch die natürlichen
kognitiven Prozesse, die korrekte Erkenntnis liefern. Es wäre aber abwegig,
in einer kontingenten Welt eine Garantie für eine absolute Gewissheit der
Erkenntnis zu fordern.
Schließlich liegt ein dritter Grund dafür, dass die Allmachtshypothese
nicht als Ausgangspunkt für ein radikales skeptisches Szenario verwendet
wurde, im Aristotelismus, der den umfassenden theoretischen Rahmen für
die Debatten über die Möglichkeit von Wissen bildete. Die hier diskutierten
Autoren gingen ausnahmslos von der aristotelischen These aus, dass es in
der Welt Substanzen gibt, die sich aus Form und Materie zusammensetzen,
und dass diese Substanzen wahrnehmbare Eigenschaften aufweisen, die
uns im Prinzip zugänglich sind.164 Ebenso selbstverständlich war für sie die
These, dass wir Menschen mit einem kognitiven Apparat ausgestattet sind,
der wahrnehmbare Eigenschaften aufnehmen, zu Vorstellungsbildern verar-
beiten und auf dieser Grundlage Wissen erwerben kann. Die entscheidende
Frage war nicht, ob wir tatsächlich einen kognitiven Zugang zu Gegenstän-
den in der Welt haben, sondern vielmehr, wie dieser Zugang konkret mög-
lich ist und welche kognitiven Vermögen wir dafür benötigen. Angesichts
dieses aristotelischen Erkenntnisoptimismus konnte der Verweis auf die
Allmachtshypothese höchstens das Vertrauen in einige Erkenntnisakte er-
schüttern, aber nicht gleich in alle, denn auch die Erwägung einer göttlichen
Manipulation stellte die prinzipielle Funktionsfähigkeit der kognitiven Ver-
mögen nicht infrage. In diesem Punkt zeigt sich ein radikaler Unterschied
zu Descartes, der gut dreihundert Jahre später den hyperbolischen Zweifel
konstruierte, um grundlegend das Vertrauen in die kognitiven Vermögen
zu erschüttern. Folglich konnte er den Zweifel nur überwinden, indem er
einen Garanten für die Zuverlässigkeit dieser Vermögen einführte: Gott.
Die Autoren des 14. Jhs. hingegen gingen von vornherein davon aus, dass
164
Neben diesen metaphysischen Grundthesen akzeptierten sie auch physikalische, z. B.
dass die natürlichen Substanzen sich im Raum bewegen und aufeinander einwirken. Wie Ber-
múdez 2000, 352–353, verdeutlicht, ermöglichte erst die Überwindung des metaphysischen
und physikalischen Rahmens einen radikalen cartesischen Skeptizismus. Denn erst wenn
infrage gestellt wird, dass es natürliche Substanzen gibt, die aufgrund natürlicher kausaler
Kräfte auf andere Substanzen – darunter auch auf wahrnehmungsfähige Menschen – ein-
wirken, kann die Relation zwischen der „inneren Welt“ einer wahrnehmenden Person und
einer „äußeren Welt“ der materiellen Gegenstände radikal (und nicht bloß für Einzelfälle)
bezweifelt werden.
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§ 26 Schlussfolgerungen 307
165
An einer berühmten Stelle im Traktat Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 181, Z. 22–25)
vergleicht er sich mit einem Trompeter, der die Schlafenden (sprich: die Aristoteliker) wach
rüttelt, von diesen aber beschimpft und attackiert wird.
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IV
ZWEIFEL AM DEMONSTRATIVEN WISSEN
(Nikolaus von Autrécourt und
Johannes Buridan)
IV
ZWEIFEL AM DEMONSTRATIVEN WISSEN
(Nikolaus von Autrécourt und
Johannes Buridan)
– Wir wissen nicht mit Evidenz, dass es eine natürliche Wirkursache gibt
oder geben kann (Art. 17).
– Wenn ein Brot vorgezeigt wird, kann nicht mit Evidenz gezeigt werden,
dass dort irgendein Ding ist, das nicht ein Akzidens ist (Art. 30).
– Es kann nicht mit Evidenz gezeigt werden, dass all das, was erscheint,
wahr ist (Art. 34).
Diese Thesen enthalten alle Aussagen, die man von einem modern
anmutenden Skeptiker erwartet: Es gibt kein inferentielles Wissen, kein
Wissen von Kausalvermögen oder Kausalrelationen, kein Wissen von einer
anderen Substanz außer der eigenen Seele, ja es gibt überhaupt kein Wissen
auf der Grundlage von bloßen Erscheinungen. Denn die bloße Tatsache,
dass uns etwas erscheint, beweist noch lange nicht, dass es auch so ist. Die
Welt könnte in Tat und Wahrheit ganz anders sein, als sie uns erscheint.
Vor allem aber berechtigen uns die Erscheinungen nicht dazu, eine Fülle
von Aussagen über die Struktur der materiellen Welt und über die Gegen-
stände in dieser Welt zu treffen, wie dies die Aristoteliker tun. So dürfen
wir nicht behaupten, dass es materielle Substanzen gibt, dass sie sich aus
Form und Materie zusammensetzen, dass sie kausale Vermögen haben
und dass sie auf natürliche Weise bestimmte Wirkungen hervorbringen.
All dies entzieht sich einem Wissen, für das wir Evidenz beanspruchen
könnten.
Verstärkt wird diese scheinbar eindeutig skeptische Haltung durch
polemische anti-aristotelische Äußerungen. Nikolaus behauptet, Aris-
toteles habe „keine evidente Kenntnis von einer anderen Substanz als
der eigenen Seele gehabt“, ja er habe „in seiner ganzen Naturphilosophie
und theoretischen Philosophie kaum eine solche Gewissheit von zwei
Schlussfolgerungen gehabt, vielleicht nicht einmal von einer einzigen.“4
Wer Aristoteles folgt und meint, er könne mithilfe einer syllogistischen
Methode ein demonstratives Wissen gewinnen, irrt sich. In einem Rund-
umschlag will Nikolaus das gesamte aristotelische System, das auf der
Grundlage gewagter metaphysischer und epistemologischer Annahmen
Wissensansprüche erhebt, beseitigen. Denn dieses System führt ins Leere.
„Es ist sehr erstaunlich“, stellt Nikolaus anklagend fest, „dass einige
Leute Aristoteles und den Kommentator [sc. Averroes] bis ins hohe Alter
studieren und wegen deren logischen Untersuchungen die moralischen
Angelegenheiten und die Sorge um das Gemeinwohl vernachlässigen.“5
4
Correspondence II.22–23 (ed. de Rijk 1994, 72): „... numquam Aristotiles habuit notitiam
evidentem de aliqua substantia alia ab anima sua [...]. Aristotiles in tota philosophia sua
naturali et theorica vix habuit talem certitudinem de duabus conclusionibus, et fortasse nec
de una ...“
5
Correspondence, Appendix A,13.2 (ed. de Rijk 1994, 154): „... multum mira<ba>tur quod
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8
In Phys. I, q. 5 (ed. Paris 1509, f. 6vb): „Ista quaestio unum supponit et aliud querit, sup-
ponit enim quod de aliquo immo de aliquo effectu possumus habere perfectam scientiam...“
Für Buridan steht nicht zur Debatte, ob wir ein Wissen haben können, sondern wie – durch
welche Kenntnis von einzelnen Kausalrelationen und durch welche induktiven Schlüsse – wir
ein Wissen erwerben können.
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12
So etwa von Paqué 1970, Moody 1971 und Bottin 1982.
13
Vgl. Courtenay & Tachau 1982 und Tachau 1988, 336–340. Siehe auch Thijssen 1998,
73–74.
14
Vgl. konzis Tachau 1988, 337, die damit die traditionelle, auf Michalski zurückgehende
These widerlegt.
15
Grellard 2005, 229, weist nach, dass es bei Buridan kein direktes Zitat aus Nikolaus’
Schriften gibt. Thijssen 1987, 238, belegt, dass selbst die Texte zum Kausalproblem, die
meistens als Indiz für eine unmittelbare Auseinandersetzung zwischen den beiden Autoren
gedeutet wurden, nicht auf eine direkte Begegnung hindeuten.
16
Vgl. De demonstrationibus 8.5.2 (ed. De Rijk 2001, 122); In Anal. Post. I, q. 2, und II,
q.11; In Met. II, q. 2 (ed. Paris 1588, f. 9vb).
Es ist anzunehmen, dass mit dieser These die intuitive Erkenntnis von der
abstraktiven unterschieden werden soll.18 Denn im Falle der intuitiven Er-
kenntnis wird ein Existenzurteil gefällt, im Falle der abstraktiven Erkennt-
nis nicht. Dies wäre nicht weiter erstaunlich, wenn Bernhard behaupten
würde, dass im Falle der intuitiven Erkenntnis nur dann ein Existenzurteil
über einen Gegenstand gefällt wird, wenn dieser tatsächlich existiert. Dies
wäre genau die These Ockhams, wie sich in § 20 gezeigt hat. Für Ockham
ist es ja entscheidend, dass in einer intuitiven Erkenntnis nur über einen
existierenden Gegenstand geurteilt wird, dass er existiert, über einen nicht
existierenden hingegen, dass er nicht existiert.19 Doch Bernhard vertritt
nicht diese These. 20 Er behauptet vielmehr, dass ein Existenzurteil über
einen Gegenstand gefällt wird, ob dieser nun existiert oder nicht. Was moti-
viert ihn zu dieser erstaunlichen These? Da Bernhards Schriften nicht über-
liefert sind, lässt sich diese Frage nicht eindeutig beantworten. Mit Blick auf
die Pariser Diskussionen über intuitive Erkenntnis, die seit dem Beginn des
14. Jhs. – vornehmlich ausgelöst durch Johannes Duns Scotus und Petrus
Aureoli – mit großer Intensität geführt wurden, lassen sich aber zwei mögli-
che Motivationen anführen.
Die erste Motivation lässt sich aus den Diskussionen über Sinnestäu-
schungen erschließen. Bereits Petrus Aureoli wies darauf hin, dass wir im
Falle einer Sinnestäuschung einen ebenso klaren und intensiven Eindruck
haben können wie im Falle einer veridischen Wahrnehmung und dass wir
dann in genau gleicher Weise ein Existenzurteil fällen. Wenn etwa ein feuri-
17
Correspondence I.2 (ed. de Rijk 1994, 46): „Notitia intuitiva clara est per quam iudicamus
rem esse, sive sit sive non sit.“
18
In Correspondence I.12 (ed. de Rijk 1994, 52) wird ausdrücklich auf die Opposition
intuitiv/abstraktiv verwiesen.
19
Vgl. Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 31).
20
Dies ist gegenüber Moody 1971, 301 festzuhalten, der behauptete, Bernhard sei der Ver-
teidiger der Position Ockhams und Nikolaus der Kritiker dieser Position. Da Bernhard nicht
die Position Ockhams verteidigt, richtet sich Nikolaus’ Kritik auch nicht gegen Ockham. Es
wäre irreführend, hier eine Auseinandersetzung mit Ockham zu sehen.
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ger Stab durch die Luft geschwungen wird, haben wir den Eindruck, in der
Luft sei ein heller Kreis. Dieser Eindruck mag sogar sehr klar und intensiv
sein, sodass wir spontan urteilen, in der Luft sei tatsächlich ein heller Kreis.
Wie dieses Beispiel zeigt, fällen wir manchmal ein Existenzurteil über
einen Gegenstand einer bestimmten Art, obwohl kein solcher Gegenstand
real existiert. Diese Beobachtung führte Aureoli zu dem Schluss, dass wir
in einer intuitiven Erkenntnis über alle möglichen Gegenstände urteilen,
dass sie existieren, ob sie nun wirklich existieren oder nicht. 21 Die intuitive
Erkenntnis bietet in keiner Weise eine Wahrheitsgarantie für unsere Urteile.
Denn entscheidend ist für eine solche Erkenntnis nicht, was erfasst wird
(ein tatsächlich existierender oder nur ein vermeintlich existierender Gegen-
stand), sondern wie etwas erfasst wird (als existierend und unmittelbar
präsent oder nicht). Daher ist es immer möglich, dass wir falsche Existenz-
urteile fällen.
Die zweite Motivationsquelle liegt in der Diskussion über das mögliche
Eingreifen Gottes. Im letzten Kapitel ist bereits deutlich geworden, dass
verschiedene Autoren – unter ihnen Walter Chatton – behaupteten, Gott
könne in den Erkenntnisprozess eingreifen und bewirken, dass in uns die
Erkenntnis von einem Gegenstand aufrechterhalten bleibt, nachdem dieser
zerstört worden ist. Gott kann dies so perfekt tun, dass wir die genau glei-
che Art von Erkenntnis haben wie in jenem Fall, in dem der Gegenstand
weiterhin existiert. Das heißt: Ob der Gegenstand nun existiert oder nicht,
wir erfassen ihn unmittelbar und ganz klar, haben dadurch eine intuitive
Erkenntnis von diesem Gegenstand und urteilen, dass er existiert. Somit
gilt auch für diesen Fall, dass die Existenzurteile, die wir auf der Grund-
lage einer intuitiven Erkenntnis fällen, keineswegs eine Wahrheitsgarantie
beinhalten. Es ist immer möglich, dass wir falsche Existenzurteile bilden.
Berücksichtigt man diese beiden möglichen Motivationsquellen, erweist
sich Bernhard von Arezzos These als keineswegs so bizarr und kontraintui-
tiv, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Bernhard macht mit seiner These
darauf aufmerksam, dass es in einer intuitiven (sogar klaren) Erkennt-
nis einzig und allein darauf ankommt, wie uns ein Gegenstand erscheint,
nämlich als existierend. Diese Art von Erscheinung löst in uns sogleich ein
Existenzurteil aus. Damit ist aber keineswegs garantiert, dass dieses Urteil
auch wahr ist. Aufgrund natürlicher oder übernatürlicher Irrtumsquellen
ist es nämlich immer möglich, dass der Erscheinung kein wirklicher Gegen-
stand entspricht. Deshalb gilt: Wir urteilen aufgrund der Art und Weise,
wie uns etwas erscheint, dass ein Gegenstand existiert, ob nun wirklich
Vgl. Scriptum super primum librum Sententiarum, prooemium, sect. 2 (ed. Buytaert
21
einer existiert oder nicht. Dies hat natürlich eine Konsequenz, die Nikolaus
sogleich bemerkt und als Bernhards zweite These vorstellt:
„Eure zweite These, die Ihr an der oben genannten Stelle vertretet, lautet: Die
Inferenz ‚Ein Gegenstand existiert nicht, also wird er nicht gesehen‘ ist nicht gültig,
auch nicht die Inferenz ‚Dies wird gesehen, also existiert es‘.“ 22
Wenn kein heller Kreis in der Luft ist, folgt daraus nicht, dass ich keinen
hellen Kreis sehe. Aufgrund einer Sinnestäuschung oder einer göttlichen
Manipulation meiner visuellen Akte kann es durchaus der Fall sein, dass
ich einen solchen Kreis sehe, genauer gesagt: dass ich die Erscheinung eines
solchen Kreises sehe. Das Verb ‚sehen‘ ist hier – in moderner Terminologie
ausgedrückt – kein Erfolgsverb. Es drückt nicht aus, dass ich in einem vi-
suellen Akt einen realen Gegenstand erfasse. Dieses Verb drückt nur aus,
dass mir eine Erscheinung präsent ist, mag diese nun in Relation zu einem
existierenden Gegenstand stehen oder nicht. Aus diesem Grund gilt auch
nicht, dass durch das bloße Sehen die Existenz eines Gegenstandes garan-
tiert wird. Garantiert wird einzig und allein die Existenz der Erscheinung
eines Gegenstandes.
Nikolaus erkennt sogleich, dass damit einem radikalen Skeptizismus Tür
und Tor geöffnet wird. Wann immer jemand sagt, er sehe etwas und ver-
füge über eine intuitive Erkenntnis, kann man fragen: Bist du sicher, dass
du einen wirklich existierenden Gegenstand siehst und über einen wirklich
existierenden Gegenstand urteilst? Oder erfasst du nur die Erscheinung
eines Gegenstandes und urteilst du nur über eine solche Erscheinung?
Daher stellt Nikolaus fest, dass die von Bernhard vertretene Theorie der
intuitiven Erkenntnis unweigerlich in eine skeptische Position mündet, die
er folgendermaßen charakterisiert:
„Im natürlichen Licht können wir nicht sicher sein, wann unsere Erscheinung von
der Existenz äußerer Gegenstände wahr oder falsch ist, denn wie Ihr sagt, stellt sie in
gleicher Weise dar, dass ein Gegenstand existiert, ob er nun existiert oder nicht.“23
Kurz gesagt: Schein und Sein können immer auseinander klaffen. Daher
können wir ausgehend von unseren Erscheinungen, mögen sie noch so
klar sein, keine sichere Erkenntnis von Gegenständen in der Außenwelt
gewinnen. Dies ist natürlich eine Position mit verheerenden Konsequenzen.
Wenn unsere Erscheinungen uns nämlich keine sichere Erkenntnis liefern,
22
Correspondence I.2 (ed. de Rijk 1994, 46): „Secunda propositio vestra, que ponitur ubi
supra, est talis: ‚Obiectum non est; igitur non videtur‘; non valet consequentia; nec ista: ‚hoc
videtur; ergo hoc est‘.“
23
Correspondence I.3 (ed. de Rijk 1994, 46): „In lumine naturali non possumus esse certi
quando apparentia nostra de existentia obiectorum extra sit vera vel falsa, quia uniformiter, ut
dicitis, representat rem esse, sive sit sive non sit.“
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können wir von den simpelsten Gegenständen nicht wissen, dass sie tatsäch-
lich existieren. So kann Bernhard nie wissen, wie Nikolaus mit gewissem
Sarkasmus feststellt, ob der Kanzler oder der Papst wirklich existiert. 24 Er
kann auch nie wissen, ob der heute erfasste Kanzler morgen oder übermor-
gen noch derselbe Mensch ist, denn er erfasst ja zu jedem Zeitpunkt bloß
eine Erscheinung. Nichts garantiert, dass einer punktuellen Erscheinung ein
realer Gegenstand entspricht, noch dazu einer, der über die Zeit hinweg eine
Identität bewahrt. Doch nicht nur von anderen Gegenständen und Personen
ist eine sichere Erkenntnis unmöglich. Nikolaus stellt fest, Bernhard könne
nicht einmal wissen, ob er selber einen Kopf, einen Bart und Haare habe. 25
Die Existenz aller materiellen Gegenstände, auch des eigenen Körpers, ist
ungewiss. Bernhard darf nur behaupten: ‚Ich weiß, dass ich die Erscheinung
von meinem Kopf habe‘, nicht aber: ‚Ich weiß, dass ich einen Kopf habe‘.
Schließlich hat Bernhards Position auch eine Zerstörung der öffentlichen
Ordnung zur Folge, wie Nikolaus bemerkt, denn wenn Zeugen vor Gericht
sagen: ‚Wir haben dies gesehen‘, folgt daraus nicht: ‚Also ist es so geschehen‘.
Auch die Zeugen können nur über ihre Erscheinungen Auskunft geben.
Damit hat Nikolaus natürlich eine vollständige reductio ad absurdum
durchgeführt. Jeder noch so simplen Erkenntnis von Gegenständen und
Ereignissen in der materiellen Welt ist gleichsam der Boden entzogen.
Bernhards Position mündet in einen vollständigen Solipsismus und Außen-
welt-Skeptizismus: Jede Person kann nur noch bezüglich ihrer eigenen
Erscheinungen einen Erkenntnis- und Wissensanspruch erheben, sie kann
aber kein Wissen bezüglich irgendwelcher Gegenstände in der materiellen
Welt beanspruchen. Eine solche Position kann nicht der Ausgangspunkt
für eine angemessene Wissenstheorie sein. Daher muss eine neue Position
erarbeitet werden, die keine Kluft zwischen Sein und Schein aufreißt und
zeigt, wie unsere Erscheinungen ein sicheres Fundament für das Wissen von
einer materiellen Welt bieten können.
Doch wie könnte sich Bernhard gegen das verheerende Fazit zur Wehr
setzen, das Nikolaus zieht? Wie könnte er versuchen, an seiner Theorie der
intuitiven Erkenntnis festzuhalten und trotzdem den Solipsismus und die
skeptischen Konsequenzen zu vermeiden? Auf den ersten Blick bieten sich
zwei Verteidigungsstrategien an. Bernhard könnte zunächst versuchen,
eine ganz bestimmte Art von Erscheinungen als veridische Erscheinungen
zu charakterisieren (etwa wie die Stoiker die kataleptischen Eindrücke als
veridisch bestimmten) und diese als Wissensgrundlage zu bestimmen. Der
entscheidende Punkt, so könnte er sagen, besteht darin, die Erscheinungen
Vgl. Correspondence I.14 (ed. de Rijk 1994, 54).
24
Correspondence I.14 (ed. de Rijk 1994, 54): „Similiter nescitis que sunt intra vos, ut si
25
genau zu inspizieren und nur jene zurückzubehalten, die sich aufgrund be-
sonderer innerer Merkmale als veridisch auszeichnen. Sind diese einmal be-
stimmt, lässt sich zeigen, dass zumindest einige Erscheinungen existierende
Gegenstände korrekt darstellen. Und dann lässt sich auch zeigen, dass wir
auf der Grundlage einiger Erscheinungen durchaus ein Wissen von der
materiellen Welt gewinnen können.
Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass Bernhard ein solcher Ar-
gumentationsweg nicht offen steht. Denn anhand welcher Merkmale sollten
die veridischen Erscheinungen bestimmt und von den nicht-veridischen
unterschieden werden? Bernhard hält ja an der oben zitierten Stelle aus-
drücklich fest, dass nicht irgendeine, sondern die klare intuitive Erkennt-
nis einen Gegenstand ganz unabhängig von seiner wirklichen Existenz
oder Nicht-Existenz als existierend darstellt. 26 Er kann somit nicht auf die
Klarheit als das entscheidende Merkmal der veridischen Erscheinungen
verweisen. Da er zudem betont, dass jede Erscheinung falsch sein kann, 27
kann er auch kein anderes inneres Merkmal angeben. Ganz gleichgültig,
wie intensiv oder deutlich eine Erscheinung ist, es könnte immer sein, dass
sie nicht veridisch ist. Das bereits genannte Beispiel einer Sinnestäuschung
macht dies sofort deutlich. Wenn ich einen hellen Kreis in der Luft sehe, ist
die Erscheinung, die ich in diesem Moment habe, nicht nur klar, sondern
auch intensiv, deutlich und von anderen Erscheinungen distinkt – trotzdem
ist sie irreführend. Kein inneres Merkmal hilft mir, diese nicht-veridische
Erscheinung von einer veridischen zu unterscheiden. Gleiches gilt für den
Fall der göttlichen Manipulation. Gott könnte mir eine Erscheinung von
einem hellen Kreis eingeben, die genauso perfekt ist wie eine veridische Er-
scheinung und die gleichen inneren Merkmale aufweist – trotzdem wäre sie
irreführend. Es hilft somit nicht weiter, auf besondere innere Merkmale zu
verweisen. Psychologische Merkmale wie Klarheit oder Deutlichkeit sind
keine Wahrheitsgaranten. 28
26
Vgl. Anm. 17.
27
Correspondence I.3 (ed. de Rijk 1994, 46; Kursivierung D.P.): “Omnis apparentia nostra
quam habemus de existentia obiectorum extra, potest esse falsa ...“
28
Sie wären erst dann Wahrheitsgaranten, wenn gezeigt würde, dass es einen übergeord-
neten Mechanismus oder eine Instanz gibt, die verbürgt, dass all das, was klar und deutlich
ist, tatsächlich wahr ist. Descartes wählt bekanntlich diese Strategie, indem er Gott als über-
geordneten Garanten bestimmt. Doch nichts deutet darauf hin, dass Bernhard ebenfalls diese
Strategie verfolgt. Selbst wenn er sie wählte, wäre das Hauptproblem damit nicht beseitigt. Es
würde sich nämlich sogleich die Frage stellen, wie denn gezeigt werden kann, dass es tatsäch-
lich einen solchen übergeordneten Garanten gibt. Descartes setzt sich mit seinem Nachweis
bekanntlich dem Vorwurf der Zirkularität aus, wie bereits seine ersten Kritiker bemerkten;
vgl. Obj. II und IV (AT VII, 124–125 und 214). Denn einerseits behauptet er, wir hätten eine
klare und deutliche Idee von Gott; andererseits betont er, erst Gott sei der Garant dafür,
dass die klaren und deutlichen Ideen auch wahr sind. Angesichts dieser Schwierigkeit ist der
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Rekurs auf innere Merkmale von Ideen oder Erscheinungen stets problematisch. Es stellt
sich immer die Frage, wie denn eine Wahrheitsgarantie für ein rein psychologisches Merkmal
gefunden werden kann.
29
Vgl. Correspondence I.5 (ed. de Rijk 1994, 48).
30
Vgl. Correspondence I.7 (ed. de Rijk 1994, 50).
31
Natürlich können wir überprüfen, ob normale Sichtverhältnisse, korrekt funktionierende
Sinnesorgane usw. vorliegen. Doch die empirische Überprüfung kann selber wieder infrage
gestellt werden. Wie wissen wir denn, dass wir die Überprüfung unter normalen Bedingungen
vornehmen? Könnte es nicht sein, dass wir genau dann, wenn wir etwa die Sichtverhältnisse
prüfen, einer Sinnestäuschung oder gar einer Manipulation Gottes ausgesetzt sind? Für jede
Prüfung kann die Validität der empirischen Methode bezweifelt werden.
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habe, kann ich nie sagen: ‚Ich bin mir gewiss, dass etwas Weißes existiert.‘
Ich bin höchstens zu folgender Aussage berechtigt: ‚Ich glaube, dass etwas
Weißes existiert; denn wenn ich glaube, dass normale Bedingungen vorlie-
gen, kann ich auch glauben, dass meine Erscheinung von etwas Weißem ver-
ursacht wurde und mir somit Aufschluss über etwas existierendes Weißes
gibt.‘ Entscheidend ist in dieser ganzen Argumentation, dass Nikolaus nicht
bestreitet, dass wir auf normale Bedingungen hinweisen können. Dass aber
derartige Bedingungen vorliegen, kann höchstens geglaubt werden. Daher
kann auch all das, was davon abhängt, keinen stärkeren epistemischen Wert
haben.
Hier zeigt sich ein Kerngedanke, der sich wie ein Leitmotiv durch Ni-
kolaus’ ganze Auseinandersetzung mit Bernhard zieht: Bloßes Glauben ist
als Wissensgrundlage zu schwach. Eine solche Grundlage muss Gewissheit
garantieren. Doch wie lässt sich eine solche Grundlage etablieren? Am Ende
seines ersten Briefes an Bernhard gibt Nikolaus eine knappe Antwort auf
diese Frage:
„Um derartige Absurditäten zu vermeiden, habe ich daher in Disputationen in der
Aula der Sorbonne die These vertreten, dass ich mir der Objekte der fünf Sinne und
meiner Akte gewiss bin.“32
Offensichtlich rekurriert Nikolaus auf etwas, was nicht bloß geglaubt wird,
sondern gewiss ist: die Objekte der fünf Sinne und die eigenen Akte. Nun
ist die These, dass die eigenen Akte – zumindest die mentalen Akte – gewiss
sind, durchaus einleuchtend. Wenn ich an etwas denke, ist es absolut gewiss,
dass ich denke, was auch immer der Inhalt des Denkens sein mag. Der bloße
Vollzug des Denkaktes garantiert nämlich, dass dieser Akt auch existiert.
Es gibt hier keine Kluft zwischen einem bloß erscheinenden und einem
wirklichen Akt.34 Daher kann jede Täuschung ausgeschlossen werden. Doch
32
Correspondence I.15 (ed. de Rijk 1994, 56): „Et ideo, ad evitandum tales absurditates,
sustinui in aula Sorbone in disputationibus quod sum certus evidenter de obiectis quinque
sensuum et de actibus meis.“
33
Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 237, Z. 48–49): „Quarta decima conclusio est quod
omne illud quod est evidens sensibus exterioribus est verum, si aliqua certitudo habeatur de
talibus objectis.“
34
Dies gilt natürlich nur für aktuell vollzogene Akte. Im Falle einer Erinnerung an frühere
Akte ist es immer möglich, dass es eine Kluft zwischen Sein und Schein gibt. So kann es mir
jetzt erscheinen, ich hätte gestern über ein mathematisches Problem nachgedacht; in Tat und
Wahrheit habe ich mich gestern aber nicht mit Mathematik befasst. Doch selbst für diesen
Fall einer falschen Erinnerung gilt, dass es jetzt einen aktuell vollzogenen Akt gibt (nämlich
den Akt des Erinnerns), der gewiss ist.
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warum sollten die Objekte der fünf Sinne gewiss sein? Die Beispiele von
Sinnestäuschungen zeigen doch, dass in zahlreichen Fällen etwas erscheinen
kann, was nicht real existiert. Gerade bei den Objekten der fünf Sinne gibt
es immer wieder eine Kluft zwischen Sein und Schein. Daher ist es kaum
einleuchtend, hier von einer Gewissheit zu sprechen.
Würde Nikolaus pauschal behaupten, dass die Objekte der fünf Sinne
gewiss sind und das Wissensfundament bilden, wäre seine Position in der
Tat nicht überzeugend. Doch er formuliert eine differenzierte Position,
indem er ergänzt, dass nur unter bestimmten Bedingungen eine Gewissheit
besteht:
„Ich argumentiere folgendermaßen: Der Intellekt ist sich all dessen gewiss, was ihm
evident ist, und zwar letztlich evident bzw. gemäß einem sinnlichen Akt.“
„Es ist also wahrscheinlich, dass all das, was erscheint, wahr ist, nämlich das, was
im vollen Licht klar und evident ist.“35
Entscheidend ist, dass nicht alles, was den Sinnen präsent ist, gewiss ist, son-
dern nur das, was „letztlich evident“ oder „im vollen Licht klar und evident“
ist. Was ist darunter zu verstehen? Nikolaus formuliert drei Bedingungen,
die für diese Art von Evidenz erfüllt sein müssen.
Die erste Bedingung könnte man die Bedingung der unmittelbaren Präsenz
nennen. Nur wenn ein Gegenstand unmittelbar gegenwärtig ist und von den
Sinnen direkt erfasst wird, ist er „letztlich evident“. Nikolaus gibt dafür ein
anschauliches Beispiel.36 Wenn jemand von anderen Leuten hört, dass Rom
eine große Stadt ist, verfügt er nicht über eine letzte Evidenz. Erst wenn diese
Person selber in Rom ist und die Stadt sieht, hat sie diese Art von Evidenz.
Wichtig ist hier, dass es eine direkte empirische Evidenz geben muss. Weder
die Zeugnisse anderer noch Erinnerungen sind zulässig. Auch bloße induktive
oder deduktive Herleitung verbürgt keine unmittelbare Präsenz.
Diese Bedingung reicht freilich nicht aus, wie die Sinnestäuschungen
zeigen. So kann etwa ein ungebrochener Holzstab direkt im Wasser vor mir
liegen und ich kann ihn direkt sehen. Trotzdem gewinne ich dann den fal-
schen Eindruck, dass er gebrochen ist. Daher muss eine zweite Bedingung
erfüllt sein, die man als die Bedingung der angemessenen Wahrnehmungs-
situation bezeichnen könnte. Nikolaus betont, dass drei Teilbedingungen
zu berücksichtigen sind:37 (i) Das Medium, das den Wahrnehmungsgegen-
35
Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 228, Z. 21–23): „Arguo sic: de omni eo intellectus est
certus quod est sibi evidens et ultimate evidens vel ipsi secundum actum sensus.“ Ibid., 230,
Z. 17–18: „Probabile igitur est quod omne illud quod apparet est verum, scilicet quod est
clarum et evidens in pleno lumine...“ Vgl. auch ibid., 234, Z. 2–3.
36
Vgl. Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 228, Z. 26–28).
37
Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 228, Z. 36–37): „Verum est suppositis tribus: debita dis-
positione medii, organi et distantiae inter potentiam et objectum.“
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§ 29 Kriterieller Fundamentalismus
45
Wie Grellard 2005, 52, zu Recht bemerkt, wählt Nikolaus hier eine Zwischenposition
zwischen Aureoli und Ockham. Denn wie Aureoli erklärt er die nicht-veridischen Wahr-
nehmungen mit Verweis auf eine dritte Entität (Aureoli spricht von einem Gegenstand mit
esse apparens, Nikolaus von einer imago). Wie Ockham hingegen erklärt er die veridischen
Wahrnehmungen ohne Verweis auf eine solche Entität. Trotz dieser Anlehnung an zwei
bestehende Erklärungsmodelle darf freilich nicht übersehen werden, dass Nikolaus sich in
einem entscheidenden Punkt von beiden abgrenzt. Während Aureoli und Ockham veridische
und nicht-veridische Wahrnehmungen mit einem einheitlichen Modell erklären, insistiert
Nikolaus darauf, dass unterschiedliche Modelle erforderlich sind: im veridischen Fall ein
Modell der direkten Wahrnehmung, im nicht-veridischen hingegen ein Modell der durch ein
Bild vermittelten Wahrnehmung.
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nicht sein, dass die veridischen Erscheinungen selbst durch eine sorgfältige
Prüfung nicht mit Sicherheit bestimmt werden können? Es ist doch denk-
bar, dass wir alle einer kollektiven Täuschung zum Opfer fallen, wenn wir
feststellen wollen, ob eine angemessene Wahrnehmungssituation vorliegt.
Ebenso ist es denkbar, dass wir alle bloß träumen, die Erscheinungen seien
klar. Oder es ist denkbar, dass der allmächtige Gott uns ganz klare Erschei-
nungen eingibt, die uns unmittelbar dazu bringen, ein Existenzurteil zu
fällen. Mit seinem Verweis auf äußere und innere Faktoren vermag Nikolaus
derartige Szenarien nicht zu widerlegen. Wir können immer nur glauben,
dass die erforderlichen Bedingungen erfüllt sind und dass somit eine nor-
male Wahrnehmungssituation besteht. Auf der Grundlage eines Glaubens
lässt sich aber immer nur ein weiterer Glaube und kein Wissen gewinnen,
wie Nikolaus selber gegenüber Bernhard feststellt. Wie kann er dann an sei-
ner These festhalten und beweisen, dass die genannten Bedingungen erfüllt
sind, sodass wir tatsächlich über veridische Erscheinungen verfügen?
Ein endgültiger Beweis ist hier in der Tat nicht möglich, wie Nikolaus
unumwunden zugibt:
„Darauf gäbe es wohl eine Art zu antworten: Es besteht kein Mittel, mit dem man
die Schlussfolgerung beweisen könnte. Wer aber über den Begriff der Gewiss-
heit verfügt, hat ihn aufgrund einer gewissen natürlichen Folge, nicht durch eine
Schlussfolgerung. Ein Beispiel dafür in einem anderen Bereich lautet: Weiße und
Schwärze unterscheiden sich. Der Begriff des Unterschiedes wird nicht durch eine
Schlussfolgerung erfasst ...“46
Nikolaus weist hier auf einen entscheidenden Punkt hin. Es gibt keinen
hieb- und stichfesten Beweis, mit dem Täuschungsszenarien ein für allemal
ausgeschlossen werden können. Theoretisch gesehen ist es immer möglich,
dass wir alle einem kollektiven Irrtum verfallen oder nur träumen, die
Bedingungen für eine Erscheinung „im vollen Licht“ seien erfüllt. Daher
kann es keinen theoretischen Beweis geben, der uns zu dem Schluss führt,
dass wir tatsächlich eine veridische Erscheinung haben. Doch praktisch
gesehen lässt sich durchaus zeigen, dass eine solche Erscheinung vorliegt.
Denn genau wie wir jemanden, der den Unterschied zwischen Weiß und
Schwarz nicht kennt, einfach mit weißen und schwarzen Gegenständen
konfrontieren können, sodass er durch eine „natürliche Folge“ zur Einsicht
gelangt, dass es hier einen relevanten Unterschied gibt, können wir auch den
radikalen Skeptiker mit verschiedenen Wahrnehmungssituationen konfron-
46
Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 232, Z. 24–28): „Ad hoc esset unus modus dicendi quod
nullum esset medium ad probandum conclusionem, sed conceptus certitudinis, qui habetur,
habetur consecutione quadam naturali non per modum conclusionis. Exemplum in aliis
quod albedo et nigredo distinguantur; iste conceptus distinctionis non accipitur per modum
conclusionis ...“
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tieren. Auch er wird durch eine „natürliche Folge“ zur Einsicht gelangen,
dass es einen Unterschied zwischen veridischer und nicht-veridischer Wahr-
nehmung gibt, denn auch er wird wohl oder übel zugeben müssen, dass eine
Wahrnehmung unter günstigen oder ungünstigen Bedingungen, mit oder
ohne Klarheit, entstehen kann.
Natürlich könnte ein Skeptiker sogleich einwenden, dass dies eine sehr
schwache Verteidigung ist. Denn könnte es nicht sein, dass wir uns in der „na-
türlichen Folge“ täuschen? Es ist doch gut möglich, dass wir zwar einen Un-
terschied zwischen verschiedenen Bedingungen treffen, aber nicht jenen, der
für das Zustandekommen von veridischen Wahrnehmungen ausschlaggebend
ist. So kann ich etwa feststellen, dass ein Gegenstand einmal im Morgenlicht
und einmal im Abendlicht gesehen wird. Doch dieser Unterschied spielt keine
Rolle, da der fragliche Gegenstand in beiden Situationen klar gesehen wird.
Zudem ist es möglich, dass ich zwar den relevanten Unterschied feststelle, aber
mich trotzdem irre, weil ich durch die „natürliche Folge“ gleichsam überrum-
pelt werde und vorschnell meine, es würden günstige Wahrnehmungsbedin-
gungen vorliegen. Wenn ich etwa eine Statue einmal aus hundert Metern Ent-
fernung und einmal aus zehn Metern Entfernung sehe, meine ich sogleich, die
kurze Distanz sei die angemessene. Trotzdem irre ich mich, weil ich die Statue
selbst aus dieser Entfernung nicht genau zu erkennen vermag. Die „natürliche
Folge“ ist ja bloß ein psychischer Vorgang, der noch keineswegs eine korrekte
Bestimmung der angemessenen Wahrnehmungsbedingungen garantiert. Eine
solche Bestimmung wäre nur möglich, wenn mithilfe eines neutralen Kriteri-
ums evaluiert werden könnte, ob durch die „natürliche Folge“ auch tatsächlich
die relevanten Wahrnehmungsbedingungen auf korrekte Weise unterschieden
werden. Doch genau dieses Kriterium fehlt.
In der Tat liefert Nikolaus kein Kriterium, das ein für allemal jede Täu-
schungsmöglichkeit ausschließt. Er verfolgt aber auch nicht das Ziel, ein
solches Kriterium zu formulieren. Wie bereits festgehalten wurde, will er ja
gar nicht beweisen, dass genau jene Bedingungen vorliegen, die eine veridi-
sche Wahrnehmung ermöglichen. Sein Ziel besteht nur darin, auf ein Fak-
tum hinzuweisen, das selbst ein Skeptiker anerkennen muss: Ob wir wollen
oder nicht, wir treffen durch eine „natürliche Folge“ eine Unterscheidung
zwischen verschiedenen Wahrnehmungsbedingungen und verdeutlichen da-
durch, dass wir über eine natürliche Veranlagung verfügen, die es uns erlaubt,
zwischen einzelnen Situationen zu differenzieren. Diese Veranlagung bietet
zwar keine absolute Gewähr dafür, dass wir die richtige Differenzierung vor-
nehmen, aber sie ermöglicht uns doch, eine radikale Skepsis zurückzuweisen.
Nikolaus’ eigener Vergleich mit der Fähigkeit, zwischen weißen und schwar-
zen Gegenständen zu unterscheiden, mag dies verdeutlichen. Angenommen,
ein Skeptiker bezweifelt radikal, dass wir verschiedene Farben unterscheiden
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können. Daraufhin weisen wir ihn auf das simple Faktum hin, dass wir
doch ganz natürlich und spontan zwischen schwarzen und weißen Gegen-
ständen unterscheiden, und zwar bevor wir die entsprechenden Farbwörter
gelernt haben. Unser Sinnesapparat ist so angelegt, dass er uns (genauso wie
den Tieren) eine Differenzierung zwischen dunklen und hellen Flecken er-
möglicht. Zwar bietet dies noch keine Garantie dafür, dass wir immer die
richtige Differenzierung vornehmen. Aber wir kämen gar nicht dazu, eine
Differenzierung vorzunehmen, wenn es nicht in den Gegenständen selbst
reale Differenzen gäbe. Ähnlich gilt auch für die Bestimmung der Wahr-
nehmungsbedingungen: Wir kämen gar nicht dazu, durch eine „natürliche
Folge“ die angemessenen Wahrnehmungsbedingungen zu bestimmen, wenn
es nicht in der Welt unterschiedliche Bedingungen gäbe, von denen die einen
eine veridische Wahrnehmung ermöglichen und die anderen nicht.
Nikolaus begnügt sich allerdings nicht mit dieser Plausibilisierungsstra-
tegie. Er führt auch ein Argument an, das verdeutlicht, in welche Sackgasse
der Skeptiker gerät, wenn er einen endgültigen Beweis für den veridischen
Charakter der Wahrnehmungen „im vollen Licht“ fordert.47 Sobald man einen
Beweis formulieren will, so hält Nikolaus fest, muss man Prämissen formulie-
ren. Doch mit welchem Recht darf man annehmen, die Prämissen seien wahr?
Auf diese Frage sind drei Antworten möglich. Man könnte erstens versuchen,
einen weiteren Beweis zu formulieren, mit dem die Wahrheit der Prämissen
nachgewiesen wird. Damit würde man sich aber unweigerlich in einen Regress
begeben. Denn für jeden Beweis könnte ein weiterer Beweis gefordert wer-
den, mit dem die Wahrheit der jeweiligen Prämissen nachgewiesen wird. Um
diesem Problem zu entgehen, könnte man eine zweite Antwort formulieren
und behaupten, die Prämissen seien einfach an sich wahr. Dies wäre aber nicht
mehr als eine dogmatische Behauptung. Um dieser unattraktiven Lösung zu
entgehen, könnte man schließlich drittens sagen, die Prämissen seien evident
und deshalb wahr. Damit würde man sich aber in einen Zirkel begeben. Ei-
nerseits würde man nämlich behaupten, die evidenten Wahrnehmungen „im
vollen Licht“ seien veridisch, weil es einen Beweis mit wahren Prämissen für
sie gibt. Andererseits würde man sagen, die Prämissen seien wahr, weil sie
evident sind. Kurzum: Evidenz würde mit Verweis auf Wahrheit gerechtfer-
tigt und Wahrheit mit Verweis auf Evidenz. Aus diesem Grund bietet auch die
dritte Antwort keinen Ausweg aus der skeptischen Sackgasse.
Mit diesem Verweis auf die Unmöglichkeit einer letzten Rechtfertigung
macht Nikolaus auf das berühmte Rechtfertigungstrilemma aufmerksam,
das bereits in der antiken Skepsis zitiert wurde.48 Wer eine letzte Rechtfer-
Vgl. Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 237, Z. 1–7).
47
Vgl. Sextus Empiricus, PH I, 164–169. Nikolaus verweist jedoch nicht auf diesen Text.
48
tigung geben will, scheitert unweigerlich, weil er (1) für jede Rechtfertigung
eine weitere liefern muss und dadurch in einen infiniten Regress gerät
oder (2) dogmatisch eine Rechtfertigung als die letzte behauptet, damit
aber nichts beweist, oder (3) sich in einem Zirkel verfängt, indem er eine
Rechtfertigung mit Verweis auf eine andere rechtfertigt. Da es nur diese
drei Optionen gibt, kann eine letzte Rechtfertigung nicht gelingen. Genau
aus diesem Grund weist Nikolaus die Forderung zurück, es müsse einen
letzten Beweis dafür geben, dass die Wahrnehmungen „im vollen Licht“
tatsächlich veridisch sind. Dies kann aufgrund der praktischen Erfahrung
nur angenommen und nicht bewiesen werden. Nikolaus sagt sogar, es müsse
„als ein Prinzip angenommen werden“, dass etwas wahr ist.49 Damit stellt er
nicht die dogmatische Behauptung auf, es gebe veridische Wahrnehmungen,
die gleichsam selbst-evident sind. Er stellt einfach fest, dass es ohnehin
keinen letzten Beweis für den veridischen Charakter gibt und dass es daher
aus praktischen Gründen geboten ist, das Prinzip „Was im vollen Licht er-
scheint, ist wahr“ als Grundprinzip zu akzeptieren. Dieses Prinzip kann
indessen nur angenommen und nicht bewiesen werden.
Mit diesem Rekurs auf ein unbewiesenes Prinzip macht Nikolaus einen
geschickten Schachzug. Anstatt sich auf das Spiel des Skeptikers ein-
zulassen, der eine letzte Rechtfertigung fordert, stellt Nikolaus genau diese
Forderung infrage. Er wirft gleichsam den Ball an den Skeptiker zurück
und fragt: Warum müssen wir überhaupt eine letzte Rechtfertigung liefern?
Warum reicht es nicht aus, dass wir ein durch praktische Erfahrung gestütz-
tes Prinzip annehmen – ein Prinzip, das uns ermöglicht, die zahlreichen
Erscheinungen nach bestimmten Kriterien zu testen und so eine Wissens-
grundlage zu finden? Es wäre doch unvernünftig, jeden Wissensanspruch
aufzugeben, nur weil es keine Letztbegründung gibt. Sieht der Skeptiker
dies ein, verschwindet auch seine obsessive Suche nach einer endgültigen
Widerlegung sämtlicher Täuschungsszenarien.
Versteht man Nikolaus’ antiskeptische Strategie auf diese Weise, wird
auch verständlich, warum er trotz seines fundamentalistischen Ansatzes
nicht behauptet, es gebe eine absolut sichere Wissensgrundlage. Er stellt
vorsichtig fest:
„Ich sage also: Wenn es für uns eine Gewissheit von den Dingen gibt, ist es wahr-
scheinlich, dass all das, was zu existieren scheint, existiert, und dass all das, was
wahr zu sein scheint, wahr ist.“50
49
Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 237, Z. 1–3): „... illa conclusio, quae est probata ex hy-
pothesi, suppositum quod aliquid sit verum, debet assumi ut principium ...“
50
Exigit ordo (ed.O’Donnell 1939, 228, Z. 18–20): „Dico igitur si aliqua certitudo nobis
insit de rebus quod probabile est quod omne illud quod apparet esse sit, et quod omne illud
quod apparet esse verum sit verum.“ Auch in der in Anm. 33 zitierten vierzehnten These
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sagt Nikolaus nicht absolut, dass all das, was den Sinnen evident ist, auch wahr ist. Er fügt
einschränkend hinzu: „... wenn es denn von solchen Objekten eine Gewissheit gibt.“ Das
heißt: Wenn überhaupt festgestellt werden kann, dass die Bedingungen für Gewissheit erfüllt
sind, und wenn somit etabliert werden kann, dass Gewissheit besteht, dann kann behauptet
werden, dass die Erscheinungen „im vollen Licht“ veridisch sind. Denery 2005, 154, stellt
daher zu Recht fest, dass Nikolaus keine absolute These vertritt, sondern „the most probable
hypothesis“ vorstellt.
51
Art. 43 in Correspondence, Appendix B (ed. de Rijk 1994, 182): „Dixi semel in vico Stra-
minum quod non potest evidenter ostendi quin omnia que apparent, sint vera.“
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einander klaffen: Aus der Tatsache, dass uns etwas auf eine bestimmte
Weise erscheint, können wir nicht schließen, dass es auch so ist. Liest man
diese These aber im Kontext des kriteriellen Fundamentalismus, ist sie
vielmehr so zu verstehen, dass nicht unkritisch alles, was erscheint, gleich
für wahr gehalten werden darf; nicht jede Erscheinung ist veridisch. Wenn
die Erscheinungen aber geprüft werden, stellt sich heraus, dass zumindest
einige von ihnen – genau jene, die „im vollen Licht“ erworben werden – den
Kriterien für veridische Erscheinungen genügen. Diese und nur diese Er-
scheinungen sind dann als Wissensgrundlage zu wählen. Nikolaus vertritt
mit der zitierten These also keinen radikalen Skeptizismus, sondern er
versucht gerade umgekehrt, skeptische Einwände gegen die fundierende
Funktion der Erscheinungen zurückzuweisen. Aus der Tatsache, dass einige
Erscheinungen nicht veridisch sind, darf nämlich nicht gefolgt werden, dass
gleich alle unbrauchbar sind. Und aus der Tatsache, dass sie kein absolut
sicheres, mit einer Letztbegründung gefestigtes Wissensfundament dar-
stellen, folgt keineswegs, dass sie kein Fundament bilden.
Ein Skeptiker könnte sich aber immer noch nicht geschlagen geben und
folgenden Einwand gegen Nikolaus’ gesamtes Projekt der Suche nach fun-
dierenden Erscheinungen vorbringen: Es mag wohl sein, dass wir durch ein
kriterielles Vorgehen einige Erscheinungen bestimmen können, die wir als
Wissensgrundlage verwenden. Aber wer garantiert, dass diese Erscheinun-
gen, mögen sie noch so sorgfältig geprüft sein, tatsächlich die Gegenstände
so darstellen, wie sie sind? Es könnte doch immer sein, dass die Erschei-
nungen zwar unter den bestmöglichen Bedingungen erworben werden und
miteinander übereinstimmen, aber trotzdem die Gegenstände nicht korrekt
darstellen. Eine optimale Genese und Kohärenz der Erscheinungen gewähr-
leistet noch keinen veridischen Charakter.
Nikolaus scheint sich eines solchen möglichen Einwandes bewusst zu
sein. Er betont nämlich, dass sich selbst bei einer optimalen Erscheinung
immer noch die Frage stellt, in welcher Relation sie zu einem Gegenstand
steht. Das viel zitierte Beispiel des Holzstabes möge diese Frage veranschau-
lichen. Angenommen, der Holzstab liegt auf trockenem Boden vor mir, ich
sehe ihn aus drei Metern Distanz, meine Sehkraft ist ausgezeichnet und
meine Erscheinung ist klar. Kann ich dann sicher sein, dass meine Erschei-
nung den realen Holstab korrekt darstellt? Habe ich eine Gewähr dafür, dass
tatsächlich eine Korrespondenzbeziehung vorliegt? Nikolaus zufolge lässt
sich diese Frage nur positiv beantworten, wenn eine notwendige Relation
zum Holzstab angenommen wird, denn nur dann muss die Erscheinung den
Holzstab so darstellen, wie er ist. 52 Liegt lediglich eine kontingente Relation
Exigit ordo (ed. O‘Donnell 1939, 230, Z. 38–41): „Igitur oportet quod habeat habitudi-
52
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vor, kann sie ihn korrekt darstellen oder auch nicht. Doch wie ist eine not
wendige Relation möglich? Nikolaus’ Antwort auf diese Frage ist eindeutig:
nur wenn die Erscheinung und der dargestellte Gegenstand identisch sind.
Die Übereinstimmung einer Erscheinung mit dem Gegenstand kommt
nämlich nur dadurch zustande, dass ein und derselbe Gegenstand sowohl
in der sinnlichen Erscheinung als auch in der materiellen Welt existiert.53
Magister Aegidius, der Nikolaus’ epistemologische Theorie darstellte und
kritisierte, stellte bereits fest, dass dies eine seiner Kernthesen ist:
„Euren Aussagen zufolge ist es notwendig, dass die intuitive Erkenntnis mit dem
erkannten Gegenstand identisch ist. Andernfalls würde nicht folgen: ‚Ein Gegen-
stand erscheint auf intuitive Weise; also existiert der Gegenstand‘.“54
Nur wenn meine Erscheinung vom Holzstab mit dem Holzstab auf dem
Boden identisch ist, ist garantiert, dass der Holzstab auch existiert und in
der Erscheinung korrekt dargestellt wird. Diese Erklärung wirft freilich
mehr Probleme auf, als sie zu lösen vorgibt. Wie kann denn eine Erschei-
nung mit einem Gegenstand identisch sein? Die Erscheinung ist doch ein
mentaler Zustand, genauer gesagt: der Inhalt eines mentalen Zustandes. Der
Gegenstand hingegen ist eine materielle Identität. Wie kann etwas Mentales
mit etwas Materiellem identisch sein?
Zur Beantwortung dieser Frage greift Nikolaus auf eine Theorie zurück,
die bereits in den vorangehenden Kapiteln dargestellt wurde. Er behauptet,
dass ein und derselbe Gegenstand sowohl auf materielle Weise in der Außen-
welt als auch auf immaterielle Weise in der Erscheinung existieren kann. Mit
Rückgriff auf die von Scotus verwendete Terminologie sagt er auch, dass
der Gegenstand in der Erscheinung eine „objektive Existenz“ hat. Diese Art
von Existenz weist ein Gegenstand auf, sobald er zunächst in die Sinne und
dann in den Intellekt aufgenommen wird.55 Nikolaus betont daher, er ver-
stehe unter der objektiven Existenz bzw. dem objektiven Sein nichts anderes
als „das Sein eines Objekts, das eine gewisse Vermischung und untrennbare
nem necessariam, et si sic, poterit concludi per modum conclusionis; nam dato uno et inexi-
stente videntur inexistere omnia quae necessario sequuntur.“
53
Exigit ordo (O’Donnell 1939, 229, Z. 32–35): „... nam talis conformitas ad rem extra non
est nata esse in apparentia proprie nisi per extremum secundum quod magis attenditur, puta
secundum quod res actualiter existunt in se et ut cognitae per sensus exteriores.“
54
Correspondence III.14 (ed. de Rijk 1994, 84): „Secundum dicta vestra necesse est quod
cognitio intuitiva sit eadem cum re cognita, quia aliter non sequeretur ,res intuitive apparet;
ergo res est‘.“ Wie Grellard 2001, 26–27, nachgewiesen hat, wird auch in einer Handschrift
der British Library (Hs. Harley 3243, f. 134b), die Nikolaus’ Position in einer anonymen
Quaestio überliefert, genau diese Identität betont.
55
Nikolaus veranschaulicht diesen rezeptiven Vorgang am Beispiel der Weiße, die auf-
genommen wird und dann als Objekt des Intellekts existiert. Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939,
241, Z. 27–28): „... ipsa albedo recipitur ex parte subjecti secundum esse quod habet secundum
quod est objectum intellectus vel imaginationis ...“
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Verbindung mit dem Akt aufweist, sodass überall dort, wo ein Akt fest-
gesetzt wird, auch dieses objektive Sein festgesetzt wird.“56 Diese Verbin-
dung ist so perfekt, dass „der Akt eine gewisse Konfiguration (configuratio)
des Objekts im Intellekt ist.“57 Diese Aussagen wirken natürlich immer
noch reichlich obskur, aber sie lassen sich verstehen, wenn sie im Rahmen
einer scotisch inspirierten Theorie des Erkenntnisprozesses gelesen werden.
Wie in § 9 bereits deutlich geworden ist, geht Scotus von der Annahme aus,
dass der Intellekt in einem solchen Prozess nicht eine innere Repräsentation
gewinnt, die vom äußeren Gegenstand vollständig verschieden ist, sondern
den Gegenstand selbst aufnimmt und zum Inhalt einer intelligiblen Species
macht. Dieser Inhalt ist dann nichts anderes als der Gegenstand, der als Ob-
jekt des Intellekts und daher mit objektiver Existenz präsent ist. Hat der In-
tellekt den Gegenstand vollständig aufgenommen, verfügt er auch vollstän-
dig über ihn und wird durch ihn strukturiert bzw. „konfiguriert“. Genau
diesen Gedanken übernimmt Nikolaus von Scotus, wenn er von einer Kon-
figuration spricht. Dass der Akt des Intellekts durch einen Gegenstand kon-
figuriert wird, heißt nämlich nichts anderes, als dass er diesen Gegenstand
vollständig aufnimmt und durch ihn strukturiert wird. Der Intellekt eignet
sich den Gegenstand gleichsam an, indem er ihn mit objektiver Existenz in
sich aufnimmt. Freilich grenzt sich Nikolaus in einem Punkt von Scotus ab.
Während Scotus behauptet, der Intellekt benötige für diese Aneignung die
intelligible Species als eine besonderes kognitive Entität, vertritt Nikolaus
die Ansicht, dass eine solche Entität überflüssig ist.58 Er radikalisiert Scotus’
Theorie, indem er behauptet, bereits der Akt des Intellekts – nicht die in-
telligible Species, die der Intellekt erst herstellen und erfassen muss – werde
durch den Gegenstand konfiguriert. Die Grundaussage beider Autoren ist
aber die gleiche: Wenn der Intellekt den Gegenstand aufnimmt, hat dieser
eine zweifache Existenz, eine materielle in der Außenwelt und eine objektive
im Intellekt.
Mit dieser Theorie lässt sich nun die Frage beantworten, wie denn etwas
Mentales (der Inhalt einer Erscheinung) mit etwas Materiellem (einem
Gegenstand in der Außenwelt) identisch sein kann. Dies ist möglich, weil
der Inhalt der Erscheinung nichts anderes ist als der Gegenstand, der mit
objektiver Existenz im Intellekt ist. Es gibt hier nicht zwei distinkte Gegen-
stände, sondern zwei Existenzweisen eines Gegenstandes – es ist derselbe
Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 243, Z. 11–14): „... per esse objectivum intelligo illud
56
esse objecti quod habet quamdam copulationem et indivisionem cum actu, ita quod ubicum-
que ponitur actus, ponetur et illud objectivum esse ...“
57
Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 238, Z. 29–30): „... cum actus sit configuratio quaedam
objecti in intellectu.“
58
Vgl. zur Kritik an der Species-Theorie Grellard 2005, 123–125.
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Vgl. Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 195, Z. 5); zur realistischen Ontologie vgl. Kaluza
59
1998.
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vertreten worden ist. Weinberg behauptete, Nikolaus habe mit seinem Ver-
weis auf Erscheinungen „im vollen Licht“ zwar ein Wissensfundament ge-
schaffen, jedoch nur für ein Wissen von den eigenen „Bewusstseinsdaten“.
Dass diese Daten von äußeren Gegenständen verursacht werden und diese
korrekt darstellen, stehe in keiner Weise fest.60 Es ist leicht ersichtlich, dass
diese Interpretation auf einen Solipsismus hinausläuft: Zwar gibt es ein
Wissen, aber nur von den eigenen mentalen Daten. Ob und wie diese Daten
in einer Relation zu äußeren Gegenständen stehen, entzieht sich jedem
Wissen. Es wäre höchst erstaunlich, wenn Nikolaus sich auf diese Position
festlegte. Dann würde er ja genau das behaupten, was er an Bernhard von
Arezzos Theorie kritisiert, nämlich dass von den eigenen Erscheinungen nie
auf wirklich existierende Gegenstände geschlossen und nie ein Wissen von
diesen Gegenständen erworben werden kann. Dass er sicherlich nicht eine
solche Position vertritt, wird angesichts der Identitätstheorie deutlich. Wenn
nämlich der Inhalt einer Erscheinung und der äußere Gegenstand zwei In-
stantiierungen ein und derselben Entität sind, ist durch das Erfassen einer
Erscheinung immer auch ein Erfassen des äußeren Gegenstandes möglich.
Es gibt hier keine Kluft zwischen Schein und Sein.
Freilich ist zu betonen, dass dies nicht pauschal für alle Erscheinungen
gilt. Dies trifft nur auf die Erscheinungen „im vollen Licht“ zu, d.h. auf
jene, die sich in einem Prüfungsverfahren als veridische Erscheinungen he-
rausgestellt haben. Und selbst für diese Erscheinungen gibt es keinen letzten
Beweis, dass sie tatsächlich veridisch sind. Nikolaus behauptet ja nur, dass
es sehr wahrscheinlich ist, dass einige Erscheinungen veridisch sind. Des-
halb gilt auch für die ganze Argumentation, die auf eine Identitätsrelation
abzielt, dass damit nicht eine Letztbegründung geliefert wird. Es wird nur
eine Theorie vorgelegt, die eine konsistente und plausible Erklärung dafür
liefert, weshalb die Erscheinungen „im vollen Licht“ die Gegenstände
korrekt darstellen müssen. Doch mehr als hohe Plausibilität lässt sich hier
ohnehin nicht gewinnen.
Heißt dies, dass Nikolaus eine plausible Theorie dafür liefert, dass wir
uns aufgrund der veridischen Erscheinungen der Existenz von Holzstäben,
Bäumen und vielen anderen Dingen sicher sein können? Nicht ganz. Niko-
laus behauptet nur, dass wir uns der Gegenstände der fünf Sinne sicher sein
können. Dies sind aber nur die Sinneseigenschaften, d.h. Eigenschaften,
die jeweils einem Sinn (Farben, Töne, Geschmäcke usw.) oder mehreren
Sinnen (Größe, Figur usw.) zugänglich sind. Wenn ich etwa eine veridische
Erscheinung von einem Holzstab habe, kann ich nur wissen, dass etwa
60
Weinberg 1948 (Nachdruck 1969), 108: „The argument that a datum evidently exists and
is caused by natural causes, therefore, an external thing exists, is formally valid but useless
because there is not the slightest evidence for one of its premises.“
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Braunes, Hartes und Langes vor mir liegt. Ich verfüge aber nicht über eine
Basis, um zu wissen, dass es eine Substanz gibt, die als Trägerin für alle
wahrnehmbaren Eigenschaften fungiert. Die Substanz ist nämlich kein Ge-
genstand der fünf Sinne. Deshalb betont Nikolaus, Aristoteles habe niemals
ein Wissen von einer anderen Substanz als der eigenen Seele gehabt, „wenn
man unter einer Substanz ein Ding versteht, das von den Objekten der fünf
Sinne und von unseren formalen Erfahrungen verschieden ist.“61 Damit ver-
tritt Nikolaus nicht einen radikalen Außenwelt-Skeptizismus, wie man auf
den ersten Blick vermuten könnte. Er weist nur darauf hin, dass man genau
zwischen den unmittelbar präsenten Objekten der fünf Sinne und den bloß
vermuteten oder theoretisch hergeleiteten Entitäten unterscheiden muss.
Nur von den Objekten der fünf Sinne kann es Erscheinungen „im vollen
Licht“ geben. Und nur von ihnen kann es folglich ein Wissen im strengen
Sinne geben.62 Dies gilt auch für die Objekte der inneren Erfahrung. Streng
genommen kann man nicht wissen, dass der eigene Intellekt oder der Wille
existiert. Man kann nur wissen, dass Akte des Intellekts oder des Willens
existieren, denn nur diese Akte sind zu dem Zeitpunkt, zu dem sie voll-
zogen werden, absolut gewiss.63 Ob es einen Intellekt bzw. einen Willen als
verborgenen Träger der Akte gibt, entzieht sich der Erfahrung.
In diesem Punkt zeigt sich natürlich eine verblüffende Parallele zu Hume.
Denn genau wie Hume behauptet, er habe nie eine Seelensubstanz als Trä-
gerin der geistigen Perzeptionen wahrgenommen, sondern nur die einzelnen
Perzeptionen, stellt auch Nikolaus fest, dass ihm nur die einzelnen Akte des
Intellekts und des Willens gewiss sind, nicht aber Substanzen oder andere
versteckte Trägerinnen für diese Akte. Allerdings bestreitet Nikolaus nicht,
dass es einen Intellekt oder einen Willen gibt. Er stellt nur fest, dass er über
keine Gewissheit von ihrer Existenz verfügt und dass deshalb kein Wissen
im strengen Sinn möglich ist. Dies schließt aber nicht aus, dass es andere
epistemische Einstellungen – etwa begründetes Glauben, Vermuten oder
Annehmen – geben kann. Im Gegensatz zu Hume legt sich Nikolaus nicht
auf eine Bündeltheorie des Geistes fest.
61
Correspondence II.22 (ed. de Rijk 1994, 72): „... numquam Aristotiles habuit notitiam
evidentem de aliqua substantia alia ab anima sua, intelligendo ,substantiam‘ quandam rem
aliam ab obiectis quinque sensuum et a formalibus experientiis nostris.“
62
Thijssen 2000, 216, stellt daher prägnant fest: „Autrecourt is not a sceptic, but an empi-
ricist.“ Man könnte sogar von einem empiristischen Fundamentalismus sprechen: Nur was
der äußeren Erfahrung (wahrnehmbare Eigenschaften) oder der inneren Erfahrung (eigene
mentale Akte) direkt zugänglich ist, ist – abgesehen vom ersten Prinzip – ein sicheres Wis-
sensfundament.
63
Daher behauptet Nikolaus, dass eine Inferenz wie ‚Ein Akt des Verstehens existiert, also
existiert ein Intellekt‘ nicht evident ist. Vgl. Correspondence, Appendix B, art. 33 (ed. de Rijk
1994, 180).
Mit der Gewissheit von den eigenen Akten und den wahrnehmbaren
Eigenschaften hat Nikolaus sicherlich ein Fundament für sicheres Wissen
gelegt. Er kann nun den Skeptiker in die Schranken weisen, denn er vermag
ja zu zeigen, dass Wissen in bestimmten Bereichen möglich ist, auch wenn
dafür keine Letztbegründung gegeben werden kann. Doch das so etablierte
Wissen erweist sich bei näherer Betrachtung als sehr punktuell und auf einen
kleinen Bereich beschränkt. Man kann immer nur die Gewissheit einzelner
wahrnehmbarer Eigenschaften und Akte als Wissensgrundlage reklamieren.
Daher kann man nur Aussagen wie ‚Ich weiß, dass Süßes existiert‘ oder ‚Ich
weiß, dass ich jetzt gerade denke‘ treffen. Doch man ist nicht berechtigt, da-
rüber hinausgehende Wissensansprüche zu erheben. So darf man nie sagen:
‚Ich weiß, dass Zucker süß ist‘. Damit würde man die wahrgenommene Ei-
genschaft einer Substanz zuschreiben, für deren Existenz es keine Gewiss-
heit gibt. Ebenso wenig darf man sagen: ‚Ich weiß, dass das Essen von Zucker
die Geschmackswahrnehmung von etwas Süßem auslöst‘. Damit würde man
auf eine Kausalbeziehung verweisen, für deren Existenz es ebenfalls keine
Gewissheit gibt. Heißt dies, dass Wissen von kausalen Zusammenhängen
unmöglich ist? Um diese Frage zu beantworten, muss untersucht werden,
ob es noch eine andere Art von Gewissheit gibt, die Wissen fundiert. Erst
dann lässt sich beurteilen, wie weit die Wissensansprüche aufrechterhalten
werden können, indem sie auf eine sichere Grundlage gestellt werden, und
wie weit sie eingeschränkt oder gar aufgegeben werden müssen.
Correspondence II.3 (ed. de Rijk 1994, 58): „Omnis certitudo a nobis habita resolvitur in
64
istud principium.“
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auf die sich alle anderen Gewissheiten zurückführen lassen. Diese These
wirft sogleich zwei Fragen auf. Um welche Art von Prinzip handelt es sich
beim ersten Prinzip? Und wie lassen sich alle Gewissheiten auf die Gewiss-
heit dieses Prinzips zurückführen?
Betrachten wir zunächst die Erklärung des ersten Prinzips. Im zweiten
Brief an Bernhard von Arezzo führt Nikolaus es als ein logisches Prinzip
ein, indem er es folgendermaßen charakterisiert: „Das Erste, das sich in der
argumentativen Ordnung einstellt, ist folgendes Prinzip: Widersprüchliches
kann nicht gleichzeitig wahr sein.“65 Dies ist genau die Formulierung des
Prinzips der Widerspruchsfreiheit, die bereits Aristoteles verwendet hatte.66
Da nur Aussagesätze – nicht etwa einzelne Wörter oder beliebige Kom-
binationen von Wörtern – wahr oder falsch sein können, ist das Prinzip so
zu verstehen, dass kontradiktorische Aussagesätze nicht gleichzeitig wahr
sein können. Im Traktat Exigit ordo führt Nikolaus das erste Prinzip indes-
sen als epistemologisches Prinzip ein. Dort behauptet er: „Das Gegenteil
dessen, was klar und evident erkannt wird, kann nicht der Fall sein.“67 Hier
scheint es nicht mehr um Aussagesätze zu gehen, sondern um Gegenstände
der Erkenntnis. Wenn sie auf eine bestimmte Art und Weise erfasst werden
(nämlich evident und nicht obskur), sind zwei einander entgegengesetzte
Gegenstände nicht miteinander verträglich. In den verurteilten Artikeln
wird noch eine weitere Variante zitiert. Dort ist von einem ontologischen
Prinzip die Rede. Es heißt nämlich: „Dies und nicht etwas anderes ist das
erste Prinzip: ‚Wenn etwas existiert, existiert etwas.‘“68 Lässt sich angesichts
dieser drei verschiedenen Formulierungen überhaupt von einem einzigen
Prinzip sprechen? Liegen hier nicht drei verschiedene Prinzipien vor?
Betrachtet man die drei Formulierungen im historischen Kontext, ist es
nicht erstaunlich, dass Nikolaus verschiedene Varianten des ersten Prinzips
diskutiert. Bereits Siger von Brabant sprach von einer „dreifachen Form“
dieses Prinzips, und zahlreiche Autoren des späten 13. und frühen 14. Jhs.
diskutierten die logische Variante ebenso wie die epistemologische und die
ontologische.69 Nikolaus stellt aber nicht einfach verschiedene Varianten
lose nebeneinander. Er geht von einem einzigen Prinzip aus, das logischer
Natur ist: das Prinzip der Widerspruchsfreiheit. Dieses Prinzip hat jedoch
65
Correspondence II.2 (ed de Rijk 1994, 58): „Et primum quod occurrit in ordine dicendo-
rum est istud principium: ‚Contradictoria non possunt simul esse vera‘.“
66
Vgl. Met. IV, 6 (1011b13–14).
67
Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 235, Z. 39–41): „... hoc est verum, oppositum illius quod
clare et evidenter cognoscitur non potest inesse ...“
68
Correspondence, Appendix B (ed. de Rijk 1994, 200): „Quod hoc est primum principium,
et non aliud: ,si aliquid est, aliquid est‘.“
69
Vgl. Siger von Brabant, In Met. IV, q. 11 (ed. Maurer 1983, 150). Zu den Diskussionen bei
Thomas von Aquin, Duns Scotus und anderen Autoren vgl. Schönberger 1995.
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70
Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 235, Z. 39–42): „... si de aliquo intellectus possit dicere:
hoc est verum, oppositum illlius quod clare et evidenter cognoscitur non potest inesse, ita
quod universaliter et conversive quicquid est clarum et evidens intellectui est verum.“
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71
Vgl. Correspondence II.2 (ed. de Rijk 1994, 58).
72
Vgl. Correspondence III.34 (ed. de Rijk 1994, 96).
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73
Daher akzeptierten alle die These, dass es einen Bereich der „absoluten Unmöglichkeit“
(vgl. Courtenay 1985, 248) gibt: Gott kann nicht wollen, dass eine Aussage gleichzeitig wahr
und nicht wahr ist bzw. – ontologisch gewendet – dass ein Sacherverhalt gleichzeitig der Fall
und nicht der Fall ist.
74
Vgl. Correspondence II.6 (ed. de Rijk 1994, 60).
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zustimmen muss, wann immer man eine Aussage macht. Nikolaus vertritt
also lediglich – um einen Ausdruck aus der gegenwärtigen Debatte aufzu-
greifen – einen „minimalen Fundamentalismus“,75 wenn er behauptet, dass
das erste Prinzip die Grundlage für jedes Wissen ist. Er behauptet nicht,
dass es einen psychologisch sicheren oder privilegierten Zugang zu dieser
Grundlage gibt, sondern stellt nur fest, dass jeder, der eine beliebige Aus-
sage macht, diese Grundlage berücksichtigen muss.
Nun steht zwar fest, um welches Prinzip es sich beim ersten Prinzip
handelt. Doch die zweite der eingangs aufgeworfenen Fragen ist noch
unbeantwortet geblieben. Wie lässt sich jede Gewissheit auf die Gewiss-
heit des ersten Prinzips zurückführen? Wie kann die Gewissheit von den
wahrnehmbaren Eigenschaften und von den eigenen mentalen Akten auf
die Gewissheit des ersten Prinzips zurückgeführt werden? Um diese Frage
zu beantworten, ist es entscheidend, ein korrektes Verständnis von der ge-
forderten Rückführung (reductio) zu haben. Nikolaus fordert nicht eine
Rückführung in einem eliminativistischen Sinn. Seiner Ansicht nach muss
die Gewissheit von den wahrnehmbaren Eigenschaften und den eigenen
Akten nicht zugunsten der Gewissheit vom ersten Prinzip aufgelöst oder
zum Verschwinden gebracht werden. Es ist auch nicht erforderlich, dass alle
Aussagen über Gewissheit in Aussagen über die Gewissheit des ersten Prin-
zips übersetzt werden. Gefordert wird einzig und allein, dass jede Gewiss-
heit auf der Gewissheit des ersten Prinzips beruhen muss, sodass für jede
Gewissheit gezeigt werden kann, dass sie die Gewissheit des ersten Prinzips
voraussetzt. Genau dies ist im vorliegenden Fall ohne Weiteres möglich.
Wenn ich etwa eine veridische Erscheinung von etwas Weißem habe und
mir somit der Existenz von etwas Weißem gewiss bin, gilt: ‚Ich bin mir der
Existenz von etwas Weißem gewiss‘ ist wahr, und das kontradiktorische
Gegenteil davon ist nicht wahr. Ähnlich gilt für die Gewissheit der eigenen
Akte: ‚Ich bin mir der Existenz eines Denkaktes gewiss‘ ist wahr, und das
kontradiktorische Gegenteil davon ist nicht wahr.
Versteht man die geforderte Rückführung in diesem Sinn, zeigt sich, dass
Nikolaus nicht die Strategie verfolgt, jede Gewissheit in die rein formale
Gewissheit ‚p und nicht-p sind nicht gleichzeitig wahr‘ aufzulösen und
nur noch diese Art von Gewissheit als Wissensgrundlage zu akzeptieren.
Würde er dies tun, würde er ja nur über eine Grundlage für logisches Wis-
sen verfügen. Dies ist aber nicht sein Ziel. Er will lediglich zeigen, dass jede
Gewissheit die formale Gewissheit des ersten Prinzips voraussetzt, aber er
akzeptiert durchaus, dass es Gewissheiten gibt, die über diese formale Ge-
wissheit hinausgehen und die Grundlage für Wissen von konkreten Sach-
75
Vgl. Alston 1989, 43–44.
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verhalten bilden. So bildet die Gewissheit von etwas Weißem, die ich durch
eine veridische Erscheinung gewinne, die Grundlage für ein Wissen davon,
dass etwas Weißes vor mir liegt. Und die Gewissheit von einem Denkakt
bildet die Grundlage für das Wissen, dass ich jetzt gerade denke. In beiden
Fällen handelt es sich um weit mehr als ein logisches Wissen. Es liegt ja ein
Wissen von der Außenwelt (dass etwas Weißes existiert) ebenso wie von der
mentalen Innenwelt (dass ein Denkakt existiert) vor. Daher könnte man
sagen, dass Nikolaus trotz der geforderten Rückführung jeder Gewissheit
auf jene des ersten Prinzips drei Wissensgrundlagen unterscheidet:
(1) die Gewissheit vom ersten Prinzip: formale Gewissheit und Vorausset-
zung für jede andere Form von Gewissheit
(2) die Gewissheit von den wahrnehmbaren Eigenschaften: inhaltliche
Gewissheit aufgrund der äußeren Erfahrung
(3) die Gewissheit von den eigenen Akten: inhaltliche Gewissheit aufgrund
der inneren Erfahrung.
Dies sind die drei Säulen der Gewissheit, auf denen das ganze Wissen be-
ruht. Nun stellt sich allerdings die Frage, wie tragfähig diese Säulen sind.
Welches Wissen ist auf ihrer Grundlage möglich? Und welches Wissen ist
ausgeschlossen? Dass ein punktuelles Wissen von einzelnen wahrnehm-
baren Eigenschaften und einzelnen Akten möglich ist, ist bereits am Ende
von § 29 festgestellt worden. Doch ist darüber hinaus auch ein Wissen von
kausalen Zusammenhängen möglich? Kann ich etwa aufgrund einer ve-
ridischen Erscheinung nicht nur wissen, dass etwas Weißes vor mir liegt,
sondern auch, dass ein Gegenstand – z.B. ein Schneeball – eine Weiß-Wahr-
nehmung in mir ausgelöst hat? Ein solches Wissen würde auf folgender
Überlegung beruhen: Wenn ein Schneeball vor mir liegt, verursacht er eine
Weiß-Wahrnehmung in mir. Bei dieser Überlegung handelt es sich um eine
Inferenz der Form ‚Wenn p, dann q‘. Ein Wissen habe ich Nikolaus zufolge
allerdings nur, wenn diese Inferenz evident ist und auf die Gewissheit des
ersten Prinzips zurückgeführt werden kann. Und evident ist die Inferenz
nur, wenn sie folgende Bedingung erfüllt:
„In jeder evidenten Inferenz, die durch beliebig viele Schritte auf das erste Prinzip
rückführbar ist, ist der Folgesatz real identisch mit dem Vordersatz oder mit einem
Teil dessen, was durch den Vordersatz bezeichnet wird.“76
76
Correspondence II.10 (ed. de Rijk 1994, 64): „In omni consequentia evidenti, reducibili in
primum principium per quotvis media, consequens est idem realiter cum antecedente, vel cum
parte significati per antecedens.“
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durch diese Sätze Bezeichneten). Daher trifft die Bedingung auf beide Ebe-
nen zu und lässt sich folgendermaßen reformulieren:
(B) Die Inferenz ‚Wenn p, dann q‘ ist nur dann evident und auf das erste
Prinzip rückführbar, wenn q (bzw. das durch diesen Satz Bezeichnete)
mit p (bzw. mit dem durch diesen Satz Bezeichneten) ganz oder teil-
weise identisch ist.
Veranschaulichen wir dies anhand des genannten Beispiels. Die Inferenz
‚Wenn ein Schneeball vor mir liegt, verursacht er eine Weiß-Wahrnehmung
in mir‘ ist nur dann evident, wenn der Folgesatz mit dem Vordersatz
identisch ist bzw. wenn die durch die beiden Sätze bezeichneten Sachver-
halte identisch sind. Dies ist hier aber nicht der Fall. Dass ein Schneeball
vor mir liegt, ist ein Sachverhalt; dass er eine Weiß-Wahrnehmung in mir
verursacht, ist ein ganz anderer Sachverhalt. Wir haben es hier also mit
distinkten Sachverhalten zu tun. (Dass sie distinkt sind, zeigt sich schon
darin, dass der eine ohne den anderen bestehen kann. So ist es möglich, dass
zwar ein Schneeball vor mir liegt, ich aber nicht auf ihn achte und er daher
keine Weiß-Wahrnehmung in mir verursacht.) Es liegt also keine evidente
Inferenz vor, die sich auf das erste Prinzip zurückführen ließe. Damit fehlt
genau die Gewissheit, die als Wissensgrundlage erforderlich wäre. Fazit:
Mangels einer Gewissheit ist kein Wissen davon möglich, dass ein vor mir
liegender Schneeball eine Weiß-Wahrnehmung in mir verursacht.
Dies ist natürlich ein Fazit mit weitreichenden Konsequenzen. Gemäß
der von Nikolaus geforderten Bedingung ist kein Wissen von Kausalrela-
tionen möglich. Nikolaus gibt selber ein Beispiel dafür.77 Wir können nicht
wissen, so stellt er fest, dass ein Feuer ein Werg (d.h. ein Stück Hanf oder
Flachs) in Brand setzt, wenn es ihm angenähert wird. In der Inferenz ‚Wenn
ein Feuer dem Werg angenähert wird, dann setzt es das Werg in Brand‘ sind
Vorder- und Folgesatz nämlich nicht miteinander identisch. Also handelt es
sich nicht um eine evidente, auf das erste Prinzip rückführbare Inferenz.
Angesichts dieses negativen Fazits stellt sich sogleich die Frage, warum
Nikolaus eine derart restriktive Bedingung aufstellt. Warum fordert er, dass
für die Rückführung auf das erste Prinzip gleich eine Identität der beiden
Sätze (bzw. der durch sie bezeichneten Sachverhalte) erforderlich ist? Er
gibt keine Begründung, doch es lässt sich eine Begründung rekonstruieren,
wenn das erste Prinzip nochmals betrachtet wird. Dieses Prinzip besagt nur,
dass nicht gleichzeitig p und nicht-p wahr sein können. Es sagt aber nichts
über den Zusammenhang zwischen p und q (bzw. zwischen den durch sie
bezeichneten Sachverhalten) aus. Deshalb kann man immer nur tautologisch
77
Vgl. Correspondence II.20 (ed. de Rijk 1994, 70).
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sagen: ‚Wenn p wahr ist, ist p (und nicht etwa nicht-p) wahr.‘ Doch man darf
nicht behaupten: ‚Wenn p wahr ist, ist auch q wahr.‘ Damit würde man ja
weit über die Gewissheit des ersten Prinzips hinausgehen und behaupten,
dass man eine Relation zwischen p und q feststellen kann. Dafür besteht
aber keine Gewissheit, wenn es nur die drei genannten Säulen der Gewiss-
heit gibt. Auch die veridischen Erscheinungen bieten dafür keine Gewiss-
heit. Sie beziehen sich ja immer auf distinkte wahrnehmbare Eigenschaften,
jedoch nicht auf eine Relation zwischen diesen Eigenschaften. Selbst wenn
ich also eine veridische Erscheinung von der Farbe habe, die das Feuer in
der Nähe des Werges aufweist, und eine weitere Erscheinung von der Farbe,
die das in Brand gesetzte Werg aufweist, kann ich nur sagen, dass ich zwei
aufeinander folgende distinkte Erscheinungen habe. Beschreibe ich diese Er-
scheinungen mit den Sätzen p und q, kann ich nur sagen: ‚Zuerst p, darauf
q‘. Mehr als eine solche zeitliche Abfolge kann ich aber nicht behaupten.
Dass genau in dieser Beschränkung auf die drei Säulen der Gewissheit
der Kernpunkt in Nikolaus’ Argumentation liegt, zeigt sich in seiner Aus-
einandersetzung mit Aegidius. Dieser wandte ein, man könne sehr wohl
ein Wissen von kausalen Zusammenhängen erwerben. Es gebe nämlich
ein einfaches Erfassen, das sich in zwei Arten unterteile. Das eine sei „ab-
trennend“, weil ein Ding abgetrennt von jedem anderen erfasst werde. Das
andere, vollkommenere hingegen sei „gleichzeitig erfassend“, weil ein Ding
zusammen mit einem anderen aufgefasst werde.78 Wenn man nun eine Re-
lation zwischen zwei distinkten Dingen erfasse, so erfolge dies immer mit-
hilfe des „gleichzeitig erfassenden“ Auffassens. Mit dieser Argumentation
will Aegidius natürlich die Gültigkeit der Inferenz ‚Wenn p, dann q‘ auch
dann sichern, wenn p und q distinkte Sachverhalte bezeichnen. Wenn p
und q (bzw. die durch sie bezeichneten Dinge oder Sachverhalte) nämlich
gleichzeitig aufgefasst werden, kann man durchaus von der Existenz des
einen auf die Existenz des anderen schließen. Konkret heißt dies: Wenn die
Annäherung des Feuers an das Werg zusammen mit dem Entzünden des
Wergs aufgefasst wird, kann man schließen, dass das Feuer das Werg ent-
zündet, wenn es ihm angenähert wird. Damit kann ein Wissen von kausalen
Zusammenhängen gesichert werden.
Nikolaus’ Antwort auf diesen Einwand ist sehr aufschlussreich.79 Er weist
ihn nicht kategorisch zurück, sondern stimmt zu, dass das „zusammen er-
Correspondence III.11 (ed. de Rijk 1994, 82): „Sed apprehensio simplex duplex est.
78
Quedam est precisiva, qua scilicet una res cognoscitur cum precisione ab omni eo quod non
est ipsa. Alia est coacceptiva, que perfecta magis est quam prima, qua scilicet aliqua <res
simplici apprehensione apprehenditur et> intelligitur, cointellecta alia re eadem simplici ap-
prehensione...“
79
Vgl. Correspondence IV.4 (ed. de Rijk 1994, 102).
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fassende“ Auffassen möglich ist, allerdings nur dann, wenn damit eine Rela-
tion erfasst wird, die immer die Existenz beider Relata voraussetzt. Dann ist
auch eine Inferenz möglich, weil der Folgesatz nur das bezeichnet, was auch
der Vordersatz bezeichnet. Nikolaus gibt dafür ein anschauliches Beispiel.
Wer Vaterschaft erfasst, erfasst damit, dass es einen Vater und einen Sohn
oder eine Tochter gibt. Dieses „zusammen erfassende“ Auffassen erlaubt
folgende Inferenz: ‚Wenn Vaterschaft existiert, dann existieren ein Vater
und ein Sohn oder eine Tochter‘. Die Pointe besteht darin, dass im Folgesatz
nicht mehr behauptet wird als im Vordersatz; es wird nur erläutert, welche
Entitäten im Falle einer Vaterschaft existieren. Die Inferenz erfüllt also die
oben genannte Bedingung (B) und ist gültig. Ganz anders verhält es sich
mit der Inferenz ‚Wenn ein Feuer dem Werg angenähert wird, dann setzt
es das Werg in Brand‘. Hier bezeichnet der Vordersatz nicht eine Relation,
die immer die Existenz der Relata voraussetzt. Er bezeichnet vielmehr einen
Sachverhalt, der von jenem, der durch den Folgesatz bezeichnet wird, dis-
tinkt ist.80 Daher ist die Inferenz nicht gültig. Damit macht Nikolaus auf
einen wichtigen Unterschied zwischen den Termini, die in den jeweiligen
Vordersätzen verwendet werden, aufmerksam. ‚Vaterschaft‘ ist ein kon-
notativer Terminus, d.h. ein Ausdruck, der gleichzeitig zwei zwar verschie-
dene, aber notwendigerweise miteinander verbundene Entitäten bezeichnet.
‚Feuer‘, ‚Werg‘ und ‚annähern‘ hingegen sind absolute Entitäten, die ganz
unterschiedliche, nur kontingenterweise miteinander verbundene Dinge
und Aktivitäten bezeichnen.
Entscheidend ist hier, dass Nikolaus eine Inferenz nur dann als gültig ak-
zeptiert, wenn sie auf das erste Prinzip zurückführbar ist. ‚Wenn p, dann q‘
muss immer auf die tautologische Form ‚Wenn p, dann p (oder Teile von p)‘
reduzierbar sein. Es gibt nämlich keine andere Grundlage, die Gewissheit
garantieren könnte. Somit kann man eine Inferenz nur dann auf eine sichere
Grundlage stellen, wenn man nachweist, dass das, was durch den Vordersatz
bezeichnet wird, all das umfasst, was durch den Folgesatz bezeichnet wird.
Dies kann nicht nur eine Relation wie die Vaterschaft sein, sondern auch ein
Ganzes, das alle seine Teile umfasst. Auch dafür gibt Nikolaus ein anschau-
liches Beispiel.81 Es ist seiner Ansicht nach zulässig zu behaupten: ‚Wenn ein
Haus existiert, dann existiert eine Wand‘. Was durch den Folgesatz bezeich-
net wird, ist nämlich nicht von dem verschieden, was durch den Vorder-
80
Es ist zu betonen, dass ausschließlich in der Distinktheit der Grund dafür liegt, dass kein
Wissen von Kausalrelationen möglich ist. Nikolaus behauptet nicht – wie von Wolfson 1969
angenommen wurde – occasionalistisch, dass Gott doch die Ursache für jedes Ereignis sein
könnte und dass wir deshalb nie wissen können, ob eine angeblich natürliche Ursache auch
wirklich die Ursache ist. Vgl. dazu ausführlich Perler & Rudolph 2000, 178–183.
81
Vgl. Correspondence II.21 (ed. de Rijk 1994, 70).
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satz bezeichnet wird, sondern teilweise mit ihm identisch. Wir behaupten
also nur tautologisch: ‚Wenn es wahr ist, dass ein Haus existiert, dann ist
es wahr, dass ein Haus bzw. die Wand als Teil eines Hauses existiert‘. Die
Inferenz ist evident und auf das erste Prinzip zurückführbar. Genau gleich
verhält es sich mit jenen Fällen, in denen begriffliche Zusammenhänge erläu-
tert werden. So dürfen wir behaupten: ‚Wenn ein Mensch rennt, dann rennt
ein Lebewesen‘. Dies heißt nämlich nichts anderes als ‚Wenn ein Mensch
rennt, rennt ein Mensch, der definitionsgemäß immer ein Lebewesen ist‘.
Vorder- und Folgesatz bezeichnen nicht distinkte Sachverhalte, sondern
subsumieren ein und denselben Sachverhalt unter unterschiedliche Begriffe.
Auch hier gilt wieder: Es liegt eine evidente, auf das erste Prinzip zurück-
führbare Inferenz und damit auch eine Wissensgrundlage vor.
Offensichtlich zielt Nikolaus nicht darauf ab, jede Inferenz gleich als
unzulässig zu verbieten. Er will vielmehr die evidenten von den nicht-
evidenten Inferenzen unterscheiden und damit eine Wissensgrundlage
schaffen, die ihre Gewissheit aus dem ersten Prinzip bezieht. Die ganze
Zurückführbarkeit auf das erste Prinzip dient, wie Ch. Grellard treffend
festgestellt hat, einem „Transfer der Evidenz“.82 Wenn eine Inferenz evident
ist, so nicht aus sich heraus, sondern weil sie auf dem ersten Prinzip beruht,
das evident ist und Gewissheit garantiert. Daher muss für jede Inferenz
gezeigt werden, dass ihr tatsächlich die Evidenz vom ersten Prinzip trans-
feriert wird. Andernfalls ist sie als eine unzureichende Wissensgrundlage
auszusondern. Hinter dieser ganzen Argumentation verbirgt sich freilich
eine Annahme, die Nikolaus für selbstverständlich hält und gleichsam
nebenbei als Nebenthese einführt. Er behauptet, neben der Gewissheit des
ersten Prinzips gebe es – abgesehen von der Glaubensgewissheit – keine
andere Gewissheit.83 Da die Glaubensgewissheit in rein epistemologischen
Kontexten keine Rolle spielt (sie wird von Nikolaus nicht weiter diskutiert),
heißt dies, dass die Gewissheit des ersten Prinzips die einzige Gewissheit
ist. Selbst die Gewissheit von den wahrnehmbaren Eigenschaften und von
den eigenen Akten muss ja auf diese Gewissheit rückführbar sein, wie sich
bereits gezeigt hat. Dies ist jedoch alles andere als eine selbstverständliche
These. Warum sollten wir annehmen, dass es nur eine fundamentale Ge-
wissheit gibt? Selbst wenn man einer fundamentalistischen Wissenskon-
zeption zustimmt, könnte man immer noch die Ansicht vertreten, dass es
mehrere, voneinander unabhängige Fundamente gibt. So könnte man ver-
suchen, für das Erfassen von Kausalrelationen ebenfalls eine Wissensgrund-
lage zu bestimmen, auch wenn Aussagen über derartige Relationen nicht in
Vgl. Grellard 2005, 77–83.
82
Correspondence II.7 (ed. de Rijk 1994, 62): „Excepta certitudine fidei, nulla est alia certi-
83
tudo nisi certitudo primi principii, vel que in primum principium potest resolvi.“
der genannten Weise auf das erste Prinzip zurückgeführt werden können.
Nikolaus zieht diese Möglichkeit nicht in Betracht. Darin zeigt sich, dass er
nicht nur einen Fundamentalismus vertritt, sondern eine Position, die man
monolithischen Fundamentalismus nennen könnte: Es gibt nur eine letzte
Wissensgrundlage, auf die alle anderen Grundlagen zurückzuführen sind.
Nikolaus bleibt jedoch ein Argument dafür schuldig, dass dies die einzige
überzeugende Form des Fundamentalismus ist.84
Sein fundamentalistischer Ansatz scheint aber eine seltsam paradoxe
Konsequenz zu haben. Einerseits hat er nämlich zur Folge, dass skeptische
Anfechtungen zurückgewiesen werden. Gerade der Verweis auf eine letzte
fundamentale Gewissheit dient ja dem Ziel, die Wissensansprüche aufrecht
zuerhalten und zu rechtfertigen. Andererseits ruft dieser Ansatz neue
skeptische Überlegungen auf den Plan, weil Nikolaus die fundamentale
Gewissheit sehr restriktiv bestimmt. Nur was sich auf das erste Prinzip zu-
rückführen lässt, ist ja gewiss. Aussagen über kausale Zusammenhänge und
andere Relationen zwischen distinkten Sachverhalten lassen sich nicht auf
das erste Prinzip zurückführen, wie sich herausgestellt hat. Es scheint daher,
als müssten wir an solchen Aussagen zweifeln. Heißt dies, dass wir hier nur
die Alternative zwischen einem Wissen, das durch die Gewissheit des ersten
Prinzips fundiert wird, und vollständigem Nicht-Wissen haben? An dieser
Frage entscheidet sich, ob Nikolaus’ fundamentalistische Strategie dazu
führt, dass nur noch zwischen Wissen und Nicht-Wissen unterschieden
werden kann, oder ob sie auch einen epistemischen Bereich zwischen diesen
beiden Extremen berücksichtigt.
Nikolaus ist sich durchaus bewusst, dass seine antiskeptische Strategie neue
skeptische Fragen hervorruft. Wenn nämlich Wissen nur auf der Grundlage
der Gewissheit der wahrnehmbaren Eigenschaften, der eigenen Akte und
des ersten Prinzips möglich ist, gibt es nur ein streng empirisch und logisch
fundiertes Wissen. Man kann jedoch auf zahlreiche Fälle verweisen, in
denen dieses Fundament nicht vorhanden ist. Dies sind zunächst jene Fälle,
in denen keine unmittelbare Wahrnehmung vorliegt. Nikolaus erläutert dies
anhand eines konkreten Beispiels. Wenn jemand die Struktur der Welt mit-
hilfe einer atomistischen Theorie zu beschreiben versucht, beruft er sich auf
kleine, ewig existierende, sich immer wieder neu zu Konglomeraten formie-
Es ist daher nicht erstaunlich, dass Buridan genau an diesem Punkt mit seiner Kritik ein-
84
hakte und eine Pluralität von Wissensgrundlagen forderte; vgl. ausführlich § 32.
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rende Körper. Da diese Körper aber nicht unmittelbar gesehen werden, sind
sie nicht mit Gewissheit präsent. Heißt dies, dass es kein Wissen von ihnen
gibt? Dies ist genau die Schlussfolgerung, die man ziehen könnte. Nikolaus
stellt fest:
„Nun ist zu wissen, dass es einige Menschen gibt, die keine Sätze annehmen wollen
außer jenen, die sinnlich zur Erscheinung gelangen. [...] Doch nicht alle Wahrheiten
sind für uns derart aufweisbar.“85
Die Menschen, auf die Nikolaus hier verweist, könnte man als rigide Em-
piristen bezeichnen. Sie halten sich streng an die Forderung, dass nur die
Gewissheit der wahrnehmbaren Eigenschaften als Wissensgrundlage dienen
kann, und akzeptieren folglich nur jene Sätze, die ein unmittelbares empi-
risches Fundament haben. So ist der Satz ‚Es existieren Atome‘ für sie nur
dann akzeptabel, wenn sie selber Atome gesehen oder sonst irgendwie sinn-
lich erfasst haben. Doch diese rigide Position hat absurde Konsequenzen.
Wann immer jemand etwas zu wissen beansprucht, muss man ihn fragen:
Hast du es selber gesehen? Wird diese Frage verneint, muss der Wissens-
anspruch zurückgewiesen werden. Damit wird natürlich ein großer Bereich
von Wissen ausgeschlossen, und zwar nicht nur das Wissen von derart
mikroskopischen Entitäten wie etwa den Atomen, sondern auch das Wissen
von mathematischen oder historischen Sachverhalten. So können wir nicht
sehen, dass zwei und zwei vier ergeben, genauso wenig wie wir sehen oder
sonst irgendwie wahrnehmen können, dass Cäsar den Rubikon überschrit-
ten hat. Folglich können wir von diesen Sachverhalten auch kein Wissen
haben.
Doch nicht nur die streng empirische Fundierung des Wissens hat ab-
surde Konsequenzen. Auch die logische Fundierung hat derartige Folgen.
Nikolaus fordert ja, dass jede Gewissheit auf jene des ersten Prinzips rück-
führbar sein muss. In vielen Fällen ist eine solche Reduktion aber nicht
möglich, wie er selber eingesteht:
„Die achte These lautet, dass nicht für alle Sätze gezeigt werden kann, dass sie auf-
grund des ersten Prinzips evident sind ...“86
85
Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 189, Z. 1–6): „Nunc sciendum quod aliqui sunt homines
qui nullas propositiones volunt recipere nisi veniant in apparentia apud sensum; [...] et tamen
non omnes veritates sunt a nobis praeostensabiles.“
86
Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 237, Z. 21–22): „Octava conclusio est quod non omnes
propositiones possunt ostendi esse evidentes per primum principium ...“
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sen von der simplen Tatsache, dass Feuer Werg in Brand setzt, fundieren.
Ebenso wenig kann die Inferenz ‚Wenn eine weiße Farbe existiert, existiert
auch eine Substanz‘ auf das erste Prinzip zurückgeführt werden. Die Fest-
stellung, dass die Existenz eines Akzidens immer die Existenz einer Sub-
stanz voraussetzt, geht ja weit über das hinaus, was durch das Prinzip der
Widerspruchsfreiheit festgelegt wird. Somit ist auch von dieser scheinbar
simplen Tatsache kein Wissen möglich.
Nikolaus sieht sich offensichtlich mit einer grundlegenden Schwierigkeit
konfrontiert. Wenn er auf seiner fundamentalistischen Wissenskonzeption
insistiert, kann er nur das als Wissen akzeptieren, was auf Gewissheit be-
ruht. Und das heißt: Wissen muss auf einer Gewissheit beruhen, die durch
eine unmittelbare Sinneswahrnehmung und die Rückführbarkeit auf das
erste Prinzip garantiert wird. Gleichzeitig muss Nikolaus aber wohl oder
übel eingestehen, dass wir gemeinhin vieles für Wissen halten, was nicht
auf einer solchen Gewissheit beruht. Wie kann er diesem großen Bereich
Rechnung tragen? Auf den ersten Blick scheint es eine einfache Lösung für
dieses Problem zu geben. Nikolaus könnte einfach zwei Arten von Wissen
unterscheiden: ein Wissen, das auf Gewissheit beruht, und ein weiteres, das
eines solchen Fundaments entbehrt. Dies kann aber keine adäquate Lösung
sein. Nikolaus würde damit nämlich nicht nur seine fundamentalistische
Wissenskonzeption verabschieden (es gäbe dann ein nicht fundiertes Wis-
sen), sondern er würde auch einen äquivoken Wissensbegriff einführen.
Wann immer von Wissen die Rede ist, müsste man fragen: Welches Wissen
ist hier gemeint, das „echte“, das auf Gewissheit beruht, oder das „unechte“,
das kein solches Fundament hat? Aus diesem Grund kann Nikolaus nicht
zwei Arten von Wissen akzeptieren. Doch er kann neben dem Wissen eine
andere epistemische Einstellung akzeptieren: das begründete Glauben, das
auf wahrscheinlichen Annahmen beruht. Genau diesen Weg wählt er bereits
ganz zu Beginn der Abhandlung Exigit ordo, wo er darauf hinweist, dass er
nicht im strengen Sinne ein Wissen von der Falschheit der aristotelischen
Position hat. Trotzdem verfügt er über eine begründete epistemische Ein-
stellung, um gegen diese Position Stellung zu beziehen. Er charakterisiert
diese Einstellung folgendermaßen:
„Es ist wahr, dass ich nicht in allen Fällen beweisende Argumente für das Gegenteil
gefunden habe. Es haben sich aber einige Argumente vorgefunden, mit denen – wie
mir schien – die Gegenthesen ebenso wahrscheinlich vertreten werden können wie
die Thesen, die von ihnen [sc. den Aristotelikern] vertreten werden.“87
87
Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 181, Z. 8–11): „Verum est quod non inveni rationes de-
monstrativas ad oppositum in omnibus, sed occurrerunt rationes aliquae per quas mihi visum
fuit quod ita probabiliter possent teneri conclusiones oppositae sicut propositiones ab eis.“
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Eine Deutung könnte darauf abzielen, dass Nikolaus die rigiden Empiristen kritisieren
89
will. Denn die Blinden, die darauf insistieren, dass es neben dem Intellekt und den vier Sinnen
kein weiteres Erkenntnismittel gibt, sind genau die Empiristen, die behaupten, nur was un-
mittelbar sinnlich wahrgenommen werde, sei auch erkennbar und wissbar. Eine ausführliche
Interpretation der Parabel bietet Grellard 2005, 193–196.
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Vgl. zu Nikolaus’ Atomismus ausführlich Dutton 1996, Kaluza 2000 und Grellard 2005,
90
210–226.
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dem die Aristoteliker sprechen, nichts anderes ist als eine Neuformation
der Atome. Und die Bewegung der Gegenstände ist nichts anderes als eine
Zirkulation der Atome. Die atomistische Hypothese erlaubt es ihm, eine
vollständige Beschreibung der Welt zu geben und – wie er glaubt – gewisse
Vorgänge in der Welt sogar besser zu erklären als die Aristoteliker. So lässt
sich etwa besser verstehen, warum sich die sichtbaren Gegenstände per-
manent verändern. Dies liegt nicht daran, dass Substanzen Akzidenzien
gewinnen und verlieren oder dass sogar ganze Substanzen verschwinden,
sondern hat seinen Grund ganz einfach darin, dass es immer wieder neue
Atomkonstellationen gibt. Entscheidend ist, dass mithilfe der atomistischen
Hypothese wahrscheinliche Argumente zur Erklärung der Beschaffenheit
und Veränderung der Gegenstände vorgebracht werden können. Diese Ar-
gumente sind mindestens so plausibel wie jene, die zugunsten der aristote-
lischen Position sprechen, auch wenn sie sich nicht auf eine unmittelbare
Beobachtung stützen können. Denn nicht alles, was sich der Sinneswahr-
nehmung entzieht, ist gleich zu verwerfen. Nikolaus betont sogar, er habe
„ausreichend wahrscheinliche Mittel“, um die ewige Existenz der Atome
plausibel zu machen.91 Wenn die Annahme derartiger Entitäten nämlich
nicht widersprüchlich ist und wenn sie eine kohärente, detaillierte Beschrei-
bung der Welt ermöglicht, ist sie zulässig.
Ein zweites Beispiel findet sich in Nikolaus’ Analyse der visuellen Wahr-
nehmung. Er setzt sich kritisch mit der zu seiner Zeit dominierenden Theo-
rie auseinander, die behauptet, im Wahrnehmungsprozess würden kognitive
Entitäten (sog. species in medio) vom Wahrnehmungsgegenstand ausgesandt,
durch ein Medium (vor allem die Luft) übertragen und dem Auge einge-
prägt. Gegen diese Theorie bringt Nikolaus die Hypothese vor, dass es hier
keinen kausalen Prozess gibt, d.h. keinen Vorgang des Aussendens und Ein-
prägens irgendwelcher Entitäten, sondern nichts anderes als eine Präsenz
von Atomen.92 Akzeptiert man diese Hypothese, kann man wahrscheinliche
Argumente dafür vorbringen, dass die vermeintlich kognitiven Entitäten in
der Luft nichts anderes sind als Atomkonstellationen. Auch die dem Auge
angeblich eingeprägten Entitäten sind dann nichts anderes als Atome, die in
den Pupillen präsent sind und dadurch einen visuellen Wahrnehmungsakt
auslösen. Entscheidend ist hier wiederum, dass die Argumente zugunsten
der atomistischen Erklärung nicht durch eine unmittelbare Wahrnehmung
Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 189, Z. 26–29): „Sic hic habeo media satis probabilia ad
91
concludendum quod conclusio de aeternitate rerum est probabilis, sed quia non possum os
tendere illas modiculas albedines ad modum granorum ire et venire, aliqui forsan discredent;
non tamen propter hoc est negandum.“
92
Vgl. Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 190, Z. 3–8); dazu ausführlich Tachau 1988, 349–
350, und Grellard 2005, 123–125.
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gestützt werden müssen. Es ist nicht erforderlich, dass man die Atome,
die in der Luft oder in den Pupillen präsent sind, sieht und dadurch eine
Gewissheit von ihnen hat. Es reicht aus, dass im Rahmen einer atomisti-
schen Hypothese Argumente vorgebracht werden können, die mindestens
so plausibel sind wie jene der Gegenposition und eine mindestens so hohe
Erklärungskraft besitzen.
Wie die beiden Beispiele zeigen, werden wahrscheinliche Argumente
immer im Rahmen einer bestimmten Hypothese entwickelt. Sie müssen
auch nur im Rahmen der jeweiligen Hypothese kohärent sein und eine Er-
klärungskraft besitzen. Wenn allerdings solche Argumente vorliegen, gibt
es für eine bestimmte These einen begründeten Glauben, der eine Mittel-
stellung zwischen Wissen und Nicht-Wissen einnimmt. Er ist weniger als
Wissen, weil er nicht auf Gewissheit beruht, gleichzeitig aber mehr als
Nicht-Wissen, weil er sich auf Argumente stützt und eine konsistente Er-
klärung verschiedener Sachverhalte erlaubt.
Allerdings stellt sich dann die Frage, ob jede beliebige Hypothese erlaubt
ist. Können wir zur Erklärung der Struktur der Welt irgendeine Hypothese
annehmen, mag sie noch so abwegig erscheinen, und im Rahmen dieser
Hypothese dann wahrscheinliche Argumente entwickeln? Nicht ganz. Ni-
kolaus betont, dass es vier übergeordnete Prinzipien gibt, denen eine Hypo-
these nicht widersprechen darf. Das erste Prinzip könnte man das Harmo-
nieprinzip nennen. Es besagt, dass sämtliche Dinge wohlgeordnet sind und
jedes Ding sich in dem Zustand befindet, der gut für es ist.93 Jede Hypothese
muss diesem Prinzip Rechnung tragen, d.h. sie muss die Anordnung und
Beschaffenheit der Dinge so erklären, dass die harmonische Anordnung
deutlich wird. Konkret heißt dies: Ob wir nun eine aristotelische oder eine
atomistische Hypothese zur Erklärung des Entstehens und Vergehens von
Gegenständen wählen, in beiden Fällen muss deutlich werden, dass sich der
Prozess des Entstehens und Vergehens innerhalb einer harmonischen Ord-
nung abspielt. Eine Hypothese, die in diesem Prozess einen Mangel oder ein
Zeichen der Unvollkommenheit sieht, wäre unzulässig. Das zweite Prinzip
könnte man das Verbindungsprinzip nennen. Es legt fest, dass alle Entitäten
miteinander verbunden sind, sodass jedes Ding auf ein anderes ausgerichtet
ist.94 Ob man also eine aristotelische oder eine atomistische Hypothese
93
Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 185, Z. 21–25): „Unum principium est quod bonum
est apud intellectum pro mensura in quantificando entia et universaliter in determinando
dispositiones contingentes in eius ut accipiat quod entia universi sunt rectissime disposita et
quod sic res sunt sicut bonum est eas esse et sic non sunt sicut malum esset eas esse.“
94
Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 186, Z. 1–2): „Secundum principium est istud, quod
entia universi sunt connexa ad invicem, ita quod qudammodo unum videtur propter alte
rum ...“
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wählt, stets muss man berücksichtigen, dass ein Ding nicht isoliert, sondern
relational zu erklären ist. Das dritte Prinzip ergibt sich aus den ersten beiden
und könnte das Prinzip des gegenseitigen Nutzens genannt werden. Da alle
Dinge zusammenhängen und harmonisch angeordnet sind, muss jedes Ding
zum optimalen Zustand der anderen Dinge beitragen.95 Kein Ding ist ein-
fach an sich gut und wohl geordnet, sondern nur insofern es eine bestimmte
Funktion für andere Dinge erfüllt. Schließlich ist das vierte Prinzip das
Vollkommenheitsprinzip. Es besagt, dass das ganze Universum zu jedem
Zeitpunkt vollkommen ist. Es kann nicht mal eine größere und mal eine
geringere Harmonie geben.96
Es ist offensichtlich, dass es sich hier um metaphysisch gehaltvolle Prin-
zipien handelt. Hier steht jedoch nicht die Plausibilität und Begründung
dieser Prinzipien zur Debatte.97 Entscheidend ist nur ihre Funktion im
Hinblick auf die Formulierung von Hypothesen. Die vier Prinzipien bilden
den übergeordneten normativen Rahmen, der festlegt, welche Hypothesen
überhaupt möglich sind und welche von vornherein ausgeschlossen werden
können. Doch sie legen nicht fest, dass es nur eine einzige Hypothese gibt.
Gerade die Debatte zwischen Aristotelikern und Atomisten zeigt ja, dass
es zwei konkurrierende Hypothesen geben kann und dass beide allen vier
Prinzipien genügen. Sobald man sich für eine Hypothese entschieden hat,
kann man Argumente entwickeln, die eine gewisse Wahrscheinlichkeit
haben, und man kann versuchen, die Gegenhypothese als weniger über-
zeugend zurückzuweisen. Dies ist in wissenschaftstheoretischer Hinsicht
natürlich ein bemerkenswerter Befund. Nikolaus verdeutlicht, dass es zur
Erklärung eines bestimmten Sachverhaltes nicht einfach eine einzige Theo-
rie gibt, die bloß detaillierter auszuarbeiten ist, sondern eine Pluralität von
Theorien, die einen hypothetischen Charakter haben und in Konkurrenz
zueinander stehen. Daher geht es in einer wissenschaftlichen Debatte nicht
darum, einer einzigen Theorie immer mehr Details hinzuzufügen. Wichtig
ist vielmehr, dass erstens Theorien entwickelt werden, die angesichts überge-
ordneter Prinzipien überhaupt möglich sind, und dass diese Theorien zwei-
tens anhand konkreter Probleme getestet und auf ihre Erklärungskraft hin
geprüft werden. Es gilt festzustellen, welche Theorie die wahrscheinlichsten
Argumente zur Erklärung konkreter Probleme vorbringen kann.
Welche Bedeutung haben nun diese Ausführungen zu Prinzipien, Hypo-
Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 186, Z. 10–12): „Tertium principium est quod videtur
95
sequi ex praecedenti: ex quo universum est sic connexum, nihil est quin sit bonum toti multi-
dini entium ipsum esse; unde hoc ens est propter illud et ilud propter aliud et sic semper.“
96
Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 186, Z. 13–14): „Quartum principium est istud, quod
universum est semper aequaliter perfectum ...“
97
Vgl. zum metaphysischen Rahmen ausführlich Kaluza 2000.
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Licht“ handelt. Wir haben also keine Gewissheit, die von der unmittelbaren
Wahrnehmung der Kausalrelation herrühren würde. Ebenso wenig haben
wir eine Gewissheit, die sich auf das erste Prinzip zurückführen lässt. Denn
die Inferenz ‚Wenn ein Feuer dem Werg angenähert wird, setzt es das Werg
in Brand‘ lässt sich nicht auf die tautologische Form ‚Wenn p, dann p‘ zu-
rückführen.
Entscheidend ist nun, dass es in der Tat keine Gewissheit und damit auch
kein Wissen gibt, wohl aber ein begründetes Glauben. Wir machen nämlich
die Erfahrung, dass immer dann, wenn das Feuer in die Nähe des Wergs
gebracht wird, dieses in Brand gesetzt wird. Wenn wir nun die (mit den vier
Leitprinzipien durchaus verträgliche) Erklärungshypothese wählen, dass
all das, was in den allermeisten Fällen eine bestimmte Wirkung zur Folge
hat, die Ursache für diese Wirkung ist, können wir das wahrscheinliche Ar-
gument vorbringen, dass das Feuer hier die Ursache ist. Die Pointe besteht
darin, dass wir trotz fehlender Gewissheit mehr haben als Nicht-Wissen,
nämlich begründetes Glauben. Wir dürfen es aber nicht vorschnell mit
Wissen gleichsetzen, wie Nikolaus betont:
„Die dreizehnte These lautet: Von den Dingen, die aufgrund der Erfahrung gewusst
werden (etwa wenn man sagt, man wisse, dass Rhabarber Cholera heilt oder dass
ein Magnet Eisen anzieht), gibt es nur einen Habitus, der Vermutungen erlaubt,
aber keine Gewissheit ...“98
Wie diese Stelle zeigt, sagt Nikolaus nicht, wir könnten über das Kausal-
verhältnis zwischen Magnet und Eisen überhaupt keine Aussage machen.99
Da wir den Zusammenhang zwischen den beiden häufig beobachtet haben
und zudem über eine allgemeine Erklärungshypothese verfügen, haben wir
sehr wohl eine epistemische Einstellung, die es uns erlaubt, eine Aussage zu
treffen. Doch es handelt sich bei dieser Einstellung eben nicht um Wissen,
sondern nur um einen begründeten Glauben oder eben um einen „Habitus,
der Vermutungen erlaubt“ (habitus conjecturativus). Er ist sicherlich weni-
ger als Wissen, weil er nicht auf Gewissheit beruht, gleichzeitig aber mehr
als Nicht-Wissen. Wie das Beispiel verdeutlicht, befähigt uns dieser Habitus
keineswegs dazu, ausschließlich wahre Aussagen zu machen. Einige Aus-
Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 237, Z. 39–41): „Tertia decima conclusio est quod de
98
scitis per experientiam illo modo quo dicitur sciri rheubarbarum sanat choleram vel adamas
attrahit ferrum, habetur solum habitus conjecturativus, non certitudo ...“
99
Nikolaus behauptet auch nicht, dass es überhaupt keine Kausalrelationen gibt. Wie Grel-
lard 2002 gegenüber Interpreten, die ihm diese metaphysische These zugeschrieben haben,
gezeigt hat, vertritt Nikolaus eine realistische Position, der zufolge Kausalrelation gleichsam
zum Inventar der Welt gehören und aus der Bewegung der Atome entstehen. Nikolaus zielt
nicht auf die metaphysische These ab, dass keine Kausalrelationen existieren, sondern ver-
tritt nur die epistemologische These, dass derartige Relationen nicht mit Gewissheit erfasst
werden und dass es folglich auch kein Wissen von ihnen gibt.
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sagen (nämlich dass Rhabarber Cholera heilt) mögen zwar innerhalb der Er-
klärungshypothese wahr erscheinen, stellen sich bei genauer Prüfung aber
als falsch heraus. Dies ist freilich nicht erstaunlich. Wenn keine Gewissheit
vorhanden ist, kann sich immer ein Irrtum einschleichen. Das begründete
Glauben ist weit davon entfernt, infallibel zu sein. Nikolaus betont daher,
dass im Falle eines solchen Glaubens keine spontane und uneingeschränkte
Zustimmung zu einer Aussage gegeben wird.100 So müssen wir der Aussage
‚Rhabarber heilt Cholera‘ nicht zustimmen, sondern können sagen: Ange-
sichts der allgemeinen Erklärungshypothese und der mehrfachen Beobach-
tung ist es wahrscheinlich, dass Rhabarber Cholera heilt. Aber natürlich
lässt sich die Hypothese revidieren oder es können Gegenbeispiele gefunden
werden. Daher hat die Aussage nur einen wahrscheinlichen Charakter und
die Zustimmung wird nur so lange gegeben, als die Wahrscheinlichkeit als
hoch eingeschätzt wird.
Der zweite Fall, in dem die Unterscheidung zwischen Wissen und be-
gründetem Glauben eine wichtige Rolle spielt, ist das induktive Schließen.
In einem solchen Fall wird ausgehend von der Beobachtung, dass einige Ge-
genstände einer bestimmten Art eine gewisse Eigenschaft haben, geschlos-
sen, dass alle Gegenstände dieser Art diese Eigenschaft haben. Das Problem
besteht freilich darin, dass die Beobachtung einer noch so großen Menge
von Gegenständen nicht garantiert, dass tatsächlich alle Gegenstände dieser
Art diese Eigenschaft haben. In der modernen Diskussion wird anhand
eines berühmten Beispiels immer wieder auf diese Schwierigkeit hingewie-
sen. Wenn wir ausgehend von der Tatsache, dass alle beobachteten Schwäne
weiß sind, darauf schließen, dass alle Schwäne weiß sind, können wir uns
irren. Es kann ja durchaus sein (und hat sich auch tatsächlich herausgestellt),
dass plötzlich bislang unbekannte Schwäne auftauchen, die schwarz sind.
Daher ermöglicht das induktive Schließen kein sicheres, infallibles Wissen.
Bereits Nikolaus ist auf dieses Problem aufmerksam geworden. Er diskutiert
es anhand der Frage, ob denn die Quantität eine Eigenschaft sei, die jedem
materiellen Gegenstand zukomme und gleichsam in ihm stecke, oder ob
sie eine vom materiellen Gegenstand distinkte Entität sei. Auf diese Frage
scheint es zunächst eine einfache Antwort zu geben. Wir haben mehrfach
beobachtet, so könnte man sagen, dass jeder materielle Gegenstand eine
Quantität hat. Zwar kann diese zu- oder abnehmen, aber wann immer wir
einen Gegenstand gesehen haben, haben wir auch eine Quantität an ihm
festgestellt. Deshalb können wir schließen, dass alle materielle Gegenstände
eine Quantität haben, die gleichsam in ihnen steckt und unabtrennbar ist.
100
In Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 233, Z. 35–37) betont Nikolaus, nur wenn eine veri-
dische Erscheinung vorliege, erfolge die Zustimmung unausweichlich. In den anderen Fällen
gebe es zwischen Erscheinung und Zustimmung keine „necessitas connexionis“.
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Nikolaus bestreitet nun nicht, dass wir eine solche Überlegung anstellen
können, aber er weist darauf hin, dass wir damit kein Wissen gewinnen.
Wir sind nämlich nicht berechtigt, ausgehend von der Beobachtung einiger
Fälle gleich zu behaupten, wir wüssten, dass dies in allen Fällen so ist.101 Es
ist gut möglich, dass einige Gegenbeispiele unbemerkt geblieben sind oder
dass bei den beobachteten Fälle einige Eigenschaften übersehen wurden.
Daraus folgert Nikolaus nicht, dass induktives Schließen unzulässig ist und
keinen epistemischen Wert hat. Er macht nur darauf aufmerksam, dass wir
nicht gleich einen Wissensanspruch erheben dürfen, noch dazu einen An-
spruch, der sich auf unbekannte Gegenstände bezieht. Wir sind einzig und
allein berechtigt, ein wahrscheinliches Argument dafür vorzubringen, dass
die beobachteten Gegenstände hinsichtlich einer bestimmten Eigenschaft
übereinstimmen und dass die nicht beobachteten Gegenstände gleich oder
ähnlich beschaffen sind. Aus diesem Grund hat das induktive Schließen
durchaus einen epistemischen Wert, auch wenn er nicht so hoch ist wie jener
des Wissens.
Zieht man diese Differenzierung epistemischer Ansprüche in Betracht,
lassen sich die verurteilten Artikel besser verstehen, die ganz zu Beginn
dieses Kapitels zitiert wurden. Es schien zunächst, als würde Nikolaus mit
folgenden Aussagen eine dezidiert skeptische Position vertreten:
– Aus der Tatsache, dass ein Ding existiert, kann nicht mit Evidenz abge-
leitet werden, dass ein anderes Ding existiert (Art. 6).
– Aus der Tatsache, dass ein Ding existiert, kann nicht mit Evidenz abge-
leitet werden, dass ein anderes Ding nicht existiert (Art. 7).
– Wir wissen nicht mit Evidenz, dass es eine natürliche Wirkursache gibt
oder geben kann (Art. 17).
Auf den ersten Blick gewinnt man hier den Eindruck, Nikolaus würde radi-
kal bestreiten, dass man irgendetwas über Kausalrelationen aussagen kann.
Es ist daher nicht erstaunlich, dass er bis in die neueste Forschung hinein
als Skeptiker bezeichnet worden ist.102 Berücksichtigt man jedoch die Diffe-
renzierung epistemischer Ansprüche, zeigt sich, dass Nikolaus nur den An-
spruch auf evidentes Wissen zurückweist, nicht aber jenen auf begründetes
Glauben. Er stellt ja in allen drei Artikeln fest, es könne nicht mit Evidenz
101
Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 222, Z. 23–25): „... nam dato quod ostenderetur quod
in istis et in istis conveniunt, non sequitur propter hoc quod in omnibus quia forsan quaedam
insunt huic rei quae non cognoscis.“
102
So etwa von Schabel 1998, 395, der von „radically sceptical aspects of Autrecourt’s
thought“ spricht. Zupko 2003, 189, sieht einen „Ultricurian skepticism“, präzisiert aber, dies
sei ein Skeptizismus, der Nikolaus bereits von seinen Zeitgenossen (allen voran Buridan) zu-
geschrieben worden sei, den er aber nicht unbedingt selber vertreten habe.
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11:28
103
Grellard 2005, 11: „L’idée générale qui préside à la théorie de la connaissance de Nicolas
d’Autrécourt est qu’il faut ,faire place à la croyance‘. De fait, en rupture avec les théories
médiévales de la connaissance, Nicolas estime que l’évidence n’est pas une condition néces-
saire de la connaissance.“ Evidenz ist, wie Grellard zu Recht betont, nur eine notwendige
Bedingung für Wissen, nicht für Glauben.
Johannes Buridan, der genau wie Nikolaus von Autrécourt an der Pariser
Universität ausgebildet wurde und über drei Jahrzehnte an der dortigen
Artistenfakultät lehrte,104 war mit den skeptischen Debatten seiner Zeit
bestens vertraut. In verschiedenen Werken zitierte er die skeptischen Stan-
dardargumente, die immer wieder gegen die Möglichkeit von Wissen vor-
gebracht wurden: Sinnestäuschungen, Traumszenarien, die Abhängigkeit
des Intellekts von den unzuverlässigen Sinnen und die Beschränktheit des
intellektuellen Vermögens.105 Doch er ließ sich nicht davon beeindrucken. In
seiner Diskussion der Quaestio „Können wir etwas wissen?“ antwortete er
auf die insgesamt vierzehn skeptischen Argumente, die er gewissenhaft auf-
listete, kurz und bündig: Natürlich können wir etwas wissen. Denn wie das
Feuer von Natur aus Dinge erhitzt und Schweres von Natur aus nach unten
fällt, ist der menschliche Intellekt von Natur aus darauf ausgerichtet, die
ihm präsenten Gegenstände zu erkennen, ja er ist sogar darauf ausgerichtet
bzw. „geneigt“, die ersten Prinzipien zu erfassen.106 Wer daran zweifelt, ver-
kennt vollkommen die natürliche Bestimmung des Menschen.
Angesichts der subtilen und detaillierten Argumente, die Nikolaus von
Autrécourt gegen skeptische Attacken vorbrachte, ist dies – zumindest auf
Die meisten dieser Argumente stammen aus der antiken skeptischen Tradition. Borbély
105
vergleicht die in In Met. II, q. 1 präsentierten Argumente mit jenen, die sich bei Sextus Em-
piricus und Diogenes Laertios finden und kommt zum Schluss, es gebe einen „Isomorphis-
mus“ (Borbély 2005, 39) zwischen den pyrrhonischen Argumenten und jenen, die Buridan
diskutiert. Freilich ist zu betonen, wie der Autor selber einräumt, dass damit keine direkte
Kenntnis der pyrrhonischen Tradition nachgewiesen ist. Die von Buridan zitierten Beispiele
finden sich auch in der akademischen Tradition und wurden zum größten Teil schon von
Petrus Aureoli und anderen mittelalterlichen Vorgängern diskutiert.
106
In Anal. Post. I, q. 2, corp.: „Unde sicut ignis est naturaliter inclinatus ad calefaciendum
et graue ad descendendum, ita intellectus est naturaliter inclinatus ad intelligendum obiecta
sibi sufficienter praesentata, et etiam naturaliter inclinatus ad comprehensionem ueritatis
primorum principiorum complexorum.“ Vgl. auch In Met. II, q. 1 (ed. Paris 1588, f. 8ra-va).
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Vgl. In Met. II, q. 1 (ed. Paris 1588, f. 8vb). Die Klausel, dass dies nur für den Nor-
107
malfall gilt, ist von Bedeutung, weil es natürlich auch ein Wissen von den eigenen mentalen
Zuständen und von intelligiblen Objekten (z.B. von mathematischen Gegenständen) gibt.
In diesen besonderen Fällen entsteht der mentale Satz nicht durch eine Kausalrelation zu
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äußeren, materiellen Gegenständen. Doch auch auf diese Fälle trifft Buridan zufolge die Pro-
positionalitätsthese zu: Wissen erfordert das Erfassen von Sätzen, selbst wenn diese sich auf
etwas Mentales oder auf intelligible Objekte beziehen.
108
De demonstrationibus 8.4.3 (ed. de Rijk 2001, 106): „Scientia autem et opinio conveniunt
primo quia neutra est propositio, sed assensus propositioni additus, quo scilicet propositioni
assentimus.“ Ibid., 107, erläutert er die Zustimmung wie folgt: „... et hanc fidem seu creduli-
tatem (aut quocumque nomine vocetur) vocamus ‚assensum‘.“ Vgl. auch In Met. II, q. 1 (ed.
Paris 1588, f. 8vb). Zum Begriff des assensus vgl. ausführlich de Rijk 1994.
109
De demonstrationibus 8.4.3 (ed. de Rijk 2001, 106): „Secundo conveniunt quia utraque
aliquando dicitur actualis et aliquando habitualis solum.“
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licherweise glaube, dass die Sonne scheint, stimme ich ja einem menta-
len Satz zu. Und wenn ich korrekt glaube, dass jetzt in Paris die Sonne
scheint, aber weder selber in Paris bin noch Wetterberichte über Paris
höre, gebe ich meine Zustimmung zu einem mentalen Satz. Offensichtlich
sind Bedingungen erforderlich, die es ermöglichen, Wissen einerseits von
falschem Glauben, andererseits aber auch von ungerechtfertigtem wahrem
Glauben zu unterscheiden. Genau diese Bedingungen formuliert Buridan,
indem er folgende Differenz zwischen Wissen und Glauben bzw. Meinen
angibt:
„Da wir nun also die Unterschiede zwischen Wissen und Meinen angeben wollen,
sagen wir, dass sich Wissen erstens dadurch von Meinen unterscheidet, dass jedes
Wissen mit Gewissheit und Evidenz erfolgt [...]. Der zweite Unterschied besteht
darin, dass jedes Wissen wahr ist und von einem wahren Satz handelt; nicht jede
Meinung ist derart.“110
Berücksichtigt man diese und die bereits genannten Bedingungen, lässt sich
Wissen folgendermaßen explizieren:
(W) Jemand verfügt über Wissen, (i) wenn er einem mentalen Satz zu-
stimmt, (ii) wenn der Satz wahr ist und (iii) wenn Gewissheit und
Evidenz vorliegen.
In dieser Explikation finden sich genau jene Bedingungen, die auch in gegen-
wärtigen Analysen immer wieder genannt werden.111 In Bedingung (i) wird
Wissen auf eine propositionale Form eingeschränkt. Es geht ja nur um die
Zustimmung zu Sätzen, nicht um nicht-propositionale Einstellungen oder
um praktische Fertigkeiten. Wie jemand eine bestimmte Tätigkeit ausführen
oder mit etwas umgehen kann (z.B. ‚Ich weiß, wie man Fahrrad fährt‘),
steht nicht zur Debatte. Wichtig ist nur, wie jemand mithilfe eines Satzes
einen bestimmten Sachverhalt erfasst und zustimmt, dass es sich tatsächlich
so verhält, wie der Satz bezeichnet.
110
De demonstrationibus 8.4.4 (ed. de Rijk 2001, 110–111): „Nunc ergo, volentes assignare
differentias inter scientiam et opinionem, dicamus scientiam differre ab opinione primo quia
oportet omnem scientiam esse cum certitudine et evidentia [...]. Secunda differentia est quod
omnis scientia est vera et propositionis verae, et non omnis opinio est talis.“ Vgl. auch In
Anal. Post. I, 32, corp. Buridan gibt zudem einen dritten Unterschied an, nämlich dass es
von den ersten Prinzipien kein demonstratives Wissen geben kann. Der besondere Fall des
demonstrativen Wissens soll erst in § 32 erörtert werden. Hier geht es zunächst nur um die
Frage, welche Bedingungen für Wissen im weiten Sinne erfüllt sein müssen.
111
Vgl. Lehrer 1990, 9–13, und Williams 2001, 13–27. Es ist zu betonen, dass Buridan nicht
von einer Definition von Wissen spricht. Daher handelt er sich auch nicht die Probleme ein,
die in der gegenwärtigen Debatte (etwa in den Diskussionen über die berühmten Gettier-
Fälle) gegen die Möglichkeit einer präzisen Definition vorgebracht werden. Buridan geht es
nur darum, die entscheidenden Merkmale von Wissen zu nennen, ohne dass er damit gleich
notwendige und hinreichende Bedingungen formuliert.
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In Bedingung (ii) wird betont, dass der Satz wahr sein muss; genau da-
durch unterscheidet sich Wissen von falschem Glauben.112 Buridan stützt
sich dabei auf eine Korrespondenztheorie der Wahrheit, der zufolge ein
Satz genau dann wahr ist, wenn er einen Sachverhalt korrekt bezeichnet,
und er erklärt diesen Sachverhalt als die Menge aller Entitäten, auf die sich
die Termini des Satzes beziehen.113 So ist der Sachverhalt, dass die Sonne
scheint, nichts anderes als die Verbindung aus der Sonne (einer Substanz)
und dem Scheinen (einer Qualität), d.h. aus jenen beiden Entitäten, auf
die sich Subjekts- und Prädikatsterminus des mentalen Satzes ‚Die Sonne
scheint‘ beziehen. Damit ein Satz wahr ist, muss also keine besondere Sach-
verhaltsentität (kein sog. complexe significabile) vorliegen, wie Buridans
Zeitgenossen Adam Wodeham und Gregor von Rimini meinten.114 Es reicht
aus, dass die einzelnen Substanzen und Qualitäten so bezeichnet werden,
wie sie existieren. Dies mag als eine ontologische Spitzfindigkeit erscheinen,
ist für die ganze Wissenstheorie aber von zentraler Bedeutung. Im Gegen-
satz zu verschiedenen Oxforder und Pariser Kollegen behauptet Buridan
nicht, dass Wissen nur dann möglich ist, wenn es auch komplexe Wissens-
objekte als eigenständige Entitäten gibt, die mit dem mentalen Satz überein-
stimmen und ihn gleichsam fundieren. Er vertritt nur die Auffassung, dass
die Substanzen und Qualitäten existieren müssen, wie sie durch die Termini
des Satzes bezeichnet werden. Damit tritt er für eine ontologisch sparsame
Interpretation der Wahrheitsbedingung ein.115
Die Zustimmung zu einem wahren Satz reicht allerdings nicht aus. Es
ist ja gut möglich, dass jemand aufs Geratewohl einem Satz zustimmt, der
zufälligerweise wahr ist. So kann ich, um das moderne Beispiel wieder auf-
zugreifen, dem Satz ‚Jetzt scheint die Sonne in Paris‘ zustimmen, und es
kann zufälligerweise der Fall sein, dass die Sonne dort tatsächlich scheint.
Wenn ich aber meine Zustimmung gebe, ohne den Sonnenschein selber zu
sehen oder Berichte über das aktuelle Wetter in Paris zu hören, verfüge ich
über kein Wissen. Ich habe ja nur so etwas wie einen Zufallstreffer gelandet.
112
Dies ist gegenüber King 1987 zu betonen, der behauptet, Buridan breche mit der Tradi-
tion, indem er die Wahrheitsbedingung fallen lasse und unter Wissen nur noch „warranted
assent“ verstehe. Zwar lässt Buridan die Wahrheitsbedingung in den Quaestionen zur Meta
physik und zur Physik, auf die sich King stützt, in der Tat unerwähnt. Doch er setzt dort
immer voraus, dass diese Bedingung erfüllt ist. Eine antirealistische oder konstruktivistische
Wissenskonzeption, die eine Übereinstimmung der mentalen Sätze mit äußeren Sachver-
halten außer Acht lässt, ist dem Aristoteliker Buridan fremd, wie De demonstrationibus ver-
deutlicht.
113
Vgl. die in Perler 1990, 438–507, diskutierten Texte sowie In Anal. Post. I, q. 10; eine
konzise Darstellung bietet Zupko 2003, 125–131.
114
Vgl. zu deren Theorien Perler 1994.
115
De Libera 2002, 305, spricht daher von einer „reduktionistischen Theorie“, die einen
Sachverhalt auf basale Entitäten – Substanzen und Qualitäten – reduziert.
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116
De demonstrationibus 8.4.4 (ed. de Rijk 2001, 111): „Certitudo enim requirit duo. Unum
ex parte propositionis cui assentitur, scilicet quod sit vera [...]. Et aliud ex parte nostra, scilicet
quod assensus noster sit firmus, scilicet sine dubitatione seu formidine ad oppositum; et hoc
etiam requiritur ad scientiam, quia assensus dubitativus et formidinalis non transcendit metas
opinionis.“ Vgl. auch In Anal. Post. I, q. 2, corp.
117
Vgl. zu diesem zweifachen Aspekt ausführlich Zupko 2001, 170–175.
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Satz ‚Jetzt scheint die Sonne in Paris‘ zustimmen, in Paris schiene tatsäch-
lich die Sonne, und ich würde meinen Glauben rechtfertigen, indem ich be-
hauptete, ein Hellseher habe mir schon vor einem Jahr gesagt, heute werde
in Paris die Sonne scheinen. Dann gäbe ich zweifellos eine Rechtfertigung,
die aus meiner Sicht vielleicht so stark wäre, dass ich standhaft bei meiner
Zustimmung bliebe. Würde ich gefragt: „Aber bist du denn sicher, dass jetzt
in Paris die Sonne scheint?“, würde ich hartnäckig antworten: „Natürlich
bin ich mir sicher, der Hellseher hat es mir doch gesagt; er irrt sich nie.“
Diese Antwort würde aber kaum als befriedigend akzeptiert. Es kommt
nämlich darauf an, dass nicht irgendeine Rechtfertigung vorgebracht wird,
sondern eine rational nachvollziehbare, von anderen Personen überprüf-
bare. Die Berufung auf einen Hellseher ist keine derartige Rechtfertigung,
mag sie psychologisch gesehen eine noch so große Gewissheit liefern.
Auch Buridan ist sich bewusst, dass nicht jede beliebige Rechtfertigung
akzeptabel ist. Er hält daher in der genannten Bedingung (iii) fest, dass Ge-
wissheit und Evidenz vorliegen müssen, und begründet den Zusatz auf an-
schauliche Weise.118 Ein gläubiger Mensch, so schreibt er, hat eine Gewissheit
von den Glaubensartikeln. So behauptet ein solcher Mensch standhaft, dass
Gott gleichzeitig einfach und dreifaltig ist, und lässt sich durch keinen Ein-
wand erschüttern. Doch er kann keine überprüfbaren Fakten oder Belege
für seine Behauptung geltend machen. Er vertritt die Behauptung einfach
aufgrund seines religiösen Glaubens und der Offenbarungsschriften. Ein
solcher Glaube ist aber kein Wissen, mag er auch durch keine Zweifel beein-
trächtigt werden. Wissen würde erst vorliegen, wenn es auch eine Evidenz
dafür gäbe, dass Gott tatsächlich einfach und dreifaltig ist. Doch genau die
Evidenz fehlt hier. Buridan führt zwar nicht aus, worin die Evidenz im De-
tail bestehen müsste, aber es lassen sich leicht Kriterien nennen, die erfüllt
sein müssten. So müsste jemand auf eine Wahrnehmung, die auch andere
Personen haben könnten, oder auf einen rational nachvollziehbaren, über-
prüfbaren Bericht verweisen können. Aber genau dies ist natürlich nicht
möglich. Es gibt ja keine visuelle Wahrnehmung der Dreifaltigkeit und auch
keinen objektiven Bericht darüber. Man muss bereit sein, die christliche
Theologie zu akzeptieren, und kann nur innerhalb dieses Systems glauben,
dass Gott einfach und dreifaltig ist.
Offensichtlich reicht es nicht aus, irgendeine Rechtfertigung zu geben.
Wie es im modernen Beispiel nicht befriedigend ist, einfach auf den Hell-
seher zu verweisen, so reicht es in Buridans Beispiel nicht aus, einfach auf
die religiöse Glaubensgewissheit hinzuweisen. Die Rechtfertigung muss
Vgl. De demonstrationibus 8.4.4 (ed. de Riik 2001, 111) und In Met. I, q. 2 (ed. Paris
118
1588, f. 8vb).
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sich auf eine Evidenz stützen können, die auch anderen Personen zugäng-
lich und rational nachvollziehbar ist. Dies ist ein entscheidender Punkt in
Buridans Argumentation. Er verdeutlicht, dass die Rechtfertigung nicht
im Sinne einer rein subjektiven Gewissheit verstanden werden darf. Zwar
muss derjenige, der einem mentalen Satz zustimmt, in dem Sinne eine sub-
jektive Gewissheit haben, dass er seine Zustimmung „standhaft“ und ohne
zu zweifeln gibt. Diese Gewissheit muss aber auf die angemessene, auch
für andere nachvollziehbare Weise zustande gekommen sein. Verkürzt aus-
gedrückt könnte man sagen: Nur Gewissheit, die sich auf Evidenz stützt, ist
eine Gewissheit, die Wissen generiert.
An diesem Punkt könnte man nun erwarten, dass Buridan die fundamen-
talistische Strategie übernimmt, die Nikolaus von Autrécourt verfolgt hat.
Es gibt nur drei Arten der durch Evidenz gestützten Gewissheit, so könnte
er sagen, nämlich erstens die Gewissheit der wahrnehmbaren Objekte,
zweitens jene der eigenen mentalen Akte und drittens jene des Prinzips der
Widerspruchsfreiheit. Streng genommen müssen die beiden ersten Arten
von Gewissheit sogar auf die dritte Art rückführbar sein. Die Gewissheit
des Prinzips der Widerspruchsfreiheit ist nämlich die allererste Gewissheit
im positiven Sinn (jede andere Gewissheit ist auf sie rückführbar) und im
negativen Sinn (keine andere Gewissheit geht ihr voraus).119 Würde Buridan
so vorgehen, würde er sich jenem Projekt anschließen, das in § 30 „mono-
lithischer Fundamentalismus“ genannt wurde: Alle Gewissheiten beruhen
auf einer einzigen Gewissheit und lassen sich mit Bezug auf diese Gewissheit
auch rechtfertigen. Wissen im Sinne einer wahren, gerechtfertigten Meinung
zu haben, heißt dann, eine wahre Meinung zu haben, die sich letztlich mit
Rekurs auf das Prinzip der Widerspruchsfreiheit (und nur mit Verweis auf
dieses Prinzip) rechtfertigen lässt.
Doch Buridan wählt nicht diesen Weg. Er hält entschieden fest:
„Wir werden also sagen, dass es zahlreiche und verschiedene Arten der Gewissheit
und der Evidenz gibt.“120
Seiner Ansicht nach ist es keineswegs erforderlich, dass jede Gewissheit auf
jene des ersten Prinzips zurückgeführt wird. Er weist auch die These zu-
rück, dass über die Gewissheit dieses Prinzips hinaus keine andere Gewiss-
heit als Wissensgrundlage angenommen werden darf. In seinen Augen ist es
sogar ein fataler Fehler, eine solche Reduktion anzustreben:
„Es gibt bei einem solchen Wissen nämlich nicht ein einziges komplexes, erstes
und unbeweisbares Prinzip, auf das alles andere zurückgeführt wird, sondern es
Vgl. Nikolaus von Autrécourt, Correspondence II. 2 (ed. de Rijk 1994, 58).
119
De demonstrationibus 8.4.4 (ed. de Rijk 2001, 113): „Dicemus ergo quod multi sunt et
120
gibt ebenso viele Prinzipien, wie es bewiesene Schlusssätze gibt, wie später noch
dargelegt wird.“121
Mit anklagendem Unterton stellt Buridan fest, all jene, die behaupten, nur
das erste Prinzip sei evident und alles andere müsse mit Rekurs auf dieses
Prinzip bewiesen werden, würden etwas Falsches annehmen. Solche Be-
hauptungen seien absurd und würden auf einer mangelnden Kenntnis der
Logik beruhen.122 Zwar nennt Buridan nicht explizit Nikolaus von Autré-
court als einen Vertreter dieser absurden Ansicht, aber es ist leicht ersicht-
lich, dass Nikolaus von der Kritik getroffen wird. Nikolaus fordert ja genau
die inkriminierte Reduktion und behauptet explizit, dass jeder Satz, für
den ein Wissensanspruch erhoben wird, unter Rückführung auf das erste
Prinzip gerechtfertigt werden muss. Gelingt diese Rückführung nicht, wie
dies etwa bei Sätzen über Kausalverhältnisse der Fall ist, kann der Wissens-
anspruch nicht eingelöst werden.
Um Missverständnisse zu vermeiden, gilt es sogleich zu präzisieren, wo-
rauf Buridan mit seiner Kritik nicht abzielt. Er behauptet nicht, das Prinzip
der Widerspruchsfreiheit spiele keine Rolle oder könne gar geleugnet
werden. Wie alle Aristoteliker erachtet auch er es als das fundamentalste,
nicht weiter beweisbare Prinzip, ohne das gar keine Argumentation möglich
ist. Denn wer auch immer sich auf eine Argumentation einlässt, kann nicht
gleichzeitig und in gleicher Hinsicht p und nicht-p behaupten. Zwar ist
es möglich, dieses Prinzip verbal zu leugnen oder infrage zu stellen, aber
dies bedeutet nicht, dass es in Tat und Wahrheit bestritten werden kann.
Buridan veranschaulicht dies mit einer amüsanten Anekdote. Er berichtet,
er habe einige alte Frauen gefragt, ob sie denn gleichzeitig sitzen und nicht
sitzen können. Sie hätten geantwortet, dies sei unmöglich. Darauf habe er
sie weiter gefragt, ob Gott denn nicht auch dies bewirken könne. Da hätten
sie gesagt: „Wir wissen es nicht; Gott kann alles bewirken. Daher muss man
glauben, dass er auch Unmögliches bewirken kann.“123 Dies zeigt Buridan
zufolge aber keineswegs, dass die alten Frauen das erste Prinzip tatsächlich
121
De demonstrationibus 8.3.6 (ed. de Rijk 2001, 83): „Non enim in tali scientia est unicum
principium complexum primum et indemonstrabile ad quod omnia alia reducuntur, sed tot
sunt quot sunt conclusiones demonstratae, sicut dicetur post.“ Vgl. auch In Met. II, q. 1 (ed.
Paris 1588, f. 9rb-va).
122
De demonstrationibus 8.5.2 (ed. de Rijk 2001, 122): „Isti ergo supponunt falsum, puta
quod illud solum principium sit evidens et quod omne aliud principium possit et indigeat pro-
bari per illud. Et haec sunt absurda et dicta ex ignorantia logicae.“ In Met. II, q. 1 (ed. Paris
1588, f. 9vb): „Ideo absurda est opinio aliquorum credentium quod nihil possit simpliciter
demonstrari nisi secundum reductionem ad illud primum principium.“
123
In Met. II, q. 2 (ed. Paris 1588, f. 9vb): „Petivi enim a pluribus vetulis utrum scilicet
crederent quod simul possent sedere et non sedere. Statim dicebant quod erat impossibile. Et
tunc petivi ab eis: Nonne creditis quod Deus posset hoc facere? Statim respondebant: Nesci-
mus, Deus potest omnia facere et quod impossibilia Deus potest facere credendum est.“
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infrage stellen. Schon die Tatsache, dass sie auf die Frage „Wir wissen es
nicht“ und nicht gleichzeitig „Wir wissen es“ antworten, zeigt ja, dass sie
es nach wie vor respektieren. Ihre Antwort verdeutlicht lediglich, dass man
aufgrund der Omnipotenzlehre in Versuchung geraten könnte, etwas ver-
bal infrage zu stellen, was in Tat und Wahrheit die Voraussetzung für jede
Aussage ist.124 Selbst Gott, so betont Buridan, kann das Prinzip der Wider-
spruchsfreiheit nicht beseitigen. Keiner, der geistig gesund ist, würde dieses
Prinzip bestreiten.125
Wenn das Prinzip der Widerspruchsfreiheit auch das erste und fun-
damentalste Prinzip ist, ist es doch weder das einzige Prinzip noch dasje-
nige, auf das alles zurückgeführt werden muss. Zwar kann jede Aussage
in dem trivialen Sinne auf dieses Prinzip zurückgeführt werden, dass sie
dieses Prinzip respektieren muss; was auch immer man behauptet, man
kann nicht gleichzeitig das Gegenteil behaupten. Dies heißt aber nicht, dass
jede Aussage nur mit Verweis auf dieses Prinzip gerechtfertigt werden kann.
Buridans Kritik richtet sich einzig und allein auf diese Rechtfertigungs-
these, die ja den Kern von Nikolaus’ Argumentation bildete. Nikolaus hatte
behauptet, eine Aussage wie ‚Wenn Feuer dem Werg angenähert wird, fängt
das Werg Feuer‘ könne nicht auf das erste Prinzip und damit auch nicht auf
die tautologische Form ‚Wenn p, dann p (und nicht nicht-p)‘ zurückgeführt
werden und sei daher nicht zu rechtfertigen. Daher sei auch kein Wissen
von der Kausalrelation möglich, die durch diese Aussage ausgedrückt wird.
Genau dagegen erhebt Buridan Einspruch, indem er darauf hinweist, dass
eine Aussage nicht nur dadurch gerechtfertigt werden kann, dass sie auf das
erste Prinzip zurückgeführt wird. Es sind auch Rückführungen auf andere
Prinzipien und damit andere Rechtfertigungen möglich. Buridan erwähnt
sogar explizit drei verschiedene Typen von Prinzipien: erstens solche, die
durch unmittelbare Wahrnehmung gewonnen werden, zweitens solche,
die auf Erinnerung beruhen, und drittens solche, die durch Erfahrung,
d.h. durch eine wiederholte Beobachtung von Ereignissen, entstehen.126
124
Buridan betont daher in In Met. IV, q. 12 (ed. Paris 1588, f. 21vb), dass man das Prinzip
nur „ore sed non corde“ leugnen kann. Das heißt: Man kann die Aussage ‚Ich leugne das erste
Prinzip‘ zwar in der mündlichen Sprache formulieren, aber sobald man darüber nachdenkt,
worauf man sich damit auf der mentalen Ebene verpflichtet, muss man die Aussage wieder
zurückziehen. Mit dieser Erklärung verdeutlicht Buridan einmal mehr, dass er – genau wie
Ockham – der mentalen Sprache das Primat einräumt. Erst wenn wir die mentale Ebene be-
trachten, können wir feststellen, was eine Person wirklich behauptet, ja überhaupt behaupten
kann, und nicht nur vorgibt zu behaupten.
125
Vgl. In Met. IV, q. 12 (ed. Paris 1588, f. 21vb), wo Buridan explizit festhält, selbst kraft
der uneingeschränkten Allmacht (potentia absoluta) könne Gott dieses Prinzip nicht zu-
nichte machen. Zur Funktion des ersten Prinzips vgl. Krieger 2003, 84–102.
126
In Phys. I, q. 4 (ed. Paris 1509, f. 5vb): „Secunda conclusio contra illos est quod non
oportet omnem premissam demonstrationis fieri notam et evidentem per reductionem ad pri-
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Wie diese Prinzipien genau entstehen und welche Rolle sie bei der Recht-
fertigung von Aussagen spielen, soll erst in § 33 näher untersucht werden.
Hier gilt es zunächst nur, Buridans allgemeine Strategie festzuhalten. Einem
monolithischen Fundamentalismus, der ein einziges Prinzip als Recht-
fertigungsgrundlage akzeptiert, setzt er einen Pluralismus entgegen, der
eine Vielzahl von Prinzipien und damit auch eine Vielzahl von Rechtfer-
tigungsgrundlagen annimmt, die nicht hierarchisch geordnet sind, sondern
gleichberechtigt nebeneinander bestehen. Daher gibt Buridan nicht nur
den monolithischen Charakter des Fundamentalismus auf, sondern den
Fundamentalismus schlechthin. Er akzeptiert ja nicht drei oder vier letzte
Säulen der Gewissheit, sondern verwirft das ganze Bild von letzten Säulen,
die der Rechtfertigung dienen. Zwar hält er die Idee aufrecht, dass eine
Rechtfertigung erforderlich ist; genau dadurch unterscheidet sich ja Wissen
von bloßem Glauben.127 Buridan verwirft aber die Idee, dass wir nur dann
etwas wissen, wenn wir einen Satz, dem wir zustimmen, mit Rekurs auf
eine letzte Säule der Gewissheit rechtfertigen können. In seiner Konzeption
gibt es ebenso viele Prinzipien, die als Rechtfertigung eingesetzt werden
können, wie es zu rechtfertigende Sätze gibt. Für jeden einzelnen Satz muss
das angemessene Prinzip bestimmt werden.
Wenn es aber eine Fülle von Prinzipien und damit auch von Rechtfer-
tigungsstrategien gibt, stellt sich unweigerlich die Frage, wie es noch ein ge-
ordnetes, zu einem einheitlichen System zusammengefasstes Wissen geben
kann. Die fundamentalistische Strategie hat trotz aller Schwächen den Vor-
teil, dass sie ein einheitliches Wissenssystem schafft, indem sie jedes Wis-
sen – wovon auch immer es handeln mag – auf ein einziges Fundament stellt
und mit Bezug auf dieses Fundament rechtfertigt. Genau dieser Vorteil geht
in Buridans Ansatz verloren. Es scheint, als könne man nur noch einzelne
wahre Sätze, die mit Rekurs auf je unterschiedliche Prinzipien gerechtfertigt
werden, nebeneinander stellen. Die Pluralität von Rechtfertigungsstrategien
hat anscheinend eine Zersplitterung des Wissens zufolge.
Buridan ist sich bewusst, dass eine solche Zersplitterung droht, und
betont daher, dass es durchaus eine Einheit des Wissens und damit auch der
mum principium. Multa enim principia demonstrationum fiunt nota nobis per sensum vel per
memoriam vel per experientiam...“ Vgl. auch De demonstrationibus 8.5.4 (ed. de Rijk 2001,
126) und In Met. II, q. 2 (ed. Paris 1588, f. 9vb).
127
Damit grenzt er sich von jener Position ab, die in der gegenwärtigen Debatte „episte-
mischer Externalismus“ genannt wird. Dieser Position zufolge (vgl. Alston 1989, 185–226)
muss eine Person von ihrem Standpunkt aus gar keine Rechtfertigung liefern, um Wissen zu
haben. Es reicht aus, dass sie ihre Meinung auf eine zuverlässige Art und Weise erworben hat.
Für Buridan wäre eine solche Radikallösung inakzeptabel, weil sie übersieht, dass die Person
auch für sich selber erkennen muss, dass sie etwas weiß. Dies ist nur möglich, wenn sie eine
Rechtfertigung – oder wie Buridan sagt: eine „certitudo et evidentia“ – für ihre Meinung hat.
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128
De demonstrationibus 8.3.6 (ed. de Rijk 2001, 80): „... necesse est talem magnam scien-
tiam dici unam ex unitate alicuius illorum de quibus illa scientia considerat, ad quod alia,
prout in illa scientia considerantur, habent ordinem et attributionem, sicut exercitus dicitur
unus ex ordinatione omnium aliorum in unum principem vel ducem, ideo videndum est quid
sit illud unum ex cuius unitate talis scientia dicitur una.“
129
In De demonstrationibus 8.3.6 (ed. de Rijk 2001, 82) illustriert dies Buridan am Beispiel
der Geometrie. Ich diskutiere im Folgenden ein Beispiel, das er nicht selber anführt.
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standen sind. Kurzum: Jedes Wissensgebiet stellt eine Ordnung unter den
Sätzen her, indem es eine spezifische Betrachtungsweise wählt, die für eine
bestimmte Menge von Sätzen ausschlaggebend ist, und die Sätze mit Rekurs
auf Prinzipien, die für diese und nur diese Betrachtungsweise relevant sind,
rechtfertigt.
Damit gelingt es Buridan, die Frage zu beantworten, wie er trotz seines
Verzichtes auf einen monolithischen Fundamentalismus eine Zersplitterung
des Wissens vermeiden kann. Seiner Ansicht nach gelingt dies, wenn man
zwei grundlegende Punkte berücksichtigt. Erstens darf man die Sätze nicht
isoliert betrachten, sondern muss sie in ihrer jeweiligen Verflechtung und
damit als Bestandteile eines kohärenten Ganzen auffassen. Bildlich gespro-
chen heißt dies: Sätze bilden komplexe Netze und beruhen nicht einfach auf
einer einzigen Grundlage. Daher muss untersucht werden, welchen Platz
sie im jeweiligen Netz einnehmen und mit welchen anderen Sätzen sie ver-
flochten sind. Zweitens ist entscheidend, dass die Sätze sich in bestimmter
Hinsicht auf einen Gegenstand beziehen. Genau diese Hinsicht legt fest, zu
welchem Netz sie überhaupt gehören. Und natürlich ist diese Hinsicht auch
ausschlaggebend, wenn bestimmt werden soll, welche Prinzipien für eine
Rechtfertigung der Sätze infrage kommen. Es gibt nämlich eine Vielzahl
von Prinzipien, aber trotzdem lässt sich ein Satz nicht mit Rekurs auf jedes
beliebige Prinzip rechtfertigen. Stets gilt es zu fragen, in welcher Hinsicht
(in physikalischer, metaphysischer usw.) ein Satz einen Gegenstand über-
haupt bezeichnet und welches Prinzip oder welche Menge von Prinzipien
für genau diese Hinsicht entscheidend ist.130
Versteht man Buridans Erklärungsansatz auf diese Weise, stellt er sich als
ein kohärentistischer und gleichzeitig pluralistischer Ansatz heraus: Es gibt
mehrere Netze von Sätzen und mehrere Rechtfertigungsprinzipien. Daher
ist der Versuch einer Rückführung auf ein erstes Prinzip von Anfang an zum
Scheitern verurteilt. Wo es nicht ein einziges Fundament gibt, sondern eine Ko-
existenz von Netzen, kann es ja auch keine Reduktion auf eine einzige Grund-
130
An dieser Stelle könnte vielleicht ein Zirkularitätsvorwurf auftauchen: Einerseits legt
erst die Betrachtungshinsicht die Einheit eines Wissensgebietes fest; andererseits bestimmt
das jeweilige Wissensgebiet, welche Betrachtungshinsicht relevant ist. Buridan vermag diesem
Zirkel zu entkommen, indem er die gesamte Diskussion über die Einheit und Betrachtungs-
hinsicht im Rahmen eines metaphysischen Naturalismus führt, d.h. einer Theorie, der zufolge
die Gegenstände von Natur aus bestimmte relevante Eigenschaften haben, die eine bestimmte
Betrachtung erfordern. So sind Bäume von Natur aus wachsende Pflanzen und erfordern da-
durch eine physikalische oder biologische Betrachtung. Andererseits sind sie auch von Natur
aus Substanzen und erfordern in dieser Hinsicht eine metaphysische Betrachtung. Die jewei-
lige Hinsicht (und damit auch das Kriterium für die Einheit eines Wissensgebietes) wird also
nicht in einem Wissensgebiet willkürlich bestimmt, sondern durch natürliche Eigenschaften
festgelegt. Zum metaphysischen Rahmen, den Buridan für seine ganzen epistemologischen
Ausführungen wählt, vgl. Zupko 2003, 145–163, und Klima 2005.
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lage geben. Vielmehr muss im jeweiligen Netz geprüft werden, wie die einzel-
nen Sätze miteinander verbunden sind, in welcher Hinsicht sie gerechtfertigt
werden und wie überzeugend die jeweilige Rechtfertigung ist. Gegebenenfalls
müssen dann einzelne Sätze als schlecht gerechtfertigt aus dem Wissensnetz
entfernt werden, oder es sind neue Rechtfertigungen zu suchen. Doch es kann
nicht darum gehen, nur eine Art der Rechtfertigung in den Blick zu nehmen.
Allerdings wäre es auch unangebracht, aufgrund skeptischer Argumente eine
Rechtfertigungsmöglichkeit schlechthin infrage zu stellen. Solche Argumente
können höchstens punktuell eine bestimmte Rechtfertigung anzweifeln und
fordern dadurch zu einer neuen Rechtfertigung oder zu einem punktuellen
Wissensverzicht heraus. Buridan verdeutlicht dies in seiner Diskussion der
klassischen Täuschungsargumente.131 Auf den Einwand, ein kranker Mensch
fälle auf der Grundlage seiner Geschmackswahrnehmung das falsche Urteil,
dass etwas Bitteres süß sei, also könne man sich nie auf die Sinneswahr-
nehmung verlassen und Urteile nie mit Bezug auf die Wahrnehmung recht-
fertigen, erwidert er, dass in diesem Fall – aber auch nur in diesem Fall – das
Urteil in der Tat nicht mit Bezug auf die Wahrnehmung gerechtfertigt werden
darf; der Krankheitszustand schränkt nämlich die Wahrnehmungsfähigkeit
ein. Dies heißt aber nicht, dass der Rekurs auf die Wahrnehmung prinzipiell
untauglich ist. Das Beispiel zeigt nur, dass unter besonderen Bedingungen eine
ganz spezielle Wahrnehmung keine Rechtfertigungsquelle sein kann. Damit
wird aber keineswegs ausgeschlossen, dass unter anderen Bedingungen (oder
wie Buridan selber sagt: bei einer „anderen Disposition der Wahrnehmungs-
organe“) ein Rekurs auf die Wahrnehmung zulässig ist.
Dieses Beispiel verdient Beachtung, weil es verdeutlicht, wie Buridan
mit skeptischen Argumenten umgeht. Er widerlegt sie nicht und stellt sie
auch nicht als irrelevant hin. Trotzdem gibt er dem Skeptiker nicht Recht,
sondern versucht zu zeigen, dass die Beispiele nur eine beschränkte Aus-
sagekraft haben. Um das Bild mit dem Netz wieder aufzugreifen, könnte
man sagen: Buridan weist den Skeptiker darauf hin, dass ein skeptisches
Argument nur einen Knoten im ganzen Netz betrifft, und räumt ein, dass
der Knoten dort in der Tat äußerst locker ist. Die Konsequenz, die aus dieser
Feststellung zu ziehen ist, besteht aber nicht darin, dass man nun das ganze
Netz aufgeben oder jeden Knoten, an dem die Wahrnehmung in Anschlag
gebracht wird, überprüfen muss. Die Konsequenz kann nur die sein, dass
man entweder den einen Knoten aus dem Netz entfernt und damit punk-
tuell einen Wissensanspruch aufgibt (der Kranke hat keine angemessene
Rechtfertigung und glaubt daher nur, dass Bitteres süß ist, weiß dies aber
nicht) oder dass man versucht, durch eine neue Rechtfertigung einen neuen
Vgl. In Anal. Post. I, q. 2, ad 2, und In Met. II, q. 1, ad 2 (ed. Paris 1588, f. 9ra).
131
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Knoten zu knüpfen (der Kranke testet nach der Genesung wiederum Bitte-
res, revidiert sein Wahrnehmungsurteil und gibt eine neue Rechtfertigung
für ein neues Urteil). Auf jeden Fall kann es nur darum gehen, punktuell
eine Rechtfertigung zu prüfen und gegebenenfalls zu verändern.
Buridans Beispiel verdient darüber hinaus auch Beachtung, weil es
aufzeigt, wie seine bereits erwähnte These, wir hätten eine „natürliche
Neigung“, Wissen zu gewinnen, im Rahmen der umfassenden Wissenskon-
zeption zu verstehen ist. Er ignoriert damit nicht einfach die skeptische He-
rausforderung, wie es zunächst schien, und tappt auch nicht in die Falle einer
petitio principii, sondern macht auf folgenden Punkt aufmerksam: Wenn wir
Wissen gewinnen, indem wir innerhalb eines Netzes einen bestimmten Satz
rechtfertigen, wird diese Neigung zu erfolgreicher Rechtfertigung nicht da-
durch widerlegt oder gar zunichte gemacht, dass wir uns punktuell irren.
Die Neigung wird vielmehr gestärkt, denn wir bemühen uns dann, eine neue
Rechtfertigung zu suchen und das Netz noch dichter zu knüpfen. Es sind
ja gerade die skeptischen Beispiele, die uns dazu bringen, Rechtfertigungen
zu überprüfen, eventuell zu revidieren und dadurch unser Wissenssystem
zu festigen. Kurzum: Gerade die Art und Weise, wie wir mit skeptischen
Einwänden umgehen, zeigt, dass wir durchaus eine epistemische „Neigung“
haben und diese auch erfolgreich einsetzen, um Wissen zu gewinnen.
Mit dieser Erklärung würde sich ein hartnäckiger Skeptiker aber kaum
zufrieden geben. Es mag wohl sein, so könnte er erwidern, dass wir die
Neigung haben, Rechtfertigungen zu überprüfen und dadurch unser
Wissenssystem zu stärken. Aber wer garantiert uns denn, dass wir mit den
kognitiven Fähigkeiten ausgestattet sind, die es uns erlauben, tatsächlich
eine erfolgreiche Überprüfung vorzunehmen? Könnte es nicht sein, dass der
Kranke sich auch dann noch irrt, wenn er nach seiner Genesung das frühere
Wahrnehmungsurteil überprüft? Könnte es nicht sein, dass die Annahme
eines gesunden Zustandes, der korrekte Urteile erlaubt, eine Illusion ist?
Buridan setzt einfach voraus, dass jeder Mensch über kognitive Vermögen
verfügt, die im gesunden Zustand im Prinzip korrekt funktionieren. Aber
wie lässt sich diese gehaltvolle Voraussetzung rechtfertigen?
Buridans Antwort auf diese Frage stützt sich, wie J. Zupko bereits aus-
führlich gezeigt hat, auf einen Naturalismus und Reliabilismus.132 Er geht
132
Vgl. Zupko 1993 und prägnant Zupko 2003, 184: „It is possible to raise the issue of
epistemic justification in Buridan, but if we want a contemporary analogue, then the position
we should be looking to is not foundationalism but reliabilism, i.e., the externalist theory
that the justifiability of a belief is a matter of the reliability of the cognitive process(es) which
produced it, where reliability is a contingent (and only a posteriori determinable) matter of
the way those processes operate under normal conditions, or as Buridan might say, ,in the
common course of nature‘.“ Ähnlich argumentiert auch Grellard 2005, 258–273.
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von der für jeden Aristoteliker selbstverständlichen Annahme aus, dass ein
Mensch mit prinzipiell zuverlässigen und funktionstüchtigen kognitiven Ver-
mögen ausgestattet ist. Genau wie Ockham, dessen Reliabilismus bereits aus-
führlich dargestellt wurde (vgl. § 20–22), geht es auch Buridan nicht darum,
einen Beweis für diese Annahme zu führen. Eine Beweisführung wäre auch
schwerlich möglich, weil sie ja wiederum mithilfe kognitiver Vermögen, deren
Zuverlässigkeit vorauszusetzen wäre, erfolgen müsste. Buridan will und kann
nicht einen neutralen Beweis führen, sondern operiert innerhalb einer meta-
physischen Theorie, die annimmt, dass es in der Welt Lebewesen gibt, die mit
zuverlässigen kognitiven Vermögen ausgestattet sind, und dass diese Vermö-
gen unter normalen Bedingungen korrekt funktionieren, sodass sie korrekte
Resultate – Wahrnehmungen, Meinungen und schließlich Wissen – liefern.
Die entscheidende Frage lautet für ihn nicht, ob wir Menschen überhaupt
zuverlässige Vermögen haben, sondern wie und wann sie korrekt funktionie-
ren. Daher spielt für ihn die skeptische Frage, ob wir uns denn auf unsere
kognitiven Vermögen verlassen dürfen, auch keine Rolle. Konkret heißt dies,
dass sich im Falle des Kranken, der Bitteres als süß empfindet, nicht die Frage
stellt, ob er prinzipiell das Vermögen besitzt, eine korrekte Geschmacksemp-
findung zu haben. Wichtig sind vielmehr die Fragen, wann dieses Vermögen
zuverlässig funktioniert und welche Faktoren es beeinträchtigen. Sind diese
Faktoren einmal bestimmt, können sie eliminiert werden.
Selbst wenn im Rahmen eines aristotelischen Naturalismus zugestanden
wird, dass die Menschen über kognitive Vermögen verfügen, die im Prinzip
korrekt funktionieren, ist damit das skeptische Problem allerdings noch
nicht gelöst. Es könnte doch immer sein, dass Gott eingreift und die na-
türlichen Vermögen außer Kraft setzt. Oder es könnte auch sein, dass Gott
zwar die natürlichen Vermögen intakt lässt, aber punktuell falsche Urteile
und sogar falsche Rechtfertigungen eingibt. Wenn etwa der Kranke nach
der Genesung wieder etwas Bitteres testet und damit eine neue Rechtfer-
tigung für sein Urteil über bittere Speisen sucht, könnte Gott genau zu
diesem Zeitpunkt eingreifen und in ihm eine falsche Rechtfertigung her-
vorbringen, ohne dass er dies bemerkt. Nichts immunisiert uns Menschen
gegen einen solchen Eingriff. Daher dürfen wir nie behaupten, wir könnten
aufgrund einer „natürlichen Neigung“ erfolgreich Wissen erwerben – auch
dann nicht, wenn innerhalb eines aristotelischen Rahmens die Zuverlässig-
keit der kognitiven Vermögen zugestanden wird.
Dieser Einwand weist auf einen zentralen Punkt hin. Selbst wenn ein na-
türlicher Erwerb von Wissen gelingt, ist eine übernatürliche Manipulation
immer möglich. Buridan geht explizit auf diesen Einwand ein. Nachdem er
präzisiert hat, dass wir Sinnestäuschungen im Prinzip korrigieren können,
räumt er ein:
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„Mit Bezug auf solche evidenten Sätze könnte der Intellekt durch eine über-
natürliche Ursache getäuscht werden. Gott könnte nämlich Feuer ohne Hitze be-
wirken, und er könnte in deinem Wahrnehmungssinn ohne einen [entsprechenden]
Gegenstand eine sinnliche Species bewirken und aufrechterhalten. So würdest du
aufgrund dieser Evidenz urteilen, als ob der Gegenstand anwesend wäre, und du
würdest falsch urteilen.“133
Es könnte also sein, dass ich jetzt gerade urteile, dass die Sonne scheint,
weil Gott in mir den Sinneseindruck von Sonnenschein erzeugt, und zwar
ohne dass die Sonne tatsächlich scheint. Selbst wenn ich davon ausgehe, dass
ich über zuverlässige kognitive Vermögen verfüge, bin ich gegen diese Täu-
schung nicht gefeit. Ich kann sie auch nicht korrigieren, weil ich ja keinen
neutralen Standpunkt einnehmen kann, von dem aus ich überprüfen könnte,
ob der Eindruck von Sonnenschein tatsächlich von der Sonne und nicht von
Gott verursacht wurde.
Wie lässt sich auf dieses skeptische Argument reagieren? Wie in Kapitel
II bereits deutlich geworden ist, lassen sich mindestens zwei Strategien ver-
folgen. Zum einen könnte man (wie etwa Thomas von Aquin) bestreiten,
dass eine solche Täuschung überhaupt möglich ist. Wenn man nämlich einen
korrekten Gottesbegriff hat, sieht man ein, dass ein gütiger Gott nicht be-
trügerisch sein kann. Zum anderen könnte man (wie Johannes Rodington,
Peter von Ailly u.a.) die Täuschungsmöglichkeit akzeptieren, den Wissens-
anspruch aber einschränken. Man müsste dann vorsichtig sagen, dass man
nur eine bedingte Evidenz vom Sonnenschein und damit auch nur ein be-
dingtes Wissen hat. Das heißt: Wenn Gott nicht eingreift, dann ist ein Wis-
sen möglich. Da man aber nie überprüfen kann, ob die Bedingung erfüllt ist
oder nicht, kann man keinen absoluten Wissensanspruch erheben.
Buridan verfolgt keine dieser beiden Strategien. Er wählt vielmehr
einen Ansatz, den man „Differenzierung der epistemischen Ansprüche“
nennen könnte, indem er darauf hinweist, dass hier übertrieben hohe An-
forderungen an eine Rechtfertigung erhoben werden. Seiner Ansicht nach
ist es unsinnig, nur dann etwas als Wissen zu akzeptieren, wenn jeder noch
so abwegige Einwand widerlegt und eine absolut unanfechtbare Recht-
fertigung vorgebracht wird. Mit Verweis auf Aristoteles betont er, dass es
abwegig ist, überall die gleich hohen Ansprüche zu erheben und die gleiche
Art von Rechtfertigung zu fordern. Genau wie es unangebracht ist, in der
Ethik eine mathematische Genauigkeit zu fordern, ist es auch unzulässig, in
133
In Anal. Post. I, q. 2, corp.: „... circa tales propositiones euidentes intellectus posset
decipi per causam supernaturalem; quia deus posset facere ignem sine caliditate, et posset
facere in sensu tuo (ed. meo) et conseruare speciem sensitiuam sine obiecto, et ita per istam
euidentiam tu iudicares ac si obiectum esset praesens, et iudicares falsum.“ Vgl. auch In Met.
II, q. 1 (ed. Paris 1588,f. 9ra).
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Buridan geht es hier nicht darum, eine bloß teilweise oder unzureichende
Evidenz einer absoluten Evidenz unterzuordnen und gegenüber dem Skep-
tiker einzuräumen, dass im Bereich des natürlichen Wissens leider nur eine
unzureichende (und dadurch immer wieder anfechtbare) Evidenz möglich
ist. Sein Punkt ist vielmehr der, dass es im Bereich des natürlichen Wissens
nichts anderes als eine natürliche Evidenz gibt und dass diese Art von
Evidenz auch vollständig ausreicht. Es wäre abwegig, darin eine defizitäre
Form von Evidenz zu sehen. Ein moderner Vergleich möge diesen Punkt
verdeutlichen.
Angenommen, ein Freund fragt mich, wie lang der Schreibtisch ist, an
dem ich arbeite. Ich greife zu einem Maßband, stelle die Länge fest und sage,
er sei zwei Meter zwanzig lang. Nun gibt sich der Freund aber nicht zu-
frieden und fragt, ob es denn nicht sein könnte, dass ich ungenau gemessen
habe oder dass mein Maßband die Länge nicht korrekt anzeigt. Darauf fahre
ich zum nächsten Baumarkt, kaufe zwei weitere Maßbänder und messe die
Länge nochmals. Und siehe da, ich stelle wiederum zwei Meter zwanzig
fest. Doch der Freund ist immer noch nicht zufrieden und fragt, ob es denn
nicht sein könnte, dass ein böswilliger Maßbandhersteller sämtliche Bänder
gefälscht hat, sodass ich mich auf kein einziges Band verlassen kann. Was
wäre die angemessene Reaktion? Am ehesten (abgesehen von einem Zweifel
am Geisteszustand des Freundes) wohl folgende: Für den vorliegenden Fall
134
De demonstrationibus 8.4.4 (ed. de Rijk 2001, 113): „Sed haec dicta solvuntur ex secundo
Metaphysicae. Nam dicit Aristoteles quod ,acribologia mathematica non est in omnibus ex-
petenda, sed in non habentibus materiam, propter quod non naturalis est modus‘. Et conse-
quenter Commentator dicit super hoc quod non oportet hominem quaerere ut modus fidei in
demonstrationibus naturalibus sit nec modus fidei in mathematicis. Dicemus ergo quod multi
sunt et diversi modi certitudinis et evidentiae.“
135
In Anal. Post. I, q. 2, corp.: „Tamen illa euidentia naturalis bene dicitur naturalis, quia
secundum illam non potest homo decipi stante communi cursu naturae, licet deciperetur per
causam supernaturalemm; et haec euidentia sufficit ad naturalem scientiam.“ Vgl. auch In
Met. II, q. 1 (ed. Paris 1588, f. 8vb-9ra) und De demonstrationibus 8.3.6 (ed. de Rijk 2001,
113).
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ist die Frage einfach abwegig. Rein theoretisch gesehen könnte es natürlich
sein, dass ein böswilliger Maßbandhersteller am Werk ist, aber das ist hier
nicht relevant. Wenn ich in einem alltäglichen Kontext wissen will, wie
lang der Tisch ist, reichen alltägliche Messmethoden völlig aus. Mein Mess-
resultat wird durch den Verweis auf eine mögliche Täuschung nicht infrage
gestellt oder in seiner Gültigkeit eingeschränkt – der Verweis spielt hier ein-
fach keine Rolle. Er könnte höchstens relevant werden, wenn ich im Auftrag
einer staatlichen Behörde oder der Stiftung Warentest die Qualität der Maß-
bänder überprüfen müsste. Dann würden andere Standards gelten.
Das simple Beispiel verdeutlicht, dass es in einem bestimmten Kontext
gar nicht sinnvoll ist, einen radikalen skeptischen Einwand zu erheben und
eine gegen jeden Zweifel immunisierte Rechtfertigung zu fordern. Was ein
relevanter Zweifel ist, hängt immer vom jeweiligen Kontext ab. Die Recht-
fertigung, die jemand in einem alltäglichen Kontext gibt, wird durch einen
Zweifel, der höchstens in einem ganz speziellen Kontext relevant ist, nicht
tangiert. Genau auf diesen Punkt zielt Buridan ab, wenn er betont, dass
die natürliche Evidenz im Bereich des natürlichen Wissens trotz des Hin-
weises auf ein mögliches übernatürliches Eingreifen eine Evidenz ist und
bleibt. Denn was im Bereich der theologischen Spekulation, wo Argumente
bezüglich der absoluten Allmacht Gottes eine Rolle spielen, relevant sein
mag, ist keineswegs im Bereich der Naturphilosophie relevant, wo es
nur um natürliche Substanzen und ihre kausalen Vermögen geht. Daher
schränkt eine theologische Spekulation die natürliche Evidenz nicht ein
und macht sie auch nicht zu einer bloß bedingten Evidenz. Man würde den
Fehler einer Kontextverwechslung begehen, wenn man die Art von Evi-
denz, die im Rahmen einer theologischen Spekulation gefordert wird, auch
zur Rechtfertigung so alltäglicher Urteile wie ‚Jetzt scheint die Sonne‘ oder
‚Der Tisch ist zwei Meter zwanzig lang‘ verlangen würde. In diesen Fällen
reicht eine wahrnehmungsgestützte Evidenz völlig aus. Buridan führt
dafür selber ein anschauliches Beispiel an.136 Ein Astronom weiß, dass eine
Mondfinsternis stattfindet, weil er den relevanten Grund dafür (nämlich
dass die Erde zwischen Sonne und Mond steht) angeben und somit eine
Rechtfertigung liefern kann. Wenn nun eingewandt wird, Gott könnte
ihm doch jede mögliche Meinung über das Verhältnis der Himmelskörper
eingeben, so ist dies kein relevanter Einspruch. Im Kontext der Astronomie
ist die Rechtfertigung vollkommen ausreichend, selbst wenn sie mit Rekurs
136
De demonstrationibus 8.7.7 (ed. de Rijk 2001, 157): „Scit enim bonus astrologus quod
hodie luna eclipsatur propter hoc quod hodie terra est diametraliter inter eam et solem col-
locata ; [...]. Et haec astrologorum scientia et eius demonstrationes tales sunt cum certitudine
et evidentia requisitis ad scientias naturales, licet haec possint falsificari per potentiam super-
naturalem.“
dass das Eisen heiß ist‘ mit der simplen Feststellung ‚Ich habe es angefasst
und festgestellt, dass es heiß ist‘ rechtfertigen.137 Es wäre unsinnig, hier zu
behaupten, dass erst dann Wissen vorliegt, wenn alle möglichen Einwände
widerlegt sind. Würde man die Messlatte derart hoch anlegen, wäre all-
tägliches Wissen nie möglich. Buridan betont daher, dass kein endgültiger
Beweis und keine unanfechtbare, letzte Rechtfertigung erforderlich ist. Es
spielt auch keine Rolle, ob sich die Meinung auf etwas Kontingentes oder
Notwendiges bezieht. Entscheidend ist nur, dass sie „mit Gewissheit und
Evidenz“ vertreten wird und somit hinlänglich gerechtfertigt wird.138 Auf
einer alltäglichen Ebene ist nicht mehr erforderlich.
Auf einer wissenschaftlichen Ebene reicht diese Art von Wissen aber
nicht aus. Dort ist demonstratives Wissen erforderlich, das mithilfe eines
syllogistischen Schlussverfahrens gewonnen wird. Wendet man dieses Ver-
fahren an, geht man auf erste und wahre Prinzipien zurück und zeigt, dass
der Satz, dem man zustimmt, aus diesen Prinzipien hergeleitet werden kann.
Genau mit Bezug auf diese Prinzipien wird der Satz gerechtfertigt. So zeigt
man etwa, um ein klassisches Beispiel des Aristoteles zu zitieren, dass für
den Satz ‚Donner ist ein Geräusch in den Wolken‘ Prinzipien angegeben
werden können, aus denen dieser Satz folgt, ja folgen muss. Wenn man diese
Prinzipien angibt, kann man deutlich machen, dass man die Gründe dafür
kennt, dass Donner ein Geräusch in den Wolken ist. Man stellt dann nicht
einfach fest, dass Donner ein Geräusch in den Wolken ist, sondern erkennt
auch, warum dies so ist und nicht anders sein kann. Genau dieses Erkennen
und Explizieren der Gründe zeichnet demonstratives Wissen aus.
Diese Forderung wirft indessen ein grundlegendes Problem auf. Wie
können die Prinzipien gewonnen werden, die man zum Erwerb von demons-
trativem Wissen benötigt? Sicherlich werden sie nicht ihrerseits durch ein
Wissen gewonnen. Dann müssten die Prinzipien nämlich wiederum mithilfe
eines syllogistischen Verfahrens aus höheren Prinzipien hergeleitet werden.
Und wäre auch für diese höheren Prinzipien ein Wissen erforderlich, müsste
es für sie noch höhere Prinzipien geben usw.; für das Wissen von Prinzipien
wären stets weitere Prinzipien erforderlich. Um diesem Regress zu entgehen,
stellt Buridan in Anlehnung an Aristoteles fest, dass es von den Prinzipien
137
De demonstrationibus 8.4.4 (ed. de Rijk 2001, 114): „Sed tu quaereres, si ego manifeste
video Socratem currere, an ego scio quod Socrates currit vel quod ego solum hoc opinor. Et
ego respondeo quod tunc hoc non opinor sed scio. Omnes enim sic loquuntur ,scio quod hoc
ferrum est calidum, quia manifeste sentio ipsum esse calidum‘, et ,scio firmiter quod Socrates
heri currebat, quia vidi eum currere‘.“
138
De demonstrationibus 8.4.3 (ed. de Rijk 2001, 109): „Scientia namque quamcumque
communiter accepta in nobis est notitia propositionis adhaesiva cum certitudine et evidentia,
ut distinguatur ab opinione (ut dicetur post), sive sit propositionis necessariae, sive contin-
gentis.“
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kein Wissen gibt, sondern eine Einsicht oder ein Verstehen (intellectus).139
Doch damit ist das Problem noch nicht gelöst. Was ist denn ein Verstehen?
Und wie ist dadurch ein Zugang zu Prinzipien möglich? Für Buridan steht
fest, dass das Verstehen sicherlich nicht das spontane Erfassen oder Betrach-
ten intelligibler Objekte sein kann. Er lehnt kategorisch einen Platonismus
ab, der annimmt, es gebe so etwas wie rein geistige Objekte, die in einem
separaten ontologischen Bereich existieren und durch eine geistige Kontem-
plation erfasst werden können. Wenn es ein Verstehen von Prinzipien gibt,
so nur in Form eines Erfassens von fundamentalen Sätzen. Wie das Wissen,
so hat auch das Verstehen eine propositionale Struktur.
Doch wie gelingt es uns, Prinzipien als fundamentale Sätze zu erfassen?
Zur Beantwortung dieser Frage könnte man auf einen Innatismus rekurrie-
ren und behaupten, dass die Prinzipien allen Menschen angeboren sind und
bei Bedarf einfach aktiviert und unmittelbar erfasst werden können. Diese
Antwort ist für Buridan aber nicht akzeptabel. Wenn sie zuträfe, müssten
nämlich allen Menschen alle Prinzipien in gleicher Weise angeboren sein,
und alle Menschen müssten ihnen auch in gleicher Weise zustimmen. Die
Erfahrung zeigt aber, dass die einen Menschen diesen und die anderen jenen
Prinzipien zustimmen.140
Mit dieser Feststellung ist der Innatismus freilich noch nicht widerlegt,
auch wenn Buridan keinen weiteren Widerlegungsversuch unternimmt.
Ein Vertreter dieser Position könnte sogleich darauf hinweisen, dass ja
nur die Disposition, Prinzipien zu erfassen, allen Menschen in gleicher
Weise angeboren ist, nicht aber das aktuelle Erfassen. Da dieses Erfassen
bei unterschiedlichen Menschen unter unterschiedlichen Bedingungen
erfolgt, kann es durchaus individuelle Differenzen geben. Mit dieser Ver-
teidigungsstrategie würde der Innatismus aber so weit abgeschwächt, dass
auch Buridan ihm zustimmen würde. Auch er hält ausdrücklich fest, dass
wir als vernunftbegabte Lebewesen alle in gleicher Weise eine Disposition
oder eine „natürliche Neigung“ haben, Prinzipien zu erfassen und ihnen
zuzustimmen.141 Die entscheidende Frage lautet für ihn nicht, ob wir eine
solche Disposition haben, sondern wie wir sie aktualisieren. Wie kommen
wir in konkreten Situationen dazu, ganz bestimmte Prinzipien zu erfassen,
die wir zur Rechtfertigung einzelner Sätze verwenden? Und wie ist es zu
erklären, dass einige Menschen diese und andere jene Prinzipien aktuell
139
In Anal. Post. II, q. 11, corp.: „Notandum est quod habitus primorum principiorum
indemonstrabilium non uocatur ,scientia‘, sed ,intellectus‘, pro tanto quia scientia, proprio
nomine dicta, est habitus per demonstrationem acquisitus...“ Diese These beruht auf Anal.
Post. II, 19 (100b6–16).
140
Vgl. In Met. II, q. 2 (ed. Paris 1588, f. 9va).
141
Vgl. In Anal. Post. II, q. 11, corp.
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142
In Anal. Post. II, q. 11, corp.: „Modo principia de primo istorum modorum statim ab
intellectu capiuntur cum sibi praesentantur, hoc est dictum quod intellectus statim assentit eis
scito quid nominis illorum terminorum: uerbi gratia, quod aliquid est, quod homo est animal,
quod albedo est color, quod idem non contingit simul inesse et non inesse, quod nullum ra-
tionale est irrationale, et sic de plurimis aliis.“
143
In Anal. Post. II, q. 11, corp.: „Verum est tamen quod intellectus non solum ad notitiam
conclusionum, sed etiam principiorum indiget ministerio sensus per quem praesentantur
sibi intelligibilia.“ Buridan trifft diese Aussage, bevor er verschiedene Arten von Prinzipien
unterscheidet. Es handelt sich daher um eine Aussage, die auf alle Prinzipien zutrifft.
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Dieser Terminus ist nämlich nichts anderes als ein natürliches Zeichen, das
durch eine natürliche Kausalrelation erworben wird. Wer diesen Terminus
vollständig erfasst, erkennt, dass ‚Mensch‘ so viel bedeutet wie ‚vernunft-
begabtes Lebewesen‘, und kann ihn somit in Relation zu anderen Termini
setzen. Natürlich wird die vollständige Bedeutung nicht auf einen Schlag
erfasst. Es kann durchaus sein, dass aufwändige Untersuchungen und Ver-
gleiche mit anderen Termini erforderlich sind. Doch wenn die Bedeutung
des Terminus einmal im vollen Umfang erfasst wird, steht auch fest, dass
‚Mensch‘ in Relation zu ‚vernunftbegabt‘ und ‚Lebewesen‘ steht. Und dann
lässt sich auch der Satz ‚Der Mensch ist ein Lebewesen‘ erfassen.
Wie dieses (von Buridan freilich nicht explizit diskutierte) Beispiel ver-
deutlicht, werden auch analytische Prinzipien auf empirischer Grundlage
erfasst. Die Besonderheit dieser Prinzipien besteht nicht darin, dass sie un-
geachtet aller sinnlichen Erfahrung im Geist schlummern und nach Belie-
ben aktiviert werden können, sondern dass sie einzig und allein durch eine
Bedeutungsanalyse gewonnen werden können. Die sinnliche Erfahrung ist
nur so etwas wie der auslösende Faktor dafür, dass sie gebildet und ana-
lysiert werden.
Gäbe es nur diese Prinzipien, wäre es sicherlich möglich, einzelne Sätze
mit Rekurs auf diese fundamentalen Sätze zu rechtfertigen und dadurch ein
Wissen zu gewinnen. Allerdings würde man auf diese Weise nicht mehr als
ein analytisches Wissen erwerben, d.h. ein Wissen bezüglich der Bedeutung
der Termini. Doch es wäre kein Wissen bezüglich konkreter Sachverhalte
möglich. So könnte man nur wissen, dass ein Mensch einen Organismus
hat, weil ‚Mensch‘ so viel bedeutet wie ‚vernunftbegabtes Lebewesen‘ und
‚Lebwesen‘ wiederum so viel heißt wie ‚Gegenstand mit einem Organis-
mus‘, doch man könnte nicht wissen, dass dieser oder jener Gegenstand
ein Mensch ist oder dass er blond ist. Dazu müsste man ja auf Prinzipien
zugreifen können, die etwas über die konkrete Beschaffenheit einzelner
Gegenstände aussagen, d.h. auf synthetische Prinzipien, oder in mittelalter-
licher Terminologie ausgedrückt: auf Prinzipien, deren Termini einander
nicht beinhalten und die nicht durch eine bloße Bedeutungsanalyse erfasst
werden können. Wie lassen sich derartige Prinzipien gewinnen? Buridans
Antwort auf diese zentrale Frage fällt klar und deutlich aus:
„Man muss daher wissen, dass es – wie Aristoteles am Ende der Zweiten Analytiken
festhält – einige unbeweisbare Prinzipien gibt, die durch die Sinneswahrnehmung
erworben werden, z.B. dass dieses Feuer heiß ist. Andere Prinzipien werden durch
die Erinnerung erworben, z.B. dass das Feuer, das ich gestern berührt habe, heiß
war. Wieder andere werden durch die Erfahrung erworben, z.B. dass das Feuer, das
ich nicht berühre, heiß ist. Dies weiß ich nämlich dadurch, dass ich andere berührt
habe, die ich als heiß wahrgenommen habe. Aufgrund der Erinnerung an sie urteile
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ich mit einem Erfahrungsurteil, dass auch dieses Feuer heiß ist, obwohl ich nicht
wahrnehme, dass es heiß ist.“144
Offensichtlich gibt es drei Arten von synthetischen Prinzipien, die alle auf
empirische Weise gewonnen werden. Für jede dieser Arten gibt es wiederum
zahlreiche Einzelprinzipien, z.B. dass dieses Feuer heiß ist, dass dieses Eis
kalt ist, dass dieses Gras grün ist usw. Buridan verweist nicht auf ein einziges
Grundprinzip, auf das rekurriert werden muss. Seiner Ansicht nach gibt es
eine Fülle von einander gleichgestellten Prinzipien; je nach Satz, den es zu
rechtfertigen gilt, ist ein anderes Prinzip erforderlich. Damit wird einmal
mehr der kohärentistische und pluralistische Erklärungsansatz deutlich, der
bereits in § 32 betont wurde. Einer fundamentalistischen Konzeption, die
nur ein Prinzip zulässt oder sämtliche Prinzipien auf ein letztes reduzieren
will, stellt Buridan eine Auffassung gegenüber, die eine Vielzahl von nicht
reduzierbaren Prinzipien akzeptiert. Zudem zeigt sich nun, dass er auch
eine dynamische Wissenskonzeption vertritt. Er bestreitet ja, dass es von
Anfang eine ganz bestimmte Menge von angeborenen Prinzipien gibt, die
von Anfang an für alle Menschen festgelegt sind. Vielmehr werden nach und
nach immer mehr Prinzipien erworben. Je nach Erfahrung, die ein Mensch
macht, werden ganz unterschiedliche Prinzipien gewonnen. Um die mehr-
fach verwendete Metapher des Netzes wieder zu verwenden, könnte man
sagen, dass das Wissensnetz von jedem Menschen immer unfangreicher und
dichter geknüpft wird – je mehr Prinzipien erworben werden, desto mehr
Knoten entstehen, die der Verknüpfung und Festigung der bereits bestehen-
den Maschen dienen.
Diese Wissenskonzeption wirft allerdings ein Problem auf. Wie stabil
ist das Wissensnetz, wenn die einzelnen Prinzipien auf empirischem Weg
gewonnen werden, dieser Weg sich aber häufig als irreführend erweist? Wir
können uns doch in der Sinneswahrnehmung täuschen, wie die klassischen
Beispiele (der Stab im Wasser wird als gebrochen wahrgenommen, der süße
Honig wird vom Kranken als bitter empfunden, die Bäume am Ufer werden
vom Schiff aus als schwankend gesehen usw.), zeigen. Die Wahrnehmung
scheint für den Erwerb von Prinzipien, die sicheres Wissen ermöglichen
sollen, gänzlich ungeeignet zu sein.
In der Tat ist die Wahrnehmung nicht in jeder Situation zuverlässig. Bu-
144
In Met. II, q. 2 (f. 9vb): „Et ideo sciendum est sicut determinat Aristoteles in fine Pos-
teriorum quod aliqua sunt principia indemonstrabilia accepta per sensum, ut quod iste ignis
es calidus; alia autem accepta per memoriam, ut quod ignis quem heri tetigi fuit calidus; et
aliqua sunt accepta per experimentum ut quod iste ignis quem scilicet ego non (ed. nunc)
tango est calidus. Hoc enim scio per hoc quod alios tetigi quos sensi calidos, et per memoriam
de illis iudico experimentali iudicio etiam quod iste ignis est calidus licet non sentiam eum
esse calidum.“ Vgl. auch In Anal. Post. II, q. 11, corp.
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ridan diskutiert eingehend die bereits von Petrus Aureoli und Wilhelm von
Ockham erörterten Fälle.145 Sie zeigen seiner Meinung nach aber nicht, dass
die Wahrnehmung prinzipiell unzuverlässig ist, sondern verdeutlichen nur,
dass es in besonderen Situationen verzerrende Wahrnehmungsbedingungen
gibt. Wenn diese Bedingungen in den Blick genommen werden, lässt sich
die Genese der Täuschung leicht erklären. Buridan verdeutlicht dies anhand
eines konkreten Beispiels.146 Wenn jemand vom Schiff aus Bäume am Ufer
sieht und glaubt, sie würden schwanken, so ist dies streng genommen nicht
eine Täuschung der Augen, sondern des sinnlichen Urteilsvermögens. Auf-
grund der Bewegung auf dem Schiff treffen nämlich die Species, die in der
visuellen Wahrnehmung von den Bäumen zu den Augen gelangen, auf ver-
schiedenen Punkten der Augen auf. Dies veranlasst das Vermögen, das für
das Beurteilen konkreter Gegenstände zuständig ist (virtus existimativa),
dazu, fälschlicherweise zu urteilen, dass sich die Bäume bewegen. Doch
wenn einmal eingesehen wird, dass nur die Species in den Augen und nicht
die Bäume auf- und abgehen, lässt sich das Urteil korrigieren. Genauer gesagt
ist es der Intellekt, der dies einsieht und dadurch das Urteil des sinnlichen
Vermögens korrigiert. Für Buridan ist es entscheidend, dass der Intellekt
immer die Fähigkeit hat, den Irrtum eines ihm untergeordneten Vermögens
zu korrigieren.147 Daher ist der Intellekt immer in der Lage, die Einzelfälle
von Sinnestäuschungen auszusondern und sich beim Erfassen von Prinzipien
auf jene Situationen zu konzentrieren, in denen unter normalen Bedingungen
korrekte Urteile über konkrete Sachverhalte gewonnen werden.
Ein Skeptiker könnte freilich einwenden, dass dies noch keine be-
friedigende Erklärung ist, wenn es darum geht, ein absolut irrtumsfreies
Erfassen von Prinzipien zu garantieren. Könnte es nicht sein, dass sich auch
der Intellekt in seinen Urteilen irrt? Und besteht nicht das prinzipielle Pro-
blem, dass wir nie beurteilen können, ob sich der Intellekt nicht irrt, weil
wir über kein höheres Vermögen verfügen, das die eventuellen Irrtümer des
Intellekts korrigiert? Wir können doch immer nur die Urteile des Intellekts
konstatieren, sind aber nie in der Lage, sie zu überprüfen.
Buridan sieht hier kein Problem. Lapidar hält er fest, der Intellekt sei
„durch eine natürliche Neigung auf das Wahre hin geordnet“ und stimme
daher aufgrund der Erfahrung korrekt einem Prinzip zu.148 Er behauptet
sogar:
145
Vgl. In Met. II, q. 1 (f. 8rb-va) und In Anal. Post. I, q. 2.
146
Vgl. In Met. II, q.1, ad 3 (f. 9ra).
147
Vgl. prägnant In Met. II, q. 1 (ed. Paris 1588, f. 9rb): „Sed intellectus videns causam talis
apparentie corrigit errorem sensus.“
148
In Met. II, q.1 (f. 9rb): „... intellectus per naturalem inclinationem suam ad verum pre-
dispositus per experientias assentit universali principio.“
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„Die Natur an sich handelt nämlich immer korrekt und vollkommen. Doch manch-
mal tritt aufgrund eines Hindernisses ein Fehler in der Natur oder in ihrer Hand-
lung auf.“149
In Met. II, q. 2 (ed. Paris 1588, f. 10ra): „Natura enim quantum est de se semper agit
149
recte et perfecte, sed aliquando per impedimentum accidit peccatum in natura siue eius ope-
ratione.“
150
Darin offenbart sich auch ein teleologischer Grundgedanke, der für Aristoteles’ Umgang
mit skeptischen Argumenten kennzeichnend ist (vgl. Barnes 1987, 61–64): Die Natur hat die
Lebewesen (einschließlich der Menschen) mit bestimmten Vermögen ausgestattet, damit sie
diese Vermögen im Normalfall korrekt verwenden und zu korrekten Wahrnehmungen und
Meinungen gelangen. Könnten sie keinen erfolgreichen Gebrauch von ihren Vermögen ma-
chen, würden sie gar nicht überleben. Schon um das Überleben zu sichern, „handelt die Natur
immer korrekt und vollkommen“. Daher ist radikaler Irrtum von vornherein ausgeschlossen.
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Vgl. In Met. II, q. 2 (ed. Paris 1588, f. 9vb) und In Anal. Post. II, q. 11, corp.; ausführlich
156
stimmten Art dazu berechtigen, ein Prinzip zu formulieren, das gleich auf
alle Dinge dieser Art zutreffen soll? Es kann doch gut sein, dass ich bei der
Verwendung von Rhabarber zehn Mal eine heilende Wirkung festgestellt
habe, dass sich beim elften oder zwölften Mal aber keine heilende Wirkung
einstellen würde. Selbst wenn ich die Anzahl der Einzelfälle immer mehr
erhöhe, habe ich dadurch keine Gewähr, dass nicht plötzlich ein Fall auftre-
ten wird, der den bislang untersuchten Fällen widerspricht. Ein Induktions-
schluss von einigen Fällen auf alle Fälle kann nie ein vollkommen irrtums-
freier Schluss sein.
Auf den ersten Blick scheint es für dieses Problem nur zwei Möglich-
keiten zu geben, die beide gleich unattraktiv sind. Entweder man versucht,
die Anzahl der untersuchten Fälle so lange zu erhöhen, bis man tatsächlich
alle Fälle berücksichtigt; dies ist unmöglich, weil immer wieder neue Fälle
auftreten. Oder man beschränkt sich auf eine begrenzte Menge von unter-
suchten Fällen und fügt dann die Klausel „und so weiter für alle weiteren
Fälle“ hinzu, setzt sich dann aber der Gefahr aus, dass stets ein Gegenbei-
spiel auftreten kann; die Klausel ist empirisch nicht abgesichert. Buridan ist
sich der Unattraktivität dieser beiden Lösungen bewusst und betont daher
mit Blick auf das Beispiel mit dem Feuer:
„Wenn man von der Induktion spricht, so ist festzuhalten, dass die Induktion auf-
grund ihrer Form nicht [gültig] schließt. Erstens, weil niemand bei allen einzelnen
Feuern induktiv schließen kann; denn niemand berührt alle, und es ist auch nicht
möglich, dass jemand alle berühren kann. Dennoch folgt der Schlusssatz aufgrund
seiner Form nur, wenn bei allen induktiv geschlossen wird und auch gewusst wird,
dass es alle sind. Zweitens, weil es hier auch nichts bringt, die Klausel ‚und so weiter
für die anderen Fälle‘ hinzuzufügen, denn diese Klausel wird nicht gewusst und sie
ist dem Intellekt nur gewiss, wenn er ein allgemeines Prinzip bilden kann; du setzt
ja eine allgemeine Klausel fest, nämlich dass es sich bei allen anderen so verhält.
Daher gilt: Obwohl der Intellekt die Induktion benötigt, reicht sie doch nicht aus,
um den Intellekt festzulegen, wenn der Intellekt nicht aufgrund seiner Natur dazu
neigt und darauf festgelegt ist.“157
157
In Anal. Post. II, q. 11, corp.: „Et quando dicitur de inductione, dicendum est quod
inductio non concludit gratia formae. Primo quia nullus potest inducere in omnibus ignibus
singularibus; nullus enim tangit omnes, nec est possibile quod aliquis tangat omnes; et tamen
non sequitur conclusio gratia formae nisi inductum sit in omnibus et sit scitum quod illa sunt
omnia. Secundo etiam non ualet ad propositum additio istius clausulae ,et sic de aliis‘, quia illa
clausula non est scita nec est certa intellectui nisi in quantum ipse potest formare universale
principium, quia iam tu ponis clausulam uniuersalem, scilicet quod ita est de omnibus aliis.
Et ideo licet intellectus indigeat inductione, tamen illa non est sufficiens ad determinandum
intellectum nisi intellectus per suam naturam esset ad hoc inclinatus et determinatus.“
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§ 34 Schussfolgerungen
Es scheint auf den ersten Blick, als würde Nikolaus von Autrécourt eine
dezidiert skeptische Position vertreten und zahlreiche Wissensansprüche
bestreiten: Es gibt kein Wissen von Kausalrelationen, kein Wissen von Sub-
stanzen, ja nicht einmal ein Wissen von all dem, was in der Sinneswahr-
nehmung erscheint. Johannes Buridan scheint sich genau von dieser Position
abzugrenzen und eine klare antiskeptische Haltung einzunehmen. Für ihn
steht fest, dass wir über vielfältiges Wissen verfügen, das auf empirische
Weise gewonnen wird und sich auf wahrnehmbare Eigenschaften ebenso
bezieht wie auf Substanzen und Kausalrelationen. Ja, er scheint dieses Wis-
sen sogar mit Verweis auf infallible Prinzipien zu rechtfertigen.
Wie sich in diesem Kapitel herausgestellt hat, ist es zwar verlockend und
in der Forschungsliteratur auch durchaus üblich, die Auseinandersetzung
zwischen den beiden Pariser Magistern auf diese Weise zu charakterisie-
ren.158 Eine genauere Textanalyse zeigt aber, dass es hier nicht einfach um
den Disput zwischen einem Skeptiker und einem Antiskeptiker geht. Ni-
kolaus von Autrécourt ist kein Skeptiker, der Wissensansprüche rundweg
bestreitet oder bezweifelt. Und Johannes Buridan ist kein Antiskeptiker,
der Wissensansprüche mit Verweis auf infallible, ein für allemal festste-
hende Prinzipien verteidigt. Beide sind der Ansicht, dass Wissen prinzipiell
möglich ist, und beide versuchen zu zeigen, wie Wissen erworben werden
kann. Doch sie gehen von unterschiedlichen Wissenskonzeptionen aus und
Die einzigen Ausnahmen stellen Thijssen 2000 und Grellard 2005 dar.
158
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§ 34 Schlussfolgerungen 397
§ 34 Schlussfolgerungen 399
nehmung, der Erinnerung und der Erfahrung und damit auf mehrere Arten
der Rechtfertigung.
Diese beiden unterschiedlichen Wissenskonzeptionen verdeutlichen,
dass es im 14. Jh. verschiedene Möglichkeiten gab, auf die skeptische He-
rausforderung zu reagieren. Eine fundamentalistische Reaktion war ebenso
möglich wie eine kohärentistisch-fallibilistische. Darüber hinaus zeigt die
Kontroverse zwischen Nikolaus und Buridan auch, dass die Debatten im
Spätmittelalter keineswegs von einem aristotelischen Fundamentalismus
beherrscht waren, wie gelegentlich behauptet wird.160 Nikolaus’ Position ist
zwar fundamentalistisch, aber nicht aristotelisch, und Buridans Haltung ist
aristotelisch, aber nicht fundamentalistisch. Besonders Buridans Grund-
these, dass es eine Vielzahl von rechtfertigenden Sätzen gibt und dass diese
Sätze auf empirischem Weg – nicht durch eine infallible Intuition – gewon-
nen werden, zeigt sehr schön, dass es gefährlich wäre, eine aristotelische
Wissenskonzeption einfach mit einem Fundamentalismus gleichzusetzen.
Es gab im Mittelalter durchaus auch eine Lesart der aristotelischen Wissens-
konzeption, die – wie W. Detel treffend formuliert – „methodologisch fragil
und metaphysisch weich“ ausfällt.161 Sie ist methodologisch fragil, weil sie
nicht davon ausgeht, dass ein für allemal einige wenige Grundprinzipien auf
infallible Weise erfasst werden, sondern darauf insistiert, dass zahlreiche
Prinzipien auf zahlreichen Wegen – durch Wahrnehmung, Erinnerung
und Induktion – gebildet werden und gegebenenfalls auch revidiert werden
müssen. Die Konzeption ist zudem metaphysisch weich, weil sie keine all-
gemeinen Essenzen annimmt, die den Inhalt der Prinzipien bestimmen,
sondern in nominalistischer Weise nur auf individuelle Gegenstände ver-
weist, die in individuellen Wahrnehmungszuständen erfasst werden. Wissen
zeichnet sich für Buridan gerade dadurch aus, dass es nicht auf einem letz-
ten Fundament beruht, sondern in einem Netz von Sätzen besteht, die auf
empirischem Weg gewonnen werden.
Ein Vergleich der Position Nikolaus’ mit jener Buridans zeigt freilich,
dass hier nicht nur Differenzen in der jeweiligen Wissenskonzeption beste-
160
So behauptet Nussbaum 1982, 282, in der Kommentierung der Zweiten Analytiken habe
sich während des ganzen Mittelalters ein aristotelischer Fundamentalismus manifestiert. Es
sei einhellig angenommen worden, dass die ersten Prinzipien „apriorische Wahrheiten“ seien,
die durch eine intellektuelle Intuition erfasst werden und eine unerschütterliche Wissens-
grundlage bilden. Detel 1993, Bd. 1, 263–279, zeigt anhand zahlreicher Belege, dass sich diese
Aristoteles-Deutung, die den mittelalterlichen Kommentatoren zugeschrieben wird, bis in
die gegenwärtige Aristoteles-Forschung hinein gehalten hat.
161
Vgl. Detel 1993, Bd. 1, 290. Detel bezieht diese Aussage freilich nicht auf Buridans
Wissenskonzeption, sondern auf Aristoteles’ eigene Konzeption, die er gegenüber fundamen-
talistischen Deutungen verteidigt. Das Beispiel Buridans verdeutlicht, dass die antifundamen-
talistische Aristoteles-Lektüre bereits im Mittelalter Zustimmung fand.
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162
Vgl. Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 181, Z. 23).
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§ 34 Schlussfolgerungen 401
163
Vgl. Rashdall 1906/07.
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SCHLUSS
SCHLUSS
404 Schluss
hat.1 Denn wer uns mit skeptischen Fragen bedrängt, bringt uns dazu, so
fundamentale Begriffe wie ‚Wissen‘, ‚Meinung‘, ‚Erkenntnis‘, ‚Rechtferti-
gung‘ und ‚Irrtum‘ zu klären.
Die Analysen in den vier Kapiteln dieser Studie dienten dazu, anhand
konkreter Fallstudien zu zeigen, dass es im Mittelalter zahlreiche Denker
gab, die auf eine solche Begriffsklärung abzielten und somit – entgegen
einem weit verbreiteten historiographischen Vorurteil – nicht etwa Zerstörer
und Kritiker der Philosophie waren, sondern „Wohltäter der menschlichen
Vernunft“, oder etwas bescheidener ausgedrückt: konstruktive Philosophen,
die durch begriffliche Analysen Wissensansprüche prüften und präzisierten.
Freilich heißt dies nicht, dass sie solche Ansprüche kategorisch zurückwie-
sen und die Möglichkeit von Wissen bestritten. Wie sich herausgestellt hat,
nahm keiner der in dieser Studie berücksichtigten Autoren eine skeptische
Position ein. Ob nun Heinrich von Gent mithilfe skeptischer Argumente
einen essentialistischen Wissensbegriff prüfte, Ockham einen reliabilisti-
schen, Crathorn einen repräsentationalistischen, Nikolaus von Autrécourt
einen fundamentalistischen und Buridan einen kohärentistischen – keiner
verfolgte das Ziel, Wissen als eine Illusion hinzustellen. Im Gegenteil: Alle
mittelalterlichen Autoren vertraten die These, dass Wissen möglich ist, und
sie versuchten sogar im Detail zu zeigen, durch welche kognitiven Prozesse
Wissen erworben werden kann. In dieser Hinsicht stehen sie heutigen Phi-
losophen nahe, die skeptische Argumente aus methodischen Gründen ein-
setzen, um zu präzisieren, worin ein Wissensanspruch besteht und wie er
eingelöst werden kann. So hält J. Greco fest:
„Wie sehr viele andere Erkenntnistheoretiker interessierte ich mich für skeptische
Argumente, weil ich dachte, dass sie uns gehaltvolle Lektionen über die Natur von
Wissen und Evidenz lehren können. Es war sogar Bestandteil meiner Methodologie
anzunehmen, dass der Skeptizismus falsch ist und dass skeptische Argumente
irgendwo einen Fehler haben müssen. Zu sagen, wo dieser Fehler liegt, und die phi-
losophische Lektion daraus zu lernen – das war die Pointe.“2
Thomas von Aquin, Heinrich von Gent, Johannes Duns Scotus, Ockham,
Crathorn, Nikolaus von Autrécourt, Buridan und viele andere mittel-
alterliche Autoren hätten dieser Aussage eines analytischen Gegenwarts-
philosophen unumwunden zustimmen können. Auch sie nahmen an,
1
Stroud 1984, 256: „Philosophical scepticism is a ‚benefactor of human reason‘ in forcing
us to pursue that question at levels we would have no reason to reach, or even to consider,
without it.“
2
Greco 2000, xiii: „Along with a great many other epistemologists, I was interested in
skeptical arguments because I thought that they could teach substantive lessons about the
nature of knowledge and evidence. It was part of my methodology, in fact, to assume that
skepticism is false, and that skeptical arguments must go wrong somewhere. The trick was to
say where, and to learn the philosophical lesson contained therein.“
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dass der Skeptiker Unrecht hat, setzten sich aber intensiv mit skeptischen
Argumenten auseinander, um zu zeigen, an welchem Punkt und warum
er Unrecht hat. Genau in dieser detaillierten Replik auf den Skeptiker
zeigt sich die Fruchtbarkeit der mittelalterlichen Debatten, auch ihre
Reichhaltigkeit und Vielfalt. Unterschiedliche Autoren wiesen die skep-
tische Position nämlich aus ganz unterschiedlichen Gründen zurück. So
ist für Heinrich von Gent die These, dass Wissen unmöglich ist, unhalt-
bar, weil sie übersieht, dass unsere kognitiven Zustände, mögen sie noch
so defizient und instabil sein, durch eine übernatürliche Illumination
korrigiert und stabilisiert werden. Für Thomas von Aquin ist sie unbe-
gründet, weil sie unbeachtet lässt, dass unsere kognitiven Zustände nur
dadurch zustande kommen können, dass wir die Formen der Gegenstände
in uns aufnehmen. Ob wir wollen oder nicht, wir beziehen uns immer auf
die Formen in den materiellen Gegenständen und haben im Normalfall
ein korrektes Wissen von ihnen. Für Nikolaus von Autrécourt ist die
skeptische Position zu verwerfen, weil sie nicht berücksichtigt, dass es ein
unbezweifelbares Wissensfundament gibt, nämlich das Prinzip der Wi-
derspruchsfreiheit, und dass alle Wissensansprüche, die auf diesem Fun-
dament beruhen, unantastbar sind. Auch für Ockham und Buridan ist die
skeptische Position unbegründet, weil sie in ihrer Radikalität übersieht,
dass wir im Prinzip über zuverlässige kognitive Vermögen verfügen, die
es uns erlauben, wahre mentale Sätze über die Gegenstände in der Welt
zu bilden und dadurch Wissen zu erwerben. Die Tatsache, dass wir uns
in einigen Fällen irren, gibt keinen Anlass zum Verdacht, dass wir uns
immer irren.
Wie diese Stellungnahmen verschiedener Autoren zeigen, waren die Stra-
tegien, mit denen die skeptische Position zurückgewiesen wurde, vielfältig
und beruhten auf unterschiedlichen metaphysischen und erkenntnistheore-
tischen Voraussetzungen. Doch die Grundintention war bei allen Autoren
ähnlich: Wenn skeptische Argumente inhaltlich auch nicht zu überzeugen
vermögen, sind sie methodisch gesehen doch sinnvoll und wichtig. Sie for-
dern nämlich dazu heraus, die impliziten Annahmen, die in metaphysischen
und erkenntnistheoretischen Untersuchungen gemacht werden, explizit zu
machen, und sie ermöglichen dadurch, einen differenzierten und reflektier-
ten Begriff von Wissen zu gewinnen.
Doch warum spielte für die mittelalterlichen Autoren eine Klärung und
Präzisierung des Wissensbegriffs eine so zentrale Rolle? Was motivierte sie
dazu, skeptische Argumente als Instrument einzusetzen, um zu bestim-
men, was Wissen überhaupt ist, und um Wissensansprüche zu testen? Diese
Fragen stellen sich in besonderem Maße, wenn man die mittelalterlichen
Debatten mit jenen in der Antike – insbesondere in der pyrrhonischen Tra-
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406 Schluss
3
Vgl. Sextus Empiricus, PH III, 280–281. Wie Burnyeat 1984 im Detail gezeigt hat, strebt
der pyrrhonische Skeptiker keine „Isolation“ an, die einen theoretischen Zweifel von der
praktischen Lebensführung absondert. Sein Ziel ist von Anfang an praktischer Natur: die
Erreichung der Seelenruhe und damit des Glücks durch die Anwendung einer skeptischen
Methode.
4
Williams 1988 stellt daher treffend fest, dass der pyrrhonische Skeptiker einen „Skeptizis-
mus ohne Theorie“ lebt und dadurch alle theoretischen Annahmen – selbst metatheoretische
Annahmen, die das Ziel und die Struktur einer Erkenntnistheorie betreffen – von sich weist.
Er behauptet nichts, sondern referiert und kontrastiert Behauptungen (einschließlich theo-
retischer Behauptungen), die er sammelt.
5
Meistens geht es dabei um die Möglichkeit eines Wissens von der materiellen Außenwelt
– ein Problem, das nicht im Mittelpunkt der antiken Debatten stand. Frede 1988, 70, grenzt
daher zu Recht die skeptischen Debatten im Mittelalter von jenen in der Antike ab, indem
er bemerkt: „... scepticism came to be something rather different from what it had been in
its classical form in antiquity, namely a limited, dogmatic form of scepticism concerning the
external world.“
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6
Natürlich gibt es auch mittelalterliche Texte, in denen skeptische Argumente in prakti-
scher Hinsicht diskutiert werden. So erörtert Witelo in De causa primaria paenitentiae in
hominibus et de natura daemonum ausführlich die Natur und Wirkungsmacht der Dämonen,
um praktisch aufzuzeigen, wie man sich vor täuschenden Dämonen schützen kann. Freilich
geht auch er (ganz im Gegensatz zu einem pyrrhonischen Skeptiker) immer von der An-
nahme aus, dass Wissen möglich ist. Die Frage ist nur, wie Wissen angesichts der Präsenz von
Dämonen praktisch gesichert werden kann. Daher zielt Witelo letztendlich auf die praktische
Anwendung einer Theorie ab.
7
Vgl. § 2; ausführlich dazu Wittwer 2003.
8
Dieses simple Faktum gilt es in Erinnerung zu rufen, wenn mittelalterliche Debatten ein-
fach auf Rezeptionsdebatten reduziert werden, wie dies etwa bei Floridi 2002 geschieht.
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408 Schluss
und dadurch Akte des Sehens, Hörens usw. zu ermöglichen. Wie erfolgt
dieses Aufnehmen? Und wie kann es ein korrektes Sehen und Hören ermög
lichen? Die zahlreichen Beispiele von Sinnestäuschungen zeigen doch, dass
es uns häufig nicht gelingt, die Formen aufzunehmen, oder dass wir sie in
verzerrter Weise aufnehmen und dadurch zu falschen Wahrnehmungsurtei-
len verleitet werden. Daher stellt sich die Frage, ob wir uns überhaupt auf die
Wahrnehmung berufen können, wenn wir versuchen, den Erwerb von Wis-
sen zu erklären. Wie sich im Verlauf dieser Studie herausgestellt hat, setzten
mehrere Autoren des 13. und 14. Jhs. genau an diesem Punkt an, wenn sie
skeptische Probleme diskutierten. Sie begnügten sich nicht einfach damit,
Einzelfälle von Sinnestäuschungen zu beschreiben oder kontrastierende
Sinneswahrnehmungen einander gegenüberzustellen, sondern wählten die
Einzelfälle als Ausgangspunkt, um die grundsätzliche Frage zu erörtern, ob
und wie auf der Grundlage von Sinneswahrnehmung Wissen möglich ist. So
diskutierte Ockham das berühmte Beispiel von den Bäumen, die vom Schiff
aus schwankend erscheinen, um grundsätzlich zu klären, was überhaupt
erscheint und was – die Bäume selbst oder irgendeine Erscheinung – Wis-
sensobjekt ist. Und Nikolaus von Autrécourt ging auf dieses Beispiel ein,
um Kriterien zu erarbeiten, die erfüllt sein müssen, damit eine veridische
Wahrnehmung vorliegt.9 Konkrete Beispiele motivierten diese Philosophen
dazu, in theoretischer Hinsicht zu untersuchen, wie die epistemische Funk-
tion der Sinneswahrnehmung zu verstehen ist.
Aristoteles’ Seelentheorie gab aber auch auf der Ebene der intellektu-
ellen Seele Anlass zu einer theoretischen Untersuchung. Wenn es nämlich
die Aufgabe dieser Seele ist, die intelligiblen Formen aufzunehmen, stellt
sich wiederum die Frage, ob und wie dieser Prozess des Aufnehmens ge-
lingt. Dürfen wir einfach annehmen, dass der Intellekt die Formen korrekt
aufnimmt und korrekte Urteile über die Gegenstände bildet? Können wir
davon ausgehen, dass er gegen Irrtümer gleichsam immunisiert ist? Wenn
nicht, wie können Irrtümer korrigiert werden – durch rein natürliche kog
nitive Prozesse oder nur mithilfe einer göttlichen Illumination? Und führt
die Annahme einer übernatürlichen Illumination nicht zur Preisgabe des
Anspruchs auf natürliches Wissens? Genau diese Fragen stellten für Hein-
rich von Gent und Johannes Duns Scotus den Einstieg in eine skeptische
Debatte dar, wie sich im ersten Kapitel gezeigt hat, motivierten aber auch
andere Autoren – unter ihnen Thomas von Aquin – zu einer Prüfung skepti
scher Argumente. Entscheidend ist, dass auch hier nicht einfach Einzelfälle
von möglicher intellektueller Täuschung diskutiert wurden. Die Einzelfälle
boten nur einen Anlass, um grundsätzlich und in theoretischer Hinsicht die
9
Vgl. zu Ockham § 21, zu Nikolaus von Autrécourt § 28.
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410 Schluss
Sie verstärkten zudem den analytischen Charakter. De Libera 1991, 152, hält prägnant
10
fest: „C’est à présent une vérité d’évidence: la philosophie analytique est née au Moyen Age et
chez les théologiens.“ Diese allgemeine Aussage trifft in besonderem Maße auf skeptische De-
batten zu. Denn indem die Theologie skeptische Hypothesen bereitstellte, motivierte sie die
Philosophie dazu, erstens mit analytischen Mitteln die innere Konsistenz dieser Hypothesen
zu testen und zweitens so zentrale Begriffe wie ‚möglich‘ und ‚notwendig‘ zu klären. Da die
meisten mittelalterlichen Denker sowohl Theologen als auch Philosophen waren, beteiligten
sie sich sowohl an Debatten über die absolute Allmacht Gottes als auch an erkenntnistheo-
retischen Diskussionen und wandten die Hypothesen unmittelbar auf ihre philosophische
Arbeit an.
11
Daneben spielten natürlich auch allgemeine, weit über die skeptischen Debatten hinaus
gehende Faktoren eine Rolle. Besonders zwei sind zu nennen. Zum einen förderte die Ent-
wicklung technischer Argumentationsstile (etwa im Rahmen der Obligationes- und der
Sophismata-Literatur) die Etablierung einer analytischen, theoretisch ausgerichteten Dis-
kussionskultur. Murdoch 1975 spricht treffend von „analytischen Sprachen“, die den Rahmen
philosophischer Debatten bestimmten und sie zu rein theoretischen, an Begriffsklärungen
orientierten Diskussionen machten. Zum anderen trat eine Veränderung im Selbstverständnis
der an Universitäten (vor allem an Artistenfakultäten) lehrenden Philosophen ein. Sie sahen
die Beschäftigung mit theoretischen Fragen als einen Wert in sich, der nicht weiter begrün-
dungspflichtig war, und bestimmten die Beschäftigung mit solchen Fragen als das höchste
Ziel. Das „intellektuelle Glück“ bestand in der theoretischen Analyse, nicht in der Anleitung
zu einer praktischen Lebensführung. Vgl. zu diesen tiefgreifenden Veränderungen im intel-
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412 Schluss
vorgebracht werden, bei denen zwar alle Bedingungen erfüllt sind, aber
trotzdem kein Wissen vorliegt.14 Angesichts dieser Fälle erscheint die Suche
nach einer Definition in der Tat als ein kaum gewinnbringendes Unterfan-
gen. Dies bedeutet aber keineswegs, dass auch eine Begriffsklärung wenig
Erfolg verspricht. In einer Begriffsklärung geht es nämlich darum, dass
– bildlich gesprochen – ein Begriffsnetz aufgespannt und aufgezeigt wird,
welchen Platz ein bestimmter Begriff im ganzen Netz einnimmt, wie er mit
anderen Begriffen verknüpft ist und wie er sich von wiederum anderen Be-
griffen abgrenzt. Erst wenn sein spezifischer Platz verdeutlicht wird, lässt
sich verstehen, was mit diesem Begriff überhaupt gemeint ist. Dies gilt in
besonderem Maße für den Wissensbegriff. Erst wenn gezeigt wird, wie er
sich zu anderen epistemischen Begriffen – etwa zu ‚Meinung‘, ‚Vermutung‘
und ‚Rechtfertigung‘ – verhält, wird deutlich, worauf wir überhaupt abzie-
len, wenn wir uns selber Wissen zusprechen. Und erst dann wird auch klar,
was wir unter einem Wissensanspruch verstehen. So betrachtet dient eine
Begriffsklärung immer einem besseren Selbstverständnis: Wir verstehen
uns selbst als Wissende erst, wenn wir uns klar darüber werden, was wir
unter Wissen verstehen. Dazu müssen wir so etwas wie typische Merkmale
oder Kennzeichen von Wissen bestimmen, selbst wenn wir nicht in der Lage
sind, notwendige und hinreichende Bedingungen zu formulieren. Erst wenn
wir über solche Merkmale verfügen, können wir in einem konkreten Fall
darüber diskutieren, ob wir tatsächlich etwas wissen oder nicht. Das Ziel
einer Begriffsklärung besteht dann darin, diese Merkmale immer präziser
zu fassen, um immer differenzierter beurteilen zu können, wann wir über
Wissen verfügen und wann nicht. Skeptische Argumente treiben eine solche
Begriffsklärung in besonderem Maße voran, weil sie mithilfe bestimmter
Szenarien zu zeigen versuchen, dass das, was wir gewöhnlich zum Wissen
zählen, diesem Begriff gar nicht genügt. Dies zwingt uns, den Wissensbe-
griff genauer zu fassen und zu erläutern, was tatsächlich unter diesen Be-
griff fällt und was nicht.
Doch warum strebten die Philosophen des 13. und 14. Jhs. eine Begriffs-
klärung an? Was motivierte sie dazu, den Wissensbegriff in einem ganzen
Netz von epistemischen Begriffen zu verorten? Eine Motivation war sicher-
lich das gerade genannte systematische Bedürfnis, typische Merkmale von
Wissen anzugeben, um damit Wissensansprüche – allen voran die eigenen
Ansprüche – präziser fassen zu können. Dies zeigt sich etwa bei Heinrich
von Gent, der sorgfältig zwei Wissensbegriffe voneinander unterscheidet,
um zwei Arten von Wissensansprüchen (und damit auch zwei Wege, um
14
Eine konzise Auswertung dieser Debatte bietet Williams 2001, 13–37. Daher wurde
schon in der Einleitung (vgl. § 3) festgehalten, dass es nicht um eine Definition von Wissen
gehen soll.
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414 Schluss
Expositio in libr. Physicorum, prologus, § 1 (OPh IV, 3): „Inter alios autem philosopho-
15
rum peritissimus Aristoteles non parvae nec contemnendae doctrinae praeclarus apparuit,
qui quasi lynceis oculis secretiora naturae rimatus philosophiae naturalis abscondita posteris
revelavit.“
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Diese Exposition, die in Ockhams Text von einer detaillierten Analyse des
Wissensbegriffs gefolgt wird, verdeutlicht, dass die Unklarheit und Inter-
pretationsbedürftigkeit eines philosophischen Kernbegriffs den Ausgangs-
punkt und gleichzeitig auch die Motivation für eine theoretische Reflexion
über die Möglichkeit von Wissen darstellte. Ockham und den meisten ande-
ren Aristoteles-Interpreten ging es nicht einfach darum, den aristotelischen
Wissensbegriff exegetisch zu rekonstruieren. Ausgehend vom klassischen
Text interessierten sie sich vielmehr für die Frage, wie der Wissensbegriff
überhaupt sinnvoll verstanden werden kann und wie Wissensansprüche
eingelöst werden können. Genau dieses theoretische Interesse wurde durch
die Auseinandersetzung mit dem Text einer Autorität geweckt, und genau
dadurch wurde die epistemologische Debatte vorangetrieben. Diesen Punkt
gilt es zu betonen, um Missverständnisse zu vermeiden. Die für den scho-
lastischen Universitätsbetrieb charakteristische Kultur des Kommentierens
und Interpretierens antiker Texte beeinträchtigte die theoretische Neugier
nicht, sondern stachelte sie im Gegenteil an. Gerade die „Textkultur“ beför-
derte den Prozess des Auslotens und Klärens von Begriffen.
Ein zweiter Grund liegt in der engen Verflechtung von theologischen und
philosophischen Diskussionen. Das genuin theologische Interesse an der
Möglichkeit einer besonderen Art von Wissen – etwa einem Wissen von Gott
oder von theologischen Lehrsätzen – verstärkte nämlich das Interesse an der
Frage, was unter Wissen überhaupt zu verstehen ist. Auch dies lässt sich am
Beispiel Ockhams veranschaulichen. Ockham eröffnet seinen Sentenzen-
kommentar mit der klassischen Frage, ob es eine evidente Erkenntnis von
theologischen Wahrheiten gebe. Er fügt gleich hinzu, dass sich diese Frage
nur beantworten lässt, wenn grundsätzlich feststeht, was unter den Begriffen
‚Erkenntnis‘, ‚Evidenz‘ und ‚Wahrheit‘ zu verstehen ist.16 Daher widmet er
den ganzen Prolog zum Sentenzenkommentar einer Klärung dieser Grund-
begriffe und geht dabei ausführlich auf verschiedene Arten der Erkenntnis
sowie auf das Verhältnis von intuitiver Erkenntnis und Wissen ein. Erst ganz
am Ende der ausführlichen Analyse kommt er wieder auf die theologische
Ausgangsfrage zurück. Sie dient ihm gleichsam als Wegweiser für einen
langen Weg, der in ein erkenntnistheoretisches – nicht primär theologisches
– Gelände führt. Es ist daher nicht erstaunlich, dass sein theoretisches In-
teresse am Wissensbegriff durch eine auf den ersten Blick rein theologische
Frage ausgelöst wurde. Gleiches gilt für zahlreiche andere Autoren, die sich
vorwiegend in theologischen Texten der Wissensproblematik widmeten.17
So beschäftigten sich Crathorn, Chatton, Mayronis, Wodeham, Rodington, Gregor von
17
Rimini und Peter von Ailly vorwiegend in theologischen Texten mit der Frage, ob und wie
eine sichere intuitive Erkenntnis möglich ist; vgl. §§ 15–17 und §§ 23–25.
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416 Schluss
18
Grant 2001 verdeutlicht, dass auch in der neueren Debatte teilweise immer noch behauptet
wird, philosophische Innovation sei im Mittelalter durch die Übermacht einer theologischen
Kultur beeinträchtigt oder sogar verunmöglicht worden. Zu Recht führt er zahlreiche Bei-
spiele aus der Naturphilosophie an, die zeigen, dass gerade umgekehrt theologische Gedanken
(z.B. bezüglich der Existenz möglicher Welten) die philosophischen Debatten vorantrieben.
Gleiches gilt auch für die Erkenntnistheorie: Gerade die theologischen Überlegungen bezüg-
lich besonderer Formen von Wissen und der möglichen göttlichen Intervention in episte-
mische Prozesse trieben die erkenntnistheoretischen Debatten voran.
LITERATUR
418 Literatur
Literatur 419
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424 Literatur
Literatur 425
426 Literatur
Literatur 427
428 Literatur
Literatur 429
PERSONENREGISTER
Adam Wodeham 14, 21, 29–30, 207, Johannes Duns Scotus 6n, 11, 14,
210–211, 291–300, 302, 304–305, 367, 33–35, 37, 57–58, 77, 82, 84–115, 117,
409, 415n 122n, 124, 156, 171, 189, 228, 232n,
Anselm von Canterbury 33n, 54n 255, 266, 283, 285, 289–290, 295n,
Aristoteles 19, 21–22, 28, 36n, 37, 42, 316, 334, 335, 340n, 404, 408
44n, 45n, 46–47, 51, 52n, 61, 138, Johannes Mirecourt 188n, 192n
310, 312, 338, 340, 379, 380n, 383, Johannes Rodington 29, 170–179, 185,
385–386, 387n, 389n, 399, 407–410, 192, 194, 202–204, 297, 379, 415n
414–415
Augustinus, Aurelius 17–18, 28, 33n, Locke, John 72, 142
34n, 36, 37n, 41n, 44n, 45n, 47, 51n,
53n, 74n, 75–76, 78n, 84, 95, 101n, Mersenne, Marin 118–119
111, 120, 163n, 189, 196, 282, 409
Averroes 45n, 310 Nikolaus von Autrécourt 14, 17n, 22,
27n, 93, 233, 307, 309–316, 318–319,
Bonaventura 17n, 37n, 55n, 82n 321, 326, 327n, 328–364, 370–372,
392–393, 396–401, 404–405, 408, 414
Cicero, Marcus Tullius 17, 18n, 33n
Crathorn, Wilhelm (?) 9–10, 24n, Peter von Ailly 28, 188–192, 197–198,
25–26, 49, 117, 179–188, 190, 192, 202–204, 379, 415n
202, 204, 404, 410, 415n Peter Aureoli 11, 14, 180n, 239–242,
245, 266–268, 270–272, 280, 282,
Descartes, René 4, 94–95, 118–121, 284, 316–317, 327n, 363n, 388
125, 135, 142, 148–149, 173, 176–177, Peter Johannis Olivi 26, 49, 150n,
191, 202–204, 226, 254, 263, 266, 166–170, 185, 201, 410
306, 320n, 401 Pico della Mirandola 58
Pierre de Ceffons 192n
Franziskus von Mayronis 29, 211, 280
Robert Holkot 14, 192, 194, 195n,
Gregor von Rimini 14, 29, 117–118, 210n
121, 192–198, 204, 367, 415n
Sextus Empiricus 3n, 15–16, 155n,
Heinrich von Gent 9–11, 14, 17n, 19, 330n, 363n, 406n
22, 33–63, 65–86, 88–90, 94–96, Siger von Brabant 29, 120, 154–162,
98–99, 102, 104–106, 109–115, 117, 340
124, 215, 404–405, 408, 409, 413–414
Hugolin von Orvieto 192n Thomas Bradwardine 192n
Thomas von Aquin 4, 28, 49n, 55n,
Johannes Buridan 14, 28n, 120, 188n, 63–65, 69, 70n, 71, 75n, 82, 91n, 120,
309n, 312, 314–315, 350n, 361n, 123–128, 129n, 130–154, 161–168,
363–401, 404–405, 409 169n, 170n, 178, 183–184, 187,
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432 Personenregister
198–202, 207, 223, 283n, 303, 321, Wilhelm von Ockham 4–8, 12, 14,
340n, 379, 404–405, 408, 410 17n, 24n, 30–31, 122n, 142, 150n,
205, 207–268, 272–277, 279–280,
Vital du Four 54, 61 285–286, 288, 292–294, 297, 300–
304, 307, 313–314, 316, 327n, 372n,
Walter Chatton 29–30, 211, 234n, 254, 378, 388, 404–405, 408, 414–415
259–261, 267, 268–280, 282, 286, Wilhelm von Ware 78, 81
288, 297, 302, 304–305, 317, 415n Witelo 407n
Wilhelm von Moerbeke 407
Personenregister 433
434 Personenregister
SACHREGISTER
Abbild 136, 184, 208, 218, 223, 249 121, 136, 140, 160, 182–183, 195,
absolute/r Entität / Gegenstand 256, 203–204, 220, 224, 248, 281, 299,
259, 288, 294, 303, 348 306–307, 309–13, 115, 152–157, 167,
Abstraktion / abstrahieren 39, 61, 371, 378, 382, 389, 391–393, 399–401,
63–65, 68–71, 73, 75–76, 82, 84, 414–415
98–99, 101–103, 105, 107–114, 124, Assimilation → Erkennen als
127, 130–131, 133, 138–140, 143, 154, Assimilation
168, 200, 224, 290 Astronomie 381
Akademiker / akademisch 8, 17–19, Atom / Atomismus 152, 182, 226,
27–28, 33–34, 41, 61, 95, 110, 156, 313, 350–351, 354–357, 359
170, 177, 188, 235–236, 301, 363 – semantischer Atomismus 222, 226
Akt-Theorie 217, 223
Akzidens → Eigenschaft, akzidentelle Augustinismus / augustinisch 17, 28,
Allmacht / Allmachtslehre 4–5, 36,-37 47, 51, 53, 75–76, 78, 84, 101,
7, 11–13, 22–26, 115, 118–119, 111, 163, 409
136–137, 163–164, 168, 170, 173–179,
185, 192–194, 197–199, 200, 202, Begriffsklärung 404, 411–413
253–254, 258, 260, 267, 287, 289, 263, Behauptungsbedingung 196
297–268, 301, 305, 328, 372, 381–382, Blinder / blind 87, 324, 353–354
401, 403, 406, 410–411
– methodische Funktion der All- Cartesianismus / cartesianisch 30–31,
machtslehre 13–14, 122–123, 170, 94–95, 121, 177, 203, 226, 228,
177, 178, 191, 256, 303, 306, 401 236–237, 255, 257, 301, 306–306, 401
→ Gott, absolute Macht → Wissen, cartesianischer Begriff
→ Hypothese, Allmachtshypothese Chimäre → fiktiver Gegenstand
analytisch 13, 36, 45, 97, 404, 411 Cogito-Argument 94–95, 177, 230
– analytische/r Aussage / Satz 86– complexe significabile 367
89, 96, 172, 174–175, 188, 191, 229,
297–299, 321, 385–386 Dämon / dämonisch 4, 115, 118, 120,
– analytische Erkenntnistheorie 412 123–136, 147, 154, 163, 169, 177,
– analytische Sprache 411 199–200, 203, 207, 254, 257, 401, 407
Anti-Aristotelismus / anti-aristote- Deduktion / deduktiv / deduzie-
lisch 142, 309–310, 312 ren 46, 176, 229, 230, 323
Antifundamentalismus / antifunda- Definition / definitorische Merk-
mentalistisch 228, 230, 399 male 30, 38, 68–69, 124, 130–131,
Antiskeptizismus / antiskeptische 146, 216, 243, 257–259, 296, 349, 366,
Strategie 6, 9, 15, 19, 21, 27, 34–35, 392, 412–413
45, 103, 120–121, 135–137, 142, 146, Denkakt 100, 124–128, 135–136, 144,
148, 150–151, 154, 160, 162, 175, 191, 150, 229, 237, 322, 344–345
200–201, 204, 207, 211, 253, 267, 300, – Modalität des Denkaktes 126
327, 331, 350, 362, 364, 396, 412 Dialektik / dialektisches Spiel / dialek-
Aristotelismus / aristotelisch 19–21, tisches Verfahren 8, 15, 27, 151,
24, 28–29, 36–37, 42–47, 51–52, 154, 162, 300
62–63, 73, 75, 84, 92–94, 110–111, Distinktion 248, 289
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11:28
436 Sachregister
Sachregister 437
438 Sachregister
Sachregister 439
110, 149, 221, 267, 108, 110, 133, Mathematik / mathematisch 1, 141,
146–147, 149, 187, 189, 221, 228, 235, 176, 215, 220, 322, 351, 379
243, 245, 247, 252, 258, 263–264, 267, – mathematischer Gegenstand 364
273, 275, 285, 301–302, 304–305, mental 38, 167, 189, 200, 203–205, 208,
328, 360, 388–389, 391, 394, 404, 217, 223, 227, 229–230, 247, 286, 288,
408, 410 311, 322, 334–335, 337–339, 344–345,
Irrtumsanfälligkeit 58, 87, 89, 95, 177, 364–365, 370, 372
409 – mentaler Satz 214–223, 225–228,
Isomorphie 138 233, 238, 242, 301–302, 364–367, 370,
405
kataleptischer Eindruck 155, 319 – mentale Sprache 214, 225, 372
Kategorie / kategorial 103, 106, 135, – mentaler Terminus 220, 222,
286, 374 225–226, 242, 272,385, 392
Kausalrelation 5–6, 13, 23–24, 90–94, Mentalismus 365
101, 108–109, 119–120, 123, 129, 138, Metaphysik / metaphysisch 15, 47, 62,
154, 168–169, 172, 185, 190–192, 204, 69, 82, 107, 112, 114–115, 123, 125,
208, 221–223, 225–227, 137, 243–244, 128–129, 134–135, 141–142, 148,
249–251, 253–254, 257, 262, 287, 298, 150–151, 167, 185, 200–202, 223, 226,
310, 312, 321, 346, 348–349, 358–359, 303, 306–307, 310, 357, 359, 374–375,
361–362, 364, 372, 386, 396 378, 389, 392–393, 395, 399–401,
– Manipulation einer Kausalrela- 405–406, 414
tion 119
– metaphysisches Mittel 353–354
Kognitionstheorie 42, 48, 62, 103, 124,
methodische Probleme 29–31
130, 133–136, 142, 242, 407
Modell 9, 14, 29, 31, 35, 48, 52, 55–60,
Kohärenz / kohärent / Kohärentismus
71, 80–83, 59–61, 71–73, 75–78,
/ kohärentistisch 132, 134, 149,
80–83, 85, 102, 109–111, 113–114,
161–162, 200, 248, 264, 266, 278–279,
140, 143, 145, 207, 209, 213, 215–216,
302, 305, 326, 333, 336, 354–356,
223–224, 228, 232, 244, 247, 313, 327,
358, 374–375, 382, 387, 396–397, 399,
404 410
Konfiguration / konfigurieren 139– – ewiges Modell 9, 215
141, 335 – göttliches Modell 77, 80, 82–83
Konglomerat 124, 290, 350 – ideales Modell 76–77, 85, 89, 94,
Korrespondenz / korrespondie- 99, 113
ren 38–40, 56, 119, 134, 161, 217, – stabiles Modell 57–61, 71–73, 114
232, 248, 279, 313, 333, 367 – zweifaches Modell 77, 81–82
Kriterium / Kriterienproblem 18, 25, Mögliches 13, 253, 411
41–43, 59, 95–97, 129, 149, 156–159, – absolut / logisch Mögliches 1,
195, 217, 237–239, 246–248, 251, 264, 23–25, 122, 253
271, 278–279, 282, 285, 296, 302, 327, – physikalisch / naturgesetzlich
329, 331–333, 369, 375, 408 Mögliches 1, 23–25, 122
– psychologisches Kriterium 251
Naturalismus / naturalistisch 43–44,
Licht 43, 74, 78–80, 83, 101, 283, 285, 64, 99, 111–114, 226, 237, 246, 375,
323, 325, 328, 330–333, 337–339, 359, 377–378, 389, 395
397, 401 Naturgesetz / naturgesetzlich 13,
– Lichttheorie 79 23–25, 28, 119, 343
– natürliches Licht 132, 133, 318 Naturphilosophie / naturphiloso-
Lüge / (be)lügen 118–119, 121, 192, phisch 23–24, 92–93, 310, 380–381,
196–197 391–392, 414, 416
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