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Für Ruedi Imbach


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VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Die Neuauflage eines Buches reizt wohl jeden Autor dazu, einige Teile um-
zuschreiben, andere wegzulassen und vielleicht sogar neue hinzuzufügen.
Ein Buch ist ja wie ein Haus, das zu Umbauten und Anbauten einlädt. Doch
wie ein Haus durch starke Eingriffe seinen ursprünglichen Charakter ver-
liert, so verändert sich auch die Gesamtkonzeption eines Buches, wenn man
es umschreibt. Zudem besteht die Gefahr, dass Änderungen an einer Stelle
Eingriffe an zahlreichen anderen Stellen zur Folge haben – ein umgeschrie-
benes Buch wird unversehens zu einem neuen Buch. Um die Gesamtkon-
zeption und die Balance zwischen den einzelnen Teilen nicht zu gefährden,
habe ich darauf verzichtet, Texteingriffe vorzunehmen.1 Es sind lediglich
Druckfehler in der ersten Auflage korrigiert worden. Zudem sind die Ver-
weise auf Publikationen, die sich vor sechs Jahren noch im Druck befanden,
ergänzt worden. Die Neuauflage gibt mir aber die Gelegenheit, auf einige
methodische und konzeptionelle Fragen einzugehen, die Rezensenten sowie
einige Leserinnen und Leser aufgeworfen haben.
Ein erstes Problem wirft bereits der Untertitel des Buches auf. Warum
ist von skeptischen Debatten die Rede, wenn es im Mittelalter doch (ganz
anders als in der Antike und in der Frühen Neuzeit) keine skeptische Schule
gab und sich auch kein Autor als Skeptiker bezeichnete? Wird hier nicht
künstlich ein Untersuchungsgegenstand konstruiert? Dies wäre der Fall,
wenn versucht würde, eine philosophische Schule zu identifizieren und
diese von anderen Schulen oder Strömungen abzugrenzen. Das Ziel des vor-
liegenden Buches besteht jedoch darin, eine starre Gegenüberstellung von
Schulen oder gar Lehrmeinungen zu vermeiden. Nicht Schulbildungen,
sondern einzelne Argumente – skeptische ebenso wie antiskeptische – und

1
 In einigen Aufsätzen habe ich aber Kernthesen wieder aufgenommen und teilweise wei-
terentwickelt, teilweise auch in leicht modifizierter Form für ein englischsprachiges Publi-
kum aufbereitet. Zu erwähnen sind vor allem: „Seeing and Judging. Ockham and Wodeham
on Sensory Cognition“, in: Theories of Perception in Medieval and Early Modern Philosophy,
hrsg. von S. Knuuttila & P. Kärkkäinen, Dordrecht: Springer 2008, 151–169; „Skepticism“,
in: The Cambridge History of Medieval Philosophy, hrsg. von R. Pasnau, Cambridge / New
York: Cambridge University Press 2010, 384–396; „Could God Deceive Us? Skeptical Hy-
potheses in Late Medieval Epistemology“, in: Rethinking the History of Skepticism. The Miss-
ing Medieval Background, hrsg. von H. Lagerlund, Leiden: Brill 2010, 171–192; „Scepticism
and Metaphysics“, in: The Oxford Handbook of Medieval Philosophy, hrsg. von J. Maren-
bon, Oxford / New York: Oxford University Press (im Druck); „Can We Trust Our Senses?
Fourteenth-Century Debates on Sensory Illusions“, in: Uncertain Knowledge, hrsg. von D.
Denery / K. Ghosh, Turnhout: Brepols (im Druck).
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VIII Vorwort zur zweiten Auflage

ihre Verwendung in erkenntnistheoretischen Debatten sollen untersucht


werden. Diese Argumente kreisen immer um die Frage, ob Wissen mög-
lich ist. Dabei steht nicht einfach zur Debatte, ob Wissen von bestimmten
Dingen (etwa von materiellen oder mathematischen Gegenständen) oder
mithilfe bestimmter kognitiver Vermögen (etwa des Intellekts) möglich ist.
Im Mittelpunkt steht vielmehr die Frage, ob Wissen grundsätzlich möglich
ist. Dass diese Frage im Mittelalter tatsächlich aufgeworfen und diskutiert
wurde, zeigt bereits ein flüchtiger Blick auf einige Texte, die in diesem Buch
analysiert werden. So eröffnete Heinrich von Gent seine Summa quaestio-
num ordinariarum mit der Frage „Kann ein Mensch etwas wissen?“ (§ 4),
und gleich die zweite Frage, die Johannes Buridan in seinen Quaestiones in
Analytica Posteriora erörterte, lautet: „Können wir etwas wissen?“ (§ 32).
Die skeptische Grundfrage findet sich also tatsächlich in mittelalterlichen
Texten und wird nicht einfach auf sie projiziert.
Es wäre freilich unangemessen, nur dort eine Auseinandersetzung mit der
skeptischen Grundfrage zu suchen, wo sie ausdrücklich formuliert wurde.
Auch Autoren, die nicht explizit von ihr ausgingen, beschäftigten sich impli-
zit mit ihr, indem sie die kognitiven Mechanismen erklärten, die den Erwerb
von Wissen ermöglichen, und sich dabei auch mit Einwänden auseinander-
setzten, die diesen Erwerb infrage stellen. Ein gutes Beispiel ist Wilhelm von
Ockham. Er erörterte sehr ausführlich die sinnlichen und intellektuellen
Prozesse, durch die Wissen erworben wird, und ging dann ausführlich auf
skeptische Einwände ein. Zeigen beispielsweise Sinnestäuschungen nicht,
dass wir uns immer wieder irren und dass auf sinnlicher Grundlage prin-
zipiell kein zuverlässiges Wissen erworben werden kann (§ 21)? Und ist es
nicht immer möglich, dass Gott eingreift und uns täuscht (§ 22)? Indem
Ockham diese Einwände zurückwies, gab er eine Antwort auf die skeptische
Grundfrage. Gleichzeitig erläuterte er auch, wie und warum auf natürlicher
Grundlage tatsächlich zuverlässiges Wissen erworben werden kann. Er ging
also sehr wohl auf die skeptische Herausforderung ein, auch wenn er keinen
antiskeptischen Traktat schrieb und sich auch nicht gegen eine skeptische
Schule richtete. Daher wäre es unangebracht, nur dort nach skeptischen De-
batten zu suchen, wo explizit von einer skeptischen Schule oder Strömung
die Rede ist. Ein Ziel dieses Buches besteht darin, gerade die versteckten Ar-
gumente für oder gegen eine skeptische Position aufzudecken. Metaphorisch
gesprochen: Das Feld der erkenntnistheoretischen Diskussionen soll so weit
aufgegraben werden, bis die unteren Schichten sichtbar werden, in denen für
oder gegen die prinzipielle Möglichkeit von Wissen argumentiert wird.
Ein zweites Problem kann ebenfalls ausgehend vom Untertitel des Bu-
ches gestellt werden. Warum ist von skeptischen Debatten im Mittelalter die
Rede? Handelt es sich tatsächlich um Debatten, die im Mittelalter geführt
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Vorwort zur zweiten Auflage IX

wurden, oder eher um solche, die wir heute führen, vielleicht inspiriert von
mittelalterlichen Argumenten? Falls wir es sind, die solche Debatten führen
oder gar inszenieren, scheint es kaum zulässig, von skeptischen Debatten im
Mittelalter zu sprechen.
Darauf ist zunächst zu erwidern, dass in diesem Buch verschiedene phi-
losophische Auseinandersetzungen rekonstruiert und ausgewertet werden,
die tatsächlich im Mittelalter stattgefunden haben. So setzte sich Johannes
Duns Scotus direkt mit Heinrich von Gent auseinander und versuchte zu
zeigen, dass dessen vermeintliche Verteidigung der Möglichkeit von Wissen
skeptische Konsequenzen hat (§§ 4 und 8). Thomas von Aquin ging ausführ-
lich auf die Hypothese von täuschenden Dämonen ein, die in der augustini-
schen Tradition immer wieder vorgebracht wurde, und setzte sich zum Ziel,
sie zu entkräften (§ 12). Und Johannes Buridan kritisierte explizit Nikolaus
von Autrécourts fundamentalistische Auffassung von Wissen (§§ 32–33),
die er als zu eng gefasst und unbrauchbar kritisierte. Diese Beispiele zei-
gen nicht nur, dass es historisch klar situierbare Debatten gab, sondern sie
belegen auch, wie fruchtbar die scholastische Methode war: Positionen von
Vorgängern oder Zeitgenossen wurden im Rahmen einer Textkommentie-
rung detailliert rezipiert und kritisiert. Wenn in diesem Buch einige dieser
­Kontro­versen diskutiert werden, soll nicht zuletzt auch deutlich gemacht
werden, dass die scholastische Methode die argumentative Auseinander-
setzung mit gegnerischen Positionen förderte und dabei den Kontrahenten
einen großen Freiraum ließ.
Allerdings kann nicht bestritten werden, dass die Einwände und Prob-
leme, die diskutiert werden, an einigen Stellen über das hinausgehen, was
sich explizit in den mittelalterlichen Texten findet. Immer wieder weise ich
aus heutiger Sicht auf die Schwierigkeiten einer Position hin, teilweise auch
auf deren implizite Voraussetzungen oder Konsequenzen. So argumentiere
ich, dass Thomas von Aquin von einem „epistemologischen Optimismus“
ausging, wenn er skeptische Hypothesen zu entkräften versuchte (§ 18).
Freilich sprachen weder Thomas noch seine Kontrahenten explizit von
einem solchen Optimismus. Oder ich weise darauf hin, dass Ockham gar
nicht das Ziel verfolgte, ein unerschütterliches Wissensfundament zu legen;
er ging vielmehr von einer reliabilistischen Konzeption von Wissen aus
(§ 21). Aber natürlich berief sich Ockham nicht ausdrücklich auf eine sol-
che Konzeption. Die Rede von einem epistemologischen Optimismus oder
einem Reliabilismus ist eine moderne Ausdrucksweise, die eingesetzt wird,
um bestimmte Konzeptionen zu charakterisieren und auszuloten. Werden
mittelalterliche Debatten dadurch nicht verzerrt? Werden sie nicht heutigen
Debatten, in denen tatsächlich von Optimismus und Reliabilismus die Rede
ist, einfach untergeordnet?
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X Vorwort zur zweiten Auflage

Nicht unbedingt. Bernard Williams hat treffend festgestellt, dass zwei


methodische Zugänge zu philosophischen Texten früherer Epochen mög-
lich sind. 2 Man kann sich zum einen ideengeschichtlich mit ihnen beschäf-
tigen, indem man von der Frage „Was bedeuteten sie damals?“ ausgeht und
sie in ihrem Entstehungskontext rekonstruiert. Dann sollte man möglichst
weitgehend auf heutiges philosophisches Vokabular und Parallelen zu heuti-
gen philosophischen Debatten verzichten. Zum anderen kann man sich aber
auch philosophiegeschichtlich mit ihnen auseinandersetzen und sich dabei
von der Frage „Was bedeuten sie heute noch?“ leiten lassen. Dann ist es nicht
nur zulässig, sondern sogar unerlässlich, einen Bogen zu heutigen Debatten
zu spannen und heutiges Vokabular zu verwenden, um eine bestimmte Posi-
tion zu charakterisieren. Das heißt natürlich nicht, dass sie ganz aus ihrem
Entstehungskontext gerissen werden dürfen und dass die Fachsprache, die
in ihrem jeweiligen Kontext verwendet wurde, einfach ausgeblendet wer-
den kann. Es muss aber eine Übersetzung stattfinden: Frühere Positionen
müssen in heutiger Sprache zugänglich gemacht und im Lichte heutiger
terminologischer Unterscheidungen evaluiert werden. Zudem müssen ihre
jeweiligen Voraussetzungen und Konsequenzen, auch ihre Probleme und
Erklärungsdefizite, vor dem Hintergrund heute vertrauter Kategorien aus-
gelotet werden.
Ganz im Sinne von Bernard Williams verfolge ich in diesem Buch einen
philosophiegeschichtlichen und keinen ideengeschichtlichen Ansatz. Daher
rekonstruiere ich skeptische Debatten nicht ausschließlich im mittelalterli-
chen Entstehungskontext und mithilfe mittelalterlicher Terminologie, son-
dern spanne einen Bogen zu heutigen Debatten – nicht um die mittelalterli-
chen Debatten den heutigen anzugleichen oder gar unterzuordnen, sondern
um sie philosophisch zugänglich zu machen und dadurch eine systematische
Auseinandersetzung mit ihnen zu ermöglichen. So betrachtet geht es tat-
sächlich nicht nur um Debatten im Mittelalter, sondern auch um gegenwär-
tige. Oder präziser: Es geht darum, genauer zu bestimmen, inwiefern die
mittelalterlichen Debatten heute noch eine Bedeutung haben, wie wir diese
Bedeutung in heutiger Terminologie erfassen können und wie sie uns auch
heute noch zu Reflexionen über die skeptische Grundfrage anregen können.
Schließlich stellt sich noch ein drittes Problem. Seit Richard Popkins ein-
flussreichen Arbeiten wird immer wieder darauf hingewiesen, dass im 16. Jahr-
hundert eine „skeptische Krise“ ausbrach, die sämtliche späteren Debatten be-
herrschte.3 Will man die klassischen antiskeptischen Positionen von Descartes,
2
  B. Williams, Descartes: The Project of Pure Enquiry, Harmondsworth / London: Penguin
Press 1978, 9.
3
 Vgl. R. Popkin, The History of Scepticism. From Savonarola to Bayle, Oxford / New
York: Oxford University Press 2003.
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Vorwort zur zweiten Auflage XI

Leibniz und anderen Autoren verstehen, muss man zunächst untersuchen, wie
es überhaupt zu einer solchen Krise kam und welche Reaktionen auf sie mög-
lich waren. Es liegt dann nahe, bei spätmittelalterlichen Debatten anzusetzen
und zu fragen, ob und wie sie eine skeptische Krise auslösten. Im vorliegenden
Buch wird diese Frage aber nicht behandelt. Warum nicht? Wird damit nicht
ein zentraler Aspekt der spätmittelalterlichen Debatten ausgeblendet?
In der Tat habe ich bewusst darauf verzichtet, eine skeptische Krise als
den Orientierungs- oder gar Kulminationspunkt für diese Debatten zu be-
stimmen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Ein erster Grund liegt ganz ein-
fach darin, dass es äußerst umstritten ist, ob im 16. Jahrhundert tatsächlich
eine solche Krise ausfindig gemacht werden kann.4 Wer sich zur Erfor-
schung mittelalterlicher Texte auf eine gewagte Annahme der Frühneu-
zeitforschung beruft, wählt von Anfang an eine problematische historio-
graphische Konstruktion. Ein weiterer Grund liegt in der besonderen Art
von Skeptizismus, die zur Debatte stand. Selbst wenn im 16. Jahrhundert
tatsächlich eine skeptische Krise ausbrach, wie Popkin argumentiert, war sie
vorwiegend durch die Rezeption des Pyrrhonismus ausgelöst worden. Des-
halb spricht Popkin auch von einer crise pyrrhonienne.5 Die Quellen dieser
antiken Form von Skeptizismus blieben im Mittelalter aber weitgehend
unbeachtet, wie in der Einleitung gezeigt wird (§ 2). Viel einflussreicher
waren Argumente aus der akademischen Tradition und vor allem solche, die
erst im Mittelalter entwickelt wurden. Dazu gehören Täuschungshypothe-
sen, die sich auf die göttliche Allmacht berufen, aber auch Hypothesen im
Rahmen der christlichen Dämonologie (§ 35). Es wäre methodisch verfehlt,
eine Auseinandersetzung mit Argumenten, die nicht durch den Pyrrhonis-
mus angeregt waren, als Vorläufer für eine genuin pyrrhonische Krise zu
betrachten. Noch ein dritter Grund spricht dagegen, spätmittelalterliche
Debatten mit Blick auf eine skeptische Krise zu lesen. Ein solcher Interpre-
tationsansatz wäre teleologisch angeregt. Er würde suggerieren, dass Dis-
kussionen im 13. und 14. Jahrhundert auf ein späteres Ziel hinführten, ja
geradezu darauf ausgerichtet waren. Von Bedeutung wären sie dann nur im
Hinblick auf dieses Ziel. Oder überspitzt ausgedrückt: Skeptische Debatten
im Mittelalter wären bloß als eine Vorstufe für die eigentliche skeptische
Debatte interessant, die erst im 16. Jahrhundert einsetzte. Von einer solchen
starken Annahme soll hier abgesehen werden. Sicherlich ist es sinnvoll zu
fragen, welche Parallelen oder auch Differenzen es zwischen skeptischen

 Einwände gegen die Annahme einer Krise diskutiere ich in „Was There a ‚Pyrrhonian
4

Crisis’ in Early Modern Philosophy? A Critical Notice of Richard H. Popkin“, Archiv für
Geschichte der Philosophie 86 (2004), 209–220.
5
  Vgl. R. Popkin, The History of Scepticism, 3 und 5.
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XII Vorwort zur zweiten Auflage

Debatten im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit gab.6 Dies bedeutet aber
nicht, dass mittelalterliche Debatten teleologisch mit Blick auf frühneuzeit-
liche Kontroversen gelesen werden sollten. Sie sind als eigenständige phi-
losophische Auseinandersetzungen zu betrachten, die teilweise auf antikes
Material zurückgriffen, teilweise aber auch neue Argumente in die Debatte
einbrachten. Ob und wie sie zu einer skeptischen Krise im 16. Jahrhundert
beitrugen (wenn es denn eine solche Krise gab), ist gesondert zu untersu-
chen und fällt in das Aufgabengebiet einer Rezeptionsgeschichte.
Dieses Buch konzentriert sich auf Debatten zwischen 1267/68 und 1376/77
und deckt damit nur eine relativ kurze Periode ab. Die Beschränkung auf
diese Periode wird in der Einleitung begründet (§ 3). Aber natürlich müssen
in zukünftigen Studien auch weitere Perioden näher betrachtet werden. Wich-
tig ist zum einen das 12. Jahrhundert, in dem vor allem John of Salisbury eine
zentrale Rolle für die Wiederaufnahme und Weiterentwicklung antiker skep-
tischer Argumente spielte.7 Zum anderen müssen auch das späte 14. und das
15. Jahrhundert in den Blick genommen werden. Von besonderer Bedeutung
sind dabei moraltheologische Kontexte, in denen der Begriff der „moralischen
Gewissheit“ entwickelt wurde.8 Schließlich gilt es auch, spätscholastische Au-
toren des 16. Jahrhunderts zu untersuchen. Dabei ist nicht nur zu prüfen, ob
und wie weit sie frühere skeptische Debatten weiterentwickelten, sondern es
ist auch zu untersuchen, ob sie im Lichte neu rezipierter antiker Quellen auch
neue Argumente in die Debatten einbrachten. Diese Erweiterungen erfordern
umfangreiche Studien. Um es wieder im Bild des Hausbaus auszudrücken: Es
sind nicht bloße Umbauten oder Anbauten erforderlich, sondern ganz neue
Häuser, die neben diesem Haus gebaut werden sollten.
Ich danke Sanja Dembić und Luz Christopher Seiberth, die das ganze
Buch sorgfältig gelesen und Druckfehler in der ersten Auflage korrigiert
haben.
Berlin, im April 2012

6
 Diese Frage habe ich selber in zwei neueren Aufsätzen diskutiert: „Strategischer Zweifel.
Die Funktion skeptischer Argumente in der Ersten Meditation“, in: René Descartes: Medita-
tionen über die Erste Philosophie, hrsg. von A. Kemmerling, Berlin: Akademie Verlag 2009,
11–30; „Woran können wir zweifeln? Vermögensskeptizismus und unsicheres Wissen bei
Des­cartes“, in: Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550–1850, hrsg. von
C. Spoerhase u.a., Berlin & New York: W. de Gruyter 2009, 43–62. Einen genuin frühneuzeit-
lichen Umgang mit skeptischen Argumenten untersuche ich in „Spinozas Anti­skeptizismus“,
Zeitschrift für philosophische Forschung 61 (2007), 1–26.
7
 Dies hat vor allem Ch. Grellard in Jean de Salisbury. Humanisme et scepticisme, Habilita-
tion Tours 2011, gezeigt.
8
 Dazu ausführlich R. Schüßler, Moral im Zweifel, 2 Bde., Paderborn: Mentis 2002 und
2006 ; idem, „Jean Gerson, Moral Certainty and the Renaissance of Ancient Scepticism“,
Renaissance Studies 23 (2009), 445–462.

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VORWORT

„Nasce per quello, a guisa di rampollo,


a piè del vero il dubbio; ed è natura
ch’al sommo pinge noi di collo in collo.“

Dante Alighieri, La Divina Commedia, Par. IV, 130–132

„Wer an allem zweifeln wollte, der würde auch nicht bis zum
Zweifel kommen. Das Spiel des Zweifelns selbst setzt schon die
Gewissheit voraus.“

Ludwig Wittgenstein, Über Gewissheit, § 115

Wer die Frage aufwirft, ob es im Mittelalter eine oder verschiedene Formen


des Skeptizismus gegeben habe, betritt ein historiographisches Minenfeld.
Seit den Anfängen der philosophischen Mediävistik im 19. Jh. prallen in der
Auseinandersetzung mit dieser Frage zwei Lager aufeinander. Während die
einen behaupten, es habe in der Tat einen Skeptizismus gegeben und genau
darin manifestiere sich der „Verfall“, ja die Auflösung der Philosophie im
Spätmittelalter, weisen die anderen diese Einschätzung energisch zurück
und beharren darauf, dass die Philosophie dieser Zeit weder skeptisch aus-
gerichtet war noch skeptische Konsequenzen hatte. Dieses Buch möchte
nicht einfach diese Kontroverse neu aufrollen und auch nicht die Frage auf-
greifen, ob sich bei diesem oder jenem Philosophen eine skeptische Position
finde. Es soll hier nicht um die Zuschreibung einer skeptischen Position
gehen, auch nicht um die Widerlegung einer solchen Position, sondern um
die grundsätzliche Frage, welche skeptischen Argumente im 13. und 14. Jh.
überhaupt präsent waren, welche Bedeutung ihnen in den erkenntnistheo-
retischen Debatten beigemessen wurde und wie sie eingesetzt wurden, um
den Wissensbegriff zu klären und zu prüfen.
Mit diesem Ansatz soll in zweifacher Hinsicht ein Beitrag zur Entfer-
nung einiger Minen und zur Eröffnung eines neuen Zuganges zum Unter-
suchungsfeld geleistet werden. Zum einen soll in historischer Hinsicht der
Blick auf eine Fülle von skeptischen Argumenten und eine ebenso große
Fülle von Reaktionen auf solche Argumente gelenkt werden. Argumente,
die auf die Beschränktheit kognitiver Fähigkeiten, auf Sinnestäuschungen
oder auf Manipulationen durch Dämonen und einen allmächtigen Gott
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XIV Vorwort

verweisen, sollen ebenso berücksichtigt werden wie Argumente, die diese


Szenarien zu entschärfen oder zu widerlegen versuchen. Und skeptische
Strategien, die auf antike Quellen zurückgehen, sollen ebenso beachtet
werden wie solche, die genuin mittelalterlichen Ursprungs sind. Wenn
die mittelalterlichen Debatten heute noch philosophisch anregend sind,
dann vor allem deshalb, weil sie verdeutlichen, wie vielfältig der Umgang
mit skeptischen Argumenten sein kann und wie produktiv sie eingesetzt
werden können, um Wissensansprüche zu testen und gegebenenfalls zu
revidieren. Wer Zweifel formuliert und damit bestehende Wissensansprüche
infrage stellt, fordert nämlich zu einer genauen Prüfung und Präzisierung
dieser Ansprüche heraus und trägt so dazu bei, dass wir – mit Dante ge-
sprochen – in einer philosophischen Untersuchung einen Gipfel nach dem
anderen erklimmen.
Zum anderen soll aber auch in systematischer Hinsicht untersucht
werden, wie skeptische Fragestellungen im Rahmen eines erkenntnistheo-
retischen Projekts entstehen und welche Funktion sie haben. Welches Pro-
jekt lässt solche Fragestellungen zu, welches Projekt schließt sie aufgrund
gewisser metaphysischer oder erkenntnistheoretischer Annahmen von
vornherein aus? Welches Ideal von Wissen wird durch skeptische Argu-
mente jeweils infrage gestellt? Und von welchem Standpunkt aus werden
solche Argumente überhaupt formuliert? Sie werden ja nicht in einem
„neut­ralen“ Raum vorgebracht, sondern gehen von bestimmten Prämissen
aus und werden in einem dialektischen Spiel eingesetzt, um eine bestimmte
Auffassung von Wissen zu unterminieren. Daher könnte man mit Wittgen-
stein sagen, dass das Spiel des Zweifelns selbst schon die Gewissheit voraus-
setzt. Denn um in eine skeptische Debatte eintreten zu können, muss man
von einem bestimmten Standpunkt aus Zweifel vorbringen und – sei es auch
nur vorübergehend – bestimmte Dinge als gewiss voraussetzen. Mit Blick
auf die mittelalterlichen Philosophen gilt es daher zu prüfen, von wo aus sie
skeptische Argumente ins Spiel brachten und welche Art von Gewissheit
sie jeweils voraussetzten. Das heißt natürlich: Man muss den genauen Platz
dieser Argumente in einem ganzen Geflecht von erkenntnistheoretischen,
metaphysischen und sprachphilosophischen Annahmen bestimmen. Erst
dann zeigt sich ihre systematische Bedeutung, und erst dann wird auch
deutlich, dass sie keineswegs ein Indiz für einen „Verfall“ sind, sondern im
Gegenteil Ausdruck einer Zeit äußerst lebhafter und innovativer philoso-
phischer Grundsatzdebatten.
Dieses Buch hätte nicht ohne die Unterstützung zahlreicher Personen
und Institutionen entstehen können. Erste Vorarbeiten sind im Rahmen
des vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Forschungsprojekts
„Formen des Zweifels: Skeptizismus im Spätmittelalter und in der frühen
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Vorwort XV

Neuzeit“ an den Universitäten Basel und Zürich entstanden. Ich danke


Therese Fuhrer, die mit mir zusammen dieses Projekt leitete, und Damian
Caluori, Kaspar Howald, Sergei Mariev, Markus Wild und Roland Wittwer,
die am Projekt mitarbeiteten, für anregende Diskussionen in einer freund-
schaftlichen Atmosphäre. Im September 2004 hatte ich die Gelegenheit,
im Rahmen einer kurzen Gastprofessur an der Saint Louis University die
Skizzen einiger Kapitel mit Kolleginnen und Kollegen zu diskutieren. Auch
ihnen, besonders Eleonore Stump und Susan Brower-Toland, bin ich für
Impulse und Kommentare dankbar. Die Ausarbeitung der Kapitel und die
Erstellung einer ersten vollständigen Fassung des Textes wurde mir durch
ein unverhofftes Geschenk ermöglicht: Ich konnte das akademische Jahr
2004–2005 als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin verbringen und
dort in einer gleichzeitig entspannten und anregenden Umgebung am Buch-
projekt arbeiten. Ich danke allen Co-Fellows für stimulierende Gespräche.
Besonders die Diskussionen mit Myles Burnyeat zeigten mir, wo die Ge-
meinsamkeiten, aber auch die Unterschiede zwischen antikem und mittel-
alterlichem Skeptizismus liegen. Einen besonderen Dank schulde ich den
Bibliothekarinnen am Wissenschaftskolleg, die – guten Feen gleich – mir
jeden noch so exotischen Bücherwunsch erfüllten. Auch Loris Sturlese und
seinen Mitarbeitern bin ich für die Beschaffung entlegener Texte dankbar.
Gordon Wilson stellte mir freundlicherweise bereits vor der Publikation
seine Edition der ersten Quaestionen aus Heinrich von Gents Summa zur
Verfügung.
Teile der entstehenden Kapitel konnte ich in Vorträgen in Basel, Oxford,
Helsinki, Uppsala, Amsterdam, Groningen, Paris, Budapest, Göttingen und
Berlin vorstellen. Allen Diskussionsteilnehmern, die mich durch kritische
Nachfragen und Anmerkungen zu einer genaueren Lektüre der Quellen
und zu einer Überprüfung meiner Interpretationen anspornten, bin ich zu
Dank verpflichtet.
Ein besonderer Dank gilt meinen neuen Kollegen am Institut für Phi-
losophie der Humboldt-Universität zu Berlin, die mich im Herbst 2003 mit
offenen Armen und wissenschaftlicher Neugier empfingen und es mir nicht
verübelten, als ich mich, kaum in Berlin angekommen, gleich ins Wissen-
schaftskolleg zurückzog. Auch den Berliner Studentinnen und Studenten,
die ich im Forschungskolloquium mit meinen Deutungen spätmittelalter­
licher Theorien gleichsam überfiel, danke ich für die intellektuelle Offenheit
und die kritischen Nachfragen. Martin Lenz, Roland Wittwer und Markus
Wild haben verschiedene Kapitel in der vorletzten Fassung gründlich gele-
sen und kommentiert. Dafür sei ihnen herzlich gedankt. Schließlich danke
ich Floriana Müller und Stephan Schmid, die mich bei den Druckvorberei-
tungen tatkräftig unterstützt haben.
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XVI Vorwort

Vor knapp zwanzig Jahren habe ich mich als Student in einer Hausarbeit
zum ersten Mal mit skeptischen Debatten im Mittelalter befasst. Meine Ein-
schätzung dieser Debatten hat sich in der Zwischenzeit natürlich verändert.
Doch mein Interesse, das Ruedi Imbach als mein erster akademischer Leh-
rer geweckt und gefördert hat, ist unverändert stark geblieben. Er hat mir
die Augen für eine faszinierende intellektuelle Landschaft geöffnet. Dafür
bleibe ich ihm stets dankbar.

Berlin, im Januar 2006 D. P.

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INHALT

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

§ 1 Skeptizismus im Mittelalter – eine historiographische


Fiktion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
§ 2 Ausgangspunkte der mittelalterlichen Diskussionen . . . . . . . 15
§ 3 Methodische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

I  Z weifel am natürlichen Wissen (Heinrich


von Gent und Johannes Duns Scotus) . . . . . . 33

§ 4 Eine antiskeptische Theorie mit skeptischen
Konsequenzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
§ 5 Zwei Arten des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
§ 6 Eine Analyse der kognitiven Abstraktion . . . . . . . . . . . . . 63
§ 7 Natürliches Wissen und Illumination . . . . . . . . . . . . . . . 75
§ 8 Eine Verteidigung der natürlichen Erkenntnisquellen . . . . . . 85
§ 9 Essentielles Wissen ohne Illumination . . . . . . . . . . . . . . . 98
§ 10 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

II Z
 weifel an der absoluten Gewissheit (Thomas
von Aquin, Siger von Brabant, Petrus Johannis
Olivi, Wilhelm Crathorn, Johannes Rodington,
Gregor von Rimini, Peter von Ailly) . . . . . . . . . 117

§ 11 Skeptische Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117


§ 12 Trügerische Dämonen und natürliche Erkenntnisprozesse . . . . 123
§ 13 Die Identitätstheorie als antiskeptische Strategie . . . . . . . . . 135
§ 14 Die Traumhypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
§ 15 Allmachtsargumente und ihre epistemologischen Folgen . . . . 162
§ 16 Hypothetische Gewissheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
§ 17 Ein Gott, der lügt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
§ 18 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
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XVIII Inhalt

III Zweifel an der intuitiven Erkenntnis


(Wilhelm von Ockham, Walter Chatton,
Franziskus von Mayronis, Adam Wodeham) . . . 207

§ 19 Erkenntnis ohne realen Erkenntnisgegenstand? . . . . . . . . . 207
§ 20 Wissen, Evidenz und intuitive Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . 213
§ 21 Sinnestäuschungen und Phantasievorstellungen . . . . . . . . . 239
§ 22 Intuitive Erkenntnis von nicht existierenden
Gegenständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
§ 23 Eine argumentative Sicherung des Wissens . . . . . . . . . . . . 266
§ 24 Die notwendige Relation des Erkenntnisaktes zu
seinem Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
§ 25 Kann jedes Wissen bezweifelt werden? . . . . . . . . . . . . . . 291
§ 26 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

IV Zweifel am demonstrativen Wissen


(Nikolaus von Autrécourt
und Johannes Buridan) . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
§ 27 Skeptizismus oder Dogmatismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
§ 28 Die Gewissheit der wahrnehmbaren Objekte . . . . . . . . . . . 315
§ 29 Kriterieller Fundamentalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
§ 30 Die Gewissheit des ersten Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
§ 31 Wissen und begründetes Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . 350
§ 32 Ein kohärentes Wissensnetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
§ 33 Eine Rehabilitierung des demonstrativen Wissens . . . . . . . . 382
§ 34 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403
§ 35 Die Epistemologisierung des Zweifels . . . . . . . . . . . . . . . 403

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417

1. Literatur vor 1700 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417
2. Literatur nach 1700 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419

PersonenRegister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431

SachRegister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435

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Einleitung

§ 1 Skeptizismus im Mittelalter – eine historiographische Fiktion?

Im täglichen Leben halten wir es für selbstverständlich, dass wir über


vielfältiges Wissen ver­f ügen. So weiß ich, dass im Garten gerade die Bäume
blühen. Ebenso weiß ich, wie alt ich bin, wann der Dreißigjährige Krieg zu
Ende ging und wie viel zwei plus zwei er­geben. Wie diese Beispiele zeigen,
kann sich unser Wissen auf ganz unterschiedliche Gegen­stände und Sach-
verhalte beziehen, auf materielle ebenso wie auf historische und mathemati­
sche, und natürlich kann es auf mannigfache Weise erworben werden. Doch
wie heterogen unser Wissen auch sein mag – dass wir Wissen haben und
täglich verwenden, scheint selbst­verständlich zu sein.
Doch verfügen wir tatsächlich über Wissen? Es könnte doch sein, dass
ich jetzt gerade einer Sinnestäuschung zum Opfer falle und bloß glaube,
dass im Garten die Bäume blühen, obwohl dort gar keine Bäume stehen,
geschweige denn blühen. Ebenso könnte es sein, dass meine Geburts-
urkunde manipuliert wurde oder dass mir gefälschte Dokumente über den
Dreißigjährigen Krieg zugespielt wurden. Vielleicht bin ich auch über die
Grundregeln der Arithmetik falsch informiert worden, sodass ich fälsch-
licherweise glaube, dass zwei plus zwei vier ergeben. Ja, vielleicht bin ich
sogar in der Gewalt eines bösen Neurowissenschaftlers, der alle meine
Gehirnzustände manipuliert und in mir willkürlich Meinungen entstehen
lässt, ohne dass es außerhalb meines Gehirns irgendwelche Gegenstände
und Sachverhalte gibt, auf die sich diese Meinungen beziehen könnten.
Kurzum, es könnte sein, dass all das, was ich für Wissen halte und ganz
selbstverständlich verwende, sich als eine konfuse Menge von falschen
Meinungen herausstellt.
Diese Überlegungen mögen reichlich künstlich und für den Alltag
irrelevant erschei­nen; es ist auch kaum wahrscheinlich, dass sie tatsäch-
lich zutreffen. Doch in einer philosophi­schen Überlegung zählt nicht nur,
was tatsächlich der Fall ist. Mindestens so wichtig ist das, was im Prinzip
der Fall sein könnte. Denn wenn wir fragen, was alles hätte geschehen
können oder jetzt gerade geschehen könnte, erkunden wir den Raum des
Möglichen – nicht nur den Raum des physikalisch Möglichen, sondern
auch jenen des begrifflich Möglichen. R. Musil hält dies in seinem Roman
Der Mann ohne Eigenschaften auf ebenso elegante wie prägnante Weise
fest:

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Einleitung

§ 1 Skeptizismus im Mittelalter – eine historiographische Fiktion?

Im täglichen Leben halten wir es für selbstverständlich, dass wir über


vielfältiges Wissen ver­f ügen. So weiß ich, dass im Garten gerade die Bäume
blühen. Ebenso weiß ich, wie alt ich bin, wann der Dreißigjährige Krieg zu
Ende ging und wie viel zwei plus zwei er­geben. Wie diese Beispiele zeigen,
kann sich unser Wissen auf ganz unterschiedliche Gegen­stände und Sach-
verhalte beziehen, auf materielle ebenso wie auf historische und mathemati­
sche, und natürlich kann es auf mannigfache Weise erworben werden. Doch
wie heterogen unser Wissen auch sein mag – dass wir Wissen haben und
täglich verwenden, scheint selbst­verständlich zu sein.
Doch verfügen wir tatsächlich über Wissen? Es könnte doch sein, dass
ich jetzt gerade einer Sinnestäuschung zum Opfer falle und bloß glaube,
dass im Garten die Bäume blühen, obwohl dort gar keine Bäume stehen,
geschweige denn blühen. Ebenso könnte es sein, dass meine Geburts-
urkunde manipuliert wurde oder dass mir gefälschte Dokumente über den
Dreißigjährigen Krieg zugespielt wurden. Vielleicht bin ich auch über die
Grundregeln der Arithmetik falsch informiert worden, sodass ich fälsch-
licherweise glaube, dass zwei plus zwei vier ergeben. Ja, vielleicht bin ich
sogar in der Gewalt eines bösen Neurowissenschaftlers, der alle meine
Gehirnzustände manipuliert und in mir willkürlich Meinungen entstehen
lässt, ohne dass es außerhalb meines Gehirns irgendwelche Gegenstände
und Sachverhalte gibt, auf die sich diese Meinungen beziehen könnten.
Kurzum, es könnte sein, dass all das, was ich für Wissen halte und ganz
selbstverständlich verwende, sich als eine konfuse Menge von falschen
Meinungen herausstellt.
Diese Überlegungen mögen reichlich künstlich und für den Alltag
irrelevant erschei­nen; es ist auch kaum wahrscheinlich, dass sie tatsäch-
lich zutreffen. Doch in einer philosophi­schen Überlegung zählt nicht nur,
was tatsächlich der Fall ist. Mindestens so wichtig ist das, was im Prinzip
der Fall sein könnte. Denn wenn wir fragen, was alles hätte geschehen
können oder jetzt gerade geschehen könnte, erkunden wir den Raum des
Möglichen – nicht nur den Raum des physikalisch Möglichen, sondern
auch jenen des begrifflich Möglichen. R. Musil hält dies in seinem Roman
Der Mann ohne Eigenschaften auf ebenso elegante wie prägnante Weise
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2 Einleitung

„Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine
Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Mög­lichkeitssinn
nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das ge-
schehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte
oder müßte geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei,
wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe
sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso-
gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das,
was nicht ist. Man sieht, daß die Folgen solcher schöpferischen Anlage bemerkens-
wert sein können. [...] Solche Möglichkeits­menschen leben, wie man sagt, in einem
feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Kon-
junktiven.“1

Wer also fragt, ob wir tatsächlich über Wissen verfügen oder ob wir nicht
auf vielfältige Weise getäuscht werden und bloß glauben, etwas zu wissen,
erweist sich als ein „Möglich­ keitsmensch“: Er formuliert Hypothesen,
die – seien sie auch nur ein Gespinst von Dunst, Einbildung und Träume-
rei – unsere Wissensansprüche auf den Prüfstand stellen. Sobald wir mit
Täuschungshypothesen konfrontiert werden, müssen wir nämlich zu-
gestehen, dass unsere Wissensansprüche einer Rechtfertigung bedürfen.
Erst wenn wir eine Rechtfertigung liefern, die alle vorgebrachten Zweifel
zerstreut, können wir glaubhaft machen, dass wir nicht bloß über eine mehr
oder weniger geordnete Menge von Meinungen verfügen, sondern tatsäch-
lich über Wissen. Und erst dann können wir Einwände, die gegen unsere
Wissensansprüche erho­ben werden, mit gutem Grund zurückweisen.
Auf den ersten Blick scheint es nicht allzu schwierig zu sein, die gefor-
derte Rechtfer­tigung zu liefern. Werden wir etwa gefragt, ob wir tatsäch-
lich wissen, wie alt wir sind, oder ob wir nicht einer Dokumentenfälschung
zum Opfer gefallen sind, können wir antworten: Es mag wohl sein, dass die
Geburtsurkunde, auf die wir unser Wissen stützen, manipuliert wor­den ist.
Aber wir können die Echtheit dieser Urkunde mit Rekurs auf andere Do-
kumente, etwa auf Krankenhausunterlagen und Taufurkunden, überprüfen.
Selbst wenn die erste Rechtferti­g ung sich als anfechtbar erweist, können wir
eine weitere Rechtfertigung anführen, die zeigt, dass wir tatsächlich über
Wissen verfügen.
Doch könnten die weiteren Dokumente, die wir zur Rechtfertigung
anführen, nicht auch gefälscht sein? Diese Frage verdeutlicht, dass hier
ein grundsätzliches Rechtfertigungs­problem besteht. Jede Rechtfertigung
scheint wieder anfechtbar zu sein und eine weitere Rechtfertigung zu er-
fordern. Wenn wir versuchen, diesem Problem zu entgehen, scheinen wir
unweigerlich in einem Trilemma gefangen zu sein: (1) Wir können für jede
Rechtfertigung eine weitere Rechtfertigung anführen, geraten dadurch aber
1
 Musil 1978, 16.
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§ 1 Ein historiographische Fiktion? 3

in einen infiniten Regress. (2) Wir können die Rechtfertigung an einem


bestimmten Punkt willkürlich abbrechen, machen da­durch aber eine dog-
matische, stets wieder anfechtbare Behauptung. (3) Wir führen eine ganze
Kette von Rechtfertigungen an, bis wir wieder zur ersten Rechtfertigung
gelangen, begeben uns dadurch aber in einen Zirkel.
Wie können wir unsere Wissensansprüche rechtfertigen, ohne in dieses
Trilemma zu geraten? Oder allgemein gefragt: Wie können wir über-
haupt Wissensansprüche aufrechter­halten? Wer dieses Problem aufwirft,
argumentiert skeptisch, weil er nicht einfach akzeptiert, dass wir Wissen
haben und im täglichen Leben verwenden, sondern grundsätzlich fragt, ob
wir überhaupt Wissen haben können. Will man diese Frage beantworten,
reicht es nicht aus, einzelne umstrittene Fälle von Wissen zu untersuchen
und weitere Rechtfertigungen zu lie­fern. Ebenso wenig genügt es, auf die
mehr oder weniger erfolgreiche epistemische Praxis zu verweisen und zu
argumentieren, dass wir unsere Wissensansprüche doch meistens verteidi­
gen können. Hier stehen nämlich nicht Einzelfälle von Wissensansprüchen
zur Debatte. Strit­tig ist vielmehr, wie prinzipiell Wissensansprüche erhoben
und eingelöst werden können. Will man hier eine Einsicht gewinnen, muss
man analysieren, worin ein Anspruch auf Wissen be­steht, wie er sich von
einem Anspruch auf bloßes Glauben oder Meinen unterscheidet und wie er
gegen Anfechtungen verteidigt werden kann. Das heißt natürlich: Man muss
grundsätzlich über den Wissensbegriff nachdenken. Die skeptische Frage
nach der Rechtfertigung unserer Wissensansprüche führt also unweigerlich
zum Grundproblem der Erkenntnistheorie und for­dert zu einer Klärung
dieses Problems heraus. Genau dadurch hat sie nicht etwa eine destruk­tive
Funktion, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, sondern eine kon-
struktive. B. Stroud verdeutlicht diesen Punkt prägnant, indem er bemerkt:
„Gerade die Bedrohung durch den Skeptizismus treibt die Erkenntnistheo-
rie voran.“2
Blickt man auf die Geschichte der Erkenntnistheorie, lassen sich ver-
schiedene Perio­den bestimmen, in denen diese Bedrohung eine treibende
Kraft darstellte. Eine dieser Perio­den ist sicherlich der Hellenismus. Pyr­
rhonische Skeptiker stellten explizit die Frage, wie wir unsere Wissens-
ansprüche rechtfertigen können, und wiesen auf das genannte Trilemma
hin, das jeden Rechtfertigungsversuch zunichte zu machen scheint.3 Eine

2
 Stroud 1999, 293: „The threat of scepticism is what keeps the theory of knowledge
going.“
3
  Vgl. Sextus Empiricus, PH I, 164–169; ausführlich dazu Barnes 1990, 36–57. Zur systema-
tischen Bedeutung dieses Trilemmas (auch „Agrippas Trilemma“ oder im deutschsprachigen
Raum „Münchhausen-Trilemma“ genannt) vgl. Albert 1965, 11–15, und Williams 2001,
58–68.
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4 Einleitung

weitere prominente Peri­ode ist die frühe Neuzeit. Mit den berühmten Täu-
schungsszenarien, die Descartes in der Ers­ten Meditation entwirft, weist
er darauf hin, dass jede alltägliche Rechtfertigung angefochten werden
kann, und er eröffnet damit eine skeptische Debatte, die bis heute anhält.
Genau diese Szenarien – insbesondere die Hypothese vom täuschenden
Dämon – werfen nämlich die Frage auf, ob Wissen prinzipiell möglich ist.
Lässt sich angesichts der Tatsache, dass ein Dä­mon uns alle Gedanken ein-
geben kann, überhaupt der Anspruch erheben, ein Wissen von materiellen
Gegenständen, von anderen Menschen und von unserem eigenen Körper
zu ha­ben? Müssen wir nicht zugestehen, dass wir höchstens ein Wissen
von unseren eigenen Ge­danken besitzen, nicht aber von dem, worauf sich
die Gedanken angeblich beziehen? Ange­sichts dieser Fragen ist es nicht er-
staunlich, dass das allgemeine Rechtfertigungsproblem, das in der Antike
ausführlich diskutiert wurde, in der frühen Neuzeit immer mehr zu einem
Prob­lem der Rechtfertigung unseres Wissens von einer materiellen Außen-
welt wurde.
Und wie steht es mit dem Mittelalter? Wurden auch in dieser Periode
der Philosophie­ geschichte Wissensansprüche prinzipiell angefochten?
War die skeptische Herausforderung der auslösende Faktor für eine
kritische Prüfung und Analyse des Wissensbegriffs? Blickt man auf die
Forschungsgeschichte, scheint es eine simple Antwort auf diese Fragen
zu geben: In der Tat gab es im Mittelalter einen Skeptizismus, der sich
vor allem im 14. Jh. herausbil­dete und die gesamten spätscholastischen
Debatten bis in die frühe Neuzeit hinein prägte. Bereits in den Anfängen
der philosophischen Mediävistik wurde diese Antwort formuliert, freilich
mit einem negativen Unterton. So behauptete F. Brentano in einer 1895
publizierten Schrift, mit Thomas von Aquin habe die mittelalterliche Phi-
losophie ihren Höhepunkt er­reicht, kurz darauf habe aber das „Stadium
des Verfalles“ begonnen, denn Wilhelm von Ock­ham habe die Grundlage
für eine „revolutionäre und skeptische Tendenz“ gelegt.4 Ockham habe
infrage gestellt, dass wir von Gott und der materiellen Welt ein sicheres
Wissen gewin­nen können, ja er habe sogar bezweifelt, dass von mora-
lischen Geboten Wissen möglich sei. Denn was auch immer wir zu wissen
glauben, es könnte immer sein, dass der allmächtige Gott eingreift und uns
irgendwelche Meinungen eingibt, die nicht auf die Welt zutreffen. Da eine
göttliche Manipulation nie ausgeschlossen werden könne, seien wir nie in
der Lage, un­ser Wissen absolut zu rechtfertigen. Dadurch, so Brentano, sei
ganz allgemein das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der menschlichen
Vernunft geschwunden.

4
 Brentano 1968, 14–15 (Erstveröffentlichung 1895).
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§ 1 Eine historiographische Fiktion? 5

Während Brentano sich mit einigen allgemeinen, eher skizzenhaften


Bemerkungen begnügte, widmete sich K. Michalski auf der Grundlage einer
Auswertung neu entdeckter Handschriften und umfassender philosophie-
historischer Ar­beiten der Frage, ob sich in den mittelalterlichen Quellen
Anzeichen eines Skeptizismus fin­ den. Er gelangte zu einer bejahenden
Antwort, die sich nun nicht mehr auf Ockham be­schränkte, sondern die
meisten von Ockham inspirierten Denker und intellektuellen Bewe­g ungen
in Paris und Oxford umfasste.5 Seiner Ansicht nach stellten die Autoren des
14. Jhs. je­des Wissen infrage, gleichgültig ob es sich dabei um Wissen von
Gegenständen in der mate­riellen Welt, von Kausalrelationen, von der Un-
sterblichkeit der Seele oder gar von der Exis­tenz Gottes handelte. Dieser
Mangel an Wissen sei durch einen Fideismus kompensiert wor­den, denn
die Unfähigkeit, eine rationale Rechtfertigung für ihre Wissensansprüche
zu geben, habe die spätmittelalterlichen Philosophen dazu gebracht, viele
Meinungen einfach aufgrund des offenbarten Glaubens zu akzeptieren. Da-
durch sei das Vertrauen in die Möglichkeit ratio­naler Rechtfertigungen und
Beweise immer mehr erodiert.
Ergänzt und bekräftigt wurde dieses Urteil von E. Gilson, der in einer ein-
flussreichen Studie die These vertrat, der Skeptizismus sei im 14. Jh. geradezu
als eine „neue intellektuelle Krankheit“ ausgebrochen und habe sich rasant
verbreitet.6 Bei Ockham und seinen Nachfol­gern seien nämlich zwei Theo-
rieelemente miteinander verbunden worden, die unweigerlich zu einer Infra-
gestellung von Wissen führten: zum einen ein exzessiver Empirismus, der nur
noch das empirisch Beobachtbare akzeptiert habe und dadurch alles, was sich
der sinnlichen Wahr­nehmung entzieht, bezweifelt habe; zum anderen eine
übersteigerte theologische Allmachts­lehre, die darauf insistiert habe, dass Gott
in alle natürlichen Vorgänge eingreifen und somit auch alle natürlichen Er-
kenntnisrelationen zunichte machen könne. Angesichts dieser beiden Grund-
annahmen sei jede Rechtfertigung von Wissen fragwürdig geworden. Denn
gegen jede Rechtfertigung habe nun der Einwand erhoben werden können, sie
sei entweder nicht empiri­scher Natur oder beruhe auf der willkürlichen An-
nahme, Gott greife nicht in die natürlichen Vorgänge ein. Habe etwa jemand
behauptet, er wisse doch, dass er eine unsterbliche Seele habe, sei er sofort
mit folgendem Einwand konfrontiert worden: Siehst du denn die unsterbli­che
Seele? Und bist du sicher, dass Gott dir nicht den Gedanken eingegeben hat,
du habest eine solche Seele, obwohl du keine hast?

5
 Michalski 1969, 69 (Erstveröffentlichung 1926): „Plus j’ai étudié le criticisme et le scep-
ticisme au XIVe siècle, plus je suis arrivé à me convaincre, que ce qui paraissait la propriété
exclusive ou extra­ordinaire de tel ou tel écrivain, n’était en réalité, que le résultat d’un courant
plus général, qui se frayait un chemin dans la mentalité de l’époque.“
6
  Vgl. Gilson 1937, 86.
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6 Einleitung

Michalskis und Gilsons Interpretationen prägten die Forschungs-


debatten während des ganzen 20. Jhs.,7 blieben aber nicht unwidersprochen.
Zahlreiche Philosophiehistorikerinnen und -historiker widersetzten sich
der Behauptung, Ockham habe eine skeptische Strömung ausgelöst, und
bestritten, dass es im Spätmittelalter ein „Stadium des Verfalles“ gegeben
habe. Bereits 1943 widersprach Ph. Boehner vehement der These, Ockham
zufolge gebe es wegen der Möglichkeit eines göttlichen Eingreifens kein
sicheres Wissen.8 Er wies darauf hin, dass ein solches Wissen im Rahmen
der Ockhamschen Theorie durchaus möglich sei. Denn wenn Gott eingreift
und einem Menschen einen Erkenntnisakt eingibt, mit dem er einen Gegen-
stand erfasst, obwohl dieser Gegenstand gar nicht existiert, urteilt dieser
Mensch korrekt, dass der Gegenstand nicht existiert. Der Verweis auf ein
mögliches göttliches Eingreifen führt somit nicht zu einer Preisgabe von
Wissensansprüchen. Wer herausgefordert wird, seine Ansprüche zu recht-
fertigen, kann stets folgendermaßen argumentieren: Mein Wissen ist entwe-
der auf natürliche Weise entstanden; dann bürgt die Tatsache, dass es durch
eine zuverlässige Kausal­relation zu Gegenständen in der Welt zustande ge-
kommen ist, dafür, dass es sich tatsächlich auf diese Gegenstände bezieht
und sie korrekt darstellt. Oder aber mein Wissen ist auf über­natürliche
Weise entstanden; dann garantiert die Tatsache, dass Gott nur korrekte
Urteile ent­stehen lässt, dass die bloß fingierten Gegenstände korrekt als
nicht existierende Ge­genstände erfasst werden. In beiden Fällen kann ich
sicher sein, dass ich aufgrund zuverlässi­ger kogniti­ver Prozesse über Wissen
verfüge. Angesichts dieses Resultats ist es in Boehners Augen „gleichzeitig
tragisch und komisch“,9 dass der Vorwurf des Skeptizismus gegen Ock­ham
erho­ben wurde.
An Boehners Untersuchung schloss sich eine Flut von Studien an, die
zu zeigen ver­suchten, dass weder Ockham noch andere spätmittelalterliche
Philosophen Skeptiker waren.10 Gerade in der antiskeptischen Ausrichtung

7
 Sie finden bis in die neuere Forschung hinein Nachfolger. So schließt sich ihnen Kennedy
an, der in einer Reihe von Arbeiten die These vertritt, das ganze 14. Jh. sei gleichsam skeptisch
unterwandert gewesen; vgl. Kennedy 1983, 1985 und 1993. In seiner Gesamtdarstellung der
mittelalterlichen Philosophie behauptet auch Kenny 2005, 92, die Erwägung eines göttlichen
Eingreifens in den Erkenntnisprozess habe den Weg zu einem Skeptizismus geebnet. Er sieht
daher in den Oxforder und Pariser Debatten des 14. Jhs. eine „analytical-sceptical tradition“
(ibid., 104). Mit Blick auf diese historiographische Kategorisierung stellt Tachau 1988, 75, kri-
tisch fest: „Perhaps the most stubborn truism of twentieth-century accounts of late medie­val
scholastic philosophy is that, beginning with Duns Scotus, theologians became determined
skeptics in epistemology.“
8
  Vgl. Boehner 1958 (Erstveröffentlichung 1943).
9
 Boehner 1958, 269.
10
 Eine Darstellung und konzise Auswertung dieser Studien bieten Leppin 1998 und Karger
1999.
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§ 1 Eine historiographische Fiktion? 7

zahlreicher Philosophen des 14. Jhs. sahen nun mehrere Interpreten das
besondere Merkmal der Debatten dieser Zeit.11 R. Pasnau fasste diese Ein-
schätzung in einer Übersichtsdarstellung zusammen, indem er bemerkte,
die scho­lastischen Autoren hätten sich gar nicht für die skeptische Frage
interessiert, ob Wissen mög­lich sei, sondern vielmehr die kognitionstheo-
retische Frage diskutiert, wie Wissen erworben werde. Erst ganz am Ende
des Mittelalters, im Übergang zur frühen Neuzeit, habe die skepti­ sche
Herausforderung wieder an Bedeutung gewonnen.12
Lässt sich also trotz eines gegenteiligen ersten Eindrucks kein skepti-
scher Autor aus­findig machen? Ist der mittelalterliche Skeptizismus eine
historiographische Fiktion? Die Hauptschwierigkeit, diese Fragen zu be-
antworten, liegt in den historiographischen Hypothe­ ken, mit denen sie
belastet sind. In die bloße Formulierung der Fragen flossen (und fließen teil-
weise auch in der neuesten Forschung) nämlich mehrere Annahmen. Ers-
tens wird angenommen, es gehe darum, eine skeptische Position ausfindig
zu machen und diese in den Schriften eines bestimmten Philosophen oder
einer bestimmten Gruppe von Denkern zu loka­lisieren. Je nach Standpunkt
werden diese Schriften dann zitiert, um den Nachweis dieser Po­sition zu
erbringen oder um gerade umgekehrt zu zeigen, dass sich keine Anzeichen
dieser Position finden. Zweitens wird die Zuschreibung einer skeptischen
Position mit einer negati­ven Bewertung verbunden. So wird – in Brentanos
drastischen Worten ausgedrückt – die Aus­arbeitung und Verbreitung einer
skeptischen Position als „Stadium des Verfalles“ gesehen, das zu einer Ab-
wertung des Vertrauens in die Leistungsfähigkeit der menschlichen Ver-
nunft führte. Wer wie Brentano tatsächlich eine solche Verfallserscheinung
sieht, sucht ihren Anfangs- und Endpunkt zu bestimmen. Wer hingegen
wie Boehner die spätmittelalterlichen Autoren vor dem Dekadenz-Vor-
wurf in Schutz nehmen will, versucht zu zeigen, dass Ockham und seine
Nachfolger „nicht unter der philosophischen Erfahrung des Skeptizismus
gelitten haben.“13 Ob nun anklagend oder apologetisch argumentiert wird,
in jedem Fall wird der Skeptizismus negativ beurteilt. Drittens wird der
Auslöser für das Entstehen einer skeptischen Position in einer bestimmten
theologischen Theorie gesehen, nämlich in der Allmachtslehre, die sämtli­che
philosophischen Diskussionen bestimmte. Folgt man Michalski und Gilson

 Als Beispiele seien erwähnt: Maier 1967, de Rijk 1985, 214–218, Adams 1987, 588–601,
11

Tachau 1988, Kaufmann 1994, 229–238, Biard 1997, 55–83, Robert 2002.
12
  Pasnau 2003b, 214: „Skepticism simply ceased to be a prominent topic of discussion until
the end of the Middle Ages. Instead, attention was focused on how knowledge is acquired.
Here the issue was not how to define knowledge – the question that Plato originally posed
and that dominated later twentieth-century epistemology – but how to understand the cogni-
tive operations that generate it.“
13
 Boehner 1958, 292. Auch Day 1947, 210, spricht von einem „Erleiden“ des Skeptizismus.
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8 Einleitung

(und nach ihnen prominenterweise auch Blumenberg),14 ist diese Lehre die
treibende Kraft für erkenntnis­theoretische Diskussionen. Schließt man sich
hingegen Boehner an, ist sie ebenfalls dominant, dient aber eher der Stär-
kung des Wissensanspruchs, weil ja im Falle eines göttli­chen Eingreifens
auf jeden Fall wahre Überzeugungen entstehen. Viertens schließlich wird
die skeptische Position einer bestimmten Strömung zugeschrieben, nämlich
dem Ockhamis­mus, der je nach Standpunkt für den Verfall der spätmittel-
alterlichen Philosophie verantwort­lich gemacht oder vor diesem Vorwurf in
Schutz genommen wird.
Will man der Frage nachgehen, ob es im Mittelalter einen Skeptizismus
gegeben habe, muss man sich zunächst mit diesen vier Annahmen aus-
einandersetzen, die explizit oder im­plizit die meisten Forschungsdebatten
bestimmt haben.15 Für die Skeptizismus-Problematik gilt in besonderem
Maße, was für die mittelalterliche Philosophie im Allgemeinen gilt: Eine
Beschäftigung mit dieser Epoche der Philosophie muss immer mit einer
kritischen Auseinan­dersetzung mit der Geschichtsschreibung einhergehen.
Seit dem späten 19. Jh. haben sich nämlich historiographische Schemata he-
rausgebildet, die bis in die Gegenwart hinein die Wahrnehmung der mittel-
alterlichen Texte bestimmen. Erst wenn diese Schemata kritisch be­trachtet
werden, zeigt sich, ob sie für eine Textanalyse hilfreich sind oder ob sie im
Gegenteil den Blick auf diese Texte beeinträchtigen und verstellen. Betrach-
ten wir also die vier ge­nannten Annahmen.
Gemäß der ersten Annahme wird skeptisches Philosophieren mit dem
Einnehmen ei­ner skeptischen Position identifiziert.16 Es wird suggeriert,
ein Skeptiker stelle eine bestimmte Behauptung auf – entweder die starke
Behauptung, Wissen sei prinzipiell unmöglich, oder die schwächere Be-
hauptung, Wissen sei auf natürlichem Weg zwar möglich, könne aber von
Gott jederzeit zunichte gemacht werden. Diese Annahme übersieht indes-
sen, dass skeptische Probleme im Mittelalter in einer dialektischen Situation
diskutiert wurden, in der zunächst eine Frage gestellt und dann bejahende
und verneinende Antworten erörtert wurden. Das Ziel bestand nicht im
Einnehmen und Verteidigen einer skeptischen Position, sondern im Aus­

14
  Vgl. Blumenberg 1988, 205–233 (Erstveröffentlichung 1966).
15
 Einen alternativen Forschungsansatz verfolgte Schmitt, der sich auf die Rezeption der an-
tiken Quel­len konzentrierte und zum Schluss kam, es sei nicht sinnvoll, von einem Skeptizis-
mus im Mittelalter zu sprechen, weil der pyrrhonische Skeptizismus fast unbekannt gewesen
sei und der akademische Skeptizismus nur punktuell rezipiert worden sei (vgl. Schmitt 1972,
5–10). So berechtigt dieser Hin­weis auf das antike Erbe auch ist, reduziert er doch skeptische
Fragestellungen auf einen ganz be­stimmten Typ und lässt jene Typen unberücksichtigt, die
genuin mittelalterlichen Ursprungs sind.
16
 So spricht Gilson 1937, 82, ausdrücklich von „Ockham’s last position on the question“
und von einer „Ockhamist thesis“.
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§ 1 Eine historiographische Fiktion? 9

leuchten der skeptischen Frage und im differenzierten Umgang mit dieser


Frage. Die Antwort, die ganz am Ende einer ausführlichen Disputation
gegeben wurde, fiel in den allermeisten Fällen antiskeptisch aus. Zwei Bei-
spiele mögen dies verdeutlichen.17
Heinrich von Gent eröffnet sein Hauptwerk mit der Frage „Kann ein
Mensch etwas wissen?“. Dies ist eindeutig eine skeptische Frage, weil sie
nicht einfach darauf abzielt, was ein Mensch wissen kann; es wird grund-
sätzlich gefragt, ob Wissen überhaupt möglich sei. Heinrich präzisiert diese
Frage, indem er sie mit Blick auf eine bestimmte Erklärung von Wissen zu-
spitzt: Kann ein Mensch einzig und allein dadurch, dass er ausgehend von
den Sinneseindrücken geistige Prototypen oder Mo­delle von Gegenständen
erwirbt, ein Wissen vom Wesen dieser Gegenstände gewinnen? Heinrich
verneint diese Frage, schlägt aber gleichzeitig einen neuen Erklärungsansatz
vor, der auf eine bestimmte Form von Illumination rekurriert: Wenn ein
Mensch nicht nur Sinnesein­ drücke gewinnt, son­ dern gleichzeitig durch
Illumination auch einen Zugang zum unveränder­ lichen, ewigen Mo­ dell
dieser Gegenstände hat, kann er ein Wissen von ihrem Wesen gewin­nen.
Entscheidend sind hier nicht die Details dieser Antwort. Von Bedeutung ist
vielmehr der methodische An­satz, den Heinrich wählt. Er führt die skep-
tische Frage ein, um einen be­stimmten Wissensbe­griff zu klären, nämlich
einen essentialistischen Begriff, der unter Wissen nicht eine beliebige Menge
von wahren Meinungen versteht, sondern genau jene Meinungen, die auf
das Wesen von Gegenständen abzielen und dieses korrekt darstellen. Diesen
Wissens­begriff wendet er auf eine empiristische Theorie an und fragt, ob
sie den Wissenserwerb be­friedigend erklären kann. Kann man allein mit
Rekurs auf die schwankende Sinneserfahrung erklären, wie ein Wissen vom
stabilen, unveränderlichen Wesen der Gegenstände möglich ist? Heinrich
zu­folge ist dies nicht der Fall; daher schlägt er eine neue Theorie vor, die sei-
ner Ansicht nach größere explanatorische Kraft besitzt. Es geht ihm somit
nicht darum, eine skeptische Position einzunehmen. Er wählt vielmehr eine
skeptische Leitfrage, um erstens den Wissensbegriff näher zu bestimmen
und zweitens eine bestimmte Theorie, die den Wissens­erwerb zu erklären
vorgibt, kritisch zu prüfen.
Ähnlich geht Wilhelm Crathorn vor, ein Oxforder Autor des frühen
14. Jhs. Er wählt die Aus­gangsfrage, ob es einem Menschen im diesseitigen
Leben mög­lich sei, eine evidente Erkennt­n is und damit Wissen zu gewin-
nen. Auch hier handelt es sich wieder um eine skeptische Frage, denn es geht
nicht um ein Wissen von bestimmten Gegen­ständen, sondern um Wissen

 Beide Beispiele werden in dieser Studie ausführlich analysiert; vgl. zu Heinrich von Gent
17

§ 5, zu Crathorn § 16.
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10 Einleitung

schlechthin. Crathorn diskutiert die Wissensfrage, indem er auf die zu sei-


ner Zeit weit ver­breitete Species-Theorie zurückgreift, d.h. auf eine Theorie,
die annimmt, dass Wissen nur mithilfe besonderer kognitiver Entitäten
(sog. species sensibiles in den Sinnen und species intelligibiles im Intellekt)
möglich ist. Eine scharfsinnige Analyse dieser Theorie bringt ihn zum
Schluss, dass die Annahme kognitiver Entitäten unweigerlich dazu führt,
dass man streng genommen nur noch ein unmittelbares Wissen von diesen
Entitä­ten hat, nicht von den Ge­genständen in der Welt.18 Wer etwa be-
hauptet: „Ich weiß, dass hier ein grüner Baum steht“, darf streng genommen
nur sagen: „Ich weiß, dass ich über Species verfüge, die mir einen grü­nen
Baum präsentieren.“ Ob diese Species tatsächlich von einem grünen Baum
verursacht wurden und auf ihn verweisen, entzieht sich dem unmittelbaren
Wis­sen dieser Person. Damit macht Crathorn auf das Grundproblem einer
repräsentationalisti­schen Erkenntnistheorie auf­ merksam. Wer annimmt,
dass es zwischen einer Person und den Erkenntnisgegenständen vermit-
telnde Repräsentationen gibt (nenne man sie nun „Species“, „Ideen“ oder
„Sinnesda­ten“), muss erklären, wie denn ein Wissen von den Gegenständen
selbst und nicht bloß von den inneren Repräsentationen möglich ist. Die
skeptische Frage dient somit wiederum der Prüfung eines Wissensbegriffs,
in diesem Fall eines repräsentatio­nalistischen, und der kriti­schen Analyse
einer bestimmten Erklärung des Wissenserwerbs.
Die beiden Beispiele verdeutlichen, dass es unzulässig wäre, die Suche
nach einem Skeptizismus im Mittelalter auf die Suche nach einer skeptischen
Position zu beschränken. Wer einem Autor einfach eine solche Position
zuspricht, übersieht, dass eine scholastische Disputation darauf abzielte,
mithilfe skeptischer Fragen den Wissensbegriff zu klären und Wissens-
ansprüche, die im Rahmen bestimmter Theorien erhoben wurden, zu prü-
fen. Skepti­sche Fragen hatten primär eine methodische Funktion, nicht eine
dogmatische.
Angesichts dieser Funktion lässt sich auch die zweite Annahme, die
eine Skeptizis­mus-Diagnose mit einer negativen Bewertung versieht und
im Skeptizismus den Ausdruck eines „Verfalles“ oder gar einer „intellek-
tuellen Krankheit“ sieht, zurückweisen. Sobald man nämlich einsieht, dass
skeptische Fragen vornehmlich einer Klärung des Wissensbegriffs dienten,
wird deutlich, dass sie eine konstruktive Funktion hatten. Dies lässt sich
wiederum am Beispiel Heinrichs von Gent veranschaulichen. Die aus-
führliche Erörterung der Frage, ob ein Mensch etwas wissen könne, führt
ihn nämlich nicht einfach zu einer bejahenden Ant­wort, sondern zu einer
differenzierten Erklärung dessen, was überhaupt unter Wissen zu ver­stehen

18
 Vgl. Quästionen zum ersten Sentenzenbuch, q. 1 (ed. Hoffmann 1988, 123).
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§ 1 Eine historiographische Fiktion? 11

ist. Seiner Ansicht nach kann man erst dann von Wissen im strengen Sinn
sprechen, wenn nicht ein beliebiger kognitiver Zustand vorliegt, sondern ein
Zustand, mit dem auf sta­bile, untrügliche und unkorrigierbare Weise das
Wesen eines Gegenstandes erfasst wird. Folglich kann man einem Menschen
auch nur dann Wissen zusprechen, wenn er über einen solchen kognitiven
Zustand verfügt. Ob dies eine überzeugende Auffassung von Wissen ist, soll
an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Und ob Heinrichs Erklärung der
kognitiven Me­chanismen, die einen solchen Zustand ermöglichen, plausibel
ist, sei hier ebenfalls dahinge­stellt; bereits mittelalterliche Autoren – allen
voran Johannes Duns Scotus – formulierten kri­tische Einwände.19 Entschei-
dend ist hier nur die Funktion der skeptischen Fragestellung, die keines-
wegs „zersetzend“ war, sondern durchaus positiv – auch und gerade dann,
wenn sie kritische Einwände hervorrief und eine rege Debatte auslöste. 20
Was B. Stroud mit Blick auf die gegenwärtigen Diskussionen sagte, trifft
auch auf die mittelalterlichen Disputationen zu: Ge­ rade die Bedrohung
durch den Skeptizismus treibt die Erkenntnistheorie voran. Erst durch die
skeptische Herausforderung wird nämlich klar, dass der auf den ersten Blick
selbstverständ­lich erscheinende Wissensbegriff einer Analyse bedarf und
dass Wissensansprüche gerecht­fertigt werden müssen.
Auch die dritte Annahme, die in den theologischen Diskussionen über
göttliche All­macht die treibende Kraft für skeptische Debatten sieht, muss
einer kritischen Prüfung unter­zogen werden. Zunächst gilt es zu beach-
ten, dass die Omnipotenzlehre nur ein Auslöser für skeptische Debatten
war, aber keineswegs der einzige. Auch andere Theorien und Problem­
stellungen, die teilweise auf antiken Vorlagen beruhten und teilweise
genuin mittelalterlichen Ursprungs waren, bildeten den Ausgangspunkt
für solche Debatten. Dies möge wiederum ein Beispiel verdeutlichen,
nämlich jenes der Sinnestäuschungen. Wenn man einen Holzstab sieht,
der halb ins Wasser eingetaucht ist, erscheint er gebrochen, und diese Er-
scheinung bil­det die Grundlage für die falsche Meinung, dass der Holzstab
tatsächlich gebrochen ist. Bei­spiele dieser Art veranlassten Petrus Aureoli

  Vgl. eine ausführliche Analyse in §§ 8–9.


19

 Selbst wenn sie keine erkenntnistheoretische Debatte ausgelöst hätte, wäre sie nicht
20

notwendigerweise „zersetzend“ gewesen. Wie der pyrrhonische Skeptizismus zeigt, können


skeptische Fragen auch mit Blick auf ein praktisches Ziel formuliert werden: die Überwin-
dung dogmatischer Ansichten durch eine geeignete Therapie, die zur Seelenruhe und damit
zu einem glücklichen Leben führt. Die ausschließlich negative Bewertung des Skeptizismus
übersieht, dass gerade im Nachweis, dass keine Theorie (auch keine Erkenntnistheorie) mög-
lich ist und dass daher theoretische Ansprüche aufgegeben werden sollten, etwas Positives
liegen kann. Da der pyrrhonische Skeptizismus im Mittelalter aber fast unbekannt war (vgl.
zur spärlichen Verbreitung § 2), spielte dieser antitheoretische, lebenspraktisch orientierte
Ansatz für die Debatten des 13. und 14. Jhs. keine Rolle.
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12 Einleitung

im frühen 14. Jh. dazu, grundsätzlich zu fragen, was man in einer Wahr-
nehmungssituation erfasst und worüber man Meinungen bildet. 21 Be­zieht
sich jemand, der in diesem Fall eine Meinung erwirbt, nur auf den als ge-
brochen er­scheinenden Holzstab und damit auf einen „erscheinenden Ge-
genstand“? Handelt es sich da­bei um eine besondere Entität, die nicht mit
dem Holzstab im Wasser identifiziert werden kann? Ist dann nur noch ein
unmittelbarer Zugang zu dieser besonderen Entität möglich? Es ist leicht
ersichtlich, dass hier nicht einfach ein Spezialproblem vorliegt. Da nämlich
in jeder Wahrnehmung – auch in einer veridischen – einer Person etwas
erscheint, könnte man geneigt sein zu sagen, dass sich eine Person immer
primär auf einen „erscheinenden Gegenstand“ bezieht und von diesem Ge-
genstand eine Meinung erwirbt. Der besondere Fall der Sinnestäu­schung
verdeutlicht nur auf prägnante Weise, was für jede Wahrnehmung gilt.
Doch wie ist dann noch ein direkter Zugang zu realen Gegenständen in der
materiellen Welt möglich? Wie lässt sich dann noch behaupten, dass wir
Meinungen oder gar ein Wissen von realen Gegen­ständen haben? Müssten
wir nicht bescheidener sagen, dass nur ein Wissen von erscheinen­ den
Gegenständen möglich ist? Genau diese Fragen lösten im 14. Jh. eine rege
Debatte über den Gegenstand des Wissens aus. Während einige Autoren
in der Tat behaupteten, Wissen beziehe sich primär nur auf erscheinende
Gegenstände, behaupteten andere (unter ihnen pro­m inenterweise Ock-
ham), die Annahme besonderer erscheinender Gegenstände sei ein ontolo­
gischer Fehler; wenn Wissen überhaupt möglich sei, könne es sich nur auf
reale Gegenstände beziehen. Wie dieses Beispiel zeigt, löste bereits die
Analyse natürlicher Wahrnehmungspro­zesse skeptische Debatten aus. 22 Es
wäre daher irreführend, einzig und allein in der theolo­gisch motivierten
Hypothese eines übernatürlichen Eingreifens ein skeptisches Potenzial zu
sehen.
Natürlich spielte die theologische Allmachtslehre, die sowohl in der
christlichen als auch in der jüdischen und islamischen Kultur tief verwurzelt
war, ebenfalls eine wichtige Rolle für die Ge­nese skeptischer Debatten. 23 Bei
einer Analyse der Verwendung dieser Lehre in philosophi­schen Kontexten
ist allerdings Vorsicht geboten. Wenn mittelalterliche Philosophen von der
Omnipotenzlehre Gebrauch machten, verfolgten sie nicht die Absicht,
21
 Vgl. Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3, sect. 14 (ed. Buytaert 1956, 696–698),
ausführ­l ich dazu § 21.
22
 Denery 2005, 3, stellt daher zu Recht fest, dass diese Beispiele auf die Kluft zwischen
Erscheinen­dem und Existierendem aufmerksam machten und daher gleichsam die Eingangs-
tür zu einer grund­sätzlichen erkenntnistheoretischen Analyse bildeten, nicht bloß zu einer
Untersuchung einzelner Ausnahmefälle.
23
 Vgl. zu der Verwurzelung in diesen Kulturen Rudavsky 1985 und Perler & Rudolph
2000.
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§ 1 Eine historiographische Fiktion? 13

einen Willkürgott ein­zuführen, der jederzeit in die natürlichen Erkennt-


nisprozesse eingreifen und sie zunichte ma­chen könnte. Ihr Ziel bestand
vielmehr darin, mit Verweis auf die „absolute Macht Gottes“ (potentia Dei
absoluta) zu verdeutlichen, was prinzipiell möglich ist, d.h. was nicht nur
phy­sikalisch, sondern auch begrifflich und logisch möglich ist. Wie W. J.
Courtenay treffend festgestellt hat, war die Lehre von der absoluten Macht
nicht etwa ein theologisches Schreckgespenst, sondern ein „analytisches
Hilfsmittel“, 24 das dazu diente, den Bereich des Möglichen auszuloten und
damit näher zu bestimmen, worin sich das Mögliche vom Unmög­lichen
einerseits und vom Notwendigen andererseits unterscheidet. Der Rekurs
auf einen all­mächtigen Gott hatte somit eine ähnliche Funktion wie heu-
tige Verweise auf einen allmächti­gen Neurowissenschaftler, der sämtliche
Gehirnzustände manipulieren und beliebige Mei­ nungen hervorbringen
könnte. 25 Weder beim allmächtigen Gott noch beim Neurowissenschaft­
ler geht es darum, im Detail zu erläutern, was wirklich der Fall ist oder
gemäß den geltenden Naturgesetzen der Fall sein könnte. Zur Debatte steht
vielmehr, was prinzipiell möglich ist. Ist es prinzipiell möglich, dass wir
Gedanken und Meinungen haben, die in keiner Kausalrelation zu Gegen-
ständen und Sachverhalten in der materiellen Welt stehen? Handelt es
sich dabei überhaupt noch um Meinungen, die sich auf etwas beziehen?
Was sind die Mi­n imalbedingun­gen dafür, dass sich Meinungen auf etwas
beziehen können? Zur Erörterung solcher Fragen, nicht zur Erschütterung
des Vertrauens in die natürliche Ordnung, wurde das Szenario vom all-
mächtigen Gott eingesetzt. Dies bedeutet natürlich, dass dieses Szenario
keine destruktive Funktion hatte. Es diente dazu, die Grundstruktur von
Erkenntnisprozessen zu klären und zu verdeutlichen, was immer schon an-
genommen werden muss, damit über­haupt von Erkenntnis und Wissen die
Rede sein kann. So gesehen stellte die Allmachtslehre keine Bedrohung für
das natürliche Wissen dar, sondern trug mittels kreativer Gedankenexpe­
rimente dazu bei, epistemische Grundbegriffe zu klären. Mit A. Funken-
stein könnte man sa­gen, dass die All­machtslehre erkenntnistheoretische
Debatten nicht beeinträchtigte oder gar zur Entstehung einer „intellek-
tuellen Krankheit“ führte, wie Gilson meinte, sondern gerade umgekehrt

  Vgl. Courtenay 1985, 243.


24

 Trotz dieser Analogie besteht natürlich auch eine entscheidende Disanalogie. Der all-
25

mächtige Neurowissenschaftler ist eine Kunstfigur, die nur zu argumentativen Zwecken


eingeführt wird. Der allmächtige Gott hingegen ist für die mittelalterlichen Autoren eine
reale Figur, die in der christlichen Tradition (ebenso auch in der jüdischen und islamischen)
fest verankert ist und deren Existenz mit Verweis auf die Offenbarungsschriften begründet
werden kann. Die Pointe besteht freilich darin, dass diese reale Figur auch zu argumentativen
Zwecken – zur Auslotung des Möglichkeitsbereichs – eingesetzt wurde und dadurch eine
genuin philosophische und nicht nur eine offenbarungstheologische Funktion erhielt.
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14 Einleitung

die wissenschaftliche Imagination anregte und die erkenntnistheoretischen


Grundlagendebatten vorantrieb. 26
Schließlich gilt es auch die vierte Annahme kritisch zu prüfen, der zu-
folge Skeptizis­mus im Mittelalter ein typisch ockhamistisches Phänomen
ist. Dagegen ist zunächst einzu­ wenden, dass es bereits vor Ockham
skeptische Debatten gab (etwa die bereits erwähnte Aus­einandersetzung
zwischen Heinrich von Gent und Johannes Duns Scotus), dass unter Ock­
hams Zeitgenossen derartige Debatten geführt wurden, die nicht von ihm
inspiriert waren (etwa die Diskussionen über Sinnestäuschungen, die maß-
geblich von Petrus Aureoli ausgin­gen), und dass auch in der Generation
nach Ockham skeptische Probleme diskutiert wurden, die sich nicht auf
Ockham zurückführen lassen (etwa die Debatte zwischen Nikolaus von
Autrécourt und Johannes Buridan über die Möglichkeit der Fundierung
von Wissen durch ein erstes Prinzip). Es wäre irreführend, in Ockham
gleichsam den Dreh- und Angelpunkt der spätmittelalterlichen Debatten
zu sehen. Und selbst mit Blick auf Ockham wäre es gefährlich, einfach von
einem einheitlichen Skeptizismus zu sprechen. Es müssen verschiedene
skepti­sche Fragen und Probleme, die sich im Zusammenhang mit Sinnes-
täuschungen, göttlichen Manipulationen und anderen Fehlerquellen stellen,
untersucht werden. Für jedes einzelne Problem gilt es zu prüfen, wie Ock-
ham es zu lösen versuchte. Schließlich ist auch Vorsicht geboten, wenn pau-
schal von einer ockhamistischen Strömung die Rede ist. Es gab eine Reihe
von Autoren (Adam Wodeham, Robert Holkot, Gregor von Rimini u.a.),
die sicherlich von Ockham inspiriert waren, aber auf ihre je eigene Weise
skeptische Fragen aufgriffen und Lö­sungsvorschläge erarbeiteten, die sich
teilweise deutlich von Ockhams Lösungsmodellen un­terschieden. Es wäre
unangebracht, von vornherein eine einheitliche ockhamistische Schule an-
zunehmen. 27 Das Individualprinzip, von dem Ockham in seiner Ontologie
Gebrauch machte, gilt es auch in einer historischen Analyse zu beachten:
„Jeder beliebige singuläre Ge­ genstand ist durch sich selbst singulär.“28
Jeder einzelne Autor ist ein eigenständiger Philo­soph, der aufgrund eigener
Annahmen und Argumente zu bestimmten Konklusionen gelangt. Daher
sollten auch die sog. Ockhamisten als eigenständige Denker in den Blick
genommen werden. Wie sie mit skeptischen Problemen umgingen und zu
26
  Vgl. Funkenstein 1986, 10–12. Allerdings behauptet Funkenstein, dass die mittelalterli-
chen Autoren die neuen Möglichkeiten „nur aus der Ferne sahen“, aber nicht auszuschöpfen
vermochten (ibid., 124). Ob es sich tatsächlich so verhält und ob erst Autoren des 17. Jhs. die
Omnipotenzlehre philosophisch auszuwerten vermochten, muss im Detail geprüft werden.
27
  Wie Courtenay 1987, 218, zu Recht betont, war es nicht eine einheitliche ockhamistische
Lehre, die sich als einflussreich erwies, sondern eine philosophische und theologische Me-
thode, die im 14. Jh. auf unterschiedliche Weise eingesetzt wurde.
28
  Ordinatio I, dist. 2, q. 6 (OTh II, 196): „... quaelibet res singularis se ipsa est singularis.“

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§ 2 Ausgangspunkte der mittelalterlichen Diskussionen 15

welchen skeptischen oder anti­skeptischen Einsichten sie gelangten, muss


im Einzelfall geprüft werden.
Im Lichte dieser Revision der vier genannten Annahmen, die maßgeb-
lich die Skepti­zismus-Forschung geprägt haben, zeigt sich, dass man durch-
aus von einem Skeptizismus im Mittelalter sprechen kann, ohne gleich
eine skeptische Position ausfindig zu machen, sie be­ stimmten Autoren
zuzuschreiben und negativ zu bewerten. Entscheidend ist nicht, wer eine
skeptische Position eingenommen hat, sondern wie in der dialektischen
Auseinandersetzung skeptische Fragen aufgegriffen und auf produktive
Weise zur Klärung des Wissensbegriffs eingesetzt wurden – selbst wenn am
Ende dieser Klärung eine antiskeptische Position erreicht und die Menge
der skeptischen Argumente wie eine überflüssig gewordene Leiter beiseite
gestoßen wurde.

§ 2 Ausgangspunkte der mittelalterlichen Diskussionen

Um zu verstehen, welche skeptischen Fragen formuliert wurden und welche


Bedeutung ihnen in den mittelalterlichen Untersuchungen zukam, emp-
fiehlt es sich, den Herkunftsort dieser Fragen näher zu betrachten. Nur
so wird deutlich, wo die scholastischen Autoren an antike Diskussionen
anknüpften und wo sie eigene Wege gingen, und nur auf diese Weise lässt
sich auch der systematische Ort der skeptischen Fragen im ganzen Geflecht
von erkenntnistheore­tischen, metaphysischen und sprachphilosophischen
Debatten genauer bestimmen.
Es scheint zunächst naheliegend, den pyrrhonischen Skeptizismus als
Ausgangspunkt zu wählen, denn der Pyrrhonismus entwickelte Argumen-
tationsformen und Angriffe auf Rechtfertigungsstrategien, die weit über
die Antike hinaus einflussreich blieben. R. Popkin stellte fest, die Ent-
stehung und Ausbreitung des neuzeitlichen Skeptizismus sei durch eine
„pyr­rhonische Krise“ ausgelöst worden. 29 Da es bereits am Ende des 13.
Jhs. eine lateinische Übersetzung von Sextus Empiricus’ Grundriss der pyr-
­rhonischen Skepsis gab, noch dazu eine Überset­zung, die in drei Handschrif-
ten überliefert ist,30 könnte man annehmen, dass bereits die mittelalterliche
Debatte durch eine „pyrrhonische Krise“ ausgelöst oder zumindest durch

 Vgl. Popkin 2003. Freilich stellte der Pyrrhonismus auch für den frühneuzeitlichen
29

Skeptizismus nur einen Ausgangspunkt dar. Für eine kritische Diskussion der These Popkins
vgl. Perler 2004c.
30
 Diese Handschriften sind in drei wichtigen Bibliotheken überliefert, nämlich in Paris,
Venedig und Madrid, und stammen aus der Zeit zwischen dem späten 13. und dem frühen
14. Jh. Zur Datierung der Handschriften vgl. Wittwer 2003.
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16 Einleitung

pyrrhonische Elemente geprägt wurde. Eine genaue Prüfung der Autor-


schaft und Verbreitung der lateinischen Übersetzung zeigt jedoch, dass dies
nicht der Fall war. Wie R. Wittwer in einer minutiösen Analyse der Ent-
stehungs- und Rezep­tionsgeschichte nachweisen konnte, finden sich keine
Anzeichen für eine mittelalterliche Auseinandersetzung mit dem Kern-
text des pyrrhonischen Skeptizismus. Dieser Text ist auch nicht von dem
als Galen-Übersetzer bekannten Niccolò da Reggio ins Lateinische über-
tragen worden, wie lange Zeit angenommen wurde, sondern muss einem
anonymen Übersetzer zu­geschrieben werden.31 Es lässt sich ferner nicht
eindeutig zeigen, dass die Übersetzung im späten 13. und im 14. Jh. ver-
breitet war oder gar zitiert wurde. 32 Mit Sicherheit lässt sich nur sagen, dass
die lateinische Übersetzung früher entstanden ist, als seit H. Mutschmanns
Pio­nierarbeiten angenommen wurde, nämlich bereits vor 1300. Ebenfalls
mit Sicherheit lässt sich feststellen, dass die Übersetzung auf griechischen
Handschriften beruht, die heute nicht mehr erhalten sind. Daher besitzt
der lateinische Text für die Rekonstruktion des griechischen Ori­ginaltextes
einen hohen stemmatischen Wert.33 Doch von einem Pyrrhonismus als einer
skepti­schen Strömung im Mittelalter kann nicht die Rede sein.
Über die Gründe für die fehlende Rezeption lassen sich nur Vermutun-
gen anstellen, die allerdings wenig hilfreich sind, solange sie nicht durch
klare Textbelege gestützt werden. Deshalb lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt
nur das negative Fazit ziehen, dass – aus welchen Gründen auch immer – die
Hauptquelle des Pyrrhonismus im Mittelalter nicht rezipiert wurde. Ebenso
wenig lässt sich eine Rezeption anderer Quellen (etwa der relevanten Stellen
in Diogenes Laertios’ Leben der Philosophen oder in Sextus Empiricus’ Con-
tra mathemati­cos) feststellen. Eine starke und folgenreiche Rezeption setzte
erst 1562 ein, als der Grundriss der pyrrhonischen Skepsis zum zweiten Mal
ins Lateinische übertragen wurde, diesmal von Henri Etienne; 1569 folgte
eine Übersetzung von Contra mathematicos.34 Erst dadurch wurde die Text-
basis für eine Wiederbelebung des pyrrhonischen Skeptizismus ge­schaffen.
Das Feh­len einer solchen Textbasis im Mittelalter bedeutet natürlich, dass
die pyrrhonischen Argu­mentationsmuster nicht rezipiert wurden. Es wäre
daher unangemessen, in den scholastischen Texten nach einer Methode

31
  Vgl. Wittwer 2006. Er korrigiert überzeugend Floridi 2002, 67–68, der die Zuschreibung
zu Niccolò da Reggio unkritisch von Mutschmann übernimmt.
32
 So lässt sich nicht nachweisen, dass Petrus von Alvernia diesen kannte, wie gelegentlich
angenom­men wird; vgl. Wittwer 2006.
33
  Vgl. Wittwer 2002.
34
 Vgl. Floridi 2002, 70–77 und 80–87. Es gab sogar noch eine weitere Übersetzung des
Grundrisses, die möglicherweise wenige Jahre vor Etiennes Ausgabe entstand und aus der
Feder von Johannes Paez de Castro stammt. Diese Übersetzung übte allerdings keinen Ein-
fluss auf die Rezeption aus.
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§ 2 Ausgangspunkte der mittelalterlichen Diskussionen 17

der Gegenüberstellung von Phänomenen zu suchen, die zunächst zu einer


Feststellung der Gleichwertigkeit der Phänomene, dann zu einer Urteils-
enthaltung und schließlich zur berühmten Seelenruhe führt. Ebenso un-
angebracht wäre es, nach einer Diskussion der zehn Tropen zu fahnden. Die
mangelnde Präsenz einer typisch pyrrhonischen Methode darf allerdings
nicht gleich als das Fehlen jeder skeptischen Methode gedeutet wer­den.35
Die pyrrhonische Methode ist zwar eine durchaus wirkungsvolle, aber doch
nur eine Methode, mit der skeptische Probleme formuliert und diskutiert
werden kön­nen.36 Betrachtet man die skeptischen Diskussionen im Mittel-
alter nur mit Blick auf die Rezep­tion dieser anti­ken Methode, besteht die
Gefahr, dass die mittelalterlichen Debatten lediglich als ein Appen­dix zu
den antiken Debatten wahrgenommen werden.
Es gab indessen eine weitere antike Form des Skeptizismus, mit der die
scholastischen Autoren durchaus vertraut waren: die akademische Skepsis.
Dank Ciceros Academica und Augustins Contra academicos war sie im
ganzen Mittelalter bekannt.37 Beide Texte wurden explizit zitiert, und häu-
fig wurden die Skeptiker einfach als academici bezeichnet.38 Für die Aus-
arbeitung und Entwicklung der mittelalterlichen Debatten erwiesen sich
zwei Elemente der akademischen Skepsis als bedeutungsvoll.
Das erste Element besteht in den Täuschungsszenarien. Sowohl Cicero
als auch Au­g ustin zitierten verschiedene Arten der Sinnestäuschung, des
Wahnsinns und der Täuschung durch Traumbilder, um zu verdeutlichen,

35
 Dies ist gegenüber Floridi 2002, 15, zu betonen, der behauptet: „The point is that the
Middle Ages show no significant interest in skeptical arguments within the restricted philo-
sophical and theological debates that may address issues concerning the nature and reliability
of knowledge, in discussions of ethical, religious, and epistemological questions at ‚a scien-
tific level,‘ as we would say nowadays.“ Diese starke These, die durch keine Textbelege oder
Textanalysen gestützt wird, lässt sich in mindes­tens zweifacher Hinsicht anfechten. Erstens:
Die Tatsache, dass die mittelalterlichen Autoren kein Interesse für jene Form von skeptischen
Argumenten zeigten (oder dass sie schlichtweg keine Kennt­n is von dieser Form hatten), die
Floridi im Pyrrhonismus verankert, beweist noch lange nicht, dass sie kein Interesse für
skeptische Argumente hatten. Zweitens: Ob tatsächlich keine „wissenschaftliche Ebene“ für
die Behandlung epistemologischer Fragen vorhanden war, muss mit Blick auf mittelalterli­che
Texte untersucht werden und darf nicht von vornherein angenommen werden.
36
  Grellard 2004 weist zu Recht darauf hin, dass man zunächst eine Typologie skeptischer
Argumentatio­nen erstellen muss (und zwar nicht nur mit Blick auf antike Vorlagen), bevor man
dar­über urteilt, ob es im Mittelalter einen Skeptizismus gegeben hat oder nicht.
37
  Vgl. zur Rezeption Schmitt 1972, 18–42. Freilich dominierte die augustinische Quelle
gegenüber der ciceronischen. Augustins Contra academicos wurde durch andere Texte (etwa
De diversis quaestioni­bus 83, q. 9) ergänzt, in denen ebenfalls skeptische Probleme erörtert
werden. Auf der Grundlage dieser Texte referiert bereits Johannes von Salisbury in Policrati-
cus VII die akademische Position.
38
 So etwa von Bonaventura, De scientia Christi, q. 4 (ed. Speer 1992, 114), Heinrich von
Gent, Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson 2005, 12–13), Wilhelm von Ockham, Ordinatio I, prol.,
q. 1 (OTh I, 43), Nikolaus von Autrécourt, Correspondence I.15 (ed. de Rijk 1994, 54–56).
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18 Einleitung

dass wir gelegentlich auf einer irreführenden Basis Urteile bilden.39 Diese
Stellen erwiesen sich nicht nur als wichtig, weil sie die klassischen Beispiele
präsentierten, die von den mittelalterlichen Autoren übernommen wurden.
Sie wa­ren auch von Bedeutung, weil sie auf ein grundsätzliches Problem auf-
merksam machten: Wie können wir je sicher sein, dass wir mithilfe unserer
natürlichen kognitiven Fähigkeiten ein Wissen von den materiellen Gegen-
ständen gewinnen, wenn uns diese Gegenstände doch manchmal ganz anders
erscheinen, als sie wirklich sind? Solange uns kein Kriterium zur Ver­f ügung
steht, mit dem wir überprüfen können, ob die Gegenstände tatsächlich so
sind, wie sie uns erscheinen, können wir uns nie auf die Erscheinungen ver-
lassen. Doch wie können wir ein Überprüfungskriterium gewinnen, wenn
uns die Gegenstände immer in einer konkreten Situation auf diese oder jene
Weise erscheinen? Wir können nie so etwas wie einen Gottes­standpunkt
einnehmen, von dem aus wir die Gegenstände so erfassen, wie sie „an sich“
sind; wir sind immer an eine bestimmte Perspektive gebunden. Können
wir also grundsätzlich nur ein Wissen davon erwerben, wie uns die Gegen-
stände gerade erscheinen? Oder sind wir trotz eines fehlenden Kriteriums
in der Lage, etwas darüber zu erfahren, wie sie wirklich sind? Diese Fragen
verdeutlichen, dass die Täuschungsfälle nicht bloß als bizarre Ausnahme-
fälle diskutiert wurden, sondern Anlass gaben, grundsätzlich zu fragen, ob
und wie wir je ein zu­verlässiges Wissen gewinnen können.
Das zweite Element der akademischen Skepsis, das sich in der mittelalter-
lichen Re­zeption als folgenreich erwies, war die Unterscheidung zwischen
dem Wahren (verum) und dem, was dem Wahren ähnlich ist (veri simile).
Die Akademiker betonten, ein Mensch könne das Wahre nicht erkennen und
folglich auch kein Wissen vom Wahren erwerben. Wenn ein Wissen möglich
sei, so nur von dem, was dem Wahren ähnlich ist.40 Diese Unterscheidung,
warf natürlich sogleich die Frage auf, wie wir je bestimmen können, was
dem Wahren ähnlich ist, wenn wir das Wahre selbst nicht erfassen. Augustin
wies mithilfe eines vergleichenden Beispiels auf dieses Kernproblem hin.41
Angenommen, jemand sieht einen Mann und sagt, er sei seinem Vater ähn-
lich, behauptet aber gleichzeitig, den Vater nicht zu kennen. Diese Per­son
scheint unglaubwürdig zu sein; denn nur wer den Vater kennt, kann von
dessen Sohn sa­gen, er sei ihm ähnlich. Ebenso kann nur jemand, der das
Wahre erfasst, von etwas anderem sagen, es sei dem Wahren ähnlich. Somit

39
 Vgl. Cicero, Acad. II, §§ 81–82 (für Sinnestäuschungen), §§ 47–48 und §§ 51–54 (für
Wahnsinn und Träume). Zu allen Formen siehe konzis Augustin, Contra academicos II, 5,
11.
40
  Vgl. Augustin, Contra academicos II, 7, 16 – II, 8, 20; ausführlich dazu Fuhrer 1993 und
1997, 174–232.
41
  Vgl. Augustin, Contra academicos II, 7, 16.
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§ 2 Ausgangspunkte der mittelalterlichen Diskussionen 19

scheint ein Skeptiker, der behauptet, das Wahre nicht zu erkennen, wohl
aber das, was dem Wahren ähnlich ist, unglaubwürdig zu sein. Ent­weder
er verzichtet ganz auf die Rede von dem, was dem Wahren ähnlich ist, und
gibt damit jeden Erkenntnis- und Wissensanspruch preis. Oder aber er
hält daran fest, dass er das dem Wahren Ähnliche erkennt, muss dann aber
wohl oder übel zugeben, dass er auch den dafür relevanten Maßstab – das
Wahre – erkennt. Die mittelalterlichen Leser wurden auf dieses Problem auf-
merksam und wählten es als Ausgangspunkt, um grundsätzlich zu klären,
was es heißt, das Wahre zu erkennen. Bedeutet dies, einfach einen Gegen-
stand mit allen seinen Ei­genschaften zu erkennen (was nur teilweise oder
gar nicht der Fall ist, wenn bloß das dem Wahren Ähnliche erkannt wird)?
Oder heißt dies, das Wesen eines Gegenstandes zu erken­nen, d.h. genau das,
was ihn trotz aller Veränderungen zu einem Gegenstand einer bestimm­ten
Art macht? Besonders Heinrich von Gent und seine Nachfolger diskutierten
diese Fragen im Detail, um dadurch den Wissensbegriff zu klären. Wenn
nämlich für Wissen im strengen Sinn das Erkennen des Wahren erforderlich
ist, dieses aber immer ein Erkennen des Wesens erfordert, kann Wissen nur
essentialistisch verstanden werden. Das heißt: Nur wer das Wesen erfasst,
kann den Anspruch erheben, etwas zu wissen. Doch wie kann dieser Wis-
sensanspruch be­gründet werden? Wie können wir trotz der offensichtlichen
Fälle, in denen es uns aufgrund irreführender oder unvollständiger Sinnes-
informationen nicht gelingt, das Wesen eines Ge­genstandes zu erkennen,
Wissen beanspruchen? Welche besonderen kognitiven Prozesse müssen wir
in Anschlag bringen, um diesen Anspruch aufrechterhalten zu können?
Diese Fragen verdeutlichen, dass die akademische Rede von „dem Wahren“
unweigerlich eine Grundsatzdebatte über die Anfechtung und Begründbar-
keit eines essentialistischen Wissens­anspruches auslöste.
Die skeptischen Debatten im Mittelalter beruhten aber nicht nur auf
früheren skepti­schen Diskussionen, sondern – so paradox es auf den ersten
Blick auch erscheinen mag – auch auf dezidiert antiskeptischen Diskussio-
nen. Die wohl einflussreichste Diskussion dieser Art war jene rund um den
aristotelischen Begriff des Wissens. Aristoteles führte diesen Be­griff be-
kanntlich ein, indem er feststellte, dass es für Wissen im strengen Sinn nicht
ausreicht, einfach festzustellen, dass etwas der Fall ist. Vielmehr muss man
auch angeben können, wa­rum etwas der Fall ist und gar nicht anders der Fall
sein kann. Das heißt, man muss Gründe – sogar notwendige Gründe – für
einen bestimmten Sachverhalt angeben. Dies kann man Aris­toteles zufolge
nur tun, wenn man einen syllogistischen Beweis für diesen Sachverhalt for­
muliert, d.h. wenn man zeigt, wie aus bestimmten Prämissen genau jene
Konklusion folgt, die den Sachverhalt bezeichnet. Wenn es sich dabei um
einen Beweis handeln soll, der tatsächlich Wissen und nicht bloß eine wahr-
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20 Einleitung

scheinliche Meinung liefert, müssen die Prämissen be­stimmten Bedingungen


genügen; sie müssen wahr sein, ursprünglich, im Verhältnis zur Kon­k lusion
bekannter, ursächlich und vorrangig.42 Und natürlich müssen die Prämissen
durch einen Mittelbegriff auch derart miteinander verbunden sein, dass sich
aus ihnen tatsächlich eine Konklusion ergibt. Ein aristotelisches Beispiel
für einen solchen syllogistisch geführten Beweis lautet: Das Erlöschen von
Feuer ist ein Geräusch; Donner ist ein Erlöschen von Feuer in den Wolken;
also ist Donner ein Geräusch in den Wolken.
Diese Konzeption eines demonstrativen Wissens war den mittelalter-
lichen Autoren seit der Rezeption der Zweiten Analytiken im 12. Jh. gut
bekannt.43 Sie gab aber zu einer Reihe von Fragen Anlass. Die wichtigste
und umstrittenste Frage betraf die Herkunft der Prämissen. Wie kommen
wir zu wahren, ursprünglichen, bekannteren usw. Aussagen, aus denen wir
eine Konklusion gewinnen können? Zwei Antworten bieten sich an. Man
könnte erstens sagen, dass wir immer schon über die erforderlichen Prämis-
sen verfügen und sie bei Bedarf nur aktivieren müssen. Diese innatistische
Erklärung ist aber höchst unplausibel, da sie annimmt, dass wir nicht nur
über angeborene allgemeine Prinzipien verfügen, sondern auch über eine
Fülle von konkreten Aussagen, etwa über „Das Erlöschen von Feuer ist ein
Geräusch“. Wie kann eine solche Aussage angeboren sein? Wir müssen doch
zunächst etwas über Feuer und Geräusche lernen, bevor wir sie formulieren
und als Prämisse verwenden können. Um dieser Schwierigkeit zu entgehen,
könnte man eine zweite Antwort geben und argumentieren, dass wir die
genannte Prämisse auf der Grundlage der Sinneswahrnehmung erwerben.
So haben wir schon öfters den Himmel beobachtet und festgestellt, dass
nach dem Auftreten eines Blitzes unmittelbar ein Geräusch zu hören ist.
Daher glauben wir, dass das Ende des Blitzes (d.h. das Erlöschen von Feuer)
in nichts anderem als in einem Geräusch besteht. Haben wir dadurch eine
Prämisse gewonnen, die den genannten Bedingungen ge­nügt? Schon gegen
die Annahme, dass die Prämisse der ersten Bedingung – Wahrheit – ge­nügt,
lassen sich Einwände vorbringen. Wie können wir denn sicher sein, dass
wir keiner Sin­nestäuschung zum Opfer gefallen sind, als wir das Auftreten
eines Blitzes und eines Geräu­sches beobachtet haben? Es könnte doch gut
sein, dass wir bloß ein raffiniert inszeniertes Spektakel beobachtet haben,
all dies aber eine große Illusion gewesen ist. Nur weil uns etwas auf eine
bestimmte Weise erscheint, können wir noch lange nicht sicher sein, dass es
auch so ist. Und daher können wir auch nicht sicher sein, dass die Prämisse,
die wir dann formulieren, einen Sachverhalt in der materiellen Welt so be-

42
 Vgl. Anal. Post. I, 2 (71b21–22), ausführlich dazu Detel 1993, Bd. 2, 62–66.
43
 Einen konzisen Überblick über die Rezeption bietet Serene 1982.
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§ 2 Ausgangspunkte der mittelalterlichen Diskussionen 21

zeichnet, wie er wirklich ist. Doch selbst wenn es keine Kluft zwischen Sein
und Schein gibt, stellt sich ein weiteres Prob­lem. Es könnte sehr gut sein,
dass wir mehrfach festgestellt haben, dass auf das Auftreten ei­nes Blitzes
ein Ge­räusch folgt. Doch vielleicht folgt nur manchmal, aber nicht immer
ein Ge­räusch. Aufgrund der Tatsache, dass wir in einigen Fällen etwas be-
obachtet haben, folgt nicht, dass es sich in allen Fällen so verhält oder gar
verhalten muss. Daher dürfen wir nicht einfach annehmen, dass wir eine
Prämisse gewinnen, die in allen Fällen wahr ist. Wir sind nur zu fol­gender
Aus­sage berechtigt: Aufgrund der Fälle, die wir beobachtet haben, ist es
sehr wahr­scheinlich, dass das Erlöschen von Feuer ein Geräusch ist. Mehr
als Wahrscheinlichkeit lässt sich hier nicht gewinnen.
Angesichts dieser Überlegungen ist es nicht erstaunlich, dass die aristoteli-
sche Wis­senstheorie gleichsam das Sprungbrett für skeptische Überlegungen
bildete. Ein besonders klares Beispiel dafür findet sich bei Adam Wodeham,
einem Autor des 14. Jhs. Er schloss sich der aristotelischen Auffassung an,
dass unter Wissen im strengen Sinn immer demonst­ratives Wissen zu verste-
hen ist, fügte dann aber gleich hinzu, dass es kein unbezweifelbares Wissen
gibt. „Alles Wissbare ist bezweifelbar“, lautet seine These.44 Wenn nämlich
die Prämis­sen eines Beweises aus den genannten Gründen anfechtbar sind,
lässt sich auch die aus ihnen gewonnene Konklusion anfechten – jedes de-
monstrative Wissen ist so gut oder so schlecht wie die Prämissen, auf denen
es beruht. Und Prämissen, die auf der Grundlage der Sinneswahrnehmung
gewonnen werden, können nie als unbezweifelbar gelten. Dieses Bei­spiel
verdeutlicht, dass die Auseinandersetzung mit einer Theorie, die im Kern
antiskep­tisch angelegt war, durchaus skeptische Überlegungen stärkte und
Anlass gab zu einer Revi­sion oder Einschränkung der Wissensansprüche.
Und natürlich führte eine Beschäftigung mit dieser Theorie auch dazu, dass
der zugrunde liegende Wissensbegriff geprüft und präzisiert wurde.
Nicht nur Aristoteles’ eigene Theorie, sondern auch seine Darstellung von
Vorgän­gertheorien bildete einen wichtigen Ausgangspunkt für die mittel-
alterlichen Debatten. Indem Aristoteles die Probleme und Aporien, die von
vorsokratischen Philosophen aufgeworfen worden waren, schilderte, bot
er den mittelalterlichen Autoren nämlich einen Einstieg in skeptische Dis-
kussionen, und zwar unabhängig davon, ob sie sich Aristoteles’ Lösungen
für diese Probleme anschlossen oder nicht. Zwei Beispiele mögen dies ver-
anschaulichen. Im vierten Buch der Metaphysik stellt Aristoteles die These
Heraklits vor, dass die Dinge sich permanent verändern; man kann nicht
zweimal in denselben Fluss steigen.45 Diese These veran­lasste verschiedene

 Vgl. Lectura secunda, dist. 1, q. 3, § 2 (ed. Wood 1990, 227); ausführlich dazu § 25.
44

 Vgl. Met. IV, 5 (1010a13–14).


45
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22 Einleitung

mittelalterliche Philosophen – unter ihnen Heinrich von Gent – zur Frage,


wie wir ein Wissen von der Natur der Dinge gewinnen können, wenn sie sich
doch ständig verändern.46 Wie kann ich etwa ein Wissen davon gewinnen,
was der Baum im Garten ist, wenn ich doch nur die sich verändernde Farbe,
Größe usw. erfassen kann und nur auf die­ser Grundlage imstande bin, mir
ein Bild vom Baum zu machen? Ist nur ein Wissen von den wechselhaften
Eigenschaften möglich? Ist überhaupt kein Wissen möglich? Oder kann
trotz aller Wechselhaftigkeit so etwas wie die stabile Natur erfasst werden?
Wie dieses Beispiel zeigt, geht es Heinrich nicht mehr um das ontologische
Problem, ob die Dinge in der Welt sich permanent verändern, sondern um
das epistemologische Problem, welche Art von Wis­ sen angesichts einer
solchen Veränderung möglich ist. Genau in diesem Problem sieht er eine
skeptische Herausforderung.
Ein zweites Problem stammt ebenfalls aus dem vierten Buch der
Metaphysik. Aristo­teles diskutiert dort ausführlich den Satz vom Wider-
spruch und setzt sich mit jenen auseinan­der, die diesen Satz zu bestreiten
versuchen.47 Er zeigt, dass selbst die Leugner ihn vorausset­zen müssen,
wenn sie überhaupt etwas behaupten wollen. Diese Argumentation moti-
vierte verschiedene mittelalterliche Autoren – unter ihnen Nikolaus von
Autrécourt – dazu, die Frage aufzuwerfen, wie weit man gehen kann, wenn
man Wissensansprüche infrage stellt. Of­fensichtlich kann man jedes Wissen
von einem konkreten Sachverhalt bezweifeln („Ich weiß, dass p“), aber nicht
das Wissen vom Satz vom Widerspruch („Ich weiß, dass nie gilt, dass p und
nicht-p“). Somit ist im Satz vom Widerspruch so etwas wie ein infallibles
Fundament ge­wonnen, das selbst ein Skeptiker nicht erschüttern kann. Es
stellt sich dann die Frage, wie weit dieses Fundament trägt und welches
Wissenssystem man auf ihm errichten kann. Auch hier zeigt sich wiederum,
dass Aristoteles gleichsam als Inspirationsquelle für eine epistemo­logische
Diskussion verwendet wurde. Denn Nikolaus geht es nicht mehr um das
logische oder argumentationstheoretische Problem, wie der Satz vom Wi-
derspruch bewiesen werden kann, sondern um das epistemologische Pro-
blem, wie dieser Satz zur Abwehr einer Bestrei­t ung von Wissensansprüchen
eingesetzt werden kann.
Bislang wurden ausschließlich Ausgangspunkte in den Blick genommen,
die sich in antiken Vorlagen finden. Es wäre allerdings irreführend, nur diese
Punkte zu betrachten, denn es gibt auch Auslöser für skeptische Debatten,
die genuin mittelalterlichen Ursprungs sind. Einer der wichtigsten Auslöser
ist schon genannt worden: die theologische Lehre von der un­eingeschränkten

46
 Vgl. Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 43).
47
 Vgl. Met. IV, 4 (1005b35–1006a28).
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§ 2 Ausgangspunkte der mittelalterlichen Diskussionen 23

Allmacht Gottes, die auch außerhalb der Theologie die wissenschaftliche


Imagination anregte. Es muss jedoch noch genauer bestimmt werden,
welche Art von Imagi­nation sie stimulierte und wie sich dadurch skeptische
Fragestellungen ergaben.
Die Omnipotenzlehre ist eine Doktrin, die auf eine umfassende Erklä-
rung von Kausal­relationen abzielt. Sie behauptet nämlich zum einen, dass
Gott als erste Ursache alles bewir­ken kann, was die zweiten Ursachen her-
vorbringen. So kann Gott eine Kugel in Bewegung versetzen, ohne dass es
eine andere Kugel oder sonst einen natürlichen Gegen­stand gibt, der sie an-
stößt. Diese Doktrin behauptet zum anderen aber auch, dass Gott entge­gen
den von ihm selbst erlassenen Naturgesetzen etwas bewirken kann, solange
dies nicht das Gesetz der Wi­derspruchsfreiheit verletzt. So kann Gott plötz-
lich eine Kugel nach oben fliegen lassen und damit gegen das von ihm selbst
erlassene Fallgesetz handeln. Gott ist somit nicht an die na­t ürliche Ordnung
gebunden – er kann sich über das hinwegsetzen, was in dieser Ord­nung
möglich ist, und scheinbar Unmögliches bewirken. In der einflussreichen
Pariser Ver­urteilung von 1277 kommt dies konzis zum Ausdruck:
„Was absolut unmöglich ist, kann nicht von Gott oder einem anderen Handeln­den
bewirkt werden. – Dies ist ein Irrtum, wenn darunter etwas Unmögliches gemäß
der Natur verstanden wird.“48

Es ist ein Irrtum zu glauben, Gott könne eine Kugel nicht nach oben fliegen
lassen, weil dies in der Natur oder gemäß der Natur unmöglich sei, denn
„gemäß der Natur“ kann nicht nur im Sinne von „gemäß den aktuell gelten-
den Naturgesetzen“ verstanden werden, sondern auch im Sinne von „gemäß
dem, was Gott auch gegen die Naturgesetze bewirken kann“. In die­sem
Sinne kann Gott sehr wohl etwas Unmögliches bewirken.
Damit wird der Raum des Möglichen erweitert. Neben dem, was gemäß
den Naturge­setzen möglich ist, muss immer auch das berücksichtigt wer-
den, was rein logisch möglich ist, d.h. was dem Gesetz der Widerspruchs-
freiheit nicht widerspricht. Entscheidend ist dabei nicht, dass das Mögliche
tatsächlich verwirklicht wird (selbst wenn Gott nie eine Kugel nach oben
fliegen lässt, ist es möglich, dass sie nach oben fliegt), sondern dass das
Mögliche nicht durch die Naturgesetze begrenzt wird. Bildlich gesprochen
könnte man sagen, dass der Raum des Möglichen über den Raum des natur-
gesetzlich Möglichen hinausgeht und einen neuen Horizont eröffnet. Diese
Überlegung erwies sich als folgenreich für die Naturphilosophie, denn
nun eröffneten sich Möglichkeiten, die über das hinausgingen, was durch

48
  Articuli condemnati, art. 147 (ed. Piché 1999, 124): „Quod impossibile simpliciter non
potest fieri a deo, uel ab agente alio. – Error, si de impossibili secundum naturam intelliga-
tur.“
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24 Einleitung

die aristoteli­schen Naturgesetze festgelegt war, z.B. die Möglichkeit, dass


es mehrere Welten gibt oder dass ein Vakuum existiert.49 Die Omnipotenz-
lehre sprengte durch ihre Erweiterung des Mögli­chen den aristotelischen
Nezessitarismus.
Diese Sprengkraft wirkte sich auch auf die Erkenntnistheorie aus, ja sie
legte den Rahmen für den Bereich fest, in dem Wissensansprüche erhoben
und angefochten wer­den können. Wenn es nämlich möglich ist, dass Gott
die Ereignisse und Relationen aufhebt, die gemäß den geltenden Naturgeset-
zen bestehen, kann er auch natürliche Kausalrelationen beseitigen. So kann
er beispielsweise die Kausalrelation, die zwischen dem vor mir stehenden
Baum und meinem Vorstellungsbild vom Baum besteht, beseitigen und ein
solches Vorstel­lungsbild hervorbringen, ohne dass ein Baum vor mir steht.
Gott kann sogar die Kausalrela­tion zwischen dem Vorstellungsbild und
einem intellektuellen Akt aufheben und in mir einen Akt erzeugen, ohne
dass ein Vorstellungsbild vorliegt. Es könnte sein, dass ich an einen Baum
denke, ohne dass irgendeine sinnliche Grundlage dafür besteht. Diese Aus-
weitung des Raumes des Möglichen hat eine unmittelbare Auswirkung auf
das Rechtfertigungsproblem. Wenn wir nämlich unsere Wissensansprüche
rechtfertigen, indem wir auf Wahrnehmungsur­teile verweisen („Ich weiß,
dass vor mir ein Baum steht, weil ich ihn sehe“), können diese Rechtfer-
tigungen stets angefochten werden. Im Raum des naturgesetzlich Möglichen
mag es wohl sein, dass die normalen Rechtfertigungen ausreichen, doch sie
genügen nicht im Raum des absolut Möglichen, der durch Gottes absolute
Macht geschaffen wird. Mit Bezug auf diesen Raum ist jede natürliche
Wahrnehmungsrelation und damit auch jedes Wahrneh­mungsurteil Zwei-
feln ausgesetzt.
Betrachtet man diesen theoretischen Rahmen, ist es nicht erstaunlich,
dass im 14. Jh. eine Reihe von skeptischen Problemen auftauchten und in-
tensiv diskutiert wurden.50 Das offen­sichtlichste Problem betrifft natürlich
die kognitiven Prozesse, durch die wir angeblich Wis­sen erwerben. Können
wir sicher sein, dass es sich um naturgesetzlich festgelegte Prozesse handelt,
49
 Vgl. zu diesen Auswirkungen auf die Naturphilosophie Bianchi 1990, konzis Grant
2001, 214–217. Wie Murdoch 1998 allerdings gezeigt hat, wäre es gefährlich, die Eröffnung
neuer Möglichkeiten ausschließlich auf die Verurteilung von 1277 zurückzuführen und – wie
Duhem meinte – in dieser Verurteilung den Anfangspunkt einer modernen, nicht-aristote-
lischen Wissenschaft zu sehen. Die verurteilten Artikel fassten Meinungen zusammen, die
bereits vor 1277 in Paris präsent waren.
50
 Wie Gelber 2004, 309–349, verdeutlicht, bestimmte dieser theoretische Rahmen nicht
nur im franziskanischen Milieu die erkenntnistheoretischen Debatten, sondern auch im
dominikanischen. Es wäre daher unzulässig, nur Ockham und andere Franziskaner in den
Blick zu nehmen, wie dies in Studien zur Omnipotenzlehre meistens der Fall ist. Auch Ox-
forder Dominikaner wie etwa Holkot und Crathorn müssen in die Untersuchung einbezogen
werden.
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§ 2 Ausgangspunkte der mittelalterlichen Diskussionen 25

oder könnte es nicht jederzeit der Fall sein, dass ein übernatürlicher Prozess
stattfin­det? Welches Kriterium steht uns dann zur Verfügung, um den über-
natürlichen Prozess vom natürlichen zu unterscheiden? Darüber hinaus
taucht aber noch ein weiteres, grundsätzlicheres Problem auf. In welchem
Raum des Möglichen müssen wir uns bewegen, wenn wir unsere Wissens-
ansprüche rechtfertigen? Man könnte argumentieren, dass eine Rechtfer-
tigung wie „Ich weiß, dass vor mir ein Baum steht, weil es naturgesetzlich
unmöglich ist, dass ich einen Baum-Gedanken habe, ohne dass dieser von
einem tatsächlich präsenten Baum verursacht wurde“ ausreicht. Doch man
könnte ebenso gut argumentieren, dass dies keine befriedigende Rechtfer-
tigung sein kann, weil sie ja die Möglichkeit eines Überschreitens des natur-
gesetzlich Möglichen missachtet. Wenn hier überhaupt eine Rechtfertigung
befriedigend sein kann, so könnte man fortfahren, dann nur eine solche, die
selbst das mögliche Eingreifen Gottes be­r ücksichtigt. Doch wie könnte eine
absolute Rechtfertigung aussehen? Ist der Anspruch auf eine solche Recht-
fertigung nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt? Diese Fragen ver­
deutlichen, dass die Erweiterung des Raumes des Möglichen nicht bloß zu
bizarren Gedan­kenexperimenten Anlass gab, wie man zunächst vermuten
könnte, sondern eine grundsätzli­che Debatte darüber auslöste, was es über-
haupt heißt, Wissensansprüche befriedigend zu rechtfertigen.
Schließlich gibt es einen weiteren genuin mittelalterlichen Ausgangs-
punkt für skepti­sche Diskussionen: die Species-Theorie. Unter dem Ein-
fluss verschiedener griechischer und arabischer Vorlagen versuchten die
scholastischen Autoren ab der Mitte des 13. Jhs. nicht nur zu rechtfertigen,
dass wir Wissen haben, sondern auch im Detail zu erklären, wie wir Wissen
erwerben. Sie unterzogen dafür den kognitiven Prozess, mit dem Wissen
erworben wird, einer genauen Analyse und kamen zu dem Schluss, dass wir
nur mithilfe besonderer kognitiver Enti­täten, sog. Species (species), einen
epistemischen Zugang zu den Gegenständen in der Welt haben.51 Doch die
Annahme derartiger Entitäten warf ihrerseits Probleme auf, wie am Bei­spiel
Crathorns bereits deutlich geworden ist. Angenommen, ich kann nur da-
durch ein Wissen vom Baum im Garten erwerben, dass ich zuerst eine sinn-
liche Species erwerbe, die mir alle sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften
(Farbe, Geruch usw.) darstellt, und dann eine intelli­gible Species, die mir
die Form des Baumes zugänglich macht. Worauf bezieht sich dann mein
Wissen: nur auf die Species oder auf die durch die Species zugänglich ge-
machten Ei­genschaften und auf die Form des Baumes? Nimmt man die erste
Möglichkeit an, gelangt man unweigerlich zu einer solipsistischen Position,

  Vgl. zur Entstehung und Ausbreitung dieser Theorie, die bis weit in das 17. Jh. hinein
51

wirkungsmäch­t ig blieb, Tachau 1988 und Spruit 1994.


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26 Einleitung

denn dann kann jede Person nur von den Species, die in ihren Sinnen und
im Intellekt existieren, ein Wissen gewinnen; ein Wissen von der Außen-
welt ist dann ausgeschlossen. Angesichts dieser verheerenden Konsequenz
wählte kein mittelal­terlicher Autor diese Option. Doch die zweite Möglich-
keit wirft ebenfalls Prob­leme auf. Wenn nämlich nur durch die Species ein
Wissen von den Gegenständen in der Au­ßenwelt gewonnen wird, scheint
nur noch ein vermitteltes Wissen möglich zu sein: Gegen­stände (bzw. ihre
For­men und Eigenschaften) sind nur Wissensobjekte, insofern sie durch
Species dargestellt wer­den. Diese Art von Wissen ist aber leicht anfechtbar.
Denn wie können wir sicher sein, dass durch die Species tatsächlich Gegen-
stände in der Außenwelt dargestellt werden? Mit Gewiss­heit sind uns ja nur
die Species präsent. Wir können höchstens annehmen oder vermuten, dass
die Species durch Gegenstände in der Außenwelt verursacht werden und
dass sie deshalb auf diese Gegenstände verweisen; beweisen können wir dies
nicht. Dafür müssten wir die Species und die durch sie dargestellten Gegen-
stände von einem neutralen Standpunkt aus betrachten und feststellen, dass
die Species tatsächlich auf etwas in der Au­ßenwelt verweisen. Diesen Stand-
punkt können wir aber nie einnehmen.
Angesichts dieser Problemlage ist es nicht verwunderlich, dass mehrere
mittelalterli­che Autoren (etwa Petrus Johannis Olivi im späten 13. Jh. und
Crathorn im frühen 14. Jh.) die Frage aufwarfen, wie wir den Anspruch,
dass wir von den Gegenständen in der Außenwelt tatsächlich ein Wissen
haben, rechtfertigen können.52 Auch hier handelt es sich um eine funda­
mentale skeptische Frage, denn es geht nicht einfach darum, dass wir in
Einzelfällen unge­naue oder unvollständige Species haben, die uns vielleicht
nur ein eingeschränktes Wissen ermöglichen. Zur Debatte steht vielmehr die
Frage, wie wir überhaupt einen Wissensanspruch aufrechterhalten können,
wenn wir den Wissenserwerb mithilfe einer Species-Theorie erklä­ren.
Die verschiedenen Ausgangspunkte der mittelalterlichen Diskussionen
verdeutlichen, dass es kaum zulässig wäre, skeptische Debatten auf einen
einzigen Punkt zu reduzieren oder sie nur als Appendix zur antiken Skepsis
zu sehen.53 Ebenso unzulässig wäre es freilich, gleich in jeder kritischen Dis-
kussion eine skeptische Debatte zu sehen.54 Es gilt vielmehr, jene Debatten

52
  Vgl. zu diesen Autoren ausführlich §§ 15–16.
53
  Frede 1988, 70, hat bereits darauf hingewiesen, dass es trotz des unbestreitbaren Einflus-
ses antiker Quellen irreführend wäre, im Mittelalter nur eine Wiederaufnahme der antiken
Skepsis zu sehen. Durch die Omnipotenzlehre und die Theorie der intuitiven Erkenntnis
kamen neue Faktoren ins Spiel, die den skeptischen Debatten eine dezidiert epistemologische
Ausrichtung gaben.
54
 Dies ist gegenüber Michalski 1969 einzuwenden, der vorschnell Kritizismus mit Skepti-
zismus gleich­setzte. Die Kritik am Wissen von einzelnen Gegenständen und Sachverhalten
(z.B. der Unsterb­lichkeit der Seele oder der Existenz Gottes) stellt nämlich noch nicht eine

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§ 3 Methodische Vorbemerkungen 27

in den Blick zu nehmen, in denen prinzipiell ein Wissensanspruch in­frage


gestellt und damit die Frage nach der Möglichkeit von Wissen aufgeworfen
wurde. Gleichzeitig gilt es aber auch, antiskeptische Strategien in den Blick
zu nehmen. Die Prüfung von Wissensan­sprüchen erfolgte nämlich in einem
dialektischen Spiel. Das heißt: Wissensansprüche, die innerhalb einer Theo-
rie erhoben wurden, wurden von Vertretern anderer Theorien mithilfe skep-
tischer Argumente infrage gestellt, und gegen diese Attacken brachten die
Verteidiger die­ser Theorie wiederum antiskeptische Argumente vor. Genau
diesen philosophischen Schlag­abtausch gilt es zu untersuchen. Daher sollen
nicht einzelne skeptische Positionen, sondern skeptische und antiskeptische
Debatten in den Blick genommen werden.

§ 3 Methodische Vorbemerkungen

Die Textanalysen in dieser Studie sollen anhand ausgewählter Autoren


verdeutlichen, wie skeptische Argumente und Hypothesen im Mittel-
alter diskutiert wurden, in welchem Kontext sie eingesetzt wurden und
welche methodische Funktion ihnen dabei zugeschrieben wurde. Da die
Argumente im Vordergrund stehen, soll nicht einfach untersucht werden,
wo von Skeptikern (d.h. von academici oder gar von skeptici) die Rede war;
hier soll keine Termino­logiegeschichte vorgelegt werden. Sicherlich kann
eine solche Geschichte interessante Einbli­cke in die Rezeption der antiken
Terminologie geben und aufzeigen, wie Diskussionsgegner aus strategischen
Gründen als Skeptiker tituliert wurden.55 Doch sie vermag der Problemge­
schichte nicht gerecht zu werden. Das Problem, dass Wissensansprüche
mit skeptischen Ar­g umenten angefochten werden, tauchte nämlich auch in
Kontexten auf, in denen nicht explizit von Skeptikern gesprochen wurde. Es
gab sogar Autoren, die skeptische Argumente erörter­ten, ohne sich selber

Infragestellung von Wissen schlechthin dar. Es ist vielmehr das Merkmal jeder kritischen
philosophischen Diskussion, dass einzelne Thesen auf den Prüfstand gestellt werden. Ent-
scheidend für eine skeptische Frage ist, dass sie die Möglichkeit von Wissen prinzipiell in
Zweifel zieht.
55
 So behauptet Nikolaus von Autrécourt, aus der Position seines Diskussionsgegners
Bernhard von Arezzo würden noch absurdere Konsequenzen folgen als aus jener der aka-
demischen Skeptiker (Cor­respondence I.15, ed. de Rijk 1994, 54–56: „... absurdiora sequuntur
ad positionem vestram quam ad positionem Academicorum.“) Genau um diese Konsequenzen
zu vermeiden, weist Nikolaus die Posi­tion Bernhards zurück. Dieses Beispiel verdeutlicht,
dass das Etikett ‚akademisch‘ teilweise verwendet wurde, um eine reductio ad absurdum vor-
zunehmen: Wenn eine Position in die akademische mündet, ist sie absurd; also kann sie nicht
korrekt sein; also muss eine Gegenposition entwickelt werden. Das Etikett ‚akademisch‘
wurde somit aus strategischen Gründen eingesetzt.
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28 Einleitung

oder ihre Diskussionsgegner explizit als Skeptiker zu bezeichnen.56 Daher


wäre es unangebracht, einfach eine Problemgeschichte mit einer Termino-
logiegeschichte gleichzusetzen. Das Problem, wie denn Wissensansprüche
gleichsam unterminiert werden können, zeigt sich im mittelalterlichen
Kontext erst, wenn zahlreiche Diskussionen betrachtet werden, in denen
unterschiedliche Terminologien – aristotelische ebenso wie augustinisch-
platonische oder akademisch-skeptische – verwendet wurden.
Angesichts der Textfülle müssen freilich verschiedene Einschränkungen
vorgenom­men werden. Eine erste Einschränkung betrifft die Zeitspanne,
die in den Blick genommen werden soll. In den folgenden Kapiteln werden
nur Texte, die zwischen 1267/68 (Abfassungszeit von Thomas von Aquins
Sentencia libri De anima und der Summa theologiae, Teil 1) und 1376/77
(Entstehung von Peter von Aillys Sentenzenkommentar) entstanden sind,
berücksich­tigt. Dies ist natürlich eine relativ kurze, aber äußerst produktive
und spannungsreiche Periode der mittelalterlichen Philosophie. Die Inten-
sität der skeptischen Debatten in dieser Zeit ver­dankt sich wesentlich der
gleichzeitigen Präsenz verschiedener Texte und Theorien. Ab der Mitte des
13. Jhs. waren nämlich die relevanten Schriften des Aristoteles (einschließ-
lich wichtiger spätantiker und arabischer Kommentare in lateinischer Über-
setzung) und die Texte zur aka­demischen Skepsis zugänglich, aber auch
die theologische Omnipotenzlehre gewann an Be­deutung und die Species-
Theorie etablierte sich. Zudem waren zu dieser Zeit augustinisch inspirierte
Theorien einflussreich (z.B. die Illuminationstheorie), die eine Heraus-
forderung für die aristotelische Erkenntnis- und Wissenstheorie darstellten.
Schließlich wurden durch die Verurteilungen von 1270 und 1277 scheinbar
selbstverständliche epistemologische Annah­men infrage gestellt (z.B. die
Annahme, dass Wissen nur mittels naturgesetzlich festgelegter kognitiver
Prozesse erworben werden kann). So gerieten der aristotelische Wissens-
begriff und die damit einhergehenden Wissensansprüche von verschiedener
Seite unter Druck. Es sind vor allem die derart erzeugten konfliktreichen
Debatten, nicht die „harmonischen“ Verbin­dungen verschiedener Traditio-
nen, die sich als innovativ erwiesen und in dieser Studie näher betrachtet
werden sollen.
Eine weitere Einschränkung betrifft die Auswahl der Quellen. Da
skeptische Debatten und nicht Einzelpositionen im Vordergrund stehen,
sollen nicht möglichst viele Texte anein­ander gereiht werden. Vielmehr sollen
Diskussionszusammen­ hänge aufgezeigt und verschie­ dene Reaktionen auf
eine skeptische Fragestellung ausgeleuch­tet werden. Dies hat natürlich zur

 So listet Buridan in In Anal. Post. I, q. 2 insgesamt vierzehn skeptische Argumente auf,
56

ohne je von academici oder skeptici zu sprechen.


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§ 3 Methodische Vorbemerkungen 29

Folge, dass einzelne Texte und Autoren nur partiell berück­sichtigt werden.
So wird bei­spielsweise Siger von Brabant nur mit Blick auf seine Reaktion auf
eine skeptische Hypothese in den Blick genommen; seine sonstige Erkennt-
nistheorie bleibt weitgehend ausgeblendet. Gleiches gilt für Walter Chatton,
Franziskus von Mayronis, Johannes Rodington, Adam Wo­deham und Gregor
von Rimini. Die Fokussierung auf eine konkrete Fragestellung soll aufzei­gen,
wie scholastische Autoren mit der skeptischen Heraus­forderung umgingen
und welche Lösungsstrategien sie einsetzten. Mittelalterliche Debatten sind
nicht zuletzt aufgrund ihrer Vielfalt faszinierend. Unterschiedliche Autoren
wählten nämlich unterschiedliche Ausgangs­punkte, formulierten das Kern-
problem auf unterschiedli­ che Weise und gelangten zu unter­ schiedlichen
Resultaten. Gerade diese Vielfalt, nicht die vermeintliche Einheit einer skepti­
schen Strömung oder gar einer Schule, gilt es zu berück­sichtigen.
Jede philosophiehistorische Auseinandersetzung mit dieser Vielfalt sieht
sich allerdings mit zwei grundlegenden Anforderungen konfrontiert. Zum
einen müssen die mittelalterlichen Texte in ihrem historischen Kontext re-
konstruiert und mit Blick auf die im Kontext relevanten Fragen aus­gewertet
werden. Zum anderen muss aber auch untersucht werden, welche systema-
tisch inte­ressanten Erklärungsmodelle sie bieten und wie überzeugend sie
mit Einwänden gegen diese Modelle umgehen. Diese beiden Anforderungen
sind nicht leicht miteinander vereinbar; denn was im historischen Kontext
relevant ist, stimmt nicht immer mit dem überein, was in syste­matischer
Perspektive überzeugend erscheint. In der vorliegenden Studie kann diese
Span­nung nicht aufgelöst werden. Sie stellt eine Herausforderung für jede
Untersuchung dar, die sich weder auf rein philologische und ideengeschicht-
liche Analysen beschränkt noch vergan­gene Debatten anachronistisch aus
rein gegenwärtiger, systematisch orientierter Perspektive rekonstruiert.
Trotzdem soll versucht werden, beiden Anforderungen so weit wie möglich
Rechnung zu tragen, indem die mittelalterlichen Debatten im jeweiligen
Kontext situiert und vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Fragestel-
lungen rekonstruiert werden, gleichzeitig aber auch kritisch ausgewertet
und teilweise mit Blick auf gegenwärtige Debatten systema­tisch erschlossen
werden. Das Herstellen eines Bezugs zu heutigen Diskussionen birgt freilich
methodische Gefahren in sich. Drei Gefahren sollen von Anfang an gebannt
werden.
Zunächst besteht die Gefahr, dass in den mittelalterlichen Quellen – genau
wie in gegenwärtigen Texten – nur nach Diskussionen zum Begriff des Wis-
sens und den damit verbundenen Wissensansprüchen gesucht wird. Dadurch
würde die Untersuchung aber stark eingeschränkt, denn unter „Wissen“
(scientia) verstanden die meisten mittelalterlichen Auto­ren eine ganz be-
stimmte epistemische Form, nämlich demonstratives Wissen im aristoteli­
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30 Einleitung

schen Sinn. Daneben berücksichtigten sie aber auch andere epistemische


Formen, die sie als cognitiones oder notitiae diskutierten. So kreiste etwa die
Diskussion zwischen Ockham, Chatton, Mayronis, Wodeham u.a. vornehm-
lich um die Frage, ob und wie eine sichere notitia intuitiva möglich sei. Die
Frage nach der Möglichkeit eines demonstrativen Wissens spielte dabei eine
untergeordnete Rolle. Daher soll die Perspektive nicht auf die Diskussionen
rund um diese besondere Form von Wissen eingeschränkt werden.
Eine zweite Gefahr droht, wenn man in den mittelalterlichen Texten
zunächst eine De­finition von Wissen im strengen Sinne sucht (d.h. eine
Formulierung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen) und
dann fragt, ob die damit verbundenen Wissensansprüche eingelöst werden
können. Im 20. Jh. war dieser methodische Ansatz lange Zeit üblich, führte
aber zu unüberwindbaren Schwierigkeiten, wie die aporetischen Diskussio-
nen rund um das Gettier-Problem zeigten. Es stellte sich nämlich heraus,
dass es gar keine hieb- und stichfeste Definition gibt, die alle Einwände und
Gegenbeispiele aus dem Weg räumen kann.57 Es wäre gefährlich, diesen me-
thodischen Ansatz auf die mittelalterlichen Debatten zu übertragen und nur
dort nach einer skeptischen Debatte zu suchen, wo ein Anspruch auf streng
definiertes Wissen infrage gestellt wurde. Entscheidend ist nicht so sehr, ob
eine Definition formuliert wurde, sondern welche Konzeption von Wissen
jeweils gewählt wurde (mag sie nun moder­nen Anforderungen an Definitio-
nen oder gar an Theorien genügen oder nicht), wie sie von konkurrierenden
Konzeptionen abgegrenzt wurde und welche skeptischen Probleme im Rah­
men dieser Konzeption auftauchten.
Schließlich besteht eine dritte Gefahr darin, dass bei einer Auswertung
der mittelalter­lichen Debatten implizit oder explizit moderne Maßstäbe
angesetzt werden, die gleichsam auf die scholastischen Texte projiziert
werden. In der Forschungsgeschichte finden sich verschie­ dene Beispiele
für dieses anachronistische Vorgehen. So warf Gilson Ockham vor, seine
Er­kenntnistheorie führe unweigerlich in den Skeptizismus, weil sie nicht
ein für allemal Täu­schungsmöglichkeiten ausschließen könne und somit
nicht imstande sei zu zeigen, dass siche­res, infallibles Wissen möglich ist.
Dabei setzte Gilson implizit einen cartesianisch geprägten Wissensbegriff
voraus, der darauf abzielt, dass Wissen nur dann möglich ist, wenn es ein in­
fallibles, unerschütterliches Wissensfundament gibt, das selbst den stärksten
Täuschungsein­wänden gegenüber standhält.58 Ob Ockham tatsächlich eine

  Vg. zum Scheitern dieses Ansatzes prägnant Williams 2001, 13–37.


57

 Darüber hinaus setzte er wie selbstverständlich voraus, dass das Wissensfundament


58

nicht empiri­scher oder rein psychologischer Natur sein darf. Gerade im angeblich exzessiven
Empirismus und Psychologismus Ockhams sah Gilson den Ausgangspunkt für „the straight
road to scepticism“ (Gilson 1937, 90).
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§ 3 Methodische Vorbemerkungen 31

derartige fundamentalistische Konzeption wählte und ob er meinte, man


müsse Täuschungsmöglichkeiten ein für allemal ausschließen, um einen
Wissensanspruch erheben zu können, muss aber erst geprüft werden. Es
wäre methodisch unangemessen, einen cartesianischen Maßstab an Ock-
hams Konzeption heranzutragen. Entscheidend ist, welchen Maßstab Ock-
ham selber wählte und ob seine Erklä­r ung epistemischer Zustände diesem
Maßstab gerecht werden kann. Daher müssen skeptische Einwände, aber
auch Widerlegungen derartiger Einwände, stets innerhalb der jeweiligen
Wis­senskonzeption geprüft werden. Erst dann zeigt sich, welches Erklä-
rungspotenzial eine Wis­senskonzeption besitzt. Und erst dann wird auch
deutlich, dass mittelalterliche Philosophen nicht einfach „Vorläufermodelle“
für moderne Konzeptionen entwickelten, sondern eigen­ständige Ansätze
verfolgten, die eine Analyse in ihrem eigenen theoretischen Rahmen verdie­
nen.
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I
Zweifel am natürlichen Wissen
(Heinrich von Gent und
Johannes Duns Scotus)

§ 4 Eine antiskeptische Theorie mit skeptischen Konsequenzen?

„Kann ein Mensch etwas wissen?“ Mit dieser Frage eröffnet Heinrich von
Gent sein philosophisches Hauptwerk, die Summa quaestionum ordinaria-
rum, und verdeutlicht damit, dass die Erkenntnisthe­orie im späten 13. Jh.
immer mehr in den Vordergrund gerückt ist. Wenn von Wissen die Rede ist,
darf nicht einfach vorausgesetzt werden, dass Wissen möglich ist und dass wir
durch natürliche kognitive Prozesse einen zuverlässigen Zugang zu materiellen
Gegen­ständen, aber auch zu intelligiblen Objekten und zu uns selber haben.
Vielmehr muss zuerst untersucht werden, ob Wissen überhaupt möglich ist.
Erst in einem zweiten Schritt können dann die verschiedenen kognitiven Pro-
zesse, die den Erwerb von Wissen ermöglichen, und die verschiedenen Arten
von Wissen genauer geprüft werden. Indem Heinrich ganz allgemein nach der
Möglichkeit von Wissen fragt, verdeutlicht er zudem, dass nicht bloß ein be-
stimmter Bereich von Wissen zur Debatte steht. So stellt sich nicht einfach die
Frage, ob trotz der Sin­nestäuschungen, denen wir gelegentlich zum Opfer fal-
len, ein Wissen von sinnlich wahr­nehmbaren Gegenständen möglich ist. Diese
Frage, die sich auf ein spezielles Problem – die unzuverlässige Fundierung
empirischen Wissens – bezieht, ist schon von Heinrichs Vorgän­gern ausgiebig
diskutiert worden.1 Heinrich geht über diese Diskussionen hinaus, indem er
die prinzipielle Frage aufwirft, ob Wissen möglich sei. Diese Frage lässt sich
freilich nur beant­worten, wenn feststeht, was überhaupt unter Wissen zu ver-
stehen ist und welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit wir einer Per-
son Wissen zuschreiben können. Daher eröffnet die Frage nach der Möglich-
keit von Wissen nicht nur eine intensive Auseinandersetzung mit skeptischen
Argumenten, insbesondere mit jenen der akademischen Skeptiker, denen Hein­
rich große Beachtung schenkt. 2 Sie dient immer auch als Ausgangspunkt für
eine grundsätzli­che Klärung des Wissensbegriffs.
Wenn Heinrich nach der Möglichkeit von Wissen fragt, verfolgt er

1
 So etwa von Anselm von Canterbury, der in De veritate, 6 (ed. Enders 2001, 26–32) das
Problem der Sinnestäuschungen diskutiert.
2
  Wie Schmitt 1972, 39–41, gezeigt hat, gehört Heinrich zu den ersten mittelalterlichen Au-
toren, die sich intensiv mit Ciceros Academica und Augustins Contra Academicos beschäftigt
haben.

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I
Zweifel am natürlichen Wissen
(Heinrich von Gent und
Johannes Duns Scotus)

§ 4 Eine antiskeptische Theorie mit skeptischen Konsequenzen?

„Kann ein Mensch etwas wissen?“ Mit dieser Frage eröffnet Heinrich von
Gent sein philosophisches Hauptwerk, die Summa quaestionum ordinaria-
rum, und verdeutlicht damit, dass die Erkenntnisthe­orie im späten 13. Jh.
immer mehr in den Vordergrund gerückt ist. Wenn von Wissen die Rede ist,
darf nicht einfach vorausgesetzt werden, dass Wissen möglich ist und dass wir
durch natürliche kognitive Prozesse einen zuverlässigen Zugang zu materiellen
Gegen­ständen, aber auch zu intelligiblen Objekten und zu uns selber haben.
Vielmehr muss zuerst untersucht werden, ob Wissen überhaupt möglich ist.
Erst in einem zweiten Schritt können dann die verschiedenen kognitiven Pro-
zesse, die den Erwerb von Wissen ermöglichen, und die verschiedenen Arten
von Wissen genauer geprüft werden. Indem Heinrich ganz allgemein nach der
Möglichkeit von Wissen fragt, verdeutlicht er zudem, dass nicht bloß ein be-
stimmter Bereich von Wissen zur Debatte steht. So stellt sich nicht einfach die
Frage, ob trotz der Sin­nestäuschungen, denen wir gelegentlich zum Opfer fal-
len, ein Wissen von sinnlich wahr­nehmbaren Gegenständen möglich ist. Diese
Frage, die sich auf ein spezielles Problem – die unzuverlässige Fundierung
empirischen Wissens – bezieht, ist schon von Heinrichs Vorgän­gern ausgiebig
diskutiert worden.1 Heinrich geht über diese Diskussionen hinaus, indem er
die prinzipielle Frage aufwirft, ob Wissen möglich sei. Diese Frage lässt sich
freilich nur beant­worten, wenn feststeht, was überhaupt unter Wissen zu ver-
stehen ist und welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit wir einer Per-
son Wissen zuschreiben können. Daher eröffnet die Frage nach der Möglich-
keit von Wissen nicht nur eine intensive Auseinandersetzung mit skeptischen
Argumenten, insbesondere mit jenen der akademischen Skeptiker, denen Hein­
rich große Beachtung schenkt. 2 Sie dient immer auch als Ausgangspunkt für
eine grundsätzli­che Klärung des Wissensbegriffs.
Wenn Heinrich nach der Möglichkeit von Wissen fragt, verfolgt er

1
 So etwa von Anselm von Canterbury, der in De veritate, 6 (ed. Enders 2001, 26–32) das
Problem der Sinnestäuschungen diskutiert.
2
  Wie Schmitt 1972, 39–41, gezeigt hat, gehört Heinrich zu den ersten mittelalterlichen Au-
toren, die sich intensiv mit Ciceros Academica und Augustins Contra Academicos beschäftigt
haben.
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34 Zweifel am natürlichen Wissen

freilich nicht das Ziel, diese Möglichkeit anzuzweifeln und eine skepti-
sche Position einzunehmen. Er zielt im Gegenteil darauf ab, skeptische
Einwände zu widerlegen und die Möglichkeit eines sicheren und stabilen
Wissens zu verteidigen. Unmissverständlich hält er fest, dass jeder Mensch
zum Erwerb von Wissen fähig ist, ja dass die „eigentliche, natürliche Tä-
tigkeit einer menschlichen Seele“ in nichts anderem als in einem solchen
Erwerb besteht.3 Allerdings betont er ebenso unmissverständlich, dass ein
Mensch allein aufgrund seiner natürlichen kognitiven Ausstat­t ung nichts
wissen kann. Wissen ist nur mithilfe göttlicher Illumination möglich.
Heinrich argumentiert ausführlich für die These, „dass ein Mensch einzig
aufgrund natürlicher An­strengung – ohne besondere göttliche Erleuch-
tung – nichts wissen kann.“4 Diese These wirft freilich neue skeptische
Fragen auf. Können wir noch von der Möglichkeit von Wissen spre­chen,
wenn ein Mensch von sich aus kein Wissen erwerben kann? Wird natürli-
ches Wissen dadurch nicht diskreditiert? Und hat die stete Abhängigkeit
von einer „göttlichen Erleuch­t ung“ nicht zur Folge, dass ein Mensch seine
epistemische Autonomie verliert? Angesichts dieser Fragen ist es nicht er-
staunlich, dass bereits im ausgehenden 13. Jh. Einspruch gegen Heinrichs
These erhoben wurde. Johannes Duns Scotus attackierte sie mit scharfen
Worten. Er warf Heinrich vor, seine Argumente zugunsten einer Illu-
mination würden nur „für die Meinung der Akademiker“, d.h. der aka-
demischen Skeptiker, sprechen, ja es scheine, „dass diese Argumente die
Unmöglichkeit einer sicheren, natürlichen Erkenntnis zur Folge haben.“5
Bis in die frühe Neuzeit hinein wurde dieser Skeptizismus-Vorwurf wie-
derholt.6
Betrachtet man Scotus’ Reaktion auf Heinrichs Position, ergibt sich
ein höchst verwir­ render Befund: Eine antiskeptische Argumentations-
strategie, die auf eine Verteidigung der Möglichkeit von Wissen abzielt,
scheint skeptische Konsequenzen zu haben. Wie ist dies möglich? An
welchen Stellen schleicht sich ein Skeptizismus in Heinrichs Erkenntnis-

3
  Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 34): „Operatio autem animae humanae propria naturalis
non est alia quam scire aut cognoscere.“
4
  Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 29): „... arguitur quod non contingit hominem aliquid
scire ex sola naturali industria sine speciali illustratione divina.“ Vgl. auch ibid., q. 2 (ed.
Wilson, 61 und 63), q. 5 (ed. Wilson, 127) und q. 7 (ed. Wilson, 142–147).
5
  Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 218 (ed. Vat. III, 132): „... primo ostendo quod istae
rationes non sunt rationes fundamentales alicuius opinionis verae, nec secundum intentionem
Augustini, sed sunt pro opinione academicorum.“ Ibid. n. 219 (ed. Vat. III, 133): „Istae ratio-
nes videntur concludere impossibilitatem certae cognitionis naturalis.“
6
 So etwa von Philippus Faber in seinem Werk Adversus impios atheos disputationes qua-
tuor philosophicae (1627), in dem er auf Gianfrancesco Picos Wiederaufnahme von Heinrichs
Argumenten im Examen vanitatis (Opera omnia II, 1091–1105) reagierte. Vgl. Schmitt 1963
und Porro 1994, 426.
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§ 4 Eine antiskeptische Theorie? 35

theorie ein? Um welche Art von Skeptizismus handelt es sich dabei? Und
wie versucht Scotus ihn zu überwinden? Diese Fragen sollen im Folgenden
erörtert werden. Sowohl Heinrichs antiskepti­sche Intention als auch Scotus’
Skeptizismus-Vorwurf lassen sich indessen nur im Rahmen des jeweiligen
erkenntnistheoretischen Modells verstehen. Denn erst wenn der Wissens-
und Erkenntnisbegriff der beiden Autoren klare Konturen gewinnt, kann
bestimmt werden, wel­ chen Platz skeptische und antiskeptische Über-
legungen im jeweiligen Begriffsraster einneh­men. Daher werde ich in einem
ersten Schritt Heinrichs Unterscheidung verschiedener Wis­ sensbegriffe
näher betrachten und seine Antwort auf skeptische Einwände untersuchen
(§§ 5–6). Danach werde ich sein Erkenntnismodell, das sich auf göttliche
lllumination beruft, und Scotus’ Kritik an diesem Modell analysieren, um
mögliche skeptische Konsequenzen auszu­loten (§§ 7–8). Schließlich werde
ich mich Scotus’ eigenem Modell zuwenden, das auf eine Verteidigung des
rein natürlichen Wissens abzielt (§ 9). Es gilt zu prüfen, ob und wie Scotus
eine Rückweisung des Illuminationsmodells und damit auch der möglichen
skeptischen Kon­sequenzen gelingt.
Jede Diskussion der komplexen Debatte zwischen Heinrich von Gent
und Johannes Duns Scotus muss von Anfang an zwei Punkte beachten. Ers-
tens darf den beiden Autoren nicht unterstellt werden, dass sie eine statische
Position verteidigt haben, die stets unverändert geblieben ist. Gerade im
Hinblick auf Heinrich haben akribische philologische und philoso­phische
Studien gezeigt, dass seine Erkenntnistheorie zahlreichen Revisionen und
Erweite­rungen unterworfen war.7 Seine beiden Hauptwerke, die Summa
quaestionum ordinariarum und die Quodlibeta, sind über einen Zeitraum
von fast zwanzig Jahren entstanden und doku­mentieren mehrere Etappen
einer philosophischen Entwicklung. Ich werde nicht sämtliche Entwick-
lungsschritte nachzeichnen, sondern mich auf zwei Textgruppen konzen-
trieren, die für die Skeptizismus-Problematik von besonderer Bedeutung
sind: die um 1276 entstandenen ersten Quaestionen der Summa und die
1279–80 verfassten Quodlibeta IV und V.8 Auch im Hinblick auf Scotus
gehe ich nicht auf sämtliche Entwicklungsschritte ein, sondern beschäf­
tige mich nur mit den Quaestionen aus der Lectura und der Ordinatio,
in denen Scotus sich direkt mit Heinrichs Position auseinandersetzt. Wie

7
 Seit der Pionierarbeit von Nys 1949 ist immer wieder auf die philosophische Entwicklung
Heinrichs hingewiesen worden, die besonders auf seine Erkenntnistheorie Auswirkungen
hatte; vgl. Macken 1972, Brown 1975, Marrone 1985 und Marenbon 1987, 144–153.
8
 Eine chronologische Tabelle für die Entstehung der einzelnen Teile beider Werke bietet
Laarmann 1999, 50–51. Marrone 1985 schlägt bezüglich der Erkenntnis- und Wahrheits-
theorie eine hilfreiche Gliederung in drei Etappen vor: erste Etappe 1276–78, zweite Etappe
1279–85, dritte Etappe 1285–93.
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36 Zweifel am natürlichen Wissen

S. Marrone zu Recht betont, müssen bei einem solchen selektiven Vor-


gehen stets zwei Anforderungen an die Textinterpretation be­rücksichtigt
werden.9 Einerseits dürfen die einzelnen Textstücke nicht isoliert betrachtet
wer­den; sie sind immer mit Blick auf das Gesamtwerk und die umfassende
Argumentationsstra­ tegie zu interpretieren. Andererseits müssen auch
Veränderungen und Entwicklungen in der umfassenden Strategie berück-
sichtigt werden. Oder verkürzt ausgedrückt: Die Teile sind mit Blick auf ein
dynamisches Ganzes zu betrachten.
Ein zweiter Punkt, den es zu beachten gilt, betrifft die Einordnung
der beiden Autoren in den größeren Diskussionskontext. Es versteht sich
von selbst, dass jede philosophiehistori­sche Untersuchung die einzelnen
Texte und Autoren in einen historischen Kontext stellen muss, auch wenn
sie – wie dies bei der vorliegenden Studie der Fall ist – weniger ideenge­
schichtlich als analytisch orientiert ist und primär auf eine Rekonstruktion
und Diskussion von Argumenten abzielt. Argumente lassen sich nämlich
nur verstehen, wenn klar ist, von welchen Voraussetzungen sie in einem
bestimmten Diskussionszusammenhang ausgehen, wogegen sie gerichtet
sind und worauf sie abzielen. Konkret heißt dies: Heinrichs Argumente
zugunsten einer göttlichen Illumination im Erkenntnisprozess lassen sich
nur verstehen, wenn klar ist, in welchem platonisch-augustinisch gepräg-
ten Diskussionsrahmen diese Argumente entwickelt werden. Der Rekurs
auf eine Illumination ist nämlich fester Bestandteil einer ein­flussreichen,
im 13. Jh. lebendigen Tradition.10 Allerdings wäre es gefährlich, pauschal
von der platonisch-augustinischen Tradition zu sprechen und diese einer
aristotelischen Tradition gegenüber zu stellen. In der älteren Forschung ist
zwar immer wieder eine solche Gegenüber­stellung vorgenommen worden,
und Heinrich ist dabei als der traditionelle – teilweise sogar als der konser-
vative – Augustinist mit den sog. progressiven Aristotelikern kontrastiert
wor­den.11 Eine solche pauschale Einordnung und Etikettierung birgt aber

9
  Vgl. Marrone 1985, 5.
10
  Zur Präsenz dieser Tradition im 13. Jh. und zu ihrer Bedeutung für erkenntnistheoreti-
sche Debatten vgl. ausführlich Marrone 2001. Einen knappen Überblick bietet Owens 1982.
11
 In seiner programmatischen Arbeit nahm Gilson 1926–27 eine solche Einteilung vor, die
sämtliche späteren Forschungen prägte. Auch Van Steenberghen ordnete in seiner Gesamt-
darstellung der Philosophie des 13. Jhs. Heinrich pauschal der Strömung des „augustinisme
avicennisant“ zu (vgl. Van Steenberghen 1991, 439) und grenzte ihn vom Aristotelismus
ab, sowohl vom sog. „heterodoxen“ als auch vom „orthodoxen“. Diese Einteilung ist nicht
nur problematisch, weil sie von vornherein eine gewisse Wertung vornimmt, sondern auch,
weil sie übersieht, dass einerseits die sog. Aristoteliker auch Gebrauch von augustinischen
Elementen machten und andererseits die sog. Augustinisten sehr wohl mit den Werken des
Aristoteles (insbesondere mit De anima) vertraut waren und darauf reagierten. Auch wenn
in der neueren Forschung kaum mehr eine scharfe Gegenüberstellung von Aristotelikern und
Augustinisten vorgenommen wird, hat sich doch die Charakterisierung Heinrichs als eines

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§ 5 Zwei Arten des Wissens 37

die Gefahr in sich, dass sie die aristotelischen Elemente, die sich bei Hein-
rich durchaus und sogar in großer Zahl fin­den, einfach übersieht, und dass
sie von Anfang an eine Opposition zwischen zwei Schulen aufbaut, die von
Heinrich keineswegs intendiert war. Er betont ausdrücklich, dass er eine
Verbindung von Aristoteles und Platon anstrebt, keine Gegenüberstellung.12
Die Gefahr einer künstlichen Opposition soll daher im Folgenden vermie-
den werden, indem auf pau­schale Etikettierungen verzichtet wird. Heinrich
und Scotus sollen einander nicht einfach als Vertreter zweier Schulen oder
Lehrmeinungen gegenüber gestellt werden. Es soll vielmehr untersucht
werden, wie sie in ihrer Beschäftigung mit skeptischen Überlegungen von
Ele­menten verschiedener Traditionen Gebrauch machten und wie sie ihre
Argumente vor dem Hintergrund dieser Traditionen entwickelten. Thesen
und Argumente, nicht einfach Schulen oder starre Lehrgebäude, sind in
einen Kontext einzubetten.

§ 5 Zwei Arten des Wissens

Betrachtet man Heinrich von Gents erkenntnistheoretische Texte, fällt


sogleich auf, dass er eine skeptische Position von vornherein ausschließt.
Zwar anerkennt er die Bedeutung skepti­scher Argumente und rekonstruiert
sie mit großer Sorgfalt. Aber sein Ziel besteht in einer Widerlegung oder
gar Auflösung dieser Argumente, nicht in einer Bekräftigung. Bereits in der
ersten Quaestio seiner umfangreichen Summa hält er kategorisch fest:
„Folgendes ist zu sagen: Wenn unter ‚Wissen‘ in einem weiten Sinn jede si­chere
Erkenntnis aufgefasst wird, durch die eine Sache so erkannt wird, wie sie ist, ohne
jede Irreführung und Täuschung (so wird die Frage verstanden und gegen jene ge-
richtet, die Wissen und jedes Erfassen von Wahrheit bestreiten), dann verhält es sich

konservativen Denkers gehalten. So leitet Pasnau 2002, 93, seine Übersetzung der relevanten
Texte mit folgenden Worten ein: „Henry was in general a conservative voice in Paris, resistant
to the growing Aristotelianism of his day, sympathetic to the Augustinianism of Bonaven-
ture.“ Dass sich die Denker im späten 13. Jh. (vor allem an der Theologischen Fakultät in Paris,
an der Heinrich lehrte) kaum in zwei Lager aufspalten lassen, verdeutlicht Courtenay 2001 in
seiner nuancierten Darstellung der intellektuellen Landschaft. Auch Marrone 2000 hält fest,
dass man nur mit Einschränkungen von Schulen oder intellektuellen Lagern sprechen kann.
Er betont zu Recht, dass man nur mit Blick auf gemeinsame „analytical models“ mehrere
Denker einer Schule zuordnen sollte. Einen konzisen Überblick über die Historiographie und
die damit verbundene Zuteilung Heinrichs zu einem intellektuellen Lager vermittelt Porro
1996.
12
  Summa, art 1, q. 4 (ed. Wilson, 104): „Dictum ergo utriusque et Aristotelis et Platonis
coniugendum est in omnibus istis generationibus istarum formarum...“ Wie Steel 2003 an-
hand konkreter Beispiele zeigt, ist Heinrichs Lektüre von Platon und Aristoteles freilich
immer durch Augustinus gelenkt. Daher wäre es kaum sinnvoll, nach rein platonischen oder
rein aristotelischen Theorieelementen zu suchen.
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38 Zweifel am natürlichen Wissen

klar und eindeutig. Ein Mensch kann nämlich etwas wissen, und zwar gemäß jeder
Art von Wissen und Erkennen.“13

In dieser These kommt eine Auffassung von Wissen im weiten Sinne (W1)
zum Ausdruck, die auf eine bestimmte Form von sicherer Erkenntnis ab-
zielt. Die Bedingungen für das Vorliegen solcher Erkenntnis können folgen-
dermaßen charakterisiert werden:
W1: Jemand hat Wissen im weiten Sinne, wenn er über eine sichere Erkennt-
nis verfügt, (i) durch die eine Sache so erfasst wird, wie sie ist, und (ii)
die ohne Täuschung und Irre­f ührung erfolgt.
Heinrich spricht nicht von einer Definition von Wissen. Daher darf nicht
angenommen wer­den, dass hier notwendige und hinreichende Bedingungen
formuliert werden. Es werden nur Minimalbedingungen festgehalten, die
erfüllt sein müssen, damit überhaupt von Wissen die Rede sein kann.14 Es
ist auch zu beachten, dass Wissen nicht mit Bezug auf eine propositio­nale
Struktur charakterisiert wird. Heinrich behauptet nicht, dass jemand einen
mentalen Akt oder Zustand der Form ‚Ich erfasse (oder denke, erkenne
usw.), dass p‘ haben muss, um über Wissen zu verfügen. Seine Aussage, dass
eine Sache (res) erfasst wird, deutet eher darauf hin, dass er auf einen nicht-
propositionalen Akt abzielt: Wer Wissen im weiten Sinne hat, bezieht sich
in bestimmter Weise auf einen Gegenstand.
Entscheidend ist nun die Art und Weise der Bezugnahme. Erstens muss
eine Korres­pondenz gewährleistet sein, denn die Sache muss gemäß der
ersten Bedingung so erfasst wer­den, „wie sie ist“. Wie ist dies zu verstehen?
Heinrich präzisiert, dass es zwei Arten der kog­nitiven Bezugnahme und
damit auch zwei Arten der Korrespondenz gibt.15 Zum einen gibt es die
13
  Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson, 10): „Dicendum quod scire large accepto ad omnem noti-
tiam certam qua cognoscitur res sicut est absque omni fallacia et deceptione, et sic intellecta et
proposita quaestione contra negantes scientiam et omnem veritatis perceptionem, manifestum
est et clarum quia contingit hominem scire aliquid, et hoc secundum omnem modum sciendi
et cognoscendi.“ Vgl. auch q. 2 (ed. Wilson, 35).
14
  Betrachtet man die Bedingungen von einem modernen Standpunkt aus, fällt auf, dass keine
Rechtfertigungsbedingung formuliert wird. Heinrich sagt nicht, dass die Person auch Gründe
dafür angeben muss, dass sie eine Erkenntnis hat, die mit dem Gegenstand übereinstimmt und
ohne Täuschung erworben wurde. Dies darf indessen nicht gleich als ein Mangel gewertet
werden. Wie Pasnau 1997, 227, zu Recht feststellt, sollte man Heinrichs Erklärung von Wissen
im Rahmen eines externalistischen Projekts verstehen: Es reicht aus, dass eine bestimmte
Erkenntnis auf zuverlässige Weise erworben wurde und mit einem Gegenstand übereinstimmt,
ohne dass der zuverlässige Erwerb auch gerechtfertigt werden muss. Wie weiter unten noch
gezeigt wird, beruft sich Heinrich ausdrücklich auf die Zuverlässigkeit der Sinne, für die nicht
besondere Gründe angeführt werden müssen.
15
  Für jede dieser beiden Arten muss zudem zwischen fremder und eigener Bezugnahme
unterschieden werden. Heinrich betont in Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson, 10–11), dass auch
durch fremdes Zeugnis Wissen gewonnen werden kann. In diesem Fall gibt es (a) einen sinn-
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§ 5 Zwei Arten des Wissens 39

sinnliche Bezugnahme, die durch die Aktivität der äußeren und inneren
Sinne ermöglicht wird. So kann sich jemand sehend, hörend usw. auf einen
Gegenstand beziehen, der unmittel­bar vor ihm liegt. In seiner Erklärung
dieser Art von Bezugnahme stützt sich Heinrich auf die species-Theorie, die
zu seiner Zeit weit verbreitet war. Er hält fest, dass die Sinne besondere Enti-
täten, sogenannte species, aufnehmen müssen, die vom Gegenstand durch ein
Medium übertragen werden und Informationen über die wahrnehmbaren
Eigenschaften des Gegen­standes vermitteln.16 Die Präsenz dieser Entitäten
löst unmittelbar die Herstellung eines Vor­stellungsbildes (phantasma) aus.
Eine Korrespondenz liegt vor, wenn das Vorstellungsbild den Gegenstand
genau so darstellt, wie er in der Wahrnehmungssituation präsent ist. Be­
trachte ich etwa einen reifen Apfel, korrespondiert mein Zustand der sinn-
lichen Erkenntnis mit dem Apfel, wenn das Vorstellungsbild ihn mit allen
in dieser Situation sichtbaren Eigen­schaften präsentiert: mit einer gewissen
Farbe, einem gewissen Glanz, einer gewissen Größe usw.
Neben der sinnlichen Bezugnahme gibt es auch die intellektuelle. Sie baut
auf der sinnlichen auf und setzt diese voraus. Denn jemand kann sich nur
dann geistig auf einen materiellen Gegenstand beziehen, wenn er ihn zuvor
sinnlich erfasst hat. Auch diese Art der Bezugnahme erklärt Heinrich mit-
hilfe der Standardtheorie seiner Zeit.17 Er hält fest, dass der aktive Intellekt
aus dem Vorstellungsbild eine species intelligibilis abstrahiert, die dem passi­
ven Intellekt eingeprägt wird.18 Dank dieser kognitiven Entität kann sich
der Intellekt auch dann auf einen materiellen Gegenstand beziehen, wenn
dieser nicht mehr präsent ist, und er kann sich auf mehrere Gegenstände
derselben Art beziehen. Auch hier gilt wieder, dass eine Korrespondenz
vorliegt, wenn die Species den Gegenstand so darstellt, wie er ist – freilich
nicht mit den wahrnehmbaren Eigenschaften, sondern mit den wesentlichen
Eigenschaften, die ihn zu einem Gegenstand einer bestimmten Art machen.
Nun reicht die Korrespondenzbedingung allerdings nicht aus. In W1

lichen und intellektuellen Erkenntnisakt einer fremden Person und (b) einen eigenen intellek-
tuellen Erkenntnisakt, mit dem der Inhalt des fremden Aktes erfasst wird.
16
 In Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson, 27) spricht er von einer species sensibilis, die das Auge
affiziert und von diesem aufgenommen wird. In Quodl. IV, q. 21 (ed. Badius, 136vH) und
ibid. XI, q. 5 (ed. Badius, 451S) hält er generell fest, dass die Sinne durch species affiziert und
in gewisser Weise verändert werden. Dies ist die Standardthese der species-Theorie, die in der
perspektivistischen Optik verankert ist. Vgl. zu diesem Hintergrund Smith 1981 und Tachau
1988, 3–20.
17
 Dies gilt zumindest für die ersten Quaestionen der Summa. Heinrich unterwirft diese
Theorie in einer späteren Phase einer ausführlichen Kritik, wie ich in § 6 erläutern werde. Zur
allgemeinen Struktur dieser Theorie, wie sie im späten 13. Jh. weit verbreitet war, vgl. Spruit
1994, 4–24.
18
 Vgl. Summa, art. 1, q. 5 (ed. Wilson, 125). Bereits in q. 1 (ed. Wilson, 27) betont Heinrich,
dass eine solche species aufgenommen wird.
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40 Zweifel am natürlichen Wissen

wird noch eine weitere Bedingung festgehalten: Der Gegenstand muss


ohne Täuschung und Irreführung er­kannt werden. Warum betont Hein-
rich diese Bedingung? Würde er nur die Korrespondenzbe­dingung erwäh-
nen, könnten leicht Beispiele vorgebracht werden, die diese Bedingung
erfül­len und bei denen wir trotzdem nicht von Wissen sprechen würden,
nicht einmal in einem weiten Sinne. Angenommen, jemand manipuliert
eine Person, indem er ihr durch ausführliche Schilderungen die Vor-
stellung von einem reifen, süßen Apfel eingibt. Er redet so lange auf diese
Person ein, bis sie glaubt, vor ihr liege wirklich ein Apfel. Nun befindet
sich hinter einer Wand tatsächlich ein Apfel, allerdings ist er nicht sichtbar.
Dann hat diese Person ein Vor­stellungsbild von einem Apfel, das einem
tatsächlich vorhandenen Apfel entspricht. Die Kor­respondenzbedingung
ist also erfüllt, und trotzdem würden wir nicht sagen, die Person habe ein
Wissen vom Apfel. Warum nicht? Ganz einfach, weil das Vorstellungsbild
durch Mani­pulation und nicht durch ein Sehen des Apfels zustande ge-
kommen ist. Oder nehmen wir an, die Person träume von einem Apfel.
Zufällig befindet sich genau zum Zeitpunkt des Traumes ein Apfel in
ihrer Nähe. Auch dann verfügt sie über ein Vorstellungsbild, das einem
tatsäch­lich vorhandenen Gegenstand entspricht (das Bild mag sogar alle
Eigenschaften des Apfels bis ins Detail korrekt darstellen), und trotzdem
würden wir nicht von Wissen sprechen, weil die Korrespondenzbeziehung
aufgrund eines bloßen Zufalls besteht.
Diese beiden Beispiele zeigen, dass nicht nur das Vorliegen der
Korrespondenzbezie­ hung, sondern auch die Art und Weise, wie diese
Beziehung zustande gekommen ist, ent­scheidend ist. Aus diesem Grund
betont Heinrich, dass der Erkenntnisakt ohne Täuschung und Irreführung,
d.h. durch normale kognitive Prozesse, entstanden sein muss. Erst dann
kann von Wissen gesprochen werden.
Genau an diesem Punkt könnte allerdings ein Skeptiker einhaken. Wie
kann Heinrich so sicher sein, dass es eine „sichere Erkenntnis“ gibt, bei der
sowohl die Korrespondenzbe­dingung als auch die Bedingung der Irrtums-
freiheit erfüllt ist? Zeigen die Beispiele von Sin­nestäuschungen nicht, dass
diese beiden Bedingungen häufig nicht erfüllt sind, und zwar ohne dass
wir dies bemerken? Wenn wir etwa einen Holzstab betrachten, der halb ins
Wasser ein­getaucht ist, gewinnen wir ein Vorstellungsbild von einem ge-
brochenen Stab, und wir meinen dann, der Stab sei tatsächlich gebrochen;
trotzdem ist er gerade. Wie sollen wir in einer solchen Situation feststellen
können, dass die beiden genannten Bedingungen nicht erfüllt sind? Wir ge-
langen doch spontan zu der festen Meinung, der Stab sei gebrochen, ja wir
glauben sogar, wir hätten eine sichere Erkenntnis davon, dass er gebrochen
ist.
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§ 5 Zwei Arten des Wissens 41

Heinrich ist sich dieses Einwandes wohl bewusst. Er verweist ausdrück-


lich auf die Möglichkeit von Sinnestäuschungen, führt aber sogleich ein
Kriterium ein, um derartige Fälle auszuschließen:
„... jener Intellekt nimmt die Sache korrekt wahr, wie sie ist, ohne jede Täu­schung
und Irreführung, dem in der eigentlichen Tätigkeit des Verstehens nicht ein korrek-
terer Intellekt oder einer, der auf einem korrekteren Sinn beruht, wi­derspricht.“19

Offensichtlich müssen wir prüfen, ob einer Sinnesinformation nicht eine


andere widerspricht, die korrekter ist. Wenn aber ein Widerspruch vorliegt,
muss eine Korrektur vorgenommen werden. Konkret heißt dies: Wenn ich
aufgrund meiner visuellen Information glaube, der halb ins Wasser einge-
tauchte Stab sei gebrochen, muss ich mich entweder von einer anderen Per­
son korrigieren lassen, die den Stab auch angefasst hat, oder ich muss mich
selber korrigieren, indem ich mich nicht auf den Gesichtssinn, sondern auf
den Tastsinn berufe. Eine Täuschung ist genau dann ausgeräumt, wenn
es keinen „korrekteren Sinn“ mehr gibt, durch den ich kor­rigiert werden
könnte.
Dieses Argument würde allerdings kaum einen Skeptiker überzeugen.
Wie kann ich denn wissen, welche Sinnesinformation korrekt ist und welche
nicht? Wenn ich mit dem Holzstab konfrontiert werde, kann ich ja nur zwei
Sinnesinformationen miteinander verglei­chen, nämlich die visuelle und die
taktile. Doch wie soll ich wissen, auf welche ich mich ver­lassen kann? Ich
verfüge über kein unabhängiges Kriterium, das mir erlauben würde, die vi­
suelle der taktilen Information vorzuziehen oder umgekehrt. Daher könnte
ein Skeptiker sogleich folgendes Gegenargument vorbringen:
(1) Der Gesichtssinn präsentiert mir den Stab als gebrochen.
(2) Der Tastsinn präsentiert mir den Stab als gerade.
(3) Ich verfüge über kein unabhängiges Kriterium, das mir erlauben würde,
den einen Sinn dem anderen vorzuziehen.
(4) Also kann ich nur sagen, wie mir der Stab jeweils präsentiert wird, ich
kann aber nicht wissen, wie er wirklich ist.
Angesichts dieses wohlbekannten Arguments, das sowohl in der pyr­
rhonischen als auch in der akademischen Tradition präsent war, 20 scheint
Heinrichs Berufung auf den „korrekteren Sinn“ (verior sensus) oder den

19
  Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson, 12): „... intellectus ille vere rem percipit, sicuti est sine
omni deceptione et fallacia, cui in actione propria intelligendi non contradicit intellectus ve­
rior vel acceptus a sensu veriori.“
20
 Da Heinrich sehr wahrscheinlich keine direkte Kenntnis von der pyrrhonischen Tradi-
tion hatte, ist davon auszugehen, dass er dieses Argument in der akademischen Fassung durch
Augustin kannte, der ausdrücklich das Beispiel mit dem Holzstab diskutiert; vgl. Contra
academicos III, 11, 26.
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42 Zweifel am natürlichen Wissen

„korrekteren Intellekt“ (verior intellectus) kaum erfolgreich zu sein. Ent-


scheidend ist nämlich, dass kein Kriterium für die Bestimmung der korrek-
ten Instanz ge­funden werden kann. 21 Und selbst wenn es gelingen sollte,
ein solches Kriterium zu benen­nen, ließe sich auf einer Metaebene wieder
ein skeptischer Einwand formulieren. Denn wel­che unabhängige Instanz
erlaubt uns, ein Kriterium zu bestimmen? Könnte nicht eine Gegen­instanz
gefunden werden, der zufolge ein anderes Kriterium vorzuziehen ist? Wir
verfügen aber über kein höherstufiges Kriterium, das uns erlaubt, die eine
Instanz der anderen vorzu­ziehen und als die „korrektere Instanz“ zu be-
stimmen. Daher müssen wir uns mit der Fest­stellung begnügen, dass gemäß
einem Kriterium der eine Sinn zuverlässig erscheint, gemäß einem anderen
Kriterium aber ein anderer Sinn – eine endgültige Bestimmung des „wah-
ren“ Kriteriums ist unmöglich.
Würde Heinrich darauf abzielen, ein unabhängiges Kriterium oder
eine unabhängige Instanz zur Bestimmung eines Kriteriums zu benennen,
könnte er dem skeptischen Einwand in der Tat nicht entgehen. Doch seine
Berufung auf einen „korrekteren“ Sinn oder Intellekt dient nicht einer
Lösung des vertrackten Kriterienproblems. Heinrich wählt eine Argumenta­
tionsstrategie, die aristotelisch inspiriert ist. Er hält nämlich fest, man solle
nicht nach einer Begründung dafür suchen, dass ein bestimmter Sinn kor-
rekte Informationen liefert. Es sei eine Schwäche des Intellekts, betont er
mit ausdrücklichem Verweis auf Aristoteles, nach einem Grund für etwas
zu suchen, wofür wir „etwas Wertvolleres haben als einen Grund.“22 Dass
ein Sinn unter normalen Bedingungen korrekte Informationen liefert, ist
seiner Ansicht nach ein nicht weiter begründungspflichtiges Faktum.
Diese Replik erscheint auf den ersten Blick freilich noch schwächer als
die Berufung auf ein Kriterium. Was berechtigt uns dazu, uns einfach auf
die Korrektheit der Sinne zu beru­fen? Warum gibt es hier nichts weiter zu
begründen? Hinter Heinrichs scheinbar dogmati­scher Aussage verbirgt sich
ein aristotelischer Leitgedanke, der seine ganze Kognitionstheorie prägt. Er
geht davon aus, dass jedem Sinn von Natur aus eine bestimmte Menge von
wahr­nehmbaren Eigenschaften zugeordnet ist: dem Gesichtssinn die Farben,
dem Gehörsinn die Töne usw. 23 Einige Eigenschaften sind sogar mehreren
Sinnen zugeordnet. So können die Form und die Größe eines Gegenstandes
21
  Vgl. zum Kriterienproblem, das im Mittelpunkt der antiken Debatten stand, Striker 1996,
22–76, und Hankinson 1995, 193–200.
22
  Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson, 11): „Nec oportet in hoc aliquam aliam ulteriorem cau-
sam certitudinis quaerere, quia, ut dicit Philosophus, ‚quaerere rationem cuius habemus
sensum, infirmitas intellectus est; cuius enim dignius habemus aliquid quam rationem, non
est quaerenda ratio.‘“
23
 Dies ist natürlich die aristotelische These aus De anima II, 6 (418a11–16).
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§ 5 Zwei Arten des Wissens 43

sowohl gesehen als auch ertastet werden. Unter normalen Bedingungen


können alle diese Eigenschaften korrekt erfasst werden, sodass ein korrektes
Vorstellungsbild entsteht. Was von Natur aus zur kognitiven Ausstattung
eines Menschen gehört und korrekte kognitive Prozesse ermöglicht, ist
nicht weiter begründungs­ pflichtig. Die Begründungslast trägt vielmehr
der Skeptiker, der dies bestreitet. Denn warum sollten wir annehmen, dass
unsere Augen nicht dazu gemacht sind, Farben korrekt zu erfas­sen? Die
besonderen Fälle, die als Einwand vorgebracht werden können (wenn wir
etwa einen blauen Ball in gelbes Licht eingetaucht sehen, erscheint er grün),
zeigen nur, dass es beson­ dere Bedingungen zu berücksichtigen gilt. Sie
widerlegen aber nicht die These, dass normal funktionierende Augen unter
normalen Bedingungen die Farben so erfassen, wie sie sind. Oder allgemein
ausgedrückt: Ausnahmen widerlegen nicht den Regelfall, sondern bestäti-
gen ihn sogar. Denn die Rede von einer unkorrekten oder irreführenden
Wahrnehmung ergibt nur vor dem Hintergrund einer prinzipiell korrekten
Wahrnehmung einen Sinn. Dies gilt auch für den berühmt-berüchtigten
Fall des Holzstabs, der halb ins Wasser eingetaucht ist. Wenn die­ser Stab
dem Gesichtssinn gebrochen erscheint, liegt keine Täuschung vor. Unter
den beson­deren Umständen nimmt dieser Sinn den Stab korrekt als etwas
Gebrochenes wahr. Der Ge­sichtssinn ist nämlich von Natur aus dazu be-
stimmt, die Gestalt eines Gegenstandes so zu erfassen, wie sie sich in einer
konkreten Situation präsentiert. Das Problem besteht lediglich darin, dass
die besondere Situation (Lichtstrahlen werden vom Wasser reflektiert und
vermit­teln ein verzerrtes Bild des Stabes) keine normalen Wahrnehmungs-
bedingungen für den Ge­sichtssinn bietet. Daher muss auf den Tastsinn zu-
rückgegriffen werden. Für jeden Sinn sind nämlich zwei Punkte zu berück-
sichtigen: Welche wahrnehmbaren Eigenschaften sind diesem Sinn von
Natur aus zugeordnet? Und unter welchen Bedingungen können sie von
Natur aus korrekt wahrgenommen werden?
Versteht man Heinrichs These, dass für die Korrektheit der Sinnes-
informationen kein weiterer Grund gesucht werden muss, auf diese Weise,
stellt sie sich als eine These dar, die von einem aristotelischen Naturalismus
geleitet ist. Es gilt nicht, nach einem absoluten Krite­rium zu suchen, mit
dessen Hilfe ein Sinn einem anderen vorgezogen werden kann. Vielmehr
muss man fragen, ob in einer konkreten Situation genau jene Wahrneh-
mungsbedingungen vorliegen, die das optimale Funktionieren eines Sinnes
ermöglichen. Sind die Wahrneh­ mungsbedingungen evaluiert, kann man
auch den „korrekteren Sinn“ bestimmen; denn von Natur aus funktioniert
jeder Sinn unter den für ihn optimalen Bedingungen zuverlässig.
Natürlich sind damit nicht alle Probleme aus dem Weg geräumt. Ein
Skeptiker könnte sogleich die Frage stellen, wie denn die optimalen Bedin-
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44 Zweifel am natürlichen Wissen

gungen mit Sicherheit bestimmt werden können. Welche Gewissheit haben


wir dafür, dass die Bedingungen, die wir für optimal halten, tatsächlich
optimal sind? Heinrich geht nicht auf diesen möglichen Einwand ein, wahr-
scheinlich weil er im Rahmen des aristotelischen Naturalismus davon aus-
geht, dass so etwas wie eine natürliche Garantie für die Bestimmung der
optimalen Bedingungen besteht. Denn genau wie die einzelnen Sinne im
Prinzip auf die wahrnehmbaren Eigenschaften abgestimmt sind, ist auch
das gesamte kognitive Vermögen dazu bestimmt, optimale Bedingungen im
Prinzip korrekt zu bestimmen. Irrtümer sind zwar möglich, aber sie können
nur punktuell auftreten und sind korrigierbar.
Allerdings könnte ein hartnäckiger Skeptiker sogleich erwidern, dass
hier starke An­nahmen gemacht werden. Wie können wir denn sicher sein,
dass jeder Sinn tatsächlich von Natur aus zuverlässig funktioniert? Und
wie können wir gewiss sein, dass wir die optimalen Bedin­g ungen im Prin-
zip korrekt bestimmen? Könnte es nicht sein, dass wir einem kollektiven
Irrtum verfallen und bloß mei­nen, unsere Sinne seien zuverlässig? Und
könnte es nicht sein, dass wir bestimmte Bedingun­gen für optimal halten,
die in Tat und Wahrheit trügerisch sind? Auf Einwände dieser Art geht
Heinrich nicht ein. Der Grund dafür liegt zum einen wohl darin, dass er
keine endgültige Wi­derlegung der skeptischen Argumente anstrebt, son-
dern zunächst nur auf eine Plausibilisie­r ung unseres natürlichen Erkennt-
nisanspruchs abzielt: Wenn wir uns auf Wissen berufen (zumindest auf
Wissen im oben genannten weiten Sinne), dann können wir mit Verweis
auf unsere natürliche kognitive Ausstattung gute Gründe dafür geltend
machen. Auch die Erwäh­nung einzelner Problemfälle, bei denen wir mit
widersprüchlichen Sinnesinformationen kon­frontiert werden, macht diese
Gründe nicht zunichte. Solche Fälle zeigen nur, dass man die Sinnesinfor-
mationen immer mit Blick auf die jeweiligen Wahrnehmungsbedingungen
aus­werten muss. Im Prinzip ist es aber möglich, die optimalen Bedingun-
gen für jeden Sinn zu bestimmen. Der Grund für die fehlende Widerlegung
möglicher Einwände liegt zum anderen aber auch in der Strukturierung der
ganzen Argumentation. Immer wieder betont Heinrich, es liege ihm fern,
die Zuverlässigkeit der Sinne anzuzweifeln. 24 Nicht wer sich auf die im
Prin­zip korrekt funktionierenden Sinne beruft, trägt seiner Ansicht nach
24
 Dafür beruft er sich sowohl auf Aristoteles als auch auf Augustin. Vgl. Summa, art. 1, q.
1 (ed. Wilson, 11–12) und q. 5 (ed. Wilson, 123–130). In q. 1 (ed. Wilson, 21) hält er sogar fest:
„... certissima veritas a tali sensu capitur, et nobis certissima scientia est illa rerum sensibilium
quae ad sensus experientiam potest reduci.“ Diese Aussage verdeutlicht, dass Heinrich hin-
sichtlich der Zuverlässigkeit der Sinne sicherlich nicht skeptisch war, wie ihm gelegentlich un-
terstellt wurde, etwa von Schmitt 1963, 233, der meinte, „... Henry of Ghent showed himself
to be more than a little dubious of the reliability of sense knowledge.“ Ähnlich argumentierte
auch Owens 1982, 454.
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§ 5 Zwei Arten des Wissens 45

die Beweislast, sondern wer ausgehend von Einzelfällen gleich die ganze
Grundlage für empirisches Wissen infrage stellt. Es ist nämlich fragwürdig,
von der Mangelhaftigkeit oder Widersprüchlichkeit einiger Sinnesinforma-
tionen gleich auf die Mangelhaftigkeit aller Sinnesinformationen zu schlie-
ßen. Ebenso problematisch ist es, von der schwierigen Beurteilung einiger
Wahrnehmungsbedin­g ungen gleich auf die schwierige oder gar unmögliche
Beurteilung aller Wahrnehmungsbe­dingungen zu schließen. Konkret heißt
dies: Der Skeptiker – nicht der Antiskeptiker – muss begründen, warum
uns so ausgefallene Beispiele wie jenes des Holzstabes dazu bringen soll­
ten, gleich sämtliche Sinnesinformationen infrage zu stellen. Heinrichs
Pointe besteht somit darin, dass er – ähnlich wie J. Austin in der modernen
analytischen Debatte25 – den Ball wie­der an den Skeptiker zurückwirft
und ihn, der sich scheinbar für nichts rechtfertigen muss, unter Rechtfer-
tigungsdruck setzt.
Heinrich setzt sich noch mit einer anders gelagerten skeptischen Attacke
auseinander. Diese beruft sich auf das berühmte Wissensparadox im Menon
und lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: 26
(1) Nur wer bereits etwas weiß, kann etwas lernen.
(2) Wer aber bereits etwas weiß, lernt nichts, denn Lernen ist immer eine
Bewegung vom Nicht-Wissen zum Wissen.
(3) Also kann es niemanden geben, der etwas lernt.
(4) Wer nichts lernt, kann aber nichts wissen.
(5) Also kann es niemanden geben, der etwas weiß.
Das Paradox ergibt sich dadurch, dass einerseits Wissen die Voraussetzung
für Lernen ist, andererseits aber gerade die Erfüllung dieser Voraussetzung
Wissen unmöglich zu machen scheint. Auf welchem Weg lässt sich dieses
Paradox auflösen? Heinrich schlägt zwei Wege vor, die beide aristotelisch
motiviert sind. Der erste beruft sich auf eine Unterscheidung zweier Berei-
che des Lernens. 27 Zum einen kann sich das Lernen auf Schlussfolgerungen
bezie­hen. Dieses Lernen setzt das Erfassen von Prämissen voraus, aus denen

 Austin 1962, 11–12, hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Rede von Fällen der
25

Täuschung oder Irreführung nur vor dem Hintergrund einer prinzipiell korrekten Wahrneh-
mung einen Sinn ergibt. Selbst der Skeptiker muss auf korrekte Wahrnehmung rekurrieren,
um eine Kontrastfolie für die Täuschungsfälle zu haben.
26
 Vgl. Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson, 7) und ausführlich q. 10 (ed. Wilson, 167–168).
Dank der lateinischen Übersetzung durch Heinrich Aristipp war der Menon zwar bereits
im 12. Jh. bekannt, wurde aber kaum direkt rezipiert. Heinrich beruft sich auf die indirekte
Überlieferung durch Aristoteles, Averroes und Augustin, und er verwendet das Argument zu
eigenen Zwecken, ohne auf die berühmte Anamnesis-Theorie einzugehen. Daher steht hier
nicht Menons Paradox, wie es von Platon formuliert wurde, zur Debatte, sondern Heinrichs
Interpretation dieses Paradoxes.
27
 Vgl. Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson, 26–27).
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46 Zweifel am natürlichen Wissen

die Schlussfolgerungen abgeleitet werden. Wenn für die Prämissen nicht


ihrerseits wieder nach Prämissen gesucht werden soll und wenn somit ein
infiniter Regress vermieden werden soll, müssen erste Prinzipien erfasst
werden. Doch dies hat nicht die Unmöglichkeit von Wissen zur Folge, denn
indem man erste Prinzipien erfasst und aus ihnen etwas ab­leitet, kann man
sehr wohl etwas Neues lernen. Das scheinbare Paradox kann dann mit fol­
gender Argumentation zurückgewiesen werden:
(1*) Nur wer erste Prinzipien erfasst, kann in einer Deduktion Schluss-
folgerungen lernen.
(2*) Wer erste Prinzipien erfasst, lernt sehr wohl etwas, denn er geht in
seinen Deduktionen von einem Nicht-Wissen der Schlussfolgerungen
zu einem Wissen dieser Schlussfolgerungen über.
(3*) Also kann es sehr wohl jemanden geben, der etwas lernt.
(4*) Da nur durch Lernen ein Wissen von Schlussfolgerungen erworben
wird, kann derje­n ige, der das Deduzieren aus ersten Prinzipien lernt,
sehr wohl Wissen erwerben.
(5*) Also ist Wissen möglich.
Diese Argumentation beruht freilich auf der Annahme, dass erste Prinzi­
pien tatsächlich erfasst werden können. Wie dies erfolgt, erläutert Heinrich
nicht. In Anlehnung an die berühmte These des Aristoteles, dass es erste,
gewisse und nicht weiter begründbare Prin­zipien gibt, 28 hält er einfach fest,
dass es eine Kenntnis (notitia) von solchen Prinzipien gibt und dass genau
diese Kenntnis – zusammen mit einem syllogistischen Verfahren – ein Wis-
sen von Schlussfolgerungen erlaubt.
Der Rekurs auf die aristotelische Prinzipienlehre zeigt sich auch im zwei-
ten Weg, den Heinrich zur Auflösung des Paradoxons vorschlägt. Er betont,
man könne unter dem Lernen auch das Erfassen der ersten Prinzipien
verstehen. Dann sei kein vorhergehendes Wissen er­forderlich, „denn wer
die Kenntnis erster Prinzipien gewinnt, erwirbt diese aus keiner vorausge­
henden Kenntnis.“29 Mit dieser These greift Heinrich Prämisse (1) an: Auch
wer noch nichts weiß, kann erste Prinzipien erfassen und dadurch etwas
lernen. Hat er diese Prinzipien einmal erfasst, kann er aus ihnen Schluss-
folgerungen ableiten und so Wissen auf die bereits beschrie­bene Art und
Weise gewinnen.
Freilich stellt sich auch hier wieder die Frage, wie denn die ersten Prin-
zipien erfasst werden. Gibt es ein unmittelbares Ergreifen dieser Prinzipien,
eine Art intellektuelles Sehen, durch das sie auf einen Schlag erfasst werden?
 Vgl. Anal. Post. I, 2 (71b20–22).
28

  Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson, 27): „... quia addiscens notitiam primorum principiorum
29

ex nulla notitia praecedente eam acquirit...“


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§ 5 Zwei Arten des Wissens 47

Oder müssen gewisse Lernschritte gemacht werden, sodass die ersten Prin-
zipien erst nach und nach erfasst werden? Und gibt es eine be­sondere In-
stanz, die für das Erfassen der ersten Prinzipien zuständig ist? Oder erfasst
sie der­selbe Intellekt, der auch auf induktivem Weg – durch Erkennen und
Vergleichen einzelner Sachverhalte – Wissen gewinnt? Seit der Rezeption der
Zweiten Analytiken im 12. Jh. wurden diese Fragen ausführlich diskutiert.30
Heinrich geht allerdings nicht auf sie ein. Er weist ledig­lich darauf hin, dass
es bei jedem Lernen – auch bei jenem bezüglich erster Prinzipien – einen
Übergang von einem potentiellen in einen aktuellen Zustand gibt.31 Dieser
Übergang muss indessen nicht schlagartig erfolgen, denn es ist gut möglich,
dass jemand erst nach und nach zu einem klaren Verständnis der ersten
Prinzipien gelangt. Daher kann dieses Lernen in Stu­ fen erfolgen. Ent-
scheidend ist lediglich, dass es nicht ein weiteres Wissen von noch früheren
Prinzipien voraussetzt.
Natürlich könnte ein radikaler Skeptiker auch an diesem Punkt wie-
der einhaken und fragen, wie Heinrich denn so sicher sein kann, dass
es erste Prinzipien gibt und dass jeder Mensch sie stufenweise erfassen
kann. Werden hier nicht starke metaphysische und episte­mologische Prä-
missen eingeführt? In der Tat macht Heinrich von Annahmen Gebrauch,
die er nicht weiter begründet, sondern mit Verweis auf die aristotelische
Wissenstheorie voraussetzt. Dieser Verweis verdeutlicht freilich, dass er
nicht einfach ein konservativer Augustinist ist, der sich dem immer stär-
ker werdenden Aristotelismus seiner Zeit widersetzt.32 In seinem be­reits
erwähnten Rekurs auf die Zuverlässigkeit der Sinne und in seinem Ver-
weis auf die Prin­zipienlehre folgt er durchaus Aristoteles, ja er verwendet
aristotelische Argumente zur Wi­derlegung skeptischer Einwände. Daher
könnte er auch die Inanspruchnahme erster Prinzipien aristotelisch be-
gründen. Würde etwa ein Skeptiker fragen, warum wir das Prinzip der
Wider­spruchsfreiheit als erstes, nicht weiter begründbares Prinzip akzep-
tieren sollten, könnte er erwidern: Indem der Skeptiker eine Aussage wie
‚Du nimmst das Prinzip der Widerspruchs­freiheit in Anspruch‘ macht
und nicht gleichzeitig das Gegenteil behauptet, zeigt er, dass er selber von
diesem Prinzip Gebrauch macht. Selbst wenn er dieses Prinzip explizit
ablehnt, macht er von ihm Gebrauch, denn er macht ja die Aussage ‚Ich
akzeptiere das Prinzip der Widerspruchsfreiheit nicht‘ und nicht gleich-
zeitig die gegenteilige Aussage. Kurzum: Wie auch immer der Skeptiker

30
 So etwa von Robert Grosseteste im ersten lateinischen Kommentar zu den Zweiten Ana-
lytiken. Vgl. Marrone 1983, 251–286.
31
 Vgl. Summa, art. 1, q. 10 (ed. Wilson, 169 und 173–174).
32
 Daher ist Vorsicht geboten, wenn – wie bereits erwähnt (vgl. Anm. 11) – Heinrich als
konservativer Augustinist charakterisiert wird.
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48 Zweifel am natürlichen Wissen

argumentiert, er muss dieses Prinzip akzeptieren, sobald er Aussa­ gen


macht.33
Die bisher diskutierten skeptischen Einwände lassen sich alle auf antike
Quellen zu­r ückführen. Heinrich setzt sich aber auch mit einem Einwand aus-
einander, der auf der spe­c ies-Theorie beruht und somit erst im mittelalterlichen
Kontext entstanden ist. Diese Theorie ist teils arabischen, teils lateinischen
Ursprungs und hat sich erst in der Mitte des 13. Jhs. als ein optisches und kog­
nitionstheoretisches Modell zur Erklärung des Affiziert-werdens durch einen
äußeren Gegenstand etabliert.34 Wie bereits erwähnt, erklärt Heinrich wie die
meisten seiner Zeitgenossen den kognitiven Prozess mit Rekurs auf ein solches
Affiziert-werden. Wenn ich etwa den Apfel, der vor mir liegt, betrachte, werde
ich derart von ihm affiziert, dass ich die wahrnehmbaren Eigenschaf­ten auf-
nehme und auf dieser Grundlage ein Vorstellungsbild von ihm gewinne.35
Dieses Bild präsentiert mir den Apfel genau so, wie er vor mir liegt. Doch nun
stellt sich eine fundamen­tale Frage: Was sehe ich eigentlich, wenn ich ein Vor-
stellungsbild vom Apfel gewinne – den Apfel selbst oder bloß das Vorstellungs-
bild? Genau diese Frage wirft Heinrich in einem Ein­wand auf:
„Wer nicht das Wesen und das Was-sein einer Sache wahrnimmt, sondern nur ein
Bild davon, kann kein Wissen von der Sache haben; denn wer nur ein Bild von
Herkules sieht, kennt Herkules nicht. Doch ein Mensch nimmt von einer Sache nur
ihr Bild wahr als die Species, die durch die Sinne aufgenommen wird. Diese Species
ist ein Bild von der Sache, nicht die Sache selbst.“36

Indem Heinrich betont, dass man das Wesen einer Sache wahrnehmen muss,
um Wissen zu haben, formuliert er einen hohen Anspruch. Doch selbst wenn
33
 Ein pyrrhonischer Skeptiker könnte natürlich einwenden, dass er streng genommen
keine assertorischen Aussagen macht, sondern nur schildert, wie ihm etwas erscheint. Daher,
so könnte er betonen, sei jede seiner Aussagen nur im Sinne von ‚Es scheint mir, dass ...‘ zu
verstehen (vgl. zu dieser „phainetai“-Regel Vogt 1998, 72–104). Doch auch in diesem Fall
müsste der Skeptiker das Prinzip der Widerspruchsfreiheit zugestehen, denn er sagt ja nicht
gleichzeitig ‚Es scheint mir nicht, dass...‘. Selbst die bloße Schilderung von Erscheinungen
kommt nicht ohne die Befolgung dieses fundamentalen Prinzips aus. Da Heinrich sehr wahr-
scheinlich keine direkte Kenntnis vom pyrrhonischen Skeptizismus hatte, geht er nicht auf
dieses Problem ein.
34
  Vgl. zur Entstehung dieser Theorie in der Optik Tachau 1988, in der Kognitionstheorie
Spruit 1994.
35
 Streng genommen handelt es sich dabei um das phantasma, das auf der Grundlage sämt­
licher Sinnesinformationen gebildet wird. Heinrich spricht aber auch von der species sensibi-
lis, um das sinnliche Bild von einer intellektuellen Vorstellung abzugrenzen. Dies ist freilich
etwas verwirrend, weil er gleichzeitig auch das, wodurch eine einzelne Wahrnehmungseigen-
schaft in einem Sinn aufgenommen wird, mit dem Ausdruck ‚species sensibilis‘ bezeichnet, so
etwa in Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson, 27).
36
  Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson, 8): „Ille non potest scire rem qui non percipit essentiam
et quidditatem rei, sed solum idolum eius, quia non novit Herculem qui solum vidit picturam
eius. Homo autem nihil percipit de re nisi solum idolum eius ut speciem receptam per sensus,
quae idolum rei est, non ipsa res.“
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§ 5 Zwei Arten des Wissens 49

wir von diesem Anspruch für einen Moment absehen und gemäß der oben
festgehaltenen Erläuterung von Wissen (W1) nur fordern, dass man sich auf
die Sache beziehen muss, wie sie in Tat und Wahrheit ist, ergibt sich ein Pro-
blem. Wie können wir behaupten, dass wir uns auf die Sache selbst beziehen
und nicht bloß auf ein inneres Bild? Könnte es nicht sein, dass wir nie zu
einer äußeren Sache vor­stoßen, sondern gleichsam in unserer inneren Welt
der Bilder gefangen sind?
Heinrich ist nicht der einzige mittelalterliche Autor, der dieses Problem
aufwirft. Auch sein Zeitgenosse Petrus Johannis Olivi und Wilhelm Crat-
horn, ein Oxforder Autor des frühen 14. Jhs., sahen in der Species-Theorie
eine skeptische Gefahr.37 Dabei handelt es sich genau um jene Gefahr, die
in der Neuzeit Thomas Reid und andere Kritiker der Ideentheorie als
das Hauptproblem des Repräsentationalismus benannten. Wer innere re-
präsentierende Entitäten annimmt, verliert den direkten Zugang zu den
äußeren Gegenständen. Die äußeren Gegen­stände sind dann nur vermittelt
durch innere Stellvertreter präsent. Und die Tatsache, dass man solche Stell-
vertreter erfasst, garantiert nicht, dass man auch einen Zugang zu äußeren
Gegenständen hat. Es könnte ja sein, dass ich ein Bild erfasse, das mir einen
Apfel darstellt, ohne dass ein Apfel vor mir liegt, genau wie ich ein Bild des
Herkules betrachten kann, ohne dass Herkules als Person aus Fleisch und
Blut vor mir steht. Kurz gesagt: Sobald ein Zwi­schenglied zwischen der er-
kennenden Person und dem äußeren Erkenntnisobjekt eingeführt wird, ist
es zweifelhaft, (a) wie diese Person noch einen Zugang zum äußeren Objekt
haben kann und (b) wie sie sicher sein kann, dass überhaupt ein äußeres
Objekt vorhanden ist.
Auf diesen Einwand scheint es eine einfache Replik zu geben. Man könnte
hier eine Unterscheidung zwischen kausalen und kognitiven Zwischen-
gliedern einführen, wie dies in heutigen erkenntnistheoretischen Debatten
häufig gemacht wird und wie dies auch Heinrichs Zeitgenossen und Vor-
gänger schon vorschlugen.38 Das heißt: Es mag zwischen der erkennen­den
Person und dem äußeren Objekt zwar eine oder mehrere Entitäten geben,
die für eine er­folgreiche Erkenntnis erforderlich sind. Doch diese Entitäten
werden nicht selber erfasst, son­dern ermöglichen als Hilfsmittel einen Zu-
gang zum äußeren Objekt. Wer etwa Sterne be­o­bachten will, braucht dazu
ein Teleskop. Trotzdem betrachtet er durch das Teleskop hin­ durch die
Sterne, nicht das Teleskop selbst. In ähnlicher Weise könnte man auch die
Species als kausales Zwischenglied verstehen. Wer einen Apfel betrachten

  Vgl. zu diesen Autoren ausführlich §§ 15–16.


37

  Prominenterweise Thomas von Aquin, der in Summa theologiae I, q. 85, art. 2, corp.,
38

zwischen dem „medium quo“ und dem „terminus ad quem“ der Erkenntnis unterscheidet und
betont, dass die Species nur ein „medium quo“ ist.
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50 Zweifel am natürlichen Wissen

will, braucht eine Species als Hilfsmittel, das ihm einen Zugang zum Apfel
ermöglicht. Trotzdem betrachtet er durch die Species hindurch den Apfel,
nicht die Species.
Erstaunlicherweise wählt Heinrich nicht diese Argumentationsstrategie.
Er trifft viel­mehr folgende Unterscheidung:
„... Folgendes ist zu sagen: Man kann das Bild einer Sache auf zweierlei Art wahr-
nehmen: auf eine Art als den Gegenstand der Erkenntnis. [Erfolgt das Wahrnehmen]
auf diese Art, ist es wahr, dass derjenige, der nur das Bild einer Sache wahrnimmt,
nicht die Sache selbst erkennt, so wie derjenige, der das auf einer Wand gemalte
Bild des Herkules sieht, dadurch nicht Herkules selbst sieht oder erkennt. Auf eine
andere Art [kann man das Bild] als den Grund des Erkennens [wahrnehmen]. Dann
ist es nicht wahr, [dass die Sache selbst nicht erkannt wird]. Allein dadurch, dass
die Species von einer Sache wahrgenom­men wird, wird nämlich die Sache korrekt
erkannt. Beispielsweise wird ein Stein allein durch die sinnliche Species, die im
Auge aufgenommen wird, gesehen, und er wird allein durch die intelligible Species,
die im Intellekt auf­genommen wird, korrekt verstanden.“39

Für beide Arten des Wahrnehmens gilt offensichtlich, dass die Species wahr-
genommen wird. Sie spielt also bei beiden Arten mehr als eine rein kausale
Rolle. Entscheidend ist aber nicht, dass sie wahrgenommen wird, sondern
wie sie wahrgenommen wird. Wenn sie als der Ge­genstand der Erkennt-
nis – und zwar als der einzige kognitiv zugängliche Gegenstand – wahr­
genommen wird, ist es in der Tat unmöglich, einen äußeren Gegenstand zu
erkennen. Die Species ist dann so etwas wie ein innerer Schleier, der einen
Zugang zum äußeren Gegenstand versperrt. Und das bloße Erfassen oder
Wahrnehmen der Species garantiert dann nicht, dass auch ein äußerer Ge-
genstand erfasst wird. Doch Heinrich betont, dass sie nicht auf diese Art,
sondern als „Grund des Erkennens“ (ratio cognoscendi) wahrgenommen
wird. Dann ermög­licht das Wahrnehmen der Species einen Zugang zum äu-
ßeren Gegenstand. Denn indem eine Person die Species wahrnimmt, erfasst
sie immer auch den äußeren Gegenstand. Die Species verhüllt den äußeren
Gegenstand nicht, sondern enthüllt ihn.
Damit scheint der skeptische Einwand aber noch nicht aus dem Weg
geräumt zu sein. Wie können wir denn sicher sein, könnte der Skeptiker
nachbohren, dass die Species tatsächlich der Grund des Erkennens ist? Ist
es nicht denkbar, dass wir zwar eine Species erfassen, diese aber keinen Ge-

39
  Summa, art. 1, q. 1 (ed. Wilson, 27): „... dicendum quod percipere idolum rei contingit
dupliciter: uno modo tamquam obiectum cognitionis, – hoc modo verum est quod percipiens
solum idolum rei non cognoscit rem, sicut videns imaginem Herculis depictam in pariete (ex
hoc non videt neque cognoscit Herculem) –; alio modo tamquam rationem cognoscendi; sic
non est verum. Per solam enim speciem perceptam de re cognoscitur vere res, ut lapis vere
videtur per solam speciem suam sensibilem receptam in oculo, et vere intelligitur per solam
speciem suam intelligibilem receptam in intellectu.“
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§ 5 Zwei Arten des Wissens 51

genstand darstellt, der tatsächlich existiert – entweder weil wir in unserer


Phantasie eine Species hergestellt haben (man denke etwa an die Bilder von
Einhörnern und Chimären) oder weil Gott in den kognitiven Mechanismus
eingegriffen und uns eine Species eingegeben hat, ohne dass ihr irgendein
äußeres Ding entspricht? Das bloße Haben und Erfas­ sen einer inneren
Species garantiert doch nicht einen Zugang zu einem äußeren Gegenstand.
Angesichts dieses naheliegenden Einwandes ist es nicht erstaunlich, dass
neuere Interpreten die Überzeugungskraft von Heinrichs Antwort auf
den skeptischen Einwand negativ beurteilt haben. So stellte R. Pasnau fest,
Heinrich liefere kein Argument dafür, dass unsere Species äußere Gegen-
stände korrekt darstellen und dass die Überzeugungen, die wir auf ihrer
Grund­lage bilden, auch wahr sind.40
Heinrichs Vorgehen wäre in der Tat unbefriedigend, wenn er einfach
dogmatisch fest­hielte, dass wir durch das Erfassen der Species einen Zugang
zu äußeren Gegenständen haben. Doch seine ganzen Ausführungen sind in
eine Theorie eingebettet, die von der aristo­telischen Annahme ausgeht, dass
der Erkenntnisprozess immer ein Assimila­tionsprozess ist. Er hält ausdrück-
lich fest, „dass jede Erkenntnis durch eine Angleichung des Erkennenden an
das Erkannte erfolgt.“41 Wenn nun eine Person eine Species erfasst, so erfasst
oder erkennt sie dadurch nicht einfach eine innere Repräsentation, die von
einem äußeren repräsentierten Gegenstand vollständig abgetrennt ist. Sie
gleicht sich mithilfe der Species vielmehr dem äußeren Ge­genstand an, denn
sie nimmt durch die Species die Form des Gegenstandes in sich auf. Ge­nauer
gesagt nimmt sie durch die sensible Species die wahrnehmbaren Formen
in sich auf, durch die intelligible Species die essentielle Form. Das bereits
mehrfach erwähnte Apfel-Bei­spiel möge dies veranschaulichen. Wenn ich
den Apfel anschaue und in ihn hineinbeiße, nehme ich die wahrnehmbaren
Formen der Größe, der Farbe und der Süße in mich auf. Diese Formen sind
dann in gewisser Weise in mir – freilich nicht auf eine materielle Art und
Weise (weder meine Augen noch meine Gehirnzustände werden ja dadurch
rot, dass ich einen roten Apfel anschaue), sondern auf eine besondere Art
und Weise, die von zahlreichen Aristoteles-Interpreten des 13. Jhs. „inten-
tionale Existenz“ (esse intentionale) genannt wurde.42 Und wenn mein In-

40
  Pasnau 1997, 226: „But although Henry does assert that our seeings and cognizings are
true, he just asserts this. He gives no argument for that claim, nor does he say anything that
might even partially ease the worries that the skeptic had raised about how we could ever
reach true beliefs about what is outside us.“
41
  Summa, art. 1, q. 5 (ed. Wilson, 123): „Ad intellectum huius quaestionis notandum est
in principio quod omnis cognitio est per assimilationem cognoscentis ad cognitum.“ Heinrich
beruft sich hier explizit auf Aristoteles’ Kernthese in De anima. Dies zeigt einmal mehr, dass
er nicht einfach ein Augustinist ist, der sich dem Aristotelismus widersetzt.
42
 Auch Heinrich verwendet diese Ausdrucksweise in Quodl. IV, q. 21 (ed. Badius, 136vG).
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52 Zweifel am natürlichen Wissen

tellekt auf dieser Grundlage eine intelligible Species bildet, nehme ich die
we­sentliche Form des Apfels auf, d.h. genau jenes Strukturprinzip, das den
Apfel zu einem Apfel und nicht zu irgendeinem anderen Gegenstand macht.
Entscheidend ist dabei, dass der kausale Prozess, durch den die Formen
aufgenommen werden, garantiert, dass ich mich tatsächlich an den äußeren
Gegenstand assimiliert habe und dass die Species die Formen so darstellen,
wie sie wirklich sind. Natürlich sind unter bestimmten Umständen Irr-
tümer möglich. So kann es sein, dass ich aufgrund defekter Sinnesorgane die
wahrnehmbaren Formen nicht korrekt auf­nehme. Es kann auch sein, dass
ich verschiedene Formen miteinander kombiniere (etwa wenn ich das Phan-
tasiebild von einer Chimäre herstelle) und dann irrtümlicherweise glaube,
es gebe genau diese Kombination von Formen in der materiellen Welt. Dabei
handelt es sich aber nur um lokale Irrtümer, die korrigiert werden können.
Und selbst diese Irrtümer sind nur vor dem Hintergrund eines im Prinzip
korrekten Mechanismus des Aufnehmens von Formen möglich.
Diese Erklärung des Erkenntnisprozesses wirft natürlich eine Reihe
von Problemen auf, die bereits im 13. Jh. ausgiebig diskutiert wurden. So
kann man fragen, um welche Art von Existenz es sich bei der „intentio-
nalen Existenz“ der Formen im Erkennenden handeln soll. Und man kann
weiter fragen, warum wir überhaupt in der Lage sind, auf der Grundlage
von Sinneswahrnehmung Formen in uns aufzunehmen. Doch diese Fragen,
die weit in die Wahrnehmungs- und Intentionalitätstheorie hinein reichen,
sollen hier nicht erörtert werden.43 Wichtig ist in diesem Zusammenhang
nur die Tatsache, dass Heinrich seine These, Species seien der Grund des
Erkennens, im Kontext einer aristotelisch inspirierten Assimilationstheo­rie
formuliert.44 Er operiert nicht mit einem Repräsentationsmodell, das innere
repräsentie­rende Entitäten von äußeren repräsentierten Gegenständen ab-
grenzt. Daher ist es für ihn selbstverständlich, dass wir durch das Erfassen
der Species einen Zugang zu äußeren Gegenständen haben. Denn die Species
stellen genau jene Formen dar, die auch in den äuße­ren Gegenständen vor-
kommen, und die Species können nur deshalb in uns existieren, weil wir
diese Formen in uns aufgenommen haben. Einzelne Fälle von irreführenden
Species sind un­ ter besonderen Bedingungen (etwa bei defekten Sinnes-
organen) natürlich möglich. Und na­türlich ist es auch möglich, dass wir

Vgl. zur Entstehung dieser Terminologie und zu ihrer Verbreitung im 13. Jh. Knudsen 1982
und Tachau 1999.
43
 Vgl. eine ausführliche Diskussion in Tweedale 1992, Tellkamp 1999, Burnyeat 2001,
Perler 2002, 42–60.
44
 In Summa, art. 1, q. 5 (ed. Wilson, 123–126) fasst er die Grundthesen dieser Theorie mit
explizitem Verweis auf Aristoteles zusammen. Wie Nys 1949 bereits gezeigt hat, übernimmt
er in seiner frühen Phase das aristotelische Standardmodell seiner Zeit.
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§ 5 Zwei Arten des Wissens 53

verschiedene Species zusammenstellen und dadurch zu einem Phantasiepro-


dukt gelangen. Aber selbst dieses Produkt ist in der Außenwelt verankert,
weil ja die einzelnen Teile dadurch gewonnen werden, dass wir Formen von
realen Gegen­ständen in uns aufgenommen haben. Somit widerlegen weder
die Einzelfälle von Täuschun­gen noch die Verweise auf einzelne Phantasie-
produkte die Grundthese, dass wir durch die Species im Prinzip einen zu-
verlässigen Zugang zu den äußeren Gegenständen haben.
Wenn sich somit das Problem des radikalen Außenwelt-Skeptizismus
nicht stellt, taucht doch ein anderes skeptisches Problem auf, dem sich Hein-
rich eingehend widmet. So­lange normale Wahrnehmungsbedingungen vor-
liegen, scheint es selbstverständlich, dass wir die wahrnehmbaren Formen
aufnehmen und genau diese Formen erkennen können. So kann ich etwa die
Größe, die Farbe und die Süße des vor mir liegenden Apfels erkennen. Doch
bin ich auch in der Lage, darüber hinaus die wesentliche Form des Apfels zu
erkennen – das, was den Apfel konstituiert und von anderen Gegenständen
unterscheidet? Genau an diesem Punkt hakt Heinrich ein, indem er zwei
Arten der Erkenntnis unterscheidet.45
Er behauptet, es gebe zum einen „die Erkenntnis des Wahren“ (cognitio
veri). Diese erfolgt in einem einfachen Akt des Erfassens – nicht etwa in
einem Urteilsakt – und bezieht sich auf einen konkreten Gegenstand, wie er
in einer Wahrnehmungssituation gegeben ist. Dabei werden genau jene (oder
zumindest einige) Eigenschaften erfasst, die der Gegenstand tatsächlich hat.
Heinrich gibt dafür konkrete Beispiele: Jemand kann einen „wahren Men­
schen“, d.h. einen konkreten Menschen mit seinen unmittelbar präsenten
Eigenschaften, oder einen „wahren Stein“ erkennen. Man könnte hier von
einer faktischen Erkenntnis sprechen, für die gilt: 46
(1) Jemand hat eine faktische Erkenntnis von x, wenn er x mit den wahr-
nehmbaren Eigen­schaften erfasst, die x tatsächlich hat.
Heinrich betont, dass diese Art von Erkenntnis nicht nur möglich ist, son-
dern dass sie auch durch rein natürliche kognitive Prozesse gelingt. Denn
wenn wir normal funktionierende Sinne haben, können wir unter norma-
len Bedingungen die wahrnehmbaren Eigenschaften eines Gegenstandes
korrekt erkennen, indem wir die Formen dieser Eigenschaften aufneh­men.
So gelingt es mir dank des Gesichts- und des Geschmackssinns, den Apfel

 Vgl. Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 36). Zum augustinischen Hintergrund dieser Unter-
45

scheidung siehe Porro 1994.


46
 Ich spreche von einer faktischen und nicht bloß von einer sinnlichen Erkenntnis, weil
Heinrich festhält, dass auch der Intellekt daran beteiligt ist. Dieser erfasst nämlich „simplici
intelligentia id quod res est“ (Summa, art. 1, q. 2; ed. Wilson, 36). Es wäre irreführend, ein-
fach eine sinnliche Erkenntnis einer intellektuellen gegenüberzustellen.
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54 Zweifel am natürlichen Wissen

als einen roten, run­den, süßen Gegenstand zu erkennen. Dabei erfasse ich
freilich nicht essentielle oder unverän­derbare Eigenschaften, sondern ein-
fach jene, die mir gerade präsent sind. Vital du Four, der gegen Ende des
13. Jhs. Heinrichs Position zusammenfasste und erläuterte, gab da­für ein
an­schauliches Beispiel: Wenn ich ein Stück Zucker wahrnehme, kann ich
unmittelbar erfassen, dass es süß ist, aber ich bin nicht imstande, die Süße
zu erfassen.47 Modern ausgedrückt könnte man sagen, dass ich nicht die
Struktureigenschaft erfassen kann, die für das unmittel­bar wahrgenom-
mene Süßsein verantwortlich ist.
Davon zu unterscheiden ist „die Erkenntnis der Wahrheit“ (cognitio
veritatis). Sie zeichnet sich dadurch aus, dass durch sie erstens nicht eine
beliebige Menge von Eigenschaf­ten erfasst wird, sondern das Wesen eines
Gegenstandes, und dass zweitens geurteilt wird, dass ein konkreter Gegen-
stand dieses Wesen tatsächlich hat.48 Man könnte hier von einer essen­tiellen
Erkenntnis sprechen, für die gilt:
(2) Jemand hat eine essentielle Erkenntnis von x, wenn er erkennt, dass x
wesentlich F ist.
Somit habe ich erst dann eine essentielle Erkenntnis vom Apfel, wenn ich nicht
nur die jetzt gerade präsente Farbe oder Süße erfasse, die sich morgen schon
wieder verändern kann, son­dern wenn ich das erfasse, was den Apfel genau
als Apfel auszeichnet und ihn auch morgen und übermorgen noch zu einem
Apfel macht. Heinrich spricht hier von einer Erkenntnis der Wahrheit, weil er
von einem ontologischen Wahrheitsbegriff ausgeht. Diesem Begriff zufolge ist
nicht primär ein Satz oder eine Aussage wahr, sondern der Gegenstand selbst,
der durch ein bestimmtes Wesen genau zu dem Gegenstand gemacht wird, der
er ist.49 Natürlich kann auch mit Bezug auf Sätze von Wahrheit gesprochen
47
  Vital du Four, Quaestiones de cognitione, q. 8 (ed. Delorme 1927, 323): „Sicut, cum video
zucaram, bene apprehendo id quod dulce et verum dulce, sed per visum nullo modo possum
apprehendere dulcedinem...“ Diese Quaestio ist wahrscheinlich zwischen 1297 und 1300 ent-
standen. Zu Vitals Verhältnis zu Heinrich vgl. Marrone 2001, 267–268.
48
 Heinrich betont in Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 36), diese Erkenntnis werde durch
eine „compositio et divisio“, d.h. durch ein positives oder negatives Urteil, gewonnen. Dieses
Urteil bezieht sich auf „quid sit in rei veritate, ut de homine quod sit verus homo“ (ibid.)
und daher auf das Wesen eines Gegenstandes. Wie Kann 2001, 46, zu Recht betont, baut
dieses Urteil auf einem einfachen Erfassen auf und ist daher das Produkt eines höherstufigen
geistigen Aktes.
49
  In Quodl. II, q. 6 (ed. Wielockx, 32) hält Heinrich explizit fest: „[Intellectus] convertit se
super suum obiectum, non solum percipiendo id quod verum est, a quo movetur (sicut etiam
apprehendit et sensus), sed ipsam veritatem, quae est ipsa quidditas rei intellecta.“ Vgl. auch
Summa, art. 1, q. 12 (ed. Wilson, 189) und art. 34, q. 2 (ed. Macken, 175–177). Heinrich greift
hier auf einen Wahrheitsbegriff zurück, den bereits Anselm von Canterbury in De veritate, 7
(ed. Enders, 34) eingeführt hatte. Eine ausführliche Diskussion des Wahrheitsbegriffs bietet
Marrone 1985, 18–20. Zur Einbettung dieses Begriffs in eine Lehre von den transzendentalen
Bestimmungen des Seienden vgl. Aertsen 1996.
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§ 5 Zwei Arten des Wissens 55

werden, aber nur insofern sie bezeichnen, dass ein Gegenstand ein bestimmtes
Wesen hat. Die ontologische Wahrheit fundiert dann die propositionale. So ist
etwa die Wahrheit, dass das Wesen des Apfels dieses Stück Materie genau zu
einem Apfel macht, das Fundament für die Wahrheit des Satzes ‚Dies ist ein
Ap­fel‘.50
Doch wie lässt sich das Wesen eines Gegenstandes erkennen? Offen-
sichtlich können wir nicht auf Anhieb erkennen, was einen Gegenstand
konstituiert. Primär sind uns ja nur die wahrnehmbaren Eigenschaften zu-
gänglich. Wir brauchen Heinrich zufolge daher ein Modell (exemplar), mit
dessen Hilfe wir bestimmen können, welches Wesen ein Gegenstand hat.
Erst wenn wir so etwas wie ein Muster, eine Vorlage oder eben ein Modell
für Äpfel haben, können wir dieses Modell an einen konkreten Gegenstand
anlegen und beurteilen, ob der Gegenstand tatsäch­ lich die wesentliche
Apfel-Struktur hat. Oder wie Heinrich selbst sagt: „... die Wahrheit einer
Sache kann nur durch die Erkenntnis einer Übereinstimmung der erkann-
ten Sache mit ihrem Modell erkannt werden...“51 Daher lässt sich (2) noch
schärfer fassen:

(2*) Jemand hat eine essentielle Erkenntnis von x, wenn er mithilfe eines
Modells für F erkennt, dass x wesentlich F ist.

Für Heinrich ist nun diese essentielle Erkenntnis von fundamentaler Bedeu-
tung, weil nur sie ein Wissen im strengen Sinne ermöglicht. Er betont, dass
für dieses Wissen nicht einmal das Erfassen eines aktuell präsenten Gegen-
standes erforderlich ist:
„Es gibt nämlich kein Wissen von den Dingen, insofern sie in der Außenwelt aktuell
existieren, sondern nur insofern ihre Natur und ihr Wesen vom Geist er­fasst wird,
ob die Dinge nun in der Außenwelt existieren oder nicht...“52

Ob nun ein Apfel vor mir liegt oder nicht, ich verfüge über ein Wissen im
strengen Sinn, wenn ich erfasse, was einen Apfel genau zu einem Apfel und
nicht zu irgendeiner anderen Frucht macht. Immer wieder weist Heinrich
darauf hin, es sei eine Sache, ein Wissen im weiten Sinne zu haben, mit
dem man diese oder jene wahrnehmbare Eigenschaft eines existierenden
Gegen­standes erfasst; eine ganz andere Sache sei es, zu wissen, dass eine

  Zu dieser ontologischen Fundierung, die sich auch bei anderen Autoren des
50

13. Jhs. – unter ihnen Bonaventura und Thomas von Aquin – findet, vgl. Speer 1987, 42–52,
und Perler 2004a.
51
  Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 39–40): „... veritas rei non potest cognosci nisi ex cogni-
tione conformitatis rei cognitae ad suum exemplar...“
52
  Summa, art. 2, q. 2, ad 1 (ed. Badius, 24rG): „Non enim est scientia de rebus inquantum
sunt extra in effectu: sed inquantum natura et quidditas earum a mente est comprehensa: sive
res sint extra, sive non...“
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56 Zweifel am natürlichen Wissen

Sache ein bestimmtes We­ sen hat.53 Dies ist eine leicht nachvollziehbare
Unterscheidung. So ist es eine Sache, zu wis­sen, dass dieser Apfel hier süß
ist (jedes Kind, das in den Apfel beißt, kann dieses Wissen gewinnen); eine
ganz andere Sache ist es, zu wissen, welche biochemische Struktur dafür
ver­antwortlich ist, dass etwas ein Apfel ist und auch bleibt (nur Biologen
können nach aufwändi­gen Untersuchungen ein solches Wissen gewinnen).
Daher lässt sich von der bereits genann­ten Erklärung von Wissen (W1) eine
strengere unterscheiden:
(W2) Jemand hat Wissen im strengen Sinne, wenn er über eine sichere Er-
kenntnis vom We­sen von x verfügt, d.h. wenn er mithilfe eines Modells
für F mit Sicherheit erkennt, dass x wesentlich F ist.
Heinrich betont, dass diese Art von Wissen nur erworben werden kann,
wenn eine Überein­stimmung (conformitas) des Gegenstandes mit seinem
Modell festgestellt wird.54 Dazu ist ein Urteil erforderlich. Denn jemand
kann nur dann eine Übereinstimmung feststellen, wenn er den Gegenstand
mit dem Modell vergleicht und urteilt, dass der Gegenstand tatsächlich dem
Modell entspricht. Dies ist ein entscheidendes Detail. Es geht nicht einfach
darum, x als F zu erfassen (dies wäre auch durch einen sog. „einfachen“, d.h.
nicht-urteilenden Akt möglich), sondern es muss geurteilt werden, dass x
dem Modell entspricht und tatsächlich F ist.55
Die entscheidende Frage lautet nun, ob ein derartiges Urteil und damit
Wissen im strengen Sinne auf der Grundlage eines rein natürlichen kog­
nitiven Prozesses möglich ist. Können wir etwa dadurch, dass wir einen
Apfel sehen, ein Wissen davon gewinnen, dass dies wesentlich ein Apfel ist?
Die Vertreter der Species-Theorie würden diese Frage sogleich be­jahen. Sie
würden darauf insistieren, dass wir beim Anschauen des Apfels nicht nur
sinnliche Vorstellungsbilder erwerben, mit denen wir die wahrnehmbaren
Formen erfassen, sondern auch eine species intelligibilis, mit der wir die es-
sentielle Form erfassen. Sie würden zu­dem hinzufügen, dass diese Species in

53
 Vgl. Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 35–36) und art. 6, q. 1 (ed. Badius, 42vB). Wie
­Marrone 1985, 19–20, gezeigt hat, verweist Heinrich konstant auf die quidditas rei oder das
quod quid est rei, wenn er erklärt, worauf das Wissen im strengen Sinne abzielt.
54
 Vgl. Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 39–40).
55
 Kann argumentiert, dass dieses Urteil nicht im traditionellen Sinn als eine bejahende
Subjekt-Prädikat-Verbindung zu verstehen ist. Es finde sich „bei Heinrich kein zwingender
Hinweis auf eine propositionale Struktur, sondern lediglich auf den epistemischen Akt des
Zusammensetzens oder Trennens von Wahrnehmungsobjekt und Urbild.“ (Kann 2003, 165)
Sicherlich trifft es zu, dass nicht einfach ein Urteil der Form ‚x ist F’ gebildet werden muss.
Trotzdem muss eine propositionale Struktur vorhanden sein, denn der epistemische Akt des
Zusammensetzens oder Trennens kann nur vollzogen werden, wenn die Proposition ‚dass x
mit dem Urbild bzw. Modell übereinstimmt oder nicht‘ erfasst wird; auf diese Proposition
bezieht sich das Urteil.
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§ 5 Zwei Arten des Wissens 57

unserem Intellekt verbleibt, wenn wir sie einmal er­worben haben, und dass
wir sie jederzeit wieder verwenden können. Habe ich etwa ausgehend von
einem konkreten Apfel einmal erfasst, was ein Apfel ist, habe ich ein Apfel-
Modell ge­wonnen und kann bei jedem Gegenstand, der mir in Zukunft
gezeigt wird, sagen, ob dies ein Apfel ist oder nicht, indem ich die Über-
einstimmung mit dem Modell prüfe. Die auf natürli­che Weise gewonnene
Species garantiert somit, dass ich nicht nur bei einem einzigen Ge­genstand,
sondern bei jedem Gegenstand einer bestimmten Art über ein Erfassen der
wahr­nehmbaren Eigenschaften hinausgehen kann. Kurzum: Die intelligible
Species ist das Modell, das eine essentielle Erkenntnis und damit auch ein
Wissen im strengen Sinne ermöglicht.
Heinrich stimmt zu, dass die Species ein Modell darstellt. Doch dürfen
wir auch an­nehmen, dass es sich hier um ein absolut zuverlässiges und sta-
biles Modell handelt? Gegen diese Annahme führt Heinrich drei Einwände
an. Erstens verweist er auf die Veränderlichkeit der materiellen Gegen-
stände, die es unmöglich macht, ein stabiles Modell zu gewinnen.56 Für das
(von Heinrich freilich nicht explizit diskutierte) Apfel-Beispiel heißt dies:
Da der Apfel im Frühling klein und grün, im Herbst aber groß und rot ist,
kann ich allein aufgrund der natürlichen Wahrnehmung kein Apfel-Modell
gewin­nen, das mir zeigt, was das Wesen des Apfels ist. Ich kann nur ein ad
hoc-Modell bilden, das mir den Apfel mit jenen Eigenschaften darstellt, die
er gerade hat.
Dieses Argument scheint auf den ersten Blick relativ schwach zu sein.
Man könnte sogleich einwenden, dass es neben allen veränderlichen Ei-
genschaften auch unveränderliche gibt. Bereits Scotus wies darauf hin, dass
doch jeder Gegenstand eine Natur hat, die keinen Veränderungen unter-
worfen ist, und dass diese Natur durchaus erfasst werden kann.57 So hat der
Apfel im Frühling und im Herbst eine bestimmte Fruchtfleisch- und Ober-
flächenstruktur, die immer gleich bleibt. Wenn ich diese Struktur bestimme,
kann ich doch erfassen, was we­sentlich zum Apfel gehört.
Ein solcher Einwand würde freilich zu kurz greifen. Denn wie können wir
sicher sein, dass wir tatsächlich eine unveränderliche Natur erfassen? Selbst
die Fruchtfleisch- und die Oberflächenstruktur verändern sich permanent;
je nach Reifegrad ist das Fruchtfleisch hart oder weich, die Oberfläche rau
oder glatt. Streng genommen können wir nur eine detail­lierte Beschreibung
der gerade wahrnehmbaren Struktur geben. Ob es sich dabei bereits um die
wesentliche Struktur handelt, ist eine Frage, die wir allein auf der Grund-
lage punktueller Wahrnehmung nicht beantworten können. Gianfrancesco

 Vgl. Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 43).


56

 Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 246 (ed. Vat. III, 150–151).


57
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58 Zweifel am natürlichen Wissen

Pico della Mirandola, der im späten 15. Jh. Heinrichs Einwände wiederholte
und bekräftigte, wies zudem darauf hin, dass ein Ge­genstand in sich wider-
streitende Eigenschaften hat und dass er sich schon aufgrund dieses in­neren
Widerstreits permanent verändert.58 Je nach Situation konzentrieren wir uns
auf diese oder jene Eigenschaften im Veränderungsprozess. Doch wie sollen
wir dadurch zur Bildung eines stabilen Modells gelangen, das alle wider-
sprüchlichen Eigenschaften in sich vereint oder einige zugunsten anderer
ausscheidet? Wer wie Scotus behauptet, es gebe doch eine un­veränderliche
Natur, nimmt von vornherein etwas an, was der Wahrnehmung nicht
zugäng­lich ist und höchstens postuliert werden kann.
Heinrich führt noch ein zweites Argument gegen die Möglichkeit an,
auf natürliche Weise ein stabiles Modell zu gewinnen.59 Der menschliche
Intellekt, so betont er, ist ebenfalls veränderlich und irrtumsanfällig. Daher
besteht keine Garantie, dass er das gewünschte Mo­dell von sich aus bilden
kann.
Auch dieses Argument erscheint auf den ersten Blick kaum überzeugend.
Natürlich verändert sich unser Intellekt, könnte man erwidern, aber durch
alle Veränderungen hindurch bleibt eine kognitive Grundaktivität erhalten,
die uns erlaubt, ein stabiles Modell zu bilden. Und natürlich ist der In-
tellekt unter besonderen Bedingungen irrtumsanfällig. Wenn aber normale
kognitive Bedingungen vorliegen, funktioniert er genauso zuverlässig wie
die Sinne.
Diese Replik setzt freilich voraus, dass es tatsächlich eine stabile Grund-
aktivität des Intellekts gibt. Doch welche Garantie haben wir dafür? Wir
können nur feststellen, dass unser Intellekt zu diesem oder jenem Zeitpunkt
diese oder jene Eigenschaft erfasst, und wir können gegebenenfalls eine ge-
wisse Kontinuität beobachten. Aber dies allein zeigt nicht, dass der Intellekt
durch alle Veränderungen hindurch auch das Wesen erfasst und dass er auf
dieser Grundlage ein stabiles Modell bilden kann. Es könnte sehr gut sein,
dass ich etwa bezüglich des Apfels zu allen Zeitpunkten erfasse, dass er eine
harte Schale hat. Damit würde ich aber keineswegs eine wesentliche Eigen-
schaft erfassen. Dies gilt selbst dann, wenn normale kog­n itive Bedingungen
und ein normales Funktionieren des Intellekts angenommen werden. Denn
wer garantiert uns, dass unser Intellekt tatsächlich so beschaffen ist, dass er
unter nor­malen Bedingungen das Wesen erfassen kann? Vielleicht funktio-
niert unser Intellekt perfekt, und trotzdem ist er nicht in der Lage, eine sta-
bile, immer gleich bleibende wesentliche Eigen­schaft zu erfassen. (Zum Ver-
58
  Examen vanitatis (Opera II, 1094): „Notum hoc experientia, notum: quia quod compo-
situm est ex pugnantibus inter se continuè qualitatibus, continuè secundum naturam mutari
necesse est, tametsi ipsa singulis momentis mutatio non percipiatur.“
59
 Vgl. Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 43–44).
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§ 5 Zwei Arten des Wissens 59

gleich: Selbst wenn wir über ein perfekt funktionierendes Licht­m ikroskop
verfügen, können wir damit nicht die für einen Gegenstand wesentliche
Molekularstruktur erfassen – ganz einfach, weil ein Lichtmikroskop prinzi-
piell nicht dazu ausreicht.)
Schließlich führt Heinrich noch ein drittes Argument an, das zeigen
soll, dass wir auf natürlichem Weg kein Wissen im strengen Sinne erwerben
können.60 Wenn unser Intellekt tätig wird, so hält er fest, geschieht dies auf
der Grundlage eines Vorstellungsbildes. Dieses können wir aber im Schlaf
ebenso gut haben wie im Wachzustand, im Wahnzustand ebenso gut wie
in einem gesunden Zustand. Wir verfügen über kein Kriterium, das uns
erlauben würde, das eine Vorstellungsbild vom anderen zu unterscheiden.
Daher kann der Intellekt ebenso gut ausgehend von einem bloßen Traum-
gebilde wie von einer realen Darstellung einer Sache ein Modell von dieser
Sache bilden. Und daher ist es immer möglich, dass sich das Modell, das
der Intellekt bildet, gar nicht auf einen existierenden Gegenstand bezieht,
ge­schweige denn auf die wesentlichen Eigenschaften eines solchen Gegen-
standes.
Darauf könnte man sogleich erwidern, dass Heinrich doch selber dafür
argumentiert hat, dass die Sinne im Prinzip korrekt funktionieren und dass
sie im Prinzip korrekte Vorstel­lungsbilder liefern. Ausnahmen sind zwar
möglich, widerlegen aber nicht den Regelfall. Ja, die Ausnahmefälle sind nur
vor dem Hintergrund eines prinzipiell korrekten kognitiven Pro­zesses ver-
ständlich. Warum sollte man so ausgefallenen Fällen wie den Traum- und
den Wahnbildern eine so große Bedeutung schenken?
In der Tat funktionieren die Sinne im Prinzip zuverlässig. Doch das
Problem besteht darin, dass sie nur Aufschluss über die wahrnehmbaren
Eigenschaften eines Gegenstandes geben, nicht über sein Wesen. Doch
genau dieses Wesen muss man erfassen, um erstens zu wissen, was einen
Gegenstand überhaupt zu einem Gegenstand einer bestimmten Art macht,
und um zweitens bestimmen zu können, ob es sich dabei nur um einen
fiktiven Traumgegenstand handelt oder um einen Gegenstand, der tatsäch-
lich existiert oder zumindest existieren kann. Wenn ich – um ein modernes
Beispiel anzuführen – etwa von einem rosaroten Pferd träume, das durch
mein Schlafzimmer fliegt, so helfen mir die Sinne nicht zu entscheiden, ob
es tatsächlich einen solchen Gegenstand gibt, selbst wenn sie optimal funk-
tionieren. Die Sinne haben ja lediglich Eindrücke von Pferden, von rosaroten
und von fliegenden Gegenständen aufgenommen und abgespeichert; diese
Eindrücke bilden die Grundlage für das Vorstellungsbild. Um zu entschei-
den, ob dem Vorstellungsbild tatsächlich etwas in der realen Welt entspricht,

60
 Vgl. Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 44–45).
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60 Zweifel am natürlichen Wissen

muss ich beurteilen, ob es tatsächlich ein Lebewesen gibt (oder zumindest


geben könnte), das gleichzeitig ein Pferd ist, rosarot und fliegend. Dazu bin
ich aber nur in der Lage, wenn ich über ein Wesensmodell verfüge, d.h. über
ein Modell, das mir anzeigt, welche Eigenschaften auf konsistente Weise in
einem Gegenstand vereint sind und ihn zum Gegenstand einer bestimmten
Art machen. Dieses Modell erwerbe ich Heinrich zufolge nicht durch die
Sinne. Diese liefern ja nur eine Reihe von Vorstellungsbildern.
Dazu tritt noch eine weitere Schwierigkeit. Selbst wenn mir die Sinne
ein Vorstellungsbild liefern, das auch einige wesentliche Eigenschaften
anzeigt, kann ich einzig aufgrund der sinnlichen Information nicht ent-
scheiden, welches Bild mir nun solche Eigenschaften anzeigt und welches
nicht. Angenommen, ich verfüge tausendmal über das Vorstellungsbild
von einem wiehernden Pferd und zweimal über jenes von einem fliegenden
Pferd. Die Häu­figkeit des ersten Bildes spricht dafür, dass ich es in einem
Wachzustand gewonnen habe und dass es mir eine Eigenschaft des Pferdes
darstellt, die es tatsächlich hat, vielleicht sogar eine wesentliche Eigen-
schaft. Das zweite Bild scheint ein Ausnahmefall zu sein, der im Schlaf zu-
stande gekommen ist. So weit, so gut. Damit ist aber nur gezeigt, dass das
erste Bild sehr wahrscheinlich eine reale oder gar we­sentliche Eigenschaft
des Pferdes darstellt und dass ich mich auf dieses Bild stützen sollte, wenn
ich wissen will, was ein Pferd ist. Doch mehr als hohe Wahr­scheinlichkeit
ist hier nicht zu gewinnen. Dies reicht aber nicht aus, wenn ein Wissen im
strengen Sinne angestrebt wird. Gemäß den Bedingungen für ein solches
Wissen (W2) muss ja mit Sicherheit erkannt werden, welche Eigenschaften
wesentlich zu einem Gegenstand gehören. Doch genau diese Sicherheit
lässt sich nicht erreichen. Daher betont Heinrich in seiner Kon­k lusion des
dritten Arguments: „Also ist es durch ein solches Modell unmöglich, dass
sicheres Wissen und eine sichere Kenntnis der Wahrheit erworben wird.“61
Hier zeigt sich deutlich, dass Heinrich mit einem starken Wissensbegriff
operiert, der auf Sicherheit bzw. Gewissheit (certitudo) und nicht bloß auf
Wahrscheinlichkeit (probabilitas) abzielt. Weil der Intellekt in den Sinnen
keine absolut sichere Grundlage für seine Tätigkeit hat, kann er ausgehend
von sinnlichen Eindrücken kein sicheres, stabiles Modell für das Wesen
der Ge­genstände bilden. Und daher kann er auch das gesuchte Wissen
nicht erreichen. Diese Überle­g ung führt Heinrich zu einem folgenreichen
Schluss:
„Folgendes ist aber offensichtlich: Wenn ein Mensch sicheres Wissen [erlan­gen] und
eine untrügerische Wahrheit erkennen kann, so ist ihm dies nicht möglich, indem er

  Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 45): „Igitur per tale exemplar impossibile est certam
61

haberi scientiam et certam notitiam veritatis.“


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§ 5 Zwei Arten des Wissens 61

das Modell betrachtet, das durch die Sinne von einer Sache abstrahiert wurde, wie
sehr dieses auch gereinigt und verallgemeinert wurde.“62

Dies ist natürlich ein skeptischer Schluss, der prinzipiell die Möglichkeit
eines natürlichen essentiellen Wissens infrage stellt. Wenn darunter nämlich
ein Wissen verstanden wird, das mithilfe eines sicheren Modells gewonnen
wird, dann ist der Erwerb eines solchen Wissens auf rein natürlichem Weg
prinzipiell ausgeschlossen. Die Beschaffenheit der Wissensobjekte und des
Wissenssubjekts macht ein solches Wissen unmöglich. Vital du Four spitzt
in seiner Zusammenfassung diesen Befund zu, indem er festhält, Wissens-
erwerb auf rein natürlichem Wege führe nur zu einer „nebelhaften Erkennt-
nis“ (in nebulosam cognitionem).63 Wir sto­chern mit den selbst erworbenen
Modellen gleichsam im Nebel herum, weil wir mit ihnen sehr wahrschein-
lich zwar einige wesentliche Eigenschaften der Gegenstände erfassen, aber
nie sicher sein können, dass wir tatsächlich die wesentlichen Eigenschaften
und nur diese Ei­genschaften erfassen. Damit ist freilich nicht gesagt, dass
Wissen überhaupt nicht möglich ist. Zum einen gibt es ja das bereits ge-
nannte Wissen im weiten Sinne, und zum anderen fügt Heinrich (ihm
folgend auch Vital) sogleich hinzu, dass wir durch göttliche Illumination
durchaus Zugang zu einem sicheren und stabilen Modell haben, das uns die
wesentlichen Ei­genschaften der Gegenstände präsentiert. Für Heinrich ist
es entscheidend, dass genau dieses zweite Modell Wissen im strengen Sinne
ermöglicht. Daher ist der skeptische Schluss nur eine Art Zwischenstation
in der ganzen Argumentation. Wie diese Zwischenstation überwun­den und
Wissen gesichert wird, soll in § 7 genauer untersucht werden. Zunächst gilt
es aber festzuhalten, wie Heinrich überhaupt zu einem skeptischen Schluss
gelangt, auch wenn dieser nur einen transitorischen Charakter hat. Drei
Punkte gilt es zu beachten.
Erstens ist zu betonen, dass Heinrich keineswegs auf der Ebene der Sinne
ansetzt, um zu zeigen, dass sie unzuverlässig sind oder widersprüchliche
Informationen liefern. Ein sol­ches Vorgehen, das für akademische Skeptiker
kennzeichnend ist, lehnt er mit explizitem Verweis auf Aristoteles ab, wie
mehrfach gezeigt wurde. Epistemologische Schwierigkeiten tauchen seiner
Ansicht nach erst auf der Ebene des Intellekts auf, denn erst hier stellt sich
die Frage, ob der Intellekt jene Aufgabe, die ihm gestellt wird, mit natür-
lichen Ressourcen über­haupt erfüllen kann. Kann er einzig und allein auf
der Grundlage eines sinnlichen Vorstel­lungsbildes ein sicheres und stabiles
Modell für das Wesen eines Gegenstandes bilden? Nur bezüglich dieser
  Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 45): „Patet etiam quod certam scientiam et infallibilem
62

veritatem, si contingat hominem cognoscere, hoc non contingit ei aspiciendo ad exemplar ab­
stractum a re per sensus quantumqumque sit depuratum et universale factum.“
63
  Vital du Four, Quaestiones de cognitione, q. 8 (ed. Delorme 1927, 327).
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62 Zweifel am natürlichen Wissen

Frage ist Heinrich skeptisch. Dies gilt es zu betonen, um Missverständ-


nisse zu vermeiden. Heinrich ist weder Skeptiker bezüglich der allgemeinen
Zuverlässigkeit unse­res kognitiven Apparates noch radikaler Außenwelt-
Skeptiker. Überspitzt ausgedrückt könnte man sagen, dass er zu einem
Skeptizismus bezüglich der Leistungsfähigkeit des Intellekts gelangt, indem
er die aristotelische Kognitionstheorie gegen sich selbst wendet. Er über-
nimmt nämlich die Grundthesen sowie die Argumentationsmuster dieser
Theorie und konfrontiert sie dann mit der Frage, ob der Intellekt die Funk-
tion wahrnehmen kann, die ihm in dieser Theorie zugedacht wird, nämlich
sicheres Wissen zu erwerben.
Zweitens ist festzuhalten, dass Heinrich nur bezüglich des Wissens im
strengen Sinne einen skeptischen Schluss zieht. An dieses Wissen stellt er
hohe Anforderungen, indem er es essentialistisch bestimmt und Sicherheit
fordert, nicht nur Wahrscheinlichkeit. Hier zeigt sich, dass erst hohe episte-
mische Standards einen Skeptizismus generieren. Auch diesen Punkt gilt es
zu betonen, um Missverständnisse zu vermeiden. Heinrich ist weder bezüg-
lich des All­tagswissens noch hinsichtlich des empirischen Wissens von kon-
kreten Sachverhalten skep­tisch. Für dieses Wissen spielt die Illuminations-
theorie als Ausweg aus dem Skeptizismus auch keine Rolle.64 Daher wäre
es unzulässig, in der Illuminationstheorie eine Erklärung für jede Art von
Wissen zu sehen.
Schließlich ist drittens zu bemerken, dass die ganze skeptische Debatte
auf einem me­taphysischen Fundament beruht. Dies ist keineswegs erstaun-
lich. Wie in der gegenwärtigen Debatte immer wieder betont wird, generiert
erst der metaphysische Realismus einen Skepti­zismus. Denn erst wenn be-
hauptet wird, dass es eine materielle Welt gibt, die an sich eine bestimmte
wesentliche Struktur hat, stellt sich die Frage, ob und wie wir ein Wissen von
dieser Struktur gewinnen können.65 Dies gilt auch für Heinrichs skeptische
Argumentation. Erst wenn man wie er davon ausgeht, dass es Gegenstände
mit bestimmten wesentlichen Eigenschaften gibt, taucht die Frage auf, ob
und wie wir durch natürliche kognitive Prozesse ein stabiles Wissen von
diesen Eigenschaften gewinnen können. Man könnte nun auf zwei Arten
versuchen, die­ser Frage zu entgehen. Die radikale Methode würde darin
bestehen, einfach die metaphysi­sche Annahme aufzugeben, dass es tatsäch-
lich essentielle Eigenschaften gibt, auf die sich unser Wissen beziehen sollte.
Dann würde man sich einfach auf das Wissen im weiten Sinne beschränken,
dessen Möglichkeit auch Heinrich unumwunden zugesteht. Doch Heinrich
steht dieser Weg nicht offen, da es für ihn eine metaphysische Kernthese ist,
64
 Heinrich hält ausdrücklich fest, dass für Wissen im weiten Sinne keine besondere Illumi-
nation erforderlich ist. Vgl. Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 31).
65
 So argumentiert prominenterweise Nagel 1986, 90–92.

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§ 6 Analyse der kognitiven Abstraktion 63

dass Dinge in der Welt ein Wesen haben und dass sie kraft dieses Wesens
eine synchrone und diachrone Identität besitzen.66 Erst das Vorhandensein
bestimmter wesentlicher Eigenschaften und Strukturen in der Welt legt
seiner Ansicht nach fest, welche Dinge überhaupt möglich sind und welche
nicht. Mit diesem Essentialismus steht Heinrich freilich nicht isoliert da.
Auch viele seiner Zeitgenossen akzeptieren ihn, versuchen aber gleichzeitig,
dem skeptischen Problem zu ent­rinnen, indem sie einen anderen Ausweg
wählen, nämlich eine Verteidigung der These, dass das Wesen der Dinge auf
rein natürlichem Weg sicher und stabil erkannt werden kann. Es gilt nun zu
untersuchen, warum Heinrich glaubt, dass eine solche Verteidigung nicht
gelingen kann.

§ 6 Eine Analyse der kognitiven Abstraktion

Seit der Rezeption der aristotelischen Wahrnehmungs- und Intellekttheorie


in der Mitte des 13. Jhs. versuchten zahlreiche mittelalterliche Autoren zu
erklären, wie ausgehend vom sinn­lichen Zugang zu individuellen Gegen-
ständen eine Erkenntnis wesentlicher Eigenschaften und Strukturen
gewonnen werden kann. Ein prominenter Erklärungsversuch stammt von
Thomas von Aquin, der immer wieder betont, das Erfassen des Wesens sei
auf natürlichem Weg möglich. Dieser Versuch stützt sich auf eine zentrale
These: die Abstraktionsthese. Thomas behauptet nämlich, dass der mensch-
liche Intellekt ausgehend von sinnlichen Vor­stellungsbildern das allgemeine
Wesen eines Gegenstandes erfassen kann. Dies gelingt dem Intellekt, indem
er von allen materiellen Bedingungen, die einen Gegenstand zu etwas
Indivi­duellem machen, absieht und eine kognitive Entität (die intelligible
Species) bildet, die nur noch das allgemeine Wesen präsentiert. Die Abs-
traktion besteht genau im Absehen von allen materiellen, individuierenden
Bedingungen und im „Herauslösen“ des Wesens aus dem Vor­stellungsbild.67
Thomas behauptet sogar, dass diese Abstraktion im Prinzip immer erfolg-
reich ist.68 Der menschliche Intellekt ist nämlich so beschaffen, dass er das
Wesen im Prinzip kor­rekt erfasst. Dies bedeutet natürlich nicht, dass sämt-

66
 Auf die fundamentale Rolle des Essentialismus hat bereits Paulus 1938, 12–13, aufmerk-
sam gemacht: „La métaphysique, telle qu’il [sc. Henri de Gand] la pratique, ne débute point
vraiment par la saisie de l’être objectif, mais par la saisie de l’idée d’être, et son projet consiste
[...] à chercher quels objets de pensée se rangent en son extension, quels caractères conviennent
à ces objets a priori, la question ne se posant qu’ensuite d’énoncer les rapports qu’ils ont aux
choses concrètes.“
67
 Vgl. STh I, q. 85, art. 1, ad 2.
68
 Vgl. STh I, q. 85, art. 6, corp., und Super Boetium de Trinitate, q. 5, art. 3 (ed. Leonina L,
147–149); eine detaillierte Analyse dieser umstrittenen These bietet Kretzmann 1991.
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64 Zweifel am natürlichen Wissen

liche Irrtümer ausgeschlossen sind. Doch diese betreffen nicht das Erfassen
des Wesens, sondern nur die Urteile, die über die konkrete Beschaffenheit
eines Gegenstandes gefällt werden. Wenn ich etwa das Wesen des Apfels aus
diesem oder jenem Vorstellungsbild abstrahiere, kann ich Thomas zufolge
beim bloßen Erfas­sen des Wesens keinen Fehler begehen. Natürlich kann
es sein, dass ich das Wesen zunächst nur undeutlich erfasse und deshalb
noch einige Überlegungen anstellen muss, um genau bestimmen zu können,
welches Wesen ich erfasst habe. Doch im Kern habe ich das Wesen korrekt
erfasst. Erst wenn ich dann Urteile über den konkreten Gegenstand fälle,
in dem das Wesen instantiiert ist, können Fehler auftauchen. So begehe ich
etwa einen Fehler, wenn ich urteile, dass der vor mir liegende Apfel Federn
hat. Dann fälle ich nämlich das abwegige Ur­teil, dass das Wesen des Ap-
fels in etwas vorkommt, was auch noch die Eigenschaft des Gefie­dertseins
hat – eine unmögliche Verbindung. Doch das bloße Erfassen des Wesens,
das mit­h ilfe der intelligiblen Species gelingt, ist davon nicht betroffen.
Die Abstraktionstheorie ist natürlich weitaus komplexer, als sie in
dieser gerafften Darstellung erscheint.69 Aber bereits die kurze Zusam-
menfassung zeigt, dass sie auf mindes­tens drei gehaltvollen Thesen beruht.
Erstens setzt sie eine Essentialismusthese voraus. Es wird angenommen,
dass in jedem Gegenstand ein allgemeines Wesen instantiiert ist und dass
der Intellekt von Natur aus imstande ist, dieses Wesen zu erfassen, indem
er von allen indivi­duierenden Bedingungen absieht. Zweitens wird eine
Instrumentalitätsthese vorausgesetzt. Thomas nimmt an, dass der mensch-
liche Intellekt ein geeignetes kognitives Instrument – die intelligible Spe-
cies – bilden kann, durch das ihm das allgemeine Wesen zugänglich wird.
Drittens schließlich setzt er eine Infallibilitätsthese voraus. Der Intellekt
ist seiner Ansicht nach von Natur aus so beschaffen, dass er das allgemeine
Wesen unter optimalen Bedingungen korrekt erfasst und sich in Wesens-
urteilen nicht irrt.
Genau diese drei Thesen erlauben es Thomas, die Ansicht zu ver-
teidigen, dass der menschliche Intellekt das Wesen eines Gegenstandes
von Natur aus erfassen kann, ohne dabei auf eine besondere Illumination
angewiesen zu sein.70 Doch seine Verteidigung steht und fällt natürlich

69
 Ich diskutiere sie ausführlich in Perler 2002, 62–70; siehe auch Pasnau 2002, 310–318, und
Stump 2003, 264–276.
70
  Zumindest ist keine besondere Illumination erforderlich. Thomas beruft sich nur auf eine
allgemeine Illumination, um erfolgreiche Erkenntnis zu erklären. Denn nur weil der mensch-
liche Intellekt in einer Partizipationsrelation zu Gott steht, ist er zu korrekter Abstraktion
fähig. Thomas’ Theorie ist daher nicht eine rein naturalistische Theorie, d.h. eine Theorie, die
sich nur auf natürliche kognitive Vermögen und deren Aktivierung beruft. Sie ist immer in
eine Schöpfungstheorie eingebettet und setzt eine Relation zum Schöpfer als eine notwendige
Bedingung für erfolgreiche Erkenntnis voraus; vgl. zu dieser Relation ausführlich Smit 2001.
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§ 6 Analyse der kognitiven Abstraktion 65

mit der Gültigkeit der drei Thesen. Wie überzeugend sind nun diese The-
sen? Mit dieser Frage setzt sich Heinrich von Gent in seiner Analyse des
Abstraktionsprozesses ausein­ander. Er richtet sich dabei nicht ausschließ-
lich oder explizit gegen Thomas von Aquin, son­dern konzentriert sich auf
die zu seiner Zeit dominante Standardtheorie. Die wichtigsten Ele­mente
dieser Theorie stimmen aber weitgehend mit jenen überein, die man in
den Texten des Thomas findet. Daher stellt Thomas’ Theorie eine gute
Kontrastfolie dar, um zu verdeutli­chen, aus welchen Gründen Heinrich
die These, dass wir mit rein natürlichen Mitteln ein si­cheres und stabiles
Wissen vom Wesen der Dinge gewinnen können, so problematisch er­
scheint.
In den frühesten, um 1276 entstandenen Schriften begnügt sich Hein-
rich damit, die Abstraktionstheorie zusammenzufassen, ohne sie einer
genauen Analyse oder gar einer Kritik zu unterziehen.71 Erst in späteren
Quaestionen (ab 1279) formuliert er seine Kritik, indem er den Abstrakti-
onsprozess genauer untersucht und die Frage aufwirft, welche kognitiven
Enti­täten in diesem Prozess eine Rolle spielen.72 Dabei setzt er bei einem
Vergleich der Sinne mit dem Intellekt an. Wenn jemand einen materiellen
Gegenstand wahrnimmt, so hält Heinrich fest, werden die Sinne der-
art von diesem Gegenstand affiziert, dass sie von einem potentiellen in
einen aktuellen Zustand überführt werden.73 Schaue ich etwa einen Apfel
an, der vor mir liegt, werden meine Augen derart durch Lichtstrahlen
affiziert, dass sie vom Zustand des bloß potentiellen Sehens in den Zu-
stand des aktuellen Sehens übergehen. Entscheidend ist dabei, dass es ein
Affiziert-werden im strengen Sinne gibt, denn den Augen wird tatsächlich
etwas eingeprägt. Dies stellt Heinrich zufolge keine Schwierigkeit dar,
denn materielle Sinnesor­gane können durchaus materiell affiziert werden.
Auf der Grundlage einer materiellen Verän­derung entsteht dann ein Vor-
stellungsbild, das im Gehirn existiert und somit ebenfalls von materieller
Natur ist. Erst jetzt kann der Intellekt aktiv werden. Wie die Sinne muss
auch er von einem potentiellen in einen aktuellen Zustand überführt
werden. Doch dies kann nicht dadurch geschehen, dass der Intellekt im
wörtlichen Sinne affiziert wird. Da er von immate­rieller Natur ist, kann
ihm nichts eingeprägt werden. Heinrich betont daher, dass der Intellekt
keine „eingeprägte Species“ (species impressiva) aufnehmen kann, sondern

71
 In Summa, art. 1, q. 5 (ed. Wilson, 124–126) begnügt er sich damit, die Kernthesen dieser
Theorie kurz darzustellen.
72
 Gemäß der Werkeinteilung von Marrone 1985 handelt es sich dabei um die zweite Phase.
Eine detaillierte Entwicklungsgeschichte bietet Nys 1949, 51–98.
73
 Vgl. Quodl. IV, q. 21 (ed. Badius, 136vG).
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66 Zweifel am natürlichen Wissen

nur eine „ausge­prägte Species“ (species expressiva).74 Nur diese bewirkt,


dass er von einem potentiellen in einen aktuellen Zustand übergeht und
etwas erkennt.
Offensichtlich besteht eine Disanalogie zwischen den Sinnen und dem In-
tellekt. Der Intellekt wird auf andere Weise aktualisiert als die Sinne. Doch
was heißt es, dass er nur eine „ausgeprägte Species“ aufnehmen kann? Hein-
rich führt die Rede von einem Ausgeprägt-werden bereits auf der Ebene der
Sinne ein, indem er betont, dass die Sinne nicht nur materiell affiziert werden,
sondern „dass darüber hinaus der potentiell Wahrnehmende durch das Auf-
nehmen der ausgeprägten Species aktuell wahrnehmend wird – nicht insofern
diese in einem Subjekt existiert, sondern insofern sie in einem Erkennenden
ist.“75 Erläutern wir diese kryptische Aussage anhand des Apfel-Beispiels.
Wenn ich den Ap­ fel anschaue, werden meine Augen einerseits materiell
affiziert; ihnen wird im wörtlichen Sinne etwas eingeprägt. Durch diesen
Vorgang wird ihnen andererseits aber auch eine be­stimmte Information über-
mittelt, nämlich eine Information über die Farbe des Apfels. Somit lassen sich
streng genommen zwei Vorgänge unterscheiden: ein materieller Vorgang,
durch den etwas „eingeprägt“ wird, und ein Vorgang der Informationsüber-
mittlung, durch den eine Information an den Wahrnehmenden weitergeleitet
bzw. in ihm „ausgeprägt“ wird. Freilich handelt es sich hier nicht um zwei
getrennte Vorgänge. Vielmehr wird genau dadurch, dass die Augen materiell
affiziert werden, eine Information übertragen. (Zum Vergleich: Wenn wir
eine Nachricht auf einem Blatt Papier hinterlassen, wird genau dadurch, dass
das Papier mit Tintenzeichen gefüllt wird, eine Nachricht übermittelt. Die
materielle Veränderung des Pa­ piers dient der Informationsübermittlung.)
Dass Heinrich auf eine Informationsübermittlung abzielt, zeigt sich darin,
dass er betont, die „ausgeprägte Species“ – also die Information – sei in der
wahrnehmenden Person, insofern diese erkennend ist. Wir haben es hier mit
einer be­stimmten Art von Präsenz zu tun, die man kognitive Präsenz nennen
könnte und von einer rein materiellen Präsenz unterscheiden sollte. Die In-
formation befindet sich nämlich nicht einfach derart in der wahrnehmenden
Person, wie etwa die Eigenschaft, braunhaarig zu sein, in ihr ist; eine solche
Eigenschaft hat lediglich eine materielle Präsenz und löst keinen kognitiven
Prozess aus. Heinrich betont aber ausdrücklich, die „ausgeprägte Spe­cies“
befinde sich nicht einfach in der wahrnehmenden Person wie in einem Sub-

74
  Quodl. IV, q. 21 (ed. Badius, 136vH): „Intellectus vero materialis ab obiecto nullam
recipit speciem impressivam, sed solum expressivam, qua de potentia intelligente fit actu in-
telligens.“ Vgl. auch Quodl. IV, q. 8 (ed. Badius, 98rQ) und Quodl. V, q. 14 (ed. Badius, 174vZ
und 177rR).
75
  Quodl. IV, q. 21 (ed. Badius, 136vH): „... ut ulterius potentia sentiens fiat actu sentiens
receptione speciei expressivae: non ut in subiecto sed in cognoscente.“
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§ 6 Analyse der kognitiven Abstraktion 67

jekt. Sie sei vielmehr derart in ihr, dass der Person eine bestimmte Informa-
tion kognitiv präsent ist und dass sie dadurch auch zu einer Erkenntnis fähig
ist. (Wiederum zum Vergleich: Die Nachricht auf dem Blatt Papier ist nicht
einfach materiell präsent, sondern für jeden, der über kognitive Fähigkeiten
verfügt, auch kognitiv präsent. Jeder, der sie liest, kann sie unmittelbar ver-
stehen und dadurch eine bestimmte Information erfassen.)
Versteht man die Unterscheidung von „eingeprägter“ und „ausgeprägter“
Species auf diese Weise, zeigt sich, dass Heinrich die rein materielle Ver-
änderung von der Informations­aufnahme unterscheiden will. Dies ist von
entscheidender Bedeutung für ein Verständnis der intellektuellen Tätigkeit.
Heinrich betont ja, dass der Intellekt nur eine „ausgeprägte“ Species aufneh-
men kann. Modern ausgedrückt heißt dies: Der Intellekt kann nur eine In-
formation aufnehmen, aber er kann nicht materiell verändert werden. Etwas
Immaterielles ist nämlich prinzipiell nicht materiell veränderbar. Genau
darin liegt der entscheidende Unterschied zwischen dem Intellekt und den
Sinnen. Freilich stellt sich dann sogleich die Frage, wie die Informationsauf-
nahme erfolgen soll. Auf diese Frage gibt Heinrich eine konzise Antwort:
Die Informationsaufnahme geschieht nicht durch die Herstellung einer be-
sonderen kognitiven Entität, einer intelligiblen Species, sondern einzig und
allein dadurch, dass der tätige Intellekt die Vorstellungsbilder erfasst, die
bereits einen Informationsgehalt haben. Er erfasst sie aller­dings nicht unter
einem partikulären oder individuellen Aspekt, sondern unter einem univer­
salen.76 Der Intellekt konzentriert sich also auf den universalen Informations-
gehalt der Phantas­mata. Heinrich betont daher, dass das universale Objekt,
das der Intellekt erkennt, einzig und allein in den Vorstellungsbildern ist.77
Konkret heißt dies: Wenn ich dank der in den Sinnen „einge­prägten“ Species
eine Information über den vor mir liegenden Apfel habe, erfasse ich einfach
das Vorstellungsbild vom Apfel, konzentriere mich dabei aber nur auf die
allgemei­nen Charakteristika des Apfels. Bildlich gesprochen könnte man
sagen, dass ich aus dem konkreten Vorstellungsbild eine Information über
die allgemeinen, wesentlichen Eigenschaf­ten des Apfels herausziehe.
Doch wie kann ich einen universalen Gehalt gewinnen? Wie ist das
„Herausziehen“ zu verstehen? Auf diese kniffligen Fragen gibt Heinrich
folgende Antwort:

76
  Quodl. V, q. 14 (ed. Badius, 176vO): „Intellectus autem possibilis speciem impressam
nullam recipit a phantasmate, sed actione agentis facientis phantasmata quantum est de se
solum in potentia moventia intellectum esse actu moventia et existentia in eo ut in cognos-
cente solum, et hoc sub ratione universalis quod idem re est ut est in cognoscente, scilicet
imaginativa sub ratione particularis, et in intellectu sub ratione universalis ...“
77
  Quodl. V, q. 14 (ed. Badius, 177vR): „... et hoc quemadmodum universale obiectum in-
tellectui nostro non alibi existit nisi in phantasmate ...“
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68 Zweifel am natürlichen Wissen

„... die Species, die das universale Vorstellungsbild ist, wird nicht derart vom par-
tikulären Vorstellungsbild abstrahiert, dass sie real abgetrennt oder erzeugt oder
im Intellekt vervielfältigt wird, und zwar so, dass sie diesen dazu bringen würde,
im Intellekt einen Verstehensakt hervorzubringen. Sie wird von ihm nur durch eine
virtuelle Abtrennung von den materiellen und partikulären Bedingungen und durch
eine Absonderung dieser Bedingungen abstrahiert...“78

Offensichtlich versteht Heinrich unter dem Erfassen des universalen Ge-


halts das Abtrennen aller materiellen Bedingungen aus dem Vorstellungs-
bild – genau jener Bedingungen, die ei­nen Gegenstand zu etwas Konkretem
machen. Dies scheint auf den ersten Blick keine allzu erhellende Erklärung
zu sein. Was ist denn unter einer „virtuellen Abtrennung“ der materiel­len
Bedingungen im Gegensatz zu einer realen Abtrennung zu verstehen? Und
wie ist es überhaupt möglich, aus einem Vorstellungsbild etwas abzutren-
nen? Angesichts dieser Fragen ist es nicht erstaunlich, dass Heinrich vor-
geworfen wurde, seine Erklärung sei unverständlich oder gar inkohärent.
Sie fordere nämlich, so stellte L. Spruit kritisch fest, dass das Vorstellungs-
bild, das definiti­onsgemäß immer einen individuellen Gegentand darstellt,
als etwas Universales aufgefasst werde. Die Rede von einem „universalen
Vorstellungsbild“ – wie auch immer dieses gewon­nen werde – sei nichts
anderes als eine contradictio in terminis.79
Die Erklärung wäre in der Tat selbstwidersprüchlich, wenn sie fordern
würde, dass ein Vorstellungsbild in derselben Hinsicht individuell und
universal sein muss. Doch Heinrich tappt nicht in diese Falle. Er betont
vielmehr, dass der Intellekt beim Erfassen des Vorstel­lungsbildes von den
materiellen und individuierenden Bedingungen absieht – freilich nicht real
(der Intellekt schneidet ja nichts vom Vorstellungsbild ab), sondern „virtu-
ell“, d.h. indem er sich auf den universalen Gehalt des Vorstellungsbildes
konzentriert. Ein Beispiel möge dies verdeutlichen. Wenn wir durch einen
Garten spazieren, können wir diesen als ein konkretes Stück Landschaft mit
einzelnen Bäumen, Blumen usw. wahrnehmen, und wir kön­nen die einzel-
nen Dinge so beschreiben, wie sie sich uns in dieser Situation darbieten. Wir
können den Garten aber auch nur mit Bezug auf seine allgemeine Struktur
beschreiben, etwa indem wir das gegenseitige Verhältnis von Bäumen und
Blumen oder die Menge der Grünflä­chen festhalten. Genau diese zweite Art
von Beschreibung gibt ein Gartenarchitekt, der einen Plan des Gartens er-

78
  Summa, art. 58, q. 2, ad 2 (ed. Badius, 130rG): „... nec ipsa species quae est phantasma
universale, abstrahitur a phantasmate particulari per modum separationis realis aut genera-
tionis aut multiplicationis in intellectu: ut quem informat ad eliciendum in intellectu actum
intellectionis, sed solum per quamdam separationem virtualem conditionum materialium et
particularium, et illarum sequestrationem ab ipso ...“ Siehe auch Quodl. IV, q. 8 (ed. Badius,
97rM).
79
  Vgl. Spruit 1994, 210.
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§ 6 Analyse der kognitiven Abstraktion 69

stellt. Er interessiert sich nicht für die Farbe dieser oder jener Blume, son­dern
nur für die allgemeine Struktur des Gartens. In seiner Beschreibung trennt
er freilich nichts vom Garten ab und ignoriert auch nicht ganze Bereiche.
Er konzentriert sich einfach auf allgemeine geometrische Muster und lässt
Einzelheiten weg. Ähnlich ist nun auch die „virtuelle“ Abtrennung zu ver-
stehen, die der Intellekt vornimmt, wenn er das Vorstellungsbild erfasst. Er
konzentriert sich einfach auf die allgemeine Struktur dessen, was in diesem
Bild dargestellt wird, und lässt Einzelheiten weg. So gelingt es ihm, das Bild
in universaler Hin­sicht zu erfassen. Dies ist möglich, weil im Individuellen
die universalen Elemente immer schon enthalten sind. Sie müssen lediglich
sichtbar gemacht werden.
Heinrich präsentiert somit keine selbstwidersprüchliche Erklärung, son-
dern eine Er­k lärung, die auf die Unterscheidung verschiedener Aspekte oder
Hinsichten abzielt. Verkürzt ausgedrückt könnte man sagen: Entscheidend ist
für ihn nicht nur, welches Vorstellungsbild erfasst wird, sondern wie es erfasst
wird. Aufgrund dieser Tatsache hält Heinrich es für über­flüssig, eine beson-
dere intelligible Species anzunehmen. Die Species ist im Grunde nichts anderes
als das Vorstellungsbild, das in universaler Hinsicht erfasst wird. Freilich setzt
Hein­rich dabei voraus, dass der Intellekt über die Fähigkeit verfügt, diese
Hinsicht zu erfassen und damit auch das Wesen zu erkennen.80 Er macht somit
nicht nur eine starke metaphysi­sche Annahme (nämlich dass die Dinge uni-
versale Aspekte haben, die in den Vorstel­lungsbildern präsent sind), sondern
eine ebenso starke psychologische Annahme (nämlich dass der Intellekt von
Natur aus dazu disponiert ist, die universalen Aspekte zu erfassen).
Wie verhält sich nun diese Erklärung des Erkenntnisvorganges zu jener,
die von den Vertretern der traditionellen Abstraktionstheorie, unter ihnen
Thomas von Aquin, geboten wird? Diese Frage lässt sich am besten beant-
worten, indem man Heinrichs Erklärung mit den drei Thesen konfrontiert,
auf denen die traditionelle Theorie beruht. Wie bereits erwähnt, setzt die
Abstraktionstheorie erstens eine Essentialismusthese voraus. Dieser These
stimmt Hein­ rich zweifellos zu. Er betont ja, das Erkenntnisobjekt des
Intellekts sei nicht der individuelle Gegenstand mit seinen einzelnen Ei-
genschaften, sondern das allgemeine Wesen. Diese These wird von Heinrich
sogar metaphysisch fundiert, denn er betont, jeder Gegenstand habe in
sich eine wesentliche Struktur, die durch eine geeignete kognitive Tätigkeit
sichtbar gemacht wer­den könne.81 Es ist somit nicht unser Intellekt, der eine

80
 In Quodl. IV, q. 8 (ed. Badius, 97vN-98rP) beschreibt er diesen Vorgang als ein Zwei-
Schritt-Verfahren. In einem ersten Schritt wird auf noch unklare und ungenaue Weise der
universale Aspekt aus dem Vorstellungsbild herausgelöst. In einem zweiten Schritt wird das
Wesen dann klar erfasst, und es wird eine Definition für den Gegenstand gebildet.
81
  Vgl. zu diesem universalienrealistischen Fundament Paulus 1938, 67–135.
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70 Zweifel am natürlichen Wissen

bestimmte Struktur auf die Gegens­tände projiziert. Vielmehr ermöglicht


die wesentliche Struktur, die in den individuellen Ge­genständen selbst vor-
handen ist, dass unser Intellekt eine solche Struktur erfassen kann.
Schwieriger verhält es sich mit der Instrumentalitätsthese. Heinrich
stimmt zu, dass der Intellekt ein kognitives Hilfsmittel benötigt, um Ge-
genstände zu erfassen. Dabei handelt es sich aber nicht um eine intelligible
Species, sondern nur um das universalisierte Vorstel­lungsbild. Dass zusätz-
lich zum Vorstellungsbild eine intelligible Species gebildet wird, ist für ihn
aus zwei Gründen ausgeschlossen, wie sich gezeigt hat. Erstens kann dem
Intellekt keine besondere kognitive Entität eingeprägt werden – ganz ein-
fach, weil dem immateriellen Intel­lekt prinzipiell keine Entität eingeprägt
werden kann.82 Er kann natürlich einen Informationsge­ halt aufnehmen,
aber dies ist etwas anderes als das Aufnehmen oder Einprägen einer beson-
deren Entität. (Zum Vergleich: Wenn ich jemandem zuhöre und verstehe,
was er sagt, nehme ich natürlich Informationen auf. Und natürlich gibt es
dann eine Gehirnaktivität. Aber ich nehme keine besondere Entität auf, die
Informationen transportieren würde. Man muss hier das kognitive Aufneh-
men sorgfältig von einem materiellen Aufnehmen unterschei­den.) Zweitens
ist für Heinrich die Postulierung einer intelligiblen Species überflüssig, weil
bereits im Vorstellungsbild ein universaler Gehalt steckt. Dieser muss vom
Intellekt lediglich „herausgelöst“ werden.
Die Ablehnung eines besonderen kognitiven Hilfsmittels im Intellekt hat
eine unmit­telbare Auswirkung auf die dritte These, die Infallibilitätsthese.
Wenn es nämlich keine intel­ligible Species im Intellekt gibt, die das „reine“
Wesen darstellt, und wenn der Intellekt stets auf die Vorstellungsbilder zu-
rückgreifen muss, dann ist er in seiner Tätigkeit von diesen Bil­dern abhängig.
Das Erfassen des universalen Aspekts gelingt nur so gut oder so schlecht, wie
es das jeweilige Vorstellungsbild erlaubt. Doch Vorstellungsbilder können
defizitär oder un­vollständig sein. Daher ist keine Infallibilität garantiert.
An diesem Punkt könnte ein Verteidiger der traditionellen Abstraktions-
theorie sogleich einwenden, dass die Abhängigkeit von den Vorstellungs-

82
 Spruit 1994, 211, wirft Heinrich vor, er habe ein naives Verständnis von Einprägen,
wenn er einfach annehme, eine intelligible Species müsse auf mechanische Weise eingedrückt
werden; Heinrich attackiere eine Species-Theorie, die niemand im 13. Jh. ernsthaft vertreten
habe. Dagegen ist einzuwenden, dass Heinrich auf ein fundamentales Problem aufmerksam
macht: Wie kann dem Intellekt überhaupt etwas eingeprägt werden, wenn er doch immateriell
ist? Selbst wenn die intelligiblen Species ontologisch als immaterielle „Qualitäten der Seele“
bestimmt werden (wie etwa von Thomas von Aquin), stellt sich immer noch die Frage, wie
einem immateriellen Intellekt eine immaterielle Qualität eingeprägt werden kann. Und wie
kann der Intellekt durch derartige Qualitäten verändert werden? Eine Veränderung kann auf
der Ebene des Intellekts nur kognitiver Art sein, d.h. der Intellekt kann nur Informationen
erfassen und gegebenenfalls aufnehmen.
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§ 6 Analyse der kognitiven Abstraktion 71

bildern doch die Infallibilität nicht infrage stellt. Jeder, der die empiristische
Grundthese einräumt, dass Erkenntnis auf der Grundlage von Sinneswahr-
nehmung gewonnen wird, muss doch zugestehen, dass Vorstel­lungsbilder
die Basis für eine Abstraktionsleistung darstellen. Die Frage ist hier nur,
wie die Abstraktion auf dieser Basis erfolgt. Folgt man Thomas von Aquin,
kann man daran festhal­ten, dass die Abstraktion ausgehend von den Vor-
stellungsbildern erfolgt und trotzdem infalli­bel ist. Denn wie veränderlich
und partiell die Vorstellungsbilder auch sein mögen, dem In­tellekt gelingt
es im Prinzip immer (wenn vielleicht auch nicht auf Anhieb), die allgemeine
Struktur der Gegenstände korrekt zu abstrahieren. Er ist, wie es E. Stump
treffend ausgedrückt hat, mit einer Garantie zu erfolgreicher kognitiver Fä-
higkeit versehen, ähnlich wie ein gut konstruiertes Auto mit einer Garantie
zu erfolgreichem Fahren ausgestattet ist.83
Genau hier treten nun die Differenzen zwischen Thomas und Heinrich
zutage. Aus der Sicht Heinrichs stellt sich nämlich die Frage, was uns dazu
berechtigt, eine solche Garantie anzunehmen. Warum sollten wir davon aus-
gehen, dass der Intellekt von sich aus die allge­meine Struktur eines Gegenstan-
des und damit sein Wesen korrekt erfassen kann. Gerade die Tatsache, dass er
stets auf Vorstellungsbilder zurückgreifen muss, zeigt doch, dass es mehrere
Irrtumsquellen gibt – genau jene Irrtumsquellen, die in § 5 bereits ausführlich
dargestellt wur­den. Erstens verändern sich die Gegenstände und damit auch
die Vorstellungsbilder, die wir von ihnen gewinnen. Es besteht keine Garantie
dafür, dass der Intellekt aus all den wechsel­haften Bildern ein stabiles Modell
gewinnt. Zweitens ist auch das Vorstellungsvermögen wechselhaft und bringt
je nach Situation und Disposition unterschiedliche Vorstellungsbilder hervor.
Wenn sich der Intellekt auf eines dieser Bilder konzentriert und es in univer-
saler Hin­sicht erfasst, kann es sehr wohl sein, dass er nur einen kleinen Aus-
schnitt erfasst. Drittens schließlich können Vorstellungsbilder auch im Traum
oder in Halluzinationen entstehen. Dann erfasst der Intellekt ein Bild, dem
nichts in der materiellen Welt entspricht. Kurzum: Solange der Intellekt sich
nur auf die Vorstellungsbilder stützt und nur diese in universaler Hinsicht
erfasst, kann sich immer ein Irrtum einschleichen. Genau aus diesem Grund
gelangt Heinrich zu dem Schluss, der bereits in § 5 zitiert wurde:
„Folgendes ist aber offensichtlich: Wenn ein Mensch sicheres Wissen [erlan­gen] und
eine untrügerische Wahrheit erkennen kann, so ist ihm dies nicht möglich, indem er
das Modell betrachtet, das durch die Sinne von einer Sache abstrahiert wurde, wie
sehr dieses auch gereinigt und verallgemeinert wurde.“84

  Vgl. Stump 1991, 149–150.


83

  Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 45): „Patet etiam quod certam scientiam et infallibilem
84

veritatem, si contingat hominem cognoscere, hoc non contingit ei aspiciendo ad exemplar ab­
stractum a re per sensus quantumqumque sit depuratum et universale factum.“
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72 Zweifel am natürlichen Wissen

Wie sehr der Intellekt sich auch auf den universalen Gehalt eines Vor-
stellungsbildes konzent­riert, es ist und bleibt wechselhaft und bietet kein
Modell, das auf untrügerische und stabile Weise die wesentliche Struktur
eines Gegenstandes darstellt. Erst wenn dieses Modell geprüft und stabili-
siert wird, kann sichere Erkenntnis gewonnen werden.
Damit behauptet Heinrich allerdings nicht, dass mithilfe des univer-
salisierten Vor­stellungsbildes überhaupt keine Einsicht in die wesentliche
Struktur eines Gegenstandes ge­wonnen wird. Es gilt hier, sorgfältig zwei
Thesen voneinander zu unterscheiden. Gemäß einer starken These gelingt
es dem menschlichen Intellekt überhaupt nicht, auf natürlichem Weg we-
sentliche Strukturen zu erfassen; er hat dann nur Zugang zu individuellen
Gegenständen mit wahrnehmbaren Eigenschaften und daher überhaupt
keine Erkenntnis von ihrem Wesen. Würde Heinrich diese These vertreten,
würde er eine ähnlich Linie verfolgen wie später Lo­cke, der bekanntlich
behauptete, die reale Essenz der Dinge sei dem menschlichen Geist ver-
schlossen. Davon zu unterscheiden ist eine schwächere These, der zufolge
der menschliche Intellekt zwar imstande ist, wesentliche Strukturen zu
erfassen, aber auf natürlichem Weg kein sicheres und stabiles Modell für
diese Strukturen bilden und daher auch keine sichere Erkenntnis erwerben
kann. Es ist zu betonen, dass Heinrich nur diese schwächere These ver­
tritt,85 denn er behauptet nicht, wesentliche Strukturen seien dem Intellekt
prinzipiell verschlos­sen. Seine ganzen Ausführungen zur Art und Weise,
wie der Intellekt die Vorstel­lungsbilder erfasst und sich auf den univer-
salen Gehalt konzentriert, dienen ja einer Erklärung des Zugangs, den
der Intellekt zu den wesentlichen Strukturen hat. Was er bestreitet, ist die
These, dass der Intellekt bloß dadurch, dass er punktuell einen Zugang zu
wesentlichen Strukturen hat, schon über eine sichere Erkenntnis verfügt.
Ein moderner Vergleich möge diesen zentralen Punkt veranschaulichen.
Nehmen wir einmal an, eine Person möchte eine Fremdsprache lernen.
Sie beginnt nun, einfache Texte in dieser Sprache zu lesen, Gesprächen zu-
zuhören und sich vielleicht nach und nach auch selber an Gesprächen in
dieser Sprache zu beteiligen. So eignet sich diese Person schrittweise eine
Kenntnis der Sprache an. Sie hat sogar Zugang zur „wesentlichen Struktur“
dieser Sprache, d.h. zur grammatischen Struktur, denn in all den Texten
und Ge­sprächen, die sie gelesen und gehört hat, manifestiert sich ja diese
Struktur. Trotzdem hat diese Person noch keine sichere Kenntnis von dieser
Sprache erworben. Es könnte ja sein, dass sie auch grammatische Fehler,
die sie gehört hat, unkritisch zur Struktur der Sprache gezählt hat. Erst

 Dies ist gegenüber Pasnau 1995, 63 und 72, zu betonen, der Heinrich die stärkere These
85

zuschreibt und ihn explizit mit Locke vergleicht.


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§ 6 Analyse der kognitiven Abstraktion 73

wenn sie sich in ein Grammatik-Lehrbuch vertieft und das Gehörte an


dieser Gramma­tik misst, kann sie die Fehler aussondern. Erst dann verfügt
sie über eine sichere, durch ein grammatisches Modell gestützte Kenntnis
dieser Sprache. Ähnlich verhält es sich nun auch mit Heinrichs These, dass
wir die wesentlichen Strukturen der Gegenstände ausgehend von den Vor-
stellungsbildern nicht mit Sicherheit erkennen. Er behauptet damit nicht,
dass wir keine Erkenntnis dieser Strukturen haben (sie manifestieren sich
ja in allen Gegenständen, die wir wahrnehmen), sondern lediglich, dass wir
keine sichere, durch ein stabiles Modell ge­stützte Erkenntnis haben.
Nun besteht allerdings die Schwierigkeit, dass Heinrich diese These in
einer der frü­hesten Quaestionen (um 1276 verfasst) vertritt, den Abstrak-
tionsprozess aber erst in den späte­ren Schriften analysiert und dort nicht
mehr betont, sichere Erkenntnis sei unerreichbar. Ei­n ige Äußerungen er-
wecken sogar den Eindruck, als ob er nun eine solche Erkenntnis für durch-
aus möglich hielte. So leitet er einen zentralen Text mit der Bemerkung ein,
unser In­tellekt könne von Natur aus eine Erkenntnis haben, von univer-
salen Gegenständen ebenso wie von partikulären.86 Von einer Illumination,
die zur Gewinnung einer solchen Erkenntnis erfor­derlich sein sollte, ist hier
nicht mehr die Rede. Diese Tatsache hat einige Interpreten dazu bewogen,
bei Heinrich eine radikale Entwicklung zu sehen. Der frühe Heinrich sei
den natür­ lichen Erkenntnisfähigkeiten gegenüber skeptisch eingestellt
und berufe sich auf ein Illumi­nationsmodell zur Erklärung eines sicheren,
stabilen Wissens; der späte Heinrich habe diese Skepsis aufgegeben und
daher auch das Illuminationsmodell zugunsten eines aristotelischen Abs-
traktionsmodells verworfen.87 Andere Interpreten vertreten die Ansicht, die
Illuminations­theorie sei in den späteren Schriften zwar noch vorhanden,
aber zugunsten eines robusten Aristotelismus in den Hintergrund getre-
ten.88
Beiden Interpretationsansätzen widerspricht die Tatsache, dass Heinrich
dem Illumi­nationsmodell auch in den späteren Schriften einen prominenten
Platz einräumt.89 So widmet er das 1286 verfasste Quodlibet IX, q. 15 aus-
schließlich der Frage, ob der Mensch allein auf­grund seiner natürlichen

86
  Quodl. IV, q. 21 (ed. Badius, 136rE-F): „Dicendum ad hoc quod intellectus nobis con­
iunctus potest ex natura sua intelligere et universalia rerum sensibilium ut obiecta abstracta
[...] et similiter particularia ...“ Auch in Quodl. IV, q. 8 (ed. Badius, 97vN) hält er ohne Ein-
schränkung fest, dass der Intellekt durch eigene Erkenntnisakte das Wesen erfassen kann.
Brown 1973 geht erstaunlicherweise nicht auf diese Stelle ein und stützt sich auf frühe und
späte Schriften, ohne eine Entwicklung in Erwägung zu ziehen.
87
 So Paulus 1938, 5, der die frühe Illuminationstheorie für „tout à fait exceptionnelle et
spéciale“ hält.
88
 So Marrone 2001, 372.
89
 Dies hat Macken 1972 detailliert gezeigt.
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74 Zweifel am natürlichen Wissen

kognitiven Fähigkeiten sichere und stabile Erkenntnis gewinnen könne. Er


verneint diese Frage ausdrücklich und betont, dass wir ausgehend von der
Sinnes­wahrnehmung die universalen, wesentlichen Strukturen der Dinge
nur „im Nebel der Vor­stellungsbilder“ sehen und dass wir daher keine
klare und sichere Erkenntnis erwerben kön­nen. Nur wenn die universalen
Strukturen oder Gründe (rationes) mithilfe göttlicher Er­leuchtung erfasst
werden, ist eine solche Erkenntnis möglich:
„Wenn [der Intellekt] aber diese unkörperlichen Gründe erreicht, indem er durch
diese Art von ewigem Licht erleuchtet wird (auch wenn dieses nicht das erkannte
Objekt, sondern der Grund des Erkennens ist), dann erkennt er mit Bezug auf diese
Gründe die untrügerische Wahrheit, die er nicht aus den Sin­nen und aus den Vor-
stellungsbildern schöpfen kann, wie wir dies anderswo ausführlicher dargestellt
haben ...“90

Dies ist natürlich eine kryptische Aussage, die erklärungsbedürftig ist


und in eine moderne Sprache übersetzt werden muss. Wie genau wird der
menschliche Intellekt erleuchtet? Was heißt es, dass das ewige Licht nicht
das Objekt, sondern der Grund des Erkennens ist? Und wie können da-
durch die Defizite, die aus den sinnlichen Vorstellungsbildern resultieren,
be­hoben werden? Alle diese Fragen sollen im Folgenden erörtert werden.
Doch im Moment ist lediglich von Bedeutung, dass Heinrich auch in dieser
späten Quaestio an der These festhält, dass durch natürliche kognitive Pro-
zesse allein kein sicheres Wissen von den wesentlichen Strukturen erworben
werden kann. Die Tatsache, dass er explizit auf andere Stellen in seinem
eigenen Werk verweist, verdeutlicht, dass er seine früheren Aussagen nicht
verwirft, sondern explizit an sie anknüpft.
Was bedeutet dies nun mit Blick auf die skeptische Debatte? Wie in § 5
deutlich ge­worden ist, unterscheidet Heinrich zwei Wissensbegriffe und be-
hauptet, wenn unter dem Wis­sen nur ein faktisches Wissen von wahrnehm-
baren Eigenschaften verstanden werde, sei Wis­sen durchaus möglich. Wenn
unter dem Wissen hingegen ein sicheres, stabiles Wissen von der wesentli-
chen Struktur der Dinge verstanden werde, sei kein Wissen möglich, zumin­
dest nicht auf rein natürlichem Weg. Doch warum ist diese Art von Wissen
nicht möglich? Diese Frage lässt sich nun präziser beantworten. Wenn durch
natürliche Prozesse nur Vor­stellungsbilder gewonnen werden, und wenn der
Intellekt lediglich diese Bilder in universaler Hinsicht erfassen kann, darü-
ber hinaus aber keine kognitiven Hilfsmittel aufnehmen oder sel­ber bilden

90
  Quodl. IX, q. 15 (ed. Macken, 262): „Attingendo autem illas incorporeas rationes illus-
tratione quadam ab illa specie lucis aeternae, etsi non ut obiecto cognito, sed ut ratione co-
gnoscendi, cognoscit de illis sinceram veritatem quam ex sensibus et phantasmatibus haurire
non posset, secundum quod alibi diffusius exposuimus ...“ Die Rede von den „nubila phantas-
matum“ (ibid., 263) übernimmt Heinrich von Augustin.

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§ 7 Natürliches Wissen und Illumination 75

kann, die untrügerisch und unveränderlich das Wesen der Gegenstände dar-
stellen, dann ist rein natürliches Wissen im strengen Sinne nicht möglich.91
Das Wissen ist dann so sicher oder unsicher wie die sinnliche Grundlage
in den Vorstellungsbildern. Es muss durch etwas, was nicht im natürlichen
Erkenntnisprozess erworben wird, stabilisiert werden.
Hier zeigt sich einmal mehr, dass Heinrich nicht einfach als traditioneller
oder gar rückständiger Augustinist bestreitet, sicheres Wissen könne auf
natürlichem Weg gewonnen werden, um dann die Illuminationstheorie als
wundersamen Ausweg aus dieser skeptischen Sackgasse zu präsentieren. Er
setzt vielmehr beim aristotelischen Abstraktionsmodell an und versucht zu
zeigen, dass dieses Modell eine innere Spannung aufweist. Einerseits geht
es nämlich in empiristischer Manier davon aus, dass Wissen immer auf der
Grundlage von Vor­ stellungsbildern gewonnen wird und dass derartige
Bilder wechselhaft und teilweise defizitär sind. Andererseits nimmt dieses
Modell an, dass aus den Vorstellungsbildern auf infallible Weise das Wesen
der Gegenstände abstrahiert werden kann. Aber wie ist Infallibilität auf
fallibler Grundlage möglich? Offensichtlich nur, wenn angenommen wird,
der menschliche Intellekt könne die Defizite irgendwie kompensieren und
Fehler korrigieren. Aber was er­möglicht die Kompensation und Korrektur?
Wenn hier nicht dogmatisch angenommen wer­den soll, dass der Intellekt
über wundersame Fähigkeiten verfügt, muss erläutert werden, wie eine
Kompensation von Defiziten und eine Beseitigung von Fehlern erfolgen
kann.92 Genau diesem Problem widmet sich Heinrich in seiner Illumina­
tionstheorie.

§ 7 Natürliches Wissen und Illumination

Bislang ist deutlich geworden, dass das Kernproblem für Heinrich darin be-
steht, die Sicher­heit und Stabilität eines essentiellen Wissens zu garantieren.

91
  Freilich ist dann Wissen im weiten Sinne trotzdem möglich. Daher kann Heinrich in den
frühen wie in den späten Schriften zugestehen, natürliches Wissen sei möglich, und trotzdem
an der Forderung nach Illumination festhalten. Bei der Interpretation seiner Aussagen gilt es
stets zu prüfen, welchen der beiden Wissensbegriffe er verwendet.
92
 Natürlich nimmt auch Thomas von Aquin nicht dogmatisch eine Infallibilität des In-
tellekts an. Er begründet sie, indem er darauf hinweist, dass der menschliche Intellekt alles
durch eine Partizipation an den göttlichen Ideen erkennt; vgl. STh I, q. 84, art. 5, corp. Genau
diese Partizipationsrelation ermöglicht erfolgreiche Erkenntnis. Dies verdeutlicht, dass Hein-
rich und Thomas in einem entscheidenden Punkt übereinstimmen: Der menschliche Intellekt
allein kann keine Erkenntnis gewinnen. Die entscheidende Frage lautet, wessen der Intellekt
bedarf: einer besonderen Illumination oder einfach einer erfolgreichen Abstraktionsfähigkeit,
die durch die Partizipationsrelation gleichsam in den Intellekt eingebaut ist? Die Antwort auf
diese Frage trennt Thomas und Heinrich voneinander.
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76 Zweifel am natürlichen Wissen

Bereits in den frühen Schriften schlägt er für dieses Problem eine Lösung
vor, die auf den ersten Blick einfach und vor einem platonisch-augusti-
nischen Hintergrund plausibel erscheint: Sicherheit wird erst erreicht, wenn
zu dem erworbenen Modell für einen Gegenstand ein weiteres Modell hin-
zukommt, das nicht auf Vorstellungsbildern beruht und nicht durch Abs-
traktion erworben wird. Dieses zweite Modell ist göttlichen Ursprungs.
Oder wie Heinrich festhält: „Das zweite Modell ist die gött­liche Kunst, die
die idealen Gründe für alle Dinge in sich enthält ...“93 Nur dieses Modell
stellt auf stabile und sichere Weise das Wesen eines Gegenstandes dar. Und
genau durch dieses Modell müssen wir „erleuchtet“ werden.
In dieser Lösung kommt natürlich die bekannte platonische These zum
Ausdruck, dass die „idealen Gründe“ jeden einzelnen Gegenstand zu dem
machen, der er wesentlich ist, und dass sie daher die Vorlage oder eben das
Modell für jeden Gegenstand darstellen. Wollen wir mit Sicherheit wissen,
wie ein Gegenstand wesentlich beschaffen ist, müssen wir einen Zu­gang zu
seinem idealen Modell haben. Wenn diese These auch eine lange Tradition
hat,94 wirft sie doch eine Reihe von Problemen auf. Zunächst stellt sich die
simple, aber zentrale Frage, welchen Zugang wir zum idealen Modell haben.
Können wir es direkt sehen oder geis­tig erfassen? Dies würde voraussetzen,
dass wir einen direkten Zugang zum göttlichen Geist haben, da das ideale
Modell ja in ihm existiert. Im diesseitigen Leben gibt es aber kein direk­tes
Sehen oder Erfassen des göttlichen Geistes, wie die mittelalterlichen Au-
toren einhellig feststellten.95 Welchen Zugang haben wir dann zum idealen
Modell? Diese Frage ist nicht nur von theologischem Interesse, insofern sie
eine Klärung der Relation zwischen menschlichem und göttlichem Geist
verlangt, sondern in mindestens so hohem Maße auch von epistemologi­
scher Bedeutung. Sobald nämlich behauptet wird, dass essentielles Wissen
nur mithilfe eines idealen Modells gewonnen wird, muss die epistemische
Relation zu diesem Modell geklärt werden. Es reicht nicht aus, in metapho-
rischer Weise von einer „Erleuchtung“ durch dieses Modell zu sprechen.
Der Verweis auf ein ideales Modell wirft noch ein weiteres Problem auf.

93
  Summa, art. 1, q. 2 (ed. Wilson, 40): „Secundum exemplar est ars divina continens om-
nium rerum ideales rationes ...“ Heinrich spricht auch von einem „exemplar aeternum“ und
einem „divinum exemplar“ (ibid., 50 und 52).
94
 Bereits Grabmann 1924 hat in seiner Pionierstudie auf die Bedeutung dieser Tradition für
die mittelalterlichen Debatten hingewiesen. Einen detaillierten Überblick über die Rezeption
der augustinischen Tradition im 13. Jh. bietet Marrone 2001. Zur augustinischen Vorlage vgl.
Porro 1994.
95
 Bonaventura wies in De scientia Christi, q. 4 (ed. Speer 1992, 112) ausdrücklich darauf
hin, dass es keinen Unterschied zwischen dem diesseitigen und dem jenseitigen Leben gäbe,
wenn wir schon im diesseitigen Leben einen direkten Zugriff auf Ideen im göttlichen Geist
hätten.
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§ 7 Natürliches Wissen und Illumination 77

Wozu benötigen wir überhaupt ein Modell, das wir ausgehend von der Sin-
neswahrnehmung erwerben, wenn wir mit einem solchen Modell ohnehin
kein sicheres Wissen gewinnen kön­nen? Ist dieses Modell angesichts des
idealen Modells nicht überflüssig? Falls es tatsächlich überflüssig ist, scheint
der ganze Verweis auf natürliche kognitive Prozesse entbehrlich zu sein; nur
die Relation zum idealen Modell hat dann noch einen epistemischen Wert.
Falls es allerdings nicht überflüssig ist, muss der Zusammenhang zwischen
den beiden Modellen ge­k lärt werden. Es reicht nicht aus, einfach von einem
„zweifachen Modell“ (duplex exemplar) zu sprechen, wie Heinrich dies
tut.96 Eine solche Redeweise wirft nämlich sogleich die Frage auf, ob denn
nicht ein Unsicherheitsfaktor in unserem Wissen bestehen bleibt. Wie kann
man sicheres Wissen gewinnen, wenn einfach ein sicheres Modell mit einem
unsicheren kombi­n iert wird? Bereits Duns Scotus wies darauf hin, dass aus
einer solchen Kombination nur et­was Unsicheres resultieren kann, genau
wie aus der Kombination einer notwendigen mit einer kontingenten Prä-
misse nur eine kontingente Konklusion folgt.97 Diese Kritik lässt sich leicht
veranschaulichen. Angenommen, ich gewinne aus der regelmäßigen Be-
obachtung von Pfer­den ein Modell, das mir Pferde mit den Eigenschaften
F, G und H präsentiert. Und angenom­men, ich habe irgendeinen Zugang
zu einem weiteren, nicht durch Sinneswahrnehmung er­worbenen Modell,
das mir Pferde mit den Eigenschaften F, I und K präsentiert. Wenn ich
nun die beiden Modelle einfach kombiniere, schreibe ich den Pferden die
Eigenschaften F, G, H, I und K zu. Dann ist es aber sehr gut möglich, dass
ich ihnen irrtümlicherweise Eigenschaften zuschreibe, die nicht zu ihrem
Wesen gehören. Das kombinierte Modell bietet keine Sicher­heit, dass ich den
Pferden nur die wesentlichen Eigenschaften zuschreibe. Natürlich habe ich
noch zwei weitere Möglichkeiten. Ich kann das erworbene Modell sogleich
verwerfen und den Pferden bloß die Eigenschaften F, I und K zuschreiben;
dann wird aber der ganze natürli­che kognitive Prozess überflüssig. Oder ich
bilde die Schnittmenge aus den beiden Modellen und schreibe den Pferden
nur F zu; dann riskiere ich, Eigenschaften wegzulassen, die Pferde haben.
Alle drei Optionen erweisen sich somit als unbefriedigend. Offensicht-
lich benötigen wir eine Erklärung dafür, wie aus der Kombination zweier
Modelle sicheres Wissen von den wesentlichen Eigenschaften gewonnen
werden kann.
Schließlich stellt sich noch ein drittes Problem. Wenn das durch Sinnes-
wahrnehmung erworbene Modell tatsächlich unzureichend ist und durch
ein göttliches Modell ergänzt werden muss, werden natürliche Prozesse

  Vgl. explizit Summa, art. 1, qq. 2 und 3 (ed. Wilson, 40 und 84).
96

 Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 221 (ed. Vat. III, 134).


97
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78 Zweifel am natürlichen Wissen

immer durch etwas Übernatürliches „kontaminiert“. Jede Erkenntnis und


jedes Wissen im strengen Sinne kommt dann – zumindest teilweise – auf
übernatürliche Weise zustande. Bereits im ausge­henden 13. Jh. wies Wilhelm
von Ware in seiner Kritik darauf hin:
„Zudem gilt: Wenn bei jeder intellektuellen Erkenntnis ein übernatürliches Licht
erforderlich ist, folgt, da ja jeder Akt die Benennung und Beschaffenheit aus der
Art und dem Grund des Tätigseins bezieht, dass jede solche Tätig­keit übernatürlich
wäre.“98

Konkret heißt dies: Wie auch immer ich die beiden Pferde-Modelle kom-
biniere, ich muss in irgendeiner Weise durch das zweite, nicht selber
erworbene Modell „erleuchtet“ werden; da­mit wird meine Erkenntnis von
Pferden zu einem übernatürlichen Akt. Diese Argumentation läuft auf eine
radikale Skepsis bezüglich der natürlichen kognitiven Tätigkeiten hinaus.
Wie sehr wir uns auch bemühen, korrekte Erkenntnis zu gewinnen, auf rein
natürlichem Weg ist dies nicht möglich. Angesichts dieser scheinbar nahe-
liegenden Konsequenz ist es nicht erstaunlich, dass in der älteren Forschung
kritisch bemerkt wurde, die Illumina­tionstheorie münde unweigerlich in
einen Skeptizismus bezüglich der natürlichen Erkenntnisfähigkeiten.99
Doch hat die Illuminationstheorie, wie Heinrich sie verteidigt, tatsäch-
lich skeptische Konsequenzen? Führt sie zur Preisgabe natürlicher Erkennt-
nisansprüche? Zur Beantwortung dieser Fragen muss Heinrichs Erklärung
der Illumination genauer betrachtet werden. Der erste, ganz entscheidende
Punkt besteht darin, dass seiner Ansicht nach das zweite Modell nicht das
Objekt ist, das der menschliche Intellekt erfasst, sondern nur der „Grund
des Erken­nens“ (ratio cognoscendi).100 Damit hat Heinrich von vornherein
die Frage, wie wir dieses Modell denn geistig sehen oder erfassen können,
zurückgewiesen. Da das Modell nicht das Objekt eines besonderen episte-
mischen Aktes ist, muss man auch keinen solchen Akt erklä­ren. Die ein-
zigen epistemischen Akte, die es zu erläutern gilt, sind die Akte des Intel-
lekts, die auf das den Dingen immanente Wesen ausgerichtet sind. Und bei
diesen Akten handelt es sich um natürli­che Akte, zu denen jeder Mensch
fähig ist. Die entscheidende Frage lautet hier nur, warum jeder Mensch
dazu fähig ist. Welche Voraussetzungen müssen (ganz abgesehen von der
98
  Wilhelm von Ware, Questiones super IV libros Sententiarum, q. 19 (ed. Daniels, 316):
„Item, si lumen supernaturale requiritur in omni cognitione intellectuali, cum omnis actus
accipiat denominationem et qualificationem ex modo et ratione operandi, sequitur quod
omnis talis operatio esset supernaturalis.“
99
 So etwa Gilson 1934, 328: „... pour qui conserve telle quelle l’illumination augustinienne,
le scepticisme est inévitable sur le plan purement philosophique.“ Freilich besteht Gilson zu-
folge das Verdienst von Matthaeus von Aquasparta, Roger Marston und anderen Autoren des
13. Jhs. darin, dass sie dieses Problem bereits erkannt haben.
100
 Vgl. Summa, art. 1, q. 2 und q. 3 (ed. Wilson, 52 und 71).
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§ 7 Natürliches Wissen und Illumination 79

Sin­neswahrnehmung, die stets die Grundlage für eine intellektuelle Tätig-


keit darstellt) erfüllt sein, damit ein Mensch sich auf das Wesen der Dinge
beziehen kann? Genau diese Frage ver­sucht Heinrich mit seinem Verweis
auf den Grund des Erkennens zu beantworten.
Er erläutert diesen Grund, indem er zwischen dem körperlichen Sehen
und dem geisti­gen Erkennen eine Parallele zieht.101 Ein Akt des Sehens, so
hält er fest, ist immer ein Akt, der ein Sehorgan mit einem sichtbaren Gegen-
stand verbindet. Damit eine solche Verbindung zustande kommt, muss das
Sehorgan, das an sich nur potentiell sehend ist, aktuell sehend werden. Dies
ist nur mithilfe bestimmter Hilfsmittel möglich. Zunächst ist Licht erforder­
lich, damit das Auge überhaupt seine Sehfähigkeit aktivieren kann. Dann
muss die Farbe des sichtbaren Gegenstandes durch eine Species aufgenom-
men werden. Diese bewirkt, dass das Auge verändert wird und eine Farbe
erfassen kann.102 Schließlich muss dem Auge das Muster der Farbe einge-
prägt werden, sodass das Auge die aufgenommene Farbe korrekt er­fassen
und von anderen Farben unterscheiden kann. Genau gleich gilt nun auch
für das geis­tige Erkennen, dass eine Verbindung zwischen dem erkennenden
Intellekt und dem erkennba­ren Gegenstand nur zustande kommt, wenn der
Intellekt von einem potentiellen in einen aktu­ellen Zustand übergeht. Dazu
ist ein geistiges Licht erforderlich, das den Intellekt über­haupt aktiv werden
lässt. Weiter muss der Intellekt eine Form oder eine Species aufneh­men, die
ihn befähigt, einen bestimmten Gegenstand zu erfassen. Schließlich braucht
es so etwas wie ein Muster oder eine Vorlage für den Gegenstand, die dem
Intellekt so einge­prägt wird, dass er den Gegenstand korrekt erfasst und von
anderen Gegenständen unterschei­den kann. Heinrich betont, dass Gott in
allen drei Hinsichten der Grund des Erkennens ist. Er ist nämlich das Licht,
das den menschlichen Intellekt überhaupt aktiv werden lässt; er macht ihm
die Form eines Gegenstandes zugänglich; und er prägt ihm die Vorlage oder
das Muster eines jeden Gegenstandes ein.103
Diese Redeweise klingt natürlich höchst metaphorisch und verstärkt
den Eindruck, dass ein übernatürlicher Prozess erforderlich ist. Es scheint,
als müsse Gott gleichsam von außen eingreifen und den Intellekt nicht nur
prinzipiell zum Erkennen befähigen, sondern ihm auch in jedem einzelnen
Erkenntnisakt kognitive Objekte zugänglich machen. Der rein natür­liche

 Vgl. Summa, art. 1, q. 3 (ed. Wilson, 73–76).


101

 Heinrich beruft sich auf die perspektivistische Optik, der zufolge species in medio vom
102

sichtbaren Gegenstand auf das Auge übertragen werden. Vgl. zu Heinrichs Verwendung
dieser Theorie Tachau 1988, 28–39.
103
  Summa, art. 1, q. 3 (ed. Wilson, 76): „Et propter ista tria dicitur Deus a sanctis aliquando
ratio intelligendi ut lux, aliquando ut species sive forma, aliquando vero ut exemplar sive idea
vel regula.“
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80 Zweifel am natürlichen Wissen

Erkenntnisprozess, der von der Wahrnehmung ausgeht, scheint dabei keine


Rolle zu spielen.
Ein solcher Eindruck wäre jedoch irreführend. In Heinrichs Illumina-
tionstheorie tritt Gott nicht als deus ex machina auf, der auf wundersame
Weise eine erfolgreiche Erkenntnis bewirkt. Dies wird deutlich, wenn man
seine Erläuterung der drei Funktionen näher betrach­tet. Hinsichtlich der
ersten Funktion betont Heinrich, dass Gott nur insofern als Licht tätig ist,
als er den Geist „von den Nebeln der verworrenen Affektionen und von dem
Rauch der Vor­stellungsbilder reinigt ...“104 Das klingt natürlich immer noch
metaphorisch, verdeutlicht aber, dass das göttliche Licht nicht an die Stelle
des natürlichen Erkenntnisprozesses tritt. Das gött­ liche Licht dient nur
dazu, all das deutlicher und klarer werden zu lassen, was durch natürli­che
kognitive Tätigkeiten auf undeutliche Weise erworben wird. Gleiches gilt
auch für die zweite Hinsicht. Gott gibt einem Menschen nicht willkürlich
diese oder jene Form ein, son­dern verleiht ihm nur die Disposition, die noch
unklaren Formen, die durch die Vorstellungs­bilder aufgenommen werden,
genauer zu erfassen und dadurch einen bestimmten Gegenstand zu erkennen.
Und schließlich gilt für die dritte Hinsicht, dass Gott dem Menschen nur
allge­meine Muster einprägt, die den Intellekt die allgemeinen Strukturen der
Gegenstände erken­nen lassen. Welche konkreten Gegenstände er im Einzel-
fall erkennt, hängt von den Vorstel­lungsbildern ab, die er erwirbt. Daher
ersetzt Gott als „Grund des Erkennens“ den natürlichen Erkenntnisprozess
nicht, sondern er schafft zum einen die allgemeinen Voraussetzungen da­für,
dass ein solcher Prozess überhaupt stattfinden kann, und ermöglicht zum
anderen, dass Unklarheiten in diesem Prozess beseitigt werden. Heinrich
stellt daher abschließend fest, dass eine göttliche Erleuchtung den natürlichen
Erkenntnisvorgang und damit auch den Erwerb eines natürlichen Modells
für die Gegenstände nicht überflüssig macht. Im Gegenteil:
„Folgendes ist zu beachten: Obwohl nur das göttliche Modell, das die Ursache des
Gegenstandes ist, den Begriff einer vollkommenen Ähnlichkeit im Geist bildet,
ist doch zur Bildung eines Begriffs ein Modell erforderlich, das vom Gegenstand
erworben wird, so wie dies die Species ist und die Form eines Gegenstandes, die
vom Vorstellungsbild im Geist aufgenommen wird. Ohne sie könnte unser Intellekt
im jetzigen Leben, in dem wir uns befinden, nichts bezüglich irgendeines Gegen-
standes begreifen.“105

104
  Summa, art. 1,q. 3 (ed. Wilson, 77): „Deus enim ut lux in mente non facit illuminando
nisi quod oculum mentis a nebulis pravarum affectionum et fumo phantasmatum purget...“
105
  Summa, art. 1, q. 3 (ed. Wilson, 83): „Et nota quod licet conceptum perfectae similitu-
dinis in mente format solummodo divinum exemplar, quod est causa rei, cum hoc tamen ad
conceptus formationem necessarium est exemplar acceptum a re, ut est species et forma rei
a phantasmate accepta in mente. Sine illa enim nihil de re quacumque concipere potest in-
tellectus noster in tali statu vitae in quali sumus.“ Siehe auch ibid., q. 4 (ed. Wilson, 103–104).
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§ 7 Natürliches Wissen und Illumination 81

Wir haben es bei der Illumination also nicht mit einem übernatürlichen Vor-
gang zu tun, der an die Stelle des natürlichen Prozesses tritt. Illumination
ergänzt und vervollkommnet viel­ mehr den unverzichtbaren natürlichen
Erkenntnisprozess. Allerdings stellt sich dann immer noch die bereits
erwähnte Frage, wie das natürliche Modell mit dem von Gott gewähr-
ten – werde es auch nur als allgemeine Vorlage oder als generelle Prägung
unseres Geistes verstan­den – kooperieren kann. Wie lässt sich die Rede von
einem „zweifachen Modell“ (duplex ex­emplar) deuten, wenn darunter nicht
einfach die Verbindung zweier getrennter Modelle zu verstehen ist? Ebenso
unbeantwortet bleibt bislang auch Wilhelm von Wares Frage, ob sich nicht
eine übernatürliche Komponente in den natürlichen Erkenntnisprozess ein-
schleicht. Denn wenn der natürliche Prozess auch unverzichtbar ist, muss
doch irgendeine göttliche Komponente hinzukommen. Wird dadurch nicht
der ganze Prozess gleichsam durch Überna­türliches kontaminiert? Diese
zentralen Fragen lassen sich am besten beantworten, indem man ein mo-
dernes Beispiel zu Veranschaulichung heranzieht. Versucht man nämlich,
Heinrichs Theorie in seiner eigenen Sprache zu erläutern, besteht die Ge-
fahr, dass man sich stets inner­halb seiner Lichtmetaphorik bewegt.
Stellen Sie sich vor, Sie möchten auf Ihrem Computer einen deutschen
Text schreiben. Sie setzen sich dann einfach vor den Bildschirm, aktivieren
Ihr Wissen von der deutschen Grammatik und Rechtschreibung und geben
einen Text ein. Nun sind Sie aber durch die zahl­reichen Schreibvarianten,
die im Zuge der Rechtschreibreform entstanden sind, etwas verun­sichert
und aktivieren deshalb das Korrekturprogramm, das auf Ihrem Computer
installiert ist. Jedes Wort, das Sie eingeben, wird automatisch von diesem
Programm geprüft. Freilich er­setzt das Programm nicht Ihre Tätigkeit (Sie
müssen den Text nach wie vor selber schreiben), sondern nimmt nur eine
unterstützende Funktionen wahr, und zwar in zweifacher Hinsicht. Einer-
seits enthält es den ganzen deutschen Wortschatz und liefert dadurch eine
allgemeine Vorlage für die Wörter Ihres Textes, andererseits bietet es für
jedes falsch geschriebene Wort Korrekturvorschläge an. Ähnlich lässt sich
die Funktion der göttlichen Illumination verstehen. Sie ersetzt den natür-
lichen Erkenntnisprozess nicht (der menschliche Intellekt muss nach wie
vor selber Vorstellungsbilder gewinnen und sich auf den universalen Gehalt
dieser Bilder konzentrieren), sondern unterstützt diesen Prozess als eine
Art Korrekturprogramm. Genau genommen nimmt die Illumination eine
zweifache Funktionen wahr. Einerseits liefert sie die allgemeinen Vorlagen
oder Muster für sämtliche Gegenstände, andererseits prüft und korri­giert
sie die unvollständigen oder irreführenden Vorstellungsbilder, die durch
natürliche Pro­zesse erworben wurden.
Mithilfe dieses Vergleichs lässt sich nun die Rede von einem „zweifachen
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82 Zweifel am natürlichen Wissen

Modell“ erläutern. Im Erkenntnisprozess wird nicht einfach die Schnitt-


menge aus zwei vollständig getrennten Modellen gebildet. Den Ausgangs-
punkt bildet stets das durch natürliche Prozesse erworbene Modell, das
durch das göttliche Modell wie durch ein Korrekturprogramm geprüft wird.
Entscheidend ist dabei, dass das göttliche Modell eine normative Funktion
wahrnimmt: Es legt fest, was eine korrekte Erkenntnis ist, indem es für das
Wesen eines jeden Gegenstandes die allgemeine Vorlage oder das Muster
liefert.106 Diese Vorlage stellt ein und dasselbe Wesen dar, das auch durch das
erworbene Modell präsentiert wird, aber auf vollkommene Weise.107
Wird dadurch der natürliche Erkenntnisprozess durch etwas Über-
natürliches kontami­n iert? Eine Antwort auf diese Frage hängt davon ab,
was man unter einem übernatürlichen Prozess versteht. Wenn alles, was
über das hinausgeht, was die Sinne und der menschliche Intellekt von sich
aus leisten können, als übernatürlicher Prozess gedeutet wird, liegt hier na­
türlich etwas Übernatürliches vor. Aber dann ist menschliche Erkenntnis
gemäß jeder mittel­alterlichen Theorie durch Übernatürliches kontaminiert.
Denn jeder mittelalterliche Philosoph räumt ein, dass der menschliche Geist
von sich aus nichts zu leisten vermag. Beispielsweise weist Thomas von
Aquin darauf hin, dass nur die Partizipation am göttlichen Intellekt dem
menschlichen Intellekt überhaupt eine Erkenntnisfähigkeit verleiht.108 Auch
Duns Scotus, Heinrichs schärfster Kritiker, räumt sogleich ein, dass wir das
Wesen der Dinge nur erkennen können, weil es erstens Prototypen dieser
Wesen im göttlichen Intellekt gibt und weil wir zweitens von Gott eine be-

106
 Daher spricht Heinrich in Summa, art. 1, q. 3 (ed. Wilson, 76) von einer „idea vel regula“,
die nicht nur eine deskriptive, sondern eine normative Funktion hat. Er betont damit eine
Funktion, die auch Bonaventura in De scientia Christi, q. 4 (ed. Speer 1992, 116) hervorhebt:
„... necessario requiritur ratio aeterna ut regulans et ratio motiva ...“
107
  Quodlibet IX, q. 15 (ed. Macken, 262): „Sunt enim eadem cognita et praedicta intellecta
in phantasmatibus, et ipsae incorporeae rationes in ipsa veritate aeterna: non sunt enim aliud
quam ipsae naturae et essentiae rerum.“ Dieser These liegt die universalienrealistische An-
nahme zugrunde, dass ein und dasselbe Wesen verschiedene Instantiierungen haben kann: (a)
eine immaterielle im göttlichen Geist, (b) eine materielle in den menschlichen Vorstellungs-
bildern, (c) eine weitere materielle in den konkreten Gegenständen. Gerade weil es sich um
dasselbe Wesen handelt, präsentiert Gott den Menschen nicht ein besonderes kognitives
Objekt, sondern er macht genau das klar und deutlich, was sie von den Vorstellungsbildern
abstrahieren. Angesichts dieser metaphysischen Annahme lässt sich das Verhältnis der beiden
Modelle, das von neueren Kommentatoren als problematisch angesehen wird (vgl. Pasnau
1995, 55; Kann 2001, 51), ohne Verweis auf eine wundersame Relation erklären: Beide Mo-
delle haben denselben Inhalt, nämlich das Wesen eines Gegenstandes, stellen diesen aber auf
zwei unterschiedliche Weisen dar: klar (das göttliche Modell) oder unklar (das erworbene
Modell).
108
 Vgl. Summa theol. I, q. 84, art. 5, und De veritate, q. 10, art. 6, corp. (ed. Leonina
XXII/2, 313), wo Thomas betont, die Erkenntnisfähigkeit des Intellekts gehe „sicut a prima
origine“ auf Gott zurück.
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§ 7 Natürliches Wissen und Illumination 83

sondere Erkenntnisfähigkeit erhalten haben.109 In diesem allgemei­nen Sinne


stimmen alle zu, dass „reine“ natürliche Erkenntnis nicht möglich ist. Wenn
unter der Kontamination durch Übernatürliches indessen ein willkürliches
göttliches Eingreifen oder eine Abwertung des natürlichen Erkenntnispro-
zesses verstanden wird, widersetzt sich Heinrich einer solchen Auffassung.
Illumination hat nur eine ergänzende, korrigierende Funktion im natür­
lichen Erkenntnisprozess. Heinrich betont sogar, dass diese Funktion nicht
einer privilegierten Gruppe vorbehalten ist.110 Man könnte daher von einer
natürlichen Illumina­tion sprechen, die jedem Menschen zuteil wird und den
Erkenntnisprozess vervoll­kommnet. Heinrich sagt daher auch, das göttliche
Modell sei etwas „Formales und Vollstän­diges“, durch das ein erworbenes
Modell „vollkommen und vollständig“ werde.111 Um den Vergleich mit dem
Rechtschreibprogramm wieder aufzugreifen, könnte man sagen: Genau wie
dieses Programm das eigene Schreiben nicht ersetzt, sondern es korrigierend
unterstützt und vervollkommnet, so unterstützt auch die göttliche Illumi-
nation das menschliche Erken­nen.112 Und genau wie das Rechtschreibpro-
gramm in jeden normal installierten Computer eingebaut ist, so wird auch
die Illumination von Natur aus jedem menschlichen Intellekt zuteil.
Versteht man die Illuminationstheorie als eine Theorie der natürlichen

109
 Scotus spricht daher von einer „zweifachen Kausalität des göttlichen Intellekts“ im
Erkenntnisprozess. Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 267 (ed. Vat. III, 163) und ausführ-
lich dazu § 9.
110
 In Summa, art. 1, q. 3 (ed. Wilson, 72) hält er fest, dass sogar die schlechten Menschen in
Genuss der Illumination kommen. Allerdings betont er ibid., q. 4 (ed. Wilson, 99), dass das
göttliche Licht „unumquemque secundum gradum sanitatis suae illustrat, unum plus, alterum
minus, quosdam perfecte, quosdam nihil.“ Mit dieser Einschränkung kann er der Tatsache
Rechnung tragen, dass es nicht einfach einen kognitiven Automatismus gibt, der jedem Men-
schen in gleicher Weise zu sicherem Wissen verhilft. Da die Illumination bei unterschiedlichen
Menschen in unterschiedlichem Grad wirkt, treten Wissensunterschiede auf.
111
  Summa, art.1, q. 3 (ed. Wilson, 85): „Est enim in eo considerare aliquid materiale et
incompletum, et aliquid formale et completum, ut illud incompletum fiat perfectum et com-
pletum.“
112
  Wenn die Illumination immer den menschlichen Erkenntnisprozess unterstützt, stellt
sich freilich die Frage, wie Irrtümer noch möglich sind. Warum wird nicht jeder Irrtum wie
durch ein Korrekturprogramm sogleich beseitigt? Soweit ich sehe, geht Heinrich nicht ex-
plizit auf diese Frage ein. Es bieten sich aber zwei Antworten an. Zum einen könnte man
erwidern, dass das Korrekturprogramm nur auf die konkret vorhandenen Vorstellungsbilder
angewendet werden kann. Wenn diese aber aufgrund besonderer Wahrnehmungsbedingun-
gen unvollständig und irreführend sind, ist keine perfekte Korrektur möglich. (Man denke
an die Situation, in der jemand im dicken Nebel einen dunklen Schatten sieht und glaubt,
einen Menschen zu erkennen. Auch die beste Illumination kann auf dieser dürftigen Grund-
lage keine korrekte Erkenntnis bewirken.) Zum anderen ist auch zu berücksichtigen, dass die
Korrektur durch Illumination einen Menschen nicht davon abhält, verschiedene Vorstellungs-
bilder zu kombinieren und dadurch zu irreführenden Meinungen zu gelangen. (Man denke an
jemanden, der die Vorstellungsbilder verschiedener Tiere kombiniert und dadurch zur Vor-
stellung von einer Chimäre gelangt.)
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84 Zweifel am natürlichen Wissen

Unterstützung und Korrektur kognitiver Prozesse, lassen sich zwei Fragen


beantworten, die in der neueren Forschung immer wieder gestellt worden
sind. Die erste betrifft die Kontinuität oder Diskontinui­tät in Heinrichs
Werk. Hat Heinrich die Illuminationstheorie in seinen späteren Werken auf­
gegeben, da er in diesen Werken (vor allem in Quodlibeta IV und V) die
Illumination nicht mehr erwähnt und nur noch den natürlichen kognitiven
Prozess analysiert? Diese Frage lässt sich nun negativ beantworten, und
zwar nicht nur mit Verweis auf die schlichte, bereits in § 6 erwähnte Tatsa-
che, dass sich auch in späteren Werken (prominenterweise in Quodlibet IX,
q. 15) Verweise auf die Illuminationstheorie finden. Eine negative Antwort
lässt sich auch mit Blick auf den Argumentationsaufbau begründen. Hein-
rich geht zunächst von der Beobach­t ung aus, dass die abstraktive Tätigkeit
des menschlichen Intellekts allein kein sicheres und stabiles Erfassen des
Wesens aller Dinge garantiert. Daher erläutert er, welche unterstützende In-
stanz zusätzlich erforderlich ist. Da diese Instanz aber stets präsent ist und
von Natur aus jeden Intellekt unterstützt, ist jeder Intellekt im Prinzip zu
korrekter Erkenntnis fähig. Deshalb kann Heinrich in Quodl. IV, q. 21 auch
festhalten, der menschliche Intellekt sei aufgrund sei­ner Natur in der Lage,
die universalen Aspekte aus den wahrnehmbaren Dingen zu abstrahie­ren
und zu erkennen.113 Damit macht er deutlich, dass der natürliche Erkennt-
nisprozess durch­aus erfolgreich ist – vorausgesetzt, er wird durch die Illu-
mination unterstützt. Die Tatsache, dass Heinrich diese Voraussetzung in
einigen späteren Werken nicht mehr the­matisiert, ist kein Indiz dafür, dass
er sie nicht mehr akzeptiert. Die Voraussetzung bleibt nach wie vor bestehen,
aber Heinrich konzentriert sich nun nicht mehr auf eine Erläuterung dieser
Voraussetzung (eine solche Erläuterung hat er ja bereits im ersten Artikel der
Summa gegeben und muss sie nicht wiederholen), sondern auf eine Analyse
des natürlichen Abstraktionspro­zesses, der den Kern jeder Erkenntnis dar-
stellt. Somit gibt es hier keinen Übergang von einer augustinischen zu einer
aristotelischen Position, wie gelegentlich argumentiert wird,114 son­dern eine
zweistufige Erklärung. Die augustinische Voraussetzung für erfolgreiche
Erkenntnis wird bereits in den frühen Schriften erläutert, die aristotelisch
geprägte Analyse des Erkenntnisprozes­ses folgt in den späteren Schriften.
Die zweite Frage, die sich nun präziser beantworten lässt, betrifft den
Skeptizismus-Vorwurf, den Duns Scotus gegen Heinrichs Erkenntnis-
theorie erhoben hat. Führt der Rekurs auf eine göttliche Illumination, die
sichere und stabile Erkenntnis ermöglichen soll, zu einem Skeptizismus
113
  Quodl. IV, q. 21 (ed. Badius, 136rF): „Dicendum ad hoc quod intellectus nobis con­
iunctus potest ex natura sua intelligere et universalia rerum sensibilium ut obiecta abstracta
ab imaginativa...“
114
  Vgl. Marrone 2001, 359–388.

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§ 8 Verteidigung der natürlichen Erkenntnisquellen 85

bezüglich der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis? Diese Frage lässt


sich nur sinnvoll beantworten, wenn präzisiert wird, was hier unter einer
skeptischen Position verstan­den wird. Fasst man sie als eine Position auf,
der zufolge ein Mensch einzig und allein mit­h ilfe seiner kognitiven Fä-
higkeiten keine sichere und stabile Erkenntnis gewinnen kann, ver­tritt
Heinrich in der Tat eine skeptische Position. Aber dann vertritt natürlich
jeder mittelal­
terliche Autor, der eine vollständige epistemische Auto-
nomie des Menschen bestreitet, eine skeptische Position. Wenn man unter
einer skeptischen Position allerdings die These versteht, dass ein Mensch
auf natürlichem Weg keine sichere und stabile Erkenntnis gewinnen
kann, dann ist Heinrich kein Skeptiker. Er geht ja davon aus, dass jeder
Mensch von Natur aus Er­kenntnis gewinnen kann, weil die Illumination
von Natur aus als unterstützende und korrigie­rende Instanz in jeden
Erkenntnisprozess „eingebaut“ ist. Seine Pointe besteht nicht darin, dass
er die Möglichkeit natürlicher Erkenntnis bestreitet, sondern dass er
die Voraussetzungen aufzeigt, die erfüllt sein müssen, damit natürliche
Erkenntnis gelingt.

§ 8 Eine Verteidigung der natürlichen Erkenntnisquellen

Wie sich herausgestellt hat, verteidigt Heinrich von Gent die Möglichkeit
menschlicher Er­ kenntnis und versteht die Illumination als natürlichen
Bestandteil des Erkenntnisprozesses. Freilich bleibt dabei die Schwierig-
keit bestehen, dass zur Erklärung erfolgreicher Erkenntnis auf ein ideales
Modell rekurriert werden muss. Doch ist ein solcher Rekurs erforderlich?
Ge­nau diese Frage stellt Johannes Duns Scotus in den Mittelpunkt seiner
kritischen Diskussion der Illuminationstheorie. Er versucht zu zeigen, dass
diese Theorie zur Erklärung kognitiver Prozesse überflüssig ist. Auch ohne
„Erleuchtung“ durch ein ideales Modell, so lautet seine Grundthese, ist Er-
kenntnis möglich. Und auch ohne ein solches Modell kann Wissen erwor-
ben werden. Entscheidend ist dabei, dass Scotus genau wie Heinrich von
Gent auf sichere und untrügerische Erkenntnis abzielt. Er behauptet nicht
einfach, dass wir uns mit selbst erworbenen, gelegentlich unvollständigen
oder unzuverlässigen Modellen für die Gegenstände begnügen müssen.
Ebenso wenig vertritt er die Ansicht, eine Erkenntnis, die wir ausgehend
von einem Modell für gesichert gehalten haben, könne sich später als unsi­
cher oder gar als falsch herausstellen. Dies würde auf eine Veränderung der
epistemischen Ansprüche hinauslaufen. Scotus würde dann einfach ein in-
fallibilistisches Erkenntnisideal durch ein fallibilistisches ersetzen, wie dies
in gegenwärtigen erkenntnistheoretischen Debat­ten gelegentlich der Fall
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86 Zweifel am natürlichen Wissen

ist.115 Doch Scotus wählt einen anderen Weg. Er hält am infallibilisti­schen


Ideal fest und versucht zu zeigen, dass trotzdem kein Rekurs auf Illumina­
tion erforderlich ist. Wie ist dies möglich?
Scotus konzentriert sich auf vier Arten der Erkenntnis und versucht für
jede einzelne nachzuweisen, dass keine Illumination in Anspruch genommen
werden muss.116 Seine Argumenta­tion ist nicht nur von Interesse, weil sie im
Detail zeigt, wie er die natürlichen Er­kenntnisprozesse von jeder übernatür-
lichen Einflussnahme frei halten möchte. Sie ist auch von Bedeutung, weil sie
verdeutlicht, wie Scotus auf die Frage reagiert, die bereits Heinrich in den
Mittelpunkt der erkenntnistheoretischen Überlegungen gestellt hatte: Wie
kann ange­sichts der Tatsache, dass die Sinne gelegentlich unzureichende,
irreführende oder gar wider­sprüchliche Informationen liefern, sichere und
untrügerische Erkenntnis gewonnen werden? Oder verkürzt ausgedrückt:
Wie ist auf unsicherer Grundlage sichere Erkenntnis möglich? Genau diese
Frage versucht Scotus zu beantworten, indem er vier Arten der Erkenntnis
ge­nauer untersucht. Daher müssen alle vier Arten betrachtet werden.
Die erste Art von Erkenntnis, die Scotus als rein natürliche Erkenntnis
zu etablieren versucht, ist das Erfassen allgemeiner Prinzipien. Er hält fest:
„... die Termini der durch sich bekannten Prinzipien haben eine solche Identität,
dass der eine Terminus auf evidente und notwendige Weise den anderen ein­schließt.
Daher hat der Intellekt, der diese Termini zusammensetzt, aufgrund dessen, dass
er sie erfasst, eine notwendige Ursache für eine Übereinstimmung dieses Aktes des
Zusammensetzens mit den Termini selbst, die zusammenge­setzt werden, und er hat
auch eine evidente Ursache für eine solche Übereinstim­mung ...“117

Scotus gibt ein anschauliches Beispiel für diese Art von Erkenntnis. Wer
den Terminus ‚Gan­zes‘ erfasst, kann unmittelbar und mit Evidenz das Prin-
zip ‚Jedes Ganze ist größer als einer seiner Teile‘ erkennen, weil ‚Ganzes‘
nichts anderes bedeutet als ‚etwas, was aus Teilen be­steht und größer ist als
jeder seiner Teile‘. Durch das bloße Erfassen der Bedeutung des Ter­m inus
lässt sich das ganze Prinzip erkennen, und zwar ohne dass ein konkretes
Referenzob­jekt für den Terminus angenommen werden muss. Damit zielt
Scotus auf die Erkenntnis ana­lytischer Aussagen ab, für die sich leicht ein

115
  Vgl. Williams 2001, 40–42.
116
 In der Lectura beschränkt er sich auf drei Arten. Erst in der späteren Ordinatio dis-
kutiert er vier Arten. Ich konzentriere mich daher auf die spätere, ausgereiftere Diskussion.
Einen detaillierten Vergleich der beiden Textfassungen bietet Brown 1976 und 1984.
117
  Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 230 (ed. Vat. III, 138–139): „... termini principiorum
per se notorum talem habent identitatem ut alter evidenter necessario alterum includat, et ideo
intellectus, componens illos terminos, ex quo apprehendit eos – habet apud se necessariam
causam conformitatis illius actus componendi ad ipsos terminos quorum est compositio, et
etiam causam evidentem talis conformitatis ...“ Vgl. auch Lectura I, dist. 3, pars 1, q. 3, n. 174
(ed. Vat. XVI, 293).
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§ 8 Verteidigung der natürlichen Erkenntnisquellen 87

modernes Beispiel anführen lässt.118 Selbst wer keinen Junggesellen sieht,


auf den er Bezug nehmen könnte, kann die Aussage ‚Jeder Jungge­selle ist ein
unverheirateter Mann‘ bilden und als wahr erkennen. Bereits das Erfassen
des Terminus ‚Junggeselle‘ garantiert die Erkennbarkeit der ganzen wahren
Aussage.
Damit hat Scotus einen Bereich von sicherer Erkenntnis bestimmt, der
gleichsam im­mun ist gegen die Irrtumsanfälligkeit der Sinne. Denn selbst
wenn ein Terminus ausgehend von einer irreführenden Sinnesinformation
gebildet wird, legt die Bedeutung des Terminus die Wahrheit und Erkenn-
barkeit des ganzen Prinzips fest. Auch dafür gibt Scotus ein an­schauliches
Beispiel.119 Wenn jemand von Geburt an blind ist und im Traum auf wun-
dersame Weise die Eindrücke von Weiße und Schwärze erhält, kann er den
Terminus ‚weiß‘ bilden und sogleich das Prinzip ‚Weißes ist nicht schwarz‘
erfassen. Allein die Bedeutung von ‚weiß‘ – ganz unabhängig davon, wie die-
ser Terminus gewonnen wird – legt sein Verhältnis zum Terminus ‚schwarz‘
und damit auch die Wahrheit des ganzen Prinzips fest. Es spielt also keine
Rolle, (a) ob tatsächlich ein äußeres Referenzobjekt für den Terminus vor-
liegt und (b) ob ein solches Objekt durch zuverlässige Sinneswahrnehmung
erfasst wurde. Entscheidend ist nur, dass der Intellekt einen Terminus bildet.
Ist der Terminus einmal vorhanden, ist auch das ganze Prinzip vorhanden
und unmit­telbar erkennbar. Entscheidend ist dabei, dass keine Illumination
erforderlich ist, nicht einmal im Sinne einer übernatürlichen Unterstützung
und Korrektur der natürlichen kognitiven Pro­zesse. Jeder Mensch kann
ausschließlich mithilfe seines eigenen Intellekts analytische Aussa­gen bilden
und als wahr erkennen.
Dieser Verweis auf analytische Aussagen wirft allerdings ein Problem
auf. Was erlaubt es dem Intellekt, derartige Aussagen zu bilden und mit
Evidenz zu erfassen? Scotus hält lediglich fest, wenn der Intellekt ‚Jedes
Ganze ist größer als einer seiner Teile‘ bilde, stimme er „kraft seiner selbst
und der Termini zweifelsfrei dieser Zusammensetzung zu.“120 Offensicht-
lich liegt der Grund für die evidente Erkenntnis der ganzen Aussage nicht
118
  Pasnau 2003a, 302, betont, dass Scotus nicht von analytischen, sondern von „durch sich
bekannten“ (per se notae) Aussagen spricht und damit primär auf eine epistemologische Cha-
rakterisierung abzielt. Dies ist zweifellos korrekt. Doch wie aus Anm. 117 hervorgeht, cha-
rakterisiert Scotus diese Aussagen im Hinblick auf eine Inklusion der Termini, und genau
durch diese Inklusion zeichnen sich analytische Aussagen aus. Wenn diese Aussagen durch
sich bekannt sind, dann deshalb, weil ihre Wahrheit allein durch ein Erfassen der einander
einschließenden Termini erkannt werden kann. Kurz gesagt: Die Analytizität dieser Aus-
sagen garantiert, dass sie durch sich bekannt sind.
119
 Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 234 (ed. Vat. III, 141).
120
  Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 234 (ed. Vat. III, 141): „... si ratio ‚totius‘ et ratio ‚maio-
ritatis‘ accipiatur a sensu, et intellectus componat istam ‚omne totum est maius sua parte‘, in-
tellectus virtute sui et istorum terminorum assentiet indubitanter isti complexioni ...“
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88 Zweifel am natürlichen Wissen

nur in den Termini (genauer gesagt: in ihrer Bedeutung), sondern auch im


Intellekt. Er ist fähig, der Aussage zuzustimmen und sie mit Evidenz zu er-
kennen, sobald er die Termini erfasst hat. Damit macht Scotus freilich eine
gehaltvolle intellekttheoretische Annahme: Der menschliche Intellekt ist
von sich aus imstande, ausgehend von bestimmten Termini analytische Aus-
sagen zweifelsfrei zu erfassen.
Nun könnte man sogleich bemerken, dass dies doch selbstverständlich
ist. Den Ter­minus ‚Ganzes‘ zu erfassen, heißt doch nichts anderes, als zu
erfassen, dass ‚Ganzes‘ soviel bedeutet wie ‚etwas, was aus Teilen besteht
und größer ist als jeder seiner Teile‘. Sobald man die Bedeutung des Ter-
minus erfasst hat, hat man auch die ganze Aussage erfasst; die evidente
Erkenntnis ist gleichsam geschenkt. Von einem modernen Standpunkt aus
kann man aller­dings an diesem Punkt nachbohren und fragen, warum der
Intellekt gleich die ganze Aussage erfassen kann. Wie Quine gezeigt hat,
reicht es nicht aus, einfach auf die Synonymie der Termini zu verweisen,
weil man sich dann schnell in einen Zirkel begibt.121 Sagt man näm­lich,
man könne die Aussage ‚Ein Ganzes ist etwas, was aus Teilen besteht und
größer ist als jeder seiner Teile‘ sogleich erfassen, weil ‚Ganzes‘ und ‚etwas,
was aus Teilen besteht und größer ist als jeder seiner Teile‘ synonym sind,
kann man sogleich weiterfragen, warum diese beiden Ausdrücke synonym
sind. Wenn man dann antwortet, sie seien synonym, weil allein das Erfassen
dieser Ausdrücke das Erfassen der Aussage ‚Ein Ganzes ist etwas, was aus
Teilen besteht und größer ist als jeder seiner Teile‘ erlaubt, dreht man sich
im Kreis: Die analytische Aussage wird mit Verweis auf Synonymie erklärt,
die Synonymie mit Verweis auf die analytische Aussage. Wie lässt sich dann
erklären, warum der Intellekt von sich aus die analytische Aussage erfassen
kann?
Auf diese Frage gibt Scotus in seiner Auseinandersetzung mit Heinrich
keine Antwort. Betrachtet man aber seine allgemeine Erklärung der Bedeu-
tung sprachlicher Ausdrücke, lässt sich eine Antwort erschließen. Scotus
betont nämlich, dass es beim Erfassen eines Ausdrucks einen Übergang
von einem konfusen zu einem klaren Erfassen der Bedeutung gibt.122 Im
An­fangsstadium erfassen wir nur umrisshaft, was der Terminus bedeutet
und auf welche Gegenstände er sich bezieht. Erst wenn wir ihn genauer ana-
lysieren, gelangen wir Schritt für Schritt zu einem klaren Erfassen. In einer
solchen Analyse fügen wir dem Ausdruck nichts hinzu, son­dern machen nur
das explizit, was implizit bereits in ihm enthalten ist. Entscheidend ist dabei,
dass wir nicht von Anfang an eine Synonymie annehmen oder Synonymie
121
  Vgl. Quine 1963, 29–30.
122
 Vgl. Ordinatio I, dist. 27, q. 1–3, n. 73–75 (ed. Vat. VI, 91–92). Zur Bedeutungstheorie
vgl. ausführlich Perler 2003a.
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§ 8 Verteidigung der natürlichen Erkenntnisquellen 89

einfach mit Rekurs auf eine analytische Aussage erklären. Wir analysieren
vielmehr die Bedeutungskomponenten des Terminus und gelangen zur Ein-
sicht, dass ‚Teile haben‘ und ‚größer sein als jeder seiner Teile‘ gleichsam in
der Bedeutung von ‚Ganzes‘ steckt und nur sichtbar gemacht werden muss.
Daher ist das Bilden und Erfassen einer analytischen Aussage nichts anderes
als das Explizieren der Bedeutungskomponenten. Unser Intellekt ist zu
einem solchen Explizieren imstande, weil er von sich aus – ohne Rückgriff
auf irgendein ideales Modell – die Bedeu­tungskomponenten erfassen und
einander zuordnen kann.
Mit einer solchen Erklärung entgeht Scotus einem Zirkel, er stützt sich
aber auf zwei gewichtige Annahmen, nämlich (1) dass be­stimmte Ausdrücke
unabhängig von jeder Theorie und jeder Erfahrung feste Bedeutungskom­
ponenten haben,123 und (2) dass der Intellekt trotz der Irrtumsanfälligkeit
der Sinne die Bedeutungskomponenten korrekt erfassen und analysieren
kann. Weil allein die Bedeutung der Termini die Wahrheit einer analytischen
Aussage garantiert, muss eine solche Aussage nicht durch die Erfahrung
bestätigt oder verifiziert werden. Und das heißt natürlich: Fehler oder Irr-
tümer, die sich in der Erfahrung einschleichen, spielen keine Rolle. Daher ist
auch keine Korrektur durch eine übernatürliche Illumination erforderlich.
Die Erkenntnis einer analytischen Aussage bedarf keiner Korrektur.
Würde sich Scotus mit dieser Erklärung begnügen, hätte er zwar eine Art
von Er­kenntnis als sicher und irrtumsimmun etabliert, aber er hätte genau
jene Art nicht berücksich­tigt, auf die sich Heinrich konzentriert, nämlich
die auf Erfahrung gestützte Wesenserkenntnis. Wie kann ich etwa erkennen,
dass ein Pferd eine bestimmte wesentliche Struktur hat? Eine bloße Ana-
lyse des Terminus ‚Pferd‘ bringt mich hier nicht weiter, denn die Bedeutung
dieses Terminus schließt viel ein, was nicht zum Wesen eines Pferdes gehört.
So verstehen wir unter einem Pferd normalerweise ein Lebewesen mit vier
Beinen, aber natürlich bleibt ein Pferd auch dann noch ein Pferd, wenn es
ein Bein verliert. Kurzum: Eine Bedeutungsanalyse ermöglicht nicht das
Erfassen des Wesens.
Scotus ist sich dieses Problems bewusst und versucht daher zu zeigen, dass
es noch eine zweite Art von sicherer Erkenntnis gibt, die ohne Illumination
möglich ist. Sie wird durch die Wahrnehmung zahlreicher Individuen einer
bestimmten Art gewonnen. Scotus erläutert sie anhand eines Beispiels.124

 Darin liegt natürlich die Differenz zu Quine in der modernen Debatte, der bestreitet,
123

dass es derart unabhängige Bedeutungen gibt, und infolgedessen auch bestreitet, dass die
Unterscheidung von analytischen und synthetischen Aussagen sinnvoll ist. Vgl. Quine 1963,
42–46.
124
 Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 235 (ed. Vat. III, 141–142) und Lectura I, dist. 3,
pars 1, q. 3, n. 177 (ed. Vat. XVI, 294–295).
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90 Zweifel am natürlichen Wissen

Wenn ich wiederholt festgestellt habe, dass eine bestimmte Pflanze eine
heilende Wirkung hat, und wenn ich zudem weiß, dass dies nicht zufällig
so ist, kann ich erkennen, dass diese Pflanze immer eine heilende Wirkung
hat und dass es somit zum Wesen dieser Pflanze gehört, zu heilen. Scotus’
Argumentation umfasst drei Schritte:
(1) Ich habe in zahlreichen Fällen die Erfahrung gemacht, dass die Indivi­
duen einer bestimmten Art eine bestimmte Wirkung hervorrufen.
(2) Ich habe ein Wissen von dem Prinzip ‚Was in den meisten Fällen auf-
grund einer nicht zufäl­ligen Ursache geschieht, ist die natürliche Wir-
kung dieser Ursache‘.
(3) Also erkenne ich, dass die Individuen einer bestimmten Art von Natur
aus immer eine bestimmte Wirkung hervorrufen.
Scotus betont, dass uns dieses Vorgehen erlaubt, auf untrügerische Weise
(infallibiliter) Er­kenntnis zu gewinnen.125 Wie überzeugend ist seine Argu-
mentation? Betrachten wir die einzel­nen Schritte. Schritt (1) kann sicherlich
zugestanden werden. Der mögliche Einwand, die Erfahrung könnte doch in
zahlreichen Fällen trügerisch sein, weil es zu zahlreichen Sin­nestäuschungen
kommen könnte, lässt sich mit einem Verweis auf die allgemeine Zuverläs­
sigkeit der Sinne zurückweisen. Scotus (und vor ihm schon Heinrich von
Gent) geht von der durchaus plausiblen Annahme aus, dass die Sinne im
Prinzip zuverlässig sind und daher im Prinzip zuverlässige Informationen
darüber liefern, welche Wirkung sich beobachten lässt, wenn bestimmte
Gegenstände vorliegen.
Schwieriger verhält es sich mit Schritt (2). Woher haben wir ein Wissen
von dem genannten Prinzip? Scotus hält lediglich fest, es „ruhe im Geist“,126
d.h. es sei poten­tiell vorhanden und könne aktualisiert werden. Doch wie
gewinnen wir dieses Prinzip? Wenn es nicht einfach angeboren ist (Scotus
deutet an keiner Stelle auf eine platonische Theorie des angeborenen Wissens
hin), muss es erworben sein. Es kann jedoch nicht durch eine bloße Analyse
des Terminus ‚Ursache‘ erworben sein, da es gewichtige Thesen beinhaltet,
nämlich (i) dass es einen entscheidenden Unterschied zwischen einer zufäl-
ligen und einer nicht zufäl­ligen Ursache gibt und (ii) dass das, was in den
meisten Fällen auf die nicht zufällige Ursache folgt, deren Wirkung ist und
nicht bloß eine Begleiterscheinung oder ein korrelierendes Er­eignis. Wie

125
  Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 235 (ed. Vat. III, 141–142): „... dico quod licet ex-
perientia non habeatur de omnibus singularibus sed de pluribus, neque quod semper sed quod
pluries, tamen expertus infallibiliter novit quia ita est et semper et in omnibus – et hoc per
istam propositionem quiescentem in anima: ,quidquid evenit ut in pluribus ab aliqua causa
non libera, est effectus naturalis illius causae‘...“
126
  Vgl. Anm. 125, wo er es „quiescentem in anima“ nennt.
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§ 8 Verteidigung der natürlichen Erkenntnisquellen 91

gelangen wir zu diesem Prinzip? Scotus zufolge können wir es ausgehend


von der Sinneserfahrung gewinnen. Er hält dies für so selbstverständlich,
dass er behauptet, jeder Mensch könne das Prinzip gewinnen und ihm zu-
stimmen. Er betont sogar, dass selbst dann, wenn die Termini dieses Prin-
zips aufgrund irreführender Sinneseindrücke gebildet werden, das ganze
Prinzip gewonnen wird. Selbst wenn ich also im Schlaf Traumvorstellungen
von irgendwelchen Wunderdingen habe, auf die regelmäßig andere Dinge
folgen, kann ich die Termini ‚Ursache‘ und ‚Wirkung‘ bilden und das ganze
Prinzip erfassen.
Gegen diese Annahme lässt sich allerdings einwenden, dass die Un-
terscheidung von zufälligen und nicht zufälligen Ursachen alles andere
als selbst-evident ist. Angenommen, ich habe hundertmal eine bestimmte
Pflanze auf eine Wunde gelegt und immer festgestellt, dass die Wunde
schnell heilt. Kann ich dann sicher sein, dass die heilende Wirkung aufgrund
einer nicht zufälligen Ursache erfolgt ist? Es könnte doch sein, dass in allen
Fällen ein bestimmter Heilungsmechanismus im Körper, eine Verhaltens-
weise der verletzten Person oder vielleicht auch nur das Wasser, mit dem
die Wunde gespült wurde, für die Heilung verantwortlich ist. Selbst wenn
ich zahlreiche Fälle (oder „die meisten Fälle“, wie Scotus betont) sorgfältig
beo­bachte, kann ich nicht ausschließen, dass ich es nur mit einer zufälligen
Ursache zu tun habe.
Selbst wenn es uns gelingt, eine nicht zufällige Ursache von einer zufäl-
ligen zu unter­scheiden, stellt sich noch ein weiteres Problem. Wie können
wir sicher sein, dass etwas in den meisten Fällen aufgrund einer nicht zu-
fälligen Ursache geschieht und dass daher eine natürli­che Kausalrelation
besteht? Streng genommen können wir nur regelmäßige Korrelationen be-
obachten, d.h. wir können nur feststellen, dass in zahlreichen Fällen immer
dann, wenn x aufgetreten ist, auch y aufgetreten ist. Ob y aufgrund von x
aufgetreten ist, entzieht sich unse­rer Beobachtung. Bereits die arabischen
Occasionalisten wiesen auf diesen Punkt hin und vertraten die Ansicht, wir
sollten auf Gott als die einzige Ursache rekurrieren. Wenn wir se­hen, dass
auf x in den meisten Fällen y folgt, sollten wir ihrer Ansicht nach sagen,
dass Gott die Ursache für y ist; x ist nur eine Gelegenheit für das Handeln
Gottes.
Die occasionalistische These war im späten 13. Jh. durchaus bekannt
und wurde rege rezipiert.127 Sie verdeutlicht, dass das Kausalitätsprinzip
keineswegs selbst-evident ist. Wa­r um hält es Scotus für selbst-evident, und
warum geht er nicht auf den occasionalistischen Einwand ein? Der Grund
127
  Vgl. Perler & Rudolph 2000. Dass der Occasionalismus in den lateinischen Debatten der
zweiten Hälfte des 13. Jhs. durchaus bekannt war, verdeutlicht Thomas von Aquins Widerle-
gungsversuch in Summa contra Gentiles III, cap. 69, nn. 2441–2459 (ed. Pera, Bd. III, 95–98).
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92 Zweifel am natürlichen Wissen

liegt wohl in der aristotelischen Naturphilosophie, die den Rahmen für


seine ganze Argumentation bildet. Er geht davon aus, dass Gegenstände
nicht einfach Materiestücke sind, die auf eine externe Ursache angewiesen
sind, sondern natürliche Sub­stanzen, die über innere kausale Fähigkeiten
verfügen. Wenn wir beobachten, dass auf x in den meisten Fällen y folgt,
können wir annehmen, dass die natürliche Substanz x ihre kausa­len Fähig-
keiten aktiviert und y hervorbringt. Dies befähigt uns zur Aussage, dass
y aufgrund von x (und nicht bloß zeitlich nach x) aufgetreten ist. Scotus
spricht daher auch von der kausalen Natur einer Substanz und betont, dass
die Wirkung „durch die Natur in ihr“ hervorgebracht wird.128 Diese Aussage
weist darauf hin, dass er das Kausalprinzip für selbst-evident hält, weil es
die un­mittelbare Konsequenz einer aristotelisch geprägten Auffassung von
natürlichen Substanzen ist: Wenn diese Substanzen eine innere Natur haben,
die ihnen kausale Fähigkeiten verleiht, ist es selbst-evident, dass natürliche
Substanzen natürliche Wirkungen haben. Diese aristoteli­sche Auffassung
ist auch der Grund dafür, dass Scotus in der Unterscheidung von zufälligen
und nicht zufälligen Ursachen kein besonderes Problem sieht. Wenn wir in
einer bestimmten Situation alle relevanten Substanzen beobachten, können
wir nämlich nach gründlicher Unter­suchung bestimmen, welche Substanz
eine kausale Fähigkeit aktiviert hat. Für das Beispiel mit der heilenden
Pflanze heißt dies: Wenn wir in zahlreichen Fällen alle Substanzen, die mit
der Wunde in Berührung kommen, untersuchen und darüber hinaus be-
obachten, wie sich die Präsenz dieser Substanzen in anderen Situationen auf
eine Heilung auswirkt, können wir mit der Zeit bestimmen, welche Sub-
stanz für die Heilung verantwortlich ist. Wir schließen dann einfach von
der Aktivität einer Substanz auf eine kausale Fähigkeit.
Scotus hält einen solchen Schluss für selbstverständlich und daher auch
den Übergang von (1) zu (2) in der oben genannten Argumentation für
selbst-evident: Wenn wir in zahlrei­chen Fällen die Erfahrung machen, dass
auf das Vorliegen bestimmter Substanzen bestimmte Wirkungen folgen,
können wir annehmen, dass die Substanzen aufgrund kausaler Fähigkeiten
die Wirkungen hervorgebracht haben; und dann können wir auch das
Kausalprinzip erfassen. Doch folgt aus (1) und (2) unmittelbar (3)? Scotus
behauptet, wir könnten erkennen, dass die Individuen einer bestimmten Art
immer eine bestimmte Wirkung hervorrufen. Er sagt expli­zit, „dass – wie
groß die Verschiedenheit der Akzidenzien auch gewesen sein mag – immer
eine solche Wirkung auf diese Natur folgte.“129 Ausgehend von der Beobach-
128
  Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 235 (ed. Vat. III, 142–143): „Igitur non per aliquod
accidens isti naturae, sed per naturam ipsam in se, sequitur talis effectus.“
129
  Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 235 (ed. Vat. III, 142): „... quantacumque esset diver-
sitas accidentium, semper istam naturam sequebatur talis effectus.“
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§ 8 Verteidigung der natürlichen Erkenntnisquellen 93

tung eini­ger Fälle nimmt Scotus an, dass in allen Fällen eine bestimmte Ur-
sache eine bestimmte Wir­kung zur Folge hatte und, so kann man ergänzen,
auch in Zukunft zur Folge haben wird. Doch dies scheint ein überstürzter
induktiver Schluss zu sein. Man könnte sogleich einwenden, dass Scotus
doch nur von einigen Fällen – nämlich den selbst beobachteten – sagen kann,
dass eine bestimmte Ursache eine bestimmte Wirkung hervorbrachte. Ob es
sich in allen Fällen so ver­h ielt und auch in Zukunft verhalten wird, ist eine
offene Frage. Ein induktiver Schluss führt höchstens zu wahrscheinlichem
Wissen, aber nicht zu Erkenntnis „auf untrügerische Weise“, wie Scotus
annimmt. Bereits im 14. Jh. wies Nikolaus von Autrécourt darauf hin, dass
man ausgehend von der Beobachtung einiger Fälle höchstens einen habi­tus
conjecturativus erwerben kann, aber keine Erkenntnis, geschweige denn
sichere, infal­lible Erkenntnis.130 Warum glaubt Scotus, dass man ausgehend
von der Beobachtung einiger Fälle eine sichere Erkenntnis aller Fälle einer
bestimmten Art gewinnt?
Der Grund liegt auch hier in seiner aristotelisch geprägten Naturphi-
losophie. Wenn man nämlich annimmt, dass alle Individuen einer Art eine
bestimmte Natur haben und dass diese Natur für die kausalen Fähigkeiten
verantwortlich ist, kann man durchaus schließen, dass alle Individuen – auch
die nicht beobachteten – eine bestimmte Wirkung hervorbringen. Die innere
Natur garantiert gleichsam die Kausalrelation. So können wir selbst dann,
wenn wir nur hundertmal beobachtet haben, dass eine bestimmte Pflanze
eine heilende Wirkung hat, schließen, dass jedes Exemplar dieser Pflanzen-
art eine heilende Wirkung hat – ganz ein­fach, weil wir erfasst haben, dass
die innere Natur, die in jedem Exemplar vorhanden ist, für die heilende
Wirkung verantwortlich ist.
Ein solcher Rekurs auf die innere Natur der Gegenstände verdeutlicht,
dass Scotus’ Erklärung des empirischen Wissens in ein naturphilosophi-
sches Programm eingebettet ist und mit den Annahmen dieses Programms
steht und fällt.131 Akzeptiert man die Annahme, dass jeder Gegenstand
aufgrund seiner Natur etwas bewirkt, ist es sicherlich überzeugend, jedem
Menschen eine natürliche Erkenntnis wesentlicher kausaler Eigenschaften
zuzuschreiben. Verhält man sich jedoch skeptisch gegenüber dieser An-
nahme, bleibt auch eine Skepsis ge­genüber der These bestehen, jeder könne

  Vgl. Nikolaus von Autrécourt, Exigit ordo (ed. O’Donnell, 237), „tertia decima conclu-
130

sio“. Nikolaus zitiert die Beispiele von Rhabarber, der Cholera heilt, und von einem Magneten,
der Eisen anzieht. Die Beobachtung, dass in einigen Fällen eine bestimmte Wirkung auf eine
bestimmte Ursache gefolgt ist, erlaubt uns seiner Ansicht nach nicht, gleich zu schließen, dass
dies auf alle Fälle zutrifft. Wie Maier 1967, 390, bereits festgestellt hat, zielt Nikolaus mit
dieser Kritik sehr wahrscheinlich explizit auf Scotus ab.
131
 Vgl. zu diesem naturphilosophischen Programm, insbesondere zu den aristotelischen
Prämissen, Cross 1998.
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94 Zweifel am natürlichen Wissen

„auf untrügerische Weise“ eine solche Erkenntnis gewinnen. Denn was


erlaubt uns anzunehmen, dass Gegenstände tatsächlich eine innere Natur
haben, die ihre kausalen Fähigkeiten festlegt? Prima facie können wir nur
einzelne Gegen­ stände mit wechselnden Eigenschaften beobachten. Ob
diesen Eigenschaften eine unverän­derliche Natur zugrunde liegt, ist eine
Frage, die sich allein aufgrund der Erfahrung nicht be­antworten lässt. Wie
in § 5 deutlich geworden ist, war genau diese Frage die treibende Kraft für
Heinrich von Gents skeptische Argumentation. Heinrich insistierte ja da-
rauf, dass wir durch die Beobachtung wechselnder Eigenschaften nur insta-
bile Vorstellungsbilder gewinnen können. Die Natur der Gegenstände (und
damit auch ihre kausalen Fähigkeiten) können wir nur erfassen, wenn wir
über ein ideales Modell verfügen. An diesem Punkt zeigt sich, dass Hein-
rich und Scotus zu einer unterschiedlichen Einschätzung der skeptischen
Herausforde­r ung gelangen, weil sie von unterschiedlichen Voraussetzungen
ausgehen. Nimmt man wie Scotus an, dass Gegenstände eine Natur haben,
die ohne ideales Modell und ohne Illumina­tion erkennbar ist, lässt sich die
skeptische Gefahr bannen. Beharrt man hingegen wie Hein­rich darauf, dass
sich prima facie nur Gegenstände mit wechselnden Eigenschaften wahrneh­
men lassen, bleibt die skeptische Herausforderung bestehen.
Scotus führt noch eine dritte Art von Erkenntnis an, die unabhängig von
jeder Illumi­nation sicher und unbezweifelbar ist: die Erkenntnis der eigenen
Akte. Er betont, dass wir zwar bezüglich der Objekte unserer Akte Zweifel
hegen können, nicht aber bezüglich der Tat­sache, dass wir solche Akte
haben bzw. vollziehen. Seine Beispiele lauten: Wenn ich etwas verstehe oder
höre, kann ich bezüglich der Tatsache, dass ich verstehe oder höre, keine
Zwei­fel hegen.132 Es scheint zunächst, als würde Scotus damit das berühmte
cartesische Cogito-Argument antizipieren: Wie ungewiss die Objekte des
Denkens auch sein mögen, das eigene Denken ist gewiss. Eine nähere Be-
trachtung seiner Beispiele zeigt jedoch, dass er nicht einfach auf das Denken
abzielt. Er behauptet nämlich, die Tatsache, dass ich höre, sei unbezweifel-
bar. Und unter dem Hören versteht er als Aristoteliker einen körperlichen
Akt, der in körperlichen Organen lokalisiert ist. Aus cartesischer Sicht wäre
ein solcher Akt aber durchaus bezweifelbar. In der Cogito-Situation wird
ja alles Körperliche – auch die Existenz der eigenen körperlichen Akte – in
Zweifel gezogen. Daher sagt Descartes ausdrücklich, nicht ein Akt wie ‚Ich
spa­ziere‘ sei unbezweifelbar, sondern nur ‚Ich denke, dass ich spaziere‘.133
Ähnlich gilt in cartesi­scher Perspektive: Nicht ‚Ich höre mit meinen Ohren‘,
sondern nur ‚Ich denke, dass ich höre‘ ist unbezweifelbar. Dass sich Scotus’

132
 Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 239 (ed. Vat. III, 145).
133
 Vgl. Resp. V (AT VII, 352).
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§ 8 Verteidigung der natürlichen Erkenntnisquellen 95

Argumentation von jener Descartes’ unterscheidet, zeigt sich noch in einem


weiteren Punkt. Scotus behauptet, auch das eigene Wachsein sei sicher und
unbezweifelbar. Unmissverständlich hält er fest: „... dass wir wach sind,
ist aus sich heraus bekannt wie das Prinzip eines Beweises.“134 Diese These
unterscheidet sich natürlich von der cartesischen, der zufolge es für die
Zweifelssituation gerade charakteristisch ist, dass wir einen Wachzustand
nicht von einem Traumzustand unterscheiden können. Unbezweifelbar
ist für Descartes nur die Tatsache, dass wir einen Zustand haben, der sich
durch einen bestimmten Inhalt auszeich­net. Da sich Wach- und Traum-
zustand aber perfekt gleichen und da wir in der Zweifelssitua­tion über kein
Kriterium zu ihrer Unterscheidung verfügen, können wir nicht sagen, ob
wir uns in einem Wach- oder in einem Traumzustand befinden.
Worauf zielt Scotus mit seinem Verweis auf die eigenen Akte ab, wenn er
nicht ein Cogito-Argument präsentieren will? Sein Ziel besteht nur darin,
sorgfältig zwischen einem intentionalen Akt (sei dieser rein intellektuell
oder wie ein Wahrnehmungsakt auch teilweise körperlich) und dem äußeren
Objekt eines solchen Aktes zu unterscheiden. Ein Skepti­ker kann nämlich
mit Verweis auf die Irrtumsanfälligkeit der Sinne darauf insistieren, dass
aus ‚In meinem Sehen, Hören usw. ist mir x präsent‘ keineswegs ‚x existiert
unabhängig von meinem Sehen, Hören usw.‘ folgt; es ist ja immer möglich,
dass ich eine Halluzination habe oder sonst einer Täuschung zum Opfer
falle. Doch der Skeptiker darf daraus nicht den Schluss ziehen, dass gleich
alles zweifelhaft wird. Denn wie ungewiss auch die Existenz äu­ßerer Ob-
jekte ist, die Tatsache, dass ich intentionale Akte mit einem bestimmten
Inhalt habe, bleibt davon unberührt. Und die Tatsache, dass ich mir dieser
Akte unmittelbar bewusst bin, bleibt ebenfalls unberührt.
Freilich sichert Scotus damit eine Art von Erkenntnis, die auch für Hein-
rich von Gent frei von jedem Zweifel ist. Auch er hält fest, dass die eigenen
Akte stets unbezweifelbar sind. Mit Verweis auf Augustin betont Heinrich
sogar, dass gerade das Zweifeln die Unbezweifelbarkeit der eigenen Akte
offenbart. Denn wer zweifelt, ob er etwas weiß, zweifelt nicht daran, dass
er zweifelt.135 Somit sind sich Heinrich und Scotus einig darin, dass ein all-
umfassender Zweifel unsinnig ist. Allerdings bleibt damit immer noch das
Problem bestehen, dass wir durch das bloße Haben oder Vollziehen eines
Aktes keine Gewissheit bezüglich des äußeren Objekts dieses Aktes haben.
Genau von diesem Problem gingen ja die akademischen Skeptiker aus.

134
  Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 238 (ed. Vat. III, 145): „... ,nos vigilare‘ est per se
notum sicut principium demonstrationis ...“ Siehe auch Lectura I, dist. 3, pars 1, q. 3, n. 181
(ed. Vat. XVI, 296).
135
 Dies ist das fünfte Autoritätsargument zugunsten eines natürlichen Wissens (vgl.
Summa, art. 1, q. 1; ed. Wilson, 9), dem Heinrich nicht widerspricht.
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96 Zweifel am natürlichen Wissen

Wenn ich etwa einen Holzstab sehe, der mir gebrochen erscheint, kann ich
nicht sicher sein, dass tatsächlich ein gebrochener Holzstab vor mir liegt;
ich könnte ja das Opfer einer Sinnes­täuschung sein. Und da ich stets auf der
Grundlage der Sinnesinformation ein Urteil bilde, kann ich mir auch meines
Urteils nicht sicher sein. Wie lässt sich hier die skeptische Gefahr bannen?
Scotus versucht diese Frage zu beantworten, indem er eine vierte Art von
Erkenntnis als sicher etabliert, nämlich jene bezüglich der sinnlich wahr-
nehmbaren Objekte.136 Wie Hein­rich betont er zunächst, dass man verschie-
dene Sinnesinformationen miteinander vergleichen muss. Im Gegensatz zu
Heinrich hält er aber nicht einfach fest, dass man den „korrekteren Sinn“
berücksichtigen sollte, sondern er erläutert, wie einander widersprechende
Informatio­nen auszuwerten sind. Wenn im Falle des Holzstabes, der halb
ins Wasser eingetaucht ist, Gesichtssinn und Tastsinn einander wider-
sprechen, muss man auf den allgemeinen Satz ‚Nichts Hartes wird durch
etwas Weiches gebrochen oder weicht diesem aus‘ zurückgreifen. Aufgrund
dieses Satzes ist es klar, dass die Information des Tastsinns korrekt ist und
dass ein Urteil sich auf diese Information stützen muss. Entscheidend ist für
Scotus, dass man sich zur Auswertung der Sinnesinformation auf einen Satz
berufen muss, der allgemeine Gültigkeit hat und auf jede mögliche Situation
anwendbar ist.
Da Scotus lediglich sagt, der zur Evaluation erforderliche Satz „ruhe im
Geist“, jedoch nicht erläutert, wie dieser Satz erworben wird, könnte man
den Eindruck gewinnen, dass er gleichsam ein Kriterium herbeizaubert,
ohne dessen Genese zu erläutern und ohne es zu be­gründen. J. V. Brown
erhob aus diesem Grund den Vorwurf, Scotus operiere einfach mit einer
zweifelhaften „Metaphysik der Prinzipien“.137 Solange diese Prinzipien nicht
ihrerseits auf eine sichere Grundlage gestellt würden, könnten sie keine
sichere Erkenntnis fundieren.
In der Tat gibt Scotus keine detaillierte Begründung des genannten Sat-
zes und anderer allgemeiner Sätze oder Prinzipien. Es lässt sich jedoch eine
Begründung herleiten, wenn man das Erfassen dieser Sätze ähnlich versteht
wie jenes der analytischen Aussagen. Wer den Ter­m inus ‚hart‘ erfasst, kann
Schritt für Schritt die Bedeutungskomponenten erfassen und da­durch er-
kennen, dass ‚hart‘ soviel bedeutet wie ‚gibt einem Widerstand nicht nach‘
oder ‚lässt sich nicht leicht biegen oder brechen‘. Sind einmal alle Bedeu-
tungskomponenten analysiert, lässt sich der ganze Satz gewinnen, und zwar
ohne dass er anhand eines konkreten Beispiels geprüft oder bestätigt wer-
den muss.

136
 Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 240–245 (ed. Vat. III, 146–148).
137
  Vgl. Brown 1984, 178 und 181.
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11:27

§ 8 Verteidigung der natürlichen Erkenntnisquellen 97

Eine solche Begründung hat nicht nur den Vorteil, dass sie sich auf ana-
lytische Fähig­keiten des menschlichen Intellekts beschränkt und vollstän-
dig auf göttliche Illumination ver­zichtet. Sie zeigt auch, wie ein Ausweg
aus der Sackgasse des Kriterienproblems gefunden werden kann. Scotus
zufolge sollte man nicht auf der Ebene der Sinne nach einem Kriterium su-
chen, das uns erlaubt, eine Sinnesinformation einer anderen vorzuziehen.
Bestimmt man ein solches Kriterium, etwa die Klarheit oder Evidenz des
sinnlichen Erlebnisses, besteht nämlich immer die Gefahr, dass es allzu
vage ist (wie zeigt sich, ob das visuelle Erlebnis evidenter ist als das tak-
tile?) und nicht neutral (soll die Evidenz des visuellen Erlebnisses als Maß-
stab für das taktile genommen werden oder umgekehrt?). Ein Kriterium
kann nur auf der Ebene des Intellekts bestimmt werden. Dieses ist nicht
psychologischer, sondern nur begrifflicher Art. Es wird nämlich nur ge-
prüft, ob die Behauptung, die auf der Grundlage einer Sinnesinforma­tion
gemacht wird, begrifflich konsistent ist. Konkret heißt dies: Wenn ich
aufgrund meines visuellen Eindrucks von einem gebrochenen Holzstab
sage: ‚Der ins Wasser eingetauchte Holzstab ist gebrochen‘, oder sogar: ‚Er
wird durch das Wasser gebrochen‘, und wenn ich zudem der Aussage ‚Der
Holzstab ist ein harter Gegenstand‘ zustimme, dann behaupte ich, dass
ein harter Gegenstand durch etwas Weiches gebrochen wird. Dies ist aber
begrifflich inkonsistent, da die Bedeutung des Begriffs ‚hart‘ so festgelegt
ist, dass nichts, was unter die­sen Begriff fällt, durch Weiches gebrochen
werden kann. Genau diese Inkonsistenz zeigt, dass der taktilen Informa-
tion der Vorzug zu geben ist.
Mit dem Verweis auf eine solche begriffliche Prüfung gelingt es Scotus
zu zeigen, dass widersprüchliche Sinnesinformationen uns keineswegs
dazu verleiten sollten, gleich jede empirisch fundierte Erkenntnis infrage
zu stellen. Und mit Rekurs auf die anderen, bereits genannten Arten der
Erkenntnis kann er nachweisen, dass es verschiedene Bereiche gibt, für
die keine göttliche Illumination erforderlich ist. Diese Bereiche lassen sich
folgendermaßen zusammenfassen:
(1) analytische Erkenntnis (z.B. ‚Ein Ganzes ist größer als jeder seiner
Teile‘)
(2) Erkenntnis kausaler Zusammenhänge (z.B. ‚Diese Pflanze hat eine
heilende Wirkung‘)
(3) Erkenntnis eigener Akte (z.B. ‚Ich höre etwas‘)
(4) Erkenntnis wahrnehmbarer Eigenschaften (z.B. ‚Dieser Stab ist nicht
gebrochen‘).
Doch mit dem Nachweis dieser illuminationsunabhängigen Arten der
Erkenntnis bietet Scotus noch keine Lösung für das Problem, das Hein-

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98 Zweifel am natürlichen Wissen

rich von Gent in den Mittelpunkt seiner Überlegun­gen gestellt hatte, auch
wenn er selber die vier Arten anführt, um Heinrichs Illumina­tionstheorie
zurückzuweisen. Entscheidend ist für Heinrich nämlich die Frage, wie
eine essentielle Erkenntnis möglich ist. Wie können wir etwa erkennen,
was den Holzstab jetzt zu einem Holzstab macht und bewirkt, dass er
auch in Zukunft ein Holzstab bleibt? Diese Art von Erkenntnis geht über
die in (4) genannte hinaus, denn es geht ja nicht einfach um die Erkenntnis
einer wahrnehmbaren, stets veränderbaren, akzidentellen Eigenschaft. Sie
geht auch über (2) hinaus, denn problematisch ist nicht die Frage, wie wir
erkennen können, dass der Stab etwas bewirken kann, z.B. dass er Wärme
spenden kann, wenn er angezündet wird. Entscheidend ist die Frage,
wie wir das Wesen des Stabes erkennen können. Ist dies ohne eine gött-
liche Illumination möglich? Nur wenn Scotus diese Frage überzeugend
be­antwortet, ohne auf göttliche Illumination Bezug zu nehmen, kann er
nachweisen, dass menschliches Wissen auch ohne übernatürliche „Kon-
tamination“ möglich ist. Und nur dann kann er der skeptischen Gefahr
entgehen, die er im Verweis auf ein göttliches Eingreifen in den Erkennt-
nisprozess sieht.

§ 9 Essentielles Wissen ohne Illumination

In seinem Versuch, die Illuminationstheorie zurückzuweisen, geht Scotus


von der These aus, dass ein Mensch auf rein natürlichem Weg erkennen
kann, was einen Gegenstand zu einem Gegenstand einer bestimm­ten Art
macht und für seine wesentlichen Eigenschaften verantwortlich ist. Die
Pointe dieser These besteht darin, dass Scotus nicht nur behauptet, im rein
natürlichen Zustand (in puris naturalibus) sei ein solcher Erkenntnisgewinn
möglich. Dieser These hätte auch Hein­rich zugestimmt, der stets betonte,
im diesseitigen Leben – nicht erst in einem besonderen Zustand nach dem
Tod – könne das Wesen der Dinge erfasst werden. Scotus verteidigt dar­über
hinaus die These, dass auf rein natürlicher Grundlage (ex puris naturalibus),
d.h. einzig durch Aktivierung der natürlichen kognitiven Vermögen, ein
Erkenntnisgewinn möglich ist.138 Seiner Ansicht nach ist jeder Mensch
imstande, auf der Grundlage der Vorstel­lungsbilder intelligible Species zu
bilden, die das Wesen der Dinge darstellen – ohne jede Illumination. Mag
das jeweilige Vorstellungsbild auch instabil und veränderlich sein, die da­
r­aus abstrahierte Species ist ein stabiles kognitives Hilfsmittel, das nichts
anderes als das uni­versale Wesen darstellt. Kurz und bündig hält Scotus

138
 Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 258 (ed. Vat. III, 156–157).
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§ 9 Essentielles Wissen ohne Illumination 99

fest: „... es ist nämlich sicher, dass das Universale vom Intellekt verstanden
werden kann ...“139
Diese These provoziert sogleich zwei kritische Einwände. Der erste
bezieht sich auf die Aussage, das Erfassen des universalen Wesens und das
daraus resultierende essentielle Wissen sei auf rein natürlicher Grundlage
möglich. Postuliert Scotus damit nicht vorschnell eine Auto­ nomie des
menschlichen Intellekts? Muss er nicht berücksichtigen, dass der Intellekt
immer auf Gott angewiesen ist, da nur dieser die idealen Modelle für
sämtliche Erkenntnisobjekte hat und da nur er den menschlichen Intellekt
mit einer Erkenntnisfähigkeit ausstatten oder gar im Erkenntnisprozess
unterstützen kann? Im mittelalterlichen Kontext ist es doch undenkbar, den
Erkenntnisprozess vollständig zu naturalisieren. Der zweite Einwand be-
trifft die These, der Intellekt könne von den Vorstellungsbildern ein stabiles
kognitives Hilfsmittel abstrahieren. Heinrich von Gents Analysen, die in
§ 6 näher erläutert wurden, haben doch gezeigt, dass aus etwas Instabilem
nichts Stabiles abstrahiert werden kann. Ist dadurch nicht deutlich gewor­
den, dass ein stabilisierender Faktor erforderlich ist, nämlich genau jener
Faktor, den Heinrich mit Verweis auf eine Illumination in den Erkenntnis-
prozess einbauen möchte?
Diese kritischen Fragen verdeutlichen, dass Scotus seine Verteidigung
natürlicher Wissensansprüche in zwei Richtungen hin absichern muss. Zum
einen muss er sich – bildlich gesprochen – nach oben absichern und nach-
weisen, dass der menschliche Intellekt keiner göttlichen Intervention oder
Unterstützung bedarf. Genauer gesagt muss er den Nachweis erbringen,
dass ein Mensch neben der allgemeinen göttlichen Aktivität (Gott hält als
Schöpfer ja sämtliche Gegenstände in Existenz) keine besondere göttliche
Aktivität (Intervention in jeden einzelnen Erkenntnisakt) benötigt, um das
Wesen der Gegenstände erkennen zu können. Zum anderen muss sich Sco-
tus auch nach unten absichern, denn er muss zeigen, dass trotz der Varia-
bilität und Instabilität der körperlichen Vorstellungsbilder stabile Species
abstrahiert werden können, die das Wesen darstellen. Beide Absicherungen
gilt es genauer in den Blick zu nehmen.
Betrachten wir zunächst die Absicherung nach oben und damit die Re-
lation des menschlichen Intellekts zu Gott. Wie jeder mittelalterliche Autor
betont Scotus, dass diese Relation eine notwendige Voraussetzung für er-
folgreiche Erkenntnis ist. Gäbe es keine solche Relation, könnte überhaupt
kein Intellekt aktiv werden. Der Grund dafür liegt nicht nur darin, dass
Gott prinzipiell jeden Menschen mit einer Erkenntnisfähigkeit ausstattet,
139
  Ordinatio I, dist. 3, pars 3, q. 1, n. 348 (ed. Vat. III, 209): „... certum est enim quod
universale potest intelligi ab intellectu ...“ Siehe auch ibid., pars 1, q. 4, n. 258 (ed. Vat. III, 157)
und Lectura I, dist. 3, pars 3, q. 1, n. 266 (ed. Vat. XVI, 331).
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100 Zweifel am natürlichen Wissen

sondern vor allem darin, dass Gott alle Erkenntnisobjekte in sich enthält.
Scotus betont:
„... ich sage, dass alle verstehbaren Dinge im Akt des göttlichen Intellekts ein ‚versteh­
bares Sein‘ haben, und in ihnen scheinen alle diesbezüglichen Wahrheiten auf,
sodass der Intellekt, der sie versteht und durch sie alle diesbezüglichen Wahrheiten
versteht, in ihnen wie in Gegenständen die notwendigen Wahrheiten sieht.“140

Wenn Scotus hier von einem „verstehbaren Sein“ spricht (an anderen Stellen
auch von einem „objektiven Sein“ oder einem „intentionalen Sein“),141 dann
zielt er auf die Existenzweise ab, die Gegenstände als Objekte von inten-
tionalen Akten haben. Denkt Gott beispielsweise an einen Stein, ist der
Stein mit „verstehbarem Sein“ das Objekt seines Denkaktes – modern ge­
sprochen: sein intentionales Objekt. Entscheidend ist dabei, dass diesem
intentionalen Objekt kein reales Objekt in der materiellen Welt entsprechen
muss. Denn Gott kann auch an einen Stein denken, wenn kein einziger Stein
in der materiellen Welt existiert. Für Scotus steht so­gar fest, dass alle Ge-
genstände primär als intentionale Objekte Gottes existieren; für einige gibt
es eine reale Entsprechung, für andere nicht. Wenn Menschen Gegenstände
erkennen, so ist ihnen dies nur möglich, weil Gott durch die Menge seiner
intentionalen Objekte festlegt, was überhaupt ein erkennbarer Gegenstand
ist. Konkret heißt dies: Nur weil Gott primär an einen Stein denkt und den
Stein somit als intentionales Objekt hat, ist ein Stein sekundär auch für den
Menschen etwas Erkennbares. Gott legt durch seine intentionalen Objekte
den Ge­genstandsbereich des menschlichen Erkennens fest.
Nun könnte man sogleich einwenden, dass dies doch der These wider-
spricht, ein Mensch könne „auf rein natürlicher Grundlage“ (ex puris natu-
ralibus) etwas erkennen, zumal Scotus in der zitierten Passage festhält, der
menschliche Intellekt erkenne durch die Objekte des göttlichen Geistes alle
diesbezüglichen Wahrheiten. Heißt dies nicht, dass ein Mensch eine Wahr-
heit wie ‚Steine sind hart‘ nur dadurch erfassen kann, dass er einen Zugang
zu dem Stein hat, der im göttlichen Geist existiert und ein intentionales
Objekt für ihn darstellt? Sco­t us würde einer solchen Deutung entschieden
widersprechen. Ein Mensch hat keinen direkten Zugang zu den intentiona-
len Objekten Gottes, und diese Objekte wirken auch nicht auf wun­dersame
Weise auf den menschlichen Intellekt ein. Die intentionalen Objekte Gottes
sind vielmehr die Vorlage oder der Prototyp für die realen Objekte, zu

140
  Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 262 (ed. Vat. III, 160): „... dico quod omnia intelligibi-
lia actu intellectus divini habent ,esse intelligibile‘, et in eis omnes veritates de eis relucent, ita
quod intellectus intelligens ea et virtute eorum intelligens necessarias veritates de eis, videt in
eis sicut in obiectis istas veritates necessarias.“
141
  Vgl. eine Liste und Analyse dieser Ausdrücke in Perler 2002, 217–230, und Hoffmann
2002, 145–148.
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§ 9 Essentielles Wissen ohne Illumination 101

denen ein Mensch Zugang hat. Von diesen realen Objekten kann er dann das
Wesen abstrahieren. Scotus betont daher, es gebe eine „zweifache Kausalität
des göttlichen Intellekts“.142 Zum einen ist Gott die Ursache für das mensch-
liche Erkennen, weil er in sich intentionale Objekte erschafft und damit fest­
legt, was überhaupt zum Bereich des Erkennbaren gehört. Zum anderen ist
er auch die Ursa­che, weil er durch das Erschaffen der intentionalen Objekte
die Vorlagen für die realen Ob­jekte produziert und damit jene Gegenstände
in ihrer Struktur festlegt, zu denen der menschli­che Intellekt einen Zugang
hat. Für Scotus ist dabei entscheidend, dass sich die realen Ge­genstände in
ihrer Struktur nicht von ihrer Vorlage unterscheiden. Daher hat ein Mensch,
der die realen Gegenstände erfasst, einen Zugang zu derselben Struktur,
die sich auch in den in­tentionalen Objekten Gottes befindet, obwohl kein
direktes Sehen oder Erfassen dieser Ob­jekte möglich ist.143
Ein modernes Beispiel möge diesen zentralen Punkt veranschaulichen.
Angenommen, ein Bildhauer denkt sich seltsame Wesen aus, die er in Stein
meißelt. Wenn wir die Skulptu­ren betrachten, erfassen wir genau die von
ihm ausgedachten Wesen. Der Bildhauer ist dann – ähnlich wie Gott – eine
zweifache Ursache für unser Erkennen. Zum einen hat er durch seine Ima-
gination festgelegt, welche Gegenstände überhaupt erkennbar werden kön-
nen; zum ande­ren hat er durch die Realisierung seiner künstlerischen Idee
bewirkt, dass wir konkrete Ge­genstände erkennen. Wie für Gott gilt auch
für den Bildhauer, dass wir keinen direkten Zu­gang zu seinem Geist haben.
Wir können nur die geschaffenen Werke betrachten und dadurch genau jene
Strukturen erfassen, die auch in seinem Geist existieren. Trotzdem haben
wir in gewisser Weise einen Zugang zu den Prototypen in seinem Geist.
Aus diesem Grund betont Scotus, dass wir in gewisser Weise die versteh-
baren Dinge erfassen, wie sie „im göttlichen Licht“ erscheinen, aber eben
nicht direkt, sondern durch das Erfassen ihrer Struktur, die in materiellen
Dingen präsent ist.
Mit dieser Argumentation versucht Scotus einen Mittelweg zwischen
zwei Extrempo­ sitionen zu finden. Einerseits vermeidet er die radikale
These, ein Mensch sei in seinen kog­n itiven Prozessen vollkommen autonom
und von jeder göttlichen Aktivität unabhängig. Dies widerspräche der von
allen mittelalterlichen Autoren geteilten Auffassung, dass erst die Existenz
göttlicher Ideen menschliches Erkennen ermöglicht.144 Diese Ideen legen

 Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 267 (ed. Vat. III, 163).


142

  Lectura I, dist. 3, pars 1, q. 3, n. 192 (ed. Vat. XVI, 303): „... illud idem et sub eadem
143

ratione obiectiva quod est secundarium obiectum intellectus divini, est obiectum viatoris.“
144
  Vgl. zu dieser augustinischen Grundthese, die sich bei allen christlichen Autoren von
der Spätantike bis in die frühe Neuzeit findet, die Beiträge in Boulnois & Schmutz & Solère
2002.
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102 Zweifel am natürlichen Wissen

fest, was überhaupt erkennbare Objekte sind. Oder modern ausgedrückt:


Die Existenz kognitiver Objekte im göttlichen Geist ist eine notwendige
Bedingung dafür, dass ein Mensch etwas er­kennen kann. Es handelt sich
dabei aber noch nicht um eine hinreichende Bedingung. Ein Mensch wird
nämlich nicht direkt durch diese Objekte „erleuchtet“, sondern muss aus-
gehend von der Wahrnehmung materieller Gegenstände kognitive Gehalte
gewinnen. Damit distan­ziert sich Scotus von der zweiten Radikalposition,
der zufolge ein Mensch nur durch eine göttliche Illumination zu einer We-
senserkenntnis fähig ist. Dies widerspräche der Grundthese, dass Menschen
mit einem kogniti­ven Apparat ausgestattet sind, den sie nutzen können und
sogar nutzen müssen, um zu erken­nen, was den Gegenständen eine wesent-
liche Struktur verleiht.
Doch wie müssen sie den kognitiven Apparat einsetzen? Dies war die
entscheidende Frage für Heinrich von Gent, der durchaus zustimmte, dass
kein direkter Zugriff auf göttliche Ideen oder Modelle möglich ist, gleich-
zeitig aber betonte, dass der Wahrnehmungs- und Abs­ traktionsprozess
nicht ausreicht, um sichere Erkenntnis zu gewinnen. Da dieser Prozess nur
zum Erfassen universalisierter Vorstellungsbilder führt, ist er unsicher und
muss durch Illu­m ination stabilisiert werden. Wie kann Scotus seinen Mit-
telweg weiterverfolgen, ohne einzu­räumen, dass ein stabilisierender Fak-
tor erforderlich ist? Genau an diesem Punkt kommt die bereits erwähnte
Absicherung nach unten ins Spiel, nämlich jene, mit der Scotus zu zeigen
versucht, dass trotz wechselhafter und instabiler Vorstellungsbilder eine
sichere Erkenntnis möglich ist. Sein Hauptargument lautet: Indem der In-
tellekt von den Vorstellungsbildern in­telligible Species abstrahiert, gelingt
es ihm, auf stabile Weise das Wesen der Dinge zu erfas­sen.145 Diese Species
sind nicht einfach universalisierte Vorstellungsbilder, wie Heinrich von
Gent angenommen hatte, sondern beson­dere kognitive Entitäten, die vom
Intellekt produziert werden und ausschließlich im Intellekt existieren.
Eine solche Verteidigung natürlicher Erkenntnis setzt sich indessen gleich
mehreren Einwänden aus. Ein erster Einwand kann jenen Punkt aufgreifen,
den bereits Heinrich in sei­ner kritischen Diskussion der Species-Theorie be-
tont hatte: Der Intellekt ist ein immaterielles Vermögen, dem nichts einge-
prägt werden kann. Es ist daher unsinnig zu behaupten, der ak­tive Intellekt
produziere eine besondere kognitive Entität und präge diese dem möglichen
In­tellekt ein. Der Intellekt ist kein Münzrohling, dem etwas „eingedrückt“
werden kann. Ein zweiter Einwand kann eine ebenfalls von Heinrich er-
wähnte Schwierigkeit hervor­heben. Selbst wenn der Intellekt die Species als

 Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 3, q. 1, n. 348–349 (ed. Vat. III, 209–210); Lectura I, dist. 3,
145

pars 3, q. 1, n. 282 (ed. Vat. XVI, 337–338).


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§ 9 Essentielles Wissen ohne Illumination 103

eine besondere kognitive Entität produziert, ist diese doch immer von dem
zugrunde liegenden Vorstellungsbild abhängig und daher ge­nauso instabil
oder unvollständig wie dieses. Damit verlagert sich das Problem der In-
stabilität einfach von der sinnlichen Ebene auf die intellektuelle. Schließlich
kann ein dritter Einwand darauf hinweisen, dass vollständig unklar ist, wie
die Species überhaupt abstrahiert oder pro­duziert wird. Haben wir es hier
mit einem „top down“-Verfahren zu tun, dem zufolge der In­tellekt auf das
zugrunde liegende Vorstellungsbild einwirkt und auf wundersame Weise
einen universalen Gehalt abstrahiert? Oder muss man sich ein „bottom up“-
Verfahren vorstellen, dem zufolge im Vorstellungsbild selbst der universale
Gehalt auf ebenso wundersame Weise bereit gestellt wird, sodass der In-
tellekt ihn nur noch erfassen muss? Solange diese Fragen nicht beantwortet
werden, ist der Verweis auf intelligible Species eine bloße Spekulation.
Scotus ist sich dieser Schwierigkeiten bewusst und versucht deshalb im
Detail nach­zuweisen, welche Funktion die intelligible Species hat und wie
sie durch natürliche Prozesse gewonnen werden kann.146 Dabei widerlegt
er alle drei Einwände. Um den ersten Einwand zu entkräften, führt er eine
Unterscheidung ein, die für seine ganze Kognitionstheorie von zent­raler
Bedeutung ist. Wenn man vom „Aufnehmen“ einer Species oder einem
„Einprägen“ im Intellekt spricht, muss man sorgfältig zwischen zwei Vor-
gängen unterscheiden.147 Zum einen nimmt der Intellekt in der Tat etwas
auf, nämlich eine kognitive Entität, die – ontologisch gesehen – in die Kate-
gorie der Qualität gehört. So betrachtet gibt es im Intellekt eine reale Ver-
änderung. Sie stellt aber keineswegs etwas Mysteriöses dar, da die Species
ja eine imma­terielle Qualität ist, die der immaterielle Intellekt durchaus
aufnehmen – genauer gesagt: in sich produzieren – kann, wie er auch Akte
und Zustände in sich produziert. Dem Intellekt wird ja nichts Materielles
eingeprägt. Zum anderen gibt es auch eine intentionale Verände­r ung, denn
der Intellekt nimmt einen kognitiven Gehalt auf. Genau dieser Gehalt ist
in der Species präsent (oder „scheint in der intelligiblen Species auf“, wie
Scotus metaphorisch fest­hält)148 und ermöglicht es dem Intellekt, ein be-
stimmtes Objekt zu erfassen. Auch dies ist nichts Mysteriöses, denn ein
kognitives Hilfsmittel kann durchaus einen Gehalt haben, der sich über-
mitteln lässt.

146
 Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 3, q. 1 (ed. Vat. III, 201–247) und Lectura I, dist. 3, pars 3,
q. 1 (ed. Vat. XVI, 325–348). Da ich bereits an anderer Stelle ausführlich die Genese und die
Funktion der Species erörtert habe (vgl. Perler 1996 und 2002, 198–217), gehe ich nur auf jene
Punkte ein, die für Scotus’ antiskeptische Argumentation relevant sind.
147
 Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 3, q. 1, n. 386 (ed. Vat. III, 235).
148
 Er verwendet mehrfach die Redeweise „relucens in specie“; vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars
3, q. 1, n. 386, n. 392, n. 396 (ed. Vat. III, 235, 239, 241).
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104 Zweifel am natürlichen Wissen

Wie diese Übermittlung erfolgt, lässt sich leicht anhand eines modernen
Beispiels ver­ anschaulichen. Wenn wir eine E-Mail erhalten, gibt es im
Computer eine reale Veränderung; ein Sektor der Festplatte wird elektro-
magnetisch beschrieben. Gleichzeitig erfolgt auch eine Informationsüber-
tragung. Denn durch den elektromagnetischen Prozess nimmt der Compu-
ter eine Information auf, die wir dann auf dem Bildschirm lesen können.
Ähnlich gilt auch für den Intellekt, dass er durch eine reale Veränderung die
Species aufnimmt und dadurch immer auch eine Information erhält; denn
die Species zeichnet sich dadurch aus, das sie eine be­stimmte Information
in sich trägt.149 Oder in Scotus’ Terminologie ausgedrückt: Die reale Ver-
änderung des Intellekts dient einer intentionalen. Mit dieser Erklärung lässt
sich Heinrichs Vorwurf zurückweisen, es könne doch keine „eingeprägte
Species“ (species impressa) geben. Dieser Vorwurf würde nur dann zu-
treffen, wenn das Einprägen ausschließlich im Sinne einer materiellen Ver-
änderung des Intellekts verstanden würde. Doch genau diese Veränderung
ist hier nicht gemeint.
Damit ist allerdings der zweite Einwand noch nicht entkräftet, der darauf
insistiert, dass auf der Grundlage instabiler Vorstellungsbilder keine stabile
Species gewonnen werden kann. Hein­rich betont ja, dass der Intellekt nur
die Vorstellungsbilder in universaler Hinsicht erfassen kann. Die Species
ist seiner Ansicht nach keine besondere Entität, sondern nichts anderes als
der universale Gehalt der Vorstellungsbilder. Und dieser Gehalt ist stets so
stabil oder instabil wie das jeweilige Vorstellungsbild.
Zur Widerlegung dieses Einwandes insistiert Scotus darauf, dass die Spe-
cies eine dis­tinkte Entität ist, die vom zugrunde liegenden Vorstellungsbild
klar zu unterscheiden ist. Dass sie distinkt sein muss, ergibt sich für Scotus
aus einem Argument, das man „das Argument der Aspekt-Repräsentation“
nennen könnte. Er betont nämlich, dass ein kognitives Hilfsmittel ein Ob-
jekt stets unter einem bestimmten Aspekt repräsentiert.150 Wenn nun ein
Vorstellungs­bild ein Objekt repräsentiert, so erfolgt dies stets unter einem
partikulären Aspekt. So stellt etwa das Vorstellungsbild, das ich von einem
galoppierenden Pferd gewinne, dieses Pferd immer als einen Gegenstand
mit einer besonderen Größe, Farbe, Bewegung usw. dar. Oder allgemein
ausgedrückt: Ein Vorstellungsbild repräsentiert x als F, G usw., wobei ‚F‘,
‚G‘ usw. partikuläre Eigenschaften bezeichnen. Die Species hingegen re-

149
  King 2004 schlägt überzeugend vor, dieses In-sich-Tragen als eine Supervenienz-Relation
im modernen Sinne zu verstehen: Die Information hat keine selbständige Existenz, sondern
superveniert auf der Species, die eine reale Existenz im Intellekt hat.
150
 Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 3, q. 1, n. 352 und n. 357 (ed. Vat. III, 211–212 und 215–216),
Lectura I, dist. 3, pars 3, q. 1, n. 268 (ed. Vat. XVI, 332) und eine ausführliche Analyse dieses
Arguments in Perler 2002, 200–204.
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§ 9 Essentielles Wissen ohne Illumination 105

präsentiert ein Objekt stets unter einem universalen Aspekt, denn sie stellt
nur die allgemeinen Wesensmerkmale dar, die ein Objekt haben muss, um
ein Objekt einer bestimmten Art zu sein. So stellt die Pferd-Species nur
die Merkmale dar, die jedes Pferd hat und die trotz der Veränderung der
jeweiligen Größe, Farbe, Bewegung usw. stets unverändert bleiben. Oder
wiederum allgemein ausgedrückt: Eine Species repräsentiert x als X, Y usw.,
wobei ‚X‘, ‚Y‘ usw. universale Eigen­schaften bezeichnen. Entscheidend ist
nun, dass nicht ein und dasselbe kognitive Hilfsmittel einen Gegenstand so-
wohl in partikulärer wie in universaler Hinsicht repräsentieren kann. Da­her,
so Scotus, kann das Vorstellungsbild nie ein Objekt in universaler Hinsicht
repräsentie­ren, wie sehr es auch von Partikularität „gereinigt“ wird. Es ist
eine Species erforderlich, die ein distinktes kognitives Hilfsmittel darstellt
und einen distinkten Repräsentationsaspekt auf­weist.
Mit dieser Argumentation zielt Scotus nicht nur darauf ab, die ontolo-
gische These zu verteidigen, dass das Vorstellungsbild und die Species zwei
distinkte Entitäten darstellen: Die erste existiert im Vorstellungsvermögen
und damit in den inneren Sinnen, die zweite im In­tellekt. Scotus verfolgt
damit auch die Absicht, die Species zu stabilisieren, ohne eine göttli­che
Illumination in Anspruch zu nehmen. Wenn die Species nämlich vom Vor-
stellungsbild verschieden ist, wird sie – bildlich gesprochen – nicht von der
Instabilität des Vorstellungs­bildes infiziert. Konkret heißt dies: Selbst wenn
ich nur über ein flüchtiges Vorstellungsbild von einem Pferd verfüge, das
lediglich einige partikuläre Eigenschaften des Pferdes darstellt und sich in
jeder neuen Wahrnehmungssituation verändert, kann ich daraus eine Spe-
cies abs­trahieren, die genau jene universalen Eigenschaften darstellt, die ein
Pferd zu einem Pferd machen und in jeder Situation unverändert bleiben.
Die Species ist gleichsam immunisiert gegenüber der Veränderbarkeit und
Unvollkommenheit des Vorstellungsbildes.
Nun könnte man sogleich einwenden, dass diese Argumentation kei-
neswegs überzeu­gend ist. Warum sollte nicht ein und dasselbe kognitive
Hilfsmittel einen Gegenstand in parti­kulärer und in universaler Hinsicht
repräsentieren können? Dieser Einwand lässt sich anhand des Beispiels
veranschaulichen, das bereits in § 6 zur Illustration von Heinrichs Theorie
ange­führt wurde. Wenn wir durch einen Garten spazieren, können wir
ihn in partikulärer Hinsicht erfassen, indem wir uns auf einzelne Pflanzen
konzentrieren, aber auch in universaler Hin­sicht, indem wir die gesamte
Blumenanlage und ihr Verhältnis zu den Bäumen oder Wasser­flächen erfas-
sen. Gelingt uns dies nicht mithilfe eines einzigen Photos, das gleichzeitig
ein­zelne Blumen und die gesamte Anlage darstellt? Wohl kaum. Wenn wir
den Garten in parti­kulärer Hinsicht erfassen wollen, können wir in der Tat
auf Photos zurückgreifen, jedoch auf eine Reihe von Photos, die jeweils aus
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106 Zweifel am natürlichen Wissen

einer bestimmten Perspektive einzelne Blumen dar­stellen. Wenn wir diese


Photos aneinander reihen, gewinnen wir einen perspektivischen Zu­gang zu
zahlreichen Details im Garten. Wollen wir den Garten hingegen in uni-
versaler Hin­sicht erfassen, brauchen wir einen Grundriss oder einen Plan,
der die geometrische Struktur der ganzen Anlage darstellt. Dass es sich bei
diesem Plan um ein besonderes Hilfsmittel han­delt, zeigt sich schon darin,
dass ein Gartenarchitekt nicht einfach einzelne Photos aneinander reiht.
Natürlich kann er von Photos ausgehen, aber er muss auf ihrer Grundlage
einen Grund­riss zeichnen. Diese geometrische Darstellung ist kategorial
verschieden von einer piktorialen. Ähnlich gilt auch für die kognitiven
Hilfsmittel: Wer behauptet, ein einziges Hilfsmittel – das Vorstellungs-
bild – könne einen Gegenstand in partikulärer und in universaler Hinsicht
reprä­sentieren, übersieht, dass es sich hier um kategorial verschiedene
Hinsichten handelt, für die unterschiedliche Hilfsmittel erforderlich sind.
Daher betont Scotus:
„... etwas Repräsentieren­des, das gemäß seiner ganzen Funktion etwas unter einem
Aspekt repräsentiert, kann nicht gleichzeitig dasselbe oder etwas anderes unter
einem anderen Aspekt des Objekts repräsentie­ren ...“151

Der springende Punkt besteht darin, dass ein Repräsentationsmittel gemäß


seiner gan­zen Funktion darauf ausgerichtet ist, entweder partikuläre oder
universale Eigenschaften zu repräsentieren. Es kann nicht seine Funktion
wechseln und plötzlich andere Eigenschaften repräsentieren, genauso wenig
wie ein Gartenphoto seine Funktion wechseln und plötzlich zu einem geo-
metrischen Plan werden kann. Scotus nimmt damit Heinrichs Gedanken
auf, dass verschiedene Repräsentationsaspekte zu unterscheiden sind, radi-
kalisiert ihn aber, indem er betont, dass für jeden Aspekt ein besonderes
Hilfsmittel erforderlich ist.
Daraus ergibt sich auch eine Antwort auf den Einwand, die Species sei
doch genauso stabil oder instabil wie ihre Grundlage, das Vorstellungsbild.
Dieser Einwand würde nur zu­treffen, wenn es sich hier um ein einziges
Hilfsmittel handelte. Da die Species aber vom Vorstellungsbild verschieden
ist, kann sie durchaus eine stabile Repräsentation bieten, selbst wenn ihre
Grundlage instabil ist. Dies lässt sich wiederum anhand des Gartenbei-
spiels verdeutlichen. Selbst wenn der Gartenarchitekt ausgehend von ver-
schwommenen oder aus­gebleichten Photos einen Plan erstellt, kann er einen
korrekten und stabilen Plan erstellen. Das Defizit der piktorialen Dar-
stellung überträgt sich nicht einfach auf die geometrische, zumindest dann

151
  Ordinatio I, dist. 3, pars 3, q. 1, n. 357 (ed. Vat. III, 215): „... repraesentativum secundum
totam virtutem suam repraesentans aliquid sub una ratione, non potest simul repraesentare
idem vel aliud sub alia ratione obiecti ...“
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§ 9 Essentielles Wissen ohne Illumination 107

nicht, wenn die Photos eine noch einigermaßen erkennbare Struktur dar-
stellen (auf vollkommen verbleichten Photos ist nichts mehr zu erkennen,
auch keine geometrische Struktur). Ähnlich gilt für den Intellekt, dass sich
das Defizit der sinnlichen Vorstellungsbilder nicht ein­fach auf die intelligi-
blen Species überträgt, zumindest dann nicht, wenn sie noch einigermaßen
erkennbare Strukturelemente der Gegenstände darstellen (auf vollkommen
verworrenen oder durch ungünstige Wahrnehmung „ausgebleichten“ Vor-
stellungsbildern ist nichts mehr zu erkennen). Da es sich hier um distinkte
kognitive Hilfsmittel handelt, die über eine eigene Darstellungsweise für
einen eigenen Aspekt verfügen, werden sie nicht durch die Instabilität und
Unvollkommenheit der Vorstellungsbilder infiziert.
Scotus’ These, dass der Intellekt auf der Grundlage wechselhafter und teil-
weise defi­zienter Vorstellungsbilder stabile Species bilden kann, ist freilich
keineswegs so harmlos, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Sie beruht zum
einen auf der metaphysischen These, dass in den Gegenständen selbst ein
Wesen vorhanden ist, das auch in den Vorstellungsbildern präsent ist und in
„reiner“ Form aus ihnen abstrahiert werden kann. Dies ist im Kern natürlich
eine universalienrealistische These: Es gibt ein Wesen bzw. eine Natur für
jeden Gegenstand, die im materiellen Gegenstand, aber auch in einem Vorstel-
lungsbild präsent sein kann. Nur diese These, die Scotus in seiner Diskussion
des Erkenntnisprozesses stillschweigend voraus­setzt,152 erlaubt es ihm, die
weitere These zu vertreten, dass der Intellekt beim Produzieren der Species das
universale Wesen aus den Vorstellungsbildern herauslöst und dadurch einen
Ge­genstand ausschließlich in universaler Hinsicht repräsentiert. Zum anderen
setzt Scotus auch eine gewichtige intellekttheoretische These voraus, nämlich
dass der Intellekt aufgrund seiner natürlichen Verfassung imstande ist, das
universale Wesen zu erfassen. Er hält es für selbst­verständlich, dass der Intel-
lekt über die dazu erforderliche Abstraktionsfähigkeit verfügt. Ebenso selbst-
verständlich ist für ihn, dass die Abstraktionsleistung im Prinzip gelingt. Kon­
kret heißt dies: Wenn ich über hinreichend klare Vorstellungsbilder von einem
Pferd verfüge, gelingt es meinem Intellekt, das Wesen des Pferdes gleichsam
zu extrahieren und eine Species zu bilden, die nur noch dieses Wesen darstellt.
Das Wesen wird dann, wie Scotus metaphorisch festhält, vom tiefer liegenden
„Nebel der Vorstellungsbilder“ befreit und auf der Spitze des Berges er­fasst.153

152
 Er begründet sie in Ordinatio II, dist. 3, pars 1, q. 1, n. 29–34 (ed. Vat. VII, 402–405) und
in Quaestiones super libros Metaphysicorum VII, q. 13, n. 60–66 (OPh IV, 238–241); konzis
dazu Noone 2003.
153
  Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 276 (ed. Vat. III, 168–169): „Sed qui separat quiditates
intelligendo praecise eas conceptus per se – quae tamen relucent in phantasmate cum multis
aliis accidentibus adiunctis – ipse habet phantasma inferius quasi aerem nebulosum: et ipse est
in ‚monte‘ in quantum cognoscit illam veritatem ...“
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11:27

108 Zweifel am natürlichen Wissen

Natürlich gelingt dies nicht immer auf Anhieb und nicht in jedem einzelnen
Fall; Täu­schungen und Irrtümer sind immer möglich. Doch im Prinzip ist
der Intellekt so gebaut, dass er das Wesen erfolgreich abstrahiert und in der
Species auch erfolgreich darstellt. Dies ist freilich keine selbst-evidente An-
nahme. Ein Skeptiker könnte hier einhaken und darauf hin­weisen, dass die
ganze Erklärung einer rein natürlichen Erkenntnis mit der optimistischen An-
nahme eines in hohem Maße leistungsfähigen Intellekts steht und fällt. Wird
bezweifelt, dass der Intellekt von sich aus imstande ist, das Wesen erfolgreich
zu abstrahieren (etwa weil er auf Vorlagen für das, was es zu abstrahieren gilt,
angewiesen ist, und weil er diese Vorla­gen nicht aus sich heraus generieren
kann), wird es natürlich auch zweifelhaft, dass der ganze Erkenntnisprozess
auf rein natürlichem Weg gelingt.
Wenn angenommen wird, dass der Intellekt das universale Wesen tatsäch-
lich mithilfe einer Species erfassen kann, taucht allerdings gleich der dritte
Einwand auf, der bereits er­wähnt wurde. Wie kommt es zur Produktion
einer Species? Erschafft der Intellekt die Species gleichsam aus sich heraus?
Oder wirkt der äußere Gegenstand via Vorstellungsbild irgendwie auf den
Intellekt ein und bringt in ihm die Species hervor? Im späten 13. Jh. sind
beide Positi­onen vertreten worden. Scotus hält jedoch beide für unbefriedi-
gend.154 Würde der Intellekt die Species aus sich heraus erschaffen, würde die
Präsenz eines materiellen Objekts und eines Vorstellungsbildes überhaupt
keine Rolle mehr spielen. Der Intellekt könnte dann eine belie­bige Species
hervorbringen und beliebige Gegenstände in universaler Hinsicht erfassen,
ganz unabhängig davon, welche Gegenstände überhaupt existieren und
präsent sind. Wäre umge­kehrt der äußere Gegenstand die einzige Ursache
für die Species, wäre der Intellekt nur eine Art Aufnahmegefäß und würde
keine aktive Rolle mehr spielen. Der äußere Gegenstand würde dann ein
Vorstellungsbild verursachen, das seinerseits durch eine Art kausalen Auto­
matismus eine Species hervorbrächte. Aus diesen Gründen hält Scotus es
für unerlässlich, eine Monokausalität zu verwerfen und ein Zusammenspiel
zweier hierarchisch geordneter Ursachen anzunehmen.155 Das heißt: Damit
eine Species entsteht, müssen sowohl der Intellekt als auch der Gegenstand
tätig sein. Dabei ist der Intellekt die übergeordnete Ursache und der äußere
Gegenstand die untergeordnete, ohne dass die übergeordnete Ursache die
untergeord­nete ausschalten würde oder umgekehrt. Denn einerseits muss
der Gegenstand die Sinne affi­zieren und ein Vorstellungsbild hervorbringen;
ohne die Präsenz eines solchen Bildes kann der Intellekt nicht aktiv werden.
Andererseits muss der Intellekt von diesem Vorstellungsbild das Wesen des
154
  Vgl. zur ersten Position Ordinatio I, dist. 3, pars 3, q. 2, n. 413–421 (ed. Vat. III, 250–
256), zur zweiten ibid., n. 427–449 (ed. Vat. III, 260–271).
155
 Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 3, q. 2, n. 487 und n. 498 (ed. Vat. III, 289 und 294–295).

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§ 10 Schlussfolgerungen 109

Gegenstandes abstrahieren und die Species produzieren, die genau dieses


We­sen darstellt; ohne die Aktivität des Intellekts kann keine Species ent-
stehen.
An dieser Erklärung fällt auf, dass Scotus den Erkenntnisprozess als
eine Verbindung aus einem „bottom up“- und einem „top down“-Verfahren
versteht. Er grenzt sich sowohl von einem reinen Rezeptionsmodell ab, das
Erkenntnis allein mit Rekurs auf den auf die Sinne einwirkenden Gegen-
stand bestimmt, als auch von einem idealistischen Modell, das einzig im In-
tellekt – unabhängig von jeder Relation zu einem äußeren Gegenstand – die
Quelle für er­folgreiche Erkenntnis sieht. Entscheidend ist für Scotus, dass
Erkenntnis nur gelingt, wenn Gegenstand und Intellekt derart aktiv sind,
dass ein kognitives Hilfsmittel entsteht, mit dem das universale Wesen des
Gegenstandes erfasst wird. Vergleicht man diesen Erklärungsansatz mit
jenem Heinrichs von Gent, fällt natürlich auf, dass Scotus auf rein natür-
liche Ursachen rekurriert. Er bestreitet nicht nur, dass Gott direkt in den
Erkenntnisprozess eingreift oder ihn sogar manipuliert (diese starke An-
nahme ist auch Heinrich fremd), sondern verzichtet auch vollständig darauf,
irgendeine göttliche Unterstützung oder Korrektur des Erkenntnisprozes­ses
anzunehmen. Seiner Ansicht nach kann jeder Mensch von sich aus erkennen,
was einen Gegenstand zum Gegenstand einer bestimmten Art macht, indem
er auf die Vorstellungsbil­der zurückgreift. Radikale skeptische Überlegun-
gen können ausgeschlossen werden, weil erstens die Sinne so gebaut sind,
dass sie im Prinzip ausreichende Vorstellungsbilder liefern, und weil zwei-
tens der Intellekt darauf ausgelegt ist, aus den Vorstellungsbildern korrekt
das Wesen zu abstrahieren. Die Stabilisierung des Wissens, das Heinrich in
der Illumination suchte, wird Scotus zufolge vom Intellekt selbst geleistet,
weil er in den Species über stabile Darstellungsmittel für das Wesen eines
Gegenstandes verfügt. Die Species-Theorie spielt so­m it eine zentrale Rolle
in der Abwehr des Skeptizismus, aber auch in der Zurückweisung je­der
übernatürlichen Korrektur des natürlichen Erkenntnisprozesses.

§ 10 Schlussfolgerungen

Wie die Analyse zentraler Texte gezeigt hat, ist weder Heinrich von Gent
noch Johannes Duns Scotus ein Skeptiker, selbst wenn man den schillern-
den Ausdruck ‚Skeptiker‘ in dreifa­cher Weise versteht. Erstens ist keiner der
beiden ein pyrrhonischer Skeptiker, denn keiner schlägt eine skeptische The-
rapie vor, der zufolge wir nur noch Meinungen oder Erscheinun­gen anderen
Meinungen oder Erscheinungen gegenüberstellen und uns eines Urteils
enthalten sollten. Beide vertreten die Auffassung, dass wir nicht nur Mei-
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110 Zweifel am natürlichen Wissen

nungen haben können, sondern sogar wahre Meinungen, die Gegenstände


und Sachverhalte so darstellen, wie sie wirklich sind. Und beide versuchen
zu erklären, welche kognitiven Prozesse uns erlauben, wahre Mei­nungen
zu bilden. Zweitens ist auch keiner der beiden ein akademischer Skeptiker,
denn kei­ner behauptet, wir könnten angesichts widersprüchlicher oder de-
fizienter Sinnesinformationen nur noch wahrscheinliches Wissen erlangen,
nicht aber sicheres Wissen. Es ist für beide entscheidend, dass Wissen im
strengen Sinn immer sicher und stabil ist, und beide sind der Ansicht, dass
wir durch geeignete kognitive Prozesse ein solches Wissen auch ge­winnen
können. Drittens schließlich ist weder Heinrich noch Scotus ein Außen-
welt-Skeptiker. Ausgehend von aristotelischen Prämissen behaupten beide,
dass wir im Prinzip einen Zugang zu materiellen Gegenständen haben und
dass wir durch einen Assimilationsprozess die For­men dieser Gegenstände
erfassen können. Irrtümer und kognitive Fehlleistungen sind zwar möglich,
können aber nur vor dem Hintergrund grundsätzlich erfolgreicher Bezug-
nahme auf äußere Gegenstände verstanden werden. Daher spielen weder bei
Heinrich noch bei Scotus radikale skeptische Hypothesen eine Rolle. Dass
wir immer nur von einer materiellen Welt träumen könnten oder dass ein
Täuschergott uns immer betrügen könnte, ist für sie von vorn­herein aus-
geschlossen.
Welche Bedeutung haben dann skeptische Fragestellungen in ihren
erkenntnistheoreti­schen Untersuchungen? Die Bedeutung ist vor allem me-
thodischer Natur. Beide Autoren dis­kutieren skeptische Argumente, um be-
stimmte Erkenntnismodelle auf ihre Überzeugungskraft hin zu prüfen und
Schwachstellen aufzudecken. Besonders deutlich zeigt sich dies bei Hein­rich
von Gent, der beim aristotelischen Modell ansetzt, dann aber nachzuweisen
versucht, dass mit diesem Modell genau jene Art von Wissen nicht erklärt
werden kann, die angestrebt wird: sicheres und stabiles Wissen von der we-
sentlichen Struktur der Gegenstände. Wer näm­lich annimmt, dass allein auf
der Grundlage von Vorstellungsbildern ein solches Wissen er­worben wird,
übersieht, dass auf instabiler Grundlage kein stabiles Wissen möglich ist.
Des­halb zieht Heinrich den Schluss, dass eine rein aristotelische Erklärung
von Wissen skeptische Einwände nicht widerlegt, sondern im Gegenteil ge-
neriert. Die These, dass aus den Vorstel­lungsbildern das Wesen der Gegen-
stände abstrahiert werden soll, provoziert nämlich sogleich die Frage, wie
denn aus etwas Wechselhaftem und Unvollständigem ein unveränderliches
Wesen oder gar ein Modell für ein solches Wesen „extrahiert“ werden soll.
Ein Ausweg aus der skeptischen Sackgasse kann Heinrich zufolge nur gefun-
den werden, wenn zusätzlich zum Abstraktionsprozess ein stabilisierender
Faktor angenommen wird: die Illumination. Die me­thodische Pointe Hein-
richs besteht darin, dass er das aristotelische Modell gleichsam von in­nen
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§ 10 Schlussfolgerungen 111

aushöhlt. Er versucht zu zeigen, dass mit den theoretischen Annahmen, die


diesem Mo­dell zugrunde liegen, der eigentliche Erklärungsanspruch – die
Möglichkeit von sicherem und stabilem Wissen nachzuweisen – gar nicht
eingelöst werden kann. Aus diesem Grund ergänzt Heinrich das aristote-
lische Modell durch Elemente aus der platonisch-augustinischen Tradi­tion.
Betrachtet man dieses methodische Vorgehen, zeigt sich, dass Heinrich
nicht einfach als konservativer Augustinist den immer einflussreicher wer-
denden Aristotelismus bekämpft und pauschal zurückweist. Heinrich führt
kein intellektuelles Rückzugsgefecht, um das traditio­nelle Illuminations-
modell gegen den anwachsenden Einfluss des aristotelischen Modells zu
verteidigen. Sowohl in seiner Erklärung der kognitiven Vermögen als auch
in seiner Analyse des Abstraktionsprozesses macht er regen Gebrauch von
Elementen dieses Modells. Heinrich zielt vielmehr darauf ab, Probleme und
Schwachstellen innerhalb des aristotelischen Modells aufzuzeigen. Dazu
setzt er gezielt skeptische Argumente ein.
Auch für Scotus haben skeptische Argumente primär eine methodische
Funktion. In enger Auseinandersetzung mit Heinrich versucht er zu zeigen,
dass das Illuminationsmodell keinen Ausweg aus der skeptischen Sack-
gasse bietet, sondern im Gegenteil selber skeptische Fragen provoziert.
Wenn nämlich sicheres und stabiles Wissen nur mithilfe einer göttlichen
Illumination erworben werden kann, scheint der natürliche Erkenntnis-
anspruch prinzipiell nicht einlösbar zu sein. Denn wie sollte durch einen
übernatürlichen Vorgang, habe er auch nur eine unterstützende oder kor-
rigierende Funktion, ein natürlicher kognitiver Prozess stabi­lisiert werden?
Um diesem Problem zu entrinnen, kehrt Scotus wieder zum aristotelischen
Modell zurück und versucht zu zeigen, dass allein durch natürliche Vor-
gänge – insbesondere durch die Produktion von intelligiblen Species – siche-
res und stabiles Wissen gewonnen wer­den kann. Seine methodische Pointe
besteht darin, dass er die skeptischen Einwände, die Heinrich zufolge nur
mithilfe des Illuminationsmodells zurückgewiesen werden können, wie­der
aufgreift und mit Verweis auf rein natürliche Prozesse widerlegt. Für Scotus
ist es ent­scheidend, dass der Intellekt von sich aus sicheres und stabiles
Wissen gewinnt, indem er das Wesen der Gegenstände abstrahiert. Heißt
dies, dass sich bei Scotus der „erste große Erfolg des Naturalismus als einer
Forschungsstrategie“ zeigt, wie R. Pasnau meint?156 Eine Antwort auf diese
Frage hängt von mindestens zwei Erwägungen ab.
Zunächst stellt sich die Frage, ob Scotus überzeugend nachweisen kann,
dass das Wesen der Gegenstände durch rein natürliche Prozesse erfasst wer-

  Pasnau 2003a, 303: „This marks a turning point in the history of philosophy, the first
156

great victory for naturalism as a research strategy in the philosophy of mind.“


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112 Zweifel am natürlichen Wissen

den kann. Wie in § 9 deutlich ge­worden ist, geht er von der Annahme aus,
dass dieses Wesen in den Vorstellungsbildern prä­sent ist und vom Intellekt
nur noch „herausgelöst“ werden muss. Doch genau hier liegt der entschei-
dende Punkt. Ist es plausibel anzunehmen, dass der Intellekt von sich aus
imstande ist, das Wesen zu erfassen und eine intelligible Species zu bilden,
die dieses Wesen stabil und sicher darstellt? Es ist nicht zuletzt eine Antwort
auf diese intellekttheoretische Frage, die der ganzen Auseinandersetzung
zwischen Heinrich und Scotus zugrunde liegt. Betont man wie Heinrich die
Begrenztheit der intellektuellen Möglichkeiten, ist die Frage zu verneinen;
eine rein naturalistische Strategie ist dann zu verwerfen. Unterstreicht man
hingegen wie Scotus die Leistungsfähigkeit des Intellekts, kann die Frage
bejaht und eine naturalistische Strategie verfolgt werden.
Es stellt sich zweitens aber auch die grundsätzliche Frage, was hier
unter einer natura­listischen Strategie zu verstehen ist. Sicherlich ist da-
runter nicht ein metaphysischer Natura­lismus im modernen Sinn zu ver-
stehen, d.h. eine Position, der zufolge nichts anderes als ma­terielle Entitäten
existieren.157 Scotus vertritt genau wie Heinrich die im 13. Jh. allgemein
akzeptierte These, dass der Intellekt immateriell ist und dass folglich auch
die intellektuellen Akte und Zustände, mit denen Wissen gewonnen wird,
immateriell sind. Wenn hier von ei­nem Naturalismus die Rede ist, dann
nur in explanatorischer Hinsicht. Die Grundfrage lautet dann: Kann zur
Erklärung von sicherem und stabilem Wissen allein auf natürliche Prozesse
(seien diese nun immaterieller oder materieller Art) rekurriert werden, oder
muss auch etwas Übernatürliches in Anspruch genommen werden? Eine
Antwort auf diese Frage ist nicht so offensichtlich, wie es auf den ersten
Blick erscheinen mag. Denn wie in § 7 deutlich gewor­den ist, betont auch
Heinrich, dass die Illumination nicht ein mysteriöser, übernatürlicher Vor-
gang ist, sondern etwas, was allen Menschen zuteil wird und gleichsam in
den natürlichen Erkenntnisprozess eingebaut ist. Die entscheidende Frage
lautet daher, was hier unter natürli­chen Vorgängen zu verstehen ist. Lässt
man in einer Erklärung dieser Vorgänge nur einen Verweis auf Vermögen,
Zustände und Prozesse zu, die auf natürlicher Grundlage (ex natura­libus)
bestehen, ist nur Scotus’ Erklärung naturalistisch. Er beschränkt sich ja
strikt auf Assi­m ilations- und Abstraktionsprozesse, zu denen jeder Mensch
aufgrund seiner sinnlichen und intellektuellen Vermögen fähig ist. Bezieht
man in eine Erklärung der natürlichen Vorgänge jedoch alles ein, was im
natürlichen Zustand (in naturalibus) vorliegt, auch die Relation zu Gott und
die jedem Menschen zuteil werdende Illumination, dann ist auch Heinrichs

  Vgl. zu dieser Form von Naturalismus, die sorgfältig von anderen Formen zu unterschei-
157

den ist, Koppelberg 2000, 78–80.


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§ 10 Schlussfolgerungen 113

Erklä­r ung naturalistisch. Er betont ja, dass Illumination keineswegs als die
Handlung eines will­kürlich eingreifenden Gottes zu verstehen ist, sondern
als ein Vorgang, der in jeden natürli­chen Erkenntnisprozess eingebaut ist.
Für die Skeptizismus-Problematik ist es von entscheidender Bedeutung,
was hier unter einer naturalistischen Erklärung verstanden wird. Wenn man
wie Scotus darauf insistiert, dass eine solche Erklärung nur in Anspruch
nehmen darf, was auf natürlicher Grundlage besteht, führt Heinrichs Illu-
minationsmodell unweigerlich in den Skeptizismus. Der Anspruch, Wis­sen
könne allein durch Assimilations- und Abstraktionsprozesse gewonnen
werden, lässt sich dann prinzipiell nicht einlösen. Aus diesem Grund wirft
Scotus Heinrich vor, seine Position habe „die Unmöglichkeit einer sicheren,
natürlichen Erkenntnis zur Folge.“158 Wenn man hingegen wie Heinrich
darauf beharrt, dass in einer Erklärung des Erkenntnisprozesses alles zu be-
rücksichtigen ist, was im natürlichen Zustand vorliegt, ergeben sich keines-
wegs skepti­sche Konsequenzen. Illumination ist dann ebenso Bestandteil
des natürlichen Prozesses wie Assimilation und Abstraktion. Es ist nicht
zuletzt die unterschiedliche Auffassung darüber, was hier unter „natürlich“
zu verstehen ist, die den Konflikt zwischen Heinrich und Scotus ausgelöst
hat. Wo Heinrich natürliche Prozesse sieht, wittert Scotus ein Abdriften ins
Über­natürliche und die Preisgabe eines natürlichen Erkenntnisanspruchs.
Es ist freilich nicht erstaunlich, dass Scotus im Illuminationsmodell eine
Bedrohung des natürlichen Erkenntnisanspruchs sieht. Dieses Modell weist
nämlich eine innere Span­nung auf. Einerseits insistiert es auf der kognitiven
Autonomie des Menschen, indem es be­tont, dass ein Mensch nicht ein-
fach eine Marionette Gottes darstellt. Wissen wird nicht von Gott einge-
flößt oder von Anfang an in den menschlichen Geist gelegt. Jeder Mensch
kann und muss vielmehr seine sinnlichen und intellektuellen Vermögen
einsetzen, um Wissen zu gewinnen. Andererseits weist das Illuminations-
modell aber auch auf die kognitive Heterono­m ie des Menschen hin, indem
es betont, dass die Aktivierung der natürlichen Vermögen zwar eine not-
wendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für den Erwerb von Wis-
sen ist. Stets muss durch eine „Erleuchtung“ eine Relation zu den idealen
Modellen für die Erkennt­n isobjekte hergestellt werden. Doch wie lässt sich
diese Relation in den natürlichen Erkennt­n isprozess einbauen, wenn ein
Mensch nicht von sich aus imstande ist, sie herzustellen? Oder verkürzt aus-
gedrückt: Wie lässt sich die Abhängigkeit von den idealen Modellen in den
auto­nomen kognitiven Prozess einbauen? Genau diese Frage erweist sich
als die Kernfrage für die Illuminationstheorie. Es reicht nämlich nicht aus,
einfach von der Illumination als dem „Grund des Erkennens“ zu sprechen,

 Vgl. Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 4, n. 218 (ed. Vat. III, 133), zitiert in Anm. 5.
158
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114 Zweifel am natürlichen Wissen

wenn nicht präzisiert wird, wie es sich dabei um einen natürlichen Grund
handeln kann. Selbst wenn man davon absieht, von einem mysteriösen gött-
lichen Eingreifen zu sprechen, bleibt immer noch die Frage offen, wie der
natürliche Abstraktionsprozess durch etwas, was nicht in den natürlichen
Vermögen angelegt ist, ergänzt und korrigiert werden kann. Scotus zufolge
muss eine konsequente naturalistische Strategie ganz darauf verzichten,
ein solches Element im Erkenntnisprozess anzunehmen. Der „Grund des
Erkennens“, den Heinrich außerhalb der natürlichen Vermögen ansiedelt,
muss in diese Vermögen transponiert werden, nämlich als die Fähigkeit, in-
telligible Species und damit zu­verlässige Modelle für die Erkenntnisobjekte
zu produzieren. Der Kernpunkt des Streites zwi­schen Heinrich und Scotus
betrifft somit die Frage nach der Grundlage für natürliches Erken­nen. Liegt
sie letzten Endes außerhalb des Menschen (nämlich in Gott, der durch einen
Illu­minationsprozess die natürlichen Prozesse stabilisiert und korrigiert)
oder innerhalb des Men­schen (nämlich in der Fähigkeit, stabile und korrekte
Modelle für das Wesen der Gegenstände hervorzubringen)?
Doch wie konnte ein Streit darüber ausbrechen, ob die Grundlage für
natürliche Er­kenntnis und damit auch für natürliches Wissen außerhalb
oder innerhalb des Menschen liegt? Ein entscheidender auslösender Faktor
ist der starke Wissensbegriff, von dem Scotus ebenso selbstverständlich aus-
geht wie Heinrich. Beide halten es für offensichtlich, dass jemand nur dann
über Wissen verfügt, wenn er über ein stabiles und zuverlässiges Modell
verfügt, das ihm erlaubt, das Wesen der Gegenstände zu erfassen. Genau
diese essentialistische Bedin­ g ung steht im Mittelpunkt von Heinrichs
strengem Wissensbegriff, wie in § 5 deutlich gewor­den ist. Sie bestimmt
auch Scotus’ Verteidigung der intelligiblen Species, deren Funktion ja darin
besteht, das Wesen der Gegenstände darzustellen. Es ist nicht zuletzt dieses
hohe Wis­sensideal, das Zweifel auf den Plan ruft. Denn wie können wir
sicher sein, dass wir das We­sen auf zuverlässige Weise aus Vorstellungs-
bildern abstrahieren können? Und wie können wir überhaupt sicher sein,
dass es ein stabiles und unveränderliches Wesen gibt, noch dazu ein uni-
versales Wesen, das in zahlreichen Gegenständen präsent ist? Diese Fragen
verdeutlichen, dass ein bestimmtes metaphysisches Programm skeptische
Debatten ausgelöst hat. Erst wenn angenommen wird, dass tatsächlich
ein universales Wesen in den Dingen existiert, stellt sich das Problem, ob
und wie dieses Wesen erfasst und zum Gegenstand von Wissen werden
kann. Kurzum: Es ist vor allem ein metaphysischer Essentialismus, der
skeptische Fragen provoziert. Dies verdeutlicht, dass die ganze Debatte
zwischen Heinrich von Gent und Johannes Duns Scotus keineswegs ein
rein epistemologischer Streit ist. Es handelt sich hier vielmehr um die epis-
temologische Konsequenz eines metaphysischen Programms.
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§ 10 Schlussfolgerungen 115

Selbst wenn der metaphysische Essentialismus zugestanden wird und


selbst wenn ein­geräumt wird, dass das Wesen der Gegenstände im Nor-
malfall erfasst werden kann, stellt sich freilich die Frage, ob nicht auch
außergewöhnliche Fälle zu berücksichtigen sind. Könnte es nicht sein, dass
Dämonen in den kognitiven Prozess eingreifen und uns das Wesen von Ge­
genständen vorgaukeln, die es weder gibt noch je gegeben hat? Könnte es
nicht sogar sein, dass Gott kraft seiner uneingeschränkten Allmacht Er-
kenntnisakte hervorbringt, mit denen wir etwas erfassen, was nicht existiert,
ja nicht einmal existieren kann? Und könnte es nicht sein, dass sowohl die
Dämonen als auch der allmächtige Gott uns so perfekt manipulieren, dass
wir nicht feststellen können, wann wir getäuscht werden und wann nicht?
Heinrich von Gent und Johannes Duns Scotus haben diesen Fragen keine
große Beachtung geschenkt. Doch es ist leicht ersichtlich, dass neue skep-
tische Fragen auftauchen, wenn die Täuschungshypo­these ernst genommen
wird. Können wir sicher sein, dass wir nicht getäuscht werden? Und verfü-
gen wir über eine Gewissheit dafür, dass wir einen zuverlässigen Zugang zu
einer Au­ßenwelt haben, in der es materielle Gegenstände mit einem wohl-
definierten Wesen gibt? Ge­nau mit diesen Fragen befasste sich eine Reihe
von Autoren im 13. und 14. Jh. Ihre Ausei­nandersetzung mit verschiedenen
Täuschungsszenarien soll im folgenden Kapitel untersucht werden.
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II
Zweifel an der absoluten Gewissheit
(Thomas von Aquin, Siger von Brabant, Petrus
Johannis Olivi, Wilhelm Crathorn, Johannes
­Rodington, Gregor von Rimini, Peter von Ailly)

§ 11  Skeptische Hypothesen

Wie die Auseinandersetzung zwischen Heinrich von Gent und Johannes


Duns Scotus gezeigt hat, bestand im späten 13. Jh. zwar Uneinigkeit da-
rüber, wie – d.h. mithilfe welcher Art von kognitiven Prozessen – Wissen
erworben werden kann. Doch bezüglich der Frage, ob Menschen überhaupt
in der Lage sind, Wissen von materiellen Dingen, Mitmenschen und intelli-
giblen Objekten zu erwerben, bestand kein Dissens. Der ganze Streit um die
Frage, ob zusätzlich zu den rein natürlichen Prozessen auch eine besondere
Illumination erforderlich sei, diente ja gerade dazu, die skeptische Gefahr
zu bannen und die Möglichkeit von Wissen nachzuweisen. Es sollte ge-
zeigt werden, dass bestimmte kognitive Mechanismen – seien diese nun rein
natürlicher oder teilweise auch übernatürlicher Art – die Menschen dazu
befähigen, Wissen zu erlangen. Dabei sollte es sich sogar um sicheres und
stabiles Wissen handeln, wie Heinrich und Scotus einmütig feststellten.
Blickt man auf die gegenwärtigen erkenntnistheoretischen Debatten, mag
dieser Konsens Erstaunen hervorrufen. Meistens wird nämlich betont, dass
die grundlegende Frage nicht einfach lautet, wie Wissen erworben werden
kann, sondern ob Wissen überhaupt möglich ist. Die einfachste Weise, diese
fundamentale Frage zu stellen, besteht darin, eine skeptische Hypothese
zu formulieren, etwa die in heutigen Debatten viel zitierte Hypothese von
einem bösen Neurowissenschaftler, der uns alle möglichen Gedanken von
materiellen Dingen und anderen Menschen eingeben könnte, ohne dass wir
in Kontakt zu einer Außenwelt stehen. Solange wir diese Hypothese nicht
widerlegen oder überzeugend zurückweisen, ist es fraglich, ob wir über-
haupt Wissen von einer Außenwelt haben. Es könnte doch sein, dass wir
bloß glauben, uns auf eine Außenwelt zu beziehen und ein mannigfaltiges
Wissen von dieser Welt zu haben, während wir in Tat und Wahrheit in der
vom Neurowissenschaftler inszenierten Innenwelt unserer Gedanken ge-
fangen sind. Viele gegenwärtige Erkenntnistheoretiker betonen daher, der
Auseinandersetzung mit skeptischen Hypothesen komme eine fundamen-
tale Bedeutung zu. So stellt K. DeRose fest, man müsse nur „das Argument

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II
Zweifel an der absoluten Gewissheit
(Thomas von Aquin, Siger von Brabant, Petrus
Johannis Olivi, Wilhelm Crathorn, Johannes
­Rodington, Gregor von Rimini, Peter von Ailly)

§ 11  Skeptische Hypothesen

Wie die Auseinandersetzung zwischen Heinrich von Gent und Johannes


Duns Scotus gezeigt hat, bestand im späten 13. Jh. zwar Uneinigkeit da-
rüber, wie – d.h. mithilfe welcher Art von kognitiven Prozessen – Wissen
erworben werden kann. Doch bezüglich der Frage, ob Menschen überhaupt
in der Lage sind, Wissen von materiellen Dingen, Mitmenschen und intelli-
giblen Objekten zu erwerben, bestand kein Dissens. Der ganze Streit um die
Frage, ob zusätzlich zu den rein natürlichen Prozessen auch eine besondere
Illumination erforderlich sei, diente ja gerade dazu, die skeptische Gefahr
zu bannen und die Möglichkeit von Wissen nachzuweisen. Es sollte ge-
zeigt werden, dass bestimmte kognitive Mechanismen – seien diese nun rein
natürlicher oder teilweise auch übernatürlicher Art – die Menschen dazu
befähigen, Wissen zu erlangen. Dabei sollte es sich sogar um sicheres und
stabiles Wissen handeln, wie Heinrich und Scotus einmütig feststellten.
Blickt man auf die gegenwärtigen erkenntnistheoretischen Debatten, mag
dieser Konsens Erstaunen hervorrufen. Meistens wird nämlich betont, dass
die grundlegende Frage nicht einfach lautet, wie Wissen erworben werden
kann, sondern ob Wissen überhaupt möglich ist. Die einfachste Weise, diese
fundamentale Frage zu stellen, besteht darin, eine skeptische Hypothese
zu formulieren, etwa die in heutigen Debatten viel zitierte Hypothese von
einem bösen Neurowissenschaftler, der uns alle möglichen Gedanken von
materiellen Dingen und anderen Menschen eingeben könnte, ohne dass wir
in Kontakt zu einer Außenwelt stehen. Solange wir diese Hypothese nicht
widerlegen oder überzeugend zurückweisen, ist es fraglich, ob wir über-
haupt Wissen von einer Außenwelt haben. Es könnte doch sein, dass wir
bloß glauben, uns auf eine Außenwelt zu beziehen und ein mannigfaltiges
Wissen von dieser Welt zu haben, während wir in Tat und Wahrheit in der
vom Neurowissenschaftler inszenierten Innenwelt unserer Gedanken ge-
fangen sind. Viele gegenwärtige Erkenntnistheoretiker betonen daher, der
Auseinandersetzung mit skeptischen Hypothesen komme eine fundamen-
tale Bedeutung zu. So stellt K. DeRose fest, man müsse nur „das Argument
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118 Zweifel an der absoluten Gewissheit

der skeptischen Hypothese“ vorbringen, um die Möglichkeit von Wissen


infrage zu stellen. Dieses simple Argument lautet für jedes beliebige Wissen
von einem Sachverhalt S in der Außenwelt:1
Ich weiß nicht, dass die Hypothese nicht zutrifft.
Wenn ich nicht weiß, dass die Hypothese nicht zutrifft, weiß ich nicht, dass S.
Also weiß ich nicht, dass S.

Dieses Argument ist freilich nicht eine Erfindung gegenwärtiger Erkennt-


nistheoretiker. Bekanntlich formulierte bereits Descartes in der Ersten
Meditation mehrere skeptische Hypothesen, von denen die Überlegung, ein
täuschender Dämon könne uns sämtliche Gedanken eingeben, sicherlich
die berühmteste ist. Doch bereits vor der Formulierung dieser Hypothese
erwägt er eine andere Möglichkeit, nämlich dass der allmächtige Gott uns in
allem täuschen könnte. Er verwirft diese Hypothese allerdings sogleich mit
der Bemerkung, sie würde zu einem inkonsistenten Gottesbegriff führen. 2
Man würde dann nämlich annehmen, dass Gott, der gütig ist und prinzipiell
keine schlechten Absichten hegt, auch keine Täuschungsabsichten, uns den-
noch täuschen könnte. Genau um diese Inkonsistenz zu vermeiden, ersetzt
Descartes den allmächtigen Gott durch einen listigen Dämon, der uns in
allem täuschen könnte.
Allerdings sahen nicht alle Zeitgenossen Descartes’ in der Annahme
eines Täuschergottes eine theoretische Sackgasse. Bereits Mersenne wies
darauf hin, dass die Hypothese von einem täuschenden, ja lügenden Gott
eine lange Tradition habe:
„Viertens: Du bestreitest, dass Gott lügen oder täuschen kann, obwohl es einige
Scholastiker gibt, die genau diese Möglichkeit behaupten, etwa Gabriel [Biel],
[Gregor von] Rimini und andere, die glauben, dass Gott kraft seiner absoluten
Macht lügt, d.h. den Menschen etwas gegen seine Absicht und gegen das, was er
selbst erlassen hat, anzeigt. So sagte er den Einwohnern von Ninive bedingungslos
durch den Propheten: ‚Noch vierzig Tage und Ninive wird zerstört werden.‘ Wenn
er noch viel mehr sagte, was keineswegs eintrat, wollte er nicht, dass diese Worte
seiner Absicht oder seinem Erlass entsprechen.“3

Mersenne spielt hier auf die berühmte Unterscheidung von „geordneter


Macht“ (potentia/potestas ordinata) und „absoluter Macht“ (potentia/po-
testas absoluta) an, die nicht nur die theologischen, sondern auch die phi-
1
  Vgl. DeRose 1999, 2.
2
 Vgl. Med. I (AT VII, 21).
3
  Obj. II (AT VII, 125): „Quarto, Deum negas posse mentiri aut decipere, cùm tamen
non desint Scholastici qui illud affirment, ut Gabriel, Ariminensis, & alii, qui putant Deum
absolutâ potestate mentiri, hoc est contra suam mentem, & contra id quod decrevit, aliquid
hominibus significare: ut cùm absque conditione dixit Ninivetis per Prophetam, adhuc qua-
draginta dies & Ninive subvertetur; & cùm alia multa dixit, quae tamen minime contigerunt,
quòd verba illa menti suae aut decreto suo respondere noluerit.“
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§ 11 Skeptische Hypothesen 119

losophischen Diskussionen im Spätmittelalter beherrschte.4 Kraft seiner ge-


ordneten Macht, so wurde dabei angenommen, kann Gott alles tun, was sich
im Rahmen der von ihm selbst erlassenen Naturgesetze bewegt. Handelt er
hingegen mit der absoluten Macht, kann er uneingeschränkt alles tun, sofern
es nicht dem Gesetz der Widerspruchsfreiheit widerspricht – auch das, was im
Rahmen der Naturgesetze unmöglich ist. So kann Gott beispielsweise bewir-
ken, dass ein Dornbusch zu brennen beginnt, obwohl er in keinem Kontakt
zu Feuer steht, oder er kann umgekehrt bewirken, dass ein Dornbusch kein
Feuer fängt, obwohl er in Kontakt zu Feuer kommt. Sämtliche natürlichen
Kausalrelationen können durch Gottes uneingeschränkte Macht außer Kraft
gesetzt werden.
Es ist leicht ersichtlich, dass diese ursprünglich theologisch motivierte
Argumentation zur Formulierung einer skeptischen Hypothese eingesetzt
werden kann. Wenn Gott jede Kausalrelation außer Kraft setzen kann, dann
auch jene, die zwischen den Erkenntnisvermögen und den materiellen Ge-
genständen besteht. So kann er bewirken, dass in mir der Gedanke an einen
brennenden Dornbusch entsteht, obwohl kein Dornbusch vor mir steht und
ich keine visuellen Eindrücke habe. Oder er kann umgekehrt einen solchen
Gedanken in mir tilgen, obwohl ich Sinneseindrücke von einem unmittelbar
präsenten Dornbusch erhalte. Kurzum: Gott kann die kausale Verbindung
zur Außenwelt jederzeit manipulieren. Doch wie kann ich dann noch ein
sicheres Wissen von Gegenständen in der Außenwelt haben? Könnte es
nicht sein, dass jedes Mal, wenn ich an einen solchen Gegenstand denke
und glaube, ein Wissen von ihm zu haben, Gott willkürlich eingreift und
mir den Gedanken eingibt, ohne dass irgendeine Relation zu einem äußeren
Gegenstand besteht? Und könnte es nicht sein, dass Gott so weit geht, mich
zu belügen und mich davon zu überzeugen, dass meinem Gedanken etwas
in der Außenwelt entspricht, obwohl keine Korrespondenz vorliegt? All
dies scheint Gott aufgrund seiner absoluten Macht möglich zu sein.
Damit sind wir natürlich bei einer skeptischen Hypothese angelangt,
die genau die fundamentale Frage aufwirft, ob Wissen von einer Außen-
welt überhaupt möglich ist. Wie Mersennes Aussage verdeutlicht, waren
sich Descartes’ Zeitgenossen durchaus bewusst, dass er mit der Gedanken-
spielerei, ein Täuschergott könne uns manipulieren, keine neue Hypothese
formuliert hatte. Diese Hypothese war den spätmittelalterlichen Autoren
bereits geläufig und wurde gezielt in erkenntnistheoretischen Debatten
eingesetzt. Sie war im 14. Jh. sogar so weit verbreitet, dass ein Philosoph, der
die Möglichkeit von Wissen verteidigen wollte, sich explizit von all jenen

 Auf diesen Hintergrund machte bereits Gregory 1974 und 1984 in Pionierstudien auf-
4

merksam.
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120 Zweifel an der absoluten Gewissheit

abgrenzen musste, die sich auf die skeptische Hypothese beriefen. So stellte
Johannes Buridan unwirsch fest:
„... einige äußerst üble Leute, die die Naturwissenschaften und die Ethik durch
folgende [Überlegung] zerstören wollen, sagen: In vielen ihrer Prinzipien und
Schlussfolgerungen gibt es keine einfache Evidenz; sie können nämlich durch Fälle,
die auf übernatürliche Weise möglich sind, falsifiziert werden.“5

Wer sich stets auf die Hypothese beruft, Gott könnte doch eingreifen und
alle natürlichen Kausalrelationen aufheben oder momentan außer Kraft set-
zen, stellt Buridan zufolge genau das infrage, was jede vernünftige Erkennt-
nis- und Wissenschaftstheorie annehmen muss: dass es gesetzesmäßige Ver-
knüpfungen zwischen äußeren wahrnehmbaren Gegenständen und inneren
Zuständen gibt und dass genau diese Gegenstände – nicht die wundersamen
Handlungen irgendeines manipulierenden Gottes – den Inhalt dieser Zu-
stände festlegen. Buridans ungehaltene Reaktion zeigt freilich, dass die
Hypothese von einem Täuschergott bereits im 14. Jh. als eine Bedrohung
für die Erkenntnistheorie wahrgenommen wurde. Es muss daher genauer
untersucht werden, wie diese skeptische Hypothese eingesetzt wurde,
welche Konsequenzen daraus gezogen wurden und welche antiskeptischen
Strategien entwickelt wurden, um diese Hypothese zu widerlegen oder zu
neutralisieren.
Wie die Hypothese vom Täuschergott war auch jene von einem täu-
schenden Dämon zu Descartes’ Zeiten keineswegs neu. Im Rahmen der
Dämonologie, die spätestens seit Augustin in der christlichen Tradition
einen wichtigen Platz einnahm, wurde ausführlich diskutiert, wie „ge-
fallene Engel“ in den Erkenntnisprozess eingreifen, diesen manipulieren
und dadurch die natürlichen kognitiven Mechanismen außer Kraft setzen
können.6 Daher soll in einem ersten Schritt (§§ 12–13) am Beispiel Thomas
von Aquins untersucht werden, welche Funktion die Diskussionen über
Dämonen für die Erklärung von Wissen und Erkenntnis besaßen. Dabei
soll vor allem geprüft werden, zu welcher Art von skeptischer Hypothese
die Dämonologie Anlass gab, wie weitreichend diese Hypothese war und
welche antiskeptischen Strategien Thomas wählte. Auch die von Descartes
­verwendete Traumhypothese war nicht neu. Bereits Thomas’ Zeitgenosse
Siger von Brabant diskutierte sie. Deshalb soll in einem zweiten Schritt

5
  Johannes Buridan, Kommentar zur Aristotelischen Metaphysik, lib. II, q. 1 (ed. Paris 1588,
f. 9ra): „... aliqui valde mali dicunt volentes interimere scientias naturales et morales eo quod
in pluribus earum principiis et conclusionibus non est evidentia simplex sed possunt f­ alsificari
per casus supernaturaliter possibiles ...“ Zu dieser Kritik am Gebrauch theologischer Hypo-
thesen in der Philosophie vgl. De Rijk 1997.
6
 Vgl. zum theologischen Hintergrund Ries & Limet 1989, 291–352, und die in Linsen-
mann 2000, 31–98, versammelten Texte.
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§ 11 Skeptische Hypothesen 121

geprüft werden, welche skeptische Gefahr er in dieser Hypothese sah und


welche Strategien er entwickelte, um sie zu bannen (§ 14). In einem dritten
Schritt (§§ 15–16) soll dann die Hypothese vom Täuschergott mit Blick auf
verschiedene Autoren des 14. Jhs. untersucht werden. Auch hier soll weniger
die Einbettung in den theologischen Kontext als die epistemologische Funk-
tion dieser Hypothese geprüft werden. Wie kann man noch von sicherem
Wissen sprechen, wenn Gott doch immer eingreifen und die natürliche
Verbindung zwischen Wissenssubjekt und -objekt zerstören kann? Und
wie muss angesichts dieser Möglichkeit der Wissensanspruch revidiert oder
eingeschränkt werden? Schließlich soll auch die spezielle Frage, ob Gott
die Menschen belügen könnte, am Beispiel Gregors von Rimini analysiert
werden (§ 17). Eine Diskussion dieses Problems trägt nicht nur dazu bei,
den Sprechakt des Lügens präziser zu fassen, sondern ermöglicht auch eine
Erörterung der Frage, ob ein radikaler Außenweltskeptizismus für die mit-
telalterlichen Autoren überhaupt ein Problem darstellte.
Zwei Bemerkungen müssen den Analysen freilich vorausgeschickt wer-
den. Erstens soll es bei der Prüfung der skeptischen Hypothesen, die im 13.
und 14. Jh. formuliert wurden, nicht einfach darum gehen, Vorläufer der
cartesischen Hypothesen zu finden. Wären die spätmittelalterlichen Diskus-
sionen lediglich eine Hinführung zu Descartes oder gar zu gegenwärtigen
Debatten über „Gehirne im Tank“, wären sie nur von geringem Interesse.
Denn warum sollte man sich die Mühe machen, in diesen Diskussionen
nach etwas zu suchen, was man in klarer und konziser Form bei Descartes
oder gar bei H. Putnam findet? Interessant werden diese Diskussionen erst,
wenn sie zunächst in ihrem eigenen Kontext betrachtet und rekonstruiert
werden. Dann zeigt sich nämlich, welches Gewicht skeptischen Hypothesen
beigemessen wurde und wie sie in einen aristotelisch geprägten Kontext in-
tegriert wurden. Dies schließt natürlich nicht aus, dass Vergleiche angestellt
werden. So kann man mit Blick auf Descartes fragen, ob die Hypothesen
im Spätmittelalter auch dazu dienten, ein tradiertes Wissenssystem zu
demontieren und die Grundlage für eine neues, absolut sicheres System
zu schaffen, oder ob sie eine andere Funktion hatten. Und mit Verweis auf
Putnam kann man fragen, ob die Hypothesen bereits im Mittelalter mithilfe
eines semantischen Externalismus ausgehebelt wurden. Doch diese Fragen
dürfen nicht von Anfang an als die einzig relevanten Leitfragen an die Texte
herangetragen werden. Zunächst gilt es zu prüfen, wie die mittelalterlichen
Autoren die Hypothesen entwickelten, welche Bedeutung sie ihnen in ihrem
Kontext beimaßen und welche antiskeptischen Argumente sie mithilfe ihrer
theoretischen Ressourcen entwickelten. Betrachtet man den spezifischen
Kontext, zeigt sich nämlich, in welchen Punkten die mittelalterlichen
­Diskussionen die cartesischen oder gegenwärtigen Skeptizismus-Debatten
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122 Zweifel an der absoluten Gewissheit

nicht bloß antizipieren, sondern von diesen auch abweichen. Gerade die
Differenzen machen auf zentrale Punkte im mittelalterlichen Umgang mit
skeptischen Hypothesen aufmerksam.
Zweitens soll vermieden werden, die komplexen Debatten zur absoluten
Macht Gottes in normativer Perspektive als eine Dekadenz- oder Auf-
lösungserscheinung der spätmittelalterlichen Philosophie zu bewerten. In
der älteren Forschung ist diese Perspektive immer wieder gewählt worden,
wie in der Einleitung bereits erwähnt wurde. So stellte E. Gilson in einer
einflussreichen Studie fest, die im 14. Jh. deutlich zunehmenden Spekula-
tionen darüber, dass Gott jederzeit eingreifen und die natürliche Ordnung
beseitigen könne, hätten jede Erkenntnisgewissheit aufgelöst, ja eine „neue
intellektuelle Krankheit“ verursacht.7 Auch H. Blumenberg betonte, die
Allmachtslehre habe eine „Epochenkrise“ ausgelöst und dazu geführt,
dass jedes „Weltvertrauen“ verloren ging. Angesichts eines willkürlich
handelnden Gottes, der sich über jede Ordnung hinwegsetzen kann, sei jede
Gewissheit von einer natürlichen Ordnung – insbesondere von einer episte-
mischen Ordnung – hinfällig geworden.8 Diese pessimistische Einschät-
zung hat sich teilweise bis in die neuere Forschung hinein gehalten.9
Gegenüber dieser negativen Bewertung ist zu betonen, dass die Debatten
über Gottes Macht nicht darauf abzielten, im Detail zu bestimmen, was
Gott wirklich tut oder im Rahmen des physikalisch Möglichen tun könnte,
um die natürliche Ordnung zu zerstören. Sie dienten vorwiegend dazu,
in rein theoretischer Hinsicht den Bereich des Möglichen zu bestimmen
und dabei vor allem das logisch Mögliche vom physikalisch Möglichen zu
unterscheiden. Mit einem Verweis auf die absolute Macht Gottes sollte ge-
klärt werden, was prinzipiell denkbar und widerspruchsfrei formulierbar
ist. Daher hatten die Argumente, die sorgfältig die absolute Macht von der
geordneten unterschieden, vor allem eine methodische Funktion: Anhand
konstruierter Beispiele sollte bestimmt werden, was im Bereich des Denk-
baren liegt und als logisch mögliche Alternative zum realen Weltverlauf
erwogen werden kann.10 Wenn solche Beispiele unter anderem auch in

7
  Vgl. Gilson 1937, 86.
8
  Vgl. Blumenberg 1988, 170–171 (ursprünglich 1966 veröffentlicht).
9
 So etwa bei Kennedy 1993 oder neuerdings bei Kenny, 2005, 173, der behauptet, Duns
Scotus habe „a road to skepticism“ geöffnet, die spätere Autoren – allen voran Ockham – be-
schritten haben. Dadurch sei das Vertrauen in sichere Erkenntnis immer mehr erodiert.
10
 Courtenay 1985, 256, hält dies prägnant fest: „... potentia ordinata increasingly became
the realm of the realized, and potentia absoluta the realm of the unrealized possibilities,
counterfactuals, hypothetical arguments, secundum imaginationem.“ Wie Courtenay 1990,
19, zu Recht betont, diente die Unterscheidung verschiedener Arten der Allmacht als „ana-
lytical tool“, um den Bereich des logisch Möglichen zu bestimmen und vom Bereich des
Notwendigen abzugrenzen.

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§ 12 Trügerische Dämonen 123

erkenntnistheoretischen Debatten verwendet wurden, hatten sie somit nicht


den Zweck, das „Weltvertrauen“ zu erschüttern oder jede Gewissheit zu
zerstören. Es ging primär darum, in einer Analyse des Erkenntnisprozesses
alle Möglichkeiten auszuloten – auch die bloß denkbaren.

§ 12 Trügerische Dämonen und natürliche Erkenntnisprozesse

Sämtliche mittelalterlichen Autoren, die sich an der christlichen Tradition


orientierten, hielten es für selbstverständlich, dass es zwischen Gott und den
Menschen vermittelnde Wesen gibt: Engel, die zwar immaterielle Geschöpfe
sind, aber trotzdem auf den Bereich des Materiellen einwirken können. Von
diesen sind einige gut und als Schutzengel den Menschen auch hilfreich;
andere hingegen, die Dämonen (das Paradebeispiel ist Luzifer, der sich von
Gott abgewendet hat), sind schlecht und für die Menschen gefährlich. Diese
schöpfungstheologische Konzeption wirft sogleich zwei Probleme auf, die
von erkenntnistheoretischer Relevanz sind: Welche Art von Zugang haben
die Engel zu den kognitiven Fähigkeiten und Aktivitäten der Menschen?
Und wie können sie, insbesondere die Dämonen, auf den kognitiven Ap-
parat einwirken und natürliche Erkenntnisprozesse manipulieren oder gar
außer Kraft setzen? Zahlreiche Autoren des 13. und 14. Jhs. widmeten sich
diesen Fragen und verdeutlichten dadurch, dass sich aus bestimmten theo-
logischen Annahmen epistemologische Konsequenzen ergeben. Eine be-
sonders detaillierte Analyse legte Thomas von Aquin vor, der als „Doctor
angelicus“ den Engeln bekanntlich einen prominenten Platz zuwies.11
Für Thomas steht fest, dass die Engel einen Zugang zu den Gedanken
eines Menschen haben. Allerdings präzisiert er, dass zwei Arten von Zu-
gängen zu unterscheiden sind.12 Zunächst gibt es einen indirekten Zugang,
denn Engel können die körperlichen Zustände und das Verhalten einer Per-
son beobachten. Ausgehend von diesen äußeren Zeichen sind sie imstande,
auf die verursachenden geistigen Zustände zu schließen. Thomas betont,
dass sie dies viel besser vermögen als die Menschen. Wenn etwa jemand
erbleicht, sind Engel in der Lage, genau zu erkennen, welcher geistige Zu-
stand – etwa Furcht – diesen körperlichen Zustand ausgelöst hat. Diese Er-
klärung verdeutlicht, dass Thomas Kausalrelationen zwischen inneren und
äußeren Zuständen annimmt und davon ausgeht, dass im Prinzip eine ge-
naue Zuordnung von Ursache und Wirkung möglich ist.13 Wenn wir Men-

  Zur Funktion der Engel im gesamten metaphysischen und kosmologischen Projekt des
11

Thomas vgl. Vernier 1986 und Suarez-Nani 2002.


12
 Vgl. De malo, q. 16, art. 8, corp. (ed. Leonina XXIII, 320–321) und STh I, q. 57, art. 4.
13
 In De malo, q. 16, art. 8, ad 14 (ed. Leonina XXIII, 322) betont Thomas, dass zwar all-
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124 Zweifel an der absoluten Gewissheit

schen diese Zuordnung auch nicht immer bestimmen können (ist die bleiche
Person voller Furcht? oder ist ihr nur übel?), sind doch Engel dazu in der
Lage. Dies wäre allerdings noch kein besonders bemerkenswerter Zugang
zum Innenleben einer Person, denn natürlich können auch Menschen ihre
Beobachtung des äußeren Verhaltens schärfen und dadurch lernen, immer
genauer auf innere Ursachen zu schließen. Wenn sie sorgfältig mögliche
Ursachen ausschließen, wie dies etwa in der ärztlichen Diagnose der Fall
ist, können sie eine ziemlich präzise, wenn vielleicht auch nicht vollkommen
perfekte Aussage über verursachende geistige Zustände machen.
Interessanter ist der direkte Zugang zu den Gedanken eines Menschen,
den Thomas den Engeln zuschreibt. Er behauptet, bei diesem Zugang seien
zwei Komponenten zu unterscheiden, durch die sich ein Gedanke aus-
zeichne: die sog. Species und der Gebrauch der Species.14 Damit verweist
Thomas auf ein zentrales Element seiner Kognitionstheorie. Genau wie der
frühe Heinrich von Gent und Duns Scotus (vgl. §§ 5 und 9) geht auch er von
der Annahme aus, dass Denken nur möglich ist, wenn vom Vorstellungs-
bild (phantasma) eine intelligible Species abstrahiert wird.15 Im Gegensatz
zum Vorstellungsbild stellt diese nicht einen individuellen Gegenstand mit
konkreten Eigenschaften dar, sondern das allgemeine Wesen oder die Form
eines Gegenstandes. Entscheidend ist für Thomas, dass die Species nicht das
Objekt des Denkens ist, sondern nur das kognitive Hilfsmittel, mit dem der
Intellekt sich auf ein bestimmtes Wesen bezieht.16 Wenn ich etwa an einen
Apfel denken will, muss ich auf der Grundlage eines Vorstellungsbildes von
einem konkret wahrgenommenen Apfel eine Species bilden, die mir das
Wesen eines Apfels (d.h. die in einer Definition zu berücksichtigenden we-
sentlichen Merkmale) anzeigt. Ich denke dann nicht an die Species, sondern
mit der Species an das, was einen Apfel genau zu einem Apfel macht. Erst
wenn ich in einem reflexiven Akt darüber nachdenke, wie ich an einen Apfel
denke, mache ich die Species zum Denkobjekt.
Für Thomas ist es nun wichtig, die Species vom Denkakt zu unterschei-
den. Denn dadurch, dass ich über eine Species verfüge, denke ich noch

gemein gesehen ein äußeres Verhalten für viele innere Vorgänge stehen kann. Doch es gebe
„im Besonderen einige Differenzen“, die es den Engeln ermöglichen, präzis den jeweiligen
inneren Vorgang zu bestimmen. Diese Aussage verdeutlicht, dass Thomas eine eindeutige
Relation zwischen inneren Vorgängen und körperlichen Zeichen annimmt. Die Möglichkeit,
dass ein innerer Vorgang unbestimmbar ist (etwa weil ein komplexes Konglomerat verschie-
dener Vorgänge vorliegt oder weil sich der innere Vorgang bei gleich bleibendem äußerem
Zeichen verändert), zieht er nicht in Betracht.
14
 Vgl. De malo, q. 16, art. 8, corp. (ed. Leonina XXIII, 321).
15
 Vgl. STh I, q. 85, art. 1–2, und Summa contra Gentiles I, cap. 53, n. 442 (ed. Pera, 64–65);
zur Species-Theorie vgl. ausführlich Spruit 1994, 156–174, Pasnau 1997, 195–219, Perler 2002,
61–80; Stump 2003, 262–276.
16
 Vgl. STh I, q. 85, art. 2, corp; Sentencia libri De anima III, 2 (ed. Leonina XLV/1, 213).
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§ 12 Trügerische Dämonen 125

nicht aktuell an einen bestimmten Gegenstand bzw. an dessen Wesen.


Dies lässt sich anhand des Apfel-Beispiels leicht veranschaulichen. Da ich
schon zahlreiche Äpfel gesehen und deren Wesen erfasst habe, verfüge ich
über eine Apfel-Species, die ich abgespeichert habe und bei Bedarf wieder
abrufen kann. Aber natürlich denke ich nicht zu jedem Zeitpunkt an einen
Apfel. Erst wenn ich die Apfel-Species reaktiviere und verwende, um einen
Denkakt auf einen Apfel auszurichten, mache ich einen aktuellen Gebrauch
von ihr. In moderner Terminologie könnte man daher sagen: Die Species
bestimmt den Inhalt eines Denkaktes und damit auch dessen intentionales
Objekt, jedoch nicht den aktuellen Vollzug eines Denkaktes. Für den ak-
tuellen Vollzug ist Thomas zufolge der Wille erforderlich. Denn erst wenn
jemand die Species aktuell verwenden will, entsteht ein Denkakt, der sich
auf ein bestimmtes Objekt bezieht.
Diese Unterscheidung ist nun für die Frage, wozu die Dämonen einen
direkten Zugang haben, von entscheidender Bedeutung. Laut Thomas
können sie nur die Species erfassen, die für die Bildung eines Denkaktes
erforderlich ist, jedoch nicht den aktuellen Denkakt, weil sie keinen Zugriff
auf den Willen haben.17 Konkret heißt dies: Ein Dämon ist zwar imstande
zu erkennen, woran ich denken kann, weil er alle Species, die in meinem
Intellekt abgespeichert sind, unmittelbar erfassen kann. Doch er ist nicht in
der Lage zu erfassen, ob ich jetzt aktuell an einen Apfel oder an Schokolade
denke. Dies ist nur mir und Gott möglich, wie Thomas festhält, weil neben
dem Denkenden nur Gott als höchstes Wesen auf das, was die höchste Voll-
kommenheit des Menschen ausmacht, einen Zugriff hat.18
Diese These ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zunächst ver-
deutlicht sie, dass Thomas von Anfang an eine Zwei-Komponenten-Theorie
zur Erklärung des Denkens verwendet: Intellekt und Wille sind erforderlich,
damit ein aktueller Denkakt zustande kommt. Dadurch grenzt sich Thomas
deutlich von jenem Erklärungsansatz ab, den später Descartes entwickelte.
Descartes zufolge kann nämlich der Intellekt allein mithilfe einer Idee an
etwas denken; der Wille ist nur für die Bildung von Urteilen erforderlich.19
Diese Differenz hat eine unmittelbare Auswirkung auf die Skeptizismus-
Problematik. Descartes zufolge kann ein böser Dämon, der einen Zugriff

 Vgl. De malo, q. 16, art. 8 (ed. Leonina XXIII, 321); STh I, q. 57, art. 4, corp.
17

  Zur Erhärtung dieser These beruft sich Thomas in De malo, q. 16, art. 8 (ed. Leonina
18

XXIII, 321) auf ein metaphysisches Argument: Die Tätigkeit des Willens hängt von der
„höchsten Ordnung der Dinge“ ab, die nur dem höchsten Wesen zugänglich ist. Ein unterge-
ordnetes Wesen kann prinzipiell keinen Zugriff auf etwas haben, was ihm übergeordnet ist.
Dieses Argument verdeutlicht, dass eine enge Beziehung zwischen Metaphysik und Erkennt-
nistheorie bei Thomas besteht. Die Stellung in der hierarchischen Ordnung legt fest, auf
welchen Bereich sich die kognitiven Fähigkeiten eines bestimmten Wesens beziehen können.
19
 Vgl. Med. III und IV (AT VII, 37 und 56).
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126 Zweifel an der absoluten Gewissheit

auf den Intellekt hat, das aktuelle Denken vollständig erfassen; ihm ist nicht
verborgen, ob ich jetzt gerade an einen Apfel oder an Schokolade denke. Und
er ist darüber hinaus auch imstande, auf das ganze Denken einzuwirken.
Für Thomas hingegen gibt es aufgrund der unentbehrlichen Mitwirkung des
Willens durchaus etwas, was dem Zugriff des Dämons entzogen ist. Dies hat
zur Folge, dass der Dämon sicherlich nicht mein aktuelles Denken festlegen
kann. Vollständige Manipulation ist schon aufgrund der Unzugänglichkeit
des Willens ausgeschlossen. Und das heißt natürlich: Eine radikale skep-
tische Hypothese, der zufolge ein Dämon mein ganzes aktuelles Denken
manipulieren könnte, ist von vornherein ausgeschlossen.
Thomas’ These, dass ein Dämon nur die Species erfassen kann, ist noch
in einer weiteren Hinsicht bemerkenswert. Wenn wir an etwas denken, kön-
nen wir dies auf unterschiedliche Weise tun, z.B. aufgeregt oder gelassen,
aufmerksam oder zerstreut. Es gibt, modern ausgedrückt, neben dem be-
sonderen Inhalt des Denkens immer auch eine spezifische Modalität. Wenn
nun ein Dämon nur die Species erfassen kann, so hat er nur zu dem, was den
Inhalt des Denkens festlegt (oder genauer: festlegen kann), einen Zugang.
Doch die besondere Modalität des Denkens bleibt ihm verborgen. So kann
er nicht wissen, ob ich gierig oder nur so nebenbei an Schokolade denke. 20
Die Redeweise, ein Dämon könne die Species erfassen (comprehendere)
oder erkennen (cognoscere), 21 wirft freilich die Frage auf, welche Art von
epistemischer Relation damit gemeint ist. Heißt dies, dass es so etwas wie
innere Objekte gibt, die ein Dämon unmittelbar betrachten kann? Dies
hätte zur Konsequenz, dass die Species als innere Objekte zu verstehen sind,
die auch wir irgendwie betrachten müssten, wenn wir sie in einem aktuellen
Denkakt verwenden wollten. Denken wäre dann primär die Hinwendung
zu inneren Gegenständen.
Diese Interpretation ist allerdings nicht zwingend. Da Thomas betont,
dass aus den Species die „inneren Wörter“ entstehen, 22 sind sie eher als ko-
gnitive Hilfsmittel mit einer begrifflichen Struktur zu verstehen. Konkret

20
  Pasnau 2002a, 358, stellt kritisch fest, Thomas wähle in der Diskussion des Problems,
wie jemand – sei dies nun ein Dämon oder ein Mensch – einen Zugang zu einem anderen Geist
haben könne, prinzipiell die Außenperspektive und gehe nicht auf die entscheidende Frage
ein, wie es sich denn für jemanden anfühle, in einem bestimmten Zustand zu sein, z.B. einen
Schmerz zu fühlen oder eine Gelbwahrnehmung zu haben. Dazu ist zu bemerken, dass Tho-
mas auf der Ebene des Intellekts sog. Qualia (die freilich auch in der gegenwärtigen Debatte
umstritten sind) gar nicht berücksichtigen kann, weil es nur auf der Ebene der sensitiven Seele
sinnlich erfahrbare Zustände gibt. Die intellektuelle Ebene zeichnet sich dadurch aus, dass sie
nur für das abstrakte Erfassen, Urteilen und Schließen zuständig ist.
21
 Diese Terminologie verwendet Thomas durchgehend in De malo, q. 16, art. 8, corp. (ed.
Leonina XXIII, 320–322) und in STh I, q. 57, art. 4.
22
 Vgl. De potentia, q. 8, art. 1, corp.; De veritate, q. 4, art. 1, corp. (ed. Leonina XXII, Bd.
1, 119).
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§ 12 Trügerische Dämonen 127

heißt dies: Wenn ich aus dem Vorstellungsbild von einem saftigen, roten
Apfel eine Apfel-Species abstrahiere, so bilde ich einen Begriff, mit dem
ich Äpfel von Birnen und anderen Gegenständen unterscheiden kann. 23
Diesen Begriff setze ich dann ein, wenn ich ein Urteil über einen konkreten
Apfel bilde, z.B. ‚Dies ist ein saftiger Apfel‘. Über einen Begriff zu verfügen
bedeutet aber nicht, dass ich ein inneres Objekt oder gar ein inneres Bild
haben muss. Dies heißt nur, dass ich über etwas verfügen muss, was es mir
erlaubt, Prädikate in gesprochenen Sätzen zu verwenden. Daher ist die Bil-
dung der „inneren Wörter“ immer eine notwendige Voraussetzung für die
Äußerung gesprochener Wörter und Sätze. Ein Dämon muss somit genauso
wenig wie die denkende Person selbst auf wundersame Weise ein inneres
Objekt betrachten. Er muss nur einen Zugriff auf das Begriffsrepertoire der
entsprechenden Person haben.
Daraus entsteht jedoch noch keine unmittelbare skeptische Gefahr. Denn
das Begriffsrepertoire erfassen zu können (wie auch immer dies durch einen
direkten Zugriff auf den Intellekt möglich sein soll) heißt noch lange nicht,
es auch verändern und manipulieren zu können. So könnte man sagen: So-
lange ein Dämon nur feststellt, dass ich über die Begriffe verfüge, die es mir
erlauben, an Äpfel, Schokolade und viele andere Dinge zu denken, mag er ein
unliebsamer Eindringling in meine intellektuelle Privatsphäre sein, aber er
hat mich dadurch noch nicht manipuliert. Denn ich habe die Begriffe ja da-
durch erworben, dass ich ausgehend von der Sinneswahrnehmung konkreter
Gegenstände das Wesen von Äpfeln, Schokolade usw. abstrahiert habe. Die
sinnliche Grundlage meiner Begriffe garantiert, dass sie in Gegenständen
der materiellen Welt fundiert sind. Und da ein Dämon nicht einmal wissen
kann, woran ich aktuell denke, kann er sicherlich nicht meine aktuelle Ver-
wendung von Begriffen manipulieren. Mein aktuelles Denken ist gleichsam
immunisiert gegenüber dämonischen Übergriffen.
In der Tat sieht Thomas keine unmittelbare skeptische Gefahr. Dämonen
können nicht auf direkte Weise Denkakte hervorbringen oder zerstören.
Trotzdem können sie in die kognitiven Mechanismen eingreifen:
„... auf natürliche Weise können nämlich die menschlichen Sinne durch die Präsenz
wahrnehmbarer Körper verändert werden. Aber manchmal bewirken Dämonen,
dass den Menschen etwas erscheint, was in der Außenwelt in Tat und Wahrheit
nicht besteht.“24
23
 Dies bedeutet allerdings nicht, dass ich auf einen Schlag einen vollständigen Begriff
habe. Wie Kretzmann 1991 gezeigt hat, kann ein ursprünglich ungenauer oder vager Begriff
Schritt für Schritt präziser gefasst werden. Thomas’ Theorie sieht durchaus eine graduelle
Abstufung verschieden präziser Begriffe vor.
24
  De malo, q. 16, art. 11, corp. (ed. Leonina XXIII, 329): „... naturaliter enim humani
sensus a presentia sensibilium corporum immutantur. Set quandoque demones aliqua faciunt
hominibus apparere que in rerum exteriorum ueritate non subsistunt.“
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128 Zweifel an der absoluten Gewissheit

Aus dieser Feststellung lässt sich leicht eine skeptische Konsequenz ziehen.
Wenn Dämonen manchmal bewirken können, dass mir ein Objekt x er-
scheint, obwohl kein x in der Außenwelt existiert, können sie im Prinzip
jederzeit bewirken, dass mein auf Erscheinungen beruhendes Denken nicht
mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Und wenn sie mir die Erscheinungen
so perfekt eingeben, dass ich nicht merke, dass keine Übereinstimmung mit
äußeren Objekten vorliegt, können sie mich perfekt täuschen. Besteht also
trotz eines unmöglichen direkten Zugriffs auf das aktuelle Denken eine
skeptische Gefahr?
In der Tat liegt eine gewisse Gefahr vor. Dämonen können nämlich zum
einen sog. „äußere Zeichen“ hervorbringen, die eine bestimmte Sinneswahr-
nehmung und darauf aufbauend einen bestimmten Denkakt hervorrufen.
Zum anderen können sie auch auf der Ebene der inneren Sinne eingreifen
und die Vorstellungsbilder manipulieren. 25 Beides bewirken sie durch eine
lokale Veränderung von Materieteilen. So können sie etwa die in meiner
Umgebung vorhandenen Gegenstände derart anordnen, dass plötzlich vor
mir das Zeichen von einem galoppierenden Pferd auftaucht; dies verursacht
in mir die Wahrnehmung eines Pferdes. Sie können aber auch die in meinem
Gehirn vorhandenen Materiepartikel neu anordnen. Da Vorstellungsbilder
nichts anderes als materielle Bilder sind, die – wie Thomas in Übereinstim-
mung mit seinen Zeitgenossen annimmt – im Gehirn durch eine bestimmte
Anordnung von Säften und Partikeln entstehen, können die Dämonen da-
durch neue Vorstellungsbilder erzeugen. Konkret heißt dies: Ein Dämon
könnte jetzt in mein Gehirn eingreifen und in mir das Vorstellungsbild von
einer Chimäre erzeugen. Ebenso könnte er in mir das Vorstellungsbild von
einem galoppierenden Pferd hervorbringen, obwohl in meiner Umgebung
kein Pferd präsent ist. Das heißt, er könnte (a) Bilder von physisch unmög-
lichen Gegenständen und (b) Bilder von physisch zwar möglichen, aktuell
aber nicht vorhandenen Gegenständen und Sachverhalten hervorrufen.
Das mögliche Eingreifen in die Umgebung und in die inneren Sinne wirft
unterschiedliche skeptische Probleme auf. Betrachten wir zunächst den Fall
des Hervorbringens von „äußeren Zeichen“. Werden unter diesen Zeichen
reale, wahrnehmbare Gegenstände verstanden, stellt sich noch keine skeptische
Frage. Wenn ein Dämon nämlich bewirkt, dass vor mir ein galoppierendes
Pferd auftaucht und ich dann tatsächlich die Wahrnehmung eines galoppie-
renden Pferdes habe, stimmt meine Wahrnehmung mit einem Sachverhalt in
der Wirklichkeit überein – ich werde nicht getäuscht. Das Problem, das sich
hier stellt, ist weniger erkenntnistheoretischer als metaphysischer Natur. Es

 Vgl. De malo, q. 16, art. 11, corp. und ad 6; ibid., art. 12, corp. (ed. Leonina XXIII, 329,
25

331 und 333); STh I, q. 111, art. 3.


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§ 12 Trügerische Dämonen 129

stellt sich nämlich die Frage, wie weit ein Dämon in seiner Neuanordnung der
vorhandenen Gegenstände gehen kann. 26 Ist er imstande, in die natürlichen
Kausalverhältnisse einzugreifen und plötzlich etwas auftauchen zu lassen, was
nicht von natürlichen Ursachen hervorgebracht wurde? Dies ist in metaphy-
sischer Hinsicht ein entscheidender Punkt. Ereignisse und Sachverhalte sind
dann nicht durch eine natürliche Ursachenkette vollständig determiniert. Die
Kette kann jederzeit unterbrochen und neu angeordnet werden.
Erkenntnistheoretisch bedeutsamer ist jedoch der Fall, in dem der Dämon
ein „äußeres Zeichen“ hervorbringt, das bloß die Präsenz eines realen Ge-
genstandes simuliert. Angenommen, ich wandere halb verdurstet durch die
Berge und ein Dämon lässt vor mir plötzlich das Bild von einem sprudelnden
Bergbach auftauchen. Er tut dies so perfekt, dass ich glaube, hier sei tatsäch-
lich ein Bergbach. Dann hat er mich natürlich getäuscht. Denn solange ich
das Bild nicht als bloßes Bild (oder als bloßes Zeichen und nicht als Bezeich-
netes) wahrnehme und es für einen echten Bergbach halte, stimmt das, was
ich glaube, nicht mit der Wirklichkeit überein. Und solange ich nicht anhand
bestimmter Kriterien herausfinden kann, ob es sich um ein bloßes Bild oder
um einen echten Bergbach handelt, kann ich die Täuschung auch nicht kor-
rigieren.
Noch verhängnisvoller ist der mögliche Eingriff in die inneren Sinne.
Wenn ein Dämon durch eine Manipulation des Gehirns die genannten
Szenarien (a) und (b) hervorrufen kann, ist er imstande, Vorstellungsbilder
zu erzeugen, die nicht mit einem äußeren Sachverhalt übereinstimmen. Und
wenn die Person, die diese Vorstellungsbilder verwendet, nicht in der Lage
ist festzustellen, dass sie durch Manipulation entstanden sind, täuscht sie
sich. Sie glaubt auch hier, etwas sei der Fall, was in Tat und Wahrheit nicht
der Fall ist.
Wie schwerwiegend ist nun diese Täuschungsmöglichkeit? Zunächst
gilt es zu beachten, dass sicherlich kein radikaler Außenweltskeptizismus
droht. Wie sehr der Dämon die Gehirnzustände auch manipulieren mag,
sie beruhen immer auf Sinneseindrücken, die ihrerseits von äußeren wahr-
nehmbaren Gegenständen stammen. Es gibt somit eine kausale Verbindung
zur Außenwelt. Und wer Vorstellungsbilder verwendet, kann auch sicher
sein, dass eine solche Verbindung besteht. Wenn ich etwa jetzt eine äußerst
lebhafte Vorstellung von einer Chimäre habe, kann ich zwar auf Anhieb
nicht sicher sein, ob es in der materiellen Welt tatsächlich eine Chimäre
gibt, aber ich kann doch gewiss sein, dass es etwas gibt, was den einzelnen

 Diese Frage stellt sich vor allem, weil Thomas in STh I, q. 111, art. 4, corp. betont: „Potest
26

enim angelus opponere exterius sensui sensibile aliquod, vel a natura formatum, vel aliquod
de novo formando; sicut facit dum corpus assumit...“ Wenn ein Dämon etwas darstellt, was
nicht von der Natur hervorgebracht wurde, greift er in die natürliche Kausalkette ein.
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130 Zweifel an der absoluten Gewissheit

Bestandteilen des Vorstellungsbildes entspricht; das Vorstellungsbild ist


nicht ex nihilo entstanden. Der mögliche Eingriff eines Dämons kann also
höchstens zur Frage „Kann ich sicher sein, dass diesem Vorstellungsbild ein
Gegenstand in der materiellen Welt entspricht?“ Anlass geben, nicht aber
zu der radikaleren Frage „Kann ich sicher sein, dass meinen Vorstellungs-
bildern überhaupt eine materielle Welt entspricht?“.
Allerdings scheint die Frage, ob diesem oder jenem Vorstellungsbild ein
materieller Gegenstand entspricht, immer noch ziemlich fundamental zu
sein. Wenn der Dämon mich perfekt manipuliert, kann ich das auf natür-
liche Weise erworbene Vorstellungsbild nicht vom willkürlich verursachten
unterscheiden. Somit kann ich in jedem Fall fragen, ob dem Vorstellungsbild
etwas entspricht. Führt dies nicht dazu, dass ich zwar im Prinzip weiß, dass
eine Außenwelt besteht, aber in keinem konkreten Fall mit Sicherheit wissen
kann, was genau in der Außenwelt existiert?
Thomas sieht keine solche skeptische Gefahr. Er verweist nur kurz auf
die Manipulationsmöglichkeit, ohne daraus besondere epistemologische
Schlüsse zu ziehen. Der Grund dafür liegt wohl in der Gesamtkonzeption
seiner Kognitionstheorie. Er geht nämlich davon aus, dass Kognition
im strengen Sinne erst dann zustande kommt, wenn der Intellekt auf der
Grundlage des Vorstellungsbildes tätig wird und die Species abstrahiert, um
das Wesen eines Gegenstandes zu erfassen. Das Hervorbringen und Erfas-
sen des Vorstellungsbildes ist nur ein Element des kognitiven Prozesses. 27
Wenn allerdings der Intellekt aktiv wird, ist er korrekt tätig, d.h. er abstra-
hiert das Wesen korrekt vom jeweiligen Vorstellungsbild. 28 Thomas vertritt
eine Infallibilitätsthese, der zufolge der Intellekt so beschaffen ist, dass er
prinzipiell in der Lage ist, das Wesen sämtlicher Gegenstände zu erfassen. 29
Das Wesen zu erfassen heißt aber nichts anderes, als die definitorischen
Merkmale eines Gegenstandes zu erfassen, die nicht in Widerspruch zu-
einander stehen dürfen. Sobald ein Widerspruch auftaucht, steht fest, dass es
ein derartiges Wesen in der materiellen Welt nicht geben kann. Für den oben
genannten Fall (a) mit der Chimäre bedeutet dies: Sobald ein Vorstellungs-
bild von diesem Fabelwesen vorliegt, abstrahiert der Intellekt das Wesen
und stellt dabei fest, dass es sich hier nur um ein willkürlich zusammenge-
setztes Wesen handeln kann, weil verschiedene definitorische Merkmale, die

27
 Freilich handelt es sich um ein unverzichtbares Element, weil nur mithilfe eines Vor-
stellungsbildes ein individueller Gegenstand erfasst werden kann; vgl. STh I, q. 85, art. 1.
Thomas ist kein Intellektualist, der Kognition einzig und allein auf der Ebene des Intellekts
ansiedelt.
28
 Vgl. STh I, q. 85, art. 6; De veritate, q. 1, art. 12 (ed. Leonina XXII, 35–36); Summa
contra Gentiles III, cap. 108, n. 2835 (ed. Pera, 163).
29
  Vgl. eine Analyse dieser These in Jenkins 1991 und Perler 2002, 66–70.
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§ 12 Trügerische Dämonen 131

einander teilweise widersprechen (z.B. hat die Chimäre an einigen Stellen


eine Ziegenstruktur, an anderen nicht) miteinander vermengt sind. Dies hat
zur Folge, dass der Intellekt sogleich urteilt, dass es in der Außenwelt keine
Chimäre geben kann; Gegenstände mit widersprüchlichen definitorischen
Merkmalen sind prinzipiell unmöglich. Somit wird durch die infallible in-
tellektuelle Tätigkeit eine Täuschung ausgeschlossen. Wie sehr der Dämon
das Gehirn auch manipulieren und in ihm das Vorstellungsbild von einer
Chimäre hervorbringen mag, der Intellekt erfasst korrekt, dass es sich um
ein zusammengesetztes Wesen handelt, und urteilt korrekt, dass ein solches
Wesen in der materiellen Welt nicht existieren kann.
Diese Korrekturtätigkeit des Intellekts verhindert zwar, dass im Fall (a)
eine Täuschung auftreten kann, hilft aber nicht, im Fall (b) Täuschungen zu
vermeiden. Wenn der Dämon mir das Vorstellungsbild von einem galoppie-
renden Pferd eingibt, abstrahiert der Intellekt korrekt das in sich keineswegs
widersprüchliche Wesen eines Pferdes. Diese Abstraktion ist dann – zu-
sammen mit der Verwendung des Vorstellungsbildes – die Grundlage für
das Urteil, dass tatsächlich ein Pferd über die Wiese galoppiert. Da das vom
Dämon erzeugte Vorstellungsbild dem natürlich hervorgebrachten perfekt
gleicht, kann nicht einmal der infallible Intellekt der Täuschung entgehen.
Das Vorstellungsbild bietet ja in jedem Fall die Grundlage für ein korrektes
Erfassen des Wesens. Warum sieht Thomas hier keine skeptische Gefahr?
Er erkennt keine solche Gefahr, weil er von Anfang an von der These ab-
sieht, dass alle intellektuellen Urteile, die auf Vorstellungsbildern beruhen,
wahr sind. Nur das Erfassen des Wesens ist infallibel, nicht aber das Urteilen
über die Präsenz des Wesens in einem konkreten Gegenstand. Dies gilt be-
reits für ganz einfache Fälle, bei denen kein dämonischer Eingriff vorliegt.
So ist jemand, der nur über ein schwaches Sehvermögen verfügt, in gewissen
Situationen nicht in der Lage zu erfassen, ob nun ein sichtbarer Gegenstand
vor ihm liegt oder nicht, und er fällt unter Umständen das falsche Urteil,
dass ein Gegenstand vorhanden ist. Thomas betont ausdrücklich, dass Per-
sonen je nach Funktionsfähigkeit ihrer Sinne mehr oder weniger in der Lage
sind, wahre Wahrnehmungsurteile zu bilden. 30 Diesen Urteilen ist keine
Wahrheitsgarantie „eingebaut“. Vielmehr müssen sie immer wieder anhand
neuer Wahrnehmungseindrücke oder im Austausch mit anderen Personen,
die über dasselbe Objekt urteilen, überprüft werden. Besonders deutlich
ist dies im Falle der Sinnestäuschungen. Wer etwa einen halb ins Wasser
eingetauchten Stab sieht und das Vorstellungsbild von etwas Gebrochenem

 Vgl. STh I, q. 85, art. 7, corp. In De veritate, q. 2, art. 2, corp. (ed. Leonina XXII, 45) hält
30

Thomas allgemein fest, dass es einen „ordo in cognoscibilibus“ gibt. Je besser der kognitive
Apparat eines Lebewesens ist, desto besser kann es die Formen der Gegenstände aufnehmen
und desto besser ist es auch in der Lage, wahre Urteile zu bilden.
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132 Zweifel an der absoluten Gewissheit

hat, muss das spontan gebildete Urteil ‚Hier liegt etwas Gebrochenes‘ mit-
hilfe der taktilen Wahrnehmung oder mit Rückgriff auf die Informationen
anderer Personen korrigieren. Ob sich ein Wahrnehmungsurteil auf einen
tatsächlich existierenden Gegenstand und tatsächlich existierende Eigen-
schaften bezieht, muss von Fall zu Fall überprüft werden.
Dies hat nun eine unmittelbare Konsequenz für die Bewertung des
Falles, in dem ein Dämon das Vorstellungsbild von einem zwar möglichen,
aber nicht wirklich existierenden Gegenstand eingibt. Genau wie die Fälle
von Wahrnehmungsurteilen, die auf ungenügender Sinnesinformation oder
auf Sinnestäuschungen beruhen, ist es auch in diesem Fall möglich, dass
ein falsches Urteil, etwa ‚Ein Pferd galoppiert vorbei‘, gebildet wird. Aber
auch hier muss das Urteil durch einen Vergleich mit anderen Urteilen, durch
Rückgriff auf andere Vorstellungsbilder und durch ein Abgleichen mit den
Urteilen anderer Personen korrigiert werden. Entscheidend ist dabei, dass
das Urteil im Prinzip korrigierbar ist und dass daher nicht eine radikale
Täuschungsgefahr droht. Gerade weil Urteile miteinander verflochten sind,
können sie abgeglichen und auf ihre Konsistenz hin geprüft werden.
Aber könnte ein Dämon das Gehirn nicht so perfekt manipulieren, dass
er eine Vielzahl von kohärenten Vorstellungsbildern erzeugt, die dann die
Grundlage für eine Vielzahl von kohärenten und konsistenten Wahrneh-
mungsurteilen bilden? Könnte es nicht sein, dass der Dämon mir nicht nur
das Vorstellungsbild von einem galoppierenden Pferd eingibt, sondern auch
von Wiesen, Stallungen usw., sodass ich schließlich ein komplexes, in sich
kohärentes Bild von einer ganzen Welt habe und zahlreiche Urteile über
diese Welt bilde – Urteile, die zwar perfekt aufeinander abgestimmt sind,
sich aber nicht auf eine reale Welt beziehen?
Eine solche Möglichkeit zieht Thomas nicht in Betracht, und zwar nicht
nur wegen der bereits erwähnten Grundthese, dass selbst eine komplexe
Menge von Vorstellungsbildern eine Verankerung in der Außenwelt haben
muss, sondern auch wegen einer viel weiter reichenden These, die man die
These des epistemologischen Optimismus nennen könnte. Immer wieder
betont Thomas, dass jeder Mensch über ein „natürliches Licht“ verfügt,
das dem Intellekt angeboren ist und ihn dazu befähigt, im Prinzip korrekte
Erkenntnis zu erwerben und wahre Wahrnehmungsurteile zu bilden. 31
Bei diesem Licht handelt es sich um nichts anderes als um ein Grundver-
mögen, das Gott jedem Menschen zuteil werden lässt. Thomas betont sogar,
dass durch dieses Licht „eine gewisse Einprägung der ersten Wahrheit“ im
menschlichen Intellekt vorhanden ist.32 Damit verweist er auf den metaphy-
31
 Vgl. De malo, q. 16, art. 12 (ed. Leonina XXIII, 333); STh I, q. 12, art. 2, corp; ibid., q.
84, art. 5, corp.
32
  STh I, q. 88, art. 3, ad 1: „... in luce primae veritatis omnia intelligimus et iudicamus,
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§ 12 Trügerische Dämonen 133

sischen Rahmen seiner Kognitionstheorie: In Gott sind alle Ideen von den
Dingen – von den möglichen ebenso wie von den wirklichen – vorhanden und
damit auch alle möglichen wahren Urteile über die Dinge. Da jeder Mensch in
einer Partizipationsrelation zu Gott steht, hat auch jeder Mensch in gewisser
Weise an diesen Ideen teil – nicht weil er sie direkt betrachten oder erfassen
könnte, auch nicht weil Gott sie ihm durch eine „Erleuchtung“ zukommen
ließe, sondern weil er über ein angeborenes Vermögen verfügt, die Dinge in
Übereinstimmung mit den göttlichen Ideen korrekt zu erfassen. Die Aktuali-
sierung dieses Vermögens erfolgt aber nur, wenn ein Kontakt zu wahrnehm-
baren Gegenständen besteht. Konkret heißt dies: Wenn ich ein Vorstellungs-
bild von einem Apfel habe, kann ich daraus das Wesen des Apfels abstrahieren,
weil aufgrund einer „Einprägung“ das Vermögen zu einem Erfassen dieses
Wesens bereits in mir vorhanden ist. Die Präsenz des Vorstellungsbildes ist
gleichsam der Auslöser für eine Aktualisierung dieses Vermögens.
Diese Argumentationslinie verdeutlicht, dass Thomas’ Kognitions-
theorie nicht nur empiristische, sondern auch rationalistische Elemente
enthält. Denn durch die empirisch erworbenen Vorstellungsbilder allein
kann keine Erkenntnis vom Wesen der Dinge gewonnen werden. Immer ist
auch die „Einprägung der ersten Wahrheit“ und damit etwas Angeborenes
erforderlich. Überspitzt ausgedrückt könnte man sagen: Gäbe es kein an-
geborenes Vermögen zu einem korrekten Erfassen, könnten auch die Vor-
stellungsbilder nicht adäquat ausgewertet werden. Dies ist nun für die
Skeptizismus-Problematik von Bedeutung. Da jeder Mensch über ein sog.
natürliches Licht verfügt, ist jeder von Natur aus imstande, auf korrekte
Weise Begriffe zu bilden und wahre Urteile über Dinge in der Welt zu fällen.
Irrtümer und Fehler sind in Einzelfällen zwar möglich, aber im Prinzip ist
der menschliche Intellekt so ausgestattet, dass er die Dinge in der Außen-
welt korrekt erfassen kann. Dies liegt daran, dass er das angeborene Ver-
mögen in Übereinstimmung mit den göttlichen Ideen aktualisiert, die ja die
Vorlagen für die Dinge in der Außenwelt sind.33 Metaphorisch gesprochen

inquantum ipsum lumen intellectus nostri, sive naturale sive gratuitum, nihil aliud est quam
quaedam impressio veritatis primae ...“
33
 Daher ist es ausgeschlossen, dass ein Mensch irgendein Wesen, z.B. von einem Ein-
horn, erfindet, dann urteilt, dass ein Gegenstand mit einem solchen Wesen existiert, und
keine Möglichkeit hat, den Irrtum zu korrigieren. Da es keine Vorlage für ein solches Wesen
gibt, stellt ein Mensch bei genauer Prüfung fest, dass ein Einhorn ein Fabelwesen ist, das aus
unvereinbaren Bestandteilen besteht. Natürlich ist es möglich, dass ein Mensch im Irrtum
verharrt und weiterhin glaubt, ein Einhorn existiere genauso wie ein Pferd. Es gibt keinen
kognitiven Automatismus, der Irrtümer korrigiert. Entscheidend ist für Thomas jedoch, dass
ein Mensch prinzipiell die Möglichkeit hat, den Irrtum zu korrigieren. Dank der „Einprägung
der ersten Wahrheit“ ist der menschliche Intellekt gleichsam auf die wirklichen Gegenstände
abgestimmt und kann feststellen, welche Gegenstände tatsächlich existieren (oder zumindest
existieren können) und welche nicht.
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134 Zweifel an der absoluten Gewissheit

könnte man sagen, dass Gott den menschlichen Intellekt und die Dinge zu-
sammenschweißt, indem er durch seine Ideen gleichzeitig die Vorlagen für
das Wesen aller möglichen Dinge in der Außenwelt und für alle möglichen
Begriffe und Urteile im Intellekt gibt. Daher ist ein Szenario, dem zufolge
wir zwar eine kohärente Innenwelt haben, jedoch keine ihr entsprechende
Außenwelt, von vornherein ausgeschlossen. Oder verkürzt ausgedrückt:
Vollkommene Kohärenz ohne Korrespondenz ist unmöglich.
Dieser epistemologische Optimismus ist wohl der Hauptgrund, wes-
halb Thomas an keiner Stelle versucht, einen radikalen Skeptizismus zu
widerlegen oder zu bekämpfen. Wenn nämlich der menschliche Intellekt
von vornherein auf die Dinge in der Außenwelt abgestimmt ist und wenn
er von Natur aus die Fähigkeit hat, das Wesen dieser Dinge korrekt zu
erfassen, stellt sich gar nicht die Frage, ob er denn vollständig in die Irre
gehen könnte. Dämonen können zwar in Einzelfällen, aber nie im Gan-
zen Täuschungen bewirken, und selbst die Einzelfälle sind korrigierbar.
Thomas’ Begründung des epistemologischen Optimismus verdeutlicht
aber auch, dass seine Kognitionstheorie auf starken metaphysischen Prä-
missen beruht. Nur wenn man annimmt, (1) dass es im göttlichen Intel-
lekt Ideen für alle Dinge gibt, (2) dass der menschliche Intellekt in einer
Partizipationsrelation zu Gott steht und (3) dass der Intellekt aufgrund
dieser Relation selber Begriffe bilden kann, die den Dingen entsprechen,
kann man radikale skeptische Szenarien ausschließen. Die Immunisierung
gegenüber dem Skeptizismus gelingt nur mit einem voraussetzungsreichen
metaphysischen Apparat. Ein Skeptiker könnte natürlich diesen Apparat
infrage stellen und einwenden: Wie können wir denn sicher sein, dass Gott
uns die „Einprägung der ersten Wahrheit“ gegeben hat? Welche Gewissheit
haben wir dafür, dass die Begriffe, die wir durch eine Aktualisierung dieser
Einprägung bilden, genau den Dingen in der Außenwelt entsprechen? Wir
haben doch nur einen unmittelbaren Zugang zu unseren Begriffen und Ur-
teilen, können diese aber nicht von einem neutralen Standpunkt aus mit den
Dingen vergleichen. Daher können wir auch nicht beurteilen, ob tatsäch-
lich eine Übereinstimmung vorliegt.
Aus skeptischer Sicht sind solche Nachfragen in der Tat möglich. Doch
für Thomas sind sie irrelevant, weil er nicht von einem isolierten Denker
ausgeht, der nur über seine eigenen Begriffe und Urteile verfügt und sich
fragt, ob ihnen auch eine Außenwelt entspricht. Thomas situiert alle seine
Überlegungen zum Verhältnis von Begriffen und äußeren Gegenständen
innerhalb eines metaphysischen und schöpfungstheologischen Rahmens,
der festlegt, dass es tatsächlich eine Außenwelt gibt und dass aufgrund der
Ideen im göttlichen Intellekt eine perfekte Zuordnung von Begriffen und
Gegenständen besteht. Verkürzt ausgedrückt könnte man sagen: Thomas

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§ 13 Die Identitätstheorie 135

geht von der Metaphysik zur Kognitionstheorie über und nicht umge-
kehrt. Daher ist ein Szenario, wie man es in Descartes’ Erster Meditation
findet, von vornherein ausgeschlossen. Freilich zeigt dieser methodische
Ansatz, dass Thomas’ Antiskeptizismus mit seinen metaphysischen und
schöpfungstheologischen Annahmen steht und fällt. Sobald man bezwei-
felt, dass es tatsächlich göttliche Ideen gibt, die Begriffe und Gegenstände
gleichsam zusammenschweißen, ja dass es überhaupt eine Garantie für die
Existenz materieller Gegenstände gibt, wird das, was Thomas für selbst-
verständlich hält, fragwürdig. Wenn ein Skeptiker gegen die thomasische
Theorie Einspruch erheben will, muss er daher primär den metaphysi-
schen Rahmen – nicht einzelne Elemente der Kognitionstheorie – infrage
stellen.34

§ 13 Die Identitätstheorie als antiskeptische Strategie

Die bisherigen Analysen haben gezeigt, dass Thomas zwar eine Manipu-
lation der Sinnesvermögen einräumt und dadurch lokale Täuschungen für
möglich hält. Doch die Möglichkeit, dass ein Dämon in den menschlichen
Intellekt eingreifen und ihm direkt Gedanken eingeben könnte, denen keine
Gegenstände in der materiellen Welt entsprechen, schließt er kategorisch
aus. Dies liegt nicht nur daran, dass ein Dämon mangels eines Zugriffs auf
den Willen keinen aktuellen Denkakt hervorbringen kann. Der Grund
dafür liegt auch in einer Grundthese, die das Fundament für Thomas’ ge-
samte Kognitionstheorie bildet: Wenn der Intellekt tätig wird, gleicht er sich
an das zu Erkennende an und wird mit ihm identisch. Immer wieder betont
Thomas: „Jede Erkenntnis erfolgt durch eine Assimilation des Erkennen-
den an das Erkannte“35 und „Das aktuell Verstandene ist der Intellekt im
Akt“.36 Unter dem aktuell Erkannten oder Verstandenen ist hier nicht der
materielle Gegenstand zu verstehen, sondern die allgemeine Form (bzw. das
Wesen oder die Natur) des Gegenstandes. Genau diese Form nimmt der In-
tellekt auf und wird mit ihr identisch.

 Es ist bezeichnend, dass Descartes in der Ersten Meditation genau diesen Ansatz wählt.
34

Er löst den metaphysischen Rahmen auf, indem er alle überlieferten Annahmen infrage stellt.
Wie Garber 1986 gezeigt hat, löst er damit auch die metaphysischen Grundlagen für die phy-
sikalische Erklärung der materiellen Welt auf: Er nimmt nicht mehr an, dass es Gegenstände
mit einer hylemorphistischen Struktur gibt und dass der menschliche Intellekt das Wesen die-
ser Gegenstände auch adäquat erfassen kann. Erst diese Einklammerung der metaphysischen
Annahmen ermöglicht einen radikalen Außenwelt-Skeptizismus.
35
  De veritate, q. 8, art. 5, corp. (ed. Leonina XXII, Bd. 2, 235).
36
  STh I, q. 14, art. 2, corp.; vgl. auch STh I, q. 85, art. 2, ad 1; Sentencia libri De anima III,
7 (ed. Leonina XLV/1, 236); Summa contra Gentiles II, cap. 60, n. 1383 (ed. Pera, 192).
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136 Zweifel an der absoluten Gewissheit

Diese im Kern aristotelische These ist natürlich erklärungsbedürftig,


aber sie scheint einem Außenwelt-Skeptizismus von vornherein einen Riegel
vorzuschieben. Wenn der Intellekt nämlich nur dadurch an etwas denken
kann, dass er die Form eines Gegenstandes in sich aufnimmt, kann er gar
keinen Denkakt mit einem wohldefinierten Inhalt haben, ohne dass es auch
einen äußeren Gegenstand mit der entsprechenden Form gibt oder zumin-
dest gegeben hat. Um etwa an ein Pferd denken zu können, muss ich in Kon-
takt zu einem Pferd stehen oder gestanden haben und die Form des Pferdes
in meinen Intellekt aufgenommen haben. Gäbe es kein Pferd, dessen Form
durch einen Assimilationsprozess in meinen Intellekt gelangt ist, wäre ich
auch nicht in der Lage, einen Pferd-Gedanken zu haben.
Verschiedene Interpreten sehen in dieser Grundthese die entscheidende
antiskeptische Strategie. Da es keine Kluft zwischen einem inneren Gedan-
ken und einem äußeren Gegenstand gibt, kann auch kein Dämon eingreifen
und den Gedanken vom Gegenstand abtrennen. In der älteren Forschung
ist immer wieder betont worden, dass genau dies der zentrale Punkt in
Thomas’ Kognitionstheorie ist. So stellten E. Anscombe und P. Geach fest,
die Tatsache, dass die Form des Gegenstandes selbst – nicht bloß ein Abbild
oder eine Repräsentation – aufgrund des Assimilationsprozesses im Intellekt
ist, ermögliche es dem Intellekt, direkt auf die außergeistige Realität Bezug
zu nehmen.37 Auch in der neueren Debatte haben N. Kretzmann, J. Haldane
und J. O’Callaghan mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass keine Kluft
zwischen etwas Innerem und etwas Äußerem besteht und dass die Formen
der äußeren Gegenstände daher unmittelbar im Intellekt präsent sind.38 Wo
es keine Kluft gibt, kann auch kein Dämon und kein allmächtiger Gott ein-
greifen.
Gegen diesen Interpretationsansatz ist in der neuesten Forschungsdebatte
jedoch Einspruch erhoben worden. R. Pasnau hat behauptet, die Rede von
einer Assimilation und einer Identität zwischen erkennendem Intellekt und
erkannter Form biete keine Lösung oder Auflösung des Skeptizismus-Pro-
blems. Trocken stellt er fest: „Formale Identität trägt nicht dazu bei, dem
Skeptiker eine Antwort zu geben.“39 Andere gehen sogar noch weiter und
behaupten, die ganze Redeweise von einer Identität sei unverständlich. So
bemerkt P. King, die von Thomas nicht weiter erklärte These, die Form eines
Gegenstandes werde auf intentionale Weise vom Intellekt aufgenommen
und sei in ihm präsent, mache das Repräsentationsproblem – d.h. das Pro-
blem, wie sich der Intellekt mit einem Denkakt auf etwas beziehen kann – zu
einem „Mysterium“. Es sei daher nicht erstaunlich, dass diese These bereits
37
  Vgl. Anscombe & Geach 1961, 95.
38
  Vgl. Kretzmann 1999, 361–363; Haldane 1998, 267–268; O’Callaghan 2003, 241–243.
39
  Pasnau 1997, 304: „Formal identity doesn’t help answer the skeptic.“
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§ 13 Die Identitätstheorie 137

von Thomas’ mittelalterlichen Nachfolgern nicht übernommen worden


sei.40 Auch H. Putnam hält die These aus heutiger Sicht für unverständlich.41
Wieder andere, J. E. Brower und S. Brower-Toland, vertreten die Ansicht,
Thomas’ Grundthese lasse sich zwar verstehen, aber man könne ihr nur einen
Sinn abgewinnen, wenn man sie so interpretiere, dass die Präsenz der Form
im Intellekt ein fundamentales, nicht weiter analysierbares Faktum sei – ein
Faktum, aufgrund dessen Gedanken eine intrinsische Repräsentationsfunk-
tion haben. Damit werde der Skeptizismus aber nicht abgewehrt, sondern
im Gegenteil gefördert. Wenn Gedanken nämlich intrinsisch etwas re-
präsentieren, nicht aufgrund einer Relation zu äußeren Gegenständen, dann
können sie diese intrinsische Funktion auch von einem allmächtigen Wesen
erhalten.42 Auch Gott könnte also in meinem Intellekt einen Gedanken er-
zeugen, der „an sich“ auf Pferde verweist, ohne dass ich in einem Kontakt zu
Pferden stehe, ja ohne dass es Pferde gibt.
Angesichts dieser divergierenden Interpretationen, die zu ganz un-
terschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen, kann nicht angenommen
werden, die Identitätstheorie sei so klar antiskeptisch konzipiert, dass sich
eine Diskussion erübrigt. Es müssen vielmehr zwei grundsätzliche Fragen
erörtert werden: Ist diese Theorie überhaupt verständlich und rekonstru-
ierbar? Und dient sie als antiskeptische Strategie oder ruft sie ihrerseits
skeptische Szenarien auf den Plan? Eine eingehende Behandlung dieser
Fragen würde eine detaillierte Rekonstruktion der thomasischen Intel-
lekt- und Intentionalitätstheorie erfordern; dies kann hier nicht geleistet
werden.43 Es sollen nur jene Aspekte analysiert werden, die im Hinblick
auf die Skeptizismus-Problematik relevant sind.
Gehen wir zunächst der schlichten, aber durchaus berechtigten Frage

  King 2007, 5: „Aquinas’s failure to say what intentional presence consists in makes repre-
40

sentationality into a mystery again, this time centered on the non-informing presence of the
form in the representer; it may well explain why Aquinas had few followers in philosophy of
psychology during the High Middle Ages.“
41
  Putnam 1994, 71: „... but even if we could somehow make sense of the claim that objects
and events have intrinsic form, there still remains the question of the relation between that
form and the form of whatever it is that thinks about or represents the object. To say that the
relation is identity, whether ,identity‘ be taken literally or metaphorically, makes no sense.“
42
  Vgl. Brower & Brower-Toland, Ms. Die Autoren räumen freilich ein, dass im Normalfall
Gedanken nur deshalb eine intrinsische Repräsentationsfunktion haben, weil sie auf der
Grundlage von Sinneseindrücken entstanden sind, die ihrerseits durch äußere Gegenstände
verursacht wurden. Sie weisen aber explizit darauf hin, dass auch ohne eine solche Kausalkette
eine intrinsische Repräsentationsfunktion möglich ist: „Nonetheless, Aquinas’s account, as
we interpret it, leaves open the possibility for a powerful being, such as God, to produce any
mental representation whatsoever in a subject immediately, and hence without the ordinary
causal processes.“
43
 Ich habe in Perler 2002, 31–105, die Intentionalitätstheorie bereits eingehend untersucht,
allerdings ohne auf die Konsequenzen für die Skeptizismus-Problematik einzugehen.
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11:28

138 Zweifel an der absoluten Gewissheit

nach, ob die Aussage „Der Intellekt assimiliert sich an die Form eines
Gegenstandes und wird mit ihr identisch“ überhaupt verständlich und in
moderner Terminologie erklärbar ist. Um eine Antwort zu entwickeln,
empfiehlt es sich, die Aussage in den Kontext zu stellen, in dem Thomas sie
formuliert. Dieser Kontext ist durch zwei Annahmen bestimmt, die Thomas
von Aristoteles übernimmt: (i) Kognition ist ein Prozess der Veränderung,
bei dem ein Erkenntnisvermögen durch die Einwirkung eines Gegenstandes
aktualisiert wird. (ii) Der Prozess der Veränderung erfolgt mehrstufig; er
beginnt auf der Ebene der Sinne und setzt sich auf jener des Intellekts fort.
Ausgehend von diesen beiden Annahmen vertritt Thomas die These, dass
eine kognitive Assimilation nur erfolgen kann, wenn in einem ersten Schritt
die Sinne durch die Einwirkung eines wahrnehmbaren Gegenstandes ver-
ändert werden und dadurch die wahrnehmbaren Formen dieses Gegenstan-
des aufnehmen. Wenn ich etwa vor einem grünen Baum stehe, nehme ich
die Form des Grünseins auf – nicht weil meine Augen im wörtlichen Sinne
grün werden, sondern weil sie eine bestimmte Struktur aufnehmen, die im
Baum vorhanden ist. Thomas sagt daher, dass in den Augen nicht eine na-
türliche, sondern eine „intentionale Veränderung“ (immutatio intentionalis)
stattfindet.44 Dies ist nichts Mysteriöses, sondern ein Vorgang, für den die
Augen aufgrund ihrer physiologischen Beschaffenheit bestimmt sind. Mit
einem modernen Vergleich könnte man sagen: Genau wie ein Scanner so
konstruiert ist, dass er Texte reproduzieren kann, indem er durch einen be-
stimmten Mechanismus die Form- und Farbstruktur der Buchstaben in sich
aufnimmt, nehmen auch die Augen durch einen natürlichen Mechanismus
derartige Strukturen auf. Auf dieser Grundlage entsteht dann ein Vorstel-
lungsbild, das ebenfalls nichts Mysteriöses darstellt. Es ist, wie in § 12 be-
reits ausgeführt wurde, ein materielles Bild im Gehirn. Es bezieht sich zum
einen aufgrund einer Kausalrelation auf den äußeren Gegenstand. So ist
mein Vorstellungsbild nur deshalb ein Bild, das sich auf einen Baum – oder
genauer: auf diesen Baum vor mir – bezieht, weil ich von diesem konkreten
Baum sinnlich affiziert wurde. Zum anderen bezieht sich das Bild aber auch
aufgrund einer gewissen Isomorphie auf den äußeren Gegenstand. Durch
die „intentionale Veränderung“ sind nämlich genau jene Form- und Farb-
strukturen aufgenommen worden, die sich auch im Baum selbst befinden.
Daher lassen sich Strukturelemente des Bildes und des Baumes einander zu-
ordnen.
Auf der Grundlage des Vorstellungsbildes abstrahiert nun der Intellekt
eine Species, deren Inhalt nichts anderes ist als die allgemeine Form des
äußeren Gegenstandes. Für das Baum-Beispiel heißt dies: Der Inhalt der

44
 Vgl. STh I, q. 78, art. 3, corp., ausführlich dazu Burnyeat 2001.
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§ 13 Die Identitätstheorie 139

Baum-Species ist nicht die konkrete Blatt-, Stamm- und Wurzelstruktur des
Baumes, der vor mir steht, sondern die Grundstruktur, die sich in jedem
Baum befindet. Genau diese Struktur erfasst der Intellekt, wenn er an einen
Baum denkt.45 Es ist hier entscheidend, genau zwischen der Species als
bloßem Hilfsmittel und dem Inhalt dieses Hilfsmittels zu unterscheiden.
Als Hilfsmittel betrachtet ist die Species ein bloßes Akzidens des Intellekts,
das zu einer bestimmten Zeit entsteht und abgespeichert wird. Der Inhalt
der Species hingegen ist nichts anderes als die allgemeine Form, die aus dem
Vorstellungsbild abstrahiert wird. Dabei handelt es sich um dieselbe Form,
die auch im äußeren Gegenstand existiert. Dies ist möglich, weil eine Form
(bzw. eine Natur oder ein Wesen) verschiedene Arten der Existenz haben
kann. Thomas betont:
„Die Natur selbst aber, der das Merkmal der Allgemeinheit zukommt, z.B. die
Natur des Menschen, hat ein zweifaches Sein: ein materielles, mit dem sie in der
natürlichen Materie ist; ein anderes, immaterielles aber, mit dem sie im Intellekt
ist.“46

Wenn ich an einen Menschen denke, erfasse ich somit dank des Inhalts der
Mensch-Species die allgemeine Form oder Natur des Menschen, und zwar
dieselbe Natur, die sich auch in allen menschlichen Individuen befindet.
Genau diese These mag allerdings den Vorwurf provozieren, Thomas’ Er-
klärungsansatz sei unverständlich. Was heißt es denn, dass dieselbe Form an
zwei Orten ist – im Intellekt und außerhalb des Intellekts? Und wie ist es
möglich, dass diese Form in den Intellekt gelangt? Ein Vergleich mit einem
modernen Beispiel mag hier wiederum Klarheit schaffen.
Stellen Sie sich vor, dass Sie soeben einen neuen Computer gekauft haben,
auf dem Sie verschiedene Programme – etwa Windows und ein E-mail Pro-
gramm – installieren. Dazu müssen Sie die Festplatte des Computers mit
diesen Programmen beschreiben bzw. konfigurieren, wie es in der Fach-
sprache heißt. Das heißt, dass Sie die Programme von einer CD oder aus
dem Internet herunterladen und auf der Festplatte abspeichern. Ist dieser
Vorgang einmal abgeschlossen, verfügen Sie auf Ihrem Computer genau
über die Programme, die auch auf der CD oder im Internet existieren. Sie
verfügen der Struktur nach sogar über dieselben Programme und können

 Dies heißt allerdings nicht, dass er nur an die allgemeine Form des Baumes denkt. Da
45

immer auch das Vorstellungsbild verwendet wird, wie Thomas in STh I, q. 85, art. 1, betont,
werden gleichzeitig die allgemeine Form und die individuellen Merkmale erfasst.
46
  Sentencia libri De anima II, 12 (ed. Leonina XLV/1, 116): „Ipsa autem natura cui aduenit
intentio uniuersalitatis, puta natura hominis, habet duplex esse: unum quidem materiale
secundum quod est in materia naturali; aliud autem inmateriale secundum quod est in intel-
lectu.“ Vgl. auch STh I, q. 84, art. 2, corp.: „Relinquitur ergo quod oportet materialia cognita
in cognoscente existere non materialiter, sed magis immaterialiter.“
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140 Zweifel an der absoluten Gewissheit

mit diesen nun arbeiten. Das Aufnehmen einer Form im Intellekt kann nun
in ähnlicher Weise als ein Konfigurationsprozess verstanden werden. Wer
etwa die Form eines Baumes erfasst, abstrahiert aus dem Vorstellungsbild
eine bestimmte Struktur und installiert diese gleichsam im Intellekt. Wie
man beim Computer zwischen dem Hilfsmittel (den elektromagnetischen
Beschreibungen der Festplatte) und dem Inhalt dieser Hilfsmittel (den
jeweiligen Programmen) unterscheiden muss, so gilt es auch beim Intellekt
zwischen dem kognitiven Hilfsmittel (der Species) und dessen Inhalt (der
jeweiligen Form) zu unterscheiden. Dies heißt freilich nicht, dass es sich
hier um zwei verschiedene Dinge handelt, denn der Inhalt ist nicht etwas,
was neben oder zusätzlich zur Species in den Intellekt aufgenommen wird.
Vielmehr gilt: Indem der Intellekt eine Species aufnimmt und wie eine Fest-
platte mit ihr „beschrieben“ wird, erhält er einen bestimmten Inhalt. Und
dieser Inhalt ist nichts anderes als die Form, die auch in einem äußeren Ge-
genstand existiert. Es handelt sich sogar um dieselbe Form bzw. um dieselbe
Programmstruktur, die nur in verschiedener Weise an zwei verschiedenen
Orten präsent ist.
Versteht man die Rede von der zweifachen Existenzweise einer Form auf
diese Weise, ist sie keineswegs obskur, sondern verständlich und in eine mo-
derne Sprache übersetzbar. Auch die These, dass eine Form aufgenommen
wird, erweist sich als nachvollziehbar. Damit ist nur gemeint, dass der Intel-
lekt durch eine Art Konfigurationsprozess eine Struktur aufnimmt. Je mehr
Formen aufgenommen werden, desto mehr wird der Intellekt konfiguriert.
Thomas bedient sich selber der berühmten aristotelischen Metapher von der
Wachstafel, um zu verdeutlichen, dass der Intellekt „beschrieben“ werden
kann.47 Wie bei jedem Vergleich gibt es freilich auch hier neben allen Ana-
logien einige Disanalogien. Die wichtigste besteht sicherlich darin, dass der
Intellekt – ganz im Gegensatz zum Computer – immateriell ist und dass
daher auch der Vorgang der Konfiguration als immaterieller Prozess zu ver-
stehen ist. Zudem ist zu beachten, dass der Intellekt – wiederum im Gegen-
satz zum Computer – aus einem aktiven und einem passiven Teil besteht.
Dem aktiven wird nichts eingeprägt, sondern er abstrahiert selber eine be-
stimmte Form aus einem Vorstellungsbild und prägt sie dann dem passiven
Intellekt ein. Eine Pointe der thomasischen Intellekttheorie besteht gerade
darin, dass der Intellekt als ein aktives Vermögen bestimmt wird, das zu
einer kognitiven Tätigkeit fähig ist.
Mithilfe dieses Erklärungsmodells lassen sich nun die scheinbar unver-

  Freilich wird nur der passive Intellekt „beschrieben“. Für Thomas ist es entscheidend,
47

dass es immer auch einen aktiven Intellekt gibt, der die Formen aus den Vorstellungsbildern
abstrahiert und den passiven Intellekt damit „beschreibt“. Vgl. Sentencia libri De anima III, 4
(ed. Leonina XLV/1, 218–223).
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§ 13 Die Identitätstheorie 141

ständlichen Stellen interpretieren, an denen Thomas sagt, dass „das aktuell


Verstandene der Intellekt im Akt ist“.48 Dies heißt in moderner Sprache: Die
allgemeine Struktur eines Gegenstandes ist aufgrund des Konfigurations-
vorgangs derart im Intellekt, dass dieser über sie verfügt und sie jederzeit
verwenden kann. Wenn dabei von einer „formalen Identität“ die Rede ist,
bedeutet dies, dass der Intellekt genau jene Form bzw. Struktur hat, die
auch im äußeren Gegenstand vorhanden ist. Es geht somit nicht um die
mysteriöse Omnipräsenz eines Gegenstandes, sondern nur um das Vorhan-
densein ein und derselben Struktur an unterschiedlichen Orten: außerhalb
des Intellekts und im Intellekt.49
Wenn die Identitätstheorie auch nicht obskur ist, beruht sie doch auf
mindestens drei gewichtigen metaphysischen Prämissen und ist deshalb
alles andere als harmlos:
(1) Hylemorphismus-These: Es gibt allgemeine Formen, die sich mit der
Materie verbinden und konstitutive Bestandteile von Gegenständen
sind.
(2) Universalismus-These: Formen sind universal, werden aber durch die
Verbindung mit konkreter Materie individuiert und können daher in
zahlreichen Gegenständen vorkommen.
(3) These der mehrfachen Existenzweise: Formen können nicht nur in indi-
viduierter Weise in materiellen Gegenständen vorkommen, sondern in
universaler Weise auch im Intellekt.
Es ist leicht ersichtlich, dass die Identitätstheorie mit diesen drei Thesen
steht und fällt. Wer etwa als reduktiver Materialist These (1) bestreiten will,
kann sogleich den Einwand erheben, dass es unsinnig ist, von einer formalen
Identität zu sprechen. Die Rede von einer solchen Identität ergibt nur Sinn,
wenn zugestanden wird, dass es tatsächlich Formen gibt, die gleichsam zum
Mobiliar der Welt gehören und für die Struktur der zu erkennenden Gegen-

  Vgl. oben Anm. 36.


48

  Freilich existiert dieselbe Form auf unterschiedliche Weise an beiden Orten: materiell
49

und immateriell. Darin liegt eine weitere Disanologie zum Computer. Denn wenn dieser Pro-
gramme aufnimmt, existieren diese sowohl auf der CD als auch im Computer auf materielle
Weise. Doch wie ist es möglich, dass eine Form oder ein Programm auf immaterielle Weise in
etwas existiert? Da Thomas die immaterielle Existenz als eine fundamentale Art der Existenz
betrachtet, die der materiellen Existenz sogar vorausgeht (alle Formen existieren ja primär
auf immaterielle Weise im göttlichen Geist), geht er nicht auf diese Frage ein. Man könnte
indessen die immaterielle Existenz als jene Existenzform verstehen, bei der es nur um die
formale Zuordnung bestimmter Elemente geht. Genau wie es bspw. bei einer mathematischen
Abbildung nicht um die materielle Wiedergabe geht, sondern nur um die eindeutige Zuord-
nung bestimmter Elemente, so geht es auch bei der immateriellen Existenz im Intellekt nur
um so etwas wie ein formales Muster, in dem die gegenseitige Relation sämtlicher Elemente
eindeutig festgehalten wird.
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142 Zweifel an der absoluten Gewissheit

stände verantwortlich sind. Wer als Nominalist These (2) zurückweist und
darauf insistiert, dass es höchstens individuelle Formen gibt, kann ebenfalls
einwenden, dass die Identitätstheorie keinen Sinn ergibt. Denn nur wenn
zugestanden wird, dass ein und dieselbe Form mehrfach instantiiert sein
kann, ist es sinnvoll, von derselben Form an verschiedenen Orten zu spre-
chen. Schließlich könnte ein radikaler Dualist auch These (3) zurückweisen
und den Einwand erheben, dass der Bereich der materiellen Gegenstände
mit demjenigen des immateriellen Intellekts völlig inkompatibel ist. Formen
können nicht in beiden Bereichen vorkommen, schon gar nicht mit unter-
schiedlicher Existenzweise.
Nur wenn alle drei Thesen zugestanden werden, ist es möglich, von der-
selben Form zu sprechen, die sowohl in materiellen Gegenständen als auch
im immateriellen Intellekt (oder sogar in zahlreichen Intellekten) existiert.
Erst im Rahmen des von Thomas vertretenen metaphysischen Realismus
wird die Identitätstheorie überhaupt formulierbar. Eine Kritik dieses Realis-
mus hat natürlich eine Kritik an der Identitätstheorie zur Folge, wie bereits
die spätmittelalterlichen Reaktionen auf die thomasische Kognitionstheo-
rie zeigen. Wenn etwa Ockham und seine Nachfolger die Rede von einer
formalen Identität ablehnen, dann vor allem, weil sie die metaphysischen
Grundlagen nicht akzeptieren. Ockham weist als Nominalist These (2)
kategorisch zurück. Und wenn frühneuzeitliche Autoren – etwa Descartes
und Locke – die Identitätstheorie zurückweisen, so richtet sich ihre Kritik
ebenfalls in erster Linie gegen die zugrunde liegenden metaphysischen The-
sen. Als Anti-Aristoteliker wenden sie sich vor allem gegen These (1), als
Nominalisten auch gegen (2). Wenn schließlich heutige Autoren, etwa H.
Putnam, dieser Theorie nicht zustimmen, so liegt auch bei ihnen der Haupt-
grund in der Ablehnung der metaphysischen Voraussetzungen. Für Putnam
ergibt weder die Annahme, jeder Gegenstand habe eine bestimmte Form,
noch die weitere Annahme, diese Form könne unterschiedliche Existenz-
weisen aufweisen, einen Sinn; daher lehnt er (1) und (3) entschieden ab.50
Es ist indessen entscheidend, die Ablehnung einer Theorie vom Vorwurf
der Unverständlichkeit oder Sinnlosigkeit zu unterscheiden. Man kann die
Identitätstheorie aufgrund einer Kritik an den zugrunde liegenden meta-
physischen Thesen durchaus ablehnen, muss sie daher aber noch lange nicht
ins Reich des Unverständlichen oder gar des Mysteriösen verbannen.
Wenn nun die erste Ausgangsfrage, die sich auf die Verständlichkeit
der Identitätstheorie bezieht, geklärt ist, stellt sich immer noch die zweite
Frage. Ist diese Theorie eine Art antiskeptische Wunderwaffe? Oder schafft
sie im Gegenteil die Voraussetzung für skeptische Szenarien? Um diese

50
  Vgl. Putnam 1994, 71 und 74.
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§ 13 Die Identitätstheorie 143

Frage zu beantworten, empfiehlt es sich, einen Bestandteil dieser Theorie


genauer zu betrachten, nämlich die Erklärung des Inhalts einer Species.
Wie bereits ausgeführt wurde, ist dieser Inhalt nichts anderes als die Form,
die auf immaterielle Weise im Intellekt existiert. Entscheidend ist nun, wie
Thomas die Genese dieses Inhalts erläutert. In klarer Abgrenzung gegen-
über rivalisierenden Theorien verwirft er drei Erklärungsmodelle.51 Ers-
tens weist er ein innatistisches Modell zurück. Dem menschlichen Intellekt
sind nicht von Anfang an Species mit einem bestimmten Inhalt angeboren.
Daher kann er auch nicht auf einen angeborenen Inhalt zurückgreifen,
wenn er etwa an einen Baum denken will. Er muss vielmehr ausgehend von
der Wahrnehmung eines Baumes eine Species bilden, deren Inhalt durch den
wahrgenommenen Baum festgelegt wird. Zweitens lehnt Thomas auch ein
Emanationsmodell ab. Species „fließen“ nicht aus abgetrennten, immateriel-
len Formen direkt in den Intellekt. Deshalb kann sich der Intellekt nicht
rein passiv verhalten und einfach die ihm zugesandten Species aufnehmen.
Er muss vielmehr aktiv werden und aus dem Vorstellungsbild von einem
wahrgenommenen Baum eine Baum-Species abstrahieren. Drittens schließ-
lich verwirft Thomas auch ein Kontemplationsmodell. Der menschliche In-
tellekt hat (zumindest im diesseitigen Leben) keinen direkten Zugang zum
göttlichen Intellekt und kann daher nicht in Gott die ewigen Ideen für alle
Dinge betrachten. Somit kann er auch nicht in Gott einen Inhalt erfassen,
der es ihm erlauben würde, an einen bestimmten Gegenstand – etwa an
einen Baum – zu denken.
Thomas’ Kritik an allen drei Erklärungsmodellen ist durch einen ent-
scheidenden Grundgedanken bestimmt: Der Intellekt kann nur dadurch
über eine Species mit einem bestimmten Inhalt verfügen, dass er auf ein Vor-
stellungsbild zurückgreift, das wiederum auf Wahrnehmungseindrücken
von einem unmittelbar präsenten Gegenstand beruht. Dies ist im Kern eine
externalistische These: Eine Species hat nicht „an sich“ einen bestimmten
Inhalt, sondern nur durch die Relation zu einem äußeren Gegenstand. Die
besondere Pointe dieser These zeigt sich, wenn man jene Gedankenexperi-
mente auf sie anwendet, die für heutige externalistische Theorien charakte-
ristisch sind. Betrachten wir beispielsweise Putnams Gedankenexperiment
mit der Zwillingserde.52 Angenommen, ich hätte einen Zwillingsbruder auf
einer Zwillingserde, die genau gleich aussieht wie die Erde und mit einer
einzigen Ausnahme auch genau gleich beschaffen ist wie die Erde. Auf der
Zwillingserde gibt es nämlich eine Flüssigkeit, die aussieht wie Wasser, auch
gleich schmeckt und in gleicher Weise den Durst löscht, jedoch nicht H 2O

 Vgl. STh I, q. 84, art. 3–5.


51

  Vgl. Putnam 1981, 18–19.


52
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144 Zweifel an der absoluten Gewissheit

ist, sondern eine Substanz mit einer anderen chemischen Struktur, die der
Einfachheit halber XYZ heißen soll. Wenn nun der Zwillingsbruder an
diese durstlöschende Flüssigkeit denkt, befindet er sich im genau gleichen
Hirnzustand wie ich. Und wenn wir ihm wie Thomas zudem einen immate-
riellen Intellekt zusprechen, der ausgehend von Vorstellungsbildern Species
bildet, können wir sogar sagen, dass er genau wie ich über eine Species
für die durstlöschende Flüssigkeit verfügt. Doch was ist der Inhalt dieser
Species? Da Thomas den Inhalt mit Bezug auf die Form des äußeren Gegen-
standes erklärt, von dem die Species gewonnen wurde, muss die Antwort
lauten: Der Inhalt ist XYZ, weil es auf der Zwillingserde nur die Flüssigkeit
mit dieser Form bzw. chemischen Struktur gibt. Denke ich hingegen an die
durstlöschende Flüssigkeit, die ich trinke, ist der Inhalt meiner Species H 2O,
ganz einfach weil es auf der Erde nur die Flüssigkeit mit einer solchen Form
bzw. chemischen Struktur gibt. Der Inhalt der Species und damit auch der
Inhalt eines Denkaktes wird durch die Form des jeweiligen Gegenstandes
bestimmt, auf dem die Species beruht. Um Putnams berühmten Leitspruch
in leicht abgewandelter Weise zu verwenden, könnte man sagen: „Bedeu-
tungen sind nicht im Intellekt“,53 d.h. die Inhalte von Species sind nicht in-
nere Entitäten, die unabhängig von einer Relation zu äußeren Gegenständen
existieren. Wenn sich die äußeren Gegenstände verändern, verändern sich
auch die Inhalte der Species.54
Dies hat nun eine Konsequenz für das Skeptizismus-Problem. Wenn
der Inhalt einer Species durch einen äußeren Gegenstand festgelegt wird,
kann es gar keine Species geben, ohne dass auch ein äußerer Gegenstand
existiert oder zumindest existiert hat. Das heißt, dass ich gar nicht eine
Species mit dem Inhalt H 2O haben kann, ohne dass es tatsächlich H2O
in meiner Umgebung gibt, genauso wenig wie mein Zwillingsbruder eine
Species mit dem Inhalt XYZ haben kann, ohne dass es in seiner Umgebung
XYZ gibt. Natürlich kann ich darüber hinaus Species für nicht-existierende
Gegenstände bilden, etwa für Chimären und goldene Berge. Aber der Inhalt
dieser Species setzt sich aus mehreren Formen zusammen, die ebenfalls
in der materiellen Welt existieren müssen oder zumindest existiert haben
müssen. Gäbe es kein Gold und keine Berge, hätte ich nie die Formen dieser
Gegenstände aufnehmen und miteinander verbinden können. Folglich wäre

  Vgl. Putnam 1975, 223–225.


53

 Freilich können sich die äußeren Gegenstände nicht beliebig verändern. Die Ideen im
54

göttlichen Geist legen ja fest, welche Gegenstände es überhaupt geben kann. Daher gibt es
gemäß Thomas’ Externalismus (natürlich im Gegensatz zu jenem Putnams) streng genommen
zwei externe Instanzen, die für die Festlegung einer Bedeutung verantwortlich sind: (a) die
göttlichen Ideen, die die Menge aller möglichen Gegenstände festlegen, und (b) die innerhalb
dieser Menge aktuell realisierten Gegenstände, deren Form in den Intellekt aufgenommen
wird und den Inhalt einer Species festlegt.
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§ 13 Die Identitätstheorie 145

ich auch nicht in der Lage gewesen, die Species von einem goldenen Berg zu
bilden. Auch im Falle der Species, für die es keine unmittelbare Fundierung
in der materiellen Welt gibt, muss also zumindest eine mittelbare Fundie-
rung vorliegen.
Dass Thomas die Festlegung des Inhalts der Species mit Rekurs auf
äußere Gegenstände erklärt und damit von vornherein die Relation zu einer
Außenwelt als notwendige Bedingung für die Entstehung der Species be-
trachtet, zeigt sich nicht nur in seiner wiederholt geäußerten These, dass
Species immer auf Vorstellungsbildern beruhen, die wiederum von äußeren
Gegenständen stammen. Dies manifestiert sich auch in seiner Ablehnung
der Annahme, der Intellekt könne aus sich selbst heraus Species bilden und
alles erkennen. Hinter dieser Annahme verbirgt sich ein internalistisches
Modell, dem zufolge Species unabhängig von einer Relation zu äußeren Ge-
genständen hervorgebracht werden können und „an sich“ einen bestimmten
Inhalt haben. Thomas wendet dagegen ein, es sei gar nicht vorstellbar, wie
der Intellekt aus sich selbst heraus sämtliche Species bilden könnte; dazu
müsste er ja die Formen sämtlicher Gegenstände bereits in sich haben. Dies
sei nur Gott möglich, der von Anfang an die Formen aller Dinge in sich
vereine. Wir Menschen hingegen seien darauf angewiesen, die Species nach
und nach zu erwerben, indem wir die Formen der materiellen Gegenstände
aufnehmen. Diese Überlegung führt Thomas zu folgendem Schluss:
„Es verbleibt also, dass die materiellen Dinge, die erkannt werden, im Erkennenden
sind – nicht auf materielle, sondern vielmehr auf immaterielle Weise. Der Grund
dafür ist, dass der Erkenntnisakt sich auf das bezieht, was außerhalb des Erkennen-
den ist; wir erkennen nämlich auch das, was außerhalb von uns ist.“55

Bemerkenswert ist hier nicht nur, dass Thomas wiederum auf die zweifache
Existenzweise eines Gegenstandes bzw. dessen Form verweist. Mindestens
so bemerkenswert ist auch die Begründung, die er für diese These gibt. Weil
wir uns auf etwas beziehen, was außerhalb unseres Intellekts existiert, müs-
sen wir die Form dieses äußeren Gegenstandes in uns aufnehmen. Erkennt-
nis besteht nicht in einer Kontemplation innerer Objekte, die der Intellekt
aus sich selber hervorbringt oder die Gott auf wundersame Weise in den
Intellekt gelegt hat. Erkenntnis kommt (abgesehen vom Fall der Selbst-
erkenntnis) nur dadurch zustande, dass der Intellekt etwas erfasst, was au-
ßerhalb von ihm existiert.56 Weil ein äußerer Gegenstand aber nicht direkt

  STh I, q. 84, art. 2: „Relinquitur ergo quod oportet materialia cognita in cognoscente
55

existere non materialiter, sed magis immaterialiter. Et huius ratio est, quia actus cognitionis
se extendit ad ea quae sunt extra cognoscentem: cognoscimus enim etiam ea quae extra nos
sunt.“
56
 Selbst für die Selbsterkenntnis gilt, dass es sich dabei zwar um einen höherstufigen Akt
handelt, der sich primär auf einen eigenen intellektuellen Akt bezieht. Aber es muss einen Akt
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146 Zweifel an der absoluten Gewissheit

„einverleibt“ werden kann, muss der Intellekt dessen Form auf immaterielle
Weise in sich aufnehmen.
Thomas’ Pointe besteht freilich nicht einfach darin, dass er auf das
Aufnehmen der Form verweist, um die Möglichkeit von Erkenntnis zu er-
klären. Dies wäre an sich noch keine überzeugende antiskeptische Strategie.
Ein Skeptiker könnte nämlich sogleich einwenden, dass es uns vielleicht gar
nicht gelingt, Erkenntnis zu gewinnen, weil wir nicht imstande sind, eine
oder mehrere Formen aufzunehmen. Könnte es nicht sein, dass wir Formen
einfach erfinden? Und könnte es somit nicht sein, dass wir über zahlreiche
Species und damit auch über Erkenntnisakte mit einem wohldefinierten In-
halt verfügen, ohne dass es entsprechende äußere Gegenstände gibt? Genau
diesem möglichen skeptischen Einwand schiebt Thomas einen Riegel vor,
indem er darauf hinweist, dass wir Formen gar nicht aus uns selber schöpfen
können. Dies würde nämlich bedeuten, dass wir wie Gott alle Formen be-
reits in uns haben müssten. Wir müssten von Anfang an allwissend sein. Da
wir aber nicht allwissend sind (dies zeigt schon die simple Tatsache, dass
wir den Bestand unserer Species permanent erweitern), müssen wir Formen
erwerben. Und dies ist nur möglich, wenn es tatsächlich materielle Gegen-
stände gibt, deren Formen wir auf immaterielle Weise aufnehmen können.
Oder verkürzt ausgedrückt: Es muss äußere Gegenstände geben, damit wir
zum Erwerb von Formen und damit auch zum Erwerb von Species mit
einem wohldefinierten Inhalt fähig sind.
Versteht man Thomas’ Strategie auf diese Weise, findet man in ihr ein
transzendentales Argument gegen den Skeptiker: Die Bedingung der Mög-
lichkeit dafür, Species mit einem wohldefinierten Inhalt zu erwerben, ist
die Existenz einer Außenwelt. Gäbe es diese Welt nicht, könnten die Species
gar keinen Inhalt haben. Diese Strategie schließt natürlich nicht aus, dass es
im Einzelfall zu Irrtümern und Täuschungen kommen kann. So ist es gut
möglich, dass ich eine Species von einem goldenen Berg bilde, auf Anhieb
aber nicht merke, dass es sich um eine zusammengesetzte Species handelt,
und fälschlicherweise annehme, der Inhalt sei direkt durch einen äußeren
Gegenstand festgelegt worden. Doch ein Irrtum dieser Art lässt sich leicht
korrigieren. Ich muss einfach den Inhalt der Species prüfen. Wenn ich dann
feststelle, dass er widersprüchliche definitorische Merkmale enthält (von
einer Gesteinsformation, die nicht vollständig aus Gold bestehen kann,
wird behauptet, sie bestehe aus Gold), kann ich sogleich sagen, dass es sich
höchstens um eine zusammengesetzte Species handelt. Damit kann ich

erster Stufe geben, dessen Inhalt wiederum durch einen äußeren Gegenstand festgelegt ist,
damit überhaupt ein höherstufiger Akt vollzogen werden kann. Somit ist selbst im Fall der
Selbsterkenntnis die Relation zu einem äußeren Gegenstand eine notwendige Voraussetzung.
Vgl. STh I, q. 87, art. 1, sowie eine ausführliche Analyse in Putallaz 1991, 148–208.
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§ 13 Die Identitätstheorie 147

auch einsehen, dass diese Species nur indirekt auf äußeren Gegenständen
beruht.
Ein Irrtum ist auch hinsichtlich der Existenz eines äußeren Gegen-
standes möglich. Wenn ich etwa über eine Baum-Species verfüge, kann ich
fälschlicherweise glauben, vor mir stehe ein Baum, obwohl ich nur eine
Halluzination von einem Baum habe. Doch dieser Irrtum lässt sich ebenfalls
korrigieren. Existenzurteile beziehen sich nämlich immer auf individuelle
Gegenstände, und zur Bezugnahme auf Individuelles ist ein Vorstellungs-
bild erforderlich, wie Thomas betont.57 Das jeweilige Vorstellungsbild
kann jedoch überprüft werden. So kann ich mich fragen: Liegen korrekte
Wahrnehmungsbedingungen vor, die dazu geführt haben, dass ich jetzt von
einem präsenten Baum ein Vorstellungsbild habe? Oder bestehen besondere
Bedingungen (z.B. eine Krankheit, die Fieberträume und Halluzinationen
zur Folge hat), die zur Produktion eines Vorstellungsbildes führen, das
nicht auf etwas unmittelbar Präsentem beruht?
Diese Beispiele verdeutlichen, dass man sorgfältig zwei Probleme un-
terscheiden muss, wenn man Thomas’ Umgang mit der Skeptizismus-Pro-
blematik untersucht:
(1) Allgemeines skeptisches Problem: Kann ich aufgrund der Tatsache, dass
ich mithilfe von Species an Gegenstände denke, sicher sein, dass es tat-
sächlich Gegenstände in einer materiellen Welt gibt?
(2) Spezielles skeptisches Problem: Kann ich aufgrund der Tatsache, dass ich
mithilfe einer Species und eines Vorstellungsbildes an einen bestimmten
Gegenstand denke, sicher sein, dass es diesen Gegenstand in einer mate-
riellen Welt gibt?
Frage (1) beantwortet Thomas aufgrund seines externalistischen Ansatzes
eindeutig bejahend. Es könnte gar keine Species mit einem wohldefinier-
ten Inhalt geben, wenn es keine äußeren Gegenstände gäbe. Auf Frage (2)
hingegen ist aus Thomas’ Sicht keine eindeutig positive Antwort möglich.
Die bloße Präsenz einer Species garantiert nicht die Existenz eines be-
stimmten Gegenstandes. Da Bezugnahme auf Individuelles nur mit einem
Vorstellungsbild möglich ist, muss geprüft werden, welches Vorstellungs-
bild vorliegt, unter welchen Bedingungen dieses Vorstellungsbild erworben
wurde und unter welchen Bedingungen es aktuell verwendet wird. Nicht
nur die Fälle von Halluzinationen und Sinnestäuschungen, sondern auch
die in § 12 diskutierten Fälle dämonischer Manipulation zeigen, dass ein
Vorstellungsbild durchaus etwas darstellen kann, was nicht aktuell präsent
ist oder überhaupt nicht existiert. Thomas bietet somit keine Wunderwaffe

 Vgl. STh I, q. 85, art. 1, corp.


57
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148 Zweifel an der absoluten Gewissheit

zur Widerlegung sämtlicher skeptischer Einwände. Seine Identitätstheorie,


die den Inhalt einer Species mit Rekurs auf die Form eines äußeren Gegen-
standes erklärt, ermöglicht nur die Zurückweisung eines radikalen Außen-
welt-Skeptizismus. Freilich gilt für diese Zurückweisung, so raffiniert sie
auch konzipiert ist, der bereits genannte Vorbehalt, der auf die gesamte
Identitätstheorie zutrifft. Sie ist nur dann überzeugend, wenn die metaphy-
sischen Annahmen, auf denen sie beruht, akzeptiert werden. Sobald man
bezweifelt, dass es tatsächlich Gegenstände mit einer hylemorphistischen
Grundstruktur gibt und dass die Formen dieser Gegenstände tatsächlich
auf immaterielle Weise im Intellekt existieren und dadurch den Inhalt der
Species festlegen, wird die ganze antiskeptische Argumentation hinfällig.
Wie für den bereits dargestellten epistemologischen Optimismus gilt auch
hier: Thomas’ antiskeptische Strategie steht und fällt mit ihren metaphysi-
schen Voraussetzungen.
Doch warum haben einige Interpreten die Ansicht vertreten, Thomas’
Strategie sei keineswegs antiskeptisch, sondern provoziere im Gegenteil
skeptische Szenarien oder schließe sie zumindest nicht aus? Vor allem drei
Argumente sind diesbezüglich vorgebracht worden. Ein erstes Argument,
das R. Pasnau formuliert hat, zielt darauf ab, dass Thomas mit seiner
Identitätstheorie angeblich gar nicht imstande ist, die wichtigsten Spiel-
arten skeptischer Szenarien zu widerlegen. So könne er vor allem auf das
Traumargument keine Antwort geben.58
Die Überzeugungskraft dieses Einwandes hängt davon ab, wie das Traum­
argument, das Thomas selber freilich nicht diskutiert, verstanden wird. Wie
die kontroversen Deutungen des Traumarguments in Descartes’ Erster Medi-
tation zeigen,59 kann es zum einen als ein Argument verstanden werden, das
auf das allgemeine skeptische Problem abzielt. Dann lautet es in knapper Form:
Kann ich aufgrund der Tatsache, dass ich mit meinen Gedanken zahlreiche
Gegenstände erfasse, sicher sein, dass es eine materielle Welt gibt? Könnte es
nicht sein, dass ich immer nur Gegenstände in einer Traumwelt erfasse? Auf
diese Fragen könnte Thomas durchaus eine Antwort geben, wie die bisherigen
Analysen gezeigt haben, auch wenn er nicht explizit eine Antwort formuliert.
Seine Erwiderung könnte in knapper Form lauten: Da ich gar keine Gedanken
bzw. Species mit einem wohldefinierten Inhalt haben könnte, wenn es keine
äußeren Gegenstände gäbe, kann ich sicher sein, dass es eine materielle Welt
gibt. Die Species können „an sich“ keinen Inhalt haben. Daher kann ich von
vornherein ausschließen, dass ich in einer Traumwelt gefangen bin.
Man kann das Traumargument zum anderen aber auch als ein Argument

58
  Vgl. Pasnau 1997, 298.
59
  Vgl. Wilson 1978, 17–31.
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§ 13 Die Identitätstheorie 149

verstehen, das zur Formulierung des speziellen skeptischen Problems dient.


Dann lautet es: Kann ich aufgrund der Tatsache, dass ich in meinen Gedan-
ken diesen oder jenen Gegenstand erfasse, sicher sein, dass dieser oder jener
Gegenstand in einer materiellen Welt existiert? Könnte es nicht sein, dass
ich bloß einen Gegenstand in einer Traumwelt erfasse? Diese Fragen lassen
sich aus Thomas’ Sicht nicht pauschal zurückweisen. Es ist ja immer mög-
lich, dass ich momentan träume und dass sich der Gegenstand, der mir im
Traum präsentiert wird, in keiner Weise von jenem unterscheidet, der mir im
Wachzustand präsentiert wird. Ob ich mithilfe der Species tatsächlich eine
Form erfasse, die auch in einem materiellen Gegenstand präsent ist, kann ich
erst beurteilen, nachdem ich die Genese meiner Species untersucht habe. So
muss ich prüfen, auf welchem Vorstellungsbild sie beruht und in welchem
Kontext ich das Vorstellungsbild erworben habe. Und natürlich muss ich
auch prüfen, ob das Vorstellungsbild in kohärenter Weise mit anderen Vor-
stellungsbildern verknüpft ist. Erst dann kann ich mit einer gewissen Wahr-
scheinlichkeit ausschließen, dass mir bloß ein Traumgegenstand vorgegau-
kelt wird. Doch eine absolute Gewissheit lässt sich nicht erzielen. Thomas
vertritt in Bezug auf die Vorstellungsbilder keinen Infallibilismus. Er liefert
auch kein eindeutiges Kriterium (etwa analog zu Descartes’ berühmtem
Kriterium der Klarheit und Deutlichkeit), um Species, die auf Vorstellungs-
bildern im Wachzustand beruhen, von solchen zu unterschieden, die auf der
Grundlage von Vorstellungsbildern im Traumzustand erworben wurden.
Er beruft sich vielmehr auf den Grundsatz, dass die sinnlichen Vermögen
im Prinzip korrekt funktionieren und im Prinzip nur dann kohärente Vor-
stellungsbilder liefern, wenn tatsächlich ein materieller Gegenstand präsent
ist. Doch lokale Irrtümer sind immer möglich. Konkret heißt dies: Wenn ich
jetzt gerade das Vorstellungsbild von einem Elefanten habe, der durch den
Garten spaziert, muss ich mich fragen, ob ich tatsächlich visuelle Eindrücke
von einem Elefanten habe und ob diese durch taktile oder andere Eindrücke
gestützt werden. Zudem muss ich prüfen, ob dieses Vorstellungsbild in
kohärentem Zusammenhang mit anderen Vorstellungsbildern steht, die ich
jetzt vom Garten habe und unmittelbar vorher gehabt habe. Erst dann kann
ich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ausschließen, dass ich nur von
einem Elefanten träume. Aber absolute Gewissheit ist nicht möglich. Da
meine Sinne nur im Prinzip korrekt funktionieren, ist es durchaus denk-
bar, dass ich z.B. unter dem Einfluss einer Droge stehe und ein vollständig
kohärentes Vorstellungsbild vom Garten habe, ja dass ich sogar glaube, über
verschiedene Sinneseindrücke vom Elefanten zu verfügen, obwohl kein
Elefant präsent ist. Doch dieser lokale Irrtum stellt nicht infrage, dass ich
erstens generell einen Zugang zur Außenwelt habe und dass ich zweitens
mithilfe verschiedener Kontrollmechanismen die Genese des Vorstellungs-
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150 Zweifel an der absoluten Gewissheit

bildes überprüfen kann. Daher stellt er keine radikale skeptische Bedrohung


dar.
R. Pasnau bringt noch ein zweites Argument gegen Thomas’ antiskepti-
sche Strategie vor.60 Dieses zielt im Kern darauf ab, dass Thomas mit seiner
Identitätstheorie genau das voraussetzt, was er erst beweisen müsste, um
den Skeptiker zu überzeugen. Daher könnte der Skeptiker sogleich ein-
wenden: Wenn wir mithilfe unserer Species einen Zugriff auf Gegenstände
in der materiellen Welt haben, dann liegt dies Thomas zufolge daran, dass
der Inhalt dieser Species nichts anderes ist als die Form dieser Gegenstände.
Doch was berechtigt uns zur Annahme, dass ihr Inhalt genau darin besteht?
Wir dürfen doch nicht einfach voraussetzen, dass die Species ihren Inhalt
nur durch eine Relation zu äußeren Gegenständen gewinnen können. Setzen
wir dies voraus, behaupten wir genau das, was hier der strittige Punkt ist.
Auf den ersten Blick scheint Thomas tatsächlich den Fehler einer petitio
principii zu begehen; die Relation zu einer Außenwelt wird in der Erklärung
des Inhalts der Species bereits vorausgesetzt. Doch bei näherer Betrachtung
zeigt sich, dass Thomas diesen Vorwurf auf mindestens zwei Arten zurück-
weisen könnte. Erstens könnte er sich auf das bereits erwähnte transzenden-
tale Argument berufen. Die Bedingung der Möglichkeit, dass Species über-
haupt einen wohldefinierten Inhalt haben, liegt in der Relation zu äußeren
Gegenständen. Selbst der Skeptiker, der die Existenz von Species annimmt,
muss zugestehen, dass sich nur sinnvoll über Species sprechen lässt, wenn
diesen ein spezifizierbarer Inhalt zugesprochen wird.61 Doch wie können
sie einen Inhalt haben, wenn er nicht durch etwas festgelegt wird? Species
haben nicht „an sich“ einen Inhalt, und wie Thomas mit Verweis auf die
Beschränktheit des menschlichen Intellekts bereits gezeigt hat, kann der
Intellekt auch nicht aus sich heraus diesen Inhalt schöpfen. Somit liegt die
Beweislast nicht bei Thomas, sondern beim Skeptiker. Er muss nachweisen,
wie die Rede von Species mit einem wohldefinierten Inhalt überhaupt mög-
lich ist, wenn keine Relation zu äußeren Gegenständen angenommen wird.
Thomas könnte zweitens aber auch eine Erwiderung formulieren, die auf
die Einbettung der gesamten Identitätstheorie in den größeren metaphysi-
schen Rahmen verweist. Wie in § 12 bereits betont wurde, ist der Ausgangs-
punkt für ihn nicht ein meditierender Denker, der von allen metaphysischen

60
  Vgl. Pasnau 1997, 301.
61
 Natürlich könnte ein Skeptiker auch die Existenz von Species bestreiten, wie dies Peter
Johannis Olivi, Wilhelm von Ockham und andere mittelalterliche Autoren (vgl. Spruit
1994) – freilich ohne skeptische Absicht – getan haben. Aber auch er müsste zugestehen, dass
es zumindest Denkakte gibt, die einen wohldefinierten Inhalt haben. Wenn er sich nicht auf
die dogmatische Annahme festlegen will, dass Denkakte „an sich“ einen Inhalt haben, muss
er eine relationale Erklärung geben.
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§ 13 Die Identitätstheorie 151

Annahmen absieht und sich nur auf das zurückzieht, was unbezweifelbar ist.
Sein Ausgangspunkt ist vielmehr eine metaphysische Erklärung der Struk-
tur sämtlicher Gegenstände, einschließlich der materiellen Gegenstände.
Zur Erklärung dieser Struktur bedient er sich des Hylemorphismus und
eines Universalienrealismus, der die mehrfache Instantiierung von Formen
postuliert. Nachdem er diese metaphysischen Annahmen bereits getroffen
hat, wendet er sich der Frage zu, wie ein menschlicher Intellekt einen Zugang
zu äußeren Gegenständen haben kann. Wie sich gezeigt hat, beantwortet
er diese Frage, indem er sich auf die These von der mehrfachen Existenz-
weise der Formen beruft. Er situiert somit seine Identitätstheorie innerhalb
eines metaphysischen Rahmens. Natürlich kann nun ein Skeptiker diesen
Rahmen anzweifeln und die Frage aufwerfen, wie sicher Thomas denn sein
kann, dass es Gegenstände mit einer hylemorphistischen Struktur gibt und
dass die jeweilige Form dieser Gegenstände eine mehrfache Existenzweise
haben kann. Doch wenn der Skeptiker so argumentiert, wechselt er die Ar-
gumentationsebene. Er fragt dann nicht mehr nach der Überzeugungskraft
der Identitätstheorie, sondern nach der Plausibilität der metaphysischen
Voraussetzungen. Wenn es um die Beantwortung dieser Grundfrage geht,
kann Thomas den Ball wieder dem Skeptiker zuwerfen. Denn wie lässt
sich überhaupt sinnvoll von Gegenständen mit einer bestimmten Struktur
sprechen, wenn nicht die Existenz von Formen angenommen wird? Sobald
der Skeptiker fragt, wie eine Relation zu äußeren Gegenständen möglich ist,
muss auch er wohl oder übel über einen Begriff von Gegenständen verfügen.
Und wenn er von konkreten, voneinander unterscheidbaren Gegenständen
spricht, muss auch er ihnen eine minimale Struktur oder Form zuschreiben.
Kurzum, auch der Skeptiker muss über einen metaphysischen Begriff von
einem Gegenstand verfügen, um seine skeptische Grundfrage überhaupt
formulieren zu können. Daher muss sich der Skeptiker genauso wie Thomas
als Antiskeptiker auf eine metaphysische Grundlagendebatte einlassen.
Betrachtet man Thomas’ Argumentationsstrategie auf diese Weise, lässt
sich kaum sagen, dass er sich mit Verweis auf metaphysische Annahmen
einer petitio principii schuldig macht, während der Skeptiker metaphysisch
vollkommen „wertfrei“ argumentiert. Die Auseinandersetzung zwischen
den beiden erweist sich vielmehr als ein dialektisches Spiel. Beide müssen
über minimale metaphysische Annahmen verfügen, um überhaupt von
Gegenständen sprechen zu können, und beide müssen ihre Annahmen offen
legen.
Schließlich ist ein drittes Argument gegen Thomas’ antiskeptische Stra-
tegie vorgebracht worden. J. E. Brower und S. Brower-Toland haben die An-
sicht vertreten, Species seien intrinsisch intentional und hätten intrinsisch
einen Inhalt. Dass keine Relation zu äußeren Gegenständen erforderlich sei,
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152 Zweifel an der absoluten Gewissheit

zeige sich schon darin, dass Thomas zugestehe, nach dem Tod könne Gott
jede einzelne Species mit einem bestimmten Inhalt hervorbringen. Daher
vertrete Thomas keinen Externalismus, sondern im Gegenteil einen „ato-
mistischen Internalismus“.62
In der Tat räumt Thomas ein, dass der menschliche Intellekt, der vom
Körper abgetrennt ist (d.h. nach dem Tod und vor der Auferstehung), von
Gott Species erhalten kann.63 Allerdings trifft er diese Aussage mit mehreren
Einschränkungen. Eine erste, ganz entscheidende Einschränkung betrifft
die Unterscheidung verschiedener Zustände des Intellekts. Wenn er sich im
natürlichen Zustand befindet, so betont Thomas, muss er die Species auf der
Grundlage von Vorstellungsbildern gewinnen, und diese Vorstellungsbilder
können gar nicht ohne Relation zu äußeren Gegenständen gewonnen werden.
Zudem muss der Intellekt immer wieder die Vorstellungsbilder verwenden,
wenn er einen Zugang zu individuellen Gegenständen haben will. Die Ab-
trennung des Intellekts vom Körper und damit auch von der kausalen Kette,
die zu den äußeren Gegenständen führt, stellt eine Ausnahmesituation dar,
die nicht dem natürlichen Zustand entspricht, ja sogar „außerhalb der Natur“
(praeter naturam) angesiedelt ist, wie Thomas ausdrücklich sagt:
„Daher ist das Verstehen durch eine Hinwendung zu den Vorstellungsbildern
natürlich für die Seele, wie dies auch die Vereinigung mit dem Körper ist. Vom
Körper getrennt zu sein liegt aber außerhalb des Begriffs ihrer Natur, und ähnlich
ist Verstehen ohne Hinwendung zu den Vorstellungsbildern für sie außerhalb der
Natur.“64

Die klare Unterscheidung von natürlichem und außernatürlichem Zustand


verdeutlicht, dass Thomas die Erkenntnisakte und damit auch die Species
nicht als etwas auffasst, das „an sich“ einen bestimmten Inhalt hat, un-
abhängig von jeder Relation zu einer Außenwelt. Im natürlichen Zustand
muss eine Relation zu materiellen Dingen bestehen; nur so können auf der
Grundlage von Vorstellungsbildern überhaupt Species gebildet werden. Im
außernatürlichen Zustand kompensiert Gott gleichsam die mangelnde Rela-
tion zu einer Außenwelt. Aber auch für diesen Zustand gilt, dass die Species
nicht „an sich“ einen Inhalt haben und auch nicht vom Intellekt selbst einen
erhalten. Gott muss durch eine direkte Hinwendung zum menschlichen In-
tellekt die Species hervorbringen. Auch im Ausnahmezustand gilt also, dass
eine externe Ursache für die Entstehung einer Species mit einem wohldefi-
nierten Inhalt verantwortlich ist.

62
  Vgl. Brower & Brower-Toland, Ms., 48.
63
 Vgl. STh I, q. 89, art. 1, ad 3.
64
  STh I, q. 89, art. 1, corp.: „Unde modus intelligendi per conversionem ad phantasmata
est animae naturalis, sicut et corpori uniri: sed esse separatum a corpore est praeter rationem
suae naturae, et similiter intelligere sine conversione ad phantasmata est ei praeter naturam.“

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§ 14 Die Traumhypothese 153

Thomas fügt noch eine weitere Einschränkung hinzu. Wenn Gott im


außernatürlichen Zustand die Species hervorbringt, so erzeugt er nur die
Species mit dem allgemeinsten Inhalt. Daher erhält eine vom Körper abge-
trennte Seele „nicht eine vollkommene Erkenntnis der Dinge, sondern
gleichsam eine im Allgemeinen und eine konfuse.“65 Eine klare und spezi-
fische Erkenntnis ist nur möglich, wenn der Intellekt genau die Form auf-
nimmt, die im Gegenstand selber vorkommt. Doch dafür ist ein durch die
Sinne vermittelter Zugang zum Gegenstand erforderlich – genau jener Zu-
gang, der dem vom Körper abgetrennten Intellekt fehlt. Indem Thomas auf
diesen Punkt aufmerksam macht, verdeutlicht er einmal mehr, dass für eine
Species mit einem klaren, wohldefinierten Inhalt eine Relation zu einem äu-
ßeren Gegenstand notwendig ist. Selbst Gott kann das Fehlen einer solchen
Relation nur teilweise kompensieren.
Ist damit jede skeptische Gefahr gebannt? Nicht ganz, denn natürlich
gilt auch hier wieder, dass einige Species (etwa jene von fiktiven Gegen-
ständen) durchaus vom Intellekt selbst hervorgebracht werden können
und dass daher sorgfältig geprüft werden muss, ob tatsächlich ein äußerer
Gegenstand existiert, der den Inhalt der Species festlegt. Es darf nicht vor-
schnell ein Eins-zu-eins-Verhältnis von Species und äußeren Gegenständen
postuliert werden. Zudem darf nicht in naiver Weise angenommen werden,
der Inhalt jeder Species werde durch einen Gegenstand festgelegt, der
immer noch aktuell existiert. Es ist durchaus möglich, dass ein Gegenstand
nicht mehr existiert und die entsprechende Species trotzdem noch präsent
ist (etwa wenn jemand an eine ausgestorbene Tierart denkt). Daher muss im
Einzelfall geprüft werden, ob aufgrund aktueller Wahrnehmungseindrücke
auch ein Vorstellungsbild von einem existierenden, unmittelbar präsenten
Gegenstand vorhanden ist. Doch die Gefahr, dass überhaupt keine Relation
zu äußeren Gegenständen besteht, ist gebannt.

§ 14 Die Traumhypothese

Die skeptische Gefahr, die Thomas von Aquin mit seiner Species-Theorie
zu bannen versuchte, verschwand dadurch nicht vollständig aus den phi-
losophischen Debatten. Im Gegenteil: Gerade der Versuch, die Genese der
Species mit Verweis auf Vorstellungsbilder zu erklären, die durch mate-
rielle Dinge verursacht werden, provozierte skeptische Fragen. Besonders
deutlich zeigt sich dies in einer 1272 verfassten Quaestio, die Thomas’

  STh I, q. 89, art. 3, corp.: „... anima separata per huiusmodi species non accipit perfectam
65

rerum cognitionem, sed quasi in communi et confusam.“


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154 Zweifel an der absoluten Gewissheit

Zeitgenosse Siger von Brabant diskutiert.66 Er erörtert die These, dass wir
nicht die Dinge in der materiellen Welt erfassen, sondern nur Erschei-
nungen oder Vorstellungsbilder, und dass diese Bilder „wie Träume sind,
sodass wir uns der Existenz keiner Sache gewiss sind.“67 Freilich stimmt
Siger dieser These nicht zu. Er führt sie aus dialektischen Gründen ein,
um zu verdeutlichen, an welchen Punkten der Skeptiker Wissensansprü-
che angreifen kann und wie dieser Angriff pariert werden kann.68 Doch
gerade weil die These im dialektischen Spiel eingeführt wird, verdient sie
Beachtung. Sie verdeutlicht nämlich, welche Annahmen, die Thomas in
seiner antiskeptischen Argumentation als selbstverständlich voraussetzt,
angefochten werden können.
Die These, die Siger zur Diskussion stellt, ist aus mindestens zwei Grün-
den bemerkenswert. Erstens fällt auf, dass sie nicht einfach annimmt, die
Vorstellungsbilder könnten nur dadurch entstehen, dass eine Kausalrelation
zu materiellen Gegenständen besteht. Ob tatsächlich eine solche Relation
vorliegt, wissen wir nicht. Wir können ja nur die Bilder selbst und ihren
jeweiligen Inhalt erfassen, nicht aber die Relation, die sie angeblich mit
materiellen Gegenständen verbindet. Der Inhalt der Vorstellungsbilder
kann aber auf mannigfache Weise entstanden sein – durch Traumaktivitäten
ebenso wie durch einen Kontakt zur realen Welt. Damit wird genau jene
Annahme infrage gestellt, auf der Thomas’ antiskeptische Strategie beruht,
nämlich dass die Relation zu materiellen Dingen eine notwendige Bedin-
gung dafür ist, dass die Vorstellungsbilder (und damit auch die von ihnen
abstrahierten Species) einen wohldefinierten Inhalt haben können.
Zweitens ist bemerkenswert, dass es sich um eine umfassende skeptische
These handelt. Es wird nicht einfach behauptet, dass wir in einigen Fällen
bloß über Vorstellungsbilder verfügen, die in keiner Kausalrelation zu
materiellen Dingen stehen. Diese moderate These würde auch Thomas zu-
gestehen; er weist ja explizit darauf hin, dass einige Vorstellungsbilder von
Dämonen verursacht werden. Hier wird jedoch behauptet, dass wir in allen
Fällen bloß über Vorstellungsbilder verfügen, die nicht von wirklichen Din-
gen verursacht wurden, sodass alle Vorstellungsbilder nur Traumbilder sind
und wir, wie Siger explizit festhält, uns der Existenz keiner Sache gewiss
sind. Die These zielt somit auf einen umfassenden Außenwelt-Skeptizismus
ab und lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:

66
 Diese Quaestio ist Bestandteil der Impossibilia. Vgl. zur Datierung Van Steenbergen
1977, 218.
67
  Impossibilia II (ed. Bazán 1974, 73): „Proponebat secundo quod omnia quae nobis appa-
rent sunt simulacra et sicut somnia, ita quod non simus certi de existentia alicuius rei.“
68
 Es wäre daher irreführend, Siger als Skeptiker zu bezeichnen, wie Dodd 1998, 91–92, in
seiner Kritik älterer Interpretationen zu Recht betont.
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§ 14 Die Traumhypothese 155

(T) Es könnte sein, dass alle Vorstellungsbilder nur Traumbilder sind. Das
Erfassen von Vorstellungsbildern ermöglicht uns keinen sicheren episte-
mischen Zugang zu einer materiellen Außenwelt.
Was spricht für diese radikale These? Siger führt insgesamt drei Argumente
an. Das erste Argument lautet: 69 Man darf keiner Vorstellung vertrauen, die
nicht von einem höheren Erkenntnisvermögen geprüft wird. Das einzige
höhere Vermögen, das die sinnlichen Vorstellungsbilder prüfen könnte, ist
der Intellekt. Doch der Intellekt ist in seiner Tätigkeit immer von den zu-
grunde liegenden Sinnen abhängig. Daher gibt es keine neutrale Prüfinstanz
und wir können nie feststellen, ob die Vorstellungsbilder auch wirklich von
materiellen Gegenständen verursacht wurden und diese darstellen. Wir sind
gleichsam in der Welt der Vorstellungsbilder gefangen.
Dieses Argument beruht auf zwei Annahmen, die nicht weiter begrün-
det werden. Zunächst wird stillschweigend vorausgesetzt, dass immer eine
Prüfung der Vorstellungsbilder erforderlich ist; Vorstellungsbilder sind
nicht an sich zuverlässig und glaubwürdig.70 Diese Annahme ist keines-
wegs so selbstverständlich, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Man
könnte auch argumentieren, dass Vorstellungsbilder (oder zumindest eine
Teilmenge derartiger Bilder) sich durch ein inneres Merkmal auszeichnen,
das sie vertrauenswürdig macht. Bereits die Stoiker vertraten ja die These, es
gebe sog. „kataleptische Eindrücke“, die an sich klar und deutlich sind und
eine Zustimmung gleichsam erzwingen, ohne dass sie einem Prüfungsver-
fahren unterzogen werden.71 Eine solche These wird hier nicht in Betracht
gezogen, wahrscheinlich weil die Beispiele von Sinnestäuschungen den Aus-
gangspunkt für die ganze skeptische Überlegung bilden. Wer etwa einen
Holzstab betrachtet, der vor ihm liegt, und mal die Vorstellung von einem
geraden Stab gewinnt (nämlich wenn der Stab auf dem Boden liegt), mal die
Vorstellung von einem gebrochenen Stab (wenn er im Wasser liegt), hat Vor-
stellungen, die sich in gleicher Weise präsentieren. Es gibt hier kein inneres
Merkmal, das erlauben würde, die erste der zweiten vorzuziehen und als
vertrauenswürdig einzustufen. Es liegt nicht einmal ein Merkmal vor, das
anzeigen würde, dass die Vorstellungen tatsächlich von einem Holzstab ver-
ursacht wurden und nicht einfach im Traum entstanden sind. Daher ist ein
Prüfverfahren erforderlich, und zwar ein Verfahren, das von einem höheren
Vermögen angestellt wird.
Ein derartiges Verfahren ist aber unmöglich, weil hier noch eine zweite
 Vgl. Impossibilia II (ed. Bazán 1974, 73–74).
69

 Grellard 2004, 117, spricht treffend von einem „principe de confirmation“, das voraus-
70

gesetzt wird.
71
 Dass es solche Eindrücke gibt, war freilich bereits unter den antiken Skeptikern strittig;
vgl. Sextus Empiricus, PH II, 4–5.
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156 Zweifel an der absoluten Gewissheit

Annahme vorausgesetzt wird, die man „das empiristische Prinzip“ nennen


könnte. Es wird nämlich angenommen, dass das sinnliche Vermögen die
Grundlage für jedes andere Vermögen bildet. Liefert dieses fundamentale
Vermögen unzuverlässige Vorstellungen, wird auch jedes höhere Vermögen
gleichsam kontaminiert. Konkret heißt dies: Wenn jemand im Traum mit-
hilfe der inneren Sinne die Vorstellung von einem Holzstab bildet, kann
diese Vorstellung nicht durch den Intellekt korrigiert oder beseitigt werden.
Der Intellekt kann nämlich nur auf das Material zurückgreifen, das ihm von
den Sinnen geliefert wird. Er ist aber nicht in der Lage, unabhängig davon
Urteile zu bilden. Auch diese Annahme ist nicht so selbstverständlich,
wie sie erscheinen mag. Bereits in § 8 ist deutlich geworden, dass man hier
auch auf ein rationalistisches Prinzip zurückgreifen könnte. Duns Scotus
argumentierte, dass der Intellekt selbst dann, wenn ihm die Sinne die In-
formation von einem gebrochenen, im Wasser liegenden Holzstab liefern,
diese Information korrigieren kann, weil er über das Prinzip ‚Nichts Hartes
kann von etwas Weichem gebrochen werden’ verfügt. Genau dieses Prinzip
kann er auf den vorliegenden Fall anwenden und dadurch zum korrekten
Urteil gelangen, dass der Holzstab nicht gebrochen ist, sondern aufgrund
der Lichtbrechung nur so erscheint. Die Tatsache, dass dieses Prinzip hier
nicht berücksichtigt wird, verdeutlicht, dass die skeptische These auf einem
starken empiristischen Prinzip aufbaut. Nur wenn angenommen wird, dass
das Material, auf dessen Grundlage der Intellekt Urteile bildet, ausschließ-
lich von den Sinnen stammt (und nicht etwa aus einer Analyse der Impli-
kationsverhältnisse zwischen Begriffen wie ‚hart’, ‚weich‘ und ‚gebrochen‘),
kann behauptet werden, dass der Intellekt keine unabhängige Prüfinstanz
für die Sinne darstellt.
Die skeptische These wird noch mit einem weiteren Argument be-
gründet.72 Wenn ein Gegenstand einer Person auf eine bestimmte Weise er-
scheint, so referiert Siger, kann immer eine andere Person gefunden werden,
der derselbe Gegenstand ganz anders erscheint, ja sogar auf konträre Weise.
Da aber ein Gegenstand nicht gleichzeitig und in gleicher Hinsicht konträre
Eigenschaften haben kann, kann man immer nur sagen, welche Erscheinung
oder Vorstellung jemand von einem Gegenstand hat, nicht aber wie der
Gegenstand wirklich ist.
Dies ist natürlich ein klassisches Argument, das sowohl in der pyrrhoni-
schen als auch in der akademischen Tradition verbreitet war. Es zielt im Kern
auf das berühmte Kriterienproblem ab. Wenn es nämlich kein unabhängiges
Kriterium gibt, mit dessen Hilfe bestimmt werden kann, welche Person eine
korrekte Vorstellung hat und welche nicht, kann immer nur beschrieben

72
 Vgl. Impossibilia II (ed. Bazán 1974, 74).
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§ 14 Die Traumhypothese 157

werden, welche Vorstellung jemand gerade hat. Es kann aber nicht beurteilt
werden, wie der durch die Vorstellung präsentierte Gegenstand tatsächlich
ist, ja es kann nicht einmal beurteilt werden, ob die Vorstellung einen wirk-
lich existierenden Gegenstand präsentiert. Auch dieses Argument beruht
auf der Annahme, dass es kein inneres Merkmal gibt, das es ermöglicht, eine
Vorstellung einer anderen vorzuziehen. Alle Vorstellungen, so wird unter-
stellt, sind gleichwertig und müssen daher auch in gleicher Weise berück-
sichtigt werden. Dies ist von Bedeutung, weil dadurch nicht nur die Vorstel-
lungen, die auf Sinnestäuschungen beruhen, den veridischen Vorstellungen
gleichgestellt werden. Auch Vorstellungen, die überhaupt keine Verankerung
in der materiellen Welt haben, müssen den auf natürliche Weise erworbenen
Vorstellungen gleichgestellt werden. Konkret heißt dies: Wenn eine Person
eine Vorstellung von einem Pferd hat, das durch die Luft fliegt, und eine
andere Person eine Vorstellung von einem galoppierenden Pferd, müssen
beide Vorstellungen einander gleichgestellt werden. Man darf nicht darauf
verweisen, dass die erste Person doch nur träumt oder eine Halluzination
hat. Aus dem bloßen Inhalt der Vorstellung geht nämlich nicht hervor, wie
sie erworben worden ist. Daher darf bei keiner Vorstellung angenommen
werden, dass sie durch einen wirklich existierenden Gegenstand verursacht
worden ist und diesen präsentiert. Und das heißt natürlich: Bei keiner Vor-
stellung darf ein Außenwelt-Bezug vorausgesetzt werden.
Schließlich führt Siger noch ein drittes Argument an, das die skeptische
These stützt.73 Er weist darauf hin, dass es keinen Grund gibt, dem Wa-
chenden mehr zu glauben als dem Schlafenden, dem Gesunden mehr als
dem Kranken, dem Wissenden mehr als dem Unwissenden. Damit macht er
nochmals auf das Kriterienproblem aufmerksam, diesmal freilich mit Bezug
auf den Gesamtzustand einer Person. Da es kein inneres Kriterium gibt, das
die Vorstellungen eines Wachenden gegenüber denjenigen eines Schlafenden
auszeichnet, kann nur berichtet werden, welche Vorstellungen diese oder
jene Person hat. Doch man kann nie eine Vorstellung einer anderen vor-
ziehen oder gar mit Sicherheit wissen, dass eine Vorstellung einen Gegen-
stand so präsentiert, wie er wirklich ist.
Dieses Argument scheint auf den ersten Blick leicht anfechtbar zu sein.
Es mag wohl sein, so könnte man einwenden, dass eine wache Person ihre
Vorstellungen nicht denjenigen einer schlafenden vorziehen kann oder dass
ein und dieselbe Person die Vorstellungen, die sie im Wachzustand hat, nicht
denjenigen vorziehen kann, die sie im Schlafzustand hat. Dies ist aber nicht
weiter schlimm, da die jeweiligen Vorstellungen von einem neutralen Stand-
punkt aus evaluiert werden können. So kann etwa eine andere Person mich

73
 Vgl. Impossibilia II (ed. Bazán 1974, 74).
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158 Zweifel an der absoluten Gewissheit

beobachten und feststellen, wann ich schlafe und wann ich wach bin; sobald
ich mich an diese Person wende, kann ich beurteilen, welche Vorstellungen
ich wählen muss. Somit gibt es vielleicht kein inneres Kriterium (die Vor-
stellung selbst enthüllt nicht, ob sie im Wach- oder Schlafzustand präsent
ist), sehr wohl aber ein äußeres.
Dieser Einwand erweist sich bei näherer Betrachtung aber als unzuläng-
lich. Denn wie lässt sich mit Sicherheit ein neutraler Standpunkt bestimmen,
von dem aus der jeweilige Zustand evaluiert werden kann? Es könnte doch
sein, dass ich mich genau dann, wenn ich mich an eine angeblich unabhän-
gige Person wende, im Schlaf befinde. Vielleicht träume ich nur, dass es eine
neutrale Instanz gibt. Das Kriterienproblem wird somit nur verschoben und
nicht gelöst. Für jeden angeblich neutralen Standpunkt, von dem aus ein
Urteil über den jeweiligen Zustand gefällt wird, kann wieder gefragt wer-
den, nach welchem Kriterium er als tatsächlich neutraler und zuverlässiger
Standpunkt bestimmt wird. Damit bleibt natürlich das grundsätzliche Pro-
blem bestehen, das im dritten Argument aufgeworfen wird: Es gibt keinen
neutralen Standpunkt, von dem aus Wach- und Schlafzustand voneinander
unterschieden werden und der eine dem anderen vorgezogen werden kann.
Die drei Argumente verdeutlichen, dass die skeptische These nicht leicht
zurückgewiesen werden kann, zumindest dann nicht, wenn man die drei
Voraussetzungen akzeptiert, auf denen die These aufbaut: (i) die Annahme,
dass alle Vorstellungen geprüft werden müssen, (ii) das empiristische Prin-
zip und (iii) die Unmöglichkeit eines neutralen Kriteriums. Man könnte nun
versuchen, die These dadurch zu erschüttern, dass man diese Annahmen
infrage stellt und dadurch zeigt, dass die skeptische These ihrerseits Ein-
wänden ausgesetzt ist. Doch Siger von Brabant wählt nicht diesen Weg. Er
akzeptiert die drei Annahmen und weist die skeptische These trotzdem zu-
rück. Dazu beruft er sich auf folgendes Prinzip:
„Wir sind uns nämlich der Existenz der Gegenstände, die einem Sinn erscheinen,
gewiss, wenn diesem Sinn nicht ein erhabener Sinn widerspricht oder ein Intellekt,
der auf einem erhabeneren Sinn beruht.“74

Dieses Prinzip scheint zunächst kaum überzeugend zu sein. Vor allem


scheint es nicht geeignet zu sein, die skeptische These zu widerlegen. Man
könnte sogleich einwenden, dass gar nicht feststeht, was jeweils unter dem
„erhabeneren Sinn“ zu verstehen ist. Wenn ich etwa den Holzstab im Wasser
sehe und ihn gleichzeitig berühre, steht nicht fest, ob nun der Gesichtssinn
oder der Tastsinn zuverlässiger ist. Prima facie kann ich nur zwei Sinnes-

74
  Impossibilia II (ed. Bazán 1974, 74): „Nos enim sumus certi de existentia rerum nobis
ad sensum apparentium, cui sensui non contradicit sensus dignior vel intellectus acceptus ex
sensu digniore.“
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§ 14 Die Traumhypothese 159

eindrücke miteinander vergleichen, aber ich verfüge über kein inneres Kri-
terium, das mir anzeigen würde, welcher der beiden Eindrücke vorzuziehen
ist. Ebenso problematisch verhält es sich mit jenen Fällen, bei denen die
Vorstellungskraft als ein innerer Sinn im Spiel ist. Wenn ich mir ein fliegen-
des Pferd vorstelle und den visuellen Eindruck von einem galoppierenden
Pferd habe, steht nicht von vornherein fest, dass ich den Gesichtssinn als
den „erhabeneren Sinn“ bevorzugen sollte. Warum sollte ein äußerer Sinn
dem inneren Sinn vorgezogen werden? Offensichtlich stellt sich hier wieder
das Kriterienproblem. Wenn ein Sinn nicht aufgrund innerer Merkmale an-
zeigt, dass er „erhabener“ ist, scheint es kaum möglich zu sein, ein neutrales
Kriterium zu formulieren, mit dessen Hilfe ein Sinn als der „erhabenere“
bestimmt werden kann.
Siger scheint sich dieses Problems bewusst zu sein. Er unternimmt kei-
nen Versuch, eine absolute Hierarchie der Sinne festzulegen oder ein neut­
rales Kriterium zur Evaluierung der Sinne zu bestimmen. Trotzdem hält
er an der These fest, dass es eine unterschiedliche Zuverlässigkeit der Sinne
gibt, bestimmt diese aber situativ. Er betont, dass der Person, die über einen
gesunden Geschmackssinn verfügt, bezüglich des Geschmacks einer Sache
mehr zu glauben ist als jener, die einen durch Krankheit infizierten Sinn hat;
derjenigen, die nahe an einem Gegenstand ist, ist mehr zu glauben als jener,
die weit davon entfernt ist usw.75 Diese Beispiele verdeutlichen, dass es nicht
darum geht, eine absolute Hierarchie zu etablieren und beispielsweise zu
behaupten, dass der Geschmackssinn immer dem Tastsinn vorzuziehen ist.
Es geht vielmehr darum, in einer bestimmten Situation zu fragen, welcher
Gegenstand erfasst werden soll und welcher Sinn dafür am geeignetsten ist.
Daher kann auch kein absolutes Kriterium formuliert werden, mit dem ein
für allemal der „erhabenere Sinne“ bestimmt werden könnte.
Dieses situative Vorgehen mag im Alltag geeignet sein, die Sinne zu
evaluieren und dadurch ein Fundament für möglichst zuverlässige Urteile
zu schaffen. Doch ein Skeptiker würde sich dadurch kaum beeindrucken
lassen. Er könnte sogleich entgegnen: Welches Kriterium erlaubt uns denn,
mit Sicherheit zu wissen, dass der Geschmackssinn einer gesunden Per-
son am besten dazu geeignet ist, den Geschmack einer Sache zu erfassen?
Vielleicht bilden wir uns nur ein, dass dies der „erhabenere Sinn“ ist. Ja,
vielleicht nehmen wir nur an, dass irgendein Sinn zuverlässige Informa-
tionen über Gegenstände und Eigenschaften in der Welt liefert. Es könnte
sehr gut sein, dass wir bloß träumen, wir würden Gegenstände schmecken
oder sehen. Nichts im Geschmacks- oder Seherlebnis garantiert, dass wir
tatsächlich in Relation zu Gegenständen in der Welt stehen. Daher erlaubt

 Vgl. Impossibilia II (ed. Bazán 1974, 75).


75
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160 Zweifel an der absoluten Gewissheit

uns eine situative Auswertung der Sinne keineswegs, ein sicheres Wissen
davon zu gewinnen, dass wir mehr haben als bloße Traumeindrücke und
Traumvorstellungen.
Auf diesen Einwand geht Siger nicht ein. Der Grund dafür liegt wohl
darin, dass er seine gesamte antiskeptische Argumentation in einem aristo-
telischen Rahmen vorträgt. Innerhalb dieses Rahmens setzt er voraus, dass
wir über Sinne verfügen, die von Natur aus dazu bestimmt sind, im Prinzip
korrekt zu funktionieren und korrekte Informationen über Gegenstände
und Eigenschaften in der Welt zu liefern. Zwar ist es möglich, dass wir uns
unter besonderen Bedingungen täuschen und vielleicht sogar nur träumen,
wir würden etwas schmecken oder sehen. Doch dabei kann es sich nur um
einen Ausnahmefall handeln, der nicht den Normalfall widerlegt. Dass es
den Normalfall gibt und dass er gleichsam den Hintergrund bildet, vor dem
ein Ausnahmefall erst verstanden werden kann, steht für Siger fest. Einem
Skeptiker, der fragt, warum wir denn überhaupt die Grundthese akzeptie-
ren sollen, dass wir im Prinzip den Sinnen vertrauen können, kann nicht
geholfen werden, wie Siger ausdrücklich betont:
„Wer aber nicht akzeptiert, dass ein Sinn erhabener ist als ein anderer und dass
einer Sinneswahrnehmung an sich zu glauben ist, sondern ein Argument sucht, das
zeigen soll, dass es sich so verhält, wie es erscheint, dem kann kein Beweis vorgelegt
werden – er kann keiner Sache gewiss sein.“76

Diese Aussage verdeutlicht, dass ein fundamentaler Dissens zwischen einem


Skeptiker und Siger, dem Aristoteliker, besteht. Der Skeptiker sucht eine
Begründung für alle Wissensansprüche, auch für jene, die auf der Grundlage
einer situativ evaluierten und als korrekt beurteilten Sinneswahrnehmung
erworben werden. Wenn ich etwa bei bester Gesundheit einen gut sicht-
baren Holzstab vor mir sehe und behaupte, ich wisse, dass ein Holzstab vor
mir liegt, fragt der Skeptiker: Wie weißt du, dass du dem Gesichtssinn ver-
trauen kannst? Und wie weißt du, dass du nicht gerade träumst, du würdest
einen Holzstab sehen? Jede Vorstellung, auch die scheinbar zuverlässigste,
gilt als suspekt. Siger hingegen geht von der Annahme aus, dass unsere
kognitiven Vermögen prinzipiell korrekt funktionieren und uns prinzipiell
korrekte Sinneswahrnehmungen und Vorstellungen liefern. Daher würde er
die Fragen des Skeptikers zurückweisen. Hat man einmal eingesehen, dass
natürliche Vermögen dazu bestimmt sind, korrekt zu funktionieren, ist es
abwegig, in jedem Fall nach einer Zuverlässigkeitsgarantie zu fragen. Noch
viel abwegiger ist es, in jedem Fall einen Beweis dafür zu verlangen, dass die

76
  Impossibilia II (ed. Bazán 1974, 75–76): „Qui autem aliquem sensum esse digniorem
quam alium et alicui sensationi per se credendum non accipit, sed huius rationem quaerit quae
ostendat quod sit ita sicut apparet, huic nihil probari potest, iste de nullo certus esse potest.“
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§ 14 Die Traumhypothese 161

kognitiven Vermögen tatsächlich durch reale Gegenstände aktiviert wurden


und nicht bloß Traumvorstellungen hervorbringen. Man kann zwar unter
besonderen Bedingungen Zweifel anmelden, aber nicht generell. Das heißt
natürlich, dass man nicht einen radikalen Außenwelt-Zweifel aufrechterhal-
ten kann. Dass alle Sinneswahrnehmungen und Vorstellungen vielleicht
nur Traumbilder sind, ist dann nicht nur eine unplausible, sondern eine un-
sinnige Hypothese.
Siger begnügt sich allerdings nicht mit dieser Erklärungsstrategie, die
weniger auf eine Lösung als auf eine Zurückweisung des radikalen Skepti-
zismus abzielt. Er führt noch ein weiteres Argument an:
„Wenn aber alle Sinne einmütig in einem Urteil über irgendeinen wahrnehmbaren
Gegenstand übereinstimmen, und wenn ihnen auch der Intellekt, der auf den er-
habeneren Sinnen beruht, nicht widerspricht, dann erscheint es übernatürlich und
eher wundersam als natürlich, das Gegenteil davon zu glauben ...“77

Siger präsentiert hier ein Kohärenz-Argument. Wenn die Sinne, die äußeren
ebenso wie die inneren, in ihren Informationen vollkommen überein-
stimmen, wäre es unsinnig anzunehmen, dass sie einen Gegenstand nicht so
darstellen, wie er wirklich ist, oder dass sie überhaupt keinen realen Gegen-
stand darstellen.
Auch dieses Argument könnte allerdings von einem Skeptiker zurück-
gewiesen werden. Könnte es nicht sein, dass wir uns in einem umfassenden
Traum befinden, in dem alle visuellen, gustativen usw. Erscheinungen per-
fekt aufeinander abgestimmt sind, und wir trotzdem keinen Bezug zur Au-
ßenwelt haben? Könnte es nicht sein, dass alles nur ein kohärenter Traum
ist? Derartige Überlegungen werden von Siger nicht in Betracht gezogen.
Er setzt voraus, dass perfekte Kohärenz immer ein Zeichen für eine Kor-
respondenz mit Gegenständen in der materiellen Welt ist. Daher ist es für
ihn ausgeschlossen, dass ein kohärentes Netz von Erscheinungen und Vor-
stellungen vorliegt, diese aber nicht von Gegenständen in der Außenwelt
verursacht wurden und sich nicht auf diese beziehen. Aus diesem Grund
ist für ihn – ähnlich wie für Thomas von Aquin – ein radikaler Außenwelt-
Skeptizismus keine Option. Wir können zwar sinnvollerweise annehmen,
dass wir in einigen Fällen (nämlich wenn Inkohärenzen und Widersprüche
vorliegen) Erscheinungen und Vorstellungen haben, die entweder etwas dar-
stellen, was nicht in der Außenwelt existiert, oder etwas anders darstellen,
als es existiert. Doch es ist unsinnig anzunehmen, dass in allen Fällen ein
Bezug zur Außenwelt fehlt. Dann könnten wir nämlich gar nicht mehr er-
  Impossibilia II (ed. Bazán 1974, 75): „Cum autem omnes sensus concorditer conveniant
77

in iudicio alicuis rei sensibilis, quibus etiam intellectus acceptus ex sensibus dignioribus non
contradicit, credere oppositum illius supernaturale videtur et miraculosum magis quam
naturale ...“

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162 Zweifel an der absoluten Gewissheit

klären, wie wir überhaupt über kohärente Vorstellungen mit einem wohl-
definierten Inhalt verfügen. Aus diesem Grund stellt Siger der skeptischen
These, die aus dialektischen Gründen eingeführt wurde, eine antiskeptische
These gegenüber, die sich folgendermaßen formulieren lässt:
(AT) Es ist unwahrscheinlich, dass alle Vorstellungen nur Traumbilder
sind und keinen sicheren Zugang zu einer materiellen Außenwelt er-
möglichen. Wenn die Vorstellungen kohärent sind, ist es plausibel an-
zunehmen, dass sie von Gegenständen in der Außenwelt verursacht
wurden und diese darstellen.
Wenn Siger damit die Plausibilität einer antiskeptischen Position gezeigt
hat, hat er damit doch nicht eine Letztbegründung geliefert. Er bietet ja
keinen letzten Beweis dafür, dass die Vorstellungen tatsächlich von Gegen-
ständen in der Außenwelt verursacht werden. Wie sich gezeigt hat, gesteht
er freimütig ein, dass dem radikalen Skeptiker kein Beweis vorgelegt werden
kann. Damit verdeutlicht er, dass die Traumhypothese nicht vollständig
widerlegt, sondern nur als unplausibel zurückgewiesen werden kann.

§ 15 Allmachtsargumente und ihre epistemologischen Folgen

Siger von Brabants These, dass die Vorstellungen uns einen Zugang zur
Außenwelt ermöglichen, weil die natürlichen kognitiven Vermögen uns
dazu befähigen, im Prinzip korrekte Vorstellungen zu haben, lässt indessen
ein Problem unberücksichtigt. Könnte es nicht sein, dass die natürlichen
Vermögen durch einen übernatürlichen Eingriff außer Kraft gesetzt oder
manipuliert werden? Bereits Thomas von Aquin wies ja darauf hin, dass
Gott sowohl auf der sinnlichen als auch auf der intellektuellen Ebene in
den kognitiven Prozess eingreifen könnte. Nach dem Tod ist dieser Eingriff
sogar der Normalfall. Gott, so stellte Thomas fest (vgl. § 13), kann nach
dem Tod Species im menschlichen Intellekt hervorbringen. Diese These gibt
sogleich zu einer skeptischen Frage Anlass: Könnte Gott dies nicht auch vor
dem Tod tun? Könnte er nicht jetzt gerade eine Species von Schokolade in
mir erzeugen, obwohl weit und breit keine Schokolade zu sehen ist? Und
könnte er nicht auch ein Vorstellungsbild in mir erzeugen, das mir eine
delikate Praline präsentiert? Dann würde ich (a) die allgemeine Form von
Schokolade erfassen und (b) mich auf ein individuelles Stück Schokolade
beziehen, obwohl in der mich umgebenden materiellen Welt keine Scho-
kolade vorhanden ist. Gott könnte dies so perfekt tun, dass ich diesen Fall
nicht von jenem unterscheiden könnte, in dem ich ausgehend von der Wahr-
nehmung einer unmittelbar präsenten Schokolade ein Vorstellungsbild und
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§ 15 Allmachtsargumente 163

eine Species erwerbe. Und das heißt natürlich: Gott könnte mich perfekt
täuschen.
Thomas räumt zwar ein, dass Gott genau wie ein Dämon die Vor-
stellungsbilder manipulieren könnte, und er betont, dass Gott darüber
hinaus auch in den Intellekt und sogar in den Willen eingreifen könnte.78
Trotzdem zieht Thomas nicht den skeptischen Schluss, dass wir nie sicher
sein können, ob Gott uns nicht gerade täuscht. Der Grund dafür liegt
nicht nur in dem in § 12 beschriebenen epistemologischen Optimismus,
sondern auch in einem theologischen Optimismus, der von vornherein
jede Täuschung ausschließt. Thomas begründet diesen Optimismus mit
folgendem Argument.79 Würde Gott einen Menschen täuschen, würde er
etwas Schlechtes tun, ja sich versündigen. Doch wer sich versündigt, voll-
zieht eine defiziente Handlung und zeigt dadurch, dass er keine vollkom-
mene Handlung vollbringen kann.80 Gott als allmächtiges Wesen kann
aber gar keine defiziente Handlung vollbringen; daher kann er auch nie-
manden täuschen. Dies ist ein a priori Argument gegen eine Täuschungs-
hypothese. Schon aus dem Begriff der uneingeschränkten Allmacht Got-
tes folgt, dass eine defiziente Handlung und damit auch eine Täuschung
unmöglich ist. Wir müssen uns daher nicht von Fall zu Fall vergewissern,
dass Gott uns nicht täuscht. Allein ein richtiges Verständnis des Begriffs
von göttlicher Allmacht zeigt, dass er uns nicht täuscht.
Ein weiteres Argument, das Thomas vorbringt, zielt in die gleiche Rich-
tung.81 Wer etwas bewirken will, so stellt er fest, muss dies auch wollen. Ein
Wesen kann aber nichts wollen, was der Natur seines Willens widerspricht.
Dem göttlichen Willen widerspricht nun alles, was nicht gut ist. Daher
kann Gott keine schlechte Handlung – etwa eine Täuschung – bewirken;
dies wäre seinem Willen entgegengesetzt. Auch hier handelt es sich um ein
a priori Argument. Schon aus einem richtigen Verständnis des Begriffs des
göttlichen Willens geht hervor, dass Gott niemanden täuschen kann.
Angesichts dieser beiden Argumente ist es nicht erstaunlich, dass Tho-
mas an keiner Stelle die Hypothese eines Täuschergottes diskutiert. Doch
warum, so kann man mit Blick auf die mittelalterlichen Allmachtstheorien

  Scriptum super Sent., II, dist. 8, q.1, art. 5, ad 7: „Unde patet ex praedictis quod Daemones
78

imprimunt in phantasiam, sed Angeli etiam in intellectum; Deus autem solus in voluntatem.“
79
 Vgl. STh I, q. 25, art. 3, ad 2; Summa contra Gentiles I, cap. 39, n. 316–323 (ed. Pera,
48–49).
80
 Hinter diesem Argument verbirgt sich die Privationstheorie des Schlechten, die Tho-
mas’ gesamte Erklärung defizienter Akte zugrunde liegt: Schlechtes ist nichts anderes als ein
Mangel an Gutem. Etwas vollkommen Gutes hat keinen Mangel und führt daher auch keine
schlechten Handlungen aus. Vgl. zu dieser augustinisch inspirierten Begründung Kretzmann
& Stump 1991.
81
 Vgl. De potentia, q. 1, art. 6, corp.
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164 Zweifel an der absoluten Gewissheit

fragen, wird diese Hypothese vollkommen ausgeschlossen? Warum berück-


sichtigt Thomas keine Allmacht, die sogar eine Täuschung ermöglicht? Seit
dem 12. Jh. unterschieden die christlichen Theologen zwischen der „ge-
ordneten Macht“ (potentia ordinata) und der „absoluten Macht“ (potentia
absoluta). Wie W. J. Courtenay und E. Randi gezeigt haben, handelt es sich
dabei nicht um zwei Arten der Macht, die nebeneinander existieren oder
die von Gott alternierend verwendet werden.82 Dies sind vielmehr zwei
Arten, die göttliche Macht zu betrachten. Zum einen kann man sie näm-
lich so betrachten, wie Gott sie im Rahmen der von ihm selbst verfügten
natürlichen Ordnung ausübt, zum anderen aber auch so, wie er sie in einer
anderen, von ihm ebenfalls frei gewählten Ordnung ausüben könnte. Die
Unterscheidung zielt vor allem darauf ab, die geltende natürliche Ordnung
als eine kontingente Ordnung zu bestimmen. Gott könnte auch eine andere
Ordnung wählen und seine Macht in dieser alternativen Ordnung aus-
üben. Er ist an keine Notwendigkeit außer an jene des Gesetzes der Wider-
spruchsfreiheit gebunden. Dies bedeutet natürlich, dass Gott auch nicht an
die Notwendigkeit gebunden ist, dass der Inhalt der Species durch äußere
Gegenstände festgelegt wird. Wie jede andere Ordnung könnte Gott auch
diese epistemische Ordnung durch eine andere ersetzen.
Thomas ist mit der Unterscheidung der beiden Betrachtungsweisen für
die göttliche Macht gut vertraut.83 Doch er verwendet sie nicht, um alterna-
tive epistemische Ordnungen zu entwerfen. Warum nicht? Der Hauptgrund
liegt vor allem darin, dass die absolute Macht für ihn eine theoretische
Möglichkeit ist, die nicht praktisch realisiert ist, ja nicht einmal realisierbar
ist. Er betont:
„Es ist also klar, dass Gott absolut betrachtet anderes bewirken kann als das, was
er bewirkt hat. Aber weil er nicht bewirken kann, dass Kontradiktorisches gleich-
zeitig wahr ist, kann man auf der Grundlage einer Annahme sagen, dass Gott nichts
anderes bewirken kann als das, was er bewirkt hat. Wenn man nämlich annimmt,
dass er nichts anderes bewirken wollte oder dass er im voraus wusste, dass er nichts
anderes bewirken würde, kann er nichts anderes bewirken ...“84

Dies ist ein subtiles Argument, das sich folgendermaßen erläutern lässt.
Nehmen wir an, dass Gott nicht nur gemäß der jetzt geltenden Ordnung p
bewirken kann, sondern gemäß einer anderen Ordnung auch nicht-p. Nun
muss sich aber auch Gott an das Gesetz der Widerspruchsfreiheit halten. Er

82
  Vgl. Courtenay 1990, 74–79, und Randi 1987, 13–33. Siehe auch Gelber 2004, 309–349.
83
  Vgl. eine Diskussion sämtlicher relevanter Stellen in Courtenay 1990, 88–91.
84
  De potentia, q. 1, art. 5, corp.: „Patet ergo quod absolute Deus potest facere alia quam
quae fecit. Sed quia ipse non potest facere quod contradictoria sint simul vera, ex suppositione
potest dici, quod Deus non potest alia facere quam quae fecit: supposito enim quod ipse non
velit alia facere, vel quod praesciverit se non alia facturum, non potest alia facere ...“
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§ 15 Allmachtsargumente 165

kann also nicht gleichzeitig p und nicht-p bewirken, ja er kann dies nicht
einmal gleichzeitig bewirken wollen. Ebenso wenig kann er zuerst p und
dann nicht-p bewirken wollen. Für Gott gibt es nämlich keine Zeitdiffe-
renzen, sondern eine umfassende Allgegenwart.85 Hat Gott sich einmal für
p entschieden, hat er sich immer – in einer permanenten Gegenwart – für p
entschieden und kann nicht mehr nicht-p wollen.
Die Annahme, dass Gott ebenso gut nicht-p wie p bewirken könnte, er-
weist sich angesichts dieser Argumentation als unhaltbar. Dadurch, dass
Gott sich für eine bestimmte Ordnung entschieden hat, hat er sich immer
für diese Ordnung entschieden, auch wenn er in dieser Entscheidung na-
türlich absolut frei ist. Der Verweis auf die absolute Macht dient nur dazu,
die prinzipielle Wahlfreiheit Gottes zu verdeutlichen. Doch die Wahl einer
bestimmten Ordnung schließt die plötzliche und willkürliche Wahl einer
anderen Ordnung aus. Daher sind selbst jene Ereignisse, die uns als Wunder
erscheinen, in zahlreichen Fällen nur Abweichungen von der natürlichen
Ordnung, aber nicht Ereignisse, die gegen diese Ordnung verstoßen oder
sie gar außer Kraft setzen. Sie finden innerhalb der von Gott verfügten Ord-
nung statt.86
Dies hat natürlich Konsequenzen für die Kognitions- und Erkenntnis-
theorie. Wenn Gott nicht willkürlich die natürliche Ordnung verändert,
sondern sich an die von ihm selbst gewählte Ordnung hält, dann hält er auch
die einmal gewählte epistemische Ordnung aufrecht. Konkret heißt dies:
Gott hat sich frei dafür entschieden, dass der Inhalt einer Baum-Species
durch die Form eines Baumes festgelegt wird. Würde er sich plötzlich dafür
entscheiden, dass der Inhalt dieser Species durch die Form eines Pferdes oder
durch ihn selber festgelegt wird, würde er sich aufgrund der Allgegenwart
sämtlicher Zeitpunkte gleichzeitig dafür entscheiden, dass der Inhalt durch
die Form eines Baumes festgelegt wird und dass er nicht dadurch festgelegt
wird. Dadurch würde er das Gesetz der Widerspruchsfreiheit verletzen.
Doch dieses Gesetz muss selbst Gott respektieren, wenn er eine Ordnung
herstellen will.
Angesichts dieser Argumentationslinie ist es nicht erstaunlich, dass Tho-
mas an keiner Stelle die Möglichkeit eines allmächtigen Täuschergottes er-
wägt. Doch spätere Autoren, die von der Annahme ausgingen, dass Gott sich

 Vgl. STh I, q. 10, art. 2–3.


85

 Thomas betont in Summa contra Gentiles III, cap. 99, n. 2756–2762 (ed. Pera, 152–153):
86

„... licet Deus interdum praeter ordinem rebus inditum aliquid operetur, nihil tamen facit
contra naturam.“ Wie Daston & Park 1998, 121, zu Recht festhalten, muss man daher die
wundersamen Ereignisse sorgfältig von den Wundern unterscheiden. Was wir als Wunder
bezeichnen, ist in Tat und Wahrheit häufig nur eine Abweichung vom uns bekannten Natur-
verlauf – eine Abweichung, die innerhalb der natürlichen Ordnung erfolgt.
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166 Zweifel an der absoluten Gewissheit

nicht einmal für eine bestimmte Ordnung entschieden hat, sondern gleich-
zeitig verschiedene Ordnungen aufrechterhalten kann oder innerhalb der
bestehenden Ordnung jederzeit eingreifen kann, machten durchaus von der
Hypothese eines Täuschergottes Gebrauch. Entscheidend ist dabei, dass sie
diese Hypothese explizit auf einen epistemologischen Kontext anwendeten.
Einer der ersten Autoren, die sich auf diese Hypothese beriefen, war der
Franziskaner Peter Johannis Olivi. In den um 1280 – also wenige Jahre nach
Thomas von Aquins Tod – verfassten Quästionen zu den Sentenzen knüpfte
er explizit an die von Thomas vertretene These an, dass der menschliche In-
tellekt nur mithilfe der Species eine Erkenntnis von äußeren Gegenständen
gewinnen kann.87 Olivi stellte jedoch infrage, dass mit diesen kognitiven
Entitäten tatsächlich ein direkter Zugang zu den äußeren Gegenständen
möglich ist. Er entwickelte ein Argument, das sich folgendermaßen zusam-
menfassen lässt:
(1) Species sind kognitive Entitäten im Intellekt, die etwas darstellen.
(2) Species können nur etwas darstellen, wenn sie auch als darstellende
Entitäten erfasst werden.
(3) Also müssen die Species vom Intellekt erfasst werden.
(4) Da die Species im Intellekt selbst sind, werden sie primär von ihm er-
fasst.
(5) Also sind die Species, nicht die äußeren Gegenstände, die primären
Erkenntnisobjekte des Intellekts.
(6) Also verhindern die Species, dass der Intellekt einen unmittelbaren
kognitiven Zugang zu den äußeren Gegenständen haben kann.
Olivi schließt sein Argument mit der Bemerkung ab, die Species würden
sich als innere Objekte zwischen den Intellekt und die äußeren Gegenstände
einschieben, und er fügt hinzu:
„... wenn sich etwas anderes zwischen den Blick des [intellektuellen] Vermögens
und das Objekt einschieben würde, dann verhüllte dies den Gegenstand und ver-
hinderte eher, dass dieser gegenwärtig an sich betrachtet wird, als dass es dazu ver-
helfen würde.“88

Offensichtlich enthüllen die Species einen Gegenstand nicht, indem sie seine
Form kognitiv zugänglich machen, sondern sie verhüllen ihn, indem sie sich

87
 Vgl. Quaestiones, q. 58 (ed. Jansen II, 468–469). Zum Kontext dieser Stelle vgl. Pasnau
1997, 236–247, und Perler 2002, 109–127. Die Quaestionen gehen auf Olivis Studienzeit in
Paris zurück, sind in der vorliegenden Form aber erst in den frühen achtziger Jahren außer-
halb von Paris redigiert worden.
88
  Quaestiones, q. 58 (ed. Jansen II, 469): „... si aliquid aliud interponeretur inter aspectum
potentiae et ipsum obiectum, illud potius velaret rem et impediret eam praesentialiter aspici in
se ipsa quam ad hoc adiuvaret.“
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§ 15 Allmachtsargumente 167

selber als primäre Objekte präsentieren und dadurch verhindern, dass der
Intellekt einen unmittelbaren Zugang zu den äußeren Gegenständen hat.
Angesichts dieses Fazits gibt es für Olivi nur zwei Möglichkeiten: Entweder
man hält an der Existenz der Species fest und gibt damit eine erkenntnis-
realistische Position preis. Alles, was wir dann primär erkennen, sind die
Species; die äußeren Gegenstände können höchstens als deren Ursache ver-
mutet werden. Oder aber man verteidigt die erkenntnisrealistische Position
und verzichtet auf die Annahme innerer kognitiver Entitäten.
Nun könnte man aus der Sicht des Thomas entgegnen, dass Olivis Kritik
allzu überstürzt erfolgt. Zwar trifft es zu, dass die Species etwas darstellen
und vom Intellekt primär erfasst werden; die Schritte (1) bis (4) können zu-
gestanden werden. Aber daraus folgt nicht, dass die Species die primären Er-
kenntnisobjekte sind und dass sie einen kognitiven Zugang zu den äußeren
Gegenständen verunmöglichen. Sie sind ja lediglich kognitive Hilfsmittel
und stellen nicht sich selber als Erkenntnisobjekte dar, sondern die Formen
von Gegenständen. Wie in § 13 dargestellt wurde, besteht die Pointe der tho-
masischen Theorie ja gerade darin, dass sie den Inhalt der Species dadurch
erklärt, dass sie auf Formen rekurriert, und zwar auf dieselben Formen, die
auch in den materiellen Gegenständen existieren. Es gibt hier keine inneren
Objekte, sondern nur Darstellungen von Formen. Dies lässt sich mit einem
modernen Beispiel veranschaulichen. Wenn wir eine E-Mail erhalten und
die Pixelbilder auf dem Bildschirm des Computers lesen, können wir in ge-
wisser Weise sagen, dass wir die Pixelbilder erfassen. Doch wir erfassen sie
nicht als eigenständige Objekte, sondern als Hilfsmittel, die eine Nachricht
visualisieren. Sie machen uns eine Nachricht zugänglich, und zwar dieselbe
Nachricht, die weit weg – etwa in Paris – abgeschickt wurde. Indem wir die
Pixelbilder lesen, erfassen wir die Nachricht aus Paris. Ähnliches gilt für
den kognitiven Prozess: Indem wir die Species mental „lesen“, erfassen wir
die Formen der materiellen Gegenstände. Daher ist es unangebracht, von
Entitäten zu sprechen, die den Zugang zur Außenwelt versperren.
Aus Olivis Sicht ist eine solche Verteidigung allerdings kaum überzeu-
gend, und zwar aus zwei Gründen. Erstens werden hier bestimmte meta-
physische Voraussetzungen gemacht, die alles andere als selbstverständlich
sind. Wie wissen wir denn, dass die Species tatsächlich Formen darstellen,
die sich auch in den äußeren Gegenständen befinden? Wie können wir über-
haupt gewiss sein, dass es universale Formen gibt, die dank der Species im
Intellekt existieren, aber auch außerhalb des Intellekts instantiiert sind? Der
ganzen Rede von mehrfach instantiierten Formen liegt eine universalienrea-
listische These zugrunde, die keineswegs evident ist. Sobald diese These fal-
len gelassen wird, ist es fraglich, ob die Species tatsächlich dieselben Formen
darstellen, die auch außerhalb des Intellekts existieren. Streng genommen
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168 Zweifel an der absoluten Gewissheit

kann man nur behaupten, dass es zwei Arten von Entitäten gibt, nämlich
die immateriellen Species und die materiellen Gegenstände, und dass be-
stenfalls eine Kausalrelation zwischen den beiden besteht.
Olivi würde aber auch die kognitionstheoretischen Voraussetzungen in-
frage stellen. Was uns im Intellekt präsent ist und was wir somit unmittelbar
erfassen, ist lediglich eine Species. Ob sie tatsächlich eine zweifach instanti-
ierte Form darstellt, ist eine offene Frage. Wir neigen zwar dazu, die Species
so zu interpretieren und sie somit auf etwas außerhalb unseres Intellekts zu
beziehen. Doch diese Bezugnahme ist keineswegs gesichert. Auf das Beispiel
mit dem Computer übertragen heißt dies: Was wir unmittelbar erfassen, ist
nichts anderes als ein Pixelbild auf unserem Bildschirm. Wir fassen dieses
Bild zwar so auf, dass es uns eine Nachricht darstellt, und wir interpretieren
es so, dass es dieselbe Nachricht darstellt, die in Paris abgeschickt wurde.
Aber ob tatsächlich eine Nachricht in Paris existiert, ist eine offene Frage.
Es gibt nichts im Pixelbild selbst, das auf eine real existierende Nachricht in
Paris verweisen würde. Ebenso wenig gibt es in der Species selbst etwas, das
auf einen äußeren Gegenstand verweisen würde. Die Species stellt zunächst
nur sich selber als ein inneres Objekt dar.
Dieses Argument scheint zunächst bloß auf eine bestimmte Interpreta-
tion der Species-Theorie abzuzielen und nur in begrenztem Maße skeptische
Konsequenzen zu haben. Man könnte nämlich aus Thomas’ Sicht erwidern:
Selbst wenn man annimmt, dass die Species zunächst nur sich selber dar-
stellt, steht sie doch in Kausalrelation zu einem äußeren Gegenstand. Sie
ist ja von einem Vorstellungsbild abstrahiert worden, das seinerseits durch
die Einwirkung eines äußeren Gegenstandes hervorgerufen wurde. Daher
können wir selbst dann, wenn wir bezweifeln, dass der Inhalt einer Species
durch die Form eines äußeren Gegenstandes festgelegt wird, sicher sein,
dass eine kausale Verbindung besteht und dass somit ein äußerer Gegen-
stand existieren muss, damit die Species überhaupt entstehen konnte.
Doch können wir sicher sein, dass tatsächlich eine solche Kausalrelation
besteht? Genau an diesem Punkt wird nun die Lehre von der göttlichen
Allmacht relevant. Olivi formuliert mit Rückgriff auf diese Lehre nämlich
folgendes Gedankenexperiment:
„Nehmen wir einmal an, dass Gott eine solche Species unserem [intellektuellen]
Blick präsentiert, ohne dass ein Gegenstand existiert oder ohne dass uns ein Gegen-
stand präsent ist. Dann würde ebenso gut ein Gegenstand gesehen wie in jenem Fall,
in dem tatsächlich einer anwesend und aktuell existent wäre, ja er wäre dort nicht
mehr oder weniger vorhanden.“89

89
  Quaestiones, q. 58 (ed. Jansen II, 470): „... ponatur quod Deus talem speciem exhiberet
aspectui nostro re non existente aut a nobis absente, tunc ita bene videretur res sicut si esset
praesens et actu existens, immo non esset ibi nec plus nec minus.“
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§ 15 Allmachtsargumente 169

Mit diesem Gedankenexperiment weist Olivi darauf hin, dass die Kau-
salrelation zu einem äußeren Gegenstand nicht notwendig ist für die Ent-
stehung einer Species. Gott könnte in den Erkenntnisprozess eingreifen und
jederzeit eine Species erzeugen, ohne dass irgendein äußerer Gegenstand
existiert, der diese Species verursacht hat. Die Species würde dann nichts
anderes als sich selber darstellen. Für das Computerbeispiel heißt dies: Es ist
denkbar, dass ein Hacker unseren Computer manipuliert und ein Pixelbild
erscheinen lässt, ohne dass es jemanden in Paris gibt, der uns eine Nach-
richt geschickt hat. Wenn der Hacker eingreift, stellt das Pixelbild nur noch
sich selber dar und verweist nicht auf etwas in Paris. Da Gott genau wie der
Hacker jederzeit eingreifen könnte, könnte er jederzeit bewirken, dass die
Species nicht über sich selber hinausweist und nur sich selber darstellt. Wir
wären dann in der inneren Welt der Species gefangen.
Damit sind wir natürlich bei einem skeptischen Szenario angelangt, und
zwar bei einem Szenario, das zu einem Außenwelt-Skeptizismus führt. Es
wird nicht bloß bezweifelt, dass die Gegenstände uns aufgrund manipu-
lierter Vorstellungsbilder anders erscheinen, als sie tatsächlich sind. Und es
wird nicht mit Verweis auf Sinnestäuschungen oder dämonische Eingriffe
bezweifelt, dass dieser oder jener konkrete Gegenstand existiert. Vielmehr
wird global bezweifelt, dass wir ein sicheres Wissen von der Existenz ma-
terieller Gegenstände haben. Gott könnte nämlich immer eingreifen und
uns immer Species von materiellen Gegenständen einflößen, obwohl keine
derartigen Gegenstände existieren. Die Präsenz innerer Species erlaubt uns
nicht, sogleich auf die Existenz äußerer Gegenstände zu schließen.90
Dies bedeutet freilich nicht, dass Olivi eine skeptische Position einnimmt.
Er entwickelt das skeptische Szenario lediglich, um die Species-Theorie ad
absurdum zu führen. Seiner Ansicht nach darf man zur Erklärung des kog­
nitiven Prozesses nicht auf kognitive Hilfsmittel rekurrieren, die irgendwie
zwischen dem Intellekt und den äußeren Gegenständen vermitteln. Vielmehr
muss man die These vertreten, dass der Intellekt mit seinen Akten direkt
auf die äußeren Gegenstände Bezug nehmen kann.91 Er setzt das skeptische
Szenario somit aus strategischen Gründen ein: Die Species-Theorie soll
bekämpft und durch die eigene Theorie, die eine direkte Relation zwischen

90
 Pasnau 1997, 236–247, hat bereits darauf hingewiesen, dass sich aus Olivis „veil of
species“-Theorie skeptische Konsequenzen ergeben. Im Gegensatz zu Pasnau glaube ich aber
nicht, dass sich diese Konsequenzen unmittelbar aus der Species-Theorie, wie man sie bereits
bei Thomas findet, ergeben. Skeptische Probleme tauchen erst auf, wenn eine Umdeutung der
Species stattfindet: Kognitive Hilfsmittel (wie bei Thomas) werden als primäre kognitive Ob-
jekte interpretiert (wie bei Olivi). Es scheint mir daher problematisch, die Species-Theorie als
eine im Kern skeptische Theorie zu bezeichnen.
91
  Vgl. zu diesem Erklärungsansatz, der eine unvermittelte Intentionalität postuliert, Perler
2002, 109–127.
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170 Zweifel an der absoluten Gewissheit

Akten und Gegenständen postuliert, ersetzt werden. Genau um dieses Ziel


zu erreichen, beruft sich Olivi auf die Hypothese von einem allmächtigen
Gott, der in den kognitiven Prozess eingreift.
Ein weiterer Autor, der sich in diesem Kontext auf die Allmachtslehre
berief, war der Franziskaner Johannes Rodington, der 1328–1329 in Ox-
ford die Sentenzen kommentierte.92 Er widmete sich ausdrücklich der Frage,
ob ein Mensch überhaupt eine „sichere Erkenntnis“ (certa cognitio) von
irgendeiner Sache gewinnen könne. Zur Beantwortung dieser Frage berück-
sichtigte Rodington drei Ebenen: die äußeren Sinne, die inneren Sinne und
den Intellekt.
Auf der Ebene der äußeren Sinne stellt sich Rodington zufolge die Frage
nach sicherer Erkenntnis gar nicht, weil diese Sinne prinzipiell nicht ge-
täuscht werden können. Täuschung ist nämlich nur möglich, wo es auch
ein Urteil gibt. Doch die äußeren Sinne fällen kein Urteil, sondern nehmen
nur wahrnehmbare Eigenschaften auf.93 Natürlich können die Sinne ver-
schiedene Eigenschaften voneinander unterscheiden, und genau aus diesem
Grund ist ihnen von verschiedenen Autoren die Fähigkeit zu „natürlichen
Urteilen“ zugesprochen worden.94 Doch streng genommen handelt es sich
dabei nur um ein Diskriminationsvermögen. Wenn ich etwa einen roten
Farbfleck von einem blauen unterscheide, bilden meine Sinne nicht das Ur-
teil ‚Dieser rote Fleck ist nicht blau‘ oder ‚Hier ist etwas Rotes und dort
etwas Blaues‘. Sie lokalisieren nur verschiedene Farbtöne an verschiedenen
Stellen. Es ist mein Intellekt, der auf der Grundlage der Sinnesinformation
ein Urteil bildet.
Mit dieser These distanziert sich Rodington von vornherein von skepti-
schen Argumenten, wie sie in der akademischen Tradition verbreitet waren.
Wenn etwa ein gerader Stab halb ins Wasser eingetaucht wird und gebrochen
erscheint, täuscht sich der Gesichtssinn nicht. Er nimmt nur eine Eigen-
schaft auf, die in dieser besonderen Situation wahrnehmbar ist. In anderen
Situationen mag er andere Eigenschaften oder Eindrücke aufnehmen, aber
er urteilt nie ‚Der Stab ist gebrochen‘. Vielmehr fällt der Intellekt ein Urteil
und täuscht sich genau dann, wenn er die besonderen Wahrnehmungsbedin-
gungen (in diesem Fall die Brechung der Lichtstrahlen im Wasser) nicht
berücksichtigt. Indem Rodington diesen Unterschied zwischen den äußeren
Sinnen und dem Intellekt betont, verdeutlicht er zwei wichtige Punkte. Ers-
tens ist es nur auf der Urteilsebene möglich, eine Täuschungshypothese zu
diskutieren, weil sich erst auf dieser Ebene die Frage stellt, ob ein Urteil, das
92
  Vgl. zu dieser Datierung Courtenay 1987, 267. Nardi 1952, 62, vermutet, dass der Senten-
zenkommentar erst 1340 entstand.
93
 Vgl. Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3, q. 3 (ed. Nardi 1952, 75).
94
 So etwa auch von Thomas von Aquin, De veritate, q. 1, art. 11 (ed. Leonina XXII, 34).
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§ 15 Allmachtsargumente 171

für wahr gehalten wird, auch tatsächlich wahr ist. Zweitens kann ein Urteil
nur gefällt werden, wenn auch Termini zur Verfügung stehen. Diese werden
aber vom Intellekt gebildet, nicht von den Sinnen.
Kann es nun auf der Ebene der inneren Sinne eine Täuschung geben?
Auf den ersten Blick scheint dies der Fall zu sein, denn diese Sinne – ins-
besondere das Vorstellungsvermögen – scheinen Urteile zu bilden. Wer etwa
ein lebhaftes und deutliches Vorstellungsbild von einer Chimäre hat, urteilt
sogleich ‚Eine Chimäre rennt durch den Garten‘. Rodington weist aber
darauf hin, dass auch hier streng genommen kein sinnliches Urteil vorliegt.
Zwar kann das Vorstellungsvermögen verschiedene Eindrücke miteinander
verbinden und ein Vorstellungsbild hervorbringen, dem nichts in der ma-
teriellen Welt entspricht. Aber das Vorstellungsvermögen versammelt oder
verbindet eben nur Eindrücke und bildet keine Urteile.95 Natürlich kann
dann auf der Grundlage des Vorstellungsbildes ein Urteil gefällt werden,
aber dabei handelt es sich um ein Urteil des Intellekts, nicht des Vorstel-
lungsvermögens, und es bezieht sich bloß auf das Vorstellungsbild, nicht auf
einen Sachverhalt in der materiellen Welt. So kann jemand das Urteil ‚Mir
erscheint eine Chimäre, die durch den Garten rennt‘ bilden und damit auch
ein wahres Urteil fällen, wenn tatsächlich ein Vorstellungsbild von einer
Chimäre vorliegt. Erst wenn diese Person das Urteil ‚Eine Chimäre rennt
durch den Garten‘ bildet, täuscht sie sich, denn erst in diesem Fall wird das
Vorstellungsbild mit einem realen Sachverhalt verwechselt. Es ist aber nicht
das Vorstellungsvermögen, das sich täuscht, sondern der Intellekt, der nicht
berücksichtigt, dass sich sein Urteil nur auf ein inneres Bild und nicht auf
einen äußeren Sachverhalt bezieht.
Wenn nun streng genommen nur auf der Ebene des Intellekts Täuschun-
gen möglich sind, heißt dies noch lange nicht, dass der Intellekt sich auf-
grund irreführender Sinnesinformationen oder Vorstellungsbilder täuschen
muss. Wie Duns Scotus (vgl. § 9) verweist auch Rodington darauf, dass der
Intellekt bestimmte Prinzipien verwenden und Überlegungen anstellen
kann, um die Sinnesinformationen zu prüfen. Angesichts des Stabes, der ins
Wasser eingetaucht ist, kann er die Überlegung anstellen: „Nichts Hartes
wird durch etwas Weiches gebrochen; der Stab ist hart, das Wasser jedoch
weich; also kann der Stab nicht durch das Wasser gebrochen werden.“96
Es gibt somit Korrekturmechanismen, die es dem Intellekt ermöglichen,
Sinnesinformationen auszuwerten und in Einklang mit bestimmten Natur-
prinzipien zu bringen. Dies ist ein wichtiger Punkt in Rodingtons Argumen-

 Rodington betont daher in Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3, q. 3 (ed. Nardi
95

1952, 75): „ymaginatio est collativa“.


96
 Rodington verwendet explizit dieses Beispiel in Scriptum super primum Sententiarum,
dist. 3, q. 3 (ed. Nardi 1952, 76).
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172 Zweifel an der absoluten Gewissheit

tationsstrategie. Er behauptet nicht, dass Gott willkürlich eingreift und die


Funktionsfähigkeit der Sinne zerstört. Ebenso wenig vertritt er die These,
dass Gott den Intellekt manipuliert oder außer Kraft setzt. Die prinzipielle
Funktionsfähigkeit der Sinne und des Intellekts bleibt gewährleistet.
Trotzdem insistiert Rodington darauf, dass aus der prinzipiellen Funk-
tionsfähigkeit nicht folgt, dass eine Person mit ihren Urteilen auch ein
unbezweifelbares Wissen erwerben kann. Er vertritt vielmehr die These,
„dass der Intellekt nicht auf natürliche Weise etwas wissen kann, ohne dass
er zweifeln kann, dass er dies weiß.“97 Man könnte dies die Zweifelsthese
nennen:
(Z) Wer ein Wissen von einem beliebigen Sachverhalt S hat, kann daran
zweifeln, dass er ein Wissen von S hat.
Mindestens zwei Punkte sind an dieser These bemerkenswert. Erstens be-
grenzt Rodington sie nicht auf einen bestimmten Wissensbereich. Er be-
hauptet nicht, dass jedes Wissen von empirischen Sachverhalten bezweifelt
werden kann, während etwa das Wissen von logischen Prinzipien oder von
analytischen Aussagen unbezweifelbar ist. Jedes Wissen, ganz gleichgültig
auf welchen Sachverhalt es sich bezieht, ist für ihn bezweifelbar. Zwei-
tens fällt auf, dass Rodington nicht behauptet, jedes Wissen müsse stets
bezweifelt werden. Er trifft die schwächere Aussage, dass jedes Wissen
bezweifelt werden kann. Damit weist er auf einen Punkt hin, der auch in
der gegenwärtigen Diskussion immer wieder erwähnt wird. Um Wissen
zu haben, muss man nicht in jedem Fall wissen, dass man etwas weiß, d.h.
man muss nicht immer einen höherstufigen Akt vollziehen, mit dem man
feststellt, dass tatsächlich Wissen vorliegt. Man kann aber einen höher-
stufigen Akt vollziehen, der sich auf den Wissensakt erster Stufe bezieht.
Tut man dies, taucht ein Zweifel auf. Dieser subtile Punkt lässt sich leicht
veranschaulichen. Wenn ich jetzt weiß, dass vor mir delikate Schokolade
liegt, muss ich mich nicht gleich fragen: Weiß ich wirklich, dass Schokolade
vor mir liegt? In vielen Situationen kann ich mich auf mein Wissen erster
Stufe verlassen, ohne eine besondere Begründung oder Rechtfertigung zu
geben, ganz einfach weil ich mein Wissen im Normalfall durch zuverlässige
Kausalrelationen zu materiellen Gegenständen erworben habe. Doch ich
kann in speziellen Situationen – etwa wenn ich sicher sein will, dass mein
Wissen tatsächlich auf einer zuverlässigen Kausalrelation beruht – die Frage
stellen, ob ich wirklich über Wissen verfüge. Erst dann muss ich den höher-
stufigen Akt vollziehen, und erst dann taucht der Zweifel auf. Dies bedeutet
97
  Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3, q. 3 (ed. Nardi 1952, 80): „Item 4a con-
clusio est, quod intellectus non potest naturaliter scire aliquid, quin possit dubitare se scire
illud.“
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§ 15 Allmachtsargumente 173

natürlich, dass ich nicht immer zweifeln muss, sondern nur dann, wenn ich
mich entscheide, den höherstufigen Akt zu vollziehen und mein Wissen zu
begründen oder zu rechtfertigen. Der Zweifel ist also nicht etwas, was mich
in jeder Situation gleichsam paralysiert. Ähnlich wie später bei Descartes
handelt es sich auch bei Rodington nicht um einen alltäglichen, sondern um
einen methodischen Zweifel, der nur dann auftaucht, wenn das alltägliche
Wissen geprüft werden soll.
Doch was ermöglicht den methodischen Zweifel? Warum glaubt Ro-
dington, dass wir genau dann, wenn wir uns für eine Prüfung unseres Wis-
sens entscheiden, jedes Wissen bezweifeln können? Hier wird wiederum
die Allmachtshypothese relevant. Rodington stellt nämlich folgende Über-
legung an:
„Dass aber Gott bewirken kann, dass ein Ding ein anderes zu sein scheint, wird
folgendermaßen bewiesen: Gott verfügt nicht über weniger Macht als der Teufel
oder ein Possenreißer. Diese bewirken aber, dass etwas erscheint, was nicht ist, und
dass ein Ding ein anderes zu sein scheint. Also kann Gott bewirken, dass einem
Menschen erscheint, dass ein Mensch nicht eine Substanz ist und Derartiges, auch
dass ein Mensch nicht ein Mensch ist.“98

Offensichtlich kann Gott kraft seiner Allmacht jedes Wissen zerstören,


und zwar nicht indem er die Sinne oder den Intellekt in ihrer Tätigkeit
einschränkt, sondern indem er direkt gewisse Erscheinungen eingibt. Wie
Rodingtons Aussage verdeutlicht, kann dies auf mehrere Weisen geschehen.
Zunächst kann Gott bewirken, dass ein Gegenstand ein anderer zu sein
scheint. So kann er – um ein modernes Beispiel anzuführen – bewirken,
dass mir ein Stück Schokolade als Apfel erscheint. Er kann dies so perfekt
tun, dass ich aufgrund dieser Erscheinung das Urteil ‚Hier liegt ein Apfel‘
fälle, obwohl Schokolade vor mir liegt. Wie Gott dies bewirken kann, erläu-
tert Rodington nicht. Da er von einem Erscheinen (apparere) spricht, kann
man aber vermuten, dass er auf die Produktion eines Vorstellungsbildes ab-
zielt; denn nur in einem solchen Bild erscheint ein konkreter Gegenstand.
Entscheidend ist dabei, dass dieses Bild unmittelbar ein falsches Urteil
auslöst. Erst auf der Urteilsebene ist ja eine Täuschung möglich, wie Ro-
dington zuvor betont hat. Diese Täuschung ist freilich noch nicht radikal,
denn sie betrifft nicht die Existenz des Gegenstandes, sondern nur dessen
Beschaffenheit. Gott bewirkt also nicht, dass ich fälschlicherweise urteile,
vor mir liege ein Apfel, obwohl gar nichts vor mir liegt. Es liegt tatsäch-

98
  Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3, q. 3 (ed. Nardi 1952, 80): „Quod autem
deus possit facere unam rem apparere aliam, probatur: non minoris potentie est deus quam
dyabolus vel ioculator; sed isti faciunt apparere quod non est, et unam rem apparere aliam;
ergo deus potest facere quod appareat homini quod homo non sit substantia et huiusmodi et
quod homo non sit homo.“
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174 Zweifel an der absoluten Gewissheit

lich ein Gegenstand vor mir, aber Gott bewirkt, dass er anders erscheint,
als er tatsächlich ist, und dass ich ihm daher im Urteil eine Eigenschaft zu-
schreibe, die er nicht hat.
Dies ist allerdings nicht die einzige Täuschungsmöglichkeit. Rodington
betont, dass Gott bewirken kann, „dass etwas erscheint, was nicht ist.“
Selbst wenn gar nichts vor mir liegt, kann er in mir das Vorstellungsbild von
einem Apfel erzeugen, das mich zu einem falschen Existenzurteil veranlasst.
Dies ist natürlich eine viel radikalere Täuschung, denn sie legt die Grundlage
für einen Außenwelt-Skeptizismus. Da Gott in jedem Fall bewirken könnte,
dass etwas erscheint, was nicht in der materiellen Welt existiert, und da er
dies in jedem Fall so perfekt tun könnte, dass ich die Erscheinung nicht von
einem realen Gegenstand unterscheiden kann, könnte ich mit allen meinen
Existenzurteilen falsch liegen. Gott könnte in mir eine vollkommene Innen-
welt von Erscheinungen erzeugen, ohne dass es eine ihr zugrunde liegende
Außenwelt gibt. Und selbst wenn er dies nur in einigen Ausnahmefällen tut,
könnte ich nicht wissen, wann meiner Erscheinung ein materieller Gegen-
stand entspricht und wann nicht. Gott könnte die Erscheinung ja so perfekt
erzeugen, dass es keinen phänomenalen Unterschied gibt.
Rodington führt sogar noch eine weitere Täuschungsmöglichkeit ein.
Auf den Einwand, dass doch zumindest die analytischen Aussagen von
der Täuschung ausgenommen seien, da diese Aussagen einzig aufgrund der
Bedeutung ihrer Termini erfasst werden, erwidert er:
„Erwiderung: Gott kann bewirken, dass diese Termini ihm nicht dies zu bedeuten
scheinen. Also kann er vernünftigerweise bezweifeln, ob Gott bewirkt, dass diese
Termini ihm dies nicht zu bedeuten scheinen. Nun könnte man einwenden: Bezüg-
lich der komplexen Aussage ‚Gott kann bewirken, dass etwas anders erscheint, als
es ist‘ kann ich nicht zweifeln; also habe ich diesbezüglich eine Gewissheit. Darauf
erwidere ich: Ich kann durchaus zweifeln, dass diese Termini dies bedeuten; Gott
kann bewirken, dass die Termini nicht dies zu bedeuten scheinen.“99

Dieses Argument läuft auf einen Bedeutungsskeptizismus hinaus, der sich


wiederum am besten anhand eines Beispiels veranschaulichen lässt. An-
genommen, jemand formuliert die Aussage ‚Ein Ganzes ist größer als
jeder seiner Teile‘ und behauptet, dass es sich um eine analytische Aussage
handelt, die allein aufgrund der Bedeutung ihrer Termini wahr ist und auch
allein aufgrund der Kenntnis der Bedeutung erfasst werden kann. Selbst
wenn Gott irgendeine Erscheinung von etwas Ganzem eingibt, der kein
  Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3,q. 3 (ed. Nardi 1952, 81): „Contra: deus
99

potest facere quod illi termini non appareant sibi significare illud; ergo rationabiliter potest
dubitare, utrum deus faciat quod termini illi non appareant sibi significare illud. Si dicatur:
,deus potest facere aliquid aliter apparere quam sit‘, de isto complexo non possum dubitare;
ergo respectu istius habeo certitudinem; [respondeo] quod possum dubitare an termini isti
significant illud, quod deus potest facere quod termini non appareant illud significare.“
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§ 15 Allmachtsargumente 175

materieller Gegenstand entspricht, bleibt diese Aussage unantastbar wahr


und kann aufgrund der Kenntnis der Bedeutung erfasst werden. Dagegen
wendet nun Rodington ein, dass Gott jederzeit die Bedeutung der Termini
verändern oder tilgen könnte. So könnte er bewirken, dass ‚Ganzes‘ für
mich plötzlich ‚Apfel‘ oder gar nichts mehr bedeutet. Dann könnte ich
nicht mehr die analytische Aussage erfassen, denn das Erfassen der ganzen
Aussage setzt das Erfassen der Bedeutung ihrer Termini voraus. Kurzum:
Sobald die Bedeutung der Termini verloren geht, geht auch das verloren,
was auf dieser Bedeutung beruht.
Nun könnte sich ein Antiskeptiker noch nicht geschlagen geben und
sagen: Nun gut, Gott mag die Bedeutung eines einzelnen Terminus ver-
ändern oder tilgen, aber die Aussage darüber, dass Gott die Bedeutung
verändert oder tilgt oder sonst etwas bewirkt, setzt sich doch ebenfalls aus
Termini zusammen. Daher kann man zumindest eine Aussage über das
Handeln Gottes erfassen und diesbezüglich eine Gewissheit haben. Doch
auch diese Verteidigungsstrategie weist Rodington in der zitierten Text-
stelle zurück. Er betont, dass Gott selbst die Bedeutung der Termini einer
solchen Aussage tilgen oder verändern könnte. Das heißt, er könnte sogar
die Bedeutung der Ausdrücke ‚Gott‘ und ‚bewirken‘ tilgen. Dann könnte
ich weder die Aussage ‚Ein Ganzes ist größer als jeder seiner Teile‘ noch
die Aussage ‚Gott bewirkt, dass die Termini der Aussage „Ein Ganzes ist
größer als jeder seiner Teile“ ihre Bedeutung verlieren‘ erfassen. Ich könnte
überhaupt nichts Sprachliches mehr erfassen.
Dies ist natürlich die radikalste Form von Skeptizismus, die sich mithilfe
der Allmachtshypothese konstruieren lässt. Wenn Gott selbst die Bedeutung
sprachlicher Ausdrücke beseitigen kann, kann man gar nichts mehr sagen,
nicht einmal dass man etwas bezweifelt. Denn auch wer die oben genannte
Zweifelsthese formuliert, verwendet die Ausdrücke ‚wissen‘ und ‚zweifeln‘,
denen er eine Bedeutung zuschreibt. Wenn Gott aber jede Bedeutung tilgen
kann, dann auch die der epistemischen Verben. Daher kann der radikal
Zweifelnde nicht einmal mehr sagen, dass er an allem zweifeln kann. Er ist
zum Verstummen verdammt.
An dieser Stelle ist es wichtig, sich wiederum Rodingtons Grundthese
in Erinnerung zu rufen, dass die gesamte Zweifelsprozedur einen metho-
dischen Charakter hat und dass deshalb auch für den radikalsten Zweifel
gilt, dass jemand erst dann zum Verstummen verdammt ist, wenn er darü-
ber reflektiert, ob er tatsächlich etwas weiß oder ob Gott nicht gerade die
Bedeutung aller Termini tilgt. Nur wer diesen höherstufigen Akt vollzieht,
muss infrage stellen, dass irgendein Terminus noch eine Bedeutung hat. Wer
aber auf der Ebene der Wissensakte erster Stufe bleibt, kann nach wie vor
eine Aussage wie ‚Ein Ganzes ist größer als jeder seiner Teile‘ treffen. Er
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176 Zweifel an der absoluten Gewissheit

kann nur nicht den Anspruch erheben, mit dieser Aussage über ein absolut
unbezweifelbares Wissen zu verfügen.
Nun könnte man erwarten, dass Rodington den methodischen Zweifel
ähnlich einsetzt wie später Descartes. Dies würde bedeuten, dass er mithilfe
der Allmachtshypothese alles Bezweifelbare aus seinem Wissenssystem ver-
bannen und nur noch das zurückbehalten würde, was absolut unbezweifel-
bar ist: die Gewissheit der eigenen geistigen Zustände. Auf dieser Grund-
lage könnte er dann ein neues Wissenssystem aufbauen. Rodington wählt
jedoch nicht diesen Weg. Er unterscheidet vielmehr drei verschiedene Arten
von sicherer Erkenntnis (certa cognitio) und Wissen (scientia). Erstens
gibt es die Art von Wissen, die dadurch erworben wird, dass ein Schluss
evidenter ist als sein Gegenteil. Dies ist die Art von Wissen, die Philosophen
normalerweise erwerben, wenn sie Argumente gegeneinander abwägen und
schließlich zu einem wohlbegründeten Schluss gelangen. Aber natürlich
handelt es sich nicht um ein absolut sicheres Wissen, weil immer Gegen-
argumente auftauchen können, die zu einer Schwächung oder gar zu einer
Widerlegung des Schlusses führen. Zweitens gibt es die Art von Wissen, bei
der jemand gleichsam zur Zustimmung zu einem Schluss gezwungen wird.
Rodington zufolge ist dies genau jenes Wissen, das durch mathematische
Beweise gewonnen wird. Wer nämlich die einzelnen Schritte in der Beweis-
führung erfasst, kann in diesem deduktiven Verfahren gar nicht anders, als
dem Schluss zuzustimmen. Doch darüber hinaus gibt es noch eine dritte
Art von Wissen, bei der „notwendigerweise dem Schluss zugestimmt wird,
sodass auf keine Weise bezweifelt werden kann, ob der Schluss wahr ist...“100
Die Anwendung der Allmachtshypothese auf verschiedene Gegenstandsbe-
reiche zeigt nun, dass diese dritte Art von Wissen ausgeschlossen ist. Da mit
Verweis auf das göttliche Handeln immer bezweifelt werden kann, (1) ob
die Gegenstände der materiellen Welt tatsächlich so sind, wie sie erscheinen,
(2) ob den Erscheinungen Gegenstände in der materiellen Welt entsprechen
und (3) ob die Termini, die sich auf alle Erscheinungen beziehen, überhaupt
eine Bedeutung haben, lässt sich kein zweifelsfreies Wissen gewinnen. Dies
führt natürlich zur Zweifelsthese zurück: Man kann immer daran zweifeln,
dass man etwas weiß.
Rodingtons Pointe besteht darin, dass er – ganz im Gegensatz zu Des-
cartes – nicht einen hohen Wissensanspruch aufrechterhält und alles ver-
wirft, was nicht absolut unbezweifelbar ist. Er senkt vielmehr den Wissens-
anspruch ab und betont, dass es durchaus Wissen gibt, aber nur Wissen
gemäß der ersten und der zweiten Art; unbezweifelbares Wissen ist aus-
100
  Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3, q. 3 (ed. Nardi 75): „Tercio modo, quod
sic est evidens, quod necessario assentit conclusioni, quod nullo modo potest dubitare an con-
clusio sit vera ...“
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§ 15 Allmachtsargumente 177

geschlossen.101 Dies gilt es zu beachten, um die Funktion der Allmachtshy-


pothese korrekt zu bestimmen. B. Nardi, der Rodingtons Text entdeckt und
als Erster interpretiert hat, sah in dessen Allmachtshypothese den Vorläufer
zum cartesischen Gedankenexperiment mit dem bösen Dämon und „die Ur-
sprünge der modernen Philosophie“.102 Dies ist in einer gewissen Hinsicht
sicherlich korrekt, weil Rodington die Hypothese in methodischer Hinsicht
einsetzt. Im Gegensatz zu den akademischen Skeptikern geht es ihm nicht
darum, auf faktische Sinnestäuschungen hinzuweisen und dadurch auf die
Falschheit einzelner Wahrnehmungsurteile aufmerksam zu machen. Ebenso
wenig verfolgt er das Ziel, die Begrenztheit oder Irrtumsanfälligkeit des In-
tellekts zu betonen. Wie bereits erwähnt, vertritt Rodington die Ansicht,
dass der Intellekt grundsätzlich imstande ist, wahre Urteile zu bilden, ja dass
er sogar irreführende Sinnesinformationen korrekt auswerten kann. Wenn
Rodington von der Allmachtshypothese Gebrauch macht, so bedient er sich
eines Kunstgriffs, um zu verdeutlichen, dass selbst angesichts der besten
kognitiven Bedingungen ein Eingreifen Gottes denkbar ist. Es geht somit
nicht um einen faktischen Zweifel an der Zuverlässigkeit der kognitiven
Vermögen, sondern um einen methodischen Zweifel. Trotz dieser Analogie
zu Descartes gibt es aber auch eine entscheidende Disanalogie. Rodington
setzt den methodischen Zweifel nicht ein, um ein absolut unbezweifelbares
Fundament für ein neues Wissenssystem zu schaffen. Er vertritt nicht eine
fundamentalistisch konzipierte Erkenntnistheorie, die davon ausgeht, dass
Erkenntnis auf einem sicheren und unerschütterlichen Fundament beruhen
muss. Im Gegenteil: Er betont, dass es kein unbezweifelbares und un-
erschütterliches Fundament gibt. Im Gegensatz zu Descartes führt er kein
Cogito-Argument ein, und er verwirft das bezweifelbare Wissen nicht,
sondern fordert eine Revision des Wissensanspruchs: Wissen bleibt stets der
radikalen skeptischen Hypothese ausgesetzt und kann daher nicht den Sta-
tus der Unbezweifelbarkeit haben. So betrachtet steht Rodington heutigen
Fallibilisten, die auf die Bezweifelbarkeit und Revidierbarkeit allen Wissens
hinweisen, näher als dem Infallibilisten und Fundamentalisten Descartes.103

 Vgl. Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3, q. 3 (ed. Nardi 1952, 91, ad primum).
101

102
  Vgl. Nardi 1952, 60–67.
103
 So könnte er Lehrer 1990, 179, zustimmen: „Our only reply to the skeptic is that, even
if there is some chance that any of our beliefs may be in error and, even if, therefore, we do
not know for certain that any of them are true, still some of the things we accept are things
we are justified in accepting because all competitors are beaten or neutralized on the basis
of our acceptance system. Of course, what we accept may be wrong – we are fallible – but
if enough of what we accept is correct, then our justification will be undefeated and we will
have knowledge.“ Rodington könnte in diesem Sinne mithilfe seiner eigenen Terminologie
sagen: Ich gestehe zu, dass jedes meiner Urteile falsch sein könnte, weil Gott jederzeit ein-
greifen könnte. Ich habe keine absolute Gewissheit. Trotzdem bin ich gerechtfertigt, mein
bisheriges Wissen auch weiterhin für Wissen zu halten, weil ich es durch wohlbegründete
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178 Zweifel an der absoluten Gewissheit

Denn genau wie heutige Fallibilisten betonen, dass etwas nur so lange als
sicheres Wissen gelten kann, wie es nicht infrage gestellt wird, hält auch
Rodington fest, dass sicheres Wissen nur auf Abruf besteht. Solange wir
die Allmachtshypothese nicht formulieren, können wir Vieles als sicheres
Wissen akzeptieren. Wir müssen somit nicht in jedem Moment zweifeln,
sondern erst zu dem Zeitpunkt, zu dem die Hypothese vorgebracht wird.
Und selbst zu diesem Zeitpunkt geht nicht jedes Wissen verloren, sondern
nur das absolut sichere Wissen.
Rodington erreicht dieses Argumentationsziel, indem er sich auf die Hy-
pothese von einem allmächtigen Gott beruft, der direkt in den kognitiven
Prozess eingreift und bestimmte Erscheinungen erzeugt. Gegen dieses
methodische Vorgehen könnte aber mit Blick auf Thomas von Aquins Zu-
rückweisung einer Täuschungshypothese sogleich ein Einwand erhoben
werden: Die Annahme, dass Gott eingreifen und Erscheinungen erzeugen
könnte, denen nichts in der materiellen Welt entspricht, ja dass er sogar die
Bedeutung der Termini manipulieren könnte, läuft darauf hinaus, dass Gott
einen Menschen täuschen könnte. Doch eine Täuschung ist eine schlechte
Handlung, die ein Wesen, das nur Gutes bewirken will, gar nicht ausführen
kann. Bereits ein richtiges Verständnis des göttlichen Willens, der nur auf
gute Handlungen abzielt, verdeutlicht somit, dass eine Täuschung prinzi-
piell ausgeschlossen ist.
Rodington ist sich dieses Einwandes wohl bewusst, weist ihn aber zu-
rück, indem er betont, dass Gott streng genommen nicht täuscht. Nur
wer mit seinen Handlungen auf etwas Schlechtes abzielt, täuscht, aber
Gott intendiert mit seinen Manipulationen nichts Schlechtes.104 Diese Er-
widerung verdeutlicht, dass Rodington zufolge zwei Bedingungen erfüllt
sein müssen, damit eine Täuschung vorliegt. Die erste Bedingung könnte
man die Falschheitsbedingung nennen: Wer täuscht, muss in einer Person ein
falsches Urteil hervorbringen oder durch eine Manipulation der Sinne (z.B.
durch das Erzeugen einer Erscheinung im Vorstellungsvermögen) bewir-
ken, dass diese Person selber ein falsches Urteil bildet. Zweitens muss auch
eine Absichtsbedingung erfüllt sein: Wer täuscht, muss mit einer schlechten
Absicht in den kognitiven Prozess einer Person eingreifen. Da im Falle des
göttlichen Eingreifens die zweite Bedingung nicht erfüllt ist, liegt keine
Täuschung vor. Wird damit der Einwand, Gott könne prinzipiell nicht täu-
schen, erfolgreich zurückgewiesen? Die Antwort hängt davon ab, wie stark
man die These versteht, Gott könne prinzipiell nur Gutes bewirken. Wenn

Schlüsse erworben habe und weil es sich in praktischen Handlungen als korrekt erwiesen
hat. Die Tatsache, dass ich keine Letztbegründung habe, zeigt nicht, dass ich überhaupt keine
überzeugende Begründung oder Rechtfertigung habe.
104
 Vgl. Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3, q. 3 (ed. Nardi 1952, 81).

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§ 16 Hypothetische Gewissheit 179

darunter verstanden wird, dass jede Handlung Gottes auf etwas Gutes ab-
zielt, müsste nicht nur ausgeschlossen werden, dass eine schlechte Absicht
vorliegt, sondern es müsste zusätzlich gezeigt werden, dass eine gute Ab-
sicht besteht. So müsste man etwa nachweisen, dass Gott in mir das Urteil
‚Hier liegt keine Schokolade‘ hervorbringt, obwohl durchaus Schokolade
vorhanden ist, um mich davor zu bewahren, schon wieder zu Schokolade zu
greifen, und damit meine Gesundheit zu schützen. Einen derartigen Nach-
weis, der selbst dem Hervorbringen eines falschen Urteils ein gutes Ziel
zuordnet, erbringt Rodington nicht. Daher ist anzunehmen, dass er von
einem schwächeren Verständnis der These, dass Gott prinzipiell nur Gutes
bewirken kann, ausgeht. Gemäß diesem Verständnis reicht es aus, dass Gott
nichts Schlechtes hervorbringen will. Welche Folgen sich daraus ergeben,
wird damit offen gelassen. Für das moderne Beispiel heißt dies: Es reicht
aus, dass Gott keine schlechte Absicht hat, wenn er in mir das falsche Urteil
‚Hier liegt keine Schokolade‘ hervorbringt. Ob dadurch meine Gesundheit
geschützt wird oder ob ihr im Gegenteil geschadet wird, weil ich dann zu
wenig esse, ist dadurch noch nicht festgelegt.
Darüber hinaus ist festzuhalten, dass der entscheidende Punkt in Ro-
dingtons Argumentation nicht darin besteht, dass Gott wirklich eingreift
und eine bestimmte Absicht verfolgt. Rodington konstruiert nur ein Ge-
dankenexperiment, um zu zeigen, dass der Anspruch auf absolut sicheres
Wissen nicht aufrechterhalten werden kann. Wenn es denkbar ist, dass Gott
eingreift, und wenn es somit denkbar ist, dass unsere Urteile falsch sind,
ohne dass wir dies bemerken, ist es denkbar, dass wir uns in unseren Ur-
teilen irren. Um die skeptische Hypothese zu formulieren und den Wissens-
anspruch zu reduzieren, braucht Rodington nicht mehr als diese Denkbar-
keit.

§ 16 Hypothetische Gewissheit

Rodington war nicht der einzige Autor des 14. Jhs., der eine skeptische
Hypothese einsetzte, um das Ideal eines absolut sicheren Wissens infrage
zu stellen. Der Dominikaner Wilhelm Crathorn, der zur selben Zeit wie
Rodington in Oxford lehrte und 1330–1332 die Sentenzen kommentierte,
bediente sich mit Rückgriff auf die Allmachtstheorie ebenfalls einer derarti-
gen Hypothese.105 Im Gegensatz zu Rodington begnügte er sich nicht damit,
in pauschaler Weise zu behaupten, dass Gott irreführende Erscheinungen
105
 Crathorns Vorname ist umstritten. Statt „Wilhelm“ geben einige Handschriften auch
„Johannes“ an. Vgl. dazu sowie zur Datierung die Einführung des Herausgebers zu den
Quästionen, 4–5.
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180 Zweifel an der absoluten Gewissheit

und falsche Urteile hervorbringen könnte. Er präzisierte, auf welcher Ebene


Gott eingreifen könnte und welche Art von falschen Urteilen dadurch ent-
stehen könnte.
Crathorn eröffnet seine detaillierte Auseinandersetzung mit skeptischen
Argumenten mit folgender These:
„... in diesem Leben können wir keine natürliche, evidente und vollständig untrüge-
rische Erkenntnis von Aussagen wie ‚Ein Stein existiert‘, ‚Ein Brot existiert‘, ‚Wasser
existiert‘, ‚Feuer existiert‘ sowie von anderen Aussagen, die auf der Erkenntnis von
irgendetwas Wahrnehmbarem beruhen, erwerben.“106

Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dass der Grund für diese radi-
kale These in der Unzuverlässigkeit der Sinneswahrnehmung liegt. Da wir
immer wieder Opfer von Sinnestäuschungen und Halluzinationen werden,
die uns nicht-existierende Gegenstände als existierend präsentieren, ist keine
untrügerische Erkenntnis von der Existenz wahrnehmbarer Gegenstände
möglich. Angesichts der zahlreichen Beispiele, die aus der antiken Debatte
bekannt waren und im frühen 14. Jh. ausgiebig diskutiert wurden,107 wäre
eine solche Begründung zu erwarten. Crathorn liefert jedoch eine andere
Begründung, die einmal mehr zeigt, dass theologische Debatten eine phi-
losophische Sprengkraft entwickeln konnten. Sein Ausgangspunkt ist die
Eucharistiedebatte: Wenn ein Ungläubiger eine Hostie oder ein beliebiges
Stück Brot sieht, kann er nicht erkennen, ob es geweiht ist oder nicht, d.h. er
kann nicht erkennen, ob es sich wirklich um Brot oder um den Leib Christi
handelt. Wenn nun im Geheimen ein Stück Brot geweiht wird, so fährt
Crathorn fort, kann ein Christ ebenso wenig erkennen, ob es sich um ein
Stück Brot oder um den Leib Christi handelt.108 Alle wahrnehmbaren Ei-
genschaften sind ja genau gleich, ob das Brot geweiht wurde oder nicht. Das
heißt aber, dass auch ein Christ ausgehend von der Sinneswahrnehmung
nicht erkennen kann, ob eine bestimmte Substanz existiert oder nicht. Da
indessen nur durch eine Erkenntnis der wahrnehmbaren Eigenschaften ein
Zugang zu einer Substanz möglich ist, kann selbst ein Christ nicht erkennen,
ob eine bestimmte Substanz vorhanden ist. Daher kann er nie mit absoluter
Gewissheit wissen, ob ein Urteil wie ‚Ein Brot existiert‘ wahr ist.
Diese Argumentation ist bemerkenswert, weil sie bei einer im mittel-
alterlichen Kontext weithin geteilten ontologischen Annahme ansetzt,
daraus aber eine radikale epistemologische Konsequenz zieht. Unter den

106
  Quästionen, q. 1 (ed. Hoffmann, 122): „... pro statu isto non poterimus habere cognitio-
nem naturalem evidentem et omnino infallibilem de huiusmodi complexis: Lapis est; panis
est; aqua est; ignis est, et sic de aliis ex cognitione quacumque sensibili.“
107
  Peter Aureoli diskutiert sie ausführlich in Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3,
sect. 14 (ed. Buytaert, 696–698).
108
 Vgl. Quästionen, q. 1 (ed. Hoffmann, 122).
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§ 16 Hypothetische Gewissheit 181

Autoren des späten 13. und des 14. Jhs., die das Eucharistieproblem mit-
hilfe der Transsubstantiationslehre zu erklären versuchten, war es nämlich
unumstritten, dass sich eine Substanz verändern kann, während die wahr-
nehmbaren Eigenschaften unverändert bleiben.109 Das heißt, dass die Sub-
stanz des Brotes zur Substanz des Leibes Christi werden kann, während die
Farbe, die Härte, der Geruch usw. unverändert bleiben. Dieser Annahme
liegt eine ontologische Trennbarkeitsthese zugrunde:
(1) Eine Substanz ist real (nicht nur begrifflich) von ihren wahrnehmbaren
Eigenschaften verschieden und kann daher von diesen abgetrennt wer-
den.
Dieser These fügt Crathorn nun eine weitere hinzu, die im späten 13. und
im 14. Jh. ebenfalls weithin geteilt wurde. Sie geht von der simplen An-
nahme aus, dass wir nie „nackte“ Substanzen erfassen können. Substanzen
sind immer Träger von Eigenschaften, und wir haben als sinnliche Lebewe-
sen nur zu den sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften einen Zugang. So
können wir nie direkt die Substanz des Brotes sehen oder riechen, sondern
nur eine bestimmte Farbe und einen bestimmten Geruch. Liegt ein Bündel
von charakteristischen Eigenschaften vor, können wir auf eine bestimmte
Substanz schließen. Mit dieser Aussage verpflichten wir uns aber auf eine
These des indirekten Zugangs zu Substanzen, wie Crathorn betont:
(2) Eine Substanz kann nur über die wahrnehmbaren Eigenschaften erkannt
werden.
Es ist leicht ersichtlich, dass daraus ein skeptischer Schluss gezogen werden
kann:
(3) Da wir eine Substanz nur über die wahrnehmbaren Eigenschaften er-
kennen können, sie aber jederzeit von diesen Eigenschaften abgetrennt
werden kann, können wir eine Substanz nie mit Gewissheit erkennen.
Dieser Schluss ist brisant, weil er sich nicht nur auf das Spezialproblem der
Eucharistie bezieht, sondern generell das Problem der Erkenntnis von Sub-
stanzen aufwirft. Die Trennbarkeitsthese eröffnet nämlich die Möglichkeit,
dass eine Substanz nicht nur während der Wandlung, sondern in jeder Situa-
tion verändert werden kann. Daher besteht in jeder Situation eine Ungewiss-
heit, dass tatsächlich eine bestimmte Substanz vorliegt. Crathorn vertritt
aus diesem Grund die Ansicht, dass nicht nur das Urteil ‚Ein Brot existiert‘
zweifelhaft ist, sondern jedes Urteil über die Existenz einer Substanz. Kon-
109
 Die Transsubstantiationstheorie bot freilich nicht die einzige Erklärung für das Eucha-
ristieproblem, sie stellte im späten 13. und im 14. Jh. aber die dominante Theorie dar, wie
Bakker 1999 in seiner umfassenden Darstellung belegt.
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182 Zweifel an der absoluten Gewissheit

kret heißt dies: Selbst wenn ich jetzt etwas Braunes, Süßes, Wohlriechendes
erfasse und ausgehend von diesem Bündel von Eigenschaften schließe, dass
hier ein Stück Schokolade liegt, kann ich mich irren. Es könnte sein, dass
die Substanz der Schokolade jetzt gerade durch eine andere Substanz ersetzt
wird.
Crathorn bezweifelt mit dieser Argumentation nicht, dass wir im Prin-
zip auf das Vorliegen einer bestimmten Substanz schließen können und dass
wir daher im Prinzip auch eine Erkenntnis von Substanzen haben. Doch es
besteht keine evidente und untrügerische Erkenntnis, wie er ausdrücklich
betont. Daher müssen wir unseren Erkenntnisanspruch einschränken und
können nur noch sagen: Wenn die Substanz nicht gerade durch göttliches
Eingreifen verändert wird, dann können wir bei Vorliegen bestimmter Ei-
genschaften auf das Vorliegen einer bestimmten Substanz schließen. Somit
verfügen wir nicht über eine absolute, sondern nur über eine hypothetische
Gewissheit von der Existenz einer Substanz.
Mit dieser Argumentation stellt Crathorn freilich nicht infrage, dass
Substanzen existieren. Fraglich ist nur, welche Substanz jeweils existiert.
Crathorn erwägt an keiner Stelle die Möglichkeit, dass ein Bündel von
Eigenschaften ohne einen Träger existieren könnte. Ausgehend von einer
aristotelischen Ontologie hält er es für evident, dass Eigenschaften immer
abhängige Entitäten sind und dass daher irgendeine Substanz existieren
muss, damit auch die wahrnehmbaren Eigenschaften existieren können.110
Crathorn bezweifelt auch nicht, dass wir Eigenschaften erfassen können,
die tatsächlich in der materiellen Welt existieren, und dass wir diese Ei-
genschaften im Prinzip auch korrekt erkennen können. Daher zielt er
nicht auf einen Außenwelt-Skeptizismus oder auf einen Relativismus ab,
dem zufolge wir Eigenschaften in unterschiedlichen Situationen ganz un-
terschiedlich erfassen und nie sagen können, welche Eigenschaften wirk-
lich existieren. Trotzdem hat seine Argumentation weitreichende Konse-
quenzen. Wenn wir die Substanzen nie mit absoluter Gewissheit erkennen
können, sind wir nie imstande zu sagen, welche Struktur die materielle
Welt hat. Wir können nur Aussagen darüber machen, auf welche Substanz

 Crathorn weicht allerdings von der traditionellen aristotelischen Ontologie ab, indem
110

er betont, dass nicht absolut, sondern nur relativ festgelegt ist, was nun eine Substanz ist und
was eine akzidentelle Eigenschaft. Je nach Situation kann eine Substanz von einer anderen
abhängen und somit als ihr Akzidens fungieren. Quästionen, q. 13 (ed. Hoffmann, 394):
„Quinta conclusio est quod aliqua eadem res numero respectu diversarum rerum potest vere
dici substantia et accidens et quod una substantia potest vere dici subiectum alterius. [...] una
substantia potest dici accidens et vere esse accidens respectu alterius, et alia substantia illius
subiectum.“ Wenn die Abhängigkeitsrelation auch variabel ist, steht doch immer fest, dass es
zwei verschiedene Arten von Entitäten gibt: unabhängige und abhängige. Damit grenzt sich
Crathorn von einer radikal atomistischen Ontologie ab.
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§ 16 Hypothetische Gewissheit 183

wir beim Vorliegen bestimmter wahrnehmbarer Eigenschaften schließen.


Aber es könnte natürlich sein, dass eine ganz andere Substanz vorliegt
und dass die Welt somit ganz anders beschaffen ist, als wir dies glauben.
Crathorn zieht daraus nicht den expliziten Schluss, dass wir uns mit einer
hypothetischen Beschreibung der Welt aus unserer Sicht zufrieden geben
müssen. Aber es ist leicht ersichtlich, dass ein solcher Schluss gezogen
werden kann. Um Lockes berühmte Terminologie zu verwenden, könnte
man sagen: Welche reale Essenz die Gegenstände der materiellen Welt
haben, können wir nie mit absoluter Gewissheit sagen. Wir sind nur in
der Lage, eine nominale Essenz zu bestimmen, die wir ausgehend von der
Erkenntnis wahrnehmbarer Eigenschaften konstruieren und den Gegen-
ständen zuschreiben.
Crathorn geht in seiner skeptischen Debatte sogar noch über diese Po-
sition hinaus. Er stellt nämlich eine weitere These auf, die auf einen Außen-
welt-Skeptizismus abzielt:
„Die neunte These lautet, dass ein Mensch in diesem Leben aufgrund der sinn-
lichen Erkenntnis keine sichere und vollständig untrügerische Erkenntnis von der
Existenz irgendeines Akzidens außerhalb der Seele haben kann.“111

Diese These ist radikal, weil sie genau das infrage stellt, was in der bishe-
rigen Argumentation noch vorausgesetzt wurde, nämlich dass wir einen
Zugang zu wahrnehmbaren Eigenschaften haben. Wie gelangt Crathorn
zu dieser Radikalisierung? Er wählt den gleichen Ausgangspunkt wie
Thomas von Aquin und zahlreiche andere Autoren, die von einer aristote-
lischen Wahrnehmungstheorie inspiriert sind. Damit wir einen Zugang
zu einem Gegenstand in der materiellen Welt haben können, so behauptet
er, müssen wir die wahrnehmbaren Eigenschaften aufnehmen. Dies ge-
lingt uns nur, wenn zunächst unsere äußeren Sinne affiziert werden und
dann in den inneren Sinnen „sensible Species“ (species sensibiles) für die
einzelnen Wahrnehmungseigenschaften gebildet werden. Entscheidend ist
dabei, dass eine sensible Species eine Eigenschaft immer so darstellt, wie
sie in einer konkreten Situation mithilfe eines bestimmten Sinnes erfasst
wird. Wenn ich etwa weißen Schnee sehe, stellt mir die sensible Species
eine bestimmte Farbe dar. Doch was genau sehe ich dann? Genau an die-
sem Punkt setzt Crathorn mit seiner skeptischen Argumentation an. Er
behauptet, eine Person, die über die sensible Species von Weiße verfüge,
sehe „gleichzeitig und ohne Unterschied“ die Weiße und die Species von
Weiße. Daher könne sie allein aufgrund dessen, dass sie eine Species hat,

111
  Quästionen, q. 1 (ed. Hoffmann, 123): „Nona conclusio est ista quod ex cognitione
sensitiva non potest viator habere cognitionem certam et omnino infallibilem de exsistentia
cuiuscumque accidentis extra animam.“
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184 Zweifel an der absoluten Gewissheit

nicht sagen, ob sie nun die Species in sich selber sieht oder die weiße Farbe
in der materiellen Welt.112
Dieser Schluss wirkt auf den ersten Blick kaum überzeugend. Mit Blick
auf die thomasische Wahrnehmungstheorie könnte man sogleich zwei Ein-
wände vorbringen. Erstens ist die sensible Species nicht das, was gesehen
wird, sondern immer nur das, womit etwas gesehen wird. Genau wie die
intelligible Species im Intellekt ist sie nur ein kognitives Hilfsmittel. Daher
ist es irreführend zu sagen, die Species selbst werde gesehen. Es gibt hier
keinen Blick nach innen, sondern nur nach außen: auf die weiße Farbe in
einem konkreten materiellen Gegenstand. Zweitens könnte man auf die be-
reits ausführlich dargestellte Identitätstheorie verweisen und betonen, dass
der Inhalt einer sensiblen Species eine wahrnehmbare Form ist, und zwar
dieselbe Form, die auch in einem materiellen Gegenstand existiert. Selbst
wenn man zugesteht, dass die sensible Species irgendwie gesehen oder er-
fasst wird, muss man damit nicht behaupten, dass eine innere Entität erfasst
wird. Vielmehr wird ein und dieselbe Form bzw. Farbstruktur aufgefasst,
die auch im materiellen Gegenstand präsent ist.
Diese Einwände sind aus Crathorns Sicht nicht überzeugend. Gegen das
erste Argument spricht, dass Thomas selber feststellt, die sensible Species
könne abgespeichert und bei Bedarf wieder abgerufen werden, sodass mit
ihrer Hilfe auch dann etwas erfasst werden kann, wenn kein materieller
Gegenstand präsent ist.113 Dies bedeutet aber, dass eine sensible Species das
unmittelbare Objekt eines Erfassensaktes sein kann. Sie ist, wie Crathorn
betont, durchaus etwas, das unmittelbar gesehen werden kann, nicht nur ein
Hilfsmittel, mit dem etwas gesehen wird. Er räumt zwar ein, dass auch die
Eigenschaft in einem äußeren Gegenstand gesehen werden kann, fügt aber
gleich hinzu, dass die Species ein perfektes Abbild (similitudo) dieser Ei-
genschaft ist.114 Daher kann die wahrnehmende Person nie bestimmen, was
ihr unmittelbares Objekt ist, die Species oder die Eigenschaft im materiellen
Gegenstand. Konkret heißt dies: Wenn ich durch eine Schneelandschaft
spaziere und einen intensiven Eindruck von weißer Farbe habe, kann ich nie
sagen, was ich nun unmittelbar erfasse, die weiße Farbe des Schnees oder
eine Species von Weiße. Ich kann nur den Inhalt meines Wahrnehmungs-
zustandes beschreiben.
Auf das Argument, das sich auf die Identitätstheorie beruft, geht Crat-
horn nicht explizit ein. Doch vor dem Hintergrund seiner ockhamistisch

112
  Quästionen, q. 1 (ed. Hoffmann, 123): „Videns albedinem simul et indistincte videt
albedinem et speciem albedinis, nec potest ex hoc solo quod videt distinguere inter albedinem
et speciem albedinis.“
113
 Vgl. STh I, q. 78, art. 4, corp.; De veritate, q. 1, art. 11, corp. (ed. Leonina XXII, 35).
114
 Vgl. Quästionen, q. 1 (ed. Hoffmann, 123).
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§ 16 Hypothetische Gewissheit 185

inspirierten Ontologie, die universale Entitäten ablehnt,115 lässt sich leicht


eine Replik formulieren: Von einer Identität zu sprechen, ist nur sinnvoll,
wenn angenommen wird, dass es universale Formen gibt, die in materiellen
Gegenständen und in einer oder sogar in mehreren wahrnehmenden Per-
sonen instantiiert sein können. Doch woher wissen wir, dass es tatsächlich
derartige Formen gibt? Eine Person, die sich in einem Wahrnehmungs-
zustand befindet, kann immer nur ihre Species unmittelbar erfassen und be-
schreiben. Ob dieser Species auch eine Eigenschaft in einem materiellen Ge-
genstand entspricht und ob der Inhalt dieser Species sogar dieselbe Form ist,
die auch im materiellen Gegenstand existiert, entzieht sich der Erfahrung.
Die Identität einer Form zu behaupten, ist metaphysische Spekulation.
Nun könnte man immer noch einwenden, dass daraus noch kein Außen-
welt-Skeptizismus folgt. Selbst wenn eine Person primär nur die eigene
Species erfasst und selbst wenn sie kein sicheres Wissen hat, dass der Inhalt
dieser Species die Form einer materiellen Eigenschaft ist, weiß sie doch,
dass die Species von etwas Äußerem verursacht worden ist. Eine Species
kann nicht ex nihilo entstehen. Deshalb gilt: Selbst wenn die Relation der
formalen Identität bezweifelt wird, steht unbezweifelbar fest, dass es eine
Kausalrelation zu einer wahrnehmbaren Eigenschaft in einem materiellen
Gegenstand gibt.
Eine solche Replik wäre aus Crathorns Sicht keineswegs überzeugend.
Sie lässt nämlich die Allmachtshypothese unberücksichtigt. Wie für Olivi
und Rodington ist es auch für Crathorn entscheidend, dass Gott jederzeit
in den Erkenntnisprozess eingreifen könnte. Er könnte die Species, die von
einer Farbe verursacht wurde, aufrechterhalten, gleichzeitig aber die äußere
Farbe zerstören, ohne dass die betroffene Person dies merkt. Dann würde
diese Person glauben, sie sehe eine Farbe, obwohl keine Farbe in einem
materiellen Gegenstand existiert. Gott könnte sogar noch mehr bewirken:
„Ohne dass eine Weiße existiert oder ohne dass einer Person mit Sehvermögen
Weiße präsent ist, könnte Gott eine Species von Weiße in jenem Teil des Gehirns
erzeugen, der zum Sehen fähig ist (dies ist der Teil, der zuerst die sichtbare Species
aufnimmt), und zwar ohne dass diese Person dies weiß. Dann würde sie urteilen,
dass sie Weiße sieht, die außerhalb von ihr existiert, ihr vorgezeigt wird und präsent
ist – und dennoch gäbe es keine solche Farbe. Also ist das Sehen einer Farbe kein
ausreichender Grund, um auf eine Farbe zu schließen, die außerhalb des Sehenden
existiert.“116

 Vgl. Quästionen, q. 2 (ed. Hoffmann, 161–162).


115

  Quästionen, q. 1 (ed. Hoffmann, 124): „Deus posset nulla albedine exsistente vel nulla
116

praesente ipsi potenti videre unam speciem albedinis creare in illa parte cerebri potentis videre,
quae est primo receptiva speciei visibilis ipso hoc ignorante, et tunc iudicaret se videre albe-
dinem extra exsistentem et sibi obiectam et praesentem et tamen nulla talis esset. Igitur videre
colorem non est sufficiens causa ad concludendum colorem exsistentem extra videntem.“
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186 Zweifel an der absoluten Gewissheit

Gott könnte also jetzt gerade die Species von strahlend weißem Schnee
in mir erzeugen, ohne dass es in meiner Umgebung Schnee gibt. Da diese
Species der wirklichen Weiße perfekt gliche, würde ich glauben, dass ich
eine weiße Farbe außerhalb von mir sehe. Gotte hätte mich perfekt ge-
täuscht.
Crathorn zieht aus dieser Überlegung den Schluss, dass das bloße Sehen
einer Farbe oder das Wahrnehmen irgendeiner anderen Eigenschaft nicht
zu einer Existenzbehauptung bezüglich einer Eigenschaft in der Außen-
welt berechtigt. Natürlich kann der Sehende immer noch sagen: „Ich sehe
eine Farbe“ und „Die Farbe ist etwas“.117 Doch dies heißt noch lange nicht,
dass die Farbe etwas außerhalb seiner inneren Sinne ist. Sie ist primär nichts
anderes als der Inhalt einer sensiblen Species. Und da die sehende Person nie
weiß, ob und wann Gott eingreift, kann sie immer nur sagen: „Ich erfasse
den Inhalt einer sensiblen Species und sehe daher eine Farbe. Ob diese
Species von einer wirklichen Farbe verursacht wurde, entzieht sich meiner
Kenntnis. Daher habe ich keine evidente Gewissheit von einer materiellen
Eigenschaft.“ Wenn dieses Argument verallgemeinert und auf jeden Wahr-
nehmungsakt angewendet wird, folgt daraus natürlich ein umfassender Au-
ßenwelt-Skeptizismus. In jeder Wahrnehmung kann man daran zweifeln,
ob man wirklich Zugang zu einer materiellen Eigenschaft hat oder ob man
nur den Inhalt einer sensiblen Species erfasst.
Verbindet man dieses Argument mit jenem, das Crathorn ausgehend
vom Eucharistieproblem entwickelt, ergibt sich ein radikaler Skeptizismus:
Wenn wir nur über die wahrnehmbaren Eigenschaften einen Zugang zu den
Substanzen in der materiellen Welt haben, jedoch nie wissen können, ob wir
wirklich die wahrnehmbaren Eigenschaften oder nur die eigenen Species
erfassen, können wir nie sicher sein, (a) ob es überhaupt wahrnehmbare
Eigenschaften in einer Außenwelt gibt und (b) ob es Substanzen als Träger
solcher Eigenschaften gibt. Wir können immer nur unsere Wahrnehmungs-
zustände beschreiben und die Vermutung aufstellen, dass sie tatsächlich von
äußeren Eigenschaften hervorgerufen wurden und dass diese Eigenschaften
tatsächlich Substanzen als Träger haben.
Heißt dies, dass wir jeden Wissensanspruch aufgeben müssen? Crathorn
zieht nicht diesen radikalen Schluss. Er betont vielmehr, dass wir folgende
Überlegung anstellen können:
„... obwohl der Pilger [sc. der Mensch im diesseitigen Leben] einzig aufgrund der
sinnlichen Erkenntnis keine evidente und vollständig untrügerische Erkennt-
nis davon haben kann, dass solche sinnlich erfassten Eigenschaften außerhalb des
Sehenden existieren, kann er doch aufgrund der sinnlichen Erkenntnis und des

 Vgl. Quästionen, q. 1 (ed. Hoffmann, 125).


117
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§ 16 Hypothetische Gewissheit 187

durch sich bekannten Satzes ‚Gott bzw. die erste Ursache tut nichts vergeblich und
auf übernatürliche Weise, um die Menschen in den Irrtum zu führen‘ mit Evidenz
schließen, dass solche sinnlich erfassten Dinge existieren ...“118

Die sinnliche Erkenntnis allein garantiert offensichtlich keine evidente


Erkenntnis. Immer müssen wir uns auf den Grundsatz berufen, dass Gott
uns nicht täuschen will. Dies bedeutet aber, dass wir nur über eine hy-
pothetische Gewissheit verfügen: Wenn wir bedenken, dass Gott uns nicht
täuschen will, dann können wir sicher sein, dass wir tatsächlich einen zu-
verlässigen Zugang zu Eigenschaften in der materiellen Welt haben. Dass
Gott uns nicht täuschen will, ergibt sich für Crathorn – ähnlich wie für
Thomas von Aquin – bereits aus einem adäquaten Gottesverständnis; denn
ein gütiges Wesen hat keine Täuschungsabsicht. Daher ist Crathorn letzt-
endlich kein Skeptiker. Trotzdem hat das skeptische Szenario für ihn eine
wichtige methodische Funktion. Es zeigt, dass der Anspruch auf eine abso-
lute Gewissheit fallen gelassen werden muss. Allein aufgrund der Tatsache,
dass wir über eine Fülle von Wahrnehmungszuständen verfügen, können
wir nie behaupten, dass wir tatsächlich Gegenstände in der materiellen Welt
erkennen. Noch viel weniger können wir behaupten, dass diese Gegenstände
genau jene Eigenschaften haben, die wir ihnen zuschreiben. Diese Revision
des Erkenntnisanspruchs beruht auf zwei Weichenstellungen, die Crathorn
vornimmt.
Erstens verwirft Crathorn den epistemologischen Optimismus, der
für Thomas von Aquins Theorie kennzeichnend ist. Seiner Ansicht nach
können wir nicht davon ausgehen, dass wir aufgrund eines „natürlichen
Lichtes“ dazu bestimmt sind, die Formen der Dinge aufzunehmen und die
Dinge korrekt zu erkennen. Wir können überhaupt nicht den Anspruch
erheben, Formen in uns zu haben und dadurch eine formale Identität mit
den Gegenständen in der Außenwelt herzustellen. Vielmehr müssen wir uns
damit begnügen, den Inhalt von Wahrnehmungszuständen zu beschreiben
und Vermutungen über die äußeren Ursachen dieser Zustände aufzustellen.
Diese Vermutungen können zwar wohlbegründet sein, da die Ursachen aber
von den Wirkungen distinkt sind, ist es immer denkbar, dass Gott eingreift
und anstelle der natürlichen Ursachen die Wirkungen hervorbringt.
Zweitens distanziert sich Crathorn auch von der These, dass wir zwar
über zahlreiche sinnliche oder intelligible Hilfsmittel verfügen, jedoch di-

118
  Quästionen, q. 1 (ed. Hoffmann, 126–127): „... licet viator ex sola cognitione sensitiva
non possit habere cognitionem evidentem et omnino infallibilem quod tales qualitates sensa-
tae sint extra videntem, tamen ex cognitione sensitiva et isto complexo per se noto: Deus vel
prima causa nihil agit frustra et supernaturaliter ad inducendum homines in errorem, potest
evidenter concludere tales res sensatas esse ...“ Ibid., 150: „Deus nullum effectum supernatu-
ralem producit ad verificandum mendacium vel ad inducendum multitudinem hominum in
errorem; hoc enim bonitati suae repugnaret.“
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188 Zweifel an der absoluten Gewissheit

rekt die äußeren Gegenstände erfassen. Er geht von der Annahme aus, dass
die sog. Hilfsmittel – insbesondere die sensiblen Species – selbst kognitive
Objekte sind, die unmittelbar präsent sind und erfasst werden können.
Damit legt er die Grundlage für einen Repräsentationalismus: Nur ver-
mittelt über innere repräsentierende Zustände haben wir einen Zugang zu
äußeren Gegenständen. Das bloße Erfassen der inneren Zustände gibt uns
keine Evidenz oder Gewissheit, dass ihnen tatsächlich äußere Gegenstände
entsprechen, ja dass überhaupt äußere Gegenständen existieren und als ihre
Ursachen fungieren. Eine Gewissheit können wir nur gewinnen, wenn wir
das Eingreifen einer übernatürlichen Ursache ausschließen.
Die These, dass wir nur über eine hypothetische Gewissheit verfügen,
kennzeichnet nicht nur Crathorns Erkenntnistheorie. Auch andere Autoren
des 14. Jhs., die das Eingreifen Gottes als theoretische Möglichkeit erwägen,
vertreten diese These.119 Ein besonders prominenter Verfechter ist Peter von
Ailly, der ausdrücklich zwei Arten der Evidenz und damit auch zwei Arten
der Gewissheit unterscheidet.120 Seiner Ansicht nach benötigen wir diese
Unterscheidung, um den beiden Extrempositionen zu entgehen, denen man
in erkenntnistheoretischen Debatten leicht verfallen kann. Die eine Position
ist jene der Akademiker, die behaupten, dass es überhaupt keine Evidenz
und damit auch überhaupt keine Gewissheit gibt. Die andere Extrem-
position wird von den Dogmatikern eingenommen, die gerade umgekehrt
behaupten, es gebe immer eine Evidenz und wir Menschen könnten daher
jede Wahrheit mit Gewissheit erkennen. Der Grundfehler beider Positionen
besteht Peter von Ailly zufolge darin, dass nicht differenziert wird, welche
Art von Evidenz jeweils vorliegt und welche Art von Gewissheit dadurch
möglich ist. Genau diese Differenzierung ist aber erforderlich, um die Er-
kenntnisansprüche angemessen einschätzen zu können.
Wenn wir eine Differenzierung vornehmen, so stellt Peter fest, müssen
wir festhalten, dass es in einigen Fällen eine „Evidenz schlechthin“ (evi-
dentia simpliciter) gibt, die sich durch drei Merkmale auszeichnet: (i) Es
liegt eine wahre Zustimmung vor, (ii) die Zustimmung wird ohne Furcht
gegeben und (iii) die Zustimmung wird auf natürliche Weise verursacht.121
Über diese Art von Evidenz verfügen wir, wenn wir das erste Prinzip und
analytische Aussagen erfassen. Dies kann man leicht anhand jenes Bei-

119
  Jene Autoren, die diese These im Rahmen der Theorie der intuitiven Erkenntnis dis-
kutieren, sollen in Kapitel III ausführlich erörtert werden (vgl. §§ 22–24).
120
 Er trifft diese Unterscheidung in seinem Sentenzenkommentar, der 1376/77 entstanden
ist. Vgl. zur Datierung der philosophischen Werke Chappuis / Pluta / Kaczmarek 1986. Wie
Maier 1967 in ihrer Pionierarbeit bereits gezeigt hat, schließt er an eine lebhaft geführte
Debatte an, an der sich vor ihm bereits Johannes Mirecourt, Johannes Buridan und andere
beteiligt hatten. Zum epistemologischen Kontext von Peters Diskussion vgl. Biard 1992.
121
  Quaestiones super libros Sententiarum (ed. Straßburg 1490, dr): „Evidentia absoluta sim-
pliciter potest describi quod est assensus verus sine formidine causatus naturaliter.“
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§ 16 Hypothetische Gewissheit 189

spiels veranschaulichen, das bereits Duns Scotus diskutiert hat (vgl. § 9).
Wenn wir die Aussage ‚Ein Ganzes ist größer als jeder seiner Teile‘ erfassen
und ihr zustimmen, so tun wir dies mit absoluter, durch nichts zu beein-
trächtigender Evidenz, denn wir behaupten etwas, was immer und überall
wahr ist; wir geben unsere Zustimmung ohne zu zaudern oder uns sonst
irgendwie zu fürchten, dass wir einem Irrtum verfallen könnten; und wir
sind allein durch das Erfassen der Termini in der Lage, unsere Zustim-
mung zu geben. Selbst wenn Gott intervenierte und uns vorgaukelte, dass
etwas Ganzes vor uns liegt, obwohl kein materieller Gegenstand präsent
ist, würden wir immer noch über eine absolute Evidenz verfügen. Diese
Evidenz liegt nämlich darin begründet, dass wir eine Aussage erfassen,
deren Wahrheit durch die Bedeutung ihrer Termini gegeben ist, unabhän-
gig von der Existenz eines materiellen Gegenstandes.
Peter behauptet, dass darüber hinaus auch Aussagen über die eigenen
Akte mit absoluter Evidenz erfasst werden. Mit Verweis auf Augustinus
stellt er fest, dass etwa die Aussagen ‚Wir leben‘ oder ‚Wir fürchten uns‘ ab-
solut evident sind. Streng genommen müssten diese Aussagen in der ersten
Person Singular formuliert werden, denn nur ‚Ich fürchte mich‘ ist absolut
evident, solange ich mich fürchte – ganz einfach, weil mir mein eigener
mentaler Zustand unmittelbar präsent ist, und zwar unabhängig von der
Existenz materieller Gegenstände, ja sogar unabhängig von der Existenz
eines Gegenstandes, der mir Furcht einflößen könnte. Auch hier gilt wieder:
Selbst wenn Gott intervenierte und mir direkt die Furcht eingäbe, wäre die
Tatsache, dass ich mich fürchte, absolut evident. Daher kann ich auch die
Aussage ‚Ich fürchte mich‘ mit absoluter Evidenz erfassen.
Davon zu unterscheiden ist die „relative und bedingte Evidenz“ (eviden-
tia secundum quid et condicionata). Sie betrifft Aussagen über materielle
Gegenstände, denn das bloße Vorliegen eines Wahrnehmungszustandes, der
einen Gegenstand präsentiert, garantiert nicht, dass tatsächlich ein Gegen-
stand vorhanden ist. Peter betont:
„... was auch immer Gott mit einer oder mit mehreren sekundären Ursachen be-
wirken kann, kann er durch sich selbst bewirken. Und wenn zwei beliebige Dinge
gegeben sind, von denen das eine nicht Teil des anderen ist, kann Gott das eine
bewahren, wenn das andere zerstört ist. Folglich könnte er eine Wahrnehmung in
der Seele aufrechterhalten, während ein beliebiger äußerer Gegenstand zerstört ist.
Und so wird das Beweisziel erreicht.“122

122
  Quaestiones super libros Sententiarum (ed. Straßburg 1490, dv): „... quicquid deus po-
test facere mediante causa secunda vel mediantibus causis secundis potest per seipsum. Et
quibuscunque duabus rebus datis quarum una non est pars alterius, deus potest unam illarum
conservare alia destructa. Et per consequens destructo quolibet sensibili extrinseco posset
conservare in anima sensationem et habetur propositum.“
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190 Zweifel an der absoluten Gewissheit

Gott könnte also jetzt gerade die Wahrnehmung von Schnee in mir auf-
rechterhalten, gleichzeitig aber den Schnee auf der Wiese zerstören.
Er könnte dies so perfekt tun, dass ich dies nicht bemerken würde und
glaubte, ich würde tatsächlich Schnee auf der Wiese sehen. Die Begrün-
dung, die Peter für diese These gibt, ist genau gleich wie jene, die sich
bereits bei Crathorn findet: Der Wahrnehmungszustand ist eine vom
äußeren Gegenstand distinkte Entität, und wenn zwei Entitäten distinkt
sind, können sie jederzeit voneinander getrennt werden. Auch Peter ver-
wirft somit die These, dass eine Relation der formalen Identität zwischen
dem Wahrnehmungszustand (oder genauer: dem Inhalt dieses Zustandes)
und dem äußeren Gegenstand besteht. Seiner Ansicht nach wäre es reine
Spekulation anzunehmen, dass eine Form aus einem Gegenstand abgelöst
und irgendwie in den Geist des Erkennenden aufgenommen wird. Ebenso
spekulativ wäre es zu behaupten, dass dieselbe Form im materiellen Ge-
genstand und im immateriellen Geist existiert. Wenn es überhaupt eine
Relation zwischen dem materiellen Gegenstand und dem Erkennenden
gibt, so ist dies nur eine Kausalrelation: Der Gegenstand wirkt auf die
Sinne ein und löst einen Wahrnehmungszustand aus. Aber wie jede andere
sekundäre Ursache kann auch diese durch die primäre Ursache, d.h. durch
Gott, ersetzt werden.
Heißt dies, dass wir nie wissen können, ob ein Wahrnehmungszustand
tatsächlich von einem materiellen Gegenstand verursacht wurde? Und hat
dies zur Folge, dass wir jeden Erkenntnisanspruch mit Bezug auf äußere
Gegenstände fallen lassen müssen? Genau um diesen Schluss zu vermeiden,
führt Peter den Begriff der bedingten Evidenz ein. Er behauptet, dass wir
nach wie vor einen Erkenntnisanspruch aufrechterhalten können, diesen
aber qualifizieren müssen. Das heißt: Wenn wir voraussetzen, dass Gott
nicht in den normalen Weltverlauf eingreift und kein Wunder bewirkt,
dann können wir jeden vernünftigen Zweifel ausschließen und sicher sein,
dass sich unsere Wahrnehmungszustände auf Gegenstände beziehen, die
tatsächlich existieren.123 Mit dem Verweis auf diese Bedingung versucht
Peter, die beiden bereits genannten Extrempositionen zu vermeiden und
einen Mittelweg einzuschlagen. Zum einen will er einer radikal skeptischen
Position entgehen, der zufolge wir über keine Evidenz verfügen und folglich
auf jeden Erkenntnisanspruch verzichten müssen. Zum anderen distanziert
er sich aber auch von einer dogmatischen Position, die das mögliche Ein-
greifen Gottes einfach ausblendet und behauptet, dass wir dank unserer
123
  Quaestiones super libros Sententiarum (ed. Straßburg 1490, dv): „... loquendo de eviden-
tia secundum quid seu condicionata vel ex suppositione scilicet stante dei influentia generali et
cursu nature solito nulloque facto miraculo talia possunt esse nobis sufficienter evidentia sic
quod de ipsis non habemus rationabiliter dubitare.“
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§ 16 Hypothetische Gewissheit 191

Wahrnehmungszustände immer und uneingeschränkt über eine evidente


Erkenntnis äußerer Gegenstände verfügen.
Diese Mittelposition ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zu-
nächst verdeutlicht sie, dass die Frage, ob denn sichere Erkenntnis möglich
sei, nicht pauschal beantwortet werden kann. Sie ist vielmehr mit Bezug auf
verschiedene Gegenstandsbereiche zu präzisieren. So muss man – modern
gesprochen – genau zwischen analytischen und synthetischen Aussagen
unterscheiden. Mit Bezug auf analytische Aussagen gibt es nämlich eine
absolute Evidenz, wie Peter zeigt, und damit auch eine absolut sichere
Erkenntnis, die durch nichts angefochten werden kann, nicht einmal durch
die Allmachtshypothese. Hinsichtlich synthetischer Aussagen hingegen
kann diese Hypothese stets vorgebracht werden. Daher muss für diesen Be-
reich – aber nur für diesen Bereich – der Erkenntnisanspruch eingeschränkt
werden. Methodisch gesehen ist daran bemerkenswert, dass Peter gegen-
über dem Skeptiker nicht zu zeigen versucht, dass Erkenntnis schlechthin
möglich ist. Er wählt vielmehr eine Methode der Differenzierung, indem
er das Feld möglicher Erkenntnis in verschiedene Bereiche aufteilt und für
jeden Bereich zeigt, welche Art von Erkenntnis erworben werden kann.
Peters Position ist aber auch bemerkenswert, weil sie verdeutlicht, dass es
irreführend wäre, von einer skeptischen Krise im 14. Jh. zu sprechen. Peter ist
keineswegs skeptisch bezüglich der Leistungsfähigkeit der kognitiven Ver-
mögen, ebenso wenig bezüglich der These, dass es im Prinzip eine Kausal-
relation zwischen den äußeren Gegenständen und den kognitiven Vermögen
gibt und dass diese Vermögen im Prinzip korrekte Wahrnehmungszustände
hervorbringen. Kurzum: Die Zuverlässigkeit natürlicher Erkenntnispro-
zesse wird von ihm nicht infrage gestellt. Seine Argumentation bezieht sich
nur auf die Möglichkeit übernatürlicher Prozesse, die natürliche Prozesse
nicht vollständig außer Kraft setzen, sondern nur punktuell an ihre Stelle
treten.
Schließlich ist Peters Mittelposition zwischen radikalem Skeptizismus
und Dogmatismus auch bemerkenswert, weil sie auf anschauliche Weise
zeigt, dass es nicht nur jene antiskeptische Strategie gibt, die sich prominen-
terweise bei Descartes findet. Man kann den Skeptiker nicht nur dadurch
bekämpfen, dass man versucht, eine unbezweifelbare Grundlage zu schaffen,
auf der ein neues Wissenssystem errichtet wird. Anstelle dieser fundamen-
talistischen Strategie kann man auch eine Differenzierungsstrategie wählen:
Erkenntnisansprüche können eingeschränkt und mit Bedingungen versehen
werden. Bedingt evidente Erkenntnis zu haben, heißt aber noch lange nicht,
keine evidente Erkenntnis zu haben.

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192 Zweifel an der absoluten Gewissheit

§ 17 Ein Gott, der lügt?

Bislang ist deutlich geworden, dass die Hypothese von einem allmächtigen,
nicht an die natürliche Ordnung gebundenen Gott im 14. Jh. zunehmend
an Bedeutung gewann. Sie wurde jedoch nicht eingesetzt, um Erkennt-
nisansprüche vollständig zurückzuweisen, sondern höchstens, um sie ein-
zuschränken oder mit Bedingungen zu versehen. Und selbst wenn Gott
eingreift, so wurde angenommen, täuscht oder belügt er die Menschen
nicht. Ein gütiger Gott kann nämlich gar keine Täuschungsabsicht hegen.
Daher kann zwar theoretisch die Möglichkeit eines manipulierenden Gottes
erwogen werden, praktisch gesehen spielt sie aber keine Rolle. Wir können
uns darauf verlassen, dass der gütige Gott seine Macht, mit der er in die
Erkenntnisprozesse eingreifen kann, nicht ausübt, um uns zu täuschen.
Doch können wir tatsächlich sicher sein, dass Gott uns nicht täuscht?
Könnte es nicht sein, dass er uns trotz seiner Güte falsche Meinungen ein-
gibt? Oder könnte es nicht sogar sein, dass er uns wegen seiner Güte falsche
Meinungen eingibt, nämlich weil er uns in seiner weisen Voraussicht gewisse
Wahrheiten ersparen will? Verschiedene Philosophen und Theologen des
14. Jhs. widmeten sich diesen Fragen.124 Ein Autor, der sie besonders einge-
hend erörterte, war Gregor von Rimini. Er kommentierte im Studienjahr
1343–1344 an der Pariser Universität die Sentenzen und setzte wie vor ihm
Rodington und Crathorn und nach ihm Peter von Ailly bei der These an, dass
der Wahrnehmungszustand einer Person und der äußere Gegenstand zwei
distinkte Entitäten sind. Gott könnte jederzeit den Zustand hervorbringen,
ohne dass ein äußerer Gegenstand existiert, denn wie in jeder Kausalrelation
könnte Gott auch hier eine Entität ohne die Mithilfe einer anderen Entität
hervorbringen.125 Gregor ist sich bewusst, dass diese These ein Problem auf-
wirft. Wenn Gott in mir einen Wahrnehmungszustand verursacht, mit dem
ich eine weiße Wand sehe, ohne dass es tatsächlich eine weiße Wand gibt,
urteile ich entweder, dass die Wand existiert, oder ich urteile, dass sie nicht
existiert. Im ersten Fall bilde ich ein falsches Urteil, das durch die göttliche
Intervention verursacht wurde; Gott hat mich also getäuscht. Im zweiten
Fall bilde ich zwar ein wahres Urteil, aber es ist seltsamerweise durch einen
Wahrnehmungszustand ausgelöst worden, der normalerweise ein positives
124
 Diese Diskussionen begannen 1320–1330 in Oxford (bei Robert Holkot, Thomas Brad-
wardine u.a.), setzten sich danach in Paris fort (bei Johannes Mirecourt, Pierre de Ceffons,
Gregor von Rimini, Hugolin von Orvieto, Peter von Ailly u.a.) und dominierten die Debat-
ten bis weit in das 15. Jh. hinein. Vgl. einen Überblick in Gregory 1974 und Genest 1984. Zur
Verknüpfung dieser Debatten mit Diskussionen über die futura contingentia, die hier nicht
analysiert werden sollen, vgl. Gelber 2004, 200–222.
125
 Vgl. Lectura super primum et secundum Sententiarum I, dist. 3, q. 1 (Bd. I, 332). Vgl. zur
Datierung die editorische Einleitung (Bd. I, XII).
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§ 17 Ein Gott, der lügt? 193

Existenzurteil zur Folge hat. Denn wenn mir in einem Wahrnehmungszu-


stand etwas präsent ist, urteile ich normalerweise, dass es wirklich existiert.
Wieso sollte in diesem speziellen Fall kein solches Urteil folgen?
Es scheint, als hätte man hier die Wahl zwischen Skylla und Charyb-
dis – wie auch immer das Urteil ausfällt, es ist in beiden Fällen unbe-
friedigend. Gregor erkennt diese Schwierigkeit und behauptet daher, dass
überhaupt kein Urteil gebildet wird, weder ein positives noch ein negatives.
Der Grund dafür liegt darin, dass im Falle des göttlichen Eingreifens „eine
Teil­ursache für ein solches Urteil fehlen würde, nämlich die Weiße selbst,
die jetzt zusammen mit der intuitiven Erkenntnis von ihr das Urteil ver-
ursacht, mit dem ich urteile, dass sie existiert.“126 Hinter dieser Aussage ver-
birgt sich eine Kritik an einer allzu simplen Urteilstheorie. Dieser Theorie
zufolge kommt ein Urteil durch folgende Kausalkette zustande:
(1) Eine äußere Ursache (materieller Gegenstand oder Gott) verursacht
einen Wahrnehmungszustand.
(2) Der Wahrnehmungszustand allein verursacht ein Existenzurteil.
Gemäß dieser Auffassung kommt immer ein Existenzurteil zustande, wenn
ein Wahrnehmungszustand vorliegt, ganz gleichgültig wie dieser Zustand
entstanden ist. Das heißt natürlich, dass durch das göttliche Eingreifen ein
falsches Urteil entstehen kann und der Urteilende nicht merkt, dass er ein
falsches Urteil fällt. Die einzige Grundlage für sein Urteil ist ja der Wahr-
nehmungszustand, der auch von Gott verursacht sein kann. Demgegenüber
vertritt Gregor die Auffassung, dass die Kausalkette folgendermaßen zu
verstehen ist:
(1) Eine äußere Ursache (materieller Gegenstand oder Gott) verursacht
einen Wahrnehmungszustand.
(2’) Der Wahrnehmungszustand und der materielle Gegenstand verursachen
zusammen ein Existenzurteil.
Dieser Auffassung zufolge kommt nur dann ein Existenzurteil zustande,
wenn tatsächlich ein materieller Gegenstand vorhanden ist. Das göttliche
Eingreifen kann also nur einen Wahrnehmungszustand hervorbringen,
nicht aber ein Urteil. Daher ist ausgeschlossen, dass jemand bloß aufgrund
eines Wahrnehmungszustandes urteilt, eine weiße Wand sei vorhanden, ob-
wohl keine reale Wand präsent ist.
Diese Erklärung erscheint auf den ersten Blick eine elegante Lösung für
das Täuschungsproblem zu sein: Gott kann aufgrund seiner Allmacht zwar
126
  Lectura I, dist. 3, q. 1 (Bd. I, 334): „Nam deficeret una causa partialis talis iudicii, scilicet
ipsa albedo, quae nunc simul cum sui notitia intuitiva concausat iudicium quo iudico ipsam
existere.“
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194 Zweifel an der absoluten Gewissheit

in jeden Wahrnehmungsprozess eingreifen, aber er kann kein falsches Urteil


hervorbringen und damit auch keinen Menschen täuschen. Bei näherer Be-
trachtung zeigt sich aber, dass diese Lösung wieder neue Probleme aufwirft.
Das wichtigste Problem betrifft einmal mehr die Allmachtshypothese.
Wenn angenommen wird, dass Gott jede Entität hervorbringen kann, die
von einer anderen Entität distinkt ist, muss man zugestehen, dass Gott auch
ein Existenzurteil hervorbringen kann. Ein solches Urteil ist nämlich nichts
anderes als ein Urteilsakt in einer Person, und dieser Akt ist sowohl vom
Wahrnehmungszustand als auch vom äußeren Gegenstand verschieden.
Muss man somit nicht einräumen, dass nur in natürlichen Prozessen der
Wahrnehmungszustand und der materielle Gegenstand zusammen ein
Existenzurteil verursachen, in übernatürlichen Prozessen hingegen diese
beiden Teilursachen durch Gott als einzige Ursache ersetzt werden? Dies
würde natürlich bedeuten, dass Gott in mir direkt das Urteil ‚Hier ist eine
weiße Wand‘ hervorbringen könnte, ohne dass eine Wand vorhanden ist
und ohne dass ich über eine Wahrnehmung von einer Wand verfüge. Und
„dann würde Gott mich direkt und durch sich selbst täuschen“, wie Gregor
sogleich feststellt.127
Diese Konsequenz verdeutlicht, dass hier eine Spannung zwischen zwei
theoretischen Annahmen besteht. Einerseits erscheint es aufgrund des Prin-
zips, dass Gott als erste Ursache jede sekundäre Ursache ersetzen kann, un-
ausweichlich, dass Gott auch ein falsches Urteil verursachen kann, ohne auf
die Mithilfe eines äußeren Gegenstandes oder eines Wahrnehmungszustan-
des angewiesen zu sein. Andererseits erscheint es aufgrund des Prinzips,
dass Gott als gütiges Wesen nichts Schlechtes bewirken kann, ebenso unaus-
weichlich, dass er kein falsches Urteil verursachen kann. Eine Möglichkeit,
diese Spannung aufzulösen, besteht darin, dass man zwar zugesteht, dass
Gott ein falsches Urteil verursachen kann, gleichzeitig aber betont, dass er
dies nicht mit schlechter Absicht tut und somit nicht von seiner eigenen Güte
abweicht. Das göttliche Handeln wäre dann wie jenes eines gütigen Vaters
zu verstehen, der seinen Kindern zu ihrem eigenen Wohle gelegentlich etwas
Falsches sagt und sie dadurch vor schlechten Handlungen bewahrt. Wie sich
in § 14 gezeigt hat, wählt Johannes Rodington diesen Erklärungsansatz. Er
betont ja, dass Gott wie ein Possenreißer den Menschen zu falschen Urteilen
veranlassen kann. Auch Rodingtons Zeitgenosse Robert Holkot wählt die-
sen Ansatz. Er betont, Gott könne die Menschen in der Tat täuschen, ohne
damit etwas Schlechtes zu beabsichtigen. Im allgemeinen und trotzdem
korrekten Sinn heiße ‚täuschen‘ nämlich nichts anderes als ‚die Ursache für
einen Fehler von jemandem sein‘. Nur im engeren Sinn sei das Täuschen mit

127
  Lectura I, dist. 3, q. 1 (Bd. I, 336): „... tunc deus per se et directe me falleret.“
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§ 17 Ein Gott, der lügt? 195

einer schlechten Absicht verbunden, sodass man die Spezifizierungen ‚auf


ungerechte Weise‘ oder ‚mit schlechter Absicht‘ hinzufügen müsse.128
Gregor ist mit diesem Erklärungsansatz vertraut, doch er schließt sich
ihm nicht an. Warum nicht? Der Hauptgrund liegt wohl darin, dass selbst
dann, wenn keine schlechte Absicht vorliegt, ein falsches Urteil erzeugt
wird, und zwar ohne dass der Urteilende imstande ist festzustellen, dass es
sich um ein falsches Urteil handelt. Er verfügt über kein Kriterium, das ihm
erlauben würde, das falsche Urteil von einem wahren zu unterscheiden. Dies
heißt aber, dass er sich mangels eines sicheren Kriteriums letztendlich eines
Urteils enthalten muss. Gregor zieht zwar nicht explizit diesen Schluss, aber
es ist leicht ersichtlich, dass man ihn ziehen kann. Die Argumentation lautet
dann folgendermaßen:
(1) Wenn der materielle Gegenstand x präsent ist, bilde ich das wahre Urteil
‚x existiert‘.
(2) Wenn der materielle Gegenstand x nicht präsent ist, aber Gott eingreift,
bilde ich das falsche Urteil ‚x existiert‘.
(3) Ich verfüge über kein Kriterium, das mir erlauben würde, die erste
Situation von der zweiten zu unterscheiden.
(4) Also kann ich nie beurteilen, ob ich ein wahres oder ein falsches Urteil
bilde.
(5) Also kann ich mich nie auf mein Urteil verlassen und sollte mich besser
eines Urteils enthalten.
Dieser Schluss ist freilich verheerend, zumindest für einen aristotelisch
geprägten Autor wie Gregor von Rimini, der – ganz im Gegensatz zu den
pyrrhonischen Skeptikern – daran festhalten will, dass wir Urteile über die
materielle Welt bilden können und sogar bilden müssen, wenn wir Wissen
von dieser Welt erwerben wollen. Aus diesem Grund kann Gregor nicht der
These zustimmen, dass Gott selbst ohne schlechte Absicht falsche Urteile in
uns hervorbringen könnte. Wie kann er dann dem Einwand begegnen, dass
Gott im Prinzip wie jede andere distinkte Entität auch ein falsches Urteil
hervorbringen kann?
Gregor begegnet diesem Einwand, indem er genau analysiert, in welchem

128
 Robert Holkot, In quatuor libros Sententiarum quaestiones, lib. III, q. 1 (ed. Lyon 1518,
CCC, responsio): „Communiter et tamen proprie loquendo decipere vel fallere non est aliud
quam esse causam erroris alicuius, et sic capio ,fallere‘ et ,decipere‘ in articulo pertractrato.
Secundo modo capiuntur tales termini stricte et improprie, ut in diffinitione exprimente quid
nominis includuntur talia syncathegoreumata ,iniuste‘ vel ,malitiose‘ sive ,vitiose‘ vel ,deordi-
nate‘ vel aliquid equivalens. Et sic fallere importat causeare iniuste vel deordinate errorem.“
In den von Streveler & Tachau versammelten Quaestionen aus dem Sentenzenkommentar und
den Quodlibeta trifft Holkot ebenfalls diese Unterscheidung; vgl. Streveler & Tachau 1995,
156, sowie die in der Einleitung (ibid., 47–55) zitierten Stellen.
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196 Zweifel an der absoluten Gewissheit

Sinn Gott einem Menschen etwas Falsches sagen oder in ihm ein falsches
Urteil hervorbringen kann. Dafür greift er auf die Theorie der Lüge zurück,
die seit Augustinus ein fester Bestandteil der sprachphilosophischen Debat-
ten im Mittelalter war.129 Will man beurteilen, ob jemand – Gott oder ein
Mensch – lügt, muss man erstens prüfen, ob er überhaupt die Absicht hat,
mit seiner Aussage etwas anders darzustellen, als es ist. Man könnte dies die
Intentionsbedingung nennen. Es gilt nämlich, dass „man von niemandem
im strengen und eigentlichen Sinn behauptet, dass er etwas Falsches sagt,
wenn er mit seiner Aussage nicht beabsichtigt, das zu bezeichnen, was
falsch ist...“130 Dies ist eine entscheidende Bedingung, weil jemand mit ein
und derselben Aussage verschiedene Absichten verfolgen kann. So kann
jemand etwas ironisch äußern, d.h. derart, dass er im wörtlichen Sinn zwar
etwas Falsches sagt, jedoch auf eine übertragene Bedeutung abzielt und
daher nicht etwas Falsches behaupten will. Gregor stellt fest, dass auch Gott
etwas ironisch sagen kann, und gibt dafür ein anschauliches Beispiel. Wenn
Gott sagt: „Adam ist gleichsam eins mit uns“, so beabsichtigt er nicht, zu
behaupten, dass Adam tatsächlich mit Gott eins ist. Er äußert dies vielmehr
ironisch, um sich über Adam lustig zu machen, der sich auf die gleiche Stufe
stellt wie Gott. Da Gott gar nicht die Absicht hat, etwas Falsches zu sagen,
kann man auch nicht behaupten, er lüge.
Selbst wenn eine Aussage nicht in ironischer Absicht erfolgt, gilt es noch
zu prüfen, ob sie auch einen assertorischen Charakter hat, d.h. ob auch be-
hauptet wird, dass das, was gesagt wird, tatsächlich der Fall ist. Man könnte
dies die Behauptungsbedingung nennen, die Gregor ebenfalls mit einem an-
schaulichen Beispiel illustriert.131 Jemand kann zu sich selber sagen: „Gott
existiert nicht“, ohne damit gleich zu behaupten, dass Gott nicht existiert.
Er kann bloß den Gedanken erwägen, ohne ihm zuzustimmen. Dies ist auch
Gott möglich, d.h. auch er kann für sich selber Gedanken erwägen oder
den Menschen Gedanken eingeben, ohne damit etwas zu behaupten. Daher
kann Gott einem Menschen durchaus einen falschen Gedanken eingeben,
ohne ihn damit gleich zu täuschen oder zu belügen. Konkret heißt dies:
Gott könnte jetzt in mir den Gedanken an delikate Schokolade erzeugen.
Solange er in mir nicht auch die Behauptung erzeugt, dass Schokolade vor
mir liegt, hat er mich nicht getäuscht. Er hat mich bloß dazu gebracht, dass
ich einen Gedanken erwäge.
Die Behauptungsbedingung verdeutlicht, dass Gregor sorgfältig zwischen

129
 Vgl. Lectura I, dist. 42–44, q. 2 (Bd. III, 390–391); zum Hintergrund dieser Analyse vgl.
Rosier-Catach 2004 298–304.
130
  Lectura I, dist. 42–44, q. 2 (Bd. III, 390): „... nullus recte et proprie dicitur dicere falsum,
nisi intendat per suum dictum significare id, quod est falsum...“
131
 Vgl. Lectura I, dist. 42–44, q. 2 (Bd. III, 391).
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§ 17 Ein Gott, der lügt? 197

dem bloßen Erfassen eines Gedankens und dem Behaupten unterscheidet.


Dies ist nun für seine Beantwortung der Frage, ob Gott einen Menschen
belügen kann, von zentraler Bedeutung. Sie lautet: Wenn unter einer Lüge
eine falsche Aussage verstanden wird, die nicht in ironischer Absicht und
behauptend geäußert wird, dann kann Gott einen Menschen nicht belügen.
Vor allem kann er nicht bewirken, dass ein Mensch der Aussage, die ihm
mitgeteilt wird, oder dem Gedanken, der ihm eingegeben wird, auch zu-
stimmt.132 Gott kann also nicht bewirken, dass ich der Aussage ‚Hier liegt
Schokolade‘ zustimme, wenn keine Schokolade vorhanden ist. Er kann mich
nur dazu bringen, den Gedanken zu erwägen, ob hier Schokolade vorhanden
ist. Gregor vertritt sogar die These, dass Gott nicht einmal kraft der abso-
luten Macht eine Zustimmung zu einer falschen Aussage bewirken kann.133
Würde er nämlich eine solche Zustimmung hervorbringen, würde er nicht
nur seiner eigenen Güte widersprechen, sondern auch jedem Vertrauen in
seine Handlungen das Fundament entziehen. Wir könnten, ja müssten immer
daran zweifeln, dass das, was er uns mitteilt, wahr ist. Gregor betont:
„... wenn Gott etwas Falsches behaupten könnte, würde daraus folgen, dass jede
beliebige seiner Aussagen, die nicht auf evidente Weise wahr ist, auf rationale Weise
der Falschheit verdächtigt werden könnte. Folglich könnten wir an keine solche
Aussage glauben, ohne zu zögern und zu zweifeln.“134

Mit dieser Feststellung versucht Gregor die Annahme, dass Gott uns täu-
schen und belügen könnte, ad absurdum zu führen. Würden wir diese An-
nahme ernst nehmen, müssten wir Gott immer misstrauen. Und das heißt
natürlich, dass wir die Güte Gottes immer infrage stellen müssten. Genau
um dieser Konsequenz zu entgehen, betont Gregor, dass wir die Täu-
schungshypothese ausschließen müssen.
Genau wie Gregor lehnt auch Peter von Ailly in seinem Kommentar zu
den Sentenzen die Möglichkeit einer göttlichen Täuschung ab. Im Gegen-
satz zu Gregor begründet er diese These aber nicht damit, dass Gott dem
Menschen höchstens in ironischer oder nicht-assertorischer Weise etwas
Falsches mitteilen kann. Wenn Gott in seiner Allmacht unbegrenzt ist,
kann er durchaus in nicht-ironischer Weise etwas behaupten, das falsch ist,
und dies einem Menschen mitteilen. Daher stellt Peter zunächst fest, dass
Gott im Prinzip eine Täuschung verursachen kann. Doch er fügt sogleich

132
  Lectura I, dist. 42–44, q. 2 (Bd. III, 391): „Est ergo prima conclusio quod deus in sensu
dato de dicere falsum non potest alicui dicere falsum volens quid is, cui dicit, assentiat illi
dicto.“
133
 Vgl. Lectura I, dist. 42–44, q. 2 (Bd. III, 392 und 395).
134
  Lectura I, dist. 42, q. 2, additio 158 (Bd. III, 398): „... si deus posset asserere falsum,
sequeretur quod quodlibet dictum eius non evidenter verum rationabiliter posset esse de falsi-
tate suspectum, et per consequens nulli tali incunctanter et indubitanter credere teneremus.“
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198 Zweifel an der absoluten Gewissheit

hinzu, dass er nicht allein eine Täuschung hervorbringen kann. Vielmehr


braucht er dazu die Mitwirkung des jeweiligen Menschen, der seine Zu-
stimmung zu der Täuschung geben muss.135 Diese auf den ersten Blick ver-
wirrende These mag durch ein modernes Beispiel veranschaulicht werden.
Angenommen, Gott erzeugt in mir die Meinung ‚Ein rosaroter Elefant
fliegt durchs Zimmer‘, und zwar nicht in ironischer Weise. Nun kann er in
mir zwar diese Meinung erzeugen, aber er kann nicht bewirken, dass ich ihr
auch zustimme. Vielmehr muss ich selber den Akt der Zustimmung voll-
ziehen. Erst wenn ich dies tue, liegt eine Täuschung vor, denn erst dann bin
ich von etwas überzeugt, was nicht der Fall ist.
Für Peter ist es entscheidend, dass selbst Gott nicht den Akt der Zu-
stimmung erzeugen kann. Jeder Mensch ist trotz der göttlichen Allmacht
ein autonomes Wesen, das selbst entscheiden kann, welcher Meinung es zu-
stimmen will und welcher nicht. Folglich kann ein Mensch stets eine von
Gott eingeflößte Meinung ablehnen. Dies heißt natürlich, dass letztendlich
der jeweilige Mensch für die Täuschung verantwortlich ist. Er täuscht sich
nämlich genau dann, wenn er die (wie auch immer erzeugte) Meinung nicht
sorgfältig prüft und seine Zustimmung überstürzt oder unkritisch gibt.
Kurzum: Da der Mensch in seinen Akten der Zustimmung autonom ist, ist
er auch für die Zustimmung zu falschen Meinungen haftbar.
Diese Argumentation verdeutlicht, dass Peter von Ailly ebenso wenig wie
Gregor von Rimini radikale skeptische Konsequenzen aus der Allmachts-
lehre zieht. Beide erwägen zwar die Möglichkeit, dass Gott einem Menschen
falsche Meinungen eingeben kann, aber beide bestreiten, dass Gott dadurch
einen Menschen bereits betrügt oder täuscht. Der Grund für dieses Zurück-
schrecken vor radikalen Konsequenzen liegt genau wie bei Thomas von
Aquin in einem fundamentalen begrifflichen Problem. Würde man nämlich
zugestehen, dass Gott einem Menschen tatsächlich falsche Meinungen ein-
gibt und sogar bewirkt, dass ein Mensch diesen Meinungen auch zustimmt,
würde man von einem uneingeschränkt gütigen Gott sagen, er vollbringe
eine schlechte Tat. Und dann müsste man die beiden inkompatiblen Be-
griffe ‚gütig‘ und ‚schlecht handelnd‘ von ein und demselben Wesen aus-
sagen – Gott wäre als etwas begrifflich Inkonsistentes beschrieben. Genau
um diese Konsequenz, die unweigerlich zu einer Auflösung des Gottes-
begriffs führen würde, zu vermeiden, sehen Gregor und Peter davon ab,
aus der Allmachtslehre eine Täuscherhypothese zu konstruieren. Verkürzt

135
  Quaestiones super libros sententiarum I, q. 12 (ed. Straßburg 1490, GG): „Secunda pro-
positio est quod deus non potest se solo causare deceptionem vel errorem in mente rationalis
creature. [...] Cum igitur quelibet deceptio sit quidam assensus, sequitur quod licet deus pos-
sit illam rem se solo causare in mente rationalis creature, non potest facere quod sit ei error vel
deceptio ipsa non concurrente etc.“

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11:28

§ 18 Schlussfolgerungen 199

ausgedrückt könnte man sagen: Durch die Berufung auf die Allmachtslehre
legen sie zwar skeptisches Potenzial frei, doch der größere theologische
Rahmen verhindert, dass sie dieses Potenzial ausschöpfen.

§ 18 Schlussfolgerungen

Wie zu Beginn dieses Kapitels festgehalten wurde, ist es in gegenwärtigen


erkenntnistheoretischen Debatten nicht nur umstritten, wie Wissen erwor-
ben werden kann. Ebenso strittig ist auch die Frage, ob überhaupt Wissen
von einer materiellen Welt möglich ist. Die Ausführungen zu Thomas von
Aquin und zu einer Reihe von Autoren des 13. und 14. Jhs. haben gezeigt,
dass diese Frage bereits im Mittelalter kontrovers diskutiert wurde. Genau
wie in den gegenwärtigen Debatten bildete auch damals die Formulierung
skeptischer Hypothesen den Ausgangspunkt für Diskussionen darüber, ob
wir mithilfe kognitiver Prozesse überhaupt einen zuverlässigen Zugriff auf
Gegenstände in der materiellen Welt haben und ob wir auf dieser Grund-
lage ein sicheres Wissen erwerben können. Im Gegensatz zu heutigen
Philosophen bedienten sich die mittelalterlichen Autoren aber nicht rein
fiktiver Szenarien, sondern sie verwiesen auf das mögliche Eingreifen eines
trügerischen Dämons oder des allmächtigen Gottes und beriefen sich damit
auf Szenarien, die in der theologischen Tradition fest verankert waren.
Dämonen und Gott waren ja Bestandteil des natürlichen Weltbildes und
mussten daher auch in epistemologischen Debatten berücksichtigt werden.
Wie sich gezeigt hat, zog allerdings kein mittelalterlicher Autor den
radikalen Schluss, dass angesichts von Täuschungsszenarien jeder Wissens-
und Erkenntnisanspruch aufgegeben werden muss. Trotzdem besaßen diese
Szenarien eine zentrale Bedeutung. Sie wurden nämlich in methodischer
Hinsicht eingesetzt, um zu prüfen, welche Erkenntnisansprüche erhoben
werden können und wie absolute Ansprüche gegebenenfalls eingeschränkt
oder mit Bedingungen versehen werden müssen. Zudem dienten sie einer
Untersuchung der Frage, in welchen Bereichen Täuschungen überhaupt
denkbar sind und welche Bereiche gleichsam immun sind gegenüber den
Übergriffen eines trügerischen Wesens. Kurz gesagt: Es ging um eine Dif-
ferenzierung und bessere Begründung der Erkenntnisansprüche, nicht um
eine vollständige Infragestellung von Erkenntnis.
Die entscheidende Frage lautet natürlich, warum die hier diskutierten
Autoren in den skeptischen Hypothesen keine radikale Bedrohung sahen.
Warum waren sie der Auffassung, dass wir uns trotz der Existenz eines
trügerischen Dämons oder eines allmächtigen Gottes im Prinzip auf unsere
Erkenntnisvermögen verlassen können? Blickt man auf Thomas von Aquin,
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200 Zweifel an der absoluten Gewissheit

scheint es eine einfache Antwort auf diese Frage zu geben. Das Dämon-Sze-
nario stellt für ihn keine radikale Bedrohung dar, weil der Dämon von vorn-
herein als ein Wesen bestimmt wird, das nur die Sinne manipulieren kann,
nicht aber den Intellekt. Und selbst wenn er in die Sinne eingreift, kann er
nur vorhandene Vorstellungsbilder manipulieren, aber nicht vollständig
neue Vorstellungsbilder erzeugen. Somit kann selbst ein Dämon nur eine
lokale Täuschung bewirken, aber er kann uns nicht global täuschen, weil er
nicht die natürliche Relation zur Außenwelt zunichte machen kann. Auch
in der Annahme eines allmächtigen Gottes sieht Thomas keine radikale Be-
drohung. Gott hat sich nämlich für eine bestimmte Ordnung entschieden,
in die er nicht willkürlich eingreift, und er kann aufgrund seiner Güte gar
keine Täuschungsabsicht hegen.
Betrachtet man Thomas‘ Auseinandersetzung mit Täuschungsszenarien
etwas genauer, zeigt sich allerdings, dass seine antiskeptische Strategie auf
tiefer liegenden theoretischen Annahmen beruht. Man könnte von drei
Formen des Optimismus sprechen, auf die sich Thomas beruft, um einen
Außenwelt-Skeptizismus abzuwehren. Erstens vertritt er einen metaphy-
sischen Optimismus, indem er davon ausgeht, dass es universale Formen
gibt, die auf verschiedene Weisen an verschiedenen Orten instantiiert sein
können. Dieser Optimismus ermöglicht es ihm, die These zu verteidigen,
dass ein und dieselbe Form im Intellekt und in einem materiellen Gegen-
stand existiert und dass wir daher in einer intelligiblen Species immer die
Form erfassen, die auch außerhalb des Intellekts vorkommt. Die Annahme,
dass wir in der mentalen Welt unserer Species gefangen sind oder dass wir
nur vermuten können, dass die Species auf materielle Gegenstände verwei-
sen, wird dadurch von Anfang an zurückgewiesen. Die Identitätsrelation
zwischen der Form im Intellekt und außerhalb des Intellekts schweißt die
mentale und die materielle Welt gleichsam zusammen. Zweitens geht Tho-
mas auch von einem epistemologischen Optimismus aus, indem er annimmt,
dass der menschliche Intellekt von Natur aus imstande ist, die Form eines
Gegenstandes korrekt zu erfassen. Wie in § 12 ausgeführt wurde, beruht
diese Annahme auf der These, dass jeder Intellekt in einer Partizipations-
relation zu Gott steht und dass daher in jedem Intellekt eine „Einprägung
der ersten Wahrheit“ vorhanden ist. Aufgrund dieser Einprägung ist der
Intellekt imstande, die jeweilige Form korrekt aus einem Vorstellungsbild
zu abstrahieren und korrekte Urteile zu bilden. Dass der Intellekt über Ur-
teile verfügt, die zwar kohärent sind, aber in keiner Verbindung zu einer
Außenwelt stehen, wird damit von vornherein ausgeschlossen. Drittens
schließlich wählt Thomas auch einen theologischen Optimismus, indem er
davon ausgeht, dass Gott aufgrund seiner Güte gar keine Täuschungsabsicht
haben kann. Im Gegenteil: Für Thomas ist Gott der Garant dafür, dass
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§ 18 Schlussfolgerungen 201

unsere kognitiven Vermögen korrekt funktionieren und uns einen zuver-


lässigen Zugang zu Gegenständen in der materiellen Welt ermöglichen. Das
Szenario eines Willkürgottes, der uns bloß eine Welt vorgaukelt, ohne dass
tatsächlich eine Außenwelt existiert, ist schon aus begrifflichen Gründen
ausgeschlossen. Es ist nämlich unmöglich, ein und dasselbe Wesen unter die
Begriffe ‚täuschend‘ und ‚gütig‘ zu fassen.
Wenn Thomas eine antiskeptische Strategie verfolgt, liegt dies somit
nicht nur an einzelnen kognitionstheoretischen Annahmen. Der Haupt-
grund liegt vielmehr im gesamten theoretischen Rahmen, der durch die
drei Formen des Optimismus abgesteckt wird. Innerhalb dieses Rahmens
gibt es keinen Platz für einen radikalen Außenwelt-Skeptizismus, ja nicht
einmal für einen Skeptizismus bezüglich der prinzipiellen Leistungsfähig-
keit unserer kognitiven Vermögen. Dies ist in zweifacher Hinsicht von Be-
deutung. Zum einen lässt sich mit Blick auf den Rahmen verstehen, warum
gewisse Probleme für Thomas nicht relevant sind. Würde etwa jemand
fragen, warum der Intellekt die Formen der Gegenstände aufnehmen kann
und warum er eine Identitätsrelation herstellen kann, würde Thomas ein-
fach auf den metaphysischen und den theologischen Rahmen verweisen.
Wenn die Gegenstände nämlich aus Form und Materie bestehen und wenn
der Intellekt von Anfang an von Gott so geschaffen ist, dass er die Formen
korrekt aufnehmen kann, ist es sinnlos zu fragen, warum er sie denn auf-
nehmen kann. Es gilt vielmehr zu untersuchen, wie er sie aufnehmen kann
und zu welcher Art von Urteilen ihn dieses Aufnehmen befähigt. E. Stump
hat zu Recht darauf hingewiesen, dass in dieser Hinsicht eine Analogie zu
gegenwärtigen kognitionswissenschaftlichen Theorien besteht.136 Denn in
diesen Theorien steht von Anfang an fest, dass es kognitive Prozesse gibt,
die biologisch verankert sind. Fraglich ist nur, welche neuronalen Mecha-
nismen für diese Prozesse erforderlich sind. Ähnlich gilt für Thomas: Es
steht von Anfang an fest, dass Formen aufgenommen werden können und
dass genau darin der Kern der Kognition besteht. Fraglich ist nur, wie das
Aufnehmen der Formen gelingt.
Der Blick auf den gesamten Rahmen ist zum anderen aber auch wichtig,
um zu verstehen, an welchen Punkten Kritiker einhaken könnten und im
Verlauf des 14. Jhs. auch tatsächlich eingehakt haben. Die antiskeptische
Strategie steht und fällt nämlich mit den metaphysischen, epistemologischen
und theologischen Voraussetzungen. Wenn andere Autoren des 13. Jhs. und
besonders Philosophen des 14. Jhs. den skeptischen Szenarien mehr Beach-
tung schenken als Thomas, liegt dies vor allem daran, dass sie seine fun-
damentalen Annahmen infrage stellen. So bezweifeln etwa Olivi und Crat-

  Vgl. Stump 2003, 276.


136
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202 Zweifel an der absoluten Gewissheit

horn, dass wir mithilfe von sensiblen und intelligiblen Species tatsächlich
dieselben Formen aufnehmen, die auch in den materiellen Gegenständen
existieren. Was erlaubt uns, hier von der zweifachen Präsenz einer Form zu
sprechen? Oder grundsätzlicher gefragt: Mit welchem Recht wird hier ein
Universalienrealismus vorausgesetzt, dem zufolge ein und dieselbe Form an
verschiedenen Orten instantiiert sein kann? Wer eine Species erfasst, kann
doch zunächst nur feststellen, dass er Zugang zu einer kognitiven Entität
hat. Ob der Inhalt dieser Entität durch eine Form festgelegt wird, die auch
in einem materiellen Gegenstand vorkommt, ist metaphysische Spekulation
und steht keineswegs als eine evidente Tatsache fest. Auch Thomas’ theo-
logischer Optimismus lässt sich bezweifeln, wie Rodingtons und Peter
von Aillys Rekurs auf Allmachtsargumente verdeutlicht. Gott ist in keiner
Weise daran gebunden, immer jene natürliche Ordnung aufrechtzuerhalten,
für die er sich einmal entschieden hat. Er kann sehr wohl punktuell in diese
Ordnung eingreifen und Erscheinungen produzieren, denen keine Gegen-
stände in der materiellen Welt entsprechen. Dies widerspricht keineswegs
seiner Güte, weil Gott ja nicht mit schlechter Absicht in die Ordnung ein-
greift. Schließlich lässt sich auch Thomas’ epistemologischer Optimismus
bezweifeln, wie Crathorns Aussage, dass wir die natürlichen Substanzen
nicht mit absoluter Evidenz erkennen können, verdeutlicht. Denn mit
welchem Recht können wir annehmen, dass tatsächlich die „ersten Wahr-
heiten“ in unserem Intellekt präsent sind und dass wir daher in der Lage
sind, die Substanzen in der materiellen Welt zu erkennen? Es kann sehr
gut sein, dass wir nur wahrnehmbare Eigenschaften erfassen und bloße
Vermutungen über die zugrunde liegenden Substanzen aufstellen können.
Diese Vermutungen können auch falsch sein, weil Substanzen ausgetauscht
werden können, ohne dass wir dies bemerken.
Diese Reaktion auf die drei Formen des Optimismus verdeutlicht, dass
der Umgang mit skeptischen Hypothesen immer vom jeweiligen theo-
retischen Rahmen geprägt ist. Ob diese Hypothesen zu einem Außenwelt-
Skeptizismus führen oder ob sie entschärft werden, hängt davon ab, in
welchem Kontext sie diskutiert werden. Von besonderer Bedeutung ist die
Berücksichtigung des Kontextes, wenn die Debatten des 14. Jhs. mit Des-
cartes’ berühmter Diskussion der skeptischen Hypothesen in der Ersten
Meditation verglichen werden. Die mittelalterlichen Autoren – etwa Ro-
dington und Peter von Ailly – gehen auf derartige Hypothesen in einem
Kontext ein, in dem es ausschließlich darum geht, den Anspruch auf abso-
lute Gewissheit aufzugeben. Ihrer Meinung nach können wir angesichts der
Hypothesen nur noch sagen: Wenn Gott die natürliche Ordnung aufrecht­
erhält und nicht anstelle der sekundären Ursachen handelt, dann können
wir sicher sein, dass unsere Erkenntniszustände von äußeren Gegenständen
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§ 18 Schlussfolgerungen 203

verursacht werden und dass sie sich auch auf diese Gegenstände beziehen.
Die absolute Gewissheit ist also durch eine hypothetische Gewissheit zu
ersetzen. Trotzdem besteht eine Gewissheit, die uns erlaubt, ein Wissen von
der materiellen Welt zu erwerben.
Ganz anders verhält es sich bei Descartes. Seine Reaktion auf die Hy-
pothese vom bösen Dämon besteht bekanntlich nicht darin, dass er nur
noch eine hypothetische Gewissheit in Anspruch nimmt. Er stellt vielmehr
jede Gewissheit bezüglich unseres Wissens von einer materiellen Welt in-
frage und zieht sich auf die Gewissheit der eigenen mentalen Zustände als
die einzige Gewissheit zurück. Es wäre daher unangemessen, in den mittel-
alterlichen Diskussionen skeptischer Szenarien nur eine Vorgeschichte des
Cartesianismus zu sehen. Die Verwendung der Täuschungshypothese bei
Rodington, Peter von Ailly u.a. unterscheidet sich in grundlegender Weise
von jener bei Descartes.137 Doch warum verwendeten die mittelalterlichen
Autoren diese Hypothese nicht, um jede Gewissheit von der Existenz einer
materiellen Welt zu bezweifeln? Mindestens zwei Gründe lassen sich an-
führen.
Der erste Grund liegt im Aristotelismus, dem die mittelalterlichen
Autoren verpflichtet waren. Dass es eine Welt mit Gegenständen aus Form
und Materie gibt, dass diese Gegenstände auf die Sinne einwirken und dass
die Sinneseindrücke Erkenntniszustände im Intellekt hervorrufen, war für
sie unstrittig. Fraglich war nur, ob diese natürliche Kausalkette punktuell
unterbrochen werden kann. Daher stellten sie nicht prinzipiell infrage, dass
durch natürliche kognitive Prozesse zuverlässige Erkenntnis gewonnen
werden kann. Mit ihrem Verweis auf die hypothetische Gewissheit stellten
sie nur infrage, dass immer und ausnahmslos natürliche Prozesse vorliegen.
Im Gegensatz dazu setzt Descartes die Täuschungshypothese und andere
skeptische Szenarien ein, um den Aristotelismus infrage zu stellen. Alle
überlieferten Meinungen – auch und vor allem die aristotelischen Meinun-
gen bezüglich der Struktur der materiellen Welt – sollen mithilfe dieser
Szenarien über Bord geworfen werden. Es soll gleichsam eine tabula rasa
geschaffen werden, um eine neue Grundlage für ein nicht-aristotelisches
Weltbild zu gewinnen.138 Aus diesem Grund stellt Descartes prinzipiell in-

137
 Dies ist gegenüber älteren Interpreten (etwa Gregory 1974) festzuhalten, die in den spät-
mittelalterlichen Debatten nach Vorläufern für Descartes’ hyperbolischen Zweifel suchten.
Wie Bermúdez 2000 zu Recht betont, verwendet Descartes zwar Elemente der spätmittel-
alterlichen Diskussion, geht aber über diese hinaus, indem er einen globalen Außenwelt-
Skeptizismus einführt.
138
  Daher behauptet Descartes am Anfang der Ersten Meditation (AT VII, 17), „einmal im
Leben“ müsse radikal gezweifelt werden, um „von den ersten Fundamenten“ an neu anzufan-
gen. Keiner der hier diskutierten mittelalterlichen Autoren wählt diese Strategie. Ihrer Meinung
nach kann man immer wieder zweifeln, aber immer nur ­punktuell.
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204 Zweifel an der absoluten Gewissheit

frage, dass es natürliche Kausalrelationen gibt, die uns mit einer Welt von
Gegenständen aus Form und Materie verbinden.
Der zweite Grund für die Differenz liegt im Erkenntnisprojekt, das
die mittelalterlichen Autoren verfolgen. Im Gegensatz zu Descartes, der
ein fundamentalistisches Projekt entwickelt und jede Erkenntnis auf eine
absolut unbezweifelbare Grundlage stellen will, verfolgen die bislang dis-
kutierten Autoren eher ein Projekt, das man in moderner Terminologie „re-
liabilistisch“ nennen könnte. Das heißt, sie versuchen zu zeigen, wie mithilfe
zuverlässiger kognitiver Prozesse, die von Natur aus stattfinden, korrekte
Erkenntnis von materiellen Gegenständen gewonnen werden kann. Sie stre-
ben also nicht danach, eine einzige, absolut unbezweifelbare Grundlage zu
finden und jede Erkenntnis auf diese Grundlage zurückzuführen, sondern
untersuchen, welche Erkenntnisbedingungen und welche kognitiven Me-
chanismen vorliegen müssen, damit korrekte Erkenntnis gewonnen werden
kann. Im Rahmen dieses reliabilistischen Projekts lässt sich durchaus ein-
räumen, dass in einigen Fällen keine korrekte Erkenntnis gewonnen wird,
nämlich genau dann, wenn Gott eingreift und die natürlichen Ursachen
außer Kraft setzt. Doch daraus folgt nicht, dass Erkenntnis gleich in allen
Fällen zweifelhaft wird. Vielmehr lässt sich spezifizieren, welche Erkennt-
nisbedingungen gelegentlich nicht erfüllt sind und warum dadurch punk-
tuell die zuverlässigen kognitiven Prozesse außer Kraft gesetzt werden. Aus
diesem Grund bringt Crathorn, Rodington, Gregor von Rimini und Peter
von Ailly die Feststellung, dass Gott manchmal in den Erkenntnisprozess
eingreifen kann, nicht gleich zu dem radikalen Schluss, dass jede Erkenntnis
von der materiellen Welt zweifelhaft ist und dass wir uns auf die Gewiss-
heit der eigenen mentalen Zustände beschränken müssen. Ihr Schluss lautet
vielmehr, dass wir nicht absolut behaupten dürfen, wir hätten immer und
bedingungslos eine unbezweifelbare Erkenntnis von der materiellen Welt.
Betrachtet man den mittelalterlichen Umgang mit skeptischen Szenarien
in dieser Perspektive, führt er weniger zu Descartes als zu gegenwärtigen
antiskeptischen Strategien, die sich auf die prinzipielle Zuverlässigkeit kog­
nitiver Prozesse berufen. Die Beweislast liegt dann nicht beim Antiskepti-
ker, der von dieser Zuverlässigkeit ausgeht, sondern beim Skeptiker, der erst
einmal nachweisen muss, dass die Zuverlässigkeit in konkreten Fällen nicht
gegeben ist.139 Zahlreiche mittelalterliche Autoren gingen von der Zuverläs-
sigkeit aus, weil sie mit der bereits mehrfach erwähnten aristotelischen An-
nahme operierten, dass die materiellen Gegenstände aus Form und Materie
bestehen und dass der menschliche Intellekt von Natur aus so gebaut ist,

  Vgl. zu dieser Umdrehung der Beweislast in der gegenwärtigen Debatte prägnant Hill
139

1999, 118–119, und ausführlich Greco 2000, 167–180.


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§ 18 Schlussfolgerungen 205

dass er die Form aufnehmen kann. Weil dieses Aufnehmen ein natürlicher,
zuverlässiger Prozess ist, kann im Normalfall eine korrekte Erkenntnis
gewonnen werden.
Doch welche Konsequenzen ergeben sich, wenn das Aufnehmen der
Form nicht mehr vorausgesetzt wird? Wie kann dann noch behauptet wer-
den, der Intellekt könne von Natur aus eine korrekte Erkenntnis gewinnen?
Diese Fragen stellen sich vor allem mit Blick auf Ockham und seine Nach-
folger, die bestritten, dass eine Form aufgenommen wird und dass eine for-
male Identität zwischen der Form im Intellekt und außerhalb des Intellekts
hergestellt wird. Wie lässt sich die These aufrechterhalten, dass wir einen
zuverlässigen kognitiven Zugang zur materiellen Welt haben, wenn die
mentale und die materiale Welt durch keine formale Identität gleichsam zu-
sammengeschweißt werden? Diese Frage gilt es im folgenden Kapitel näher
zu untersuchen.
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III
ZWEIFEL AN DER INTUITIVEN ERKENNTNIS
(WILHELM VON OCKHAM, WALTER CHATTON,
FRANZISKUS VON MAYRONIS, ADAM WODEHAM)

§ 19  Erkenntnis ohne realen Erkenntnisgegenstand?

Das Erkenntnismodell, das Thomas von Aquin entwickelte, blieb weit über
das 13. Jh. hinaus einflussreich und diente bis in die frühe Neuzeit hinein
gleichsam als antiskeptische Waffe. Wenn es nämlich keinen Erkenntnis-
akt geben kann, ohne dass ein äußerer Gegenstand existiert, dessen Form
den Inhalt dieses Aktes festlegt, kann die Frage, ob denn ein Erkenntnis-
akt tatsächlich in Relation zu einem äußeren Gegenstand steht, gar nicht
auftauchen. Die Existenz eines äußeren Gegenstandes ist eine notwendige
Bedingung für die Existenz eines Aktes mit einem wohldefinierten Inhalt.
Und wenn dieser Inhalt in nichts anderem besteht als in der Form, die auch
im äußeren Gegenstand vorhanden ist und seine wesentlichen Eigenschaften
bestimmt, stellt sich auch nicht die Frage, ob der Erkenntnisakt das Wesen
des Gegenstandes korrekt darstellt. Aufgrund der formalen Identität muss
das Wesen korrekt dargestellt werden. Selbst ein Dämon kann hier nichts
manipulieren. Die Grundannahmen des thomasischen Modells lassen weder
einen radikalen Außenweltskeptizismus noch einen Skeptizismus, der die
prinzipielle Korrektheit unserer Bezugnahme auf eine Außenwelt infrage
stellt, aufkommen. Daher bietet Thomas weniger eine Lösung für skeptische
Probleme als eine Präventionsstrategie. Aufgrund der Annahmen, (a) dass
Erkenntnisakte nur durch eine Assimilation von Formen zustande kommen
und (b) dass es sich dabei um dieselben Formen handelt, die auch in den
materiellen Gegenständen vorkommen, taucht gar kein skeptisches Problem
auf, das es zu lösen gälte. Das Problem ist – wie man mit Wittgenstein sagen
könnte – aufgelöst und nicht gelöst worden.
Diese Auflösung ist freilich um einen hohen Preis erkauft, wie sich im
vorangehenden Kapitel gezeigt hat. Nur wenn man akzeptiert, dass es
universale Formen gibt, die vom Intellekt assimiliert werden, kann man
behaupten, dass dieselben Formen, die in den äußeren Gegenständen vor-
kommen, den Inhalt der Erkenntnisakte festlegen. Kurz gesagt: Nur wer
einem Universalienrealismus zustimmt, kann die thomasische Präventions-
strategie verfolgen. Wilhelm von Ockham hat bekanntlich den Univer-
salienrealismus abgelehnt und einen ontologischen Individualismus ver-

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III
ZWEIFEL AN DER INTUITIVEN ERKENNTNIS
(WILHELM VON OCKHAM, WALTER CHATTON,
FRANZISKUS VON MAYRONIS, ADAM WODEHAM)

§ 19  Erkenntnis ohne realen Erkenntnisgegenstand?

Das Erkenntnismodell, das Thomas von Aquin entwickelte, blieb weit über
das 13. Jh. hinaus einflussreich und diente bis in die frühe Neuzeit hinein
gleichsam als antiskeptische Waffe. Wenn es nämlich keinen Erkenntnis-
akt geben kann, ohne dass ein äußerer Gegenstand existiert, dessen Form
den Inhalt dieses Aktes festlegt, kann die Frage, ob denn ein Erkenntnis-
akt tatsächlich in Relation zu einem äußeren Gegenstand steht, gar nicht
auftauchen. Die Existenz eines äußeren Gegenstandes ist eine notwendige
Bedingung für die Existenz eines Aktes mit einem wohldefinierten Inhalt.
Und wenn dieser Inhalt in nichts anderem besteht als in der Form, die auch
im äußeren Gegenstand vorhanden ist und seine wesentlichen Eigenschaften
bestimmt, stellt sich auch nicht die Frage, ob der Erkenntnisakt das Wesen
des Gegenstandes korrekt darstellt. Aufgrund der formalen Identität muss
das Wesen korrekt dargestellt werden. Selbst ein Dämon kann hier nichts
manipulieren. Die Grundannahmen des thomasischen Modells lassen weder
einen radikalen Außenweltskeptizismus noch einen Skeptizismus, der die
prinzipielle Korrektheit unserer Bezugnahme auf eine Außenwelt infrage
stellt, aufkommen. Daher bietet Thomas weniger eine Lösung für skeptische
Probleme als eine Präventionsstrategie. Aufgrund der Annahmen, (a) dass
Erkenntnisakte nur durch eine Assimilation von Formen zustande kommen
und (b) dass es sich dabei um dieselben Formen handelt, die auch in den
materiellen Gegenständen vorkommen, taucht gar kein skeptisches Problem
auf, das es zu lösen gälte. Das Problem ist – wie man mit Wittgenstein sagen
könnte – aufgelöst und nicht gelöst worden.
Diese Auflösung ist freilich um einen hohen Preis erkauft, wie sich im
vorangehenden Kapitel gezeigt hat. Nur wenn man akzeptiert, dass es
universale Formen gibt, die vom Intellekt assimiliert werden, kann man
behaupten, dass dieselben Formen, die in den äußeren Gegenständen vor-
kommen, den Inhalt der Erkenntnisakte festlegen. Kurz gesagt: Nur wer
einem Universalienrealismus zustimmt, kann die thomasische Präventions-
strategie verfolgen. Wilhelm von Ockham hat bekanntlich den Univer-
salienrealismus abgelehnt und einen ontologischen Individualismus ver-
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208 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

treten: Nur individuelle Substanzen und Qualitäten existieren real; alles


Universale ist ein mentales Konstrukt. Diese ontologische Grundthese hat
eine unmittelbare epistemologische Konsequenz. Wenn es keine universale
Form gibt, die sowohl in einem materiellen Gegenstand als auch im Intellekt
instantiiert ist, kann der Inhalt eines Erkenntnisaktes nicht in einer solchen
Form bestehen. Der Erkenntnisakt ist vielmehr eine individuelle Entität
im Intellekt, und sein Inhalt kann nur durch eine Kausalrelation (eventuell
auch durch eine Abbildrelation) zu einer anderen individuellen Entität fest-
gelegt werden. Auf jeden Fall handelt es sich beim Erkenntnisakt und beim
materiellen Gegenstand um distinkte individuelle Entitäten, die nicht durch
eine formale Identität gleichsam aneinander geschweißt werden. Doch
was nicht aneinander geschweißt ist, kann jederzeit voneinander getrennt
werden, in paradigmatischer Weise durch Gott. Genau diese Konsequenz
zieht Ockham in seinem frühen Sentenzenkommentar.1 Wenn Gott will,
so behauptet er, kann er einen individuellen Gegenstand – z.B. einen Stern
am Himmel – zerstören und trotzdem den Erkenntnisakt, mit dem ich den
Stern erfasse, aufrechterhalten. Ich habe dann eine „intuitive Erkenntnis“
(notitia intuitiva) von einem nicht existierenden Gegenstand.
Diese These hat in der älteren Forschung zu einer kontroversen Debatte
Anlass gegeben. Öffnet Ockham dem Außenwelt-Skeptizismus nicht Tür
und Tor, fragte E. Gilson an prominenter Stelle, 2 wenn er den Erkenntnisakt
derart vom Erkenntnisgegenstand ablöst und die Möglichkeit einer gött-
lichen Manipulation erwägt? Räumt er damit nicht ein, dass wir nie sicher
sein können, ob tatsächlich ein realer Erkenntnisgegenstand existiert, wenn
wir einen Erkenntnisakt haben? Ph. Boehner und nach ihm eine Reihe von
Interpreten haben dieser Deutung energisch widersprochen, wie in der Ein-
leitung bereits erwähnt wurde.3 Sie haben darauf hingewiesen, dass Ockham
zufolge eine Person im Falle eines göttlichen Eingreifens nicht getäuscht
wird, sondern korrekt urteilt, dass der erfasste Gegenstand nicht real exis-
tiert. Wenn Gott etwa in mir die Erkenntnis von einem Stern aufrechterhält,
obwohl der Stern am Himmel zerstört ist, urteile ich korrekt, dass der Stern
nicht existiert.4 Zudem haben zahlreiche Kommentatoren betont, dass Ock-
ham seine Position in den späteren Quodlibeta revidiert und im Fall des
göttlichen Eingreifens nur noch einen „Akt des Glaubens“ (actus creditivus)
angenommen hat, keine intuitive Erkenntnis.5

1
 Vgl. Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 38–39).
2
  Vgl. Gilson 1937, 80–81; siehe auch Michalski 1969, 61–62 (Erstveröffentlichung 1923).
3
  Vgl. Boehner 1958, 268–300 (Erstveröffentlichung 1943); Adams 1987, 588–601; Tachau
1988, 123–129; Kaufmann 1994, 236–238; Michon 1994, 75–79; siehe auch § 1.
4
 Vgl. Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 31) und Reportatio II, q. 12–13 (OTh V, 259).
5
 Vgl. Quodl. V, q. 5 (OT IX, 498), ausführlich dazu Karger 1999.
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§ 19 Erkenntnis ohne realen Erkenntnisgegenstand? 209

Mit diesen durchaus berechtigten und in der neueren Literatur oft wie-
derholten Einwänden ist die Skeptizismus-Problematik aber nicht einfach
verschwunden. Es stellt sich nämlich die Frage, wie jemand korrekt urteilen
kann, dass ein Gegenstand nicht existiert, wenn Gott so perfekt eingreift,
dass die urteilende Person nicht feststellen oder überprüfen kann, ob der
Gegenstand existiert oder nicht. Angenommen, ich bewundere einen Stern
am klaren Nachthimmel und Gott zerstört in diesem Moment den Stern,
erzeugt oder erhält aber in mir visuelle Eindrücke vom Stern aufrecht, die
sich in keiner Weise von den Eindrücken unterscheiden, die ich hatte, als
der Stern noch existierte. Auf welcher Grundlage soll ich dann urteilen,
dass der Stern nicht existiert? Die Evidenzbasis ist doch genau die gleiche
wie zu dem Zeitpunkt, als der Stern noch existierte. Einfach zu behaupten,
es liege eine intuitive Erkenntnis vor, die zu einem korrekten Urteil führt,
reicht hier nicht aus. Es muss dargelegt werden, welche Faktoren für das
Zustandekommen des korrekten Urteils relevant sind. Ebenso wenig reicht
es aus, mit Verweis auf die späten Quodlibeta festzuhalten, dass nur ein
„Akt des Glaubens“ entsteht. Worin unterscheidet sich ein solcher Akt von
einem Akt der intuitiven Erkenntnis? Nach welchen Kriterien kann die er-
kennende Person selbst – nicht einfach ein äußerer Beobachter – beurteilen,
ob es sich nur um einen Akt des Glaubens oder um einen Akt der intuitiven
Erkenntnis handelt? Und warum sollte Gott nicht in der Lage sein, auch
einen Akt der intuitiven Erkenntnis aufrechtzuerhalten oder zu erzeugen,
wenn er doch jede individuelle Entität, die von einer anderen Entität real
verschieden ist, verursachen kann?
Angesichts dieser Fragen ist es nicht erstaunlich, dass die Debatte da-
rüber, ob Ockhams Position skeptische Konsequenzen hat, keineswegs zu
einem Abschluss gekommen ist. Pointiert hält K. Flasch fest: „... bereits
das Rechnen mit der Möglichkeit der Erkenntnis nicht existierender Dinge
war eine erkenntnistheoretische Katastrophe. Der Skeptizismus war dann
schwer abzuweisen: Man konnte nie wissen, ob man etwas sah, das exis-
tierte; man konnte nur wissen, daß man es ‚natürlicherweise‘ tat.“6 Es mag
vielleicht eine rhetorische Übertreibung sein, gleich von einer Katastrophe
zu sprechen. Doch es stellt sich in der Tat die Frage, ob ein Erkenntnis-
modell, das auf formale Identität verzichtet und einem Erkenntnisakt auch
dann einen wohldefinierten Inhalt zuschreibt, wenn kein äußerer Gegen-
stand vorhanden ist, nicht von vornherein ein skeptisches Potenzial hat. E.
Karger hat in der neuesten Debatte sogar die These vertreten, dass dieses
Modell im Grunde inkonsistent ist.7 Denn einerseits insistiert Ockham da-

6
  Flasch 2000, 509–510.
7
  Vgl. Karger (im Druck).
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210 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

rauf, dass eine intuitive Erkenntnis immer ein korrektes Existenzurteil zur
Folge hat und dass eine Täuschung somit ausgeschlossen ist. Andererseits
behauptet er, dass Gott jede individuelle Entität, die von anderen Entitäten
verschieden ist, erzeugen oder aufrechterhalten kann. Dies heißt aber, dass
er im Prinzip auch einen Erkenntnisakt erzeugen kann, der ein falsches
Urteil generiert, oder dass er sogar direkt ein falsches Urteil hervorbringen
kann. Somit schließt Ockham die Möglichkeit einer Täuschung aus und
räumt sie gleichzeitig ein.
Nicht erst moderne Kommentatoren stolperten über diese Schwierig-
keit. Bereits Ockhams Zeitgenossen und seine unmittelbaren Nachfolger
im frühen 14. Jh. erkannten, dass die Theorie der intuitiven Erkenntnis ein
skeptisches Potenzial in sich birgt.8 Einige versuchten dieses Potenzial zu
neutralisieren, indem sie Ockhams Theorie modifizierten und feststellten,
es könne gar keine intuitive Erkenntnis von etwas Nicht-Existierendem
geben.9 Andere hingegen räumten diese Möglichkeit ein, stellten aber so-
gleich fest, eine intuitive Erkenntnis könne somit keine Evidenz und kein
absolut sicheres Wissen garantieren. So betonte Adam Wodeham mit Ver-
weis auf die Möglichkeit des göttlichen Eingreifens:
„Kein solches Urteil [sc. bezüglich eines äußeren Gegenstandes] ist schlichtweg
evident, und zwar mit einer Evidenz, die jeden möglichen Zweifel ausschließt. Denn
mit der Tatsache, dass Gott oder die Natur jede Erkenntnis und jedes mögliche Ur-
teil im Geist verursachen könnte, wäre vereinbar, dass es sich wegen der absoluten
Macht Gottes der Sache nach nicht so verhalten könnte, wie durch die erfasste
Erkenntnis bezeichnet würde. Und ich gestehe zu, dass jeder erschaffbare Intellekt
von einer derart eingeschränkten Natur ist, dass er bezüglich jeder beliebigen kon-
tingenten Wahrheit über eine äußere Sache getäuscht werden kann, und zwar wenn
er auf kategorische Weise so zustimmt, dass sie existiert oder nicht existiert.“10

Selbst wenn jemand über eine intuitive Erkenntnis verfügt, ist damit nicht
garantiert, dass er ein korrektes Urteil über die Existenz oder Nicht-Exis-
tenz eines materiellen Gegenstandes fällt. Es ist immer möglich, dass Gott
eingreift und direkt ein falsches Urteil eingibt. Daher kann es im Bereich
der menschlichen Erkenntnis nie eine absolute Gewissheit und eine absolute
Evidenz geben. Angesichts dieses Schlusses, den Wodeham ausgehend von
8
 Dies ist gegenüber Lee 2001, zu betonen, der meint, die ganze Skeptizismus-Debatte sei
erst in der Moderne entstanden.
9
 Diese Konsequenz zog Robert Holkot im Quodlibet „Utrum theologia sit scientia“ (ed.
Muckle 1958, 130).
10
  Lectura secunda, prol., q. 6, § 16 (ed. Wood 1990, 169): „Nullum enim tale iudicium est
simpliciter evidens evidentia excludente omnem dubitationem possibilem. Quia cum hoc
quod Deus vel natura causaret in mente omnem notitiam et iudicium possibile, staret quod de
potentia Dei absoluta non sic esset in re sicut per talem notitiam apprehensam significaretur.
Et concedo quod omnis intellectus creabilis est ita diminutae naturae quod decipi potest circa
quamcumque veritatem contingentem de re extra si sic assentiat categorice esse vel non esse.“
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§ 19 Erkenntnis ohne realen Erkenntnisgegenstand? 211

Ockhams eigenen Überlegungen zieht, ist es nicht erstaunlich, dass die


Theorie der intuitiven Erkenntnis im 14. Jh. Anlass zu kontroversen Dis-
kussionen gab. Deshalb soll im Folgenden nicht nur Ockhams eigene Theo-
rie, sondern auch die Rezeption dieser Theorie bei Adam Wodeham, Walter
Chatton und Franziskus von Mayronis in den Blick genommen werden.11
Gerade in der Rezeption zeigt sich, an welchen Punkten sich ein skeptisches
Potenzial entfalten kann und wie dieses Potenzial durch antiskeptische
Manöver eingegrenzt oder neutralisiert werden kann.
Es wäre allerdings problematisch, einfach die von Gilson initiierte
Debatte, ob Ockham ein Skeptiker war, neu aufzurollen. In dieser Debatte
sind nämlich immer wieder zwei Interpretationsansätze aufeinander ge-
prallt. Während die einen Interpreten Ockham in anklagender Weise als den
„Zerstörer“ jeder Erkenntnisgewissheit für den angeblichen Verfall der spät-
mittelalterlichen Erkenntnistheorie verantwortlich machten, verteidigten
ihn die anderen als den Verfechter eines robusten Erkenntnisrealismus und
Empirismus.12 Wie gegensätzlich diese beiden Interpretationsansätze auch
waren, sie stimmten doch in zwei Grundannahmen überein. Erstens gingen
beide stillschweigend davon aus, der Skeptizismus sei eine klar definierte
Position, zu der sich Ockham zustimmend oder ablehnend verhalten habe,
und meistens wurde diese Position mit jener des modernen Außenwelt-
Skeptizismus gleichgesetzt. Ob sich Ockham tatsächlich für eine solche
Position oder eher für einzelne skeptische Argumente interessierte, wurde
dabei kaum in Erwägung gezogen. Und ob Ockham neben dem Außenwelt-
Skeptizismus auch andere Formen des Skeptizismus berücksichtigte, wurde
ebenfalls nicht diskutiert. Zweitens wurde ebenso stillschweigend vorausge-
setzt, der Skeptizismus sei etwas Negatives, das – je nach Interpretation – den
Kern der Ockhamschen Erkenntnistheorie ausmache oder in dieser Theorie
vollständig fehle. Dabei wurde kaum geprüft, ob der Diskussion skeptischer
Argumente nicht auch eine positive Funktion zukommt. Dient diese Dis-
kussion beispielsweise dazu, übertriebene Erkenntnisansprüche, die auf
Infallibilität und absolute Gewissheit abzielen, zurückzuweisen? Stellt sie
vielleicht gerade dadurch einen positiven Beitrag zur Erkenntnisdebatte dar,
dass sie die Grenzen der Erkenntnismöglichkeit aufzeigt? Diese Fragen sind
angesichts der negativen Bewertung des Skeptizismus, die seit der Kontro-
verse zwischen Gilson und Boehner die Forschungsdebatten geprägt hat,
leider kaum aufgeworfen worden. Um sie in den Blick zu bekommen, soll

11
 Damit wird natürlich nur eine kleine Auswahl jener Autoren berücksichtigt, die sich mit
Ockhams Theorie der intuitiven Erkenntnis auseinander setzten. Einen umfassenden his-
torischen Überblick bietet Tachau 1988.
12
 Eine kritische Auswertung dieser Opposition in der älteren Forschung bietet Karger
1999.
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212 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

daher bewusst auf eine Wiederaufnahme dieser Kontroverse verzichtet


werden. Nicht die Frage, ob Ockham eine „zerstörerische“ skeptische Po-
sition vertreten habe oder nicht, soll im Vordergrund stehen. Vielmehr soll
untersucht werden, welche skeptischen Argumente er im Rahmen seines
erkenntnistheoretischen Projekts berücksichtigt hat, welchen Platz er ihnen
eingeräumt hat und welche negative oder positive Funktion er ihnen zu-
geschrieben hat.
Zudem ist methodische Vorsicht geboten, wenn generell von einem Skep-
tizismus gesprochen wird. Welche Art von Skeptizismus vorliegt und wie
tiefgreifend der jeweilige Skeptizismus ist, hängt immer davon ab, was unter
der Erkenntnisgewissheit, gegen die sich skeptische Argumente richten, ver-
standen wird. M. McCord Adams hat zu Recht darauf hingewiesen, dass
es unterschiedliche Standards von Erkenntnisgewissheit gibt und dass man
einer Theorie kaum vorwerfen kann, sie biete keine Widerlegung skeptischer
Argumente, wenn sie die Standards, die diese Argumente voraussetzen, gar
nicht akzeptiert.13 Wenn solche Argumente beispielsweise den Anspruch auf
absolute Erkenntnisgewissheit infrage stellen, eine Theorie aber gar nicht
auf absolute Gewissheit abzielt, sondern nur auf hohe Zuverlässigkeit, ist
es kein Mangel, diese Argumente nicht zu berücksichtigen. Im Gegenteil:
Es wäre unangemessen, auf diese Argumente einzugehen, denn sie zielen
gleichsam an der Theorie vorbei. Welche skeptischen Argumente relevant
sind und von einer Theorie berücksichtigt werden müssen, hängt immer
davon ab, mit welchen Erkenntnisstandards diese Theorie operiert. Deshalb
reicht es nicht aus, einzelne skeptische Argumente und Ockhams Reaktion
darauf zu analysieren. In einem ersten Schritt muss untersucht werden, wel-
che Erkenntnisstandards und welchen Begriff von Wissen Ockham voraus-
setzt. Erst in einem zweiten Schritt kann dann bestimmt werden, wie er mit
skeptischen Argumenten umgeht (oder wie er gar selber solche Argumente
generiert), die diese Standards attackieren.
Schließlich ist noch ein letzter methodischer Punkt zu berücksichtigen.
Die Forschungsliteratur hat sich zum größten Teil auf Ockhams berühmte
These konzentriert, dass auf übernatürliche Weise (sprich: durch gött-
liches Eingreifen) ein Erkenntnisakt entstehen kann, der einen Gegenstand
präsentiert, obwohl kein äußerer Erkenntnisgegenstand existiert. Nur am
Rande wurde die von Ockham und seinen Nachfolgern ebenfalls rege dis-
kutierte These berücksichtigt, dass auch auf natürliche Weise ein derartiger
Akt entstehen kann, etwa aufgrund einer Sinnestäuschung. Diese zweite
These verdient indessen mindestens so viel Beachtung wie die erste, weil sie
verdeutlicht, dass auch ohne göttliches Eingreifen der Fall eintreten kann,

13
  Vgl. Adams 1987, 601.

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§ 20 Wissen, Evidenz und intuitive Erkenntnis 213

dass einer Person etwas präsent ist, ohne dass ein materieller Gegenstand
vorhanden ist. Wie ist ein derartiger Fall zu verstehen? Wie versucht Ock-
ham ihn in sein Erkenntnisprojekt zu integrieren? Und wie beurteilt er das
skeptische Potenzial eines solchen Falles? Diese Fragen sollen im Folgenden
ebenso berücksichtigt werden wie jene, die den viel zitierten Fall des gött-
lichen Eingreifens betreffen. Daher soll auf eine grundsätzliche Klärung des
Wissensbegriffs und der Erkenntnisstandards, mit denen Ockham arbeitet
(§ 20), zunächst eine Analyse der Sinnestäuschungen und anderer problema-
tischer Fälle folgen (§ 21). Erst danach soll dann der berühmte Fall der über-
natürlich verursachten Erkenntnis eines nicht existierenden Gegenstandes
näher geprüft werden (§ 22). Abschließend sollen sowohl Einwände gegen
Ockhams Erklärungsmodell als auch Weiterentwicklungen, die sich im
frühen 14. Jh. finden, anhand ausgewählter Beispiele vorgestellt und kritisch
diskutiert werden (§§ 23–25). Diese frühe Rezeption ist von besonderem
Interesse, weil sie verdeutlicht, welcher Platz den skeptischen Argumenten
im Rahmen der gesamten Debatte über die Möglichkeit sicherer Erkenntnis
zugewiesen wurde.

§ 20 Wissen, Evidenz und intuitive Erkenntnis

Um zu verstehen, welche Bedeutung Ockham skeptischen Argumenten bei-


misst, muss man zunächst seinen Wissens- und Erkenntnisbegriff rekonstru-
ieren. Denn erst wenn geklärt ist, was im Rahmen seines Projekts unter Wissen
zu verstehen ist, wird auch deutlich, wodurch Wissen infrage gestellt werden
kann. Und natürlich zeigt sich auch erst dann, wie skeptische Einwände abge-
wehrt oder in das erkenntnistheoretische Projekt integriert werden können.
Im Physik-Kommentar setzt sich Ockham explizit mit der Frage aus-
einander, wie der Wissensbegriff zu explizieren sei. Er betont, das Subjekt
des Wissens sei nichts anderes als der Intellekt.14 Diese scheinbar harmlose
Aussage verdient bereits Beachtung, denn Ockham verdeutlicht damit, dass
Wissen weder einem Kollektiv (z.B. einer Gemeinschaft von Forschern)
noch einem sub-intellektuellen Vermögen zugeschrieben werden kann.
Nur der Intellekt als das höchste kognitive Vermögen eines individuellen
Menschen ist Wissenssubjekt.15 Folglich können auch skeptische Einwände

 Vgl. Exp. in libros Physicorum, prol. (OPh IV, 9).


14

 Natürlich ist auch der Intellekt Gottes und derjenige eines Engels mögliches Wissenssub-
15

jekt. Ockham geht in Reportatio II, q. 12–14 (OTh V, 251–337) und in Quodl. I, q. 7 (OT IX,
41–45) ausführlich auf die Frage ein, durch welche Art von kognitiver Tätigkeit Engel Wissen
erwerben und wie sie dieses Wissen kommunizieren; vgl. eine Analyse in Panaccio 1997 und
Perler 2008. Ich beschränke mich im Folgenden auf das Wissen eines Menschen.
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214 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

gegen die Möglichkeit von sicherem Wissen nur mit Bezug auf den Intellekt
und dessen Tätigkeiten formuliert werden. Die Frage, ob Tiere, die nur über
sinnliche Vermögen verfügen, sicheres Wissen haben, ergibt keinen Sinn.
Da Tiere prinzipiell keine Wissenssubjekte sind, können sie weder sicheres
noch unsicheres Wissen haben. Dank ihrer äußeren und inneren Sinne sind
sie zwar imstande, Sinneseigenschaften zu erfassen und Gegenstände mit
Bezug auf diese Eigenschaften zu klassifizieren; sie haben eine „sinnliche
Erkenntnis“ und sogar eine gewisse sinnliche Urteilsfähigkeit, wie Ock-
ham einräumt.16 Doch sie sind prinzipiell nicht in der Lage, diese sinnliche
Erkenntnis in eine intellektuelle zu überführen und dadurch Wissen zu
generieren. Daher ergeben skeptische Argumente (etwa mit Verweis auf
Sinnestäuschungen oder göttliche Manipulationen) mit Bezug auf Tiere
keinen Sinn. Nur wo Wissen prinzipiell möglich ist, lässt sich der Anspruch
auf Wissen anfechten.
Ebenso eindeutig wie das Subjekt des Wissens bestimmt Ockham das
Objekt. Es ist „der ganze Satz, der erkannt wird“.17 Damit führt Ock-
ham eine These ein, die seine gesamte Erkenntnistheorie dominiert:
Wissen bezieht sich primär nicht auf Gegenstände und Sachverhalte,
sondern auf Sätze über Gegenstände und Sachverhalte. Daher handeln
auch alle Wissenschaften – selbst die sog. „Realwissenschaften“ wie etwa
die Physik – primär von Sätzen. Darunter sind freilich nicht gesprochene
oder geschriebene Sätze zu verstehen, sondern mentale. Ockham ver-
tritt die These, dass jeder Sprecher über eine mentale Sprache verfügt, die
sich aus einzelnen Sätzen zusammensetzt. Die Existenz dieser mentalen
Sätze ist eine notwendige Bedingung dafür, dass ein Sprecher überhaupt
gesprochene oder geschriebene Sätze formulieren kann.18 Konkret heißt
dies: Wenn ich ein Wissen von dem Baum gewinne, der vor mir steht, so
weiß ich nicht den grünen Baum (eine solche Ausdrucksweise wäre schon
grammatisch unkorrekt), sondern ich erfasse den mentalen Satz ‚Der Baum
ist grün‘, der den Sachverhalt, dass der Baum grün ist, bezeichnet. Sobald
ich diesen Satz erfasse, kann ich auch einen entsprechenden gesprochenen
Satz in deutscher, französischer oder irgendeiner anderen konventionellen
Sprache äußern. In moderner Terminologie könnte man sagen, dass Wissen
eine propositionale Einstellung ist, mit der ich eine Proposition erfasse.
Und die Proposition ist kein Fregescher Gedanke, sondern ein konkretes

16
 Vgl. Reportatio IV, q. 14 (OTh VII, 313–315); dazu ausführlich Perler 2006.
17
  Exp. in libros Physicorum, prol. (OPh IV, 9): „Nam obiectum scientiae est tota propositio
nota ...“
18
 Vgl. zu dieser sprachphilosophischen Grundthese, die in der neueren Forschung aus-
giebig diskutiert worden ist und hier nicht weiter erläutert werden soll, Panaccio 1999, Lenz
2003, Panaccio 2004, Perler 2004b.
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§ 20 Wissen, Evidenz und intuitive Erkenntnis 215

mentales Vorkommnis, das im Normalfall einen Sachverhalt außerhalb des


Geistes bezeichnet.19
Diese Bestimmung des Wissensobjekts hat zwei unmittelbare Konsequen-
zen. Die erste wird von Ockham selber formuliert: Es gibt so viele Wissens-
objekte, wie es mentale Sätze gibt. 20 Daher wäre es unsinnig, nach dem Objekt
eines Wissensgebietes wie etwa der Physik oder der Mathematik zu fragen.
Hier gibt es keinen einheitlichen Gegenstand, sondern höchstens eine be-
stimmte Art von Gegenständen, z.B. Zahlen und geometrische Figuren, über
die mentale Sätze gebildet werden. Wenn sich jemand mit der Mathematik
befasst, bezieht er sich primär auf eine bestimmte Menge mentaler Sätze. Die
zweite Konsequenz wird von Ockham nicht explizit formuliert, liegt aber auf
der Hand: Wenn die Frage nach der Möglichkeit von Wissen gestellt wird,
kann damit nur die Frage (a) nach einer bestimmten Einstellung zu mentalen
Sätzen und (b) nach einer bestimmten Art von Sätzen gemeint sein. Wie
muss ich beispielsweise den Satz ‚Der Baum ist grün‘ erfassen, damit ich über
Wissen und nicht bloß über eine Vermutung oder eine Ahnung verfüge? Und
wie muss der Satz selber beschaffen sein, damit ich nicht bloß eine falsche
Meinung habe? Diese Fragen sind von Bedeutung, wenn es darum geht, den
systematischen Ort skeptischer Einwände zu bestimmen. Solche Einwände
können sich nur auf die jeweilige Einstellung oder auf den konkreten men-
talen Satz beziehen. Wer etwa skeptisch fragt, ob ich tatsächlich ein Wissen
davon habe, dass der Baum grün ist, muss fragen: Liegt tatsächlich die richtige
Einstellung zum mentalen Satz ‚Der Baum ist grün‘ vor? Und ist dieser Satz
so beschaffen, dass er eine falsche Meinung ausschließt?
Schon dieser Ausgangspunkt verdeutlicht, dass sich Ockhams Wissens-
begriff grundlegend von jenem unterscheidet, der sich bei früheren Autoren,
etwa bei Heinrich von Gent, findet. Ockham geht es nicht darum, Wissen
mit Rekurs auf eine bestimmte Art von Gegenständen oder Eigenschaften
zu erklären. So strebt er im Gegensatz zu Heinrich nicht danach, Wissen
mit Verweis auf die wesentlichen Eigenschaften eines Gegenstandes zu
erläutern, die nur erfasst werden können, wenn auch das ewige und unver-
änderliche Modell für diese Eigenschaften erfasst wird (vgl. § 5). Ein solcher
essentialistischer und gegenstandsbezogener Ansatz liegt Ockham fern. Sei-
ner Ansicht nach kann man das Charakteristikum von Wissen nur erfassen,
wenn man es von Anfang an propositional versteht. Ob sich die mentalen

 Natürlich kann die Proposition auch einen Sachverhalt im Geist bezeichnen, nämlich
19

wenn sich das Wissen auf die eigenen intellektuellen Akte bezieht. Ockham berücksichtigt
diesen Sonderfall in Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 28–29), wo er auf das Wissen von rein
intelligiblen Zuständen – seine Beispiele sind Freude und Traurigkeit – eingeht. Doch auch in
diesem Fall hat das Wissen eine propositionale Struktur.
20
 Vgl. Exp. in libros Physicorum, prol. (OPh IV, 9–10).
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216 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

Sätze, die erfasst werden, auf wesentliche oder akzidentelle Eigenschaften


beziehen, spielt dabei keine Rolle. Und ob es für diese Eigenschaften ein
Modell gibt, spielt ebenfalls keine Rolle. 21 Wichtig ist nur, dass ein mentaler
Satz vorliegt, der vom Intellekt erfasst wird.
Ein solcher Ansatz ist freilich nur überzeugend, wenn präzisiert wird,
in welcher Relation der Intellekt zum mentalen Satz stehen muss und
welche Bedingungen dieser Satz erfüllen muss. Für beide Probleme findet
sich – zumindest ansatzweise – eine Erklärung, wenn man Ockhams Er-
läuterungen des Wissensbegriffs betrachtet. Er stellt fest, man könne den
Ausdruck ‚Wissen‘ auf vielfache Weise verstehen, und stellt vier Deutungen
vor. 22 Gemäß einem ersten Verständnis ist Wissen „die sichere Erkenntnis
von etwas Wahrem“. 23 Dabei spielt es keine Rolle, ob die Erkenntnis auf
der Grundlage von eigener Sinneswahrnehmung oder von fremden Be-
richten erworben wird. Ockham gibt folgendes Beispiel: Selbst wenn ich
Rom nie gesehen habe, kann ich aufgrund von Gelesenem oder Gehörtem
wissen, dass Rom eine große Stadt ist. Wichtig ist nicht, wie die Erkenntnis
erworben wurde, sondern ob sie sicher oder unsicher ist. Freilich ist damit
noch nicht im Detail bestimmt, durch welches Merkmal (Stabilität, Unbe-
zweifelbarkeit usw.) sich sichere Erkenntnis von unsicherer unterscheidet.
Aber zumindest steht fest, dass für Wissen ein kognitiver Zustand erfor-
derlich ist, der (i) eine direkte oder indirekte empirische Basis hat und (ii)
sich durch Sicherheit auszeichnet. Dies ist allerdings nur die subjektive Seite
von Wissen, d.h. jene, die den Zustand des Intellekts betrifft. Mindestens so
wichtig ist die objektive Seite, die Ockham zum Ausdruck bringt, indem er

21
  Damit soll natürlich nicht bestritten werden, dass Ockham auch über eine Theorie der
göttlichen Ideen verfügt, die er in Ordinatio, dist. 35, q. 5 (OTh IV, 485–494) erläutert. Doch
erstens sind diese Ideen für ihn nicht ewige, unveränderliche Prototypen für die wesentlichen
Eigenschaften konkreter Gegenstände, sondern nichts anderes als göttliche Erkenntnisakte.
Und zweitens spielen sie für seine Erklärung der menschlichen Erkenntnisakte eine untergeord-
nete Rolle. Der menschliche Intellekt muss keine Übereinstimmung mit einer göttlichen Idee
feststellen. Ebenso wenig muss ihm diese Idee durch Illumination vermittelt werden. Er muss
lediglich auf der Grundlage der Sinneswahrnehmung mentale Sätze bilden, die sich direkt auf
die materiellen Gegenstände beziehen.
22
 Es ist zu beachten, dass Ockham nicht von einer Definition von Wissen spricht, sondern
nur von verschiedenen Weisen, Wissen aufzufassen. Daher wäre es irreführend, notwendige
und hinreichende Bedingungen für Wissen zu formulieren. Es können höchstens Bedingun-
gen im Sinn von Merkmalen oder charakteristischen Kennzeichen angegeben werden, die
vorhanden sein müssen, damit von Wissen die Rede sein kann. Zudem ist zu beachten, dass
‚scientia‘ zwar häufig mit ‚Wissenschaft‘ oder ‚scientific knowledge‘ (vgl. Tachau 1988, 116)
übersetzt wird, hier aber zunächst im Sinn von ‚Wissen‘ zu verstehen ist. Von Wissenschaft
kann nur bei einer bestimmten Form von scientia (nämlich bei jener, die sich mit Sätzen über
Notwendiges befasst) die Rede sein.
23
  Exp. in libros Phyiscorum, prol. (OPh IV, 5): „Una est quod scientia uno modo est certa
notitia alicuius veri...“
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§ 20 Wissen, Evidenz und intuitive Erkenntnis 217

betont, die sichere Erkenntnis müsse sich auf etwas Wahres, d.h. auf einen
wahren mentalen Satz, beziehen. Und wahr ist ein solcher Satz nur, wenn
er einen Sachverhalt genau so bezeichnet, wie er ist, d.h. wenn eine Kor-
respondenz vorliegt. 24 Damit führt Ockham von Anfang an ein Kriterium
ein, um Wissen von falscher Meinung zu unterscheiden. Berücksichtigt man
alle Kriterien, ergibt sich folgende Bestimmung von Wissen im ersten und
allgemeinsten Sinn:
W1: Eine Person verfügt über Wissen, wenn sie sich in einem kognitiven
Zustand befindet, der (i) eine direkte oder indirekte empirische Basis
hat, (ii) sicher ist und (iii) sich auf einen wahren mentalen Satz bezieht.
So verfüge ich über ein Wissen, dass der Baum grün ist, wenn ich den Baum
selber gesehen oder von ihm gehört habe und mich infolge dessen in einem
sicheren kognitiven Zustand befinde, der es mir erlaubt, den mentalen Satz
‚Der Baum ist grün‘ zu bilden und mich auf ihn zu beziehen. Freilich muss
ich mich nicht immer derart in einem kognitiven Zustand befinden, dass ich
bewusst einen Akt vollziehe. Ich kann auf der Grundlage eines Aktes auch
eine Disposition (habitus) erwerben, die ich bei Gelegenheit reaktiviere. 25 So
kann ich den Satz ‚Der Baum ist grün‘ einmal bilden und verfüge auch dann
noch über Wissen, wenn ich ihn gleichsam in meinem Geist abgelegt habe.
Ich bin nämlich jederzeit imstande, ihn wieder abzurufen und mich auf
ihn zu beziehen. Selbst wenn dieser Spezialfall des dispositionalen Wissens
beiseite gelassen wird, bleiben allerdings zwei zentrale Fragen offen: Was
heißt es, einen mentalen Satz zu bilden und sich auf ihn zu beziehen? Und
wie ist die Sicherheit des kognitiven Zustandes zu verstehen?
Beginnen wir mit der ersten Frage. Gemäß Ockhams später und endgül-
tiger Theorie, der sog. „Akt-Theorie“, ist ein mentaler Satz nichts anderes
als ein komplexer mentaler Akt, der sich aus Teilakten für die einzelnen
Termini zusammensetzt. 26 Einen mentalen Satz zu bilden heißt dann nichts
anderes, als einen komplexen mentalen Akt zu vollziehen. Die Pointe dieser
Erklärung besteht darin, dass auf jede Annahme besonderer Entitäten, die
sich gleichsam zwischen den Intellekt und die äußeren Gegenstände ein-
schieben, verzichtet wird. Wenn ich den mentalen Satz ‚Der Baum ist grün‘

24
 Vgl. Exp. in librum Praedicamentorum, 9 (OPh II, 201), Exp. in librum Perihermeneias,
prooemium (OPh II, 376), Quodl. VI, q. 29 (OT IX, 697); ausführlich dazu Perler 2004a.
25
 In Ordinatio I, prol. (OTh I, 11) stellt Ockham daher fest: „Alio modo acciptur scientia
pro habitu exsistente per se in genere qualitatis, distincto contra alios habitus intellectuales...“
Vgl. auch Exp. in libros Physicorum, prol. (OPh IV, 6), ausführlich dazu Goddu 1984, 24–27.
26
 Vgl. Exp. in librum Perihermeneias, prooemium (OPh II, 351–358), Summa Logicae I, 12
(OPh I, 41–44), Quodl. IV, q. 35 und V, q. 13 (OTh IX, 469–474 und 531–536). Zum Über-
gang von der frühen fictum-Theorie zur späteren Akt-Theorie vgl. Adams 1987, 71–107, und
Lenz 2003, 73–173.
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218 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

bilde, erfasse oder konstruiere ich nicht eine besondere Entität mit „objek-
tiver Existenz“, wie Ockham in seiner früheren Theorie noch angenommen
hatte, und ich erfasse schon gar nicht eine abstrakte Entität, sondern ich
vollziehe einfach einen Akt, der sich unmittelbar auf den Baum und dessen
Farbe bezieht. Genau dadurch erkenne ich direkt, dass der Baum grün ist.
Ockham schließt von vornherein einen starken Repräsentationalismus aus,
der innere Abbilder oder andere Repräsentationen von äußeren Gegenstän-
den postuliert, und verteidigt einen direkten Erkenntnisrealismus.
Doch was heißt es, sich auf einen mentalen Satz zu beziehen? Ockham ist
sich bewusst, dass hier verschiedene epistemische Relationen möglich sind. 27
Jemand kann einen Satz bloß erfassen, ohne ihm zuzustimmen oder ihn ab-
zulehnen. So kann ich – um ein modernes Beispiel anzuführen – den Satz ‚Auf
dem Mars gibt es Lebewesen‘ einfach erwägen, ohne ihm zuzustimmen, ganz
einfach weil ich mir der Wahrheit dieses Satzes nicht sicher bin. 28 Vielleicht
habe ich den Satz von jemandem gehört und überlege nun, was für und gegen
seine Wahrheit spricht. Doch ich kann einen Satz auch erfassen und ihm zu-
stimmen oder ihn ablehnen. Genau auf diese Relation zielt Ockham ab, wenn
er von der „sicheren Erkenntnis von etwas Wahrem“ spricht. Es geht bei dieser
Erkenntnis darum, dass ein „urteilender Akt“ (actus iudicativus) vollzogen
wird. Denn nur wenn ich zustimmend oder ablehnend urteile, dass es auf dem
Mars Lebewesen gibt, habe ich Wissen und stelle nicht bloß eine Erwägung an.
Und wie steht es mit der Sicherheit, die bei der urteilenden Einstellung ge-
genüber dem mentalen Satz erforderlich ist? Ockham ist diesbezüglich nicht
sehr explizit. Er hält nur fest, dass wir trotz fehlender direkter empirischer
Basis von Wissen sprechen, weil wir dem Zugestimmten „ohne jeden Zweifel
anhängen“ und es auch wahr ist. 29 Diese knappe Formulierung verdeutlicht,
dass die Sicherheit nicht einfach ein psychologisches Charakteristikum ist.
Wenn ich dem Satz ‚Rom ist eine große Stadt‘ zustimme, habe ich nicht ein-
fach ein Evidenzerlebnis oder ein spontanes Gefühl, dass dieser Satz wahr
ist. Ich stimme vielmehr zu, weil ich alle vernünftigen Zweifel ausgeschlos-
sen habe, etwa indem ich die Berichte über Rom überprüft habe und zum

27
 Vgl. Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 16), und Quodl. V, q. 6 (OTh IX, 500–503).
28
 In Quodl. II, q. 3 (OTh IX, 118) erwähnt Ockham selber ein Beispiel für einen solchen
Fall. Der Satz ‚Gott ist dreifaltig und einig‘ ist „simpliciter neutra“; man kann ihn erfassen,
ohne ihm zuzustimmen. In Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 16–17) erwähnt Ockham auch
den Fall, in dem ein des Lateinischen Unkundiger einen lateinischen Satz erfasst, ohne ihm
zuzustimmen. Systematisch gesehen handelt es sich hier aber um einen anderen Fall. Es emp-
fiehlt sich, zwischen (a) dem Erfassen, das ein Verstehen der sprachlichen Bedeutung ein-
schließt, aber nicht zu einem Urteilen führt, und (b) dem Erfassen ohne einem Verstehen der
sprachlichen Bedeutung zu unterscheiden.
29
  Exp. in libros Physicorum, prol. (OPh IV, 5): „...quia tamen eis sine omni dubitatione
adhaeremus et sunt vera, dicimur scire illa.“
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§ 20 Wissen, Evidenz und intuitive Erkenntnis 219

Schluss gekommen bin, dass der Satz tatsächlich wahr ist. Sicherheit ist somit
im Sinne von Zweifelsfreiheit zu verstehen. Heißt dies, dass jeder erdenk-
liche Zweifel ausgeschlossen ist? Wohl kaum. Ockham spricht nicht von
absoluter Zweifelsfreiheit oder von Untrüglichkeit. Es müssen vielmehr jene
Zweifel ausgeschlossen werden, die für die jeweilige Person relevant sind.
Konkret heißt dies: Ich muss nicht selber nach Rom reisen, um zweifelsfrei
dem Satz ‚Rom ist eine große Stadt‘ zustimmen zu können, sondern nur jene
Zweifel (z.B. an der Glaubwürdigkeit der Berichterstatter) ausschließen, die
angemessen und für diesen konkreten Fall relevant sind. Wenn ich derart
vorgehe, erreiche ich eine gewisse Stabilität. Ich schwanke dann nicht mehr
zwischen der Zustimmung zu verschiedenen Sätzen hin und her, sondern
bleibe bei meiner Zustimmung zu ‚Rom ist eine große Stadt‘.
Daraus ergibt sich bereits eine wichtige Konsequenz für die Einschätzung
skeptischer Argumente. Ockham zielt mit seinem Wissensbegriff nicht da-
rauf ab, infallibles, absolut unkorrigierbares und untrügerisches Wissen zu
begründen. Damit Wissen vorliegt, müssen nur jene Zweifel ausgeschlossen
werden, die relevant und dem Wissenssubjekt auch zugänglich sind. Aber
natürlich ist es immer möglich, dass neue Zweifel auftauchen, die vielleicht
dazu führen, dass der Wissensanspruch aufgegeben oder revidiert werden
muss. So kann es sehr wohl sein, dass ich bislang nur Berichte gelesen habe,
die Rom als eine große Stadt schildern. Wenn ich dann Berichte über Tokio
und andere Weltstädte lese, werden die ersten Berichte relativiert und ich
beginne an der Wahrheit des Satzes ‚Rom ist eine große Stadt‘ zu zweifeln.
Oder es kann auch sein, dass sich ein Zeuge, den ich bislang für vertrauens-
voll gehalten habe, als Schwindler herausstellt. Dann beginne ich an dem
von ihm berichteten Satz zu zweifeln. Das heißt natürlich, dass ich dann
nicht mehr behaupte, über Wissen zu verfügen. Der entscheidende Punkt
liegt darin, dass ich nicht ein für allemal unerschütterliches Wissen rekla-
mieren kann. Ich kann nur so lange einen Wissensanspruch erheben, wie ich
keinen vernünftigen Zweifel an der Wahrheit des mentalen Satzes habe.
Ockham begnügt sich nicht mit diesem ersten, sehr weit gefassten Wis-
sensbegriff, sondern führt noch einen zweiten ein:
„Auf eine andere Weise wird unter dem Wissen eine evidente Erkenntnis verstan-
den, nämlich wenn man sagt, etwas werde nicht nur aufgrund des Zeugnisses der
Berichtenden gewusst; auch wenn niemand berichten würde, dass es sich so verhält,
würden wir ihm [sc. dem Satz] aufgrund der unverknüpften Erkenntnis gewisser
Termini direkt oder indirekt zustimmen.“30

  Exp. in libros Physicorum, prol. (OPh IV, 6): „Aliter accipitur scientia pro evidenti no-
30

titia, quando scilicet aliquid dicitur sciri non tantum propter testimonium narrantium, sed
etsi nullus narraret hoc esse, ex notitia aliqua incomplexa terminorum aliquorum mediate vel
immediate assentiremus ei.“
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220 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

Auch diesen Wissensbegriff illustriert Ockham mit einem Beispiel. Selbst


wenn mir niemand berichten würde, dass die Wand vor mir weiß ist, würde
ich dies wissen, weil ich auf der Grundlage des eigenen Sehens unmittel-
bar die mentalen Temini ‚Wand‘ und ‚weiß‘ bilde und daraus einen mentalen
Satz herstelle, dem ich dann zustimme. Dieser Satz hat eine unmittelbare
empirische Verankerung. Genau diese Verankerung ist dafür verantwort-
lich, dass ich gar nicht anders kann, als den Satz für wahr zu halten und ihm
zuzustimmen. Zudem fällt auf, dass Ockham nun nicht mehr in einem vagen
Sinn von „sicherer Erkenntnis“ spricht, sondern präziser von „evidenter Er-
kenntnis“. Daher kann der zweite Wissensbegriff in folgender Form gefasst
werden:
W2 : Eine Person verfügt über Wissen, wenn sie sich in einem kognitiven
Zustand befindet, der (i) eine direkte empirische Basis hat, (ii) evident
ist und (iii) die Zustimmung zu einem wahren mentalen Satz beinhal-
tet.
Auch hier spielt es keine Rolle, welche Gegenstände oder Sachverhalte der
mentale Satz bezeichnet. So kann ein kontingenter Sachverhalt ebenso durch
den Satz bezeichnet werden wie ein notwendiger, ein materieller ebenso wie
ein mathematischer. Erst im dritten, noch enger gefassten Wissensbegriff
schränkt Ockham den Satz derart ein, dass er nur einen notwendigen
Sachverhalt bezeichnen darf. In der Formulierung des vierten und engsten
Wissensbegriffs hält er sogar fest, dieser Satz müsse durch ein syllogisti-
sches Verfahren aus Prämissen hergeleitet werden, die ebenfalls notwendige
Sachverhalte bezeichnen.31 Diese beiden Wissensbegriffe sind aber nur für
die Erklärung von Wissenschaft von Bedeutung. Gemäß der aristotelischen
Auffassung von Wissenschaft, der sich Ockham anschließt, zeichnet sich
Wissenschaft nämlich dadurch aus, dass sie aus ersten, notwendigen, unmit-
telbaren und wahren Prämissen Sätze herleitet und damit nicht nur darlegt,
dass sich bestimmte Dinge so und so verhalten, sondern auch zeigt, warum
sie sich so verhalten, ja verhalten müssen. Für das Wissen im außerwissen-
schaftlichen Bereich ist aber weder die syllogistische Herleitung noch die
Beschränkung auf Notwendigkeit erforderlich. Im Gegenteil: Für Ockham
ist es entscheidend, dass sich unser Wissen häufig auf Kontingentes bezieht
und dass wir somit Sätzen zustimmen, die nur kontingenterweise wahr
sind.
Wenn wir uns auf den zweiten Wissensbegriff beschränken, stellt sich
allerdings wiederum die Frage, welche Relevanz skeptische Argumente
hier haben. Immunisiert Ockham Wissen gegenüber skeptischen Anfech-

31
 Vgl. Exp. in libros Physicorum, prol. (OPh IV, 6).
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§ 20 Wissen, Evidenz und intuitive Erkenntnis 221

tungen? Versucht er, ein infallibles, unanfechtbares Wissen zu begründen?


Wohl kaum, wie sein eigenes Beispiel (‚Ich weiß, dass die Wand weiß ist‘)
verdeutlicht. Ich kann mich aufgrund einer optischen Täuschung, einer
eingeschränkten Sehkraft oder anderer äußerer Faktoren sehr wohl darin
irren, dass die Wand weiß ist, und ich kann daher unter Umständen den
Satz ‚Die Wand ist weiß‘ bilden und ihm zustimmen, obwohl er falsch ist.
Kurz gesagt: Mein vermeintliches Wissen kann sich als falsche Meinung
herausstellen. Daher kann es durchaus angefochten werden. Der Wissens-
begriff legt nur fest, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ich mir
gerechtfertigterweise Wissen zuschreibe.32 Dies heißt aber noch lange nicht,
dass die Bedingungen tatsächlich erfüllt sind und dass ich mir tatsächlich zu
Recht Wissen zuschreibe. Es kann sich herausstellen, dass eine Bedingung
nicht erfüllt ist und dass ich mir somit zu Unrecht Wissen zugeschrieben
habe. Dies stellt jedoch keine radikale Bedrohung für unsere Wissenspraxis
dar. Im Prinzip können nämlich alle Bedingungen erfüllt werden, und im
Prinzip lassen sich falsche Wissenszuschreibungen korrigieren. Trotzdem
ist es wichtig, die Möglichkeit des Irrtums in den Blick zu nehmen, denn sie
zeigt, dass empirisch verankertes Wissen kein infallibles Wissen sein kann.
Wenn auch keine Infallibilität gegeben ist, muss doch eine Evidenz vor-
liegen. Oder genauer gesagt: Eine Person muss über Evidenz verfügen, damit
sie echtes und nicht bloß vermeintliches Wissen hat. Was heißt dies, wenn
darunter nicht einfach ein subjektives Evidenzerlebnis oder ein spontanes
Gefühl zu verstehen ist? Ockham präzisiert den Evidenzbegriff, indem
er das Verhältnis zwischen den Termini eines Satzes und dem Satz selbst
erläutert:
„... ich sage, dass die evidente Erkenntnis die Erkenntnis eines wahren Verknüpften
[sc. eines Satzes] ist, die durch die unverknüpfte Erkenntnis der Termini direkt oder
indirekt in hinreichender Weise verursacht werden kann.“33

Offensichtlich liegt hier eine Kausalrelation vor, die sich anhand des ein-
fachsten Falles folgendermaßen erläutern lässt: Wenn ich über die Termini
‚Baum‘ und ‚grün‘ verfüge, die direkt die Bildung des wahren Satzes ‚Der

32
 Es handelt sich daher nicht um einen deskriptiven, sondern um einen normativen
Wissensbegriff. Wie Michon 1994, 64–66, zu Recht betont, legt Ockham nicht eine psycho-
logische Theorie vor, die darlegt, durch welche psychischen Mechanismen Wissen zustande
kommt. Er erläutert vielmehr die Bedingungen, die erfüllt sein müssen (darunter auch nicht-
psychologische Bedingungen wie die Wahrheit des mentalen Satzes), damit tatsächlich Wissen
vorliegt. Mit Blick auf diese Bedingungen kann immer die Frage aufgeworfen werden, ob es
sich in einem konkreten Fall um wirkliches oder nur um vermeintliches Wissen handelt.
33
  Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 5): „... dico quod notitia evidens est cognitio alicuius veri
complexi, ex notitia terminorum incomplexa immediate vel mediate nata sufficienter causari.“
Vgl. auch Quodl. V, q. 5 (OTh IX, 499), wo Ockham die Wahrheitsbedingung betont: „Quia
assensus evidens denotat sic esse in re sicut importatur per propositionem cui fit assensus ...“
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222 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

Baum ist grün‘ hervorrufen, und wenn ich diesen Satz dann so erkenne,
dass ich ihm zustimme (und ihn nicht bloß erwägend erfasse), habe ich eine
evidente Erkenntnis von der Tatsache, dass der Baum grün ist. Entscheidend
für die Evidenz ist eine Kausalrelation zwischen Termini und Satz, die wahr-
heitsgenerierend ist. Selbst wenn keine unmittelbare Kausalrelation vorliegt,
muss es eine lückenlose Kausalkette geben. Wenn ich etwa einen Baum im
Spiegel sehe, muss mein Bilden der Termini ‚Baum‘ und ‚grün‘ zuerst den
Satz ‚Der Baum im Spiegel ist grün‘ verursachen, der dann – zusammen
mit gewissen Annahmen über Spiegelbilder – den Satz ‚Der Baum, der das
Spiegelbild hervorgebracht hat, ist grün‘ verursacht. Diese Kausalkette ist
entscheidend, um jene Fälle auszuschließen, in denen die Termini gleichsam
lose nebeneinander stehen und nicht die Bildung eines Satzes verursachen.
So kann jemand, wie Ockham selber bemerkt, 34 einfach über die Termini
‚Sokrates‘ und ‚weiß‘ verfügen, ohne dass daraus gleich der Satz ‚Sokrates
ist weiß‘ entsteht, etwa weil die Termini durch pure Imagination hervor-
gebracht werden oder weil sie unabhängig voneinander gebildet und nicht
auf denselben Gegenstand bezogen werden.35
Doch wie gelange ich zu den Termini? Im einfachsten Fall ist mir dies
durch eine unmittelbare Sinneswahrnehmung möglich. Ich sehe den Baum
und die grüne Farbe; dies erzeugt in mir eine sog. „sinnliche Erkenntnis“.
Diese verursacht eine sog. „unverknüpfte intellektuelle Erkenntnis“, d.h. das
Bilden und Erfassen der mentalen Termini. Dies wiederum verursacht das
Bilden und zustimmende Erfassen des mentalen Satzes.36 Wir haben es also
mit einer natürlichen Kausalkette zu tun, die von einem Wahrnehmungsakt
ausgeht und garantiert, dass der Satz sich tatsächlich auf den grünen Baum
bezieht. Man könnte daher sagen, dass die Evidenz durch zwei Faktoren
hergestellt wird: zum einen durch einen kausalen Mechanismus, der einen
34
 Vgl. Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 23).
35
 Dies ist entscheidend, weil gemäß Ockhams Wahrheitstheorie ein Satz nur dann wahr
ist, wenn Subjekts- und Prädikatsterminus auf denselben Gegenstand bezogen werden;
vgl. Summa Logicae II, 2 (OPh I, 249–250). Wenn nun jemand Termini bildet, die nicht auf
denselben Gegenstand bezogen sind, kann gar kein Satz entstehen, der dieser Wahrheits-
bedingung genügt.
36
  Für Ockham ist es entscheidend, dass das Bilden der Termini und das Erfassen des Satzes
zwei distinkte Akte sind; der zweite setzt immer den ersten voraus; vgl. Ordinatio I, prol.
(OTh I, 21). So kann jemand nicht aufgrund des bloßen Sehens eines Baumes gleich den Satz
‚Der Baum ist grün‘ erfassen und ihm zustimmen. Zuerst müssen die einzelnen Bestandteile
erfasst werden, die an sich bereits bestimmte Substanzen und Eigenschaften bezeichnen. Dies
verdeutlicht, dass Ockham keinen starken Propositionalismus vertritt, wie gelegentlich an-
genommen wurde (etwa von Biard 1981). Die kleinste semantische Einheit ist für ihn nicht
der Satz, sondern der Terminus, der durch die natürliche Kausalrelation zu einer Substanz
oder einer Eigenschaft und nicht erst durch seine Funktion innerhalb eines Satzes eine
Bezeichnungsfunktion erhält. Panaccio spricht daher zu Recht von einem „semantischen
Atomismus“ (Panaccio 2004, 53–55).
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§ 20 Wissen, Evidenz und intuitive Erkenntnis 223

wahren mentalen Satz generiert, zum anderen durch eine empirische Ver-
ankerung dieses Satzes in einer extramentalen Tatsache.37
Diese auf den ersten Blick simpel erscheinende Erklärung erweist sich
bei näherer Betrachtung als keineswegs harmlos oder selbstverständlich.
Sie beruht auf einigen gewichtigen theoretischen Annahmen, die Ockham
stillschweigend voraussetzt. Zunächst setzt er eine bestimmte Form von
metaphysischem Realismus voraus, denn er geht davon aus, dass es ganz
unabhängig von jeder kognitiven Tätigkeit individuelle Substanzen mit in-
dividuellen Eigenschaften gibt. Genau diese Eigenschaften, die über kausale
Fähigkeiten verfügen, sind dafür verantwortlich, dass ein kognitiver Pro-
zess überhaupt zustande kommt. So gibt es den Baum mit dem individuellen
Grünsein, das von Natur aus in der Lage ist, meinen Gesichtssinn zu akti-
vieren und eine Grünwahrnehmung auszulösen. Diese Annahme mag trivial
erscheinen, ist es aber keineswegs, wenn sie mit konkurrierenden Modellen
verglichen wird. Wie sich im vorangehenden Kapitel gezeigt hat, setzt auch
Thomas von Aquin eine bestimmte Art von metaphysischem Realismus vo-
raus. Doch im Rahmen seiner Metaphysik gibt es auch universale Formen,
die in den individuellen Substanzen instantiiert sind. Erst das Assimilieren
dieser Formen mithilfe besonderer kognitiver Entitäten (sog. „intelligibler
Species“) ermöglicht einen kognitiven Prozess. Das heißt konkret, dass erst
das Assimilieren der Form des Grünseins, die in dem vor mir stehenden
Baum, aber auch in anderen Bäumen und zahlreichen weiteren Gegenstän-
den instantiiert ist, eine Grünwahrnehmung ermöglicht. Ockham lehnt dies
entschieden ab. Wenn überhaupt von einer Assimilation die Rede sein kann,
so nur im Sinne einer Kausalrelation: Die individuelle Eigenschaft wirkt auf
die Sinne ein und löst dadurch direkt – ohne die Mithilfe irgendwelcher ver-
mittelnder Entitäten – einen kognitiven Prozess aus.38
37
 Da Ockham an verschiedenen Stellen davon spricht, dass auch eine similitudo zwischen
den Termini und den äußeren Gegenständen bestehen muss (und zwar auch in jenen Werken,
in denen er die Akt-Theorie vertritt, etwa in Quodl. IV, q. 35, OTh IX, 474, oder in Quaest. in
Phys., q. 1, OPh VI, 398), könnte man vermuten, dass noch eine dritte Bedingung erfüllt sein
muss: Der mentale Satz (bzw. der Terminus als sein Bestandteil) muss in einer Abbildrelation
zu einem äußeren Gegenstand stehen. Diese Vermutung ist aber in zweifacher Hinsicht irre-
führend. Erstens ist der Satz bzw. der Terminus als sein Bestandteil kein inneres Bild, sondern
nichts anderes als ein mentaler Akt. Wenn Ockham von similitudo spricht, zielt er nicht auf
eine piktoriale Beziehung ab, sondern auf die genaue Zuordnung eines Aktes zu einem be-
stimmten Gegenstand. Zweitens rekurriert er auf eine similitudo, um zu erklären, wie sich
ein allgemeiner Terminus auch auf jene Gegenstände beziehen kann, von denen er nicht ver-
ursacht wurde. Es geht ihm somit vor allem um das Problem, wie etwa der Terminus ‚Baum‘
sich auch auf jene Bäume beziehen kann, die ich nie gesehen habe. Doch im Hinblick auf einen
singulären Terminus, dessen Bildung direkt durch einen Gegenstand verursacht wird, stellt
sich dieses Problem gar nicht. Daher ist für diesen Fall auch keine similitudo erforderlich.
38
 Daher findet sich bei ihm eine radikale Umdeutung des Assimiliationsbegriffs, wie in
Reportatio II, q. 12–13 (OTh V, 273) deutlich wird: „... sic est illa assimilatio passi ad agens
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224 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

Eine zweite Annahme besteht darin, dass Ockham einen natürlichen kau-
salen Mechanismus voraussetzt, der ganz unabhängig von Selektions- oder
Auswertungsprozessen wirksam ist und den Inhalt eines Wahrnehmungs-
zustandes bestimmt. Wenn ich vor einem grünen Baum stehe, kann ich gar
nicht anders, als durch das Grünsein so affiziert zu werden, dass ich eine
Grünwahrnehmung habe und sogleich den Terminus ‚grün‘ bilde. Ich wähle
nicht diese besondere Eigenschaft aus, ich filtere sie auch nicht aus einem
Wahrnehmungsfeld heraus und abstrahiere sie nicht aus einer komplexen
Kombination von Farben und Gestalten. Auch diese Annahme ist nicht so
selbstverständlich, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Sie beruht auf der
aristotelischen Vorstellung, dass Wahrnehmung ein rezeptiver Vorgang ist:
Jedem Wahrnehmungssinn ist von Natur aus eine bestimmte Menge von
wahrnehmbaren Eigenschaften zugeordnet (dem Gesichtssinn die Farben,
dem Gehörsinn die Töne usw.), und jeder Wahrnehmungssinn wird dadurch,
dass er von einer Eigenschaft affiziert wird, von einem potentiellen in einen
aktuellen Zustand überführt. All dies läuft ohne bewusste Steuerungs- und
Auswahlprozesse ab. Natürlich sieht sich dieses Kausalmodell mit Schwie-
rigkeiten konfrontiert, sobald komplexe Wahrnehmungsprozesse betrachtet
werden. Angenommen, ich betrachte eine blühende Frühlingswiese, auf der
es grüne Gräser, gelbe und rote Blumen und viele andere Dinge gibt. Warum
kann ich mich dann zuerst auf die gelben Blumen konzentrieren und meine
Wahrnehmung darauf beschränken, um mich erst danach den roten Blumen
zuzuwenden? Muss ich hier nicht gezielt eine bestimmte Wahrnehmungs-
eigenschaft auswählen und eine andere aus meinem Blickfeld ausschalten?
Ockham geht nicht explizit auf einen solchen Fall ein. Er könnte ihn im
Rahmen seines Kausalmodells wohl nur erklären, indem er darauf insistie-
ren würde, dass zunächst alle Farben, die präsent sind, in gleicher Weise auf
den Gesichtssinn einwirken und dadurch einen komplexen Wahrnehmungs-
zustand hervorrufen. Erst in einem zweiten Schritt, wenn der Intellekt die
einzelnen Bestandteile dieses Zustandes analysiert und einige herausgreift,
findet ein Selektionsprozess statt. Doch diese Selektion kann nicht am An-
fang des Wahrnehmungsprozesses erfolgen, und sie spielt sich auch nicht
auf der Ebene der rein sinnlichen Vorgänge ab, die kausal festgelegt sind.
Selektion kann nur ein intellektueller Prozess sein, der auf dem sinnlichen
aufbaut.
Schließlich ist eine dritte Annahme zu beachten, die Ockham stillschwei-
gend voraussetzt. Er geht davon aus, dass die sinnlichen Wahrnehmungs-
zustände intellektuelle Zustände verursachen, die sprachlich strukturiert
per hoc quod recipit aliquem effectum causatum ab agente. Sed isto modo assimilatur intel-
lectus sufficienter per intellectionem causatam ab obiecto et receptam in intellectu, igitur non
requiritur species.“
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§ 20 Wissen, Evidenz und intuitive Erkenntnis 225

sind. Wenn ich eine Grünwahrnehmung habe, bilde ich automatisch den
mentalen Terminus ‚grün‘ und verbinde ihn mit anderen Termini, um etwa
den mentalen Satz ‚Der Baum hier ist grün‘ zu erzeugen.39 Die Pointe seiner
Erklärung von Evidenz liegt ja gerade darin, dass sie von Termini – nicht
von vorsprachlichen Zuständen oder von besonderen kognitiven Entitäten
wie etwa den intelligiblen Species – ausgeht und einen kausalen Mechanis-
mus annimmt, der bewirkt, dass aus den Termini automatisch Sätze gebildet
werden. Entscheidend ist dabei, dass dieser Mechanismus nicht das Beherr-
schen einer konventionellen Sprache voraussetzt. Nicht weil ich Deutsch
gelernt habe und über den Ausdruck ‚grün‘ verfüge, bin ich in der Lage,
einen mentalen Terminus zu bilden. Der mentale Terminus ist gerade umge-
kehrt der primäre Terminus und wird auf natürliche Weise gebildet, ja die
Existenz des mentalen Terminus ist eine notwendige Bedingung dafür, dass
überhaupt in einer konventionellen Sprache wie dem Deutschen ein Aus-
druck gebildet und geäußert werden kann, der eine Zeichenfunktion hat
und somit mehr ist als eine Ansammlung von Lauten. Jeder Mensch ver-
fügt über einen angeborenen Mechanismus, der es ihm erlaubt, mentale
Termini zu bilden und dadurch eine Grundlage für konventionelle Sprachen
zu schaffen. Ockham geht sogar so weit, dass er behauptet, alle Menschen
hätten die gleichen mentalen Termini.40 Ob wir nun ‚grün‘, ‚green‘ oder
‚vert‘ sagen – alle Menschen bilden den gleichen mentalen Terminus, wenn

 Die These, dass ich auf natürliche Weise den Terminus ‚Baum‘ bilden kann, ist allerdings
39

nicht unproblematisch. Wie komme ich überhaupt zu diesem Terminus, wenn ich streng ge-
nommen nur in einer Kausalrelation zu wahrnehmbaren Eigenschaften stehe? Ich sehe ja nicht
die „nackte“ Substanz des Baumes, sondern nur dessen Grünsein und andere Eigenschaften,
wie Ockham ausdrücklich betont. Quodl. III, q. 6 (OTh IX, 225): „... et aliam experientiam
non habemus de substantia nisi per accidentia.“ Er nimmt aber an, dass das Wahrnehmen be-
stimmter charakteristischer Eigenschaften sogleich das Erfassen der Substanz ermöglicht, da
die Eigenschaften stets in einer Substanz inhärieren; wer diese abhängigen Entitäten wahr-
nimmt, erfasst immer auch die Entität, von der sie abhängen. Allerdings räumt Ockham ein,
dass die Eigenschaften keineswegs immer und ausnahmslos von einer bestimmten Substanz
abhängig sind. Gott könnte jederzeit sämtliche akzidentellen Eigenschaften zerstören und
trotzdem die Substanz aufrechterhalten, oder er könnte (wie im Falle der Transsubstantiation)
die Substanz austauschen und die akzidentellen Eigenschaften aufrechterhalten; vgl. Quodl.
IV, q. 22 (OTh IX, 404–406). Daraus ergibt sich ein skeptisches Problem, das Ockham aller-
dings nicht diskutiert: Wie kann ich sicher sein, dass die Eigenschaften, die ich wahrnehme,
einer ganz bestimmten Substanz inhärieren, sodass ich dann korrekterweise einen Terminus
für diese Substanz bilde? Könnte es nicht sein, dass ich z.B. beim Anblick von etwas Grünem,
Großem den Terminus ‚Baum‘ bilde, die Substanz des Baumes von Gott jedoch ausgetauscht
worden ist? Ockham könnte darauf nur antworten, dass es nie eine absolute Gewissheit gibt.
Ich kann nur sagen: Wenn die natürliche Ordnung weiterhin besteht, dann inhärieren die Ei-
genschaften einer bestimmten Substanz und dann kann ich auf natürliche und korrekte Weise
einen Terminus für diese Substanz bilden.
40
 Vgl. Summa Logicae I, 1 (OPh I, 7–9). Diese These ist in der neueren Forschung schon
mehrfach analysiert worden, konzis von Panaccio 1999.
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226 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

sie in einer Kausalrelation zu grünen Dingen stehen. Auch dies ist keine
selbstverständliche Annahme. Sie setzt voraus, dass im Intellekt eines jeden
Menschen eine sprachliche Grundstruktur implementiert ist und dass diese
Struktur gleichsam mit einzelnen Termini aufgefüllt wird, sobald eine Kau-
salrelation zu materiellen Gegenständen besteht.
Die drei genannten Annahmen verdeutlichen, dass Ockhams Evidenz-
begiff in eine umfassende Theorie eingebettet ist, die eine Kausalrelation
zwischen Wahrnehmungsgegenständen und wahrnehmender Person ebenso
voraussetzt wie die Fähigkeit, Wahrnehmungsinputs sprachlich zu ver-
arbeiten. Im Kern zielt diese Theorie auf natürliche Mechanismen ab, deren
prinzipielle Zuverlässigkeit nicht infrage gestellt wird. Sie verfolgt aber nicht
das Ziel, ein subjektives Evidenzerlebnis, das unmittelbar und unkorrigier-
bar gegeben wäre, als Wissensgrundlage zu etablieren. Dies ist im Hinblick
auf die Frage, an welcher Stelle skeptische Einwände überhaupt vorgebracht
werden könnten, von Bedeutung. Ockham wählt nicht einen cartesischen
Ansatz, dem zufolge sämtliche metaphysischen Annahmen suspendiert
werden und damit auch die Kausalrelation zu Gegenständen in der mate-
riellen Welt infrage gestellt wird. Er zweifelt im Gegensatz zu Descartes
auch nicht daran, dass wir über zuverlässige kognitive Vermögen verfügen,
die es uns erlauben, auf der Grundlage von Wahrnehmungsinputs korrekte
mentale Sätze über Gegenstände in der materiellen Welt zu bilden. Wenn er
den Evidenzbegriff klärt, argumentiert er innerhalb einer metaphysischen
Theorie, deren Gültigkeit nicht angetastet wird. Sein Ansatz gleicht nicht
jenem Descartes‘, sondern eher jenem gegenwärtiger naturalistisch gesinnter
Philosophen, etwa demjenigen J. Fodors, der genau wie Ockham davon aus-
geht, (i) dass es eine Kausalrelation zu individuellen Gegenständen gibt, (ii)
dass aufgrund dieser Relation mentale Termini und Sätze gebildet werden
und (iii) dass ein angeborener Mechanismus die Produktion der mentalen
Sätze regelt.41 Daher ist ein radikaler Außenwelt-Skeptizismus von An-
fang an ausgeschlossen. Fragen wie „Könnte es nicht sein, dass ich den Satz
‚Dieser Baum hier ist grün‘ bilde, obwohl kein Baum vorhanden ist?“ oder
gar „Könnte es nicht sein, dass ich ein ganzes Netz von mentalen Sätzen
habe, denen keine Gegenstände in der materiellen Welt entsprechen?“
sind im Rahmen des Ockhamschen Erklärungsrahmens unangebracht.
Mentale Sätze müssen aufgrund der natürlichen Kausalrelation in Relation
zu einer materiellen Welt stehen. Die Termini dieser Sätze hätten gar keine
Bezeichnungsfunktion, wenn es keine solche Relation gäbe. Natürlich

 Alle drei Thesen verteidigt Fodor (freilich ohne Verweis auf Ockham) in Fodor 1987. In
41

Fodor 1998, 1–23, vertritt er zudem – genau wie Ockham – einen semantischen Atomismus:
Einzelne Gegenstände verursachen Begriffe, die aufgrund dieser natürlichen Relation als
„Atome“ eine Bedeutung haben.
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§ 20 Wissen, Evidenz und intuitive Erkenntnis 227

kann es sein, dass einige Sätze, etwa ‚Eine Chimäre kann fliegen‘, gebildet
werden, die keine direkte Verankerung in der materiellen Welt haben. Aber
selbst diese Sätze müssen eine indirekte Verankerung haben. So wäre ich
nicht in der Lage, den Terminus ‚Chimäre‘ als einen sinnvollen Ausdruck zu
bilden und zu verstehen, wenn ich nicht wüsste, dass sich eine Chimäre aus
einem Löwen und einer Ziege zusammensetzt. Und die Termini ‚Löwe‘ und
‚Ziege‘ haben natürlich eine Verankerung in der materiellen Welt.42 Für alle
basalen Termini muss es eine solche Verankerung geben, und daher stehen
auch alle basalen mentalen Sätze in einer natürlichen Kausalrelation zur ma-
teriellen Welt.43 Werden die Termini dieser Sätze aufgrund einer unmittel-
baren Wahrnehmung gewonnen, liegt sogar eine Evidenz vor, die objektiv
überprüft werden kann. Wenn ich etwa dem mentalen Satz ‚Dieser Baum
hier ist grün‘ zustimme und ihn in einer konventionellen Sprache zum Aus-
druck bringe, kann eine andere Person prüfen, auf welcher Grundlage ich
diesen Satz gebildet und geäußert habe. Habe ich ihn im Schlaf gemurmelt?
Oder habe ich ihn in einer Situation ausgesprochen, in der ein Baum vor mir
steht? Verfüge ich über funktionierende Sinne, die es mir erlauben, adäquate
Wahrnehmungsinputs aufzunehmen? Verfüge ich zudem über ein funk-
tionierendes intellektuelles Vermögen, das mir erlaubt, die Inputs korrekt
sprachlich zu verarbeiten? Alle diese Fragen können im Prinzip von einer
anderen Person beantwortet werden, die die Leistungsfähigkeit meiner
kognitiven Vermögen und die konkrete Situation beurteilt.
So wenig, wie sich die Problematik des radikalen Außenwelt-Skeptizis-
mus stellt, taucht umgekehrt die Frage nach einem absolut sicheren und
unerschütterlichen Wissensfundament auf. Denn im Prinzip besteht eine
zuverlässige Kausalrelation zu materiellen Gegenständen, die es jedem
Menschen mit funktionierenden kognitiven Vermögen erlaubt, wahre
mentale Sätze zu bilden. Aber natürlich sind Abweichungen von diesem
Prinzip möglich.44 So kann es sehr wohl sein, dass ich zwar aufgrund eines
Wahrnehmungsinputs Termini bilde, die den Satz ‚Dieser Baum hier ist
grün‘ verursachen, aber trotzdem kein Baum vor mir steht, etwa weil ich

 In Summa Logicae II, 14 (OPh I, 286–287) erklärt Ockham die Ausdrücke für fiktive
42

Gegenstände als konnotative Termini, die mehrere reale Gegenstände bezeichnen.


43
 Eine Ausnahme stellen natürlich Sätze über mentale Zustände und andere immaterielle
Entitäten dar. Aber selbst diese Sätze stehen in einer Kausalrelation zu einer vom Erfassens-
akt distinkten Entität.
44
 Dies ist gegen Goddu 1984, 51, zu betonen, der in seiner Diskussion des Evidenzbegriffs
abschließend festhält: „Deception is eliminated at the outset by definition.“ Täuschung ist
nicht vollständig ausgeschlossen, sondern nur im Prinzip. Das heißt: Wenn normale Wahr-
nehmungsbedingungen vorliegen, wenn eine Person über normal funktionierende Sinne
verfügt und wenn ihr Intellekt die sinnlichen Inputs korrekt verarbeitet, ist Täuschung aus-
geschlossen. Ockhams Erklärungsansatz lässt aber durchaus die Möglichkeit offen, dass eine
dieser Bedingungen unter besonderen Umständen nicht erfüllt ist.
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228 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

ein perfektes Baum-Hologramm sehe oder weil ich einer Fata Morgana
zum Opfer falle. Auch andere Fälle von Sinnestäuschungen, die Ockham
explizit diskutiert, sind möglich. Die Details dieser Diskussion sollen erst
in § 21 analysiert werden. Hier ist nur die allgemeine Stoßrichtung seiner
Argumentation relevant: Nicht immer und überall wird auf der Grundlage
einer Sinneswahrnehmung eine evidente Erkenntnis gewonnen. In seiner
Explikation der Evidenz will Ockham nur erläutern, durch welchen Mecha-
nismus im Prinzip wahre Sätze generiert werden. Doch dieser Mechanismus
kann durch verschiedene Faktoren beeinträchtigt werden. Deshalb muss die
Zustimmung zu mentalen Sätzen immer wieder überprüft werden.
Berücksichtigt man diesen Erklärungsrahmen, zeigt sich, dass die car-
tesische Frage, die seit Gilsons berühmtem Skeptizismus-Vorwurf immer
wieder an Ockham herangetragen wurde, im Grunde eine falsch gestellte
Frage ist. Wer nämlich fragt, ob Ockham mit seinem Erklärungsmodell
garantiert, dass absolut sicheres Wissen möglich ist, oder ob er umgekehrt
unser Wissen einer absoluten Sicherheit beraubt, setzt ein fundamentalisti-
sches Verständnis von Wissen voraus. Die implizite Annahme lautet: Ent-
weder es gibt ein absolut sicheres, d.h. untrügerisches und unkorrigierbares
Fundament und Wissen ist möglich, oder es gibt kein solches Fundament
und Wissen ist unmöglich. Doch Ockham verfolgt nicht das Ziel, ein ab-
solut sicheres Fundament zu etablieren. Er will vielmehr aufzeigen, durch
welche kognitiven Mechanismen Wissen im Prinzip entstehen kann. Ob
dieser Mechanismus tatsächlich korrekt funktioniert, muss gegebenenfalls
geprüft werden. Doch selbst wenn sich herausstellt, dass er unter besonde-
ren Bedingungen nicht korrekt funktioniert, ist damit die Möglichkeit von
Wissen nicht widerlegt. Es ist nur gezeigt, dass in einigen Fällen Korrek-
turen erforderlich sind – Korrekturen, die nur vor dem Hintergrund einer
im Prinzip erfolgreichen Bildung von wahren mentalen Sätzen möglich sind
und somit nicht gleich die Korrektheit aller Fälle infrage stellt. Im Gegen-
teil: Die Möglichkeit eines Irrtums setzt prinzipielle Korrektheit voraus.
Gegen diese antifundamentalistische Interpretation könnten indessen
zwei Einwände erhoben werden. Erstens könnte argumentiert werden,
dass Ockham doch auch „durch sich bekannte Sätze“ (propositiones per
se notae) annimmt, die absolut unbezweifelbar und unkorrigierbar sind.
Schafft er damit nicht ein infallibles Wissensfundament? In der Tat führt
Ockham derartige Sätze ein. Er fasst sie als Sätze auf, die allein aufgrund
der Kenntnis ihrer Termini erfasst und gewusst werden.45 Die klassischen
Beispiele sind für ihn – genau wie für Duns Scotus (vgl. § 8) – Sätze wie
45
  Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 6): „Dicendum quod propositio per se nota est illa quae
scitur evidenter ex quacumque notitia terminorum ipsius propositionis ...“ Siehe auch Or-
dinatio I, dist. 3, q. 4 (OTh II, 438–439) und Quodl. V, q. 27 (OTh IX, 438).
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§ 20 Wissen, Evidenz und intuitive Erkenntnis 229

‚Ein Ganzes ist größer als jeder seiner Teile‘. Jeder, der in diesem Fall den
Subjektsterminus korrekt versteht, kann auch den ganzen Satz bilden,
denn der Subjektsterminus beinhaltet den Prädikatsterminus. Der Satz ist
allein aufgrund der Bedeutung seiner Termini wahr, nicht aufgrund des Be-
zugs zu diesem oder jenem konkreten Ganzen, das sinnlich erfasst wird.
Daher handelt es sich hier – modern gesprochen – um einen analytischen
Satz. Dieser kann sich im Gegensatz zu einem synthetischen Satz nicht
plötzlich als falsch herausstellen. Wenn die Bedeutung seiner Termini voll-
ständig erfasst wird, steht seine Wahrheit untrüglich und unrevidierbar fest.
Er bildet somit ein infallibles Fundament, allerdings nur für analytisches
Wissen. Ockham behauptet nicht, dass aus den analytischen Sätzen syn-
thetische deduziert werden können (was schwerlich möglich wäre) oder dass
die Infallibilität der ersten Art von Sätzen die Infallibilität der zweiten Art
garantiert. Er weist vielmehr darauf hin, dass die zweite Art klar von der
ersten zu unterscheiden ist und dass bei dieser Art durchaus die Möglich-
keit einer fehlenden Evidenz besteht. So kann jemand Sokrates nicht sehen,
sondern sich ihn und seine Weiße nur vorstellen, was zur Folge hat, dass er
nicht mit Evidenz dem Satz ‚Sokrates ist weiß‘ zustimmt und folglich auch
kein Wissen hat.46 Dies bedeutet, dass analytische Sätze nicht einfach die
Grundlage für synthetische bilden, ja dass es überhaupt kein einheitliches
Fundament für Wissen gibt.
Ein zweiter Einwand könnte darauf verweisen, dass Ockham auch ein
Wissen von den eigenen mentalen Zuständen annimmt, das infallibel ist. So
hält er fest:
„Es ist aber klar, dass unser Intellekt in diesem Leben nicht nur wahrnehmbare
Dinge erkennt, sondern im Besonderen und intuitiv auch gewisse intelligible Dinge,
die in keiner Weise den Sinnen unterstehen, nicht mehr als eine abgetrennte Sub-
stanz den Sinnen untersteht. Derart sind die Denkakte, Akte des Willens, schließ-
lich Zustände der Freude, der Traurigkeit usw., von denen ein Mensch die Erfahrung
macht, dass sie in ihm sind; dennoch sind sie nicht wahrnehmbare Dinge und unter-
stehen nicht den Sinnen. Dass aber Derartiges von uns im Besonderen und intuitiv
erkannt wird, ist klar, denn dies ist mir mit Evidenz bekannt: ‚Ich denke‘.“47

46
  Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 6–7): „Si autem tantum cognosceret Sortem et albedinem
exsistentem in Sorte abstractive, sicut potest aliquis imaginari ea in absentia eorum, non sciret
evidenter quod Sortes esset albus, et ideo non est propositio per se nota.“
47
  Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 39–40): „Patet etiam quod intellectus noster pro statu
isto non tantum cognoscit ista sensibilia, sed in particulari et intuitive cognoscit aliqua in-
telligibilia quae nullo modo cadunt sub sensu, non plus quam substantia separata cadit sub
sensu, cuiusmodi sunt intellectiones, actus voluntatis, delectatio consequens et tristitia et hui-
usmodi, quae potest homo experiri inesse sibi, quae tamen non sunt sensibilia nec sub aliquo
sensu cadunt. Quod enim talia cognoscantur a nobis in particulari et intuitive, patet, quia
haec est evidenter mihi nota ,ego intelligo‘.“ Vgl. auch Quodl. I, q. 14 (OTh IX, 79–80).
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230 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

Wenn das Erkennen der eigenen mentalen Zustände nicht von den Sinnen
abhängt, wie Ockham betont, dann sind auch keine Sinnestäuschungen
möglich. Und dann können Sätze über diese Zustände auch nicht durch
neue empirische Belege revidiert oder korrigiert werden. Ein Satz wie ‚Ich
denke‘ ist unkorrigierbar wahr, solange ich denke, und wird von mir als ein
selbst-verifizierender Satz erfasst. Denn indem ich den Satz erfasse, zeige
ich, dass ich denke.
Ist damit ein infallibles Wissensfundament geschaffen? In der Tat, aber
nur mit Bezug auf die relativ kleine Menge der Sätze über aktuelle mentale
Akte und Zustände. Sobald ich über Sätze wie ‚Ich denke‘, ‚Ich bin freudig
gestimmt‘, ‚Ich bin betrübt‘ usw. hinausgehe, eröffnen sich wieder Täu-
schungsmöglichkeiten, denn dann hängt die Bildung der Termini wieder
von der Aktivität der Sinne ab, die zwar im Prinzip zuverlässig funk-
tionieren, aber keineswegs immun sind gegen Fehlleistungen. Ockham be-
hauptet nicht, dass Cogito-Sätze das einzige unerschütterliche Fundament
bilden und dass das ganze Wissen auf diesem Fundament aufbauen muss.
Er unterscheidet sorgfältig zwischen Cogito-Sätzen, die ohne Mithilfe der
Sinne gebildet werden, und Sätzen über kontingente Sachverhalte in der ma-
teriellen Welt, die nur auf der Grundlage von Sinnesinformationen möglich
sind. Auch hier gilt wieder, dass die zweite Art von Sätzen nicht einfach aus
der ersten deduziert werden kann.
Diese Antwort auf die beiden Einwände zeigt nicht nur, dass der Ver-
weis auf analytische Sätze und Cogito-Sätze nicht dazu dienen kann, eine
fundamentalistische Interpretation zu stärken. Sie wirft auch ein Licht auf
Ockhams gesamte Strategie bei der Erklärung von Wissen. Er verfolgt nicht
das Ziel, ein einziges, absolut sicheres Wissensfundament zu bestimmen, um
dann zu zeigen, dass alles, was darauf beruht, ebenfalls absolut sicher ist.
Vielmehr unterscheidet er verschiedene Arten von Sätzen und damit auch
verschiedene Arten von Wissen, die einen unterschiedlichen Status haben.
Einige davon sind infallibel, andere nicht. Selbst wenn einige sich als falsch
herausstellen und revidiert werden müssen, bricht damit nicht das ganze
Wissenssystem zusammen. Es muss nur neu angepasst und immer wieder
auf die empirische Verankerung hin überprüft werden.
Dieser antifundamentalistische, fallibilistische Erklärungsansatz ist zu
beachten, wenn Ockhams berühmte Unterscheidung zwischen intuitiver
und abstraktiver Erkenntnis in den Blick genommen wird. Er verwendet
diese Unterscheidung, um zu verdeutlichen, dass das Erfassen von Termini
zwei Arten von Erkenntnissen ermöglicht: die intuitive Erkenntnis, die un-
mittelbar Existenzurteile zur Folge hat, und die abstraktive Erkenntnis, die
keine solchen Urteile zur Folge hat:
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§ 20 Wissen, Evidenz und intuitive Erkenntnis 231

„Aber [die beiden Arten von Erkenntnis] werden auf folgende Weise unterschieden:
Die intuitive Erkenntnis ist jene, kraft derer gewusst werden kann, ob ein Gegen-
stand existiert oder nicht, sodass – wenn der Gegenstand existiert – der Intellekt
sogleich urteilt, dass er existiert, und mit Evidenz erkennt, dass er existiert, es sei
denn, er werde vielleicht aufgrund einer Unvollkommenheit dieser Erkenntnis daran
gehindert. Und ebenso gilt: Wenn eine solche Erkenntnis bezüglich eines nicht exis-
tierenden Gegenstandes durch die göttliche Macht aufrechterhalten würde, könnte
er kraft dieser unverknüpften Erkenntnis mit Evidenz erkennen, dass der Gegen-
stand nicht existiert. [...] Die abstraktive Erkenntnis hingegen ist jene, kraft derer
bezüglich eines kontingenten Gegenstandes nicht mit Evidenz gewusst werden
kann, ob er existiert oder nicht.“48

Ockham fügt hinzu, dass der entscheidende Unterschied nicht nur in Ur-
teilen über die Existenz besteht, sondern auch in Urteilen über die kontin-
gente Beschaffenheit eines Gegenstandes. So urteile ich aufgrund einer in-
tuitiven Erkenntnis, dass der vor mir stehende Baum existiert, dass er grün
ist, dass er zehn Meter hoch ist usw. Wenn ich hingegen eine abstraktive
Erkenntnis habe, denke ich beispielsweise an den Baum, der vor dem Haus
meiner Kindheit stand. Ich urteile dann nicht, dass er existiert (er mag in
der Zwischenzeit gefällt worden sein), und ich urteile auch nicht, dass er
grün ist und eine bestimmte Höhe hat (er mag ja immer noch existieren,
aber verdorrt und verkrüppelt sein). Kurzum: Im Falle der abstraktiven
Erkenntnis stelle ich mir nur etwas vor, ohne zu urteilen, dass es sich in
Wirklichkeit so verhält. Im Falle der intuitiven Erkenntnis hingegen, die
auf einer unmittelbaren Wahrnehmung beruht, fälle ich ein solches Urteil.
Daher lassen sich die beiden Arten von Erkenntnis folgendermaßen cha-
rakterisieren:

Intuitive Erkenntnis: Das Erfassen der Termini verursacht unmittelbar das


Urteil, (i) dass x existiert, wenn x existiert (oder dass x nicht existiert,
wenn x nicht existiert), und (ii) dass x die kontingenten Eigenschaften F,
G usw. hat.
Abstraktive Erkenntnis: Das Erfassen der Termini verursacht kein Urteil
über die Existenz von x und die Existenz kontingenter Eigenschaften
von x.

  Ordinatio I, prol., q. 1 (OT I, 31–32): „Sed distinguuntur per istum modum: quia notitia
48

intuitiva rei est talis notitia virtute cuius potest sciri utrum res sit vel non, ita quod si res
sit, statim intellectus iudicat eam esse et evidenter cognoscit eam esse, nisi forte impediatur
propter imperfectionem illius notitiae. Et eodem modo si esset perfecta talis notitia per po-
tentiam divinam conservata de re non exsistente, virtute illius notitiae incomplexae evidenter
cognosceret illam rem non esse. [...] Notitia autem abstractiva est illa virtute cuius de re
contingente non potest sciri evidenter utrum sit vel non sit.“ Vgl. auch Reportatio II, q. 12–13
(OTh V, 261) und Quodl. V, q. 5 (OTh IX, 496).
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232 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

Diese viel zitierte Unterscheidung soll hier nicht mit Blick auf alle Details
diskutiert werden.49 Es sollen nur jene Aspekte betont werden, die im Hin-
blick auf die Skeptizismus-Problematik relevant sind. In dieser Hinsicht fällt
sogleich auf, dass sich beide Arten von Erkenntnis auf einen individuellen
Gegenstand beziehen, und zwar in direkter Weise. Ockham wendet sich ent-
schieden gegen die Annahme, es gebe bei der einen oder anderen Erkenntnis
irgendwelche vermittelnde Entitäten (z.B. Gegenstände mit „intentionalem
Sein“ oder intelligible Species), die sich gleichsam zwischen den Erkennt-
nisakt und den erfassten Gegenstand einschieben.50 Wenn ich über den vor
mir stehenden Baum urteile, so richte ich mich direkt auf ihn, und wenn ich
an den Baum meiner Kindheit denke, beziehe ich mich ebenfalls direkt auf
ihn. Daher kann folgende skeptische Frage, die sich an einem repräsenta-
tionalistischen Modell orientiert, gar nicht auftauchen: Wie kann ich durch
das Erfassen einer inneren Repräsentation überhaupt sicher sein, dass es
einen korrespondierenden äußeren Gegenstand gibt? Für Ockham ist diese
Frage gegenstandslos, da sie die Annahme innerer Repräsentationen, die den
direkten Zugang zu äußeren Gegenständen verstellen, voraussetzt – genau
jene Annahme, die er im Rahmen seines direkten Erkenntnisrealismus von
vornherein ausschließt.51
Freilich bleibt damit immer noch die Möglichkeit offen, dass andere
skeptische Probleme auftauchen. Besonders im Hinblick auf die intuitive
Erkenntnis stellt sich die Frage, ob damit sicheres Wissen erworben wird.
Meistens wird diese Frage mit Blick auf die intuitive Erkenntnis von nicht
existierenden Gegenständen gestellt, die Ockham ja ausdrücklich zulässt.
49
 Da der historische Ursprung und die terminologische Ausarbeitung dieser Unterschei-
dung schon mehrfach untersucht worden sind, gehe ich im Folgenden nicht darauf ein. Eine
umfassende Darstellung bietet die klassische Studie von Day 1947. Für eine konzise Analyse
vgl. Adams 1987, 501–525, und Karger 1999.
50
 Er wendet sich vor allem gegen Scotus, der angenommen hatte, im Fall der abstraktiven
Erkenntnis werde der Gegenstand nur vermittelt durch eine Species erfasst. Dagegen insistiert
Ockham darauf, auch in dieser Erkenntnis werde der Gegenstand an sich und nicht „tantum
in quadam similitudine diminuta“ erfasst; vgl. Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 34). Auch in
Reportatio I, dist. 27, q. 3 (OTh IV, 242) hält er konzis fest: „Igitur sicut nihil est medium
inter obiectum intuitive cognitum et ipsam notitiam intuitivam, ita nihil erit medium inter
obiectum et notitiam abstractivam.“
51
 Der Fall der Erinnerung mag problematisch erscheinen. Benötige ich nicht zumindest
für eine Erinnerung an den Baum meiner Kindheit eine innere Repräsentation? Der Baum
steht ja nicht unmittelbar vor mir, sodass ich mich auch nicht aufgrund von Sinneseindrücken
unmittelbar auf ihn beziehen kann. Ockham würde einen solchen Einwand zurückweisen.
Selbst ein Akt der Erinnerung, so stellt er in Reportatio II, q. 12–13 (OTh V, 261–262 und
271) fest, bezieht sich nicht primär auf eine Repräsentation, und selbst in diesem Fall ist keine
Species erforderlich. Es ist einzig und allein ein Habitus erforderlich, der aktiviert wird. Dann
entsteht ein Akt, der sich wiederum direkt auf das vergangene Objekt bezieht, mag es zum
gegenwärtigen Zeitpunkt existieren oder nicht. Vgl. ausführlich zur Theorie der Erinnerung
Adams 1987, 515–525.
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§ 20 Wissen, Evidenz und intuitive Erkenntnis 233

Diese Art von Erkenntnis, die durch göttliches Eingreifen zustande kommt,
verdient sicherlich eine Analyse und soll in § 22 genauer betrachtet werden.
Doch bereits die These, dass es eine intuitive Erkenntnis von existierenden
Gegenständen gibt, bedarf einer Prüfung. Garantiert diese Art von Erkennt-
nis sicheres Wissen? Habe ich etwa dadurch, dass ich über die Existenz und
die Farbe des vor mir stehenden Baumes urteile, ein sicheres Wissen davon,
dass der Baum tatsächlich existiert und tatsächlich grün ist? Kann ich jeden
Zweifel ausschließen? Mindestens drei Punkte gilt es hier zu beachten.
Erstens fällt auf, dass Ockham betont, das Urteil werde sogleich (statim)
gefällt, ohne dass eine Überlegung oder eine besondere Reflexion statt-
findet. Damit verdeutlicht er, dass ein kausaler Mechanismus vorliegt,
der natürlicherweise wirksam ist. Wenn ich – um sein eigenes Beispiel zu
zitieren – vor Sokrates stehe und eine Wahrnehmung von dessen weißer
Farbe habe, bilde ich sogleich die Termini ‚Sokrates‘ und ‚weiß‘ und stimme
sogleich den Sätzen ‚Sokrates existiert‘ und ‚Sokrates ist weiß‘ zu. Meine
kognitiven Vermögen sind so gebaut, dass sie beim Vorliegen eines be-
stimmten Wahrnehmungsinputs gar nicht anders können, als diese Urteile
zu fällen. Nicht einmal durch einen Willensentscheid, so betont Ockham,
könnte ich von diesen Urteilen abgehalten werden.52 Damit verweist er
genau auf die beiden bereits genannten Merkmale von Evidenz: Zum einen
gibt es einen natürlich verankerten kognitiven Mechanismus, der zum zu-
stimmenden Erfassen von wahren mentalen Sätzen führt; zum anderen
liegt eine empirische Verankerung dieser Sätze vor. Daher steht für Ock-
ham fest, dass eine intuitive Erkenntnis eine evidente Erkenntnis ist.53 Und
eine solche Erkenntnis beinhaltet, wie bereits mehrfach betont wurde, die
Zustimmung zu wahren Sätzen. Daher kann ein radikaler Zweifel sogleich
ausgeräumt werden. Fragen wie „Könnte es nicht sein, dass ich zwar eine
intuitive Erkenntnis habe, aber gänzlich falsche Urteile über einen Gegen-
stand fälle?“ können zurückgewiesen werden. Der kausale Mechanismus
garantiert, dass im Prinzip wahre Urteile über die Existenz und die kon-
tingenten Eigenschaften gebildet werden.
Zweitens fällt auch auf, dass Ockham präzisiert, der Intellekt stimme
sogleich zu, dass der Gegenstand existiert, wenn er existiert. Das Existenz-
urteil wird also nicht willkürlich oder auf einer beliebigen Basis gefällt. Dies
gilt es zu betonen, um Ockhams Erklärung der intuitiven Erkenntnis von
derjenigen späterer Autoren abzugrenzen. So soll Bernhard von Arezzo
gemäß der Darstellung des Nikolaus von Autrécourt behauptet haben, im
Falle einer intuitiven (und sogar klaren) Erkenntnis urteile jemand, dass
 Vgl. Ordinatio I, prol., q. 7 (OTh I, 192).
52

 Er hält in Ordinatio I, prol., q. 1 (OT I, 31) explizit fest: „... illa notitia Sortis et albedinis
53

virtute cuius potest evidenter cognosci quod Sortes est albus, dicitur notitia intuitiva.“
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234 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

ein Gegenstand existiert, ob er nun wirklich existiere oder nicht.54 Dies ist
sicherlich nicht Ockhams Auffassung. Da das Existenzurteil auf der Basis
von Termini gefällt wird, die ihrerseits auf der Basis einer direkten Wahr-
nehmung entstehen, muss ein Gegenstand existieren, damit er als existierend
beurteilt wird. Eine lückenlose Kausalkette führt vom Gegenstand zum Ur-
teil. Dies ist wiederum ein entscheidender Punkt im Hinblick auf mögliche
skeptische Einwände. Die Frage „Könnte es sein, dass ich in einer intuitiven
Erkenntnis urteile, dass ein Gegenstand existiert, obwohl er nicht existiert?“
würde Ockham eindeutig negativ beantworten. Es kann natürlich sein, dass
ich falsch urteile, aber dann habe ich keine intuitive Erkenntnis; ich schreibe
mir nur fälschlicherweise eine solche Erkenntnis zu. Es kann auch sein, dass
ich zwar eine intuitive Erkenntnis habe, aber über einen nicht existierenden
Gegenstand urteile. Doch dann urteile ich korrekt, dass er nicht existiert.
Die Möglichkeit, dass ich tatsächlich eine intuitive Erkenntnis habe und
trotzdem ein falsches Urteil fälle, ist von vornherein ausgeschlossen.
Dies heißt allerdings nicht, dass immer und ausnahmslos korrekte Urteile
hervorgebracht werden. Es gilt hier, einen dritten, in der Forschungsliteratur
meistens vernachlässigten Punkt zu beachten. An der zitierten Stelle, an der
Ockham die intuitive Erkenntnis erläutert, weist er explizit darauf hin, dass
der Intellekt „vielleicht aufgrund einer Unvollkommenheit dieser Erkennt-
nis“55 an der Bildung eines korrekten Existenzurteils gehindert werden
kann. Noch expliziter ist er an einer anderen Stelle:
„Dennoch ist zu beachten, dass es manchmal aufgrund einer Unvollkommenheit der
intuitiven Erkenntnis (nämlich weil sie sehr unvollkommen und obskur ist – entwe-
der wegen gewisser Hindernisse seitens des Objekts oder wegen gewisser anderer
Hindernisse) geschehen kann, dass keine oder wenige kontingente Wahrheiten über
einen derart intuitiv erkannten Gegenstand erkannt werden können.“56

Offensichtlich gibt es keinen Automatismus, dem zufolge immer und aus-


nahmslos korrekte Urteile gefällt werden. Es kann auch gewisse „Hinder-
nisse“ geben, wie Ockham betont. Was ist darunter zu verstehen? Ein
modernes Beispiel mag hier Klarheit schaffen. Wenn wir im dichten Nebel
durch einen Park spazieren, glauben wir etwas zu sehen, etwa einen schwar-
zen Mann, und wir fällen dann das Urteil ‚Hier ist ein schwarzer Mann‘.
In Tat und Wahrheit sehen wir aber nur eine gewisse Nebelformation; kein
54
 Nikolaus von Autrécourt, Correspondence I.2 (ed. de Rijk 1994, 46): „Notitia intuitiva
clara est per quam iudicamus rem esse, sive sit sive non sit.“ Walter Chatton vertritt eine ähn-
liche Auffassung (vgl. § 23).
55
  Vgl. oben Anm. 48.
56
  Ordinatio I, prol. (OTh I, 33): „Est tamen advertendum quod aliquando propter imper-
fectionem notitiae intuitivae, quia scilicet est valde imperfecta et obscura, vel propter aliqua
impedimenta ex parte obiecti, vel propter aliqua alia impedimenta, potest contingere quod vel
nullae vel paucae veritates contingentes de re sic intuitive cognita possunt cognosci.“
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§ 20 Wissen, Evidenz und intuitive Erkenntnis 235

schwarzer Mann ist präsent. In diesem Fall stellen die schlechten Sichtbedin-
gungen ein Hindernis für eine intuitive Erkenntnis dar. Heißt dies, dass wir
dann eine unkorrekte intuitive Erkenntnis haben? Keineswegs. Wie sich ge-
zeigt hat, ist eine intuitive Erkenntnis ja eine evidente Erkenntnis, und diese
beinhaltet immer die Zustimmung zu einem wahren Satz. Daher kann es
schon aufgrund der Evidenzbedingung keine unkorrekte intuitive Erkennt-
nis geben.57 In dem genannten Fall liegt vielmehr eine falsche Zuschreibung
einer intuitiven Erkenntnis vor. Aufgrund der besonderen Wahrnehmungs-
bedingungen haben wir bestimmte Wahrnehmungsinputs, die bewirken,
dass wir das falsche Urteil ‚Hier ist ein schwarzer Mann‘ bilden, und genau
deshalb glauben wir, wir hätten eine intuitive Erkenntnis – aber wir glauben
es eben bloß. Wenn wir die Wahrnehmungsbedingungen überprüfen, stellen
wir fest, dass die Wahrnehmungsinputs irreführend waren und dass wir
deshalb ein falsches Urteil gebildet haben.
Dies ist nun für die Skeptizismus-Problematik relevant. Auf die Frage
„Könnte es sein, dass wir trotz konkreter Wahrnehmungsinputs und trotz
korrekter Verarbeitung dieser Inputs falsche Urteile bilden?“ lässt sich aus
Ockhams Sicht antworten: Natürlich könnte dies der Fall sein. Ein Irrtum
ist immer möglich. Mit der Theorie der intuitiven Erkenntnis soll nicht ge-
zeigt werden, dass es einen kognitiven Mechanismus gibt, der ausnahmslos
korrekte Urteile generiert. Es soll nur erklärt werden, wie unter günstigen
Erkenntnisbedingungen derartige Urteile entstehen. Da wir nicht immer
in der Lage sind, auf Anhieb die günstigen Erkenntnisbedingungen von
den ungünstigen zu unterscheiden, ist es durchaus möglich, dass wir uns
(oder auch anderen Personen) irrtümlicherweise eine intuitive Erkennt-
nis zuschreiben. Die Unterscheidung zwischen intuitiver und abstraktiver
Erkenntnis ist nicht so zu verstehen, dass wir in jeder Situation die eine
oder die andere Erkenntnis haben müssen. Es ist auch schlicht und einfach
möglich, dass wir keine Erkenntnis haben – genau dann, wenn wir falschen
Urteilen zustimmen.
Diese Argumentation könnte einen akademisch inspirierten Skeptiker
allerdings zu einer Erwiderung veranlassen. Wenn wir die günstigen Wahr-
nehmungsbedingungen nicht auf Anhieb von den ungünstigen unterschei-
den können, so könnte er sagen, brauchen wir zumindest ein Merkmal oder

 Dies ist gegenüber Karger 1999, 219, festzuhalten, die behauptet, es könne eine intuitive
57

Erkenntnis geben, die ein falsches Urteil verursacht. Diese These verträgt sich nicht mit Ock-
hams expliziter Aussage, dass der Intellekt im Falle einer intuitiven Erkenntnis mit Evidenz
erkennt dass ein Gegenstand existiert, wenn er existiert (vgl. Anm. 48). Und Evidenz be-
stimmt er als „die Erkenntnis eines wahren Verknüpften“ (vgl. Anm. 33) Daher muss in einer
intuitiven Erkenntnis einem wahren Satz zugestimmt werden. Es gilt hier, sorgfältig zwischen
(1) einer falschen intuitiven Erkenntnis und (2) der falschen Zuschreibung einer intuitiven
Erkenntnis zu unterscheiden. Ockham zufolge ist nur (2) möglich.
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236 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

ein sicheres Zeichen in den Wahrnehmungszuständen selbst, das es uns er-


laubt, die korrekten von den unkorrekten zu unterscheiden. So müssen die
Wahrnehmungszustände beispielsweise besonders klar oder deutlich oder
intensiv sein. Solange Ockham kein solches Merkmal angibt, vermag er
nicht zu zeigen, wie wir uns mit absoluter Sicherheit eine intuitive Erkennt-
nis zuschreiben können.
Doch Ockham gibt kein solches Merkmal an. Wie bereits mehrfach be-
tont wurde, beruft er sich nicht auf ein Evidenzerlebnis oder auf ein anderes
subjektives Merkmal. Und wie M. McCord Adams ausführlich gezeigt hat,
interessiert er sich auch sonst nicht für die akademische Suche nach einem
sicheren Merkmal, das absolute Sicherheit garantieren würde.58 Der Grund
dafür liegt wohl kaum darin, dass er in der Bestimmung eines solchen
Merkmals gescheitert ist. Der Grund liegt vielmehr in seiner Wissenskon-
zeption. Er zielt nicht darauf ab, ein infallibles Fundament für unser Wissen
von materiellen Gegenständen zu schaffen, denn er will nicht anhand eines
subjektiv erfassbaren Merkmals die Menge der fundamentalen Erkennt-
nisakte bestimmen, die absolut sicher sind und wahre Urteile garantieren.
Sein Ziel besteht vielmehr darin, die kognitiven Prozesse zu erläutern, die
im Prinzip zuverlässig sind und im Prinzip intuitive Erkenntnis generieren.
Doch aufgrund besonderer Bedingungen ist es immer möglich, dass keine
solche Erkenntnis entsteht, wir sie uns aber fälschlicherweise zuschreiben.
Daher verfügen wir nicht ein für allemal über ein absolut sicheres Fun-
dament – selbst dann nicht, wenn von einem möglichen Eingreifen Gottes
abgesehen wird. Die Zuschreibung von intuitiver Erkenntnis bleibt stets
einem Prozess der Prüfung und Revision ausgesetzt. Dieser Prozess kann
nicht „von innen“ ausgehen, nämlich indem wir durch Introspektion nach
einem Merkmal für Zuverlässigkeit oder Korrektheit suchen. Er muss
vielmehr außen ansetzen, nämlich indem wir die äußeren Wahrnehmungs-
bedingungen und den ganzen kausalen Vorgang, der zur Bildung eines Ur-
teils geführt hat, prüfen.
Berücksichtigt man diesen Erklärungsansatz, zeigt sich einmal mehr,
dass Ockham nicht ein cartesisches Wissensprojekt verfolgt und sich daher
auch nicht mit den skeptischen Einwänden gegen die Möglichkeit eines ab-
solut sicheren Wissens beschäftigen muss. So ist es nicht erstaunlich, dass
er sich an keiner Stelle mit der seit der antiken Skepsis wohlbekannten
Traum-Hypothese auseinandersetzt. Denn natürlich könnte er sogleich
einräumen, dass Träume – genau wie Sinnestäuschungen, Halluzinationen
usw. – immer möglich sind und dass wir daher unter gewissen Umständen
Sätzen zustimmen, die nicht wahr sind. Doch dies zeigt nur, dass wir diese

58
  Vgl. Adams 1987, 595–597.
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§ 20 Wissen, Evidenz und intuitive Erkenntnis 237

Umstände prüfen und gegebenenfalls die Zustimmung zu den im Traum


gebildeten Sätzen revidieren müssen. Es ist aber nicht gezeigt, dass Traum-
und Wachzustände ununterscheidbar sind und dass wir daher vielleicht gar
nicht in der Lage sind zu bestimmen, wann wir träumen und wann wir wach
sind. Im Rahmen der Ockhamschen Theorie geht es ja nicht darum, nach
Merkmalen zu suchen, die es uns von einem Innenstandpunkt aus erlauben,
verschiedene Arten von Zuständen zu unterscheiden. Es muss vielmehr
von außen – gegebenenfalls vom Standpunkt einer anderen Person aus – ge-
prüft werden, welche Art von Zuständen vorliegt und wie zuverlässig diese
sind.59
Situiert man die Theorie der intuitiven Erkenntnis in diesem Erklärungs-
rahmen, lässt sich ein Problem lösen, das unter Kommentatoren immer
wieder Verwirrung ausgelöst hat. T. K. Scott hat in einer viel zitierten Ar-
beit darauf hingewiesen, dass wir mithilfe einer intuitiven Erkenntnis zwar
wissen können, dass etwas existiert und so und so beschaffen ist, aber nie
mit Sicherheit wissen können, dass wir wissen.60 Wir verfügen über kein
Kriterium, um gleichsam von innen heraus unser Wissen zu prüfen und fest-
zustellen, dass es sich tatsächlich um Wissen handelt. Wird damit nicht dem
Skeptizismus Tür und Tor geöffnet? Räumt Ockham damit nicht ein (und
zwar ganz unabhängig von der Möglichkeit eines göttlichen Eingreifens),
dass wir unser Wissen nicht stabilisieren können? Denn wenn wir über kein
Kriterium verfügen, sind wir nie in der Lage, vermeintliches Wissen von
echtem Wissen zu unterscheiden, ja wir sind nicht einmal dann, wenn echtes
Wissen vorliegt, imstande, uns dieses Wissen ein für allemal zuzuschreiben.
Scotts Forderung, man müsse mithilfe eines besonderen Kriteriums
wissen können, dass man etwas weiß, ist eine cartesische Forderung, die
eine internalistische Konzeption von Wissen voraussetzt. Im Rahmen der
cartesischen Theorie müssen wir in der Tat über ein bestimmtes Kriterium
(die berühmte „Klarheit und Deutlichkeit“) verfügen, um jene Zustände, die
echtes Wissen garantieren, von anderen Zuständen unterscheiden zu kön-

59
 Natürlich ließe sich gegen dieses Vorgehen einwenden, dass es keine Lösung für das
Traum-Argument darstellt. Denn könnte es nicht sein, dass es kein Außen gibt? Ist es nicht
denkbar, dass alles – selbst die andere Person, die meine Zustände und ihr Zustandekommen
prüft – nur der Inhalt eines umfassenden Traumes ist? In der Tat bietet Ockham auf diese
Fragen keine direkte Antwort. Doch sie ergeben im Rahmen seiner naturalistisch und exter-
nalistisch ausgerichteten Theorie keinen Sinn. Denkakte können ja nur dann einen wohldefi-
nierten Inhalt haben, wenn es prinzipiell eine Kausalrelation zu äußeren Gegenständen gibt.
Daher könnte Ockham das radikale Traum-Argument mit folgender Gegenfrage zurückwei-
sen: Wie können die Gedanken im umfassenden Traum überhaupt einen Inhalt haben, wenn
es kein Außen gibt?
60
 Scott 1969, 46: „In brief, it seems to be suggested by his discussions that if all knowledge
(in the strict sense) must be based on intuitive cognition, then even if we do sometimes know,
we can never know that we know.“
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238 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

nen. Doch Ockham verpflichtet sich nicht dieser internalistischen Konzep-


tion. Er wählt vielmehr eine externalistische Konzeption, für die Wissen zu
haben nicht gleich impliziert, dass man aufgrund eines inneren Kriteriums
auch weiß, dass man weiß. Um Wissen zu haben, reicht es aus, dass durch
einen zuverlässigen kausalen Mechanismus eine Zustimmung zu wahren
Sätzen erzeugt wird. Natürlich kann man diesen Mechanismus bei Bedarf
überprüfen und untersuchen, ob tatsächlich wahre Sätze vorliegen. Doch
diese Untersuchung erfolgt nicht anhand eines inneren Kriteriums, sondern
mit Blick auf äußere Bedingungen (z.B. Sichtbarkeit des Wahrnehmungs-
gegenstandes, Funktionstauglichkeit des visuellen Apparates, Leistungs-
fähigkeit des Intellekts). Vor allem aber ist entscheidend, dass eine solche
Untersuchung nicht in jedem Fall erforderlich ist. So weiß ich auch dann,
dass der vor mir stehende Baum grün ist, wenn ich auf zuverlässige Weise
Wahrnehmungsinputs erhalte und dem Satz ‚Der Baum ist grün‘ zustimme.
Ich muss nicht überprüfen, unter welchen Bedingungen ich die Wahrneh-
mungsinputs erhalten und zu einem mentalen Satz verarbeitet habe.
Versteht man Ockhams Erklärungsansatz auf diese Weise, zeigt sich,
dass er – modern gesprochen – in ein externalistisches und reliabilistisches
Projekt eingebettet ist und sich mit jenen skeptischen Einwänden, die sich
gegen ein internalistisches Projekt richten (Gibt es überhaupt ein inneres
Kriterium? Kann ich es mit Sicherheit anwenden? Kann ich damit alle Täu-
schungsfälle ausschließen?), gar nicht auseinandersetzen muss. Dies heißt
freilich nicht, dass Ockham sich mit einem Verweis auf zuverlässige kau-
sale Mechanismen zufrieden gibt. Er hält ja ausdrücklich fest, ein Mensch
müsse eine Disposition (habitus) erwerben, die es ihm erlaubt, wahre Sätze
zu bilden und bei Bedarf zu reaktivieren. In einem gewissen Sinn ist für
ihn sogar nur dieser dispositionale Zustand Wissen.61 Daher könnte man in
Anlehnung an die gegenwärtige Tugend-Epistemologie sagen, dass es zwei
Ebenen zu unterscheiden gilt.62 Auf einer ersten Ebene geht es nur um die
Frage, wann einer Person gerechtfertigterweise Wissen zugesprochen wird.
Ockham zufolge muss die Antwort lauten: Wenn eine Person durch zuver-
lässige Mechanismen eine intuitive Erkenntnis gewinnt und wahre Urteile
bildet, kann ihr zu Recht Wissen zugeschrieben werden. Es ist keine Recht-
fertigung mithilfe innerer Kriterien erforderlich. Auf einer zweiten Ebene
kann jedoch die Frage formuliert werden, wann eine Person für sich selber
gerechtfertigterweise in Anspruch nimmt, dass tatsächlich zuverlässige
Mechanismen vorliegen und dass sie somit Wissen erwirbt. Auf diese Frage
61
 Vgl. Exp. in libros Physicorum, prol. (OPh IV, 6).
62
  Vgl. Sosa 2001, besonders 147 und 150, der im Rahmen eines externalistischen und relia-
bilistischen Projekts zwischen der Rechtfertigung und der Meta-Rechtfertigung von Wissen
unterscheidet.

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§ 21 Sinnestäuschungen und Phantasievorstellungen 239

würde Ockham antworten: Wenn eine Person ungünstige Wahrnehmungs-


bedingungen vermeidet und sich in Situationen begibt, in denen sie auf der
Grundlage überprüfter Bedingungen Urteile bildet, kann sie zu Recht be-
haupten, dass sie Wissen erwirbt. Kurz gesagt: Eine Person ist epistemisch
„tugendhaft“, wenn sie alles daran setzt, günstige Erkenntnisbedingungen
herzustellen, die es ihr erlauben, wahre Urteile zu bilden. Genau da-
durch – nicht durch die Bestimmung eines inneren Kriteriums und nicht
durch die Widerlegung jedes möglichen skeptischen Einwandes – zeichnet
sich jemand aus, der einen begründeten Wissensanspruch erhebt.

§ 21 Sinnestäuschungen und Phantasievorstellungen

Wenn nur im Prinzip, aber nicht ausnahmslos in jeder Wahrnehmungs-


situation Wissen gewonnen werden kann, stellt sich sogleich die Frage, wie
denn jene Fälle zu verstehen sind, in denen wir bloß glauben, wir würden
über Wissen verfügen, obwohl in Tat und Wahrheit kein Wissen vorliegt.
Wie kommen diese Fälle zustande? Und wie können sie korrigiert oder
eliminiert werden? Diese Fragen sind auch dann von Bedeutung, wenn zu-
gestanden wird, dass Ockham nicht ein fundamentalistisches, sondern ein
reliabilistisches Wissensprojekt vertritt. Denn von zuverlässigen kognitiven
Prozessen zu sprechen ist nur sinnvoll, wenn erläutert wird, wie auch un-
zuverlässige Prozesse entstehen können und wie sich diese Ausnahmefälle
vom Regelfall unterscheiden lassen.
Ockham geht ausführlich auf dieses Problem ein, indem er die Genese
und die Struktur von Sinnestäuschungen analysiert. Er setzt sich dabei
kritisch mit der Theorie seines Ordensbruders Petrus Aureoli auseinander.
Daher muss dessen Theorie zunächst in den Grundzügen rekonstruiert
werden, damit deutlich wird, an welchem Punkt Ockham ansetzt und wie
er seine eigene Erklärung der kritischen Fälle von einer einflussreichen
konkurrierenden Erklärung abgrenzt und gleichzeitig in sein umfassendes
Wissensprojekt integriert. Da Ockham sich nur auszugsweise mit Aureolis
Theorie beschäftigt hat (noch dazu in ziemlich polemischer Weise), soll hier
nicht eine vollständige Rekonstruktion dieser Theorie angestrebt werden.63
Es sollen nur jene Kernthesen rekonstruiert werden, die gleichsam die Ne-
gativfolie für Ockhams eigenen Erklärungsansatz bilden.

63
 In Ordinatio I, dist. 27, q. 3 (OTh IV, 238) hält er spitz fest: „... si enim omnes vices quibus
respexi dicta sua simul congregarentur, non complerent spatium uniuis diei naturalis...“ Dass
Aureolis Theorie nicht nur „Laster“, sondern auch Vorzüge aufweist, wird deutlich, wenn sie
in den umfassenden ontologischen und erkentnistheoretischen Rahmen eingebettet wird, den
Aureoli selber wählt. Vgl. dazu Denery 1998 und 2005, 117–136, sowie Perler 2002, 274–283. 
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11:28

240 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

Aureoli geht von der These aus, dass in einigen Situationen die Erschei-
nung von materiellen Gegenständen und die tatsächliche Beschaffenheit
dieser Gegenstände auseinander klaffen. Er untermauert diese These mit
acht Beispielen, die zum größten Teil aus der antiken skeptischen Tradition
stammen und im 14. Jh. gut bekannt waren. Seine ersten drei Beispiele lau-
ten: 64 Wenn wir auf einem schwankenden Boot an einem Ufer vorbeifahren,
an dem Bäume stehen, haben wir die Erscheinung von sich bewegenden
Bäumen; die Bäume am Ufer bewegen sich aber nicht. Wenn wir einen bren-
nenden Stab schnell durch die Luft drehen, haben wir die Erscheinung von
einem Kreis; doch weder der Stab noch die Luft ist kreisförmig. Und wenn
wir einen Holzstab sehen, der halb ins Wasser eingetaucht ist, haben wir
die Erscheinung von einem gebrochenen Stab; der Holzstab ist aber nicht
gebrochen. Aureoli zufolge können wir diese Beispiele nur erklären, wenn
wir zugestehen, dass es hier zwei Arten von Gegenständen gibt, nämlich die
realen und die bloß erscheinenden, die nicht übereinstimmen. Er stellt daher
explizit die Gegenstände mit einem esse reale jenen mit einem esse apparens
(oder auch esse intentionale) gegenüber. Dieser ontologischen Gegenüber-
stellung liegt eine Überlegung zugrunde, die sich folgendermaßen rekon-
struieren lässt:
(1) Jeder Wahrnehmungsakt hat einen unmittelbaren Gegenstand.
(2) Der Wahrnehmungsakt richtet sich auf einen Gegenstand mit der Ei-
genschaft F.
(3) Der reale Gegenstand hat aber die Eigenschaft nicht-F.
(4) Ein Gegenstand kann nicht zur gleichen Zeit und in gleicher Hinsicht F
und nicht-F haben.
(5) Also können der unmittelbare Gegenstand des Wahrnehmungsaktes
und der reale Gegenstand nicht identisch sein.
(6) Also muss es sich beim unmittelbaren Gegenstand des Wahrnehmungs-
aktes um einen besonderen Gegenstand mit einem „erscheinenden Sein“
handeln.
Aureoli betont, dass die Schlussthese nicht nur für den besonderen Fall der
Sinnestäuschungen gilt, sondern für jeden Fall einer Wahrnehmung. Kon-
kret heißt dies: Auch wenn gut sichtbar ein runder Ball vor mir liegt und
ich korrekt einen runden Ball sehe, ist der Gegenstand, auf den ich mich
unmittelbar richte, ein Gegenstand mit „erscheinendem Sein“. In diesem
Fall stimmt der unmittelbare Gegenstand einfach mit dem realen Gegen-
stand überein; daher habe ich eine korrekte Wahrnehmung. Doch selbst in
64
 Vgl. Ordinatio I, dist. 27, q. 3 (OTh IV, 231). Ockham zitiert hier wörtlich aus Petrus
Aureoli, Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3, sect. 14 (ed. Buytaert 1956, Bd. 1,
696–698).
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§ 21 Sinnestäuschungen und Phantasievorstellungen 241

diesem Fall liegen zwei distinkte Gegenstände vor, die aufgrund der güns-
tigen Wahrnehmungsbedingungen perfekt aufeinander passen und ununter-
scheidbar sind.65 Korrekte und unkorrekte Wahrnehmung unterscheiden
sich nur darin, dass die beiden Gegenstände im ersten Fall gleichsam zu-
sammenfallen und im zweiten nicht, aber sie unterscheiden sich nicht darin,
dass jeweils zwei Gegenstände vorliegen: ein unmittelbar erscheinender
und ein realer in der materiellen Welt. Sinnestäuschungen treten zwar nur
selten auf, aber sie haben den Vorteil, dass sie diese Tatsache besonders präg-
nant verdeutlichen, da die beiden Gegenstände dann ganz offensichtlich
unverträgliche oder gar kontradiktorische Eigenschaften haben und nicht
identisch sein können.
Diese Argumentation geht von zwei Prämissen aus, die Aureoli still-
schweigend voraussetzt. Erstens nimmt er wie selbstverständlich an, dass
die Erklärung von Sinnestäuschungen immer auf der Ebene einzelner
visueller (oder auch taktiler, auditiver usw.) Akte und deren Gegenstände
ansetzen muss. Man könnte daher von einem objektbezogenen Ansatz
sprechen: Es gilt, den besonderen Gegenstand eines Wahrnehmungsaktes
zu erklären. Zweitens nimmt Aureoli ebenfalls wie selbstverständlich an,
dass es unterschiedliche Gegenstände mit einem je unterschiedlichen
ontologischen Status gibt, ja dass gerade die Sinnestäuschungen das Aus-
einanderklaffen von erscheinendem und realem Gegenstand verdeutlichen.
Diese Unterscheidung setzt eine reichhaltige Ontologie voraus. Zwar äußert
sich Aureoli nicht eindeutig bezüglich der Frage, wo denn die erscheinenden
Gegenstände anzusiedeln sind. In seiner Erläuterung des Beispiels mit dem
schwankenden Boot hält er nur fest, die sich bewegenden Bäume könnten
nicht in der Luft sein. In seiner Darstellung des Beispiels mit dem durch die
Luft geschwungenen Stab räumt er jedoch ein, dass der leuchtende Kreis
durchaus in der Luft ist. Offensichtlich ist er sich nicht ganz klar darüber,
ob der jeweilige erscheinende Gegenstand im Wahrnehmenden selbst (z.B.
in den inneren Sinnen) oder außerhalb des Wahrnehmenden existiert. Dass
er aber existiert und weder mit dem realen Gegenstand identifiziert noch
auf ihn reduziert werden kann, steht für Aureoli eindeutig fest. Und das
heißt natürlich: Er setzt eine Ontologie voraus, die verschiedene Typen von
Gegenständen unterscheidet.
Ockham setzt mit seiner Kritik genau an den beiden impliziten Prämis-
sen an. Betrachten wir zunächst die Annahme, hier müsse eine besondere
Art von Gegenständen erklärt werden. Dagegen wendet Ockham ein, dass
es gar nicht um die Bestimmung besonderer Gegenstände geht, sondern
65
  Ordinatio I, dist. 27, q. 3 (OTh IV, 233): „Sed tamen non distinguitur imago seu res in
esse apparenti a reali, quia simul coincidunt in vera visione.“ Dies ist ein wörtliches Zitat aus
Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3, sect. 14 (ed. Buytaert 1956, Bd. 1, 698).
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242 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

um eine Erklärung von Urteilen, die in assertorischen Sätzen ausgedrückt


werden:
„Im Hinblick auf das erste Erfahrungsbeispiel sage ich: Wenn jemand auf dem Was-
ser fährt, gibt es keine Bewegung im Auge, weder objektiv noch subjektiv, denn es
gibt keine Bewegung dieser Bäume. Dennoch ist der Satz ‚Die Bäume bewegen sich‘
objektiv im Intellekt, und es ist wohl wahr, dass der Intellekt Sätze bilden und ihnen
zustimmen oder sie ablehnen kann; aber das steht hier nicht zur Debatte.“66

Das entscheidende argumentative Manöver besteht darin, dass Ockham


von der Ebene der Gegenstände zu jener der urteilenden Sätze übergeht
und damit Aureolis objektbezogenen Ansatz zurückweist. Das Problem
liegt nämlich nicht darin, dass besondere Gegenstände erfasst werden (wo
auch immer sie angesiedelt werden mögen), sondern dass auf der Grundlage
bestimmter Wahrnehmungsinputs falsche Urteile gebildet werden. Sinnes-
täuschungen sind daher streng genommen intellektuelle Täuschungen: Der
Intellekt bildet unter besonderen Umständen falsche Urteile, ohne dies fest-
zustellen und ohne die Diskrepanz zwischen dem, was er für wahr hält, und
dem, was wahr ist, zu bemerken.
Doch wie kommen falsche Urteile zustande? Sicherlich nicht dadurch,
dass besondere erscheinende Gegenstände präsent sind. Wie in § 20 bereits
deutlich geworden ist, geht Ockham von einer kausalen Wahrnehmungs-
und Kognitionstheorie aus, die das Zustandekommen eines Urteiles mit
Verweis auf eine kausale Kette erklärt. Die einzelnen Glieder in dieser Kette
können nur reale Entitäten sein. Konkret heißt dies: Nur die realen, sich
nicht bewegenden Bäume am Ufer können einen bestimmten Wahrneh-
mungszustand verursachen, der wiederum die Bildung mentaler Termini
verursacht (diese sind als Akte des Intellekts natürlich auch reale Entitäten).
Das Erfassen der Termini verursacht dann die Bildung eines mentalen Satzes
(als komplexer Akt ist er ebenfalls eine reale Entität) und die Zustimmung
zu diesem Satz. Kurzum: Nur reale Entitäten sind hier im Spiel. Daher kann
die entscheidende Frage nicht lauten, welche erscheinenden Gegenstände
falsche Urteile hervorrufen, sondern welche realen Entitäten dies bewirken.
Wie ist es möglich, dass ich reale Bäume am Ufer sehe, die sich nicht be-
wegen, und trotzdem das Urteil ‚Die Bäume bewegen sich‘ bilde? Ockham
gibt darauf eine konzise Antwort:
„Daraus folgt aber nicht, dass eine Bewegung erscheint, sondern es folgt, dass es im
Wahrnehmungssinn Akte des Erfassens gibt, die im Hinblick auf die zu erzeugen-

66
  Ordinatio I, dist. 27, q. 3 (OTh IV, 243–244): „Ad primam experientiam dico quod
quando aliquis portatur in aqua, nullus motus est in oculo nec obiective nec subiective, quia
nullus motus est ipsarum arborum. Tamen ista propositio ,arbores moventur‘ est obiective in
intellectu, et bene verum est quod intellectus potest formare propositiones et eis assentire vel
dissentire, sed hoc non est ad propositum.“
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§ 21 Sinnestäuschungen und Phantasievorstellungen 243

den Tätigkeiten jener Erscheinung oder visuellen Wahrnehmung äquivalent sind,


durch die eine Bewegung erscheint...“67

Offensichtlich liegt der Ursprung des Irrtums im Erfassen bzw. im Wahr-


nehmen der realen Bäume. Wenn ich mit dem Boot fahre, habe ich wegen der
Schwankungen des Bootes genau jene Art von Wahrnehmungszustand, den
ich hätte, wenn ich unter normalen Bedingungen am Land Bäume sähe, die
sich tatsächlich bewegen. Dieser sog. „äquivalente“ Wahrnehmungszustand,
der natürlich und spontan das Urteil ‚Die Bäume bewegen sich‘ hervorruft,
ist für den Irrtum verantwortlich.68 Trotzdem ist es der Intellekt, nicht der
Wahrnehmungssinn, der sich irrt. Der Wahrnehmungssinn liefert nur das
Material für ein Urteil.69
Diese Erklärung verdeutlicht, dass es hier nicht um das ontologische Pro-
blem geht, welcher Gegenstand in einer Sinnestäuschung präsent ist, sondern
um das kognitionstheoretische Problem, unter welchen Bedingungen die
Kausalrelation beeinträchtigt werden kann, sodass Wahrnehmungszustände
entstehen, die zu falschen Urteilen Anlass geben. Ockham verweist sogar
explizit auf die Störfaktoren in der Kausalrelation. Weil man die Bäume

67
  Ordinatio I, dist. 27, q. 3 (OTh IV, 244): „Ex hoc tamen non sequitur motum aliquem ap-
parere, sed sequitur quod in sensu sunt apprehensiones aequivalentes quantum ad operationes
eliciendas apparitioni vel visioni qua motus apparet...“
68
 Da ein falsches Urteil gebildet wird, kann keine intuitive Erkenntnis vorliegen. Dies
ist gegenüber Karger 1999, 219, festzuhalten, die mit Verweis auf die Sinnestäuschungen
behauptet: „Ockham admitted there to be cases where an intuitive cognition causes a false
judgment.“ Karger begründet diese Behauptung mit der Bemerkung, das Urteil werde auf
der Grundlage eines sinnlichen Erfassens gefällt, und ein solches Erfassen führe immer zu
einer intuitiven Erkenntnis. Dagegen ist erstens einzuwenden, dass Ockham in seiner De-
finition der intuitiven Erkenntnis festhält, dass sie evident ist, und evidente Erkenntnis be-
inhaltet immer eine Zustimmung zu wahren Urteilen (vgl. oben Anm. 33). Zweitens ist zu
bemerken, dass Ockham an der soeben zitierten Stelle ausdrücklich betont, es liege nur ein
sinnliches Erfassen vor, das äquivalent ist (aber keineswegs identisch mit) dem Erfassen, das
unter normalen Bedingungen zu einer veridischen Wahrnehmung und einem korrekten Ur-
teil führt. Daher sind zwei Fälle zu unterscheiden. (a) Unter normalen Bedingungen erfolgt
ein korrektes sinnliches Erfassen, das eine korrekte intuitive Erkenntnis im Intellekt und
damit auch ein korrektes Urteil verursacht. (b) Unter besonderen Bedingungen erfolgt ein
„äquivalentes“ sinnliches Erfassen, das bloß eine „äquivalente“ (aber nicht wirklich intuitive)
Erkenntnis und damit auch ein falsches Urteil verursacht.
69
 Daher können sich Tiere streng genommen nicht täuschen. Sie können nur visuelle Ein-
drücke haben, die ihnen – genau wie den Menschen – Bäume als schwankend präsentieren.
Aber sie urteilen nicht, dass die Bäume sich bewegen. Auf den explizit formulierten Einwand,
dass die Bäume den Tieren doch schwankend erscheinen, antwortet Ockham in Ordinatio
I, dist. 27, q. 3 (OTh IV, 244): „Si autem praedicta propositio intelligatur sic quod in sensu
est aliqua apprehensio vel apprehensiones diversorum obiectorum virtute quarum a sentiente
possunt elici consimiles operationes operationibus elicitis a sentiente corpus vere motum, tunc
vera est propositio.“ Der entscheidende Punkt besteht darin, dass die Tiere nur „consimiles
operationes“ haben können. Da sie nur über eine sinnliche Seele verfügen, kann es sich dabei
nur um sinnliche Tätigkeiten handeln, nicht um Urteile.
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244 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

aus wechselnder Entfernung und unterschiedlichen Winkeln sieht und weil


die einzelnen visuellen Eindrücke aneinander gereiht werden, werden die
Bäume als schwankend erfasst.70 Es gibt also durchaus natürliche Faktoren,
die im Rahmen einer optischen Theorie erklärt werden können. Gleiches gilt
auch für die anderen Beispiele. Wenn ein leuchtender Stab durch die Luft
geschwungen wird und dann ein Kreis gesehen wird, liegt dies daran, dass
die rasch wechselnde Position des Stabes eine kreisförmige Aneinander-
reihung von leuchtenden Punkten zur Folge hat; dies löst auf ganz natürliche
Weise die Wahrnehmung eines leuchtenden Kreises aus. Und wenn der halb
ins Wasser eingetauchte Stab als gebrochen gesehen wird, liegt der Grund
dafür in der Brechung der Lichtstrahlen, die wiederum auf ganz natürliche
Weise die Wahrnehmung eines gebrochenen Stabes erzeugt. Wie diese Bei-
spiele zeigen, liegt der Schlüssel für ein Verständnis von Sinnestäuschungen
nicht in einer ontologischen Unterscheidung, sondern in einer Analyse der
natürlichen Kausalrelation. Ockhams Erklärung dieser Fälle lässt sich daher
folgendermaßen rekonstruieren:
(1) Jeder Wahrnehmungsakt wird im Normalfall durch einen realen Gegen-
stand verursacht und bezieht sich auf diesen Gegenstand.71
(2) Der reale Gegenstand x mit der Eigenschaft F verursacht unter be-
sonderen Bedingungen einen Wahrnehmungsakt, in dem x mit der Ei-
genschaft nicht-F erfasst wird.
(3) Wenn x mit der Eigenschaft nicht-F erfasst wird, entsteht auf natürliche
Weise das Urteil ‚x ist nicht-F‘
(4) Also wird ein falsches Urteil über den realen Gegenstand x gefällt.
(5) Also kann der Intellekt sich unter besonderen Umständen irren.
An dieser Argumentation ist natürlich bemerkenswert, dass Ockham ein
reichhaltiges ontologisches Modell vermeidet, das neben den realen Entitäten
auch erscheinende Gegenstände annimmt. Er wendet hier sein berühmtes
Rasiermesser an: Wenn ein Phänomen auch ohne die Annahme überflüssiger
Entitäten zu erklären ist, sollten diese Entitäten vermieden werden.72 Doch
mindestens so bemerkenswert ist ein weiteres strategisches Merkmal, das in

70
  Ordinatio I, dist. 27, q. 3 (OTh IV, 245): „Quia tamen illae arbores, propter motum exsis-
tentis in navi qui non movetur nisi ad motum navis, in diversa distantia et aspectu videntur ab
exsistente in navi, ideo videntur arbores illae moveri.“
71
 Die Klausel „im Normalfall“ weist darauf hin, dass hier nur von natürlichen Prozessen
die Rede ist. Der Spezialfall, in dem Gott eingreift und ohne die Kausalrelation zu einem
realen Gegenstand einen Wahrnehmungszustand hervorbringt oder aufrechterhält, soll erst
in § 22 analysiert werden.
72
 Dass es sich dabei um ein methodologisches Prinzip handelt, das auf verschiedene Pro-
blembereiche (nicht bloß auf das berühmte Universalienproblem) angewendet werden kann,
verdeutlicht prägnant Boler 1985.
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§ 21 Sinnestäuschungen und Phantasievorstellungen 245

der Forschungsliteratur bislang kaum berücksichtigt worden ist. Ockham


geht davon aus, dass nur im Prinzip wahre Urteile über reale Gegenstände
gebildet werden. Doch es besteht keine Garantie, dass immer wahre Urteile
entstehen. Daher müssen wir unsere Urteile immer wieder überprüfen und
gegebenenfalls korrigieren. Das heißt, dass wir die Bäume auch vom Ufer
aus oder von einer festen Plattform im Wasser aus betrachten müssen. Erst
dann sind wir imstande, den Irrtum zu korrigieren.
Nun könnte allerdings der Einwand erhoben werden, dass das onto-
logische Problem, auf das Aureoli aufmerksam macht, noch keineswegs
gelöst ist. Wenn in Argumentationsschritt (2) nämlich behauptet wird,
der Gegenstand x werde mit der Eigenschaft nicht-F erfasst, x aber gar
nicht die materielle Eigenschaft nicht-F hat (so hat der Holzstab nicht
die Eigenschaft, gebrochen zu sein), taucht wiederum die Frage auf, um
welche Art von Eigenschaft es sich hier handelt. Muss Ockham nicht
wohl oder übel zugestehen, dass hier eine bloß intentionale oder erschei-
nende Eigenschaft vorliegt und dass das Urteil sich auf diese Eigenschaft
bezieht? Der Fehler des Intellekts besteht dann darin, dass er in seinem
Urteil eine bloß erscheinende Eigenschaft für eine reale Eigenschaft hält
und dem materiellen Gegenstand zuschreibt. Demnach kommt auch
Ockham in seiner Verlagerung der ganzen Problematik auf die Urteils-
ebene nicht darum herum, die zentrale Unterscheidung zwischen zwei
Arten von Eigenschaften zu treffen und damit eine genuin ontologische
Differenzierung einzuführen.
Dieser Einwand lässt sich sogleich zurückweisen. Natürlich gibt es
auch für Ockham in gewisser Hinsicht eine erscheinende Eigenschaft.
Wenn ich den ins Wasser eingetauchten Holzstab sehe, erscheint mir in
der Tat etwas gebrochen zu sein. Doch dies ist nicht eine besondere Art
von Eigenschaft, die einem eigenen ontologischen Bereich zuzuordnen
und von allen realen Eigenschaften zu unterscheiden ist. Es gibt nämlich
nichts anderes als den realen Holzstab, der nicht gebrochen ist. Auf-
grund der Brechung der Lichtstrahlen wird aber ein bestimmter Sinnes-
eindruck erzeugt, der die Eigenschaft des Gebrochenseins präsentiert.
Wenn diese Eigenschaft irgendwo angesiedelt werden kann, so nur im
Sinneseindruck als dessen Inhalt. Der Sinneseindruck ist selber aber eine
reale Entität (eine sog. Qualität der sensitiven Seele). Der Fehler besteht
hier nicht darin, dass eine erscheinende Eigenschaft mit einer realen ver-
wechselt wird, sondern dass der Inhalt des Sinneseindrucks gleichsam auf
den Holzstab projiziert wird. Ontologisch gesehen heißt dies, dass zwei
reale Entitäten (Inhalt des Sinneseindrucks und Eigenschaft des Holz-
stabes) miteinander verwechselt werden. Aus diesem Grund hält Ockham
in seiner oben zitierten Erläuterung der Sinnestäuschungen fest, dass im
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246 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

Falle der nicht-veridischen Wahrnehmung ein „Akt des Erfassens“, d.h.


ein Sinneseindruck, erzeugt wird, der dem Akt einer veridischen Wahr-
nehmung äquivalent ist. Und weil die beiden Akte genau den gleichen
Inhalt haben, wird auch das gleiche Urteil gefällt – im Fall der nicht-ve-
ridischen Wahrnehmung natürlich ein falsches Urteil. Entscheidend ist
dabei, dass im nicht-veridischen Fall ebenso wie im veridischen nur ein
Akt mit einem bestimmten Inhalt – eine reale Entität – erzeugt wird und
nicht eine besondere erscheinende Entität.
An dieser Stelle könnte freilich noch ein weiterer Einwand vorgebracht
werden. Wenn wir uns nur auf Urteile berufen können, die auf realen, na-
türlich erzeugten Sinneseindrücken beruhen, können wir immer nur sagen,
welcher Sinneseindruck in dieser oder jener Situation dieses oder jenes
Urteil hervorbringt. Doch wir sind nicht in der Lage, den einen Eindruck
dem anderen vorzuziehen und entsprechend ein Urteil durch ein anderes
zu korrigieren. Dazu wären wir erst imstande, wenn wir ein Kriterium
hätten, das uns erlaubt, sämtliche Sinneseindrücke von einem neutralen
Standpunkt aus zu evaluieren. Doch wie können wir ein solches Kriterium
gewinnen, wenn wir doch nur situationsgebundene Sinneseindrücke haben
und entsprechend auch nur situationsgebundene Urteile bilden? Beispiels-
weise kann ich den Holzstab nur im Wasser, auf trockenem Gelände oder
sonst irgendwo sehen. Ähnlich kann ich die Bäume nur auf dem Boot, am
Ufer, auf einer Plattform oder sonst irgendwo beobachten und je nach Sin-
neseindruck ein Urteil bilden. Doch ich kann die Bäume nicht von einem
neutralen Standpunkt aus beobachten und so erfassen, wie sie „an sich“
sind. Daher kann ich auch kein neutrales Kriterium gewinnen, mit dem ich
die situationsgebundenen Urteile evaluieren könnte, um am Ende nur jene
zurückzubehalten, die die Bäume korrekt beschreiben, wie sie „an sich“
sind.
Auf dieses bereits in der Antike formulierte Kriterienproblem geht Ock-
ham nicht ein. Liegt darin ein Versäumnis oder ein Zugeständnis an den
Skeptiker, dass im Grunde kein sicheres wahres Urteil gewonnen werden
kann? Wohl kaum. Der Hauptgrund liegt eher in den beiden Merkmalen
seines Wissensprojekts, die bereits am Ende von § 20 deutlich geworden
sind. Zum einen geht Ockham von der naturalistischen und reliabilistischen
Annahme aus, dass im Prinzip korrekte Sinneseindrücke und damit auch im
Prinzip wahre Urteile zustande kommen. Die Tatsache, dass unter besonde-
ren Umständen falsche Urteile entstehen können, stellt nicht gleich alle Ur-
teile infrage. Daher müssen auch nicht alle Urteile mithilfe eines Kriteriums
überprüft werden. Diese Strategie lässt sich anhand eines modernen Bei-
spiels veranschaulichen. Angenommen, wir suchen mithilfe eines Stadtplans
eine Straße in einer uns unbekannten Stadt und folgen dem Straßenverlauf
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§ 21 Sinnestäuschungen und Phantasievorstellungen 247

genau so, wie es der Plan vorgibt. Nun fragt uns jemand: „Aber bist du denn
sicher, dass du einer bestimmten Straße folgen musst, um ans richtige Ziel
zu gelangen? Könnte es nicht sein, dass der Plan nicht stimmt? Musst du
nicht mithilfe eines sicheren Kriteriums überprüfen, ob das Straßennetz auf
dem Plan genau dem realen Straßenverlauf entspricht?“ Auf diese Fragen
würden wir wohl spontan antworten: „Nein, wir müssen keine dermaßen
aufwändige Prüfung anstellen. Natürlich kann es sein, dass der Stadtplan
einige Ungenauigkeiten oder Druckfehler aufweist. Aber im Prinzip ist er
zuverlässig und führt uns an das richtige Ziel. Die punktuellen Fehler kön-
nen wir entdecken und korrigieren, indem wir Inkohärenzen feststellen und
beseitigen.“ Ähnliches gilt nun auch für unsere Wahrnehmungsurteile: Wir
müssen nicht jedes einzelne Urteil mithilfe eines Kriteriums überprüfen,
sondern können voraussetzen, dass wir durch natürliche Sinneseindrücke
eine korrekte mentale Landkarte gewinnen. Natürlich kann es sein, dass
diese Karte punktuell Fehler aufweist. Doch diese können wir aufdecken,
indem wir Inkohärenzen feststellen (etwa wenn wir bemerken, dass die
Bäume nur vom schwankenden Boot aus in Bewegung zu sein scheinen
und von allen anderen Standpunkten aus unbewegt) und die Fehler punk-
tuell korrigieren. Irrtum an einigen Stellen führt nicht gleich zu einem Irr-
tumsverdacht an allen Stellen. Selbstverständlich können wir durch diese
punktuellen Korrekturen nie eine Gewissheit gewinnen, dass alle unsere
Wahrnehmungsurteile unumstößlich wahr sind. Doch diese allumfassende
Gewissheit ist auch nicht erforderlich, genauso wenig wie wir zum Auffin-
den einer Straße eine allumfassende Gewissheit bezüglich der Korrektheit
aller Straßenangaben auf dem Stadtplan benötigen.
Das zweite Merkmal des Ockhamschen Modells besteht darin, dass für
das Vorliegen von Wissen kein Wissen darüber, dass Wissen vorliegt, gefor-
dert wird. Wer nach einem Kriterium fragt, geht stillschweigend davon aus,
dass genau ein solches Metawissen erforderlich ist. So wird angenommen,
dass ich erst dann weiß, dass vor mir ein runder Ball liegt, wenn ich mit-
hilfe eines Kriteriums ausgeschlossen habe, dass hier eine perspektivische
Täuschung vorliegt. Doch genau diese Annahme weist Ockham zurück. Es
reicht aus, dass ich das Wissen durch zuverlässige Mechanismen erworben
habe. Ich muss hier keinen Metastandpunkt einnehmen und daher auch
nicht nach der Etablierung eines sicheren und neutralen Kriteriums suchen.
Natürlich kann dann der Fall auftreten, dass unzuverlässige Mechanismen
oder verzerrende Wahrnehmungsbedingungen vorliegen, sodass ich mir
fälschlicherweise Wissen zuschreibe. Doch wenn ein Fall in Relation zu
anderen Fällen gestellt wird, kann diese falsche Zuschreibung korrigiert
werden.
Versteht man Ockham auf diese Weise, ist er nicht nur Reliabilist, son-
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248 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

dern in gewisser Hinsicht auch Kohärentist.73 Entscheidend ist für ihn nicht,
ob einzelne Urteile anhand eines sicheren Kriteriums als unerschütterlich
wahre Urteile etabliert werden können. Wichtig ist vielmehr, dass Urteile
mit Blick auf andere Urteile geprüft und in ein ganzes Netz von Urteilen
eingebettet werden.
Nicht nur der Fall der Sinnestäuschungen, sondern auch jener der
Phantasievorstellungen wirft die Frage auf, wie denn das Zustandekommen
falscher Urteile erklärt werden kann, wenn doch ein natürlicher Mechanis-
mus besteht, durch den im Prinzip wahre Urteile generiert werden. Wie ist
es etwa zu erklären, dass ich mir einen rosaroten Elefanten vorstelle und
dem Urteil ‚Ein rosaroter Elefant fliegt durch das Zimmer‘ zustimme? Wie
kommt dieses falsche Urteil zustande? Wie kann es von wahren Urteilen
unterschieden und korrigiert werden? Ockham entwickelt keine ausführ-
liche Theorie fiktiver Gegenstände, aber seine Diskussion der Genese von
Vorstellungen enthält einige Aussagen, die Aufschluss darüber geben,
welchen Platz Urteile über fiktive Gegenstände in seiner reliabilistischen
Theorie einnehmen.
Wie jeder aristotelisch inspirierte Autor geht Ockham davon aus, dass
das Vorstellungsvermögen nicht nur für die Produktion von Vorstellungen
fiktiver Gegenstände verantwortlich ist, sondern für das Erzeugen sämt-
licher Vorstellungen (phantasmata), auf deren Grundlage Urteile gebildet
werden. Es müssen sogar Vorstellungen vorliegen, damit überhaupt Wahr-
nehmungsurteile entstehen können. Auch wenn vor mir beispielsweise ein
reales Pferd steht, muss ich zunächst über eine Vorstellung verfügen, um
dann ein Urteil wie ‚Dieses Pferd ist braun‘ bilden zu können.74 In seiner
Erläuterung der Genese und der Struktur von Vorstellungen grenzt sich
Ockham aber von vielen anderen Aristotelikern ab. Zunächst betont er, dass
eine Vorstellung nicht einfach ein inneres Bild ist, das dem äußeren Gegen-
stand gleicht, denn das Vorstellungsvermögen ist keine innere Leinwand,
auf der gleichsam mit inneren Farben äußere Gegenstände nachgezeichnet
werden. Ebenso entschieden lehnt Ockham die Assimilationstheorie ab, der

73
 Damit soll freilich nicht bestritten werden, dass Ockham Wahrheit im Sinne einer Kor-
respondenztheorie als Übereinstimung eines Satzes mit dem „sic esse a parte rei“ erklärt; vgl.
Expositio in librum Praedicamentorum 9 (OPh II, 201). Doch entscheidend ist, dass diese
Korrespondenz nicht für isolierte Sätze überprüft werden kann. Vielmehr muss ein Satz mit
anderen Sätzen verknüpft und hinsichtlich seiner Kohärenz mit diesen Sätzen überprüft wer-
den. Es empfiehlt sich, hier sorgfältig zwischen der Frage nach der Natur der Wahrheit (die
Ockham korrespondenztheoretisch erklärt) und jener nach der Überprüfung von Wahrheit
(die er kohärenztheoretisch erklärt) zu unterscheiden. Vgl. dazu Kaufmann 1994, 188–198.
74
 Dass hier zwei distinkte Akte vorliegen müssen, ergibt sich schon daraus, dass zwischen
der sensitiven Seele, die für Vorstellungen zuständig ist, und der intellektuellen Seele ein reale
Distinktion besteht. Vgl. Quodl. II, q. 10 (OTh IX, 157–159).
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§ 21 Sinnestäuschungen und Phantasievorstellungen 249

zufolge die Eigenschaften des äußeren Gegenstandes in das Vorstellungs-


vermögen aufgenommen werden. Dies würde nämlich bedeuten, dass im
Vorstellungsvermögen etwas entsteht, das die gleiche Art von Qualität hat
wie der materielle Gegenstand. Doch dies hätte absurde Konsequenzen,
wie Ockham sogleich feststellt, denn dann müsste man einer Vorstellung
ebenso wie einem materiellen Gegenstand Farbe oder Hitze zuschreiben.75
Der materielle Gegenstand kann nicht assimiliert werden, sondern er kann
nur auf die äußeren Sinne einwirken und in ihnen eine Zustandsverände-
rung (ontologisch gesprochen: das Entstehen einer Qualität) verursachen,
z.B. eine Veränderung der Pupillen bei einer visuellen Wahrnehmung oder
eine Veränderung der Haut bei einer taktilen Wahrnehmung. Dieser Vor-
gang aktiviert das Vorstellungsvermögen, das seinerseits einen neuen Zu-
stand (ontologisch gesprochen: eine weitere Qualität) hervorbringt. Und
das Vorliegen dieses Zustandes bewirkt das Entstehen einer Vorstellungs-
disposition (habitus), die immer wieder aktiviert werden kann, sodass eine
Vorstellung auch dann entstehen kann, wenn der äußere Gegenstand nicht
mehr präsent ist. Es besteht somit eine lückenlose Kausalrelation, die vom
äußeren Gegenstand zu einem Vorstellungszustand führt, und der Inhalt
dieses Zustandes wird allein durch diese Kausalrelation – nicht durch eine
Abbild- oder Identitätsrelation – festgelegt.
Ockham insistiert auch darauf, dass mit dem Vorstellungszustand
genau der Gegenstand vorgestellt wird, der auf die äußeren Sinne einge-
wirkt hat, nicht etwa ein innerer Stellvertreter für diesen Gegenstand.
Damit bekräftigt er einmal mehr seinen direkten Erkenntnisrealismus.
Wer sich etwas vorstellt, bezieht sich direkt auf einen äußeren Gegenstand,
nicht auf ein inneres Abbild oder eine sensible Species.76 Somit taucht das
skeptische Problem, das sich im Rahmen einer repräsentationalistischen
Theorie stellt, gar nicht auf. Würde ein skeptischer Opponent nämlich
fragen, ob jemand aufgrund einer Vorstellung denn sicher sein kann, dass
es in der materiellen Welt einen Gegenstand gibt, der der Vorstellung ent-
spricht, könnte Ockham sogleich erwidern, dass die Frage falsch gestellt
ist. Es gibt hier keinen inneren Gegenstand, für den ein äußeres Korrelat
gesucht werden muss, sondern nur einen inneren Zustand, der sich direkt
auf einen äußeren Gegenstand bezieht. Da der Inhalt dieses Zustandes
durch die Kausalrelation zum äußeren Gegenstand festgelegt wird, kann es
gar keine Vorstellung ohne einen äußeren Gegenstand geben. Die Existenz

 Vgl. Reportatio III, q. 3 (OTh VI, 115).


75

  Reportatio III, q. 3 (OTh VI, 121): „Quia omnia illa quae a philosophis et sanctis
76

doctoribus vocantur phantasmata, simulacra, idola, sunt ipsamet sensibilia prius sensata et
post phantasiata, et non species sensibilium. Eundem enim hominem quem prius vidi, nunc
imaginor, et non speciem hominis.“
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250 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

eines solchen Gegenstandes ist eine notwendige Bedingung für das Ent-
stehen eines Vorstellungszustandes.
Diese Erklärung wirft allerdings zwei Probleme auf. Erstens stellt sich
die Frage, worin sich denn die Vorstellung von einem intellektuellen Akt
unterscheidet, wenn sie ebenso wie ein solcher Akt auf einen äußeren Ge-
genstand gerichtet ist. Worin besteht etwa der Unterschied zwischen meiner
Vorstellung eines braunen Pferdes und meinem Denken an ein solches
Pferd? Zweitens taucht auch die Frage auf, wie denn die Vorstellung nicht
existierender Gegenstände oder die falsche Vorstellung existierender Ge-
genstände erklärt werden kann, wenn doch einzig und allein eine natürliche
Kausalrelation für die Entstehung von Vorstellungen verantwortlich ist. Es
scheint, als könnte ich mir gar keinen rosaroten Elefanten vorstellen, wenn
die Existenz eines materiellen Gegenstandes eine notwendige Bedingung
für die Entstehung meines Vorstellungszustandes ist.
Die erste Frage lässt sich beantworten, wenn Ockhams Grundthese von
der sprachlichen Verfasstheit des Denkens berücksichtigt wird. Eine Vor-
stellung unterscheidet sich dadurch von einem intellektuellen Akt, dass sie
keine Termini und keine Zusammensetzung von Termini zu ganzen Sätzen
beinhaltet. Daher kann auch ein Tier oder ein Säugling, der noch über keine
sprachlichen Fertigkeiten verfügt, Vorstellungen von Gegenständen haben.
Da eine sprachliche Strukturierung fehlt, erfolgt allerdings keine Kategori-
sierung der vorgestellten Gegenstände. Konkret heißt dies: Eine Kuh kann
sich genau wie ein Mensch auf ein Pferd beziehen und eine Vorstellung von
dessen wahrnehmbaren Eigenschaften gewinnen. Sie hat dann einen kom-
plexen Zustand, in dem ihr eine Fülle von Farben und Figuren präsent ist.
Und natürlich ist sie auch imstande, diese Vorstellung abzuspeichern und
bei späterer Gelegenheit zu reaktivieren. Doch sie ist nicht in der Lage, das
Pferd als Pferd oder als etwas Braunes zu erfassen, weil sie nicht die all-
gemeinen Termini ‚Pferd‘ und ‚braun‘ bilden kann, unter die sie den Gegen-
stand subsumieren könnte. Noch viel weniger ist sie in der Lage, zwei Pferde
als gleichartige Gegenstände zu erfassen und ein Urteil wie ‚Diese Pferde
sind braun‘ zu bilden. Sie kann nur einzelne Vorstellungen von einzelnen
Pferden bilden – Vorstellungen, die nicht mehr als eine komplexe Ansamm-
lung von Eigenschaften präsentieren.
Auf die zweite Frage geht Ockham explizit ein, indem er den Einwand
diskutiert, man könne doch auch im Schlaf Vorstellungen bilden, denen gar
nichts in der materiellen Welt entspricht, oder es gebe Verrückte, die Wahn-
vorstellungen haben, denen ebenfalls nichts in der Außenwelt entspricht.
Darauf antwortet Ockham lapidar:
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§ 21 Sinnestäuschungen und Phantasievorstellungen 251

„Ich erwidere, dass es in diesen Fällen eine Menge von Akten gibt, die auf ver-
schiedene Weise angeordnet sind, denn diese Akte sind im gesunden Zustand
anders angeordnet als im kranken, im schlafenden anders als im wachen. Doch jeder
dieser Akte setzt einen ihm ähnlichen Akt im gesunden und im wachen Zustand
voraus.“77

Offensichtlich setzt Ockham voraus, dass die Vorstellungen im Schlaf oder


im Wahnzustand ebenfalls auf Kausalrelationen zu äußeren Gegenständen
beruhen. Der Unterschied zu Vorstellungen im Wachzustand oder im ge-
sunden Zustand besteht lediglich in der jeweiligen Anordnung der einzelnen
Vorstellungen, d.h. in ihrer Verknüpfung. Beispielsweise kann jemand in
einem Delirium die Vorstellung von etwas Rosarotem mit jener von einem
Elefanten verknüpfen. Doch die Teile dieser verknüpften Vorstellung sind
ebenfalls in der materiellen Welt fundiert. Ockham betont sogar, dass der-
artige Anordnungen oder Verknüpfungen immer Vorstellungen im gesunden
und im wachen Zustand voraussetzen. Damit kann er gleich zwei skepti-
schen Einwänden begegnen. Zum einen kann er den radikalen Einwand zu-
rückweisen, wir könnten uns doch immer im Schlaf oder im Wahn befinden
und somit nie einen Zugang zur materiellen Welt haben. Diese Möglichkeit
ist bereits dadurch ausgeschlossen, dass komplexe Vorstellungen im Schlaf
oder im Wahn gar nicht entstehen könnten, wenn es nicht einfache Vorstel-
lungen gäbe, die im wachen oder im gesunden Zustand erworben wurden.
So könnte jemand gar keinen rosaroten Elefanten halluzinieren, wenn er nie
einen Elefanten und etwas Rosarotes (oder zumindest Bilder davon) gesehen
hätte. Vorstellungen von nicht existierenden Gegenständen setzen immer
Wahrnehmungen und Vorstellungen von existierenden Gegenständen vo-
raus. Ebenso setzen falsche Vorstellungen von existierenden Gegenständen
korrekte Vorstellungen von solchen Gegenständen voraus. Zum anderen
kann Ockham auch den Einwand zurückweisen, wir könnten nie feststel-
len, wann wir eine Vorstellung im Schlaf oder Wahn haben und wann im
wachen oder gesunden Zustand. Diese Unterscheidung lässt sich sehr wohl
treffen, wenn wir untersuchen, wie die Vorstellung zustande gekommen ist
und auf welchen fundamentaleren Vorstellungen sie aufbaut. Freilich ist die
Unterscheidung nicht „von innen“ möglich (Ockham formuliert auch hier
kein psychologisches Kriterium), sondern nur „von außen“, nämlich indem
wir die Umstände, unter denen wir die Vorstellungen erwerben, prüfen. In
vielen Fällen muss die Prüfung sogar vom Standpunkt der dritten Person
aus erfolgen, etwa indem ein Arzt überprüft, in welcher psychischen und

  Quodl. III, q. 20 (OTh IX, 283): „Respondeo quod in talibus est multitudo actuum di-
77

versimode ordinatorum, quia isti actus aliter ordinantur in sanitate et in infirmitate, et aliter
in vigilante et in dormiente. Sed quilibet illorum actuum praesupponit aliquem actum sibi
similem in sanitate et in vigilante.“
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252 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

physischen Verfassung sich jemand befindet, der berichtet, er habe die Vor-
stellung von einem rosaroten Elefanten.
Dieser Erklärungsansatz verdeutlicht, dass irreführende Phantasievor-
stellungen für Ockham genauso wenig ein radikales Problem darstellen wie
Sinnestäuschungen. Natürlich sind derartige Vorstellungen immer möglich,
aber sie bauen auf korrekten Vorstellungen auf. Auch hier gilt wieder: Irr-
tum ist nur vor dem Hintergrund prinzipieller Korrektheit möglich. Und
wie im Falle der Sinnestäuschungen müssen auch hier keine besonderen
Entitäten (Bilder, Species, erscheinende Gegenstände usw.) angenommen
werden, die den Zugang zu den materiellen Gegenständen gleichsam ver-
sperren. Denn wie wirr die Vorstellungen auch miteinander verknüpft
werden, ihre fundamentalen Bestandteile beziehen sich direkt auf Dinge
in der materiellen Welt. Die Frage ist hier nicht, was vorgestellt wird (reale
oder bloß vorgestellte Entitäten), sondern wie die realen Entitäten in den
verknüpften Vorstellungen präsentiert werden.
Nun könnte man aber immer noch einwenden, dass damit skeptische
Probleme noch nicht vollständig aus dem Weg geräumt sind. Könnte es nicht
sein, dass jemand trotz einer sorgfältigen Prüfung irreführende Phantasie-
vorstellungen als Grundlage für seine Urteile verwendet? Und könnte es
somit nicht sein, dass jemand falsche Urteile bildet, ohne deren Falschheit
zu bemerken? Auf diesen Einwand ist zu erwidern, dass auf der Grundlage
von Vorstellungen keine intuitiven Erkenntnisakte entstehen, sondern nur
abstraktive. Diese führen im Normalfall nicht zu Urteilen über die Existenz
oder die kontingente Beschaffenheit von Gegenständen. Ockham betont
ausdrücklich, dass jemand, der sich Sokrates in dessen Abwesenheit vorstellt
oder ihn halluziniert, nur eine abstraktive Erkenntnis von Sokrates gewinnt
und kein Existenzurteil fällt.78 Der natürliche kognitive Mechanismus stellt
sicher, dass überhaupt kein Urteil – also auch kein falsches – gebildet wird.
Hier wird einmal mehr das reliabilistische Leitmotiv deutlich: Jeder Mensch
ist mit einem kognitiven Apparat ausgestattet, der unter normalen Bedin-
gungen keine falschen Urteile hervorbringt. Doch natürlich sind auch Aus-
nahmen möglich, etwa wenn jemand, der unter Wahnvorstellungen leidet,
trotz Sokrates’ Abwesenheit ein falsches Urteil über ihn bildet. Wie bereits
erwähnt, lassen sich diese Urteile aber „von außen“ korrigieren, und selbst
wenn „von innen“ keine Korrektur erfolgt, heißt dies nicht, dass eine falsche
intuitive Erkenntnis vorliegt. Wie in § 20 bereits betont wurde, kann eine
intuitive Erkenntnis gar nicht falsch sein, weil sie stets evident ist und somit
ausschließlich eine Zustimmung zu wahren Urteilen zur Folge hat. Die Tat-
sache, dass jemand falsche Urteile fällt und sie nicht korrigiert, verdeutlicht

78
 Vgl. Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 32).

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§ 22 Nicht existierende Gegenstände 253

nur, dass eine falsche Selbstzuschreibung von intuitiver Erkenntnis vorliegt.


Doch dies stellt keine radikale Bedrohung für die Möglichkeit von intuiti-
ver Erkenntnis dar. Denn wenn unter besonderen Umständen eine falsche
Selbstzuschreibung erfolgt, wird damit die korrekte Selbstzuschreibung
unter normalen Umständen nicht infrage gestellt.

§ 22 Intuitive Erkenntnis von nicht existierenden Gegenständen

Bislang ist deutlich geworden, dass für Ockham falsche Urteile nur vor
dem Hintergrund zahlreicher korrekter Urteile möglich sind. Die natürli-
chen kognitiven Mechanismen bringen nämlich im Prinzip wahre Urteile
hervor. Dieser antiskeptische Leitgedanke gilt zunächst nur für natürliche
kognitive Prozesse. Als Philosoph, der auch der theologischen These von
der uneingeschränkten Allmacht Gottes zustimmt, zieht Ockham indes-
sen auch übernatürliche Prozesse in Betracht, d.h. Prozesse, die durch das
direkte Eingreifen Gottes zustande kommen. Die Erwägung derartiger
Prozesse bedeutet allerdings nicht, dass Ockham annimmt, Gott greife
permanent in die kognitiven Vorgänge ein und setze natürliche Kausalre-
lationen außer Kraft. Wie in der Einleitung bereits erläutert wurde, dienen
Diskussionen über die göttliche Allmacht im Spätmittelalter nicht dazu,
genau zu bestimmen, was Gott faktisch tut, sondern was er widerspruchs-
frei tun könnte. Es geht darum, den Bereich des logisch Möglichen aus-
zuloten und vom Bereich des Unmöglichen abzugrenzen. Dieses Interesse
an einer Bestimmung des Möglichen motiviert auch Ockhams Überlegun-
gen. Er will untersuchen, was Gott in kognitiven Vorgängen (genauso wie
in anderen Vorgängen, die auf Kausalrelationen beruhen) widerspruchsfrei
tun könnte und was wir daher berücksichtigen müssen, wenn wir nicht
nur beschreiben wollen, wie Erkenntnisakte faktisch zustande kommen,
sondern darüber hinaus erklären wollen, welche Akte prinzipiell möglich
sind.
Dieser Erklärungsansatz wirft freilich die Frage auf, was Gott denn be-
wirken könnte. Welche Art von Erkenntnisakten könnte er durch ein di-
rektes Eingreifen hervorbringen, und wie ist das Verhältnis dieser Akte zu
jenen zu verstehen, die auf natürliche Weise entstehen? Zudem stellt sich die
Frage nach den Konsequenzen des möglichen göttlichen Eingreifens. Stellt
die Annahme, dass Gott jederzeit eingreifen könnte, die Zuverlässigkeit und
Gewissheit der natürlich verursachten Erkenntnisakte infrage? Diese Frage
ist mit Blick auf die bisherige Forschung von besonderem Interesse, denn
seit Michalskis und Gilsons einflussreichen Arbeiten ist immer wieder die
Vermutung geäußert worden, dass die Allmachtsthese dem Skeptizismus
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254 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

Tür und Tor öffnet.79 Angesichts dieser These sei es nämlich immer möglich,
dass jemand bloß glaubt, eine Erkenntnis von einem unmittelbar präsenten
Gegenstand zu haben, obwohl kein Gegenstand vorhanden ist – Gott könnte
immer einen Erkenntnisakt hervorrufen, der einen nicht gegenwärtigen
Gegenstand als gegenwärtig präsentiert. Um zu prüfen, ob sich tatsächlich
derartige Konsequenzen ergeben, empfiehlt es sich, zwei Diskussionen in
Ockhams Werk in den Blick zu nehmen, diese aber sorgfältig voneinander
zu unterscheiden: die frühe Diskussion im Sentenzenkommentar und die
spätere, vor allem durch Walter Chatton inspirierte Neubehandlung der
Thematik in den Quodlibeta.
Im Prolog zum Sentenzenkommentar stellt Ockham in einer kurzen
Nebenthese fest, aufgrund des göttlichen Eingreifens könne es eine intuitive
Erkenntnis von einem nicht existierenden Gegenstand geben.80 Bereits die
Tatsache, dass er diese Nebenthese sehr knapp behandelt (sie wird auf weni-
ger als einer Seite abgehandelt), verdient Beachtung. Es geht Ockham nicht
darum, die These zu vertreten, es könne jederzeit von existierenden wie
von nicht existierenden Gegenständen eine intuitive Erkenntnis geben, um
dann zu präzisieren, wie der Spezialfall der Erkenntnis von existierenden
Gegenständen zu verstehen sei. Die Argumentation verläuft gerade umge-
kehrt: Der Normalfall ist die auf natürlichen Kausalrelationen beruhende
intuitive Erkenntnis von existierenden Gegenständen. Die auf göttlicher
Aktivität beruhende intuitive Erkenntnis von nicht existierenden Gegen-
ständen ist bloß als Spezialfall zu berücksichtigen. Dieser Spezialfall stellt
aber den Normalfall nicht infrage; das göttliche Eingreifen „kontaminiert“
nicht natürliche Prozesse.
Dieser Erklärungsansatz ist für die gesamte Argumentationsstrategie
von Bedeutung. Die Nebenthese dient nicht dazu, sämtliche natürlichen
Erkenntnisprozesse infrage zu stellen. Im Gegensatz zu Descartes führt
Ockham die Nebenthese nicht ein, um zu zeigen, dass alle Erkenntnisakte
von einem allmächtigen Gott (bzw. von einem trügerischen Dämon) ver-
ursacht sein könnten. Er möchte nur verdeutlichen, dass einige Erkenntnis-
akte – genau jene, die sich auf nicht existierende oder nicht aktuell präsente
Gegenstände beziehen – derart verursacht sein könnten. Er erwägt nicht
die Möglichkeit, dass auch die Erkenntnisakte, die sich auf existierende
79
 Eine kritische Auswertung dieses Forschungsansatzes, der neuerdings von Kenny 2005,
174–175, wieder aufgenommen worden ist, bieten Leppin 1998 und Karger 1999.
80
 Vgl. Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 38). In Reportatio II, q. 12–13 (OTh V, 258) erwägt
Ockham auch den Fall, dass Gott eine intuitive Erkenntnis von einem zwar existierenden,
aber nicht gegenwärtigen Gegenstand hervorrufen könnte. Sein Beispiel lautet: Selbst wenn
ich nicht in Rom bin, kann Gott mir eine intuitive Erkenntnis von einem Gegenstand, der
sich dort befindet, eingeben. Der entscheidende Punkt ist auch hier, dass keine aktuelle Kau-
salrelation zu dem Gegenstand besteht.
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§ 22 Nicht existierende Gegenstände 255

und präsente Gegenstände beziehen, von Gott manipuliert sein könnten.


So stellt er etwa nicht infrage, dass ich, wenn ich vor einem Baum stehe,
auf natürliche Weise eine intuitive Erkenntnis von diesem Baum gewinne
und korrekt urteile, dass ein Baum vor mir steht. Somit taucht nicht das
für den cartesischen Ansatz typische Problem auf, dass alle Erkenntnisakte
dem Zweifel unterworfen werden müssen. Wenn ein Zweifel auftaucht, so
betrifft er höchstens eine eng begrenzte Menge von Erkenntnisakten.
Trotzdem stellt sich natürlich die Frage, warum Ockham die Nebenthese
überhaupt formuliert. Warum beschränkt er sich nicht auf die These, dass
nur eine Erkenntnis von existierenden und gegenwärtigen Gegenständen
(im Falle der Erinnerung auch von früher präsenten Gegenständen) möglich
ist? Folgende Aussage bietet eine Antwort auf diese Frage:
„... jedes absolute Ding, das hinsichtlich Ort und Subjekt von einem anderen ab-
soluten Ding verschieden ist, kann kraft der absoluten göttlichen Macht ohne dieses
existieren. Es scheint nämlich nicht wahrscheinlich, dass Gott, wenn er ein absolu-
tes, am Himmel existierendes Ding zerstören will, gezwungen wird, ein anderes,
auf der Erde existierendes Ding zu zerstören. Das intuitive Sehen, das sinnliche
ebenso wie das intellektuelle, ist aber ein absolutes Ding, hinsichtlich Ort und Sub-
jekt vom Gegenstand verschieden.“81

Die Motivation, die Nebenthese einzuführen, ist offensichtlich nicht primär


erkenntnistheoretischer, sondern ontologischer Natur. Ockham geht hier
von folgendem Prinzip aus:

(P) Wenn x und y absolute, real verschiedene Entitäten sind, kann x ohne y
existieren und umgekehrt.
Dies ist ein allgemeines ontologisches Prinzip, das Ockham in verschiedenen
Kontexten anwendet, auch außerhalb der Erkenntnistheorie. Zwei Beispiele
seien erwähnt. In der Universaliendiskussion wendet er sich gegen Duns
Scotus’ Ansicht, innerhalb eines Gegenstandes gebe es zwei Komponenten
(allgemeine Natur und individuelle Eigenschaft), die zwar verschieden, aber
trotzdem untrennbar miteinander verbunden seien. Für Ockham ist dies
eine inkonsistente Position.82 Entweder sind die beiden Komponenten wirk-
lich verschieden; dann können sie auch voneinander getrennt werden. Oder
aber sie sind untrennbar miteinander verbunden; dann können sie nicht ver-
schieden sein. Entscheidend ist aufgrund von (P), dass reale Verschiedenheit

  Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 38–39): „... omnis res absoluta, distincta loco et sub-
81

iecto ab alia re absoluta, potest per divinam potentiam absolutam exsistere sine illa, quia non
videtur verisimile quod si Deus vult destruere unam rem absolutam exsistentem in caelo quod
necessitetur destruere unam aliam rem exsistentem in terra. Sed visio intuitiva, tam sensitiva
quam intellectiva, est res absoluta, distincta loco et subiecto ab obiecto.“
82
 Vgl. Ordinatio I, dist. 2, q. 4 (OTh II, 115–116).
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256 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

immer Trennbarkeit impliziert. Ein zweites Beispiel stammt aus der Emo-
tionentheorie. Ockham stellt fest, dass ein emotionaler Zustand normaler-
weise von einem Akt des sinnlichen Erfassens erzeugt wird, der wiederum
von einem äußeren Objekt verursacht wird. So erzeugt etwa die Präsenz
eines Wolfes das Sehen des Wolfes, und dieses wiederum ruft Furcht hervor.
Äußerer Gegenstand, sinnliches Erfassen und Emotion sind aber real ver-
schiedene Entitäten. Sie stehen faktisch zwar in einer Kausalkette, können
aber voneinander getrennt werden. So kann etwa die Furcht auch ohne das
Sehen oder das Sehen ohne eine Präsenz des Gegenstandes hervorgerufen
werden. Ockham weist darauf hin, dass Gott jede dieser Entitäten von einer
anderen absoluten Entität abtrennen und in Existenz erhalten kann. Auch
hier gilt wieder: Reale Verschiedenheit impliziert Trennbarkeit.83
Ähnlich gilt nun auch für den Erkenntnisakt und den äußeren Gegen-
stand, dass es sich um zwei absolute, real verschiedene Entitäten handelt;
folglich können sie voneinander getrennt werden. Die Allmachtshypothese
dient nur der Veranschaulichung dieser ontologischen These. Denn was im
Prinzip trennbar ist, kann von Gott auch wirklich getrennt werden. So kann
Gott den Akt, mit dem ich einen Stern erkenne, vom Stern am Himmel ab-
trennen, wie Ockham ausdrücklich betont. Allerdings ist zu beachten, dass
er nicht behauptet, Gott könne diesen Erkenntnisakt hervorbringen, wenn
nie ein Stern existiert hat oder wenn ich nie einen Stern gesehen habe. Er
beschränkt sich auf die These, dass „das Sehen verbleiben kann, wenn der
Stern zerstört ist.“84 Gott kann also lediglich den Akt, mit dem ich den Stern
erkenne, auch dann noch aufrechterhalten, wenn der Stern nicht mehr exis-
tiert und ich ihn nicht mehr sehe, aber er kann einen solchen Akt nicht ex
nihilo hervorbringen. Dies ist eine kleine, aber subtile Differenzierung, die
verdeutlicht, dass Ockham auch das göttliche Eingreifen im Rahmen einer
externalistischen Theorie erklärt. Das heißt: Ein Erkenntnisakt hat nicht an
sich einen bestimmten Inhalt. Vielmehr ist es der äußere Gegenstand, der
auf den Erkennenden einwirkt und dadurch den Inhalt festlegt.85 Wenn der
Inhalt einmal festgelegt ist, kann Gott den Akt vom Gegenstand ablösen
und weiterhin mit seinem spezifischen Inhalt aufrechterhalten. Aber selbst
Gott kann dem Akt nicht einen wohldefinierten Inhalt geben.
Diese Differenzierung verdeutlicht einen weiteren zentralen Unterschied
83
 Vgl. Quaestiones variae, q. 6, art. 9 (OTh VIII, 251–252).
84
  Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 39): „... ista visio potest manere stella destructa ...“ Ibid.:
„... visio coloris sensitiva potest conservari a Deo ipso colore non exsistente.“
85
  Wie in Anm. 80 erwähnt wurde, erwägt Ockham auch den Fall, dass der Gegenstand
zwar existiert, aber nicht gegenwärtig ist. Für diesen Fall gilt, dass der Gegenstand zu einem
früheren Zeitpunkt wahrgenommen wurde und somit den Inhalt eines Erkenntnisaktes fest-
gelegt hat. Auch hier wird der Inhalt nicht auf wundersame Weise festgelegt; es fehlt nur eine
aktuelle Festlegung.
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§ 22 Nicht existierende Gegenstände 257

zum cartesischen Ansatz. Ockham erwägt nicht die Möglichkeit, dass Gott
einen Akt mit einem bestimmten Inhalt hervorbringen und gleichsam in
den Geist legen könnte, ob nun ein äußerer Gegenstand existiert oder nicht.
Er diskutiert nur die Möglichkeit, dass Gott einen Akt, der bereits einen
Inhalt hat, auch nach der Zerstörung des äußeren Gegenstandes weiterhin
in Existenz erhalten kann. Damit ein Akt aber überhaupt einen Inhalt
haben kann, muss einmal ein äußerer Gegenstand existiert haben. Deshalb
setzt die Annahme eines manipulierenden Gottes immer schon die Existenz
einer Außenwelt voraus. Die cartesische Annahme, dass sämtliche Akte von
Gott (oder einem bösen Dämon) einen Inhalt erhalten könnten, ergibt für
Ockham keinen Sinn.
Radikaler Außenwelt-Skeptizismus ist somit von vornherein ausgeschlos-
sen. Doch besteht nicht die Möglichkeit, dass wir uns zumindest in einigen
Urteilen über die Außenwelt irren? Könnte es aufgrund des göttlichen Ein-
greifens nicht sein, dass ich nach der Zerstörung des Sternes weiterhin einen
visuellen Eindruck von einem Stern habe und urteile, dass der Stern noch
existiert? Auch diese skeptische Überlegung weist Ockham zurück. Wenn
der Stern nicht mehr existiert, Gott jedoch weiterhin einen visuellen Ein-
druck vom Stern in mir aufrechterhält, urteile ich korrekt, dass der Stern
nicht existiert.86 Dies ergibt sich bereits aus der Definition der intuitiven
Erkenntnis. Da diese Art von Erkenntnis immer eine evidente Erkenntnis
ist, Evidenz aber die Zustimmung zu einem wahren Urteil bedeutet, kann
es gar keine intuitive Erkenntnis geben, die ein falsches Urteil beinhaltet
oder die Grundlage für ein falsches Urteil bildet. Daher hält Ockham es für
ausgeschlossen, dass die These, auch von nicht existierenden Gegenständen
sei eine intuitive Erkenntnis möglich, Anlass zu skeptischen Befürchtungen
gibt. Diese These ist nicht mehr als die epistemologische Konsequenz, die
sich aus der Anwendung des ontologischen Prinzips (P) ergibt, noch dazu
eine Konsequenz, die den Erkenntnisbereich erweitert und nicht etwa mit
Einschränkungen versieht. Denn einem Menschen ist es nun möglich, nicht
nur über existierende Gegenstände wahre Urteile zu bilden, sondern auch
über nicht existierende. Die Bildung wahrer Urteile ist dank der göttlichen
Aktivität nicht immer und ausnahmslos an eine aktuelle, natürliche Kausal-
relation zu äußeren Gegenständen gebunden.
Ockhams These, dass von nicht existierenden ebenso wie von existieren-
den Gegenständen eine intuitive Erkenntnis möglich ist, eignet sich offen-
sichtlich nicht als Ausgangspunkt für skeptische Einwände. Sie verdeutlicht
im Gegenteil, dass er seinen robusten Erkenntnisrealismus sogar auf den
86
 Vgl. Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 31 und 39); Reportatio II, q. 12–13 (OTh V, 259–260).
Auf diesen Punkt hat bereits Boehner 1958, 280, in seiner einflussreichen Kritik an Gilsons
Interpretation aufmerksam gemacht.
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258 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

Bereich des Nicht-Existierenden ausdehnt. Allerdings verschwinden damit


nicht alle Probleme. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass Ockhams
Argumentation mindestens zwei Schwachstellen aufweist.
Erstens geht Ockham wie selbstverständlich davon aus, dass durch das
göttliche Eingreifen nur eine intuitive Erkenntnis zustande kommen kann,
die definitionsgemäß immer korrekt ist. Damit weist er von vornherein die
Möglichkeit eines Irrtums zurück. Aber warum sollte nur eine derartige
Erkenntnis möglich sein? Angenommen, Gott erhält in mir den visuellen
Eindruck von einem Stern so perfekt aufrecht, dass ich überzeugt bin, ein
Stern leuchte am Nachthimmel. Warum sollte ich dann nur das Urteil fällen
können, dass kein Stern existiert? Warum sollte mich der intensive Eindruck
nicht zu dem Urteil verleiten, dass tatsächlich ein Stern vorhanden ist, ähn-
lich wie mich eine Sinnestäuschung zu einem falschen Urteil verleitet? Es
scheint unplausibel, einerseits einzuräumen, Gott erhalte genau jenen Ein-
druck aufrecht, der im Normalfall ein positives Existenzurteil verursacht,
andererseits aber zu behaupten, der Eindruck verursache dann ein negatives
Existenzurteil. Warum sollte die gleiche Ursache vor und nach dem gött-
lichen Eingreifen unterschiedliche Wirkungen haben? Natürlich könnte
man versuchen, dieser Schwierigkeit zu entkommen, indem man hinzufü-
gen würde, dass der Eindruck nach dem göttlichen Eingreifen eine andere
Qualität hat (z.B. eine weniger große Intensität oder weniger Klarheit) und
deshalb ein anderes Urteil verursacht. Doch Ockham nimmt keine solche
Hinzufügung vor. Seiner Ansicht nach liegt nach dem göttlichen Eingreifen
genau der gleiche Eindruck vor. Wie kann dann ein anderes Urteil ent-
stehen?
Eine zweite Schwierigkeit liegt darin, dass Ockham zwar von Gottes
uneingeschränkter Allmacht spricht, diese aber gleichzeitig einzuschrän-
ken scheint, indem er festhält, dass durch das göttliche Eingreifen nur ein
wahres Urteil entstehen kann. Warum kann Gott nicht bewirken, dass der
aufrechterhaltene Eindruck ein falsches Urteil hervorbringt? Oder warum
kann er nicht direkt ein falsches Urteil erzeugen, ohne auf einen Eindruck
zurückzugreifen? Natürlich könnte man versuchen, auch dieser Schwierig-
keit sogleich zu entkommen, indem man darauf insistieren würde, dass das
Erzeugen eines falschen Urteils der göttlichen Güte widerspräche. Doch
Ockham präsentiert kein solches theologisches Argument. Er beruft sich
nur auf die Allmachtsthese, die der Veranschaulichung des genannten on-
tologischen Prinzips dient. Dieses Prinzip lässt aber sehr wohl das direkte
Erzeugen eines falschen Urteils zu. Denn wenn der äußere Gegenstand, der
sinnliche Eindruck und das Urteil real verschiedene Entitäten sind, kann
jede dieser drei Entitäten ohne die jeweils anderen von Gott aufrechterhalten
werden. Konkret heißt das: Wenn der Stern existiert, ich ihn sehe und das
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§ 22 Nicht existierende Gegenstände 259

Urteil ‚Der Stern existiert‘ bilde, kann Gott sehr wohl den Stern und das
Sehen zerstören, gleichzeitig aber das Urteil aufrechterhalten – eine absolute
Entität kann jederzeit von anderen absoluten Entitäten abgetrennt werden.
Bereits Walter Chatton, Ockhams Zeitgenosse und Kontrahent in Ox-
ford, wurde auf Probleme dieser Art aufmerksam. Die These, dass es nur
eine korrekte intuitive Erkenntnis von nicht existierenden Gegenständen
geben kann, ist in seinen Augen selbst im Rahmen des Ockhamschen An-
satzes unbefriedigend. Da Ockham in seinen Quodlibeta ausdrücklich auf
Chattons kritische Stellungnahme eingeht und sie zum Anlass für eine Re-
vision seiner im Sentenzenkommentar formulierten Position nimmt, lohnt
es sich, sie näher zu betrachten.
Chattons Haupteinwand lautet folgendermaßen: 87 Wenn Gott alles be-
wirken kann, was nicht das Gesetz der Widerspruchsfreiheit verletzt,
ist es falsch zu behaupten, Gott könne nicht bewirken, dass uns ein nicht
existierender (oder nicht präsenter) Gegenstand existierend (oder präsent)
erscheint. Ein Widerspruch würde nur vorliegen, wenn Gott bewirken
würde, dass uns ein nicht existierender Gegenstand gleichzeitig existierend
und nicht existierend erscheint. Doch dies ist hier nicht der Fall. Damit legt
Chatton den Finger auf einen der gerade genannten wunden Punkte in Ock-
hams Argumentation. Warum sollte Gott darauf beschränkt sein, in uns
nur den korrekten Eindruck oder die korrekte Erscheinung von einem nicht
existierenden Gegenstand zu erzeugen, sodass wir dann ein wahres Urteil
hervorbringen? Warum kann Gott nicht eine irreführende Erscheinung in
uns erzeugen oder direkt ein falsches Urteil? Dies mag vielleicht seiner Güte
widersprechen, aber es liegt sicherlich kein formaler Widerspruch zwischen
dem Urteil, dass ein Gegenstand existiert, und der faktischen Nicht-Exis-
tenz dieses Gegenstandes vor – Falschheit ist nicht dasselbe wie ein formaler
Widerspruch. Wenn Gott aber einzig und allein an das Gesetz der Wider-
spruchsfreiheit gebunden ist, wie Ockham selber einräumt, ist es durchaus
möglich, dass er direkt oder indirekt die Bildung eines falschen Urteils be-
wirkt.
Ockham weist diesen Einwand kategorisch zurück. Er behauptet, dass in
einem solchen Fall tatsächlich ein Widerspruch vorläge.88 Würde Gott näm-
lich bewirken, dass uns ein nicht existierender (oder nicht präsenter) Gegen-
stand x auf evidente Weise zu existieren scheint, hätten wir einerseits eine
evidente Erkenntnis, die eine Zustimmung zum wahren Urteil ‚x existiert
nicht‘ beinhaltet; evidente Erkenntnis beinhaltet ja definitionsgemäß eine
Zustimmung zu einem wahren Satz. Andererseits würden wir aufgrund der
87
 Vgl. Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 3 (ed. Wey 1989, 98–99). Ockham zitiert diesen
Einwand wörtlich in Quodl. V, q. 5 (OTh IX, 496).
88
 Vgl. Quodl. V, q. 5 (OTh IX, 498).
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260 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

besonderen Erscheinung auch das falsche Urteil ‚x existiert‘ bilden. Kurz


gesagt: Wir würden gleichzeitig die Existenz und die Nicht-Existenz von
x behaupten und uns damit selbst widersprechen. Dieser Widerspruch
lässt sich nur vermeiden, wenn darauf insistiert wird, dass keine evidente
Erkenntnis entsteht. Damit weicht Ockham natürlich von seiner früheren
Position ab, der zufolge das göttliche Eingreifen durchaus eine intuitive
Erkenntnis zur Folge hat. Doch welche Erkenntnis entsteht dann? Ockham
gibt folgende Antwort:
„Dennoch kann Gott einen Akt des Glaubens verursachen, durch den ich glaube,
dass ein abwesendes Ding anwesend ist. Und ich sage, dass diese glaubende Erkennt-
nis abstraktiv sein wird, nicht intuitiv. Durch diesen Akt des Glaubens, nicht aber
durch einen evidenten Akt, kann ein Ding anwesend erscheinen, wenn es abwesend
ist.“89

Entscheidend ist hier, dass durch das göttliche Eingreifen nur eine abs-
traktive Erkenntnis entsteht. Damit lässt sich der Widerspruch vermeiden,
dass gleichzeitig und in gleicher Hinsicht ein wahres und ein falsches Ur-
teil gebildet werden. Wenn etwa Gott in mir die Erscheinung von einem
blühenden Baum aufrechterhält, den Baum im Garten aber zerstört, dann
glaube ich bloß, dass da draußen ein Baum steht, ich erkenne dies aber nicht
mit Evidenz. Und wenn ich etwas bloß glaube, kann es natürlich sein, dass
ich ein falsches Urteil bilde – was ich glaube, muss nicht mit etwas Realem
übereinstimmen.
In Ockhams Antwort, die sich deutlich von der Position im früheren
Sentenzenkommentar unterscheidet, fällt freilich auf, dass er Chatton un-
terstellt, dieser würde auf Evidenz abzielen und sich damit in einen Wider-
spruch verstricken. Doch Chatton hatte in seinem Einwand an keiner Stelle
von Evidenz gesprochen. Er hatte nur darauf hingewiesen, dass durch
göttliches Eingreifen auch ein falsches Urteil zustande kommen kann, und
genau diesen Punkt gesteht Ockham zu, auch wenn er betont, dass es sich
dann nur um eine abstraktive Erkenntnis handelt.
Was gewinnt Ockham mit dieser Antwort? Sicherlich kann er
nun – ganz anders als im Sentenzenkommentar – auch die Genese von
falschen Urteilen erklären. Er schränkt Gottes Allmacht nicht mehr auf
das Erzeugen wahrer negativer Existenzurteile über nicht existierende
Gegenstände ein. Und natürlich kann er im Rahmen seiner Gesamttheorie
eine konsistente Erklärung für die Genese falscher Urteile geben. Er kann
nämlich nach wie vor darauf insistieren, dass intuitive Erkenntnis aus-

  Quodl. V, q. 5 (OTh IX, 498): „Tamen Deus potest causare actum creditivum per quem
89

credo rem esse praesentem quae est absens. Et dico quod illa cognitio creditiva erit abstractiva,
non intuitiva; et per talem actum fidei potest apparere res esse praesens quando est absens,
non tamen per actum evidentem.“
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§ 22 Nicht existierende Gegenstände 261

schließlich zur Bildung wahrer Existenzurteile führt. Wenn falsche Ur-


teile gebildet werden, kann dies nur auf der Grundlage einer abstraktiven
Erkenntnis erfolgen. Freilich modifiziert Ockham damit seine Erklärung
der abstraktiven Erkenntnis, denn diese war ja so eingeführt worden, dass
sie keine Existenzurteile beinhaltet, weder wahre noch falsche.90 In An-
betracht des möglichen göttlichen Eingreifens präzisiert Ockham nun
wie folgt: Liegt ein natürlicher kognitiver Prozess vor, wird in einer abs-
traktiven Erkenntnis kein Existenzurteil gefällt, liegt hingegen ein über-
natürlicher kognitiver Prozess vor, kann unter Umständen in einer abs-
traktiven Erkenntnis ein falsches Existenzurteil gebildet werden. Diese
Differenzierung ist wichtig, um ein Missverständnis zu vermeiden, das
seit Boehners einflussreicher Arbeit immer wieder aufgetaucht ist. Boeh-
ner hatte behauptet, abstraktive Erkenntnis sei für Ockham trügerisch,
da sie auch falsche Urteile hervorbringen könne. Intuitive Erkenntnis
hingegen sei untrügerisch, da sie ausnahmslos wahre Urteile hervor-
bringe.91 Dagegen ist einzuwenden, dass auch die abstraktive Erkenntnis
im Prinzip untrügerisch ist, sofern ein natürlicher kognitiver Prozess vor-
liegt. Wenn ich mich etwa an den Baum erinnere, den ich gestern gesehen
habe, und ihn erfasse, ohne über seine gegenwärtige Existenz zu urteilen,
verfüge ich über eine korrekte abstraktive Erkenntnis; Erinnerung ist im
Prinzip zuverlässig.92 Ein falsches Urteil wird nur im Falle eines über-
natürlichen Prozesses gebildet, der sorgfältig von natürlichen Prozessen
zu unterscheiden ist.
Allerdings stellt sich nun die Frage, ob Ockham mit diesem Erklärungs-
ansatz skeptische Einwände zurückweisen kann. Seiner Ansicht nach droht
keine skeptische Gefahr, weil selbst im Falle des göttlichen Eingreifens nur
ein abstraktiver Akt des Glaubens entsteht, der nicht evident ist. Mit diesem
Schachzug weist er ja Chattons Einwand zurück. Doch wie, so könnte ein
skeptischer Gegner sogleich nachbohren, lässt sich dieser Akt des Glaubens
von einem Akt der intuitiven und damit auch der evidenten Erkennt-
nis unterscheiden? Angenommen, Gott zerstört den blühenden Baum im
Garten, erhält aber in mir die Erscheinung von einem blühenden Baum
aufrecht, sodass ich glaube, dass tatsächlich ein Baum im Garten ist. Wie
kann ich aus meiner Perspektive dieses bloße Glauben von einem evidenten

 Vgl. Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 31) und Quodl. V, q. 5 (OTh IX, 496).
90

  Vgl. Boehner 1958, 280–287. Karger 1999, 214–216, hat diese Interpretation bereits aus-
91

führlich kritisiert. Allerdings kommt sie zum Schluss, dass es auch falsche intuitive Erkennt-
nis geben kann. Dies ist mit der von Boehner bereits gut belegten Kernthese Ockhams un-
vereinbar, dass intuitive Erkenntnis immer evidente Erkenntnis ist und somit keine falschen
Urteile verursachen kann.
92
 Vgl. Reportatio V, q. 12–13 (OTh V, 261–262).
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262 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

Erkennen unterscheiden? Ockham verweist nicht auf innere Merkmale.93 So


sagt er nicht, der Akt des Glaubens sei weniger intensiv, weniger deutlich
oder weniger klar als der Akt einer evidenten Erkenntnis, sodass dann auch
ein weniger deutliches oder weniger klares Urteil entstehe. Im Gegenteil, er
weist ausdrücklich darauf hin, dass es keinen phänomenalen Unterschied
gibt:
„Ich gebe aber zu, dass Gott eine Zustimmung bewirken kann, die von der gleichen
Art ist wie die evidente Zustimmung zum kontingenten Satz ‚Dieses Weiße exis-
tiert‘, auch wenn die Weiße nicht existiert. Aber diese Zustimmung ist nicht evident,
weil es sich der Sache nach nicht so verhält, wie durch den Satz, dem zugestimmt
wird, angegeben wird.“94

Entscheidend ist hier Ockhams Zugeständnis, dass die Zustimmung (d.h.


das positive Existenzurteil) im Falle der Nicht-Existenz des Gegenstandes
von der gleichen Art ist wie im Falle der Existenz. Der einzige Unterschied
zwischen den beiden Fällen liegt in der kausalen Ordnung. Wenn der Gegen-
stand existiert, ist er die Ursache für das positive Existenzurteil, und dann
bezieht sich dieses Urteil auch auf den Gegenstand. Wenn der Gegenstand
nicht existiert, gibt es keine kausale Verbindung, und das Urteil bezieht sich
nicht auf den Gegenstand. Da Evidenz aber nur über die kausale Ordnung
bestimmt wird, nicht über phänomenale Merkmale, gibt es für die urtei-
lende Person keine Möglichkeit, die beiden Fälle voneinander zu unterschei-
den. Man kann hier wiederum höchstens „von außen“ eine Unterscheidung
treffen. So kann jemand, der meine Äußerung des Urteils ‚Im Garten steht
ein blühender Baum‘ hört, untersuchen, ob ich dieses Urteil tatsächlich auf-
grund eines Sinneseindrucks von einem unmittelbar präsenten Baum gefällt
habe. Doch „von innen“ betrachtet bilde ich in gleicher Weise dieses Urteil,
ob nun ein Baum präsent ist oder nicht, ob ich einen Sinneseindruck habe
oder nicht. Nichts im Urteil selbst erlaubt es mir zu bestimmen, ob nun
tatsächlich ein Baum vorhanden ist und ob ich mein Urteil tatsächlich auf-
grund einer natürlichen Kausalrelation zu diesem Baum gebildet habe.
Dies ist natürlich eine Konsequenz des externalistischen Erklärungs-
ansatzes, der bereits in § 20 deutlich geworden ist. Wenn Wissen ausschließ-

93
 Bereits Boehner 1958, 286, machte auf diese Schwierigkeit aufmerksam: „The psycho-
logical distinction of these two acts is not so easily drawn.“ Er räumte ein, dass Ockham kein
psychologisches Merkmal angibt, stellte dann aber die Vermutung auf, dass man trotzdem
„by experience“ die beiden Akte voneinander unterscheiden könne. Solange keine genauen
Merkmale oder Prozeduren genannt werden, ist dieser Verweis auf die Erfahrung aber nicht
hilfreich.
94
  Quodl. V, q. 5 (OTh IX, 499): „Concedo tamen quod Deus potest facere assensum ei-
usdem speciei cum illo assensu evidenti respectu huius contingentis ,haec albedo est‘ quando
albedo non est; sed ille assensus non est evidens, quia non est ita in re sicut importatur per
propositionem cui fit assensus.“
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§ 22 Nicht existierende Gegenstände 263

lich mit Rekurs auf zuverlässige, von außen beobachtbare kognitive Prozesse
erklärt wird, kann es kein inneres Merkmal geben, das erlauben würde,
korrekte Prozesse (und als Resultat daraus: wahre Urteile) von unkorrekten
zu unterscheiden. Heißt dies, dass Ockham letztendlich doch dem Skeptiker
Recht geben muss, der behauptet, dass wir nie wissen können, wann wir ein
wahres Urteil über die Existenz eines materiellen Gegenstandes fällen, weil
Gott immer eingreifen und in uns immer ein falsches Urteil hervorrufen
könnte, ohne dass wir es von einem wahren Urteil unterscheiden können?
Nicht ganz. Zwar muss Ockham einräumen, dass die skeptische Gefahr
insofern nicht gebannt werden kann, als es kein infallibles Zeichen gibt,
das es uns ermöglichen würde, wahre Urteile auf Anhieb von falschen zu
unterscheiden. Trotzdem sind wir in der Lage, eine Menge von wahren Ur-
teilen zu bilden und uns auch darauf zu verlassen, dass sie wahr sind. Dies
ist uns aus drei Gründen möglich.
Erstens geht Ockham – wie schon mehrfach betont wurde – davon aus,
dass wir grundsätzlich über zuverlässige kognitive Vermögen verfügen, die
es uns erlauben, im Prinzip wahre Urteile zu bilden. Auch Gottes mögliches
Eingreifen stellt diese prinzipielle Zuverlässigkeit nicht infrage. Deshalb
müssen wir uns nicht in jedem einzelnen Fall fragen, ob wir tatsächlich über
ein wahres Urteil verfügen. Wir können uns vielmehr darauf verlassen, dass
wir durch die Aktivierung unserer Vermögen meistens zu wahren Urteilen
gelangen. Es verhält sich hier ähnlich wie mit den Sinnestäuschungen. Die
Tatsache, dass wir manchmal unter besonderen Umständen (bei ungünstigen
Lichtverhältnissen, in verzerrter Perspektive usw.) falsche Urteile bilden,
stellt nicht infrage, dass wir meistens wahre Urteile bilden. Ebenso stellt die
Tatsache, dass wir manchmal unter besonderen Umständen (nämlich wenn
Gott punktuell eingreift) falsche Urteile bilden, nicht infrage, dass wir meis-
tens wahre Urteile bilden. Irrtum ist nur vor dem Hintergrund prinzipieller
Korrektheit möglich. Ockham würde sich gegen Descartes’ berühmten Ver-
gleich falscher Urteile mit faulen Äpfeln wenden.95 Descartes stellt nämlich
fest, wie man alle Äpfel aus dem Korb nehmen müsse, wenn sich einige faule
in ihm befinden, müsse man auch alle Urteile infrage stellen, wenn einige
von ihnen falsch sind. Dagegen würde Ockham sagen: Wie es ausreicht,
einfach die Äpfel im Korb zu inspizieren und die faulen herauszugreifen,
genügt es auch, die Urteile zu überprüfen und die falschen zu eliminieren.
Wir müssen nicht auf einen Schlag alle Urteile infrage stellen.
Doch wie können wir die falschen Urteile herausgreifen, wenn es kein
inneres Merkmal gibt, das es uns ermöglicht, die wahren von den falschen
zu unterscheiden? In der Antwort auf diese Frage liegt der zweite Grund,

 Vgl. Resp. VII (AT VII, 481).


95
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264 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

weshalb Ockham keine radikale skeptische Gefahr sieht. An der oben zi-
tierten Stelle hält er fest, dass das falsche Urteil ‚Diese Weiße existiert‘, das
durch göttliche Intervention zustande gekommen ist, zwar von der gleichen
Art ist wie das wahre, aber nicht angibt, wie es sich der Sache nach ver-
hält. Das heißt, dass ein falsches Urteil nicht mit dem äußeren Sachverhalt
übereinstimmt. Wenn wir nun wahre Urteile von falschen unterscheiden
wollen, müssen wir genau diese Übereinstimmung prüfen. Dies bewerkstel-
ligen wir am besten, indem wir ein Urteil in Relation zu anderen Urteilen
stellen und uns fragen, ob sich ein kohärentes Ganzes ergibt, für das wir
eine Erfahrungsgrundlage haben. Fügt sich etwa ‚Dieses Weiße existiert‘
mit ‚Dieses Weiße existiert in einer Wand‘ und ‚Ich sehe und ertaste eine
Wand‘ zu einem Ganzen zusammen? Habe ich eine entsprechende visuelle
und taktile Erfahrung? Hat auch eine andere Person, die sich an meine Stelle
begibt, diese Erfahrung? Es geht also nicht darum, ein isoliertes Urteil zu
überprüfen, sondern eine Grundlage für ein kohärentes Netz von Urteilen
zu finden. Fügt sich ein Urteil nicht in ein solches Netz ein, kann es als
falsches Urteil eliminiert werden.
Natürlich lässt sich einwenden, dass damit die skeptische Gefahr nicht
vollständig gebannt ist. Denn könnte Gott nicht ein kohärentes Netz von
falschen Urteilen hervorbringen? Könnte er nicht die Simulation einer
ganzen Welt erzeugen? Natürlich könnte er dies. Doch Ockham zieht diese
Möglichkeit nicht in Betracht, weil sie dem ersten, bereits genannten Grund
zuwider liefe. Wenn wir im Prinzip über zuverlässige kognitive Vermögen
verfügen und Gott diese auch nicht beeinträchtigt, entsteht kein komplettes
Netz von falschen Urteilen. Es gibt nur einzelne Urteile, die von Gott punk-
tuell hervorgebracht werden und nach näherer Prüfung aussortiert werden
können. Umfassender Irrtum ist ausgeschlossen.
Schließlich ist ein dritter Grund zu beachten, der Ockham dazu ver-
anlasst, nicht daran zu zweifeln, dass unser Wissensanspruch durch die
Möglichkeit des göttlichen Eingreifens nicht tangiert wird. In § 20 ist bereits
dargelegt worden, dass für ihn Wissen nicht Metawissen (d.h. Wissen, dass
man über Wissen verfügt) impliziert. Um über Wissen zu verfügen, reicht es
aus, auf der Grundlage zuverlässiger kognitiver Mechanismen wahre Urteile
zu bilden. Somit verfügt eine Person auch dann über Wissen, wenn sie nicht
in jedem Einzelfall weiß, dass sie tatsächlich über Wissen verfügt‚ und wenn
sie kein aufwändiges Prüfungsverfahren anstellt. Ein Beispiel möge dies ver-
deutlichen. Nehmen wir an, ich hätte neunundneunzig Mal den Baum vor
meinem Fenster gesehen und das wahre Urteil ‚Im Garten steht ein Baum‘
gebildet. Ein einziges Mal hat Gott eingegriffen, und ich habe trotz der
Nicht-Existenz eines Baumes das Urteil ‚Im Garten steht ein Baum‘ gebildet.
Ich verfüge aber über kein inneres Merkmal oder Kriterium, um den einen
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§ 22 Nicht existierende Gegenstände 265

Fall von den neunundneunzig anderen zu unterscheiden. Heißt dies, dass


ich in keinem Fall über Wissen verfüge? Nein, würde Ockham sagen. Selbst
wenn ich nicht feststelle, dass ich Wissen habe, verfüge ich über Wissen.
Bereits der kognitive Mechanismus, durch den ich in den neunundneunzig
Fällen zu einem wahren Urteil gelangt bin, garantiert, dass es sich um eine
evidente Erkenntnis handelt. Und wenn eine solche Erkenntnis vorliegt,
liegt auch Wissen vor. Daher stellt der eine Fall nicht die neunundneunzig
anderen infrage. Wissen muss nicht durch Metawissen gesichert werden.
Der Skeptiker könnte sich mit dieser Antwort aber nicht zufrieden geben
und sogleich erwidern, dass wir doch wissen wollen, ja wissen müssen, in
welchen Fällen wir tatsächlich über Wissen verfügen und in welchen nicht.
Ein vergleichendes Beispiel möge dies verdeutlichen. Angenommen, wir zie-
hen hundert Lose, von denen (ausnahmsweise) neunundneunzig einen Ge-
winn bringen, eines hingegen nicht. Dann wollen wir doch wissen, welches
eine Los nichtig ist. Wir geben uns nicht zufrieden, wenn uns gesagt wird,
alle anderen würden einen Gewinn bringen. Erst wenn wir das eine Los mit
Sicherheit aussortieren können, akzeptieren wir auch die neunundneunzig
anderen. Ähnlich verhält es sich mit unserem Wissen. Erst wenn wir den
einen Fall, in dem Gott eingreift und uns manipuliert, mit Sicherheit von
den vielen anderen Fällen unterscheiden können, geben wir uns zufrieden.
Externalismus hin oder her, es reicht nicht aus, auf zuverlässige Weise zu
zahlreichen Fällen von Wissen zu gelangen, wir müssen auch wissen kön-
nen, wann wir tatsächlich über Wissen verfügen.
Auf einen Einwand dieser Art geht Ockham nicht ein. Der Grund dafür
liegt wohl im umfassenden theoretischen Rahmen, in dem seine Diskussion
über ein mögliches göttliches Eingreifen steht. Da Ockham davon ausgeht,
dass wir über prinzipiell zuverlässige kognitive Fähigkeiten verfügen und
dass Gott diese Fähigkeiten nicht antastet (selbst wenn er punktuell einen
Erkenntnisakt aufrechterhält, zerstört er damit nicht die Erkenntnisfunk-
tion des Intellekts), hält er es nicht für notwendig oder auch nur angebracht,
für jeden einzelnen Erkenntnisfall ein Prüfungsverfahren zu fordern. Er
würde daher den modernen Vergleich mit Losen, die in gleichem Maße gut
wie schlecht sein können, zurückweisen. Erkenntnisakte sind nicht mal
gute und mal schlechte Treffer, sondern prinzipiell gut, d.h. sie ermöglichen
prinzipiell wahre Urteile. Deshalb liegt die Begründungslast nicht beim
Erkennenden; er muss nicht für jeden einzelnen Fall nachweisen, dass er
tatsächlich ein wahres Urteil fällt. Die Last trägt vielmehr derjenige, der
bestreitet, dass ein wahres Urteil vorliegt. Er muss Argumente vorbringen,
die überzeugend zeigen, dass in einem bestimmten Fall kein wahres Urteil
gebildet wird. Ein allgemeiner Verweis auf ein göttliches Eingreifen reicht
hier nicht aus. Vielmehr muss präzisiert werden, in welcher Situation und

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266 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

unter welchen besonderen Bedingungen ein angeblich falsches Urteil gefällt


wird – etwa in der Situation, in der weit und breit keine weiße Wand zu sehen
ist und ich trotzdem das Urteil ‚Hier ist eine weiße Wand‘ fälle. Dann und
nur dann muss ich mich dafür rechtfertigen, dass ich Wissen beanspruche.
Wenn ich mich dann rechtfertige, kann ich auf die Kohärenz dieses einen
Urteils mit anderen Urteilen verweisen.
Entscheidend ist hier nicht, ob die Rechtfertigung gelingt, sondern
welche Rechtfertigungsstruktur vorliegt. Nicht jedes Urteil muss gerecht-
fertigt werden; daher ist auch nicht in jedem Fall ein Prüfungsverfahren er-
forderlich. Nur wenn Zweifel auftauchen und ein Urteil mit guten Gründen
angefochten wird, muss eine Rechtfertigung erfolgen. Um Descartes’ Ver-
gleich mit den Äpfeln nochmals aufzugreifen, könnte man sagen: Genau wie
die frisch gekauften Äpfel im Prinzip als gesunde Äpfel akzeptiert werden
können, können auch die Wahrnehmungsurteile im Prinzip als wahre Ur-
teile betrachtet werden. Nur im Einzelfall, beim Vorliegen begründeter
Zweifel daran, dass diese Urteile auf natürliche Weise zustande gekommen
sind, muss eine Prüfung erfolgen. Daher sieht Ockham davon ab, für jeden
Einzelfall zu fordern, dass ein göttliches Eingreifen ausgeschlossen wird.
Gott lauert für ihn nicht als der böse Betrüger, der uns immer und überall
täuschen möchte, im Hintergrund. Gott ist vielmehr der letzte Garant für
das prinzipiell zuverlässige Funktionieren der kognitiven Fähigkeiten.

§ 23 Eine argumentative Sicherung des Wissens

Ockhams Auseinandersetzung mit skeptischen Argumenten blieb im


14. Jh. nicht unbeachtet. Bereits unter seinen Zeitgenossen und unmittel-
baren Nachfolgern löste sie eine ausführliche Debatte über die Möglichkeit
sicherer Erkenntnis aus. Freilich wurde Ockhams Erkenntnistheorie nicht
als eine isolierte Theorie rezipiert. Sie wurde vielmehr in engem Zusam-
menhang mit anderen Erklärungsansätzen – insbesondere mit denjenigen
Duns Scotus’ und Petrus Aureolis – diskutiert und kritisch evaluiert. Es
wäre daher irreführend, die regen Debatten in Oxford und Paris nach 1320
einfach mit dem Etikett ‚Ockhamismus‘ zu belegen. In einer Pionierarbeit
zu den logischen Debatten dieser Zeit stellte J. Pinborg treffend fest, ‚Ock-
hamismus‘ sei nicht einfach ein Zauberwort, mit dem man gleichsam auf
einen Schlag sämtliche Entwicklungen und Strömungen im frühen 14. Jh.
erklären könne.96 Gleiches gilt auch für die Erkenntnistheorie. Ockhams

  Vgl. Pinborg 1979, 20. Zur Problematik der Rede von einer ockhamistischen Schule siehe
96

auch Courtenay 1995.


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§ 23 Eine argumentative Sicherung des Wissens 267

Position war zwar einflussreich und regte zu intensiven Debatten an, sie war
aber nicht die einzige relevante Position, und sie löste auch keine einheitliche
ockhamistische Strömung aus.97 Daher sollen nun die Erklärungsansätze,
die einige von Ockhams Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolgern ent-
wickelten, näher betrachtet werden. Sie sind nicht nur von Interesse, weil
sie implizite Annahmen Ockhams kritisch beleuchten, sondern auch weil
sie teilweise alternative Strategien im Umgang mit skeptischen Heraus-
forderungen aufzeigen und dadurch verdeutlichen, dass es weder eine ein-
heitliche skeptische Position noch eine einheitliche antiskeptische Reaktion
gab. Um den jeweiligen Erklärungsansatz genau zu erkennen, empfiehlt es
sich, wie bei Ockham zwei Typen von skeptischen Debatten sorgfältig von-
einander zu unterscheiden. Zum einen gibt es jene, die vom Problem der
Sinnestäuschungen ausgehen und sich auf natürliche Quellen des Irrtums
konzentrieren. Zum anderen finden sich aber auch Debatten, die sich auf
die Allmachtshypothese berufen und übernatürliche Quellen in den Blick
nehmen.
Der Franziskaner Walter Chatton, der 1321–1323 in London die Sen-
tenzen kommentierte und mit den Positionen seiner Ordensbrüder Petrus
Aureoli und Wilhelm von Ockham gut vertraut war,98 widmet sich ausführ-
lich beiden Quellen des Irrtums und versucht zu bestimmen, welche Kon-
sequenzen sich daraus für die Sicherheit oder Unsicherheit unseres Wissens
ergeben. Er beschränkt sich nicht darauf, die bereits erwähnten Einwände
gegen Ockhams Position vorzutragen, sondern erarbeitet auch einen eige-
nen Standpunkt. Betrachten wir zunächst seine Diskussion der Sinnestäu-
schungen, die sich eng an Petrus Aureolis Analysen orientiert.
Wie in § 21 bereits deutlich geworden ist, vertritt Aureoli in seiner Er-
klärung der Sinnestäuschungen drei Kernthesen. Erstens behauptet er, dass
in solchen Fällen nicht der reale Gegenstand das unmittelbare Objekt un-
serer Wahrnehmung und Erkenntnis ist, sondern ein Gegenstand mit „er-
scheinendem“ oder „intentionalem Sein“. Zweitens vertritt er die Ansicht,
dass es sich dabei um einen irreduziblen Gegenstand handelt, d.h. um eine
Entität, die weder auf reale materielle noch auf reale immaterielle Entitäten
reduziert werden kann. Drittens schließlich ist seiner Ansicht nach in jeder
Wahrnehmung dieser besondere Gegenstand das unmittelbare Objekt; im

97
 Die Vielfalt der verschiedenen Schulen und Strömungen verdeutlicht prägnant Courtenay
1987.
98
 Neben diesem ersten Kommentar zu den Sentenzen (auch als Reportatio bekannt) ver-
fasste Chatton 1328–1330 in Oxford noch einen zweiten, unvollendeten (die Lectura), der
sich auf das erste Buch beschränkt. Die Prologe zu den beiden Kommentaren, auf die sich die
folgenden Analysen konzentrieren, sind indessen identisch. Vgl. zur Datierung und zur Text-
fassung die editorische Einleitung in Reportatio et Lectura (ed. Wey 1989, 1–2).
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268 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

Falle einer veridischen Wahrnehmung stimmt er mit einem realen Objekt


überein, im Falle einer nicht-veridischen Wahrnehmung klaffen die beiden
auseinander. Der nicht-veridische Fall ist seiner Struktur nach kein Sonder-
fall, sondern verdeutlicht nur auf prägnante Weise, was in jedem Fall das
primäre Objekt darstellt.
Chatton hält alle drei Thesen für verfehlt, ja er meint, mit der Annahme
besonderer erscheinender Entitäten „würde unsere ganze Gewissheit zu-
grunde gehen.“99 Was bringt ihn zu diesem Schluss? Seine dezidierte Ableh-
nung stützt sich auf mehrere Argumente. Einige davon sind ontologischer
Natur. So stellt er fest, der erscheinende Gegenstand könne weder eine Sub-
stanz noch ein Akzidens sein. Folglich müsse er irgendwo auf subjektive
Weise existieren.100 Da er aber nicht als ein selbständiges Subjekt existieren
könne, müsse er in einem Subjekt existieren. Doch in welchem Subjekt?
Offensichtlich nicht in einem materiellen. So befindet sich der Stab, der ge-
brochen erscheint, nicht im ungebrochenen Stab. Er muss irgendwie in der
wahrnehmenden Person existieren und ihr unmittelbar präsent sein. Doch
wie kann es neben den Wahrnehmungsakten, die ebenfalls in dieser Person
sind, noch etwas geben, das in ihr ist und das primäre Erkenntnisobjekt bil-
det? Chatton ist nicht der einzige Autor, der dieses Problem aufwirft. Auch
Ockham weist darauf hin, dass der ontologische Status des erscheinenden
Gegenstandes unverständlich ist.101 Wie kann es etwas geben, was weder in
der materiellen Welt noch im immateriellen Intellekt als ein Akt oder eine
Eigenschaft vorkommt und trotzdem irgendwie existiert? Solange diese
Frage nicht beantwortet wird, bleibt die Annahme eines erscheinenden
Gegenstandes ein reines Postulat.
Nun könnte sich Aureoli sogleich verteidigen, indem er die sparsame
Ontologie, die sowohl Chatton als auch Ockham stillschweigend vorausset-
zen, zurückweisen würde. Er könnte darauf insistieren, dass es drei grund-
legende Arten von Entitäten gibt: (i) materielle Entitäten (Gegenstände in
der materiellen Welt und ihre Eigenschaften), (ii) immaterielle Entitäten
(darunter den Intellekt und seine Akte) und (iii) erscheinende Entitäten.
Die besondere Pointe einer Theorie der erscheinenden Gegenstände be-
steht gerade darin, dass sie eine Klasse von basalen, nicht weiter reduzier-
baren Entitäten einführt – Entitäten, die im Wahrnehmenden angenommen

99
  Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 2 (ed. Wey 1989, 89): „Probo primo, quia aliter
periret omnis nostra certitudo...“  
100
 Vgl. Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 2, „tertio“ (ed. Wey 1989, 87).
101
  Exp. in librum Periheremeneias, prooem. (OPh II, 360): „... difficile est imaginari
aliquid posse intelligi intellectione reali ab intellectu, et tamen quod nec ipsum nec aliqua
pars sui nec aliquid ipsius potest esse in rerum natura, nec potest esse substantia nec accidens,
quale poneretur tale fictum.“
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§ 23 Eine argumentative Sicherung des Wissens 269

werden müssen, damit die primären Erkenntnisobjekte auch in Fällen der


Sinnestäuschung erklärt werden können.
Diese ontologische Annahme ist für Chatton alles andere als über-
zeugend. Seiner Ansicht nach kann man zwar von erscheinenden Gegen-
ständen sprechen, doch man muss sich damit nicht auf besondere Entitäten
festlegen. Ein Gegenstand kann nämlich aufgrund einer extrinsischen
Denomination ‚erscheinend‘ oder ‚gesehen‘ genannt werden.102 Extrinsisch
ist eine Denomination, wenn sie einem Gegenstand nicht an sich, sondern
mit Bezug auf etwas anderes zukommt. So kann man jemanden ‚Sohn‘ nen-
nen, insofern man ihn in Relation zu seinen Eltern setzt. Ähnlich lässt sich
ein Gegenstand – etwa ein Baum – ‚erscheinend‘ nennen, insofern er einer
Person erscheint und somit in Relation zu dieser Person steht. Es ist aber
der materielle Baum selbst, der einer Person erscheint. Daher bezieht sich
die extrinsische Denomination ‚erscheinend‘ auch nur auf den materiellen
Baum, nicht auf eine mysteriöse, irreduzible Entität. Mit dieser Erklärung
versucht Chatton, die ganze Theorie der erscheinenden Gegenstände in eine
Theorie über Relationen umzuformen. Wer über derartige Gegenstände
spricht, redet nur von materiellen Gegenständen, insofern sie in Relation
zu einer wahrnehmenden Person stehen. Damit erübrigt sich die Erklärung
besonderer Entitäten, denn es gibt nur reale materielle Entitäten (Gegen-
stände in der Welt und ihre Eigenschaften) und immaterielle Entitäten (den
Intellekt und seine Akte).
Doch warum sollte mit der Annahme besonderer Entitäten „unsere ganze
Gewissheit zugrunde gehen“, wie Chatton behauptet? Selbst wenn derartige
Entitäten das Programm einer sparsamen Ontologie sprengen, scheinen sie
die Gewissheit unserer Erkenntnis nicht infrage zu stellen. Im Gegenteil,
wann immer wir diese Entitäten erfassen, haben wir eine unerschütterliche
Gewissheit von ihnen. Wenn ich etwa den gebrochenen Stab erfasse, ist mir
mit Gewissheit ein erscheinender Gegenstand präsent. Was für Gegenstände
auch immer es in der materiellen Welt geben mag, die Tatsache, dass mir ein
gebrochener Stab präsent ist, lässt sich nicht bezweifeln.
In der Tat lässt sich die Präsenz dieses besonderen Gegenstandes nicht
bezweifeln. Doch das Problem besteht darin, dass nur dieser Gegenstand
direkt und mit Gewissheit erkannt wird. Chatton erläutert dies anhand des
Falles, in dem jemand etwas Weißes sieht:
„... wenn diese distinkte Entität angenommen wird, wird sie das Sehen der Weiße
verhindern. Wenn diese distinkte Entität nämlich weder das Sehen selbst noch die
Weiße noch beides zusammen ist, ist sie etwas Drittes. Wird also diese distinkte
102
  Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 3 (ed. Wey 1989, 104) : „... res denominatur esse
visa et apparens extrinseca denominatione ab ipsa visione. [...] Ita rem esse in anima est cogni-
tionem esse in anima, qua posita, res denominatur cognita extrinseca denominatione.“
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270 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

Entität zuerst gesehen, wird nicht die Weiße gesehen, sondern die distinkte Entität,
die ein Zeichen ist ...“103

Offensichtlich sieht man nicht etwas Weißes in der materiellen Welt, son-
dern nur etwas erscheinendes Weißes – eine dritte Entität, die höchstens
als Zeichen auf das materielle Weiße verweisen kann. Damit ist natürlich
das Szenario eines starken Repräsentationalismus gegeben: Wir haben
keinen direkten Zugang zu Gegenständen in der materiellen Welt, sondern
nur zu repräsentierenden Zeichen, die auf solche Gegenstände verweisen.
Da wir die Gegenstände selbst nicht direkt erfassen, können wir auch nie
wissen, ob sie wirklich existieren. Wir können sie ausgehend von unseren
Repräsentationen höchstens erschließen. Angesichts dieser Konsequenz ist
es nicht erstaunlich, dass Chatton in der Annahme, besondere erscheinende
Gegenstände seien unsere primären Erkenntnisobjekte, ein fundamentales
epistemologisches Problem sieht. Er schließt seine Kritik mit folgender Be-
merkung ab:
„Daher scheint sich aus diesem [Argumentations]weg zu ergeben, dass kein äußerer
Gegenstand erkannt oder gesehen wird, sondern eine gewisse erschaffene Entität,
die einen äußeren Gegenstand bezeichnet. Es scheint sich auch zu ergeben, dass
Gott nicht das unmittelbare Objekt ist.“104

Selbst eine direkte Gotteserkenntnis wäre ausgeschlossen. Man müsste


immer präzisieren, dass man nicht Gott erkennt, sondern nur den „er-
scheinenden Gott“, d.h. eine besondere Entität, die auf Gott verweist. Und
natürlich wären auch alle materiellen Gegenstände gleichsam hinter den er-
scheinenden Gegenständen verborgen.
Ist diese Kritik überzeugend? Aureoli könnte sich dagegen mit folgendem
Argument zur Wehr setzen: Für den Fall der veridischen Wahrnehmung habe
ich explizit festgehalten, dass der erscheinende Gegenstand mit dem realen
übereinstimmt, ja mit ihm zusammenfällt.105 Wenn etwa weißer Schnee vor
mir liegt und ich etwas Weißes sehe, fällt der erscheinende weiße Schnee mit
dem realen zusammen. Es gibt hier keinen Bereich, der irgendwie hinter dem
erscheinenden Schnee verborgen ist. Daher stellt sich auch nicht die Frage, ob
ich denn hinter dem erscheinenden Schnee auch den realen erkennen kann.

103
  Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 2 (ed. Wey 1989, 87) : „... si ponatur illud ens dis-
tinctum, ipsum impediet visionem albedinis. Quia illud ens distinctum, si ipsum nec est illa
visio nec est ipsa albedo nec ambo simul, igitur est tertium ab eis. Si igitur illud ens distinctum
primo videatur, igitur albedo non videtur sed ens distinctum quod est signum ...“
104
  Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 2 (ed. Wey 1989, 88) : „Unde ad istam viam vide-
retur sequi quod nulla res extra cognoscitur vel videtur, sed quoddam ens fictum significans
rem extra, nec quod Deus sit immediatum obiectum.“
105
 Vgl. Scriptum super primum Sententiarum, dist. 3, sect. 14 (ed. Buytaert 1956, Bd. 1,
698); zitiert in Anm. 65.
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§ 23 Eine argumentative Sicherung des Wissens 271

Diese Verteidigung ist zwar berechtigt, löst aber nicht das zentrale Pro-
blem. Auch wenn erscheinender und realer Gegenstand perfekt überein-
stimmen, habe ich doch nur zum erscheinenden Gegenstand einen direkten
und unbezweifelbaren Zugang. Und da ich über kein unabhängiges Krite-
rium verfüge, mit dessen Hilfe ich bestimmen könnte, wann erscheinender
und realer Gegenstand übereinstimmen und wann nicht, kann ich höchs-
tens Vermutungen über eine Übereinstimmung aufstellen. So kann ich etwa
auf einem Spaziergang durch die Schneelandschaft die externen Wahrneh-
mungsbedingungen (Distanz zum Schnee, Sichtverhältnisse usw.) sowie die
internen Bedingungen (Funktionsfähigkeit meiner Augen) überprüfen und
zu dem Schluss kommen, dass es sich um ideale Bedingungen handelt, die
es mir erlauben, einen erscheinenden Schnee zu sehen, der tatsächlich mit
dem realen übereinstimmt. Doch wie genau ich die Bedingungen auch über-
prüfe, ich kann nie direkt den realen Schnee sehen. Ich habe nur einen un-
mittelbaren Zugang zum erscheinenden Schnee und kann bloß begründete
Annahmen über dessen Relation zum realen Schnee treffen. Da ich keinen
neutralen Standpunkt einnehmen kann, von dem aus ich sowohl den er-
scheinenden als auch den realen Schnee sehen könnte, komme ich nicht über
derartige Annahmen hinaus.
Diese Replik verdeutlicht, dass die Annahme einer dritten, repräsentie-
renden Entität unweigerlich das Problem aufwirft, dass der direkte Zugang
zu den materiellen Gegenständen gleichsam blockiert ist.106 Aureoli könnte
indessen noch eine zweite Verteidigung gegen Chattons Kritik vorbringen.
Wenn Chatton die Annahme besonderer erscheinender Gegenstände ab-
lehnt und betont, es seien die materiellen Gegenstände, die im Sinne einer
extrinsischen Denomination ‚erscheinend‘ genannt werden, mag dies viel-
leicht auf die veridische Wahrnehmung zutreffen. Doch es stimmt sicherlich
nicht für die Fälle der nicht-veridischen Wahrnehmung, also genau für jene
Fälle, die den Ausgangspunkt für die Theorie erscheinender Gegenstände
bilden. Wenn etwa ein gebrochener Stab gesehen wird, kann man nicht be-
haupten, Ausdrücke wie ‚gesehen‘ oder ‚erscheinend‘ würden sich nur auf
den Stab im Wasser beziehen, insofern er in Relation zu einer wahrnehmen-

 Zumindest ist der direkte Zugang blockiert, wenn unter dem erscheinenden Gegen-
106

stand eine distinkte Entität verstanden wird. Aureoli deutet an mehreren Stellen an, darunter
könne auch nur eine intentionale „Seinsweise“ (modus essendi) des realen Gegenstandes ver-
standen werden; vgl. Perler 2002, 291–294 (mit Belegstellen). Dann würde jemand, der den
erscheinenden Gegenstand erfasst, im Falle der veridischen Wahrnehmung den Gegenstand
selbst erfassen, insofern er ihm auf intentionale Weise präsent ist. Doch Chatton geht nicht
auf diese Interpretation ein. Immer wieder betont er, der erscheinende Gegenstand sei ein
sowohl vom Wahrnehmungsakt als auch vom realen Gegenstand distinkter Gegenstand. Er
spricht in Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 2 (ed. Wey 1989, 87) ausdrücklich von einem
„ens distinctum“.
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272 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

den Person steht. Der materielle Stab ist ja nicht gebrochen. Und wenn beim
Schwingen eines brennenden Stabes durch die Luft ein feuriger Kreis gese-
hen wird, kann man ebenso wenig behaupten, ‚gesehen‘ sei eine extrinsische
Denomination für einen materiellen Kreis; es gibt hier keinen materiellen
Kreis. Zur Erklärung dieser Fälle, die auf die Diskrepanz zwischen realem
und gesehenem Gegenstand aufmerksam machen, müssen wohl oder übel
besondere Gegenstände angenommen werden.
Chatton ist sich bewusst, dass die Fälle der nicht-veridischen Wahr-
nehmung einer besonderen Klärung bedürfen. Im Gegensatz zu Aureoli ist
er aber der Ansicht, dass auch hier keine besonderen Entitäten postuliert
werden müssen. Vielmehr müssen die optischen Prozesse genauer betrachtet
werden. Chatton verdeutlicht dies unter anderem anhand der genannten
Beispiele.107 Im Falle des ins Wasser eingetauchten Stabs wird aufgrund der
Lichtbrechung eine Menge von visuellen Eindrücken erzeugt, die genau so
sind wie jene, die erzeugt würden, wenn der Stab tatsächlich gebrochen wäre.
Auf dieser Grundlage wird dann geurteilt, dass der Stab gebrochen ist. Ent-
scheidend ist dabei, dass kein besonderer Gegenstand erfasst wird. Es wird
bloß ein falsches Urteil über den materiellen Stab gefällt. Genau wie Ock-
ham sieht auch Chatton den Kern des Problems nicht in der unmöglichen
Bezugnahme auf den materiellen Gegenstand, sondern im falschen Urteil
über diesen Gegenstand. Daher kann er auch für diesen Fall die allgemeine
These aufrechterhalten, dass Ausdrücke wie ‚gesehen‘ und ‚erscheinend‘ nur
eine extrinsische Denomination für den materiellen Gegenstand sind. Es ist
der Stab im Wasser, der gesehen wird und über den geurteilt wird. Sobald
eingesehen wird, dass dieser Stab unter den besonderen Bedingungen ver-
zerrt erscheint, kann das falsche Urteil korrigiert werden.
Allerdings unterscheidet sich Chattons Erklärung des falschen Urteils
in zwei wichtigen Punkten von derjenigen Ockhams. Erstens behauptet
Ockham, dass nur der Intellekt ein Urteil bilden kann. Chatton hingegen
betont, dass ein „höheres Vermögen“ urteilt, und er lokalisiert dieses Ver-
mögen im Gemeinsinn (sensus communis), teilweise auch im Vorstellungs-
vermögen.108 Dies ist weit mehr als ein Detail. Indem Chatton das Urteil in
den inneren Sinnen ansiedelt, räumt er ein, dass es bereits auf einer prä-in-
tellektuellen Stufe Urteile geben kann – Urteile, die noch nicht die Bildung
und Verwendung von mentalen Termini erfordern. Wie diese Urteile genau
zustande kommen, erläutert er nicht. Doch er reiht sich mit seiner Aussage
in eine lange Tradition von Autoren ein, die sinnliche Urteile annehmen,
d.h. Urteile, die in der bloßen Zuordnung oder Trennung von Vorstellungen
107
 Vgl. Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 2 (ed. Wey 1989, 93). Chatton diskutiert eine
Fülle von Beispielen, darunter auch solche, die Aureoli nicht erwähnt hatte.
108
 Vgl. Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 2 (ed. Wey 1989, 96).
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§ 23 Eine argumentative Sicherung des Wissens 273

bestehen.109 Dies ist von Bedeutung, weil dadurch die Sinnestäuschungen


wieder auf die sinnliche Ebene verlagert werden. Es ist nicht der Intellekt,
der sich täuscht, indem er ein falsches Urteil bildet. Vielmehr täuschen sich
die inneren Sinne, indem sie die Vorstellungen falsch miteinander verbinden.
Der Intellekt hat dann die Aufgabe, korrigierend einzugreifen, indem er die
Vorstellungen im Wahrnehmungskontext situiert (etwa in einem Kontext, in
dem verzerrende Bedingungen vorliegen) und voneinander trennt. Kurzum:
Während Ockham den Intellekt als ein Vermögen ansieht, das seine eigenen
Irrtümer korrigiert, fasst Chatton ihn als eine übergeordnete Instanz auf,
die die Irrtümer der untergeordneten inneren Sinne korrigiert.
Noch in einem weiteren Punkt weicht Chatton von Ockham ab. Dieser
hatte behauptet, dass es zwischen dem materiellen Gegenstand und den
kognitiven Vermögen keine vermittelnden Entitäten gibt, weder erschei-
nende Gegenstände noch intelligible oder andere Species. Seiner Ansicht
nach wirkt der Gegenstand direkt auf den Wahrnehmenden ein und löst
dadurch die Bildung von Urteilen aus.110 Chatton hingegen übernimmt die
traditionelle Species-Theorie aus der Optik und behauptet, vom Gegen-
stand würden Species ausgehen und auf dem Wahrnehmenden auftreffen.
Besonders deutlich zeigt sich die Annahme dieser species in medio in seiner
Erläuterung des Falles, in dem jemand urteilt, es gebe einen feurigen Kreis
in der Luft, obwohl nur ein brennender Stab durch die Luft geschwungen
wird. Chatton zufolge gehen vom Stab Species aus, die auch dann noch ver-
bleiben, wenn die Schwingung des Stabes schon beendet ist. Und da Species
erzeugt werden, die eine gewisse Intensität haben und gleichsam aneinander
gereiht werden, erzeugen sie die Vorstellung von einem feurigen Kreis, die
wiederum die Grundlage für das falsche Urteil bildet, dass ein feuriger Kreis
präsent ist. In Tat und Wahrheit bezieht sich dieses Urteil aber nur auf die
zahlreichen Species in der Luft.
Diese Erklärung ist natürlich nicht neu. Sie findet sich bereits bei
den Vertretern der perspektivistischen Optik, etwa bei Roger Bacon.111
Sie ist aber von Bedeutung, weil sie Chatton zum einen ermöglicht, eine
physikalische Erklärung (mag sie aus heutiger Sicht überzeugend sein
oder nicht) für das falsche Urteil zu geben. Zum anderen erlaubt sie ihm

109
  Wie Tachau 1993 nachweist, lässt sich diese Tradition bis auf Avicenna und Alhazen zu-
rückführen. Ockhams These, dass nur der Intellekt urteilt, ist eine dezidierte Abweichung
von dieser Tradition und stellt im frühen 14. Jh. eine Innovation dar.
110
 Dies gilt zumindest für den Normalfall. Ockham räumt ein, dass es in gewissen Fällen
eine Wirkung auf Distanz geben kann, z.B. wenn ein weißer Gegenstand aus der Ferne ge-
sehen wird; vgl. Reportatio III, q. 2 (OTh VI, 47–58). Es ist nicht zuletzt diese unplausible
Annahme, die Chatton dazu motiviert, die traditionelle Species-Theorie gegenüber Ockham
zu verteidigen.
111
 Diese Abhängigkeit hat Tachau 1988, 190–191, bereits nachgewiesen.
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274 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

auch, eine Kernthese zu verteidigen: Ein Wahrnehmungsakt kann nicht


auf natürliche Weise verursacht werden, wenn kein realer Gegenstand
präsent ist, und er kann ohne dessen Präsenz auch nicht lange aufrecht-
erhalten werden. Denn Species können nur entstehen, wenn tatsächlich
ein materieller Gegenstand vorhanden ist. Es ist somit auch im Falle der
Sinnestäuschung ausgeschlossen, dass jemand etwas sieht, ohne dass ein
realer Gegenstand präsent ist. Die entscheidende Frage lautet für Chatton
nicht, ob ein solcher Gegenstand präsent ist, sondern welcher Gegenstand
präsent ist (ein feuriger Kreis oder lediglich Species in der Luft?) und wie
über ihn geurteilt wird. Seine Präzisierung, dass der Wahrnehmungsakt
nicht lange ohne die Präsenz des realen Gegenstandes aufrechterhalten
werden kann, verdient freilich Beachtung. Sie verdeutlicht nämlich, dass
Chatton nicht immer und ausnahmslos eine aktuelle Präsenz des realen
Gegenstandes fordert. Da der Gegenstand Species erzeugt, die für eine
gewisse Zeit (wenn auch nicht lange) verbleiben, kann auch dann noch
etwas wahrgenommen werden, wenn der materielle Gegenstand schon
verschwunden ist. Darüber hinaus gibt es auch den von Chatton ebenfalls
berücksichtigten Fall des Traumes, in dem über einen nicht mehr präsen-
ten Gegenstand geurteilt wird.112 Auch in diesem Fall wird mithilfe von
Vorstellungen über einen realen Gegenstand oder über eine Verbindung
solcher Gegenstände geurteilt. Der erscheinende Gegenstand ist dann
nichts anderes als dieser Gegenstand, insofern er in den Vorstellungs-
bildern erscheint.
Ist damit die skeptische Gefahr gebannt? Zumindest ist ein radikaler Au-
ßenwelt-Skeptizismus ausgeschlossen. Es ist unmöglich, dass jemand etwas
sieht, ohne dass ein realer Gegenstand präsent ist oder kurz zuvor präsent
war. Natürlich sind falsche Urteile über einen solchen Gegenstand stets
möglich. Daher ist nicht jede auf Sinneswahrnehmung gestützte Erkenntnis
gleich eine korrekte Erkenntnis. Doch falsche Urteile treten nur punktuell
auf und können durch eine Analyse der besonderen Wahrnehmungsbedin-
gungen korrigiert werden.
Angesichts dieses Fazits, das in der Grundthese (wenn auch nicht in den
Details) demjenigen Ockhams gleicht, könnte man erwarten, dass Chatton
auch den Fall der übernatürlich verursachten Täuschung auszuschließen
oder einzugrenzen versucht. So könnte man erwarten, dass er ähnlich wie
Ockham im Sentenzenkommentar zwar einräumen würde, dass Gott ein-
greifen kann, dann aber präzisieren würde, dass selbst in diesem Fall korrekt
geurteilt wird, dass kein realer Gegenstand existiert. Doch Chatton schließt
sich nicht dieser These an. Er behauptet vielmehr:

112
 Vgl. Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 2 (ed. Wey 1989, 95–96).
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§ 23 Eine argumentative Sicherung des Wissens 275

„... ich räume die Konklusion ein: Wir haben keine derartige Gewissheit, dass Gott,
der das Sehen ohne die Präsenz eines Gegenstandes verursachen kann, nicht in uns
einen Akt verursachen könnte, mit dem wir urteilen, dass es sich der Sache nach an-
ders verhält, als es [wirklich] ist. Damit ist dennoch Folgendes vereinbar: Wir haben
wohl eine derartige Gewissheit, dass wir durch natürliche Ursachen nicht derart in
einen unbezwingbaren Irrtum verfallen können.“113

Chatton zieht hier eine scharfe Trennlinie zwischen den Fällen natürlicher
und übernatürlicher Verursachung. Im natürlichen Fall verfügen wir durch-
aus über eine Erkenntnisgewissheit, weil uns die Präsenz eines materiellen
Gegenstandes im Prinzip zum korrekten Urteil veranlasst, dass ein Gegen-
stand präsent ist. Selbst in den Ausnahmefällen, in denen ein falsches Urteil
gebildet wird, ist eine Korrektur möglich, wie die Beispiele von Sinnestäu-
schungen zeigen. Im übernatürlichen Fall hingegen fehlt uns eine solche
Gewissheit. Gott könnte immer eingreifen und uns eine intuitive Erkennt-
nis eingeben, die uns zum Urteil verleitet, dass ein Gegenstand präsent
ist, obwohl keiner vorhanden ist. Diese Feststellung motiviert Chatton zu
einer Kritik an Ockhams Theorie der intuitiven Erkenntnis. Eine intuitive
Erkenntnis, die von Gott verursacht wird, stellt einen Gegenstand nicht als
nicht existierend dar. Vielmehr stellt sie ihn als existierend dar, ob er nun
existiert oder nicht.114 Daher ergibt es für Chatton keinen Sinn zu behaup-
ten, aufgrund der intuitiven Erkenntnis werde geurteilt, dass ein Gegen-
stand existiert, wenn er existiert, und dass er nicht existiert, wenn er nicht
existiert. Es wird immer geurteilt, dass er existiert, wie auch immer sich die
Welt verhalten mag.
Damit taucht natürlich wieder die skeptische Gefahr auf, die im Falle der
Sinnestäuschungen gebannt schien. Wie kann ich jemals sicher sein, dass
tatsächlich ein materieller Gegenstand existiert und präsent ist, wenn ich
in einer intuitiven Erkenntnis immer etwas als existierend beurteile? Es
könnte doch stets sein, dass Gott mir einfach eine intuitive Erkenntnis ein-
gibt, ohne dass ein realer Gegenstand präsent ist, und zwar ohne dass ich
dies aufgrund besonderer Merkmale (Klarheit, Intensität usw.) des Erkennt-
nisaktes bemerke. Muss man dieser Möglichkeit nicht einen Riegel vor-
schieben, etwa indem man betont, dass durch das göttliche Eingreifen ein

113
  Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 2 (ed. Wey 1989, 92): „... concedo etiam conclu-
sionem: quod non habemus talem certitudinem quin Deus, qui potest causare visionem sine
praesentia rei, posset causare in nobis unum actum quo iudicaremus aliter esse in re quam
est. Tamen cum hoc stat quod habeamus talem certitudinem quod per causas naturales non
possemus sic poni in errore invincibili.“
114
  Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 3 (ed. Wey 1989, 98) : „Contra istam opinionem
probo quod notitia intuitiva perfecta in creaturis, si a Deo conservetur, non repraesentat rem
non esse.“ Ibid., 102: „Ex isto sequuntur aliquae differentiae communiter usitatae. Prima est
quod per intuitivam nobis apparet res esse, sive res sit sive non sit.“
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276 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

Mechanismus ausgelöst wird, der zur Bildung des Urteils, dass der Gegen-
stand nicht existiert, führt?
Chatton ist sich dieses Einwandes wohl bewusst. Doch er hält ihn nicht
für überzeugend. Wenn Gott nämlich eine intuitive Erkenntnis hervor-
bringt, so ist diese genau gleich beschaffen wie in jenem Fall, in dem sie auf
natürliche Weise entsteht, und sie hat auch die gleiche Funktion. Chatton
veranschaulicht dies mithilfe eines Vergleichs.115 Wenn jemand den Satz
‚Diese Substanz existiert‘ bildet, so bezeichnet dieser Satz, dass eine be-
stimmte Substanz existiert, ob nun wirklich eine Substanz existiert oder
nicht. Das heißt, dass die semantische Funktion des Satzes (nämlich etwas
auszusagen oder zu bezeichnen) immer gleich ist, ob er nun wahr ist oder
falsch. Und wie der Satz hervorgebracht wurde (durch das Sehen einer wirk-
lich vorhandenen Substanz, durch bloßes Imaginieren usw.), spielt für seine
Funktion keine Rolle; jeder Satz zeichnet sich dadurch aus, dass er etwas
bezeichnet. Ähnlich gilt auch für die intuitive Erkenntnis, dass ihre Funk-
tion darin besteht, einen Gegenstand zu vergegenwärtigen, ob nun wirk-
lich ein Gegenstand existiert oder nicht. Dabei spielt es keine Rolle, wie die
intuitive Erkenntnis hervorgebracht wurde. Jede solche Erkenntnis zeichnet
sich dadurch aus, dass sie etwas darstellt oder bezeichnet.
Mit diesem Vergleich weist Chatton auf einen wunden Punkt in Ock-
hams früher Theorie der intuitiven Erkenntnis hin. Warum sollte eine intui-
tive Erkenntnis, nur weil sie von Gott hervorgebracht wird, mich dazu brin-
gen, einen Gegenstand als nicht existierend aufzufassen und ein negatives
Existenzurteil zu fällen? Wenn sie tatsächlich eine intuitive und nicht eine
abstraktive Erkenntnis ist, stellt sie etwas als existierend dar. Die Genese
dieser Erkenntnis hat auf ihre Funktion keinen Einfluss. Darüber hinaus
verdeutlicht Chatton mit seinem Vergleich auch, dass es hier – genau wie
beim Satz – zwei Aspekte zu unterscheiden gilt: den Gehalt einer intuitiven
Erkenntnis (was durch sie bezeichnet oder dargestellt wird) und ihr äußeres
Referenzobjekt. Eine solche Erkenntnis hat auch dann einen Gehalt, wenn
kein äußeres Referenzobjekt vorhanden ist. Daher kann durch das bloße
Erfassen des Erkenntnisaktes nicht bestimmt werden, ob seinem Gehalt
auch ein äußeres Objekt entspricht. Allerdings muss der Erkenntnisakt
immer einen Gehalt haben, d.h. er muss immer etwas darstellen, genauso
wie ein Satz immer etwas aussagen muss. Nur dadurch ist ein Erkenntnisakt
in seiner besonderen Funktion überhaupt erfassbar und von anderen Akten
unterscheidbar. Daher betont Chatton:
„... Gott kann keine intuitive [Erkenntnis] bewirken, ohne dass ein Gegenstand
dem Intellekt präsent ist, denn Gott kann keine intuitive [Erkenntnis] bewirken,

  Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 3, „secundo“ (ed. Wey 1989, 99).


115
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11:28

§ 23 Eine argumentative Sicherung des Wissens 277

ohne dass ein Gegenstand präsent zu sein scheint, mag er nun existieren oder
nicht.“116

Dies ist eine subtile Differenzierung. Selbst Gott kann keinen Erkenntnis-
akt hervorbringen, ohne dass dieser einen Gegenstand darstellt; es kann
keinen Akt ohne Gehalt geben. Davon unabhängig ist jedoch, ob es in der
materiellen Welt tatsächlich einen Gegenstand gibt oder nicht. Jede Analyse
der intuitiven Erkenntnis muss deshalb genau zwischen (i) dem Akt selbst,
(ii) dem notwendigerweise existierenden Gehalt des Aktes und (iii) dem nur
kontingenterweise existierenden materiellen Gegenstand unterscheiden.
Entscheidend ist hier freilich, dass zwischen (i) und (ii) kein realer Unter-
schied besteht. Akt und Gehalt sind nicht zwei distinkte Entitäten. Der Ge-
halt ist vielmehr das, was den Akt zu einem Akt von etwas macht und ihn
dadurch als intentionalen Akt (im Gegensatz zu einem nicht-intentionalen
Akt, etwa einem Hochgefühl) auszeichnet.
Diese Differenzierung hat natürlich Konsequenzen für eine Ab-
grenzung der intuitiven Erkenntnis von der abstraktiven. Wenn in der
intuitiven Erkenntnis ein Akt aufgrund seines Gehaltes einen Gegenstand
darstellen kann, ohne dass in der materiellen Welt tatsächlich ein Gegen-
stand existiert, kann eine intuitive Erkenntnis auch irreführend sein. Sie ist
daher nicht – wie Ockham behauptet hatte – eine evidente Erkenntnis, die
immer wahre Urteile bewirkt. Aus diesem Grund charakterisiert Chatton
die intuitive Erkenntnis nicht mit Bezug auf die Urteile, die sie generiert,
sondern nur hinsichtlich der Art und Weise, wie sie einen Gegenstand dar-
stellt. In einer solchen Erkenntnis erfasst „die Seele einen Gegenstand so,
wie sie durch die äußere Sinneserfahrung einen Gegenstand wahrnimmt“,
während sie ihn in einer abstraktiven Erkenntnis nur so erfasst, „wie sie
einen Gegenstand durch einen Vorstellungsakt wahrnimmt.“117 Bezeich-
nend ist hier, dass Chatton die Art des Erfassens nicht an die Existenz eines
materiellen Gegenstandes bindet. So kann ich in einer intuitiven Erkenntnis
auch dann einen Baum so erfassen, wie ich ihn in einer visuellen Wahrneh-
mung erfasse, wenn kein Baum vorhanden ist und ich nicht wirklich einen
Baum sehe. Gott könnte in mir ja einen Akt erzeugen, der mir einen Baum
mit allen Farbschattierungen präsentiert. Entscheidend ist nicht, was in der
materiellen Welt vorhanden ist, sondern wie mir etwas im Akt präsent ist.
116
  Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 3, „secundo“ (ed. Wey 1989, 102) : „... Deus non
potest facere intuitivam sine praesentia rei ad istum intellectum, quia Deus non potest facere
intuitivam quin per eam res appareat esse praesens, sive sit sive non sit.“
117
  Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 3, „secundo“ (ed. Wey 1989, 102) : „... intuitiva
intellectiva est talis actus per quam anima sic intelligit rem sicut per sensationem exteriorem
sentit rem; et intellectio abstractiva est illa per quam anima sic proportionaliter intelligit rem
sicut per actum imaginandi sentit rem.“
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: ULB Bonn So, Aug 15th 2021,
11:28

278 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

Heißt dies, dass ich aufgrund einer intuitiven Erkenntnis nie wissen
kann, wann wirklich ein Gegenstand existiert und wann nicht? Muss ich
daher jeden Wissensanspruch aufgeben? Chatton zieht nicht diese radikale
Konsequenz, die auf den ersten Blick naheliegend scheint. Der Grund
dafür liegt vor allem darin, dass er scharf zwischen dem natürlichen und
dem übernatürlichen Fall unterscheidet. Nur im übernatürlichen Fall, in
dem Gott eingreift, gibt es keine Garantie für die Existenz eines materiellen
Gegenstandes und daher auch kein sicheres Wissen von dessen Existenz. Im
natürlichen Fall hingegen muss ein materieller Gegenstand existieren, der
Species erzeugt und auf den Wahrnehmenden einwirkt. „Andernfalls“, so
betont Chatton, „hätten wir – wie gezeigt wurde – von den sinnlich wahr-
nehmbaren Dingen keine Gewissheit, die durch natürliche Ursachen ver-
ursacht wird.“118
Doch wie können wir je eine Gewissheit haben, wenn Gott doch jeder-
zeit eingreifen und eine intuitive Erkenntnis hervorbringen könnte, ohne
dass ein materieller Gegenstand auf uns einwirkt? Der Verweis auf natür-
liche Ursachen scheint nicht sehr hilfreich zu sein, wenn keine Kriterien
angegeben werden, mit deren Hilfe ein natürlich verursachter Erkenntnis-
akt von einem übernatürlich verursachten unterschieden werden kann. Da
Chatton keine Kriterien formuliert, ja darauf insistiert, dass natürlich und
übernatürlich verursachte Akte in gleicher Weise einen Gegenstand dar-
stellen, bietet seine Berufung auf natürliche Ursachen keinen Ausweg aus
der skeptischen Falle.
In der Tat gibt Chatton keine Kriterien an, mit denen ein Erkenntnisakt
intrinsisch – aufgrund innerer Merkmale oder phänomenaler Eigenschaf-
ten – als natürlich oder übernatürlich verursacht klassifiziert werden könnte.
Er führt aber eine wichtige Präzisierung ein, indem er festhält, wir könnten
„nur auf argumentative Weise“ erkennen, dass ein Gegenstand nicht gegen-
wärtig ist.119 Damit verweist er auf ein Verfahren, das auf extrinsische Merk-
male abzielt, insbesondere auf die Kohärenz einer Erkenntnis mit anderen
Erkenntnissen, die in einer längeren Argumentation überprüft wird. Ein
modernes Beispiel möge dies verdeutlichen. Angenommen, ich habe jetzt
gerade einen Erkenntnisakt, der mir einen rosaroten Elefanten im Garten
darstellt. Der Akt allein zeigt mir nicht an, ob tatsächlich ein Elefant im
Garten steht und ob dieser materielle Gegenstand die natürliche Ursache für
meinen Akt ist. Der Akt würde mir das Gleiche darstellen und wäre gleich
intensiv, wenn Gott ihn in mir verursacht hätte. Ich kann jedoch den Gehalt
118
  Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art.2 (ed. Wey 1989, 91) : „... aliter, sicut probatum est,
non haberemus certitudinem de sensibilibus causatam per causas naturales.“
119
  Reportatio et Lectura, prol., q. 2, art. 2 (ed. Wey 1989, 103): „... non experimur nos co-
gnoscere quod res non sit praesens nisi arguitive tantum ...“
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11:28

§ 23 Eine argumentative Sicherung des Wissens 279

dieses einen Aktes mit dem Gehalt anderer Akte vergleichen und mich etwa
fragen, ob mir kurz zuvor das Hereinspazieren eines rosaroten Elefanten
präsent war, ob ich je zuvor einen Elefanten mit dieser sonderbaren Farbe
gesehen habe, ob ich das Geräusch eines Elefanten höre usw. Wenn ich so
frage, gehe ich „argumentativ“ vor, denn ich versuche, den einen Erkennt-
nisakt in ein ganzes Netz von Erkenntnisakten einzubetten und seine
Kohärenz mit diesen Akten zu überprüfen. Stelle ich keine Kohärenz oder
gar einen Widerspruch zu anderen Akten fest, kann ich diesen einen Er-
kenntnisakt als übernatürlich verursacht klassifizieren. Das argumentative
Vorgehen ermöglicht mir also, die von Chatton geforderte Unterscheidung
zwischen natürlich und übernatürlich verursachten Erkenntnisakten zu
treffen. Und es erlaubt mir dann auch, mich auf die natürlich verursachten
Akte zu beschränken und dadurch ein sicheres Wissen von den materiellen
Gegenständen zu gewinnen.
Gegen diese Erklärung könnte ein Kritiker freilich sogleich den Einwand
erheben, dass das argumentative Vorgehen alles andere als ein zuverlässiges
Verfahren ist, wenn es darum geht, das Wissen zu sichern. Kohärenz ist
nämlich kein sicheres Kriterium für eine Korrespondenz mit der materiellen
Welt. Gott könnte mir ja einen Erkenntnisakt eingeben, dessen Inhalt so
perfekt mit allem übereinstimmt, was ich sonst noch erkannt habe und jetzt
gerade erkenne, dass er sich wunderbar in das Erkenntnisnetz einfügt, das
ich auf natürliche Weise erworben habe. So könnte er bewirken, dass ich
neben den vielen Tauben und Spatzen, die ich auf natürliche Weise im Gar-
ten erkenne, noch einen weiteren Erkenntnisakt habe, in dem mir eine Taube
dargestellt wird, obwohl keine weitere Taube existiert. Es gäbe in diesem
Fall keine Inkohärenz zwischen den natürlich verursachten Akten und dem
einen übernatürlich verursachten. Noch ein weiterer Einwand könnte vor-
gebracht werden: Wenn Gott jeden Akt verursachen kann, dann auch den
Akt der argumentativen Prüfung vorhandener Erkenntnisakte. Er könnte
also genau dann, wenn ich eine Kohärenz zwischen meiner Erkenntnis von
Spatzen, Tauben und einem rosaroten Elefanten festzustellen versuche, in-
tervenieren und mir einen Akt eingeben, mit dem ich tatsächlich eine Ko-
härenz feststelle. Ich wäre dann nicht nur das Opfer einer Täuschung erster
Stufe (Gott hat mir den Akt eingegeben, der mir einen rosaroten Elefanten
darstellt), sondern auch einer Täuschung zweiter Stufe (Gott hat mir den
Akt eingegeben, mit dem ich den ersten Akt überprüfe). Ein bloßer Verweis
auf ein argumentatives Verfahren schließt diese Täuschung nicht aus.
Chatton zieht diese subtilen Möglichkeiten nicht in Betracht, wahr-
scheinlich weil er – genau wie Ockham – in Gott keine Täuscherinstanz
sieht, sondern vielmehr den letzten Garanten für die Zuverlässigkeit unserer
kognitiven Fähigkeiten. Es wäre abwegig, einerseits anzunehmen, dass Gott

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11:28

280 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

als Schöpfer die Menschen mit Fähigkeiten ausgestattet hat, die ihnen einen
kognitiven Zugang zur Welt ermöglichen, andererseits aber zu unterstellen,
dass Gott das Funktionieren dieser Fähigkeiten außer Kraft setzt und
willkürlich Erkenntnisakte eingibt. Daher gibt sich Chatton mit der Fest-
stellung zufrieden, dass wir im Prinzip unsere Erkenntnisakte argumentativ
überprüfen können, auch wenn wir nie eine letzte Gewissheit für die Kor-
rektheit unserer Erkenntnis haben. Denn sobald der Gehalt der Erkennt-
nisakte gleichsam von den materiellen Gegenständen abgetrennt wird, ist
eine Diskrepanz zwischen dem, was wir zu erkennen glauben, und dem,
was wirklich existiert, immer möglich. Chatton räumt daher ein, dass es
ihm gar nicht darum geht, eine absolute Gewissheit nachzuweisen. In der
Diskussion über die mögliche Abtrennbarkeit der Eigenschaften von ihren
Trägern stellt er fest:
„Ob Gott sie abtrennen könnte oder nicht, kümmert mich nicht, denn wir erwerben
wenig Wissen, bei dem Gott nicht die Gewissheit beseitigen könnte.“120

Diese beiläufig getroffene Aussage ist bemerkenswert. Chatton gibt damit


zu, dass es auf die Frage, ob wir denn wissen können, dass eine Eigenschaft
tatsächlich eine Substanz als Trägerin hat, ebenso wie auf zahlreiche an-
deren Fragen nach unserem Wissen keine Antwort gibt, die jeden Zweifel
beseitigt. Gott kann immer eingreifen und die Gewissheit beseitigen. Daher
können wir höchstens eine hypothetische Gewissheit erwerben: Wenn
wir davon ausgehen, dass Gott nicht eingreift, dann können wir unseren
Wissensanspruch mit Verweis auf natürliche kognitive Prozesse aufrecht-
erhalten. Darüber hinaus ist keine Gewissheit möglich.

§ 24 Die notwendige Relation des Erkenntnisaktes


zu seinem Gegenstand

Walter Chatton war nicht der einzige Autor, der sich kritisch mit Aureolis
und Ockhams Position auseinandersetzte. Franziskus von Mayronis, der
zwischen 1308 und 1318 in verschiedenen französischen und italienischen
Ordensschulen der Franziskaner lehrte und im akademischen Jahr 1320–21
die Sentenzen an der Pariser Universität kommentierte, befasste sich eben-
falls kritisch mit deren Theorien.121 Genau wie Chatton konzentrierte er sich
120
  Reportatio et Lectura, prol., q. 3, art. 3 (ed. Wey 1989, 202): „Sive Deus possit separare
sive non, non curo, quia paucas scientias acquirimus in quibus Deus non posset amovere
certitudinem.“
121
  Zur Biographie und Datierung des Sentenzenkommentars vgl. ausführlich Roth 1936,
87–161, und konzis Hoffmann 2002, 220–221. Das erste Buch dieses Werks liegt in zwei
Fassungen vor, von denen die zweite unter dem Titel Conflatus als separate Schrift gedruckt
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§ 24 Die notwendige Relation 281

dabei auf zwei Kernfragen. Kann angesichts der natürlichen Fehlerquellen


(Sinnestäuschungen) ein Anspruch auf sichere Erkenntnis aufrechterhalten
werden? Und lässt sich ein solcher Anspruch angesichts der Möglichkeit
eines übernatürlichen Eingreifens (göttliche Manipulation) rechtfertigen?
Betrachten wir zunächst seine Antwort auf die erste Frage.
Es scheint, als würde Mayronis die Zuverlässigkeit natürlicher Erkennt-
nisprozesse mit einem simplen Argument bekräftigen. Es lautet: Die Er-
kenntnis, von der jede weitere Erkenntnis abhängt, kann nicht falsch sein;
von der sinnlichen Erkenntnis hängt aber jede weitere Erkenntnis – ins-
besondere die intellektuelle – ab; also kann sie nicht falsch sein.122 Dieses
Argument erscheint auf den ersten Blick jedoch allzu simpel, denn es be-
hauptet lediglich, was zu beweisen ist, nämlich dass die sinnliche Erkennt-
nis tatsächlich ein sicheres Fundament darstellt. Zudem geht es gar nicht
auf die Beispiele von Sinnestäuschungen ein, die gerade zeigen, dass die
angeblich sichere Grundlage auch trügerisch sein kann. Inspiziert man das
Argument allerdings etwas näher, zeigt sich, dass es keineswegs naiv ist.
Wenn man nämlich einen empiristischen Erklärungsansatz wählt, wie dies
die Aristoteliker tun, und gleichzeitig feststellt, dass unsere Erkenntnis im
Normalfall eine sichere Orientierung in der Umgebung ermöglicht, dann ist
es plausibel anzunehmen, dass die sinnliche Grundlage für diese Erkenntnis
zuverlässig ist. Versteht man Mayronis’ Argument auf diese Weise, ist es ein
Schluss auf die beste Erklärung: Der epistemische Erfolg, den wir faktisch
haben (wir können uns im Normalfall korrekt auf Gegenstände beziehen,
sie klassifizieren, wiedererkennen usw.) verlangt eine Erklärung, und die
beste Erklärung lautet, dass unsere Sinne als die fundamentalen Vermögen
alle diese Leistungen ermöglichen. Damit wird von vornherein die Beweis-
last umgedreht. Nicht wer Erkenntnisansprüche erhebt, sondern wer sie be-
streitet, muss einen Beweis oder zumindest ein stichhaltiges Argument für
seine Position liefern. Denn wie ließe sich der faktische epistemische Erfolg
erklären, wenn keine Zuverlässigkeit der Sinne angenommen wird?
Freilich ist sich auch Mayronis bewusst, dass wir nur im Normalfall
einen epistemischen Erfolg haben. Die Sinnestäuschungen zeigen, dass es
durchaus Abweichungen vom Normalfall geben kann. Mayronis geht daher
ausführlich auf diese Fälle ein und berücksichtigt nicht nur visuelle Täu-

wurde. Auch in den Quodlibeta, von denen die späteste Fassung der Disputatio generalis
(1323–1324 gehalten) zugrunde liegt, befasst sich Mayronis mit den erkenntnistheoretischen
Kernfragen. Die folgenden Analysen konzentrieren sich auf die relevanten Quaestionen aus
der ersten Fassung des Sentenzenkommentars, auf deren Bedeutung Maurer 1990 in einer
Pionierstudie bereits aufmerksam gemacht hat. Eine Analyse, die sich auf die zweite Fassung
stützt, bietet Cova 1976.
122
 Vgl. Sent., prol., q. 19, fol. 11r, D und F.
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282 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

schungen, wie dies Petrus Aureoli getan hatte, sondern auch auditive, olfak-
torische und andere. Doch bereits sein scheinbar simpel anmutendes Haupt-
argument verdeutlicht, dass er diese Fälle aus einer bestimmten Perspektive
diskutiert: Epistemischer Misserfolg ist immer vor dem Hintergrund prin-
zipiellen Erfolgs zu sehen. Daher können Sinnestäuschungen nicht der Re-
gelfall sein, der die Zuverlässigkeit der Sinne vollständig infrage stellt. Sie
sind vielmehr der Ausnahmefall, der eine besondere Erklärung verlangt.
Wie lässt sich nun eine Erklärung finden, die einerseits den Einzelfällen
von Sinnestäuschung phänomenal gerecht wird, andererseits aber nicht die
Zuverlässigkeit der Sinneswahrnehmung pauschal infrage stellt? Zur Be-
antwortung dieser Frage greift Mayronis auf ein methodisches Prinzip Au-
gustins zurück.123 Dieser hatte festgestellt, dass Fehler auftreten, wenn zwei
Dinge, die einander ähnlich sind, miteinander verwechselt werden, oder
wenn sie einander einfach gleichgesetzt werden. Mayronis zufolge begehen
wir beide Fehler, wenn wir meinen, der Gesichtssinn oder irgendein anderer
äußerer Sinn würde uns täuschen. Wir verwechseln dann den äußeren Sinn
mit dem inneren, ja wir setzen die beiden einander einfach gleich. In Tat und
Wahrheit ist es nämlich nicht der äußere Sinn, der uns täuscht, sondern der
Gemeinsinn (sensus communis), also ein innerer Sinn. Und die Täuschung
besteht nicht darin, dass ein äußerer Sinn einen Gegenstand auf eine falsche
Weise präsentiert (es gibt gar keine falsche Präsentation, sondern nur eine
der jeweiligen Situation angemessene), sondern dass der Gemeinsinn ein
falsches Urteil über diesen Gegenstand fällt. Damit gibt Mayronis natürlich
die gleiche Erklärung für Sinnestäuschungen wie Chatton: Sinnestäuschun-
gen sind falsche Urteile auf einer sinnlichen Ebene. Dies löst aber noch nicht
das skeptische Problem. Man kann nämlich sogleich fragen, wie derartige
falsche Urteile überhaupt zustande kommen. Gibt es hier irgendeinen „er-
scheinenden Gegenstand“, über den der Gemeinsinn urteilt? Heißt dies,
dass kein unmittelbarer Zugang zu einem realen Gegenstand in der mate-
riellen Welt besteht? Zudem kann man auch fragen, wie denn falsche Urteile
von wahren unterschieden werden können. Welches Kriterium kann der In-
tellekt verwenden, um ein falsches Urteil des Gemeinsinns zu korrigieren?
Solange kein Kriterium genannt wird, scheint es unmöglich zu sein, Fehler
auf der sinnlichen Ebene auszumerzen. Und dann ist es natürlich auch nicht
möglich, den Ausnahmefall vom Normalfall zu unterscheiden.
Mayronis ist sich wohl bewusst, dass ein bloßer Verweis auf den Gemein-
sinn als Fehlerquelle noch keine Lösung darstellt. Er erklärt daher ausführ-
lich die Genese der falschen Urteile. Seiner Ansicht nach kommt jede Sin-
neswahrnehmung – eine veridische ebenso wie eine nicht-veridische – durch

123
 Vgl. Sent., prol., q. 19, fol. 11r, G.
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§ 24 Die notwendige Relation 283

eine zweifache Affektion des Wahrnehmenden zustande: eine reale und eine
intentionale.124 Zum einen wirkt der materielle Gegenstand nämlich auf die
Sinnesorgane ein und bringt in ihnen eine reale Veränderung hervor. So
werden etwa die Pupillen verändert, wenn die vom Gegenstand reflektierten
Lichtstrahlen auf ihnen auftreffen. Zum anderen gibt es aber auch eine in-
tentionale Veränderung, denn der Gegenstand (oder genauer: seine wahr-
nehmbaren Eigenschaften) werden auf intentionale Weise in den Sinnes-
organen aufgenommen. Mayronis erläutert zwar nicht, wie die intentionale
Veränderung genau zu verstehen ist, da er sich aber eng an Duns Scotus
anlehnt, der bereits von einer zweifachen Veränderung sprach,125 ist an-
zunehmen, dass er wie Scotus unter der intentionalen Veränderung die Auf-
nahme von Formen oder Strukturen versteht. So nimmt jemand, der einen
roten Gegenstand sieht, die Struktur der Röte auf. Die Pointe besteht darin,
dass dadurch keine materielle Veränderung stattfindet (die Augen werden
nicht plötzlich rot), sondern nur eine strukturelle. Genau jene Struktur,
die im roten Gegenstand vorhanden ist, ist nun auch in den Augen präsent
und wird an die inneren Sinne weitergeleitet. Zu Sinnestäuschungen kann
es kommen, wenn unter bestimmten Bedingungen Lichtstrahlen unter-
schiedlich vom Gegenstand reflektiert werden und beim Auftreffen auf den
Augen unterschiedliche intentionale Veränderungen bewirken. Mayronis’
Paradebeispiel ist die Taube, die uns in einem bestimmten Licht mehrfar-
big erscheint. Wir glauben, die Farben Rot, Grün, Blau usw. zu sehen, weil
durch den ersten Lichtstrahl die Aufnahme der Rot-Struktur bewirkt wird,
durch den zweiten die Aufnahme der Grün-Struktur usw., freilich ohne
dass diese Strukturen tatsächlich im Gefieder der Taube vorhanden sind.
Die Strukturen entstehen erst durch die besonderen Lichtverhältnisse. Weil
wir diese Strukturen aber im Kontakt mit der Taube aufgenommen haben,
fällt der Gemeinsinn das falsche Urteil, die Taube selber sei mehrfarbig.
Diese Erklärung ist im historischen Kontext zwar nicht innovativ; sie
lehnt sich eng an Avicennas Farben- und Wahrnehmungstheorie an.126 Im
Hinblick auf die Skeptizismus-Problematik ist sie aber von Bedeutung, weil
sie verdeutlicht, dass Mayronis keinen separaten erscheinenden Gegenstand
annimmt. Er spricht nur von einer intentionalen Veränderung im Wahr-
nehmenden, die dazu führt, dass der Gegenstand bzw. dessen Strukturen

  Sent., prol., q. 19, fol. 11v, I : „Ad illud dico quod obiectum aliquid immutat realiter,
124

aliquid intentionaliter.“
125
  Vgl. Duns Scotus, Ordinatio I, dist. 3, pars 1, q. 3, n. 386 (Vat. III, 235), wo diese Rede-
weise auf den Intellekt angewendet wird; sie trifft aber auch auf die Veränderung in den
Sinnen zu. Auch Thomas von Aquin spricht in Sth I, q. 78, art. 3, corp., von einer „duplex
immutatio“ der Sinne; vgl. dazu eine ausführliche Analyse in Burnyeat 2001.
126
 Dies hat Maurer 1990, 325, bereits nachgewiesen. Zur Präsenz der avicennischen Wahr-
nehmungstheorie in den lateinischen Debatten vgl. Hasse 2000, 107–127.
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284 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

in den Wahrnehmenden gelangen.127 Zu einer solchen Veränderung – sei sie


irreführend oder nicht – kann es indessen nur kommen, wenn tatsächlich ein
realer Gegenstand präsent ist. Der Fall, dass dem Wahrnehmenden nur ein
erscheinender oder intentionaler Gegenstand präsent ist, ohne dass auch ein
realer Gegenstand vorhanden ist, wird damit von vornherein ausgeschlossen.
Es ist lediglich möglich, dass dem realen Gegenstand bestimmte Eigenschaf-
ten (z.B. Farben) zugeschrieben werden, die er nicht hat. Doch selbst diese
falsche Zuschreibung setzt einen Kontakt zum realen Gegenstand voraus.
Mayronis widersetzt sich explizit der Auffassung Petrus Aureolis, in der
Wahrnehmung werde ein besonderer Gegenstand erfasst. Er räumt zwar
ein, dass im Wahrnehmungsakt etwas „mit einem gewissen Sein“, d.h. mit
einer gewissen intentionalen Existenzweise, aufgenommen wird. Aber dies
heißt nicht, dass ein distinkter Gegenstand aufgenommen wird, sondern
lediglich, dass der Gegenstand selbst so aufgenommen wird, wie dies dem
Wahrnehmungsvermögen angemessen ist. Mayronis spricht daher auch von
einer relationalen Seinsweise (esse secundum quid) des Gegenstandes, d.h.
von der Existenzart, die er nicht an sich hat, sondern insofern er aufgrund
einer intentionalen Veränderung als gesehener oder erkannter Gegenstand
im Wahrnehmenden ist. Diese Seinweise setzt aber immer eine reale voraus:
„Jedes relationale Sein beruht auf einem absoluten Sein. Aber dieses Sein, nämlich
das gesehene Sein, ist ein relationales Sein und beruht auf einem Gegenstand. Also
gibt es im Gegenstand ein absolutes Sein, auf dem dieses relationale Sein, nämlich
das gesehene Sein, beruht. Ich sage also, dass der Gegenstand ein anderes Sein haben
muss: nicht das Sein eines Wesens, weil er dann nur abstraktiv erkannt würde, son-
dern das Sein der aktuellen Existenz.“128

Mayronis’ technische Ausdrucksweise mag vielleicht abschreckend wirken,


aber sein Gedankengang ist klar und kann anhand eines Beispiels ver-
anschaulicht werden. Wenn ich einen roten Apfel sehe, gibt es in gewisser
Weise ein „gesehenes Sein“. Doch damit ist nichts anderes gemeint als die
Existenzweise des Apfels, insofern er durch eine intentionale Veränderung
aufgenommen wurde und nun in mir ist. Dieser Apfel „beruht“ auf einem
realen Apfel, der am Baum hängt, denn ich hätte gar keine intentionale Ver-

127
 Im Conflatus spricht Mayronis daher auch mehrfach davon, dass der Gegenstand „in
aliquo esse“ im Wahrnehmenden existiert (vgl. Belege in Cova 1976, 238). Damit vertritt er
freilich nicht die These, dass es im Wahrnehmenden eine distinkte, vom realen Gegenstand
separierbare Entität gibt, sondern er weist nur darauf hin, dass der reale Gegenstand, insofern
er im Wahrnehmenden ist, eine bestimmte Existenzweise hat.
128
  Sent., prol., q. 19, fol. 11v, P : „Omne esse secundum quid fundatur in esse simpliciter, sed
illud esse, scilicet esse visum, est esse secundum quid, et fundatur in obiecto, ergo in obiecto
est aliquod esse simpliciter, in quo illud esse secundum quid, scilicet esse visum, fundatur.
Dico ergo quod oportet quod obiectum habeat aliud esse, non esse essentiae, quia tunc co-
gnosceretur abstractive tantum, sed esse existentiae actualis.“
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§ 24 Die notwendige Relation 285

änderung erfahren können, wenn es keinen Apfel gäbe, der via Lichtstrahlen
auf mich einwirkt. Dieser Apfel am Baum ist nicht einfach das allgemeine
Wesen des Apfels, sondern ein konkreter, aktuell existierender Apfel. Selbst
wenn ich das Opfer einer Sinnestäuschung werde und irrtümlicherweise
meine, der Apfel sei grün, beruht das „gesehene Sein“ des grünen Apfels auf
dem realen, aktuell existierenden roten Apfel. Es gibt kein „gesehenes Sein“
ohne ein reales. Sogar wenn ich in ausgehungertem Zustand einen Apfel
halluziniere, beruht der bloß vorgestellte Apfel auf einem realen, den ich zu
einem früheren Zeitpunkt tatsächlich wahrgenommen habe. Auch hier gilt
wieder: Es gibt kein vorgestelltes Sein ohne ein reales.
Mit dieser Erklärung grenzt sich Mayronis natürlich von Ockham ab
und reiht sich in eine scotistische Tradition ein. Ockham hatte nämlich aus-
drücklich bestritten, dass es so etwas wie eine intentionale Veränderung
geben kann und dass ein Gegenstand mit einem „gesehenen Sein“ existieren
kann. Die einzige Veränderung, die seiner Meinung nach stattfinden kann,
ist real, nämlich eine Veränderung in den Wahrnehmungsorganen, die ein
Urteil im Intellekt auslöst. Demgegenüber hält Mayronis an Scotus’ These
fest, dass der Verweis auf eine reale Veränderung allein noch nicht viel er-
klärt. Es muss nämlich nicht nur erläutert werden, wie die Pupillen physisch
affiziert werden, sondern auch, was durch diesen Vorgang ausgelöst wird.
Was bewirkt die reale Veränderung im Wahrnehmenden? Welche Struktu-
ren nimmt er dadurch auf? Genau diese Fragen beantwortet Mayronis mit
seinem Verweis auf die intentionale Veränderung.
Damit kann Mayronis zwar auf elegante Weise erläutern, wie im Wahr-
nehmenden ein Gegenstand mit „gesehenem Sein“ entsteht und trotzdem
ein Zugang zum realen Gegenstand gesichert ist. Doch die zweite der oben
formulierten skeptischen Fragen bleibt noch unbeantwortet. Wie kann der
Fall, in dem eine normale intentionale Veränderung erfolgt und der Gegen-
stand korrekt aufgenommen wird, von jenem unterschieden werden, bei
dem aufgrund besonderer Wahrnehmungsbedingungen eine Täuschung
auftritt? Wie kann ich etwa den Fall, in dem ich den roten Apfel korrekt als
roten Apfel sehe, von dem Fall unterscheiden, in dem ich die graue Taube
als mehrfarbige Taube sehe und dann ein falsches Urteil fälle? Mayronis
formuliert keine detaillierten Kriterien. Er verweist nur darauf, dass das
falsche Urteil des Gemeinsinns korrigiert werden muss, wahrscheinlich weil
er annimmt, dass der Intellekt durch eine Evaluation der Wahrnehmungs-
bedingungen gleichsam intervenieren und die Fehlleistungen des Gemein-
sinns berichtigen kann. In vielen Fällen ist dies sicherlich eine überzeugende
Strategie. Wenn ich etwa eine Taube sehe, kann ich mich fragen, in welchem
besonderen Licht ich sie sehe, und ich kann die momentane Wahrnehmung
mit früheren vergleichen. Da Mayronis zudem von dem bereits erläuterten
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286 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

Grundsatz ausgeht, dass die nicht-veridische Wahrnehmung einen Ausnah-


mefall bildet, stellt sich für ihn nicht die Frage, ob denn auch alle früheren
Wahrnehmungen irreführend waren. Eine Frage wie „Könnte es nicht sein,
dass ich der Taube auch unter den besten Wahrnehmungsbedingungen
fälschlicherweise die Farbe Grau zuschreibe?“ stellt sich für ihn nicht, da
der Sonderfall der Fehlwahrnehmung nur vor dem Hintergrund zahlreicher
korrekter Wahrnehmungen einen Sinn ergibt.
Trotzdem bleibt ein fundamentales Problem noch ungelöst. Wie kann
ich sicher sein, dass es überhaupt Tauben und andere materielle Dinge gibt,
von denen ich Wahrnehmungen habe, seien diese nun korrekt oder nicht?
Oder in Mayronis’ Terminologie ausgedrückt: Welche Gewissheit habe ich
dafür, dass das „gesehene Sein“ tatsächlich auf einem „realen Sein“ beruht?
Es könnte doch immer sein, dass Gott eingreift und in mir eine intentionale
Veränderung bewirkt, ohne dass es irgendeinen realen Gegenstand gibt.
Setzt Mayronis nicht dogmatisch voraus, dass die Wahrnehmung tatsäch-
lich in der materiellen Welt fundiert ist?
Wie seine Zeitgenossen räumt auch Mayronis ein, dass Gott in der Tat
jederzeit eingreifen kann. Und wie Ockham und Chatton gesteht er zu,
dass Gott nicht nur von seiner geordneten Macht Gebrauch machen kann,
sondern auch von der absoluten, mit der er etwas bewirken kann, was nicht
der natürlichen Ordnung entspricht. So kann Gott jederzeit in mir einen
Akt hervorbringen, ohne dass ein materieller Gegenstand auf mich einwirkt
und eine intentionale Veränderung in mir auslöst. Heißt dies, dass Gott in
mir einen Akt der intuitiven Erkenntnis hervorbringen kann, mit dem ich
einen Apfel erfasse, ohne dass ein realer Apfel existiert? In der Antwort auf
diese Frage unterscheidet sich Mayronis radikal von Ockham und Chatton.
Wer die Frage bejaht, begeht seiner Ansicht nach den fundamentalen Fehler,
dass er nicht zwischen dem bloßen Akt (actus) und der Erkenntnis (notitia)
unterscheidet. Diese Unterscheidung muss aber getroffen werden, denn der
Akt ist nichts anderes als eine Entität, die zur Kategorie der Qualität gehört.
Die Erkenntnis hingegen beinhaltet immer eine Beziehung zu einem Gegen-
stand; sie kann gar nicht ohne diese Beziehung vorliegen, selbst dann nicht,
wenn sie von Gott verursacht wird.129 Damit macht Mayronis auf einen
zentralen Unterschied aufmerksam, den man den Unterschied zwischen
der ontologischen Beschaffenheit und der kognitiven Funktion mentaler
Zustände nennen könnte. Ontologisch gesehen ist ein Akt eine abhängige
Entität und kann wie jede solche Entität von Gott erschaffen werden. Damit
ist aber noch keineswegs die kognitive Funktion dieses Aktes gegeben. Erst
129
  Sent., prol., q. 18, fol. 10v, P: „... actus intelligendi et notitia sunt duo. Actus autem in-
telligendi est qualitas et non dicit perfectionem simpliciter. Notitia autem dicit respectum ad
obiectum et est perfectio simpliciter.“
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§ 24 Die notwendige Relation 287

wenn es tatsächlich einen Gegenstand gibt, auf den sich der Akt bezieht,
hat er diese Funktion, und erst dann ist er nicht ein bloßer Akt, sondern ein
Erkenntnisakt.
Ein modernes Gedankenexperiment möge hier wiederum zur Ver-
anschaulichung dienen.130 Nehmen wir einmal an, unser Gehirn sei an einen
riesigen Computer angeschlossen und werde von einem bösen Neurowis-
senschaftler kontrolliert. Jeder einzelne Gehirnzustand kann von diesem
verschlagenen Menschen an einem Schaltpult auf künstliche Weise erzeugt
werden, ohne dass irgendeine natürliche Verbindung zu anderen Körper-
teilen oder zu Gegenständen in der materiellen Welt besteht. Nimmt man
diese Hypothese an, muss man zugestehen, dass jeder einzelne neuronale
Zustand ohne die Existenz eines materiellen Gegenstandes möglich ist.
Doch damit hat man noch nicht eingeräumt, dass jeder solche Zustand auch
ein kognitiver Zustand ist, d.h. ein Zustand, der sich auf etwas bezieht und
sich somit durch das Merkmal der Intentionalität auszeichnet. Man hat nur
die Existenz eines physikalischen Zustandes eingeräumt. Damit tatsächlich
ein kognitiver Akt vorliegt, muss auch Intentionalität vorliegen, und dies ist
nur möglich, wenn der Zustand in Relation zu etwas steht.
Versteht man Mayronis’ Unterscheidung von Akt und Erkenntnis auf
diese Weise, zeigt sich, dass sie auf einer Intentionalitätsthese beruht, die
folgendermaßen formuliert werden kann:
(I) Intentionalität ist eine zweistellige Relation zwischen einem Akt und
einem Gegenstand. Diese Relation kann nur existieren, wenn auch beide
Relata existieren.
Aufgrund dieser These ist es ausgeschlossen, dass ich einen roten Apfel
erkenne, ohne dass ein Apfel existiert. Mein Erkennen ist notwendigerweise
an einen Apfel gebunden. Selbst Gott kann kraft seiner absoluten Allmacht
diese Notwendigkeit nicht beseitigen. Bedeutet dies, dass Gott in seinem
Handeln derart eingeschränkt ist, dass er keine natürliche Kausalrelation
beseitigen kann? Keineswegs, wie Mayronis in einer präzisierenden Bemer-
kung festhält. Gott kann einen Erkenntnisakt sehr wohl ohne einen realen
Gegenstand als dessen Ursache bewirken, nicht aber ohne einen Gegen-
stand als dessen Zielpunkt.131 Konkret heißt dies: Gott kann sehr wohl in
mir einen Akt verursachen, mit dem ich einen Apfel erkenne, ohne dass ein
Apfel visuelle, taktile oder andere Reize in mir auslöst. Doch er kann keinen
solchen Akt hervorbringen, ohne dass er gleichzeitig auch einen Apfel her-

 Es handelt sich natürlich um eine Variation des berühmten Experiments der Gehirne im
130

Tank; vgl. Putnam 1981, 5–8.


131
  Sent., prol., q. 18, fol. 10v, P: „Ad primam concedo quod deus potest sine obiecto se
habente in ratione causantis, sed tamen non sine obiecto se habente in ratione terminantis.“
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288 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

vorbringt oder in Existenz erhält, auf den sich der Akt bezieht. Denn selbst
wenn keine kausale Relation besteht, muss eine intentionale vorliegen, die
stets die Existenz beider Relata voraussetzt. Wenn ich also einen roten Apfel
erfasse, kann ich sicher sein, dass es einen Apfel gibt, auf den sich mein
Erkenntnisakt bezieht. Ich kann lediglich daran zweifeln, dass es tatsächlich
einen natürlichen Wahrnehmungsprozess gibt.
Diese Auffassung von Intentionalität bildet auch die Grundlage für May-
ronis’ Erklärung des Unterschiedes zwischen intuitiver und abstraktiver
Erkenntnis. Da es sich in beiden Fällen um intentionale Akte handelt, muss
es auch in beiden Fällen einen Bezugsgegenstand geben. Der Unterschied
besteht lediglich darin, dass sich ein Akt der intuitiven Erkenntnis auf einen
aktuell existierenden Einzelgegenstand bezieht, während sich ein Akt der
abstraktiven Erkenntnis auf ein Wesen bezieht, mag dieses nun aktuell in-
stantiiert sein oder nicht.132
Diese Erklärung verdeutlicht, dass der entscheidende Unterschied zwi-
schen Mayronis und Ockham in der Intentionalitätstheorie liegt, die das
Fundament für die Analyse der intuitiven Erkenntnis bildet. Für Ockham
sind intentionale Akte – allen voran Akte der intuitiven Erkenntnis – sog.
„absolute Entitäten“, die nur in einer kontingenten Relation zu einem Ge-
genstand stehen.133 Ob nun ein Apfel existiert oder nicht, mein Akt kann
Ockham zufolge in gleicher Weise einen Apfel präsentieren. Daher kann
Gott die gesamte mentale Innenwelt manipulieren, ohne die Außenwelt
zu tangieren. Für Mayronis hingegen, der intentionale Akte als relationale
Entitäten auffasst, muss Gott, wenn er denn eingreift, beide Relata der in-
tentionalen Relation manipulieren und somit gleichzeitig in die Innen- und
in die Außenwelt eingreifen. Daher stellt sich für Mayronis gar nicht das
Problem, das Ockham (und auch Chatton) beschäftigte, nämlich welche Art
von Urteil jemand fällt, wenn Gott eingreift. Urteilt diese Person korrekt,
dass der Gegenstand existiert, wenn er existiert, und dass er nicht existiert,
wenn er nicht existiert? Dass der Gegenstand des Erkennens nicht existiert,
ist gemäß der relationalen Auffassung von Intentionalität gar nicht möglich.
Daher gibt es hier nur eine Möglichkeit: Die Person, die einen Gegenstand
intuitiv erkennt, urteilt korrekt, dass dieser Gegenstand existiert.
Freilich sind damit noch nicht alle Probleme aus dem Weg geräumt. Ein
Problem besteht in der Annahme einer notwendigen Relation des Erkennt-
nisaktes zu einem Gegenstand. Wie ist diese Relation zu verstehen? Besteht
sie zusätzlich zum Akt? Oder ist der Akt selbst als eine Relation aufzufassen?
Mayronis deutet eine Antwort auf diese Fragen nur an, indem er festhält,

 Vgl. Sent., prol. q, 19, fol. 10v, Q – fol. 11r, A; siehe auch q. 20, fol. 11v, Q.
132

 Vgl. Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 38–39), zitiert in Anm. 81.


133
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§ 24 Die notwendige Relation 289

der Erkenntnisakt und seine Relation zu einem Gegenstand seien zwar real
identisch, aber dennoch „auf gewisse Weise“ verschieden.134 In seiner Ana-
lyse der verschiedenen Arten von Distinktion erläutert er dann, dass es sich
hier um einen formalen Unterschied handelt.135 Damit reiht er sich einmal
mehr in die scotistische Tradition ein. Scotus hatte bekanntlich betont, dass
es neben der realen und der begrifflichen Distinktion noch eine dritte gibt,
nämlich die formale. Diese liegt vor, wenn verschiedene Dinge oder Aspekte
zwar voneinander verschieden sind, aber trotzdem immer zusammen vor-
kommen und nicht voneinander gelöst werden können. Das Paradebeispiel
dafür sind die göttlichen Attribute (Allmacht, Allwissenheit, Güte usw.), die
zwar voneinander verschieden sind, aber doch immer zusammen existieren
und gar nicht einzeln auftreten können.136 Überträgt man diese Erklärung
auf den Fall der Erkenntnisakte, heißt dies: Der Erkenntnisakt und die
Relation zu einem Gegenstand sind zwar verschiedene Dinge und können
auch begrifflich voneinander getrennt erfasst werden. Doch sie treten immer
zusammen auf. Daher gibt es weder den Erkenntnisakt ohne die Relation
noch umgekehrt die Relation ohne den Erkenntnisakt. Wenn wir die beiden
voneinander lösen, so höchstens in einer theoretischen Analyse; in der Welt
sind sie gleichsam zusammengeschweißt. Es ist nicht zuletzt dieser Rekurs
auf die formale Distinktion, der erklärt, warum ein Erkenntnisakt immer in
einer notwendigen Relation zu einem Gegenstand steht. Wenn nämlich Akt
und Relation unauflöslich zusammengeschweißt sind, kann es den Akt gar
nicht geben, ohne dass er in Relation zu etwas steht.
Es stellt sich allerdings sogleich noch ein weiteres Problem. Können
wir nicht in vielen Fällen etwas erkennen oder an etwas denken, was nicht
existiert? So kann ich doch sehr wohl an die Baumhütte meiner Kindheit
denken, die schon lange abgerissen worden ist, und ich kann sogar an Chi-
mären und andere fiktive Dinge denken, die nie existiert haben. Es scheint,
als würde Mayronis’ These, dass man nur dann etwas erkennen kann, wenn
es auch etwas gibt, wozu der Erkenntnisakt in Relation steht, diese Möglich-
keiten von vornherein ausschließen.
Dieses Problem lässt sich lösen, wenn man die bereits erwähnte Unter-
scheidung zwischen intuitiver und abstraktiver Erkenntnis berücksichtigt.
Nur im Falle der intuitiven Erkenntnis muss es einen aktuell existierenden
Gegenstand geben, auf den sich der Erkenntnisakt direkt bezieht. Im Falle

  Sent., prol., q. 18, fol. 11r, C: „Et tunc dico quod notitia et sui relatio ad obiectum sunt
134

idem realiter, licet aliquo modo distinguantur.“


135
  Sent. I, dist. 29, q. 2, fol. 89v, Q: „Dico quod universaliter omnis relatio formaliter differt
a suo fundamento.“ Auf diese zentrale Stelle hat Maurer 1990, 320, bereits hingewiesen.
136
 Vgl. Ordinatio I, dist. 8, pars 1, q. 4, n. 191–193 (ed. Vat. IV, 260–262); eine konzise Ana-
lyse bietet King 2003, 22–25.
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290 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

der abstraktiven Erkenntnis hingegen, die mithilfe eines kognitiven Hilfs-


mittels erfolgt,137 bezieht man sich bloß auf ein Wesen oder auf eine Zu-
sammenstellung verschiedener Wesen, mögen diese nun aktuell instantiiert
sein oder nicht. So kann ich mich in der Erinnerung auf das Wesen der
Baumhütte beziehen, und indem ich die in der Kindheit abgespeicherte
Vorstellung reaktiviere, kann ich meine Erinnerung sogar auf die konkrete
Baumhütte richten, in der ich gespielt habe. Doch ich habe dann nur eine
abstraktive Erkenntnis; ich abstrahiere von der aktuellen Existenz. Und
wenn ich an eine Chimäre denke, verbinde ich einfach das Wesen ver-
schiedener Tiere miteinander und beziehe mich nur auf dieses Konglomerat;
auch hier abstrahiere ich von der Existenz. Mit dieser Abgrenzung der abs-
traktiven Erkenntnis von der intuitiven lehnt sich Mayronis einmal mehr an
Duns Scotus an, denn dieser hatte bereits betont, die abstraktive Erkenntnis
beziehe sich unter Absehung von der Existenz lediglich auf das Wesen einer
Sache.138
Schwieriger verhält es sich mit einem weiteren Problem. Sollte Gott ein-
greifen und einen Akt der intuitiven Erkenntnis hervorbringen, kann er
zwar nicht den Akt ohne einen aktuell existierenden Gegenstand hervor-
bringen, aber er kann doch beide zusammen verursachen. Wie kann ich
dann wissen, wann ein Erkenntnisakt auf natürliche Weise hervorgebracht
wurde und wann nicht? Wie kann ich etwa wissen, ob der Akt, mit dem
ich jetzt gerade die Vögel im Garten erkenne, tatsächlich durch das Sehen
von Vögeln verursacht wurde, oder ob Gott nicht den Akt zusammen mit
den Vögeln herbeigezaubert hat? Solange ich diese Frage nicht beantworten
kann, kann ich zwar nicht an der Existenz der Vögel zweifeln; ein Außen-
welt-Skeptizismus ist keine Option. Doch ich kann sehr wohl an der Wirk-
samkeit natürlicher kognitiver Mechanismen zweifeln. Und solange dieser
Zweifel nicht ausgeräumt ist, lässt sich natürlich ein radikaler Skeptizismus
formulieren: Könnte es nicht sein, dass Gott in mir auf einen Schlag sämtli-
che Erkenntnisakte mit sämtlichen Bezugsgegenständen hervorbringt, ohne
dass irgendein natürlicher kognitiver Prozess stattfindet?
Mayronis bietet keine explizite Lösung für dieses Problem. Wahrschein-
lich hält er es aufgrund seiner Grundannahme, dass Gott nur punktuell ein-
greift, für ausgeschlossen, dass alle Erkenntnisakte manipuliert sein könn-
ten. An einer Stelle deutet er aber einen Lösungsansatz an. Er stellt nämlich
fest, wir könnten nicht nur Gegenstände in der materiellen Welt und unsere
eigenen intellektuellen Akte intuitiv erkennen, sondern auch unsere sinn-
137
 In Sent., prol., q. 20, fol. 11v, Q, betont Mayronis, die intuitive Erkenntnis beziehe sich
„de re per se ipsam“, während sich eine abstraktive Erkenntnis nur „per aliquid repraesentati-
vum“ auf etwas beziehe.
138
  Vgl. Duns Scotus, Ordinatio II, dist. 3, q. 9, n. 6 (Vivès XII, 212a-213a).

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§ 25 Kann jedes Wissen bezweifelt werden? 291

lichen Zustände.139 Dies bedeutet konkret, dass ich nicht nur die Vögel er-
kennen kann, sondern auch mein Sehen der Vögel. Solange dies möglich ist,
kann ich kontrollieren, ob meine intellektuelle Erkenntnis tatsächlich auf
einem sinnlichen Vorgang beruht. Kann ich dann sicher sein, dass tatsäch-
lich ein natürlicher sinnlicher Vorgang meinen Erkenntnisakt ausgelöst hat?
Wohl kaum. Wenn Gott überall eingreifen kann, so auch auf der sinnlichen
Ebene. Das heißt, er könnte gleichzeitig (a) einen intellektuellen Erkennt-
nisakt, (b) ein Bezugsobjekt für diesen Akt, (c) einen Akt des Sehens und
(d) einen Akt des Urteilens im Gemeinsinn hervorbringen. So würde ich
glauben, ein natürliches Sehen habe ein natürliches sinnliches Urteilen und
dies wiederum habe ein natürliches intellektuelles Erkennen verursacht – ich
wäre perfekt getäuscht.
In Mayronis’ Text findet sich keine Diskussion eines solchen Falles. Im
Rahmen seiner Theorie ist ein solches Szenario aber durchaus denkbar, denn
sobald man distinkte Akte im Erkenntnisprozess annimmt und einräumt,
dass Gott jede distinkte Entität hervorbringen kann, ist die Möglichkeit
gegeben, dass er auf der sinnlichen Ebene ebenso wie auf der intellektuellen
eingreift. Selbst die relationale Auffassung von Intentionalität schiebt dieser
Möglichkeit keinen Riegel vor. Daher gibt es keine absolute Gewissheit, dass
Akte des Sehens, des Vorstellens und des Erkennens auf natürliche Weise
entstanden sind. Es gibt nur eine Gewissheit, dass durch diese Akte etwas
gesehen, vorgestellt und erkannt wird, wie auch immer die Akte und ihre
Objekte zustande gekommen sind.

§ 25 Kann jedes Wissen bezweifelt werden?

Die Debatte, die ausgehend von Fällen der natürlichen und der übernatür­
lichen Täuschung rund um die Frage nach der Gewissheit unserer Erkennt-
nis geführt wurde, gewann im dritten Jahrzehnt des 14. Jhs. innerhalb von
kürzester Zeit an Bedeutung und beherrschte immer mehr die philosophi-
schen Debatten. In den Prologen zu den Sentenzenkommentaren wurde
nicht mehr die klassische Frage diskutiert, welche Art von Wissenschaft die
Theologie sei und welche Erkenntnis durch sie gewonnen werde. Vielmehr
wurde nun die grundsätzliche Frage erörtert, ob Erkenntnis überhaupt
möglich sei. Ein prägnantes Beispiel für diese Grundsatzdiskussion ist
Adam Wodehams zweiter Sentenzenkommentar, die Lectura secunda, die

139
  Sent., prol., q. 20, fol. 12r, C: „Secunda difficultas: Utrum actus aliarum potentiarum
cognoscantur intuitive. Dico quod sic. [...] Ex hoc enim cognosco caelum moveri quia co-
gnosco intuitive actum potentiae sensitivae ad hanc veritatem terminatum.“
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292 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

zwischen 1329 und 1332 entstanden ist.140 Der ganze Prolog dieses Werks
befasst sich in allen sechs Quaestionen mit erkenntnistheoretischen Grund-
problemen. Als Schüler und Sekretär Ockhams schließt sich Wodeham in
einigen Punkten seinem ehemaligen Lehrer an. So verwirft er genau wie
Ockham (teilweise mit explizitem Verweis auf dessen Argumente) die An-
nahme, im Wahrnehmungsakt werde ein besonderer „erscheinender Gegen-
stand“ erfasst, und genau wie Ockham erklärt er die Sinnestäuschungen
als falsche Urteile über die realen Gegenstände. Doch in einigen Punkten
weicht Wodeham auch deutlich von seinem Lehrer ab. Es empfiehlt sich des-
halb, ihn als einen eigenständigen Denker in den Blick zu nehmen und jene
Stellen genauer zu betrachten, an denen er Ockham kritisiert.
Eine erste deutliche Abweichung von Ockhams Standpunkt ist bereits
in der Grundthese festzustellen, die Wodeham vertritt. Mit Verweis auf die
Möglichkeit eines göttlichen Eingreifens in den Erkenntnisprozess hält er
lapidar fest:
„... ich gestehe zu, dass wir uns durch keine Erkenntnis vergewissern können, dass
wir durch ihn [sc. Gott] nicht getäuscht werden können, wenn er es will.“141

Diese Aussage ist angesichts der Position, die sich in Ockhams Sentenzen-
kommentar findet, erstaunlich. Hatte Ockham nicht klar und deutlich fest-
gehalten, dass wir auf der Grundlage einer intuitiven Erkenntnis korrekt
urteilen, dass ein Gegenstand existiert, wenn er existiert, und dass er nicht
existiert, wenn er nicht existiert? Hatte er damit nicht jede Täuschungsmög-
lichkeit ausgeschlossen? Selbst wenn Gott eingreift und uns einen Erkennt-
nisakt eingibt, mit dem wir etwa einen Stern erfassen, urteilen wir korrekt,
dass der Stern nicht existiert.
Wodeham ist diese Position wohl bekannt, doch er hält sie nicht für
überzeugend, ja er wirft Ockham ausdrücklich vor, seine Erwiderung auf
die skeptische Herausforderung sei „nur eine Ausflucht,“ da man „weder
durch die Erfahrung noch durch ein rationales Argument“ wissen könne,
dass tatsächlich keine Täuschung vorliegt.142 Warum ist kein Wissen mög-
lich? Der Hauptgrund liegt darin, dass nicht auf der Grundlage ein und
derselben intuitiven Erkenntnis sowohl ein positives als auch ein negatives
Existenzurteil gefällt werden kann. Wodeham veranschaulicht dies anhand
eines Beispiels. Wenn ich zuerst den lebendigen Sokrates sehe und urteile,
dass er existiert, dann aber den Leichnam sehe und urteile, dass Sokrates
140
 Zur Entstehungszeit und zu den verschiedenen Fassungen des Sentenzenkommentars
vgl. Courtenay 1978, 12–34; zur Wirkung dieses Textes auf spätere Debatten ibid., 113–159.
141
  Lectura, prol., q. 2, § 5 (ed. Wood 1990, 41): „... concedo quod per nullam notitiam potest
nos sic certificari quin possimus decipimus ab eo si voluerit.“
142
  Lectura, prol., q. 2, § 4 (ed. Wood 1990, 39): „... cuius responsio non est nisi evasio, quia
nec per experientiam nec per rationem scitur.“
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§ 25 Kann jedes Wissen bezweifelt werden? 293

nicht existiert, liegen zwei unterschiedliche Wahrnehmungen und entspre-


chend unterschiedliche intuitive Erkenntnisse vor, die zu unterschiedlichen
Urteilen führen. Ich kann aber nicht aufgrund ein und derselben intuitiven
Erkenntnis ein positives und ein negatives Existenzurteil fällen. Das positive
Urteil ist nämlich durch die Wahrnehmung bestimmter Eigenschaften (z.B.
der frischen Gesichtsfarbe) ausgelöst worden, das negative Urteil hingegen
durch die Wahrnehmung anderer Eigenschaften (z.B. der Leichenblässe).
Es wäre absurd zu sagen, dass ich genau jene intuitive Erkenntnis habe, die
ich durch eine Wahrnehmung vom rosigen, atmenden Sokrates gewinne,
dann aber urteile, dass er nicht existiert. Doch genau diese Absurdität weist
Ockhams Position auf. Er behauptet nämlich, dass durch das göttliche
Eingreifen genau jene intuitive Erkenntnis, die durch die Wahrnehmung
des existierenden Gegenstandes ausgelöst wird, aufrechterhalten wird und
trotzdem ein negatives Existenzurteil gefällt wird. Um Ockhams eigenes
Beispiel aufzugreifen: Gott erhält in mir die intuitive Erkenntnis von einem
leuchtenden, klar sichtbaren Stern aufrecht, und trotzdem urteile ich, dass
der Stern nicht existiert. Wie sollte dies möglich sein? Wenn mir der Stern
in genau gleicher Weise präsent ist wie zuvor, werde ich auch das gleiche Ur-
teil – ein positives Existenzurteil – fällen. Man muss hier eine Wahl treffen.
Entweder man hält an der These fest, dass Gott nach der Zerstörung des
äußeren Gegenstandes dieselbe intuitive Erkenntnis aufrechterhält; dann
muss man einräumen, dass dasselbe positive Existenzurteil gefällt wird.
Oder aber man hält die These aufrecht, dass tatsächlich ein negatives Exis-
tenzurteil gefällt wird; dann muss man wohl oder übel eingestehen, dass
Gott eine andere intuitive Erkenntnis hervorbringt. Doch man kann nicht
konsistenterweise behaupten, es liege dieselbe intuitive Erkenntnis, aber ein
anderes Urteil vor.
Wodeham wählt die erste Option in diesem Dilemma.143 Da Gott all-
mächtig ist und da es nicht in sich widersprüchlich ist, nach der Zerstörung
des Gegenstandes dieselbe intuitive Erkenntnis aufrechtzuerhalten wie vor-
her, kann es sehr wohl sein, dass Gott tatsächlich die intuitive Erkenntnis
von einem Stern aufrechterhält und ich dann das Urteil fälle, dass der Stern
existiert. Der kausale Mechanismus, der zwischen Erkenntnisakt und Urteil
besteht, löst unweigerlich ein falsches Urteil aus. Ich verfüge auch über kei-
nen höherstufigen Akt, mit dem ich kontrollieren könnte, ob tatsächlich ein
Stern existiert, denn ich kann keinen neutralen Standpunkt einnehmen, von
dem aus ich sowohl den Stern als auch meinen Erkenntnisakt erfassen und
überprüfen könnte, ob der Erkenntnisakt auf einen wirklich existierenden
Gegenstand abzielt. Wann immer mir ein Gegenstand präsent ist, ist er mir

143
 Vgl. Lectura, prol., q. 2, § 5 (ed. Wood 1990, 41).
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294 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

in einem Erkenntnisakt gegeben. Und dieser Akt kann von Gott so perfekt
aufrechterhalten werden, dass mir der Gegenstand auch dann noch präsent
zu sein scheint, wenn er nicht mehr existiert. Kurzum: Ich kann einen äu-
ßeren Gegenstand nie an sich erfassen, sondern nur so, wie er mir in einem
Erkenntnisakt präsent ist. Diese Präsenz kann immer fingiert sein.
Mit Blick auf Mayronis’ Diskussion dieses Problems (vgl. § 24) könnte
man allerdings sogleich einen Einwand erheben. Muss nicht jeder Erkennt-
nisakt ein Objekt haben, damit er überhaupt ein kognitiver Akt ist, und
muss Gott somit nicht den Erkenntnisakt zusammen mit dem Objekt auf-
rechterhalten, wenn er in den natürlichen Erkenntnisprozess eingreift? Es
ist doch abwegig zu behaupten, jemand erkenne etwas, z.B. einen Stern, und
es gebe trotzdem kein Objekt für diesen Erkenntnisakt.
Wodeham versucht diesen Einwand mit mehreren Argumenten zu ent-
kräften. Zunächst betont er genau wie Ockham, dass der Erkenntnisakt
eine absolute Entität ist, die unabhängig von jeder anderen absoluten Entität
existieren und aufrechterhalten werden kann.144 Damit weist er natürlich die
Annahme zurück, zwischen Erkenntnisakt und äußerem Objekt bestehe
eine notwendige Relation. Seiner Ansicht nach kann es hier höchstens eine
kontingente Relation geben. Das heißt: Nur wenn der Erkenntnisakt auf
natürliche Weise hervorgebracht wird, steht er in Relation zu einem exis-
tierenden und präsenten Gegenstand. Wird er hingegen auf übernatürliche
Weise bewirkt, kann er durchaus ohne eine solche Relation bestehen.
Doch wie, so kann man sogleich nachfragen, kann der Akt im zweiten
Fall noch ein Erkenntnisakt sein? Wie kann er etwas vergegenwärtigen,
wenn es doch nichts gibt, worauf er bezogen ist? Wodeham gibt keine
ausführliche Antwort auf diese zentrale Frage. Da er aber genau wie Ock-
ham Erkenntnisakte als Zeichen auffasst, lässt sich eine Erwiderung re-
konstruieren: Ein Erkenntnisakt vergegenwärtigt nicht dadurch etwas,
dass er in Relation zu einem aktuell existierenden Objekt steht, sondern
aufgrund seines Zeichencharakters, der durch irgend etwas – sei dies ein
äußeres Objekt oder Gott – einmal festgelegt worden ist. Man muss hier
genau zwischen diesem inneren Zeichencharakter und dem äußeren, aktuell
präsenten Objekt unterscheiden, wie sich anhand eines modernen Beispiels
leicht zeigen lässt. Wenn wir auf einer Landstraße ein Zeichen sehen, das
vor umher streunendem Wild warnt, muss nicht notwendigerweise ein Reh
oder ein Hirsch präsent sein. Selbst wenn kein Wild über die Straße läuft,

144
  Lectura, prol., q. 2, § 5 (ed. Wood 1990, 41): „... experientia fidei compertum est Deum
possum conservare quodcumque absolutum sine quocumque alio realiter et totaliter distincto,
quantumcumque naturaliter unum requireret esse alterius ...“ Ibid., § 7 (ed. Wood 1990, 47)
betont Wodeham, dass auch der Akt des Sehens eine absolute und nicht eine relationale Entität
ist: „... visio est qualitas absoluta in potentia visiva.“
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§ 25 Kann jedes Wissen bezweifelt werden? 295

verweist das Schild aufgrund seines inneren Zeichencharakters, der vom


Straßenverkehrsamt festgelegt worden ist, auf Wild. Ähnlich gilt für unsere
Erkenntnisakte: Selbst wenn kein aktuell existierendes Objekt präsent ist,
verweisen sie aufgrund des einmal festgelegten Zeichencharakters auf be-
stimmte Gegenstände – wohlgemerkt auf Gegenstände, die aktuell präsent
sein können, aber nicht präsent sein müssen. Der intentionale Charakter der
Erkenntnisakte geht durch die fehlende aktuelle Präsenz äußerer Gegen-
stände nicht verloren.
Der von Mayronis vorgebrachte Einwand wird von Wodeham noch mit
einem weiteren, diesmal explizit artikulierten Argument zurückgewiesen,
das bereits in seiner Formulierung verdeutlicht, dass er mit dieser Kritik
gut vertraut ist.145 Mayronis hatte festgestellt, der äußere Gegenstand müsse
zwar nicht unbedingt die Ursache für den Erkenntnisakt sein, wohl aber
dessen Zielpunkt, denn es könne gar keinen Akt ohne einen solchen Ziel-
punkt geben. Darauf erwidert Wodeham, dass die Redeweise vom „Gegen-
stand in seiner Funktion als Zielpunkt“ (obiectum in ratione terminantis)
auf zwei Arten verstanden werden kann.146 Zum einen kann man dies so
auffassen, dass der Gegenstand die wesentliche Ursache für etwas ist und
damit auch dessen Zielrichtung festlegt. Da Gott als Primärursache aber
jede Sekundärursache ersetzen und somit für alles die wesentliche Ursache
sein kann, kann er genauso gut wie ein äußerer, auf natürliche Weise ein-
wirkender Gegenstand die Zielrichtung festlegen. Konkret heißt dies: Da
Gott den Erkenntnisakt, mit dem ich einen Stern erfasse, bewirken kann,
kann er genauso gut wie der reale Stern festlegen, worauf dieser Akt ge-
richtet ist. Er kann den inneren Zeichencharakter dieses Aktes bestimmen,
ohne gleichzeitig einen äußeren Zielpunkt für diesen Akt zu erschaffen.
(Zum Vergleich: Da das Straßenverkehrsamt das Schild herstellt, das vor
Wild warnt, kann es den Zeichencharakter dieses Schildes festlegen, ohne
gleichzeitig reale Rehe und Hirsche zu erschaffen, die diesem Schild zu-
geordnet sind.) Zum anderen kann man die Redeweise vom „Gegenstand
in seiner Funktion als Zielpunkt“ auch so verstehen, dass der Gegenstand
nicht schon die wesentliche Ursache ist. Doch dann benötigt dieser Gegen-
stand seinerseits eine wesentliche Ursache oder eine ganze Kette von Ur-
sachen, und das letzte Glied in dieser Kette kann wiederum den Zielpunkt

145
  Wodeham geht in der Diskussion dieser Kritik nicht nur auf Mayronis’ Haupteinwand
ein, sondern verwendet auch dessen Terminologie. Dies bedeutet freilich nicht unbedingt,
dass er genau Mayronis im Visier hat. Da die Unterscheidung zwischen einem Gegenstand
„in ratione terminantis“ und „in ratione causae“ bereits von Scotus verwendet wurde, kann
er auch auf Scotus abzielen, wie die Herausgeberin zu Recht bemerkt (ed. Wood 1990, 46,
Anm. 12), oder auf andere Autoren scotistischer Prägung.
146
 Vgl. Lectura, prol., q. 2, § 7 (ed. Wood 1990, 46).
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296 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

festlegen. Da Gott definitionsgemäß die letzte Ursache von allem ist, kann
er somit den Zielpunkt für alles festlegen, auch für alle Erkenntnisakte.
Mit diesem Argument macht Wodeham einen raffinierten Schachzug. Er
stimmt der Auffassung zu, dass jeder Erkenntnisakt einen Zielpunkt haben
muss, und akzeptiert damit die von Mayronis vertretene Intentionalitäts-
these, zumindest in ihrer Minimalvariante: Jeder Erkenntnisakt bezieht
sich auf etwas. Gleichzeitig weist er die Auffassung zurück, dieses „etwas“
müsse in jedem Fall ein aktuell präsentes Objekt sein. Die Intentionalitäts-
these besagt nämlich nur, dass ein Erkenntnisakt als Zeichen auf etwas ver-
weist oder – bildlich gesprochen – wie ein Pfeil auf etwas ausgerichtet ist.
Sie legt aber nicht fest, dass es auch einen externen Punkt gibt, auf dem der
Pfeil auftrifft.
Welche Konsequenz zieht nun Wodeham aus diesen Argumenten? Eine
erste Konsequenz ist offensichtlich. Er weist die Behauptung zurück,
man könne immer folgern: „Ich erkenne einen Gegenstand mit intuitiver
Erkenntnis, also existiert dieser Gegenstand“ oder ganz einfach „Ich sehe
Peter, also existiert Peter“.147 Epistemische Verben wie ‚erkennen‘ und ‚sehen‘
sind für ihn keine Erfolgsverben, die ausdrücken, dass das Erkennen und
Sehen in der materiellen Welt verankert sind und eine Relation zu realen
Gegenständen herstellen. Streng genommen darf man nur sagen: „Ich sehe
Peter, also ist mein Akt des Sehens auf einen Gegenstand ausgerichtet“, oder
noch präziser ausgedrückt: „Ich sehe Peter, also habe ich ein visuelles Er-
lebnis, das aufgrund seines Zeichencharakters auf einen bestimmten Gegen-
stand verweist“. Doch dies erlaubt mir nicht, gleich zu urteilen, dass der
angepeilte Gegenstand in der materiellen Welt existiert. Dies heißt freilich
nicht, dass ich unter keinen Bedingungen Existenzurteile fällen kann.
Wodeham hält ausdrücklich fest, dass unter natürlichen Bedingungen ein
Gegenstand existieren muss, damit ich überhaupt etwas sehen und eine
intuitive Erkenntnis gewinnen kann. Würde man unter diesen Bedingungen
keine Kausalrelation zwischen Gegenstand und Erkenntnisakt annehmen,
„würde jedes Wissen, das durch Erfahrung gewonnen wird, zugrunde
gehen, denn jedes Wissen ist eine sichere Erkenntnis.“148 Daher kann man
unter natürlichen Bedingungen auch sicher sein, dass die Existenzurteile
über äußere Gegenstände wahr sind.
Damit ist das skeptische Problem freilich nicht gelöst. Da Gott jederzeit
eingreifen könnte und da ich über keine neutralen Kriterien verfüge, mit

 Vgl. Lectura, prol., q. 2, § 8, „ad primum“ (ed. Wood 1990, 48).


147

148
 Vgl. Lectura, prol., q. 3, § 2 (ed. Wood 1990, 66): „Prima est quod non potest visio na-
turaliter causari sine exsistentia et praesentia rei visibilis. [...] tunc [sc. wenn das Gegenteil
angenommen würde] periret omnis scientia accepta per viam experientiae, quia omnis scientia
est notitia certa.“
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§ 25 Kann jedes Wissen bezweifelt werden? 297

denen ich überprüfen könnte, ob natürliche oder übernatürliche Bedingun-


gen vorliegen, kann ich nie absolut sicher sein, dass sich meine Urteile auf
tatsächlich existierende Gegenstände beziehen. Wodeham ist sich dieser
Konsequenz durchaus bewusst. Er weist mehrfach darauf hin, dass es keine
absolute Erkenntnisgewissheit gibt. So betont er, dass man nur mit Evidenz
wissen kann, dass Sokrates existiert oder dass er weiß ist, „wenn Gott hier
nicht auf wundersame Weise tätig ist“,149 und er räumt ein, dass kein Urteil
schlechthin evident ist.150 Zweifel an der Natürlichkeit der Bedingungen
ist immer möglich. Daher hat jede Gewissheit hypothetischen Charakter:
Wenn Gott nicht auf wundersame Weise eingreift, kann ich sicher sein, dass
meine Urteile auf natürliche Weise zustande gekommen sind und dass sie
sich auf tatsächlich existierende Gegenstände beziehen.
Doch Wodeham geht über diese Konklusion hinaus, die sich in ähn-
licher Weise auch bei einigen seiner Zeitgenossen findet, etwa bei Walter
Chatton und Johannes Rodington. Er behauptet, dass streng genommen
„jede wissbare Wahrheit bezweifelbar ist.“151 Diese starke These ist in min-
destens zweifacher Hinsicht erstaunlich. Erstens scheint sie nicht durch
einen bloßen Verweis auf die Allmachtshypothese gestützt zu werden.
Denn selbst wenn Gott uns manipuliert und wenn wir falsche Urteile bil-
den, handelt es sich dabei nur um Existenzurteile wie ‚Sokrates existiert‘
oder synthetische Urteile wie ‚Sokrates ist weiß‘. Analytische Urteile wie
‚Ein Ganzes ist größer als jeder seiner Teile‘ sind davon ausgenommen.
Denn mag nun ein Ganzes in der materiellen Welt existieren oder nicht, die
Wahrheit dieses Urteils ergibt sich allein aus der Bedeutung des Terminus
‚Ganzes‘. Und das heißt natürlich: Ob nun natürliche oder übernatürliche
Bedingungen vorliegen, spielt keine Rolle; analytische Urteile sind immer
wahr. Wie kann Wodeham behaupten, dass jede wissbare Wahrheit be-
zweifelt werden kann? Zweitens scheint seine These auch wenig plausibel
zu sein, weil sie jedes einzelne Urteil infrage stellt. In seinen Erläuterun-
gen zum Problem der Sinnestäuschungen, in denen sich Wodeham eng an
Ockham anlehnt, betont er aber selber, dass es unsinnig ist, jedes einzelne
Wahrnehmungsurteil zu bezweifeln. So lässt sich das berühmte Urteil ‚Der
Stab ist ­gebrochen‘ nur sinnvoll bezweifeln, wenn beim Betrachten des ins
Wasser eingetauchten Stabes spezielle Wahrnehmungsbedingungen vor-

149
  Lectura, prol., q. 2, § 2 (ed. Wood 1990, 35): „... potest cognoscere evidenter quod Sortes
est vel quod Sortes est albus et huiusmodi – nisi Deus miraculose operetur hic ...“
150
 Vgl. Lectura, prol., q. 6, § 16 (ed. Wood 1990, 169), zitiert in Anm. 10.
151
  Lectura, prol., q. 3, § 2 (ed. Wood 1990, 227): „... dico quod omnis veritas scibilis est
dubitabilis.“ Damit schließt Wodeham an Ockham an, der in Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh
I, 76–77) allerdings einschränkend festgehalten hatte, dass nur ein Satz, der nicht analytisch
wahr ist, bezweifelt werden kann.
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298 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

liegen.152 Doch unter normalen Wahrnehmungsbedingungen werden wahre


Urteile gebildet, mit Bezug auf die ein Zweifel unsinnig wäre. Selbst wenn
die Allmachtshypothese auf diese Urteile angewendet wird, kann man
nur die Normalität der Wahrnehmungsbedingungen anzweifeln und den
absoluten Wahrheitsanspruch infrage stellen. Aber es scheint im Rahmen
von Wodehams eigener Theorie kaum sinnvoll, folgende Überlegung an-
zuzweifeln: Wenn Gott nicht eingreift und wenn normale Wahrnehmungs-
bedingungen vorliegen, löst mein Sehen des auf dem trockenen Boden
liegenden Stabes das wahre Urteil ‚Hier liegt ein ungebrochener Stab‘ in
mir aus; sobald ich dieses Urteil bilde, weiß ich etwas Wahres. Wie kann
Wodeham angesichts einer solchen Überlegung die These vertreten, dass
jede wissbare Wahrheit bezweifelt werden kann?
Um diese These zu verstehen, muss man ihre Reichweite genau be-
stimmen. Wenn Wodeham von einer „wissbaren Wahrheit“ spricht, meint
er damit nicht irgendein wahres Urteil, sondern etwas Wissbares im tech-
nischen Sinn: etwas, was als Schlusssatz eines Syllogismus gewusst werden
kann.153 Denn zu wissen heißt nicht einfach, in einem Urteil festzustellen,
dass etwas der Fall ist, sondern einzusehen, warum etwas so und so ist und
nicht anders sein kann. Dies ist nur möglich, wenn die Gründe angegeben
werden und wenn gezeigt wird, was aus diesen Gründen folgt, ja folgen
muss – kurzum: wenn aus Prämissen ein Schlusssatz hergeleitet wird. Wo-
deham bezieht seine These also nur auf Schlusssätze in Syllogismen. Dies
hat unmittelbare Konsequenzen für die beiden aufgeworfenen Probleme.
Hinsichtlich der analytischen Urteile räumt Wodeham sogleich ein, dass
sie als wahre Urteile erfasst werden können. Aber sie sind eben nur erfass-
bar (intelligibiles) und nicht wissbar (scibiles),154 d.h. sie können nicht syl-
logistisch hergeleitet werden. Daher haben sie einen besonderen Status. Sie
helfen uns nur, die Bedeutung eines Terminus zu verstehen, verdeutlichen
aber nicht, warum etwas der Fall ist. Dies ist ein scheinbar pedantischer,
in Tat und Wahrheit aber subtiler Punkt. Denn selbst wenn man einräumt,
dass ein Urteil wie ‚Ein Ganzes ist größer als jeder seiner Teile‘ unbe-
zweifelbar ist, hat man damit nur zugegeben, dass man nicht anders kann,
als diesem Urteil zuzustimmen, wenn man die im Deutschen festgesetzte
Bedeutung von ‚Ganzes‘ akzeptiert. Man stimmt dann nur explizit dem zu,
was man implizit schon akzeptiert hat. Doch damit hat man noch nichts
darüber gesagt, was in der materiellen Welt der Fall ist, geschweige denn,

152
  Wodeham diskutiert dieses Beispiel explizit in Lectura, prol., q. 4, § 11 (ed. Wood 1990,
106) und erläutert die besonderen Wahrnehmungsbedingungen.
153
  Lectura, prol., q. 3, § 4 (ed. Wood 1990, 231): „Sed nunc loquimur de veritate scibili quae
est conclusio syllogismi facientis scire ...“
154
 Vgl. Lectura, prol., q. 3, § 4 und § 6 (ed. Wood 1990, 231 und 234–235).
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§ 25 Kann jedes Wissen bezweifelt werden? 299

warum etwas der Fall ist. Daher sind analytische Urteile höchstens für eine
Bedeutungsexplikation hilfreich, im Hinblick auf einen Wissensgewinn
aber belanglos.155
Auch mit Bezug auf das zweite Problem ist Wodehams Präzisierung,
dass es hier um Wissbares im strengen Sinne geht, von Bedeutung. Gemäß
der aristotelischen Auffassung, an die sich Wodeham anschließt, darf im
Falle des demonstrativen Wissens ein Schlusssatz nämlich nicht aus irgend-
welchen Prämissen hergeleitet werden, sondern nur aus solchen, die wahr,
primär, unmittelbar und ursächlich sind.156 Doch wenn stets Bedingungen
wie ‚Wenn Gott nicht eingreift...‘ und ‚Wenn normale Wahrnehmungs-
bedingungen vorliegen...‘ formuliert werden müssen, gibt es im Bereich der
Urteile über materielle Gegenstände keine absolut wahren und primären
Prämissen; jede Prämisse ist mit den genannten Bedingungen zu versehen.
Dies hat natürlich zur Folge, dass auch der Schlusssatz – also das, was im
strengen Sinne wissbar ist – mit Bedingungen zu versehen ist. Daher kann
dem Schlusssatz nicht unbedingt zugestimmt werden. Wodeham betont:
„Jede Wahrheit ist bezweifelbar (und zwar in dem Sinne, den ich jetzt meine), denn
wenn sie im Geist festgesetzt wird, wird der Geist nicht auf natürliche Weise ge-
zwungen zuzustimmen, dass es sich so verhält, wie sie bezeichnet.“157
Der Geist wird nicht zu einer Zustimmung gezwungen, da er ja die Prämis-
sen immer anzweifeln kann – es könnte immer sein, dass sie aufgrund des
göttlichen Eingreifens falsch sind. Bemerkenswert an dieser Argumentation
ist, dass Wodeham hier auf die Wahrheit der Prämissen und des Schluss-
satzes abzielt, nicht auf die Gültigkeit des Schließens. Denn natürlich kann
ein Schluss, der von falschen Prämissen ausgeht, formal gültig sein. Doch
Wodeham interessiert sich nicht so sehr für den Syllogismus als ein Ver-
fahren des korrekten Schließens. Ihn beschäftigt vielmehr die Frage, ob
mithilfe eines Syllogismus tatsächlich Wissen gewonnen wird. Und Wissen
gibt es nur, wenn ein wahrer Schlusssatz vorliegt. Daher steht und fällt das
syllogistisch gewonnene Wissen mit der Wahrheit der Prämissen.
Diese Überlegung hat mindestens zwei Konsequenzen. Die erste besteht
in einer Absenkung des epistemischen Anspruchs. Kein Wissen – auch nicht
jenes, das gemäß den strengen Regeln, die für das beweisende Wissen gel-
155
 Natürlich könnte man einwenden, dass durch eine Bedeutungsexplikation durchaus
Wissen gewonnen wird, nämlich Wissen von der genauen Bedeutung eines Ausdrucks. Wo-
deham würde dies sicherlich eingestehen, aber darauf insistieren, dass damit nur sprachliches
Wissen gewonnen wird. In der Auseinandersetzung mit dem Skeptiker geht es jedoch primär
um die Frage, ob ein Wissen von der materiellen Welt möglich ist.
156
 Vgl. Anal. Post. I, 2 (71b21–22).
157
  Lectura, prol., q. 3, § 2 (ed. Wood 1990, 227): „Item, omnis veritas est dubitabilis – ad
sensum in quo modo loquor – qua posita in mente non necessitatur naturaliter mens ad sic
esse assentiendum sicut ipsa significat.“

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11:28

300 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

ten – kann den Status von unanfechtbarem, unbezweifelbarem Wissen haben.


Daher kann es auch kein absolut sicheres Wissensfundament geben, auf dem
jedes weitere Wissen aufbauen könnte.158 Wann immer wir Wissen bezüglich
der materiellen Welt beanspruchen, müssen wir bereit sein, unseren episte-
mischen Anspruch mit Bedingungen zu versehen und gegebenenfalls zu
revidieren. Die zweite Konsequenz betrifft das dialektische Spiel zwischen
Skeptiker und Antiskeptiker. Wenn der Skeptiker fragt, ob wir denn absolut
sicher sein können, dass unsere Urteile über die materielle Welt wahr sind,
muss der Antiskeptiker aus Wodehams Sicht einräumen: Nein, wir können
nicht absolut sicher sein, weil wir die Täuschungshypothese nicht endgültig
widerlegen können. Dies heißt aber nicht, dass wir über kein Wissen ver-
fügen. Für Wodeham gibt es nicht einfach die Alternative zwischen absolut
sicherem Wissen und keinem Wissen, und er strebt auch nicht danach,
einen Bereich von absolut sicherem Wissen zu benennen, um mindestens
einen Teil unseres Wissens gegenüber dem Zweifel zu immunisieren. Er
zielt vielmehr darauf ab, den hypothetischen Charakter jeden Wissens zu
verdeutlichen: Wenn natürliche und normale Erkenntnisbedingungen vor-
liegen, dann können wir etwas wissen. Damit wird natürlich eingeräumt,
dass ein epistemischer Dogmatismus, der den Anspruch auf absolut sicheres
Wissen erhebt, unhaltbar ist. Gleichzeitig wird aber auch ein negativer Dog-
matismus, der Wissen für schlichtweg unmöglich hält, zurückgewiesen. Die
Pointe Wodehams besteht nicht zuletzt darin, dass er eine Alternative zu
diesen beiden Formen von Dogmatismus bietet, indem er aufzeigt, dass es
angesichts des hypothetischen Charakters von Wissen durchaus einen be-
scheidenen Wissensanspruch geben kann.

§ 26 Schlussfolgerungen

Sind Ockham und die Philosophen, die im frühen 14. Jh. an seine Erkennt-
nistheorie anknüpften, als Skeptiker zu bezeichnen? Diese Frage, die in der
Forschungsliteratur kontrovers diskutiert wurde, erweist sich bei näherer
Betrachtung als eine irreführende Frage, die nur irreführende Antworten
provozieren kann. Die Forschungsdebatte, die von Michalski und Gilson
ausgelöst wurde, setzte nämlich einen modernen Begriff von Skeptiker

 Natürlich räumt Wodeham ein, dass es von den eigenen Akten eine sichere Erkenntnis
158

geben kann; vgl. Lectura, prol., q. 2, § 13 (ed. Wood 1990, 58–59). Doch erstens handelt es
sich dabei nicht um ein Wissen im strengen Sinn, sondern um ein inneres Erfassen (Wodeham
insistiert darauf, dass dafür ein distinkter Akt erforderlich ist), und zweitens bietet dieses
Erfassen keine Grundlage für ein Wissen von der Außenwelt. Ebenso wenig wie Ockham ver-
wendet Wodeham die Gewissheit der eigenen Akte als Fundament für alle Erkenntnisakte.
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§ 26 Schlussfolgerungen 301

voraus – einen Begriff, der maßgeblich von der cartesischen Tradition be-
stimmt war. Es wurde angenommen, der Skeptiker sei jemand, der explizit
oder implizit die Position vertritt, es gebe kein absolut sicheres, unbe-
zweifelbares Wissen, vor allem kein derartiges Wissen von materiellen
Gegenständen.159 Mit Blick auf die theologische Allmachtslehre wurde dann
die Frage erörtert, ob Ockham und seine Nachfolger eine übernatürliche
Täuschung ausschließen und dadurch die absolute Gewissheit und Unbe-
zweifelbarkeit unseres Wissens garantieren konnten. Dass es in der ganzen
Wissensdebatte tatsächlich um absolute Gewissheit und vollständige Unbe-
zweifelbarkeit ging, wurde dabei einfach unterstellt.160 Und dass die Debatte
im 14. Jh. primär um das Problem eines möglichen göttlichen Eingreifens
kreiste, wurde ebenfalls ohne nähere Begründung angenommen.
Die Textanalysen in diesem Kapitel zielten darauf ab, diese scheinbar
selbstverständlichen Annahmen infrage zu stellen. Bevor man kritisch
untersucht, ob absolute Gewissheit im Rahmen der Ockhamschen Theorie
möglich ist, muss man grundsätzlich fragen, welchen Wissensbegriff Ock-
ham verwendet und welche epistemischen Standards er bei der Wissens-
zuschreibung anlegt. Wie sich gezeigt hat, handelt es sich nicht um einen
fundamentalistischen und internalistischen Wissensbegriff, wie er aus der
cartesischen Tradition bekannt ist, sondern vielmehr um einen reliabilis-
tischen und externalistischen Begriff. Verkürzt ausgedrückt könnte man
sagen: Über Wissen verfügt jemand, wenn er durch zuverlässige kognitive
Prozesse wahre mentale Sätze bildet und ihnen zustimmt. Diese Prozesse
werden im Normalfall durch Sinneseindrücke von materiellen Gegenständen
ausgelöst und generieren wahre Sätze, die sich genau auf diese Gegenstände
beziehen. Damit eine Person über Wissen verfügt, muss sie nicht zusätzlich
ein höherstufiges Wissen haben, mit dem sie feststellt, dass tatsächlich zu-
verlässige Prozesse vorliegen. Es reicht aus, dass die wahren Sätze durch
zuverlässige Prozesse erworben werden. Es ist auch nicht erforderlich, dass
ausnahmslos wahre Sätze gebildet werden; Irrtümer und Fehler sind immer
möglich. Doch die Existenz einzelner Irrtümer stellt nicht gleich das ganze
Wissen einer Person infrage. Im Gegenteil: Die Rede von Irrtümern ist
nur vor dem Hintergrund prinzipieller Korrektheit und damit auch eines

159
 So beginnt Kennedy 1983, 35, eine längere Abhandlung zum Skeptizismus-Problem mit
der Aussage: „It is well known that, in the second quarter of the fourteenth century, there
was a great distrust of the ability of philosophy to arrive at certainty on the most important
matters.“ Wie selbstverständlich geht Kennedy davon aus, dass die Gewissheit, um die es hier
geht, absolute Gewissheit ist, die eine unbezweifelbare Grundlage haben sollte.
160
 Eine Ausnahme stellt Adams 1987, 594–601, dar, die betont, dass Ockham die hohen
epistemischen Standards, die von den akademischen Skeptikern gesetzt wurden, nicht akzep-
tiert. Rekonstruiert man seine Theorie, muss man zuallererst analysieren, wie er seine eigenen
Standards bestimmt.
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302 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

prinzipiell korrekten Erwerbs von wahren Sätzen sinnvoll. Lokale Irrtümer


stellen keine fundamentale Bedrohung dar, da sie auch lokal korrigiert wer-
den können. Wenn nämlich einzelne Sätze in Relation zu anderen Sätzen
betrachtet und auf ihre Vernetzung hin geprüft werden, zeigt sich, wo keine
Kohärenz besteht. Genau an diesen Stellen lässt sich ein Irrtum korrigieren.
Kohärenz ist somit das entscheidende Kriterium zur Prüfung der Wahrheit
von Sätzen und damit auch des Wissens einer Person.
Versteht man Ockhams Erklärungsansatz in dieser Perspektive, ver-
ändern sich die Fragestellungen, die an seine Texte herangetragen werden,
in grundlegender Weise. Dann wird deutlich, dass es gar nicht darum geht,
eine Garantie oder gar eine Letztbegründung für absolute Gewissheit und
Unbezweifelbarkeit zu suchen. Wichtig ist vielmehr, genau zu untersuchen,
wie Ockham die kognitiven Prozesse erklärt und worin er den Grund
für die prinzipielle Zuverlässigkeit und Korrektheit dieser Prozesse sieht.
Zudem zeigt sich dann, dass der mögliche Eingriff Gottes in kognitive Pro-
zesse zwar sicherlich ein Problem darstellt, aber sicherlich nicht das einzige
und wohl auch nicht das wichtigste. Zentral ist vielmehr die Frage, wie
überhaupt auf natürlichem Weg zuverlässige Prozesse entstehen können
und welche kognitive Leistung eine Person vollbringen muss, damit sie
Wissen erlangt. Wie sich herausgestellt hat, misst Ockham dabei der sprach-
lichen Verarbeitung sinnlicher Inputs eine entscheidende Funktion bei. Ob
und wie auf übernatürliche Weise die Bildung wahrer mentaler Sätze beein-
trächtigt werden kann, ist eine nachgeordnete Frage. Und selbst wenn eine
Beeinträchtigung stattfindet, stellt sie nicht gleich alle kognitiven Prozesse
infrage. Es gilt ja der Grundsatz, dass einzelne Irrtümer – seien sie auch
durch göttliches Eingreifen verursacht – nicht gleich alles Wissen zunichte
machen.
Es hat sich auch gezeigt, dass im Rahmen der Ockhamschen Theorie
nicht nur das Problem des möglichen göttlichen Eingreifens, sondern auch
das Problem der Sinnestäuschungen einer besonderen Analyse bedarf.
Wenn Sinnestäuschungen auch selten auftreten, verdeutlichen sie doch in
aller Klarheit, dass es unter besonderen Bedingungen zur Bildung falscher
Sätze über materielle Gegenstände kommen kann. Prozesse, die im Prinzip
zuverlässig funktionieren und wahre Sätze generieren, bringen nicht immer
wahre Sätze hervor. Nur eine Theorie, die dieser Tatsache Rechnung trägt
und die Genese der falschen Sätze erklärt, kann auf überzeugende Weise
an der Grundthese festhalten, dass unsere kognitiven Prozesse im Prinzip
zuverlässig funktionieren und wahre Sätze liefern. Oder überspitzt aus-
gedrückt: Nur wenn das Problem der Falschheit berücksichtigt wird, kann
auch Wahrheit adäquat erklärt werden. Es ist daher nicht erstaunlich, dass
nicht nur Ockham, sondern auch Chatton, Mayronis, Wodeham und viele
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§ 26 Schlussfolgerungen 303

andere Autoren des 14. Jhs. eingehend das Problem der Sinnestäuschungen
erörterten. Entscheidend ist dabei, dass sie in ihren Lösungsversuchen
nicht die Annahme prinzipiell korrekter Prozesse infrage stellten, sondern
den genauen Grund für die Bildung einzelner falscher Sätze zu bestim-
men versuchten. Dieser Grund ist ihrer Meinung nach in den besonderen
Wahrnehmungsbedingungen zu suchen, nicht etwa in der Existenz „er-
scheinender Gegenstände“ oder in einer trügerischen Funktion der Sinne.
Damit verdeutlichten sie natürlich einmal mehr ihren reliabilistischen
Erklärungsansatz: Es geht nicht darum, infallible Prozesse zu erklären,
sondern Prozesse, die im Prinzip korrekt funktionieren, aber unter be-
sonderen, genau zu bestimmenden Bedingungen auch falsche Sätze her-
vorbringen können.
Allerdings ist damit das Täuschungsproblem noch nicht aus dem Weg
geräumt. Von einem modernen Standpunkt aus könnte man sogleich
folgenden Einwand gegen das gesamte reliabilistische Projekt erheben: Es
mag wohl sein, dass wir auf natürlichem Weg im Prinzip wahre Sätze über
die materielle Welt bilden und dadurch ein Wissen gewinnen. Da Gott aber
stets eingreifen kann und da wir die natürliche Situation nicht von der über-
natürlichen unterscheiden können, bleiben alle unsere Sätze einem Zweifel
ausgesetzt – alle Sätze über die Außenwelt könnten sich als falsch erweisen.
Dies gilt umso mehr, als es Ockham zufolge ja keine inneren Merkmale gibt,
die anzeigen, ob unsere Sätze wahr sind oder nicht.
Wie sich in diesem Kapitel gezeigt hat, war sich Ockham dieses Einwan-
des wohl bewusst und versuchte ihn zu entkräften. Ganz im Gegensatz zu
Thomas von Aquin ging er aber nicht von der These aus, selbst Gott könne
die Identität zwischen der Form eines Gegenstandes im Intellekt und außer-
halb des Intellekts nicht zerstören. Da es im Rahmen seiner Individualonto-
logie keine universalen Formen gibt, kann es auch keine formale Identität
zwischen den verschiedenen Instantiierungen einer Form geben. Ockham
zufolge kann es nur Akte der intuitiven Erkenntnis geben, die „absolute
Entitäten“ sind und somit von den materiellen Gegenständen distinkt sind.
Doch diese Akte bilden (zumindest gemäß Ockhams früher Theorie) die
Grundlage für wahre Sätze: Wenn Gott eingreift und einen Akt der intui-
tiven Erkenntnis aufrechterhält, der einen nicht mehr existierenden Gegen-
stand präsentiert, wird korrekt geurteilt, dass der Gegenstand nicht exis-
tiert. Die Anwendung der Allmachtshypothese hat somit nicht zur Folge,
dass die reliabilistische Theorie fallen gelassen wird. Sie wird vielmehr er-
weitert. Denn wie es im Falle des natürlichen Erwerbs intuitiver Erkenntnis
zuverlässige Prozesse gibt, die garantieren, dass prinzipiell korrekte Urteile
gebildet werden, gibt es auch im Falle des übernatürlichen Erwerbs ähnliche
zuverlässige Prozesse, die bewirken, dass über nicht existierende Gegen-
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304 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

stände korrekt geurteilt wird. Ockham dehnt gleichsam den Reliabilismus


von der natürlichen auf die übernatürliche Ebene aus.
Dies ist freilich nur teilweise eine befriedigende Erklärung, wie Ock-
ham selber in seinen Quodlibeta festgestellt hat und wie seine unmittel-
baren Nachfolger bemerkt haben. Warum sollte eine intuitive Erkenntnis,
die mir einen Gegenstand in aller Klarheit und mit allen Details präsentiert,
plötzlich ein negatives Existenzurteil bewirken, nur weil sie von Gott her-
vorgebracht wird? Und warum sollte Gott darauf beschränkt sein, nur
eine korrekte Erkenntnis zu verursachen? Es sind vor allem diese Fragen,
die Chatton, Mayronis und Wodeham dazu gebracht haben, Ockhams Er-
klärung zu kritisieren. Chatton insistierte darauf, dass es durchaus zu einer
intuitiven Erkenntnis kommen kann, mit der ein nicht existierender Gegen-
stand als existierend präsentiert wird. Und Wodeham wies darauf hin, dass
die Bildung falscher Urteile nie vollkommen ausgeschlossen werden kann.
Intuitive Erkenntnis ist nicht derart evident, dass sie immer und ausnahms-
los wahre Urteile generiert. Allerdings zog kein Autor die Konsequenz,
die intuitive Erkenntnis sei daher eine unzuverlässige Basis für den Erwerb
wahrer Urteile. Und keiner vertrat die Meinung, eine Analyse der intuitiven
Erkenntnis könne nicht mehr der Ausgangspunkt für eine Erklärung von
Wissen sein. Warum nicht? Verschiedene Gründe können angeführt wer-
den.
Ein erster Grund liegt in der bereits erläuterten Grundthese, dass ein
punktueller Irrtum nicht die Möglichkeit von Wissen infrage stellt, sondern
im Gegenteil diese Möglichkeit gerade voraussetzt. Denn nur vor dem Hin-
tergrund epistemischen Erfolgs ergibt die Rede von einem Misserfolg über-
haupt einen Sinn. Oder konkreter ausgedrückt: Nur wenn ich in der Lage
bin, Bäume und andere Dinge prinzipiell korrekt zu erkennen, kann Gott
eingreifen und mich jetzt zu dem falschen Urteil verleiten, dass Bäume vor
mir stehen, obwohl keine präsent sind. Die Rede von einem falschen Ur-
teil wäre unverständlich, wenn es nicht auch wahre Urteile gäbe. Natürlich
kann es dann geschehen, dass ich nicht feststelle, wann ich ein falsches Ur-
teil bilde, und mich irre. Aber dies ist nicht dramatischer als im Fall der
Sinnestäuschungen. Denn genau wie es geschehen kann, dass ich etwa den
Satz ‚Hier liegt ein gebrochener Stab‘ bilde, obwohl kein gebrochener Stab
präsent ist, kann ich aufgrund des göttlichen Eingreifens vielleicht auch den
Satz ‚Hier steht ein Baum‘ bilden, obwohl kein Baum vorhanden ist. Doch
dies ist nicht mehr als ein punktueller Irrtum.
Nun könnte man sogleich einwenden, dass damit das Problem nicht
gelöst, sondern im Gegenteil verschärft wird. Denn wenn ich nicht auf-
grund innerer Merkmale (etwa Klarheit und Deutlichkeit) bestimmen kann,
wann eine intuitive Erkenntnis korrekt ist und wann nicht, kann ich die
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§ 26 Schlussfolgerungen 305

Einzelfälle, in denen ich falsche Sätze bilde, nicht von den anderen Sätzen
unterscheiden. Somit bleiben alle Sätze einem Zweifel ausgesetzt.
Keiner der hier diskutierten Autoren zieht diesen Schluss, denn keiner
geht von der starken cartesischen Annahme aus, man müsse mit letzter
Sicherheit wissen können, welcher Satz wahr ist und welcher nicht. Wie sich
herausgestellt hat, räumt Chatton freimütig ein, dass „wir keine Gewissheit
haben“, dass Gott nicht eingreift und einen Akt verursacht, „mit dem wir
urteilen, dass es sich der Sache nach anders verhält“.161 Wodeham gibt sogar
unumwunden zu, dass „alles Wissbare bezweifelbar ist.“162 Damit geben
diese Autoren aber nicht jeden Erkenntnisanspruch preis. Sie weisen nur
darauf hin, dass es unangemessen ist, so etwas wie eine absolute Garantie
für unser Wissen zu fordern. Wir können unser Wissen höchstens auf ar-
gumentative Weise prüfen, wie Chatton feststellt, etwa indem wir auf die
Kohärenz achten und einzelne Sätze bzw. Urteile in einen Kontext stellen.
Bildlich ausgedrückt könnte man sagen: Wir können nur prüfen, ob wir über
ein stabiles epistemisches Netz verfügen, das wir nicht gleich wegwerfen
müssen, nur weil wir es nicht auf einem absolut sicheren Boden verankern
können und weil an einzelnen Stellen Undichtigkeiten auftauchen mögen.
Mehr als ein solches Netz dürfen wir ohnehin nicht erwarten.
Es gibt indessen noch einen weiteren Grund, der die hier vorgestellten
Philosophen dazu gebracht hat, trotz der Allmachtshypothese keinen radi-
kalen Zweifel zu formulieren. Bei dieser Hypothese handelt es sich nämlich
um eine allgemeine Hypothese, die nicht nur die Erkenntnisprozesse,
sondern alle natürlichen Prozesse betrifft. Für alle Prozesse gilt, dass sie
einen kontingenten Charakter haben – alles könnte aufgrund des göttlichen
Eingreifens auch anders sein, als es ist. A. Maier hat in einer Pionierstudie
bereits auf diesen Punkt aufmerksam gemacht:
„Dass Gott, ebenso wie er Wunder tun und die Naturordnung durchbrechen kann,
auch in übernatürlicher Weise in unsern Erkenntnisprozess eingreifen und in uns,
wenn er es für gut findet, einen Irrtum hervorrufen kann, galt im Grund allen für
selbstverständlich. In diesem Sinn, aber auch nur in diesem, weist die Philosophie
des 14. Jhs. in der Tat ‚skeptische‘ Tendenzen auf.“163

Wenn es nur in diesem Sinn skeptische Tendenzen gibt, stellt die Frage
„Kann ich sicher sein, dass meine intuitive Erkenntnis korrekt ist?“ keine
besondere Bedrohung dar. Ebenso gut kann man ja Fragen wie „Kann ich
sicher sein, dass Steine weiterhin nach unten fallen?“ oder „Kann ich sicher
sein, dass morgen die Sonne aufgeht?“ stellen. Auf alle diese Fragen lautet

161
  Vgl. Anm. 113.
162
  Vgl. Anm. 151.
163
 Maier 1967, 418.
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306 Zweifel an der intuitiven Erkenntnis

die Antwort: Ich kann nie absolut sicher sein, weil es keine absolut notwen-
dige Ordnung gibt. Doch diese Antwort hat nicht zur Folge, dass nun alle
Erkenntnisansprüche hinfällig werden. Sie macht nur darauf aufmerksam,
dass in einer kontingenten Welt alles einen konditionalen Charakter hat:
Wenn die natürliche Ordnung weiterhin besteht, dann gibt es auch weiterhin
natürliche, durch Gesetze geregelte Vorgänge, darunter auch die natürlichen
kognitiven Prozesse, die korrekte Erkenntnis liefern. Es wäre aber abwegig,
in einer kontingenten Welt eine Garantie für eine absolute Gewissheit der
Erkenntnis zu fordern.
Schließlich liegt ein dritter Grund dafür, dass die Allmachtshypothese
nicht als Ausgangspunkt für ein radikales skeptisches Szenario verwendet
wurde, im Aristotelismus, der den umfassenden theoretischen Rahmen für
die Debatten über die Möglichkeit von Wissen bildete. Die hier diskutierten
Autoren gingen ausnahmslos von der aristotelischen These aus, dass es in
der Welt Substanzen gibt, die sich aus Form und Materie zusammensetzen,
und dass diese Substanzen wahrnehmbare Eigenschaften aufweisen, die
uns im Prinzip zugänglich sind.164 Ebenso selbstverständlich war für sie die
These, dass wir Menschen mit einem kognitiven Apparat ausgestattet sind,
der wahrnehmbare Eigenschaften aufnehmen, zu Vorstellungsbildern verar-
beiten und auf dieser Grundlage Wissen erwerben kann. Die entscheidende
Frage war nicht, ob wir tatsächlich einen kognitiven Zugang zu Gegenstän-
den in der Welt haben, sondern vielmehr, wie dieser Zugang konkret mög-
lich ist und welche kognitiven Vermögen wir dafür benötigen. Angesichts
dieses aristotelischen Erkenntnisoptimismus konnte der Verweis auf die
Allmachtshypothese höchstens das Vertrauen in einige Erkenntnisakte er-
schüttern, aber nicht gleich in alle, denn auch die Erwägung einer göttlichen
Manipulation stellte die prinzipielle Funktionsfähigkeit der kognitiven Ver-
mögen nicht infrage. In diesem Punkt zeigt sich ein radikaler Unterschied
zu Descartes, der gut dreihundert Jahre später den hyperbolischen Zweifel
konstruierte, um grundlegend das Vertrauen in die kognitiven Vermögen
zu erschüttern. Folglich konnte er den Zweifel nur überwinden, indem er
einen Garanten für die Zuverlässigkeit dieser Vermögen einführte: Gott.
Die Autoren des 14. Jhs. hingegen gingen von vornherein davon aus, dass

164
 Neben diesen metaphysischen Grundthesen akzeptierten sie auch physikalische, z. B.
dass die natürlichen Substanzen sich im Raum bewegen und aufeinander einwirken. Wie Ber-
múdez 2000, 352–353, verdeutlicht, ermöglichte erst die Überwindung des metaphysischen
und physikalischen Rahmens einen radikalen cartesischen Skeptizismus. Denn erst wenn
infrage gestellt wird, dass es natürliche Substanzen gibt, die aufgrund natürlicher kausaler
Kräfte auf andere Substanzen – darunter auch auf wahrnehmungsfähige Menschen – ein-
wirken, kann die Relation zwischen der „inneren Welt“ einer wahrnehmenden Person und
einer „äußeren Welt“ der materiellen Gegenstände radikal (und nicht bloß für Einzelfälle)
bezweifelt werden.
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§ 26 Schlussfolgerungen 307

die Zuverlässigkeit der kognitiven Vermögen im Prinzip gegeben ist. Daher


fühlten sie sich weder genötigt, im Rahmen ihrer erkenntnistheoretischen
Untersuchungen die Existenz Gottes als Garanten für diese Zuverlässig-
keit zu beweisen, noch sahen sie sich gezwungen, im Detail nachzuweisen,
dass wir uns mit unseren kognitiven Vermögen auf materielle Gegenstände
beziehen können. Dass wir uns im Prinzip auf eine materielle Welt beziehen
können, stand für alle Aristoteliker fest.
Freilich war der Aristotelismus auch im 14. Jh. keine unangefochtene
Lehre. Nikolaus von Autrécourt, der nur eine knappe Generation jünger
war als Ockham, lehnte zentrale Thesen der aristotelischen Metaphysik und
Erkenntnistheorie ab, ja er sah sich als „Freund der Wahrheit“, der gegen die
dogmatischen Aristoteliker antrat und die Unhaltbarkeit ihrer Annahmen
zu zeigen versuchte.165 Es gilt daher zu untersuchen, welche skeptischen
Probleme auftauchen, wenn der aristotelische Rahmen infrage gestellt wird.

165
 An einer berühmten Stelle im Traktat Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 181, Z. 22–25)
vergleicht er sich mit einem Trompeter, der die Schlafenden (sprich: die Aristoteliker) wach
rüttelt, von diesen aber beschimpft und attackiert wird.
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IV
ZWEIFEL AM DEMONSTRATIVEN WISSEN
(Nikolaus von Autrécourt und
Johannes Buridan)

§ 27 Skeptizismus oder Dogmatismus?

Kaum ein mittelalterlicher Autor hat in den Forschungen zum Skepti-


zismus so viel Beachtung gefunden wie Nikolaus von Autrécourt, der in
den dreißiger Jahren des 14. Jhs. an der Pariser Universität unterrichtete,
jedoch bereits 1340 wegen angeblich häretischer Lehren an den Hof des
Papstes nach Avignon zitiert und 1346 verurteilt wurde; 1347 wurden
seine Schriften öffentlich verbrannt.1 Nicht nur seinen Zeitgenossen galt
er als ein unbequemer Denker, der traditionelle Wissensansprüche radikal
infrage stellte. Auch in der modernen Forschung wurde er lange Zeit als
skeptischer Autor und Außenseiter im scholastischen Lehrbetrieb wahr-
genommen. So wurde er als „Hume des Mittelalters“ oder als „Zerstörer
und Skeptiker“ bezeichnet und explizit mit anti-aristotelischen Skeptikern
der Moderne verglichen. 2 Dies ist nicht erstaunlich. Betrachtet man näm-
lich die verurteilten Artikel, findet man unter ihnen folgende Thesen, die
Nikolaus angeblich vertreten hat:3
– Aus der Tatsache, dass ein Ding existiert, kann nicht mit Evidenz abge-
leitet werden, dass ein anderes Ding existiert (Art. 6).
– Aus der Tatsache, dass ein Ding existiert, kann nicht mit Evidenz abge-
leitet werden, dass ein anderes Ding nicht existiert (Art. 7).
– Wir haben keine Gewissheit von einer Substanz, die von unserer Seele
verschieden ist (Art. 12).
– Wir wissen nicht mit Evidenz, dass eine andere Sache als Gott die Ur-
sache für irgendeine Wirkung sein kann (Art. 15).
1
 Vgl. zur Biographie die detaillierte Studie von Kaluza 1995; zum Prozess siehe auch
Thijssen 1998, 73–82.
2
 Vgl. Rashdall 1906/07 für den Vergleich mit Hume, neuerdings auch Kenny 2005, 97.
Moody 1971, 277, verwendet das Etikett „Zerstörer“. In der neueren Forschung spricht
­Schabel 1998, 395, von „radically sceptical aspects of Autrecourt’s thought.“ Auch Krieger
2003, 11 und 115–120, sieht in Nikolaus den Vertreter eines Skeptizismus, gegen den sich Bu-
ridan wendet.
3
 Vgl. Correspondence, Appendix B (ed. de Rijk 1994, 170–182). Da einige dieser Thesen,
die Nikolaus zugeschrieben wurden, aus nicht überlieferten Schriften stammen, lässt sich
nicht mit Gewissheit sagen, ob er sie tatsächlich vertreten hat.

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IV
ZWEIFEL AM DEMONSTRATIVEN WISSEN
(Nikolaus von Autrécourt und
Johannes Buridan)

§ 27 Skeptizismus oder Dogmatismus?

Kaum ein mittelalterlicher Autor hat in den Forschungen zum Skepti-


zismus so viel Beachtung gefunden wie Nikolaus von Autrécourt, der in
den dreißiger Jahren des 14. Jhs. an der Pariser Universität unterrichtete,
jedoch bereits 1340 wegen angeblich häretischer Lehren an den Hof des
Papstes nach Avignon zitiert und 1346 verurteilt wurde; 1347 wurden
seine Schriften öffentlich verbrannt.1 Nicht nur seinen Zeitgenossen galt
er als ein unbequemer Denker, der traditionelle Wissensansprüche radikal
infrage stellte. Auch in der modernen Forschung wurde er lange Zeit als
skeptischer Autor und Außenseiter im scholastischen Lehrbetrieb wahr-
genommen. So wurde er als „Hume des Mittelalters“ oder als „Zerstörer
und Skeptiker“ bezeichnet und explizit mit anti-aristotelischen Skeptikern
der Moderne verglichen. 2 Dies ist nicht erstaunlich. Betrachtet man näm-
lich die verurteilten Artikel, findet man unter ihnen folgende Thesen, die
Nikolaus angeblich vertreten hat:3
– Aus der Tatsache, dass ein Ding existiert, kann nicht mit Evidenz abge-
leitet werden, dass ein anderes Ding existiert (Art. 6).
– Aus der Tatsache, dass ein Ding existiert, kann nicht mit Evidenz abge-
leitet werden, dass ein anderes Ding nicht existiert (Art. 7).
– Wir haben keine Gewissheit von einer Substanz, die von unserer Seele
verschieden ist (Art. 12).
– Wir wissen nicht mit Evidenz, dass eine andere Sache als Gott die Ur-
sache für irgendeine Wirkung sein kann (Art. 15).
1
 Vgl. zur Biographie die detaillierte Studie von Kaluza 1995; zum Prozess siehe auch
Thijssen 1998, 73–82.
2
 Vgl. Rashdall 1906/07 für den Vergleich mit Hume, neuerdings auch Kenny 2005, 97.
Moody 1971, 277, verwendet das Etikett „Zerstörer“. In der neueren Forschung spricht
­Schabel 1998, 395, von „radically sceptical aspects of Autrecourt’s thought.“ Auch Krieger
2003, 11 und 115–120, sieht in Nikolaus den Vertreter eines Skeptizismus, gegen den sich Bu-
ridan wendet.
3
 Vgl. Correspondence, Appendix B (ed. de Rijk 1994, 170–182). Da einige dieser Thesen,
die Nikolaus zugeschrieben wurden, aus nicht überlieferten Schriften stammen, lässt sich
nicht mit Gewissheit sagen, ob er sie tatsächlich vertreten hat.
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310 Zweifel am demonstrativen Wissen

– Wir wissen nicht mit Evidenz, dass es eine natürliche Wirkursache gibt
oder geben kann (Art. 17).
– Wenn ein Brot vorgezeigt wird, kann nicht mit Evidenz gezeigt werden,
dass dort irgendein Ding ist, das nicht ein Akzidens ist (Art. 30).
– Es kann nicht mit Evidenz gezeigt werden, dass all das, was erscheint,
wahr ist (Art. 34).
Diese Thesen enthalten alle Aussagen, die man von einem modern
anmutenden Skeptiker erwartet: Es gibt kein inferentielles Wissen, kein
Wissen von Kausalvermögen oder Kausalrelationen, kein Wissen von einer
anderen Substanz außer der eigenen Seele, ja es gibt überhaupt kein Wissen
auf der Grundlage von bloßen Erscheinungen. Denn die bloße Tatsache,
dass uns etwas erscheint, beweist noch lange nicht, dass es auch so ist. Die
Welt könnte in Tat und Wahrheit ganz anders sein, als sie uns erscheint.
Vor allem aber berechtigen uns die Erscheinungen nicht dazu, eine Fülle
von Aussagen über die Struktur der materiellen Welt und über die Gegen-
stände in dieser Welt zu treffen, wie dies die Aristoteliker tun. So dürfen
wir nicht behaupten, dass es materielle Substanzen gibt, dass sie sich aus
Form und Materie zusammensetzen, dass sie kausale Vermögen haben
und dass sie auf natürliche Weise bestimmte Wirkungen hervorbringen.
All dies entzieht sich einem Wissen, für das wir Evidenz beanspruchen
könnten.
Verstärkt wird diese scheinbar eindeutig skeptische Haltung durch
polemische anti-aristotelische Äußerungen. Nikolaus behauptet, Aris-
toteles habe „keine evidente Kenntnis von einer anderen Substanz als
der eigenen Seele gehabt“, ja er habe „in seiner ganzen Naturphilosophie
und theoretischen Philosophie kaum eine solche Gewissheit von zwei
Schlussfolgerungen gehabt, vielleicht nicht einmal von einer einzigen.“4
Wer Aristoteles folgt und meint, er könne mithilfe einer syllogistischen
Methode ein demonstratives Wissen gewinnen, irrt sich. In einem Rund-
umschlag will Nikolaus das gesamte aristotelische System, das auf der
Grundlage gewagter metaphysischer und epistemologischer Annahmen
Wissensansprüche erhebt, beseitigen. Denn dieses System führt ins Leere.
„Es ist sehr erstaunlich“, stellt Nikolaus anklagend fest, „dass einige
Leute Aristoteles und den Kommentator [sc. Averroes] bis ins hohe Alter
studieren und wegen deren logischen Untersuchungen die moralischen
Angelegenheiten und die Sorge um das Gemeinwohl vernachlässigen.“5
4
  Correspondence II.22–23 (ed. de Rijk 1994, 72): „... numquam Aristotiles habuit notitiam
evidentem de aliqua substantia alia ab anima sua [...]. Aristotiles in tota philosophia sua
naturali et theorica vix habuit talem certitudinem de duabus conclusionibus, et fortasse nec
de una ...“
5
  Correspondence, Appendix A,13.2 (ed. de Rijk 1994, 154): „... multum mira<ba>tur quod
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§ 27 Skeptizismus oder Dogmatismus? 311

Das Studium aristotelischer Schriften, das angeblich eine Einsicht in die


Struktur und Begründbarkeit von Wissen liefern soll, ist reine Zeitver-
schwendung.
Angesichts dieser drastischen Aussagen ist es kaum erstaunlich, dass
Nikolaus von Autrécourt lange Zeit als ein radikaler Skeptiker betrachtet
wurde, genauer gesagt: als ein Denker, der die aristotelische Legitimierung
von Wissensansprüchen infrage stellt und damit einer epistemologischen
Theorie gleichsam die Grundlage entzieht. Betrachtet man seine Schriften
jedoch genauer, zeigt sich, dass diese Charakterisierung kaum haltbar ist.
Nikolaus bestreitet nämlich nicht die Möglichkeit von Wissen schlecht-
hin. Er setzt skeptische Argumente vielmehr ein, um eine bestimmte Form
der Begründung und Erklärung von Wissen – nämlich die aristotelische
Form – zurückzuweisen. Doch damit wird nicht jeder Wissensanspruch ob-
solet. Im Gegenteil: Nikolaus erhebt ausdrücklich einen solchen Anspruch,
indem er betont: „... in Disputationen in der Aula der Sorbonne habe ich die
These vertreten, dass ich mir der Objekte der fünf Sinne und meiner Akte
mit Evidenz gewiss bin.“6 Zudem hält er fest, dass das Prinzip der Wider-
spruchsfreiheit absolut gewiss ist und dass sich jede Gewissheit auf dieses
Prinzip zurückführen lässt, ja dass Wissen auf der Gewissheit dieses Prin-
zips beruht.7 Offensichtlich gibt es für Nikolaus durchaus Wissen, sogar evi-
dentes Wissen, das auf drei Säulen der Gewissheit beruht: (1) die Gewissheit
der sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände, (2) die Gewissheit der eigenen
mentalen Akte, (3) die Gewissheit des Prinzips der Widerspruchsfreiheit.
Berücksichtigt man diese drei Säulen der Gewissheit, verändert sich
das Bild, das man von Nikolaus gewinnt. Er erscheint dann nicht mehr als
radikaler Skeptiker, sondern als epistemologischer Fundamentalist, der be-
hauptet, dass es eine absolut sichere Grundlage für unser Wissen gibt und
dass alle Wissensansprüche auf diese Grundlage gestellt werden müssen.
Die Aufgabe einer angemessenen Erkenntnis- und Wissenstheorie besteht
dann darin, genau zu zeigen, wie das gesamte Wissen auf dieser Grundlage
beruht und dadurch gerechtfertigt werden kann. Ist diese Aufgabe erfüllt,
lässt sich auch nachweisen, warum eine aristotelische Theorie, die diese

aliqui student in Aristotile et Commentatore usque ad etatem decrepitam, et propter eorum


sermones logicos deserant res morales et curam boni communis ...“ Vgl. auch Exigit ordo (ed.
O’Donnell 1939, 181, Z. 12–17). Da die Edition unübersichtlich gegliedert ist, wird immer auf
die Zeilen auf der jeweiligen Seite verwiesen.
6
  Correspondence I.15 (ed. de Rijk 1994, 56): „... sustinui in aula Sorbone in disputationibus
quod sum certus evidenter de obiectis quinque sensuum et de actibus meis.“
7
  Correspondence II.2–3 (ed. de Rijk 1994, 58): „Et primum quod occurrit in ordine
dicendorum, est istud principium: ,Contradictoria non possunt simul esse vera‘. [...] Omnis
certitudo a nobis habita resolvitur in istud principium.“ Diese Aussagen werden auch als Art.
11 unter den verurteilten Thesen aufgeführt; vgl. Appendix B (ed. de Rijk 1994, 172).
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312 Zweifel am demonstrativen Wissen

Grundlage nicht angemessen berücksichtigt oder darüber hinausgehende


Wissensansprüche erhebt, scheitert.
Allerdings erweckt die Berufung auf eine absolut sichere Grundlage den
Eindruck, als wähle Nikolaus einfach einen fundamentalistischen Dogma-
tismus als Ausweg aus dem Skeptizismus. Er behauptet ja einfach, er sei
sich der Objekte der fünf Sinne, seiner eigenen Akte und des Prinzips der
Widerspruchsfreiheit gewiss. Doch was berechtigt ihn zu dieser Behaup-
tung? Wie kann er den Rekurs auf diese Arten der Gewissheit begründen
oder zumindest plausibel machen? Welche Wissensansprüche kann er noch
erheben, wenn das ganze Wissen auf diesen Fundamenten beruhen soll?
Und wie verträgt sich die These, dass es ein Wissen auf sicherer Grundlage
gibt, mit der bereits zitierten Behauptung, von natürlichen Ursachen könne
es kein Wissen geben? Warum ist kausales Wissen unmöglich? Bereits Jo-
hannes Buridan, Nikolaus’ Zeitgenosse und Kollege an der Pariser Uni-
versität, warf diese Fragen auf und setzte sich kritisch mit dessen Wissens-
theorie auseinander. Als Verteidiger des aristotelischen Erklärungsansatzes
versuchte Buridan zu zeigen, dass wir keineswegs in eine skeptische Sack-
gasse geraten, wenn wir uns auf methodologische Prinzipien des Aristoteles
festlegen. Ebenso versuchte er nachzuweisen, dass Wissen möglich ist,
das nicht unmittelbar auf den drei Säulen der Gewissheit beruht, sondern
durch Induktion gewonnen wird. Ja, Buridan hielt sogar ein Wissen von
Kausalrelationen für sicher und unproblematisch. Lapidar stellte er zu Be-
ginn seiner Analyse des Kausalitätsproblems fest, er setze voraus, „dass wir
von etwas – sogar von einer Wirkung – ein vollkommenes Wissen haben
können...“8 Angesichts dieser Kritik soll im Folgenden nicht nur Nikolaus’
Anti-Aristotelismus, sondern auch Buridans Verteidigung des Aristote-
lismus, insbesondere seine Verteidigung einer Theorie des demonstrativen
Wissens, analysiert werden. Nur wenn beide Seiten in der Auseinanderset-
zung berücksichtigt werden, zeigt sich, wo die Innovationen, aber auch die
„blinden Flecke“ der beiden Positionen bestehen. Und nur dann wird auch
deutlich, wie leistungsfähig eine Wissenstheorie ist, die das gesamte Wissen
auf ein absolut sicheres Fundament stellen will.
In der Beschäftigung mit Nikolaus von Autrécourt und Johannes Buri-
dan sind allerdings von Anfang an verschiedene Punkte zu beachten, wenn
Verzerrungen und einseitige Darstellungen vermieden werden sollen. Ein
erster Punkt betrifft die Textgrundlage. Die meisten Studien haben sich auf

8
  In Phys. I, q. 5 (ed. Paris 1509, f. 6vb): „Ista quaestio unum supponit et aliud querit, sup-
ponit enim quod de aliquo immo de aliquo effectu possumus habere perfectam scientiam...“
Für Buridan steht nicht zur Debatte, ob wir ein Wissen haben können, sondern wie – durch
welche Kenntnis von einzelnen Kausalrelationen und durch welche induktiven Schlüsse – wir
ein Wissen erwerben können.
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§ 27 Skeptizismus oder Dogmatismus? 313

Nikolaus’ Briefe, die wahrscheinlich 1335–1336 entstanden sind, und auf


die 1346 verurteilten Artikel gestützt.9 In diesen knappen, teilweise sogar
schroff formulierten Texten finden sich vornehmlich die Kritik an zeitge-
nössischen Theorien und die Diskussion des Prinzips der Widerspruchsfrei-
heit. Beschränkt man sich auf diese Texte des Pariser Magisters, erfasst man
allerdings nur den destruktiven Teil seiner Erkenntnis- und Wissenstheorie.
Es ist dann nicht erstaunlich, dass Nikolaus als ein radikaler Skeptiker er-
scheint. Mindestens so wichtig ist aber der häufig vernachlässigte Traktat
Exigit ordo, in dem Nikolaus den konstruktiven Teil seiner Theorie dar-
stellt.10 Er erläutert dort, wie auf sicherer Grundlage Wissen möglich ist,
geht aber auch auf die Frage ein, welche anderen epistemischen Formen
es noch gibt. Wie die minutiösen Untersuchungen von Z. Kaluza gezeigt
haben, ist dieser Traktat, der neben erkenntnistheoretischen Analysen auch
eine ausführliche Darstellung und Verteidigung des Atomismus enthält,
sehr wahrscheinlich bereits vor den Briefen entstanden und stellt den Hin-
tergrund für die Auseinandersetzung zwischen Nikolaus und Bernhard
dar.11 Daher muss diesem Traktat eine mindestens so große Bedeutung wie
den Briefen beigemessen werden. Vor allem verdient er hinsichtlich seiner
Ausführungen zum Problem der Rechtfertigung von Wissensansprüchen
besondere Beachtung. Er verdeutlicht nämlich, dass Nikolaus gleichzeitig
zwei Ziele verfolgt: eine Kritik an der aristotelischen Wissenstheorie und
die Erarbeitung eines Gegenmodells, das die Möglichkeit von Wissen auf
gewisser, unanfechtbarer Grundlage nachweist.
Ein zweiter Punkt betrifft die Einordnung Nikolaus’ in den historischen
Kontext. In der älteren Forschung ist immer wieder versucht worden, die
Kontroversen rund um die angeblich anti-ockhamistischen Statuten, die
1339 und 1340 an der Pariser Universität erlassen wurden, als den Bezugs-
9
 Nikolaus hat insgesamt neun Briefe verfasst, die an Bernhard von Arezzo gerichtet waren.
Von diesen sind aber nur die ersten beiden überliefert. Zudem ist ein Brief eines Magisters
Aegidus, der auf die Korrespondenz zwischen Nikolaus und Bernhard reagierte, sowie Ni-
kolaus’ Antwort auf diesen Brief erhalten. Eine Liste sämtlicher bekannter und überlieferter
Werke des Nikolaus bietet der Herausgeber in der Einleitung zu Correspondence (ed. de Rijk
1994, 3–5). Von Bernhard von Arezzo sind keine Werke überliefert. Kaluza hat jedoch dessen
Grabstein ausfindig gemacht und bietet eine Rekonstruktion des intellektuellen Umfeldes;
vgl. Kaluza 1991 und 1995, 185–195.
10
 In der älteren Forschung ging nur Weinberg 1948 (Nachdruck 1969) ausführlich auf die-
sen Text ein. Erst durch die Arbeiten von Kaluza (insbesondere Kaluza 1995, 1997 und 1998)
ist die Bedeutung dieses Traktats deutlich geworden. Die erste umfassende systematische
Auswertung bietet Grellard 2005. Auch Denery 2005, 137–168, stellt diesen Text – nicht die
Briefe – in das Zentrum der Untersuchungen. Allerdings ist zu beachten, dass es sich bei Exi-
git ordo um eine unvollendete, weitgehend unausgearbeitete Abhandlung handelt, um einen
Text „à la fois mal écrit et mal organisé“, wie Kaluza 1995, 167, zu Recht feststellt. Daher ist
auch der konstruktive Teil seiner Erkenntnistheorie nur ansatzweise überliefert.
11
  Vgl. Kaluza 1995, 35–37 und 179–181.
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314 Zweifel am demonstrativen Wissen

rahmen für Nikolaus’ erkenntnistheoretische Position zu bestimmen. Je nach


Interpretation ist versucht worden, Nikolaus als radikalen Ockhamisten
oder gerade umgekehrt als scharfen Kritiker des Ockhamismus darzustel-
len.12 Diese Interpretationen entbehren aber einer Textgrundlage, wie W. J.
Courtenay und K. H. Tachau nachweisen konnten.13 In den Pariser Statuten
spielten nämlich die theologischen Werke Ockhams, in denen die entschei-
denden erkenntnistheoretischen Fragen (vor allem die Unterscheidung von
intuitiver und abstraktiver Erkenntnis) diskutiert werden, gar keine Rolle.
Es lässt sich auch nicht nachweisen, dass sich Nikolaus überhaupt mit Ock-
hams Erkenntnistheorie beschäftigt hat. Daher wäre es methodisch unange-
messen, Ockham als den entscheidenden Bezugsautor zu bestimmen und
Nikolaus’ kritische Diskussion zeitgenössischer Theorien als eine Reaktion
auf einen Pariser Ockhamismus zu deuten. Mit welchen Vorgängern sich
Nikolaus auseinandergesetzt hat, ist angesichts der mageren Quellenlage
ohnehin schwer zu beurteilen. Deshalb soll im Folgenden nicht eine spe-
kulative Rekonstruktion möglicher Bezugsautoren angestrebt werden. Ent-
scheidend ist vielmehr, wie Nikolaus seine eigene Position begründete und
gegenüber alternativen, explizit genannten Positionen verteidigte.
Schließlich ist ein dritter Punkt zu beachten, wenn Buridans Reaktion auf
Nikolaus’ Position in den Blick genommen wird. In der älteren Forschung
ist häufig behauptet worden, Buridan sei als Rektor der Pariser Universi-
tät direkt für die Verurteilung des Nikolaus verantwortlich gewesen. Diese
These lässt sich allerdings selbst dann nicht aufrechterhalten, wenn – was
höchst fragwürdig ist – angenommen wird, die Statuten von 1339 und 1340
seien tatsächlich gegen Nikolaus gerichtet gewesen und hätten die Grund-
lage für die offizielle Verurteilung von 1346 gelegt. Buridan war nämlich zu
der fraglichen Zeit gar nicht Rektor der Universität.14 Es lässt sich auch nicht
nachweisen, dass Buridan direkt mit Nikolaus disputierte oder dass er ihn in
seinen Schriften direkt angriff.15 Trotzdem gibt es in Buridans Werk natür-
lich verschiedene Stellen, an denen er Kernthesen von Nikolaus diskutiert.16
Diese Stellen deuten darauf hin, dass Buridan sich durchaus mit Nikolaus’

12
 So etwa von Paqué 1970, Moody 1971 und Bottin 1982.
13
 Vgl. Courtenay & Tachau 1982 und Tachau 1988, 336–340. Siehe auch Thijssen 1998,
73–74.
14
  Vgl. konzis Tachau 1988, 337, die damit die traditionelle, auf Michalski zurückgehende
These widerlegt.
15
 Grellard 2005, 229, weist nach, dass es bei Buridan kein direktes Zitat aus Nikolaus’
Schriften gibt. Thijssen 1987, 238, belegt, dass selbst die Texte zum Kausalproblem, die
meistens als Indiz für eine unmittelbare Auseinandersetzung zwischen den beiden Autoren
gedeutet wurden, nicht auf eine direkte Begegnung hindeuten.
16
 Vgl. De demonstrationibus 8.5.2 (ed. De Rijk 2001, 122); In Anal. Post. I, q. 2, und II,
q.11; In Met. II, q. 2 (ed. Paris 1588, f. 9vb).

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§ 28 Die Gewissheit der wahrnehmbaren Objekte 315

Position beschäftigte, sogar in deutlich kritischer Weise, auch wenn er nicht


für dessen Ausschluss aus der Pariser Universität verantwortlich war. Er
legte eine Art Gegenentwurf zu Nikolaus’ Wissenstheorie vor und griff
dafür genau auf jene aristotelischen Grundsätze zurück, die Nikolaus ve-
hement kritisiert hatte. Daher ist die Auseinandersetzung zwischen diesen
beiden Autoren immer vor dem Hintergrund eines Aristotelismus-Streites
zu analysieren. Allerdings ist bei einem direkten Vergleich Vorsicht geboten.
Weder darf Nikolaus einfach aus der kritischen Sicht Buridans betrachtet
werden, noch darf Buridan als ein Autor, der ausschließlich auf Nikolaus
reagierte, gelesen werden. Beide Autoren sind zunächst als eigenständige
Philosophen zu lesen, die einen je eigenen Wissensbegriff entwickelten und
mithilfe dieses Begriffs verschiedene Wissensansprüche begründen wollten.
Es ist vor allem die fundamentale Differenz zwischen ihren Wissensbe-
griffen, die zu einer unterschiedlichen Einschätzung der Rechtfertigung von
Wissensansprüchen führte. Deshalb soll im Folgenden zunächst (§§ 28–31)
untersucht werden, wie Nikolaus seinen Wissensbegriff mit Rekurs auf die
drei genannten Säulen der Gewissheit einführte, welche Art von Wissens-
ansprüchen er damit erhob und wie er auf skeptische Argumente reagierte
oder selber solche Argumente entwickelte. Danach (§§ 32–33) soll Buridans
Reaktion auf Nikolaus’ Wissenstheorie, insbesondere seine Kritik am fun-
damentalistischen Rekurs auf absolute Gewissheit und seine Widerlegung
skeptischer Einwände, in den Blick genommen werden. Erst wenn sowohl
Nikolaus’ als auch Buridans Umgang mit skeptischen Argumenten im
Rahmen einer umfassenden Wissenskonzeption analysiert wird, lässt sich
die Pointe und Reichweite skeptischer Wissensanfechtungen, aber auch die
Wirksamkeit anti-skeptischer Strategien, verstehen.

§ 28 Die Gewissheit der wahrnehmbaren Objekte

Nikolaus von Autrécourt entwickelt seine erkenntnistheoretische Position,


indem er in zwei Schritten vorgeht. In einem ersten Schritt diskutiert er eine
bestimmte Auffassung von Erkenntnis und versucht mithilfe einer reductio
ad absurdum zu zeigen, dass sie abwegige Konsequenzen hat und deshalb
unhaltbar ist. In einem zweiten Schritt setzt er dann neu an, indem er pro-
grammatisch eine eigene Gegenposition skizziert und diese im Detail zu be-
gründen versucht. Eine adäquate Analyse muss beide Schritte in den Blick
nehmen, den destruktiven ebenso wie den konstruktiven. Erst dann zeigt
sich, dass sich Nikolaus auf zweifache Weise mit skeptischen Argumenten
auseinandersetzt: einerseits indem er selber skeptische Argumente gegen
die gegnerische Position vorbringt und diese dadurch zu Fall bringen will,
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316 Zweifel am demonstrativen Wissen

andererseits indem er seine eigene Position gegenüber skeptischen Angriffen


verteidigt und gleichsam wasserdicht zu machen versucht.
Betrachten wir zunächst den destruktiven Schritt. Nikolaus eröffnet die
erkenntnistheoretische Diskussion, indem er sich kritisch mit der Position
beschäftigt, die Bernhard von Arezzo in seinem (uns nicht überlieferten)
Sentenzenkommentar angeblich vertreten hat. Dort soll Bernhard folgende
These verteidigt haben:
„Die klare intuitive Erkenntnis ist jene, durch die wir urteilen, dass ein Gegenstand
existiert, mag er nun existieren oder nicht.“ 17

Es ist anzunehmen, dass mit dieser These die intuitive Erkenntnis von der
abstraktiven unterschieden werden soll.18 Denn im Falle der intuitiven Er-
kenntnis wird ein Existenzurteil gefällt, im Falle der abstraktiven Erkennt-
nis nicht. Dies wäre nicht weiter erstaunlich, wenn Bernhard behaupten
würde, dass im Falle der intuitiven Erkenntnis nur dann ein Existenzurteil
über einen Gegenstand gefällt wird, wenn dieser tatsächlich existiert. Dies
wäre genau die These Ockhams, wie sich in § 20 gezeigt hat. Für Ockham
ist es ja entscheidend, dass in einer intuitiven Erkenntnis nur über einen
existierenden Gegenstand geurteilt wird, dass er existiert, über einen nicht
existierenden hingegen, dass er nicht existiert.19 Doch Bernhard vertritt
nicht diese These. 20 Er behauptet vielmehr, dass ein Existenzurteil über
einen Gegenstand gefällt wird, ob dieser nun existiert oder nicht. Was moti-
viert ihn zu dieser erstaunlichen These? Da Bernhards Schriften nicht über-
liefert sind, lässt sich diese Frage nicht eindeutig beantworten. Mit Blick auf
die Pariser Diskussionen über intuitive Erkenntnis, die seit dem Beginn des
14. Jhs. – vornehmlich ausgelöst durch Johannes Duns Scotus und Petrus
Aureoli – mit großer Intensität geführt wurden, lassen sich aber zwei mögli-
che Motivationen anführen.
Die erste Motivation lässt sich aus den Diskussionen über Sinnestäu-
schungen erschließen. Bereits Petrus Aureoli wies darauf hin, dass wir im
Falle einer Sinnestäuschung einen ebenso klaren und intensiven Eindruck
haben können wie im Falle einer veridischen Wahrnehmung und dass wir
dann in genau gleicher Weise ein Existenzurteil fällen. Wenn etwa ein feuri-

17
  Correspondence I.2 (ed. de Rijk 1994, 46): „Notitia intuitiva clara est per quam iudicamus
rem esse, sive sit sive non sit.“
18
 In Correspondence I.12 (ed. de Rijk 1994, 52) wird ausdrücklich auf die Opposition
intuitiv/abstraktiv verwiesen.
19
 Vgl. Ordinatio I, prol., q. 1 (OTh I, 31).
20
 Dies ist gegenüber Moody 1971, 301 festzuhalten, der behauptete, Bernhard sei der Ver-
teidiger der Position Ockhams und Nikolaus der Kritiker dieser Position. Da Bernhard nicht
die Position Ockhams verteidigt, richtet sich Nikolaus’ Kritik auch nicht gegen Ockham. Es
wäre irreführend, hier eine Auseinandersetzung mit Ockham zu sehen.
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§ 28 Die Gewissheit der wahrnehmbaren Objekte 317

ger Stab durch die Luft geschwungen wird, haben wir den Eindruck, in der
Luft sei ein heller Kreis. Dieser Eindruck mag sogar sehr klar und intensiv
sein, sodass wir spontan urteilen, in der Luft sei tatsächlich ein heller Kreis.
Wie dieses Beispiel zeigt, fällen wir manchmal ein Existenzurteil über
einen Gegenstand einer bestimmten Art, obwohl kein solcher Gegenstand
real existiert. Diese Beobachtung führte Aureoli zu dem Schluss, dass wir
in einer intuitiven Erkenntnis über alle möglichen Gegenstände urteilen,
dass sie existieren, ob sie nun wirklich existieren oder nicht. 21 Die intuitive
Erkenntnis bietet in keiner Weise eine Wahrheitsgarantie für unsere Urteile.
Denn entscheidend ist für eine solche Erkenntnis nicht, was erfasst wird
(ein tatsächlich existierender oder nur ein vermeintlich existierender Gegen-
stand), sondern wie etwas erfasst wird (als existierend und unmittelbar
präsent oder nicht). Daher ist es immer möglich, dass wir falsche Existenz-
urteile fällen.
Die zweite Motivationsquelle liegt in der Diskussion über das mögliche
Eingreifen Gottes. Im letzten Kapitel ist bereits deutlich geworden, dass
verschiedene Autoren – unter ihnen Walter Chatton – behaupteten, Gott
könne in den Erkenntnisprozess eingreifen und bewirken, dass in uns die
Erkenntnis von einem Gegenstand aufrechterhalten bleibt, nachdem dieser
zerstört worden ist. Gott kann dies so perfekt tun, dass wir die genau glei-
che Art von Erkenntnis haben wie in jenem Fall, in dem der Gegenstand
weiterhin existiert. Das heißt: Ob der Gegenstand nun existiert oder nicht,
wir erfassen ihn unmittelbar und ganz klar, haben dadurch eine intuitive
Erkenntnis von diesem Gegenstand und urteilen, dass er existiert. Somit
gilt auch für diesen Fall, dass die Existenzurteile, die wir auf der Grund-
lage einer intuitiven Erkenntnis fällen, keineswegs eine Wahrheitsgarantie
beinhalten. Es ist immer möglich, dass wir falsche Existenzurteile bilden.
Berücksichtigt man diese beiden möglichen Motivationsquellen, erweist
sich Bernhard von Arezzos These als keineswegs so bizarr und kontraintui-
tiv, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Bernhard macht mit seiner These
darauf aufmerksam, dass es in einer intuitiven (sogar klaren) Erkennt-
nis einzig und allein darauf ankommt, wie uns ein Gegenstand erscheint,
nämlich als existierend. Diese Art von Erscheinung löst in uns sogleich ein
Existenzurteil aus. Damit ist aber keineswegs garantiert, dass dieses Urteil
auch wahr ist. Aufgrund natürlicher oder übernatürlicher Irrtumsquellen
ist es nämlich immer möglich, dass der Erscheinung kein wirklicher Gegen-
stand entspricht. Deshalb gilt: Wir urteilen aufgrund der Art und Weise,
wie uns etwas erscheint, dass ein Gegenstand existiert, ob nun wirklich

 Vgl. Scriptum super primum librum Sententiarum, prooemium, sect. 2 (ed. Buytaert
21

1956, Bd. 1, 205).


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318 Zweifel am demonstrativen Wissen

einer existiert oder nicht. Dies hat natürlich eine Konsequenz, die Nikolaus
sogleich bemerkt und als Bernhards zweite These vorstellt:
„Eure zweite These, die Ihr an der oben genannten Stelle vertretet, lautet: Die
Inferenz ‚Ein Gegenstand existiert nicht, also wird er nicht gesehen‘ ist nicht gültig,
auch nicht die Inferenz ‚Dies wird gesehen, also existiert es‘.“ 22

Wenn kein heller Kreis in der Luft ist, folgt daraus nicht, dass ich keinen
hellen Kreis sehe. Aufgrund einer Sinnestäuschung oder einer göttlichen
Manipulation meiner visuellen Akte kann es durchaus der Fall sein, dass
ich einen solchen Kreis sehe, genauer gesagt: dass ich die Erscheinung eines
solchen Kreises sehe. Das Verb ‚sehen‘ ist hier – in moderner Terminologie
ausgedrückt – kein Erfolgsverb. Es drückt nicht aus, dass ich in einem vi-
suellen Akt einen realen Gegenstand erfasse. Dieses Verb drückt nur aus,
dass mir eine Erscheinung präsent ist, mag diese nun in Relation zu einem
existierenden Gegenstand stehen oder nicht. Aus diesem Grund gilt auch
nicht, dass durch das bloße Sehen die Existenz eines Gegenstandes garan-
tiert wird. Garantiert wird einzig und allein die Existenz der Erscheinung
eines Gegenstandes.
Nikolaus erkennt sogleich, dass damit einem radikalen Skeptizismus Tür
und Tor geöffnet wird. Wann immer jemand sagt, er sehe etwas und ver-
füge über eine intuitive Erkenntnis, kann man fragen: Bist du sicher, dass
du einen wirklich existierenden Gegenstand siehst und über einen wirklich
existierenden Gegenstand urteilst? Oder erfasst du nur die Erscheinung
eines Gegenstandes und urteilst du nur über eine solche Erscheinung?
Daher stellt Nikolaus fest, dass die von Bernhard vertretene Theorie der
intuitiven Erkenntnis unweigerlich in eine skeptische Position mündet, die
er folgendermaßen charakterisiert:
„Im natürlichen Licht können wir nicht sicher sein, wann unsere Erscheinung von
der Existenz äußerer Gegenstände wahr oder falsch ist, denn wie Ihr sagt, stellt sie in
gleicher Weise dar, dass ein Gegenstand existiert, ob er nun existiert oder nicht.“23

Kurz gesagt: Schein und Sein können immer auseinander klaffen. Daher
können wir ausgehend von unseren Erscheinungen, mögen sie noch so
klar sein, keine sichere Erkenntnis von Gegenständen in der Außenwelt
gewinnen. Dies ist natürlich eine Position mit verheerenden Konsequenzen.
Wenn unsere Erscheinungen uns nämlich keine sichere Erkenntnis liefern,

22
  Correspondence I.2 (ed. de Rijk 1994, 46): „Secunda propositio vestra, que ponitur ubi
supra, est talis: ‚Obiectum non est; igitur non videtur‘; non valet consequentia; nec ista: ‚hoc
videtur; ergo hoc est‘.“
23
  Correspondence I.3 (ed. de Rijk 1994, 46): „In lumine naturali non possumus esse certi
quando apparentia nostra de existentia obiectorum extra sit vera vel falsa, quia uniformiter, ut
dicitis, representat rem esse, sive sit sive non sit.“
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§ 28 Die Gewissheit der wahrnehmbaren Objekte 319

können wir von den simpelsten Gegenständen nicht wissen, dass sie tatsäch-
lich existieren. So kann Bernhard nie wissen, wie Nikolaus mit gewissem
Sarkasmus feststellt, ob der Kanzler oder der Papst wirklich existiert. 24 Er
kann auch nie wissen, ob der heute erfasste Kanzler morgen oder übermor-
gen noch derselbe Mensch ist, denn er erfasst ja zu jedem Zeitpunkt bloß
eine Erscheinung. Nichts garantiert, dass einer punktuellen Erscheinung ein
realer Gegenstand entspricht, noch dazu einer, der über die Zeit hinweg eine
Identität bewahrt. Doch nicht nur von anderen Gegenständen und Personen
ist eine sichere Erkenntnis unmöglich. Nikolaus stellt fest, Bernhard könne
nicht einmal wissen, ob er selber einen Kopf, einen Bart und Haare habe. 25
Die Existenz aller materiellen Gegenstände, auch des eigenen Körpers, ist
ungewiss. Bernhard darf nur behaupten: ‚Ich weiß, dass ich die Erscheinung
von meinem Kopf habe‘, nicht aber: ‚Ich weiß, dass ich einen Kopf habe‘.
Schließlich hat Bernhards Position auch eine Zerstörung der öffentlichen
Ordnung zur Folge, wie Nikolaus bemerkt, denn wenn Zeugen vor Gericht
sagen: ‚Wir haben dies gesehen‘, folgt daraus nicht: ‚Also ist es so geschehen‘.
Auch die Zeugen können nur über ihre Erscheinungen Auskunft geben.
Damit hat Nikolaus natürlich eine vollständige reductio ad absurdum
durchgeführt. Jeder noch so simplen Erkenntnis von Gegenständen und
Ereignissen in der materiellen Welt ist gleichsam der Boden entzogen.
Bernhards Position mündet in einen vollständigen Solipsismus und Außen-
welt-Skeptizismus: Jede Person kann nur noch bezüglich ihrer eigenen
Erscheinungen einen Erkenntnis- und Wissensanspruch erheben, sie kann
aber kein Wissen bezüglich irgendwelcher Gegenstände in der materiellen
Welt beanspruchen. Eine solche Position kann nicht der Ausgangspunkt
für eine angemessene Wissenstheorie sein. Daher muss eine neue Position
erarbeitet werden, die keine Kluft zwischen Sein und Schein aufreißt und
zeigt, wie unsere Erscheinungen ein sicheres Fundament für das Wissen von
einer materiellen Welt bieten können.
Doch wie könnte sich Bernhard gegen das verheerende Fazit zur Wehr
setzen, das Nikolaus zieht? Wie könnte er versuchen, an seiner Theorie der
intuitiven Erkenntnis festzuhalten und trotzdem den Solipsismus und die
skeptischen Konsequenzen zu vermeiden? Auf den ersten Blick bieten sich
zwei Verteidigungsstrategien an. Bernhard könnte zunächst versuchen,
eine ganz bestimmte Art von Erscheinungen als veridische Erscheinungen
zu charakterisieren (etwa wie die Stoiker die kataleptischen Eindrücke als
veridisch bestimmten) und diese als Wissensgrundlage zu bestimmen. Der
entscheidende Punkt, so könnte er sagen, besteht darin, die Erscheinungen
 Vgl. Correspondence I.14 (ed. de Rijk 1994, 54).
24

  Correspondence I.14 (ed. de Rijk 1994, 54): „Similiter nescitis que sunt intra vos, ut si
25

habetis caput, barbam, capillos et cetera.“


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320 Zweifel am demonstrativen Wissen

genau zu inspizieren und nur jene zurückzubehalten, die sich aufgrund be-
sonderer innerer Merkmale als veridisch auszeichnen. Sind diese einmal be-
stimmt, lässt sich zeigen, dass zumindest einige Erscheinungen existierende
Gegenstände korrekt darstellen. Und dann lässt sich auch zeigen, dass wir
auf der Grundlage einiger Erscheinungen durchaus ein Wissen von der
materiellen Welt gewinnen können.
Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass Bernhard ein solcher Ar-
gumentationsweg nicht offen steht. Denn anhand welcher Merkmale sollten
die veridischen Erscheinungen bestimmt und von den nicht-veridischen
unterschieden werden? Bernhard hält ja an der oben zitierten Stelle aus-
drücklich fest, dass nicht irgendeine, sondern die klare intuitive Erkennt-
nis einen Gegenstand ganz unabhängig von seiner wirklichen Existenz
oder Nicht-Existenz als existierend darstellt. 26 Er kann somit nicht auf die
Klarheit als das entscheidende Merkmal der veridischen Erscheinungen
verweisen. Da er zudem betont, dass jede Erscheinung falsch sein kann, 27
kann er auch kein anderes inneres Merkmal angeben. Ganz gleichgültig,
wie intensiv oder deutlich eine Erscheinung ist, es könnte immer sein, dass
sie nicht veridisch ist. Das bereits genannte Beispiel einer Sinnestäuschung
macht dies sofort deutlich. Wenn ich einen hellen Kreis in der Luft sehe, ist
die Erscheinung, die ich in diesem Moment habe, nicht nur klar, sondern
auch intensiv, deutlich und von anderen Erscheinungen distinkt – trotzdem
ist sie irreführend. Kein inneres Merkmal hilft mir, diese nicht-veridische
Erscheinung von einer veridischen zu unterscheiden. Gleiches gilt für den
Fall der göttlichen Manipulation. Gott könnte mir eine Erscheinung von
einem hellen Kreis eingeben, die genauso perfekt ist wie eine veridische Er-
scheinung und die gleichen inneren Merkmale aufweist – trotzdem wäre sie
irreführend. Es hilft somit nicht weiter, auf besondere innere Merkmale zu
verweisen. Psychologische Merkmale wie Klarheit oder Deutlichkeit sind
keine Wahrheitsgaranten. 28

26
  Vgl. Anm. 17.
27
  Correspondence I.3 (ed. de Rijk 1994, 46; Kursivierung D.P.): “Omnis apparentia nostra
quam habemus de existentia obiectorum extra, potest esse falsa ...“
28
 Sie wären erst dann Wahrheitsgaranten, wenn gezeigt würde, dass es einen übergeord-
neten Mechanismus oder eine Instanz gibt, die verbürgt, dass all das, was klar und deutlich
ist, tatsächlich wahr ist. Descartes wählt bekanntlich diese Strategie, indem er Gott als über-
geordneten Garanten bestimmt. Doch nichts deutet darauf hin, dass Bernhard ebenfalls diese
Strategie verfolgt. Selbst wenn er sie wählte, wäre das Hauptproblem damit nicht beseitigt. Es
würde sich nämlich sogleich die Frage stellen, wie denn gezeigt werden kann, dass es tatsäch-
lich einen solchen übergeordneten Garanten gibt. Descartes setzt sich mit seinem Nachweis
bekanntlich dem Vorwurf der Zirkularität aus, wie bereits seine ersten Kritiker bemerkten;
vgl. Obj. II und IV (AT VII, 124–125 und 214). Denn einerseits behauptet er, wir hätten eine
klare und deutliche Idee von Gott; andererseits betont er, erst Gott sei der Garant dafür,
dass die klaren und deutlichen Ideen auch wahr sind. Angesichts dieser Schwierigkeit ist der
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§ 28 Die Gewissheit der wahrnehmbaren Objekte 321

Bernhard könnte indessen noch zu einer weiteren Verteidigung Zuflucht


nehmen. Er könnte darauf verweisen, dass nur für den besonderen Fall der
Sinnestäuschung oder des göttlichen Eingreifens gilt, dass eine Erscheinung
nicht veridisch ist. Im Normalfall ist sie aber durchaus veridisch und dient
als sichere Wissensgrundlage. Daher kann man stets sagen: Wenn jemand
eine Erscheinung von einem Gegenstand hat und wenn die Erscheinung
unter normalen Bedingungen (sprich: durch eine natürliche Kausalrelation
zum Gegenstand, ohne verzerrende Faktoren und ohne göttliches Ein-
greifen) erworben wurde, liegt eine zuverlässige Erscheinung vor. Und dann
kann man von der Erscheinung eines Gegenstandes auch auf seine reale
Existenz schließen.
Nikolaus formuliert explizit eine solche Argumentation als mögliche
Verteidigung. 29 Trotzdem hält er sie nicht für überzeugend. Warum nicht?
Sein Grund ist nicht theologischer Natur. Er behauptet nicht (wie vor ihm
etwa Thomas von Aquin), dass es der Güte Gottes widerspräche, wenn er in
den Erkenntnisprozess eingriffe und die normalen Bedingungen außer Kraft
setzte. Nikolaus bringt ein streng logisches Argument vor.30 Er behauptet:
Wenn jemand die Implikation ‚Wenn p, dann q‘ erfasst, so ist er sich dessen,
was q bezeichnet, nur deshalb gewiss, weil er das erfasst, was p bezeichnet.
Doch wenn das, was durch p bezeichnet wird, nur geglaubt wird (und nicht
etwa aufgrund der Bedeutung der Termini analytisch bekannt ist oder
durch die Erfahrung unmittelbar erfasst wird), dann wird das, was durch q
bezeichnet wird, ebenfalls nur geglaubt. Genau so verhält es sich im vorlie-
genden Fall. Folgende Implikation wird nämlich als Argument vorgebracht:
‚Wenn eine Erscheinung unter normalen Bedingungen erworben wird, dann
ist die Erscheinung zuverlässig und stellt einen existierenden Gegenstand
korrekt dar.‘ Was hier durch den Vordersatz bezeichnet wird, wird aber nur
geglaubt. Wir können ja nicht empirisch oder durch eine reine Analyse der
Termini feststellen, dass normale Bedingungen vorliegen.31 Daher wird auch
das, was durch den Folgesatz bezeichnet wird, nur geglaubt. Nikolaus gibt
dafür ein konkretes Beispiel. Wenn ich die Erscheinung von etwas Weißem

Rekurs auf innere Merkmale von Ideen oder Erscheinungen stets problematisch. Es stellt
sich immer die Frage, wie denn eine Wahrheitsgarantie für ein rein psychologisches Merkmal
gefunden werden kann.
29
 Vgl. Correspondence I.5 (ed. de Rijk 1994, 48).
30
 Vgl. Correspondence I.7 (ed. de Rijk 1994, 50).
31
 Natürlich können wir überprüfen, ob normale Sichtverhältnisse, korrekt funktionierende
Sinnesorgane usw. vorliegen. Doch die empirische Überprüfung kann selber wieder infrage
gestellt werden. Wie wissen wir denn, dass wir die Überprüfung unter normalen Bedingungen
vornehmen? Könnte es nicht sein, dass wir genau dann, wenn wir etwa die Sichtverhältnisse
prüfen, einer Sinnestäuschung oder gar einer Manipulation Gottes ausgesetzt sind? Für jede
Prüfung kann die Validität der empirischen Methode bezweifelt werden.
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322 Zweifel am demonstrativen Wissen

habe, kann ich nie sagen: ‚Ich bin mir gewiss, dass etwas Weißes existiert.‘
Ich bin höchstens zu folgender Aussage berechtigt: ‚Ich glaube, dass etwas
Weißes existiert; denn wenn ich glaube, dass normale Bedingungen vorlie-
gen, kann ich auch glauben, dass meine Erscheinung von etwas Weißem ver-
ursacht wurde und mir somit Aufschluss über etwas existierendes Weißes
gibt.‘ Entscheidend ist in dieser ganzen Argumentation, dass Nikolaus nicht
bestreitet, dass wir auf normale Bedingungen hinweisen können. Dass aber
derartige Bedingungen vorliegen, kann höchstens geglaubt werden. Daher
kann auch all das, was davon abhängt, keinen stärkeren epistemischen Wert
haben.
Hier zeigt sich ein Kerngedanke, der sich wie ein Leitmotiv durch Ni-
kolaus’ ganze Auseinandersetzung mit Bernhard zieht: Bloßes Glauben ist
als Wissensgrundlage zu schwach. Eine solche Grundlage muss Gewissheit
garantieren. Doch wie lässt sich eine solche Grundlage etablieren? Am Ende
seines ersten Briefes an Bernhard gibt Nikolaus eine knappe Antwort auf
diese Frage:
„Um derartige Absurditäten zu vermeiden, habe ich daher in Disputationen in der
Aula der Sorbonne die These vertreten, dass ich mir der Objekte der fünf Sinne und
meiner Akte gewiss bin.“32

Auch im Traktat Exigit ordo hält er unmissverständlich fest:


„Die vierzehnte Schlussfolgerung lautet, dass all das, was den äußeren Sinnen evi-
dent ist, wahr ist, wenn es denn von solchen Objekten eine Gewissheit gibt.“33

Offensichtlich rekurriert Nikolaus auf etwas, was nicht bloß geglaubt wird,
sondern gewiss ist: die Objekte der fünf Sinne und die eigenen Akte. Nun
ist die These, dass die eigenen Akte – zumindest die mentalen Akte – gewiss
sind, durchaus einleuchtend. Wenn ich an etwas denke, ist es absolut gewiss,
dass ich denke, was auch immer der Inhalt des Denkens sein mag. Der bloße
Vollzug des Denkaktes garantiert nämlich, dass dieser Akt auch existiert.
Es gibt hier keine Kluft zwischen einem bloß erscheinenden und einem
wirklichen Akt.34 Daher kann jede Täuschung ausgeschlossen werden. Doch
32
  Correspondence I.15 (ed. de Rijk 1994, 56): „Et ideo, ad evitandum tales absurditates,
sustinui in aula Sorbone in disputationibus quod sum certus evidenter de obiectis quinque
sensuum et de actibus meis.“
33
  Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 237, Z. 48–49): „Quarta decima conclusio est quod
omne illud quod est evidens sensibus exterioribus est verum, si aliqua certitudo habeatur de
talibus objectis.“
34
 Dies gilt natürlich nur für aktuell vollzogene Akte. Im Falle einer Erinnerung an frühere
Akte ist es immer möglich, dass es eine Kluft zwischen Sein und Schein gibt. So kann es mir
jetzt erscheinen, ich hätte gestern über ein mathematisches Problem nachgedacht; in Tat und
Wahrheit habe ich mich gestern aber nicht mit Mathematik befasst. Doch selbst für diesen
Fall einer falschen Erinnerung gilt, dass es jetzt einen aktuell vollzogenen Akt gibt (nämlich
den Akt des Erinnerns), der gewiss ist.
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§ 28 Die Gewissheit der wahrnehmbaren Objekte 323

warum sollten die Objekte der fünf Sinne gewiss sein? Die Beispiele von
Sinnestäuschungen zeigen doch, dass in zahlreichen Fällen etwas erscheinen
kann, was nicht real existiert. Gerade bei den Objekten der fünf Sinne gibt
es immer wieder eine Kluft zwischen Sein und Schein. Daher ist es kaum
einleuchtend, hier von einer Gewissheit zu sprechen.
Würde Nikolaus pauschal behaupten, dass die Objekte der fünf Sinne
gewiss sind und das Wissensfundament bilden, wäre seine Position in der
Tat nicht überzeugend. Doch er formuliert eine differenzierte Position,
indem er ergänzt, dass nur unter bestimmten Bedingungen eine Gewissheit
besteht:
„Ich argumentiere folgendermaßen: Der Intellekt ist sich all dessen gewiss, was ihm
evident ist, und zwar letztlich evident bzw. gemäß einem sinnlichen Akt.“
„Es ist also wahrscheinlich, dass all das, was erscheint, wahr ist, nämlich das, was
im vollen Licht klar und evident ist.“35

Entscheidend ist, dass nicht alles, was den Sinnen präsent ist, gewiss ist, son-
dern nur das, was „letztlich evident“ oder „im vollen Licht klar und evident“
ist. Was ist darunter zu verstehen? Nikolaus formuliert drei Bedingungen,
die für diese Art von Evidenz erfüllt sein müssen.
Die erste Bedingung könnte man die Bedingung der unmittelbaren Präsenz
nennen. Nur wenn ein Gegenstand unmittelbar gegenwärtig ist und von den
Sinnen direkt erfasst wird, ist er „letztlich evident“. Nikolaus gibt dafür ein
anschauliches Beispiel.36 Wenn jemand von anderen Leuten hört, dass Rom
eine große Stadt ist, verfügt er nicht über eine letzte Evidenz. Erst wenn diese
Person selber in Rom ist und die Stadt sieht, hat sie diese Art von Evidenz.
Wichtig ist hier, dass es eine direkte empirische Evidenz geben muss. Weder
die Zeugnisse anderer noch Erinnerungen sind zulässig. Auch bloße induktive
oder deduktive Herleitung verbürgt keine unmittelbare Präsenz.
Diese Bedingung reicht freilich nicht aus, wie die Sinnestäuschungen
zeigen. So kann etwa ein ungebrochener Holzstab direkt im Wasser vor mir
liegen und ich kann ihn direkt sehen. Trotzdem gewinne ich dann den fal-
schen Eindruck, dass er gebrochen ist. Daher muss eine zweite Bedingung
erfüllt sein, die man als die Bedingung der angemessenen Wahrnehmungs-
situation bezeichnen könnte. Nikolaus betont, dass drei Teilbedingungen
zu berücksichtigen sind:37 (i) Das Medium, das den Wahrnehmungsgegen-

35
  Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 228, Z. 21–23): „Arguo sic: de omni eo intellectus est
certus quod est sibi evidens et ultimate evidens vel ipsi secundum actum sensus.“ Ibid., 230,
Z. 17–18: „Probabile igitur est quod omne illud quod apparet est verum, scilicet quod est
clarum et evidens in pleno lumine...“ Vgl. auch ibid., 234, Z. 2–3.
36
 Vgl. Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 228, Z. 26–28).
37
  Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 228, Z. 36–37): „Verum est suppositis tribus: debita dis-
positione medii, organi et distantiae inter potentiam et objectum.“ 
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324 Zweifel am demonstrativen Wissen

stand mit dem Wahrnehmenden verbindet, muss der Situation angemessen


sein, (ii) das Wahrnehmungsorgan muss korrekt funktionieren und (iii) der
Abstand zwischen Wahrnehmungsorgan und -gegenstand muss angemessen
sein. Konkret heißt dies: Wenn ich den halb ins Wasser eingetauchten Holz-
stab sehe, ist Teilbedingung (i) nicht erfüllt. Die Tatsache, dass der Stab im
Wasser liegt, hat nämlich zur Folge, dass die Lichtstrahlen gebrochen werden
und dass daher ein verzerrtes Bild vermittelt wird. Wenn ich halb erblindet
bin und den Holzstab nur verschwommen sehe, ist Teilbedingung (ii) nicht
erfüllt. Und wenn ich den Holzstab aus weiter Entfernung sehe, ist Teilbe-
dingung (iii) nicht erfüllt. Nikolaus’ Hinweis auf die drei Teilbedingungen
ist natürlich nicht neu.38 Trotzdem ist die Tatsache, dass Nikolaus sie ex-
plizit nennt, bemerkenswert. Er verdeutlicht damit, dass er nicht auf interne
Merkmale der Erscheinungen abzielt, sondern auf externe Bedingungen. So
spielt es keine Rolle, ob mir der Holzstab besonders intensiv oder deutlich
erscheint. Wichtig ist, in welchem Kontext er mir präsent ist und mit wel-
chem Wahrnehmungsorgan ich ihn erfasse. Ob die externen Bedingungen
angemessen sind, kann von einem fremden Beobachter genauso gut evaluiert
werden wie von mir, ja teilweise ist er sogar besser dazu in der Lage, da er
den Abstand zum Wahrnehmungsgegenstand von einem neutralen Stand-
punkt aus beurteilen kann. Nikolaus vertritt also keinen internalistischen
Standpunkt, wenn er die drei Teilbedingungen formuliert.
Doch selbst wenn alle bislang genannten Bedingungen erfüllt sind, ist
noch eine Täuschung möglich. Man stelle sich etwa vor, dass jemand sich
direkt neben einem Holzstab befindet, dass er unmittelbare Sinnesein-
drücke vom Stab hat, dass seine Sinne korrekt funktionieren und auch alle
anderen äußeren Bedingungen optimal sind. Die Person befindet sich jedoch
in Trance oder im Schlafzustand und träumt nur von einem Holzstab. Dann
könnte man kaum davon sprechen, dass diese Person eine Gewissheit vom
Holzstab hat. Genau um einen solchen Fall auszuschließen, formuliert
Nikolaus noch eine dritte Bedingung, die Bedingung der Klarheit. Er be-
tont, dass eine Person sich in einem optimalen kognitiven Zustand befinden
muss und dass sie nur in diesem Zustand eine klare Erscheinung hat.39 Ob
tatsächlich ein solcher Zustand vorliegt, kann jede Person selber beurteilen.
Nikolaus gibt dafür ein anschauliches Beispiel. Wenn eine Person im Wach-
zustand Schlösser erfasst, wird sie dadurch „mehr bewegt“, als wenn sie
im Schlaf Erscheinungen von Schlössern hat.40 Dies bedeutet, dass sie von
ihrem Standpunkt aus die Klarheit beurteilen kann und dadurch veranlasst
oder gar durch einen psychischen Mechanismus unmittelbar dazu gebracht
38
  Wie Kaluza 1997, 101, gezeigt hat, wies bereits Themistius explizit auf sie hin.
39
 Vgl. Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 229, Z. 39–42).
40
  Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 229, Z. 42): „... ita magis trahitur per istam“.
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§ 28 Die Gewissheit der wahrnehmbaren Objekte 325

wird, dem Urteil ‚Hier stehen Schlösser‘ zuzustimmen. Im Gegensatz zur


zweiten Bedingung weist diese dritte somit auf einen internalistischen
Standpunkt hin.
Die drei genannten Bedingungen erlauben es Nikolaus, seine Grund-
these zu präzisieren: Nicht jede Erscheinung, sondern nur jene, die diesen
Bedingungen genügt und somit „im vollen Licht“ erworben wird, ist gewiss.
Liegt aber eine solche Erscheinung vor, besteht eine sichere Grundlage für
Wissen. Nikolaus betont sogar, dass eine Person bei Vorliegen einer solchen
Erscheinung gar nicht anders kann, als einer bestimmten Proposition zu-
zustimmen.41 Konkret heißt dies: Wenn ich im Wachzustand bei besten
Lichtverhältnissen einen Holzstab sehe, der vor mir auf dem Boden liegt,
kann ich gar nicht anders, als der Proposition, dass hier ein Holzstab liegt,
zuzustimmen. Und wenn feststeht, dass tatsächlich alle Bedingungen für
eine Erscheinung „im vollen Licht“ erfüllt sind, bin ich berechtigt, diese
Zustimmung als Grundlage für Wissen zu akzeptieren. Ich bin dann nicht
einfach von einem visuellen Eindruck überwältigt und glaube nicht einfach,
dass vor mir ein Holzstab liegt; ich weiß es.
Damit gelingt es Nikolaus, zwei Extrempositionen zu vermeiden. Zum
einen kann er eine relativistische Position ausschließen, der zufolge es gar
kein objektives Wissen gibt, sondern jede Person immer nur sagen kann,
wie ihr die Gegenstände gerade erscheinen. Diese Position übersieht, dass
„im vollen Licht“ durchaus gewusst werden kann, welche Gegenstände es
gibt und wie sie beschaffen sind. Das Ziel des Wissenserwerbs besteht ja
gerade darin, dass eine Person weiß, wie die Gegenstände wirklich sind,
nicht einfach, wie sie gerade subjektiv erscheinen. Zum anderen kann
Nikolaus auch Bernhards Position zurückweisen, die zur Folge hat, dass
es überhaupt kein Wissen gibt, weil jede Erscheinung ebenso gut falsch
wie wahr sein kann.42 Diese Position beruht auf einer unzulässigen Ver-
allgemeinerung. Aus der Tatsache, dass die Erscheinungen in einigen
Fällen – insbesondere im Falle von Sinnestäuschungen – irreführend sind,
folgt nämlich nicht, dass sie in allen Fällen irreführend sind. Wenn sie ge-
prüft werden (und zwar mit Blick auf äußere Merkmale wie ihre Genese,
aber auch auf innere Merkmale wie die Klarheit), können sie als veridisch
oder nicht-veridisch beurteilt werden. Und dann kann auch bestimmt
werden, welche Erscheinungen eine sichere Grundlage für Wissen bieten
und welche nicht.
An diesem Punkt zeigt sich deutlich der fundamentalistische Ansatz, den
Nikolaus für seine Wissenstheorie wählt. Er zielt nicht darauf ab, ein mög-

 Vgl. Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 237, Z. 30–31).


41

  Vgl. Anm. 23.


42
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326 Zweifel am demonstrativen Wissen

lichst kohärentes oder zuverlässiges Netz von epistemischen Zuständen zu


bestimmen, sondern will eine Grundlage etablieren, die Gewissheit garan-
tiert und nicht mehr revidiert oder korrigiert werden muss. Nur auf einer
solchen Grundlage ist seiner Ansicht nach Wissen möglich. Die Gewissheit
wiederum setzt eine Evidenz voraus, genauer gesagt: die evidente Präsenz
wahrnehmbarer Objekte. Diese Präsenz ist aber nur gegeben, wenn die drei
genannten Bedingungen erfüllt sind. Somit lassen sich folgende Implika­
tionsverhältnisse bestimmen: 43
(i) Wissen impliziert Gewissheit,
(ii) Gewissheit impliziert Evidenz,
(iii) Evidenz impliziert unmittelbare Präsenz, eine angemessene Wahr-
nehmungssituation und Klarheit.
Mit der Bestimmung dieser Implikationsverhältnisse grenzt sich Nikolaus
deutlich von einer reliabilistischen oder gar einer fallibilistischen Wissens-
theorie ab. Denn um Wissen zu haben, reicht es nicht aus, durch zuverlässige
Prozesse kognitive Zustände zu erwerben, die im Prinzip, aber nicht aus-
nahmslos veridisch sind. Diese Zustände müssen vielmehr gewiss und damit
garantiert veridisch sein. Konkret heißt dies: Es reicht nicht aus, durch zu-
verlässige visuelle Prozesse einen Holzstab zu erfassen und dadurch eine
Erscheinung zu haben, die den Holzstab im Prinzip korrekt darstellt, sich
aber auch als irreführend herausstellen könnte. Man muss sich gewiss sein,
d.h. unter Ausschluss jeder Täuschungsmöglichkeit sicher sein, dass die Er-
scheinung einen wirklich existierenden Holzstab korrekt darstellt.
Doch wie kann man sich tatsächlich gewiss sein? Wie kann jede Täu-
schungsmöglichkeit ausgeschlossen werden? Die naheliegende Antwort lau-
tet: indem man überprüft, ob die genannten drei Bedingungen erfüllt sind.
Nikolaus erläutert dies selber anhand mehrerer Beispiele.44 So verweist er
auf den halb ins Wasser eingetauchten Holzstab und betont, dass in diesem
Fall keine angemessenen Wahrnehmungsbedingungen vorliegen; daher stellt
die Erscheinung nur ein verzerrtes Bild dar und nicht den Holzstab selbst.
Diese Erklärung ist nicht nur interessant, weil sie explizit die besonderen
Bedingungen erwähnt. Sie ist auch von Bedeutung, weil sie auf eine ent-
scheidende Differenz zwischen veridischer und nicht-veridischer Wahr-
43
 Grellard 2005, 65, hat bereits in ähnlicher Weise auf Implikationsverhältnisse hinge-
wiesen. Er konzentriert sich allerdings nur auf die Implikationen (ii) und (iii), die er noch
weiter ausdifferenziert. Dass zudem Implikation (i) gilt, geht aus folgender Aussage in Exigit
ordo (ed. O’Donnell 1939, 230, Z. 3–5) hervor: „... apparentia talis [sc. in pleno lumine: D.P.]
est principium fundamentale omnis veritatis scitae a nobis; et ita tolleretur certitudo si sic
esset quod staret cum non esse ...“ Nur die Erscheinung, die den Bedingungen für Gewissheit
genügt, ist die Grundlage für ein Wissen.
44
 Vgl. Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 231, Z. 43–232, Z. 3).

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§ 29 Kriterieller Fundamentalismus 327

nehmung hinweist. Im Falle der veridischen Wahrnehmung entsteht eine


Erscheinung, die sich direkt auf einen Gegenstand bezieht und ihn mit jenen
Eigenschaften darstellt, die er tatsächlich hat. Im Falle der nicht-veridischen
Wahrnehmung hingegen entsteht aufgrund der besonderen Bedingungen
ein Bild, das sich gleichsam zwischen den Gegenstand und die Erscheinung
einschiebt; die Erscheinung bezieht sich dann nur auf dieses Bild.45
Ein hartnäckiger Skeptiker würde sich mit dieser Erklärung indessen
kaum zufrieden geben. Wie können wir denn mit letzter Sicherheit fest-
stellen, dass die drei Bedingungen erfüllt sind? Es könnte doch immer sein,
dass wir im nicht-veridischen Fall genau die gleiche Art von Erscheinung
haben wie im veridischen. Wir verfügen über kein neutrales Kriterium, das
uns erlauben würde, die beiden Fälle voneinander zu unterscheiden.
In der Tat gibt es kein absolut neutrales Kriterium, das gleichsam vom
Gottesstandpunkt aus eingesetzt werden könnte. Trotzdem kann durch eine
äußere Evaluation der ganzen Wahrnehmungssituation und durch eine Be-
stimmung der psychischen Qualität der Erscheinung bestimmt werden, ob
sie veridisch ist. So kann man zum einen untersuchen, ob der Holzstab auf
trockenem Gelände, aus angemessener Entfernung und mit korrekt funk-
tionierenden Augen gesehen wird. Zum anderen kann man auch darauf
achten, ob er so klar erfasst wird, dass man unmittelbar (und nicht etwa
erst nach längerer Überlegung) zu einem Existenzurteil veranlasst wird.
Die Evaluation äußerer und innerer Faktoren ermöglicht es durchaus, eine
Sinnestäuschung auszuschließen. Genau dadurch lässt sich eine Gewissheit
und damit auch die Grundlage für Wissen etablieren.

§ 29 Kriterieller Fundamentalismus

Mit dieser antiskeptischen Strategie, die darauf abzielt, die Gewissheit


der wahrnehmbaren Objekte als fundamental zu bestimmen, würde sich
ein hartgesottener Skeptiker allerdings nicht zufrieden geben. Könnte es

45
  Wie Grellard 2005, 52, zu Recht bemerkt, wählt Nikolaus hier eine Zwischenposition
zwischen Aureoli und Ockham. Denn wie Aureoli erklärt er die nicht-veridischen Wahr-
nehmungen mit Verweis auf eine dritte Entität (Aureoli spricht von einem Gegenstand mit
esse apparens, Nikolaus von einer imago). Wie Ockham hingegen erklärt er die veridischen
Wahrnehmungen ohne Verweis auf eine solche Entität. Trotz dieser Anlehnung an zwei
bestehende Erklärungsmodelle darf freilich nicht übersehen werden, dass Nikolaus sich in
einem entscheidenden Punkt von beiden abgrenzt. Während Aureoli und Ockham veridische
und nicht-veridische Wahrnehmungen mit einem einheitlichen Modell erklären, insistiert
Nikolaus darauf, dass unterschiedliche Modelle erforderlich sind: im veridischen Fall ein
Modell der direkten Wahrnehmung, im nicht-veridischen hingegen ein Modell der durch ein
Bild vermittelten Wahrnehmung.
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328 Zweifel am demonstrativen Wissen

nicht sein, dass die veridischen Erscheinungen selbst durch eine sorgfältige
Prüfung nicht mit Sicherheit bestimmt werden können? Es ist doch denk-
bar, dass wir alle einer kollektiven Täuschung zum Opfer fallen, wenn wir
feststellen wollen, ob eine angemessene Wahrnehmungssituation vorliegt.
Ebenso ist es denkbar, dass wir alle bloß träumen, die Erscheinungen seien
klar. Oder es ist denkbar, dass der allmächtige Gott uns ganz klare Erschei-
nungen eingibt, die uns unmittelbar dazu bringen, ein Existenzurteil zu
fällen. Mit seinem Verweis auf äußere und innere Faktoren vermag Nikolaus
derartige Szenarien nicht zu widerlegen. Wir können immer nur glauben,
dass die erforderlichen Bedingungen erfüllt sind und dass somit eine nor-
male Wahrnehmungssituation besteht. Auf der Grundlage eines Glaubens
lässt sich aber immer nur ein weiterer Glaube und kein Wissen gewinnen,
wie Nikolaus selber gegenüber Bernhard feststellt. Wie kann er dann an sei-
ner These festhalten und beweisen, dass die genannten Bedingungen erfüllt
sind, sodass wir tatsächlich über veridische Erscheinungen verfügen?
Ein endgültiger Beweis ist hier in der Tat nicht möglich, wie Nikolaus
unumwunden zugibt:
„Darauf gäbe es wohl eine Art zu antworten: Es besteht kein Mittel, mit dem man
die Schlussfolgerung beweisen könnte. Wer aber über den Begriff der Gewiss-
heit verfügt, hat ihn aufgrund einer gewissen natürlichen Folge, nicht durch eine
Schlussfolgerung. Ein Beispiel dafür in einem anderen Bereich lautet: Weiße und
Schwärze unterscheiden sich. Der Begriff des Unterschiedes wird nicht durch eine
Schlussfolgerung erfasst ...“46

Nikolaus weist hier auf einen entscheidenden Punkt hin. Es gibt keinen
hieb- und stichfesten Beweis, mit dem Täuschungsszenarien ein für allemal
ausgeschlossen werden können. Theoretisch gesehen ist es immer möglich,
dass wir alle einem kollektiven Irrtum verfallen oder nur träumen, die
Bedingungen für eine Erscheinung „im vollen Licht“ seien erfüllt. Daher
kann es keinen theoretischen Beweis geben, der uns zu dem Schluss führt,
dass wir tatsächlich eine veridische Erscheinung haben. Doch praktisch
gesehen lässt sich durchaus zeigen, dass eine solche Erscheinung vorliegt.
Denn genau wie wir jemanden, der den Unterschied zwischen Weiß und
Schwarz nicht kennt, einfach mit weißen und schwarzen Gegenständen
konfrontieren können, sodass er durch eine „natürliche Folge“ zur Einsicht
gelangt, dass es hier einen relevanten Unterschied gibt, können wir auch den
radikalen Skeptiker mit verschiedenen Wahrnehmungssituationen konfron-

46
  Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 232, Z. 24–28): „Ad hoc esset unus modus dicendi quod
nullum esset medium ad probandum conclusionem, sed conceptus certitudinis, qui habetur,
habetur consecutione quadam naturali non per modum conclusionis. Exemplum in aliis
quod albedo et nigredo distinguantur; iste conceptus distinctionis non accipitur per modum
conclusionis ...“
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§ 29 Kriterieller Fundamentalismus 329

tieren. Auch er wird durch eine „natürliche Folge“ zur Einsicht gelangen,
dass es einen Unterschied zwischen veridischer und nicht-veridischer Wahr-
nehmung gibt, denn auch er wird wohl oder übel zugeben müssen, dass eine
Wahrnehmung unter günstigen oder ungünstigen Bedingungen, mit oder
ohne Klarheit, entstehen kann.
Natürlich könnte ein Skeptiker sogleich einwenden, dass dies eine sehr
schwache Verteidigung ist. Denn könnte es nicht sein, dass wir uns in der „na-
türlichen Folge“ täuschen? Es ist doch gut möglich, dass wir zwar einen Un-
terschied zwischen verschiedenen Bedingungen treffen, aber nicht jenen, der
für das Zustandekommen von veridischen Wahrnehmungen ausschlaggebend
ist. So kann ich etwa feststellen, dass ein Gegenstand einmal im Morgenlicht
und einmal im Abendlicht gesehen wird. Doch dieser Unterschied spielt keine
Rolle, da der fragliche Gegenstand in beiden Situationen klar gesehen wird.
Zudem ist es möglich, dass ich zwar den relevanten Unterschied feststelle, aber
mich trotzdem irre, weil ich durch die „natürliche Folge“ gleichsam überrum-
pelt werde und vorschnell meine, es würden günstige Wahrnehmungsbedin-
gungen vorliegen. Wenn ich etwa eine Statue einmal aus hundert Metern Ent-
fernung und einmal aus zehn Metern Entfernung sehe, meine ich sogleich, die
kurze Distanz sei die angemessene. Trotzdem irre ich mich, weil ich die Statue
selbst aus dieser Entfernung nicht genau zu erkennen vermag. Die „natürliche
Folge“ ist ja bloß ein psychischer Vorgang, der noch keineswegs eine korrekte
Bestimmung der angemessenen Wahrnehmungsbedingungen garantiert. Eine
solche Bestimmung wäre nur möglich, wenn mithilfe eines neutralen Kriteri-
ums evaluiert werden könnte, ob durch die „natürliche Folge“ auch tatsächlich
die relevanten Wahrnehmungsbedingungen auf korrekte Weise unterschieden
werden. Doch genau dieses Kriterium fehlt.
In der Tat liefert Nikolaus kein Kriterium, das ein für allemal jede Täu-
schungsmöglichkeit ausschließt. Er verfolgt aber auch nicht das Ziel, ein
solches Kriterium zu formulieren. Wie bereits festgehalten wurde, will er ja
gar nicht beweisen, dass genau jene Bedingungen vorliegen, die eine veridi-
sche Wahrnehmung ermöglichen. Sein Ziel besteht nur darin, auf ein Fak-
tum hinzuweisen, das selbst ein Skeptiker anerkennen muss: Ob wir wollen
oder nicht, wir treffen durch eine „natürliche Folge“ eine Unterscheidung
zwischen verschiedenen Wahrnehmungsbedingungen und verdeutlichen da-
durch, dass wir über eine natürliche Veranlagung verfügen, die es uns erlaubt,
zwischen einzelnen Situationen zu differenzieren. Diese Veranlagung bietet
zwar keine absolute Gewähr dafür, dass wir die richtige Differenzierung vor-
nehmen, aber sie ermöglicht uns doch, eine radikale Skepsis zurückzuweisen.
Nikolaus’ eigener Vergleich mit der Fähigkeit, zwischen weißen und schwar-
zen Gegenständen zu unterscheiden, mag dies verdeutlichen. Angenommen,
ein Skeptiker bezweifelt radikal, dass wir verschiedene Farben unterscheiden
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330 Zweifel am demonstrativen Wissen

können. Daraufhin weisen wir ihn auf das simple Faktum hin, dass wir
doch ganz natürlich und spontan zwischen schwarzen und weißen Gegen-
ständen unterscheiden, und zwar bevor wir die entsprechenden Farbwörter
gelernt haben. Unser Sinnesapparat ist so angelegt, dass er uns (genauso wie
den Tieren) eine Differenzierung zwischen dunklen und hellen Flecken er-
möglicht. Zwar bietet dies noch keine Garantie dafür, dass wir immer die
richtige Differenzierung vornehmen. Aber wir kämen gar nicht dazu, eine
Differenzierung vorzunehmen, wenn es nicht in den Gegenständen selbst
reale Differenzen gäbe. Ähnlich gilt auch für die Bestimmung der Wahr-
nehmungsbedingungen: Wir kämen gar nicht dazu, durch eine „natürliche
Folge“ die angemessenen Wahrnehmungsbedingungen zu bestimmen, wenn
es nicht in der Welt unterschiedliche Bedingungen gäbe, von denen die einen
eine veridische Wahrnehmung ermöglichen und die anderen nicht.
Nikolaus begnügt sich allerdings nicht mit dieser Plausibilisierungsstra-
tegie. Er führt auch ein Argument an, das verdeutlicht, in welche Sackgasse
der Skeptiker gerät, wenn er einen endgültigen Beweis für den veridischen
Charakter der Wahrnehmungen „im vollen Licht“ fordert.47 Sobald man einen
Beweis formulieren will, so hält Nikolaus fest, muss man Prämissen formulie-
ren. Doch mit welchem Recht darf man annehmen, die Prämissen seien wahr?
Auf diese Frage sind drei Antworten möglich. Man könnte erstens versuchen,
einen weiteren Beweis zu formulieren, mit dem die Wahrheit der Prämissen
nachgewiesen wird. Damit würde man sich aber unweigerlich in einen Regress
begeben. Denn für jeden Beweis könnte ein weiterer Beweis gefordert wer-
den, mit dem die Wahrheit der jeweiligen Prämissen nachgewiesen wird. Um
diesem Problem zu entgehen, könnte man eine zweite Antwort formulieren
und behaupten, die Prämissen seien einfach an sich wahr. Dies wäre aber nicht
mehr als eine dogmatische Behauptung. Um dieser unattraktiven Lösung zu
entgehen, könnte man schließlich drittens sagen, die Prämissen seien evident
und deshalb wahr. Damit würde man sich aber in einen Zirkel begeben. Ei-
nerseits würde man nämlich behaupten, die evidenten Wahrnehmungen „im
vollen Licht“ seien veridisch, weil es einen Beweis mit wahren Prämissen für
sie gibt. Andererseits würde man sagen, die Prämissen seien wahr, weil sie
evident sind. Kurzum: Evidenz würde mit Verweis auf Wahrheit gerechtfer-
tigt und Wahrheit mit Verweis auf Evidenz. Aus diesem Grund bietet auch die
dritte Antwort keinen Ausweg aus der skeptischen Sackgasse.
Mit diesem Verweis auf die Unmöglichkeit einer letzten Rechtfertigung
macht Nikolaus auf das berühmte Rechtfertigungstrilemma aufmerksam,
das bereits in der antiken Skepsis zitiert wurde.48 Wer eine letzte Rechtfer-
 Vgl. Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 237, Z. 1–7).
47

  Vgl. Sextus Empiricus, PH I, 164–169. Nikolaus verweist jedoch nicht auf diesen Text.
48

Nichts deutet darauf hin, dass er ihn direkt rezipiert hat.


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§ 29 Kriterieller Fundamentalismus 331

tigung geben will, scheitert unweigerlich, weil er (1) für jede Rechtfertigung
eine weitere liefern muss und dadurch in einen infiniten Regress gerät
oder (2) dogmatisch eine Rechtfertigung als die letzte behauptet, damit
aber nichts beweist, oder (3) sich in einem Zirkel verfängt, indem er eine
Rechtfertigung mit Verweis auf eine andere rechtfertigt. Da es nur diese
drei Optionen gibt, kann eine letzte Rechtfertigung nicht gelingen. Genau
aus diesem Grund weist Nikolaus die Forderung zurück, es müsse einen
letzten Beweis dafür geben, dass die Wahrnehmungen „im vollen Licht“
tatsächlich veridisch sind. Dies kann aufgrund der praktischen Erfahrung
nur angenommen und nicht bewiesen werden. Nikolaus sagt sogar, es müsse
„als ein Prinzip angenommen werden“, dass etwas wahr ist.49 Damit stellt er
nicht die dogmatische Behauptung auf, es gebe veridische Wahrnehmungen,
die gleichsam selbst-evident sind. Er stellt einfach fest, dass es ohnehin
keinen letzten Beweis für den veridischen Charakter gibt und dass es daher
aus praktischen Gründen geboten ist, das Prinzip „Was im vollen Licht er-
scheint, ist wahr“ als Grundprinzip zu akzeptieren. Dieses Prinzip kann
indessen nur angenommen und nicht bewiesen werden.
Mit diesem Rekurs auf ein unbewiesenes Prinzip macht Nikolaus einen
geschickten Schachzug. Anstatt sich auf das Spiel des Skeptikers ein-
zulassen, der eine letzte Rechtfertigung fordert, stellt Nikolaus genau diese
Forderung infrage. Er wirft gleichsam den Ball an den Skeptiker zurück
und fragt: Warum müssen wir überhaupt eine letzte Rechtfertigung liefern?
Warum reicht es nicht aus, dass wir ein durch praktische Erfahrung gestütz-
tes Prinzip annehmen – ein Prinzip, das uns ermöglicht, die zahlreichen
Erscheinungen nach bestimmten Kriterien zu testen und so eine Wissens-
grundlage zu finden? Es wäre doch unvernünftig, jeden Wissensanspruch
aufzugeben, nur weil es keine Letztbegründung gibt. Sieht der Skeptiker
dies ein, verschwindet auch seine obsessive Suche nach einer endgültigen
Widerlegung sämtlicher Täuschungsszenarien.
Versteht man Nikolaus’ antiskeptische Strategie auf diese Weise, wird
auch verständlich, warum er trotz seines fundamentalistischen Ansatzes
nicht behauptet, es gebe eine absolut sichere Wissensgrundlage. Er stellt
vorsichtig fest:
„Ich sage also: Wenn es für uns eine Gewissheit von den Dingen gibt, ist es wahr-
scheinlich, dass all das, was zu existieren scheint, existiert, und dass all das, was
wahr zu sein scheint, wahr ist.“50

49
  Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 237, Z. 1–3): „... illa conclusio, quae est probata ex hy-
pothesi, suppositum quod aliquid sit verum, debet assumi ut principium ...“
50
  Exigit ordo (ed.O’Donnell 1939, 228, Z. 18–20): „Dico igitur si aliqua certitudo nobis
insit de rebus quod probabile est quod omne illud quod apparet esse sit, et quod omne illud
quod apparet esse verum sit verum.“ Auch in der in Anm. 33 zitierten vierzehnten These
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332 Zweifel am demonstrativen Wissen

Entscheidend ist hier, dass Nikolaus feststellt, es sei wahrscheinlich, aber


nicht absolut sicher, dass das, was gemäß den genannten Bedingungen er-
scheint, tatsächlich so ist, wie es erscheint. Mehr als Wahrscheinlichkeit lässt
sich nicht gewinnen, da es ja keinen letzten Beweis dafür geben kann, dass
die Bedingungen erfüllt sind. Nikolaus vertritt also keinen dogmatischen
Fundamentalismus, wenn er behauptet, Wissen müsse auf einer sicheren
Grundlage etabliert werden und die Gewissheit der wahrnehmbaren Ob-
jekte sei eine solche Grundlage. Er tritt vielmehr für eine Position ein, die
man kriteriellen Fundamentalismus nennen könnte. Das heißt: Wenn wir die
Wissensgrundlage gemäß bestimmten Kriterien prüfen und feststellen, dass
diese Kriterien erfüllt sind, dann dürfen wir mit gutem Recht behaupten,
dass wir über eine sichere Grundlage verfügen und dass somit unser Wissen
nicht wieder revidiert und korrigiert werden muss. Doch eine letzte Garantie
dafür, dass die Grundlage tatsächlich sicher ist, haben wir nicht. Trotzdem
ist dies ein weitaus besseres Verfahren als jenes, das Bernhard von Arezzo
vorschlägt. Bernhard geht nämlich davon aus, dass wir in einer normalen
Situation veridische Erscheinungen haben, hält aber dann einschränkend
fest, dass sich jede Erscheinung auch als falsch erweisen könnte – ob eine
Erscheinung tatsächlich veridisch ist, können wir nicht überprüfen. Indem
Nikolaus genaue Kriterien angibt, ermöglicht er eine solche Überprüfung.
Er stipuliert nicht einfach eine normale Wahrnehmungssituation, sondern
liefert ein kriterielles Verfahren zur Feststellung einer solchen Situation.
Wird dieses Verfahren erfolgreich angewendet, entsteht zwar kein absolut
sicheres, gegen jeden skeptischen Einwand immunisiertes Wissen davon,
dass eine sichere Grundlage vorliegt. Wissen kann nie auf eine Grundlage
gestellt werden, von der es ihrerseits ein Wissen gibt. Trotzdem gibt es mehr
als einen bloßen Glauben.
Angesichts dieses methodischen Ansatzes lässt sich eine berühmt-be-
rüchtigte These besser verstehen, die immer wieder als Beleg für Nikolaus’
angeblich radikalen Skeptizismus zitiert wurde. In einem der verurteilten
Artikel heißt es, „dass nicht mit Evidenz gezeigt werden kann, dass alles,
was erscheint, wahr ist.“51 Auf den ersten Blick scheint diese Aussage zu
belegen, dass Nikolaus annimmt, Sein und Schein könnten immer aus-

sagt Nikolaus nicht absolut, dass all das, was den Sinnen evident ist, auch wahr ist. Er fügt
einschränkend hinzu: „... wenn es denn von solchen Objekten eine Gewissheit gibt.“ Das
heißt: Wenn überhaupt festgestellt werden kann, dass die Bedingungen für Gewissheit erfüllt
sind, und wenn somit etabliert werden kann, dass Gewissheit besteht, dann kann behauptet
werden, dass die Erscheinungen „im vollen Licht“ veridisch sind. Denery 2005, 154, stellt
daher zu Recht fest, dass Nikolaus keine absolute These vertritt, sondern „the most probable
hypothesis“ vorstellt.
51
 Art. 43 in Correspondence, Appendix B (ed. de Rijk 1994, 182): „Dixi semel in vico Stra-
minum quod non potest evidenter ostendi quin omnia que apparent, sint vera.“
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§ 29 Kriterieller Fundamentalismus 333

einander klaffen: Aus der Tatsache, dass uns etwas auf eine bestimmte
Weise erscheint, können wir nicht schließen, dass es auch so ist. Liest man
diese These aber im Kontext des kriteriellen Fundamentalismus, ist sie
vielmehr so zu verstehen, dass nicht unkritisch alles, was erscheint, gleich
für wahr gehalten werden darf; nicht jede Erscheinung ist veridisch. Wenn
die Erscheinungen aber geprüft werden, stellt sich heraus, dass zumindest
einige von ihnen – genau jene, die „im vollen Licht“ erworben werden – den
Kriterien für veridische Erscheinungen genügen. Diese und nur diese Er-
scheinungen sind dann als Wissensgrundlage zu wählen. Nikolaus vertritt
mit der zitierten These also keinen radikalen Skeptizismus, sondern er
versucht gerade umgekehrt, skeptische Einwände gegen die fundierende
Funktion der Erscheinungen zurückzuweisen. Aus der Tatsache, dass einige
Erscheinungen nicht veridisch sind, darf nämlich nicht gefolgt werden, dass
gleich alle unbrauchbar sind. Und aus der Tatsache, dass sie kein absolut
sicheres, mit einer Letztbegründung gefestigtes Wissensfundament dar-
stellen, folgt keineswegs, dass sie kein Fundament bilden.
Ein Skeptiker könnte sich aber immer noch nicht geschlagen geben und
folgenden Einwand gegen Nikolaus’ gesamtes Projekt der Suche nach fun-
dierenden Erscheinungen vorbringen: Es mag wohl sein, dass wir durch ein
kriterielles Vorgehen einige Erscheinungen bestimmen können, die wir als
Wissensgrundlage verwenden. Aber wer garantiert, dass diese Erscheinun-
gen, mögen sie noch so sorgfältig geprüft sein, tatsächlich die Gegenstände
so darstellen, wie sie sind? Es könnte doch immer sein, dass die Erschei-
nungen zwar unter den bestmöglichen Bedingungen erworben werden und
miteinander übereinstimmen, aber trotzdem die Gegenstände nicht korrekt
darstellen. Eine optimale Genese und Kohärenz der Erscheinungen gewähr-
leistet noch keinen veridischen Charakter.
Nikolaus scheint sich eines solchen möglichen Einwandes bewusst zu
sein. Er betont nämlich, dass sich selbst bei einer optimalen Erscheinung
immer noch die Frage stellt, in welcher Relation sie zu einem Gegenstand
steht. Das viel zitierte Beispiel des Holzstabes möge diese Frage veranschau-
lichen. Angenommen, der Holzstab liegt auf trockenem Boden vor mir, ich
sehe ihn aus drei Metern Distanz, meine Sehkraft ist ausgezeichnet und
meine Erscheinung ist klar. Kann ich dann sicher sein, dass meine Erschei-
nung den realen Holstab korrekt darstellt? Habe ich eine Gewähr dafür, dass
tatsächlich eine Korrespondenzbeziehung vorliegt? Nikolaus zufolge lässt
sich diese Frage nur positiv beantworten, wenn eine notwendige Relation
zum Holzstab angenommen wird, denn nur dann muss die Erscheinung den
Holzstab so darstellen, wie er ist. 52 Liegt lediglich eine kontingente Relation

  Exigit ordo (ed. O‘Donnell 1939, 230, Z. 38–41): „Igitur oportet quod habeat habitudi-
52
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334 Zweifel am demonstrativen Wissen

vor, kann sie ihn korrekt darstellen oder auch nicht. Doch wie ist eine not­
wendige Relation möglich? Nikolaus’ Antwort auf diese Frage ist eindeutig:
nur wenn die Erscheinung und der dargestellte Gegenstand identisch sind.
Die Übereinstimmung einer Erscheinung mit dem Gegenstand kommt
nämlich nur dadurch zustande, dass ein und derselbe Gegenstand sowohl
in der sinnlichen Erscheinung als auch in der materiellen Welt existiert.53
Magister Aegidius, der Nikolaus’ epistemologische Theorie darstellte und
kritisierte, stellte bereits fest, dass dies eine seiner Kernthesen ist:
„Euren Aussagen zufolge ist es notwendig, dass die intuitive Erkenntnis mit dem
erkannten Gegenstand identisch ist. Andernfalls würde nicht folgen: ‚Ein Gegen-
stand erscheint auf intuitive Weise; also existiert der Gegenstand‘.“54

Nur wenn meine Erscheinung vom Holzstab mit dem Holzstab auf dem
Boden identisch ist, ist garantiert, dass der Holzstab auch existiert und in
der Erscheinung korrekt dargestellt wird. Diese Erklärung wirft freilich
mehr Probleme auf, als sie zu lösen vorgibt. Wie kann denn eine Erschei-
nung mit einem Gegenstand identisch sein? Die Erscheinung ist doch ein
mentaler Zustand, genauer gesagt: der Inhalt eines mentalen Zustandes. Der
Gegenstand hingegen ist eine materielle Identität. Wie kann etwas Mentales
mit etwas Materiellem identisch sein?
Zur Beantwortung dieser Frage greift Nikolaus auf eine Theorie zurück,
die bereits in den vorangehenden Kapiteln dargestellt wurde. Er behauptet,
dass ein und derselbe Gegenstand sowohl auf materielle Weise in der Außen-
welt als auch auf immaterielle Weise in der Erscheinung existieren kann. Mit
Rückgriff auf die von Scotus verwendete Terminologie sagt er auch, dass
der Gegenstand in der Erscheinung eine „objektive Existenz“ hat. Diese Art
von Existenz weist ein Gegenstand auf, sobald er zunächst in die Sinne und
dann in den Intellekt aufgenommen wird.55 Nikolaus betont daher, er ver-
stehe unter der objektiven Existenz bzw. dem objektiven Sein nichts anderes
als „das Sein eines Objekts, das eine gewisse Vermischung und untrennbare

nem necessariam, et si sic, poterit concludi per modum conclusionis; nam dato uno et inexi-
stente videntur inexistere omnia quae necessario sequuntur.“
53
  Exigit ordo (O’Donnell 1939, 229, Z. 32–35): „... nam talis conformitas ad rem extra non
est nata esse in apparentia proprie nisi per extremum secundum quod magis attenditur, puta
secundum quod res actualiter existunt in se et ut cognitae per sensus exteriores.“
54
  Correspondence III.14 (ed. de Rijk 1994, 84): „Secundum dicta vestra necesse est quod
cognitio intuitiva sit eadem cum re cognita, quia aliter non sequeretur ,res intuitive apparet;
ergo res est‘.“ Wie Grellard 2001, 26–27, nachgewiesen hat, wird auch in einer Handschrift
der British Library (Hs. Harley 3243, f. 134b), die Nikolaus’ Position in einer anonymen
Quaestio überliefert, genau diese Identität betont.
55
 Nikolaus veranschaulicht diesen rezeptiven Vorgang am Beispiel der Weiße, die auf-
genommen wird und dann als Objekt des Intellekts existiert. Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939,
241, Z. 27–28): „... ipsa albedo recipitur ex parte subjecti secundum esse quod habet secundum
quod est objectum intellectus vel imaginationis ...“
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§ 29 Kriterieller Fundamentalismus 335

Verbindung mit dem Akt aufweist, sodass überall dort, wo ein Akt fest-
gesetzt wird, auch dieses objektive Sein festgesetzt wird.“56 Diese Verbin-
dung ist so perfekt, dass „der Akt eine gewisse Konfiguration (configuratio)
des Objekts im Intellekt ist.“57 Diese Aussagen wirken natürlich immer
noch reichlich obskur, aber sie lassen sich verstehen, wenn sie im Rahmen
einer scotisch inspirierten Theorie des Erkenntnisprozesses gelesen werden.
Wie in § 9 bereits deutlich geworden ist, geht Scotus von der Annahme aus,
dass der Intellekt in einem solchen Prozess nicht eine innere Repräsentation
gewinnt, die vom äußeren Gegenstand vollständig verschieden ist, sondern
den Gegenstand selbst aufnimmt und zum Inhalt einer intelligiblen Species
macht. Dieser Inhalt ist dann nichts anderes als der Gegenstand, der als Ob-
jekt des Intellekts und daher mit objektiver Existenz präsent ist. Hat der In-
tellekt den Gegenstand vollständig aufgenommen, verfügt er auch vollstän-
dig über ihn und wird durch ihn strukturiert bzw. „konfiguriert“. Genau
diesen Gedanken übernimmt Nikolaus von Scotus, wenn er von einer Kon-
figuration spricht. Dass der Akt des Intellekts durch einen Gegenstand kon-
figuriert wird, heißt nämlich nichts anderes, als dass er diesen Gegenstand
vollständig aufnimmt und durch ihn strukturiert wird. Der Intellekt eignet
sich den Gegenstand gleichsam an, indem er ihn mit objektiver Existenz in
sich aufnimmt. Freilich grenzt sich Nikolaus in einem Punkt von Scotus ab.
Während Scotus behauptet, der Intellekt benötige für diese Aneignung die
intelligible Species als eine besonderes kognitive Entität, vertritt Nikolaus
die Ansicht, dass eine solche Entität überflüssig ist.58 Er radikalisiert Scotus’
Theorie, indem er behauptet, bereits der Akt des Intellekts – nicht die in-
telligible Species, die der Intellekt erst herstellen und erfassen muss – werde
durch den Gegenstand konfiguriert. Die Grundaussage beider Autoren ist
aber die gleiche: Wenn der Intellekt den Gegenstand aufnimmt, hat dieser
eine zweifache Existenz, eine materielle in der Außenwelt und eine objektive
im Intellekt.
Mit dieser Theorie lässt sich nun die Frage beantworten, wie denn etwas
Mentales (der Inhalt einer Erscheinung) mit etwas Materiellem (einem
Gegenstand in der Außenwelt) identisch sein kann. Dies ist möglich, weil
der Inhalt der Erscheinung nichts anderes ist als der Gegenstand, der mit
objektiver Existenz im Intellekt ist. Es gibt hier nicht zwei distinkte Gegen-
stände, sondern zwei Existenzweisen eines Gegenstandes – es ist derselbe

  Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 243, Z. 11–14): „... per esse objectivum intelligo illud
56

esse objecti quod habet quamdam copulationem et indivisionem cum actu, ita quod ubicum-
que ponitur actus, ponetur et illud objectivum esse ...“
57
  Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 238, Z. 29–30): „... cum actus sit configuratio quaedam
objecti in intellectu.“
58
  Vgl. zur Kritik an der Species-Theorie Grellard 2005, 123–125.
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336 Zweifel am demonstrativen Wissen

Gegenstand, der materiell in der Außenwelt und objektiv im Intellekt exis-


tiert. Diese Antwort ist in ontologischer Hinsicht natürlich alles andere als
harmlos. Sie setzt einen Universalienrealismus voraus, dem zufolge ein und
derselbe Gegenstand verschiedene Instantiierungen haben kann. Nikolaus
zögert nicht, diese ontologische Verpflichtung einzugehen. Er spricht sogar
von der „spezifischen Natur“ eines Gegenstandes, die an mehreren Orten
und in verschiedenen Individuen instantiiert sein kann, und verteidigt in
klarer Abgrenzung gegenüber nominalistischen Programmen eine realisti-
sche Ontologie.59
Hier soll nicht die Begründung einer solchen Ontologie untersucht
werden. Entscheidend ist vielmehr ihre Funktion für eine Begründung
von Wissensansprüchen. Wie sich gezeigt hat, können derartige Wissens-
ansprüche, die sich auf veridische Erscheinungen berufen, immer mit einem
skeptischen Argument infrage gestellt werden. Wie, so fragt der Skeptiker,
können wir denn sicher sein, dass unsere Erscheinungen – mögen sie sich
auch in einem Prüfungsverfahren als korrekt erworben und klar heraus-
gestellt haben – tatsächlich veridisch sind und existierende Gegenstände so
präsentieren, wie sie wirklich sind? Könnte es nicht sein, dass sämtliche Er-
scheinungen eine in sich kohärente Welt bilden, die nicht mit der materiellen
Welt übereinstimmt? Genau diesen Einwand kann Nikolaus mit seiner
Theorie der zweifachen Existenzweise zurückweisen. Wenn nämlich die Ge-
genstände selbst im Intellekt sind, ja wenn sie den Inhalt der Erscheinungen
bilden, dann sind die Erscheinungen identisch mit den Gegenständen. Dann
ist auch klar, warum eine notwendige Relation zwischen den Erscheinungen
und den Gegenständen besteht. Ein Gegenstand ist nämlich notwendiger-
weise mit sich selbst identisch. Oder genauer ausgedrückt: Ein Gegenstand,
insofern er mit objektiver Existenz im Intellekt ist und den Inhalt einer Er-
scheinung bildet, ist notwendigerweise identisch mit sich selbst, insofern er
mit materieller Existenz in der Außenwelt ist. Es gibt hier keine Trennung
zweier Gegenstände, sondern nur zwei Instantiierungen ein und desselben
Gegenstandes. Wo es keine Trennung gibt, kann auch keine skeptische Ge-
fahr auftauchen. Denn aufgrund der Identität ist es unmöglich, dass die Welt
der Erscheinungen vollständig von der Welt der materiellen Gegenstände
abgekoppelt ist. Verkürzt ausgedrückt könnte man sagen: Eine Erscheinung
muss einen Gegenstand korrekt darstellen, weil der Inhalt der Erscheinung
und der Gegenstand zwei Instantiierungen ein und derselben Entität sind.
Zieht man diese Identitätstheorie in Betracht, lässt sich eine Inter-
pretation zurückweisen, die seit J. Weinbergs Pionierstudie immer wieder

 Vgl. Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 195, Z. 5); zur realistischen Ontologie vgl. Kaluza
59

1998.
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§ 29 Kriterieller Fundamentalismus 337

vertreten worden ist. Weinberg behauptete, Nikolaus habe mit seinem Ver-
weis auf Erscheinungen „im vollen Licht“ zwar ein Wissensfundament ge-
schaffen, jedoch nur für ein Wissen von den eigenen „Bewusstseinsdaten“.
Dass diese Daten von äußeren Gegenständen verursacht werden und diese
korrekt darstellen, stehe in keiner Weise fest.60 Es ist leicht ersichtlich, dass
diese Interpretation auf einen Solipsismus hinausläuft: Zwar gibt es ein
Wissen, aber nur von den eigenen mentalen Daten. Ob und wie diese Daten
in einer Relation zu äußeren Gegenständen stehen, entzieht sich jedem
Wissen. Es wäre höchst erstaunlich, wenn Nikolaus sich auf diese Position
festlegte. Dann würde er ja genau das behaupten, was er an Bernhard von
Arezzos Theorie kritisiert, nämlich dass von den eigenen Erscheinungen nie
auf wirklich existierende Gegenstände geschlossen und nie ein Wissen von
diesen Gegenständen erworben werden kann. Dass er sicherlich nicht eine
solche Position vertritt, wird angesichts der Identitätstheorie deutlich. Wenn
nämlich der Inhalt einer Erscheinung und der äußere Gegenstand zwei In-
stantiierungen ein und derselben Entität sind, ist durch das Erfassen einer
Erscheinung immer auch ein Erfassen des äußeren Gegenstandes möglich.
Es gibt hier keine Kluft zwischen Schein und Sein.
Freilich ist zu betonen, dass dies nicht pauschal für alle Erscheinungen
gilt. Dies trifft nur auf die Erscheinungen „im vollen Licht“ zu, d.h. auf
jene, die sich in einem Prüfungsverfahren als veridische Erscheinungen he-
rausgestellt haben. Und selbst für diese Erscheinungen gibt es keinen letzten
Beweis, dass sie tatsächlich veridisch sind. Nikolaus behauptet ja nur, dass
es sehr wahrscheinlich ist, dass einige Erscheinungen veridisch sind. Des-
halb gilt auch für die ganze Argumentation, die auf eine Identitätsrelation
abzielt, dass damit nicht eine Letztbegründung geliefert wird. Es wird nur
eine Theorie vorgelegt, die eine konsistente und plausible Erklärung dafür
liefert, weshalb die Erscheinungen „im vollen Licht“ die Gegenstände
korrekt darstellen müssen. Doch mehr als hohe Plausibilität lässt sich hier
ohnehin nicht gewinnen.
Heißt dies, dass Nikolaus eine plausible Theorie dafür liefert, dass wir
uns aufgrund der veridischen Erscheinungen der Existenz von Holzstäben,
Bäumen und vielen anderen Dingen sicher sein können? Nicht ganz. Niko-
laus behauptet nur, dass wir uns der Gegenstände der fünf Sinne sicher sein
können. Dies sind aber nur die Sinneseigenschaften, d.h. Eigenschaften,
die jeweils einem Sinn (Farben, Töne, Geschmäcke usw.) oder mehreren
Sinnen (Größe, Figur usw.) zugänglich sind. Wenn ich etwa eine veridische
Erscheinung von einem Holzstab habe, kann ich nur wissen, dass etwa
60
  Weinberg 1948 (Nachdruck 1969), 108: „The argument that a datum evidently exists and
is caused by natural causes, therefore, an external thing exists, is formally valid but useless
because there is not the slightest evidence for one of its premises.“
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338 Zweifel am demonstrativen Wissen

Braunes, Hartes und Langes vor mir liegt. Ich verfüge aber nicht über eine
Basis, um zu wissen, dass es eine Substanz gibt, die als Trägerin für alle
wahrnehmbaren Eigenschaften fungiert. Die Substanz ist nämlich kein Ge-
genstand der fünf Sinne. Deshalb betont Nikolaus, Aristoteles habe niemals
ein Wissen von einer anderen Substanz als der eigenen Seele gehabt, „wenn
man unter einer Substanz ein Ding versteht, das von den Objekten der fünf
Sinne und von unseren formalen Erfahrungen verschieden ist.“61 Damit ver-
tritt Nikolaus nicht einen radikalen Außenwelt-Skeptizismus, wie man auf
den ersten Blick vermuten könnte. Er weist nur darauf hin, dass man genau
zwischen den unmittelbar präsenten Objekten der fünf Sinne und den bloß
vermuteten oder theoretisch hergeleiteten Entitäten unterscheiden muss.
Nur von den Objekten der fünf Sinne kann es Erscheinungen „im vollen
Licht“ geben. Und nur von ihnen kann es folglich ein Wissen im strengen
Sinne geben.62 Dies gilt auch für die Objekte der inneren Erfahrung. Streng
genommen kann man nicht wissen, dass der eigene Intellekt oder der Wille
existiert. Man kann nur wissen, dass Akte des Intellekts oder des Willens
existieren, denn nur diese Akte sind zu dem Zeitpunkt, zu dem sie voll-
zogen werden, absolut gewiss.63 Ob es einen Intellekt bzw. einen Willen als
verborgenen Träger der Akte gibt, entzieht sich der Erfahrung.
In diesem Punkt zeigt sich natürlich eine verblüffende Parallele zu Hume.
Denn genau wie Hume behauptet, er habe nie eine Seelensubstanz als Trä-
gerin der geistigen Perzeptionen wahrgenommen, sondern nur die einzelnen
Perzeptionen, stellt auch Nikolaus fest, dass ihm nur die einzelnen Akte des
Intellekts und des Willens gewiss sind, nicht aber Substanzen oder andere
versteckte Trägerinnen für diese Akte. Allerdings bestreitet Nikolaus nicht,
dass es einen Intellekt oder einen Willen gibt. Er stellt nur fest, dass er über
keine Gewissheit von ihrer Existenz verfügt und dass deshalb kein Wissen
im strengen Sinn möglich ist. Dies schließt aber nicht aus, dass es andere
epistemische Einstellungen – etwa begründetes Glauben, Vermuten oder
Annehmen – geben kann. Im Gegensatz zu Hume legt sich Nikolaus nicht
auf eine Bündeltheorie des Geistes fest.

61
  Correspondence II.22 (ed. de Rijk 1994, 72): „... numquam Aristotiles habuit notitiam
evidentem de aliqua substantia alia ab anima sua, intelligendo ,substantiam‘ quandam rem
aliam ab obiectis quinque sensuum et a formalibus experientiis nostris.“
62
 Thijssen 2000, 216, stellt daher prägnant fest: „Autrecourt is not a sceptic, but an empi-
ricist.“ Man könnte sogar von einem empiristischen Fundamentalismus sprechen: Nur was
der äußeren Erfahrung (wahrnehmbare Eigenschaften) oder der inneren Erfahrung (eigene
mentale Akte) direkt zugänglich ist, ist – abgesehen vom ersten Prinzip – ein sicheres Wis-
sensfundament.
63
 Daher behauptet Nikolaus, dass eine Inferenz wie ‚Ein Akt des Verstehens existiert, also
existiert ein Intellekt‘ nicht evident ist. Vgl. Correspondence, Appendix B, art. 33 (ed. de Rijk
1994, 180).

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§ 30 Die Gewissheit des ersten Prinzips 339

Mit der Gewissheit von den eigenen Akten und den wahrnehmbaren
Eigenschaften hat Nikolaus sicherlich ein Fundament für sicheres Wissen
gelegt. Er kann nun den Skeptiker in die Schranken weisen, denn er vermag
ja zu zeigen, dass Wissen in bestimmten Bereichen möglich ist, auch wenn
dafür keine Letztbegründung gegeben werden kann. Doch das so etablierte
Wissen erweist sich bei näherer Betrachtung als sehr punktuell und auf einen
kleinen Bereich beschränkt. Man kann immer nur die Gewissheit einzelner
wahrnehmbarer Eigenschaften und Akte als Wissensgrundlage reklamieren.
Daher kann man nur Aussagen wie ‚Ich weiß, dass Süßes existiert‘ oder ‚Ich
weiß, dass ich jetzt gerade denke‘ treffen. Doch man ist nicht berechtigt, da-
rüber hinausgehende Wissensansprüche zu erheben. So darf man nie sagen:
‚Ich weiß, dass Zucker süß ist‘. Damit würde man die wahrgenommene Ei-
genschaft einer Substanz zuschreiben, für deren Existenz es keine Gewiss-
heit gibt. Ebenso wenig darf man sagen: ‚Ich weiß, dass das Essen von Zucker
die Geschmackswahrnehmung von etwas Süßem auslöst‘. Damit würde man
auf eine Kausalbeziehung verweisen, für deren Existenz es ebenfalls keine
Gewissheit gibt. Heißt dies, dass Wissen von kausalen Zusammenhängen
unmöglich ist? Um diese Frage zu beantworten, muss untersucht werden,
ob es noch eine andere Art von Gewissheit gibt, die Wissen fundiert. Erst
dann lässt sich beurteilen, wie weit die Wissensansprüche aufrechterhalten
werden können, indem sie auf eine sichere Grundlage gestellt werden, und
wie weit sie eingeschränkt oder gar aufgegeben werden müssen.

§ 30 Die Gewissheit des ersten Prinzips

Bislang ist deutlich geworden, dass Nikolaus eine fundamentalistische Kon-


zeption von Wissen vertritt. Wissen muss seiner Ansicht nach auf einer
Grundlage beruhen, die sich durch Gewissheit auszeichnet. Es hat sich auch
herausgestellt, dass es mindestens zwei derartige Grundlagen gibt, nämlich
das Erfassen der wahrnehmbaren Eigenschaften „im vollen Licht“ und die
Präsenz der eigenen mentalen Akte. Nikolaus gibt sich jedoch nicht mit
diesem Resultat zufrieden. Er vertritt darüber hinaus die These, dass noch
eine weitere Wissensgrundlage besteht: die Gewissheit des ersten Prinzips.
Er behauptet sogar, dass „jede Gewissheit, die wir haben, auf dieses Prinzip
zurückgeführt wird.“64 Somit gibt es streng genommen nicht einfach drei
verschiedene Arten der Gewissheit (und damit auch drei verschiedene Wis-
sensgrundlagen), sondern eine einzige, absolut fundamentale Gewissheit,

  Correspondence II.3 (ed. de Rijk 1994, 58): „Omnis certitudo a nobis habita resolvitur in
64

istud principium.“
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340 Zweifel am demonstrativen Wissen

auf die sich alle anderen Gewissheiten zurückführen lassen. Diese These
wirft sogleich zwei Fragen auf. Um welche Art von Prinzip handelt es sich
beim ersten Prinzip? Und wie lassen sich alle Gewissheiten auf die Gewiss-
heit dieses Prinzips zurückführen?
Betrachten wir zunächst die Erklärung des ersten Prinzips. Im zweiten
Brief an Bernhard von Arezzo führt Nikolaus es als ein logisches Prinzip
ein, indem er es folgendermaßen charakterisiert: „Das Erste, das sich in der
argumentativen Ordnung einstellt, ist folgendes Prinzip: Widersprüchliches
kann nicht gleichzeitig wahr sein.“65 Dies ist genau die Formulierung des
Prinzips der Widerspruchsfreiheit, die bereits Aristoteles verwendet hatte.66
Da nur Aussagesätze – nicht etwa einzelne Wörter oder beliebige Kom-
binationen von Wörtern – wahr oder falsch sein können, ist das Prinzip so
zu verstehen, dass kontradiktorische Aussagesätze nicht gleichzeitig wahr
sein können. Im Traktat Exigit ordo führt Nikolaus das erste Prinzip indes-
sen als epistemologisches Prinzip ein. Dort behauptet er: „Das Gegenteil
dessen, was klar und evident erkannt wird, kann nicht der Fall sein.“67 Hier
scheint es nicht mehr um Aussagesätze zu gehen, sondern um Gegenstände
der Erkenntnis. Wenn sie auf eine bestimmte Art und Weise erfasst werden
(nämlich evident und nicht obskur), sind zwei einander entgegengesetzte
Gegenstände nicht miteinander verträglich. In den verurteilten Artikeln
wird noch eine weitere Variante zitiert. Dort ist von einem ontologischen
Prinzip die Rede. Es heißt nämlich: „Dies und nicht etwas anderes ist das
erste Prinzip: ‚Wenn etwas existiert, existiert etwas.‘“68 Lässt sich angesichts
dieser drei verschiedenen Formulierungen überhaupt von einem einzigen
Prinzip sprechen? Liegen hier nicht drei verschiedene Prinzipien vor?
Betrachtet man die drei Formulierungen im historischen Kontext, ist es
nicht erstaunlich, dass Nikolaus verschiedene Varianten des ersten Prinzips
diskutiert. Bereits Siger von Brabant sprach von einer „dreifachen Form“
dieses Prinzips, und zahlreiche Autoren des späten 13. und frühen 14. Jhs.
diskutierten die logische Variante ebenso wie die epistemologische und die
ontologische.69 Nikolaus stellt aber nicht einfach verschiedene Varianten
lose nebeneinander. Er geht von einem einzigen Prinzip aus, das logischer
Natur ist: das Prinzip der Widerspruchsfreiheit. Dieses Prinzip hat jedoch

65
  Correspondence II.2 (ed de Rijk 1994, 58): „Et primum quod occurrit in ordine dicendo-
rum est istud principium: ‚Contradictoria non possunt simul esse vera‘.“
66
 Vgl. Met. IV, 6 (1011b13–14).
67
  Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 235, Z. 39–41): „... hoc est verum, oppositum illius quod
clare et evidenter cognoscitur non potest inesse ...“
68
  Correspondence, Appendix B (ed. de Rijk 1994, 200): „Quod hoc est primum principium,
et non aliud: ,si aliquid est, aliquid est‘.“
69
  Vgl. Siger von Brabant, In Met. IV, q. 11 (ed. Maurer 1983, 150). Zu den Diskussionen bei
Thomas von Aquin, Duns Scotus und anderen Autoren vgl. Schönberger 1995.
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§ 30 Die Gewissheit des ersten Prinzips 341

unmittelbare epistemologische und ontologische Konsequenzen. Die epis-


temologische Folge besteht darin, dass eine Person, die etwas mit Evidenz
erkennt und dann einen Satz über das Erkannte als wahr behauptet, nicht
gleichzeitig das kontradiktorische Gegenteil ebenfalls als wahr behaupten
kann. Nikolaus drückt dies folgendermaßen aus:
„Wenn der Intellekt von etwas sagen kann: ‚Dies ist wahr‘, kann das Gegenteil des-
sen, was klar und evident erkannt wird, nicht der Fall sein. Allgemein gilt nämlich:
Was dem Intellekt klar und evident ist, ist wahr, und umgekehrt.“70

Dies lässt sich anhand eines Beispiels veranschaulichen. Angenommen, ich


erfasse etwas Weißes auf klare und evidente Weise. Dies garantiert, dass ich
eine veridische Erscheinung habe, sodass ich die Aussage ‚Hier ist etwas
Weißes‘ bilden und als wahre Aussage behaupten kann. Nun kann ich nicht
gleichzeitig ‚Hier ist nicht etwas Weißes‘ behaupten, weil ich damit das lo-
gische Gesetz der Widerspruchsfreiheit verletzen würde. Dieses Gesetz gilt
ausnahmslos für alle Aussagen, auch für jene, die auf Erscheinungen beru-
hen. Man könnte sogar sagen, dass es für diese Aussagen in exemplarischer
Weise gilt. Gerade die Aussagen, die auf der Grundlage von veridischen
Erscheinungen gebildet werden, sind ja wahre Aussagen; ihr kontradiktori-
sches Gegenteil kann nicht gleichzeitig wahr sein.
Das logische Prinzip der Widerspruchsfreiheit hat aber auch eine ontolo-
gische Konsequenz. Wenn ich behaupte, dass ein Gegenstand existiert, kann
ich nicht gleichzeitig behaupten, dass er nicht existiert. Ich darf also nicht
die Aussage ‚Wenn x zum Zeitpunkt t existiert, existiert x zum Zeitpunkt t
nicht‘ machen, sondern bin zur tautologischen Aussage ‚Wenn x zum Zeit-
punkt t existiert, existiert x zum Zeitpunkt t‘ gleichsam gezwungen – genau
zu jener Aussage, die in der ontologischen Variante des ersten Prinzips fest-
gehalten wird.
Obwohl es auf den ersten Blick erscheint, als würde Nikolaus drei unter-
schiedliche Prinzipien postulieren, geht er offensichtlich von einem einzigen
logischen Prinzip aus, wendet es aber in verschiedenen Bereichen an. Dass
diese Anwendung möglich ist, liegt an der fundierenden Funktion der ve-
ridischen Erscheinung. Wenn eine solche Erscheinung nämlich eine korrekte
Erkenntnis von einem wahrnehmbaren Gegenstand ermöglicht, kann so-
gleich eine wahre Aussage über ihn gemacht werden. Und auf diese Aussage
trifft unweigerlich das Prinzip der Widerspruchsfreiheit zu. In überspitzter
Form könnte man sagen: Die veridischen Erscheinungen liefern das Material,
auf das das Prinzip der Widerspruchsfreiheit angewendet werden kann.

70
  Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 235, Z. 39–42): „... si de aliquo intellectus possit dicere:
hoc est verum, oppositum illlius quod clare et evidenter cognoscitur non potest inesse, ita
quod universaliter et conversive quicquid est clarum et evidens intellectui est verum.“
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342 Zweifel am demonstrativen Wissen

Doch warum behauptet Nikolaus, dass es sich bei diesem Prinzip um


das erste Prinzip handelt? Seine Begründung fällt knapp aus. Er sagt, es sei
zum einen in negativer Hinsicht das erste Prinzip, weil ihm kein anderes
vorausgehe; zum anderen sei es auch in positiver Hinsicht das erste Prinzip,
weil es jedem anderen vorausgehe.71 Wenn diese Begründung auch kurz ge-
halten ist, trifft sie doch den entscheidenden Punkt. Es kann nämlich kein
anderes Prinzip geben, auf das man sich berufen könnte, um das Prinzip
der Widerspruchsfreiheit zu begründen – kein anderes Prinzip ist fun-
damentaler. Würde man versuchen, ein noch fundamentaleres Prinzip zu
finden und zu begründen, müsste man sofort sagen: ‚Es ist wahr, dass dieses
Prinzip fundamentaler ist, und das kontradiktorische Gegenteil davon ist
nicht wahr.‘ Damit hätte man aber wieder vom Prinzip der Widerspruchs-
freiheit Gebrauch gemacht und gezeigt, dass es in der Tat das erste Prinzip
ist. Selbst ein radikaler Skeptiker, der bestreiten würde, dass dieses Prinzip
existiert und eine uneingeschränkte Gültigkeit hat, müsste es zugestehen.
Um seinen skeptischen Einwand zu erheben, müsste er nämlich sagen: ‚Ich
bestreite, dass das erste Prinzip als universelles Prinzip existiert.‘ Er könnte
aber nicht gleichzeitig das Gegenteil behaupten; andernfalls würde er sich
in einen Selbstwiderspruch verwickeln. Somit muss auch der Skeptiker vom
Prinzip der Widerspruchsfreiheit Gebrauch machen, und zwar gerade dann,
wenn er seinen Einspruch gegen dieses Prinzip vorbringen will.
Ein radikaler Skeptiker könnte sich allerdings immer noch nicht geschla-
gen geben und auf die Möglichkeit des göttlichen Eingreifens verweisen,
um die universelle Gültigkeit des ersten Prinzips infrage zu stellen. Genau
diese Strategie wählte Magister Aegidius in seinem Brief an Nikolaus.72 Er
behauptete, Nikolaus habe das erste Prinzip gar nicht als uneingeschränkt
gültiges Prinzip etabliert. Wer nämlich ein Prinzip nur als Folgesatz in
einer Implikation erfasse, habe von diesem Prinzip nur dann eine evidente
Erkenntnis, wenn er auch den Vordersatz mit Evidenz erkenne. Für die
evidente Erkenntnis des ersten Prinzips gelte aber immer die Implikation:
‚Wenn Gott jetzt gerade nicht durch ein Wunder jede Entität zunichte macht,
dann gilt das erste Prinzip.‘ Nun könne Nikolaus den Vordersatz nicht mit
Evidenz als wahren Satz erkennen; er wisse ja nicht, ob Gott jetzt gerade
eingreife oder nicht. Also könne er auch den Folgesatz nicht mit Evidenz als
wahren Satz erkennen. Also wisse er nicht, ob das erste Prinzip tatsächlich
gelte.
Nikolaus ist in seiner Antwort auf den Brief des Aegidius zwar nicht
auf diesen Einwand eingegangen, es ist aber leicht ersichtlich, dass er ihn

71
 Vgl. Correspondence II.2 (ed. de Rijk 1994, 58).
72
 Vgl. Correspondence III.34 (ed. de Rijk 1994, 96).
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§ 30 Die Gewissheit des ersten Prinzips 343

mit mindestens zwei Argumenten zurückweisen könnte. Zunächst könnte


er darauf verweisen, dass auch die theologische Omnipotenzlehre darauf
insistiert, dass Gott zwar alle Entitäten und alle Naturgesetze zunichte
machen kann, nicht aber das Prinzip der Widerspruchsfreiheit. An dieses
Prinzip ist selbst Gott gebunden, wie alle mittelalterlichen Autoren ein-
hellig betonten.73 Würde Gott nämlich dieses Prinzip aufheben, würde er
sich in Selbstwidersprüche verstricken. So würde er gleichzeitig festlegen,
dass bestimmte Naturgesetze gelten und dass sie nicht gelten; damit würde
jede Ordnung in der Schöpfung hinfällig. Wenn Gott irgendeine Ordnung
festlegen will, sei dies auch nur eine kontingente und jederzeit widerrufbare
Ordnung, dann muss er das Prinzip der Widerspruchsfreiheit respektieren.
Nikolaus könnte aber noch ein weiteres Argument gegen den Einwand
vorbringen. Es wird in der Tat nicht mit Evidenz erkannt, so könnte er
sagen, dass der Vordersatz ‚Gott macht jetzt gerade nicht durch ein Wunder
jede Entität zunichte‘ wahr ist. Dies heißt aber keineswegs, dass der Satz
nicht wahr oder falsch ist. Man darf hier nicht das epistemologische Pro-
blem, ob die Wahrheit eines Satzes erkannt wird, mit dem logisch-semanti-
schen Problem, ob ein Satz wahr oder falsch ist, verwechseln. Selbst wenn
die Wahrheit nicht erkannt wird, steht eindeutig fest, dass der Satz einen
bestimmten Wahrheitswert hat. Daher wird das erste Prinzip nicht dadurch
eingeschränkt oder gar widerlegt, dass die Wahrheit des Vordersatzes nicht
erkennbar ist. Das erste Prinzip bezieht sich ja nicht auf die Erkennbarkeit
der Wahrheit, sondern auf die Tatsache, dass ein Satz wahr ist und das kon-
tradiktorische Gegenteil nicht gleichzeitig wahr sein kann.
Selbst der Rekurs auf die Omnipotenzlehre schränkt somit das erste
Prinzip nicht ein. Damit ist gezeigt, dass es in der Tat das erste, universell
gültige Prinzip ist, von dem alle eine unmittelbare Gewissheit haben – selbst
jene, die es zu bestreiten versuchen. Diese Gewissheit kann durch nichts in-
frage gestellt oder relativiert werden. Es gibt auch keine Grade der Gewiss-
heit, wie Nikolaus betont.74 Das heißt, dass das erste Prinzip einer Person
nicht je nach Situation mehr oder weniger gewiss sein kann. Es kann auch
nicht mehreren Personen mehr oder weniger gewiss sein. Sobald es erfasst
wird, ist es uneingeschränkt gewiss. Dabei handelt es sich nicht einfach
um eine psychologische Gewissheit. Es geht nämlich nicht darum, dass
man das erste Prinzip mit besonderer Klarheit oder Sicherheit erfasst. Ent-
scheidend ist nur, dass man diesem Prinzip uneingeschränkt zustimmt, ja

73
 Daher akzeptierten alle die These, dass es einen Bereich der „absoluten Unmöglichkeit“
(vgl. Courtenay 1985, 248) gibt: Gott kann nicht wollen, dass eine Aussage gleichzeitig wahr
und nicht wahr ist bzw. – ontologisch gewendet – dass ein Sacherverhalt gleichzeitig der Fall
und nicht der Fall ist.
74
 Vgl. Correspondence II.6 (ed. de Rijk 1994, 60).
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344 Zweifel am demonstrativen Wissen

zustimmen muss, wann immer man eine Aussage macht. Nikolaus vertritt
also lediglich – um einen Ausdruck aus der gegenwärtigen Debatte aufzu-
greifen – einen „minimalen Fundamentalismus“,75 wenn er behauptet, dass
das erste Prinzip die Grundlage für jedes Wissen ist. Er behauptet nicht,
dass es einen psychologisch sicheren oder privilegierten Zugang zu dieser
Grundlage gibt, sondern stellt nur fest, dass jeder, der eine beliebige Aus-
sage macht, diese Grundlage berücksichtigen muss.
Nun steht zwar fest, um welches Prinzip es sich beim ersten Prinzip
handelt. Doch die zweite der eingangs aufgeworfenen Fragen ist noch
unbeantwortet geblieben. Wie lässt sich jede Gewissheit auf die Gewiss-
heit des ersten Prinzips zurückführen? Wie kann die Gewissheit von den
wahrnehmbaren Eigenschaften und von den eigenen mentalen Akten auf
die Gewissheit des ersten Prinzips zurückgeführt werden? Um diese Frage
zu beantworten, ist es entscheidend, ein korrektes Verständnis von der ge-
forderten Rückführung (reductio) zu haben. Nikolaus fordert nicht eine
Rückführung in einem eliminativistischen Sinn. Seiner Ansicht nach muss
die Gewissheit von den wahrnehmbaren Eigenschaften und den eigenen
Akten nicht zugunsten der Gewissheit vom ersten Prinzip aufgelöst oder
zum Verschwinden gebracht werden. Es ist auch nicht erforderlich, dass alle
Aussagen über Gewissheit in Aussagen über die Gewissheit des ersten Prin-
zips übersetzt werden. Gefordert wird einzig und allein, dass jede Gewiss-
heit auf der Gewissheit des ersten Prinzips beruhen muss, sodass für jede
Gewissheit gezeigt werden kann, dass sie die Gewissheit des ersten Prinzips
voraussetzt. Genau dies ist im vorliegenden Fall ohne Weiteres möglich.
Wenn ich etwa eine veridische Erscheinung von etwas Weißem habe und
mir somit der Existenz von etwas Weißem gewiss bin, gilt: ‚Ich bin mir der
Existenz von etwas Weißem gewiss‘ ist wahr, und das kontradiktorische
Gegenteil davon ist nicht wahr. Ähnlich gilt für die Gewissheit der eigenen
Akte: ‚Ich bin mir der Existenz eines Denkaktes gewiss‘ ist wahr, und das
kontradiktorische Gegenteil davon ist nicht wahr.
Versteht man die geforderte Rückführung in diesem Sinn, zeigt sich, dass
Nikolaus nicht die Strategie verfolgt, jede Gewissheit in die rein formale
Gewissheit ‚p und nicht-p sind nicht gleichzeitig wahr‘ aufzulösen und
nur noch diese Art von Gewissheit als Wissensgrundlage zu akzeptieren.
Würde er dies tun, würde er ja nur über eine Grundlage für logisches Wis-
sen verfügen. Dies ist aber nicht sein Ziel. Er will lediglich zeigen, dass jede
Gewissheit die formale Gewissheit des ersten Prinzips voraussetzt, aber er
akzeptiert durchaus, dass es Gewissheiten gibt, die über diese formale Ge-
wissheit hinausgehen und die Grundlage für Wissen von konkreten Sach-

75
  Vgl. Alston 1989, 43–44.
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§ 30 Die Gewissheit des ersten Prinzips 345

verhalten bilden. So bildet die Gewissheit von etwas Weißem, die ich durch
eine veridische Erscheinung gewinne, die Grundlage für ein Wissen davon,
dass etwas Weißes vor mir liegt. Und die Gewissheit von einem Denkakt
bildet die Grundlage für das Wissen, dass ich jetzt gerade denke. In beiden
Fällen handelt es sich um weit mehr als ein logisches Wissen. Es liegt ja ein
Wissen von der Außenwelt (dass etwas Weißes existiert) ebenso wie von der
mentalen Innenwelt (dass ein Denkakt existiert) vor. Daher könnte man
sagen, dass Nikolaus trotz der geforderten Rückführung jeder Gewissheit
auf jene des ersten Prinzips drei Wissensgrundlagen unterscheidet:
(1) die Gewissheit vom ersten Prinzip: formale Gewissheit und Vorausset-
zung für jede andere Form von Gewissheit
(2) die Gewissheit von den wahrnehmbaren Eigenschaften: inhaltliche
Gewissheit aufgrund der äußeren Erfahrung
(3) die Gewissheit von den eigenen Akten: inhaltliche Gewissheit aufgrund
der inneren Erfahrung.
Dies sind die drei Säulen der Gewissheit, auf denen das ganze Wissen be-
ruht. Nun stellt sich allerdings die Frage, wie tragfähig diese Säulen sind.
Welches Wissen ist auf ihrer Grundlage möglich? Und welches Wissen ist
ausgeschlossen? Dass ein punktuelles Wissen von einzelnen wahrnehm-
baren Eigenschaften und einzelnen Akten möglich ist, ist bereits am Ende
von § 29 festgestellt worden. Doch ist darüber hinaus auch ein Wissen von
kausalen Zusammenhängen möglich? Kann ich etwa aufgrund einer ve-
ridischen Erscheinung nicht nur wissen, dass etwas Weißes vor mir liegt,
sondern auch, dass ein Gegenstand – z.B. ein Schneeball – eine Weiß-Wahr-
nehmung in mir ausgelöst hat? Ein solches Wissen würde auf folgender
Überlegung beruhen: Wenn ein Schneeball vor mir liegt, verursacht er eine
Weiß-Wahrnehmung in mir. Bei dieser Überlegung handelt es sich um eine
Inferenz der Form ‚Wenn p, dann q‘. Ein Wissen habe ich Nikolaus zufolge
allerdings nur, wenn diese Inferenz evident ist und auf die Gewissheit des
ersten Prinzips zurückgeführt werden kann. Und evident ist die Inferenz
nur, wenn sie folgende Bedingung erfüllt:
„In jeder evidenten Inferenz, die durch beliebig viele Schritte auf das erste Prinzip
rückführbar ist, ist der Folgesatz real identisch mit dem Vordersatz oder mit einem
Teil dessen, was durch den Vordersatz bezeichnet wird.“76

Nikolaus unterscheidet hier nicht zwischen der sprachlichen Ebene (d.h.


dem Vorder- und dem Folgesatz) und der ontologischen Ebene (d.h. dem

76
  Correspondence II.10 (ed. de Rijk 1994, 64): „In omni consequentia evidenti, reducibili in
primum principium per quotvis media, consequens est idem realiter cum antecedente, vel cum
parte significati per antecedens.“
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346 Zweifel am demonstrativen Wissen

durch diese Sätze Bezeichneten). Daher trifft die Bedingung auf beide Ebe-
nen zu und lässt sich folgendermaßen reformulieren:
(B) Die Inferenz ‚Wenn p, dann q‘ ist nur dann evident und auf das erste
Prinzip rückführbar, wenn q (bzw. das durch diesen Satz Bezeichnete)
mit p (bzw. mit dem durch diesen Satz Bezeichneten) ganz oder teil-
weise identisch ist.
Veranschaulichen wir dies anhand des genannten Beispiels. Die Inferenz
‚Wenn ein Schneeball vor mir liegt, verursacht er eine Weiß-Wahrnehmung
in mir‘ ist nur dann evident, wenn der Folgesatz mit dem Vordersatz
identisch ist bzw. wenn die durch die beiden Sätze bezeichneten Sachver-
halte identisch sind. Dies ist hier aber nicht der Fall. Dass ein Schneeball
vor mir liegt, ist ein Sachverhalt; dass er eine Weiß-Wahrnehmung in mir
verursacht, ist ein ganz anderer Sachverhalt. Wir haben es hier also mit
distinkten Sachverhalten zu tun. (Dass sie distinkt sind, zeigt sich schon
darin, dass der eine ohne den anderen bestehen kann. So ist es möglich, dass
zwar ein Schneeball vor mir liegt, ich aber nicht auf ihn achte und er daher
keine Weiß-Wahrnehmung in mir verursacht.) Es liegt also keine evidente
Inferenz vor, die sich auf das erste Prinzip zurückführen ließe. Damit fehlt
genau die Gewissheit, die als Wissensgrundlage erforderlich wäre. Fazit:
Mangels einer Gewissheit ist kein Wissen davon möglich, dass ein vor mir
liegender Schneeball eine Weiß-Wahrnehmung in mir verursacht.
Dies ist natürlich ein Fazit mit weitreichenden Konsequenzen. Gemäß
der von Nikolaus geforderten Bedingung ist kein Wissen von Kausalrela-
tionen möglich. Nikolaus gibt selber ein Beispiel dafür.77 Wir können nicht
wissen, so stellt er fest, dass ein Feuer ein Werg (d.h. ein Stück Hanf oder
Flachs) in Brand setzt, wenn es ihm angenähert wird. In der Inferenz ‚Wenn
ein Feuer dem Werg angenähert wird, dann setzt es das Werg in Brand‘ sind
Vorder- und Folgesatz nämlich nicht miteinander identisch. Also handelt es
sich nicht um eine evidente, auf das erste Prinzip rückführbare Inferenz.
Angesichts dieses negativen Fazits stellt sich sogleich die Frage, warum
Nikolaus eine derart restriktive Bedingung aufstellt. Warum fordert er, dass
für die Rückführung auf das erste Prinzip gleich eine Identität der beiden
Sätze (bzw. der durch sie bezeichneten Sachverhalte) erforderlich ist? Er
gibt keine Begründung, doch es lässt sich eine Begründung rekonstruieren,
wenn das erste Prinzip nochmals betrachtet wird. Dieses Prinzip besagt nur,
dass nicht gleichzeitig p und nicht-p wahr sein können. Es sagt aber nichts
über den Zusammenhang zwischen p und q (bzw. zwischen den durch sie
bezeichneten Sachverhalten) aus. Deshalb kann man immer nur tautologisch

77
 Vgl. Correspondence II.20 (ed. de Rijk 1994, 70).
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§ 30 Die Gewissheit des ersten Prinzips 347

sagen: ‚Wenn p wahr ist, ist p (und nicht etwa nicht-p) wahr.‘ Doch man darf
nicht behaupten: ‚Wenn p wahr ist, ist auch q wahr.‘ Damit würde man ja
weit über die Gewissheit des ersten Prinzips hinausgehen und behaupten,
dass man eine Relation zwischen p und q feststellen kann. Dafür besteht
aber keine Gewissheit, wenn es nur die drei genannten Säulen der Gewiss-
heit gibt. Auch die veridischen Erscheinungen bieten dafür keine Gewiss-
heit. Sie beziehen sich ja immer auf distinkte wahrnehmbare Eigenschaften,
jedoch nicht auf eine Relation zwischen diesen Eigenschaften. Selbst wenn
ich also eine veridische Erscheinung von der Farbe habe, die das Feuer in
der Nähe des Werges aufweist, und eine weitere Erscheinung von der Farbe,
die das in Brand gesetzte Werg aufweist, kann ich nur sagen, dass ich zwei
aufeinander folgende distinkte Erscheinungen habe. Beschreibe ich diese Er-
scheinungen mit den Sätzen p und q, kann ich nur sagen: ‚Zuerst p, darauf
q‘. Mehr als eine solche zeitliche Abfolge kann ich aber nicht behaupten.
Dass genau in dieser Beschränkung auf die drei Säulen der Gewissheit
der Kernpunkt in Nikolaus’ Argumentation liegt, zeigt sich in seiner Aus-
einandersetzung mit Aegidius. Dieser wandte ein, man könne sehr wohl
ein Wissen von kausalen Zusammenhängen erwerben. Es gebe nämlich
ein einfaches Erfassen, das sich in zwei Arten unterteile. Das eine sei „ab-
trennend“, weil ein Ding abgetrennt von jedem anderen erfasst werde. Das
andere, vollkommenere hingegen sei „gleichzeitig erfassend“, weil ein Ding
zusammen mit einem anderen aufgefasst werde.78 Wenn man nun eine Re-
lation zwischen zwei distinkten Dingen erfasse, so erfolge dies immer mit-
hilfe des „gleichzeitig erfassenden“ Auffassens. Mit dieser Argumentation
will Aegidius natürlich die Gültigkeit der Inferenz ‚Wenn p, dann q‘ auch
dann sichern, wenn p und q distinkte Sachverhalte bezeichnen. Wenn p
und q (bzw. die durch sie bezeichneten Dinge oder Sachverhalte) nämlich
gleichzeitig aufgefasst werden, kann man durchaus von der Existenz des
einen auf die Existenz des anderen schließen. Konkret heißt dies: Wenn die
Annäherung des Feuers an das Werg zusammen mit dem Entzünden des
Wergs aufgefasst wird, kann man schließen, dass das Feuer das Werg ent-
zündet, wenn es ihm angenähert wird. Damit kann ein Wissen von kausalen
Zusammenhängen gesichert werden.
Nikolaus’ Antwort auf diesen Einwand ist sehr aufschlussreich.79 Er weist
ihn nicht kategorisch zurück, sondern stimmt zu, dass das „zusammen er-

  Correspondence III.11 (ed. de Rijk 1994, 82): „Sed apprehensio simplex duplex est.
78

Quedam est precisiva, qua scilicet una res cognoscitur cum precisione ab omni eo quod non
est ipsa. Alia est coacceptiva, que perfecta magis est quam prima, qua scilicet aliqua <res
simplici apprehensione apprehenditur et> intelligitur, cointellecta alia re eadem simplici ap-
prehensione...“
79
 Vgl. Correspondence IV.4 (ed. de Rijk 1994, 102).
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348 Zweifel am demonstrativen Wissen

fassende“ Auffassen möglich ist, allerdings nur dann, wenn damit eine Rela-
tion erfasst wird, die immer die Existenz beider Relata voraussetzt. Dann ist
auch eine Inferenz möglich, weil der Folgesatz nur das bezeichnet, was auch
der Vordersatz bezeichnet. Nikolaus gibt dafür ein anschauliches Beispiel.
Wer Vaterschaft erfasst, erfasst damit, dass es einen Vater und einen Sohn
oder eine Tochter gibt. Dieses „zusammen erfassende“ Auffassen erlaubt
folgende Inferenz: ‚Wenn Vaterschaft existiert, dann existieren ein Vater
und ein Sohn oder eine Tochter‘. Die Pointe besteht darin, dass im Folgesatz
nicht mehr behauptet wird als im Vordersatz; es wird nur erläutert, welche
Entitäten im Falle einer Vaterschaft existieren. Die Inferenz erfüllt also die
oben genannte Bedingung (B) und ist gültig. Ganz anders verhält es sich
mit der Inferenz ‚Wenn ein Feuer dem Werg angenähert wird, dann setzt
es das Werg in Brand‘. Hier bezeichnet der Vordersatz nicht eine Relation,
die immer die Existenz der Relata voraussetzt. Er bezeichnet vielmehr einen
Sachverhalt, der von jenem, der durch den Folgesatz bezeichnet wird, dis-
tinkt ist.80 Daher ist die Inferenz nicht gültig. Damit macht Nikolaus auf
einen wichtigen Unterschied zwischen den Termini, die in den jeweiligen
Vordersätzen verwendet werden, aufmerksam. ‚Vaterschaft‘ ist ein kon-
notativer Terminus, d.h. ein Ausdruck, der gleichzeitig zwei zwar verschie-
dene, aber notwendigerweise miteinander verbundene Entitäten bezeichnet.
‚Feuer‘, ‚Werg‘ und ‚annähern‘ hingegen sind absolute Entitäten, die ganz
unterschiedliche, nur kontingenterweise miteinander verbundene Dinge
und Aktivitäten bezeichnen.
Entscheidend ist hier, dass Nikolaus eine Inferenz nur dann als gültig ak-
zeptiert, wenn sie auf das erste Prinzip zurückführbar ist. ‚Wenn p, dann q‘
muss immer auf die tautologische Form ‚Wenn p, dann p (oder Teile von p)‘
reduzierbar sein. Es gibt nämlich keine andere Grundlage, die Gewissheit
garantieren könnte. Somit kann man eine Inferenz nur dann auf eine sichere
Grundlage stellen, wenn man nachweist, dass das, was durch den Vordersatz
bezeichnet wird, all das umfasst, was durch den Folgesatz bezeichnet wird.
Dies kann nicht nur eine Relation wie die Vaterschaft sein, sondern auch ein
Ganzes, das alle seine Teile umfasst. Auch dafür gibt Nikolaus ein anschau-
liches Beispiel.81 Es ist seiner Ansicht nach zulässig zu behaupten: ‚Wenn ein
Haus existiert, dann existiert eine Wand‘. Was durch den Folgesatz bezeich-
net wird, ist nämlich nicht von dem verschieden, was durch den Vorder-

80
 Es ist zu betonen, dass ausschließlich in der Distinktheit der Grund dafür liegt, dass kein
Wissen von Kausalrelationen möglich ist. Nikolaus behauptet nicht – wie von Wolfson 1969
angenommen wurde – occasionalistisch, dass Gott doch die Ursache für jedes Ereignis sein
könnte und dass wir deshalb nie wissen können, ob eine angeblich natürliche Ursache auch
wirklich die Ursache ist. Vgl. dazu ausführlich Perler & Rudolph 2000, 178–183.
81
 Vgl. Correspondence II.21 (ed. de Rijk 1994, 70).
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§ 30 Die Gewissheit des ersten Prinzips 349

satz bezeichnet wird, sondern teilweise mit ihm identisch. Wir behaupten
also nur tautologisch: ‚Wenn es wahr ist, dass ein Haus existiert, dann ist
es wahr, dass ein Haus bzw. die Wand als Teil eines Hauses existiert‘. Die
Inferenz ist evident und auf das erste Prinzip zurückführbar. Genau gleich
verhält es sich mit jenen Fällen, in denen begriffliche Zusammenhänge erläu-
tert werden. So dürfen wir behaupten: ‚Wenn ein Mensch rennt, dann rennt
ein Lebewesen‘. Dies heißt nämlich nichts anderes als ‚Wenn ein Mensch
rennt, rennt ein Mensch, der definitionsgemäß immer ein Lebewesen ist‘.
Vorder- und Folgesatz bezeichnen nicht distinkte Sachverhalte, sondern
subsumieren ein und denselben Sachverhalt unter unterschiedliche Begriffe.
Auch hier gilt wieder: Es liegt eine evidente, auf das erste Prinzip zurück-
führbare Inferenz und damit auch eine Wissensgrundlage vor.
Offensichtlich zielt Nikolaus nicht darauf ab, jede Inferenz gleich als
unzulässig zu verbieten. Er will vielmehr die evidenten von den nicht-
evidenten Inferenzen unterscheiden und damit eine Wissensgrundlage
schaffen, die ihre Gewissheit aus dem ersten Prinzip bezieht. Die ganze
Zurückführbarkeit auf das erste Prinzip dient, wie Ch. Grellard treffend
festgestellt hat, einem „Transfer der Evidenz“.82 Wenn eine Inferenz evident
ist, so nicht aus sich heraus, sondern weil sie auf dem ersten Prinzip beruht,
das evident ist und Gewissheit garantiert. Daher muss für jede Inferenz
gezeigt werden, dass ihr tatsächlich die Evidenz vom ersten Prinzip trans-
feriert wird. Andernfalls ist sie als eine unzureichende Wissensgrundlage
auszusondern. Hinter dieser ganzen Argumentation verbirgt sich freilich
eine Annahme, die Nikolaus für selbstverständlich hält und gleichsam
nebenbei als Nebenthese einführt. Er behauptet, neben der Gewissheit des
ersten Prinzips gebe es – abgesehen von der Glaubensgewissheit – keine
andere Gewissheit.83 Da die Glaubensgewissheit in rein epistemologischen
Kontexten keine Rolle spielt (sie wird von Nikolaus nicht weiter diskutiert),
heißt dies, dass die Gewissheit des ersten Prinzips die einzige Gewissheit
ist. Selbst die Gewissheit von den wahrnehmbaren Eigenschaften und von
den eigenen Akten muss ja auf diese Gewissheit rückführbar sein, wie sich
bereits gezeigt hat. Dies ist jedoch alles andere als eine selbstverständliche
These. Warum sollten wir annehmen, dass es nur eine fundamentale Ge-
wissheit gibt? Selbst wenn man einer fundamentalistischen Wissenskon-
zeption zustimmt, könnte man immer noch die Ansicht vertreten, dass es
mehrere, voneinander unabhängige Fundamente gibt. So könnte man ver-
suchen, für das Erfassen von Kausalrelationen ebenfalls eine Wissensgrund-
lage zu bestimmen, auch wenn Aussagen über derartige Relationen nicht in
  Vgl. Grellard 2005, 77–83.
82

  Correspondence II.7 (ed. de Rijk 1994, 62): „Excepta certitudine fidei, nulla est alia certi-
83

tudo nisi certitudo primi principii, vel que in primum principium potest resolvi.“

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350 Zweifel am demonstrativen Wissen

der genannten Weise auf das erste Prinzip zurückgeführt werden können.
Nikolaus zieht diese Möglichkeit nicht in Betracht. Darin zeigt sich, dass er
nicht nur einen Fundamentalismus vertritt, sondern eine Position, die man
monolithischen Fundamentalismus nennen könnte: Es gibt nur eine letzte
Wissensgrundlage, auf die alle anderen Grundlagen zurückzuführen sind.
Nikolaus bleibt jedoch ein Argument dafür schuldig, dass dies die einzige
überzeugende Form des Fundamentalismus ist.84
Sein fundamentalistischer Ansatz scheint aber eine seltsam paradoxe
Konsequenz zu haben. Einerseits hat er nämlich zur Folge, dass skeptische
Anfechtungen zurückgewiesen werden. Gerade der Verweis auf eine letzte
fundamentale Gewissheit dient ja dem Ziel, die Wissensansprüche aufrecht­
zuerhalten und zu rechtfertigen. Andererseits ruft dieser Ansatz neue
skeptische Überlegungen auf den Plan, weil Nikolaus die fundamentale
Gewissheit sehr restriktiv bestimmt. Nur was sich auf das erste Prinzip zu-
rückführen lässt, ist ja gewiss. Aussagen über kausale Zusammenhänge und
andere Relationen zwischen distinkten Sachverhalten lassen sich nicht auf
das erste Prinzip zurückführen, wie sich herausgestellt hat. Es scheint daher,
als müssten wir an solchen Aussagen zweifeln. Heißt dies, dass wir hier nur
die Alternative zwischen einem Wissen, das durch die Gewissheit des ersten
Prinzips fundiert wird, und vollständigem Nicht-Wissen haben? An dieser
Frage entscheidet sich, ob Nikolaus’ fundamentalistische Strategie dazu
führt, dass nur noch zwischen Wissen und Nicht-Wissen unterschieden
werden kann, oder ob sie auch einen epistemischen Bereich zwischen diesen
beiden Extremen berücksichtigt.

§ 31 Wissen und begründetes Glauben

Nikolaus ist sich durchaus bewusst, dass seine antiskeptische Strategie neue
skeptische Fragen hervorruft. Wenn nämlich Wissen nur auf der Grundlage
der Gewissheit der wahrnehmbaren Eigenschaften, der eigenen Akte und
des ersten Prinzips möglich ist, gibt es nur ein streng empirisch und logisch
fundiertes Wissen. Man kann jedoch auf zahlreiche Fälle verweisen, in
denen dieses Fundament nicht vorhanden ist. Dies sind zunächst jene Fälle,
in denen keine unmittelbare Wahrnehmung vorliegt. Nikolaus erläutert dies
anhand eines konkreten Beispiels. Wenn jemand die Struktur der Welt mit-
hilfe einer atomistischen Theorie zu beschreiben versucht, beruft er sich auf
kleine, ewig existierende, sich immer wieder neu zu Konglomeraten formie-

 Es ist daher nicht erstaunlich, dass Buridan genau an diesem Punkt mit seiner Kritik ein-
84

hakte und eine Pluralität von Wissensgrundlagen forderte; vgl. ausführlich § 32.
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§ 31 Wissen und begründetes Glauben 351

rende Körper. Da diese Körper aber nicht unmittelbar gesehen werden, sind
sie nicht mit Gewissheit präsent. Heißt dies, dass es kein Wissen von ihnen
gibt? Dies ist genau die Schlussfolgerung, die man ziehen könnte. Nikolaus
stellt fest:
„Nun ist zu wissen, dass es einige Menschen gibt, die keine Sätze annehmen wollen
außer jenen, die sinnlich zur Erscheinung gelangen. [...] Doch nicht alle Wahrheiten
sind für uns derart aufweisbar.“85

Die Menschen, auf die Nikolaus hier verweist, könnte man als rigide Em-
piristen bezeichnen. Sie halten sich streng an die Forderung, dass nur die
Gewissheit der wahrnehmbaren Eigenschaften als Wissensgrundlage dienen
kann, und akzeptieren folglich nur jene Sätze, die ein unmittelbares empi-
risches Fundament haben. So ist der Satz ‚Es existieren Atome‘ für sie nur
dann akzeptabel, wenn sie selber Atome gesehen oder sonst irgendwie sinn-
lich erfasst haben. Doch diese rigide Position hat absurde Konsequenzen.
Wann immer jemand etwas zu wissen beansprucht, muss man ihn fragen:
Hast du es selber gesehen? Wird diese Frage verneint, muss der Wissens-
anspruch zurückgewiesen werden. Damit wird natürlich ein großer Bereich
von Wissen ausgeschlossen, und zwar nicht nur das Wissen von derart
mikroskopischen Entitäten wie etwa den Atomen, sondern auch das Wissen
von mathematischen oder historischen Sachverhalten. So können wir nicht
sehen, dass zwei und zwei vier ergeben, genauso wenig wie wir sehen oder
sonst irgendwie wahrnehmen können, dass Cäsar den Rubikon überschrit-
ten hat. Folglich können wir von diesen Sachverhalten auch kein Wissen
haben.
Doch nicht nur die streng empirische Fundierung des Wissens hat ab-
surde Konsequenzen. Auch die logische Fundierung hat derartige Folgen.
Nikolaus fordert ja, dass jede Gewissheit auf jene des ersten Prinzips rück-
führbar sein muss. In vielen Fällen ist eine solche Reduktion aber nicht
möglich, wie er selber eingesteht:
„Die achte These lautet, dass nicht für alle Sätze gezeigt werden kann, dass sie auf-
grund des ersten Prinzips evident sind ...“86

In der Diskussion des ersten Prinzips wurden bereits verschiedene Beispiele


für solche Sätze genannt. So kann die Inferenz ‚Wenn ein Feuer dem Werg
angenähert wird, setzt es das Werg in Brand‘ nicht auf das erste Prinzip
zurückgeführt werden. Sie ist somit nicht evident und kann daher kein Wis-

85
  Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 189, Z. 1–6): „Nunc sciendum quod aliqui sunt homines
qui nullas propositiones volunt recipere nisi veniant in apparentia apud sensum; [...] et tamen
non omnes veritates sunt a nobis praeostensabiles.“
86
  Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 237, Z. 21–22): „Octava conclusio est quod non omnes
propositiones possunt ostendi esse evidentes per primum principium ...“
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352 Zweifel am demonstrativen Wissen

sen von der simplen Tatsache, dass Feuer Werg in Brand setzt, fundieren.
Ebenso wenig kann die Inferenz ‚Wenn eine weiße Farbe existiert, existiert
auch eine Substanz‘ auf das erste Prinzip zurückgeführt werden. Die Fest-
stellung, dass die Existenz eines Akzidens immer die Existenz einer Sub-
stanz voraussetzt, geht ja weit über das hinaus, was durch das Prinzip der
Widerspruchsfreiheit festgelegt wird. Somit ist auch von dieser scheinbar
simplen Tatsache kein Wissen möglich.
Nikolaus sieht sich offensichtlich mit einer grundlegenden Schwierigkeit
konfrontiert. Wenn er auf seiner fundamentalistischen Wissenskonzeption
insistiert, kann er nur das als Wissen akzeptieren, was auf Gewissheit be-
ruht. Und das heißt: Wissen muss auf einer Gewissheit beruhen, die durch
eine unmittelbare Sinneswahrnehmung und die Rückführbarkeit auf das
erste Prinzip garantiert wird. Gleichzeitig muss Nikolaus aber wohl oder
übel eingestehen, dass wir gemeinhin vieles für Wissen halten, was nicht
auf einer solchen Gewissheit beruht. Wie kann er diesem großen Bereich
Rechnung tragen? Auf den ersten Blick scheint es eine einfache Lösung für
dieses Problem zu geben. Nikolaus könnte einfach zwei Arten von Wissen
unterscheiden: ein Wissen, das auf Gewissheit beruht, und ein weiteres, das
eines solchen Fundaments entbehrt. Dies kann aber keine adäquate Lösung
sein. Nikolaus würde damit nämlich nicht nur seine fundamentalistische
Wissenskonzeption verabschieden (es gäbe dann ein nicht fundiertes Wis-
sen), sondern er würde auch einen äquivoken Wissensbegriff einführen.
Wann immer von Wissen die Rede ist, müsste man fragen: Welches Wissen
ist hier gemeint, das „echte“, das auf Gewissheit beruht, oder das „unechte“,
das kein solches Fundament hat? Aus diesem Grund kann Nikolaus nicht
zwei Arten von Wissen akzeptieren. Doch er kann neben dem Wissen eine
andere epistemische Einstellung akzeptieren: das begründete Glauben, das
auf wahrscheinlichen Annahmen beruht. Genau diesen Weg wählt er bereits
ganz zu Beginn der Abhandlung Exigit ordo, wo er darauf hinweist, dass er
nicht im strengen Sinne ein Wissen von der Falschheit der aristotelischen
Position hat. Trotzdem verfügt er über eine begründete epistemische Ein-
stellung, um gegen diese Position Stellung zu beziehen. Er charakterisiert
diese Einstellung folgendermaßen:
„Es ist wahr, dass ich nicht in allen Fällen beweisende Argumente für das Gegenteil
gefunden habe. Es haben sich aber einige Argumente vorgefunden, mit denen – wie
mir schien – die Gegenthesen ebenso wahrscheinlich vertreten werden können wie
die Thesen, die von ihnen [sc. den Aristotelikern] vertreten werden.“87

87
  Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 181, Z. 8–11): „Verum est quod non inveni rationes de-
monstrativas ad oppositum in omnibus, sed occurrerunt rationes aliquae per quas mihi visum
fuit quod ita probabiliter possent teneri conclusiones oppositae sicut propositiones ab eis.“
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§ 31 Wissen und begründetes Glauben 353

Entscheidend ist, dass man gegenüber den Aristotelikern eine epistemische


Einstellung einnehmen kann, die zwar weniger ist als Wissen, aber trotzdem
mehr als eine bloße Vermutung oder Behauptung. Diese Einstellung ist das
argumentativ begründete Glauben, das auf wahrscheinlichen Argumenten
beruht. Für diese Einstellung müssen zwei Bedingungen erfüllt sein. Ers-
tens muss sie rational sein. Dies ergibt sich aus der simplen Tatsache, dass
sie auf Argumenten beruhen muss; Argumente müssen anderen mitteilbar
und erklärbar sein. Daher kann es sich beim begründeten Glauben nicht
einfach um ein subjektives Gefühl oder eine Intuition handeln. Wer über
einen solchen Glauben verfügt, muss in der Lage sein, seine Argumente zu
formulieren und anderen verständlich zu machen. Zweitens muss das be-
gründete Glauben nicht auf irgendwelchen Argumenten beruhen, sondern
auf wahrscheinlichen, d.h. auf solchen, die eine hohe Plausibilität besitzen,
nicht den veridischen Erscheinungen widersprechen und auch nicht das
Prinzip der Widerspruchsfreiheit verletzen.
Doch wie gelangt jemand zu wahrscheinlichen Argumenten, die es ihm
erlauben, etwas begründet zu glauben? Nikolaus präsentiert keine Me-
thodenlehre und keinen Katalog von Vorschriften, die zu befolgen sind. Er
verdeutlicht aber mithilfe einer Parabel, wie jemand vorgehen könnte.88 Man
stelle sich vor, es gebe ein Land, in dem alle Menschen von Geburt an blind
sind. Da sie ihre Umgebung nicht sehen können, sind sie nicht imstande, sich
zu bewegen, ohne immer wieder in Gräben zu fallen. Einer dieser Blinden
stellt nun die Hypothese auf, es müsse doch ein anderes Land geben, in dem
Leute leben, die nicht immer wieder in Gräben fallen, sondern über irgend-
ein Prinzip verfügen, mit dem sie ihren Gang korrigieren können. Das
natürliche Bedürfnis der Menschen, nicht hinzufallen, könne doch nicht
unerfüllt bleiben. Dieser Blinde wird von seinen Landsleuten aber nicht
ernst genommen. Sie weisen ihn darauf hin, dass es kein solches Korrektur-
prinzip geben kann, da weder der Intellekt noch die vier Sinne den rechten
Weg weisen und einen Sturz in die Gräben verhindern. Trotzdem beharrt
dieser eine Blinde darauf, es müsse irgendein Prinzip oder ein „metaphysi-
sches Mittel“ (medium metaphysicum) geben, mit dem die fehlende Sehkraft
kompensiert und der falsche Gang korrigiert werden könne.
Diese vielschichtige Parabel lässt mehrere Deutungen zu.89 Hier ist nur
jene entscheidend, die zu einem besseren Verständnis des Erwerbs von

 Vgl. Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 189, Z. 8–25).


88

 Eine Deutung könnte darauf abzielen, dass Nikolaus die rigiden Empiristen kritisieren
89

will. Denn die Blinden, die darauf insistieren, dass es neben dem Intellekt und den vier Sinnen
kein weiteres Erkenntnismittel gibt, sind genau die Empiristen, die behaupten, nur was un-
mittelbar sinnlich wahrgenommen werde, sei auch erkennbar und wissbar. Eine ausführliche
Interpretation der Parabel bietet Grellard 2005, 193–196.
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354 Zweifel am demonstrativen Wissen

wahrscheinlichen Argumenten beiträgt. Derartige Argumente werden nicht


durch unmittelbare Sinneswahrnehmung gewonnen, sondern durch eine
Hypothese. Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Hypothese über
ein Prinzip oder ein „metaphysisches Mittel“, das eine Kompensation des
fehlenden Sinnes erlaubt. Der Blinde überlegt nämlich folgendermaßen:
Was wäre, wenn die Bewohner des fremden Landes zusätzliche kognitive
Vermögen oder zusätzliche epistemische Quellen hätten? Wie könnten sie
ihre Umgebung dann erkennen? Und wie könnten sie sich in der Umgebung
orientieren? Es geht nicht darum, dass der Blinde selber über ein zusätz­
liches Vermögen verfügt oder dass er in unmittelbarem Kontakt zu Leuten
steht, die ein solches Vermögen haben. Entscheidend ist nur, dass er eine
Hypothese darüber aufstellt, was der Fall wäre, wenn es solche Leute gäbe.
Mithilfe dieser Hypothese kann er dann eine Theorie entwickeln, die es ihm
erlaubt, seine eigene Umgebung anders zu beschreiben als seine Landsleute.
Er kann nämlich sagen: Wenn wir annehmen, dass es ein zusätzliches Ver-
mögen gibt, können wir auch annehmen, dass es einen anderen Zugang zur
Umgebung gibt, nämlich einen visuellen. Und dann kann auch angenom-
men werden, dass bestimmte Eigenschaften (z.B. Farben) wahrgenommen
werden, die uns nicht zugänglich sind. Diese Wahrnehmungen wiederum
ermöglichen eine bessere Orientierung in der Umgebung. Kurzum: Hat der
Blinde einmal eine Hypothese entwickelt, kann er eine Beschreibung der
Welt geben, die nicht durch eigene Wahrnehmung fundiert ist.
Ähnlich müssen wir Nikolaus zufolge vorgehen, wenn wir einen begrün-
deten Glauben entwickeln. Wir müssen dann von einer bestimmten Hypo-
these ausgehen und im Rahmen dieser Hypothese Argumente entwickeln,
die eine neue Beschreibung der Welt ermöglichen – eine Beschreibung wohl-
gemerkt, die nicht unmittelbar durch eigene Wahrnehmung fundiert ist und
deshalb der Gewissheit veridischer Erscheinungen entbehrt. Wenn diese
Argumente kohärent sind, nicht widersprüchlich und eine explanatorische
Kraft haben, sind sie aber trotzdem wahrscheinlich. Nikolaus gibt selber
Beispiele für derartige Argumente.
Ein erstes Beispiel findet sich in der bereits erwähnten Diskussion über
den Atomismus. Entgegen der aristotelischen Doktrin, die behauptet, die
Welt bestehe aus Substanzen, geht Nikolaus von der Hypothese aus, die Welt
bestehe aus kleinen, unsichtbaren Atomen, die sich immer wieder neu zu
sichtbaren Gegenständen zusammensetzen.90 Im Rahmen dieser Hypothese
entwickelt er dann Argumente, die eine kohärente Beschreibung der Welt
erlauben. So erläutert er, dass das angebliche Entstehen und Vergehen, von

  Vgl. zu Nikolaus’ Atomismus ausführlich Dutton 1996, Kaluza 2000 und Grellard 2005,
90

210–226.
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§ 31 Wissen und begründetes Glauben 355

dem die Aristoteliker sprechen, nichts anderes ist als eine Neuformation
der Atome. Und die Bewegung der Gegenstände ist nichts anderes als eine
Zirkulation der Atome. Die atomistische Hypothese erlaubt es ihm, eine
vollständige Beschreibung der Welt zu geben und – wie er glaubt – gewisse
Vorgänge in der Welt sogar besser zu erklären als die Aristoteliker. So lässt
sich etwa besser verstehen, warum sich die sichtbaren Gegenstände per-
manent verändern. Dies liegt nicht daran, dass Substanzen Akzidenzien
gewinnen und verlieren oder dass sogar ganze Substanzen verschwinden,
sondern hat seinen Grund ganz einfach darin, dass es immer wieder neue
Atomkonstellationen gibt. Entscheidend ist, dass mithilfe der atomistischen
Hypothese wahrscheinliche Argumente zur Erklärung der Beschaffenheit
und Veränderung der Gegenstände vorgebracht werden können. Diese Ar-
gumente sind mindestens so plausibel wie jene, die zugunsten der aristote-
lischen Position sprechen, auch wenn sie sich nicht auf eine unmittelbare
Beobachtung stützen können. Denn nicht alles, was sich der Sinneswahr-
nehmung entzieht, ist gleich zu verwerfen. Nikolaus betont sogar, er habe
„ausreichend wahrscheinliche Mittel“, um die ewige Existenz der Atome
plausibel zu machen.91 Wenn die Annahme derartiger Entitäten nämlich
nicht widersprüchlich ist und wenn sie eine kohärente, detaillierte Beschrei-
bung der Welt ermöglicht, ist sie zulässig.
Ein zweites Beispiel findet sich in Nikolaus’ Analyse der visuellen Wahr-
nehmung. Er setzt sich kritisch mit der zu seiner Zeit dominierenden Theo-
rie auseinander, die behauptet, im Wahrnehmungsprozess würden kognitive
Entitäten (sog. species in medio) vom Wahrnehmungsgegenstand ausgesandt,
durch ein Medium (vor allem die Luft) übertragen und dem Auge einge-
prägt. Gegen diese Theorie bringt Nikolaus die Hypothese vor, dass es hier
keinen kausalen Prozess gibt, d.h. keinen Vorgang des Aussendens und Ein-
prägens irgendwelcher Entitäten, sondern nichts anderes als eine Präsenz
von Atomen.92 Akzeptiert man diese Hypothese, kann man wahrscheinliche
Argumente dafür vorbringen, dass die vermeintlich kognitiven Entitäten in
der Luft nichts anderes sind als Atomkonstellationen. Auch die dem Auge
angeblich eingeprägten Entitäten sind dann nichts anderes als Atome, die in
den Pupillen präsent sind und dadurch einen visuellen Wahrnehmungsakt
auslösen. Entscheidend ist hier wiederum, dass die Argumente zugunsten
der atomistischen Erklärung nicht durch eine unmittelbare Wahrnehmung

  Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 189, Z. 26–29): „Sic hic habeo media satis probabilia ad
91

concludendum quod conclusio de aeternitate rerum est probabilis, sed quia non possum os­
tendere illas modiculas albedines ad modum granorum ire et venire, aliqui forsan discredent;
non tamen propter hoc est negandum.“
92
 Vgl. Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 190, Z. 3–8); dazu ausführlich Tachau 1988, 349–
350, und Grellard 2005, 123–125.
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356 Zweifel am demonstrativen Wissen

gestützt werden müssen. Es ist nicht erforderlich, dass man die Atome,
die in der Luft oder in den Pupillen präsent sind, sieht und dadurch eine
Gewissheit von ihnen hat. Es reicht aus, dass im Rahmen einer atomisti-
schen Hypothese Argumente vorgebracht werden können, die mindestens
so plausibel sind wie jene der Gegenposition und eine mindestens so hohe
Erklärungskraft besitzen.
Wie die beiden Beispiele zeigen, werden wahrscheinliche Argumente
immer im Rahmen einer bestimmten Hypothese entwickelt. Sie müssen
auch nur im Rahmen der jeweiligen Hypothese kohärent sein und eine Er-
klärungskraft besitzen. Wenn allerdings solche Argumente vorliegen, gibt
es für eine bestimmte These einen begründeten Glauben, der eine Mittel-
stellung zwischen Wissen und Nicht-Wissen einnimmt. Er ist weniger als
Wissen, weil er nicht auf Gewissheit beruht, gleichzeitig aber mehr als
Nicht-Wissen, weil er sich auf Argumente stützt und eine konsistente Er-
klärung verschiedener Sachverhalte erlaubt.
Allerdings stellt sich dann die Frage, ob jede beliebige Hypothese erlaubt
ist. Können wir zur Erklärung der Struktur der Welt irgendeine Hypothese
annehmen, mag sie noch so abwegig erscheinen, und im Rahmen dieser
Hypothese dann wahrscheinliche Argumente entwickeln? Nicht ganz. Ni-
kolaus betont, dass es vier übergeordnete Prinzipien gibt, denen eine Hypo-
these nicht widersprechen darf. Das erste Prinzip könnte man das Harmo-
nieprinzip nennen. Es besagt, dass sämtliche Dinge wohlgeordnet sind und
jedes Ding sich in dem Zustand befindet, der gut für es ist.93 Jede Hypothese
muss diesem Prinzip Rechnung tragen, d.h. sie muss die Anordnung und
Beschaffenheit der Dinge so erklären, dass die harmonische Anordnung
deutlich wird. Konkret heißt dies: Ob wir nun eine aristotelische oder eine
atomistische Hypothese zur Erklärung des Entstehens und Vergehens von
Gegenständen wählen, in beiden Fällen muss deutlich werden, dass sich der
Prozess des Entstehens und Vergehens innerhalb einer harmonischen Ord-
nung abspielt. Eine Hypothese, die in diesem Prozess einen Mangel oder ein
Zeichen der Unvollkommenheit sieht, wäre unzulässig. Das zweite Prinzip
könnte man das Verbindungsprinzip nennen. Es legt fest, dass alle Entitäten
miteinander verbunden sind, sodass jedes Ding auf ein anderes ausgerichtet
ist.94 Ob man also eine aristotelische oder eine atomistische Hypothese

93
  Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 185, Z. 21–25): „Unum principium est quod bonum
est apud intellectum pro mensura in quantificando entia et universaliter in determinando
dispositiones contingentes in eius ut accipiat quod entia universi sunt rectissime disposita et
quod sic res sunt sicut bonum est eas esse et sic non sunt sicut malum esset eas esse.“
94
  Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 186, Z. 1–2): „Secundum principium est istud, quod
entia universi sunt connexa ad invicem, ita quod qudammodo unum videtur propter alte­
rum ...“
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§ 31 Wissen und begründetes Glauben 357

wählt, stets muss man berücksichtigen, dass ein Ding nicht isoliert, sondern
relational zu erklären ist. Das dritte Prinzip ergibt sich aus den ersten beiden
und könnte das Prinzip des gegenseitigen Nutzens genannt werden. Da alle
Dinge zusammenhängen und harmonisch angeordnet sind, muss jedes Ding
zum optimalen Zustand der anderen Dinge beitragen.95 Kein Ding ist ein-
fach an sich gut und wohl geordnet, sondern nur insofern es eine bestimmte
Funktion für andere Dinge erfüllt. Schließlich ist das vierte Prinzip das
Vollkommenheitsprinzip. Es besagt, dass das ganze Universum zu jedem
Zeitpunkt vollkommen ist. Es kann nicht mal eine größere und mal eine
geringere Harmonie geben.96
Es ist offensichtlich, dass es sich hier um metaphysisch gehaltvolle Prin-
zipien handelt. Hier steht jedoch nicht die Plausibilität und Begründung
dieser Prinzipien zur Debatte.97 Entscheidend ist nur ihre Funktion im
Hinblick auf die Formulierung von Hypothesen. Die vier Prinzipien bilden
den übergeordneten normativen Rahmen, der festlegt, welche Hypothesen
überhaupt möglich sind und welche von vornherein ausgeschlossen werden
können. Doch sie legen nicht fest, dass es nur eine einzige Hypothese gibt.
Gerade die Debatte zwischen Aristotelikern und Atomisten zeigt ja, dass
es zwei konkurrierende Hypothesen geben kann und dass beide allen vier
Prinzipien genügen. Sobald man sich für eine Hypothese entschieden hat,
kann man Argumente entwickeln, die eine gewisse Wahrscheinlichkeit
haben, und man kann versuchen, die Gegenhypothese als weniger über-
zeugend zurückzuweisen. Dies ist in wissenschaftstheoretischer Hinsicht
natürlich ein bemerkenswerter Befund. Nikolaus verdeutlicht, dass es zur
Erklärung eines bestimmten Sachverhaltes nicht einfach eine einzige Theo-
rie gibt, die bloß detaillierter auszuarbeiten ist, sondern eine Pluralität von
Theorien, die einen hypothetischen Charakter haben und in Konkurrenz
zueinander stehen. Daher geht es in einer wissenschaftlichen Debatte nicht
darum, einer einzigen Theorie immer mehr Details hinzuzufügen. Wichtig
ist vielmehr, dass erstens Theorien entwickelt werden, die angesichts überge-
ordneter Prinzipien überhaupt möglich sind, und dass diese Theorien zwei-
tens anhand konkreter Probleme getestet und auf ihre Erklärungskraft hin
geprüft werden. Es gilt festzustellen, welche Theorie die wahrscheinlichsten
Argumente zur Erklärung konkreter Probleme vorbringen kann.
Welche Bedeutung haben nun diese Ausführungen zu Prinzipien, Hypo-

  Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 186, Z. 10–12): „Tertium principium est quod videtur
95

sequi ex praecedenti: ex quo universum est sic connexum, nihil est quin sit bonum toti multi-
dini entium ipsum esse; unde hoc ens est propter illud et ilud propter aliud et sic semper.“
96
  Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 186, Z. 13–14): „Quartum principium est istud, quod
universum est semper aequaliter perfectum ...“
97
  Vgl. zum metaphysischen Rahmen ausführlich Kaluza 2000.
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358 Zweifel am demonstrativen Wissen

thesen und Argumenten für die Wissensproblematik? Es schien zunächst,


als gebe es in Nikolaus’ fundamentalistischer Wissenskonzeption eine
schroffe Gegenüberstellung von Wissen und Nicht-Wissen. Das heißt: Ent-
weder man hat eine epistemische Grundlage, die Gewissheit garantiert, und
verfügt damit über Wissen; oder man entbehrt einer solchen Grundlage und
muss jeden Wissensanspruch aufgeben. Genau diese schroffe Gegenüber-
stellung schien einem Skeptizismus Vorschub zu leisten. Denn wann immer
jemand einen Wissensanspruch erhebt, kann der Skeptiker ihn fragen: Ver-
fügst du tatsächlich über eine Gewissheit, die sich auf das erste Prinzip zu-
rückführen lässt? Oder musst du zugeben, dass die Zurückführung nicht
gelingt und du somit nicht über Wissen verfügst?
Nun ergibt sich ein differenzierteres Bild. Es gibt nicht nur Wissen
und Nicht-Wissen als die beiden Extrempositionen, sondern auch das be-
gründete Glauben als eine Mittelposition. Solches Glauben vollzieht sich
immer im Rahmen einer Hypothese, die nicht beliebig gewählt werden darf,
sondern allgemeinen Prinzipien genügen muss. Ist aber einmal festgestellt
worden, dass die übergeordneten Prinzipien nicht verletzt werden, können
im Rahmen einer Hypothese Argumente zugunsten einer These vorgebracht
werden. Je kohärenter diese Argumente sind und je größer ihre explanatori-
sche Kraft ist, desto besser ist das jeweilige Glauben begründet. Daher gibt
es zwischen dem Nicht-Wissen und dem Wissen genau genommen nicht
einfach eine Position, sondern eine ganze Skala von Positionen, nämlich
verschiedene Arten des Glaubens, die vom schwach begründeten bis zum
starken, beinahe auf Gewissheit beruhenden Glauben reichen. Nikolaus’
Pointe besteht darin, dass er genau diesen mittleren Bereich betont und
damit verdeutlicht, dass eine fundamentalistische Wissenskonzeption nicht
pauschal zahlreiche Wissensansprüche zurückweisen muss. Sie kann auch
verdeutlichen, dass das, was wir gemeinhin für Wissen halten, nicht mehr
ist als begründetes Glauben. Die entscheidende Frage ist dann nicht, ob wir
etwas wissen, sondern wie gut oder schlecht unser Glauben begründet ist.
Dass Nikolaus darauf abzielt, genau diese Unterscheidung zwischen
Wissen und Glauben zu treffen, soll nun anhand zweier Problemfälle ver-
deutlicht werden. Als erster Fall bietet sich das bereits mehrfach erwähnte
Kausalitätsproblem an. Wie in § 30 deutlich geworden ist, kann es von Kau-
salrelationen kein Wissen geben, weil es von der Verbindung von Ursache
und Wirkung keine unmittelbare Wahrnehmung gibt. Wir sehen ja nicht,
dass Feuer das Entflammen eines Stücks Werg verursacht. Alles, was uns in
der Wahrnehmung zugänglich ist, ist eine Abfolge einzelner Zustände. Zu-
erst sehen wir das Feuer, wie es an das Werg herangeführt wird, und dann
sehen wir das Werg, wie es brennt. Daher können wir hier nur zwei distinkte
Wahrnehmungen haben, selbst wenn es sich um Erscheinungen „im vollen
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§ 31 Wissen und begründetes Glauben 359

Licht“ handelt. Wir haben also keine Gewissheit, die von der unmittelbaren
Wahrnehmung der Kausalrelation herrühren würde. Ebenso wenig haben
wir eine Gewissheit, die sich auf das erste Prinzip zurückführen lässt. Denn
die Inferenz ‚Wenn ein Feuer dem Werg angenähert wird, setzt es das Werg
in Brand‘ lässt sich nicht auf die tautologische Form ‚Wenn p, dann p‘ zu-
rückführen.
Entscheidend ist nun, dass es in der Tat keine Gewissheit und damit auch
kein Wissen gibt, wohl aber ein begründetes Glauben. Wir machen nämlich
die Erfahrung, dass immer dann, wenn das Feuer in die Nähe des Wergs
gebracht wird, dieses in Brand gesetzt wird. Wenn wir nun die (mit den vier
Leitprinzipien durchaus verträgliche) Erklärungshypothese wählen, dass
all das, was in den allermeisten Fällen eine bestimmte Wirkung zur Folge
hat, die Ursache für diese Wirkung ist, können wir das wahrscheinliche Ar-
gument vorbringen, dass das Feuer hier die Ursache ist. Die Pointe besteht
darin, dass wir trotz fehlender Gewissheit mehr haben als Nicht-Wissen,
nämlich begründetes Glauben. Wir dürfen es aber nicht vorschnell mit
Wissen gleichsetzen, wie Nikolaus betont:
„Die dreizehnte These lautet: Von den Dingen, die aufgrund der Erfahrung gewusst
werden (etwa wenn man sagt, man wisse, dass Rhabarber Cholera heilt oder dass
ein Magnet Eisen anzieht), gibt es nur einen Habitus, der Vermutungen erlaubt,
aber keine Gewissheit ...“98

Wie diese Stelle zeigt, sagt Nikolaus nicht, wir könnten über das Kausal-
verhältnis zwischen Magnet und Eisen überhaupt keine Aussage machen.99
Da wir den Zusammenhang zwischen den beiden häufig beobachtet haben
und zudem über eine allgemeine Erklärungshypothese verfügen, haben wir
sehr wohl eine epistemische Einstellung, die es uns erlaubt, eine Aussage zu
treffen. Doch es handelt sich bei dieser Einstellung eben nicht um Wissen,
sondern nur um einen begründeten Glauben oder eben um einen „Habitus,
der Vermutungen erlaubt“ (habitus conjecturativus). Er ist sicherlich weni-
ger als Wissen, weil er nicht auf Gewissheit beruht, gleichzeitig aber mehr
als Nicht-Wissen. Wie das Beispiel verdeutlicht, befähigt uns dieser Habitus
keineswegs dazu, ausschließlich wahre Aussagen zu machen. Einige Aus-

 Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 237, Z. 39–41): „Tertia decima conclusio est quod de
98

scitis per experientiam illo modo quo dicitur sciri rheubarbarum sanat choleram vel adamas
attrahit ferrum, habetur solum habitus conjecturativus, non certitudo ...“
99
 Nikolaus behauptet auch nicht, dass es überhaupt keine Kausalrelationen gibt. Wie Grel-
lard 2002 gegenüber Interpreten, die ihm diese metaphysische These zugeschrieben haben,
gezeigt hat, vertritt Nikolaus eine realistische Position, der zufolge Kausalrelation gleichsam
zum Inventar der Welt gehören und aus der Bewegung der Atome entstehen. Nikolaus zielt
nicht auf die metaphysische These ab, dass keine Kausalrelationen existieren, sondern ver-
tritt nur die epistemologische These, dass derartige Relationen nicht mit Gewissheit erfasst
werden und dass es folglich auch kein Wissen von ihnen gibt.
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11:28

360 Zweifel am demonstrativen Wissen

sagen (nämlich dass Rhabarber Cholera heilt) mögen zwar innerhalb der Er-
klärungshypothese wahr erscheinen, stellen sich bei genauer Prüfung aber
als falsch heraus. Dies ist freilich nicht erstaunlich. Wenn keine Gewissheit
vorhanden ist, kann sich immer ein Irrtum einschleichen. Das begründete
Glauben ist weit davon entfernt, infallibel zu sein. Nikolaus betont daher,
dass im Falle eines solchen Glaubens keine spontane und uneingeschränkte
Zustimmung zu einer Aussage gegeben wird.100 So müssen wir der Aussage
‚Rhabarber heilt Cholera‘ nicht zustimmen, sondern können sagen: Ange-
sichts der allgemeinen Erklärungshypothese und der mehrfachen Beobach-
tung ist es wahrscheinlich, dass Rhabarber Cholera heilt. Aber natürlich
lässt sich die Hypothese revidieren oder es können Gegenbeispiele gefunden
werden. Daher hat die Aussage nur einen wahrscheinlichen Charakter und
die Zustimmung wird nur so lange gegeben, als die Wahrscheinlichkeit als
hoch eingeschätzt wird.
Der zweite Fall, in dem die Unterscheidung zwischen Wissen und be-
gründetem Glauben eine wichtige Rolle spielt, ist das induktive Schließen.
In einem solchen Fall wird ausgehend von der Beobachtung, dass einige Ge-
genstände einer bestimmten Art eine gewisse Eigenschaft haben, geschlos-
sen, dass alle Gegenstände dieser Art diese Eigenschaft haben. Das Problem
besteht freilich darin, dass die Beobachtung einer noch so großen Menge
von Gegenständen nicht garantiert, dass tatsächlich alle Gegenstände dieser
Art diese Eigenschaft haben. In der modernen Diskussion wird anhand
eines berühmten Beispiels immer wieder auf diese Schwierigkeit hingewie-
sen. Wenn wir ausgehend von der Tatsache, dass alle beobachteten Schwäne
weiß sind, darauf schließen, dass alle Schwäne weiß sind, können wir uns
irren. Es kann ja durchaus sein (und hat sich auch tatsächlich herausgestellt),
dass plötzlich bislang unbekannte Schwäne auftauchen, die schwarz sind.
Daher ermöglicht das induktive Schließen kein sicheres, infallibles Wissen.
Bereits Nikolaus ist auf dieses Problem aufmerksam geworden. Er diskutiert
es anhand der Frage, ob denn die Quantität eine Eigenschaft sei, die jedem
materiellen Gegenstand zukomme und gleichsam in ihm stecke, oder ob
sie eine vom materiellen Gegenstand distinkte Entität sei. Auf diese Frage
scheint es zunächst eine einfache Antwort zu geben. Wir haben mehrfach
beobachtet, so könnte man sagen, dass jeder materielle Gegenstand eine
Quantität hat. Zwar kann diese zu- oder abnehmen, aber wann immer wir
einen Gegenstand gesehen haben, haben wir auch eine Quantität an ihm
festgestellt. Deshalb können wir schließen, dass alle materielle Gegenstände
eine Quantität haben, die gleichsam in ihnen steckt und unabtrennbar ist.
100
 In Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 233, Z. 35–37) betont Nikolaus, nur wenn eine veri-
dische Erscheinung vorliege, erfolge die Zustimmung unausweichlich. In den anderen Fällen
gebe es zwischen Erscheinung und Zustimmung keine „necessitas connexionis“.
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§ 31 Wissen und begründetes Glauben 361

Nikolaus bestreitet nun nicht, dass wir eine solche Überlegung anstellen
können, aber er weist darauf hin, dass wir damit kein Wissen gewinnen.
Wir sind nämlich nicht berechtigt, ausgehend von der Beobachtung einiger
Fälle gleich zu behaupten, wir wüssten, dass dies in allen Fällen so ist.101 Es
ist gut möglich, dass einige Gegenbeispiele unbemerkt geblieben sind oder
dass bei den beobachteten Fälle einige Eigenschaften übersehen wurden.
Daraus folgert Nikolaus nicht, dass induktives Schließen unzulässig ist und
keinen epistemischen Wert hat. Er macht nur darauf aufmerksam, dass wir
nicht gleich einen Wissensanspruch erheben dürfen, noch dazu einen An-
spruch, der sich auf unbekannte Gegenstände bezieht. Wir sind einzig und
allein berechtigt, ein wahrscheinliches Argument dafür vorzubringen, dass
die beobachteten Gegenstände hinsichtlich einer bestimmten Eigenschaft
übereinstimmen und dass die nicht beobachteten Gegenstände gleich oder
ähnlich beschaffen sind. Aus diesem Grund hat das induktive Schließen
durchaus einen epistemischen Wert, auch wenn er nicht so hoch ist wie jener
des Wissens.
Zieht man diese Differenzierung epistemischer Ansprüche in Betracht,
lassen sich die verurteilten Artikel besser verstehen, die ganz zu Beginn
dieses Kapitels zitiert wurden. Es schien zunächst, als würde Nikolaus mit
folgenden Aussagen eine dezidiert skeptische Position vertreten:
– Aus der Tatsache, dass ein Ding existiert, kann nicht mit Evidenz abge-
leitet werden, dass ein anderes Ding existiert (Art. 6).
– Aus der Tatsache, dass ein Ding existiert, kann nicht mit Evidenz abge-
leitet werden, dass ein anderes Ding nicht existiert (Art. 7).
– Wir wissen nicht mit Evidenz, dass es eine natürliche Wirkursache gibt
oder geben kann (Art. 17).
Auf den ersten Blick gewinnt man hier den Eindruck, Nikolaus würde radi-
kal bestreiten, dass man irgendetwas über Kausalrelationen aussagen kann.
Es ist daher nicht erstaunlich, dass er bis in die neueste Forschung hinein
als Skeptiker bezeichnet worden ist.102 Berücksichtigt man jedoch die Diffe-
renzierung epistemischer Ansprüche, zeigt sich, dass Nikolaus nur den An-
spruch auf evidentes Wissen zurückweist, nicht aber jenen auf begründetes
Glauben. Er stellt ja in allen drei Artikeln fest, es könne nicht mit Evidenz

101
  Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 222, Z. 23–25): „... nam dato quod ostenderetur quod
in istis et in istis conveniunt, non sequitur propter hoc quod in omnibus quia forsan quaedam
insunt huic rei quae non cognoscis.“
102
 So etwa von Schabel 1998, 395, der von „radically sceptical aspects of Autrecourt’s
thought“ spricht. Zupko 2003, 189, sieht einen „Ultricurian skepticism“, präzisiert aber, dies
sei ein Skeptizismus, der Nikolaus bereits von seinen Zeitgenossen (allen voran Buridan) zu-
geschrieben worden sei, den er aber nicht unbedingt selber vertreten habe.
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362 Zweifel am demonstrativen Wissen

eine Kausalrelation festgestellt werden. Wenn keine Evidenz vorliegt, gibt


es auch keine Gewissheit und damit kein Wissen. Dies bedeutet aber nicht,
dass damit überhaupt keine Aussage gemacht werden kann. Ausgehend
von der Beobachtung konkreter Gegenstände können wir nämlich wahr-
scheinliche Argumente dafür vorbringen, dass Kausalrelationen vorliegen,
ja sogar dass gleichartige Gegenstände in gleichartigen Kausalrelationen
zueinander stehen. Zudem können wir durch induktives Schließen Voraus-
sagen darüber machen, wie in Zukunft Gegenstände einer bestimmten Art
aufeinander einwirken werden. Deshalb kann man die Artikel so verstehen,
dass Nikolaus für eine Präzisierung der epistemischen Ansprüche plädiert.
Wir müssen seiner Ansicht nach genau unterscheiden, ob wir etwas „mit
Evidenz herleiten“ und damit auf eine absolut sichere Wissensgrundlage
stellen können oder ob wir im Rahmen einer Hypothese bloß wahrschein­
liche Argumente formulieren.
Versteht man Nikolaus’ Strategie auf diese Weise, erweist sie sich als eine
raffinierte antiskeptische Strategie. Gegenüber dem Skeptiker, der fordert,
wir müssten entweder unser Wissen auf eine sichere Grundlage stellen oder
vollständiges Nicht-Wissen eingestehen, hält Nikolaus fest, dass die radikale
Gegenüberstellung von Wissen und Nicht-Wissen eine falsche Opposition
ist. Zwar ist es richtig, dass Wissen auf eine sichere Grundlage gestellt
werden muss. Doch das Fehlen einer solchen Grundlage hat keineswegs ein
vollständiges Nicht-Wissen zur Folge. Durch eine Graduierung der episte-
mischen Ansprüche und eine sorgfältige Unterscheidung zwischen Gewiss-
heit und Wahrscheinlichkeit kann ein großer Bereich als begründetes Glau-
ben etabliert werden – ein Bereich, der weit mehr ist als Nicht-Wissen. Ch.
Grellard hat bereits darauf hingewiesen, dass Nikolaus mit dieser Strategie
das Ziel verfolgt, „einen Platz für das Glauben zu schaffen“, und zwar für
das nicht-religiöse Glauben.103 Dies ist zweifellos ein zentraler Punkt, der
von jenen Interpreten, die Nikolaus pauschal als Skeptiker bezeichnen, über-
sehen wird. Gerade durch die klare Abgrenzung des Glaubens vom Wissen
versucht Nikolaus ja, die Möglichkeit von Wissen zu verteidigen und die
Gefahr des Skeptizismus zu bannen. Allerdings ist diese Verteidigung um
einen hohen Preis erkauft. Denn indem Nikolaus nur das als Wissen ak-
zeptiert, was auf Gewissheit beruht, und die Gewissheit sehr restriktiv be-
stimmt (nämlich mit Verweis auf das erste Prinzip), sichert er nur einen eng
gefassten Bereich von Wissen. Überspitzt ausgedrückt könnte man sagen:

103
 Grellard 2005, 11: „L’idée générale qui préside à la théorie de la connaissance de Nicolas
d’Autrécourt est qu’il faut ,faire place à la croyance‘. De fait, en rupture avec les théories
médiévales de la connaissance, Nicolas estime que l’évidence n’est pas une condition néces-
saire de la connaissance.“ Evidenz ist, wie Grellard zu Recht betont, nur eine notwendige
Bedingung für Wissen, nicht für Glauben.

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§ 32 Ein kohärentes Wissensnetz 363

Er verteidigt zwar die Wissensansprüche, minimiert sie aber gleichzeitig,


indem er sie nur im Rahmen eines eng gefassten fundamentalistischen Pro-
jekts zulässt. Alles, was darüber hinausgeht, ist bloßes Glauben. Daher ist
es zwar durchaus wichtig, darauf hinzuweisen, dass Nikolaus einen Platz
für das Glauben schafft. Doch damit wird nur die eine Seite der Medaille
betont. Die andere lautet: Nikolaus weist dem Wissen einen eng begrenzten
Platz zu. Die Maximierung des Glaubens geht mit einer Minimierung des
Wissens einher.

§ 32 Ein kohärentes Wissensnetz

Johannes Buridan, der genau wie Nikolaus von Autrécourt an der Pariser
Universität ausgebildet wurde und über drei Jahrzehnte an der dortigen
Artistenfakultät lehrte,104 war mit den skeptischen Debatten seiner Zeit
bestens vertraut. In verschiedenen Werken zitierte er die skeptischen Stan-
dardargumente, die immer wieder gegen die Möglichkeit von Wissen vor-
gebracht wurden: Sinnestäuschungen, Traumszenarien, die Abhängigkeit
des Intellekts von den unzuverlässigen Sinnen und die Beschränktheit des
intellektuellen Vermögens.105 Doch er ließ sich nicht davon beeindrucken. In
seiner Diskussion der Quaestio „Können wir etwas wissen?“ antwortete er
auf die insgesamt vierzehn skeptischen Argumente, die er gewissenhaft auf-
listete, kurz und bündig: Natürlich können wir etwas wissen. Denn wie das
Feuer von Natur aus Dinge erhitzt und Schweres von Natur aus nach unten
fällt, ist der menschliche Intellekt von Natur aus darauf ausgerichtet, die
ihm präsenten Gegenstände zu erkennen, ja er ist sogar darauf ausgerichtet
bzw. „geneigt“, die ersten Prinzipien zu erfassen.106 Wer daran zweifelt, ver-
kennt vollkommen die natürliche Bestimmung des Menschen.
Angesichts der subtilen und detaillierten Argumente, die Nikolaus von
Autrécourt gegen skeptische Attacken vorbrachte, ist dies – zumindest auf

  Für eine ausführliche Biographie vgl. Michael 1985.


104

 Die meisten dieser Argumente stammen aus der antiken skeptischen Tradition. Borbély
105

vergleicht die in In Met. II, q. 1 präsentierten Argumente mit jenen, die sich bei Sextus Em-
piricus und Diogenes Laertios finden und kommt zum Schluss, es gebe einen „Isomorphis-
mus“ (Borbély 2005, 39) zwischen den pyrrhonischen Argumenten und jenen, die Buridan
diskutiert. Freilich ist zu betonen, wie der Autor selber einräumt, dass damit keine direkte
Kenntnis der pyrrhonischen Tradition nachgewiesen ist. Die von Buridan zitierten Beispiele
finden sich auch in der akademischen Tradition und wurden zum größten Teil schon von
Petrus Aureoli und anderen mittelalterlichen Vorgängern diskutiert.
106
  In Anal. Post. I, q. 2, corp.: „Unde sicut ignis est naturaliter inclinatus ad calefaciendum
et graue ad descendendum, ita intellectus est naturaliter inclinatus ad intelligendum obiecta
sibi sufficienter praesentata, et etiam naturaliter inclinatus ad comprehensionem ueritatis
primorum principiorum complexorum.“ Vgl. auch In Met. II, q. 1 (ed. Paris 1588, f. 8ra-va).
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364 Zweifel am demonstrativen Wissen

den ersten Blick betrachtet – eine enttäuschende Auskunft. Es scheint sogar,


als würde Buridan einer offensichtlichen petitio principii zum Opfer fallen.
Wenn er nämlich behauptet, der menschliche Intellekt könne aufgrund
einer natürlichen „Neigung“ Wissen erwerben, setzt er gerade das voraus,
was zur Debatte steht und erst nachgewiesen werden muss. Der Skeptiker
fragt ja, ob wir denn sicher sein können, dass wir genau jene kognitive
Ausstattung haben, die es uns erlaubt, Wissen zu erwerben. Verweise auf
Sinnestäuschungen und andere Fehlleistungen einfach mit der Bemerkung
beiseite zu wischen, der Intellekt neige nun mal dazu, trotzdem etwas zu
wissen, scheint eher eine trotzige Geste als ein überzeugendes Argument
zu sein. Vor allem scheint Buridans Reaktion angesichts der antiskeptischen
Strategie, die sein Pariser Kollege Nikolaus entwickelte, ganz und gar un-
angemessen zu sein. Wer trotz aller skeptischen Argumente daran festhalten
will, dass Wissen möglich ist, muss doch erstens zeigen, worin das sichere
Wissensfundament besteht (wie dies Nikolaus mit seinem Verweis auf die
Gewissheit des ersten Prinzips tut), und zweitens nachweisen, wie auf
diesem Fundament ein ganzes Wissenssystem errichtet werden kann. Der
bloße Hinweis auf eine natürliche Neigung reicht hier nicht aus.
Buridans Reaktion erscheint in der Tat höchst unbefriedigend, wenn sie als
eine direkte Antwort auf die skeptische Herausforderung verstanden wird.
Doch es wäre methodisch unangemessen, einfach davon auszugehen, Buri-
dan verfolge die gleiche antiskeptische Strategie wie Nikolaus (nämlich ein
sicheres, infallibles Wissensfundament zu bestimmen) und gehe vom gleichen
Wissensbegriff aus (nämlich einem fundamentalistischen, infallibilistischen).
In einem ersten Schritt muss bestimmt werden, worin für Buridan Wissen be-
steht und wie er Wissen von bloßem Glauben abgrenzt. Erst in einem zweiten
Schritt kann dann untersucht werden, wie er innerhalb seiner Wissenskon-
zeption mit skeptischen Argumenten umgeht und welche Funktion dabei
seine Berufung auf eine natürliche Neigung des Intellekts hat. Eine antiskep-
tische Strategie ist stets mit Blick auf die Wissensansprüche zu evaluieren, die
im Rahmen einer bestimmten Wissenskonzeption erhoben werden.
Buridan erläutert seine Wissenskonzeption, indem er die Bedingungen
angibt, die ein kognitiver Zustand erfüllen muss, damit er Wissen und
nicht bloßes Meinen oder Glauben ist. Dabei geht er genau wie die meisten
seiner Zeitgenossen davon aus, dass sich ein solcher Zustand primär auf
einen mentalen Satz bezieht, der im Normalfall durch natürliche Kausal-
relationen zu äußeren Gegenständen entsteht.107 So weiß jemand nicht ein-

 Vgl. In Met. II, q. 1 (ed. Paris 1588, f. 8vb). Die Klausel, dass dies nur für den Nor-
107

malfall gilt, ist von Bedeutung, weil es natürlich auch ein Wissen von den eigenen mentalen
Zuständen und von intelligiblen Objekten (z.B. von mathematischen Gegenständen) gibt.
In diesen besonderen Fällen entsteht der mentale Satz nicht durch eine Kausalrelation zu
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§ 32 Ein kohärentes Wissensnetz 365

fach die scheinende Sonne (dies wäre schon grammatikalisch unkorrekt),


sondern bildet und erfasst den mentalen Satz ‚Die Sonne scheint‘, der den
Sachverhalt ausdrückt, dass die Sonne scheint. Da der Satz im Normalfall
direkt den extramentalen Sachverhalt bezeichnet, bezieht sich jemand, der
den Satz bildet, auch direkt auf etwas Extramentales. Buridan vertritt also
keineswegs einen extremen Mentalismus, dem zufolge eine Person in ihrem
Wissen nur auf die eigenen mentalen Sätze einen Zugriff hat. Seine These
lautet vielmehr, dass man ein Wissen von äußeren Sachverhalten gewinnt,
indem man mentale Sätze über sie bildet und erfasst.
Allerdings ist ein bloßes Erfassen von Sätzen nicht ausreichend. Buri-
dan betont, dass auch eine Zustimmung zu den Sätzen erforderlich ist.108
Warum ist dieser Punkt wichtig? Würde bereits das Verfügen über einen
mentalen Satz ausreichen, könnte an dem Satz ja auch gezweifelt werden,
oder er könnte nur erwogen oder als Frage formuliert werden. Wer aber
über Wissen verfügt, bezweifelt oder erwägt nicht einfach, sondern stimmt
zu und behauptet damit, dass etwas so und so ist. Wenn ich etwa weiß, dass
die Sonne scheint, stimme ich ja zu, dass es sich tatsächlich so verhält; ich
erwäge nicht bloß eine Möglichkeit. Somit ist – in moderner Terminologie
ausgedrückt – nicht nur das Erfassen eines propositionalen Gehalts, sondern
auch die Präsenz einer bestimmten propositionalen Einstellung erforderlich.
Buridan räumt freilich ein, dass es sich dabei ebenso um eine habituelle wie
um eine aktuelle Einstellung handeln kann.109 Das heißt, dass auch nur
eine Disposition dafür vorhanden sein kann, die Zustimmung zu einem
mentalen Satz zu geben. Wenn ich etwa an einem sonnigen Sommertag am
Schreibtisch sitze, muss ich nicht ununterbrochen daran denken, dass die
Sonne scheint, und ich muss dies auch nicht ununterbrochen behaupten. Es
reicht aus, dass ich die Disposition habe, dies zu tun, sobald ich nach dem
Wetter gefragt werde.
Diese Bedingungen genügen allerdings nicht, um Wissen von Glauben
abzugrenzen. Sie sind im Gegenteil genau das, was diese beiden kognitiven
Zustände miteinander verbindet und von einem Erwägen, Fragen oder
Bezweifeln unterscheidet. Auch wenn ich bei strömendem Regen fälsch-

äußeren, materiellen Gegenständen. Doch auch auf diese Fälle trifft Buridan zufolge die Pro-
positionalitätsthese zu: Wissen erfordert das Erfassen von Sätzen, selbst wenn diese sich auf
etwas Mentales oder auf intelligible Objekte beziehen.
108
  De demonstrationibus 8.4.3 (ed. de Rijk 2001, 106): „Scientia autem et opinio conveniunt
primo quia neutra est propositio, sed assensus propositioni additus, quo scilicet propositioni
assentimus.“ Ibid., 107, erläutert er die Zustimmung wie folgt: „... et hanc fidem seu creduli-
tatem (aut quocumque nomine vocetur) vocamus ‚assensum‘.“ Vgl. auch In Met. II, q. 1 (ed.
Paris 1588, f. 8vb). Zum Begriff des assensus vgl. ausführlich de Rijk 1994.
109
  De demonstrationibus 8.4.3 (ed. de Rijk 2001, 106): „Secundo conveniunt quia utraque
aliquando dicitur actualis et aliquando habitualis solum.“
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366 Zweifel am demonstrativen Wissen

licherweise glaube, dass die Sonne scheint, stimme ich ja einem menta-
len Satz zu. Und wenn ich korrekt glaube, dass jetzt in Paris die Sonne
scheint, aber weder selber in Paris bin noch Wetterberichte über Paris
höre, gebe ich meine Zustimmung zu einem mentalen Satz. Offensichtlich
sind Bedingungen erforderlich, die es ermöglichen, Wissen einerseits von
falschem Glauben, andererseits aber auch von ungerechtfertigtem wahrem
Glauben zu unterscheiden. Genau diese Bedingungen formuliert Buridan,
indem er folgende Differenz zwischen Wissen und Glauben bzw. Meinen
angibt:
„Da wir nun also die Unterschiede zwischen Wissen und Meinen angeben wollen,
sagen wir, dass sich Wissen erstens dadurch von Meinen unterscheidet, dass jedes
Wissen mit Gewissheit und Evidenz erfolgt [...]. Der zweite Unterschied besteht
darin, dass jedes Wissen wahr ist und von einem wahren Satz handelt; nicht jede
Meinung ist derart.“110

Berücksichtigt man diese und die bereits genannten Bedingungen, lässt sich
Wissen folgendermaßen explizieren:
(W) Jemand verfügt über Wissen, (i) wenn er einem mentalen Satz zu-
stimmt, (ii) wenn der Satz wahr ist und (iii) wenn Gewissheit und
Evidenz vorliegen.
In dieser Explikation finden sich genau jene Bedingungen, die auch in gegen-
wärtigen Analysen immer wieder genannt werden.111 In Bedingung (i) wird
Wissen auf eine propositionale Form eingeschränkt. Es geht ja nur um die
Zustimmung zu Sätzen, nicht um nicht-propositionale Einstellungen oder
um praktische Fertigkeiten. Wie jemand eine bestimmte Tätigkeit ausführen
oder mit etwas umgehen kann (z.B. ‚Ich weiß, wie man Fahrrad fährt‘),
steht nicht zur Debatte. Wichtig ist nur, wie jemand mithilfe eines Satzes
einen bestimmten Sachverhalt erfasst und zustimmt, dass es sich tatsächlich
so verhält, wie der Satz bezeichnet.

110
  De demonstrationibus 8.4.4 (ed. de Rijk 2001, 110–111): „Nunc ergo, volentes assignare
differentias inter scientiam et opinionem, dicamus scientiam differre ab opinione primo quia
oportet omnem scientiam esse cum certitudine et evidentia [...]. Secunda differentia est quod
omnis scientia est vera et propositionis verae, et non omnis opinio est talis.“ Vgl. auch In
Anal. Post. I, 32, corp. Buridan gibt zudem einen dritten Unterschied an, nämlich dass es
von den ersten Prinzipien kein demonstratives Wissen geben kann. Der besondere Fall des
demonstrativen Wissens soll erst in § 32 erörtert werden. Hier geht es zunächst nur um die
Frage, welche Bedingungen für Wissen im weiten Sinne erfüllt sein müssen.
111
  Vgl. Lehrer 1990, 9–13, und Williams 2001, 13–27. Es ist zu betonen, dass Buridan nicht
von einer Definition von Wissen spricht. Daher handelt er sich auch nicht die Probleme ein,
die in der gegenwärtigen Debatte (etwa in den Diskussionen über die berühmten Gettier-
Fälle) gegen die Möglichkeit einer präzisen Definition vorgebracht werden. Buridan geht es
nur darum, die entscheidenden Merkmale von Wissen zu nennen, ohne dass er damit gleich
notwendige und hinreichende Bedingungen formuliert.
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§ 32 Ein kohärentes Wissensnetz 367

In Bedingung (ii) wird betont, dass der Satz wahr sein muss; genau da-
durch unterscheidet sich Wissen von falschem Glauben.112 Buridan stützt
sich dabei auf eine Korrespondenztheorie der Wahrheit, der zufolge ein
Satz genau dann wahr ist, wenn er einen Sachverhalt korrekt bezeichnet,
und er erklärt diesen Sachverhalt als die Menge aller Entitäten, auf die sich
die Termini des Satzes beziehen.113 So ist der Sachverhalt, dass die Sonne
scheint, nichts anderes als die Verbindung aus der Sonne (einer Substanz)
und dem Scheinen (einer Qualität), d.h. aus jenen beiden Entitäten, auf
die sich Subjekts- und Prädikatsterminus des mentalen Satzes ‚Die Sonne
scheint‘ beziehen. Damit ein Satz wahr ist, muss also keine besondere Sach-
verhaltsentität (kein sog. complexe significabile) vorliegen, wie Buridans
Zeitgenossen Adam Wodeham und Gregor von Rimini meinten.114 Es reicht
aus, dass die einzelnen Substanzen und Qualitäten so bezeichnet werden,
wie sie existieren. Dies mag als eine ontologische Spitzfindigkeit erscheinen,
ist für die ganze Wissenstheorie aber von zentraler Bedeutung. Im Gegen-
satz zu verschiedenen Oxforder und Pariser Kollegen behauptet Buridan
nicht, dass Wissen nur dann möglich ist, wenn es auch komplexe Wissens-
objekte als eigenständige Entitäten gibt, die mit dem mentalen Satz überein-
stimmen und ihn gleichsam fundieren. Er vertritt nur die Auffassung, dass
die Substanzen und Qualitäten existieren müssen, wie sie durch die Termini
des Satzes bezeichnet werden. Damit tritt er für eine ontologisch sparsame
Interpretation der Wahrheitsbedingung ein.115
Die Zustimmung zu einem wahren Satz reicht allerdings nicht aus. Es
ist ja gut möglich, dass jemand aufs Geratewohl einem Satz zustimmt, der
zufälligerweise wahr ist. So kann ich, um das moderne Beispiel wieder auf-
zugreifen, dem Satz ‚Jetzt scheint die Sonne in Paris‘ zustimmen, und es
kann zufälligerweise der Fall sein, dass die Sonne dort tatsächlich scheint.
Wenn ich aber meine Zustimmung gebe, ohne den Sonnenschein selber zu
sehen oder Berichte über das aktuelle Wetter in Paris zu hören, verfüge ich
über kein Wissen. Ich habe ja nur so etwas wie einen Zufallstreffer gelandet.

112
 Dies ist gegenüber King 1987 zu betonen, der behauptet, Buridan breche mit der Tradi-
tion, indem er die Wahrheitsbedingung fallen lasse und unter Wissen nur noch „warranted
assent“ verstehe. Zwar lässt Buridan die Wahrheitsbedingung in den Quaestionen zur Meta­
physik und zur Physik, auf die sich King stützt, in der Tat unerwähnt. Doch er setzt dort
immer voraus, dass diese Bedingung erfüllt ist. Eine antirealistische oder konstruktivistische
Wissenskonzeption, die eine Übereinstimmung der mentalen Sätze mit äußeren Sachver-
halten außer Acht lässt, ist dem Aristoteliker Buridan fremd, wie De demonstrationibus ver-
deutlicht.
113
  Vgl. die in Perler 1990, 438–507, diskutierten Texte sowie In Anal. Post. I, q. 10; eine
konzise Darstellung bietet Zupko 2003, 125–131.
114
  Vgl. zu deren Theorien Perler 1994.
115
 De Libera 2002, 305, spricht daher von einer „reduktionistischen Theorie“, die einen
Sachverhalt auf basale Entitäten – Substanzen und Qualitäten – reduziert.
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368 Zweifel am demonstrativen Wissen

Daher wird in gegenwärtigen Debatten betont, es müsse eine Rechtfer-


tigung vorhanden sein. Genau diesen Punkt berücksichtigt auch Buridan
in Bedingung (iii), wenn er festhält, es sei eine Gewissheit erforderlich.
Darunter versteht er zum einen die Tatsache, dass dem Satz wirklich ein
Sachverhalt entsprechen muss (und nicht nur zu entsprechen scheint), und
betont damit nochmals die Wahrheitsbedingung. Zum anderen präzisiert er
aber auch, dass die Zustimmung „standhaft“ und „ohne Zweifel bzw. ohne
Furcht“ erfolgen muss.116 Damit verdeutlicht er, dass er mit der Gewissheits-
bedingung nicht nur auf etwas objektiv Gegebenes (die Übereinstimmung
des Satzes mit einem Sachverhalt), sondern auch auf etwas Subjektives (die
besondere Beschaffenheit der propositionalen Einstellung) abzielt.117 Doch
warum ist die subjektive Dimension von Bedeutung? Anhand des modernen
Beispiels lässt sich diese Frage leicht beantworten. Wenn ich dem Satz ‚Jetzt
scheint die Sonne in Paris‘ einfach auf gut Glück zustimme, ohne dafür ir-
gendeinen Anhaltspunkt zu haben, ist meine Zustimmung gänzlich instabil.
Sobald ich gefragt werde, ob ich denn sicher sei, beginne ich zu zögern; ich
habe ja einfach aufs Geratewohl etwas behauptet. Schon durch den gerings-
ten Einwand lasse ich mich umstimmen und gebe meine Zustimmung auf.
Würde ich jedoch wissen, dass es in Paris sonnig ist, könnte ich den Ein-
wand zurückweisen (etwa indem ich mich auf meine Wahrnehmung oder
auf aktuelle Wetterberichte berufen würde) und bliebe standhaft bei meiner
Zustimmung. Wissen zeichnet sich gegenüber Glauben gerade dadurch aus,
dass es sich rechtfertigen lässt. Je besser die Möglichkeiten der Rechtfer-
tigung sind, desto sicherer und standhafter ist derjenige, der für sich Wissen
beansprucht, und desto gewisser wird er dadurch. Die subjektive Dimen-
sion, die Buridan mit seiner Gewissheitsbedingung verdeutlicht, resultiert
somit aus der jeweiligen Rechtfertigung, die gegeben werden kann, und ist
weit mehr als ein bloßes Gefühl oder eine spontane Stimmung.
Berücksichtigt man diese Fundierung der Gewissheit, zeigt sich, dass
Buridan genau jene Bedingungen für Wissen angibt, die auch in heutigen
Diskussionen immer wieder formuliert werden: Wissen liegt nur vor, wenn
(i) jemand etwas glaubt und damit einem Satz seine Zustimmung gibt, (ii)
wenn der Satz wahr ist und (iii) wenn der Satz gerechtfertigt werden kann,
sodass auch eine Gewissheit besteht. Allerdings taucht nun ein Problem auf:
Ist jede Art von Rechtfertigung zulässig? Stellen wir uns vor, ich würde dem

116
  De demonstrationibus 8.4.4 (ed. de Rijk 2001, 111): „Certitudo enim requirit duo. Unum
ex parte propositionis cui assentitur, scilicet quod sit vera [...]. Et aliud ex parte nostra, scilicet
quod assensus noster sit firmus, scilicet sine dubitatione seu formidine ad oppositum; et hoc
etiam requiritur ad scientiam, quia assensus dubitativus et formidinalis non transcendit metas
opinionis.“ Vgl. auch In Anal. Post. I, q. 2, corp.
117
  Vgl. zu diesem zweifachen Aspekt ausführlich Zupko 2001, 170–175.
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§ 32 Ein kohärentes Wissensnetz 369

Satz ‚Jetzt scheint die Sonne in Paris‘ zustimmen, in Paris schiene tatsäch-
lich die Sonne, und ich würde meinen Glauben rechtfertigen, indem ich be-
hauptete, ein Hellseher habe mir schon vor einem Jahr gesagt, heute werde
in Paris die Sonne scheinen. Dann gäbe ich zweifellos eine Rechtfertigung,
die aus meiner Sicht vielleicht so stark wäre, dass ich standhaft bei meiner
Zustimmung bliebe. Würde ich gefragt: „Aber bist du denn sicher, dass jetzt
in Paris die Sonne scheint?“, würde ich hartnäckig antworten: „Natürlich
bin ich mir sicher, der Hellseher hat es mir doch gesagt; er irrt sich nie.“
Diese Antwort würde aber kaum als befriedigend akzeptiert. Es kommt
nämlich darauf an, dass nicht irgendeine Rechtfertigung vorgebracht wird,
sondern eine rational nachvollziehbare, von anderen Personen überprüf-
bare. Die Berufung auf einen Hellseher ist keine derartige Rechtfertigung,
mag sie psychologisch gesehen eine noch so große Gewissheit liefern.
Auch Buridan ist sich bewusst, dass nicht jede beliebige Rechtfertigung
akzeptabel ist. Er hält daher in der genannten Bedingung (iii) fest, dass Ge-
wissheit und Evidenz vorliegen müssen, und begründet den Zusatz auf an-
schauliche Weise.118 Ein gläubiger Mensch, so schreibt er, hat eine Gewissheit
von den Glaubensartikeln. So behauptet ein solcher Mensch standhaft, dass
Gott gleichzeitig einfach und dreifaltig ist, und lässt sich durch keinen Ein-
wand erschüttern. Doch er kann keine überprüfbaren Fakten oder Belege
für seine Behauptung geltend machen. Er vertritt die Behauptung einfach
aufgrund seines religiösen Glaubens und der Offenbarungsschriften. Ein
solcher Glaube ist aber kein Wissen, mag er auch durch keine Zweifel beein-
trächtigt werden. Wissen würde erst vorliegen, wenn es auch eine Evidenz
dafür gäbe, dass Gott tatsächlich einfach und dreifaltig ist. Doch genau die
Evidenz fehlt hier. Buridan führt zwar nicht aus, worin die Evidenz im De-
tail bestehen müsste, aber es lassen sich leicht Kriterien nennen, die erfüllt
sein müssten. So müsste jemand auf eine Wahrnehmung, die auch andere
Personen haben könnten, oder auf einen rational nachvollziehbaren, über-
prüfbaren Bericht verweisen können. Aber genau dies ist natürlich nicht
möglich. Es gibt ja keine visuelle Wahrnehmung der Dreifaltigkeit und auch
keinen objektiven Bericht darüber. Man muss bereit sein, die christliche
Theologie zu akzeptieren, und kann nur innerhalb dieses Systems glauben,
dass Gott einfach und dreifaltig ist.
Offensichtlich reicht es nicht aus, irgendeine Rechtfertigung zu geben.
Wie es im modernen Beispiel nicht befriedigend ist, einfach auf den Hell-
seher zu verweisen, so reicht es in Buridans Beispiel nicht aus, einfach auf
die religiöse Glaubensgewissheit hinzuweisen. Die Rechtfertigung muss

 Vgl. De demonstrationibus 8.4.4 (ed. de Riik 2001, 111) und In Met. I, q. 2 (ed. Paris
118

1588, f. 8vb).
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11:28

370 Zweifel am demonstrativen Wissen

sich auf eine Evidenz stützen können, die auch anderen Personen zugäng-
lich und rational nachvollziehbar ist. Dies ist ein entscheidender Punkt in
Buridans Argumentation. Er verdeutlicht, dass die Rechtfertigung nicht
im Sinne einer rein subjektiven Gewissheit verstanden werden darf. Zwar
muss derjenige, der einem mentalen Satz zustimmt, in dem Sinne eine sub-
jektive Gewissheit haben, dass er seine Zustimmung „standhaft“ und ohne
zu zweifeln gibt. Diese Gewissheit muss aber auf die angemessene, auch
für andere nachvollziehbare Weise zustande gekommen sein. Verkürzt aus-
gedrückt könnte man sagen: Nur Gewissheit, die sich auf Evidenz stützt, ist
eine Gewissheit, die Wissen generiert.
An diesem Punkt könnte man nun erwarten, dass Buridan die fundamen-
talistische Strategie übernimmt, die Nikolaus von Autrécourt verfolgt hat.
Es gibt nur drei Arten der durch Evidenz gestützten Gewissheit, so könnte
er sagen, nämlich erstens die Gewissheit der wahrnehmbaren Objekte,
zweitens jene der eigenen mentalen Akte und drittens jene des Prinzips der
Widerspruchsfreiheit. Streng genommen müssen die beiden ersten Arten
von Gewissheit sogar auf die dritte Art rückführbar sein. Die Gewissheit
des Prinzips der Widerspruchsfreiheit ist nämlich die allererste Gewissheit
im positiven Sinn (jede andere Gewissheit ist auf sie rückführbar) und im
negativen Sinn (keine andere Gewissheit geht ihr voraus).119 Würde Buridan
so vorgehen, würde er sich jenem Projekt anschließen, das in § 30 „mono-
lithischer Fundamentalismus“ genannt wurde: Alle Gewissheiten beruhen
auf einer einzigen Gewissheit und lassen sich mit Bezug auf diese Gewissheit
auch rechtfertigen. Wissen im Sinne einer wahren, gerechtfertigten Meinung
zu haben, heißt dann, eine wahre Meinung zu haben, die sich letztlich mit
Rekurs auf das Prinzip der Widerspruchsfreiheit (und nur mit Verweis auf
dieses Prinzip) rechtfertigen lässt.
Doch Buridan wählt nicht diesen Weg. Er hält entschieden fest:
„Wir werden also sagen, dass es zahlreiche und verschiedene Arten der Gewissheit
und der Evidenz gibt.“120

Seiner Ansicht nach ist es keineswegs erforderlich, dass jede Gewissheit auf
jene des ersten Prinzips zurückgeführt wird. Er weist auch die These zu-
rück, dass über die Gewissheit dieses Prinzips hinaus keine andere Gewiss-
heit als Wissensgrundlage angenommen werden darf. In seinen Augen ist es
sogar ein fataler Fehler, eine solche Reduktion anzustreben:
„Es gibt bei einem solchen Wissen nämlich nicht ein einziges komplexes, erstes
und unbeweisbares Prinzip, auf das alles andere zurückgeführt wird, sondern es

  Vgl. Nikolaus von Autrécourt, Correspondence II. 2 (ed. de Rijk 1994, 58).
119

  De demonstrationibus 8.4.4 (ed. de Rijk 2001, 113): „Dicemus ergo quod multi sunt et
120

diversi modi certitudinis et evidentiae.“


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§ 32 Ein kohärentes Wissensnetz 371

gibt ebenso viele Prinzipien, wie es bewiesene Schlusssätze gibt, wie später noch
dargelegt wird.“121

Mit anklagendem Unterton stellt Buridan fest, all jene, die behaupten, nur
das erste Prinzip sei evident und alles andere müsse mit Rekurs auf dieses
Prinzip bewiesen werden, würden etwas Falsches annehmen. Solche Be-
hauptungen seien absurd und würden auf einer mangelnden Kenntnis der
Logik beruhen.122 Zwar nennt Buridan nicht explizit Nikolaus von Autré-
court als einen Vertreter dieser absurden Ansicht, aber es ist leicht ersicht-
lich, dass Nikolaus von der Kritik getroffen wird. Nikolaus fordert ja genau
die inkriminierte Reduktion und behauptet explizit, dass jeder Satz, für
den ein Wissensanspruch erhoben wird, unter Rückführung auf das erste
Prinzip gerechtfertigt werden muss. Gelingt diese Rückführung nicht, wie
dies etwa bei Sätzen über Kausalverhältnisse der Fall ist, kann der Wissens-
anspruch nicht eingelöst werden.
Um Missverständnisse zu vermeiden, gilt es sogleich zu präzisieren, wo-
rauf Buridan mit seiner Kritik nicht abzielt. Er behauptet nicht, das Prinzip
der Widerspruchsfreiheit spiele keine Rolle oder könne gar geleugnet
werden. Wie alle Aristoteliker erachtet auch er es als das fundamentalste,
nicht weiter beweisbare Prinzip, ohne das gar keine Argumentation möglich
ist. Denn wer auch immer sich auf eine Argumentation einlässt, kann nicht
gleichzeitig und in gleicher Hinsicht p und nicht-p behaupten. Zwar ist
es möglich, dieses Prinzip verbal zu leugnen oder infrage zu stellen, aber
dies bedeutet nicht, dass es in Tat und Wahrheit bestritten werden kann.
Buridan veranschaulicht dies mit einer amüsanten Anekdote. Er berichtet,
er habe einige alte Frauen gefragt, ob sie denn gleichzeitig sitzen und nicht
sitzen können. Sie hätten geantwortet, dies sei unmöglich. Darauf habe er
sie weiter gefragt, ob Gott denn nicht auch dies bewirken könne. Da hätten
sie gesagt: „Wir wissen es nicht; Gott kann alles bewirken. Daher muss man
glauben, dass er auch Unmögliches bewirken kann.“123 Dies zeigt Buridan
zufolge aber keineswegs, dass die alten Frauen das erste Prinzip tatsächlich
121
  De demonstrationibus 8.3.6 (ed. de Rijk 2001, 83): „Non enim in tali scientia est unicum
principium complexum primum et indemonstrabile ad quod omnia alia reducuntur, sed tot
sunt quot sunt conclusiones demonstratae, sicut dicetur post.“ Vgl. auch In Met. II, q. 1 (ed.
Paris 1588, f. 9rb-va).
122
  De demonstrationibus 8.5.2 (ed. de Rijk 2001, 122): „Isti ergo supponunt falsum, puta
quod illud solum principium sit evidens et quod omne aliud principium possit et indigeat pro-
bari per illud. Et haec sunt absurda et dicta ex ignorantia logicae.“ In Met. II, q. 1 (ed. Paris
1588, f. 9vb): „Ideo absurda est opinio aliquorum credentium quod nihil possit simpliciter
demonstrari nisi secundum reductionem ad illud primum principium.“
123
  In Met. II, q. 2 (ed. Paris 1588, f. 9vb): „Petivi enim a pluribus vetulis utrum scilicet
crederent quod simul possent sedere et non sedere. Statim dicebant quod erat impossibile. Et
tunc petivi ab eis: Nonne creditis quod Deus posset hoc facere? Statim respondebant: Nesci-
mus, Deus potest omnia facere et quod impossibilia Deus potest facere credendum est.“
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372 Zweifel am demonstrativen Wissen

infrage stellen. Schon die Tatsache, dass sie auf die Frage „Wir wissen es
nicht“ und nicht gleichzeitig „Wir wissen es“ antworten, zeigt ja, dass sie
es nach wie vor respektieren. Ihre Antwort verdeutlicht lediglich, dass man
aufgrund der Omnipotenzlehre in Versuchung geraten könnte, etwas ver-
bal infrage zu stellen, was in Tat und Wahrheit die Voraussetzung für jede
Aussage ist.124 Selbst Gott, so betont Buridan, kann das Prinzip der Wider-
spruchsfreiheit nicht beseitigen. Keiner, der geistig gesund ist, würde dieses
Prinzip bestreiten.125
Wenn das Prinzip der Widerspruchsfreiheit auch das erste und fun-
damentalste Prinzip ist, ist es doch weder das einzige Prinzip noch dasje-
nige, auf das alles zurückgeführt werden muss. Zwar kann jede Aussage
in dem trivialen Sinne auf dieses Prinzip zurückgeführt werden, dass sie
dieses Prinzip respektieren muss; was auch immer man behauptet, man
kann nicht gleichzeitig das Gegenteil behaupten. Dies heißt aber nicht, dass
jede Aussage nur mit Verweis auf dieses Prinzip gerechtfertigt werden kann.
Buridans Kritik richtet sich einzig und allein auf diese Rechtfertigungs-
these, die ja den Kern von Nikolaus’ Argumentation bildete. Nikolaus hatte
behauptet, eine Aussage wie ‚Wenn Feuer dem Werg angenähert wird, fängt
das Werg Feuer‘ könne nicht auf das erste Prinzip und damit auch nicht auf
die tautologische Form ‚Wenn p, dann p (und nicht nicht-p)‘ zurückgeführt
werden und sei daher nicht zu rechtfertigen. Daher sei auch kein Wissen
von der Kausalrelation möglich, die durch diese Aussage ausgedrückt wird.
Genau dagegen erhebt Buridan Einspruch, indem er darauf hinweist, dass
eine Aussage nicht nur dadurch gerechtfertigt werden kann, dass sie auf das
erste Prinzip zurückgeführt wird. Es sind auch Rückführungen auf andere
Prinzipien und damit andere Rechtfertigungen möglich. Buridan erwähnt
sogar explizit drei verschiedene Typen von Prinzipien: erstens solche, die
durch unmittelbare Wahrnehmung gewonnen werden, zweitens solche,
die auf Erinnerung beruhen, und drittens solche, die durch Erfahrung,
d.h. durch eine wiederholte Beobachtung von Ereignissen, entstehen.126

124
 Buridan betont daher in In Met. IV, q. 12 (ed. Paris 1588, f. 21vb), dass man das Prinzip
nur „ore sed non corde“ leugnen kann. Das heißt: Man kann die Aussage ‚Ich leugne das erste
Prinzip‘ zwar in der mündlichen Sprache formulieren, aber sobald man darüber nachdenkt,
worauf man sich damit auf der mentalen Ebene verpflichtet, muss man die Aussage wieder
zurückziehen. Mit dieser Erklärung verdeutlicht Buridan einmal mehr, dass er – genau wie
Ockham – der mentalen Sprache das Primat einräumt. Erst wenn wir die mentale Ebene be-
trachten, können wir feststellen, was eine Person wirklich behauptet, ja überhaupt behaupten
kann, und nicht nur vorgibt zu behaupten.
125
 Vgl. In Met. IV, q. 12 (ed. Paris 1588, f. 21vb), wo Buridan explizit festhält, selbst kraft
der uneingeschränkten Allmacht (potentia absoluta) könne Gott dieses Prinzip nicht zu-
nichte machen. Zur Funktion des ersten Prinzips vgl. Krieger 2003, 84–102.
126
  In Phys. I, q. 4 (ed. Paris 1509, f. 5vb): „Secunda conclusio contra illos est quod non
oportet omnem premissam demonstrationis fieri notam et evidentem per reductionem ad pri-
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§ 32 Ein kohärentes Wissensnetz 373

Wie diese Prinzipien genau entstehen und welche Rolle sie bei der Recht-
fertigung von Aussagen spielen, soll erst in § 33 näher untersucht werden.
Hier gilt es zunächst nur, Buridans allgemeine Strategie festzuhalten. Einem
monolithischen Fundamentalismus, der ein einziges Prinzip als Recht-
fertigungsgrundlage akzeptiert, setzt er einen Pluralismus entgegen, der
eine Vielzahl von Prinzipien und damit auch eine Vielzahl von Rechtfer-
tigungsgrundlagen annimmt, die nicht hierarchisch geordnet sind, sondern
gleichberechtigt nebeneinander bestehen. Daher gibt Buridan nicht nur
den monolithischen Charakter des Fundamentalismus auf, sondern den
Fundamentalismus schlechthin. Er akzeptiert ja nicht drei oder vier letzte
Säulen der Gewissheit, sondern verwirft das ganze Bild von letzten Säulen,
die der Rechtfertigung dienen. Zwar hält er die Idee aufrecht, dass eine
Rechtfertigung erforderlich ist; genau dadurch unterscheidet sich ja Wissen
von bloßem Glauben.127 Buridan verwirft aber die Idee, dass wir nur dann
etwas wissen, wenn wir einen Satz, dem wir zustimmen, mit Rekurs auf
eine letzte Säule der Gewissheit rechtfertigen können. In seiner Konzeption
gibt es ebenso viele Prinzipien, die als Rechtfertigung eingesetzt werden
können, wie es zu rechtfertigende Sätze gibt. Für jeden einzelnen Satz muss
das angemessene Prinzip bestimmt werden.
Wenn es aber eine Fülle von Prinzipien und damit auch von Rechtfer-
tigungsstrategien gibt, stellt sich unweigerlich die Frage, wie es noch ein ge-
ordnetes, zu einem einheitlichen System zusammengefasstes Wissen geben
kann. Die fundamentalistische Strategie hat trotz aller Schwächen den Vor-
teil, dass sie ein einheitliches Wissenssystem schafft, indem sie jedes Wis-
sen – wovon auch immer es handeln mag – auf ein einziges Fundament stellt
und mit Bezug auf dieses Fundament rechtfertigt. Genau dieser Vorteil geht
in Buridans Ansatz verloren. Es scheint, als könne man nur noch einzelne
wahre Sätze, die mit Rekurs auf je unterschiedliche Prinzipien gerechtfertigt
werden, nebeneinander stellen. Die Pluralität von Rechtfertigungsstrategien
hat anscheinend eine Zersplitterung des Wissens zufolge.
Buridan ist sich bewusst, dass eine solche Zersplitterung droht, und
betont daher, dass es durchaus eine Einheit des Wissens und damit auch der

mum principium. Multa enim principia demonstrationum fiunt nota nobis per sensum vel per
memoriam vel per experientiam...“ Vgl. auch De demonstrationibus 8.5.4 (ed. de Rijk 2001,
126) und In Met. II, q. 2 (ed. Paris 1588, f. 9vb).
127
 Damit grenzt er sich von jener Position ab, die in der gegenwärtigen Debatte „episte-
mischer Externalismus“ genannt wird. Dieser Position zufolge (vgl. Alston 1989, 185–226)
muss eine Person von ihrem Standpunkt aus gar keine Rechtfertigung liefern, um Wissen zu
haben. Es reicht aus, dass sie ihre Meinung auf eine zuverlässige Art und Weise erworben hat.
Für Buridan wäre eine solche Radikallösung inakzeptabel, weil sie übersieht, dass die Person
auch für sich selber erkennen muss, dass sie etwas weiß. Dies ist nur möglich, wenn sie eine
Rechtfertigung – oder wie Buridan sagt: eine „certitudo et evidentia“ – für ihre Meinung hat.
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374 Zweifel am demonstrativen Wissen

verschiedenen Wissenschaften gibt. Diese Einheit kommt aber weder durch


ein einziges Wissensobjekt, auf das sich alle Sätze beziehen müssen, noch
durch ein gemeinsames Rechtfertigungsprinzip zustande, sondern allein da-
durch, dass die einzelnen Sätze eine bestimmte „Ordnung und gegenseitige
Zuordnung“ haben. Buridan vergleicht diese Ordnung mit jener, die in einer
Armee herrscht. Genau wie die Armee ein Ganzes bildet, weil die einzelnen
Mitglieder in ihrer Funktion aufeinander abgestimmt sind und auf einen
Anführer hin geordnet werden, so erhalten auch die Sätze dadurch eine
Einheit, dass sie aufeinander abgestimmt und auf einen Gegenstandsbereich
hingeordnet sind.128 Entscheidend ist dabei, dass dieser Bereich in einer be-
stimmten Hinsicht betrachtet wird, genauso wie der Anführer der Armee
auch nur in einer bestimmten Hinsicht (nämlich als Anführer, nicht als
Schwarzhaariger oder Blonder) betrachtet wird. So erhalten etwa die Sätze
der Physik dadurch eine Einheit, dass sie auf das Seiende hingeordnet sind,
insofern dieses als etwas Bewegliches und Veränderbares betrachtet wird.
Die Sätze der Metaphysik hingegen erhalten dadurch eine Einheit, dass
sie ebenfalls in einer Ordnung stehen, jedoch auf das Seiende hingeordnet
sind, insofern es nur als Seiendes betrachtet wird. Jedes einheitliche Wissen
zeichnet sich somit durch zwei Merkmale aus: eine Kohärenz der einzelnen
Sätze und eine bestimmte Betrachtungsweise des Gegenstandsbereiches, auf
den sich die Sätze beziehen. Entscheidend ist dabei, dass die Gegenstands-
bereiche für verschiedene Wissensbereiche nicht notwendigerweise von-
einander getrennt sind. Wichtig ist nur die jeweilige Betrachtungsweise des
Gegenstandsbereiches.129 So kann sich beispielsweise sowohl die Physik als
auch die Metaphysik mit Bäumen beschäftigen. Die Physik befasst sich mit
Sätzen über Bäume, insofern sie als wachsende, sich verändernde Pflanzen
betrachtet werden; die Metaphysik beschäftigt sich mit ihnen, insofern sie
als Substanzen betrachtet werden. Und wenn die Physiker ihre Sätze über
Bäume rechtfertigen, stützen sie sich auf Prinzipien, die für ihre Betrach-
tungsweise relevant sind. So berufen sie sich etwa auf Prinzipien, die aus der
wiederholten Beobachtung wachsender Pflanzen und aus physiologischen
Untersuchungen gewonnen wurden. Die Metaphysiker hingegen recht-
fertigen ihre Sätze, indem sie sich auf andere Prinzipien stützen, etwa auf
solche, die aus der Einsicht in die kategoriale Struktur von Bäumen ent-

128
  De demonstrationibus 8.3.6 (ed. de Rijk 2001, 80): „... necesse est talem magnam scien-
tiam dici unam ex unitate alicuius illorum de quibus illa scientia considerat, ad quod alia,
prout in illa scientia considerantur, habent ordinem et attributionem, sicut exercitus dicitur
unus ex ordinatione omnium aliorum in unum principem vel ducem, ideo videndum est quid
sit illud unum ex cuius unitate talis scientia dicitur una.“
129
 In De demonstrationibus 8.3.6 (ed. de Rijk 2001, 82) illustriert dies Buridan am Beispiel
der Geometrie. Ich diskutiere im Folgenden ein Beispiel, das er nicht selber anführt.
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§ 32 Ein kohärentes Wissensnetz 375

standen sind. Kurzum: Jedes Wissensgebiet stellt eine Ordnung unter den
Sätzen her, indem es eine spezifische Betrachtungsweise wählt, die für eine
bestimmte Menge von Sätzen ausschlaggebend ist, und die Sätze mit Rekurs
auf Prinzipien, die für diese und nur diese Betrachtungsweise relevant sind,
rechtfertigt.
Damit gelingt es Buridan, die Frage zu beantworten, wie er trotz seines
Verzichtes auf einen monolithischen Fundamentalismus eine Zersplitterung
des Wissens vermeiden kann. Seiner Ansicht nach gelingt dies, wenn man
zwei grundlegende Punkte berücksichtigt. Erstens darf man die Sätze nicht
isoliert betrachten, sondern muss sie in ihrer jeweiligen Verflechtung und
damit als Bestandteile eines kohärenten Ganzen auffassen. Bildlich gespro-
chen heißt dies: Sätze bilden komplexe Netze und beruhen nicht einfach auf
einer einzigen Grundlage. Daher muss untersucht werden, welchen Platz
sie im jeweiligen Netz einnehmen und mit welchen anderen Sätzen sie ver-
flochten sind. Zweitens ist entscheidend, dass die Sätze sich in bestimmter
Hinsicht auf einen Gegenstand beziehen. Genau diese Hinsicht legt fest, zu
welchem Netz sie überhaupt gehören. Und natürlich ist diese Hinsicht auch
ausschlaggebend, wenn bestimmt werden soll, welche Prinzipien für eine
Rechtfertigung der Sätze infrage kommen. Es gibt nämlich eine Vielzahl
von Prinzipien, aber trotzdem lässt sich ein Satz nicht mit Rekurs auf jedes
beliebige Prinzip rechtfertigen. Stets gilt es zu fragen, in welcher Hinsicht
(in physikalischer, metaphysischer usw.) ein Satz einen Gegenstand über-
haupt bezeichnet und welches Prinzip oder welche Menge von Prinzipien
für genau diese Hinsicht entscheidend ist.130
Versteht man Buridans Erklärungsansatz auf diese Weise, stellt er sich als
ein kohärentistischer und gleichzeitig pluralistischer Ansatz heraus: Es gibt
mehrere Netze von Sätzen und mehrere Rechtfertigungsprinzipien. Daher
ist der Versuch einer Rückführung auf ein erstes Prinzip von Anfang an zum
Scheitern verurteilt. Wo es nicht ein einziges Fundament gibt, sondern eine Ko-
existenz von Netzen, kann es ja auch keine Reduktion auf eine einzige Grund-

130
 An dieser Stelle könnte vielleicht ein Zirkularitätsvorwurf auftauchen: Einerseits legt
erst die Betrachtungshinsicht die Einheit eines Wissensgebietes fest; andererseits bestimmt
das jeweilige Wissensgebiet, welche Betrachtungshinsicht relevant ist. Buridan vermag diesem
Zirkel zu entkommen, indem er die gesamte Diskussion über die Einheit und Betrachtungs-
hinsicht im Rahmen eines metaphysischen Naturalismus führt, d.h. einer Theorie, der zufolge
die Gegenstände von Natur aus bestimmte relevante Eigenschaften haben, die eine bestimmte
Betrachtung erfordern. So sind Bäume von Natur aus wachsende Pflanzen und erfordern da-
durch eine physikalische oder biologische Betrachtung. Andererseits sind sie auch von Natur
aus Substanzen und erfordern in dieser Hinsicht eine metaphysische Betrachtung. Die jewei-
lige Hinsicht (und damit auch das Kriterium für die Einheit eines Wissensgebietes) wird also
nicht in einem Wissensgebiet willkürlich bestimmt, sondern durch natürliche Eigenschaften
festgelegt. Zum metaphysischen Rahmen, den Buridan für seine ganzen epistemologischen
Ausführungen wählt, vgl. Zupko 2003, 145–163, und Klima 2005.
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376 Zweifel am demonstrativen Wissen

lage geben. Vielmehr muss im jeweiligen Netz geprüft werden, wie die einzel-
nen Sätze miteinander verbunden sind, in welcher Hinsicht sie gerechtfertigt
werden und wie überzeugend die jeweilige Rechtfertigung ist. Gegebenenfalls
müssen dann einzelne Sätze als schlecht gerechtfertigt aus dem Wissensnetz
entfernt werden, oder es sind neue Rechtfertigungen zu suchen. Doch es kann
nicht darum gehen, nur eine Art der Rechtfertigung in den Blick zu nehmen.
Allerdings wäre es auch unangebracht, aufgrund skeptischer Argumente eine
Rechtfertigungsmöglichkeit schlechthin infrage zu stellen. Solche Argumente
können höchstens punktuell eine bestimmte Rechtfertigung anzweifeln und
fordern dadurch zu einer neuen Rechtfertigung oder zu einem punktuellen
Wissensverzicht heraus. Buridan verdeutlicht dies in seiner Diskussion der
klassischen Täuschungsargumente.131 Auf den Einwand, ein kranker Mensch
fälle auf der Grundlage seiner Geschmackswahrnehmung das falsche Urteil,
dass etwas Bitteres süß sei, also könne man sich nie auf die Sinneswahr-
nehmung verlassen und Urteile nie mit Bezug auf die Wahrnehmung recht-
fertigen, erwidert er, dass in diesem Fall – aber auch nur in diesem Fall – das
Urteil in der Tat nicht mit Bezug auf die Wahrnehmung gerechtfertigt werden
darf; der Krankheitszustand schränkt nämlich die Wahrnehmungsfähigkeit
ein. Dies heißt aber nicht, dass der Rekurs auf die Wahrnehmung prinzipiell
untauglich ist. Das Beispiel zeigt nur, dass unter besonderen Bedingungen eine
ganz spezielle Wahrnehmung keine Rechtfertigungsquelle sein kann. Damit
wird aber keineswegs ausgeschlossen, dass unter anderen Bedingungen (oder
wie Buridan selber sagt: bei einer „anderen Disposition der Wahrnehmungs-
organe“) ein Rekurs auf die Wahrnehmung zulässig ist.
Dieses Beispiel verdient Beachtung, weil es verdeutlicht, wie Buridan
mit skeptischen Argumenten umgeht. Er widerlegt sie nicht und stellt sie
auch nicht als irrelevant hin. Trotzdem gibt er dem Skeptiker nicht Recht,
sondern versucht zu zeigen, dass die Beispiele nur eine beschränkte Aus-
sagekraft haben. Um das Bild mit dem Netz wieder aufzugreifen, könnte
man sagen: Buridan weist den Skeptiker darauf hin, dass ein skeptisches
Argument nur einen Knoten im ganzen Netz betrifft, und räumt ein, dass
der Knoten dort in der Tat äußerst locker ist. Die Konsequenz, die aus dieser
Feststellung zu ziehen ist, besteht aber nicht darin, dass man nun das ganze
Netz aufgeben oder jeden Knoten, an dem die Wahrnehmung in Anschlag
gebracht wird, überprüfen muss. Die Konsequenz kann nur die sein, dass
man entweder den einen Knoten aus dem Netz entfernt und damit punk-
tuell einen Wissensanspruch aufgibt (der Kranke hat keine angemessene
Rechtfertigung und glaubt daher nur, dass Bitteres süß ist, weiß dies aber
nicht) oder dass man versucht, durch eine neue Rechtfertigung einen neuen

 Vgl. In Anal. Post. I, q. 2, ad 2, und In Met. II, q. 1, ad 2 (ed. Paris 1588, f. 9ra).
131
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§ 32 Ein kohärentes Wissensnetz 377

Knoten zu knüpfen (der Kranke testet nach der Genesung wiederum Bitte-
res, revidiert sein Wahrnehmungsurteil und gibt eine neue Rechtfertigung
für ein neues Urteil). Auf jeden Fall kann es nur darum gehen, punktuell
eine Rechtfertigung zu prüfen und gegebenenfalls zu verändern.
Buridans Beispiel verdient darüber hinaus auch Beachtung, weil es
aufzeigt, wie seine bereits erwähnte These, wir hätten eine „natürliche
Neigung“, Wissen zu gewinnen, im Rahmen der umfassenden Wissenskon-
zeption zu verstehen ist. Er ignoriert damit nicht einfach die skeptische He-
rausforderung, wie es zunächst schien, und tappt auch nicht in die Falle einer
petitio principii, sondern macht auf folgenden Punkt aufmerksam: Wenn wir
Wissen gewinnen, indem wir innerhalb eines Netzes einen bestimmten Satz
rechtfertigen, wird diese Neigung zu erfolgreicher Rechtfertigung nicht da-
durch widerlegt oder gar zunichte gemacht, dass wir uns punktuell irren.
Die Neigung wird vielmehr gestärkt, denn wir bemühen uns dann, eine neue
Rechtfertigung zu suchen und das Netz noch dichter zu knüpfen. Es sind
ja gerade die skeptischen Beispiele, die uns dazu bringen, Rechtfertigungen
zu überprüfen, eventuell zu revidieren und dadurch unser Wissenssystem
zu festigen. Kurzum: Gerade die Art und Weise, wie wir mit skeptischen
Einwänden umgehen, zeigt, dass wir durchaus eine epistemische „Neigung“
haben und diese auch erfolgreich einsetzen, um Wissen zu gewinnen.
Mit dieser Erklärung würde sich ein hartnäckiger Skeptiker aber kaum
zufrieden geben. Es mag wohl sein, so könnte er erwidern, dass wir die
Neigung haben, Rechtfertigungen zu überprüfen und dadurch unser
Wissenssystem zu stärken. Aber wer garantiert uns denn, dass wir mit den
kognitiven Fähigkeiten ausgestattet sind, die es uns erlauben, tatsächlich
eine erfolgreiche Überprüfung vorzunehmen? Könnte es nicht sein, dass der
Kranke sich auch dann noch irrt, wenn er nach seiner Genesung das frühere
Wahrnehmungsurteil überprüft? Könnte es nicht sein, dass die Annahme
eines gesunden Zustandes, der korrekte Urteile erlaubt, eine Illusion ist?
Buridan setzt einfach voraus, dass jeder Mensch über kognitive Vermögen
verfügt, die im gesunden Zustand im Prinzip korrekt funktionieren. Aber
wie lässt sich diese gehaltvolle Voraussetzung rechtfertigen?
Buridans Antwort auf diese Frage stützt sich, wie J. Zupko bereits aus-
führlich gezeigt hat, auf einen Naturalismus und Reliabilismus.132 Er geht

132
 Vgl. Zupko 1993 und prägnant Zupko 2003, 184: „It is possible to raise the issue of
epistemic justification in Buridan, but if we want a contemporary analogue, then the position
we should be looking to is not foundationalism but reliabilism, i.e., the externalist theory
that the justifiability of a belief is a matter of the reliability of the cognitive process(es) which
produced it, where reliability is a contingent (and only a posteriori determinable) matter of
the way those processes operate under normal conditions, or as Buridan might say, ,in the
common course of nature‘.“ Ähnlich argumentiert auch Grellard 2005, 258–273.
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378 Zweifel am demonstrativen Wissen

von der für jeden Aristoteliker selbstverständlichen Annahme aus, dass ein
Mensch mit prinzipiell zuverlässigen und funktionstüchtigen kognitiven Ver-
mögen ausgestattet ist. Genau wie Ockham, dessen Reliabilismus bereits aus-
führlich dargestellt wurde (vgl. § 20–22), geht es auch Buridan nicht darum,
einen Beweis für diese Annahme zu führen. Eine Beweisführung wäre auch
schwerlich möglich, weil sie ja wiederum mithilfe kognitiver Vermögen, deren
Zuverlässigkeit vorauszusetzen wäre, erfolgen müsste. Buridan will und kann
nicht einen neutralen Beweis führen, sondern operiert innerhalb einer meta-
physischen Theorie, die annimmt, dass es in der Welt Lebewesen gibt, die mit
zuverlässigen kognitiven Vermögen ausgestattet sind, und dass diese Vermö-
gen unter normalen Bedingungen korrekt funktionieren, sodass sie korrekte
Resultate – Wahrnehmungen, Meinungen und schließlich Wissen – liefern.
Die entscheidende Frage lautet für ihn nicht, ob wir Menschen überhaupt
zuverlässige Vermögen haben, sondern wie und wann sie korrekt funktionie-
ren. Daher spielt für ihn die skeptische Frage, ob wir uns denn auf unsere
kognitiven Vermögen verlassen dürfen, auch keine Rolle. Konkret heißt dies,
dass sich im Falle des Kranken, der Bitteres als süß empfindet, nicht die Frage
stellt, ob er prinzipiell das Vermögen besitzt, eine korrekte Geschmacksemp-
findung zu haben. Wichtig sind vielmehr die Fragen, wann dieses Vermögen
zuverlässig funktioniert und welche Faktoren es beeinträchtigen. Sind diese
Faktoren einmal bestimmt, können sie eliminiert werden.
Selbst wenn im Rahmen eines aristotelischen Naturalismus zugestanden
wird, dass die Menschen über kognitive Vermögen verfügen, die im Prinzip
korrekt funktionieren, ist damit das skeptische Problem allerdings noch
nicht gelöst. Es könnte doch immer sein, dass Gott eingreift und die na-
türlichen Vermögen außer Kraft setzt. Oder es könnte auch sein, dass Gott
zwar die natürlichen Vermögen intakt lässt, aber punktuell falsche Urteile
und sogar falsche Rechtfertigungen eingibt. Wenn etwa der Kranke nach
der Genesung wieder etwas Bitteres testet und damit eine neue Rechtfer-
tigung für sein Urteil über bittere Speisen sucht, könnte Gott genau zu
diesem Zeitpunkt eingreifen und in ihm eine falsche Rechtfertigung her-
vorbringen, ohne dass er dies bemerkt. Nichts immunisiert uns Menschen
gegen einen solchen Eingriff. Daher dürfen wir nie behaupten, wir könnten
aufgrund einer „natürlichen Neigung“ erfolgreich Wissen erwerben – auch
dann nicht, wenn innerhalb eines aristotelischen Rahmens die Zuverlässig-
keit der kognitiven Vermögen zugestanden wird.
Dieser Einwand weist auf einen zentralen Punkt hin. Selbst wenn ein na-
türlicher Erwerb von Wissen gelingt, ist eine übernatürliche Manipulation
immer möglich. Buridan geht explizit auf diesen Einwand ein. Nachdem er
präzisiert hat, dass wir Sinnestäuschungen im Prinzip korrigieren können,
räumt er ein:
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§ 32 Ein kohärentes Wissensnetz 379

„Mit Bezug auf solche evidenten Sätze könnte der Intellekt durch eine über-
natürliche Ursache getäuscht werden. Gott könnte nämlich Feuer ohne Hitze be-
wirken, und er könnte in deinem Wahrnehmungssinn ohne einen [entsprechenden]
Gegenstand eine sinnliche Species bewirken und aufrechterhalten. So würdest du
aufgrund dieser Evidenz urteilen, als ob der Gegenstand anwesend wäre, und du
würdest falsch urteilen.“133

Es könnte also sein, dass ich jetzt gerade urteile, dass die Sonne scheint,
weil Gott in mir den Sinneseindruck von Sonnenschein erzeugt, und zwar
ohne dass die Sonne tatsächlich scheint. Selbst wenn ich davon ausgehe, dass
ich über zuverlässige kognitive Vermögen verfüge, bin ich gegen diese Täu-
schung nicht gefeit. Ich kann sie auch nicht korrigieren, weil ich ja keinen
neutralen Standpunkt einnehmen kann, von dem aus ich überprüfen könnte,
ob der Eindruck von Sonnenschein tatsächlich von der Sonne und nicht von
Gott verursacht wurde.
Wie lässt sich auf dieses skeptische Argument reagieren? Wie in Kapitel
II bereits deutlich geworden ist, lassen sich mindestens zwei Strategien ver-
folgen. Zum einen könnte man (wie etwa Thomas von Aquin) bestreiten,
dass eine solche Täuschung überhaupt möglich ist. Wenn man nämlich einen
korrekten Gottesbegriff hat, sieht man ein, dass ein gütiger Gott nicht be-
trügerisch sein kann. Zum anderen könnte man (wie Johannes Rodington,
Peter von Ailly u.a.) die Täuschungsmöglichkeit akzeptieren, den Wissens-
anspruch aber einschränken. Man müsste dann vorsichtig sagen, dass man
nur eine bedingte Evidenz vom Sonnenschein und damit auch nur ein be-
dingtes Wissen hat. Das heißt: Wenn Gott nicht eingreift, dann ist ein Wis-
sen möglich. Da man aber nie überprüfen kann, ob die Bedingung erfüllt ist
oder nicht, kann man keinen absoluten Wissensanspruch erheben.
Buridan verfolgt keine dieser beiden Strategien. Er wählt vielmehr
einen Ansatz, den man „Differenzierung der epistemischen Ansprüche“
nennen könnte, indem er darauf hinweist, dass hier übertrieben hohe An-
forderungen an eine Rechtfertigung erhoben werden. Seiner Ansicht nach
ist es unsinnig, nur dann etwas als Wissen zu akzeptieren, wenn jeder noch
so abwegige Einwand widerlegt und eine absolut unanfechtbare Recht-
fertigung vorgebracht wird. Mit Verweis auf Aristoteles betont er, dass es
abwegig ist, überall die gleich hohen Ansprüche zu erheben und die gleiche
Art von Rechtfertigung zu fordern. Genau wie es unangebracht ist, in der
Ethik eine mathematische Genauigkeit zu fordern, ist es auch unzulässig, in

133
  In Anal. Post. I, q. 2, corp.: „... circa tales propositiones euidentes intellectus posset
decipi per causam supernaturalem; quia deus posset facere ignem sine caliditate, et posset
facere in sensu tuo (ed. meo) et conseruare speciem sensitiuam sine obiecto, et ita per istam
euidentiam tu iudicares ac si obiectum esset praesens, et iudicares falsum.“ Vgl. auch In Met.
II, q. 1 (ed. Paris 1588,f. 9ra).
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380 Zweifel am demonstrativen Wissen

der Naturphilosophie eine Rechtfertigung zu fordern, die höchstens in der


Theologie angebracht ist.134 Man muss hier genau zwischen einer Gewissheit
oder Evidenz des Glaubens, die in theologischen Kontexten anzustreben ist,
und einer „natürlichen Evidenz“, die für die Naturphilosophie relevant ist,
unterscheiden. Selbst wenn die natürliche Evidenz nicht gegen jeden skepti-
schen Einwand immun ist, ist und bleibt sie eine Evidenz:
„Diese natürliche Evidenz wird trotzdem korrekt ‚natürlich‘ genannt, denn ihr
zufolge kann ein Mensch bei einem normalen Verlauf der Natur nicht getäuscht
werden, wenn er auch durch eine übernatürliche Ursache getäuscht werden könnte.
Diese Evidenz reicht für natürliches Wissen aus.“135

Buridan geht es hier nicht darum, eine bloß teilweise oder unzureichende
Evidenz einer absoluten Evidenz unterzuordnen und gegenüber dem Skep-
tiker einzuräumen, dass im Bereich des natürlichen Wissens leider nur eine
unzureichende (und dadurch immer wieder anfechtbare) Evidenz möglich
ist. Sein Punkt ist vielmehr der, dass es im Bereich des natürlichen Wissens
nichts anderes als eine natürliche Evidenz gibt und dass diese Art von
Evidenz auch vollständig ausreicht. Es wäre abwegig, darin eine defizitäre
Form von Evidenz zu sehen. Ein moderner Vergleich möge diesen Punkt
verdeutlichen.
Angenommen, ein Freund fragt mich, wie lang der Schreibtisch ist, an
dem ich arbeite. Ich greife zu einem Maßband, stelle die Länge fest und sage,
er sei zwei Meter zwanzig lang. Nun gibt sich der Freund aber nicht zu-
frieden und fragt, ob es denn nicht sein könnte, dass ich ungenau gemessen
habe oder dass mein Maßband die Länge nicht korrekt anzeigt. Darauf fahre
ich zum nächsten Baumarkt, kaufe zwei weitere Maßbänder und messe die
Länge nochmals. Und siehe da, ich stelle wiederum zwei Meter zwanzig
fest. Doch der Freund ist immer noch nicht zufrieden und fragt, ob es denn
nicht sein könnte, dass ein böswilliger Maßbandhersteller sämtliche Bänder
gefälscht hat, sodass ich mich auf kein einziges Band verlassen kann. Was
wäre die angemessene Reaktion? Am ehesten (abgesehen von einem Zweifel
am Geisteszustand des Freundes) wohl folgende: Für den vorliegenden Fall

134
  De demonstrationibus 8.4.4 (ed. de Rijk 2001, 113): „Sed haec dicta solvuntur ex secundo
Metaphysicae. Nam dicit Aristoteles quod ,acribologia mathematica non est in omnibus ex-
petenda, sed in non habentibus materiam, propter quod non naturalis est modus‘. Et conse-
quenter Commentator dicit super hoc quod non oportet hominem quaerere ut modus fidei in
demonstrationibus naturalibus sit nec modus fidei in mathematicis. Dicemus ergo quod multi
sunt et diversi modi certitudinis et evidentiae.“
135
  In Anal. Post. I, q. 2, corp.: „Tamen illa euidentia naturalis bene dicitur naturalis, quia
secundum illam non potest homo decipi stante communi cursu naturae, licet deciperetur per
causam supernaturalemm; et haec euidentia sufficit ad naturalem scientiam.“ Vgl. auch In
Met. II, q. 1 (ed. Paris 1588, f. 8vb-9ra) und De demonstrationibus 8.3.6 (ed. de Rijk 2001,
113).
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§ 32 Ein kohärentes Wissensnetz 381

ist die Frage einfach abwegig. Rein theoretisch gesehen könnte es natürlich
sein, dass ein böswilliger Maßbandhersteller am Werk ist, aber das ist hier
nicht relevant. Wenn ich in einem alltäglichen Kontext wissen will, wie
lang der Tisch ist, reichen alltägliche Messmethoden völlig aus. Mein Mess-
resultat wird durch den Verweis auf eine mögliche Täuschung nicht infrage
gestellt oder in seiner Gültigkeit eingeschränkt – der Verweis spielt hier ein-
fach keine Rolle. Er könnte höchstens relevant werden, wenn ich im Auftrag
einer staatlichen Behörde oder der Stiftung Warentest die Qualität der Maß-
bänder überprüfen müsste. Dann würden andere Standards gelten.
Das simple Beispiel verdeutlicht, dass es in einem bestimmten Kontext
gar nicht sinnvoll ist, einen radikalen skeptischen Einwand zu erheben und
eine gegen jeden Zweifel immunisierte Rechtfertigung zu fordern. Was ein
relevanter Zweifel ist, hängt immer vom jeweiligen Kontext ab. Die Recht-
fertigung, die jemand in einem alltäglichen Kontext gibt, wird durch einen
Zweifel, der höchstens in einem ganz speziellen Kontext relevant ist, nicht
tangiert. Genau auf diesen Punkt zielt Buridan ab, wenn er betont, dass
die natürliche Evidenz im Bereich des natürlichen Wissens trotz des Hin-
weises auf ein mögliches übernatürliches Eingreifen eine Evidenz ist und
bleibt. Denn was im Bereich der theologischen Spekulation, wo Argumente
bezüglich der absoluten Allmacht Gottes eine Rolle spielen, relevant sein
mag, ist keineswegs im Bereich der Naturphilosophie relevant, wo es
nur um natürliche Substanzen und ihre kausalen Vermögen geht. Daher
schränkt eine theologische Spekulation die natürliche Evidenz nicht ein
und macht sie auch nicht zu einer bloß bedingten Evidenz. Man würde den
Fehler einer Kontextverwechslung begehen, wenn man die Art von Evi-
denz, die im Rahmen einer theologischen Spekulation gefordert wird, auch
zur Rechtfertigung so alltäglicher Urteile wie ‚Jetzt scheint die Sonne‘ oder
‚Der Tisch ist zwei Meter zwanzig lang‘ verlangen würde. In diesen Fällen
reicht eine wahrnehmungsgestützte Evidenz völlig aus. Buridan führt
dafür selber ein anschauliches Beispiel an.136 Ein Astronom weiß, dass eine
Mondfinsternis stattfindet, weil er den relevanten Grund dafür (nämlich
dass die Erde zwischen Sonne und Mond steht) angeben und somit eine
Rechtfertigung liefern kann. Wenn nun eingewandt wird, Gott könnte
ihm doch jede mögliche Meinung über das Verhältnis der Himmelskörper
eingeben, so ist dies kein relevanter Einspruch. Im Kontext der Astronomie
ist die Rechtfertigung vollkommen ausreichend, selbst wenn sie mit Rekurs

136
  De demonstrationibus 8.7.7 (ed. de Rijk 2001, 157): „Scit enim bonus astrologus quod
hodie luna eclipsatur propter hoc quod hodie terra est diametraliter inter eam et solem col-
locata ; [...]. Et haec astrologorum scientia et eius demonstrationes tales sunt cum certitudine
et evidentia requisitis ad scientias naturales, licet haec possint falsificari per potentiam super-
naturalem.“

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382 Zweifel am demonstrativen Wissen

auf eine übernatürliche Kraft in einem anderen Kontext vielleicht anfecht-


bar wird.
Mit diesem Erklärungsansatz, der unterschiedliche Arten der Evidenz
für unterschiedliche Wissenskontexte bestimmt, gelingt es Buridan, einer-
seits den theologischen Spekulationen seiner Zeitgenossen Rechnung zu
tragen (er weist sie ja nicht als inkonsistent oder in jedem Kontext irrelevant
zurück), ihnen andererseits aber klare Grenzen zu setzen. Sie sind aus-
schließlich in jenen Kontexten von Bedeutung, in denen sie erhoben werden,
nämlich in theologischen Disputationen, in denen die Allmachtshypothese
ausgelotet wird. Zudem verdeutlicht dieser Erklärungsansatz einmal mehr,
dass Buridans Ziel nicht darin besteht, eine letzte, absolut sichere Recht-
fertigung für jedes Wissen zu finden. Er lokalisiert Wissen in Kontexten
oder – um das mehrfach verwendete Bild nochmals zu verwenden – in
einem geordneten Netz von Sätzen. Entscheidend ist dabei, dass die Sätze
in ihrem jeweiligen Netz gerechtfertigt werden. Welche Art von Rechtfer-
tigung dabei angemessen ist, hängt vom Satz und dem Netz ab, in dem er
steht. So muss ein Satz wie ‚Jetzt scheint die Sonne‘ ganz anders gerecht-
fertigt werden als ‚Die Innenwinkel eines Dreiecks entsprechen zusammen
zwei rechten Winkeln‘. Im ersten Fall ist eine unmittelbare Wahrnehmung
oder ein Wetterbericht erforderlich, im zweiten ein Rekurs auf geometrische
Axiome. Die Möglichkeit einer übernatürlichen Täuschung kann aber in
beiden Fällen außer Acht gelassen werden.
Diese kohärentistische und pluralistische Strategie setzt freilich voraus,
dass es eine Vielzahl von Rechtfertigungsmöglichkeiten gibt. Doch wie kann
Buridan zeigen, dass diese Möglichkeiten tatsächlich bestehen? Und wie
kann er plausibel machen, dass sie sicheres, stabiles Wissen ermöglichen?
Es reicht ja nicht aus, eine beliebige Rechtfertigung anzuführen. Sie muss in
einem konkreten Fall auch überzeugend und nicht weiter anfechtbar sein.
Dies ist sie aber nur, wenn sie nicht dogmatisch ist, nicht zirkulär und nicht
in einen unendlichen Regress mündet. Erst wenn Buridan einen Ausweg
aus diesem Trilemma zeigt, kann er nachweisen, wie eine Rechtfertigung
gelingt und wie damit auch ein Wissensanspruch eingelöst werden kann,
selbst wenn dieser auf einen natürlichen Kontext eingegrenzt wird.

§ 33 Eine Rehabilitierung des demonstrativen Wissens

Wie alle spätmittelalterlichen Aristoteliker geht auch Buridan davon aus,


dass das Rechtfertigungsproblem auf zwei Ebenen zu betrachten ist. Meis-
tens bewegen wir uns auf einer Alltagsebene, auf der es ausreicht, eine ad
hoc-Rechtfertigung zu geben. So kann jemand eine Aussage wie ‚Ich weiß,
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§ 33 Demonstratives Wissen 383

dass das Eisen heiß ist‘ mit der simplen Feststellung ‚Ich habe es angefasst
und festgestellt, dass es heiß ist‘ rechtfertigen.137 Es wäre unsinnig, hier zu
behaupten, dass erst dann Wissen vorliegt, wenn alle möglichen Einwände
widerlegt sind. Würde man die Messlatte derart hoch anlegen, wäre all-
tägliches Wissen nie möglich. Buridan betont daher, dass kein endgültiger
Beweis und keine unanfechtbare, letzte Rechtfertigung erforderlich ist. Es
spielt auch keine Rolle, ob sich die Meinung auf etwas Kontingentes oder
Notwendiges bezieht. Entscheidend ist nur, dass sie „mit Gewissheit und
Evidenz“ vertreten wird und somit hinlänglich gerechtfertigt wird.138 Auf
einer alltäglichen Ebene ist nicht mehr erforderlich.
Auf einer wissenschaftlichen Ebene reicht diese Art von Wissen aber
nicht aus. Dort ist demonstratives Wissen erforderlich, das mithilfe eines
syllogistischen Schlussverfahrens gewonnen wird. Wendet man dieses Ver-
fahren an, geht man auf erste und wahre Prinzipien zurück und zeigt, dass
der Satz, dem man zustimmt, aus diesen Prinzipien hergeleitet werden kann.
Genau mit Bezug auf diese Prinzipien wird der Satz gerechtfertigt. So zeigt
man etwa, um ein klassisches Beispiel des Aristoteles zu zitieren, dass für
den Satz ‚Donner ist ein Geräusch in den Wolken‘ Prinzipien angegeben
werden können, aus denen dieser Satz folgt, ja folgen muss. Wenn man diese
Prinzipien angibt, kann man deutlich machen, dass man die Gründe dafür
kennt, dass Donner ein Geräusch in den Wolken ist. Man stellt dann nicht
einfach fest, dass Donner ein Geräusch in den Wolken ist, sondern erkennt
auch, warum dies so ist und nicht anders sein kann. Genau dieses Erkennen
und Explizieren der Gründe zeichnet demonstratives Wissen aus.
Diese Forderung wirft indessen ein grundlegendes Problem auf. Wie
können die Prinzipien gewonnen werden, die man zum Erwerb von demons-
trativem Wissen benötigt? Sicherlich werden sie nicht ihrerseits durch ein
Wissen gewonnen. Dann müssten die Prinzipien nämlich wiederum mithilfe
eines syllogistischen Verfahrens aus höheren Prinzipien hergeleitet werden.
Und wäre auch für diese höheren Prinzipien ein Wissen erforderlich, müsste
es für sie noch höhere Prinzipien geben usw.; für das Wissen von Prinzipien
wären stets weitere Prinzipien erforderlich. Um diesem Regress zu entgehen,
stellt Buridan in Anlehnung an Aristoteles fest, dass es von den Prinzipien

137
  De demonstrationibus 8.4.4 (ed. de Rijk 2001, 114): „Sed tu quaereres, si ego manifeste
video Socratem currere, an ego scio quod Socrates currit vel quod ego solum hoc opinor. Et
ego respondeo quod tunc hoc non opinor sed scio. Omnes enim sic loquuntur ,scio quod hoc
ferrum est calidum, quia manifeste sentio ipsum esse calidum‘, et ,scio firmiter quod Socrates
heri currebat, quia vidi eum currere‘.“
138
  De demonstrationibus 8.4.3 (ed. de Rijk 2001, 109): „Scientia namque quamcumque
communiter accepta in nobis est notitia propositionis adhaesiva cum certitudine et evidentia,
ut distinguatur ab opinione (ut dicetur post), sive sit propositionis necessariae, sive contin-
gentis.“
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384 Zweifel am demonstrativen Wissen

kein Wissen gibt, sondern eine Einsicht oder ein Verstehen (intellectus).139
Doch damit ist das Problem noch nicht gelöst. Was ist denn ein Verstehen?
Und wie ist dadurch ein Zugang zu Prinzipien möglich? Für Buridan steht
fest, dass das Verstehen sicherlich nicht das spontane Erfassen oder Betrach-
ten intelligibler Objekte sein kann. Er lehnt kategorisch einen Platonismus
ab, der annimmt, es gebe so etwas wie rein geistige Objekte, die in einem
separaten ontologischen Bereich existieren und durch eine geistige Kontem-
plation erfasst werden können. Wenn es ein Verstehen von Prinzipien gibt,
so nur in Form eines Erfassens von fundamentalen Sätzen. Wie das Wissen,
so hat auch das Verstehen eine propositionale Struktur.
Doch wie gelingt es uns, Prinzipien als fundamentale Sätze zu erfassen?
Zur Beantwortung dieser Frage könnte man auf einen Innatismus rekurrie-
ren und behaupten, dass die Prinzipien allen Menschen angeboren sind und
bei Bedarf einfach aktiviert und unmittelbar erfasst werden können. Diese
Antwort ist für Buridan aber nicht akzeptabel. Wenn sie zuträfe, müssten
nämlich allen Menschen alle Prinzipien in gleicher Weise angeboren sein,
und alle Menschen müssten ihnen auch in gleicher Weise zustimmen. Die
Erfahrung zeigt aber, dass die einen Menschen diesen und die anderen jenen
Prinzipien zustimmen.140
Mit dieser Feststellung ist der Innatismus freilich noch nicht widerlegt,
auch wenn Buridan keinen weiteren Widerlegungsversuch unternimmt.
Ein Vertreter dieser Position könnte sogleich darauf hinweisen, dass ja
nur die Disposition, Prinzipien zu erfassen, allen Menschen in gleicher
Weise angeboren ist, nicht aber das aktuelle Erfassen. Da dieses Erfassen
bei unterschiedlichen Menschen unter unterschiedlichen Bedingungen
erfolgt, kann es durchaus individuelle Differenzen geben. Mit dieser Ver-
teidigungsstrategie würde der Innatismus aber so weit abgeschwächt, dass
auch Buridan ihm zustimmen würde. Auch er hält ausdrücklich fest, dass
wir als vernunftbegabte Lebewesen alle in gleicher Weise eine Disposition
oder eine „natürliche Neigung“ haben, Prinzipien zu erfassen und ihnen
zuzustimmen.141 Die entscheidende Frage lautet für ihn nicht, ob wir eine
solche Disposition haben, sondern wie wir sie aktualisieren. Wie kommen
wir in konkreten Situationen dazu, ganz bestimmte Prinzipien zu erfassen,
die wir zur Rechtfertigung einzelner Sätze verwenden? Und wie ist es zu
erklären, dass einige Menschen diese und andere jene Prinzipien aktuell

139
  In Anal. Post. II, q. 11, corp.: „Notandum est quod habitus primorum principiorum
indemonstrabilium non uocatur ,scientia‘, sed ,intellectus‘, pro tanto quia scientia, proprio
nomine dicta, est habitus per demonstrationem acquisitus...“ Diese These beruht auf Anal.
Post. II, 19 (100b6–16).
140
 Vgl. In Met. II, q. 2 (ed. Paris 1588, f. 9va).
141
 Vgl. In Anal. Post. II, q. 11, corp.
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§ 33 Demonstratives Wissen 385

erfassen? Um diese Fragen zu beantworten, muss man erläutern, welche


Prinzipien überhaupt aktuell erfasst werden und durch welche kognitiven
Prozesse sie erfasst werden können.
Für Buridan sind diese beiden Probleme eng miteinander verflochten;
denn der jeweilige Prozess, mit dem wir Prinzipien erfassen, hängt davon
ab, welche Prinzipien es überhaupt zu erfassen gilt. Buridan unterscheidet
daher zunächst zwei Arten von Prinzipien. Die einen sind jene, deren Ter-
mini einander beinhalten und die auch einzig aufgrund des Erfassens der
Termini erfasst werden können. Dies sind – in moderner Terminologie aus-
gedrückt – analytische Prinzipien, die einzig aufgrund der Bedeutung ihrer
Termini wahr sind. Buridan gibt selber mehrere Beispiele dafür. So sind
‚Etwas existiert‘, ‚Ein Mensch ist ein Lebewesen‘ oder ‚Weiß ist eine Farbe‘
Prinzipien, deren Termini einander beinhalten und denen der Intellekt un-
mittelbar zustimmt, sobald er die Bedeutung der Termini erfasst.142 Damit
verweist Buridan auf die Standardbeispiele, die im 13. und 14. Jh. immer
wieder zitiert wurden.
Doch wie gelingt es uns, die analytischen Prinzipien zu bilden und ihnen
zuzustimmen? Müssen wir dafür einfach Termini erfassen, die gleichsam in
unserem Geist schlummern, ohne dass wir auf irgendeine Sinneserfahrung
zurückgreifen müssen? Buridan diskutiert diese Fragen nicht ausführlich,
aber seine beiläufige Bemerkung, dass man für das Erfassen aller Prinzipien
die Sinne benötigt, verdeutlicht, dass er sich nicht einer derart rationalisti-
schen Erklärung anschließt.143 Es gibt seiner Ansicht nach keine Termini,
die von Geburt an im Geist schlummern und bei Bedarf bloß aktualisiert
werden müssen. Wie Aristoteles vergleicht auch er den Geist mit einer
Wachstafel, die bei der Geburt unbeschrieben ist und erst nach und nach mit
Zeichen, d.h. mit mentalen Termini und Sätzen, gefüllt wird. Sämtliche Ter-
mini werden auf der Grundlage der Sinneswahrnehmung erworben. Doch
wenn sie in ihrer Bedeutung erfasst werden, werden sie immer auch in ihrem
Verhältnis zu anderen Termini erfasst. Daher wird auch erkannt, welche
anderen Termini ihnen unter- oder übergeordnet sind. Konkret heißt dies:
Nur wenn jemand einen konkreten Menschen sieht oder sonst irgendwie
sinnlich erfasst, ist er imstande, den mentalen Terminus ‚Mensch‘ zu bilden.

142
  In Anal. Post. II, q. 11, corp.: „Modo principia de primo istorum modorum statim ab
intellectu capiuntur cum sibi praesentantur, hoc est dictum quod intellectus statim assentit eis
scito quid nominis illorum terminorum: uerbi gratia, quod aliquid est, quod homo est animal,
quod albedo est color, quod idem non contingit simul inesse et non inesse, quod nullum ra-
tionale est irrationale, et sic de plurimis aliis.“
143
  In Anal. Post. II, q. 11, corp.: „Verum est tamen quod intellectus non solum ad notitiam
conclusionum, sed etiam principiorum indiget ministerio sensus per quem praesentantur
sibi intelligibilia.“ Buridan trifft diese Aussage, bevor er verschiedene Arten von Prinzipien
unterscheidet. Es handelt sich daher um eine Aussage, die auf alle Prinzipien zutrifft.
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386 Zweifel am demonstrativen Wissen

Dieser Terminus ist nämlich nichts anderes als ein natürliches Zeichen, das
durch eine natürliche Kausalrelation erworben wird. Wer diesen Terminus
vollständig erfasst, erkennt, dass ‚Mensch‘ so viel bedeutet wie ‚vernunft-
begabtes Lebewesen‘, und kann ihn somit in Relation zu anderen Termini
setzen. Natürlich wird die vollständige Bedeutung nicht auf einen Schlag
erfasst. Es kann durchaus sein, dass aufwändige Untersuchungen und Ver-
gleiche mit anderen Termini erforderlich sind. Doch wenn die Bedeutung
des Terminus einmal im vollen Umfang erfasst wird, steht auch fest, dass
‚Mensch‘ in Relation zu ‚vernunftbegabt‘ und ‚Lebewesen‘ steht. Und dann
lässt sich auch der Satz ‚Der Mensch ist ein Lebewesen‘ erfassen.
Wie dieses (von Buridan freilich nicht explizit diskutierte) Beispiel ver-
deutlicht, werden auch analytische Prinzipien auf empirischer Grundlage
erfasst. Die Besonderheit dieser Prinzipien besteht nicht darin, dass sie un-
geachtet aller sinnlichen Erfahrung im Geist schlummern und nach Belie-
ben aktiviert werden können, sondern dass sie einzig und allein durch eine
Bedeutungsanalyse gewonnen werden können. Die sinnliche Erfahrung ist
nur so etwas wie der auslösende Faktor dafür, dass sie gebildet und ana-
lysiert werden.
Gäbe es nur diese Prinzipien, wäre es sicherlich möglich, einzelne Sätze
mit Rekurs auf diese fundamentalen Sätze zu rechtfertigen und dadurch ein
Wissen zu gewinnen. Allerdings würde man auf diese Weise nicht mehr als
ein analytisches Wissen erwerben, d.h. ein Wissen bezüglich der Bedeutung
der Termini. Doch es wäre kein Wissen bezüglich konkreter Sachverhalte
möglich. So könnte man nur wissen, dass ein Mensch einen Organismus
hat, weil ‚Mensch‘ so viel bedeutet wie ‚vernunftbegabtes Lebewesen‘ und
‚Lebwesen‘ wiederum so viel heißt wie ‚Gegenstand mit einem Organis-
mus‘, doch man könnte nicht wissen, dass dieser oder jener Gegenstand
ein Mensch ist oder dass er blond ist. Dazu müsste man ja auf Prinzipien
zugreifen können, die etwas über die konkrete Beschaffenheit einzelner
Gegenstände aussagen, d.h. auf synthetische Prinzipien, oder in mittelalter-
licher Terminologie ausgedrückt: auf Prinzipien, deren Termini einander
nicht beinhalten und die nicht durch eine bloße Bedeutungsanalyse erfasst
werden können. Wie lassen sich derartige Prinzipien gewinnen? Buridans
Antwort auf diese zentrale Frage fällt klar und deutlich aus:
„Man muss daher wissen, dass es – wie Aristoteles am Ende der Zweiten Analytiken
festhält – einige unbeweisbare Prinzipien gibt, die durch die Sinneswahrnehmung
erworben werden, z.B. dass dieses Feuer heiß ist. Andere Prinzipien werden durch
die Erinnerung erworben, z.B. dass das Feuer, das ich gestern berührt habe, heiß
war. Wieder andere werden durch die Erfahrung erworben, z.B. dass das Feuer, das
ich nicht berühre, heiß ist. Dies weiß ich nämlich dadurch, dass ich andere berührt
habe, die ich als heiß wahrgenommen habe. Aufgrund der Erinnerung an sie urteile
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§ 33 Demonstratives Wissen 387

ich mit einem Erfahrungsurteil, dass auch dieses Feuer heiß ist, obwohl ich nicht
wahrnehme, dass es heiß ist.“144

Offensichtlich gibt es drei Arten von synthetischen Prinzipien, die alle auf
empirische Weise gewonnen werden. Für jede dieser Arten gibt es wiederum
zahlreiche Einzelprinzipien, z.B. dass dieses Feuer heiß ist, dass dieses Eis
kalt ist, dass dieses Gras grün ist usw. Buridan verweist nicht auf ein einziges
Grundprinzip, auf das rekurriert werden muss. Seiner Ansicht nach gibt es
eine Fülle von einander gleichgestellten Prinzipien; je nach Satz, den es zu
rechtfertigen gilt, ist ein anderes Prinzip erforderlich. Damit wird einmal
mehr der kohärentistische und pluralistische Erklärungsansatz deutlich, der
bereits in § 32 betont wurde. Einer fundamentalistischen Konzeption, die
nur ein Prinzip zulässt oder sämtliche Prinzipien auf ein letztes reduzieren
will, stellt Buridan eine Auffassung gegenüber, die eine Vielzahl von nicht
reduzierbaren Prinzipien akzeptiert. Zudem zeigt sich nun, dass er auch
eine dynamische Wissenskonzeption vertritt. Er bestreitet ja, dass es von
Anfang eine ganz bestimmte Menge von angeborenen Prinzipien gibt, die
von Anfang an für alle Menschen festgelegt sind. Vielmehr werden nach und
nach immer mehr Prinzipien erworben. Je nach Erfahrung, die ein Mensch
macht, werden ganz unterschiedliche Prinzipien gewonnen. Um die mehr-
fach verwendete Metapher des Netzes wieder zu verwenden, könnte man
sagen, dass das Wissensnetz von jedem Menschen immer unfangreicher und
dichter geknüpft wird – je mehr Prinzipien erworben werden, desto mehr
Knoten entstehen, die der Verknüpfung und Festigung der bereits bestehen-
den Maschen dienen.
Diese Wissenskonzeption wirft allerdings ein Problem auf. Wie stabil
ist das Wissensnetz, wenn die einzelnen Prinzipien auf empirischem Weg
gewonnen werden, dieser Weg sich aber häufig als irreführend erweist? Wir
können uns doch in der Sinneswahrnehmung täuschen, wie die klassischen
Beispiele (der Stab im Wasser wird als gebrochen wahrgenommen, der süße
Honig wird vom Kranken als bitter empfunden, die Bäume am Ufer werden
vom Schiff aus als schwankend gesehen usw.), zeigen. Die Wahrnehmung
scheint für den Erwerb von Prinzipien, die sicheres Wissen ermöglichen
sollen, gänzlich ungeeignet zu sein.
In der Tat ist die Wahrnehmung nicht in jeder Situation zuverlässig. Bu-

144
  In Met. II, q. 2 (f. 9vb): „Et ideo sciendum est sicut determinat Aristoteles in fine Pos-
teriorum quod aliqua sunt principia indemonstrabilia accepta per sensum, ut quod iste ignis
es calidus; alia autem accepta per memoriam, ut quod ignis quem heri tetigi fuit calidus; et
aliqua sunt accepta per experimentum ut quod iste ignis quem scilicet ego non (ed. nunc)
tango est calidus. Hoc enim scio per hoc quod alios tetigi quos sensi calidos, et per memoriam
de illis iudico experimentali iudicio etiam quod iste ignis est calidus licet non sentiam eum
esse calidum.“ Vgl. auch In Anal. Post. II, q. 11, corp.
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388 Zweifel am demonstrativen Wissen

ridan diskutiert eingehend die bereits von Petrus Aureoli und Wilhelm von
Ockham erörterten Fälle.145 Sie zeigen seiner Meinung nach aber nicht, dass
die Wahrnehmung prinzipiell unzuverlässig ist, sondern verdeutlichen nur,
dass es in besonderen Situationen verzerrende Wahrnehmungsbedingungen
gibt. Wenn diese Bedingungen in den Blick genommen werden, lässt sich
die Genese der Täuschung leicht erklären. Buridan verdeutlicht dies anhand
eines konkreten Beispiels.146 Wenn jemand vom Schiff aus Bäume am Ufer
sieht und glaubt, sie würden schwanken, so ist dies streng genommen nicht
eine Täuschung der Augen, sondern des sinnlichen Urteilsvermögens. Auf-
grund der Bewegung auf dem Schiff treffen nämlich die Species, die in der
visuellen Wahrnehmung von den Bäumen zu den Augen gelangen, auf ver-
schiedenen Punkten der Augen auf. Dies veranlasst das Vermögen, das für
das Beurteilen konkreter Gegenstände zuständig ist (virtus existimativa),
dazu, fälschlicherweise zu urteilen, dass sich die Bäume bewegen. Doch
wenn einmal eingesehen wird, dass nur die Species in den Augen und nicht
die Bäume auf- und abgehen, lässt sich das Urteil korrigieren. Genauer gesagt
ist es der Intellekt, der dies einsieht und dadurch das Urteil des sinnlichen
Vermögens korrigiert. Für Buridan ist es entscheidend, dass der Intellekt
immer die Fähigkeit hat, den Irrtum eines ihm untergeordneten Vermögens
zu korrigieren.147 Daher ist der Intellekt immer in der Lage, die Einzelfälle
von Sinnestäuschungen auszusondern und sich beim Erfassen von Prinzipien
auf jene Situationen zu konzentrieren, in denen unter normalen Bedingungen
korrekte Urteile über konkrete Sachverhalte gewonnen werden.
Ein Skeptiker könnte freilich einwenden, dass dies noch keine be-
friedigende Erklärung ist, wenn es darum geht, ein absolut irrtumsfreies
Erfassen von Prinzipien zu garantieren. Könnte es nicht sein, dass sich auch
der Intellekt in seinen Urteilen irrt? Und besteht nicht das prinzipielle Pro-
blem, dass wir nie beurteilen können, ob sich der Intellekt nicht irrt, weil
wir über kein höheres Vermögen verfügen, das die eventuellen Irrtümer des
Intellekts korrigiert? Wir können doch immer nur die Urteile des Intellekts
konstatieren, sind aber nie in der Lage, sie zu überprüfen.
Buridan sieht hier kein Problem. Lapidar hält er fest, der Intellekt sei
„durch eine natürliche Neigung auf das Wahre hin geordnet“ und stimme
daher aufgrund der Erfahrung korrekt einem Prinzip zu.148 Er behauptet
sogar:

145
 Vgl. In Met. II, q. 1 (f. 8rb-va) und In Anal. Post. I, q. 2.
146
 Vgl. In Met. II, q.1, ad 3 (f. 9ra).
147
  Vgl. prägnant In Met. II, q. 1 (ed. Paris 1588, f. 9rb): „Sed intellectus videns causam talis
apparentie corrigit errorem sensus.“
148
  In Met. II, q.1 (f. 9rb): „... intellectus per naturalem inclinationem suam ad verum pre-
dispositus per experientias assentit universali principio.“
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§ 33 Demonstratives Wissen 389

„Die Natur an sich handelt nämlich immer korrekt und vollkommen. Doch manch-
mal tritt aufgrund eines Hindernisses ein Fehler in der Natur oder in ihrer Hand-
lung auf.“149

In dieser Feststellung offenbart sich der bereits in § 32 erwähnte Reliabi-


lismus, der Buridans gesamte Intellekt- und Erkenntnistheorie kennzeich-
net.150 Im Rahmen eines aristotelischen Naturalismus geht er davon aus,
dass der Intellekt als Teil der Natur im Prinzip korrekt funktioniert und
unter normalen Bedingungen korrekte Urteile bildet. Es ist keine höhere
Instanz erforderlich, die den Intellekt kontrolliert und korrigiert. Diese
These steht und fällt natürlich mit dem gesamten metaphysischen Pro-
gramm, das sich dahinter verbirgt. Als Aristoteliker setzt Buridan voraus,
dass sämtliche natürlichen Vermögen unter normalen Bedingungen korrekt
aktualisiert werden; der Intellekt ist nur ein Beispiel für ein solches Vermö-
gen. Es wäre seiner Ansicht nach unsinnig, einerseits natürliche Vermögen
anzunehmen, andererseits aber zu bestreiten oder zu bezweifeln, dass sie
im Prinzip korrekt aktualisiert werden können. Im Rahmen der gesamten
Vermögensmetaphysik ergibt die skeptische Frage, ob wir uns denn auf das
intellektuelle Vermögen verlassen können, keinen Sinn.
Buridans scheinbar lapidarer Verweis auf die „natürliche Neigung“ des
Intellekts ist somit in einem umfassenden metaphysischen Rahmen zu ver-
stehen. In diesem Rahmen bietet er aber einen eleganten Ausweg aus der
skeptischen Falle. Würde man sich nämlich darauf einlassen, eine Kontroll-
instanz für den Intellekt anzunehmen, könnte auch für diese Instanz wieder
eine Kontrollinstanz gefordert werden. Man würde sich unweigerlich in
einen infiniten Regress verwickeln, weil ja die Zuverlässigkeit jeder kogni-
tiven Instanz angezweifelt werden könnte. Genau diesem Problem entgeht
Buridan, indem er den Intellekt von vornherein als das höchste kognitive
Vermögen des Menschen bestimmt und ihm – wie der ganzen Natur – eine
Zuverlässigkeit zuspricht. Freilich legt er sich damit nicht auf die These fest,
dass der Intellekt ausnahmslos korrekt funktioniert. Er geht nur davon aus,
dass der Intellekt wie alle anderen natürlichen Vermögen im Prinzip korrekt
funktioniert. Aber natürlich sind Ausnahmefälle möglich, etwa wenn der

  In Met. II, q. 2 (ed. Paris 1588, f. 10ra): „Natura enim quantum est de se semper agit
149

recte et perfecte, sed aliquando per impedimentum accidit peccatum in natura siue eius ope-
ratione.“
150
 Darin offenbart sich auch ein teleologischer Grundgedanke, der für Aristoteles’ Umgang
mit skeptischen Argumenten kennzeichnend ist (vgl. Barnes 1987, 61–64): Die Natur hat die
Lebewesen (einschließlich der Menschen) mit bestimmten Vermögen ausgestattet, damit sie
diese Vermögen im Normalfall korrekt verwenden und zu korrekten Wahrnehmungen und
Meinungen gelangen. Könnten sie keinen erfolgreichen Gebrauch von ihren Vermögen ma-
chen, würden sie gar nicht überleben. Schon um das Überleben zu sichern, „handelt die Natur
immer korrekt und vollkommen“. Daher ist radikaler Irrtum von vornherein ausgeschlossen.
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390 Zweifel am demonstrativen Wissen

Intellekt aufgrund einer Krankheit in seiner Funktionstüchtigkeit einge-


schränkt wird. Daher darf nicht angenommen werden, alle Urteile des In-
tellekts seien ausnahmslos wahr. Ob der Intellekt tatsächlich wahre Urteile
bildet, lässt sich nur feststellen, wenn sie miteinander verglichen und auf
ihre Konsistenz hin geprüft werden.
Dies hat eine unmittelbare Konsequenz für das Prinzipienproblem. Wenn
es eine Fülle von Prinzipien gibt, die auf der Grundlage der Wahrnehmung
vom Intellekt erfasst werden, heißt dies nicht, dass der Intellekt immer und
ausnahmslos korrekt Prinzipien erfasst. Dies bedeutet nur, dass der Intellekt
im Prinzip imstande ist, Wahrnehmungseindrücke korrekt zu verarbeiten,
eventuelle Sinnestäuschungen zu korrigieren und wahre Prinzipien zu
erfassen. Ob er tatsächlich korrekt funktioniert, lässt sich erst nach wieder-
holter Erfahrung sagen. Buridans eigenes Beispiel verdeutlicht dies auf an-
schauliche Weise. Wenn ich eine Hand an das Feuer halte, ist mein Intellekt
grundsätzlich in der Lage, das Prinzip ‚Dieses Feuer ist heiß‘ zu erfassen.
Aber natürlich kann es sein, dass ich unter Drogen stehe und nicht fähig
bin, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen, oder es ist auch möglich, dass
ich stark unterkühlt bin und extreme Hitze nicht mehr von extremer Kälte
unterscheiden kann. Unter derart speziellen Bedingungen kann es durch-
aus sein, dass ich nicht imstande bin, das genannte Prinzip zu erfassen. Erst
wenn ich mich in unterschiedliche Situationen begebe und mehrfach meine
Hand ans Feuer halte, kann ich sicher sein, dass ich das Prinzip korrekt
erfasse. Und erst wenn ich es mit anderen empirisch gewonnenen Prinzipien
vergleiche, kann ich auch feststellen, dass es sich in ein ganzes Netz von
Prinzipien einfügt.
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass Buridan nicht einfach eine Infallibilität
des Intellekts postuliert und auch nicht in naiver Weise annimmt, Prinzi-
pien würden gleichsam durch einen Automatismus erworben. Er vertritt
nur die These, dass durch wiederholte Sinneserfahrung und wiederholten
Vergleich der intellektuellen Urteile im Prinzip eine Fülle von Prinzipien
gewonnen werden kann. Ob die Prinzipien auch wahr sind, lässt sich erst
nach einem Vergleich und einem Ausschluss eventueller Täuschungsmög-
lichkeiten sagen. Dies ist für die Wissensproblematik entscheidend. Wenn
Buridan behauptet, dass für den Erwerb von demonstrativem Wissen immer
das Erfassen von Prinzipien erforderlich ist, legt er sich damit nicht auf die
These fest, dass auf unmittelbare und infallible Weise fundamentale Sätze
erfasst werden. Er vertritt damit nur die Auffassung, dass auf der Grund-
lage der Sinneswahrnehmung Schritt für Schritt Sätze erfasst werden, die
im Hinblick auf andere Sätze eine rechtfertigende Funktion haben. Ob die
rechtfertigenden Sätze tatsächlich wahr sind und korrekt erfasst worden
sind, lässt sich erst mit Bestimmtheit sagen, wenn sie anhand von wieder-
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§ 33 Demonstratives Wissen 391

holter Sinneswahrnehmung getestet werden und wenn zudem geprüft wird,


ob sie sich in ein ganzes Netz von Sätzen einfügen.
Dies gilt es auch für die zweite Art von synthetischen Prinzipien zu be-
achten, die Buridan an der oben zitierten Stelle erwähnt, nämlich die durch
Erinnerung erworbenen Prinzipien. Er vertritt nicht die These, dass die
Erinnerung untrüglich ist und uns erlaubt, garantiert wahre Prinzipien zu
erfassen. Wie bei der unmittelbar präsenten Sinneswahrnehmung macht er
auch hier nur darauf aufmerksam, dass wir im Prinzip die Fähigkeit haben,
uns an vergangene Erfahrungen zu erinnern, diese mit aktuellen Erfahrun-
gen zu vergleichen und dadurch unseren Bestand an empirisch gestützten
Prinzipien zu erweitern. Aber selbstverständlich sind auch hier punktuelle
Irrtümer möglich, die sich nur beheben lassen, wenn die einzelnen Erinne-
rungen einerseits miteinander und andererseits mit aktuellen Erlebnissen
verglichen werden. Es geht auch hier nicht darum, auf infallible Weise
Prinzipien zu erfassen. Wichtig ist nur, dass das Erinnerungsvermögen als
ein intellektuelles Teilvermögen (und damit als Bestandteil der Natur) im
Prinzip zuverlässig ist.
Ähnliches gilt schließlich für die dritte Art von synthetischen Prinzipien,
die durch Erfahrung gewonnen werden. Wenn Buridan hier von experimen-
tum spricht,151 zielt er damit nicht auf ein Experiment im modernen Sinn ab,
d.h. auf einen methodisch kontrollierten, wiederholbaren und objektiv be-
obachtbaren natürlichen Vorgang. Er verweist damit nur auf die individuelle
Sinneserfahrung, die es uns erlaubt, auch dann eine Aussage über einen kon-
kreten Gegenstand zu treffen, wenn dieser nicht unmittelbar wahrgenom-
men wird. Das heißt: Selbst wenn ich jetzt das Feuer nicht berühre, kann ich
mit guten Gründen behaupten, dass es heiß ist, weil ich früher in Kontakt
zu Feuer gekommen bin und festgestellt habe, dass es heiß ist. Ein derartiger
Schluss von früher Wahrgenommenem auf gegenwärtig Nicht-Wahrgenom-
menes ist freilich nur dann zulässig, wenn angenommen wird, dass gleich-
artige Gegenstände oder Elemente auch die gleiche Sinneswahrnehmung
hervorrufen. Diese Annahme ist für Buridan aber unproblematisch. Da er
im Rahmen einer aristotelischen Naturphilosophie argumentiert, die eine
natürliche Ordnung annimmt und gleichen Substanzen oder Elementen
auch gleiche Wirkungen zuschreibt, ist es in seinen Augen durchaus zuläs-
sig, von der Beschaffenheit einiger Vorkommnisse einer Substanz oder eines
Elements auf die Beschaffenheit anderer Vorkommnisse zu schließen.152
Buridans These, dass wir auf diesem Weg Prinzipien gewinnen, mag
allerdings voreilig erscheinen, wenn man sie im Lichte der kritischen Ar-

  Vgl. oben Anm. 144.


151

  Zur umfassenden Konzeption einer natürlichen Ordnung vgl. Biard 2001.


152
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392 Zweifel am demonstrativen Wissen

gumente Nikolaus von Autrécourts betrachtet. Nikolaus hatte festgestellt,


dass wir ausschließlich von dem sinnlich Wahrgenommenen eine Gewissheit
haben. Sinnlich wahrgenommen werden aber nur einzelne Eigenschaften,
nicht Substanzen oder Elemente. So kann jemand nur die Hitze empfinden
und den Satz ‚Dies ist heiß‘ mit Gewissheit erfassen. Sobald er aber ‚Dieses
Feuer ist heiß‘ behauptet, schreibt er die wahrgenommene Eigenschaft einem
nicht wahrgenommenen Träger zu. Dies ist Nikolaus zufolge unzulässig.
Daher weist er jede Aussage über Substanzen und andere bloß theoretisch
angenommene Entitäten als ungewiss zurück.153 Wieso hält Buridan es dann
für unproblematisch, derartige Aussagen zu treffen? Warum behauptet er
sogar, dass solche Aussagen als Prinzipien für den Erwerb von demons-
trativem Wissen fungieren können?
Buridan sieht hier kein Problem, weil er mit einer aristotelischen Natur-
philosophie und Metaphysik operiert, die davon ausgeht, dass Substanzen
und Elemente gleichsam zur Grundausstattung der Welt gehören. Zwar
können wir sie in der Tat nur erfassen, indem wir ihre Eigenschaften wahr-
nehmen, aber trotzdem haben wir einen Zugang zu den Substanzen selbst.
Buridan behauptet sogar, dass wir einfache Begriffe, d.h. basale mentale
Termini, für sie bilden können.154 Wir schließen nicht einfach in einem dis-
kursiven Verfahren auf sie, sondern erfassen sie direkt, wenn vielleicht auch
noch unklar, sobald wir die für sie charakteristischen Eigenschaften wahr-
nehmen. Buridan hält es sogar für ausgeschlossen, dass wir ausschließlich die
Eigenschaften erfassen können. Akzidentelle Eigenschaften wie Hitze oder
Farbe sind nämlich definitionsgemäß abhängige Entitäten, d.h. Entitäten,
die immer auf die Existenz eines Trägers angewiesen sind. Daher erfassen
wir dadurch, dass wir eine Eigenschaft erfassen, immer auch das, wovon sie
abhängt.155 Sobald wir ‚Dies ist heiß‘ mit Gewissheit erfasst haben, können
wir auch ‚Es gibt etwas, das heiß ist‘ mit Gewissheit behaupten. Und sobald
wir weitere charakteristische Eigenschaften bestimmt haben, können wir
den Träger der Hitze eindeutig als Feuer identifizieren.
Diese Argumentation verdeutlicht einmal mehr, dass Buridan und
153
 Vgl. Correspondence II.22, Appendix A I.8 und B.12 (ed. de Rijk 1994, 72, 147 und 172).
154
  In Met. II, q. 3 (ed. Paris 1588, f. 10vb): „... intellectus potest substantiam abstrahere ab
accidentibus et cognoscere siue formare conceptum simplicem substantie.“ In Phys. I, q. 4 (ed.
Paris 1509, f. 5ra): „Secunda conclusio est ista quod de substantia habemus conceptum simpli-
cem, quia conceptus hominis a quo sumitur iste terminus substantialis ,homo‘ est conceptus
substantie...“
155
  Quaestiones in Aristotelis De anima I, q. 5 (ed. Patar 1991, 205–206): „De secundo pono
istam conclusionem quod ad cuiuslibet accidentis cognitionem sequitur cognitio substantiae.
Patet, quia accidens non est ens nisi quia entis; et ergo in conceptu accidentis implicatur
conceptus substantiae.“ Die Authentizität dieser Quaestionen ist umstritten. Der Heraus-
geber schreibt sie zwar Buridan zu, aber Zupko 2003, 275–277, nimmt sie nicht in die Liste der
gesicherten Werke auf. Es könnte auch sein, dass sie von einem Buridan-Schüler stammen.
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§ 33 Demonstratives Wissen 393

Nikolaus von Autrécourt in zwei ganz unterschiedlichen metaphysischen


Rahmen argumentieren. Während Nikolaus den aristotelischen Rahmen
zurückweist und behauptet, dass die in diesem Rahmen getroffenen Annah-
men weit über das hinausgehen, was mit Gewissheit erkannt wird, macht
Buridan explizit von diesem Rahmen Gebrauch und versucht zu zeigen,
dass erst dieser Rahmen die Voraussetzung dafür schafft, dass überhaupt
von Eigenschaften und Substanzen, aber auch von einer Erfahrung von Sub-
stanzen, die Rede sein kann. Daher hält Buridan es nicht für notwendig,
das Erfassen eines Prinzips wie ‚Dieses Feuer ist heiß‘ weiter zu begründen.
Wenn Hitze wahrgenommen wird, muss es auch etwas geben, das heiß ist,
und wenn normale Wahrnehmungsbedingungen vorliegen, muss der In-
tellekt über diesen Gegenstand auch korrekt urteilen. Es wäre sinnlos, hier
weiter zu zweifeln.
Allerdings bleibt damit noch ein Problem bestehen. Solange man sich auf
punktuelle Wahrnehmung, Erinnerung und Erfahrung stützt, kann man
höchstens singuläre Prinzipien erfassen, jedoch nie allgemeine. So kann
man höchstens ‚Dieses Feuer ist heiß‘, jedoch nicht ‚Feuer ist heiß‘ erfassen.
Doch genau ein derartiges allgemeines Prinzip ist erforderlich, wenn man
in einer wissenschaftlichen Untersuchung nicht einfach Wissen von diesem
oder jenem konkreten Gegenstand erwerben will, sondern eine Einsicht in
allgemeine Strukturen gewinnen will. Es ist vor allem unentbehrlich, wenn
es darum geht, allgemeine kausale Zusammenhänge zu erfassen. So will
man in einer wissenschaftlichen Untersuchung nicht einfach feststellen, dass
diese Hand an diesem Feuer erhitzt wird, weil genau dieses Feuer heiß ist.
Das Ziel besteht vielmehr darin, allgemein festzustellen, dass Gegenstände
in der Nähe des Feuers erhitzt werden, weil Feuer heiß ist. Doch wie lässt
sich das entsprechende allgemeine Prinzip gewinnen?
Buridan erkennt, dass über die singulären Prinzipien hinaus allgemeine
erforderlich sind, und betont, dass auch sie durch die Erfahrung gewonnen
werden und nicht etwa angeboren sind. Er präzisiert, dass sie auf der Erfah-
rung vieler einzelner, einander ähnlicher Dinge erworben werden, und gibt
dafür konkrete Beispiele. So erlaubt das mehrfache Wahrnehmen von Feuer
das Erfassen des Prinzips ‚Feuer ist heiß‘, und die mehrfache Erfahrung,
dass Rhabarber eine heilende Wirkung hat, ermöglicht das Erfassen des
Prinzips ‚Rhabarber hat eine heilende Wirkung‘.156 Einzelne Erfahrungen
bilden stets die Grundlage für allgemeine Prinzipien.
Diese simple Feststellung ruft freilich sogleich das Induktionsproblem
hervor. Wie kann denn die Erfahrung bezüglich einiger Dinge einer be-

 Vgl. In Met. II, q. 2 (ed. Paris 1588, f. 9vb) und In Anal. Post. II, q. 11, corp.; ausführlich
156

zu diesen Stellen Thijssen 1987, 246–254.


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394 Zweifel am demonstrativen Wissen

stimmten Art dazu berechtigen, ein Prinzip zu formulieren, das gleich auf
alle Dinge dieser Art zutreffen soll? Es kann doch gut sein, dass ich bei der
Verwendung von Rhabarber zehn Mal eine heilende Wirkung festgestellt
habe, dass sich beim elften oder zwölften Mal aber keine heilende Wirkung
einstellen würde. Selbst wenn ich die Anzahl der Einzelfälle immer mehr
erhöhe, habe ich dadurch keine Gewähr, dass nicht plötzlich ein Fall auftre-
ten wird, der den bislang untersuchten Fällen widerspricht. Ein Induktions-
schluss von einigen Fällen auf alle Fälle kann nie ein vollkommen irrtums-
freier Schluss sein.
Auf den ersten Blick scheint es für dieses Problem nur zwei Möglich-
keiten zu geben, die beide gleich unattraktiv sind. Entweder man versucht,
die Anzahl der untersuchten Fälle so lange zu erhöhen, bis man tatsächlich
alle Fälle berücksichtigt; dies ist unmöglich, weil immer wieder neue Fälle
auftreten. Oder man beschränkt sich auf eine begrenzte Menge von unter-
suchten Fällen und fügt dann die Klausel „und so weiter für alle weiteren
Fälle“ hinzu, setzt sich dann aber der Gefahr aus, dass stets ein Gegenbei-
spiel auftreten kann; die Klausel ist empirisch nicht abgesichert. Buridan ist
sich der Unattraktivität dieser beiden Lösungen bewusst und betont daher
mit Blick auf das Beispiel mit dem Feuer:
„Wenn man von der Induktion spricht, so ist festzuhalten, dass die Induktion auf-
grund ihrer Form nicht [gültig] schließt. Erstens, weil niemand bei allen einzelnen
Feuern induktiv schließen kann; denn niemand berührt alle, und es ist auch nicht
möglich, dass jemand alle berühren kann. Dennoch folgt der Schlusssatz aufgrund
seiner Form nur, wenn bei allen induktiv geschlossen wird und auch gewusst wird,
dass es alle sind. Zweitens, weil es hier auch nichts bringt, die Klausel ‚und so weiter
für die anderen Fälle‘ hinzuzufügen, denn diese Klausel wird nicht gewusst und sie
ist dem Intellekt nur gewiss, wenn er ein allgemeines Prinzip bilden kann; du setzt
ja eine allgemeine Klausel fest, nämlich dass es sich bei allen anderen so verhält.
Daher gilt: Obwohl der Intellekt die Induktion benötigt, reicht sie doch nicht aus,
um den Intellekt festzulegen, wenn der Intellekt nicht aufgrund seiner Natur dazu
neigt und darauf festgelegt ist.“157

Offensichtlich räumt Buridan unumwunden ein, dass induktives Schließen


allein nicht ausreicht, um allgemeine Prinzipien zu gewinnen. Es ist nur
dann ein zulässiges und ausreichendes Verfahren, wenn gleichzeitig auch die

157
  In Anal. Post. II, q. 11, corp.: „Et quando dicitur de inductione, dicendum est quod
inductio non concludit gratia formae. Primo quia nullus potest inducere in omnibus ignibus
singularibus; nullus enim tangit omnes, nec est possibile quod aliquis tangat omnes; et tamen
non sequitur conclusio gratia formae nisi inductum sit in omnibus et sit scitum quod illa sunt
omnia. Secundo etiam non ualet ad propositum additio istius clausulae ,et sic de aliis‘, quia illa
clausula non est scita nec est certa intellectui nisi in quantum ipse potest formare universale
principium, quia iam tu ponis clausulam uniuersalem, scilicet quod ita est de omnibus aliis.
Et ideo licet intellectus indigeat inductione, tamen illa non est sufficiens ad determinandum
intellectum nisi intellectus per suam naturam esset ad hoc inclinatus et determinatus.“ 
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§ 33 Demonstratives Wissen 395

prinzipielle Zuverlässigkeit des Intellekts angenommen wird. Nur wenn zu-


gestanden wird, dass der Intellekt im Prinzip korrekt verallgemeinert und
im Prinzip imstande ist, allgemeine Strukturen in der Welt zu erkennen,
kann auch zugestanden werden, dass die Erfahrung einzelner Fälle für das
Erfassen eines allgemeinen Prinzips ausreicht.
Wieder einmal zeigt sich hier der Reliabilismus und Naturalismus, der
sich wie ein roter Faden durch Buridans Erkenntnis- und Wissenstheorie
zieht. Er dient ihm gleichsam als metaphysische Absicherung gegenüber
den Tücken des Empirismus. Durch die Berufung auf Erfahrung allein lässt
sich nämlich kein sicheres Erfassen allgemeiner Prinzipien garantieren. Stets
gibt es Lücken beim Übergang vom Einzelnen zum Allgemeinen. Genau
diese Lücken versucht Buridan zu schließen, indem er betont, dass es nicht
einfach die Menge der einzelnen Erfahrungen ist, die einen Zugang zu all-
gemeinen Prinzipien ermöglicht, sondern diese Menge zusammen mit der
Grundkonstitution des Intellekts. Verkürzt ausgedrückt könnte man sagen,
dass er das Prinzipienproblem zu lösen versucht, indem er zwei theoretische
Ansätze miteinander verbindet: einen Empirismus und einen Naturalismus.
Freilich gilt auch hier wiederum, dass der Intellekt dadurch nicht gegen-
über allen Fehlleistungen immunisiert wird. Es ist immer möglich, dass
trotz einer Fülle von Einzelerfahrungen und trotz eines korrekt funktionie-
renden Intellekts gelegentlich falsche allgemeine Prinzipien erfasst werden.
Eines der von Buridan selber angeführten Beispiele zeigt dies auf anschauli-
che Weise. Im Rahmen der mittelalterlichen Medizin, die sich nur auf einige
Anwendungsformen von Rhabarber stützte, erschien das Prinzip ‚Rha-
barber hat eine heilende Wirkung‘ als allgemeines Prinzip. Werden jedoch
weitere Anwendungsformen in die Untersuchung einbezogen, zeigt sich,
dass Rhabarber manchmal keine heilende Wirkung hat oder dass ihm nur
fälschlicherweise eine solche Wirkung zugeschrieben wird, weil die echte
Wirksubstanz nicht erkannt wurde. Dann muss das Prinzip eingeschränkt
oder vielleicht ganz aufgegeben werden. Es kann somit nicht darum gehen,
ein für allemal auf untrügerische Weise wahre Prinzipien zu erfassen. Die
Prinzipien stehen gleichsam auf Abruf als wahre Prinzipien fest, d.h. so-
lange keine Ausnahmen oder Gegenbeispiele gefunden werden.
Dies hat natürlich eine Konsequenz für die gesamte Wissenstheorie.
Wenn demonstratives Wissen nur mit Rekurs auf Prinzipien gewonnen
werden kann, diese jedoch nur auf Abruf als wahre Prinzipien feststehen,
kann auch das Wissen nicht endgültig feststehen. Es steht und fällt mit der
empirischen Verankerung der Prinzipien. Muss ein Prinzip revidiert oder
eingeschränkt werden, muss auch das davon abhängige Wissen revidiert
werden. Dies heißt freilich nicht, dass durch die Revision eines Prinzips
gleich das gesamte Wissen revidiert werden muss. Da Buridan nicht eine

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396 Zweifel am demonstrativen Wissen

fundamentalistische Wissenskonzeption wählt, muss er auch nicht ein fun-


damentales Prinzip annehmen, von dem das gesamte Wissen abhängt. Im
Rahmen seiner kohärentistischen Konzeption gibt es ja ebenso viele Prinzi-
pien, wie es Schlusssätze gibt. Die Revision eines Prinzips führt daher auch
nur zur Revision eines angeblich gewussten Satzes. Um die Netzmetapher
wieder aufzugreifen, könnte man sagen, dass durch neue empirische Ein-
sichten, die zu neuen Prinzipien führen, höchstens innerhalb des ganzen
Netzes einige Maschen neu geknüpft werden müssen. Doch es tritt nie der
Fall ein, dass das gesamte Netz auf einen Schlag durch ein neues ersetzt
werden muss. Dies verhindert nicht nur die Stabilität der zahlreichen nach
wie vor gültigen Prinzipien, sondern auch die Zuverlässigkeit des Intellekts.
Es ist ja der Intellekt, der – metaphorisch gesprochen – das Netz knüpft und
von Natur aus eine „natürliche Neigung“ hat, im Prinzip korrekte Maschen
zu knüpfen.

§ 34 Schussfolgerungen

Es scheint auf den ersten Blick, als würde Nikolaus von Autrécourt eine
dezidiert skeptische Position vertreten und zahlreiche Wissensansprüche
bestreiten: Es gibt kein Wissen von Kausalrelationen, kein Wissen von Sub-
stanzen, ja nicht einmal ein Wissen von all dem, was in der Sinneswahr-
nehmung erscheint. Johannes Buridan scheint sich genau von dieser Position
abzugrenzen und eine klare antiskeptische Haltung einzunehmen. Für ihn
steht fest, dass wir über vielfältiges Wissen verfügen, das auf empirische
Weise gewonnen wird und sich auf wahrnehmbare Eigenschaften ebenso
bezieht wie auf Substanzen und Kausalrelationen. Ja, er scheint dieses Wis-
sen sogar mit Verweis auf infallible Prinzipien zu rechtfertigen.
Wie sich in diesem Kapitel herausgestellt hat, ist es zwar verlockend und
in der Forschungsliteratur auch durchaus üblich, die Auseinandersetzung
zwischen den beiden Pariser Magistern auf diese Weise zu charakterisie-
ren.158 Eine genauere Textanalyse zeigt aber, dass es hier nicht einfach um
den Disput zwischen einem Skeptiker und einem Antiskeptiker geht. Ni-
kolaus von Autrécourt ist kein Skeptiker, der Wissensansprüche rundweg
bestreitet oder bezweifelt. Und Johannes Buridan ist kein Antiskeptiker,
der Wissensansprüche mit Verweis auf infallible, ein für allemal festste-
hende Prinzipien verteidigt. Beide sind der Ansicht, dass Wissen prinzipiell
möglich ist, und beide versuchen zu zeigen, wie Wissen erworben werden
kann. Doch sie gehen von unterschiedlichen Wissenskonzeptionen aus und

 Die einzigen Ausnahmen stellen Thijssen 2000 und Grellard 2005 dar.
158
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§ 34 Schlussfolgerungen 397

gelangen daher zu einer unterschiedlichen Begründung der Wissensansprü-


che. Nikolaus bedient sich einer fundamentalistischen Konzeption, der zu-
folge Wissen auf einem sicheren Fundament beruhen muss. Er tritt sogar
für einen monolithischen Fundamentalismus ein, der ein einziges, letztes
Fundament akzeptiert: die Gewissheit des Prinzips der Widerspruchsfrei-
heit. Buridan hingegen geht von einer kohärentistischen und pluralistischen
Wissenskonzeption aus, die unter Wissen ein dichtes Netz von wahren,
gerechtfertigten Meinungen versteht. Dieses Netz beruht nicht auf einem
letzten Fundament. Selbst die Prinzipien, die zur Rechtfertigung einzelner
Meinungen angeführt werden, bilden kein solches Fundament und lassen
sich auch nicht auf ein letztes Prinzip zurückführen. Es gibt vielmehr eine
Fülle von Prinzipien, die auf empirischem Weg gewonnen werden und sich
ebenfalls in ein kohärentes Netz einfügen. Ob die gewonnenen Prinzipien
tatsächlich wahr sind, lässt sich nicht auf Anhieb sagen, sondern stellt sich
erst durch wiederholte Erfahrung heraus. Daher gibt es kein unmittelbares,
infallibles Erfassen von Prinzipien.
Angesichts dieser unterschiedlichen Wissenskonzeptionen verfolgen die
beiden Autoren ganz unterschiedliche Ziele, wenn sie sich mit skeptischen
Argumenten beschäftigen. Für Nikolaus geht es darum, zum einen der-
artige Argumente einzusetzen, um Wissensansprüche zurückzuweisen, die
nicht mit Rekurs auf das letzte Fundament gerechtfertigt werden können.
Wer etwa behauptet, er wisse, dass jedes Akzidens eine verborgene Sub-
stanz als Trägerin habe oder dass eine natürliche Substanz Wirkungen er-
zeugen könne, kann nicht nachweisen, dass sich eine solche Behauptung auf
das Prinzip der Widerspruchsfreiheit zurückführen lässt. Zum anderen will
Nikolaus aber auch skeptische Argumente widerlegen, indem er im Detail
nachzuweisen versucht, dass sich dank der unerschütterlichen Gewissheit
des ersten Prinzips und der Erscheinungen „im vollen Licht“ durchaus Wis-
sensansprüche aufrechterhalten lassen. Skeptische Argumente haben für ihn
daher eine doppelte Funktion. Sie dienen einerseits der Rückweisung kon-
kurrierender Wissenskonzeptionen, andererseits der Stärkung der eigenen
Konzeption.
Auch Buridan bedient sich skeptischer Argumente, um seine eigene
Wissenskonzeption deutlich zu machen und von anderen Konzeptionen
abzugrenzen. Diese Argumente zeigen seiner Ansicht nach, dass Wissens-
ansprüche zwar punktuell angefochten werden können, aber nie das ganze
Wissensnetz infrage stellen. Sie setzen vielmehr ein solches Netz voraus.
Denn nur wenn bereits zahlreiche Rechtfertigungen für Meinungen vor-
liegen, kann die eine oder andere Rechtfertigung angezweifelt werden. Und
nur dann lässt sich eine Meinung auch revidieren oder durch eine andere
ersetzen. Man würde einen gravierenden Fehler begehen, wenn man meinte,
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398 Zweifel am demonstrativen Wissen

es gebe eine einzige, unanfechtbare Rechtfertigung für alle Meinungen und


damit eine letzte Wissensgrundlage. Selbst das Prinzip der Widerspruchs-
freiheit ist keine letzte Grundlage, sondern höchstens eine formale Voraus-
setzung dafür, dass zahlreiche Rechtfertigungen für ebenso zahlreiche
Meinungen formuliert werden können. Zudem sind skeptische Argumente
Buridan zufolge nur im Rahmen einer Theorie verständlich, die eine prin-
zipielle Zuverlässigkeit der kognitiven Vermögen annimmt. Nur wenn an-
genommen wird, dass die Sinne und der Intellekt unter normalen Bedingun-
gen korrekt funktionieren, lässt sich auch erklären, wie es unter besonderen
Bedingungen zu Täuschungen kommen kann. Täuschungsszenarien sind
lediglich Sonderfälle und bestätigen die Regel, dass die Natur – und damit
auch jedes natürliche kognitive Vermögen – „korrekt und vollkommen“
handelt.159
Situiert man die skeptischen Argumente und Gegenargumente in der
jeweiligen Wissenskonzeption, zeigt sich, dass solche Argumente für
beide Autoren zwar von großer Bedeutung sind, ihnen aber nicht primär
dazu dienen, eine skeptische Position zu verteidigen oder zu bekämpfen.
Das primäre Ziel besteht darin, die eigene Wissenskonzeption mithilfe
skeptischer Argumente zu explizieren. Die besondere Pointe liegt gerade
in dieser Explikation, die in aller Schärfe deutlich macht, dass sich hier
zwei unterschiedliche Konzeptionen gegenüber stehen. Nikolaus setzt
dem Bereich des Wissens sehr enge Grenzen, indem er nur das als Wis-
sen akzeptiert, was mit Rekurs auf das Prinzip der Widerspruchsfreiheit
gerechtfertigt werden kann, und alles andere dem Bereich des Glaubens
oder Meinens zuschreibt. Buridan hingegen fasst den Bereich des Wissens
sehr weit, indem er jede wahre, durch Evidenz gerechtfertigte Meinung als
Wissen annimmt, selbst wenn die Rechtfertigung nur vorläufig ist und in
bestimmten Kontexten (etwa in einem theologischen Kontext, in dem auf
die Möglichkeit eines göttlichen Eingreifens verwiesen wird) anfechtbar
bleibt. Verkürzt ausgedrückt könnte man sagen, dass Nikolaus das Wissen
minimiert und das Meinen maximiert, während Buridan gerade umgekehrt
das Wissen maximiert und das Meinen minimiert. Gemeinsam ist beiden
Autoren freilich, dass sie nicht einfach Wissen einem vollständigen Nicht-
Wissen gegenüber stellen. Wissen muss vielmehr mit bloßem Meinen kon-
trastiert werden. Die entscheidende Frage lautet daher für beide, was genau
Wissen von bloßem Meinen unterscheidet. Es ist nicht zuletzt die Antwort
auf diese zentrale Frage, die Nikolaus von Buridan trennt. Denn während
Nikolaus in seiner Antwort einzig und allein auf die Gewissheit des ersten
Prinzips rekurriert, verweist Buridan auf die Gewissheit der Sinneswahr-

  Vgl. oben Anm. 149.


159
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§ 34 Schlussfolgerungen 399

nehmung, der Erinnerung und der Erfahrung und damit auf mehrere Arten
der Rechtfertigung.
Diese beiden unterschiedlichen Wissenskonzeptionen verdeutlichen,
dass es im 14. Jh. verschiedene Möglichkeiten gab, auf die skeptische He-
rausforderung zu reagieren. Eine fundamentalistische Reaktion war ebenso
möglich wie eine kohärentistisch-fallibilistische. Darüber hinaus zeigt die
Kontroverse zwischen Nikolaus und Buridan auch, dass die Debatten im
Spätmittelalter keineswegs von einem aristotelischen Fundamentalismus
beherrscht waren, wie gelegentlich behauptet wird.160 Nikolaus’ Position ist
zwar fundamentalistisch, aber nicht aristotelisch, und Buridans Haltung ist
aristotelisch, aber nicht fundamentalistisch. Besonders Buridans Grund-
these, dass es eine Vielzahl von rechtfertigenden Sätzen gibt und dass diese
Sätze auf empirischem Weg – nicht durch eine infallible Intuition – gewon-
nen werden, zeigt sehr schön, dass es gefährlich wäre, eine aristotelische
Wissenskonzeption einfach mit einem Fundamentalismus gleichzusetzen.
Es gab im Mittelalter durchaus auch eine Lesart der aristotelischen Wissens-
konzeption, die – wie W. Detel treffend formuliert – „methodologisch fragil
und metaphysisch weich“ ausfällt.161 Sie ist methodologisch fragil, weil sie
nicht davon ausgeht, dass ein für allemal einige wenige Grundprinzipien auf
infallible Weise erfasst werden, sondern darauf insistiert, dass zahlreiche
Prinzipien auf zahlreichen Wegen – durch Wahrnehmung, Erinnerung
und Induktion – gebildet werden und gegebenenfalls auch revidiert werden
müssen. Die Konzeption ist zudem metaphysisch weich, weil sie keine all-
gemeinen Essenzen annimmt, die den Inhalt der Prinzipien bestimmen,
sondern in nominalistischer Weise nur auf individuelle Gegenstände ver-
weist, die in individuellen Wahrnehmungszuständen erfasst werden. Wissen
zeichnet sich für Buridan gerade dadurch aus, dass es nicht auf einem letz-
ten Fundament beruht, sondern in einem Netz von Sätzen besteht, die auf
empirischem Weg gewonnen werden.
Ein Vergleich der Position Nikolaus’ mit jener Buridans zeigt freilich,
dass hier nicht nur Differenzen in der jeweiligen Wissenskonzeption beste-

160
 So behauptet Nussbaum 1982, 282, in der Kommentierung der Zweiten Analytiken habe
sich während des ganzen Mittelalters ein aristotelischer Fundamentalismus manifestiert. Es
sei einhellig angenommen worden, dass die ersten Prinzipien „apriorische Wahrheiten“ seien,
die durch eine intellektuelle Intuition erfasst werden und eine unerschütterliche Wissens-
grundlage bilden. Detel 1993, Bd. 1, 263–279, zeigt anhand zahlreicher Belege, dass sich diese
Aristoteles-Deutung, die den mittelalterlichen Kommentatoren zugeschrieben wird, bis in
die gegenwärtige Aristoteles-Forschung hinein gehalten hat.
161
 Vgl. Detel 1993, Bd. 1, 290. Detel bezieht diese Aussage freilich nicht auf Buridans
Wissenskonzeption, sondern auf Aristoteles’ eigene Konzeption, die er gegenüber fundamen-
talistischen Deutungen verteidigt. Das Beispiel Buridans verdeutlicht, dass die antifundamen-
talistische Aristoteles-Lektüre bereits im Mittelalter Zustimmung fand.
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400 Zweifel am demonstrativen Wissen

hen. Mindestens so tiefgreifend sind auch die Unterschiede im metaphysi-


schen Rahmen, den die beiden Autoren für ihre Wissenskonzeption wählen.
Nikolaus verwirft kategorisch den aristotelischen Rahmen und damit auch
alle Annahmen, die in diesem Rahmen selbstverständlich sind – etwa die
Annahme, dass es in der Natur Substanzen mit kausalen Eigenschaften gibt,
dass der menschliche Intellekt dazu fähig ist, diese Substanzen zu erfassen,
und dass dadurch ein vielfältiges Wissen von kausalen Strukturen gewon-
nen wird. Nikolaus wirft den Aristotelikern vor, dass all dies höchstens ge-
glaubt werden kann, aber niemals gewusst wird. Sein Rekurs auf skeptische
Argumente dient dazu, diesen Mangel an Wissen deutlich zu machen: Die
Aristoteliker behaupten etwas zu wissen, was nicht auf die Gewissheit
des ersten Prinzips zurückgeführt werden kann; daher verfügen sie streng
genommen über kein Wissen. Würden sie dies einsehen und dem „Freund
der Wahrheit“ folgen, wie Nikolaus sich selber nennt,162 würden sie ihre
Wissensansprüche einschränken und ihre gewagten metaphysischen Thesen
infrage stellen.
Buridan hingegen operiert innerhalb des aristotelischen Rahmens und
hält es daher für selbstverständlich, dass es Substanzen mit kausalen Eigen-
schaften gibt und dass unser Intellekt von Natur aus dazu bestimmt ist, ein
Wissen von ihnen zu gewinnen. Ebenso selbstverständlich ist für ihn, dass
der Intellekt im Prinzip zuverlässig funktioniert. Daher ist es für ihn ab-
wegig, ein letztes Fundament für jedes Wissen zu suchen. Wenn der Intellekt
gleichsam auf die Substanzen und ihre kausalen Verbindungen abgestimmt
ist und von ihnen im Prinzip ein vielfältiges Wissen gewinnen kann, braucht
es kein besonderes Fundament für dieses Wissen. Das Fundament ist bereits
in den zuverlässigen kognitiven Prozessen gegeben, die den Intellekt mit den
Substanzen verbinden. Dieser Grundgedanke lässt sich mit einem modernen
Vergleich veranschaulichen. Wenn wir uns mit Ernährungswissenschaft be-
schäftigen, gehen wir davon aus, dass es von Natur aus Nahrungsmittel gibt
und dass ein menschlicher Organismus sie unter normalen Bedingungen auch
aufnehmen und verarbeiten kann. Die entscheidende Frage lautet dann nicht,
ob Ernährung möglich ist, sondern welche Nahrung optimal ist und wie der
ganze Prozess der Nahrungsaufnahme und -verarbeitung am besten gelingt.
Die Natur garantiert ja, dass Ernährung im Prinzip möglich ist. Ähnlich
nimmt auch Buridan an, dass ein Mensch mithilfe der natürlichen kognitiven
Vermögen die Sinneseindrücke von Substanzen unter normalen Bedingungen
korrekt aufnehmen und verarbeiten kann. Von Bedeutung ist hier nur die
Frage, wie die Vermögen aktiviert werden und welche Bedingungen vorliegen
müssen, damit ein optimales Funktionieren der Vermögen garantiert ist.

162
 Vgl. Exigit ordo (ed. O’Donnell 1939, 181, Z. 23).
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§ 34 Schlussfolgerungen 401

Betrachtet man diesen Erklärungsrahmen, lässt sich eine Frage beant-


worten, die sich unweigerlich stellt, wenn man Nikolaus’ und Buridans
Auseinandersetzung mit skeptischen Argumenten betrachtet. Warum haben
diese Autoren keinen radikalen Zweifel formuliert, der die Möglichkeit von
Wissen vollständig infrage stellt? Die theologische Allmachtslehre, die beide
gut kannten, stellte ihnen doch die theoretischen Ressourcen zur Verfügung,
um einen solchen Zweifel zu formulieren. Hätten sie nicht wie Descartes
erwägen können, dass ein allmächtiger Gott (oder Dämon) uns in allem
täuscht? Fehlte ihnen einfach die Radikalität, um einen solchen Zweifel zu
entwickeln? Wohl kaum. Innerhalb des metaphysischen Rahmens, den sie
wählten, konnte ein radikaler Zweifel gar nicht auftauchen. Für Buridan war
ein radikaler Zweifel ausgeschlossen, weil er als Aristoteliker immer schon
voraussetzte, dass es natürliche kognitive Vermögen gibt, die auf die Gegen-
stände in der Welt abgestimmt sind. Nikolaus lehnte zwar die aristotelische
Deutung dieser Gegenstände ab, aber auch er ging von der Annahme aus,
dass die natürlichen Vermögen „im vollen Licht“ korrekt aktualisiert wer-
den können und dass wir dadurch veridische Erscheinungen von Dingen in
der materiellen Welt erwerben. Die Frage, ob wir denn überhaupt kognitive
Vermögen haben, die im Prinzip zuverlässig funktionieren, wäre für beide
Autoren abwegig gewesen.
Angesichts dieses prinzipiellen Vertrauens in die Leistungsfähigkeit der
Sinne und des Intellekts wäre es kaum angebracht, in den hier diskutierten
Autoren des 14. Jhs. einfach Vorläufer neuzeitlicher Philosophen zu sehen.
Nikolaus von Autrécourt war trotz der oft wiederholten Etikettierung von
H. Rashdall kein „mittelalterlicher Hume“,163 und Buridan war kein Anti-
Humeaner avant la lettre. Beide setzten sich in einem bestimmten meta-
physischen Rahmen mit skeptischen Argumenten auseinander. Zwar unter-
schied sich der antiaristotelische Rahmen, den Nikolaus wählte, erheblich
vom aristotelischen Rahmen Buridans. Aber in beiden Rahmen konnte ein
humeanischer (oder auch cartesianischer) Skeptizismus nicht auftauchen.
Wenn ihre Diskussion skeptischer Argumente heute noch interessant ist,
dann nicht, weil sie moderne Formen des Skeptizismus antizipiert, sondern
weil sie auf prägnante Weise zeigt, dass die Funktion und Reichweite der-
artiger Argumente immer mit Blick auf die jeweilige Wissenskonzeption
betrachtet werden muss, und weil sie verdeutlicht, dass skeptische Argu-
mente immer in einem bestimmten metaphysischen Rahmen stehen.

163
  Vgl. Rashdall 1906/07.
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SCHLUSS

§ 35 Die Epistemologisierung des Zweifels

Wer skeptische Fragen aufwirft, stellt scheinbar selbstverständliche Wis-


sensansprüche infrage. Selbst so einfache und triviale Aussagen wie ‚Ich
weiß, dass ein Baum vor mir steht‘ oder ‚Ich weiß, dass Naturkräuter eine
heilende Wirkung haben‘ werden auf den Prüfstand gestellt. Denn wie
kann ich sicher sein, dass tatsächlich ein Baum vor mir steht? Es könnte
doch sein, dass ich einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen bin oder
dass der allmächtige Gott mir einfach die Meinung eingegeben hat, vor
mir stehe ein Baum, obwohl weit und breit kein Baum zu sehen ist. Das
bloße Vorhandensein einer Meinung, die auf vielfache Weise entstanden
sein kann, berechtigt mich nicht dazu, gleich ein Wissen in Anspruch zu
nehmen. Ebenso könnte es sein, dass ich aufgrund meiner beschränkten
Erfahrung einfach meine, dass Naturkräuter eine heilende Wirkung haben.
Doch vielleicht haben sie nur unter besonderen Umständen eine heilende
Wirkung, oder vielleicht zeigen nur einige wenige Exemplare eine solche
Wirkung. Die Tatsache, dass ich manchmal eine heilende Wirkung fest-
gestellt habe, berechtigt mich nicht dazu, gleich ein generelles Wissen in
Anspruch zu nehmen. Was ich für Wissen halte, könnte sich als eine nur
beschränkt korrekte oder in einigen Kontexten falsche Meinung heraus-
stellen.
Diese Probleme, die im 13. und 14. Jh. ausgiebig diskutiert wurden,
veranschaulichen auf prägnante Weise, dass skeptische Fragen uns dazu
zwingen, über scheinbar selbstverständliche Wissensansprüche nachzu-
denken. Entscheidend ist dabei, dass solche Fragen nicht einfach diesen
oder jenen Wissensanspruch infrage stellen und uns nicht bloß zur Prü-
fung einiger weniger, besonders umstrittener Ansprüche herausfordern.
Sie zeigen vielmehr, dass wir uns prinzipiell fragen müssen, wie wir un-
sere Wissensansprüche aufrechterhalten können. Diese Frage können wir
indessen nur beantworten, wenn wir uns darüber klar werden, was wir
überhaupt unter Wissen verstehen und welche Bedingungen erfüllt sein
müssen, damit tatsächlich Wissen und nicht bloß eine Meinung vorliegt.
Somit veranlassen uns skeptische Fragen dazu, über Grundfragen der Er-
kenntnistheorie nachzudenken. Wer solche Fragen stellt, ist daher kein
Philosoph mit destruktiven Absichten, sondern im Gegenteil ein „Wohl-
täter der menschlichen Vernunft“, wie B. Stroud zu Recht festgestellt

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SCHLUSS

§ 35 Die Epistemologisierung des Zweifels

Wer skeptische Fragen aufwirft, stellt scheinbar selbstverständliche Wis-


sensansprüche infrage. Selbst so einfache und triviale Aussagen wie ‚Ich
weiß, dass ein Baum vor mir steht‘ oder ‚Ich weiß, dass Naturkräuter eine
heilende Wirkung haben‘ werden auf den Prüfstand gestellt. Denn wie
kann ich sicher sein, dass tatsächlich ein Baum vor mir steht? Es könnte
doch sein, dass ich einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen bin oder
dass der allmächtige Gott mir einfach die Meinung eingegeben hat, vor
mir stehe ein Baum, obwohl weit und breit kein Baum zu sehen ist. Das
bloße Vorhandensein einer Meinung, die auf vielfache Weise entstanden
sein kann, berechtigt mich nicht dazu, gleich ein Wissen in Anspruch zu
nehmen. Ebenso könnte es sein, dass ich aufgrund meiner beschränkten
Erfahrung einfach meine, dass Naturkräuter eine heilende Wirkung haben.
Doch vielleicht haben sie nur unter besonderen Umständen eine heilende
Wirkung, oder vielleicht zeigen nur einige wenige Exemplare eine solche
Wirkung. Die Tatsache, dass ich manchmal eine heilende Wirkung fest-
gestellt habe, berechtigt mich nicht dazu, gleich ein generelles Wissen in
Anspruch zu nehmen. Was ich für Wissen halte, könnte sich als eine nur
beschränkt korrekte oder in einigen Kontexten falsche Meinung heraus-
stellen.
Diese Probleme, die im 13. und 14. Jh. ausgiebig diskutiert wurden,
veranschaulichen auf prägnante Weise, dass skeptische Fragen uns dazu
zwingen, über scheinbar selbstverständliche Wissensansprüche nachzu-
denken. Entscheidend ist dabei, dass solche Fragen nicht einfach diesen
oder jenen Wissensanspruch infrage stellen und uns nicht bloß zur Prü-
fung einiger weniger, besonders umstrittener Ansprüche herausfordern.
Sie zeigen vielmehr, dass wir uns prinzipiell fragen müssen, wie wir un-
sere Wissensansprüche aufrechterhalten können. Diese Frage können wir
indessen nur beantworten, wenn wir uns darüber klar werden, was wir
überhaupt unter Wissen verstehen und welche Bedingungen erfüllt sein
müssen, damit tatsächlich Wissen und nicht bloß eine Meinung vorliegt.
Somit veranlassen uns skeptische Fragen dazu, über Grundfragen der Er-
kenntnistheorie nachzudenken. Wer solche Fragen stellt, ist daher kein
Philosoph mit destruktiven Absichten, sondern im Gegenteil ein „Wohl-
täter der menschlichen Vernunft“, wie B. Stroud zu Recht festgestellt
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404 Schluss

hat.1 Denn wer uns mit skeptischen Fragen bedrängt, bringt uns dazu, so
fundamentale Begriffe wie ‚Wissen‘, ‚Meinung‘, ‚Erkenntnis‘, ‚Rechtferti-
gung‘ und ‚Irrtum‘ zu klären.
Die Analysen in den vier Kapiteln dieser Studie dienten dazu, anhand
konkreter Fallstudien zu zeigen, dass es im Mittelalter zahlreiche Denker
gab, die auf eine solche Begriffsklärung abzielten und somit – entgegen
einem weit verbreiteten historiographischen Vorurteil – nicht etwa Zerstörer
und Kritiker der Philosophie waren, sondern „Wohltäter der menschlichen
Vernunft“, oder etwas bescheidener ausgedrückt: konstruktive Philosophen,
die durch begriffliche Analysen Wissensansprüche prüften und präzisierten.
Freilich heißt dies nicht, dass sie solche Ansprüche kategorisch zurückwie-
sen und die Möglichkeit von Wissen bestritten. Wie sich herausgestellt hat,
nahm keiner der in dieser Studie berücksichtigten Autoren eine skeptische
Position ein. Ob nun Heinrich von Gent mithilfe skeptischer Argumente
einen essentialistischen Wissensbegriff prüfte, Ockham einen reliabilisti-
schen, Crathorn einen repräsentationalistischen, Nikolaus von Autrécourt
einen fundamentalistischen und Buridan einen kohärentistischen – keiner
verfolgte das Ziel, Wissen als eine Illusion hinzustellen. Im Gegenteil: Alle
mittelalterlichen Autoren vertraten die These, dass Wissen möglich ist, und
sie versuchten sogar im Detail zu zeigen, durch welche kognitiven Prozesse
Wissen erworben werden kann. In dieser Hinsicht stehen sie heutigen Phi-
losophen nahe, die skeptische Argumente aus methodischen Gründen ein-
setzen, um zu präzisieren, worin ein Wissensanspruch besteht und wie er
eingelöst werden kann. So hält J. Greco fest:
„Wie sehr viele andere Erkenntnistheoretiker interessierte ich mich für skeptische
Argumente, weil ich dachte, dass sie uns gehaltvolle Lektionen über die Natur von
Wissen und Evidenz lehren können. Es war sogar Bestandteil meiner Methodologie
anzunehmen, dass der Skeptizismus falsch ist und dass skeptische Argumente
irgendwo einen Fehler haben müssen. Zu sagen, wo dieser Fehler liegt, und die phi-
losophische Lektion daraus zu lernen – das war die Pointe.“2

Thomas von Aquin, Heinrich von Gent, Johannes Duns Scotus, Ockham,
Crathorn, Nikolaus von Autrécourt, Buridan und viele andere mittel-
alterliche Autoren hätten dieser Aussage eines analytischen Gegenwarts-
philosophen unumwunden zustimmen können. Auch sie nahmen an,
1
 Stroud 1984, 256: „Philosophical scepticism is a ‚benefactor of human reason‘ in forcing
us to pursue that question at levels we would have no reason to reach, or even to consider,
without it.“
2
 Greco 2000, xiii: „Along with a great many other epistemologists, I was interested in
skeptical arguments because I thought that they could teach substantive lessons about the
nature of knowledge and evidence. It was part of my methodology, in fact, to assume that
skepticism is false, and that skeptical arguments must go wrong somewhere. The trick was to
say where, and to learn the philosophical lesson contained therein.“
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§ 35 Epistemologisierung des Zweifels 405

dass der Skeptiker Unrecht hat, setzten sich aber intensiv mit skeptischen
Argumenten auseinander, um zu zeigen, an welchem Punkt und warum
er Unrecht hat. Genau in dieser detaillierten Replik auf den Skeptiker
zeigt sich die Fruchtbarkeit der mittelalterlichen Debatten, auch ihre
Reichhaltigkeit und Vielfalt. Unterschiedliche Autoren wiesen die skep-
tische Position nämlich aus ganz unterschiedlichen Gründen zurück. So
ist für Heinrich von Gent die These, dass Wissen unmöglich ist, unhalt-
bar, weil sie übersieht, dass unsere kognitiven Zustände, mögen sie noch
so defizient und instabil sein, durch eine übernatürliche Illumination
korrigiert und stabilisiert werden. Für Thomas von Aquin ist sie unbe-
gründet, weil sie unbeachtet lässt, dass unsere kognitiven Zustände nur
dadurch zustande kommen können, dass wir die Formen der Gegenstände
in uns aufnehmen. Ob wir wollen oder nicht, wir beziehen uns immer auf
die Formen in den materiellen Gegenständen und haben im Normalfall
ein korrektes Wissen von ihnen. Für Nikolaus von Autrécourt ist die
skeptische Position zu verwerfen, weil sie nicht berücksichtigt, dass es ein
unbezweifelbares Wissensfundament gibt, nämlich das Prinzip der Wi-
derspruchsfreiheit, und dass alle Wissensansprüche, die auf diesem Fun-
dament beruhen, unantastbar sind. Auch für Ockham und Buridan ist die
skeptische Position unbegründet, weil sie in ihrer Radikalität übersieht,
dass wir im Prinzip über zuverlässige kognitive Vermögen verfügen, die
es uns erlauben, wahre mentale Sätze über die Gegenstände in der Welt
zu bilden und dadurch Wissen zu erwerben. Die Tatsache, dass wir uns
in einigen Fällen irren, gibt keinen Anlass zum Verdacht, dass wir uns
immer irren.
Wie diese Stellungnahmen verschiedener Autoren zeigen, waren die Stra-
tegien, mit denen die skeptische Position zurückgewiesen wurde, vielfältig
und beruhten auf unterschiedlichen metaphysischen und erkenntnistheore-
tischen Voraussetzungen. Doch die Grundintention war bei allen Autoren
ähnlich: Wenn skeptische Argumente inhaltlich auch nicht zu überzeugen
vermögen, sind sie methodisch gesehen doch sinnvoll und wichtig. Sie for-
dern nämlich dazu heraus, die impliziten Annahmen, die in metaphysischen
und erkenntnistheoretischen Untersuchungen gemacht werden, explizit zu
machen, und sie ermöglichen dadurch, einen differenzierten und reflektier-
ten Begriff von Wissen zu gewinnen.
Doch warum spielte für die mittelalterlichen Autoren eine Klärung und
Präzisierung des Wissensbegriffs eine so zentrale Rolle? Was motivierte sie
dazu, skeptische Argumente als Instrument einzusetzen, um zu bestim-
men, was Wissen überhaupt ist, und um Wissensansprüche zu testen? Diese
Fragen stellen sich in besonderem Maße, wenn man die mittelalterlichen
Debatten mit jenen in der Antike – insbesondere in der pyrrhonischen Tra-
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406 Schluss

dition – vergleicht. Der pyrrhonische Skeptiker verfolgt nämlich nicht das


theoretische Ziel, den Wissensbegriff genau zu bestimmen. Ja, er interessiert
sich nicht einmal für Wissen, sondern sammelt einfach Meinungen, kontras­
tiert sie miteinander, stellt eine Gleichwertigkeit fest und enthält sich eines
Urteils. Wenn er überhaupt ein Ziel hat, so ist es praktischer Natur: Er will
ein dogmatisch unbelastetes Leben führen und eine Therapie entwickeln,
um den Dogmatiker von seinem Leiden zu heilen.3 Wie Wissen definiert
und von bloßer Meinung abgegrenzt werden kann, interessiert ihn nicht.
Ebenso wenig beschäftigt ihn die Frage, von welchen metaphysischen und
erkenntnistheoretischen Annahmen man Gebrauch machen muss, um er-
folgreich Wissen zu gewinnen. Er zeichnet sich ja dadurch aus, dass er sich
selber auf keine Annahmen festlegt, schon gar nicht auf metaphysische oder
erkenntnistheoretische, sondern nur die Meinungen anderer sammelt und
einander gegenüberstellt.4
Ganz anders verhält es sich mit den hier diskutierten mittelalterlichen
Autoren. Sie haben ein genuin theoretisches Interesse an skeptischen Ar-
gumenten und setzen sie gezielt ein, um ein erkenntnistheoretisches Ziel zu
erreichen, nämlich die prinzipielle Möglichkeit von Wissen nachzuweisen.5
Es ist daher nicht erstaunlich, dass sie Argumente diskutieren, die in prak-
tischen Kontexten keine Rolle spielen. So ist die Frage, ob Gott kraft seiner
uneingeschränkten Allmacht in den kognitiven Prozess eingreifen und eine
Erkenntnis von einem nicht existierenden Gegenstand erzeugen könnte,
praktisch gesehen irrelevant. Ebenso irrelevant ist in dieser Hinsicht die
Frage, ob und wie oft es zu Sinnestäuschungen kommen kann. Diese Fragen
dienen nur dem Ziel, zu prüfen, ob und wie weit durch Täuschungsszenarien
der prinzipielle Anspruch auf Wissen beeinträchtigt oder gar verunmöglicht
wird. Kurzum: Die mittelalterlichen Autoren sind keine lebenspraktischen

3
  Vgl. Sextus Empiricus, PH III, 280–281. Wie Burnyeat 1984 im Detail gezeigt hat, strebt
der pyrrhonische Skeptiker keine „Isolation“ an, die einen theoretischen Zweifel von der
praktischen Lebensführung absondert. Sein Ziel ist von Anfang an praktischer Natur: die
Erreichung der Seelenruhe und damit des Glücks durch die Anwendung einer skeptischen
Methode.
4
  Williams 1988 stellt daher treffend fest, dass der pyrrhonische Skeptiker einen „Skeptizis-
mus ohne Theorie“ lebt und dadurch alle theoretischen Annahmen – selbst metatheoretische
Annahmen, die das Ziel und die Struktur einer Erkenntnistheorie betreffen – von sich weist.
Er behauptet nichts, sondern referiert und kontrastiert Behauptungen (einschließlich theo-
retischer Behauptungen), die er sammelt.
5
 Meistens geht es dabei um die Möglichkeit eines Wissens von der materiellen Außenwelt
– ein Problem, das nicht im Mittelpunkt der antiken Debatten stand. Frede 1988, 70, grenzt
daher zu Recht die skeptischen Debatten im Mittelalter von jenen in der Antike ab, indem
er bemerkt: „... scepticism came to be something rather different from what it had been in
its classical form in antiquity, namely a limited, dogmatic form of scepticism concerning the
external world.“
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§ 35 Epistemologisierung des Zweifels 407

Therapeuten, sondern Theoretiker, die skeptische Szenarien auch nur in


theoretischer Hinsicht diskutieren.6
Wie kam es zu dieser Theoretisierung und Epistemologisierung skep-
tischer Debatten? Wie wurde aus der antiken Skepsis, die lebenspraktisch
orientiert war, ein theoretisches Unternehmen? Auf den ersten Blick scheint
es auf diese Fragen eine einfache Antwort zu geben: Die mittelalterlichen
Philosophen hatten mit großer Wahrscheinlichkeit keine Kenntnis von den
Haupttexten des Pyrrhonismus, wie in der Einleitung bereits festgehalten
wurde,7 und waren folglich auch nicht von dieser Art von Skeptizismus
beeinflusst. Sie transformierten nicht einen lebenspraktisch orientierten
Skeptizismus in einen theoretischen, sondern entwickelten ganz einfach ein
eigenes Projekt.
Diese Erwiderung weist zwar zu Recht darauf hin, dass es unangebracht
wäre, die skeptischen Debatten im Mittelalter nur als eine Rezeption an-
tiker Debatten zu sehen (wo es keine Kenntnis antiker Texte gab, konnte
auch kein Rezeptionsprozess eintreten),8 lässt aber die entscheidende Frage
unbeantwortet. Wie konnte es zu einer epistemologischen Ausrichtung
skeptischer Debatten kommen? Und was war dafür verantwortlich, dass
skeptische Argumente vorwiegend aus methodischen Gründen eingesetzt
wurden? Betrachtet man die in dieser Studie diskutierten Autoren, lassen
sich verschiedene Erklärungen anführen.
Ein erster Grund für die Epistemologisierung liegt sicherlich in der
Aristoteles-Rezeption, die spätestens ab der Mitte des 13. Jhs. sämtliche
philosophischen Debatten beherrschte. Durch die neue, von Wilhelm von
Moerbeke angefertigte Übersetzung von De anima waren die mittelalter-
lichen Philosophen nämlich nicht nur mit einer umfassenden Seelentheorie
konfrontiert, sondern auch mit einer Kognitionstheorie, die auf mindestens
zwei Ebenen zu grundsätzlichen Fragen Anlass gab. Zunächst stellte sich
auf der Ebene der wahrnehmenden Seele die Frage, ob und wie diese Seele
die Funktion erfüllen kann, die Aristoteles ihr zuschreibt, nämlich die
wahrnehmbaren Formen der Gegenstände ohne die Materie aufzunehmen

6
 Natürlich gibt es auch mittelalterliche Texte, in denen skeptische Argumente in prakti-
scher Hinsicht diskutiert werden. So erörtert Witelo in De causa primaria paenitentiae in
hominibus et de natura daemonum ausführlich die Natur und Wirkungsmacht der Dämonen,
um praktisch aufzuzeigen, wie man sich vor täuschenden Dämonen schützen kann. Freilich
geht auch er (ganz im Gegensatz zu einem pyrrhonischen Skeptiker) immer von der An-
nahme aus, dass Wissen möglich ist. Die Frage ist nur, wie Wissen angesichts der Präsenz von
Dämonen praktisch gesichert werden kann. Daher zielt Witelo letztendlich auf die praktische
Anwendung einer Theorie ab.
7
  Vgl. § 2; ausführlich dazu Wittwer 2003.
8
 Dieses simple Faktum gilt es in Erinnerung zu rufen, wenn mittelalterliche Debatten ein-
fach auf Rezeptionsdebatten reduziert werden, wie dies etwa bei Floridi 2002 geschieht.
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408 Schluss

und dadurch Akte des Sehens, Hörens usw. zu ermöglichen. Wie erfolgt
dieses Aufnehmen? Und wie kann es ein korrektes Sehen und Hören ermög­
lichen? Die zahlreichen Beispiele von Sinnestäuschungen zeigen doch, dass
es uns häufig nicht gelingt, die Formen aufzunehmen, oder dass wir sie in
verzerrter Weise aufnehmen und dadurch zu falschen Wahrnehmungsurtei-
len verleitet werden. Daher stellt sich die Frage, ob wir uns überhaupt auf die
Wahrnehmung berufen können, wenn wir versuchen, den Erwerb von Wis-
sen zu erklären. Wie sich im Verlauf dieser Studie herausgestellt hat, setzten
mehrere Autoren des 13. und 14. Jhs. genau an diesem Punkt an, wenn sie
skeptische Probleme diskutierten. Sie begnügten sich nicht einfach damit,
Einzelfälle von Sinnestäuschungen zu beschreiben oder kontrastierende
Sinneswahrnehmungen einander gegenüberzustellen, sondern wählten die
Einzelfälle als Ausgangspunkt, um die grundsätzliche Frage zu erörtern, ob
und wie auf der Grundlage von Sinneswahrnehmung Wissen möglich ist. So
diskutierte Ockham das berühmte Beispiel von den Bäumen, die vom Schiff
aus schwankend erscheinen, um grundsätzlich zu klären, was überhaupt
erscheint und was – die Bäume selbst oder irgendeine Erscheinung – Wis-
sensobjekt ist. Und Nikolaus von Autrécourt ging auf dieses Beispiel ein,
um Kriterien zu erarbeiten, die erfüllt sein müssen, damit eine veridische
Wahrnehmung vorliegt.9 Konkrete Beispiele motivierten diese Philosophen
dazu, in theoretischer Hinsicht zu untersuchen, wie die epistemische Funk-
tion der Sinneswahrnehmung zu verstehen ist.
Aristoteles’ Seelentheorie gab aber auch auf der Ebene der intellektu-
ellen Seele Anlass zu einer theoretischen Untersuchung. Wenn es nämlich
die Aufgabe dieser Seele ist, die intelligiblen Formen aufzunehmen, stellt
sich wiederum die Frage, ob und wie dieser Prozess des Aufnehmens ge-
lingt. Dürfen wir einfach annehmen, dass der Intellekt die Formen korrekt
aufnimmt und korrekte Urteile über die Gegenstände bildet? Können wir
davon ausgehen, dass er gegen Irrtümer gleichsam immunisiert ist? Wenn
nicht, wie können Irrtümer korrigiert werden – durch rein natürliche kog­
nitive Prozesse oder nur mithilfe einer göttlichen Illumination? Und führt
die Annahme einer übernatürlichen Illumination nicht zur Preisgabe des
Anspruchs auf natürliches Wissens? Genau diese Fragen stellten für Hein-
rich von Gent und Johannes Duns Scotus den Einstieg in eine skeptische
Debatte dar, wie sich im ersten Kapitel gezeigt hat, motivierten aber auch
andere Autoren – unter ihnen Thomas von Aquin – zu einer Prüfung skep­ti­
scher Argumente. Entscheidend ist, dass auch hier nicht einfach Einzelfälle
von möglicher intellektueller Täuschung diskutiert wurden. Die Einzelfälle
boten nur einen Anlass, um grundsätzlich und in theoretischer Hinsicht die

9
  Vgl. zu Ockham § 21, zu Nikolaus von Autrécourt § 28.
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11:28

§ 35 Epistemologisierung des Zweifels 409

epistemische Funktion der intellektuellen Tätigkeiten zu diskutieren. Das


Ziel der skeptischen Debatten bestand darin, so etwas wie eine Landkarte
für die epistemischen Funktionen des Intellekts zu entwerfen – eine Land-
karte, auf der auch mögliche Fehlfunktionen eingezeichnet und als beson-
dere Fälle erklärt werden konnten.
Neben De anima stellten auch die Zweiten Analytiken einen wichtigen
Ausgangspunkt für skeptische Debatten dar. Wenn nämlich Wissen im
strengen Sinn, d.h. demonstratives Wissen, nur durch ein syllogistisches
Verfahren gewonnen werden kann, das – wie Aristoteles behauptet – das
Erfassen von wahren und ursprünglichen Prinzipien voraussetzt, muss
geklärt werden, was denn die erforderlichen Prinzipien sind und wie sie
erfasst werden können. Können sie nur auf der Grundlage der Sinneswahr-
nehmung erfasst werden, die teilweise unzuverlässig und unvollständig ist?
Gibt es somit keine absolute Gewissheit von den Prinzipien und auch keine
solche Gewissheit für das auf ihnen beruhende Wissen? Oder lassen sich
die Prinzipien durch einen besonderen Prozess auf infallible Weise erfassen?
Genau diese Fragen motivierten Adam Wodeham, Johannes Buridan und
andere mittelalterliche Autoren zu einer Auseinandersetzung mit skepti-
schen Argumenten. Auch hier stellten Aristoteles’ Wissenstheorie und ein-
zelne Beispiele, die gegen die Plausibilität dieser Theorie angeführt wurden,
den Ausgangspunkt dar, um in theoretischer Hinsicht zu diskutieren, ob
und wie Wissen möglich ist. Die Texte des Aristoteles waren gleichsam das
Sprungbrett für eine grundsätzliche Reflexion über die Struktur und Fun-
dierung von Wissen – auch und gerade dann, wenn sie selber nicht skeptisch
ausgerichtet waren. Sie forderten nämlich dazu heraus, im Detail aufzuzei-
gen, wie im Rahmen einer bestimmten Wissenskonzeption skeptische Ar-
gumente abgewehrt werden können.
Doch nicht nur die Aristoteles-Rezeption verstärkte die Theoretisierung
und Epistemologisierung skeptischer Debatten. Ebenso einflussreich war
die Rezeption neuplatonischer und augustinischer Quellen, wie das Beispiel
Heinrich von Gents zeigt. Diese Quellen überlieferten den mittelalterlichen
Autoren nämlich ein bestimmtes Wissensideal: Nur wer das ewige und un-
veränderliche Wesen der Dinge auf stabile und untrügliche Weise erfasst,
verfügt über Wissen. Ein derart ambitioniertes Ideal provozierte natürlich
sogleich die Frage, ob es eingelöst werden kann. Lässt sich auf natürlichem
Weg, d.h. allein durch sinnliche und intellektuelle Prozesse, das ewige und
unveränderliche Wesen der Dinge erfassen? Und ist trotz aller Irrtumsan-
fälligkeit der Sinne und des Intellekts eine Untrüglichkeit gewährleistet?
Oder ist eine Korrekturinstanz erforderlich, die nicht in den Sinnen und
im menschlichen Intellekt angesiedelt sein kann? Eine Antwort auf diese
Fragen erforderte natürlich eine genaue Prüfung der kognitiven Vermögen,
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410 Schluss

aber auch eine grundsätzliche Diskussion der starken essentialistischen


Voraussetzungen, mit denen in der platonischen Tradition operiert wurde.
Was heißt es, das ewige und unveränderliche Wesen der Dinge zu erfassen?
Welche kognitiven Tätigkeiten sind dazu erforderlich? Und wo tauchen
Irrtumsmöglichkeiten auf? Auch diese Fragen verstärkten den theoretischen
Charakter skeptischer Debatten. Denn nur wenn grundsätzlich erläutert
wird, wie das Wesen der Dinge erfasst werden kann, lässt sich auch erklären,
wie im Einzelfall Täuschungen und Irrtümer korrigiert werden können.
Mindestens so einflussreich wie die Auseinandersetzung mit den Tex-
ten und theoretischen Modellen des Aristoteles war die Beschäftigung mit
Theorien, die erst im Mittelalter entstanden. Wie sich in mehreren Kapiteln
dieser Studie gezeigt hat, spielte die erst im 13. Jh. vollständig entwickelte
Species-Theorie dabei eine zentrale Rolle. Diese Theorie griff nämlich die
Frage auf, wie die kognitiven Prozesse, mit denen Wissen erworben wird,
konkret aussehen, und welche Entitäten erforderlich sind, damit eine Per-
son sich tatsächlich auf einen Gegenstand beziehen und von ihm Wissen
erwerben kann. Wie die Ausführungen zu Thomas von Aquin, Olivi und
Crathorn gezeigt haben, stellte sich dabei das Problem, dass der Status der
kognitiven Entitäten grundsätzlich geklärt werden musste. Kann eine Person
nur Wissen erwerben, wenn sie intelligible Species als kognitive Entitäten
verwendet? Und sind diese Species dann die primären Objekte, auf die sich
eine Person bezieht und von denen sie Wissen erwirbt, oder lediglich Hilfs-
mittel, die einen Zugang zu den materiellen Gegenständen ermöglichen?
Diese Fragen ließen sich natürlich nur beantworten, wenn zunächst die
Grundstruktur eines kognitiven Prozesses und die Funktion der Species in
diesem Prozess erläutert wurden. Dies war indessen nur möglich, wenn eine
theoretische Perspektive gewählt und grundsätzlich untersucht wurde, wel-
che Entitäten erforderlich sind, damit ein epistemischer Zugang zu Gegen-
ständen in der materiellen Welt möglich ist. Es ging nicht darum, Einzelfälle
zu beschreiben und mögliche Fehlerquellen zu erkunden. Zur Debatte stand
vielmehr, welche Entitäten prinzipiell erforderlich sind, damit ein kogniti-
ver Zugang zu materiellen Gegenständen möglich ist, und welche Funktion
ihnen im Hinblick auf einen Wissenserwerb zukommt. Und natürlich stand
auch zur Diskussion, ob die scheinbar selbstverständliche These, dass wir
von Gegenständen in der Welt – nicht bloß von inneren Species und anderen
kognitiven Entitäten – ein Wissen haben, gegen skeptische Einwände vertei-
digt werden kann.
Schließlich spielte auch der Einfluss theologischer Debatten auf die Phi-
losophie eine entscheidende Rolle für die Theoretisierung und Epistemolo-
gisierung skeptischer Debatten. Spätestens mit der Pariser Verurteilung von
1277 wurde die Lehre von der uneingeschränkten Allmacht Gottes nämlich
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§ 35 Epistemologisierung des Zweifels 411

ein zentraler Bestandteil philosophischer Debatten. Es wurde nicht mehr


bloß gefragt, welche kausalen Relationen und Prozesse – darunter auch
kognitive Prozesse – innerhalb der gegebenen natürlichen Ordnung mög-
lich sind, sondern auch, welche Prozesse darüber hinaus denkbar sind. Ist
es etwa denkbar, dass Gott uns einen kognitiven Akt eingibt, mit dem wir
einen Gegenstand erfassen, obwohl kein Gegenstand präsent ist? Und ist es
somit denkbar, dass wir in unserem kognitiven Zugang zu Gegenständen in
der Welt radikal getäuscht werden? Wie im Verlauf dieser Studie mehrfach
betont wurde, zielten diese Fragen nur darauf ab, den Bereich des Denkba-
ren und prinzipiell Möglichen abzugrenzen; ob Gott tatsächlich in die na-
türliche Ordnung eingreift, war unerheblich. Das Ausloten des prinzipiell
Möglichen gab natürlich Anlass zu hypothetischen Fragen: Was wäre, wenn
Gott mir jetzt eine intuitive Erkenntnis von einem Stern eingäbe, obwohl
kein Stern am Himmel ist und ich auch keinen sehe? Was wäre, wenn ich
mich deswegen radikal täuschen würde? Derartige Fragen verstärkten ein-
mal mehr den theoretischen Charakter skeptischer Debatten.10 Entscheidend
war ja nicht, was jemand wirklich sieht und wie sein Sehen wirklich verur-
sacht wird, sondern was prinzipiell möglich ist und was aus dieser Möglich-
keit für die Begründung von Wissensansprüchen folgt.
Berücksichtigt man die genannten Faktoren, lässt sich verstehen, warum
skeptische Debatten im 13. und 14. Jh. epistemologisch und nicht etwa le-
benspraktisch ausgerichtet waren und dem theoretischen Ziel dienten, den
Wissensbegriff zu klären.11 Sie stehen daher den gegenwärtigen analytischen

 Sie verstärkten zudem den analytischen Charakter. De Libera 1991, 152, hält prägnant
10

fest: „C’est à présent une vérité d’évidence: la philosophie analytique est née au Moyen Age et
chez les théologiens.“ Diese allgemeine Aussage trifft in besonderem Maße auf skeptische De-
batten zu. Denn indem die Theologie skeptische Hypothesen bereitstellte, motivierte sie die
Philosophie dazu, erstens mit analytischen Mitteln die innere Konsistenz dieser Hypothesen
zu testen und zweitens so zentrale Begriffe wie ‚möglich‘ und ‚notwendig‘ zu klären. Da die
meisten mittelalterlichen Denker sowohl Theologen als auch Philosophen waren, beteiligten
sie sich sowohl an Debatten über die absolute Allmacht Gottes als auch an erkenntnistheo-
retischen Diskussionen und wandten die Hypothesen unmittelbar auf ihre philosophische
Arbeit an.
11
 Daneben spielten natürlich auch allgemeine, weit über die skeptischen Debatten hinaus
gehende Faktoren eine Rolle. Besonders zwei sind zu nennen. Zum einen förderte die Ent-
wicklung technischer Argumentationsstile (etwa im Rahmen der Obligationes- und der
Sophismata-Literatur) die Etablierung einer analytischen, theoretisch ausgerichteten Dis-
kussionskultur. Murdoch 1975 spricht treffend von „analytischen Sprachen“, die den Rahmen
philosophischer Debatten bestimmten und sie zu rein theoretischen, an Begriffsklärungen
orientierten Diskussionen machten. Zum anderen trat eine Veränderung im Selbstverständnis
der an Universitäten (vor allem an Artistenfakultäten) lehrenden Philosophen ein. Sie sahen
die Beschäftigung mit theoretischen Fragen als einen Wert in sich, der nicht weiter begrün-
dungspflichtig war, und bestimmten die Beschäftigung mit solchen Fragen als das höchste
Ziel. Das „intellektuelle Glück“ bestand in der theoretischen Analyse, nicht in der Anleitung
zu einer praktischen Lebensführung. Vgl. zu diesen tiefgreifenden Veränderungen im intel-
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412 Schluss

Debatten, die ebenfalls einen theoretischen und methodischen Gebrauch von


skeptischen Argumenten machen, konzeptuell näher als den pyrrhonischen
Diskussionen. In heutigen Debatten spielt es ebenfalls keine Rolle, ob skep-
tische Szenarien je realisiert werden. Entscheidend ist nur, dass mit schlag-
kräftigen Argumenten – seien sie auch in praktischer Hinsicht irrelevant
– scheinbar selbstverständliche Wissensansprüche angefochten werden und
dass dadurch eine Reflexion über solche Ansprüche in Gang gesetzt wird.12
Dieses theoretische Interesse an skeptischen Debatten setzt freilich voraus,
dass der Klärung von Wissensansprüchen ein zentraler Stellenwert beige-
messen wird. Dies wiederum bedeutet, dass die Analyse des Wissensbegriffs
als eine Kernaufgabe betrachtet wird. Denn was wir in Anspruch nehmen,
wenn wir Wissen reklamieren, hängt entscheidend davon ab, was wir über-
haupt unter Wissen verstehen. Wie ein Blick auf die gegenwärtigen Debatten
zeigt, ist es aber keineswegs selbstverständlich, die Begriffsklärung als eine
wichtige Aufgabe anzusehen. Wäre es nicht sinnvoller, von dieser Aufgabe,
die ohnehin zu keinem Ende führt, abzulassen und sich anderen Aufgaben
zu widmen, etwa dem gegenseitigen Verstehen in einem hermeneutischen
Prozess?13 Will man diese Frage beantworten, muss man zum einen in sys­
tematischer Hinsicht zeigen, warum eine Begriffsklärung überhaupt ein
sinnvolles Unterfangen ist, zum anderen aber auch in historischer Hinsicht
verdeutlichen, warum die mittelalterlichen Autoren sich einer Begriffsklä-
rung widmeten und darin eine zentrale philosophische Aufgabe sahen.
Systematisch gesehen ist es zunächst wichtig, sorgfältig zwischen einer
Begriffsklärung und einer Begriffsdefinition zu unterscheiden. Wer eine
Definition des Wissensbegriffs fordert, verlangt, dass notwendige und hin-
reichende Bedingungen für Wissen formuliert werden. Wie die Debatten
rund um die sog. Gettier-Fälle gezeigt haben, ist es aber kaum möglich,
derartige Bedingungen zu formulieren; es können immer wieder Beispiele

lektuellen Selbstverständnis ausführlich Domanski 1996, Bianchi 1990, 149–195, De Libera


1991, 143–180.
12
  Williams unterscheidet daher mit Blick auf die gegenwärtigen Debatten zwischen einem
alltäglichen Skeptizismus, der nur punktuell Wissensansprüche infrage stellt, und einem
philosophischen Skeptizismus, der nach der Möglichkeit von Wissen schlechthin fragt.
Williams 2001, 60: „Philosophical scepticism, as radical and general, undermines the very
epistemological distinctions on which everyday scepticism depends. It is not simply different
from but precludes scepticism of the ordinary kind.“ Dieser Unterscheidung hätten auch die
hier diskutierten mittelalterlichen Autoren zustimmen können. Ihnen ging es um den phi-
losophischen Skeptizismus, den sie mithilfe radikaler Szenarien – etwa jenem des täuschenden
Gottes – ausarbeiteten und als eine generelle Bedrohung für Wissensansprüche verstanden.
Entsprechend zielten ihre antiskeptischen Argumente auf eine generelle Verteidigung solcher
Ansprüche ab.
13
 So argumentiert prominenterweise Rorty 1980 in seiner Kritik an der analytischen
Erkenntnistheorie.
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§ 35 Epistemologisierung des Zweifels 413

vorgebracht werden, bei denen zwar alle Bedingungen erfüllt sind, aber
trotzdem kein Wissen vorliegt.14 Angesichts dieser Fälle erscheint die Suche
nach einer Definition in der Tat als ein kaum gewinnbringendes Unterfan-
gen. Dies bedeutet aber keineswegs, dass auch eine Begriffsklärung wenig
Erfolg verspricht. In einer Begriffsklärung geht es nämlich darum, dass
– bildlich gesprochen – ein Begriffsnetz aufgespannt und aufgezeigt wird,
welchen Platz ein bestimmter Begriff im ganzen Netz einnimmt, wie er mit
anderen Begriffen verknüpft ist und wie er sich von wiederum anderen Be-
griffen abgrenzt. Erst wenn sein spezifischer Platz verdeutlicht wird, lässt
sich verstehen, was mit diesem Begriff überhaupt gemeint ist. Dies gilt in
besonderem Maße für den Wissensbegriff. Erst wenn gezeigt wird, wie er
sich zu anderen epistemischen Begriffen – etwa zu ‚Meinung‘, ‚Vermutung‘
und ‚Rechtfertigung‘ – verhält, wird deutlich, worauf wir überhaupt abzie-
len, wenn wir uns selber Wissen zusprechen. Und erst dann wird auch klar,
was wir unter einem Wissensanspruch verstehen. So betrachtet dient eine
Begriffsklärung immer einem besseren Selbstverständnis: Wir verstehen
uns selbst als Wissende erst, wenn wir uns klar darüber werden, was wir
unter Wissen verstehen. Dazu müssen wir so etwas wie typische Merkmale
oder Kennzeichen von Wissen bestimmen, selbst wenn wir nicht in der Lage
sind, notwendige und hinreichende Bedingungen zu formulieren. Erst wenn
wir über solche Merkmale verfügen, können wir in einem konkreten Fall
darüber diskutieren, ob wir tatsächlich etwas wissen oder nicht. Das Ziel
einer Begriffsklärung besteht dann darin, diese Merkmale immer präziser
zu fassen, um immer differenzierter beurteilen zu können, wann wir über
Wissen verfügen und wann nicht. Skeptische Argumente treiben eine solche
Begriffsklärung in besonderem Maße voran, weil sie mithilfe bestimmter
Szenarien zu zeigen versuchen, dass das, was wir gewöhnlich zum Wissen
zählen, diesem Begriff gar nicht genügt. Dies zwingt uns, den Wissensbe-
griff genauer zu fassen und zu erläutern, was tatsächlich unter diesen Be-
griff fällt und was nicht.
Doch warum strebten die Philosophen des 13. und 14. Jhs. eine Begriffs-
klärung an? Was motivierte sie dazu, den Wissensbegriff in einem ganzen
Netz von epistemischen Begriffen zu verorten? Eine Motivation war sicher-
lich das gerade genannte systematische Bedürfnis, typische Merkmale von
Wissen anzugeben, um damit Wissensansprüche – allen voran die eigenen
Ansprüche – präziser fassen zu können. Dies zeigt sich etwa bei Heinrich
von Gent, der sorgfältig zwei Wissensbegriffe voneinander unterscheidet,
um zwei Arten von Wissensansprüchen (und damit auch zwei Wege, um
14
 Eine konzise Auswertung dieser Debatte bietet Williams 2001, 13–37. Daher wurde
schon in der Einleitung (vgl. § 3) festgehalten, dass es nicht um eine Definition von Wissen
gehen soll.
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414 Schluss

diese Ansprüche einzulösen) voneinander zu trennen. Erst wenn wir ein-


gesehen haben, dass Wissen im strengen Sinn immer auf das Erfassen des
Wesens einer Sache abzielt, können wir Heinrich zufolge auch verstehen,
dass wir mit unseren Wissensansprüchen weit über das bloße Erfassen
wahrnehmbarer Eigenschaften hinaus zielen. Eine ähnliche Motivation lässt
sich bei Nikolaus von Autrécourt erkennen, auch wenn er natürlich mit
einem anderen Wissensbegriff arbeitet. Erst wenn wir eingesehen haben,
dass Wissen immer Gewissheit impliziert, können wir seiner Ansicht nach
Wissen von bloßem Glauben unterscheiden und vermeintliches Wissen zu-
rückweisen. Kurzum: Erst eine Klärung des Wissensbegriffs ermöglicht
uns, überhaupt zu verstehen, was wir uns als Wissenden zuschreiben.
Darüber hinaus gibt es aber auch spezifisch historische Gründe, die
zahlreiche Philosophen des 13. und 14. Jhs. dazu bewogen haben, sich einer
Klärung des Wissensbegriffs zu widmen. Ein erster Grund hängt mit der
bereits oft genannten Rezeption antiker Texte zusammen. Die Aneignung
dieser Texte, insbesondere des aristotelischen Textcorpus, führte dazu, dass
die mittelalterlichen Kommentatoren sich mit einer Fülle von Begriffen
konfrontiert sahen, die eine theoretisch „aufgeladene“ Bedeutung besaßen
und einer Klärung bedurften. Denn erst wenn geklärt war, was eine antike
Autorität – allen voran Aristoteles – unter einem bestimmten Begriff ver-
stand, ließ sich auch angeben, welche Phänomene mithilfe dieses Begriffs
erklärt werden konnten, aber auch welche Probleme dieser Begriff aufwarf.
Zu diesen klärungsbedürftigen Begriffen gehörte natürlich auch der Wis-
sensbegriff. Die mittelalterlichen Autoren mussten diesen Begriff erst einer
Analyse unterziehen, um dann verschiedene Formen von Wissen – etwa me-
taphysisches oder physikalisches Wissen – erläutern zu können. Dies zeigt
sich in prägnanter Form bei Ockham, der seinen Kommentar zur Physik mit
der Bemerkung eröffnet, Aristoteles habe „gleichsam mit Lynkeus-Augen
die Rätsel der Natur erforscht und der Nachwelt die Geheimnisse der Na-
turphilosophie offenbart“,15 gleichzeitig aber auch neue Rätsel geschaffen.
Seine Rede von einem Wissen von der Natur und sein ganzes Vorhaben,
dieses Wissen zu erläutern, seien nämlich interpretationsbedürftig. Daher,
so Ockham, müsse man in einem ersten Schritt ganz allgemein den Wis-
sensbegriff klären und könne erst danach zum speziellen Wissen von der
Natur übergehen. Und wenn man sich mit dem Wissensbegriff beschäftige,
müsse man sich nicht nur fragen, was Wissen sei, sondern auch, ob und wie
Wissen möglich sei.

  Expositio in libr. Physicorum, prologus, § 1 (OPh IV, 3): „Inter alios autem philosopho-
15

rum peritissimus Aristoteles non parvae nec contemnendae doctrinae praeclarus apparuit,
qui quasi lynceis oculis secretiora naturae rimatus philosophiae naturalis abscondita posteris
revelavit.“
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§ 35 Epistemologisierung des Zweifels 415

Diese Exposition, die in Ockhams Text von einer detaillierten Analyse des
Wissensbegriffs gefolgt wird, verdeutlicht, dass die Unklarheit und Inter-
pretationsbedürftigkeit eines philosophischen Kernbegriffs den Ausgangs-
punkt und gleichzeitig auch die Motivation für eine theoretische Reflexion
über die Möglichkeit von Wissen darstellte. Ockham und den meisten ande-
ren Aristoteles-Interpreten ging es nicht einfach darum, den aristotelischen
Wissensbegriff exegetisch zu rekonstruieren. Ausgehend vom klassischen
Text interessierten sie sich vielmehr für die Frage, wie der Wissensbegriff
überhaupt sinnvoll verstanden werden kann und wie Wissensansprüche
eingelöst werden können. Genau dieses theoretische Interesse wurde durch
die Auseinandersetzung mit dem Text einer Autorität geweckt, und genau
dadurch wurde die epistemologische Debatte vorangetrieben. Diesen Punkt
gilt es zu betonen, um Missverständnisse zu vermeiden. Die für den scho-
lastischen Universitätsbetrieb charakteristische Kultur des Kommentierens
und Interpretierens antiker Texte beeinträchtigte die theoretische Neugier
nicht, sondern stachelte sie im Gegenteil an. Gerade die „Textkultur“ beför-
derte den Prozess des Auslotens und Klärens von Begriffen.
Ein zweiter Grund liegt in der engen Verflechtung von theologischen und
philosophischen Diskussionen. Das genuin theologische Interesse an der
Möglichkeit einer besonderen Art von Wissen – etwa einem Wissen von Gott
oder von theologischen Lehrsätzen – verstärkte nämlich das Interesse an der
Frage, was unter Wissen überhaupt zu verstehen ist. Auch dies lässt sich am
Beispiel Ockhams veranschaulichen. Ockham eröffnet seinen Sentenzen-
kommentar mit der klassischen Frage, ob es eine evidente Erkenntnis von
theologischen Wahrheiten gebe. Er fügt gleich hinzu, dass sich diese Frage
nur beantworten lässt, wenn grundsätzlich feststeht, was unter den Begriffen
‚Erkenntnis‘, ‚Evidenz‘ und ‚Wahrheit‘ zu verstehen ist.16 Daher widmet er
den ganzen Prolog zum Sentenzenkommentar einer Klärung dieser Grund-
begriffe und geht dabei ausführlich auf verschiedene Arten der Erkenntnis
sowie auf das Verhältnis von intuitiver Erkenntnis und Wissen ein. Erst ganz
am Ende der ausführlichen Analyse kommt er wieder auf die theologische
Ausgangsfrage zurück. Sie dient ihm gleichsam als Wegweiser für einen
langen Weg, der in ein erkenntnistheoretisches – nicht primär theologisches
– Gelände führt. Es ist daher nicht erstaunlich, dass sein theoretisches In-
teresse am Wissensbegriff durch eine auf den ersten Blick rein theologische
Frage ausgelöst wurde. Gleiches gilt für zahlreiche andere Autoren, die sich
vorwiegend in theologischen Texten der Wissensproblematik widmeten.17

 Vgl. Ordinatio I, prologus, q. 1 (OTh I, 5).


16

 So beschäftigten sich Crathorn, Chatton, Mayronis, Wodeham, Rodington, Gregor von
17

Rimini und Peter von Ailly vorwiegend in theologischen Texten mit der Frage, ob und wie
eine sichere intuitive Erkenntnis möglich ist; vgl. §§ 15–17 und §§ 23–25.
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416 Schluss

Auch diesen Punkt gilt es zu beachten, um Missverständnisse und Vor-


urteile zu vermeiden.18 Die theologische „Leitkultur“ im 13. und 14. Jh.
verhinderte nicht eine philosophische Grundlagendebatte und schränkte
das theoretische Interesse an erkenntnistheoretischen Problemen nicht ein,
sondern begünstigte ein solches Interesse – zum einen, indem sie besondere
skeptische Hypothesen bereitstellte (etwa die Hypothese vom täuschenden
Gott), zum anderen aber auch, indem sie einen generellen Rahmen schuf,
der die mittelalterlichen Autoren herausforderte, sich mit der Klärung epi-
stemischer Grundbegriffe zu beschäftigen und damit ein theoretisches Pro-
jekt zu verfolgen.
Wenn die mittelalterlichen Debatten heute noch von Interesse sind, dann
nicht zuletzt deshalb, weil sie verdeutlichen, dass eine Klärung des Wis-
sensbegriffs eine zentrale philosophische Aufgabe ist und dass gerade der
Einsatz skeptischer Argumente eine solche Klärung vorantreibt. Derartige
Argumente fordern uns nämlich dazu heraus, präzise zu bestimmen, was
wir unter Wissen verstehen, worauf unsere Wissensansprüche abzielen und
wie wir solche Ansprüche trotz aller Täuschungsszenarien aufrechterhalten
können. Erst wenn wir auf diese Forderung eingehen und den Wissensbe-
griff Schritt für Schritt explizieren, gewinnen wir als Wissenssubjekte ein
reflektiertes Selbstverständnis.

18
 Grant 2001 verdeutlicht, dass auch in der neueren Debatte teilweise immer noch behauptet
wird, philosophische Innovation sei im Mittelalter durch die Übermacht einer theologischen
Kultur beeinträchtigt oder sogar verunmöglicht worden. Zu Recht führt er zahlreiche Bei-
spiele aus der Naturphilosophie an, die zeigen, dass gerade umgekehrt theologische Gedanken
(z.B. bezüglich der Existenz möglicher Welten) die philosophischen Debatten vorantrieben.
Gleiches gilt auch für die Erkenntnistheorie: Gerade die theologischen Überlegungen bezüg-
lich besonderer Formen von Wissen und der möglichen göttlichen Intervention in episte-
mische Prozesse trieben die erkenntnistheoretischen Debatten voran.

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PERSONENREGISTER

Autoren vor 1700

Adam Wodeham  14, 21, 29–30, 207, Johannes Duns Scotus  6n, 11, 14,
210–211, 291–300, 302, 304–305, 367, 33–35, 37, 57–58, 77, 82, 84–115, 117,
409, 415n 122n, 124, 156, 171, 189, 228, 232n,
Anselm von Canterbury  33n, 54n 255, 266, 283, 285, 289–290, 295n,
Aristoteles  19, 21–22, 28, 36n, 37, 42, 316, 334, 335, 340n, 404, 408
44n, 45n, 46–47, 51, 52n, 61, 138, Johannes Mirecourt  188n, 192n
310, 312, 338, 340, 379, 380n, 383, Johannes Rodington  29, 170–179, 185,
385–386, 387n, 389n, 399, 407–410, 192, 194, 202–204, 297, 379, 415n
414–415
Augustinus, Aurelius  17–18, 28, 33n, Locke, John  72, 142
34n, 36, 37n, 41n, 44n, 45n, 47, 51n,
53n, 74n, 75–76, 78n, 84, 95, 101n, Mersenne, Marin  118–119
111, 120, 163n, 189, 196, 282, 409
Averroes  45n, 310 Nikolaus von Autrécourt  14, 17n, 22,
27n, 93, 233, 307, 309–316, 318–319,
Bonaventura  17n, 37n, 55n, 82n 321, 326, 327n, 328–364, 370–372,
392–393, 396–401, 404–405, 408, 414
Cicero, Marcus Tullius  17, 18n, 33n
Crathorn, Wilhelm (?) 9–10, 24n, Peter von Ailly  28, 188–192, 197–198,
25–26, 49, 117, 179–188, 190, 192, 202–204, 379, 415n
202, 204, 404, 410, 415n Peter Aureoli  11, 14, 180n, 239–242,
245, 266–268, 270–272, 280, 282,
Descartes, René  4, 94–95, 118–121, 284, 316–317, 327n, 363n, 388
125, 135, 142, 148–149, 173, 176–177, Peter Johannis Olivi  26, 49, 150n,
191, 202–204, 226, 254, 263, 266, 166–170, 185, 201, 410
306, 320n, 401 Pico della Mirandola  58
Pierre de Ceffons  192n
Franziskus von Mayronis  29, 211, 280
Robert Holkot  14, 192, 194, 195n,
Gregor von Rimini  14, 29, 117–118, 210n
121, 192–198, 204, 367, 415n
Sextus Empiricus  3n, 15–16, 155n,
Heinrich von Gent  9–11, 14, 17n, 19, 330n, 363n, 406n
22, 33–63, 65–86, 88–90, 94–96, Siger von Brabant  29, 120, 154–162,
98–99, 102, 104–106, 109–115, 117, 340
124, 215, 404–405, 408, 409, 413–414
Hugolin von Orvieto  192n Thomas Bradwardine  192n
Thomas von Aquin  4, 28, 49n, 55n,
Johannes Buridan  14, 28n, 120, 188n, 63–65, 69, 70n, 71, 75n, 82, 91n, 120,
309n, 312, 314–315, 350n, 361n, 123–128, 129n, 130–154, 161–168,
363–401, 404–405, 409 169n, 170n, 178, 183–184, 187,
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432 Personenregister

198–202, 207, 223, 283n, 303, 321, Wilhelm von Ockham  4–8, 12, 14,
340n, 379, 404–405, 408, 410 17n, 24n, 30–31, 122n, 142, 150n,
205, 207–268, 272–277, 279–280,
Vital du Four  54, 61 285–286, 288, 292–294, 297, 300–
304, 307, 313–314, 316, 327n, 372n,
Walter Chatton  29–30, 211, 234n, 254, 378, 388, 404–405, 408, 414–415
259–261, 267, 268–280, 282, 286, Wilhelm von Ware  78, 81
288, 297, 302, 304–305, 317, 415n Witelo 407n
Wilhelm von Moerbeke  407

Autoren nach 1700

Adams, Marilyn McCord  19n, 208n, De Libera, Alain  367, 411n–412n


212, 217n, 232n, 236, 301n De Rijk, Lambert M.  7n, 120n, 365n
Aertsen, Jan A.  54n Denery, Dallas G.  239n, 313n, 332n
Albert, Hans  3n DeRose, Keith  117, 118n
Alston, William P.  344n, 373n Detel, Wolfgang  20n, 399
Anscombe, G. E. M.  136 Dodd, Tony  154n
Austin, John L.  45 Domanski, Juliusz  412n
Dutton, Blake D.  354n
Bakker, Paul J. J. M.  181n
Barnes, Jonathan  3n, 389n Flasch, Kurt  209
Bermúdez, José Luis  203n, 306n Floridi, Luciano  16n–17n, 407
Bianchi, Luca  24n, 412n Fodor, Jerry  226
Biard, Joël  7n, 188n, 222n, 391n Frede, Michael  26n, 406n
Blumenberg, Hans  8, 122 Fuhrer, Therese  18n
Boehner, Philotheus  6–8, 208, 211, Funkenstein, Amos  13, 14n
257n, 261, 262n
Boler, John  244n Garber, Daniel  135n
Borbély, Gábor  363n Geach, Peter T.  136
Bottin, Francesco  314n Gelber, Hester G.  24n, 164n, 192n
Boulnois, Olivier  101n Genest, Jean-François  192n
Brentano, Franz  4–5, 7 Gilson, Etienne  5–7, 8n, 13, 30, 36n,
Brower-Toland, Susan  137, 151, 152n 78n, 122, 208, 211, 228, 253, 257n,
Brower, Jeffrey E.  137, 151, 152n 300
Brown, Jerome V.  35n, 73n, 86n, 96 Goddu, André  217n, 227n
Burnyeat, Myles F.  52n, 138n, 283n, Grabmann, Martin  76n
406n Grant, Edward  24n
Greco, John  204n, 404
Chappuis, Marguerite  188n Gregory, Tullio  119n, 192n, 203n
Courtenay, William J.  13, 14n, 37n, Grellard, Christophe  17n, 313n, 327n,
122n, 164, 170n, 266n–267n, 292n, 334n–335n, 349, 353n–355n, 359n,
314, 343n 362, 377n, 396n
Cova, Luciano  281n, 284n
Cross, Richard  93n Haldane, John  136
Hankinson, R. J.  42n
Daston, Lorraine  165n Hasse, Dag N.  283n
Day, Sebastian J.  7n, 232n Hill, Christopher S.  204n
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Personenregister 433

Hoffmann, Tobias  100n, 208n Nussbaum, Martha  399n


Hume, David  309n, 338, 401 Nys, Theophiel  35n, 52n, 65n

Jenkins, John I.  130n O’Callaghan, John P.  136


Owens, Joseph  36n, 44n
Kaczmarek, Ludger  188n
Kaluza, Zénon  309n, 313, 324n, 357n Panaccio, Claude  213n–241n, 222n,
Kann, Christoph  54n, 56n, 82n 225n
Karger, Elizabeth  6n, 208n, 209, 211n, Paqué, Ruprecht  314n
232n, 235n, 243n, 254n, 261n Park, Katherine  165n
Kaufmann, Matthias  7n, 208n, 248n Pasnau, Robert  7, 36n, 51, 64n, 72n,
Kennedy, Leonard A.  6n, 122n, 301n 82n, 87n, 111, 124n, 126n, 136, 148,
Kenny, Anthony  6n, 122n, 254n, 309n 150, 166n, 169n
King, Peter  104n, 136n–137n, 289n, Paulus, Jean  63n, 69n, 73n
367n Perler, Dominik  12n, 15n, 52n, 55n,
Klima, Gyula  375n 64n, 88n, 91n, 100n, 103n–104n,
Knudsen, Christian  52n 124n, 130n, 137n, 166n, 169n,
Koppelberg, Dirk  112n 213n–214n, 217n, 239n, 271n, 348n,
Kretzmann, Norman  63n, 127n, 136, 367n
163n Pinborg, Jan  266
Pluta, Olaf  188n
Krieger, Gerhard  309n, 372n
Popkin, Richard H.  15
Porro, Pasquale  34n, 37n, 53n, 76n
Laarmann, Matthias  35n
Putallaz, François-Xavier  146n
Lee, Richard A.  210n
Putnam, Hilary  121, 137, 142–144,
Lehrer, Keith  177n, 366n
287n
Lenz, Martin  214n, 217n
Leppin, Volker  6n, 254n
Quine, Willard Van Orman  88, 89n
Limet, Henri  120n
Linsenmann, Thomas  120n Randi, Eugenio  164
Rashdall, Hastings  309n, 401
Macken, Raymond  35n, 73n Reid, Thomas  49
Maier, Anneliese  7n, 93n, 188n, 305 Ries, Julien  120n
Marenbon, John  35n Robert, Aurélien  7n
Marrone, Steven P.  35n, 36, 37n, 47n, Rorty, Richard  412n
54n, 56n, 65n, 73n, 76n, 84n Rosier-Catach, Irène  196n
Maurer, Armand  281n, 283n, 289n Roth, Bartholomäus  280n
Michael, Bernd  363n Rudavsky, Tamar  12n
Michalski, Konstanty  5–7, 26n, 208n, Rudolph, Ulrich  12n, 91n, 348n
253n, 300, 314n
Michon, Cyrille  208n, 221n Schabel, Chris  309n, 361n
Moody, Ernest A.  309n, 314n, 316n Schmitt, Charles B.  8n, 17n, 33n–34n,
Murdoch, John  24n, 411n 44n
Musil, Robert  1 Schmutz, Jacob  101n
Mutschmann, H.  16 Schönberger, Rolf  340n
Scott, T. K.  237
Nagel, Thomas  62n Serene, Eileen  20n
Nardi, Bruno  170n, 177 Smit, Houston  64n
Noone, Timothy B.  107n Smith, A. Mark  39n
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434 Personenregister

Solère, Jean-Luc  101n Thijssen, J. M. M. H.  309n, 314n,


Sosa, Ernest  238n 393n, 396n
Speer, Andreas  55n Tweedale, Martin M.  52n
Spruit, Leen  25n, 39n, 48n, 68, 124n,
150n Van Steenberghen, Fernand  36n
Steel, Carlos  37n Vernier, Jean-Marie  123n
Streveler, Paul A. 195n Vogt, Katja M.  48n
Striker, Gisela  42n
Stroud, Barry  3, 11, 403 Weinberg, Julius R.  313n, 336–337
Stump, Eleonore  64n, 71, 124n, 163n, Williams, Michael  3n, 30n, 86n, 366n,
201 406n, 412n–413n
Suarez-Nani, Tiziana  123n Wittgenstein, Ludwig  207
Wittwer, Roland  15n, 16, 407n
Tachau, Katherine H.  6n–7n, 25n, Wolfson, Harry A.  348n
39n, 48n, 52n, 79n, 195n, 208n,
211n, 216n, 273n, 314, 355n Zupko, Jack  361n, 367n–368n, 375n,
Tellkamp, Jörg A.  52n 377, 392n

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SACHREGISTER

Abbild  136, 184, 208, 218, 223, 249 121, 136, 140, 160, 182–183, 195,
absolute/r Entität / Gegenstand  256, 203–204, 220, 224, 248, 281, 299,
259, 288, 294, 303, 348 306–307, 309–13, 115, 152–157, 167,
Abstraktion / abstrahieren  39, 61, 371, 378, 382, 389, 391–393, 399–401,
63–65, 68–71, 73, 75–76, 82, 84, 414–415
98–99, 101–103, 105, 107–114, 124, Assimilation → Erkennen als
127, 130–131, 133, 138–140, 143, 154, ­Assimilation
168, 200, 224, 290 Astronomie 381
Akademiker / akademisch  8, 17–19, Atom / Atomismus  152, 182, 226,
27–28, 33–34, 41, 61, 95, 110, 156, 313, 350–351, 354–357, 359
170, 177, 188, 235–236, 301, 363 – semantischer Atomismus  222, 226
Akt-Theorie  217, 223
Akzidens → Eigenschaft, akzidentelle Augustinismus / augustinisch  17, 28,
Allmacht / Allmachtslehre  4–5, 36,-37 47, 51, 53, 75–76, 78, 84, 101,
7, 11–13, 22–26, 115, 118–119, 111, 163, 409
136–137, 163–164, 168, 170, 173–179,
185, 192–194, 197–199, 200, 202, Begriffsklärung  404, 411–413
253–254, 258, 260, 267, 287, 289, 263, Behauptungsbedingung 196
297–268, 301, 305, 328, 372, 381–382, Blinder / blind  87, 324, 353–354
401, 403, 406, 410–411
– methodische Funktion der All- Cartesianismus / cartesianisch  30–31,
machtslehre  13–14, 122–123, 170, 94–95, 121, 177, 203, 226, 228,
177, 178, 191, 256, 303, 306, 401 236–237, 255, 257, 301, 306–306, 401
→ Gott, absolute Macht → Wissen, cartesianischer Begriff
→ Hypothese, Allmachtshypothese Chimäre → fiktiver Gegenstand
analytisch  13, 36, 45, 97, 404, 411 Cogito-Argument  94–95, 177, 230
– analytische/r Aussage / Satz  86– complexe significabile  367
89, 96, 172, 174–175, 188, 191, 229,
297–299, 321, 385–386 Dämon / dämonisch  4, 115, 118, 120,
– analytische Erkenntnistheorie  412 123–136, 147, 154, 163, 169, 177,
– analytische Sprache  411 199–200, 203, 207, 254, 257, 401, 407
Anti-Aristotelismus / anti-aristote- Deduktion / deduktiv / deduzie-
lisch  142, 309–310, 312 ren  46, 176, 229, 230, 323
Antifundamentalismus / antifunda- Definition / definitorische Merk-
mentalistisch  228, 230, 399 male  30, 38, 68–69, 124, 130–131,
Antiskeptizismus / antiskeptische 146, 216, 243, 257–259, 296, 349, 366,
Strategie  6, 9, 15, 19, 21, 27, 34–35, 392, 412–413
45, 103, 120–121, 135–137, 142, 146, Denkakt  100, 124–128, 135–136, 144,
148, 150–151, 154, 160, 162, 175, 191, 150, 229, 237, 322, 344–345
200–201, 204, 207, 211, 253, 267, 300, – Modalität des Denkaktes  126
327, 331, 350, 362, 364, 396, 412 Dialektik / dialektisches Spiel / dialek-
Aristotelismus / aristotelisch  19–21, tisches Verfahren  8, 15, 27, 151,
24, 28–29, 36–37, 42–47, 51–52, 154, 162, 300
62–63, 73, 75, 84, 92–94, 110–111, Distinktion  248, 289
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436 Sachregister

– formale Distinktion  289 288–290, 314, 316


Dogmatiker / Dogmatismus / dogma- – essentielle Erkenntnis  54–55, 57,
tisch  3, 10–11, 42, 51, 75, 150, 188, 98
190–191, 286, 300, 307, 312, 330–332, – evidente Erkenntnis  9, 86–88, 182,
382, 406 187, 191, 219–222, 228, 233, 235, 243,
Dualismus 142 257, 259–262, 265, 277, 342, 415
– faktische Erkenntnis  53
Eigenschaft  19, 22, 25–26, 39–40, – Grund des Erkennens  50, 52, 74,
42–44, 48, 53–55, 57–60, 64, 66, 69, 78–80, 113–114
72, 74, 77, 93–94, 97, 104–106, 124, – intellektuelle Erkenntnis  39, 78,
132, 156, 159–160, 170, 174, 180–187, 222, 291
202, 214–215, 222–223, 224–225, – intuitive Erkenntnis  26, 30, 188,
240–241, 244–245, 249, 250, 255, 193, 208–211, 213, 229, 230–238, 243,
268–269, 278, 280, 283–284, 293, 252–255, 257–260, 275–278, 286,
306, 327, 337–339, 344–345, 347, 288–290, 292–293, 296, 303–305,
349–351, 354, 360–361, 375, 392–393, 316–320, 334, 411, 415
396, 400, 414 – konfuse Erkenntnis  153
– akzidentelle / kontingente Eigen- – sichere Erkenntnis  37–38, 40, 56,
schaft  98, 182, 216, 310, 225, 231, 72–74, 84–87, 89, 93, 96, 102, 122,
233, 392 170, 176, 191, 213, 216–218, 220, 266,
– wesentliche Eigenschaft  58–63, 67, 281, 296, 300, 318–319
77, 98, 207, 215–216 – sinnliche Erkenntnis  39, 53, 183,
Empirismus / Empirist / empiri- 186–187, 214, 222, 281
stisch  5, 9, 30, 71, 75, 133, 156, 158, Erkenntnisanspruch  182, 187–188,
211, 281, 331, 351, 353, 395 190–192, 199, 211, 281, 305–306
Engel  120, 123–124, 213 – natürlicher Erkenntnisan-
Erfahrung 7, 9, 89–92, 94, 185, 229, spruch  44, 78, 111, 113
242, 262, 264, 277, 292, 296, 321, 331, Erkenntnisprozess  6, 13, 36, 51–52,
338, 345, 386, 359, 372, 384–388, 82–85, 98–99, 107–109, 113–114, 120,
390–391, 393, 95, 397, 399, 403 123, 169, 185, 192, 204, 291–292, 305,
– Erfahrungsurteil 387 317, 321, 335
– innere Erfahrung  338, 345 – natürlicher Erkenntnisprozess  13,
Erinnerung / erinnern  232, 255, 261, 75, 80–84, 86, 108–109, 112–113, 123,
290, 322–323, 372, 286, 391, 393, 399 191, 254, 281, 261, 294
Erkennen / Erkenntnis passim – übernatürlicher Erkenntnispro-
– Erkennen als Assimilation  51–52, zess  25, 78–79, 81–83, 86–87, 89,
110, 112–113, 135–138, 207, 223, 248 98, 109, 111–113, 117, 120, 191, 194,
– Erkenntnis auf natürlicher Grund- 212–213, 253, 261, 294, 303, 305
lage  98–100, 112–113 Erkenntnisrealismus  211, 218, 232,
– Erkenntnis eigener Akte  94–95, 97, 249, 257
189, 300, 322, 339, 344–345, 349–350 Erkenntnistheorie  3, 10–11, 24, 29–30,
– Erkenntnis im natürlichen Zu- 33, 35, 84, 120, 125, 165, 177, 188,
stand  98, 112–113, 152 211, 214, 255, 266, 300, 307, 313–314,
– Erkenntnis von Nicht-Existieren- 389, 403, 406, 412, 416
dem  180, 208–210, 258 erscheinende/r Entität / Gegen-
– Erkenntnis von Substanzen  181– stand  12, 240–242, 244, 246, 252,
182 267–274, 282–284, 292, 303
– abstraktive Erkenntnis  230–232, Erscheinung  11, 18, 48, 109, 128, 154,
235, 252, 260–261, 276–277, 284, 156, 161, 173–174, 176, 178–179, 202,
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Sachregister 437

240, 243, 259–261, 310, 317–322, – essentielle/wesentliche Form  51–


324–328, 331–337, 341, 347, 351, 360, 53, 56
408 – universale Form 167, 185, 200,
– Erscheinung im vollen Licht  325, 207–208, 223, 303
328, 332, 337–338, 358, 397 – wahrnehmbare Form  51–53, 56,
– veridische / korrekte Erschei- 138, 184, 407
nung  259, 319–321, 328, 332–333, Fundamentalismus / fundamentali-
336–337, 341, 344–345, 347, 353–354, stisch  31, 177, 191, 204, 228, 230,
360, 401 239, 301, 311–312, 315, 325, 331–332,
Essentialismus /essentialistisch  9, 19, 338–339, 349–350, 352, 358, 363–364,
62–64, 69, 114–115, 215, 404, 410 370, 373, 387, 396–397, 399, 404
Evidenz  86–88, 97, 120, 187–189, – kriterieller Fundamentalis-
209–210, 221–222, 225–229, 231, mus 332–333
233, 235, 257, 260, 262, 297, 309–311, – minimaler Fundamentalismus  344
323, 326, 330, 332, 341–343,349, – monolithischer Fundamentalis-
361–362, 366, 369–370, 379–383, mus  350, 370, 373, 375, 397
398, 404, 415
– absolute Evidenz  188–189, 191, Gedankenexperiment  13, 25, 143,
202, 210, 380 168–169, 177, 179, 287
– natürliche Evidenz  380–381 Gemeinsinn  272, 282–283, 285, 291
– relative und bedingte Evidenz  189– Gewissheit  26, 44, 60, 95, 115,
191, 379, 381 122–123, 134, 174–177, 180–181,
– Evidenzerlebnis  218, 221, 226, 236 186, 188, 203–204, 211, 247, 253,
– Transfer der Evidenz  349 268–269, 275, 278, 280, 286, 291,
→ Erkenntnis, evidente 297, 300, 305, 309–312, 315, 322–324,
Existenzurteil  147, 174, 193–194, 210, 326–328, 331–332, 338–340, 343–352,
230, 233–234, 252, 258, 260–262, 354, 356, 358–360, 362, 364, 366,
276, 292–293, 296–297, 304, 316–317, 368–370, 373, 380, 383, 392–393,
327–328 397–398, 400, 414
Existenzweise  100, 142, 151, 284 – absolute Gewissheit  149, 177, 180,
– zweifache Existenzweise  140–141, 182–183, 187, 201–203, 210–212, 225,
145, 335–336 291, 297, 301–302, 306, 315, 409
Externalismus / externalistisch  38, – hypothetische Gewissheit  182,
121, 143–144, 147, 152, 237–238, 256, 187–188, 203, 280
262, 265, 301, 373, 377 Glauben  3, 5, 261, 322, 328, 332, 349,
358, 362–366, 368–369, 373, 380,
Fallibilismus / fallibilistisch  85, 398, 414
177–178, 230, 326, 399 – Akt des Glaubens  208–209,
Farbe / farbig  22, 25, 39, 42, 43, 51, 260–262
54, 66, 69, 79, 104–105, 170, 181, – begründetes Glauben  338,
183–186, 218, 222, 224, 233, 248–250, 352–354, 356, 358–362
279, 283–286, 329–330, 337, 347, 352, – falsches Glauben  366–367
354, 385, 392 – Platz für das Glauben  362–363
fiktiver Gegenstand  59, 129, 153, 227, Gott  4–6, 11–13, 23–24, 26, 34–36, 51,
248, 289 61, 64, 74–77, 79, 80–84, 91, 97–102,
Form  25, 51, 79–80, 107, 124, 135–146, 105, 109, 111–113, 118, 122–123, 125,
148–151, 153, 162, 165–166, 168, 132–135, 141, 143–146, 152–153, 162,
184–185, 190, 200–205, 207–208, 164–165, 168, 173–176, 179, 187, 192,
223, 303, 306, 310–311 202, 208–210, 216, 218, 225, 231,
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438 Sachregister

253–257, 259, 262, 270, 276–277, 279, → Modell, göttliches


280, 287, 289, 294–297, 307, 309, 328, Identität / Identitätstheorie  63, 86,
343, 348, 369, 371–372, 401, 403, 408, 136–137, 141, 148, 150–151, 184–185,
415 200–201, 249, 303, 319, 334, 336–337,
– Absicht Gottes  179, 194–195 346
– absolute Macht Gottes  13, 24, 119, – formale Identität  136, 141–142, 185,
122, 164, 197, 255, 258, 287, 381, 187, 190, 205, 207–209, 303
410–411 Illumination  9, 28, 34–36, 61–62, 64,
– Eingreifen / Manipulation Got- 73, 75–87, 89, 94, 97–99, 102, 105,
tes  4–6, 8, 14, 25, 83, 98, 113–115, 109–114, 117, 216, 405, 408
119–122, 136–137, 162–163, 169–170, Implikation / implizieren  156, 256,
172, 177–180, 182, 185–190, 192–196, 264, 321, 326, 342, 414
204, 208–210, 212–214, 233, 236–237, Individualismus 207–208
244, 253–258, 260–261, 263–266, Induktion / induktiv  47, 93, 312, 323,
274–275, 278, 280–281, 286, 288, 360–362, 393–394, 399
290–293, 296–299, 301–306, 317–318, – Induktionsproblem 393
320–321, 342, 378–379, 398, 406, 411, Infallibilität / infallibilistisch  64,
416 70–71, 75, 85–86, 90, 130–131, 149,
– geordnete Macht Gottes  118–119, 177, 211, 221, 229, 364, 390
164, 286 Inferenz / inferentiell  310, 318, 338,
– Gott als Täuscher  110, 115, 345–349, 351–352, 359
118–121, 163, 165–166, 178, 186–187, Inhärenz / inhärieren  225
192–201, 279, 292, 412, 416 Innatismus / innatistisch  20, 143, 384
– Gottes Güte  118, 179, 192, 194, Intellekt  10, 26, 39, 41–42, 47, 50, 53,
197–198, 192, 200–202, 258–259, 57–75, 78–84, 86–89, 97, 99–105,
289, 321, 379 107–109, 111–113, 122, 124–127,
– Gottes Wille  163, 178 130–146, 148, 150–153, 155–156, 158,
– Gottesstandpunkt  18, 327 161–163, 166–173, 177, 184, 200–205,
→ Allmachtslehre 207–208, 210, 213–217, 222, 224,
226–227, 229, 231, 233–235, 238,
Habitus  93, 217, 232, 238, 249, 259, 242–245, 265, 268–269, 272–273, 276,
384 282–283, 285, 303, 323, 334–336, 338,
Halluzination  71, 95, 147, 157, 180, 341, 353, 363–364, 379, 385, 388–390,
236 393–396, 398, 400–401, 408–409
Historiographie / historiogra- → Seele, intellektuelle  248, 408
phisch  6–8, 37, 404 intellektuelles Glück  411
Humeanismus / humeanisch  401 intentional / Intentionalität  95,
Hylemorphismus  135, 141, 148, 151 103–104, 125, 136, 151, 169, 245, 277,
Hypothese  1–2, 4, 12, 27, 29, 110, 115, 283–288, 291, 295
117–122, 126, 161–164, 166 170, 177, – intentionale Existenz  51–52, 100,
179, 197–199, 202–203, 236, 287, 300, 232, 240, 267, 271, 284
353–360, 362, 411, 416 – intentionales Objekt  100–101, 284
– Allmachtshypothese  173, 175–178, → Veränderung, intentionale
185, 191–192, 194, 256, 267, 297–298, Intentionalitätstheorie  52, 137, 288
303, 305–306, 382 Intentionalitätsthese  287, 296
→ Täuschung Intentionsbedingung 196
Internalismus / internalistisch  145,
Idee, göttliche  75–76, 101–102, 152, 237–238, 301, 324–325
133–135, 143–144, 216 Irrtum  44, 52, 58, 64, 71, 83, 89, 108,
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Sachregister 439

110, 149, 221, 267, 108, 110, 133, Mathematik / mathematisch  1, 141,
146–147, 149, 187, 189, 221, 228, 235, 176, 215, 220, 322, 351, 379
243, 245, 247, 252, 258, 263–264, 267, – mathematischer Gegenstand  364
273, 275, 285, 301–302, 304–305, mental  38, 167, 189, 200, 203–205, 208,
328, 360, 388–389, 391, 394, 404, 217, 223, 227, 229–230, 247, 286, 288,
408, 410 311, 322, 334–335, 337–339, 344–345,
Irrtumsanfälligkeit  58, 87, 89, 95, 177, 364–365, 370, 372
409 – mentaler Satz  214–223, 225–228,
Isomorphie 138 233, 238, 242, 301–302, 364–367, 370,
405
kataleptischer Eindruck  155, 319 – mentale Sprache  214, 225, 372
Kategorie / kategorial  103, 106, 135, – mentaler Terminus  220, 222,
286, 374 225–226, 242, 272,385, 392
Kausalrelation  5–6, 13, 23–24, 90–94, Mentalismus 365
101, 108–109, 119–120, 123, 129, 138, Metaphysik / metaphysisch  15, 47, 62,
154, 168–169, 172, 185, 190–192, 204, 69, 82, 107, 112, 114–115, 123, 125,
208, 221–223, 225–227, 137, 243–244, 128–129, 134–135, 141–142, 148,
249–251, 253–254, 257, 262, 287, 298, 150–151, 167, 185, 200–202, 223, 226,
310, 312, 321, 346, 348–349, 358–359, 303, 306–307, 310, 357, 359, 374–375,
361–362, 364, 372, 386, 396 378, 389, 392–393, 395, 399–401,
– Manipulation einer Kausalrela- 405–406, 414
tion 119
– metaphysisches Mittel  353–354
Kognitionstheorie  42, 48, 62, 103, 124,
methodische Probleme  29–31
130, 133–136, 142, 242, 407
Modell  9, 14, 29, 31, 35, 48, 52, 55–60,
Kohärenz / kohärent / Kohärentismus
71, 80–83, 59–61, 71–73, 75–78,
/ kohärentistisch  132, 134, 149,
80–83, 85, 102, 109–111, 113–114,
161–162, 200, 248, 264, 266, 278–279,
140, 143, 145, 207, 209, 213, 215–216,
302, 305, 326, 333, 336, 354–356,
223–224, 228, 232, 244, 247, 313, 327,
358, 374–375, 382, 387, 396–397, 399,
404 410
Konfiguration / konfigurieren  139– – ewiges Modell  9, 215
141, 335 – göttliches Modell  77, 80, 82–83
Konglomerat  124, 290, 350 – ideales Modell  76–77, 85, 89, 94,
Korrespondenz / korrespondie- 99, 113
ren  38–40, 56, 119, 134, 161, 217, – stabiles Modell  57–61, 71–73, 114
232, 248, 279, 313, 333, 367 – zweifaches Modell  77, 81–82
Kriterium / Kriterienproblem  18, 25, Mögliches  13, 253, 411
41–43, 59, 95–97, 129, 149, 156–159, – absolut / logisch Mögliches  1,
195, 217, 237–239, 246–248, 251, 264, 23–25, 122, 253
271, 278–279, 282, 285, 296, 302, 327, – physikalisch / naturgesetzlich
329, 331–333, 369, 375, 408 Mögliches  1, 23–25, 122
– psychologisches Kriterium  251
Naturalismus / naturalistisch  43–44,
Licht  43, 74, 78–80, 83, 101, 283, 285, 64, 99, 111–114, 226, 237, 246, 375,
323, 325, 328, 330–333, 337–339, 359, 377–378, 389, 395
397, 401 Naturgesetz / naturgesetzlich  13,
– Lichttheorie 79 23–25, 28, 119, 343
– natürliches Licht  132, 133, 318 Naturphilosophie / naturphiloso-
Lüge / (be)lügen  118–119, 121, 192, phisch  23–24, 92–93, 310, 380–381,
196–197 391–392, 414, 416
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440 Sachregister

Nezessitarismus 24 – erstes Prinzip  14, 46–47, 188,


Nominalismus / nominalistisch  142, 338–356, 358–359, 362–364, 366,
336, 399 370–372, 375, 383, 397–400
– Harmonieprinzip 356
objektive Existenz  100, 218, 334–336 – Kausalprinzip 90–92
Occasionalismus / occasionali- – Prinzip des gegenseitigen
stisch  91, 348 ­Nutzens  357
Ockhamismus / ockhamistisch  5, 8, – Prinzipienproblem  390, 395
14, 184, 266–267, 313–314 – synthetisches Prinzip  386–387, 391
Offenbarungsschriften  13, 369 – Verbindungsprinzip 356
Ontologie / ontologisch  12, 14, 22,
– Vollkommenheitsprinzip 357
54–55, 70, 103, 105, 180, 182, 185,
Pyrrhonismus / pyrrhonisch  3, 8,
207–208, 239–241, 243–245, 249,
11, 15–17, 41, 48, 109, 156, 195, 363,
255–258, 268–269, 286, 303, 336,
405–407, 412
340–341, 343, 345, 367, 384
Optimismus / optimistisch  108, 132, – pyrrhonische Krise  15
201–202
– epistemologischer Optimis- Quantität 360
mus  132, 134, 148, 163, 187, 200,
202, 306 Realismus / realistisch  62, 142, 223,
– metaphysischer Optimismus  200 336, 359
– theologischer Optimismus  163, Rechtfertigung  2–5, 15, 24–26, 38, 45,
200, 202 172, 178, 238, 266, 313, 315, 368–370,
Ordnung  122, 125, 164–166, 200, 262, 372–384, 397–399, 404, 413
319, 340, 343, 356, 374–374 – letzte Rechtfertigung  330–331, 383
– epistemische Ordnung  122, – Rechtfertigungsstruktur 266
164–165 – Rechtfertigungstrilemma  2–4, 330
– kontingente Ordnung  164, 306, Relation  24, 64, 76–77, 82, 99, 104,
343 109, 112–113, 119, 124, 126, 134, 137,
– natürliche Ordnung  13, 23, 141, 143–146, 150–154, 159, 169, 185,
122, 164–165, 192, 202, 225, 286, 190, 200, 207, 216, 218, 226, 247, 264,
305–306, 391, 411 269, 271, 287–289, 294, 296, 302, 306,
318, 333–334, 336–337, 347–350, 359,
Partizipation  64, 75, 82, 133–134, 200 386, 411
Phantasievorstellung 248–253 relationale Seinsweise  284
Physik  214–215, 374 Relativismus / relativistisch  182, 325
Platonismus / platonisch  28, 36–37,
Reliabilismus / reliabilistisch  204,
76, 90, 111, 384, 404, 410
238–239, 246–248, 252, 301, 303–
Plausibilität  151, 162, 337, 353, 357, 409
304, 326, 377–378, 389, 395, 404
Pluralismus / pluralistisch  373, 375,
382, 387, 397 Repräsentation / Repräsentationalismus
Prädikat  56, 127, 222, 229, 367 / repräsentationalistisch  10, 49,
Prämisse  19–21, 45–47, 77, 110, 134, 51–52, 104–106, 136–137, 188, 218,
141, 220, 241, 298–299, 330 232, 249, 270, 335, 404
Prinzip  14, 46, 48, 52, 90–91, 95, 96,
120, 156, 158, 171–172, 194, 227, 244, Schlaf / Schlafzustand  59–60, 91,
255, 257–258, 282, 311–313, 331, 357, 157–158, 227, 250–251, 324
370–375, 383–388, 390–399, 405, 409 Schöpfungstheologie / Schöpfungs­
– allgemeines Prinzip  20, 86, 96, theorie  64, 123, 134–135
358, 393–395 Seele  5, 26, 34, 70, 152–153, 183, 189,
– analytisches Prinzip  385–386 243, 277, 309–310, 338, 407–408
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Sachregister 441

– intellektuelle Seele  248, 408 – sprachliche Struktur des Den-


– sensitive Seele  126, 245, 248 kens  224–225, 250
– Seelenruhe  11, 17, 406 – Sprachphilosophie / sprachphiloso-
Sinnestäuschung  1, 11–12, 14, 17–18, phisch  15, 196, 214
20, 33, 40–41, 43, 90, 96, 131–132, → mentale Sprache
147, 155, 157, 169, 177, 180, 207, Syllogismus / syllogistisch  19–20, 46,
212–214, 228, 230, 236, 239–248, 220, 298–299, 310, 383, 409
252, 258, 263, 267, 269, 273–275, Synonymie 88
281–283, 285, 292, 297, 302–304, 316, synthetische/r Aussage / Satz  89, 191,
318, 320–321, 323, 325, 327, 363–374, 229, 297, 386–387, 391
378, 387–388, 390, 403, 406, 408
skeptisch / Skeptizismus passim Täuschung / täuschen  1–2, 4, 17–19,
– Außenwelt-Skeptizismus  53, 62, 30–31, 37–38, 40–41, 43, 45, 53, 95,
110, 121, 129, 135–136, 148, 154, 161, 108, 115, 118–120, 128–129, 131–132,
169, 174, 182–183, 185–186, 200–203, 134–135, 146, 160, 162–164, 170–174,
208, 211, 226–227, 257, 274, 290, 319, 178, 186–187, 192–200, 203, 208,
338 210, 221, 227, 230, 238, 242–243, 266,
– Bedeutungsskeptizismus 174 273–274, 279, 282, 285, 291–292,
– erkenntnistheoretische Funktion des 300–301, 303, 322, 324, 326, 328–329,
Skeptizismus  3, 15, 33 331, 376, 379–381, 388, 390, 398, 401,
– methodische Funktion des Skepti- 406–408, 410–411, 416
zismus  10–11, 15, 27, 111, 187, 199, Tautologie / tautologisch  341, 346,
404–405 348–349, 359, 372
– skeptische Krise  191 Teleologie / teleologisch  389
– Skeptizismus als Position  7–10, Terminus  86–91, 96–97, 171, 174–176,
15, 34, 37, 85, 169, 190, 212, 267, 318, 178, 189, 217, 219, 221–231, 233–234,
361, 396, 398, 404–405 242, 250, 297–298, 321, 348, 367,
– Skeptizismus bezüglich natürlicher 385–386
Erkenntnisfähigkeiten  78, 93, 123 → mentaler Terminus
→ Akademiker Theologie / theologisch  5, 7, 11–14,
→ Pyrrhonismus 22–23, 28, 37, 76, 118–121, 123,
Solipsismus  25, 319, 337 134–135, 163–164, 180, 192, 199–202,
Species  10, 25–26, 28, 39, 48–53, 253, 258, 291, 301, 314, 321, 343, 369,
56–57, 64, 68, 79–80, 99, 102–109, 380- 382, 398, 401, 410–411, 415–416
124–127, 130, 138–140, 143–154, – theologische Spekulation  381–382
162–169, 185–186, 200, 232, 252, 273, Tier  83, 214, 243, 250, 290, 330
278, 335, 379, 388, 410 Transsubstantiationslehre  181, 225
– ausgeprägte Species  66–67 transzendentales Argument  146, 150
– eingeprägte Species  65–67, 104 Traum / träumen  18, 40, 59, 71, 87,
– intelligible Species  10, 25, 39, 48, 91, 95, 110, 120, 148–149, 154–162,
50–52, 56–57, 63–64, 67, 69–70, 98, 236–237, 274, 324, 328, 363
102–103, 111–112, 114, 124, 184, 200, – Traumargument 148–149
202, 223, 225, 232, 273, 335, 410 – Traumbild  17, 154–155, 161–162
– sensible Species  10, 39, 48, 51,
183–184, 186, 188, 202, 249 Universalien 255
– Species im Medium  273–274, 355 – Universalienproblem 244
Sprache / sprachlich  72–74, 81, 88, – Universalienrealismus  69, 82, 107,
175, 214, 218, 225–227, 250, 299, 302, 151, 167, 202, 207, 336
345, 372, 411 – Universalismus-These  141
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442 Sachregister

Universalität / universal  67–74, 81, 84, Wahnsinn 17–18


98–99, 102, 105–109, 114, 141, 167, Wahrheit / wahr  8–9, 18–21, 37, 42,
185, 200, 207–208, 223, 303 51, 53–55, 60, 71, 74, 87, 89, 100,
Ursache / verursachen  80, 86, 90–93, 110, 131–133, 164, 171, 174–177, 180,
101, 108–109, 123–124, 129, 152, 188–189, 192, 195, 197, 210, 216–221,
167, 187–188, 193–194, 197, 204, 223, 227–230, 233–236, 238–239,
209–210, 222, 224, 226–227, 242, 242–243, 245–248, 252–253, 257,
249, 258, 260–262, 275, 278–279, 287, 259, 261, 263–266, 276–277, 282,
290, 295–296, 304, 309, 312, 348, 296–305, 307, 310, 317–318, 320,
358–359, 379, 380 322–323, 325, 330–333, 340–344,
– primäre Ursache  23, 187, 190, 194, 346–347, 349, 351, 359–360, 366–368,
295 370, 373, 383, 385, 388, 390–391, 395,
– sekundäre Ursache  23, 189–190, 397–400, 405, 409, 415
194, 202, 295 – erste Wahrheit  132–134, 200, 202
– Wirkursache  310, 361 – ontologischer Wahrheitsbe-
Urteil / Urteilstheorie  6, 18, 54, 56, griff 54–55
64, 96, 109, 125–127, 131–134, 156, – Wahrheitsbedingung 221–222,
158–159, 161, 170–174, 177–181, 185, 367–368
192–196, 200–201, 208–210, 218, – Wahrheitsgarantie  131, 317,
230–236, 238–239, 242–248, 250, 320–321
252–253, 255, 257–266, 272–277, Wahrnehmung  5, 12, 20–21, 24, 39, 43,
45, 48, 52–53, 57–58, 63, 71, 74, 77,
282–283, 285, 288, 291–293, 296–
79–80, 89, 95, 102, 105, 107, 126–129,
300, 303–305, 316–317, 325, 376–379,
131–132, 143, 153, 160–162, 180,
381, 386, 388–390, 393, 406, 408
183–187, 189–194, 216, 222–228, 231,
– Urteilsvermögen 388
233–236, 239–244, 249, 251, 267–268,
273–274, 277, 282–286, 288, 292–293,
Vakuum 24
323–324, 326–332, 339, 345–346, 350,
Veränderung  19, 21–22, 35–36, 39,
352, 354–355, 358–359, 368–369, 372,
54, 57–58, 65–67, 70–71, 79, 85, 98, 376, 378, 379, 382, 385–391, 396, 399,
104–105, 124, 127–128, 138, 144, 165, 408–409
175, 181–182, 249, 284–285, 302, 355, – Fehlwahrnehmung 286
374, 411 – nicht-veridische Wahrneh-
– intentionale Veränderung  103–104, mung  246, 268, 271–272, 282, 286,
138, 283–286 327, 329
– reale Veränderung  103–104, 283, – Selektion in der Wahrnehmung  224
285 – veridische Wahrnehmung  243, 246,
Verschiedenheit 92 268, 270, 282, 316, 327, 329–331, 408
– reale Verschiedenheit  255–256 – Wahrnehmungsbedingung 43–45,
→ Distinktion 53, 83, 147, 170, 227, 235–236, 239,
Verstehen  41, 67–68, 137, 152, 218, 241, 247, 271, 274, 285–286, 297–299,
298, 338, 384, 412, 414 303, 326, 329–330, 388, 393
Verurteilung (Paris  1277) 23–24, 28, – Wahrnehmungsgegenstand 56,
410 226, 238, 323–324, 355
Vorstellungsbild  24, 39–40, 43, 48, – Wahrnehmungsurteil  24, 131–132,
56, 59–61, 63–65, 67–76, 80–83, 94, 177, 247–248, 266, 397, 377, 408
98–99, 102–110, 112, 114, 124–133, – Zuverlässigkeit der Wahrneh-
138–140, 143–145, 147, 149, 152–155, mung  44, 87, 180, 159, 282
162–163, 168–169, 171, 173–174, 200, Wahrscheinlichkeit  21, 60, 62, 149,
274, 306 332, 357, 360, 362, 407
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Sachregister 443

– wahrscheinliche Argumente  353– – Wissen im weiten Sinne  38, 55,


356, 359, 361–362 61–62, 75, 366
Widerspruch, Satz vom / Wider- – Wissensanspruch  2–6, 8, 10–11,
spruchsfreiheit  22–23, 41, 47–48, 19, 21–22, 24–31, 99, 121, 154, 160,
119, 164–165, 259, 311–313, 340–343, 176–177, 179, 186, 219, 239, 264, 278,
352–353, 370–372, 397–398, 405 280, 300, 309–315, 319, 331, 336, 339,
Wille / Willensentscheid  125–126, 350–351, 358, 361, 363–364, 371, 376,
135, 163, 178, 229, 233, 338 379, 382, 396–397, 400, 403–405,
Wissen passim 411–416
– angeborenes Wissen  90 – Wissensbegriff  3–4, 9–11, 15,
– aristotelischer Begriff von 19, 21, 33, 35, 60, 74–75, 114,
Wissen  19–21, 28, 299, 313, 315, 213, 215–221, 301, 315, 352, 364,
399, 415 404–406, 411–416
– cartesianischer Begriff von – Wissensfundament  30, 227–228,
Wissen 30–31 230, 300, 323, 333, 337–338, 364, 405
– demonstratives Wissen  20–21, – Wissensobjekt  26, 61, 214–215, 367,
29–30, 299, 310, 312, 366, 383, 390, 374, 408
392, 395, 409 – Wissensparadox (Menons Paradox)
– dispositionales Wissen  217, 238 45
– Wissenssubjekt  61, 121, 213–214,
– essentialistische Auffassung von
219, 416
Wissen  9, 19, 62–63, 75–76, 114,
– Wissenssystem  22, 121, 176–177,
215, 404
230, 364, 373, 377
– fundamentalistische Auffassung von
Wissenschaft / wissenschaftlich  14, 17,
Wissen  31, 177, 228, 239, 301, 325,
23–24, 214, 216, 220, 291, 357, 374,
331, 339, 349–350, 352, 358, 363–364,
383, 393
370, 373, 396–397, 399, 404 Wort, inneres  126–127
– inferentielles Wissen  310 → mentaler Terminus
– Möglichkeit von Wissen  27, 33–34, Wunder  165, 190, 305, 342–343
46, 117–119, 215, 228, 304, 306, 311,
313, 362–363, 401, 404, 406, 412, 415 Zeichen, äußeres  123–124, 128–129
– natürliches Wissen  13, 34–35, 75, Zirkularität / zirkulär  320, 375, 382
95, 114, 380–381, 408 Zustimmung  155, 176, 188–189,
– propositionales Wissen  38, 197–198, 219–220, 228, 233, 235,
214–215, 365–366, 384 237–238, 242, 243, 252, 257, 259, 262,
– repräsentationalistischer Begriff von 299, 325, 360, 365–370
Wissen  10, 49, 404 Zweifel  2, 27, 94–95, 114, 161, 172,
– stabiles Wissen  22, 34, 62, 65, 175, 177, 190, 210, 218–219, 233, 255,
73–74, 110–112, 117, 382 266, 280, 290, 297–298, 300, 303,
– unbezweifelbares Wissen  21, 305–306, 368–369, 380–381, 401, 406
94–95, 172, 176–177, 191, 228, 298, – Epistemologisierung des Zwei-
300–301, 405 fels  407, 409–410
– untrügerisches Wissen  219 – hyperbolischer Zweifel  203, 306
– Wissen im strengen Sinne  11, 19, – methodischer Zweifel  173, 175–177
21, 30, 55–57, 59–61, 75, 78, 110, 300, – Zweifelsfreiheit 219
338, 409, 414 Zwillingserde 143–144
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