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© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: ULB Bonn Sa,
Aug 14th 2021, 11:10
Etwas
geschieht durch mich
Menschliches Handeln und
die Kontingenzen der Kausalität
RoteReihe
Klostermann
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Peter Stemmer
KlostermannRoteReihe
Originalausgabe
Inhalt
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
6 Inhalt
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
Vorbemerkung
§1
Einleitung und Fragestellung:
Was heißt es, dass etwas durch mich geschieht?
1. Dieses Buch will darlegen, wie es zu verstehen ist, dass etwas
durch mich geschieht, dass ich es bin, der etwas tut, der etwas in
Gang setzt und mit seinen Handlungen in die Welt eingreift. Wer
das hört, wird sich wundern und fragen, wo das Problem sei. Dass
es in unserer Macht ist, zu bewirken, dass etwas geschieht, scheint
doch eine Selbstverständlichkeit zu sein. Es ist offenkundig, dass es
so ist. Wie also kommt es zu dieser Frage? Der Alltag stellt sie nicht.
Im Alltag gehen wir völlig fraglos davon aus, dass Dinge durch uns
geschehen.
Es reichen jedoch wenige gedankliche Schritte aus, um zu ver-
stehen, was an diesem »durch mich« problematisch ist und dass die
Frage, wie es zu verstehen ist, grundlegend ist und uns existentiell in
Schwingungen versetzt. Mit ihr wird nicht weniger aufgeworfen als
die Frage, was für Wesen die Menschen sind und was es mit ihrem
Dasein in diesem Universum auf sich hat.
Als Erstes muss man sich Folgendes vor Augen halten: Die Men-
schen bestehen vollständig aus physikalischen Teilchen, wie alles
andere in der uns bekannten Welt auch. Und diese Materieteilchen
gehorchen genau den Naturgesetzen, denen alle anderen Dinge auch
gehorchen. Dies bedeutet zum einen, dass das Mentale selbst Teil des
Physischen, also selbst etwas Physisches ist. Unser geistiges Leben
ist das Ergebnis einer unermesslichen Zahl chemischer Prozesse im
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2. Wenn die Menschen in dem erläuterten Sinne Teil der Natur sind,
kann es nicht anders sein, als dass das, was wir über die generelle
Struktur der physikalischen Wirklichkeit wissen, auf das Verständ-
nis der menschlichen Existenzweise zurückwirkt. Wer wissen will,
was die Menschen sind und wie sie funktionieren, kann sich dieser
objektiven Perspektive nicht entziehen. Tatsächlich ist sie für unser
Selbstverstehen maßgeblich. Auf welchem Wege es vor diesem Hin-
tergrund zu der Frage kommt, wie es zu verstehen ist, dass etwas
durch mich geschieht, zeigen die folgenden Überlegungen.
Über mehrere Jahrhunderte, bis in die erste Hälfte des 20. Jahr-
hunderts, nahm man unangefochten an, die Welt unterliege deter-
ministischen Gesetzen. Das gilt selbst für Philosophen wie Descar-
tes und Kant, nur dass sie, Dualisten, die sie waren, einen Teil der
Menschen, ihren Geist oder ihr intelligibles Ich, ausnahmen. Auch
heute, nachdem die deterministische Konzeption fraglich geworden
ist, ich komme gleich darauf, sagen uns die Experten der Physik,
dass man zwar nicht einfach von der Wahrheit des Determinismus
ausgehen kann, dass wir aber auch nicht wissen, dass er falsch ist. Es
kann sein, dass er wahr ist und die Wirklichkeit insgesamt determi-
nistisch strukturiert ist. Falls es so ist, gibt es für alles, was geschieht,
eine vorgängige hinreichende Ursache, die festlegt, dass die Wirkung
eintritt. Die Wirkung ist die notwendige Folge ihrer Ursache oder
besser des Zusammenspiels ihrer Ursachen. Sie muss, gegeben die
abspielen.2 Eine Person sei aber nicht einfach der Ort eines Gesche-
hens. Und das »durch mich« stehe, so verstanden, gerade nicht für
eine aktive Rolle des Handelnden und nicht dafür, dass der Han-
delnde etwas beginnt und in Gang setzt.
Es sei wenigstens angemerkt, dass die Metapher der Arena, die
hier verwandt wird, keineswegs so unschuldig ist, wie sie vielleicht
auf den ersten Blick erscheint. Die Vorstellung der Arena lässt den
Zuschauer assoziieren, der anschaut, was da in der Arena vor sich
geht, der aber an dem Geschehen nicht beteiligt ist. Was da passiert,
geschieht ohne ihn. Diese Assoziation führt den Gedanken jedoch
auf Abwege, weil sie ein Ich voraussetzt, das außerhalb des in der
Arena sich abspielenden kausalen Geschehens steht. Das ist, wenn
man das Ich als Ort des Geschehens versteht, aber gerade nicht im-
pliziert. Die Metapher der Arena verzeichnet also das, was sie kriti-
siert. Außerdem kommen in der Vorstellung eines Ichs jenseits der
kausalen Ereignisfolge unversehens mitgeschleppte dualistische Be-
stände zum Vorschein: hier das kausale Geschehen und ihm gegen-
über, außerhalb, das Ich. Das zeigt, wie zwiespältig diese Metapher
ist, und es zeigt auch, wie schwierig es ist, nicht gleich am Anfang
der Untersuchung in irreführende Assoziationsbahnen zu geraten.
Es ist, lassen wir die Metaphorik beiseite, dennoch sehr klar, dass,
das Ich als Ort des einer Handlung vorgängigen Geschehens zu ver-
stehen, weniger ist als das, was gemeint ist, wenn wir sagen, dass
etwas durch mich geschieht oder dass ich etwas tue. Wir verbinden
damit zweifellos einen stärkeren Sinn. Wenn man die Vorbehalte ge-
genüber diesem minimalen Verständnis des »ich« und »durch mich«
in einer Formulierung bündeln wollte, könnte man sagen, was fehlt,
sei eine stärkere Beteiligung des Ichs. Was fehlt, ist der aktiv Han-
delnde. Wie eine stärkere und durch die Tatsachen gedeckte Kon-
zeption des Ichs und des aktiven Handelns aussehen kann, ohne die
Einsicht aufzugeben, dass es kein Ich jenseits des kausalen Gesche-
hens geben kann, wird die zentrale Frage dieses Buches sein.
3. Die Annahme, die Welt sei in toto deterministisch strukturiert, ist,
wie schon erwähnt, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts frag-
lich geworden. Die moderne Quantenphysik lehrt, dass es auf der
2 Nur ein Beleg für viele: J. D. Velleman: What Happens When Someone
Acts (1992), in: J. D. V.: The Possibility of Practical Reason (Oxford 2000),
123–143, 123.
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deshalb würde sich ebenfalls die Frage stellen, was es angesichts des
kausalen Geschehens bedeuten kann, dass ich etwas tue und dass
das, was geschieht, durch mich geschieht. In dem jetzt imaginierten
gemischt indeterministisch-deterministischen Szenario bräche wie-
derum (womöglich sogar in verschärfter Form) die Frage auf, wo in
dem kausalen Geschehen der Akteur ist, der etwas initiiert und in
Gang setzt. Wo ist mein Anteil an dem, was geschieht? Diese Frage
verschwindet also nicht. Man kann sie zunächst genauso beantwor-
ten wie im Fall eines deterministischen Geschehens: Die Handlung
ist zumindest insofern meine, als sich das kausale Geschehen in mir,
in dieser Person und in keiner anderen abspielt. In diesem – schwa-
chen – Sinne kommt die Handlung aus mir, in diesem Sinne tue ich
sie und geschieht, was geschieht, durch mich. Das Ich wäre in diesem
Sinne wieder der Ort des Geschehens. Auch hierin läge also kein
Unterschied zu dem deterministischen Fall.
Nichts deutet, so meine ich, darauf hin, dass die Tatsache, dass
der kausale Prozess ein Zufallselement enthält, den Sinn des »ich«
und »durch mich« in irgendeiner Weise verstärken könnte. Es gibt
ein kausales Geschehen an einem bestimmten Ort, und das wirft
wie im deterministischen Fall die Frage auf, wie wir das mit unserer
Vorstellung eines Akteurs zusammenbringen können. Und hier wie
dort nagt der Verdacht, dass das nicht möglich sein wird und dass
wir, sowohl wenn der Determinismus wahr ist wie auch wenn wir
einen Indeterminismus in der jetzt imaginierten Spielart unterstellen,
nicht wirkliche Handelnde sein können.
Manche inspiriert die Vorstellung indeterministischer Zufälligkeit
zu hochfliegenden Ideen. Man glaubt, Indeterminismus bedeute so
etwas wie eine Lücke im kausalen Gang, als bleibe die Welt für ei-
nen Moment stehen und wisse nicht, wie es weitergehen soll. Diese
Lücke könne sich der Handelnde zunutze machen, gewissermaßen
in sie hineinspringen und in ihr entscheiden, ob a geschehen wird
oder b. Auf diese Weise gewönne, so die Conclusio, die Vorstellung
des Ichs und des »durch mich« einen neuen und sehr viel stärkeren
Sinn. Natürlich sind das nur Phantastereien. Die Vorstellung einer
Lücke im kausalen Gang ist gewiss falsch. Solche Lücken gibt es
nicht. Und wer sollte dieser Akteur sein, der hier eingreift? Er wäre,
wie es scheint, nicht Teil des kausalen Geschehens, sondern würde
von außen eingreifen. Damit stieße man erneut auf einen Akteur, der
neben und außerhalb der kausalen Geschehensfolge steht. Und was
sollte das für eine Entscheidung sein, die hier getroffen wird? Wo
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kommt sie her? Man muss sehen, dass für die Idee, ein Akteur könne,
unverursacht, neue Kausalketten initiieren und auf diese Weise der
Autor seiner Handlungen sein, unter indeterministischen Prämis-
sen genauso wenig Platz ist wie im Determinismus. Auch unter in
deterministischen Bedingungen ist alles Teil der Natur, und alles
unterliegt den Naturgesetzen. Dasselbe gilt für die offen dualistische
Idee einer übernatürlichen geistigen Instanz oder etwas Ähnlichem.
Auch dafür ist im Indeterminismus kein Platz.
Wenn wir von den Phantasiegebilden, zu denen die Vorstellung
indeterministischer Zufälligkeit verführt, absehen, bleibt es bei dem,
was schon gesagt wurde. Auch in dem indeterministischen Szenario,
lassen wir offen, wie realistisch es ist, ist eine Handlung das Produkt
einer bestimmten kausalen Ereignisfolge. Und damit stellt sich die
Frage, was es bedeuten kann, dass ich etwas tue.
5. Die Frage nach dem aktiven Ich hat einen Zuschnitt, wie er für
philosophische Probleme typisch ist: Man hat zwei sehr elementare
Überzeugungen, von jeder glaubt man, sie auf keinen Fall aufgeben
zu können. Und doch scheinen sie sich auszuschließen. Man sieht
nicht, dass sie sich verbinden lassen, so dass man doch gezwungen
scheint, eine zugunsten der anderen zu opfern. Auf der einen Seite
ist man überzeugt, dass die Menschen und das, was sie tun, Teil der
Natur sind, und auf der anderen Seite ist man genauso fest über-
zeugt, dass wir aktiv Handelnde sind, dass es in unserer Macht liegt,
bestimmte Dinge geschehen zu machen. Wie ist das miteinander zu
verbinden?
Dass eine minimale Antwort in jedem Fall möglich ist, haben
wir bereits gesehen. Eine Handlung ist meine, weil ich es bin – und
niemand sonst, in dem sich das ihr vorgängige kausale Geschehen
abspielt. Die Handlung kommt deshalb aus mir; was geschieht, ge-
schieht in diesem Sinne durch mich. Diese Konzeption des Ichs und
des »durch mich« ist klar und in sich plausibel, aber sie ist, wie ge-
sagt, äußerst schwach. Es fehlt, so unser Gefühl, das Entscheidende.
Dieses Gefühl ist in vielfacher Weise artikuliert worden. Oft wird
gesagt, der Handelnde sei nicht nur ein Transit-Raum, den die kau-
salen Prozesse passieren, er sei nicht bloß ein passives Medium und
deshalb ohne Einfluss auf das, was geschieht. Was fehlt, sei der Han-
delnde als Quelle und Urheber dessen, was geschieht. Der Han-
delnde sei, so eine weitere, uns schon bekannte Formulierung, nicht
nur die Arena, in der sich das Geschehen abspielt, an dem er bes-
tenfalls als Zuschauer und Dabei-Steher beteiligt ist. Er sei, so wird
auch gesagt, nicht nur ein hilfloses Opfer der Dinge, die in ihm ab-
laufen. Eine Person, die registriert, dass ihr rechter Arm auf Grund
eines kausalen Geschehens hochgeht, sei etwas völlig anderes als
eine Person, die ihren Arm hochhebt. Es fehle das Selbst, dass der
Handelnde selbst etwas tue, die, so ein Ausdruck in der stoischen
Philosophie, autopragia. Oder man pocht darauf, dass der Han-
delnde jemand ist, der überlegt, der sich auf Gründe bezieht und
aus Gründen handelt. Und das Reich der Gründe sei etwas grund-
sätzlich anderes als das Reich der Ursachen.
Diese Formulierungen und Gedanken bringen ein starkes Unbe-
hagen zum Ausdruck. Sie alle sind von dem Eindruck bestimmt, dass,
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wenn die Menschen und ihre Handlungen Teil der kausalen Welt
sind, sich eine ihrer zentralen Eigenschaften zu verflüchtigen droht,
die Eigenschaft, Handelnde zu sein. Dieses Unbehagen ist vollkom-
men berechtigt. Aber zum Teil wirken die Formulierungen, in denen
es zum Ausdruck kommt, hilflos, weil sie nahelegen, das, was fehlt,
dort zu suchen, wo es nicht zu finden sein wird. Zum Teil wecken
sie fehlgehende Assoziationen und suggerieren mehr oder weniger
offen, wie am Arena-Vergleich schon erläutert, die dualistische Idee
eines Ichs neben oder über dem kausalen Geschehen und gehen da-
mit gleich von Anfang an in die falsche Richtung. Auffallend ist auch
der hohe Anteil von Metaphern und anderen rhetorischen Mitteln.
Man muss damit vorsichtig sein und darf sich nicht durch falsche
Assoziationen und irreführende Metaphern verhexen lassen. Allzu
viele Philosophen haben sich in dieser Sache von falschen Bildern
gefangen nehmen lassen.
6. Ich kann jetzt die Themafrage dieses Buches noch einmal formu-
lieren: Welche Tatsachen erlauben es, das Ich des Handelnden als
mehr zu verstehen als bloß den Ort eines kausalen Geschehens? Wie
können wir in einem stärkeren Sinne verstehen, dass etwas durch
mich geschieht und ich etwas tue? Oder, etwas anders gewendet:
Was macht die Ichhaftigkeit unseres Handelns wirklich aus? Welche
Antwort ist durch die Fakten unserer Existenz gedeckt?
Drei Leitfragen werden den Gang der Untersuchung bestim-
men. Zu unserem Selbstverständnis als Handelnde gehört zentral
die Vorstellung der Aktivität: dass wir etwas in Gang setzen, dass
wir etwas initiieren, etwas geschehen machen. Und dass wir nicht
nur, um diese Metapher aufzugreifen, ein Transit-Raum sind, durch
den eine Folge von Geschehnissen hindurchläuft. Eine Handlung
ist gerade dadurch meine, so die Vorstellung, dass ich sie tue und
sie nicht bloß, verursacht durch Vorgänge in mir, geschieht. Tradi-
tionell wurde die immaterielle Seele, nicht nur, aber wesentlich, als
Quelle dieser Aktivität verstanden. Von ihr gehen die Impulse aus,
die jeweils am Anfang der Handlungen stehen. Deshalb glaubten
Descartes und seine Nachfolger, dass nur Wesen handeln können,
die neben dem Körper eine solche immaterielle Seele besitzen oder
aber, ohne Körper, ein immaterieller Geist sind: Menschen, Engel
und Götter. Alles andere sind bloße Materiekomplexe oder Maschi-
nen, die nur durch Impulse von außen in Bewegung gesetzt werden
können. Diese Idee eines absoluten Anfangs, die Idee, dass wir eine
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eigenen mentalen Zustände und damit auch das eigene Wollen zum
Gegenstand ihres Denkens machen. Sie tun etwas nicht nur, weil
sie es wollen, sie können auch denken – und sagen: Ich tue es, weil
ich es will. Und ich würde es nicht tun, wenn ich es nicht wollte.
Es liegt an meinem Wollen, daran, ob ich es will oder nicht. Das
Wollen wird auf diese Weise zu einem zentralen Gegenstand in der
Selbstbeschreibung, und das hat erhebliche Auswirkungen auf die
Art, wie wir uns als Handelnde verstehen.4 Dass, wenn es um unser
Selbstverständnis als Handelnde geht, die Tatsache, dass wir Lebe-
wesen sind, die etwas wollen, von zentraler Bedeutung ist, ist keine
originelle These. Das liegt auf der Hand, und deshalb spielt es in den
aussichtsreichsten Theorien eine wichtige Rolle. Dennoch scheint es,
als werde diese Tatsache bei weitem nicht hinreichend ausgeleuchtet,
ja als werde verkannt, welche Bedeutung sie für das Verständnis un-
serer selbst hat. Wenn man wissen will, wie es zu verstehen ist, dass
etwas durch mich geschieht und ich etwas tue, muss man, so meine
ich, sehr viel eingehender untersuchen, was es heißt, ein Lebewesen
zu sein, das etwas will.
4 Vgl. zur Genese des Wollens und zur Bedeutung des Sprechen-Könnens
für die Komplexität des menschlichen Wollens Vf., Der Vorrang des Wollens.
Eine Studie zur Anthropologie (Frankfurt 2016), Teil I.
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§2
Die Lokalisierung des Anfangs:
Aktivität und Aktivitätsbewusstsein
Welche Tatsachen erlauben es, das Ich des Handelnden als mehr zu
verstehen als bloß den Ort des Geschehens? Eine Handlung ist, so
unsere Vorstellung, dadurch meine, dass ich sie tue. Dass wir aktive
Wesen sind, gehört zum innersten Kern unseres Selbstverständnis-
ses. Wir können uns gar nicht denken, was es hieße, nicht aktiv zu
sein. Was also macht die Aktivität des Handelnden aus, wie ist sie
zu verstehen, wenn alles in unserem Leben und deshalb auch un-
sere Handlungen Effekte von Ursachen und weiteren vorgängigen
Ursachen sind? Und wenn es deshalb einen absoluten, selbst unver-
ursachten Anfang aus uns heraus nicht geben kann, wenn wir also
niemals, wie es Robert Kane formuliert hat, die »creators ab initio«
unserer Handlungen sein können?1
Die Begriffe aktiv und passiv werden enger oder weiter verwen-
det. Es gibt nicht den einen fest fixierten Sprachgebrauch, vielmehr,
nichts Ungewöhnliches, ein Spektrum verschiedener, aber durch-
aus durch ein einigendes Band zusammengehaltener Verwendun-
gen. Die beiden Begriffe haben ihre Funktion in einer Phänomeno-
logie der Bewegung. Mit ihnen charakterisiert man eine Bewegung
unter dem Aspekt ihres Woher. Wenn ein Mann einen Hund mit
einem Stock schlägt, kommt die Bewegung des Schlagens nicht aus
dem Hund, sie kommt von woanders, sie kommt von außen. Der
Hund wird geschlagen, und das ist etwas Passives. Er erleidet es.
Das Schlagen kommt aus dem Mann, dort liegt das Woher der Be-
wegung. Deshalb ist seine Bewegung eine Aktivität. Er tut etwas,
es widerfährt ihm nicht. Umgekehrt, wenn der Hund den Mann
in die Wade beißt. Diese Bewegung kommt aus dem Hund, in ihm
liegt ihr Woher. Der Mann wird gebissen, er ist jetzt passiv und der
Hund aktiv, er tut etwas.
Die Griechen sprachen von der archē, der Ursache und dem Be-
ginn der Bewegung. Wo beginnt die Bewegung, wo liegt ihre Ursa-
che? Es geht um die Lokalisierung des kausalen Beginns. archē be-
deutet sowohl Ursache wie auch Beginn. Das ist nicht überraschend,
ist eine Ursache doch der Beginn eines Prozesses, der zu einer Wir-
kung führt.
Wenn das Interesse, das zu der Unterscheidung von Aktivität
und Passivität führt, darin liegt, zu klären, von wo eine Bewegung
kommt und wo ihre Ursache ist, liegt es nahe, die Möglichkeiten
zunächst grob zweizuteilen: Die Bewegung kommt entweder von
innen oder von außen. Der Hund ist aktiv, er tut etwas, wenn, wie im
Falle des Beißens, die Bewegung von innen, aus ihm heraus kommt,
und er ist passiv, wenn sie, wie im Falle des Geschlagenwerdens,
von außen kommt. Wie wir noch sehen werden, ist diese Zweitei-
lung zu grob, aber man kann gut mit ihr operieren und kommt mit
ihr erstaunlich weit.
Wenn es um Aktivität und Passivität geht, so kann ich jetzt noch
einmal sagen, geht es um die Lokalisierung des kausalen Beginns
einer Bewegung, und der Ort liegt entweder innerhalb oder außer-
halb der betreffenden Person oder des betreffenden Lebewesens.
Eine Aktivität ist also eine an einem bestimmten Ort initiierte Be-
wegung. Aktiv ist jemand, wenn die Ursache der Bewegung in ihm
liegt, die Bewegung aus ihm kommt. Oder, um es anders zu wen-
den: Eine Bewegung wird gerade dadurch zu einer Handlung einer
Person, zu etwas, was sie tut, dass der Beginn und die Ursache der
Bewegung in ihr liegt. Bemerkenswert ist, dass der Akzent hier ganz
auf dem Wo des Anfangs liegt und zunächst beiseite bleibt, was die
Ursache ist. Auch darin äußert sich, dass wir es mit einer Begriff-
lichkeit zu tun haben, die nur eine ungefähre Struktur im Auge
hat und nicht, oder zunächst nicht, auf weitergehende Präzisierun-
gen zielt.
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Die jetzt skizzierte Analyse des Aktivseins lässt sich durch die
gesamte Geschichte des europäischen Denkens von der Antike bis
heute verfolgen. Prägend für alles Weitere waren die Überlegungen,
die Aristoteles in dieser Sache entwickelt hat. Wenn jemand einen
Stein schleudert, liegt, so schreibt er, die archē der Bewegung »in
ihm«.2 Wenn man hingegen von Leuten, die einen in ihrer Gewalt
haben, irgendwohin geschafft wird, liegt die archē der Bewegung
»außerhalb« (exōthen). Man »trägt« dann, so fügt Aristoteles hinzu,
zu dem, was geschieht, »nichts bei« (mēden symballetai ).3 Es geht
also sehr deutlich um das Wo der Ursache der Bewegung, und die
beiden Möglichkeiten sind: innen und außen.4 Aktiv ist der, in dem
die Bewegung ihren Ursprung hat, passiv ist, für den die Bewegung
von außen kommt, der folglich nichts zu ihr beiträgt, sie vielmehr
erleidet.
Zweierlei ist hier eigens festzuhalten: Aristoteles war keineswegs
der Meinung, der Anfang der Bewegung, von dem er spricht, sei
selbst unverursacht. Er denkt nicht an einen absoluten, selbst nicht
verursachten Anfang, sondern an einen relativen Anfang, an etwas,
das, wenn man einen begrenzten Kausalzusammenhang betrachtet,
an dessen Anfang steht. Darin, dass der Anfang der Bewegung selbst
verursacht ist, liegt für ihn kein Grund, nicht von Aktivität und von
der archē einer Bewegung zu sprechen. Dieser Aspekt der Sache
wird uns noch beschäftigen.
Zum anderen: Wenn Aristoteles deutlich macht, dass derjenige,
der aktiv ist, etwas zu seiner Bewegung beiträgt, ist damit auch ge-
sagt, dass der Aktive, der, der etwas tut, niemals nur der Ort eines
selbstläufigen kausalen Geschehens ist. Er trägt immer etwas Sub
stantielles bei, das in einer möglichen kausalen Erklärung dessen,
was geschehen ist, als ein wesentlicher kausaler Faktor genannt wer-
den müsste. Wenn der Handelnde hingegen nur der Ort des Gesche-
hens wäre, hätte er keine kausale Relevanz für das, was geschieht.
Der Handelnde ist, das liegt bereits in dem, was Aristoteles sagt,
immer mehr als der Ort eines kausalen Geschehens, er ist, weil er
etwas beiträgt, Teil des kausalen Geschehens.
Die bisherige Bestimmung des Aktivseins erlaubt es, bei sehr un-
terschiedlichen Dingen von Aktivität zu sprechen. Es gibt unterhalb
der allgemeinen Struktur verschiedene Formen oder Stufen der Ak-
tivität. Wir tun uns zum Beispiel nicht schwer, einem Thermostat
Aktivität zuzusprechen. Ein Thermostat kontrolliert die Raumtem-
peratur und initiiert, wenn nötig, das Nachheizen. Es entsteht eine
Veränderung, und der Ursprung der Veränderung liegt in dem Ther-
mostat; etwas in seinem Inneren gibt den Impuls zum Nachheizen.
Und wenn der Thermostat defekt ist, wird die Temperatur nicht
kontrolliert, und es gibt nichts mehr, was dem Fallen der Tempe-
ratur entgegenwirkt. Der Thermostat trägt also dazu bei, dass die
Temperatur stabil bleibt. Die Elemente, die eine Aktivität definieren,
sind in diesem Fall, wie es scheint, gegeben. Und deshalb fällt es uns
nicht schwer, hier von einer Aktivität zu sprechen.
Gewiss, ein Thermostat ist nur ein Artefakt, kein Lebewesen.
Man könnte deshalb meinen, die Rede von der Aktivität sei in die-
sem Fall allzu generös; sie sei allenfalls metaphorisch, aber nicht
buchstäblich zu verstehen. Aber wo hört die literale Verwendung
auf, wo fängt die metaphorische an? Wie gesagt, die Elemente, die
für eine Aktivität definitiv sind: Bewegung, Anfang, Ursache, die
Lokalisierung im Inneren scheinen vorhanden zu sein. Am ehes-
ten kann man hinter der Bewegung ein Fragezeichen machen. Der
Thermostat bewegt sich nicht, er hat keine Arme und Beine. Aber
er stellt – dadurch, dass ein Bimetallstreifen sich in seinem Inneren
biegt – einen elektrischen Kontakt her, schließt damit einen Strom-
kreis und setzt auf diese Weise das Aufheizen im Heizkessel in Gang.
Natürlich ist das keine Aktivität, wie wir sie von uns Menschen ken-
nen. Der Thermostat hat keinen Geist und er kennt kein zweckge-
richtetes Handeln. Dennoch kann man, so meine ich, sinnvoll von
einer einfachen Form von Aktivität sprechen.
Unfraglicher ist es, Tieren und auch primitiven Tieren Aktivität
zuzusprechen. Das tun wir ganz selbstverständlich. Denken wir an
einen Frosch. Wenn eine Fliege sein Gesichtsfeld in der richtigen
Distanz kreuzt, schleudert er seine Zunge heraus, fängt sie und frisst
sie. Wir würden nicht zögern, zu sagen, dass der Frosch damit etwas
tut. Er erleidet nichts, er wird nicht von einem Auto überfahren, er
tut etwas. Das Woher der Bewegung ist sein Inneres, er ist intern so
verdrahtet, dass er bei diesem Reiz in dieser Weise reagiert. Der feste
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5 H. G. Frankfurt: The Problem of Action (1978), in: H. G. F.: The Impor-
tance of What We Care About (Cambridge 1988), 69–79, 78, dt. Das Problem
des Handelns, in: R. Stoecker (Hg.): Handlungen und Handlungsgründe
(Paderborn 2002), 65–75, 74 f.
6 Thomas: De veritate 22, art. 4, resp., ed. R. Spiazzi (Turin 1964), 179.
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dass eine Analyse der Aktivität und Passivität mit Hilfe der Unter-
scheidung »von innen, von außen« nicht erfolgreich ist.
Wir würden gewiss nicht meinen, dass dem Hund die Haare aus-
fallen, sei eine Aktivität. Aber warum nicht? Stellen wir uns vor, der
Hund wird so betäubt, dass er sich nicht bewegen kann. Dennoch
fallen ihm die Haare aus. Das verstehen wir, wie es scheint, deshalb
nicht als Aktivität, weil die Bewegung fehlt. Kein Bein, kein Kiefer,
keine Zunge, kein Schwanz, nichts ist in Bewegung. Es fehlt eine
Bewegung des Hundes. Dies ist die phänomenale Evidenz, die uns
davon abhält, von einer Aktivität zu sprechen. Wenn dem Hund
Haare ausfallen, ist das etwas Passives, »passiv« nicht in dem en-
gen, bisher berücksichtigten Sinn, dass das Geschehen von außen
verursacht wird – dem Hund werden die Haare nicht herausgeris-
sen –, sondern in dem weiten Sinne, in dem alles, was nicht aktiv
ist, passiv ist.
Was für das Ausfallen der Haare gilt, gilt übrigens auch für Vor-
gänge wie den, dass das Herz Blut durch den Körper pumpt. Das
geht auch dann weiter, wenn der Hund betäubt und dadurch völlig
bewegungsunfähig ist. Auch Vorgänge dieser Art sind keine Bewe-
gungen des Hundes. Und deshalb können sie auch keine Aktivitä-
ten von ihm sein.
Wenn wir uns jetzt den Menschen zuwenden, ist es keine Über-
raschung, dass auch Personen aktiv sind, wenn – ganz aristotelisch –
die Bewegung von innen kommt, wenn der Anfang und die Ursache
der Bewegung in ihnen liegt. Ohne Frage funktionieren Menschen
anders als Frösche und Spinnen. Ihr Verhalten ist zwar durchaus
auch durch angeborene Reiz-Reaktionsmechanismen bestimmt,
aber nur zu einem kleinen Teil. So zum Beispiel in einer Situation,
in der ein Gegenstand auf einen zufliegt, in Richtung der Augen,
und man automatisch eine Ausweichbewegung macht, die Augen
schließt und wahrscheinlich einen Arm vors Gesicht bringt. Das
sind fest verdrahtete Reaktionsweisen. Zum allergrößten Teil läuft
die Verhaltenssteuerung aber anders. Sie läuft durch den Kopf der
Person hindurch, und nicht an ihm vorbei. Menschen sind, wie auch
höher entwickelte Tiere, Lebewesen, die etwas wollen, animalia vo-
lentia. Mit der Evolution des Wollens, ich habe es schon erwähnt,
entstehen völlig neuartige Lebewesen. Sie haben Ziele, und sie müs-
sen selbst herausfinden und entscheiden, welches die geeigneten Mit-
tel sind, um sie zu erreichen. Sie müssen überlegen, was sie in den
jeweiligen und sich verändernden Umständen am besten tun. Damit
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In den Handlungen, die wir tun, weil wir sie tun wollen, finden
wir den eigentlichen Prototypen des Aktivseins. Deshalb reservie-
ren manche Autoren die Wörter »Handlung« und »handeln« für
Aktivitäten dieser Art. Ich werde »handeln« wie bisher informeller
gebrauchen und kann deshalb, wenn ein Frosch eine Fliege fängt,
durchaus von einer Handlung sprechen. Tatsächlich hängt nicht viel
daran, ob man so oder so spricht.
Wie bereits gesagt, kommt es, wenn die archē der Bewegung ein
Wollen ist, zu einer ganz neuen Art von Aktivität. Dass etwas »durch
mich« geschieht, gewinnt eine neue Bedeutung. Man kann auch sa-
gen: Eine Handlung, die man tut, weil man sie tun will, besitzt eine
neue Form der Ichhaftigkeit. Wie ist das zu verstehen? Was sind die
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e ines engeren Ichs. Dieses engere Ich hat Substanz und Inhalt durch
die Inhalte des Wollens. Es ist, anders formuliert, die Person, so-
fern sie bestimmte Dinge will. An ihr bemessen wir, was uns äu-
ßerlich ist. Damit zeigt sich, zumindest anfangshaft, dass wir uns
in einer bestimmten Art durch unser Wollen definieren. Das ist ein
für unsere Existenzweise zentrales Phänomen, und es wird uns im
nächsten Kapitel noch ausführlich beschäftigen. Werfen wir noch
einen Blick auf den Frosch. Von ihm kann man sagen, dass er, weil
er seine Handlungen nicht tut, weil er sie tun will, nicht hinter sei-
nen Handlungen steht. Man kann aber nicht sagen, dass ihm seine
Handlungen deshalb äußerlich oder fremd sind. Das »ihm« hat hier
keinen Bezug. Der Frosch hat kein engeres Ich, weil er kein Wesen
ist, das etwas will. Deshalb kann ihm etwas, was er selbst tut, nicht
äußerlich sein.
(2) Wenn ich eine Handlung tun will und es nicht gelingt, sie zu
tun, zum Beispiel weil es durch einen äußeren Eingriff verhindert
wird, ist das etwas für mich Negatives. Wenn es hingegen gelingt,
sie zu tun, ist das etwas für mich Positives. Das offenbart, dass eine
Handlung dadurch, dass man sie tun will, für einen Bedeutung ge-
winnt. Es liegt einem an ihr. Je stärker man sie will, umso mehr Ge-
wicht hat sie für einen. Und umso stärker berührt es einen positiv,
wenn es gelingt, das Gewollte zu verwirklichen, und umso größer
ist die Frustration, wenn es nicht gelingt. Zu all dem kommt es erst
durch das Wollen. Erst durch das Wollen kommt es zu dem »für
mich positiv, für mich negativ«. In diesem für mich spiegelt sich,
dass ich in eine solche Handlung in besonderer Weise involviert
bin. Sie bedeutet etwas für mich. Eben daraus erklärt sich auch die
motivationale Kraft des Wollens. Wir sind motiviert, das Gewollte
zu tun, weil es für uns, durch das Wollen, Bedeutung hat und weil
es uns positiv berührt, das Gewollte zu realisieren, und es negativ
wäre, es nicht zu realisieren.
Die Freude, mit der wir reagieren, wenn es gelingt, etwas Ge-
wolltes zu verwirklichen, bisweilen vielleicht nur eine kurze, kaum
bemerkte Veränderung im Hintergrundrauschen des Bewusstseins,
und das entsprechende Unbehagen im entgegengesetzten Fall kön-
nen sich, je nach Stärke des Wollens, zu Emotionen und Affekten
wie Stolz, Ärger, Wut und Zorn steigern. In diesen Affekten und
dem mit ihnen gegebenen affektiven Betroffensein manifestiert sich
auf elementare Weise, dass uns das Gewollte angeht und uns an ihm
liegt. Mit Affekten reagiert man nur auf etwas, was einen, positiv
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oder negativ, betrifft und niemals auf etwas, dem man indifferent
gegenübersteht.
Bei einem Handeln aus Nervosität ist für alle diese Elemente kein
Platz. Das Handeln hat für einen keine Bedeutung, es ist einem nicht
wichtig, und es berührt einen nicht positiv, die Handlung zu tun.
Von Gelingen und Misslingen, von Freude und Frustration kann bei
einem Handeln dieser Art nicht die Rede sein.
Diese Überlegung zeigt erneut, dass eine Handlung, die man tut,
weil man sie tun will, deutlich ichhafter ist als Handlungen anderer
Art. Man ist auf ganz andere Weise mit der Handlung verbunden.
(3) Etwas zu wollen, ist ein intentionaler Zustand, man will im-
mer etwas. Und das Gewollte ist in den Fällen, über die wir spre-
chen, eine Handlung. Auf diese Handlung ist das Wollen gerichtet,
und sie wird im Wollen bereits antizipierend repräsentiert. Wenn die
betreffende Person sie dann tut, passt sie genau zu dem vorgängigen
Wollen. Sie ist die Realisierung des zuvor im Wollen bereits Reprä-
sentierten. Es besteht auch unter diesem Aspekt eine äußerst enge
Verbindung von Wollen und Handlung. Nichts Vergleichbares gibt
es, wenn wir etwas aus Nervosität tun. Nervös zu sein, ist kein in-
tentionaler Zustand. Die Nervosität ist der Anfang und die Ursache
einer Handlung, aber sie ist nicht auf sie gerichtet und sie repräsen-
tiert sie nicht vorab. Dasselbe gilt für das Fliegen-Fangen des Fro-
sches. Die Reiz-Reaktionsmechanismen, deren Resultat die Hand-
lung ist, repräsentieren und antizipieren sie nicht vorweg. Auch sie
haben keinerlei Intentionalität. Deshalb sind Ursache und Wirkung
auf eine völlig andere Art aufeinander bezogen.
(4) Das führt direkt zu einem vierten Spezifikum einer Handlung,
die man tut, weil man sie tun will. Das Wollen macht es möglich, die
Handlung zu kontrollieren. Eine Handlung, die man tun will, hat
immer ein Woraufhin. Wenn wir eine Handlung extrinsisch wollen,
wollen wir sie, weil sie uns zu etwas verhilft, was wir wollen. Und
wenn wir eine Handlung intrinsisch wollen, wollen wir sie, weil sie
selbst etwas hat, was wir wollen: sie ist angenehm. In beiden Fällen
achten wir, während wir die Handlung tun, darauf, dass sie so ver-
läuft, wie sie soll, wie es also nötig ist, damit sich das Ziel, das wir
mit ihr verbinden, einstellt. Und wenn sie nicht so verläuft, steuern
wir nach und bringen die Handlung wieder auf die Linie des Wollens
zurück. So, wenn ich einen Brief nach einer handschriftlichen Vor-
lage in den Computer eintippe und das nicht nur irgendwie, sondern
fehlerfrei tun will. Ich kontrolliere dann das Eintippen kontinuier-
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lich daraufhin, dass ich mich nicht verschreibe, und falls ich es tue,
korrigiere ich den Fehler, bevor es weitergeht. Und wenn ich tanze
und es nicht so läuft, wie ich es mir vorstelle, und es deshalb keinen
Spaß macht, versuche ich ebenfalls, etwas zu korrigieren.
Die Notwendigkeit, das, was man tut, zu kontrollieren, rührt da-
her, dass sich Handlungen gewissermaßen selbständig machen und
in eine Richtung entwickeln können, in die man nicht will, so dass
ein Nachjustieren nötig wird. Und das erklärt sich wiederum daraus,
dass einer Handlung oft oder immer sub-personale kausale Prozesse
zugrundeliegen, die automatisch ablaufen. Wir delegieren, so kann
man sagen, die Ausführung einer Handlung an sub-personale Me-
chanismen, die die Feinarbeit machen. Wenn man etwas eintippt, be-
wegen sich die Finger von selbst. Wollten wir hier bewusst handeln,
müssten wir die Geschwindigkeit des Schreibens stark reduzieren
und würden dann wahrscheinlich ziemlich ungelenke Bewegungen
machen. Genauso übernehmen beim Tanzen uns nicht bewusste
Prozesse im Gehirn die Steuerung der Feinmotorik. Aber wir kon-
trollieren diese Aktivitäten, wir bleiben dabei und greifen ein, wenn
sie sich von der gewollten Linie entfernen. Und auch wenn wir nicht
eingreifen, stehen wir bereit, es zu tun, falls sich die Notwendigkeit
ergibt. Das heißt, die Handlung vollzieht sich so oder so unter un-
serer Kontrolle, sie wird kontinuierlich daraufhin geprüft, ob sie
noch dem Wollen entspricht.
Diese Phänomene lassen erkennen, dass wir das, was wir tun,
weil wir es tun wollen, nicht nur anstoßen und initiieren, sondern
die Handlung mit unserem Wollen begleiten und volitiv dabei blei-
ben. Sie zeigen, in welcher Weise wir hinter einer Handlung stehen,
die wir tun wollen. Eine gewollte Handlung ist immer eine in die-
sem Sinne kontrollierte Handlung. Die Person, die handelt, ist da-
durch, wie Frankfurt es formuliert9, »in touch« mit der Handlung.
Es besteht auch aus diesem Grund eine besonders enge Bindung
zwischen dem Handeln und dem Wollen, aus dem es hervorgeht.
Was geschieht, geschieht in einem starken Sinne »durch mich«. Das
beleuchtet einmal mehr die besondere Ichhaftigkeit einer gewollten
Handlung.
(5) Auf eine weitere wesentliche Eigenschaft von Handlungen,
die wir tun, weil wir sie tun wollen, stoßen wir, wenn wir die Ge-
nese einer solchen Handlung etwas genauer betrachten. Das Wollen,
das in diesen Fällen die archē der Bewegung ist, ist uns nicht zufällig
zugeflogen. Wir erkennen vielmehr im Zuge einer Überlegung, dass
wir angesichts anderer Wünsche, die wir haben, in der konkreten Si-
tuation genau dies tun wollen.10 Verdeutlichen wir das an einem Bei-
spiel. Ich würde gerne heute ein Manuskript fertigstellen. Ich könnte
es dann morgen einem Kollegen schicken, der darauf wartet und sich
freuen würde, es endlich zu bekommen. Mir wäre sehr lieb, wenn
das heute klappte, zumal in den nächsten Tagen keine Zeit ist, die
Sache abzuschließen. Dafür müsste ich allerdings bis in den Abend
oder sogar bis in die Nacht hinein arbeiten. Und das kollidiert damit,
dass ich für den Abend eine Karte für die Oper in Zürich habe und
die Oper gerne hören möchte. Außerdem bin ich in der Oper mit
einer Freundin verabredet, die ich treffen und wiedersehen möchte
und der ich versprochen habe, dort zu sein. Was will ich nun tun?
Es ist leicht zu sehen, dass in dieser Situation bereits eine Reihe von
Wünschen im Spiel sind, und diese Wünsche sind, wie eine einge-
hendere Beschreibung zum Vorschein bringen würde, mit weiteren
Wünschen eng verknüpft. Ich überlege, was ich angesichts dieser
Wünsche und des Zwiespalts, in den sie führen, unter dem Strich will.
Was ist mir am wichtigsten? Was ist weniger wichtig? In der Über
legung imaginiere ich zum Beispiel, wie mein Kollege auf einen neu-
erlichen Aufschub reagieren würde, was die Verzögerung für seine
Arbeitsabläufe bedeuten würde und wie sehr mir daran liegt, die zu
erwartende Enttäuschung zu vermeiden. Ganz ähnlich male ich mir
aus, wie ärgerlich meine Freundin wäre, wenn ich nicht erschiene,
und was das für unser weiteres Verhältnis bedeuten würde. Durch
Überlegungen dieser Art steigt die Zahl der Wünsche, die zu berück-
sichtigen und abzuwägen sind, weiter an. Wie ich die verschiedenen
Aspekte gegeneinander abwäge und zu welchen Einschätzungen ich
komme, hängt gewiss auch davon ab, welche Erfahrungen ich in
vergleichbaren Situationen in der Vergangenheit gemacht habe. All
dies ist präsent und fließt ein. Nehmen wir an, am Ende komme ich
zu dem Ergebnis, dass ich »alles in allem« die Oper hören und die
Freundin treffen möchte, mir dies also am wichtigsten ist. Dann ist
noch kurz zu überlegen, wann ich aufbrechen muss, um pünktlich in
10 Wenn ich hier und im Folgenden von »Wunsch« und »Wünschen« spre-
che, gebrauche ich das Wort nur als Ersatz für das im Deutschen fehlende
Substantiv zu »wollen«. Damit ist also keine Differenzierung von »wollen«
und »wünschen« intendiert.
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der Oper zu sein. Am Ende will ich dann um 16.30 Uhr aufbrechen
und um 17.09 Uhr den Zug nach Zürich nehmen.
Diese Szene illustriert zweierlei. Zum einen ist das Wollen, das
die Handlung verursacht, hier: um 16.30 Uhr aufzubrechen, das Er-
gebnis eines komplexen mentalen Geschehens, zu dem auch bereits
Handlungen gehören: das Überlegen und als Teil von ihm das Imagi-
nieren. Und zum zweiten: Der Wunsch, um 16.30 Uhr aufzubrechen
und in die Oper zu fahren, hängt offenbar von anderen Wünschen ab
und ist Teil einer komplexen, vielschichtigen Textur von Wünschen.
Hinter der Handlung, die ich am Ende tue, steht nicht einfach ein be-
ziehungsloses, einzelnes Wollen, sondern eine komplexe volitionale
Struktur. Es sind eine Reihe von Wünschen beteiligt, die zudem in
einer Ordnung des mehr oder weniger Wichtigen zueinander stehen.
Die Verankerung der Handlung im Ich ist aus diesen Gründen
sehr viel breiter und tiefgehender, als es der Fall wäre, wenn die
Ursache ein einzelnes, von all meinen anderen mentalen Zustän-
den und Aktivitäten isoliertes Wollen wäre. Das beleuchtet erneut
die besondere Ichhaftigkeit einer gewollten Handlung. Das Ich, das
hinter ihr steht, ist in seiner Substanz durch Wünsche bestimmt, die
systematisch miteinander verbunden sind und eine äußerst kom-
plexe Struktur bilden.
Sicherlich weisen nicht alle Handlungen, die man tut, weil man
sie tun will, die jetzt erläuterte Charakteristik in gleichem Maße auf.
Einige haben sie mehr, einige weniger, vielleicht auch kaum. Wenn
es, nachdem man draußen kalt geworden ist, angenehm wäre, warm
zu duschen und man das deshalb will, scheint das Wollen nicht be-
sonders vernetzt zu sein. Aber selbst in diesem Fall prüft man, ob
für das Duschen vor dem schon vorbereiteten Abendessen noch Zeit
ist – oder ob es sich angesichts der frischen Wunde am Schienbein
empfiehlt, zu duschen. Man prüft, ob das Wollen mit anderem, was
man will, zusammenpasst. Das heißt, auch in diesem Fall wird das
Wollen nur handlungsleitend, wenn es zu dem, was man sonst noch
will, passt oder gegenläufige Wünsche überwiegt, und das wird wie-
derum in einer Überlegung abgecheckt. Auch in diesem Fall steht
also hinter der Handlung, wenn es denn zu ihr kommt, mehr als ein
einzelnes, beziehungsloses Wollen.
(6) Eine weitere, besondere und äußerst wichtige Charakteristik
einer Handlung, die man tut, weil man sie tun will, liegt darin, dass
sie sich gewöhnlich in einem Spielraum oder, anders gesagt, in einer
Zone des Anders-Könnens vollzieht. Man kann sie tun, und man
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kann sie nicht tun, und man kann sie unter verschiedenen Aspekten
so oder anders tun. Und ob man sie tut und wie man sie tut, hängt
vom Wollen ab. Wenn man die Handlung tun will, tut man sie, und
wenn man sie nicht tun will, tut man sie nicht. Was wir tun und wie
wir es tun, »liegt«, so hat es Aristoteles formuliert, »bei uns« (eph’
hēmin).11 Man hat die Fähigkeit und es besteht die Gelegenheit, das
eine und das andere zu tun. Das heißt, die Umstände erlauben das
eine wie das andere. Und deshalb liegt es bei uns, was geschieht.
Und deshalb kann man, wenn man das eine getan hat, rückblickend
feststellen, dass man es auch hätte unterlassen und stattdessen das
andere tun können. Es liegt auf der Hand, dass gewollte Handlungen
auf Grund dieser Besonderheit, aus einer Mehrzahl von möglichen
Handlungen herausgegriffen zu sein, eine größere Ichhaftigkeit be-
sitzen als Handlungen, für die das nicht gilt. Man denke zum Ver-
gleich an ein Handeln aus Nervosität oder an das, was ein Frosch
tut.12
Nun hatte ich gesagt, Handlungen, die man tut, weil man sie
tun will, seien »gewöhnlich« in einem Spielraum angesiedelt. Neh-
men wir, um das zu erläutern, an, ich war gezwungen, etwas zu
tun, wollte es aber auch tun. In einer solchen Situation der Über
determination lassen sich zwei Fälle unterscheiden. Einmal ergibt
die genauere Exploration des kausalen Ablaufs, dass das Wollen und
nicht der Zwang die Handlung verursacht hat. Dann ist die Hand-
lung, obwohl vom Wollen verursacht, dennoch keine Handlung in
einem Spielraum. Denn wenn ich sie nicht gewollt hätte, hätte ich
sie auf Grund des Zwangs trotzdem getan. Das Wollen ist die causa
der Handlung, aber nicht die causa sine qua non. Im anderen Fall
stellt sich hingegen heraus, dass der Zwang die Handlung verur-
sacht hat und das Wollen keine kausale Rolle spielte. Dann handelt
es sich zwar um eine gewollte Handlung, aber nicht um eine durch
das Wollen verursachte Handlung.
Es gibt also Handlungen, die man tut, weil man sie tun will, die
nicht in einem Spielraum angesiedelt sind. Daneben gibt es Hand-
lungen, die zwar gewollt, aber nicht durch das Wollen verursacht
sind. Auch sie sind nicht in einem Spielraum angesiedelt. Diese
Unterscheidungen vor Augen könnte man meinen, dass gewollte
Handlungen, die sich in Spielräumen bewegen, ichhafter sind als
Handlungen, bei denen, obwohl gewollt, keine Spielräume beste-
hen. Aber das scheint fraglich zu sein. Denn wenn ich gezwungen
bin, etwas zu tun, es aber auch tun will, würde ich es auch tun wol-
len, wenn der Zwang nicht bestünde, wenn ich also die Möglichkeit
hätte, es nicht zu tun. Das deutet darauf hin, dass, eine Handlung
zu wollen, generell bedeutet, sie als eine unter anderen möglichen
zu wollen, das Anders-Können also, wenn nicht faktisch gegeben,
so doch hypothetisch vorausgesetzt ist: Wenn der Zwang nicht be-
stünde und man die Möglichkeit hätte, anders zu handeln, würde
man dennoch dieselbe Handlung wollen. Das Wollen setzt also im-
mer zumindest hypothetisch einen Spielraum voraus. Deshalb steht
man, wie es scheint, in den Fällen gewollter Handlungen, bei denen
faktisch keine Spielräume bestehen, in derselben Weise hinter der
Handlung wie bei gewollten Handlungen, die faktisch in einer Zone
des Anders-Könnens angesiedelt sind. Und deshalb sind die einen
genauso ichhaft wie die anderen.
Es ist nicht nötig, das im jetzigen Kontext zu vertiefen. Festzu-
halten ist im Moment nur, dass die Handlungen, die die Charakte-
ristika (1) – (5) aufweisen, in der einen oder anderen Weise auch das
Merkmal haben, in einer Zone des Anders-Könnens angesiedelt zu
sein. Gerade dieses Merkmal ist, wie wir noch genauer (in Kapitel 5)
sehen werden, für unser Aktivitätsbewusstsein und für unser Selbst-
verständnis als Handelnde von eminenter Bedeutung.
Es lohnt sich, in dieser Sache noch einmal auf Aristoteles zurück-
zukommen. Wenn es so ist, dass wir eine Handlung, je nach unserem
Wollen, tun oder auch nicht tun, »liegt«, wie wir uns verhalten, so hat
Aristoteles gesagt, »bei uns« (eph’ hēmin). Das, was bei uns liegt (ta
eph’ hēmin), ist, so Aristoteles weiter, zugleich das, was »durch uns«
geschieht (ta di’ hēmōn). Es hängt vom Wollen ab, und das heißt
auch für Aristoteles, es hängt von uns ab.13 Das »Bei-uns-Liegen«
wird dann auf zweifache Weise weiter erläutert. Wenn es bei uns
liegt, eine Handlung zu tun und auch sie nicht zu tun, dann, so eine
Unterhalb der allgemeinen Struktur der Aktivität gibt es, wie wir sa-
hen, verschiedene Formen oder Stufen der Aktivität. Die allgemeine
Bestimmung der Aktivität besagt nur, dass die Ursache der Bewe-
gung in mir liegen muss, lässt aber offen, was die Ursache sein kann.
Die sechs angeführten Merkmale von Handlungen, deren archē ein
Wollen ist – die Liste ließe sich vermutlich noch verlängern –, bele-
gen nun eindrucksvoll, dass diese Handlungen durch verschiedene
ihrer Eigenschaften eine besonders enge Bindung an die Handeln-
den aufweisen. Das die verschiedenen Gesichtspunkte übergrei-
fende Phänomen ist darin zu sehen, dass wir uns in bestimmter
Weise durch unser Wollen definieren und deshalb die Handlungen,
die wir tun, weil wir sie tun wollen, in besonderer Weise »unsere«
Handlungen sind. Wir stehen hinter ihnen, es verbindet uns etwas
mit ihnen, sie sind uns nicht äußerlich. Das »durch mich«, das »ich
tue es« gewinnt dadurch einen ungleich stärkeren Sinn als bei den
anderen Formen der Aktivität.
des Aktivseins dar als die prototypischen Fälle eines Handelns aus
einem Wollen.
Was wäre eine passive innere Bewegung? In der Science Fiction
natürlich ein mentales Geschehen, das von den obligaten Neuro-
Ingenieuren durch eine Stimulation von außen ausgelöst wird. In der
Realität ist eine Wahrnehmung ein Geschehen, dessen archē außer
halb liegt. Den Schrei einer Möwe zu hören, ist etwas, was e inem
widerfährt, eine Passivität. Schwieriger sind Fälle, in denen das »von
außen« auch ein »von innen« ist. Es fällt mir etwas ein, etwas, wo-
ran ich denke, verbindet sich über eine Assoziation mit etwas an-
derem, im Tagtraum folgt ein Bild dem anderen nach einem, wie es
scheint, geheimen Gesetz. In diesen Fällen würden wir nicht von
einer Handlung sprechen, sondern von Widerfahrnissen. Was pas-
siert, kommt von außen, aber dieses »außen« ist im Inneren. Dass
mir etwas einfällt, hat seine archē in Vorgängen, die mir nicht be-
wusst sind, die aber in mir stattfinden. Die Assoziationen, die sich
einstellen, haben etwas mit vergangenen Erlebnissen zu tun, aber
manchmal kommen sie, manchmal nicht, und auch in diesen Fällen
verlieren sich die Prozesse, auf die das zurückgeht, im undurch-
dringlichen Dunkel des Unbewussten. Wir haben keinen Einfluss
darauf, wir tragen nichts dazu bei. So zu sprechen, obwohl die frag-
lichen Geschehnisse aus uns kommen, zeigt, dass wir in unserem In-
neren eine Linie ziehen, eine Linie zwischen einem inneren Inneren
und einem äußeren Inneren. Es ist kaum möglich, zu bestimmen,
wie diese Linie genau verläuft. Einige Lokalisierungen fallen leicht,
andere nicht. Alles, was aus dem Unbewussten kommt, liegt, so
scheint es, jenseits der Grenzlinie im äußeren Inneren. Das Wollen
liegt eindeutig diesseits der Grenze im inneren Inneren. Es gibt aber
auch innere Handlungen aus guter Laune und vielleicht ähnlichen
Zuständen. Auch sie sind offenbar diesseits der Grenze angesiedelt,
und die Frage ist, warum. Ich gehe dem hier nicht weiter nach.
Es bleibt aber noch zu notieren, dass, selbst wenn wir auch in Be-
zug auf innere Handlungen über einigermaßen konturierte Begriffe
des Aktiv- und Passivseins verfügen, die Phänomene oft weniger
eindeutig sind als bei äußeren Handlungen. Wir verstehen, zu den-
ken und zu überlegen, als Handlungen. Aber wie kommt es, dass
die Gedanken diese Richtung nehmen, dass ich auf dieses stoße, aber
nicht auf jenes, obwohl es vielleicht wichtig gewesen wäre? Warum
diese Assoziationen und nicht andere, die mich möglicherweise wei-
tergebracht hätten? Das Denken ist offenkundig mit passiven Ele-
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verhalten können, all dies ist, wie man sich klarmachen kann, inner-
halb einer durchgängig deterministischen Welt möglich.
Genauso ist die Kontrolle von Handlungen, die sich in solchen
Spielräumen vollziehen, möglich. Wir kontrollieren den Verlauf ei-
ner Handlung kontinuierlich daraufhin, ob er dem, was wir mit der
Handlung wollen, entspricht. Und wenn das nicht der Fall ist, jus-
tieren wir nach und bringen ihn auf die Linie des Wollens zurück.
Auch wenn man »Kontrolle« weiter versteht, als ich es bisher getan
habe, und es nicht nur um den Verlauf einer Handlung geht, sondern
auch darum, dass man die Kontrolle darüber hat, ob man sie tut oder
nicht, geht es um die Wollens-Entsprechung dessen, was geschieht.
Man hat die Kontrolle in diesem Sinne über eine Handlung, wenn
man sie tut, wenn man sie tun will, und sie nicht tut, wenn man sie
nicht tun will. Auch dies ist, wie gesagt, in einer deterministischen
Welt möglich.
Das vielfach vorgebrachte Argument, in einer deterministischen
Welt könne man keine Kontrolle über seine Handlungen haben, weil
sie durch ihre jeweilige kausale Vorgeschichte festgelegt seien und
man keine Kontrolle über diese Vorgeschichte habe, läuft ins Leere.
Lassen wir im Moment beiseite, wo der Fehler liegt und wie er sich
erklärt. Es kommt zunächst nur darauf an, dass die Conclusio falsch
ist. Zweierlei zeigt das. Erstens ist es eine Tatsache, dass wir Hand-
lungen in der beschriebenen Weise durch unser Wollen steuern und
sie damit kontrollieren. Und an diesem Faktum ändert sich, zwei-
tens, nichts dadurch, dass das Wollen diese oder jene Genese hat.
Bei der Kontrolle geht es darum, ob das Handeln dem Wollen folgt
oder sich selbständig macht. Es geht um die Bindung dessen, was
geschieht, ans Wollen. Wie das Verhältnis von Handeln und Wollen
beschaffen ist, ist aber unabhängig davon, wie das Wollen entstan-
den ist. Und damit ist es auch unabhängig davon, ob wir das Wollen
selbst kontrollieren, das heißt, ob es selbst einem ihm vorgängigen
Wollen folgt.
Ich kann, um deutlich zu machen, dass das Argument scheitert,
auch sagen: Die kausale Vorgeschichte unserer Handlungen ist, ver-
folgt man sie zurück, zumindest von einem bestimmten Punkt an
nicht von unserem Wollen abhängig. Dennoch sind unsere Hand-
lungen, oder ein Teil von ihnen, offenkundig vom Wollen abhängig.
Darin liegt kein Widerspruch. Etwas zu wollen, ist nicht rekursiv.
Dass ein Teil unserer Handlungen gewollt ist, verlangt nicht, dass das
Wollen und seine Vorgeschichte selbst gewollt sind. Da, Handlun-
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falsches Bild davon haben darf, was diese externen Faktoren sind –,
hängt, was wir tun, von uns ab, davon, wie wir sind und was wir
wollen. Man braucht keine Angst zu haben, dass unsere Handlun-
gen ohne unser Zutun geschehen. Sie geschehen durch uns, und im
Falle der gewollten Handlungen bestimmen wir, durch unser Wol-
len, was geschieht. Wir sind nicht substanz- und inhaltslose Orte
oder Transit-Räume, sondern haben durch das, was wir in unserem
Leben erfahren und erlebt haben, durch das, was wir gelernt haben,
durch unsere Imaginationen und durch unzählige andere Faktoren
ein individuelles, im Gehirn verkörpertes Gepräge, und davon hängt
ab, was wir wollen und dann auch was wir tun.
Wenn A B verursacht und B C verursacht, ist es richtig, zu sa-
gen, dass A C verursacht. Aber in sehr vielen Fällen kann A C nur
verursachen, indem es B verursacht und B C verursacht. A kann C
nicht an B vorbei verursachen. Es gibt keine direkte Route von A
zu C. Deshalb ist B ein unüberspringbares Element in der kausalen
Kette. In diesem Sinne ist, dass die Menschen bestimmte interne
Zustände ausbilden, ein unüberspringbares Element in der kausa-
len Geschichte ihrer Handlungen. Und Menschen sind keine Do-
minosteine, sie haben eine äußerst komplizierte, sich aus unendlich
vielen Faktoren entwickelnde und sich ständig verändernde indivi-
duelle innere Struktur, so dass es gut sein kann und in vielen Fällen
sehr wahrscheinlich ist, dass der eine unter dem und dem kausalen
Einfluss die Handlung a tut und der andere unter demselben Ein-
fluss b tut. Und selbst wenn beide dasselbe tun, tun sie das, weil
sie so sind, wie sie sind, und das wollen, was sie wollen. Dieses Ich,
aus dem die Handlung kommt, ist, auch wenn es sich letzten Endes
selbst externen Faktoren verdankt, in dem kausalen Prozess, der zu
unseren Handlungen führt, unübergehbar. Und die Erklärung einer
Handlung von innen, aus dem Ich, ist deshalb immer die beste Er-
klärung, die wir geben können. Alle Erklärungen, die auf Ursachen
zurückgreifen, die in der kausalen Genese weiter zurückliegen, sind
schlechter, weil die einzelnen Ursachen, je weiter sie zurückliegen,
immer weniger Anteil daran haben, dass eine spezielle Handlung
geschieht. Und selbst wenn es faktisch möglich wäre, zu benennen,
welches zu einem bestimmten Zeitpunkt alle externen Ursachen
sind, die zu einer Handlung führen, und die Handlung im Rekurs
auf diese Ursachen zu erklären, wäre es, wenn dann gefragt würde:
»Ja, und wieso führen diese Faktoren gerade zu dieser Handlung?«,
unumgänglich, auf die Person, die die Handlung vollzieht, auf ihre
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Menschen sind nicht nur aktive Wesen, sie sind sich ihres Aktiv-
seins auch bewusst. Sie wissen, dass sie Handlungen initiieren und
die archē dessen, was sie tun, in ihnen liegt. Der Grund ihres Akti-
vitätsbewusstseins liegt offenkundig darin, dass sie im Unterschied
zu nicht-menschlichen Lebewesen ihre eigenen mentalen Zustände
zum Gegenstand ihres Denkens, Erkennens und Sprechens machen
können. Sie können deshalb wissen, dass eine Bewegung, in der sie
sind, ihren Ursprung in der eigenen Nervosität, der eigenen guten
Laune, dem eigenen Zorn oder dem eigenen Wollen hat.
Wenn jemand aus Nervosität, ohne es zu merken, mit den Fingern
auf den Tisch trommelt und sich dessen nachträglich bewusst wird,
versteht er das Geschehen als seine Handlung, als etwas, dessen Ur-
sprung in ihm lag. Er hat zwar keine direkte Kausalitätserfahrung,
er hat die Verursachung der Bewegung durch seine Nervosität nicht
direkt erfahren oder gespürt, trotzdem ist er sich sicher, dass sie die
Ursache war, und deshalb sieht er sich als Akteur: ich habe es getan.
Dem Aktivitätsbewusstsein geht offensichtlich in diesem wie auch in
allen anderen Fällen bereits ein Ichbewusstsein voraus. Der Anfang,
so denkt man, liegt in mir.
Der größeren Ichhaftigkeit der Handlungen, die man tut, weil
man sie tun will, entspricht ein sehr viel deutlicheres Aktivitätsbe-
wusstsein. Wenn ich zum Bahnhof gehe, um nach Zürich zu fahren,
bin ich mir bewusst, dass ich das will und dass sich dieses Wollen
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aus anderen Wünschen, die ich habe, ableitet. Was ich tue, hat eine
breitere mentale Vorgeschichte, zu ihr gehören auch bereits verschie-
dene Handlungen, deren ich mir als meiner Aktivitäten bewusst bin.
Es kann also für mich kein Zweifel daran bestehen, dass der Anfang
der Bewegung in mir liegt und ich die Handlung initiiere und steuere.
Ein volleres Bild des Aktivitätsbewusstseins ergibt sich, wenn
man weitere Aspekte von Handlungen, die man tut, weil man sie tun
will, heranzieht. So steht man hinter einer solchen Handlung. Sie ist
etwas von einem Gewolltes. Sie ist einem nicht äußerlich. Auch dies
steht einem vor Augen. Besonders wichtig ist der Aspekt der Kon-
trolle. Wir delegieren, wie wir sahen, unsere Handlungen an sub-
personale Mechanismen, und falls eine Handlung anders verläuft als
gewollt, steuern wir nach, wir greifen ein und bringen das Gesche-
hen wieder in die Spur des Wollens. Diese Erfahrung des Eingreifens
vermittelt stark den Eindruck der Aktivität. Indem wir eingreifen,
verändern wir etwas, was ohne diesen Eingriff anders verliefe. Wir
sind es, so sind wir uns bewusst, die bestimmen, was geschieht, wir
steuern und kontrollieren das Geschehen – durch unser Wollen und
am Maßstab des Wollens.
Das gilt nicht nur für das Wie, sondern auch für das Ob des Han-
delns. Auch hier gibt es Spielräume und Zonen des Anders-Könnens.
Es steht uns frei, das eine wie auch das andere zu tun. All dessen ist
man sich bewusst. Und damit ist man sich erneut bewusst: ich be-
stimme, durch mein Wollen, was geschieht. Ich bestimme, welche
der mir offen stehenden Optionen ich ergreife. Es ist völlig rich-
tig, die Handlung und den Handelnden unter diesen Bedingungen
»frei« zu nennen. »A free agent«, so schreibt Hobbes, »is he that
can do if he will, and forbear if he will.«25 Die Überzeugung, dass
man frei ist in dem, was man tut, wird auf diese Weise zu einem Teil
des Aktivitätsbewusstseins. Diese Verbindung von Aktivitäts- und
Freiheitsbewusstsein bildet ohne Zweifel eines der mächtigsten Ele-
mente unseres Selbstverständnisses.
In diesem Kontext ist es interessant, dass es zu den frühen Er-
fahrungen eines kleinen Kindes gehört, dass es Dinge gibt, die sich
nicht nach dem eigenen Wollen richten und die es deshalb nicht
beeinflussen kann, und andere Dinge, so die Bewegungen der eige-
nen Arme und Hände, auf die es Einfluss hat. Es lernt, dass es die
25 Th. Hobbes: Of Liberty and Necessity. The English Works, ed. W. Mo-
lesworth, vol. IV (London 1840), 229–278, 275.
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kleine Glocke, die über seinem Platz hängt, zum Klingen bringen
kann, wenn es das Band, an dem sie hängt, mit der Hand bewegt.
Und dass es dazu die Hand an das Band bringen kann. Der Körper
antwortet auf das Wollen und wird als solcher erfahren. Manches
geschieht, so also schon die frühe Erfahrung, durch mich. Ich selbst
setze es in Gang.26 Auch in diesem frühen Stadium setzt das Aktivi-
tätsbewusstsein bereits ein wie immer geartetes rudimentäres Ichbe-
wusstsein voraus. Es kann sein, dass die beschriebene frühkindliche
Erfahrung selbst eine von mehreren Quellen des Ichbewusstseins ist,
so dass erst, wenn dieses Ichbewusstsein entstanden ist, auch von
einem Aktivitätsbewusstsein gesprochen werden kann.
Sich bewusst zu sein, dass man etwas tut, weil man es tun will,
heißt wiederum nicht, dass man die Verursachung selbst in irgend-
einer Weise erlebt. Es ist unklar, ob es überhaupt eine genuine Er-
fahrung der Verursachung gibt. Ich nehme an, dass es sie nicht gibt.
Aber selbst wenn, könnte man im Falle einer durch ein Wollen ver-
ursachten Handlung nicht davon sprechen. Dafür ist viel zu unklar,
wessen wir uns genau bewusst sind, wenn wir uns eines Wollens
bewusst sind. Mein Wunsch, eine Freundin in der Oper zu treffen,
hat keine phänomenalen Qualitäten wie ein Schmerz oder ein Un-
wohlsein oder wie Durst. Ich fühle nicht, dass ich den Wunsch habe.
Dennoch bin ich mir, wenn ich zum Bahnhof gehe, sicher, dass die
Bewegung durch mich geschieht, dass ihr Anfang in mir liegt und
dass ich sie tue, weil ich sie tun will.
Man muss aufpassen, nicht zu viel in das Aktivitätsbewusstsein
hineinzuinterpretieren und ihm Inhalte zuzuschreiben, die es nicht
hat. Das Aktivitätsbewusstsein ist für unsere Art des Lebens es-
sentiell, aber es bleibt vage, und das ist nichts, was uns im Alltag
stört. Man muss auch sehen, dass das Phänomen selbst, die Ver-
ursachung einer Handlung durch uns, keineswegs aus sich selbst
durchsichtig ist. Dafür wissen wir viel zu wenig darüber, was genau
geschieht. – Manche meinen, man erfahre eine gewollte Handlung
nicht als durch einen mentalen Zustand, eben durch ein Wollen,
verursacht, sondern als durch einen selbst verursacht.27 Der Unter-
26 Vgl. hierzu J. Piaget: Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde (Stuttgart
1974; frz. Neuchâtel 1950), 214–227; N. Nelkin: Consciousness and the Ori-
gins of Thought (Cambridge 1996), 256–262; J. L. Bermúdez: The Paradox
of Self-Consciousness (Cambridge, Mass. 1998), 259–263.
27 So z. B. T. Horgan: Injecting the Phenomenology of Agency into the Free
Will Debate. Oxford Studies in Agency and Responsibility 3 (2015), 34–61, 35 f.
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31 Vgl. Horgan, ebd. 36 oder auch G. D. Caruso: Free Will and Conscious-
ness (Lanham 2012), 89: »… my feeling of up-to-me-ness is directly connec-
ted to my feeling of being able to have done otherwise.«
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die Umstände meines Handelns Bescheid weiß. Was sollte ein davon
abgelöstes Freiheitserlebnis sein?
Man verfehlt die Tatsachen ganz, wenn man das Freisein mit
einer unverursachten Verursachung assoziiert und annimmt, Teil
des Aktivitätsbewusstseins sei die Erfahrung, dass am Anfang un-
serer Handlungen eine solche unverursachte Ursache stehe. Auch
das wird behauptet.32 Das scheint mir jedoch eine krasse Fehlbe-
schreibung zu sein. Wenn ich jetzt zum Bahnhof gehe, weil ich
nach Zürich fahren will und ich mir der Vorgeschichte der Hand-
lung bewusst bin, der verschiedenen Wünsche, der vorangegangenen
Abwägungen und Überlegungen, dann stoße ich in dieser Vorge-
schichte nicht auf eine unverursachte Ursache. Normalerweise bin
ich mir wohl nicht mehr bewusst als etwa der Vorgeschichte, wie
ich sie beschrieben habe. Und ich frage nicht weiter zurück, nach
der Genese der einschlägigen Wünsche, warum mir in der Abwä-
gung dieser A spekt so wichtig und jener weniger wichtig erschien,
etc. Und wenn ich es doch tue, stoße ich auf entferntere Elemente
in der Genese der Handlung, und schon bald wird sich die weitere
Vorgeschichte im Dunkeln verlieren. Es ist gewiss so, dass ich mir
meiner Wünsche und der sonstigen Zustände und Aktivitäten im
Vorfeld einer Handlung nicht als notwendiger Resultate einer deter-
ministischen Kausalkette bewusst bin, aber es ist ein non sequitur,
daraus zu schließen, ich erführe die mentalen Elemente als unver-
ursacht. Mit diesen Alternativen wird eine Distinktheit an das Akti-
vitätsbewusstsein herangetragen und in es hineininterpretiert, die es
nicht hat. Das Bewusstsein des eigenen Aktivseins enthält in dieser
Hinsicht nichts, es ist frei von philosophischen Theorien. Wenn je-
mand glaubt, man könne, dass eine Handlung durch mich geschieht
und dass ich stattdessen anders hätte handeln können, nur erklären,
wenn man eine unverursachte Ursache annehme, ist das das Ergebnis
einer konstruktiven philosophischen Theoriebildung, aber nicht der
Inhalt des Aktivitätsbewusstseins.
Wie schon gesagt, ist alles, was im Vorangegangenen über das
Aktivsein dargelegt wurde, mit der Annahme einer kausalen Welt
und auch mit der Annahme einer deterministischen Welt vereinbar.
Aktiv zu sein und etwas zu beginnen, ist nichts, was aus der kausalen
Welt herausfällt. Und dasselbe gilt auch für das Aktivitätsbewusst-
sein. Es enthält nichts, was mit der deterministischen Annahme oder
32 Vgl. zum Beispiel Caruso, Free Will and Consciousness, 5, 88, 179 ff.
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mit der Annahme einer kausalen Welt kollidiert. Man stößt in dem
Bewusstsein seines eigenen Aktivseins nicht auf ein »magic self«, das
unverursacht etwas verursacht.33
Oft wird, auch von Philosophen, aber vor allem von Psychologen
und Neurowissenschaftlern, angenommen, das Aktivitätsbewusst-
sein enthalte mehr, als die Wirklichkeit halten könne. Der »sense of
agency« spiegele nicht die Realität, er sei vielmehr die Quelle davon,
dass wir uns fortwährend falsch verstehen und die Ergebnisse der
Wissenschaften nicht an uns heranlassen. Das Aktivitätsbewusstsein
bringe uns dazu, uns als Wesen zu sehen, die unverursacht etwas in
Gang setzen, die über eine Freiheit verfügen, die mit den Gesetzen
der Kausalität nicht vereinbar ist, und die deshalb außerhalb der
kausalen Ordnung stehen. All diese Vorstellungen seien aber illu-
sionär. Wenn man in dieser Weise dualistische und kontra-kausale
Theoriestücke in das Aktivitätsbewusstsein hineinliest, ist es nicht
verwunderlich, dass man anschließend zu der Diagnose kommt, es
sei die Quelle von hartnäckigen Illusionen. Doch in Wirklichkeit
enthält das Bewusstsein unseres Aktivseins diese von außen heran
getragenen Elemente nicht. Es hat einfach nicht die Distinktheit,
die es dafür haben müsste. Es enthält keine Theorie. Alle diese Vor-
stellungen von unverursachten Ursachen und einer kontra-kausalen
Freiheit sind Konzepte, wie sie innerhalb von Theorien entwickelt
werden. All dies sind Möbel aus dem Salon der Theorien, aber nicht
die Inhalte des Bewusstseins davon, dass die Anfänge unserer Hand-
lungen in uns liegen und dass deshalb, was geschieht, durch uns
geschieht. Wir erfahren uns nicht als unverursachte Ursachen, als
Besitzer einer inkompatibilistischen Freiheit und als außerhalb der
kausalen Welt stehend.
Wir haben, so meine ich, keinen Grund, das Aktivitätsbewusst-
sein, wie es jedermann hat, für illusionär zu halten. Es entspricht
vielmehr den objektiven Fakten des menschlichen Aktivseins. Das
schließt nicht aus, dass wir uns in einzelnen Fällen für Akteure hal-
ten, ohne es zu sein. Und es schließt auch nicht aus, dass man uns
33 Vgl. D. M. Wegner: Self is Magic, in: J. Baer et al. (eds.): Are We Free?
Psychology and Free Will (Oxford 2008), 226–247. Wegner setzt in seinen
Überlegungen voraus, dass wir auf Grund der Art, wie wir unsere Hand-
lungen erfahren, glauben, wir seien »uncaused causes« unseres Verhaltens
(p. 226). Oder wie er auch, etwas vorsichtiger, sagt, es sei eine Tendenz des
Menschen, »one’s own causal influence as supernatural« zu sehen (p. 228).
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§3
Das Ich und das Wollen
und zum Beispiel meine Finger gegen den Abzug eines Gewehrs
drückt.8 Nicht ich bin es, der handelt, das Wollen in mir verursacht,
wie eine fremde Person in mir, das, was ich tue. Man sieht, wieweit
die Externalisierung des Wollens und die Abtrennung des Wollens
in mir von meinem eigenen Ich gehen kann.
Sind Aussagen so abstrus wie die von Chisholm, deutet das da-
rauf hin, dass der Druck im Kessel der Theoriebildung sehr hoch
ist. Es mögen verschiedene Ängste sein, die den Druck erzeugen,
das eigene Wollen zu externalisieren und von dem, was man ist, zu
separieren. Eine zentrale Rolle spielt die Angst, dass die Menschen
und ihre Handlungen vollständig in ein naturhaftes, kausales Ge-
schehen aufgehen und nicht mehr sind als ein kleiner, unbedeutender
Teil im universalen kausalen Kräftespiel. Es bliebe dann, so fürch-
tet man, nichts anderes, als die Vorstellung eigener Aktivität und
Selbststeuerung als bloße Illusionen zu verabschieden. Man kann
nicht leugnen, dass Wünsche wie andere mentale Zustände, ganz so
wie es Hobbes und Hume gesehen haben, kausale Faktoren unter
anderen kausalen Faktoren sind. Deshalb der Impuls, das eigene Ich
aus diesem kausalen Geschehen herauszuziehen, um dem Menschen
auf diese Weise, der vermeintlich einzig möglichen, eine Position zu
sichern, die seine Selbstbehauptung als aktives, aus sich selbst han-
delndes Wesen erlaubt.
Es ist nicht schwer zu sehen, was in diesen Theorien beiseite ge-
schoben wird: dass mein Wollen nicht eine subjektlos in mir vorhan-
dene Kraft ist, sondern tatsächlich mein Wollen. Ich bin es, der will.
Das Wollen ist nicht ohne dieses Ich, es vagabundiert nicht unge-
bunden in mir herum, und es ist auch nicht eine fremde, selbständig
agierende Person in mir. Gewiss, die genannten Autoren würden
einräumen, dass das Wollen in einem bestimmten Sinne meins ist,
insofern nämlich, als es in mir, etwas in meiner Person ist. Und in-
sofern sei es auch nicht subjektlos. Aber damit ist die Verbindung
des Wollens zum Ich entscheidend unterbestimmt. Mein Wollen ist
nicht nur in der Weise meins, in der meine Leber oder meine Haare
meine sind. Und es ist auch nicht nur in der Weise meins, in der
meine Meinungen oder meine Gedanken meine sind.
Versuchen wir, uns das in drei Argumentationsgängen klarzu-
machen:
1. Wenn es gelingt, etwas Gewolltes zu realisieren, ist mir das, wie
wir schon sahen, angenehm, es berührt mich positiv. Wenn es nicht
gelingt, ist das frustrierend und unangenehm. In diesen Empfindun-
gen äußert sich, dass eine Handlung dadurch, dass ich sie will, für
mich Bedeutung gewinnt. Sie wird für mich wichtig. Darin offenbart
sich eine besondere Verbindung des Wollens mit dem eigenen Ich.
Etwas zu wollen, bedeutet, dass etwas für mich wichtig ist, dass et-
was für mich positiv oder negativ ist. Zum Wollen gehört wesensmä-
ßig dieser Rückbezug auf die eigene Person, dieser durch das Wollen
selbst entstehende Kontext des Für-mich oder, anders ausgedrückt,
diese Form der Reflexivität. Sie gibt dem Wollen eine, so habe ich
schon gesagt, besondere Ichhaftigkeit, wie sie das Meinen und an-
dere mentale Zustände nicht haben. Diese Ichhaftigkeit geht über die
Ichhaftigkeit hinaus, die das Wollen, weil es immer das Wollen von
jemandem ist, mit allen anderen mentalen Zuständen teilt. Ich nenne
sie, um einen Namen zu haben, reflexive Ichhaftigkeit.
Stellen wir uns vor, ich bin in einem mentalen Zustand, der mich
dazu bringt, etwas zu tun. Aber dass ich es tue, ist mir gleichgültig.
Es berührt mich nicht. Und es würde mich auch nicht negativ be-
rühren, wenn ich, was ich da tue, nicht tun würde. Das Ganze läuft
in mir ab, ohne mich zu berühren, ohne mich zu betreffen, ohne
mir wichtig zu sein. In diesem Fall wäre der mentale Zustand, in
dem ich bin und der das Geschehen in Gang setzt, kein Wollen. Er
wäre etwas ganz anderes. Ihm fehlt die beschriebene weitergehende
Bindung an die eigene Person, also die reflexive Ichhaftigkeit. Die
Rückstufung des Wollens zu etwas in oder an mir und die Reduktion
seiner Ichhaftigkeit auf die Zugehörigkeit zu jemandem ist gerade
unmöglich. Wenn ich etwas will, macht es mir etwas aus, ob das
Gewollte dann auch geschieht oder nicht. Das Wollen und das Mir-
etwas-Ausmachen gehen notwendigerweise zusammen. Man kann
aber niemals sagen: Etwas macht mir etwas aus, aber das ist etwas
Fremdes in mir. Und deshalb kann man auch nicht sagen: Ich will
etwas, aber das ist etwas Fremdes in mir.
Diese Überlegung lässt noch einmal erkennen, wie unsinnig die
Vorstellung ist, dass etwas, wenn es durch mein Wollen geschieht,
nicht durch mich geschieht. Das Wollen und das eigene Ich sind
inseparabel miteinander verbunden, und das Wollen kann dem Ich
nicht enteignet werden. Es gehört auf eine besondere Weise zu mir.
Das gilt für jedes Wollen, gleich welcher Art. Dadurch, dass es ein
Wollen ist, hat es diese besondere Ichhaftigkeit.
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2. Das zeigt sich auch an einem anderen Phänomen, das schon be-
sprochen wurde. Wenn ich etwas tue, weil ich es tun will, stehe ich
durch mein Wollen hinter der Handlung. Ich stehe hinter ihr, weil
sie durch mein Wollen geschieht. Wo das Wollen, da das Ich. Wenn
ich etwas tue, weil ich nervös bin, stehe ich hingegen nicht hinter
der Handlung. Sie kommt aus mir, aber sie ist mir, weil sie nicht ge-
wollt ist, äußerlich.
Damit tritt etwas Entscheidendes hervor. Wir heben, ich habe es
schon erwähnt9, von dem Ich im Sinne der Person ein engeres Ich
ab, ein Ich, das durch unser Wollen definiert ist. Dieses Ich ist eine
Person, sofern sie will. Es hängt viel daran, diese Ausgrenzung eines
engeren Ichs genau zu verstehen. Das Ich im Sinne der Person ist
eine Person mit allem, was zu dieser Person gehört, inklusive ihres
Wollens. Eine Person, so verstanden, kann etwas tun, weil sie es tun
will, sie kann aber auch etwas aus Nervosität oder anderen nicht-
volitiven Ursachen tun. Allerdings empfindet sie, wenn sie etwas
aus Nervosität tut und nicht, weil sie es will, die Handlung als ihr
äußerlich, eben weil sie sie nicht will und es ihr passiert, dass sie sie
tut. Das Ich, auf das sich dieses »ihr äußerlich« bezieht, kann nicht
das Ich im Sinne der Person sein, durch die die Handlung geschieht,
es ist das Ich der Person, allein sofern sie will. Ihr ist die Handlung
äußerlich. Wir schneiden damit aus allem, was zu der Person gehört,
speziell das Wollen heraus und beziehen uns auch auf diese exklusiv
durch ihr Wollen bestimmte Person mit »ich«, jetzt in einem ande-
ren, eben in diesem Sinne. Wir verwenden »ich«, »mir«, »mich« also
keineswegs univok, sondern in verschiedenen Bedeutungen. Und
wir wechseln mühelos, ohne uns dessen bewusst zu sein, zwischen
diesen – weiteren und engeren – Bedeutungen hin und her.
Das Verhältnis des Ichs im Sinne der Person und des Ichs im enge
ren Sinne ist das eines Ganzen zu einem Teil. Die Person, sofern sie
etwas will, ist ein Teil der Person mit allem, was zu ihr gehört. Des-
halb wäre es falsch, zu meinen, das Ich im engeren Sinn sei nichts
Reales, sondern nur ein Gedankending. Das ist nicht der Fall. Das
Ich im Sinne der Person ist etwas Reales, und ein Teil von ihr ist dann
auch etwas Reales. Nur dass dieser Teil nicht für sich allein existiert,
sondern nur als Teil des Ganzen. Diese Abtrennung des Teils vom
Ganzen, aber nur diese, ist bloß eine gedankliche Operation.
Das engere Ich ist durch das Wollen definiert. Das Wollen gibt
ihm seine Substanz und Inhalte, ja, es gibt ihm überhaupt erst seine
Existenz. Wenn wir aufhören würden, etwas zu wollen, gäbe es auch
dieses Ich nicht mehr. Am Wollen bemisst sich also nicht nur, was
für mich von Belang ist, es definiert auch das Ich im engeren Sinn.
Es definiert, was ich in einem wichtigen Sinn bin. Deshalb kann man
sagen: Wo das Wollen, da das Ich im engeren Sinne, und wo das Wol-
len nicht, da auch dieses Ich nicht.
Warum grenzen wir das engere Ich des Wollens aus? Es drängt
uns offenbar ungemein stark dahin, Handlungen, die wir tun, weil
wir sie wollen, und Handlungen, die aus uns, aber nicht aus unse-
rem Wollen kommen, zu unterscheiden. Erstere geschehen im vol-
len Sinne durch uns, letztere geschehen auch durch uns, aber auch
nicht durch uns, sie geschehen nicht durch uns im engeren Sinn.
Die Gleichsetzung von »durch mein Wollen« und »durch mich« ist
für uns von zentraler Bedeutung, und deshalb grenzen wir das en-
gere Ich des Wollens aus. Hierin äußert sich erneut, wie stark wir
das Wollen an das eigene Ich binden. Wir stoßen damit auf einen
zweiten Aspekt der besonderen Ichhaftigkeit des Wollens. Sprechen
wir, um auch dafür einen Namen zu haben, von der definitorischen
Ichhaftigkeit.
Man könnte den Verdacht haben, hier werde zu viel Emphase auf
ein wenig bedeutsames, ja im Grunde belangloses Phänomen gelegt.
Selbstverständlich kann man, so der Einwand, ein Ich, das durch
das Wollen definiert ist, von dem Ich der Person abheben. Aber das
könnte man genauso auch mit anderen mentalen Zuständen machen.
Man kann ein Ich, das durch das, was man meint, definiert ist, von
dem Ich der Person abstrahieren und dann sagen, wo eine Meinung,
da auch dieses Ich im engeren Sinne, und wo keine Meinung, da auch
dieses Ich nicht. Und dann müsste man auch von einer besonderen
Ichhaftigkeit des Meinens sprechen. Ähnliche Ausgrenzungen eines
engeren Ichs könnte man mit anderen mentalen Zuständen wieder-
holen, und dann würde sich die angebliche Besonderheit dieser Art
von Ichhaftigkeit schnell verflüchtigen. Das Ganze wirke deshalb
wie ein Taschenspielertrick.
Der Einwand macht deutlich, dass die Ausgrenzung des engeren
Ichs das Ergebnis einer Abstraktionsleistung ist, die wir vornehmen.
Aber einen entscheidenden Sachverhalt berührt er gar nicht. Wir
könnten, so sagt er, ein Ich des Meinens ausgrenzen. Ja, wir könn-
ten es, aber wir tun es nicht. Beim Wollen hingegen tun wir es. Und
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das ist nicht eine Flause, wir tun es aus einer tiefen Notwendigkeit.
Das führt zum dritten Argumentationsgang.
3. Wie kommt es zu der Sonderstellung des Wollens und seiner spe-
zifischen Ichhaftigkeit? Was die reflexive Ichhaftigkeit angeht, muss
man sagen: Es ist einfach so, dass unser Wollen bedeutet, dass uns
bestimmte Dinge positiv oder negativ berühren und für uns wich-
tig sind, und dass durch unser Wollen festgelegt wird, was uns po-
sitiv und negativ berührt und was für uns wichtig ist. Das liegt in
der Natur des Wollens. Das Wollen hat, ohne unser Zutun, diese
Ichhaftigkeit. Und warum grenzen wir, nun unsererseits, zusätz-
lich ein Ich aus, das allein durch das Wollen definiert ist? Warum
dieses spezielle Ich neben dem Ich der Person? Warum liegt uns so
an dem Unterschied zwischen Handlungen, die aus uns, aber nicht
aus unserem Wollen kommen, und Handlungen, die wir tun, weil
wir sie tun wollen, und warum nennen wir jene uns äußerlich und
trennen sie damit von einem engeren Ich ab? Warum ist das von so
grundsätzlicher Bedeutung?
Ich hatte schon erwähnt, dass es zu den frühesten Erfahrungen
eines kleinen Kindes gehört, dass es Dinge gibt, die einfach gesche-
hen, wie auch immer es dazu kommt, und andere Dinge, auf die es
Einfluss hat, die geschehen, weil es das will. So kann es die eigenen
Arme und Beine bewegen, wenn es das will. Es kann mit seiner Hand
eine Faust machen und die Hand wieder öffnen. Und es kann die
kleine Glocke über seinem Platz zum Klingen bringen, indem es
das Band, an dem sie hängt, mit der Hand in Bewegung setzt. Diese
Erfahrung der eigenen Handlungsmacht ist für das Kind offenbar
faszinierend. Es freut sich daran und wiederholt deshalb viele Male
die Handlungen, zu denen es fähig ist. Die Welt erweist sich in dieser
Erfahrung als ein Platz, in dem nicht alles einfach geschieht, in den
man vielmehr hineinwirken kann. Und es erfährt sich als ein aktives
Wesen, nicht bloß als ein Wesen, das passiv, beobachtend, riechend,
hörend, fühlend hinnimmt, was um es herum geschieht. Es kann
etwas bewirken, etwas zu der Welt hinzutun. Das ist eine ganz und
gar elementare Erfahrung.10
Diese Erfahrung setzt, wie schon gesagt, ein rudimentäres Ichbe-
wusstsein voraus. Und sie setzt in einer wie immer gearteten Vor-
form ein Bewusstsein des eigenen Wollens voraus. Das Kind wird
noch lange nicht fähig sein, einen mentalen Zustand als solchen
begrifflich zu erfassen. Aber es will etwas, das ist eine davon un-
abhängige Tatsache, und diese Tatsache schiebt sich in irgendeiner
Form in sein Bewusstsein hinein. Deshalb erfährt es sich als jemand,
der durch eigene Kraft: weil er es will, etwas in Bewegung setzen
kann. Ich – oder das, worauf sich das Kind später mit »ich«, »mir«
etc. beziehen wird –, Wollen und eigenes Tun sind unlösbar mit-
einander verbunden. Wenn das Kind etwas »durch sich« tut, heißt
das in seiner Welt »durch sein Wollen«. Und das »durch etwas an-
deres« bedeutet »ohne sein Wollen«. Das Ich ist da, wo das Wol-
len ist. Es steht beim Wollen. Erst sehr viel später lernt es, dass es
Dinge gibt, die, obwohl es sie nicht will, dennoch aus der eigenen
Person kommen.
Man kann sagen, die Ausgrenzung eines ausschließlich durch das
Wollen bestimmten Ichs hat den Effekt, die Unterscheidung: von in-
nen / von außen, die, wie wir sahen, seit der Antike für das Verständ-
nis des Aktiv- und Passivseins von so grundlegender Bedeutung ist,
im Inneren zu wiederholen. »Von innen« heißt zunächst »aus der
eigenen Person«, »von außen« heißt »von außerhalb der eigenen
Person«. Wiederholt man die Unterscheidung im Inneren, gibt es
in der Person selbst ein »von innen« und ein »von außen«. Wenn
ich aus Nervosität mit den Fingern auf den Tisch trommele, kommt
das aus meiner Person, in diesem Sinne von innen, aber nicht aus
meinem Wollen, und deshalb ist es mir äußerlich. Es kommt, relativ
auf das Ich des Wollens, von außen.
Nach dem, was über die frühkindliche Entwicklung gesagt wurde,
liegt es nahe, zu vermuten, dass die genetische Entwicklung tatsäch-
lich andersherum verläuft: dass wir zunächst eine scharfe Unter-
scheidung machen zwischen dem, was aus unserem Wollen kommt,
und dem, was anderen Quellen, was immer diese seien, entspringt.
»Von innen« heißt dann exklusiv: »durch mein Wollen«. Und dass
man erst später lernt, dass ein Teil dessen, was man bisher als von
außen kommend wahrnahm, aus der eigenen Person, wenn auch
nicht aus dem eigenen Wollen, kommt. Man würde demnach nicht
entdecken, dass es im Inneren auch etwas Äußeres gibt, sondern dass
es im Äußeren auch etwas Inneres gibt. – Wie immer man sich das
im einzelnen zurechtlegen mag, es bleibt dabei, dass die originäre
Vorstellung die ist, dass dann etwas durch mich geschieht, wenn es
durch mein Wollen geschieht. Das Ich steht beim Wollen. Und das
eine ist vom anderen nicht ablösbar.
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11
Man kann darauf hinweisen, dass mich eine Handlung, die ich tue, weil
ich nervös bin, gegebenenfalls stören und mich deshalb negativ berühren
kann oder mir in besonderen Umständen vielleicht sogar willkommen sein
kann. Aber das ändert nichts. Denn in diesen Fällen resultiert das negative
oder positive Betroffensein offensichtlich aus einem hinzukommenden Wol-
len, aber eben nicht aus der tatsächlichen Ursache der Handlung. Wenn mich
eine Handlung stört, dann relativ auf ein Wollen, und wenn sie mir, obwohl
nicht durch ein Wollen verursacht, willkommen ist, dann, weil sie einem
Wollen entspricht. Dieser Hinweis bestätigt also nur, dass allein das Wollen
das »für mich« begründet.
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der jeweiligen Person subjektlos vorhanden ist, auf gut und schlecht
hin prüft und es im positiven Fall in das Ich hineinlässt und es sich
aneignet und im negativen Fall endgültig verwirft und expropriiert?
Doch was sind die Ressourcen, die es befähigen, wollensunabhängig,
vor allem eigenen Wollen diese Prüfung vorzunehmen? In drei Vari-
anten wurde diese Idee eines Vernunft-Ichs entfaltet: Die erste geht
davon aus, dass es einen Gott gibt und dass, was seinem Wollen ent-
spricht, gut ist und, was seinem Wollen zuwiderläuft, schlecht. Die
Vernunft vermag zu erkennen, was in dieser Weise gut und schlecht
ist, und kann anhand dieses vom menschlichen Wollen unabhängi-
gen Standards das Wollen als gut und schlecht beurteilen. Wir kön-
nen dann das Wollen, das auf etwas Gutes geht, approbieren, und
das, das auf etwas Schlechtes aus ist, verwerfen. Das Ich ist in die-
ser Konzeption eine ausschließlich kognitive Instanz ohne eigene
Ressourcen. Die Standards kommen von außen, man muss sie nur
erkennen. Doch diese Vorstellung eines Vernunft-Ichs scheitert aus
naheliegenden Gründen. Wir haben, wie ich annehme, keine aus-
reichenden Evidenzen für die hier gemachten religiösen Annahmen.
Und selbst wenn man für wahr halten wollte, dass es einen Gott gibt
und dass er von der Art einer Person ist, woher will man wissen, was
er will und was er nicht will? Das sind unlösbare Probleme. Man
verliert sich hier in Konstrukte und Projektionen.
Die zweite Theorievariante entgeht diesen Schwierigkeiten. Sie
glaubt auch, die Vernunft erkenne, oder konkreter: wir erkennten,
was gut und schlecht, wünschenswert und meidenswert ist, versteht
das Gut- und Schlechtsein aber anders. Diese Eigenschaften sind
nicht auf ein göttliches Wollen relativ, vielmehr inhärieren sie objek-
tiv, wollensunabhängig, bestimmten Dingen. Dass Dinge gut oder
schlecht sind, ist, so die Vorstellung, Teil der von uns unabhängigen
Wirklichkeit. Auch in diesem Fall kommen die Standards, an denen
das menschliche Wollen gemessen wird, also von außen, man muss
sie nicht mitbringen, sondern nur erkennen, was sie sind. Das Ich
hat so wenig wie in der ersten Theorie einen eigenen Gehalt, eine
Substanz, auf Grund deren ihm etwas äußerlich sein könnte. Es fin-
det diese Substanz in den von ihm unabhängigen evaluativen Ge
gebenheiten, die ihm kognitiv zugänglich sind. Doch wie wir keine
ausreichenden Gründe haben, ein göttliches Wollen anzunehmen,
so haben wir auch keine Gründe, anzunehmen, dass es so etwas
wie ein ontologisch objektives Gut- und Schlechtsein gibt. Die Welt,
wie sie unabhängig von uns ist, enthält keine evaluativen Elemente.
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Und deshalb kann es keine Leistung der Vernunft sein, das Wollen
anhand von Standards dieser Art zu beurteilen. Etwas ist immer in
Bezug auf ein Wollen gut oder schlecht. Gut ist, was in der einen
oder anderen Weise einem Wollen entspricht. Erst ist das Wollen,
dann, davon abhängig, das Gut- und Schlechtsein. Auch diese zweite
Konzeption eines bloß kognitiven Vernunft-Ichs scheitert also.
Die dritte Konzeption eines Vernunft-Ichs ist die kantische. Kant
versucht das Unmögliche. Das Wollen ist dem Ich äußerlich. Und
es darf, wollen die Menschen nicht heteronom agieren, das Han-
deln nur bestimmen, wenn es besondere Bedingungen erfüllt. Doch
Kant lehnt die Vorstellung ab, dass uns, was gut und schlecht ist,
durch Gott vorgegeben wird, und er lehnt genauso ab, dass es uns
die von uns unabhängige Realität vorgibt. Doch woher hat das Ich
dann den Standard, an dem es das Wollen misst? Nicht von außen,
aber auch nicht aus eigenen volitiven Quellen. Denn es ist von allem
Wollen abgelöst. Bloße Kognition und bloßes, vom Wollen abgelös-
tes Überlegen vermögen aber keine Kriterien zu generieren, die ein
Wollen erfüllen muss, damit es handlungsleitend werden darf. Kants
Vernunft-Ich, abgelöst sowohl von äußeren Vorgegebenheiten wie
auch von eigenen volitiven Ressourcen, hat keine Substanz, die es
ihm erlaubte, die ihm zugedachte Aufgabe zu erfüllen. Wir haben
es mit einer philosophischen Erfindung zu tun. Ein Vernunft-Ich
dieser Art kann es, so meine ich, nicht geben.
Was aber soll das Ich, dem das Wollen äußerlich ist, dann sein?
Soll es nicht wie die Vernunft eine kognitive Instanz sein, sondern,
das ist die Modifikation, die Frankfurt vornimmt, selbst eine volitive
Instanz? So dass das Wollen daraufhin geprüft wird, ob es durch ein
jetzt höherstufiges Wollen gewollt und deshalb akzeptiert und ins
Ich hineingezogen wird oder ob es nicht gewollt und deshalb defi-
nitiv verbannt wird. Dieser Schritt, weg vom Vernunft-Ich zu einem
selbst mit volitiven Ressourcen ausgestatteten Ich, leuchtet im Rah-
men der Festlegungen, in denen diese Theoriebildung erfolgt, ein.
Denn wenn die Standards für die Akzeptabilität eines Teils der we-
sensmäßig externen Wünsche nicht von außen kommen, müssen sie
von innen, das heißt aus dem Ich selbst kommen. Und dafür bedarf
es einer Ressource, die selbst nur volitiv sein kann. Ein bloß kogniti-
ves Ich verfügt über eine solche Ressource, wie gesehen, nicht. Doch
dieses höherstufige Wollen, das damit ins Spiel kommt, ist, anders als
Frankfurt glaubt, keine vom normalen Wollen unabhängige Instanz,
die ihm gegenüber eine autochthone Position beanspruchen kann.
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Wie wir erst im Folgenden sehen werden, ist das höherstufige Wol-
len immer aus einem normalen Wollen abgeleitet und tatsächlich nur
dessen Fortsetzung in einer speziellen Applikation. Deshalb haben
wir es nicht mit einer eigenen und unabhängigen höheren volitiven
Instanz dem »normalen« Wollen gegenüber zu tun, sondern, genauer
betrachtet, mit einem Konflikt eines Wollens mit einem anderen
Wollen auf der gleichen Stufe. Auch diese unabhängige volitive In-
stanz höherer Stufe ist eine Chimäre.
Auch von dieser Seite aus – was ist das Ich, dem das Wollen äußer
lich ist? – erweist sich die Tradition der Externalisierung und Ab-
wertung des Wollens als unhaltbar. Sie kann nicht nur die grund-
sätzliche Externalität des Wollens nicht plausibel machen. Sie hat,
so scheint es, auch keine überzeugende Vorstellung davon, was das
vom Wollen losgelöste Ich sein könnte. Wir können die Theorie
zurückweisen.
Ist die Vorstellung der gemäßigten Tradition, dass uns nur bestimmte
unserer Wünsche auf Grund spezieller Eigenschaften äußerlich sind,
plausibler? Wahrscheinlich ist man versucht, diese Frage zu beja-
hen, wie es große Teile der zeitgenössischen Philosophie tun. Aber
wie kann uns ein Wollen äußerlich sein, wenn das wahr ist, was so-
eben über die äußerst enge Verbindung des Wollens und des eigenen
Ichs gesagt wurde? Und was sind die Eigenschaften, die bestimmte
Wünsche uns äußerlich machen? Und was kann das Ich sein, dem
sie äußerlich sind?
Die Vorstellung, dass bestimmte unserer Wünsche problematisch
sind und wir nicht wollen, dass sie handlungsleitend werden, dass es
uns vielleicht sogar lieber wäre, sie gar nicht zu haben, gehört zu den
vertrauten Theorieelementen in der Geschichte des europäischen
Denkens. So ist es in der christlichen Vorstellungswelt eine selbst-
verständliche Annahme, dass es ein sündiges Wollen gibt, dessen
Realisierung die Menschen von Gott entfernt. Ein solches Wollen
stört, es zieht einen in eine Richtung, in die man nicht will. Denn
man ist bestrebt, Gott nahe zu kommen und ein gottgefälliges Leben
zu führen. Es gibt verschiedene Wünsche dieser Art, der paradigma-
tische Fall aber sind die sexuellen Wünsche, sei es generell oder in
bestimmten Ausprägungen oder Umständen.
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wir, um das zu erläutern, noch einmal das Beispiel auf, in dem ich
am Abend eine längst fällige Arbeit fertigstellen will, zugleich aber
auch in die Oper gehen und dort, wie versprochen, eine Freundin
treffen möchte. Nur eines von beidem lässt sich an diesem Abend
realisieren. In der Abwägung kristallisiert sich heraus, dass es mir
wichtiger ist, in der Oper zu sein und mein Versprechen zu halten.
Dies ist mein Wunsch unter dem Strich, den ich dann auch in die
Tat umsetze. Es gelingt mir also, meine Wünsche zu koordinieren
und entsprechend zu handeln. Es wäre nun abwegig, anzunehmen,
daraus, dass ich unter dem Strich in die Oper will, resultiere der hö-
herstufige Wunsch, den Wunsch, die fällige Arbeit fertigzustellen,
nicht zu haben. An diesem Wunsch ist nichts problematisch, und
an ihm wird auch dadurch nichts problematisch, dass er sich im
Konflikt mit dem anderen Wunsch als der schwächere erweist. Ich
gehe zu dem Wunsch nicht auf Distanz, es ist ohne Reserve mein
Wunsch, es ist nur ein anderer Wunsch stärker als er. Deshalb kommt
er nicht zum Zuge.
Auch der Wunsch, der schwächere Wunsch möge nicht hand-
lungsleitend werden, hat hier keinen Ort, weil, dass er handlungs-
leitend wird, nachdem ich entschieden habe, in die Oper zu fahren,
gar nicht mehr zur Debatte steht. Es ist klar, dass er nicht zum Zuge
kommt. Hier braucht man nichts zu wollen. Man könnte dem ent-
gegenhalten, wenn ein Wollenskonflikt in der beschriebenen Weise
geklärt werde, wünsche man sich immer, dass der stärkere Wunsch
handlungsleitend wird und der schwächere eben nicht. Damit sei
man bei einem höherstufigen Wollen. Aber in Wirklichkeit kommt
ein solcher Wunsch überhaupt nicht ins Spiel. Denn wenn ich weiß,
woran mir mehr liegt, folgt nicht noch eine zweite Überlegung zu
der Frage, ob ich nun den stärkeren oder den schwächeren Wunsch
realisieren soll, – eine zweite Überlegung, in der ich mir dann klar-
mache, dass ich immer und so auch in diesem Fall den stärkeren und
nicht den schwächeren Wunsch in die Tat umsetzen will. Eine sol-
che Überlegung wäre offenkundig eine Überlegung zu viel. Wenn
ich weiß, was der stärkere Wunsch ist, realisiere ich ihn, völlig un-
abhängig von irgendeinem höherstufigen Wollen.
Im Opern-Beispiel kommt es also nicht zu einem Wollen zweiter
Stufe. Deshalb kommt es auch nicht dazu, dass mir einer der beiden
Wünsche in der beschriebenen Weise äußerlich ist. Ich bin mit bei-
den im Reinen. Und selbst wenn man – kontrafaktisch – annehmen
wollte, der Wunsch, jeweils das stärkere und nicht das schwächere
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Wollen zu realisieren, spiele eine Rolle, würde auch das nicht dazu
führen, mit dem schwächeren Wollen nicht im Reinen zu sein und
es irgendwie problematisch zu finden. – Es wäre, so zeigen diese
Überlegungen, falsch, zu glauben, jeder Wollenskonflikt generiere
ein höherstufiges Wollen. Und es wäre ebenfalls falsch, zu glauben,
jeder Wollenskonflikt führe dahin, einen der konfligierenden Wün-
sche zu enteignen und zu einem uns äußerlichen Wunsch zu machen.
Davon kann keine Rede sein.
Wenn wir jetzt zu den störenden Wünschen zurückkommen,
scheint es so, als müsse uns dieses Phänomen nicht besonders be-
unruhigen. Denn in beiden Beispielfällen werden das störende Wol-
len und damit auch das darauf gerichtete höherstufige Wollen schnell
verschwinden, wenn sich die beiden Personen der Sachlage bewusst
werden. Der Mann wird sich anders verhalten, und der Wunsch,
immer der Beste zu sein, wird sich verflüchtigen. Möglicherweise
fällt er gelegentlich in das alte Verhaltensmuster zurück, aber nicht
weil er es will, sondern mehr oder weniger instinktiv, aus, wie er
jetzt denkt, schlechter alter Gewohnheit. Genauso im anderen Fall.
Wenn die Frau erkennt, dass ihr Wunsch, Cellistin zu werden, un-
realistisch ist, wird sie ihn schnell begraben. In beiden Fällen ist das
problematische Wollen, zu dem die beiden auf Distanz gehen, ein
flüchtiges Phänomen. Es verschwindet, sobald ihnen klar wird, dass
sie es nicht wollen.
Dass das nicht immer so ist, lässt sich an einem anderen Beispiel
illustrieren. Nehmen wir an, jemand meint, dass die Menschen so
stark auf Reputation, Anerkennung und sozialen Status aus sind, sei
ein evolutionäres Erbe aus einer Zeit, in der sie noch in Stämmen
zusammenlebten und die Anerkennung in der Gruppe für ihr Über-
leben von elementarer Bedeutung war. Dieses Wollen sei, so glaubt
die Person, überholt, es sei funktionslos geworden, weil wir heute
anders leben und es auf andere Dinge ankommt. Und deshalb stört
es sie, sie will nicht, dass das, was sie tut, funktionslos ins Leere läuft.
Doch diese Ablehnung wird das Wollen nicht zum Verschwinden
bringen. Das Streben nach Anerkennung ist zu tief verwurzelt, als
dass es gelingen könnte, es im Zuge dieser Einsicht (unterstellt, es
sei eine) abzuwerfen. In diesem Fall verflüchtigt sich das störende
Wollen also nicht.
Das wird sich bestätigen, wenn wir jetzt zu dem wichtigsten Ty-
pus des problematischen Wollens kommen, dem rebellischen Wollen.
Für ein Wollen dieser Art ist es charakteristisch, dass es sich in einer
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ben zu führen, der überragende Wunsch ist, das ist das Wichtigste.
Die Wünsche sind also eindeutig koordiniert. Sein Wunsch, Sex zu
haben, ist ein Wunsch über dem Strich, aber er ist in dieser Kon-
kurrenz nicht der Wunsch unter dem Strich. Unter dem Strich will
er gottgefällig leben. Dennoch gelingt es ihm nicht – oder nur mit
Mühe, sich sexueller Aktivitäten zu enthalten. Das heißt, er lässt
sich durch seine Wünsche immer wieder verführen, gegen das eigene
stärkere Wollen zu handeln, oder ist zumindest versucht, es zu tun.
Die Koordination des Wollens, seine Ordnung nach stärker und
schwächer hat nicht den selbstverständlichen und unangefochtenen
Effekt, dass er durchgängig dem Wollen unter dem Strich folgt. Es
handelt sich um eine Schwäche in der Umsetzung des Wollens un-
ter dem Strich ins Handeln. Aber diese Schwäche hat einen Grund:
eine besondere Eigenschaft des unterlegenen Wollens. Es gibt keine
Ruhe, es rebelliert und hat etwas Verführerisches. Es bringt einen
in Versuchung, doch gegen seine überlegte Präferenz zu handeln.
Wegen dieses Charakters spreche ich vom »rebellischen« Wollen. Es
erneuert den Krieg und lehnt sich, obwohl unterlegen und geschla-
gen, gegen den Sieger auf.
Die allermeisten Wünsche haben diesen rebellischen Charakter
nicht. Dennoch handelt es sich nicht um ein marginales Phänomen.
Die Philosophie hat ihm seit ihren Anfängen viel Aufmerksamkeit
geschenkt, seine Bedeutung in meinen Augen aber übertrieben und
dramatisiert. Bevor ich mit einigen knappen Bemerkungen auf un-
terschiedliche Arten des rebellischen Wollens hinweise, sei noch
festgehalten, dass in dem geschilderten Fall die störenden sexuellen
Wünsche keineswegs verschwinden, sobald man sich ihres Störens
bewusst wird. Die störenden Wünsche sind also auch in diesem Fall
kein flüchtiges, sondern ein dauerndes Phänomen.
Eine erste Art bilden die sexuellen Wünsche und einige ver-
wandte Wünsche. Augustinus hat einen Wunsch dieser Art »con-
cupiscentia« oder »libido« genannt. Sagen wir, diese Wünsche haben
einen libidinösen Charakter. Sexuelle Wünsche haben, das liegt auf
der Hand, diesen Charakter auch außerhalb eines religiösen Kon-
textes. Man braucht nicht viel Phantasie, um zu erkennen, dass es
ähnliche Konkurrenzen auch geben kann, wenn man alle articuli
fidei beiseite lässt.
Die sexuellen Wünsche haben ihren libidinösen Charakter von
Natur aus, andere Wünsche können ihn unter besonderen Umstän-
den erst annehmen. So können zum Beispiel der Wunsch nach Geld
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15 Vgl. Augustinus: De civitate Dei, XIV, 15, ed. B. Dombart / A. Kalb II,
437; De peccatorum meritis et remissione, XXIV, 36, ed. C. F. Urba / I. Zycha,
108; hierzu G. Bonner: Concupiscentia, in: C. Mayer (Hg): Augustinus-Lexi
kon, vol. 1 (Basel 1986–1994), 1113–1122, 1117.
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tet hat. Wäre es anders, gäbe es uns und unsere Art nicht. Einen
ähnlichen Zusammenhang mit der Erhaltung der eigenen Existenz
und der Reproduktion kann man auch bei den Wünschen vermu-
ten, die durch starke Affekte getrieben werden. Der Durst nach Ra-
che hat, wie sich evolutionsbiologisch untermauern ließe, mit der
genetischen Ausrichtung auf Selbsterhaltung zu tun. Wünsche die-
ser Art haben, so könnte man es fassen, eine besondere biologische
Dringlichkeit.
Das andere ist, dass die Menschen dank ihres im Prinzip unbe-
grenzten Zukunftsbewusstseins und ihrer dementsprechenden Ima-
ginationsfähigkeit Wünsche ausbilden können, die kein anderes Le-
bewesen haben kann. Weil wir ein Bewusstsein von der Zukunft
haben, haben wir eine Vorstellung vom eigenen Leben, das wir vor
uns haben. Deshalb fragen wir uns, wie dieses Leben sein soll, wie
wir es gestalten wollen. Hier hat man Spielräume und man entwi-
ckelt mehr oder weniger bewusst, mehr oder weniger ausdrücklich
übergreifende Kriterien, Ziele und Ideale. Sie können verlangen, sich
zum Beispiel von sexuellen Wünschen nur nach bestimmten Regeln
oder in einem bestimmten Rahmen bestimmen zu lassen. Das heißt,
wir können Wünsche ausbilden, die den libidinösen Wünschen, ob-
wohl wir sie um der Selbst- und Arterhaltung willen haben und sie
tief in uns verankert sind, entgegenstehen und deren Verwirklichung
wir vorrangig finden. Das ist ein Spezifikum des menschlichen Le-
bens. Kein anderes Lebewesen kann die basalen, auf die Selbst- und
Arterhaltung zielenden Wünsche in dieser Weise relativieren. Und
doch bleibt ihnen ihr rebellischer und verführerischer Charakter
erhalten, der uns immer wieder versucht sein lässt, ihnen hier und
jetzt zu folgen, obwohl wir dies in der Summe gerade nicht wollen.
was zuvor über die äußerst enge Verbindung von Wollen und Ich
gesagt wurde.
Ferner hat sich ergeben, dass ein störendes Wollen ein flüchtiges,
aber auch ein – temporär oder dauerhaft – bleibendes Phänomen
sein kann. Es ist keineswegs durchgängig so, dass es verschwindet,
sobald man sich seines Charakters bewusst geworden ist.
Und noch etwas Drittes ist festzuhalten. Wünsche können, wie
wir sahen, durch verschiedene Eigenschaften stören, aber vieles deu-
tet darauf hin, dass das größte oder sogar das eigentliche Problem
das rebellische Wollen darstellt. Das rebellische Wollen verschwin-
det nicht nur nicht, es wird sogar handlungseffektiv, zumindest
kämpft es darum. Während ein Wollen, das einen anderen Makel
hat, aber nicht rebellisch ist, auch wenn es trotz des Makels nicht
verschwindet, sondern bleibt, kaum handlungsleitend werden wird.
Das maßgebliche Wollen, von dem aus der Wunsch nicht gewollt
ist, neutralisiert oder blockiert dieses Wollen, so dass es zwar bleibt,
aber eben nicht zu einer Handlung führt.
stattdessen nur noch ein Wollen »in mir« ist. Das würde bedeuten,
dass es auch aufhört, überhaupt ein Wollen zu sein. Denn ein ich-
loses Wollen gibt es, wie wir sahen, nicht. Wo ein Wollen, da immer
auch das Ich. Ansonsten würde es tatsächlich zu einer bloßen Kraft
in mir herabsinken, die da ist und mich vielleicht zu etwas bewegen
kann, aber nur zu etwas, was mich nichts angeht und mir nichts be-
deutet. Es kann indessen kein Zweifel daran bestehen, dass zum Bei-
spiel sexuelle Wünsche oder ein aus einem Rachegefühl kommender
Wunsch, jemanden zu schädigen, oder suchthafte Wünsche wirkli-
che Wünsche und unsere Wünsche sind. Auf diesem Wege kommt
man also nicht zu einer Lösung. Die Lösung muss woanders liegen.
Sie liegt offenbar darin, dass wir aus dem Ich, das durch das Wol-
len definiert ist, nochmals ein spezifischeres Ich ausgrenzen, ein Ich,
das allein durch die Wünsche bestimmt wird, die verbleiben, wenn
man die problematischen, mit einem Makel behafteten Wünsche
subtrahiert. Dieses nochmals enger umgrenzte Ich ist also exklu-
siv durch die Wünsche definiert, die unangefochten oder, um ein
englisches Wort zu verwenden, »unopposed« sind. Unter ihnen
sind einige, die einschließen, einzelne Wünsche, die man hat, nicht
zu wollen. Von diesem Ich aus sind die ungewollten Wünsche mir
äußerlich. Das Ich, auf das sich dieses »mir« bezieht, kann nicht das
Ich des Wollens sein, es ist die Person, sofern sie etwas unangefoch-
ten will. Man vollzieht diese Ausgrenzung eines nochmals engeren
Ichs bereits vor jeder Theorie, wenn man ein Wollen als mir äußer-
lich bezeichnet.
Dass ein Wollen unangefochten ist, bedeutet, die Formulierung
sagt es schon, nicht, positiv gewollt zu sein, sondern nur, nicht nicht
gewollt zu sein. Man hat keinen Wunsch, der einschließen würde,
dass das betreffende Wollen nicht gewollt ist. Es bedarf also nicht
einer Approbation, einer Identifikation, einer Stellungnahme oder
einer anderen Aktivität, auch nicht einer willentlichen Akzeptanz.
Das Wollen ist allein dadurch unproblematisch, dass es keinen ande-
ren Wunsch gibt, der sein Nicht-Gewolltsein einschlösse.
Bei der Ausgrenzung eines nochmals enger umgrenzten Ichs
handelt es sich offenkundig um eine kleinere Operation. Das zum
zweiten Mal engere Ich unterscheidet sich nicht sehr stark von dem
Ich des Wollens. Dieses ist bereits überwiegend durch Wünsche be-
stimmt, die unangefochten sind, und allenfalls zu einem kleinen Teil
durch problematische Wünsche. Dennoch ist die zweite Ausgren-
zung genauso unumgänglich wie die erste. Auch sie ist nicht arbiträr,
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Das bin ich nicht. Er ist es, der spielt, kein anderer. Und er ist es, der
das will und hinter der Handlung steht. Nur aus der Perspektive des,
wenn man so will, »höheren« Ichs tut er etwas, was ihm äußerlich ist,
eben weil es aus einem ihm äußerlichen Wollen kommt.
Ganz ähnlich, wenn der Mann, von dem wir zuvor sprachen,
seine sexuellen Wünsche befriedigt. Er tut damit, was er will. Aber
er weiß, dass ihm, gottgefällig zu leben, sehr viel wichtiger ist. Und
auch er will, wie jeder andere, immer den stärksten seiner Wünsche
und nicht einen schwächeren realisieren. Auch er weiß also, dass
etwas schief läuft. Er tut etwas, was er will, aber er weiß wiederum,
dass dieses Wollen einen Makel hat, dass es nicht gewollt ist. Seine
Handlung ist ihm deshalb, vom nochmals abgehobenen Ich aus ge-
sehen, äußerlich, eben weil ihm das Wollen, aus dem sie kommt,
äußerlich ist.
Man könnte mit einer Formulierung Frankfurts sagen, dass die
Personen in den beiden Beispielen das, was sie tun, nicht »aus vollem
Herzen« (»wholehearted«) tun.16 Sie wollen etwas, aber sie hadern
damit, zwar nicht mit dem Inhalt, aber doch mit dem Modus des
Wollens. Es entsteht eine Ambivalenz. Das faktisch handlungseffek-
tive Wollen ist nicht gewollt, aber es ist deswegen nicht verschwun-
den, es ist geblieben, und solange das so ist, hat es die besondere
Ichhaftigkeit, die einem Wollen eigen ist. Natürlich kann man versu-
chen, das Wollen los zu werden oder ihm wenigstens das, was an ihm
problematisch ist, zu nehmen.17 Das kann bei manchen, zum Bei-
spiel suchthaften, Wünschen gelingen, bei anderen womöglich nicht.
Wenn in den beiden Beispielfällen etwas schief läuft, dann deshalb,
weil etwas zwischen das deliberativ stärkste Wollen und die entspre-
chende Handlung tritt, ein Hindernis. Und dieses Hindernis kommt
nicht von außen, sondern von innen, aus dem eigenen Wollen. Es
ist der Umstand, dass das deliberativ schwächere Wollen rebellisch
ist und sich gegen die überlegte Präferenz auflehnt, der dieses Hin-
dernis aufrichtet. Ganz zu Recht ist eine Person, die ein rebellisches
Wollen nicht zu beherrschen vermag, immer als unfrei beschrieben
worden. Etwas hindert sie, das zu tun, was sie am stärksten will. Ihr
eigenes Wollen, und das heißt, ihr eigenes Ich macht sie unfrei.
Die Frage, was das Ich ist, relativ auf das mir ein eigenes Wollen
äußerlich sein kann, ist damit beantwortet. Es ist das ausschließ-
lich durch das unangefochtene Wollen definierte Ich, das durch die
Subtraktion des problematischen Wollens aus dem Ich des Wollens
entsteht. Diese »höhere« Instanz ist also wiederum durch ein, jetzt
qualifiziertes, Wollen bestimmt, nicht durch etwas außerhalb des
Volitiven. Das eigene Wollen ist wiederum der Maßstab, an dem
sich etwas als uns äußerlich erweist. Wobei speziell die Wünsche
den Maßstab bilden, die einschließen, ein eigenes Wollen nicht zu
wollen. Ich habe deshalb von maßgeblichen Wünschen gesprochen.
Im Falle des rebellischen Wollens zielt das maßgebliche Wollen
darauf, jeweils das Maximum dessen, was man will, zu realisieren.
Das ist, wie erwähnt, ein formales Wollen. Auch der Wunsch, nicht
aussichtslosen Wünschen nachzujagen (der im Cellistinnen-Beispiel
eine Rolle spielte), verdankt sich einem formalen Wunsch, dem
Wunsch, sich unnötige Frustrationen zu ersparen. Jeder, der etwas
will, hat diesen Wunsch. Dasselbe gilt für den Wunsch, sich nicht
von einem (tatsächlich oder vermeintlich) evolutionär überholten
und fehlgerichteten Wollen bestimmen zu lassen. Wer wollte einem
fehlgeleiteten Wollen, einem »miswanting« folgen? Man würde et-
was tun wollen, woran einem, weil man es – evolutionär bedingt –
will, durchaus liegt, das aber im Leben, wie man glaubt, keine nen-
nenswerte Rolle spielt. Ein Wollen dieser Art läuft ins Leere.
Anders ist es bei dem Wunsch, möglichst selbstbestimmt zu le-
ben und nicht der Sklave oder die Marionette eines anderen zu sein.
Auch dies ist ein maßgebliches Wollen. Aber es hat etwas Individu-
elles, und es ist kein formales Wollen. Auch andere ideelle Wünsche
dieser Art können einschließen, dass einer oder mehrere unserer
Wünsche nicht gewollt sind.
Die kleine Liste maßgeblicher Wünsche, die jetzt genannt wur-
den, deutet darauf hin, dass es sich um wenige sehr allgemeine
Wünsche handelt und dass sie offenbar in zwei Klassen fallen: einer
seits in die formalen Wünsche, die jeder hat, und andererseits in die
übergreifenden Wünsche, die darauf zielen, eine Person bestimm-
ter Art zu sein und ein Leben bestimmter Art zu führen. Bei den
maßgeblichen Wünschen scheint die Gefahr gering, dass sich eines
Tages herausstellt, dass sie selbst einen Makel haben. Bei den for-
malen Wünschen kann man das ganz ausschließen. Bei den ande-
ren hingegen nicht. Auch sie haben eine psychische Genese. Und
es ist möglich, dass einem eines Tages, so wenig man sich das im
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Die Einsicht, dass uns ein eigenes Wollen äußerlich sein kann, macht
es nötig, die bisherige Konzeption des Aktivseins weiterzuentwi-
ckeln. Es ist nicht schwer zu sehen, wie das zu geschehen hat. Wir
hatten zunächst zwei Typen von Handlungen unterschieden, zum
einen die, deren Anfang in uns liegt, die aber nicht aus einem Wollen
kommen, sondern aus einer anderen archē, und zum anderen eben
die, die wir tun, weil wir sie tun wollen. Bei den Handlungen des
zweiten Typs hat das »Ich bin es, der dies tut«, wie gezeigt, einen
neuen und ungleich stärkeren Sinn. Die gewollten Handlungen sind
deshalb prototypisch unsere Handlungen, mit ihnen vollziehen wir
eine aus uns kommende, selbstbestimmte Aktivität.
Wenn wir jetzt berücksichtigen, dass uns nicht nur Handlungen,
sondern auch eigene Wünsche äußerlich sein können, teilen sich
die Handlungen, die man tut, weil man sie tun will, noch einmal
in zwei Gruppen. Bei der einen, sehr kleinen Gruppe ist das die
jeweilige Handlung leitende Wollen problematisch, es wird durch
ein anderes Wollen angefochten. Bei der anderen, großen Gruppe ist
das nicht der Fall, das handlungsleitende Wollen ist unangefochten,
»unopposed«. Es sind also nicht die gewollten Handlungen generell,
die die höchste Form des Aktivseins und des »durch mich« besitzen,
sondern nur die gewollten Handlungen, die aus einem unangefoch-
tenen Wollen entspringen. In ihnen sind wir im anspruchsvollsten
Sinne aktiv. Hinter ihnen stehen wir ohne jede Reserve, sie tun wir
aus vollem Herzen.
Angesichts der jetzt nachgetragenen Differenzierung liegt es nahe,
wie wir es schon getan haben, von Stufen oder Graden des Aktiv-
seins zu sprechen. Wir können mit dem, was wir tun, in verschiede-
ner Weise eine Aktivität vollziehen. Die Bindung einer Handlung an
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das Ich kann von verschiedener Art sein. Das »Ich bin es, der dies
tut« hat verschiedene Bedeutungen.
Diese Konzeption unterscheidet sich sehr deutlich von der, die
Frankfurt und andere zeitgenössische Philosophen entwickelt haben.
Frankfurt nimmt an, eine Person, die aus einem Wollen handelt, das
nicht von einer höheren Instanz geprüft und gutgeheißen worden
ist und mit dem sie sich nicht identifiziert hat, sei nur ein »passiver
Zuschauer« ihres Wollens und der Handlung, die es hervorbringt.18
Denn sie wird von außen bewegt, durch eine, wie es ausdrücklich
heißt, »externe Kraft«.19 Allerdings befindet sich dieses »außen« in
ihr selbst. Das Wollen, das sie bewegt, ist eine Kraft in ihr, aber nicht
ihre Kraft.20 Sie hat keinen Anteil an dem, was sie tut. Das Wollen ist
ein anonymes, ichloses Etwas in ihr, durch »Natur und Umstände«
(»nature and circumstance«) in sie hineingebracht21, aber eben nicht
ihr Wollen. Sie wird von außen bestimmt, und darin liegt die Passi-
vität. Frankfurt scheut sich nicht, hier wie Kant von »Heteronomie«
zu sprechen.22 Die Situation ändert sich erst, wenn wir die fremde
Kraft des Wollens durch einen Akt der Akzeptanz zu unserer eige
nen Kraft machen.23 Dann ist, was wir tun, nicht mehr ein passi-
ves Geschehen, dann sind wir vielmehr aktiv, denn nun werden wir
»just by ourselves« bewegt.24 Erst die höherstufige willentliche Ak-
zeptanz des eigenen Wollens konstituiert eine Aktivität.25 Es bedarf
dazu also immer der höheren Instanz, die prüft, akzeptiert und an-
eignet. Sie ändert nichts daran, dass das Wollen aus der Natur und
18 H. G. Frankfurt: Three Concepts of Free Action (1975), in: H. G. F.: The
Importance of What We Care About (Cambridge 1988), 47–57, 54; dt. Drei
Konzepte freien Handelns, in: H. G. F.: Freiheit und Selbstbestimmung (Ber-
lin 2001), 84–97, 93; vgl. auch H. G. Frankfurt: Freedom of the Will and the
Concept of a Person (1971), in H. G. F.: The Importance of What We Care
About (Cambridge 1988), 11–25, 22; dt. Willensfreiheit und der Begriff der
Person, in: H. G. F.: Freiheit und Selbstbestimmung (Berlin 2001), 65–83, 79;
Frankfurt, Identification and Wholeheartedness, 163, 164; dt. 121, 122.
19 Frankfurt, Identification and Wholeheartedness, 164; dt. 122.
20 Ebd.; auch Frankfurt, Taking Ourselves Seriously, 8; dt. 22. – Frankfurt
sagt an der ersten angeführten Belegstelle, die Kraft sei »not fully our own«.
Sie ist insofern unsere eigene, als sie in uns ist, aber darüber hinaus eben nicht.
21 Frankfurt, Taking Ourselves Seriously, 7; dt. 22.
22 Frankfurt, Autonomy, Necessity, and Love, 132 f.; dt. 171 f.
23 Frankfurt, Taking Ourselves Seriously, 7 f.; dt. 21 f.
24 Ebd. 8; dt. 22.
25 Frankfurt, Three Concepts of Free Action, 54; dt. 93.
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den Umständen kommt, das bleibt so, man sagt nur »ja« zu dem,
was auf diese Weise gegeben ist. Natürlich ist nicht nur, wer aus
einem nicht approbierten Wollen handelt, ein passiver, unbeteiligter
Zuschauer seines Tuns, sondern erst recht, wer aus einem Wollen
handelt, das er selbst nicht will. So der Süchtige, der sein eigenes
suchthaftes Wollen los sein möchte.
Man sieht, wie sehr Frankfurt mit diesen Überlegungen Kants
Sichtweise übernimmt, dass unsere Neigungen etwas Naturhaftes
und den Umständen Geschuldetes sind. Das Wollen, und nicht nur
ein Teil, sondern das Wollen qua Wollen, ist ein Fremdkörper in uns,
ein Stück »draußen«, das in uns hineingeraten ist. Wenn wir uns un-
besehen davon bestimmen lassen – wohlgemerkt, von unserem eige
nen Wollen –, bewegen uns externe Kräfte. Und wir verfehlen das
Niveau des menschlichen Lebens und sinken auf die Lebensweise
der Tiere hinab. Frankfurt steht überraschend deutlich in dieser Tra-
dition der Ausgrenzung und Enteignung des Wollens. Das Ich und
das eigene Wollen werden völlig dissoziiert.
In einer Theorie, die diesen Vorstellungen folgt, muss dem aus der
Natur und den Umständen kommenden Wollen ein Ich entgegenge-
setzt werden, das, was immer es ist, immerhin so weit über eigene
Ressourcen anderer Herkunft verfügen muss, dass es anhand von
etwas zu dem gegebenen Wollen »ja« oder »nein« sagen kann. Nur
so ist Aktivität, ein wirkliches »durch mich« möglich. Jede Theorie
des Ichs in dieser Spur muss erklären, worin diese andersgearteten
Ressourcen des Ichs bestehen. Frankfurt ist das, wie ich meine, nicht
gelungen. Er übersieht, dass die höherstufigen Wünsche, von denen
er spricht, sich tatsächlich von Wünschen erster Ordnung ableiten –
und damit fallen sie selbst dem Verdikt der Herkunft aus der Natur
oder den Umständen zum Opfer. Der Mann will den ihm vom Va-
ter eingepflanzten Wunsch nicht, weil er selbstbestimmt leben will,
die Frau den kognitiv defizienten Wunsch nicht, weil sie Enttäu-
schung, Frustration und vergebliche Anstrengung nicht will. Die
höherstufigen, negativ auf das eigene Wollen gerichteten Wünsche
leiten sich von Wünschen erster Ordnung ab. Sie sind derivativ und
keineswegs autochthon. Frankfurt übergeht diese Abhängigkeit der
höheren Wünsche von den Wünschen erster Stufe ganz.
Der Grundfehler einer Theorie, wie sie Frankfurt und andere ent-
falten, liegt in der Dissoziation des Wollens und des Ichs. Es ist, so
habe ich zu zeigen versucht, nicht wahr, dass das Ich und das Wol-
len dissoziiert sind und erst durch eine besondere Leistung zusam-
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§4
Die Vorgeschichte des Wollens:
Kausalität, Determination, Manipulation
Wer die bisherigen Überlegungen dieses Buches überschaut, könnte
den Eindruck haben, dass sie das eigentliche Problem noch gar nicht
erreicht haben. Was kann es, so die Frage, um die es geht, in einer
kausal verfassten Welt bedeuten, dass etwas »durch mich« geschieht,
dass ich es bin, der etwas tut? Die beiden letzten Kapitel haben da-
rauf eine Antwort zu geben versucht. Aber diese Antwort steht, so
könnte man meinen, auf tönernen Füßen, jedenfalls sei erst noch zu
zeigen, ob sie zu verteidigen ist. Denn selbst wenn alles, was über die
verschiedenen Grade des »durch mich«, über die alles verändernde
Bedeutung des Wollens, die besondere Ichhaftigkeit der Handlun-
gen, die ihre archē im eigenen Wollen haben, darüber, dass wir uns
in einem wichtigen Sinne durch unser Wollen definieren, dargelegt
wurde, – selbst wenn all das wahr ist, ändert es nichts daran, dass un-
sere Handlungen und ihre mentale Vorgeschichte einschließlich des
eigenen Wollens ein Teil des universalen kausalen Kräftespiels sind,
Wirkungen von Ursachen, die, verfolgt man die kausalen Fäden zu-
rück, außerhalb von uns liegen. Die kausalen Ereignisfolgen laufen
jeweils durch die Personen hindurch, von außen in sie hinein und
von innen in Form von Handlungen aus ihnen heraus. Alle Faktoren,
die in der Handlungsgenese wirksam sind, gehen also auf Ursachen
zurück, die außerhalb von uns liegen und deshalb unserem Einfluss
entzogen sind. Was aber bedeutet unter diesen Bedingungen, dass ich
bestimme, was geschieht? Was bedeutet dieses »außerhalb von uns«
für die Ichhaftigkeit unserer Handlungen? Dazu wurde bereits eini-
ges Wesentliche gesagt.1 Dennoch bedarf es weiterer Klarlegungen.
Ansonsten bleibt der Verdacht, dass die beschriebenen Arten der
Ichhaftigkeit kein wirkliches, vielmehr nur ein scheinbares »durch
Bevor ich direkt auf das Thema dieses Kapitels eingehe, sei zunächst
auf einige Phänomene hingewiesen, die für unsere Art der Hand-
lungssteuerung charakteristisch und im jetzigen Kontext von Bedeu-
tung sind, bislang aber noch nicht angemessen zur Sprache kamen.
Eine erste Form des »durch mich« einer Handlung gründet, wie wir
sahen, darin, dass sie aus mir und nicht aus einer anderen Person
kommt. Dabei ist das Ich in diesem Sinne niemals nur der substanz-
und inhaltslose Ort des Geschehens, es ist niemals nur der Transit-
Raum, den das kausale Geschehen völlig unbeeinflusst passiert. Es
ist vielmehr ein Ich, das auf Grund genetischer Faktoren und vor al-
lem seiner einzigartigen Lebensgeschichte einen individuellen Cha-
rakter hat, der natürlich Einfluss darauf hat, was die jeweilige Person
tut. Die Individualität einer Person stellt einen unüberspringbaren
Teil in der kausalen Vorgeschichte ihrer Handlungen dar. Und diese
individuelle Prägung ist, das ist es, worauf es jetzt ankommt, nicht
einfach das Ergebnis von ererbten Determinanten und von äußeren
Faktoren, die auf die Person einwirken, sie ist auch das Ergebnis
eigenen Handelns. Man hat offenkundig Einfluss darauf, wie man
ist, durch das, was man getan und gelassen hat, durch die Entschei-
dungen, die man getroffen hat, durch das, was man gelernt und sich
angeeignet hat. Vor den Handlungen liegen also, je älter man ist
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Was also bedeutet es, dass alle Faktoren, die die verschiedenen Grade
der Ichhaftigkeit von Handlungen begründen, ihrerseits das Ergeb-
nis von Ursachen sind, die außerhalb von uns liegen und unserem
Einfluss entzogen sind? Man muss hier zunächst verstehen, dass die
Ichhaftigkeit einer Handlung oder, anders gesagt, die Urheberschaft
des Akteurs nicht rekursiv ist. Das heißt, das, was die Ichhaftigkeit
einer Handlung bewirkt, muss nicht selbst durch Faktoren gleicher
Art verursacht sein. Wenn etwas durch mich geschieht, weil es aus
meinem Wollen kommt, muss das Wollen dafür, die Ichhaftigkeit
der Handlung begründen zu können, nicht seinerseits gewollt oder
gewählt sein.3 Vielmehr scheint, wie es dazu kommt, dass ich dieses
dieser Weise, ganz ohne unser Zutun, da sind, ändert nichts daran,
dass einem das Wohl der eigenen Kinder, um dieses Beispiel zu neh-
men, am Herzen liegt und dass einem das, was man tut, um es zu
befördern, sehr wichtig ist und es einen empfindlich treffen würde,
wenn es einem eigenen Kind elend ginge. All dies hat seinen Grund
darin, dass man das Wohl der Kinder will und so stark will. Auch
wenn das Wollen ohne mein Zutun zu meinem Wollen geworden
ist, stehe ich mit ganzem Herzen hinter dem, was ich tue. »Durch
mein Wollen« bedeutet »durch mich«. Die Genese des Wollens ist
dafür ohne Bedeutung.
Kant hat geglaubt, wenn wir in dem, was wir tun, unseren Nei-
gungen folgen, handelten wir, weil die Neigungen sich unserer na-
türlichen Ausstattung verdanken, »heteronom«. Die Natur, aber
nicht wir, bestimme dann, was wir tun. Das ist einer der großen
und wirkmächtigsten Fehler der kantischen Philosophie. Wenn ich
etwas tue, weil ich es will, bestimmt offenkundig mein Wollen die
Handlung, und nicht – das heißt Heteronomie – das Wollen eines an-
deren. Auch wenn ein Wollen ohne unser Zutun in uns ist und wir es
auch nicht abschütteln können, ist es ein Wollen, und als solches be-
gründet es die Ichhaftigkeit, das »durch mich« unserer Handlungen.
Wenn wir begreifen wollen, in welcher Weise wir Akteure sein
können, müssen wir verstehen, dass es diesen Übergang von dem,
was nicht durch mich geschieht, zu dem, was durch mich geschieht,
gibt und ihn im einzelnen analysieren. Das »durch mich« beginnt ir-
gendwann, und es beginnt voll und ganz innerhalb des kausalen Ge-
schehens. Es ist deshalb falsch, anzunehmen, wenn etwas die Konse-
quenz von etwas ist, was nicht durch mich geschieht, könne es selbst
nicht etwas sein, was durch mich geschieht. Man muss sich dem
verführerischen Sog, den die Vorstellung der Rekursivität immer
wieder, auch in ganz anderen Bereichen, entwickelt, entziehen. Wie
oft ist behauptet worden, aus Nicht-Lebendigem könne kein Leben
entstehen? Das sei völlig unmöglich. Wie oft ist behauptet worden,
aus Nicht-Geistigem könne kein Geist entstehen? Das sei völlig un-
möglich. In beiden Fällen lag man trotz der scheinbaren Plausibilität
der Aussagen falsch. Und auch im Falle des »durch mich« liegt man,
trotz der Scheinplausibilität, falsch. Es kommt, hier wie dort, gerade
darauf an, den Übergang vom einen zum anderen und die Entste-
hung des Neuen und ganz Andersartigen zu verstehen.
Wenn es dafür, dass wir Akteure sind und Dinge aus uns heraus
geschehen machen, gleichgültig ist, dass die kausale Vorgeschichte
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4 Ähnlich G. Strawson: Freedom and Belief, rev. ed. (Oxford 2010), 45 f.
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fangs in der jeweiligen Person. Die Person ist dann der absolute,
»letztliche« Urheber dessen, was sie tut. Ich hatte schon zu Beginn
gesagt, dass die Menschen keine absoluten Urheber sein können.
Sie sind, das war die Einsicht Hobbes’, Humes und Darwins, Teil
der Natur und damit in allem, was sie sind, wollen und tun, Teil
des kausalen Geschehens. Alle Versuche, die Idee eines absoluten
Anfangs plausibel zu machen, haben die Menschen aus der Natur
herausgehoben und ihrer Seele, der res cogitans oder dem intelli-
giblen Ich einen übernatürlichen Status zugesprochen. Die Men-
schen sind jedoch keine Götter, und sie haben nicht einen göttli-
chen, der Natur enthobenen Anteil in sich. Es kommt hinzu, dass
sich die Vorstellung eines absoluten Anfangs, gleichgültig, ob auf
Gott oder die Menschen bezogen, nur via negationis: nur aus der
Verneinung dessen, was wir kennen, ergibt, ohne dass sie dadurch
irgendeinen positiven Gehalt gewinnt. Wir können solche allein aus
der Negation kommenden Vorstellungen entwickeln, weil wir über
eine Sprache verfügen, die es möglich macht, durch Negationen und
entsprechende Wortbildungen solche Vorstellungen zu formulieren.
Formulierungen dieser Art lassen uns dann glauben, wir wüssten,
wovon wir sprechen. Das ist aber nicht der Fall. Niemand hat eine
Vorstellung davon, was ein Anfang ex nihilo sein könnte. All das
sind leere Worte.
Weil wir keine absoluten Urheber von etwas sind, gibt es keine
andere Ichhaftigkeit unserer Handlungen als die, die bisher beschrie-
ben wurde. Diese Ichhaftigkeit ist nicht eine scheinbare, sie ist die
einzige, die es gibt. Sie ist die einzige »echte« Ichhaftigkeit. Die ver-
meintlich stärkere, die daran hängt, dass der Handelnde irgendwo
in der Handlungsvorbereitung einen absoluten Anfang setzt, gibt es
hingegen nicht. Sie ist nicht mehr als eine Phantasmagorie.
Diese für das Verständnis des menschlichen Aktivseins zentrale
Einsicht darf allerdings nicht verwischen, dass die Vorstellung eines
geschlossenen Kausalgeschehens einen Stachel hat. Wenn wir die Ur-
sachen unserer Handlungen und unseres Wollens zurückverfolgen,
landen wir bei Ursachen, die außerhalb unserer Handlungsmacht
liegen. Wir und das, was wir wollen und tun, sind Produkte eines
kausalen Geschehens, dessen Ursachen außerhalb von uns liegen.
Das ist der unausweichliche Befund. Man kann ihm nicht durch die
Erfindung einer unverursachten Ursache entkommen. Man kann
ihm überhaupt nicht entkommen. Man muss verstehen, dass diese
Einsicht nicht das »durch mich« unserer Handlungen dementiert.
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Der Widerstand gegen die These, für die Ichhaftigkeit unserer Hand-
lungen sei es ohne Belang, dass die Faktoren, die diese Ichhaftigkeit
begründen, auch das eigene Wollen, selbst Teil des kausalen Gewe-
bes sind, nimmt sich fast immer die Vorstellung, wir seien in unserem
Wollen determiniert, zum Gegner. Wenn man das Determiniertsein
des Wollens unterstelle, sehe man doch, dass es das »durch mich«
unserer Handlungen untergräbt. Eine bestimmte Vorstellung davon,
was es heißt, determiniert zu sein, befeuert diese Intuition. Setzen
wir deshalb voraus, wir seien im Wollen determiniert. Dies bedeute,
so wird dann häufig angenommen, dass es unserem Einfluss ent-
zogen sei. Aber das ist ein schwerer Fehler. Er hat eine lange Ge-
schichte, Augustinus hat Cicero deswegen bereits kritisiert.5
In welcher Weise wir Einfluss auf unser Wollen haben, wurde
schon, wenn auch nur kurz und vereinfacht, erläutert. Wir kön-
nen natürlich über einen Wunsch, den wir haben, nachdenken und
überlegen, ob er zu uns passt, zu dem, was wir sonst noch wollen,
diesem Wollen wie an jedem anderen auch noch etwas stören, eben
dass es determiniert ist. Doch was kann einen daran stören, dass das
Wollen, mit dem man im Reinen ist, in seiner Genese determiniert
ist? Was könnte dieses besondere Wollen sein, relativ auf das das
Determiniertsein Bedeutung gewinnt? Diese Fragen lassen erkennen,
dass man hier einen ganz besonderen Makel im Auge hat, der auf
einer anderen Ebene angesiedelt ist als die gewöhnlichen Makel. Es
muss sich um ein Virus handeln, das das Wollen, obwohl man mit
ihm im Reinen ist, doch noch infiziert. Man spürt bereits, dass man
sich mit dieser Vorstellung auf ein glitschiges Terrain begibt.
(iii) Wenn das eigene Wollen determiniert ist und das stört, stört
einen etwas, woran man nichts ändern kann. Man kann nicht sein
gesamtes Wollen loswerden und eine andere Art der Willensbildung
installieren. Es stört einen dann, wie die Welt ist und wie die Men-
schen sind. So wie es mich stören kann, nicht intelligenter zu sein,
ohne dass ich daran etwas zu ändern vermag. Der Wunsch, intel-
ligenter zu sein, hat deshalb etwas Utopisches. Eine intelligentere
Variante meiner selbst wird es nicht geben. Wenn man sich wünscht,
dass das Naturgeschehen anders funktioniert oder zumindest die
Menschen anders funktionieren, gewinnt ein solcher Wunsch sogar
etwas Metaphysisches. Man wünscht sich, ein Wesen anderer Art
zu sein. Wie sinnvoll ist das? Wenn jemand den Wunsch hat, seinen
zwanghaften Wunsch, im Casino zu spielen, loszuwerden, ist das
etwas völlig anderes. Selbst wenn der Wunsch utopisch sein sollte,
wünscht sich die Person, ein bestimmtes Wollen abzuschütteln, aber
nicht, ein Wesen grundsätzlich anderer Art zu sein. Das belegt er-
neut, dass die Frage, ob uns das Determiniertsein des Wollens stören
kann, auf einer anderen Ebene angesiedelt ist als die Frage, ob uns
ein konkretes einzelnes Wollen relativ auf ein anderes Wollen stört.
Suggestive Parallelisierungen sind deshalb problematisch.
(iv) Es kommt eine weitere Schwierigkeit hinzu. Die Annahme,
das Wollen sei determiniert, ist eine generelle These, jedes Wollen
ist dann determiniert. Das Wollen, im Lichte dessen uns das Deter-
miniertsein stören könnte, wäre also notwendigerweise auch selbst
determiniert. Wenn uns ein kognitiv defizientes Wollen stört, setzen
wir hingegen voraus, dass das maßgebliche Wollen, von dem aus ein
solches Wollen stört, nicht seinerseits mit dem Makel behaftet ist.
Gerade deshalb steht dieses Wollen »über« dem anderen. Im Falle
des Determiniertseins hätte das maßgebliche Wollen aber selbst den
Defekt. Das ist unvermeidlich. Es käme also zu einer paradoxalen
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cher Wunsch ist. Robert Kane hat gemeint, was uns am Herzen liege,
sei genau dies, wir wollen letzte Urheber sein: »the ultimate source
or origin of one’s own ends and purposes«, und das würde uns mit
dem vollständigen Determiniertsein des Wollens (an das Kane nicht
glaubt) hadern lassen. Denn ohne »letztliche« Urheberschaft gebe
es keine wirkliche Verantwortlichkeit, keine wirkliche Autonomie
und keine wirkliche Würde des Menschen.7 Doch wenn wir keine
Vorstellung von dem haben, was ein absoluter Urheber ist, können
wir auch keine Vorstellung davon haben, was eine so begründete
Verantwortlichkeit, Autonomie und Würde ist. Und erneut kommt
hinzu: Da wir keine absoluten Urheber sind und unsere Ziele nicht
auf diese Weise selbst bestimmen können, kann es auch eine so be-
gründete Verantwortlichkeit, Autonomie und Würde nicht geben.
Es stellt sich deshalb wiederum die Frage, wie sinnvoll ein entspre-
chender Wunsch wäre.
Im übrigen würde sich, wäre der Wunsch, absoluter Anfang zu
sein, nicht leer und unvernünftig, und sollte er auch nicht sinnlos
sein, das Problem der Selbstanwendung stellen. Auch der Wunsch,
ein absoluter Anfang zu sein und eine hierin gründende Autonomie
und Würde zu besitzen, wäre selbst determiniert.
Wenn auch der Wunsch, auf die Willensbildung unverursacht Ein-
fluss zu haben, nicht der gesuchte maßgebliche Wunsch sein kann,
welcher Wunsch soll es dann sein? Es scheint diesen Wunsch nicht
zu geben, und damit drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass das
Empfinden, in der unterstellten Determiniertheit des Wollens liege
ein Makel, unberechtigt ist. Wenn das so ist, haben wir keinen Grund,
anzunehmen, das Determiniertsein des Wollens nehme etwas von
der Ichhaftigkeit des Wollens und der aus dem Wollen kommenden
Handlungen weg. Auch von der anspruchsvollsten Form der Ich-
haftigkeit, die dann gegeben ist, wenn ein unangefochtenes Wollen
das Handeln bestimmt, nimmt das Determiniertsein des Wollens,
wie es scheint, nichts weg.
Kommen wir zu einem letzten Argument gegen die These, die kau-
sale Bedingtheit des Wollens und speziell sein Determiniertsein sei
gleichgültig. Determiniert zu sein, so wird gesagt, sei so etwas Ähn-
liches wie manipuliert zu sein. Beide Zustände teilten wesentliche
Eigenschaften (Prämisse 1). Wenn man in seinem Wollen manipu-
liert sei, untergrabe das aber gewiss die Ichhaftigkeit der aus einem
solchen Wollen kommenden Handlungen (Prämisse 2). Und des-
halb unterminiere das Determiniertsein des Wollens ebenso ihre
Ichhaftigkeit (Conclusio). Das Argument zielt also darauf, mittels
eines Vergleichs mit dem Manipuliertsein zu einer Einsicht über das
Determiniertsein zu gelangen.8 Man kann die Überlegung auch so
formulieren: Es wäre unsinnig, anzunehmen, im Falle des Manipu-
liertseins werde die Ichhaftigkeit untergraben, im Falle des Determi-
niertseins aber nicht. Wenn das eine, dann auch das andere.
Die erste Prämisse des Arguments, determiniert zu sein, sei so
etwas Ähnliches wie manipuliert zu sein, klingt jedoch von vorn-
herein, noch bevor man sich näher auf das Argument einlässt, wenig
überzeugend. Eine gewisse Plausibilität hat sie vielleicht, wenn man
in religiösen Vorstellungen lebt und glaubt, Gott lenke alles, was
geschieht, auch das, was die Menschen wollen und tun. Aber unter
der Prämisse eines kausalen Determinismus stellt sich eine solche
Plausibilität nicht ein, weil in diesem Fall keine Person etwas beab-
sichtigt und den Gang der Dinge planvoll bestimmt. Die Entgegen-
setzung des eigenen Wollens und des Wollens eines anderen ist für
das, was eine Manipulation ist, konstitutiv. Diese Entgegensetzung
fehlt im Falle des Determiniertseins aber ganz. Das determinierte
Wollen kommt aus einer Vielzahl von Quellen, aus dem eigenen
genetischen make-up, der eigenen Lebensgeschichte, den eigenen
Erfahrungen und Erlebnissen, zurückliegenden und aktuellen, aus
einem dem Wollen unmittelbar vorgeschalteten Überlegen und Ab-
wägen. Nichts davon bedeutet, dass ein fremder Wille über einen
bestimmt und man manipuliert ist. Weil das so deutlich ist, entsteht
der Verdacht, dass im Hintergrund des Manipulations-Arguments
9 Man betrachte nur das Umschlag-Bild des Buches von R. Kane: Free Will
and Values (New York 1985). Es zeigt einen Mann, der am Kopf, an Armen,
Händen, Beinen und Füßen an Fäden hängt und durch diese Fäden in sei-
nem Verhalten geführt wird: Der Mensch als Marionette als Sinnbild für den
Determinismus.
10 Vgl. dazu auch unten, § 6, S. 174 ff.
11 Kane, The Significance of Free Will, 70 f.; Zitat: 70.
12 D. Pereboom: Living Without Free Will (Cambridge 2001), 112–116.
13 Pereboom spricht nicht von Urheberschaft oder Ichhaftigkeit, sondern
speziell von Verantwortlichkeit.
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sein nicht. Oder man operiert mit dem, was das Manipuliertsein
tatsächlich mit dem Determiniertsein gemeinsam hat. Dann ist das
Argument überflüssig.
Der harte Kern der Sache besteht darin, da haben Kane und Pere
boom recht, dass, determiniert zu sein, bedeutet, dass das, was wir
wollen und tun, das Resultat von Faktoren ist, die, verfolgt man die
kausalen Fäden zurück, außerhalb von uns liegen. Das ist der Stachel
des Determinismus, und dem ist nicht zu entkommen. Doch nach
allem, was bisher entwickelt wurde, nimmt dieser Umstand nichts
von der Ichhaftigkeit des Wollens und der aus dem Wollen resultie-
renden Handlungen weg.
Die zweite Überlegung soll zeigen, dass auch die andere Prämisse
des Arguments, dass das Manipuliertsein des Wollens die Ichhaftig-
keit des Handelns untergrabe, keineswegs so überzeugend ist, wie im
Argument vorausgesetzt und wie es vielleicht scheint. Es ist für die
Beurteilung des Manipulations-Arguments nach der ersten Überle-
gung eigentlich nicht mehr nötig, darauf noch einzugehen. Aber es
liegt, wie wir sehen werden, auch unabhängig von dem Argument
viel daran, zu klären, ob diese spezielle Vorgeschichte des Wollens:
durch eine Manipulation entstanden zu sein, von Belang ist oder ob
auch sie für die Ichhaftigkeit unserer Handlungen gleichgültig ist.
Zunächst ist es wichtig, sich deutlich vor Augen zu führen, dass,
wenn ein Wollen in mich hineinmanipuliert wird, das Ergebnis ist,
dass ich das Wollen habe und dass es folglich mein Wollen ist. Es
ist richtig, ein anderer will, dass ich etwas will, das Ergebnis ist aber,
dass ich es will. Man muss sich dann daran erinnern, was es heißt,
dass nicht irgendetwas in mich hineinmanipuliert wird, sondern spe-
ziell ein Wollen. Es bedeutet, dass in dem Fall, in dem das Wollen
handlungsleitend wird, der Handlung die volle Ichhaftigkeit zu-
kommt, die daher rührt, dass sie aus einem Wollen hervorgeht. Diese
Art der Ichhaftigkeit ist also auch im Falle einer Manipulation des
Wollens gegeben, – und zwar unabhängig davon, ob ich weiß oder
nicht weiß, dass mein Wollen manipuliert wurde. Was allenfalls feh-
len kann, ist die Ichhaftigkeit auf der höchsten Stufe, die voraussetzt,
dass das handlungsleitende Wollen »unopposed« ist. Die höchste
Form des »durch mich« würde dann nicht gegeben sein, wenn man
gleichzeitig ein Wollen hat, relativ auf das man ein eigenes Wollen,
weil es aus einer Manipulation entstanden ist, nicht will. Nur diese
Stufe der Ichhaftigkeit kann also in Frage stehen. Fragen wir deshalb
auch hier, was dieses »höhere« Wollen sein kann.
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puliert zu sein.17 Aber sein eigenes Leben zu leben oder, anders aus-
gedrückt, autonom zu leben, bedeutet, dass man selbst, durch sein
Wollen, bestimmt, was man tut, nicht jemand anderes. Eine antike
Polis, die Autonomie erstrebte, strebte danach, ihre Angelegenhei-
ten nach ihren eigenen Vorstellungen und Interessen einzurichten,
nicht die Vorstellungen und Wünsche einer anderen Macht sollten
bestimmen. Autonom ist, wer so handelt und sein Leben so gestaltet,
wie er selbst es will, ohne darin gehindert zu sein. Es geht um die
freie Umsetzung dessen, was man will, und deshalb kann die so ver-
standene Autonomie nur durch eine diesen Übergang vom Wollen
zum Handeln vereitelnde Manipulation bedroht werden, aber nicht
durch eine Manipulation auf dem Wege zum Wollen.
Sein Leben nach den eigenen Wünschen einrichten zu wollen,
kann also nicht der Wunsch sein, von dem aus man sich an dem
Manipuliertsein des Wollens stößt. Von welchem Wunsch aus dann?
Man will, so eine zweite Antwort, nicht nur in der Umsetzung sei-
nes Wollens autonom sein, sondern auch in der Ausbildung dessen,
was man will. Das eigene Wollen soll festlegen, was man will, und
nicht das Wollen eines anderen. Deshalb stört es, wenn ein anderer,
durch eine Manipulation, über das eigene Wollen bestimmt. Auf
diese Weise werde der bisher zugrundegelegte zu enge Begriff der
Autonomie überwunden und nach innen erweitert.
Doch auch dieser Vorschlag ist nicht erfolgreich. Auch dieser
Wunsch ist kein plausibler Kandidat für das gesuchte Wollen. Zwei
Überlegungen lassen das erkennen. (i) Als Erstes stellt sich die Frage,
wie realistisch der Wunsch nach einer solchen inneren Autonomie
ist. Wir erschaffen uns nicht selbst, wir bestimmen auch nicht, Lebe-
wesen welcher Art wir sind. Und wir kreieren auch unsere Wünsche
nicht selbst. Die Grundstruktur unseres Wollens ist fix, sie ist da-
durch, dass wir Lebewesen einer bestimmten Art sind, vorgegeben,
wir haben sie nicht selbst, weil wir es so wollten, hervorgebracht.
Dass wir wollen, was angenehm ist, und nicht wollen, was unange-
nehm ist, haben wir nicht aus eigenem Wollen festgelegt. Und andere
Wünsche dieser Art auch nicht. Wir können, wie schon erläutert,
durchaus Einfluss auf unser Wollen nehmen, aber er ist begrenzt,
und vor allem ist er nicht von der Art, dass wir aus unserem Wollen
direkt festlegen können, was wir wollen.
(ii) Außerdem führt die Vorstellung, dass wir aus eigenem Wol-
len bestimmen können, was wir wollen, offenkundig in eine Itera-
tion. Wenn es dafür, die volle Ichhaftigkeit unserer Handlungen zu
sichern, nötig ist, dass das Wollen, aus dem sie kommen, nicht ma-
nipuliert ist, sondern seinerseits aus einem eigenen Wollen kommt,
was ist dann mit diesem vorgängigen Wollen? Offensichtlich muss
dann auch dieses Wollen aus einem eigenen, noch einmal vorgängi-
gen Wollen hervorgehen, und so fort. Es entsteht ein infiniter Re-
gress. Das ist ein unlösbares Problem (es sei denn, man holt den
Urheber, der unverursacht etwas verursacht, wieder hervor).
Die beiden Argumente zeigen, dass auch der Wunsch, das eigene
Wollen solle in seinen Inhalten nicht durch ein fremdes, sondern
durch ein eigenes Wollen bestimmt sein, nicht das gesuchte maß-
gebliche Wollen sein kann. Es ist nicht das Wollen, von dem aus das
Manipuliertsein des Wollens stören könnte. Auch eine Erweiterung
des Autonomiebegriffs nach innen führt in dieser Form nicht weiter.
Aber wie dann? Es wäre merkwürdig, wenn sich nicht verständ-
lich machen ließe, dass es uns stört, im Wollen manipuliert zu sein.
Ich hatte selbst das Beispiel eines Mannes verwandt, der sich an
seinem Wunsch, immer und überall der Erste zu sein, stößt. Der
Wunsch ist ihm, wie ihm mehr und mehr klar wird, von Kindes-
beinen an von seinem Vater andressiert worden. Das kollidiert mit
seinem Bestreben, selbstbestimmt zu leben und nicht die Mario-
nette eines anderen zu sein. Es scheint, als klebten die bisherigen
Überlegungen zu sehr an dem Gegensatz: durch ein fremdes Wol-
len und durch ein eigenes Wollen und der Vorstellung, ein eigenes
Wollen müsse die Willensbildung bestimmen. Daraus ergaben sich
die Schwierigkeiten. Wir bestimmen nicht durch unser Wollen, was
wir wollen. Dennoch ist es so, dass wir, selbst wenn wir kein klares
Bild davon haben, wie die Vorgeschichte unseres Wollens stattdes-
sen verläuft, nicht wollen, dass in seiner Genese eine Manipulation
eine Rolle spielt und uns ein anderer einen bestimmten Wunsch auf-
drückt.
Warum? Was stört uns daran? Was stört den Mann an dem einge-
impften Wollen? Wahrscheinlich ist es so, dass er einfach das Gefühl
entwickelt, dass dieser Wunsch nicht zu ihm und dem, was er ist und
sein will, passt. Er fühlt sich mit dem Verhalten, zu dem er motiviert,
nicht mehr wohl. Wenn es so ist, stört ihn an diesem Wollen nicht
eigentlich die Tatsache des Manipuliertseins, sondern dass durch die
Manipulation in ihm ein Wollen entstanden ist, das nicht zu ihm und
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dem Leben, das er führen will, passt. Ihn stört diese Diskrepanz, und
die Manipulation erklärt nur, wie es zu diesem quer stehenden Wol-
len gekommen ist. Die Manipulation stört demnach nur sekundär,
als Ursache dessen, was eigentlich stört.
Ein Wunsch, der nicht zu dem passt, was man ist und sein will,
wird gewöhnlich verschwinden. Wenn er jedoch bleibt, als ein wirk-
liches Wollen, und handlungsleitend wird, hat die Handlung zwar
die Ichhaftigkeit, die einer gewollten Handlung zukommt. Aber sie
besitzt nicht die höchste Stufe des »durch mich«, weil das hand-
lungsleitende Wollen »opposed« ist. Es ist angefochten von einem
maßgeblichen Wollen aus. Und dies dürfte am ehesten der Wunsch
sein, im eigenen Wollen kohärent zu sein. Wir streben nach einer
Einheit in unserem Wollen, weil alles andere bedeutet, im Wollen
und im Ich zerrissen zu sein.18 Diese Einheit bedeutet nicht, dass
man keine Wünsche hat, die sich in der Weise widersprechen, dass
sich ihre Realisierung gegenseitig ausschließt (heute Abend in der
Oper zu sein und zuhause noch weiter Augustinus zu studieren).
Sie schließt vielmehr aus, dass man etwas will, und gleichzeitig nicht
will, dass man dieses Wollen hat. Erst das bedeutet, im Wollen und
im Ich zerrissen zu sein. Der Wunsch nach einer volitiven Kohärenz
dieser Art schließt ein, ein Wollen, das quer zum eigenen (tatsächli-
chen oder bloß gewünschten) Charakter liegt, nicht zu wollen. Die-
ser Wunsch nach volitionaler Einheit ist also offenbar das gesuchte
maßgebliche Wollen. Es handelt sich wiederum um einen formalen
Wunsch: man hat ihn schon dadurch, dass man überhaupt etwas will
und mehreres will.
Wenn dies wahr ist, stört uns das Manipuliertsein des Wollens
nicht als solches. Wenn ein Wollen manipuliert ist, es aber mein
Wollen ist und außerdem zu dem passt, was ich sonst noch will, wa-
rum sollte mich dann das Manipuliertsein stören? Und wie könnte
es mich stören? Das ist nicht zu sehen. Das bedeutet, dass eine
Handlung, die aus einem solchen Wollen kommt, trotz des Mani-
puliertseins uneingeschränkt meine ist. Das Wollen ist in diesem
Fall »unopposed«, und deshalb besitzt die gewollte Handlung die
höchste Form des »durch mich«. Man ist uneingeschränkt ihr Ur-
heber. Wenn das manipulierte Wollen hingegen nicht passt, dann
stört es eben deswegen: weil es nicht passt, und sein Manipuliertsein
stört nur derivativ. In diesem Fall kommt der gewollten Handlung
nicht die höchste Ichhaftigkeit zu. Denn das Wollen ist »opposed«.
Die Person besitzt keine Einheit in ihren Wünschen, sie ist in ihrem
Wollen und in ihrem Ich gespalten.
Wir sehen nach diesen Überlegungen, dass es eine Manipulation
auf dem Wege zum Wollen ohne Zweifel geben kann, dass sie uns
aber als solche nicht stört. Was uns stört, ist ein Riss im Wollen. Wir
wollen im Wollen kohärent sein. Der Gesichtspunkt der Kohärenz
betrifft aber offenkundig nicht die Genese des Wollens.
Man kann überlegen, ob, was sich hier an der speziellen Genese
des Manipuliertseins offenbart, für jede problematische Genese
eines Wollens gilt. Ist ein Wollen, das aus einer falschen Art von
Ehrgeiz kommt, nicht auch eigentlich deshalb problematisch, weil
es nicht mit dem zusammenstimmt, was man ist und sein will? In-
teressiert uns nicht auch in diesem Fall und in allen anderen Fällen
eigentlich die volitionale Einheit und nicht die Genese? Es spricht
sehr viel dafür, anzunehmen, dass es generell so ist. Frankfurt hat
gesagt, wenn man einem Wollen gegenüber keine Vorbehalte hat und
es ein gut integrierter Teil der eigenen psychischen Verfassung ist,
sei es grundsätzlich belanglos, wie es dazu gekommen ist, dass man
es hat.19 Ich nehme an, dass es tatsächlich so ist.
Ich kann jetzt ein doppeltes Ergebnis der zweiten und kom-
plizierten Überlegung zum Manipulations-Argument formulie-
ren. Erstens hat sich herausgestellt, dass auch die zweite, als ganz
selbstverständlich vorausgesetzte Prämisse des Arguments, dass
das Manipuliertsein des Wollens die Ichhaftigkeit der Handlungen
untergrabe, in dieser Form nicht bestehen kann. Das Manipuliert-
sein des Wollens ist für die Ichhaftigkeit unserer Handlungen ent-
weder ohne Belang oder allenfalls derivativ bedeutsam. Die zweite
Prämisse kann also genauso wenig bestehen wie die Annahme, das
Spezifische des Manipuliertseins lasse sich auf das Determiniertsein
des Wollens übertragen. Das unterstreicht noch einmal, dass das Ar-
gument ein Fehlschlag ist. Aus ihm lassen sich keine Erkenntnisse
darüber gewinnen, was es bedeuten würde, im Wollen determiniert
19 Natürlich schließt, was Frankfurt sagt, ein, dass, falls das Wollen in einen
hineinmanipuliert wurde, auch das belanglos ist. Vgl. H. G. Frankfurt: Re-
ply to John Martin Fischer, in: S. Buss / L. Overton (eds.): The Contours
of Agency. Essays on Themes from H. Frankfurt (Cambridge, Mass. 2002),
27–31, 27 f. Sehr deutlich äußert sich Frankfurt zu diesem Punkt auch in:
O. de Graef et al.: Discussion with Harry G. Frankfurt. Ethical Perspecti-
ves 5 (1998), 15–43, 32 f.
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7. Zusammenfassung
§5
Wollen, offene Optionen und Anders-Können
Die Auffassung des »durch mich«, wie sie bisher entwickelt wurde,
zieht einen weiteren schwerwiegenden Einwand auf sich, der in
der Diskussion über Freiheit und Verantwortlichkeit seit langem
eine bedeutende Rolle spielt. Übertragen in den jetzigen Kontext
lautet die Diagnose wieder, dass es dafür, dass ich es bin, der et-
was tut, und die Handlung wirklich meine ist – in einem stärkeren
Sinn als nur dem, dass ich und nicht eine andere Person sie tut –,
nicht genügt, dass ich sie tue, weil ich sie tun will, und sie durch
mein Wollen verursache. Es müsse etwas Weiteres hinzukommen.
Eine Handlung sei, das ist jetzt der Punkt, nur dann meine, wenn
ich sie auch unterlassen kann, wenn es also in meiner Macht steht,
sie auch nicht zu tun oder stattdessen etwas anderes zu tun. Eine
Handlung muss, mit anderen Worten, eine Option neben anderen
Optionen sein, so dass man sie aus einer Mehrzahl von Möglich-
keiten wählt und eine andere Option nicht wählt. Dadurch, dass
man sie wählt, aber auch eine andere Handlung hätte wählen und
anders hätte handeln können, wird sie, so die Vorstellung, erst zu
meiner Handlung, zu etwas, das auf einen selbst zurückgeht und
wofür man verantwortlich ist. Die Handlung muss, so kann man
auch sagen, in einem Spielraum angesiedelt sein, über den der Han-
delnde verfügt. Er muss über mehrere offene Handlungsmöglich-
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Aug 14th 2021, 11:10
keiten verfügen, und erst dadurch, dass er eine von ihnen ergreift
und realisiert, ist die Handlung seine Handlung. Dies ist es, was
die Ichhaftigkeit einer H
andlung in Wahrheit begründet. Das bloße
Gewolltsein ist zu wenig.
Die Macht, das eine, aber auch etwas anderes zu wählen, hat man
oft »Willensfreiheit« genannt. Bischof John Bramhall, Hobbes’ Ge-
genspieler in einer über beinahe anderthalb Jahrzehnte geführten
und viele Druckseiten füllenden Debatte über Freiheit und Not-
wendigkeit, schrieb: »… whosoever have power of election, have
true liberty; for the proper act of liberty is election.«1 Eine eigene
Handlung ist demnach immer eine Tat der Freiheit.
Es kann keinen Zweifel daran geben, dass wir unsere Handlun-
gen im allgemeinen aus mehreren Optionen auswählen. Dem geht
in vielen Fällen eine Überlegung voraus. Man überlegt, ob man die
Handlung a oder die Handlung b tun will, und das setzt offensicht-
lich voraus, dass man jede der Handlungsoptionen ergreifen kann.
Jede der Optionen ist in diesem Sinne offen. Sonst wäre es sinnlos,
zu überlegen. Und zweifellos bildet die Erfahrung, so, aber auch
anders zu können, die Erfahrung, dass einem mehrere Optionen
offen stehen und es von einem selbst abhängt, was geschieht, den
Kern des menschlichen Aktivitäts- und Freiheitsbewusstseins. Diese
Erfahrung ist so zentral für uns, dass wir keinen Moment daran
zweifeln, dass wir in dem, was wir tun, frei sind und dass wir es sind,
von d enen abhängt, ob diese Handlung oder jene zur Realität wird.
Dem Einwand folgt gewöhnlich eine zweite Überlegung: Wenn
man das »durch mich« unserer Handlungen erst einmal in der jetzt
zur Geltung gebrachten Weise verstehe, sei klar, dass es ein solches
»durch mich« unter der Prämisse eines deterministischen Weltver-
laufs nicht geben könne. Denn es setze mehrere offene Optionen
voraus, unter deterministischem Vorzeichen gebe es aber immer nur
eine mögliche Zukunft, also immer nur eine Möglichkeit für den
weiteren Weltverlauf. Wenn man zu einem bestimmten Zeitpunkt
die Handlung a wählt und sie tut, dann sei es gerade nicht möglich,
die Handlung b zu wählen und sie statt der Handlung a zu tun.
Das werde durch die Annahme des Determinismus ausgeschlossen.
Denn der Determinismus kennt keine Verzweigungspunkte, an de-
Die Beantwortung dieser Fragen erfordert eine ganze Reihe von Klä-
rungen. Am besten, man beginnt mit einer Analyse des Überlegens
und seiner Voraussetzungen. Das Überlegen setzt, das ist unkon
2 Ebd.
3 Vgl. zum Beispiel G. Keil: Willensfreiheit und Determinismus, 2. Aufl.
(Stuttgart 2018), 138: »In einer deterministischen Welt gäbe es aber überhaupt
keine Akteure, Überlegungen, Entscheidungen, Handlungen und Fähigkei-
ten, wie wir sie kennen.« Wer »den Weltlauf für alternativlos fixiert hält,
sollte besser von Quasientscheidungen, Quasihandlungen, Quasiüberlegun-
gen, Quasifähigkeiten und Quasifreiheit sprechen«. So auch G. Seebaß: Die
Signifikanz der Willensfreiheit, in: G. S.: Handlung und Freiheit (Tübingen
2006), 191–246, 350–373, hier: 231–238; vgl. zur Thematik dieses Kapitels
auch dessen Aufsatz: Die konditionale Analyse des praktischen Könnens
(ebenfalls in Handlung und Freiheit), der allerdings zu ganz anderen Ergeb-
nissen kommt als die folgenden Untersuchungen.
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Handlung zu tun, von der man erklären kann, warum man gerade
sie und nicht eine andere tut.
Wer glaubt, mit der Ablehnung des Determinismus seien die Pro-
bleme gelöst, weil der Indeterminismus Raum für mehr als eine Zu-
kunft schaffe, liegt falsch. Die eigentliche Frage lautet, wie offene
Optionen und Handlungsspielräume Teil einer kausalen Welt sein
können, sei sie so beschaffen oder so. Ich werde im Folgenden aller-
dings wie bisher um der Einfachheit willen die deterministische Prä-
misse zugrundelegen. Das sorgt für eine gewisse Konkretion, und
außerdem gilt sie vielfach als die gefährlichere Annahme.
Nach der Klärung der Fragen, die das Verständnis des Anders-
Könnens und seine Kompatibilität mit dem Determinismus betref-
fen, werden wir untersuchen können, wie das Gewolltsein einer
Handlung und das Anders-Können zueinander stehen. Der Ein-
wand, um den es geht, präsentiert sich, als setze er an die Stelle der
bisher entwickelten Konzeption, dass eine Handlung dann meine ist,
wenn ich sie tue, weil ich sie tun will, die andere, die richtige Kon-
zeption, nach der eine Handlung dann meine ist, wenn ich die Macht
habe, auch etwas anderes zu tun. Man hat es hier, so die stillschwei-
gende Voraussetzung, mit zwei separaten, konkurrierenden Auffas-
sungen zu tun. Dieser Eindruck wird dadurch weiter verstärkt, dass
man meint, das »durch mich«, durch das Gewolltsein der Handlun-
gen erklärt, sei mit dem Determinismus vereinbar, während es, durch
das Anders-Können erklärt, mit dem Determinismus nicht verein-
bar sei. Wenn wir uns jedoch daran erinnern, was oben bereits über
das Gewolltsein einer Handlung ausgeführt wurde4, wird diese Be-
schreibung der Diskussionslage zweifelhaft. Wenn man eine Hand-
lung tut, weil man sie tun will, ist sie, so wurde gesagt, gewöhnlich
in einem Spielraum angesiedelt. Man kann sie tun und man kann sie
nicht tun, man kann sie so tun, aber auch anders. Ob und wie man
sie tut, hängt davon ab, was man will. Wenn man sie tun will, tut man
sie, wenn man sie nicht tun will, tut man sie nicht. Die Umstände
erlauben das eine wie das andere. Und deshalb liegt, ob wir dieses
oder jenes tun, an uns, daran, was wir wollen. Wenn das richtig ist
und das Gewolltsein einer Handlung ihre Unterlassbarkeit und das
Anders-Können einschließt, konkurrieren nicht zwei Konzeptionen
miteinander, vielmehr expliziert die eine nur, was die andere schon
impliziert. Dann ergibt sich ein ganz anderes Bild, als es der Ein-
wand suggeriert. – Beginnen wir also mit der Untersuchung.
Wer überlegt, ob er unter dem Strich die Handlung a oder die Hand-
lung b tun will (oder ob er die Handlung a tun oder nicht tun will),
muss, so habe ich gesagt, voraussetzen, dass er beide Handlungen,
also a und b, tun kann. Er muss voraussetzen, dass er, wenn sich
durch die Überlegung herausstellen sollte, dass er unter dem Strich
die Handlung a tun will, a auch tun kann, und dass er, wenn sich
herausstellen sollte, dass er in der Summe b tun will, b auch tun kann.
Er muss also annehmen, dass in beiden Fällen der Weg vom Wollen
zum Tun frei ist. Sonst wäre die Überlegung sinnlos.
Solange man überlegt, weiß man noch nicht, wie die Überlegung
ausgehen wird. Um zu erkennen, welcher der beiden konkurrieren-
den Wünsche stärker ist, müssen das relevante volitionale Gewebe,
in das sie eingewoben sind, und ihr relatives Gewicht in diesem Ge-
webe erst noch freigelegt werden. Man ist sich in seinen Wünschen
und ihrem Zueinander nicht ohne weiteres durchsichtig und muss
deshalb durch die Überlegung erst eruieren, wie es ist. Wie die Über-
legung ausgehen und welcher Wunsch sich als der stärkere heraus-
stellen wird, ist epistemisch noch offen. Es kann so sein, aber auch
anders. Ganz so, wie wenn Sherlock Holmes am Abend zu Watson
bemerkt: »Wenn wir, lieber Watson, alles zusammenziehen, was wir
bisher wissen, kann es sein, dass Miller der Mörder war, es kann aber
auch sein, dass Dr. Taylor es war.«
Wenn man sagt, es kann sein, dass die Überlegung so ausgehen
wird, es kann aber auch sein, dass es anders herauskommt, ist die-
ses »können« also epistemisch verwandt. Und wenn man in diesem
Sinne sagt, es kann sein, dass ich a tun werde, und es kann sein,
dass ich b tun werde, ist das »können« ebenfalls epistemisch ver-
wandt. Man muss sich jedoch darüber im Klaren sein, dass das in
der Überlegung vorausgesetzte Können: dass man, falls sie so aus-
geht, a tun kann und dass man, falls sie anders ausgeht, b tun kann,
kein epistemisches Können ist, sondern in einem anderen, noch
zu erläuternden Sinne gemeint ist. Dennoch ist auch diese episte-
mische Offenheit, dass man also nicht weiß, wie das Ergebnis der
Überlegung sein wird, und folglich auch nicht, was man tun wird,
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eine Voraussetzung des Überlegens. Das ist indes nicht mehr als
eine Trivialität.
Wie ist nun das fragliche Können zu verstehen? Nehmen wir an,
dass ich heute Abend einige Stücke von Chopin spiele, ist die Hand-
lung a. Es ist nur sinnvoll, zu überlegen, ob ich das unter dem Strich
tun will, wenn ich, falls es so sein sollte, das, was ich da will, auch
realisieren kann. Wovon hängt das ab? Natürlich muss ich die Fä-
higkeit haben, Klavier zu spielen und auf diesem Niveau zu spielen.
Ohne diese Fähigkeit kann ich heute Abend gewiss nicht spielen.
Aber das alleine reicht nicht aus. Selbstverständlich muss ich heute
Abend auch an einem Ort sein, an dem ein Klavier oder ein Flügel
zur Verfügung steht. Wenn das nicht der Fall ist, kann ich die Stücke
von Chopin ebenfalls nicht spielen. Es fehlt dann die Gelegenheit.
In diesem Fall hätte ich die generelle Fähigkeit, Klavier zu spielen,
aber mangels Gelegenheit könnte ich sie an diesem Ort und zu die-
sem Zeitpunkt nicht ausüben. Und noch etwas Drittes würde es
unmöglich machen, dass ich heute Abend spiele. Wenn ich mir am
Nachmittag so stark in den Finger schneide, dass ein dicker Ver-
band nötig wird, ist es ebenfalls unmöglich, zu spielen. Ich habe die
Fähigkeit, es gibt auch die Gelegenheit, sie zu aktualisieren, aber es
kommt etwas dazwischen. Die Ausübung der Fähigkeit ist wiede-
rum, auf eine andere Weise, blockiert. Ich werde heute Abend des-
halb nicht spielen können.
Alle drei Bedingungen müssen also gegeben sein, damit ich in
der konkreten Situation spielen kann, (i) die Fähigkeit, (ii) die Ge-
legenheit und (iii) dass nichts dazwischenkommt. Wenn eine die-
ser Bedingungen nicht gegeben ist, ist die entsprechende Handlung
ausgeschlossen. Sie kann deshalb keine Option sein. Und wenn man
annimmt, dass sie keine Option ist, kann man nicht in einer Über-
legung erwägen, ob man sie tut. Dieses Können, das an diese drei
Voraussetzungen gebunden ist, ist das Können, das in der Über-
legung für die Handlung a und für die Handlung b vorausgesetzt
wird. Wenn diese Bedingungen sowohl für die eine wie auch für die
andere Handlung gegeben sind, kann ich voraussetzen: falls sich die
Handlung a empfiehlt, kann ich sie tun, und falls sich die Handlung
b empfiehlt, kann ich sie tun.
Man kann die Bedingung (ii), die Gelegenheit, und die Bedin-
gung (iii), dass nichts dazwischenkommt, zusammenfassen und von
»Umständen« sprechen. Die Umstände müssen zulassen, dass man
die Fähigkeit, Klavier zu spielen, zu einem bestimmten Zeitpunkt
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5 Wir werden unten in § 6, S. 180 f. sehen, dass, die Fähigkeit zu den Um-
ständen zu rechnen, tatsächlich nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine
Notwendigkeit ist.
6 So zum Beispiel auch G. E. Moore: Ethics (London 1912), 109, 111;
A. Kenny: Will, Freedom and Power (Oxford 1975), 141.
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Und wenn man überlegt, ob man a tun will oder es lieber unterlas-
sen will, setzt man voraus, dass man die Macht hat, a zu tun, und
auch die Macht, es zu lassen.
Wenn man die Macht hat, a zu tun, und auch die Macht, b zu tun,
erlauben es einem die Umstände, das eine und das andere zu tun.
Man kann sich hier erneut auf den platonisch-aristotelischen Sprach-
gebrauch zurückbeziehen. Das griechische Wort exeinai bedeutet,
wie wir sahen7, »es ist möglich«, »es steht einem frei«, »es ist erlaubt«,
wobei immer mitzudenken ist: durch die konkreten Umstände einer
Situation. Platon sagt im Politikos, ich habe es schon angeführt: »Es
steht einem frei (exestin), den Weg zu gehen, welchen von beiden wir
wollen.«8 Das von exeinai abgeleitete Substantiv exousia gewinnt
von dort die Bedeutung »Macht«. Man hat die doppelte Macht, a zu
tun und b zu tun. Nichts hindert einen, das eine zu tun, und nichts
hindert einen, das andere zu tun. Was man tut, hängt dann davon
ab, was man in der Konkurrenz der Wünsche am stärksten will. Es
hängt nicht von den Umständen ab, sondern allein davon, was man
in der Summe will.
Deshalb spricht Aristoteles auch davon, dass es »bei uns« (eph’
hēmin) und bei nichts anderem liegt, ob wir a tun oder b tun. Das
eph’ hēmin, das Bei-uns-Liegen, bedeutet immer eine zweiseitige,
eine doppelte Macht. »Denn wenn es«, so schreibt Aristoteles, »bei
uns liegt, zu handeln, dann auch, nicht zu handeln, und wenn es bei
uns liegt, nicht zu handeln, dann auch, zu handeln.«9 Mit der For-
mulierung »es liegt bei uns« wird sehr klar lokalisiert, wo die archē,
der Anfang und die Ursache dessen, was geschieht, liegt. Man selbst
ist, durch sein Wollen, der Anfang des Geschehens, man selbst ist, so
Aristoteles auch, der »Herr« (kyrios) über das, was geschieht. Und
das, was dann geschieht, geschieht »durch uns«.10
Wenn ich, wie in der Überlegung vorausgesetzt, beide Optionen
habe, hängt, wie gesagt, was ich tatsächlich tue, von mir ab, und das
heißt, es hängt davon ab, was ich stärker will, das a-Tun oder das b-
Tun. Wenn ich das eine stärker will, werde ich a tun, wenn ich das
andere stärker will, werde ich b tun. Es liegt deshalb nahe, das Kön-
nen der Macht durch eine konditionale Analyse zu erläutern, wie
11 Vgl. J. L. Austin: Ifs and Cans (1956), in: J. L. A.: Philosophical Papers,
3rd edition (Oxford 1979), 205–232, 208–210.
12 Konditionale dieser Art werden heute häufig unter der Bezeichnung
»biscuit conditionals« diskutiert. Diese Benennung geht auf ein Beispiel für
ein nicht-hypothetisches Konditional zurück, das Austin angeführt hatte:
»There are biscuits on the sideboard if you want them.« Vgl. Austin, Ifs and
Cans, 210. Austins Beispiel zeigt, dass zu der Gruppe der »biscuit conditio-
nals« verschiedene Varianten gehören, nicht nur die, um die es hier geht.
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Nehmen wir nun an, jemand erkennt durch die Überlegung, dass
er in der Summe a tun will, und dass er a dann auch tatsächlich tut.
Hätte er auch anders handeln können? Hätte er auch b tun können?
Es ist üblich, die Frage in dieser Weise im Konjunktiv zu formulie-
ren. Aber man kann auch den Indikativ verwenden. Konnte er auch
anders handeln? Konnte er statt a auch b tun? Die konjunktivische
Formulierung drängt sich vermutlich deshalb auf, weil sie betont,
dass die Person b nicht getan hat. Selbst wenn sie es gekonnt hat, hat
sie diese Möglichkeit nicht realisiert. Man muss indes sehen, dass die
Frage das Können betrifft, nicht das Tun: Konnte sie b tun, obwohl
sie es nicht getan hat? Das Können, um das es geht, ist unabhängig
davon, ob sie b getan hat oder nicht. Es geht also nicht um etwas
Kontrafaktisches, sondern darum, ob die Person in der konkreten
Situation, in der sie a getan hat, b tun konnte. Deshalb empfiehlt es
sich, die indikativische Formulierung zu verwenden.13 So kann man
eine Reihe von schwerwiegenden Missverständnissen fernhalten.
Wenn das, was die Person in der Überlegung vorausgesetzt hat,
dass sie nämlich die doppelte Macht hat, a zu tun und b zu tun, rich-
tig ist, sie sich hierin also nicht geirrt hat, konnte sie genau in dem
Sinne von Können, in dem sie das vorausgesetzt hat, eben im Sinne
der Macht, zweifellos anders handeln. Sie hatte die Macht, auch b zu
tun. Der Weg war frei. Die Umstände haben es zugelassen, statt a b
zu tun. Und sie hätte b getan, wenn sie es in der Summe gewollt hätte.
Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass sie anders handeln
konnte. Sie hätte b nur dann nicht tun können, wenn eine der drei
Bedingungen für das Können nicht gegeben gewesen wäre: wenn
sie nicht grundsätzlich die Fähigkeit hätte, b zu tun, oder wenn es
in der Situation keine Gelegenheit dazu gegeben hätte oder wenn
etwas dazwischengekommen wäre.
Dass man anders kann, ist bereits in der Überlegung vorausge-
setzt. Man setzt in der Überlegung die doppelte Macht voraus, aber
man weiß bereits, dass man nur eine der beiden erwogenen Hand-
lungen tun wird. Man weiß also schon, dass man die Macht hat, eine
Handlung zu tun, die man nicht tun wird. Auf eine kurze Formel
gebracht, kann man sagen: wo die in der Überlegung vorausgesetzte
doppelte Macht, da immer auch das Anders-Können. Hieraus ergibt
sich dann, dass man bei allen Handlungen, die aus einem überlegten
Wollen, einem Wollen unter dem Strich kommen, anders kann und
alle diese Handlungen die Eigenschaft der Unterlassbarkeit besitzen.
Wenn jemand meint, eine Handlung sei nur dann meine, wenn
ich sie auch unterlassen konnte und es in meiner Macht stand, sie
auch nicht zu tun und stattdessen etwas anderes zu tun, dann erfül-
len alle diese Handlungen dieses Kriterium. Man wählt sie aus einer
Mehrzahl von Möglichkeiten und ergreift eine andere mögliche Op-
tion nicht. Man war frei, so zu handeln wie auch anders zu handeln.
Nichts hinderte einen, das eine zu tun, und nichts hinderte einen,
etwas anderes zu tun. Diese Handlungen gehen deshalb auf einen
selbst zurück, auf das eigene stärkere Wollen. Dieses Wollen be-
stimmt, was man tut, und damit bestimmt man selbst, was geschieht.
Ich erfahre heute jedoch zufällig, dass das nicht stimmt. Die Brücke
war den ganzen Tag über und auch am Abend passierbar. Er konnte
also sehr wohl kommen. Es ist ihm möglich gewesen, er war frei,
die Umstände erlaubten es. Aber er wollte offenbar nicht. Es lag an
seinem Wollen, nicht an den Umständen. Damit stellt sich die Situ-
ation ganz anders dar, und es fällt ein ganz anderes Licht auf Herrn
K. Wenn ich in dieser Situation sage, dass er also sehr wohl kommen
konnte, spreche ich vom Können der Macht, also vom Können 1: er
hatte die Macht, zu kommen.
Ähnlich das zweite Beispiel: Ich bin für drei Wochen wegen einer
auswärtigen Arbeit von zuhause weg und versäume es, mich in die-
ser Zeit bei meiner Frau zu melden. Als sie mir nach meiner Rück-
kehr deswegen Vorhaltungen macht, stottere ich etwas davon, dass
enorm viel zu tun und kaum Zeit war, Luft zu holen. Meine Frau
wird entgegnen: »Erzähl’ keine Geschichten. Natürlich konntest du
dich melden, natürlich ließ deine Arbeit das zu. Du hast es nicht ge-
wollt! Da sieht man, was für einer du bist. Es liegt allein an dir, an
nichts anderem. Du kannst es nicht auf die Umstände schieben.«15
Auch in diesem Beispiel spricht das »du konntest« vom Können 1.
Ich hatte die Macht, meine Frau anzurufen oder ihr zu schreiben.
Genauso der dritte, nun positive Fall. Jemand steckt eine Geld-
börse, die eine Frau in einem leeren Seitenraum eines Cafés liegen
gelassen hat, nicht ein, sondern gibt sie bei der Bedienung ab. Er
hätte sie in dieser Situation ohne weiteres einstecken können, die
Gelegenheit war da, aber er hat es nicht gewollt!
Diese Beispiele illustrieren, wie wichtig uns der Unterschied zwi-
schen den Umständen und dem Wollen und damit die Ausgrenzung
des Könnens 1 ist. Wenn es die Umstände zuließen und es am Wollen
hing, ist der Ursprung dessen, was passiert ist, wie gesagt, eindeutig
lokalisiert. Wir sind also, wenn wir fragen, ob jemand anders han-
deln konnte, am Können 1 und keineswegs am Können 2 interessiert.
Offenkundig stellt man nicht nur aus der Perspektive der 3. Per-
son fest, dass jemand frei ist und es bei ihm liegt, so oder auch anders
zu handeln. Auch ich selbst bin mir, wenn ich überlege und etwas
aus einem überlegten Wollen tue, bewusst, dass es an mir liegt, ob
ich mich so oder anders verhalte. Der Ort, an dem sich entschei-
15 Dieses Beispiel ist inspiriert durch ein Beispiel, das Kenny in etwas ande-
rer Form und in einem anderen Kontext verwendet. Vgl. Kenny, Will, Free-
dom and Power, 133.
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det, was ich tue, bin ich selbst. Es hängt an meinem Wollen. Wer
überlegt, ist sich des doppelten Könnens bewusst, er ist sich eines
Handlungsspielraums bewusst, und er ist sich der Möglichkeit, an-
ders zu handeln, bewusst. Diese mit der Überlegung selbst gege-
bene Bewusstseinslage ist, wie wir sahen, die stärkste und niemals
versiegende Quelle unseres Aktivitäts- und Freiheitsbewusstseins.
Nichts anderes bestimmt, was geschieht, sondern ich selbst, durch
mein Wollen. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich von dieser
unerschütterlichen Selbsterfahrung aus eine Deutung menschlichen
Handelns in Begriffen der Verantwortlichkeit entwickelt hat. Die
Erfahrung des »es liegt bei mir« ist durch nichts zu relativieren, und
sie ist durch nichts zu falsifizieren. Sie ist vollkommen berechtigt
und frei von Illusionen. Dass es, wenn ich a und auch b tun kann, bei
mir liegt, was ich tue, ist eine unumstößliche Tatsache, auf die man
sich aus der Perspektive der 1. Person genauso bezieht wie aus der
Perspektive der 3. Person. Und es ist eine Tatsache, die, wie gezeigt,
mit einem deterministischen Weltverlauf kompatibel ist.
los. Folglich ist auch jedes Angebot einer Analyse für dieses – nicht
vorhandene – Anders-Können sinnlos. Also ist hier auch für eine
konditionale Analyse kein Platz. Anders ist es beim Anders-Kön-
nen 1. Dieses Können kann man, wie schon erwähnt, durch einen
Konditionalsatz erläutern: Wenn ich a und auch b tun kann 1, gilt,
dass ich, wenn ich a stärker tun will, a tue, und wenn ich b stärker
will, b tue. Und wenn ich a getan habe, aber auch b tun konnte 1,
kann man kontrafaktisch sagen: Wenn ich in der Summe b hätte tun
wollen, hätte ich b getan. Dieses Konditional spiegelt, obwohl es
kontrafaktisch ist, die faktische, in der konkreten Situation vorhan-
dene Möglichkeit, anders zu handeln.
Ich werde auf die Details einer solchen konditionalen Analyse
des Könnens 1 nicht näher eingehen, auch nicht auf das Für und
Wider, und belasse es bei einigen Bemerkungen. Mir scheint, dass
sie eher erfasst, unter welcher Bedingung das Können aktualisiert
wird, aber nicht, was es konstituiert und ausmacht. Sie erfasst das
Phänomen nur indirekt und von außen, aber nicht als solches. Besser
ist es, das Können 1 als Können der Macht zu analysieren, also als
eine Situation, in der die verschiedenen Umstände es zulassen, a zu
tun und auch b zu tun. Nur deshalb liegt, was geschieht, bei einem
selbst. Und nur deshalb ist es so, dass man, wenn man a stärker tun
will, a auch tatsächlich tut. Man darf also, gerade wenn man verste-
hen will, worauf die Aussage über das Anders-Können zielt, nicht
nur auf die Wollensabhängigkeit des Tuns schauen, man muss den
grundlegenden Sachverhalt freilegen: dass die Umstände es zulassen,
dass man so und auch anders handelt, dass man also frei ist, – und
dass es deshalb am eigenen Wollen liegt.
Es kommt hinzu, dass eine konditionale Explikation leicht fal-
sche Einwände evoziert. Wenn jemand a getan hat und man darauf
hinweist, dass er durchaus anders handeln konnte, denn wenn er b
gewollt oder in der Summe gewollt hätte, hätte er b getan, stellen
viele die Frage: »Ja, aber konnte er denn b wollen?«16 Wenn er a ge-
tan hat, kann 2 er in einer deterministischen Welt, so die Überlegung,
nicht eine Motivation gehabt haben, die dazu geführt hätte, dass er b
tut. Er konnte 2 b also nicht tun wollen oder nicht in der Summe tun
wollen. Das ist ausgeschlossen. Wenn er dies nicht konnte, konnte
er aber doch, so der Einwand, offenbar auch nicht b tun. Was soll
dann diese kontrafaktische »Wenn er gewollt hätte«-Imagination
im Irrealis? Dann bleibt es doch dabei, dass die Person a getan hat
und b nicht tun konnte. – Dieser Einwand ist verfehlt, er blickt nur
auf das Können tout court und realisiert nicht, dass die konditio-
nale Analyse nicht dieses Können, sondern ein anderes Können, das
Können der Macht, zum Gegenstand hat.
Dass jemand, der a tut, die Macht hat, auch b zu tun, ist offen-
sichtlich unabhängig davon, dass er b tun will, und auch unabhän-
gig davon, dass er b tun wollen kann 2. Wie immer es mit seinem
Wollen bestellt ist, er kann b in diesem Sinne tun. Damit, dass er
b nicht wollen kann 2, wird unter deterministischem Vorzeichen
von vorneherein gerechnet, weil die Annahme des Determinismus
es einschließt. Man muss gerade verstehen, dass es, obwohl es so ist,
dass die Person b nicht oder nicht in der Summe tun wollen konnte,
sinnvoll ist, zu sagen: Aber die Umstände haben es erlaubt, dass sie
b tut. Und dass es deshalb sinnvoll ist, zu sagen: Wenn sie es gewollt
hätte, hätte sie b getan. Warum es sinnvoll ist, dieses spezielle Kön-
nen der Macht auszugrenzen und zu überlegen, ob es gegeben war,
wurde im Vorangegangenen erklärt. Wenn die Person dieses Können
besitzt, kann, b zu tun, für sie in ihrer der Handlung vorausgegan-
genen Überlegung eine Option gewesen sein. Ohne dieses Können
hätte sie nicht die Option gehabt, b zu tun. Außerdem zeigt dieses
Können, dass es nicht an den Umständen lag, dass sie b nicht getan
hat, es lag an ihr, an ihrem Wollen. Der Ort, an dem sich entschied,
dass sie b nicht getan hat, war sie selbst.
Es kann sein, dass jemand allem, was im letzten Absatz gesagt
wurde, zustimmt, das Argument aber in anderer Form erneuert:
Man kann das Wollen-Können, so der neue Einwand, nicht nur als
ein durch den kausalen Geschehensverlauf ausgeschlossenes Wollen-
Können 2 verstehen, sondern auch als ein Wollen-Können im Sinne
der Fähigkeit. Wenn man das tut, ergebe sich, wie ein besonderer Ty-
pus von Beispielen belege, sehr wohl, dass, b tun zu können, davon
abhängt, dass man b auch wollen kann, »wollen kann« jetzt in dem
Sinn, dass man die Fähigkeit hat, b zu wollen. Was verhindert, dass
man b tun kann, ist nicht, dass der deterministische Gang der Dinge
nicht zu dem Wollen von b geführt hat und man in diesem Sinn b
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nicht tun wollen kann, sondern dass man gar nicht die Fähigkeit hat,
b zu wollen. Die These ist also: Dass man die Macht hat, b zu tun,
setzt voraus, dass man die Fähigkeit hat, b zu wollen.
Dieser argumentative Zug überrascht. Es schien doch so zu sein,
dass die anfängliche Plausibilität der Rückfrage, ja, aber konnte er
denn b wollen, aus der Annahme eines deterministischen Weltver-
laufs resultiert. Was nützt es, so die Intuition, zu sagen, dass die be-
treffende Person, die a getan hat, auch b tun konnte, nämlich b getan
hätte, wenn sie b hätte tun wollen, wenn sie das gar nicht wollen
konnte? Die Rückfrage hingegen so zu verstehen, dass sie nach der
Fähigkeit, b zu wollen, fragt, wirkt merkwürdig und unvermittelt.
Und außerdem: Warum sollte die Person, um die es geht, nicht die
Fähigkeit haben, b zu wollen? – Mit welchen Beispielen wird also
argumentiert?
Es ist, so die Idee, möglich, dass man die Fähigkeit, etwas Be-
stimmtes zu wollen, wegen einer psychischen Deformation, etwa
einer Phobie, nicht hat. So kann eine Frau, die an einer Agoraphobie
leidet, nicht auf den Marktplatz der Kleinstadt, in der sie lebt, gehen
wollen. Sie kann es deshalb auch nicht tun. Sie hat nicht die Macht,
es zu tun. Das ist für sie keine Option. Folglich hängt das Können 1
davon ab, dass man das einschlägige Wollen in dem genannten Sinne
haben kann. Das Können 1 ist nicht schon gegeben, wenn gilt, dass
sie auf den Marktplatz ginge, wenn sie es wollte. Sie muss die Fähig-
keit haben, dies zu wollen. Auch dieses Argument wird offensicht-
lich durch eine konditionale Explikation des Könnens 1 provoziert.
Wie erfolgreich ist es? Zunächst zieht die Beschreibung der Bei-
spielsituation Zweifel auf sich. Denn warum sollte die Frau nicht
fähig sein, auf den Platz gehen zu wollen? Dort hat sie früher häufig
in der Sonne gesessen, und das möchte sie wieder tun. Und deshalb
möchte sie auch auf den Platz gehen. Diesen Wunsch kann sie neben
ihrer Angst, den Platz zu betreten, haben. Man kann sogar davon
ausgehen, dass sie auf den Platz gehen will, denn nur deshalb leidet
sie an ihrer Krankheit. Das Problem liegt also nicht darin, dass sie
etwas nicht wollen kann, sondern darin, dass dieses Wollen nicht
handlungswirksam werden kann, weil am Ende immer die Angst
bestimmt, was sie tut. Deshalb kann 1 sie nicht auf den Platz gehen.
Der psychische Defekt lässt das nicht zu.
Nach dieser Korrektur kann man die Situation, wie es scheint,
glatt in dem bisher entwickelten Rahmen verstehen. Die Frau geht
in einer konkreten Situation nicht auf den Marktplatz, und sie hat
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ches, was wir nicht tun, tun wir nicht, weil wir es nicht wollen. Wir
tun es nicht, obwohl wir die Option haben, es zu tun. Anderes tun
wir nicht, weil die Umstände, die unserem Wollen entzogen sind, es
nicht zulassen. Wir haben nicht die Option, so zu handeln. Diese
Unterscheidung ist für uns nicht nur von elementarem Interesse, sie
ist, weil wir zwischen Optionen überlegen, unausweichlich.17 Und
zwar auch in einer Welt, von der man hypothetisch annimmt, sie
funktioniere deterministisch.
Wenn man annimmt, dass alles, was der Überlegende tut, Teil
eines deterministischen Geschehens ist, muss man davon ausgehen,
dass das Ergebnis des Überlegens schon festliegt, genauso wie schon
festliegt, was man tun wird. Man kann sich durchaus vorstellen, dass
ein Gott, der das gesamte Universum von seiner Entstehung bis
zu seinem Ende im Detail vor sich sieht, weiß, was das Ergebnis
des eigenen Überlegens sein wird. Aber das macht das Überlegen
nicht überflüssig, und es macht auch nicht überflüssig, sorgfältig und
genau zu überlegen. Was man tun wird und wie die Zukunft sein
wird, hängt davon ab. Denn natürlich kommt man nur durch das
Überlegen zu einer überlegten Handlung. Wie man handeln wird,
wird nicht durch eine Kausalfolge bestimmt, die wie ein Bypass an
der Überlegung vorbeiläuft. Der kausale Prozess läuft offenkundig
durch das Überlegen hindurch. Gott kann nur wissen, wie ich han-
deln werde, weil er weiß, wie ich überlegen werde.
Auch in diesem Zusammenhang kommt es darauf an, zu verste-
hen, was Determinismus bedeutet, und sich nicht durch falsche Vor-
stellungen verhexen zu lassen. Wer auf die Vorstellung, dass schon
festliegt, wie die Überlegung ausgehen wird, damit reagiert, dass er
sagt: »Dann braucht man ja nicht mehr zu überlegen, dann ist die
Überlegung doch überflüssig«, ist bereits auf dem falschen Gleis.
Er begeht, jetzt speziell auf das Überlegen bezogen, den Fehler, zu
glauben, determiniert zu sein, bedeute, dem eigenen Einfluss ent-
zogen zu sein. Doch es gibt kein Ergebnis der Überlegung ohne die
Überlegung. Was man tun wird, hängt davon ab. Vielleicht kann
folgende fiktive Szene den Sachverhalt noch einmal verdeutlichen:
Zwei Freunde, Max und Richard, gehen am Abend ins Münchener
Stadion, wo Bayern München gegen den FC Barcelona spielt. Und
sie unterhalten sich vor Spielbeginn darüber, wie das Spiel wohl aus-
gehen wird, wie die Form einzelner Spieler ist, über die Aufstellun-
gen, etc. Max, der philosophische Neigungen hat und glaubt, die
Welt verlaufe deterministisch, macht im Laufe des Gesprächs wie ne-
benbei die überraschende Bemerkung: »Übrigens, das Ergebnis des
Spiels steht schon fest.« Richards Antwort kommt prompt: »Dann
brauchen sie ja nicht zu spielen.« Und diese Antwort, so typisch
und erwartbar sie ist, ist falsch. Denn wie soll das Ergebnis zustande
kommen? Doch nur dadurch, dass die Spieler spielen. Davon, wie sie
spielen, hängt schließlich ab, wie das Spiel ausgehen wird. Es kann
auch niemand denken, die Spieler bräuchten sich nicht anzustren-
gen, es sei ja ohnehin bereits entschieden. Davon, wie sehr oder wie
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werden. Die beiden können sich vorläufig darauf einigen, dass, wie
das Spiel ausgehen wird, so oder so von den Spielern abhängen wird.
Und klar ist auch, dass Max’ These nichts daran ändert, dass sie jetzt
gespannt sind, zu sehen, wie das Spiel laufen wird.
Wie in diesem Beispiel ist es auch im Fall des Überlegens: Auch
wenn man annimmt, das Ergebnis liege bereits fest, ändert das nichts
daran, dass ich überlegen muss, wenn ich erreichen will, was ich an-
strebe: das zu tun, was ich am stärksten will. Auch in diesem Fall
ist die Reaktion: dann ist die Überlegung ja überflüssig, falsch. Es
ist immer wieder behauptet worden, wer überlegt, setze notwen-
digerweise einen Indeterminismus voraus. Das ist, scheint mir, aus
den genannten Gründen nicht wahr. Gewöhnlich setzen wir, wenn
wir überlegen, gewiss weder einen Determinismus noch einen In
determinismus voraus. Aber das Überlegen kann sehr wohl von dem
Gedanken begleitet werden, es sei determiniert. Das dem Überlegen
inhärente Bewusstsein des So-und-so-Könnens, der Freiheit und der
Selbstbestimmung wird dadurch nicht unterminiert.
Wenn so weit geklärt ist, wie das Überlegen auf Optionen bezo-
gen ist und in welchem Sinne es ein Anders-Können voraussetzt,
darf man sich in dem Erreichten nicht durch eine missverständli-
che Begrifflichkeit verwirren lassen. Ich meine die Begrifflichkeit
des Wählens und Entscheidens. Sie suggeriert leicht die Vorstellung,
man vollziehe irgendwo in der Handlungsvorbereitung eine eigen-
ständige Handlung des Wählens oder Entscheidens. Besonders der
Begriff der Entscheidung legt diese Vorstellung nahe. Man assozi-
iert eine Entscheidung oft mit dem Bild einer Weggabelung. Man
steht an einem Punkt und muss entscheiden, ob man den rechten
oder den linken Weg nimmt. Eine Entscheidung setzt, wie immer
man sie genau versteht, Optionen voraus. Wenn man glaubt, sie sei
ein eigener Teil der Handlungspräparation, erneuert sich die Frage,
in welchem Sinne verschiedene Optionen präsupponiert werden.
Vermutlich wird dann auch der Verdacht, dass es Entscheidungen
in einer deterministischen Welt gar nicht geben könne, nicht mehr
lange auf sich warten lassen.
Frankfurt hat gemeint, was eine Entscheidung ist, sei »sehr ob
skur« (»very obscure«) und »schrecklich schwer zu fassen« (»aggra-
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dann auch sagen: Ich habe durch die Überlegung die offene Frage
entschieden. In diesem Sinne ist das Entscheiden nicht eine eigene,
vom Überlegen verschiedene Handlung, es gibt vielmehr nur eine
Handlung, das Überlegen; aber weil man durch die Überlegung
herausfindet, welche der beiden Optionen man realisieren will, kann
man das Überlegen auch als ein Entscheiden beschreiben. Man ent-
scheidet durch die Überlegung den Streit zwischen den Wünschen.
Auch ein Richter entscheidet eine Sache durch bestimmte Tätig-
keiten, durch eine genaue Untersuchung des Sachverhalts und die
Überprüfung der einschlägigen Rechtslage. Am Ende steht dann die
Erkenntnis, dass das umstrittene Verhalten, sagen wir, rechtswidrig
war. Er erkennt nicht, dass es rechtswidrig war und entscheidet dann
in einer weiteren Handlung, wie er urteilt. Er entscheidet vielmehr,
indem er durch die genannten Tätigkeiten zu der Erkenntnis kommt,
dass das strittige Verhalten rechtlich nicht in Ordnung war.
In diesem Sinne verstanden ist die Rede von der Entscheidung
völlig unproblematisch. Es zeigt sich damit, dass die Vorstellung,
das Entscheiden sei eine eigene Handlung neben dem Überlegen,
aus einer speziellen und einseitigen Ausdeutung des Begriffs resul-
tiert. Und es ergibt sich auch, dass es durchaus möglich ist, den Pro-
zess des Entscheidens, in der jetzt explizierten Weise verstanden, als
determiniert zu begreifen.
Man wird dem entgegenhalten, selbst wenn das alles richtig sei,
komme die Vorstellung einer eigenen Handlung des Entscheidens
spätestens dann wieder ins Spiel, wenn man Situationen ins Auge
fasst, in denen die Überlegung in einem Unentschieden oder Bei-
nahe-Unentschieden endet, in denen es also nicht durch die Über-
legung zu einer Entscheidung kommt. Es scheint, als müsse dann
auf eine andere Weise entschieden werden. Schauen wir, bevor ich
hierauf eingehe, zuvor noch kurz auf Situationen anderer Art.
Angenommen, ich gehe spazieren und an einer Stelle steht eine
Pfütze auf dem Weg. Gehe ich rechts an ihr vorbei oder links?20 Of-
fenkundig überlegen wir in einer solchen Situation nicht, wir gehen
entweder an der einen oder der anderen Seite vorbei. Es wäre auch
ganz unpassend, anzunehmen, dass ich entschieden habe, rechts vor-
beizugehen. Davon kann nicht die Rede sein. Wie kommt es dann
dazu, dass ich rechts vorbeigehe? Wahrscheinlich durch Umstände
und Eindrücke, deren ich mir nicht bewusst bin. Vielleicht wirkt
der Weg links vorbei eine Spur matschiger als der rechte, und ich
registriere das unbewusst, während ich gehe und mir etwas anderes
durch den Kopf geht. Oder es passt besser zum Schrittrhythmus,
rechts vorbeizugehen. Oder es ist eine mir nicht bewusste Gewohn-
heit, in solchen Fällen rechts an etwas vorbeizugehen. Oder es ist
etwas anderes dieser Art. Was in Fällen wie diesen den Ausschlag
gibt, weiß man normalerweise nicht. Der Eisberg der Faktoren, die
dafür ausschlaggebend sind, dass wir so-und-so handeln, liegt zum
größten Teil unsichtbar unter der Wasseroberfläche. Wäre es anders,
wären wir lebensuntüchtig. Wir können davon ausgehen, dass wir
uns in sehr vielen Situationen, in denen es uns gleichgültig ist, ob so
oder so, solchen unbewussten Mechanismen überlassen. Wir könn-
ten die Angelegenheit auf die Ebene des Überlegens ziehen, aber
dafür ist sie bei weitem nicht wichtig genug. Was hängt daran, ob
ich links oder rechts vorbeigehe? Nichts.
Kommen wir jetzt zu den Fällen, in denen wir überlegen, sich
aber ein Unentschieden zwischen den Optionen ergibt. Ich lasse
offen, wie häufig solche Situationen sind. Oft löst man ein solches
Unentschieden auf, indem man weitere Aspekte beizieht, durch de-
ren Berücksichtigung sich die Waage dann doch zu einer Seite neigt.
Man überlegt also weiter, bringt weitere Wünsche ins Spiel und misst
die erwogenen Handlungen auch an ihnen. Aber es gibt Zeitgren-
zen. Wir können nicht ad infinitum überlegen. Dann drohten wir
wie Buridans Esel zwischen zwei gleich attraktiven Heuhaufen zu
verhungern. Was also führt zu einer Entscheidung, wenn wir nicht
durch eine Überlegung entscheiden?
Häufig gibt dann, wie es scheint, ein Bauchgefühl den Ausschlag.
Ein solches Gefühl speist sich aus untergründigen, unartikuliert ge-
bliebenen und kaum bewussten Erfahrungen. Wir können, worauf
wir uns hier beziehen, nicht klar benennen. Wir sind uns deshalb
nicht ganz sicher. Und doch haben wir das Gefühl, dass es uns in
eine Richtung zieht, dass wir uns mit der einen Handlung wohler
fühlen oder dass sie die ist, die wir tun sollten. Ein Gefühl, nicht eine
Überlegung, hat die Entscheidung gebracht.
Und was, wenn man auch auf diese Weise nicht zu einer Entschei-
dung kommt? Was geschieht dann? Wir stellen uns oft vor, dass wir
dann in die eine oder andere Richtung springen, also aus dem Nichts
ein »fiat« sprechen und auf diese Weise den Streit entscheiden. Wir
haben die Vorstellung, wie Herakles am Scheideweg zu stehen und
uns dann mangels einschlägiger Ressourcen out of the blue für den
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einen oder den anderen Weg zu entscheiden, und damit sind wir
wieder bei der Idee, das Entscheiden sei eine eigene, der eigentlichen
Handlung vorgelagerte Handlung. Diese Art der Selbstbeschreibung
ist dann häufig die Quelle für eine Freiheitsüberzeugung, nach der
wir so und auch so entscheiden können 2. Die kausalen Faktoren
insgesamt lassen es zu, so die Vorstellung, dass wir uns an dieser
Stelle bei bis dahin gleicher kausaler Vorgeschichte sowohl für das
a-Tun wie auch für das b-Tun entscheiden. Wir können das eine wie
das andere im Sinne des Könnens tout court.
Doch wie kommt es, wenn wir das Mirakel der unverursachten
Verursachung beiseite lassen, wirklich zu dieser Entscheidung? Wir
müssen, so meine ich, annehmen, dass in diesen Situationen, nicht
anders als sonst in der Welt, ein kausaler, möglicherweise determi-
nistischer Prozess abläuft, allerdings ohne dass wir wissen, was die
ausschlaggebenden Faktoren sind. Es sind wiederum unbewusste
Faktoren, die bestimmen, in welche Richtung man geht, oder Fak-
toren, die zu flüchtig und unfasslich sind, als dass sie in einer be-
wussten Überlegung eine Rolle spielen könnten oder sich auch nur
zu einem registrierbaren Bauchgefühl verfestigten: weit in der Ver-
gangenheit erfolgte Prägungen, unbewusste volitive Ressourcen im
Hintergrund, unbewusste Mikrogewohnheiten des Präferierens, un-
bewusste Assoziationen und Eindrücke, Erinnerungsbestände, die
wir unbewusst beiziehen und auswerten, Sedimente längst verges-
sener Gut-/Schlechterlebnisse. David Hume hat im Blick auf Situ-
ationen dieser Art, in denen wir indifferent sind, dann aber doch a
oder b tun, und die oft so ausgedeutet werden, als entschieden wir
frei im Sinne des Könnens 2, gesagt, dass »ein Betrachter unsere
Handlungen gewöhnlich aus unseren Motiven und unserem Cha-
rakter ableiten kann und dass er, wenn er es nicht kann, im Allge-
meinen schließt, dass er es könnte, wenn er alle Umstände unserer
Situation und unserer Gemütslage und die geheimsten Ursprünge
unserer Komplexion und Disposition vollständig kennte«.21 Aber
23 Dies ist die Auffassung von Kenny, Will, Freedom and Power, 142 ff; auch
The Metaphysics of Mind (Oxford 1989), 146 f. Im Anschluss an Kenny so
auch U. Wolf: Möglichkeit und Notwendigkeit bei Aristoteles und heute
(München 1979), 351, 379; 2. Aufl. u. d. T.: Vermögen und Möglichkeit (Ber-
lin 2020), 314 f., 339.
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24 Wobei ich hier die Varianten, statt a b zu tun und statt a zu tun a nicht zu
tun, nicht unterscheide. Auch a zu unterlassen wird hier und im Folgenden
als Anders-Handeln gefasst.
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wollen, »proceed from election«. Wir wollen immer vieles, und das
am Ende handlungsleitende Wollen wurde auf die eine oder andere
Weise anderen Wünschen vorgezogen.
Aber stellen wir uns, zum Zwecke des Arguments, eine Situation
vor, in der ein isoliertes, konkurrenzloses Wollen das Handeln be-
stimmt. Es wird nur eines gewollt, diese bestimmte Handlung. Neh-
men wir, um dieses Beispiel aufzugreifen, an, jemand spielt einige
Stücke von Chopin. Und er will nur dies. Kein anderes Wollen, und
sei es auch nur im Hintergrund und sei es auch noch so schwach,
konkurriert mit diesem Wunsch. Die Person kann tun, was sie tut,
weil sie die Fähigkeit hat, Chopin zu spielen, weil ein Klavier zur
Verfügung steht und weil nichts, kein Schnitt in den Finger, kein Mi-
gräneanfall, dazwischengekommen ist. Die Umstände lassen es zu,
wie gewollt zu spielen. Aber sie lassen es offenkundig auch zu, dass
die Person nicht spielt. Die Umstände nötigen sie nicht, zu spielen.
Es steht in ihrer Macht, auch nicht zu spielen. Nicht zu spielen, ist
also ebenfalls eine Option. Was geschieht, liegt bei ihr, bei ihrem
Wollen. Weil sie spielen will, spielt sie. Und wenn sie nicht spielen
wollte, würde sie nicht spielen. Sie kann also anders, sie kann auch
nicht spielen.
Dies legt die Annahme nahe, dass eine gewollte Handlung auch
dann, wenn das handlungsleitende Wollen nicht mit anderen Wün-
schen konkurriert, in einem Spielraum des Anders-Könnens ange-
siedelt ist. Auch in diesem Fall ist die Handlung eine unter mehreren
möglichen, und sie wird, weil sie gewollt wird, als eine unter meh-
reren möglichen realisiert.
Eine gewollte und durch das Wollen verursachte Handlung ist
also, so scheint es, grundsätzlich in einem Spielraum angesiedelt.
Wenn, was geschieht, bei mir, bei meinem Wollen liegt, dann kann
ich a tun und a auch nicht tun. Dass eine Handlung getan wird, weil
sie gewollt wird, schließt demnach ein, dass man die Macht hat, auch
anders zu handeln. Denn das Wollen bestimmt, was von dem, was
einem durch die Situation offen steht, getan wird. Und es hat genau
die Funktion, dies zu bestimmen. Das Wollen bestimmt, was wir in
einer Situation, in der verschiedene Handlungen möglich sind, tun.
Das Gewolltsein einer Handlung und ihre Unterlassbarkeit, Ge-
wolltsein und Anders-Können gehen also grundsätzlich zusammen.
Es ist nicht so, dass bei einigen Handlungen, die man tut, weil man
sie tun will, die Eigenschaft der Unterlassbarkeit noch zusätzlich
hinzukommt.
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Denn die Umstände bestimmen bereits, was man tut. Und es bedarf
dafür, dass es zu dieser Handlung kommt, ihres Gewolltseins nicht.
Das zeigt noch einmal, dass das Wollen hier funktionslos ist.
Das wird auch durch eine Spekulation über die evolutionäre Ge-
nese des Wollens bestätigt. Einfache Lebewesen, die noch kein Wol-
len kennen, werden durch fest verdrahtete Reiz-Reaktionsmechanis-
men in ihrem Verhalten bestimmt. Für jede Situation ist genetisch
fixiert, was die Lebewesen tun. Wobei diese Mechanismen wohl im-
mer oder fast immer durch primitive Formen des Gedächtnisses und
primitive Lernvorgänge in begrenztem Umfang intern flexibilisiert
werden. Dennoch bleibt diese Lebensweise im Grundsatz unflexi-
bel. Komplexere Formen des Lebens bedürfen einer anderen, flexi-
bleren Handlungssteuerung. Die jeweilige Situation darf nicht die
Handlung festlegen, sie muss vielmehr mehrere Handlungen erlau-
ben, und das Lebewesen selbst muss bestimmen, was es in der Si-
tuation tut. Es entsteht also eine Lücke zwischen der Situation und
der Handlung, die getan wird. Und es liegt bei dem handelnden
Lebewesen, ob es so handelt oder anders. Es muss selbst festlegen,
was geschieht. Und das tut es durch sein Wollen. Wenn es so will,
handelt es so, und wenn es anders will, handelt es anders. Sein Wol-
len bewegt das Lebewesen dazu, eine der Handlungsmöglichkeiten
zu ergreifen. In dem Moment in der Geschichte des Lebens, in dem
die Lücke zwischen Situation und Handlung aufbricht, bedarf es
eines Elements, das diese Lücke füllt, und das ist das Wollen. An ihm
entscheidet sich, welche der möglichen Handlungen realisiert wird.
Wenn die Situation hingegen, wie in den Beispielszenarien ange-
nommen, nur eine Handlung zulässt, Jones, bleiben wir bei ihm, also
gar nicht vermeiden kann, das zu tun, was er tut, aber dennoch ein
Wollen vorhanden ist und es auch faktisch das Handeln verursacht,
ist das Wollen zwar die causa, aber nicht die causa sine qua non der
Handlung. Denn wenn Jones die Handlung, die er tut, nicht gewollt
hätte, würde er sie dennoch tun. Er kann eben nicht anders. Frank-
furt vertritt entschieden die Meinung, dass Jones für seine Hand-
lung, obwohl er nicht anders kann, voll verantwortlich ist, sie also,
so können wir das in unseren Kontext übersetzen, »durch ihn« ge-
schieht. Warum? Weil Jones, wie Frankfurt mehrfach sagt, »exakt
dieselbe Handlung tut, die er getan hätte, wenn er anders hätte han-
deln können«.33 Die Begründung ist aufschlussreich, offenbart sie
doch, dass das Anders-Können auch in diesem Fall mit dem Ge-
wolltsein der Handlung einhergeht, allerdings nicht das faktische
Anders-Können, sondern das hypothetische Anders-Können. Jones
hätte auch dann, wenn er anders gekonnt hätte, so gehandelt. Der
Test dafür, dass die Handlung durch ihn geschieht, ist die imaginierte
Situation, in der er anders kann. Auch in den Beispielszenarien spielt
also ein – bloß hypothetisches – Anders-Können eine Rolle.
Noch ein anderer Aspekt der Beispielfälle verdient Aufmerksam-
keit. Jones weiß nicht, dass er keine Wahl hat. Er glaubt fälschlich,
mehrere Optionen zu haben. Sein Wollen bildet sich auf dem Boden
der Annahme, dass ihm eine andere Handlungsmöglichkeit offen
steht. Auch hier ist das Anders-Können also im Spiel, allerdings
nur als unterstelltes oder geglaubtes, nicht tatsächlich. Wenn man
Jones von vorneherein darüber informiert hätte, in welcher Situation
er sich in Wahrheit befindet, hätte er gleich sagen können, dass es
dann ja nicht bei ihm liege, was geschieht, und sein Wollen ja dann
überflüssig sei.
Die Beispiele demonstrieren ohne Zweifel, dass es besondere Si-
tuationen gibt, in denen Gewolltsein und faktisches Anders-Kön
nen auseinandertreten, dass zwischen beidem also keine begriffliche
Verbindung besteht. Sie lassen aber auch erkennen, dass in dieser
Art von Situation das Wollen seiner Funktion, angesichts mehre-
rer Handlungsmöglichkeiten, die dem Handelnden offen stehen, zu
bestimmen, was man tut, beraubt ist. Oder, mit Kenny gesagt, dass
das Wollen seiner Funktion, die Lücke zwischen Umständen und
Handlung zu schließen, beraubt ist. Wir haben es in diesen Fällen
mit einem echten, aber doch privativen Wollen zu tun.
Aber all dies ändert nichts daran, dass, nimmt man diese Sonder-
fälle aus, das Gewolltsein einer Handlung und das Anders-Können
zusammengehen und das eine das andere einschließt. Und selbst in
den Sondersituationen geht das Gewolltsein noch mit einem hypo-
thetischen und einem geglaubten Anders-Können zusammen.
Frankfurts Beispiel und seine Abwandlungen haben in der Dis-
kussion über Verantwortlichkeit und Freiheit – in diesen Kontext
gehört sein Aufsatz – mit großem Erfolg dazu beigetragen, dass man
das Gewolltsein einer Handlung und das Anders-Können sehr stark
trennte und auseinanderhielt. Dass eine Handlung aus einem Wollen
resultiert, sichert, so die Vorstellung, allein die Verantwortlichkeit,
des Anders-Könnens bedarf es dafür gar nicht. Damit schien für
alle, die annahmen, ein Anders-Können sei mit der Hypothese des
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§6
Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen
liegen. Das bedeutet, dass auch alle Faktoren, die die verschiedenen
Grade der Ichhaftigkeit unserer Handlungen begründen, einschließ-
lich des Wollens, eine kausale Vorgeschichte haben, die außerhalb
von uns liegt und deshalb unserer Einwirkung entzogen ist. In Ka-
pitel 4 wurde gezeigt (so hoffe ich), dass dieser Umstand nichts von
der Ichhaftigkeit unserer Handlungen wegnimmt. Die Genese des
Wollens wie auch der anderen das »durch mich« konstituierenden
Faktoren ist dafür, dass die Handlungen unsere sind, wir aktiv Han-
delnde sind und etwas aus uns heraus geschehen machen, ohne Be-
lang. Auch wenn wir ein deterministisches Kausalgeschehen und da-
mit auch eine Determination des Wollens unterstellen, kann das un-
sere Urheberschaft und das »durch mich« unserer Handlungen nicht
angreifen. Das »durch mich« beginnt innerhalb des Kausalprozesses,
es gibt innerhalb des kausalen Geschehens einen Übergang von dem,
was nicht durch mich geschieht, zu dem, was durch mich geschieht.
Genau dies gilt es zu verstehen. Es muss gelingen, die beiden Ein-
sichten, um die es hier geht, in eine stabile Balance zu bringen und
in dieser Balance zu halten, zum einen die Einsicht, dass die Hand-
lungen, die aus meiner Person kommen und nicht aus einer anderen,
und dann insbesondere die, die aus meinem Wollen kommen, durch
mich geschehen und ich ihr Urheber bin. Und zum anderen die Ein-
sicht, dass alle unsere Handlungen und die ihnen vorausgehenden
mentalen Prozesse Wirkungen von Ursachen sind, die, geht man
in der kausalen Vorgeschichte hinreichend weit zurück, außerhalb
von uns liegen. Es gibt keinen Weg, ein Ich, eine Seele, ein intelligi-
bles Subjekt, einen Willen, ein Überlegen, ein Entscheiden aus den
kausalen Kräftefeldern herauszunehmen, auch nicht einen noch so
kleinen Teil davon. Allein die Ichhaftigkeit unserer Handlungen, die
mit diesem Prinzip der Kausalität zusammenstimmt, ist wirklich
und mehr als eine Illusion.
Diese beiden Einsichten zu verbinden, ist schwierig, und es droht
immer der Absturz zur einen oder zur anderen Seite und damit der
Rückfall in die traditionelle Gedankenspur, die suggeriert, das Ein-
gebettetsein unserer Handlungen und unseres Wollens in das kausale
Geschehen dementiere deren Ichhaftigkeit oder – umgekehrt – das
unleugbare »durch mich« unserer Handlungen dementiere ihr voll-
ständiges Eingelassensein in das kausale Gewebe von Ursachen und
Wirkungen. Wer die Balance zur einen oder anderen Seite verliert,
verkennt, so meine ich, die spezifische Existenzform der Menschen.
Wir sind Produkte zahlloser, uns zum größten Teil unbekannter
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(i) Individualität
(ii) Autonomie
einer riesigen Zahl von Kontingenzen sind, und nicht mehr. Aber
es bedeutet nicht, dass wir versklavt oder Marionetten sind. Wir
können aus uns heraus, aus unserem Wollen handeln und unsere
Freiheiten, gegebene und erkämpfte, so nutzen, wie es uns am bes-
ten zu sein scheint.
Und noch eine Überlegung: Wenn die Menschen und das, was sie
tun, Teil eines universalen deterministischen Kausalgeschehens sind
und dieses Geschehen uns, wie behauptet wird, versklavt oder hete-
ronomisiert, wo ist dann eigentlich das eigene Wollen, dessen Um-
setzung ins Handeln durch den fremden Einfluss verhindert wird,
angesiedelt? Es müsste dann offenkundig etwas außerhalb des Kau-
salgeschehens sein, denn seine Umsetzung würde durch das Eingrei-
fen oder Wirksamwerden dieses Geschehens verhindert. Aber unser
Wollen ist selbst voll und ganz in das Kausalgeschehen eingelassen.
Dies zeigt, dass sich die Idee: Versklavung durch deterministische
Kausalprozesse nicht einmal explizieren lässt. Wenn gesagt wird,
Determinismus bedeute Versklavtsein oder Heteronomie, haben
wir es eher mit einem angstvollen Reflex als mit einem durchdach-
ten Argument zu tun. Auch diese Überlegung macht deutlich, wie
wichtig, aber auch wie schwierig es ist, zu begreifen, was es tatsäch-
lich bedeutet, dass wir selbst, mit unserem Wollen und Handeln, Teil
des kausalen Gefüges von Ursachen und Wirkungen sind und nicht,
auch nicht zum Teil, neben oder über ihm stehen.
fest, was man unter dem Strich wollen wird. Und deshalb ist das
Wollen unter dem Strich selbst ein Umstand. Es ist das Ergebnis ei-
nes Kausalgeschehens, das letzten Endes von außen auf uns einwirkt.
Es sind dann insgesamt die Umstände, die das Handeln festlegen.
Es gibt dann nichts anderes als Umstände. Und wer meint, dann sei
es unsinnig, noch von Umständen zu sprechen, der gebrauche ein
anderes Wort, das ändert nichts an der Sache. In jedem Fall ist die
gezogene Grenzlinie zwischen den Umständen auf der einen Seite
und dem eigenen, das Ich verkörpernden Wollen auf der anderen
Seite unter deterministischem Vorzeichen nicht gerechtfertigt. Dies
also der erste kritische Zug.
Alles, was der Einwand über das stärkste Wollen und seine Vor-
geschichte vorbringt, ist, eine deterministische Welt vorausgesetzt,
richtig. Aber es ändert nichts daran, dass wir in der Überlegung ein
spezifisches Können voraussetzen, das Können der Macht, das Kön-
nen 1. Wir können, so nehmen wir an, a und b tun, die Umstände
erlauben das eine wie das andere. Dieses Können ist, wie oben er-
läutert, nicht auf alle kausalen Gegebenheiten, sondern allein auf
die Umstände – Fähigkeit, Gelegenheit und keine Dinge, die da-
zwischenkommen – relativ. Mit seiner Ausgrenzung nehmen wir
die Unterscheidung von Umständen und Wollen vor oder setzen
sie voraus. Und wir tun das notwendigerweise. Denn wenn die Um-
stände es nicht zulassen, eine der Handlungen zu tun, ist es sinnlos,
zu überlegen, ob man sie unter dem Strich tun will. Man kann dann
wollen, was man will, man wird die Handlung nicht tun können. Die
Handlung ist dann keine Option. Ob es sinnvoll ist, die Handlungen
a und b in Erwägung zu ziehen, hängt also von den Umständen ab,
und zwar allein von den Umständen, ganz unabhängig vom Wollen
und davon, welches Wollen sich als das Wollen unter dem Strich er-
weist. Es geht darum, ob der Übergang vom Wollen zum Handeln
möglich sein wird. Und das hängt exklusiv von den Umständen ab
und offensichtlich nicht vom Wollen. Das Wollen kann uns nicht
hindern, das Gewollte zu tun. Aus diesem Grund ist die Unterschei-
dung von Wollen und Umständen indispensabel.
Und deshalb läuft sogar eine trennende Linie durch das Ich im
weiteren Sinne. Denn eine Fähigkeit, etwa die, Klavier zu spielen,
ist eine intrinsische Qualität meiner Person. Dennoch habe ich sie
zu den Umständen gezählt, während das Wollen eben nicht zu den
Umständen gehört. Der Grund ist der genannte: Wenn ich Chopin
spielen will, kann es sein, dass die Umsetzung des Wollens daran
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scheitert, dass ich die dazu nötigen Fähigkeiten nicht habe. Sie kann
aber nicht daran scheitern, dass ich Chopin spielen will. Es dient also
nicht bloß dem einfacheren Reden, die Fähigkeit zu den Umständen
zu zählen, es ist eine Notwendigkeit.
Wir können jetzt auch sehen, dass das Wort »Umstände« genau
die Sache trifft. Umstände stehen um etwas herum, im lateinischen
Wort circumstantiae kommt das vielleicht noch deutlicher heraus
als im Deutschen. Umstände sind relativ auf ein Zentrum. Und was
dieses Zentrum ist, lässt sich im jetzigen Kontext klar benennen:
Es ist nicht das Ich im Sinne der von anderen unterschiedenen Per-
son, sondern das Ich im engeren Sinne, das Ich, das allein durch
das Wollen definiert ist. Alles außerhalb dieses Ichs sind Umstände,
auch Zustände der eigenen Person wie mangelnde Fähigkeiten oder
Krankheiten. Und wenn ich etwas tue (oder unterlasse), weil ich es
will, dann sind es nicht Umstände, die zu der Handlung determinie-
ren, dann geschieht sie vielmehr durch mich, ich bin es, der sie tut.
Die Unterscheidung von Umständen und Wollen kann, so zeigen
diese Überlegungen, nicht eingeebnet werden. Sie ist unvermeidlich
und ganz und gar gerechtfertigt.
Zum anderen hat die Diagnose, ein deterministischer Weltverlauf
zwinge dazu, das Wollen selbst zu den Umständen zu rechnen, Fol-
gendes vor Augen: Es wurde gesagt, dass wir in Kontexten, in de-
nen wir eine bestimmte Handlung von einer anderen Person erwar-
ten, sie aber unterbleibt, je nach Situation unterschiedlich reagieren.
Wenn die Person sie tun wollte, die Umstände es aber nicht zuließen,
reagieren wir anders, als wenn sie gar nicht so handeln wollte. Wenn
ich mich, so eines der Beispiele, während e iner längeren Dienstreise
kein einziges Mal bei meiner Frau gemeldet habe, wird sie nach mei-
ner Rückkehr voller Entrüstung sagen: »Erzähl’ nicht, dass es an
den Umständen lag, dass du keine Möglichkeit hattest, anzurufen
oder zu schreiben. Du hast es nicht gewollt! Es lag allein an dir, an
nichts anderem. Du kannst es nicht auf die Umstände schieben.«
Wenn aber, so jetzt der Einwand, auch das Wollen letzten Endes
von außerhalb kommt, ist das Wollen beziehungsweise das Nicht-
Wollen für mich auch nur ein Umstand. Wo ist dann der Unter-
schied zu der Situation, in der ich keine Möglichkeit gehabt hätte,
mich zu melden? Beides kommt letzten Endes von außen. Der Un-
terschied besteht in Wirklichkeit nicht. Wir machen ihn nur, weil
wir intuitiv keine Deterministen sind. Dies ist der zweite kritische
Zug.
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sagt, sie sei für die-und-die Wirkung verantwortlich. So, wenn man
sagt, Mikrorisse im Muskelgewebe seien für den Muskelkater ver-
antwortlich. Man kann die Rede von Verantwortung dann auch auf
die positive Seite übertragen und da, wo jemand etwas Vorbildli-
ches oder besonders Verdienstvolles getan hat und andere mit Lob,
Belohnung und Anerkennung reagieren, von Verantwortung spre-
chen. Aber dieser Sprachgebrauch ist weniger profiliert und wohl
auch seltener.
Es kann keinen Zweifel daran geben, dass jemand, wenn er wil-
lentlich eine Handlung tut und sie anderen Handlungsmöglichkei-
ten vorzieht, auch in einer deterministischen Welt ihr Urheber ist.
Er ist Quelle und Ursache dessen, was geschieht. Er wurde nicht
genötigt, so zu handeln. Er war frei, anders zu handeln. Er hatte
Optionen. Und deshalb ist er, wenn er nicht im Naturzustand lebt,
sondern in einer normativ geordneten Gesellschaft, die akzeptable
und inakzeptable Handlungen unterscheidet und die Handlungen,
die nicht geschehen sollen, sanktioniert, für das, was er getan hat,
verantwortlich.8
Dies gilt offenkundig nicht nur aus der Perspektive der dritten
Person. Auch der Handelnde selbst hält sich, wenn er etwas Un-
rechtes getan hat, für verantwortlich. Er weiß, dass ihn nichts und
niemand genötigt hat, so zu handeln, wie er es getan hat. Er weiß:
Ich hatte die Wahl, ich hätte die Handlung auch unterlassen können,
ich habe aus freien Stücken so gehandelt. Und wenn in der Gesell-
schaft, in der ich lebe, aus mir durchaus einleuchtenden Gründen
Handlungen dieser Art bestraft werden, muss ich das hinnehmen
und für das, was ich getan habe, geradestehen.
Wie wir sahen, entspringt aus der Erfahrung, dass man in der
Überlegung und Abwägung offene Optionen vor sich hat, dass man
so, aber auch anders handeln kann, also frei ist, zu tun, was man will,
ein unerschütterliches Ich- und Freiheitsbewusstsein. Und das ver-
bindet sich unweigerlich mit dem Bewusstsein, für das, was man tut,
verantwortlich zu sein. Die Erfahrung des »es liegt bei mir« ist ein
nicht eliminierbares Konstituens der menschlichen Existenzform.
Von all dem nimmt der unterstellte Determinismus nichts weg.
Was die Köpfe verhext, ist nun der Einwand, es sei zwar richtig,
dass man, wenn man frei ist, zu tun, was man will, die Ursache des
Geschehens ist, aber man sei, wenn der Determinismus wahr ist,
nicht die letzte Ursache. Und das sei die entscheidende Bedingung
für Verantwortlichkeit. Verantwortung könne es nicht geben, wenn
man nicht die letzte oder, anders ausgedrückt, die erste Ursache des
Geschehens sei. Der Handelnde muss, so Kane, »the sole author or
underived originator« der Handlung sein.9 Nur dann kann er wirk-
lich verantwortlich sein und für das, was er getan hat, zur Rechen-
schaft gezogen werden. Verantwortlichkeit sei rekursiv. Das heißt,
wenn ich für die Handlung a, weil sie aus meinem Wollen kommt,
verantwortlich sein soll, muss ich auch dafür verantwortlich sein,
dass ich dieses Wollen habe, und für das, worauf dieses Wollen zu-
rückgeht. Wenn das nicht der Fall ist, kann ich auch nicht für das
Tun von a verantwortlich sein.
Es liegt auf der Hand, dass die Vorstellung der Rekursivität in
einen unendlichen Regress führt. Man muss für die Ursachen und
deren Ursachen und deren Ursachen und so fort verantwortlich sein.
Das ist aber nicht möglich. Die einzige andere Möglichkeit liegt da-
rin, dass der Regress an einer Stelle abbricht, und zwar im Handeln-
den irgendwo im Vorfeld der Handlung, und dass er, dann notwen-
digerweise ohne darin von etwas verursacht zu sein, die Handlung
oder das vorausgehende Wollen wählt, aber auch etwas anderes hätte
wählen können. Nur wenn es einen solchen absoluten Startpunkt
gibt, an dem der Handelnde unbedingt aus sich heraus (was immer
das heißen soll) eine Wahl trifft, kann er für die daraus resultierende
Handlung verantwortlich sein. Wir stoßen hier wieder auf die Idee
des absoluten Anfangs, der keine kausale Vorgeschichte hat, sondern
aus dem Nichts kommt. Es ist nicht nötig, noch einmal zu sagen,
dass es einen solchen Anfang nach allem, was wir wissen, in dieser
Welt nicht gibt. Wenn es uns Ernst ist damit, an der Einsicht Hobbes’,
Humes und Darwins festzuhalten und die Menschen zu entgöttern,
ist die Idee der Verantwortlichkeit auf diesem Wege nicht verständ-
lich zu machen. Die Forderung letztlicher Autorschaft macht Ver-
antwortung also so oder so zu etwas, was es nicht gibt.
In Wahrheit ist Verantwortung nicht rekursiv. Wir haben bereits
gesehen, dass das »durch mich« nicht rekursiv ist. Das, was durch
mich geschieht, kommt vielmehr früher oder später aus etwas, was
nicht durch mich geschehen ist. Dasselbe gilt entsprechend für die
Verantwortlichkeit. Das, wofür ich verantwortlich bin, kommt frü-
her oder später aus etwas, wofür ich nicht verantwortlich bin. Der
Übergang erfolgt durch mein Wollen oder, anders gesagt, durch
mein durch das Wollen definiertes Ich. Würde man die kausalen
Fäden zurückverfolgen und die Genese des einzelnen Wollens auf-
zuhellen versuchen, endete die Spur entweder bei etwas, was als Teil
der menschlichen Natur faktisch so ist, oder sie verlöre sich schnell
in der nicht weiter ausleuchtbaren Vorgeschichte der eigenen Per-
son und des eigenen Charakters. So oder so endete sie bei Faktoren,
für die man nicht verantwortlich sein kann. Verantwortung kann
nicht rekursiv sein.
Auf derselben Linie argumentiert Harry Frankfurt. »Ich denke
nicht«, so sagt er, dass, für etwas verantwortlich zu sein, »›a transi-
tive matter‹ ist. Ich denke nicht, dass es, wenn ich nicht für A ver-
antwortlich bin und B aus A folgt, folgt, dass ich nicht für B verant-
wortlich bin.« Was zählt, sei allein, dass ich es tun will. »How I got
into that condition is another matter.«10
Es sei wenigstens angemerkt, dass das, was sich jetzt für das Ver-
ständnis der Verantwortlichkeit ergeben hat, nicht an die determi-
nistische Prämisse gebunden ist. Es gilt auch, wenn man einen in-
deterministischen Weltverlauf voraussetzt. Auch wenn in der Vor-
geschichte des Wollens und des jeweils stärksten Wollens probabi-
listische Kausalrelationen eine Rolle spielen, bleibt es dabei, dass, je
weiter man die kausalen Einflüsse zurückverfolgt, immer klarer wird,
dass man für all das nicht verantwortlich sein kann. Und für die
unerklärlichen Zufallselemente in diesem Geschehen kann man oh-
nehin nicht verantwortlich sein. Auch in einer indeterministischen
Welt resultiert also das, wofür man verantwortlich ist, notwendiger-
weise aus etwas, wofür man nicht verantwortlich ist. Die einzige Al-
ternative wäre erneut die Annahme eines absoluten Startpunktes, an
dem man, unabhängig von allen kausalen Einflüssen, so oder anders
handeln kann und sich ex nihilo für eine der Möglichkeiten entschei-
det. Die Idee einer »ultimate responsibility« ist folglich weder un-
ter deterministischem noch unter indeterministischem Vorzeichen
einzulösen. – Das lässt im übrigen erkennen, dass die eigentliche
Frontlinie gar nicht zwischen Determinismus und Indeterminismus
verläuft, sondern zwischen Determinismus und Indeterminismus
auf der einen Seite und der Idee des absoluten Anfangs auf der an-
deren Seite. Wobei die Idee des absoluten Anfangs allerdings einen
Indeterminismus voraussetzt.
Wenn Verantwortlichkeit nicht rekursiv ist, bedeutet das, dass
derjenige, der etwas Unrechtes getan hat und einräumt, dass er da-
für verantwortlich ist, und deshalb auch die Unvermeidlichkeit einer
gesellschaftlichen Sanktionierung zugesteht, dem noch etwas hin-
zufügen kann. Dies alles, so kann er sagen, ist richtig, aber ebenso
richtig ist, dass ich für die nähere oder fernere Vorgeschichte der
Willenskonstellation, die zu dem führte, was ich getan habe, nicht
verantwortlich sein kann. Warum ich es so stark tun wollte, wa-
rum die gegenläufigen Motive in der Überlegung nicht stärkeres
Gewicht gewannen, warum mich die absehbare soziale Missbilli-
gung nicht stärker beeindruckte – für all das gibt es Ursachen und
Ursachen dieser Ursachen, aber sie sind offensichtlich früher oder
später meinem Einfluss entzogen. Damit ist nicht geleugnet, dass
meiner Handlungswahl bereits eigene Aktivitäten oder Möglich-
keiten zu solchen Aktivitäten vorausgingen. Ich konnte mehr oder
weniger sorgfältig überlegen, mir die Konsequenzen mehr oder we-
niger konkret ausmalen, ich konnte mir einschlägige in der Vergan-
genheit gemachte Erfahrungen bewusst machen. Ich hatte, neben
dem, was einfach so war, Spielräume. Und ich habe, das muss ich
einräumen, zu unbedacht agiert, ich hätte vorher besser nachdenken
sollen. Dennoch ist es so, dass, wie ich mich verhalten habe, von
Charakterstrukturen oder auch von momentanen Eindrücken und
Einschätzungen abhängig war, die ihrerseits eine komplexe kausale
Vorgeschichte haben. Versuchte man, in der Ursachenkette zurück-
zugehen, würde einem schnell klar, dass all das aus einem Zusam-
menspiel einer Fülle von Mikro-Ursachen kommt, die außerhalb
meines Einflusses lagen.
Damit sind auch nicht die Möglichkeiten der Selbstdistanzie-
rung und Selbstkritik, der Selbsterziehung und Selbstveränderung
geleugnet, und auch nicht die Möglichkeit, speziell die eigenen voli
tiven Dispositionen zu verändern. Diese Möglichkeiten gibt es, so
kann der Übeltäter zugestehen, ohne Zweifel, und sie zeigen, dass
es auch weit im Vorfeld konkreter Handlungen Verantwortlichkei-
ten gibt. Das darf man in der Tat nicht übersehen. Und vielleicht
muss ich Verantwortung dafür übernehmen, dass ich hier einiges,
was möglich und nötig war, unterlassen habe. Aber natürlich kom-
men die Impulse zu Veränderungen im eigenen Charakter selbst
aus volitiven Ressourcen, und sie sind Produkte von Ursachenket-
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Geschehen bedingt. Das eine schließt das andere nicht aus, und ge-
nauso wenig umgekehrt.11
Die Vorstellung, dass es so gekommen ist, dass man für eine
Handlung verantwortlich ist – und dann gegebenenfalls auch dafür
bestraft, unter Umständen sehr empfindlich bestraft wird, enthält
eine erhebliche Härte. Die Position, die man innerhalb des kausalen
Gefüges innehat, bestimmt letzten Endes über die Lebenschancen
und den konkreten Weg des Lebens. Niemand hat diese Position
selbst gewählt. Und da die Menschen unterschiedliche Positionen
einnehmen, eröffnen sich ihnen unterschiedliche Lebenswege, den
einen sehr viel günstigere und anderen sehr viel ungünstigere. Da-
mit sind, das sei noch einmal betont, nicht die Möglichkeiten der
Selbstentwicklung und Selbstveränderung geleugnet. Das Gesagte
schließt vielmehr ein, dass man sich zum Besseren hin entwickeln
kann, und dass es richtig und wichtig ist, sich dieser Anstrengung zu
unterziehen. Dennoch bestimmt letzten Endes, alle Komplexionen
mit eingeschlossen, die kausale Konfiguration. Das wird vielfach als
unerträgliche Ungerechtigkeit wahrgenommen. Doch dieses Urteil
ist haltlos und eine falsche Moralisierung am falschen Ort. Wir ha-
ben keine Gründe, anzunehmen, es gebe einen übernatürlichen Dis-
tributor, der den Menschen unterschiedliche Lebenswege zuteilt und
den man wegen Ungerechtigkeit anklagen könnte. Häufig wird auch
andersherum argumentiert: Eine Konzeption, wie sie hier entwickelt
wird, könne nicht wahr sein, weil sie der Gerechtigkeit Gottes wi-
derspreche. Denn dann wäre die Ordnung der Welt selbst unmora-
lisch, und das sei mit der Gerechtigkeit Gottes unvereinbar. Wenn
wir religiöse Vorstellungen dieser Art und aus ihnen abgeleitete Ar-
gumente beiseite lassen, können wir allein von einer Ungleichheit in
den Lebenschancen und den faktischen Lebenswegen sprechen, aber
nicht von einer Ungerechtigkeit. Eine Gesellschaft kann sich dazu
11 Die zitierte Formulierung findet sich im 13. Kapitel von Nemesios’ Über
die Natur des Menschen, in dem er ein kurzes Referat des stoischen Deter-
minismus liefert, um diese Position dann zu kritisieren. Die Passage ist ab-
gedruckt in Bobzien, Determinism and Freedom in Stoic Philosophy, 363–
365. Vgl. zur Interpretation und zum Kontext Bobzien, 360–394. – In der
zeitgenössischen Philosophie hat Paul Russell in einer Reihe von Aufsätzen
ähnliche Überlegungen angestellt. Vgl. seine Aufsatzsammlung The Limits
of Free Will (Oxford 2017) und hier vor allem die Aufsätze: Compatibilist-
Fatalism: Finitude, Pessimism and the Limits of Free Will (ursprgl. 2000) und
Free Will Pessimism (2017).
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dass ich diese Schlussfolgerung für falsch halte, und möchte das jetzt
begründen. – Wenn es richtig ist, dass es diese reine, nicht-derivierte
Autorschaft und eine letztliche Verantwortlichkeit nicht gibt, hat
man zwei Möglichkeiten. Entweder man bindet den Begriff des Ver-
dienstes tatsächlich an diese Voraussetzung, dann verdient niemand
ein Lob, einen Tadel oder eine Strafe, oder man versteht den Begriff
in einer Weise, die diese Voraussetzung nicht macht. Es spricht in
meinen Augen alles für diesen zweiten Weg. Und eine historische
Recherche würde wohl sehr klar belegen, dass der Begriff im Laufe
seiner Geschichte keineswegs an die Voraussetzung einer letztlichen
Verantwortlichkeit gebunden war.
Dass der Begriff, ganz ohne diese Implikation, eine sinnvolle
Funktion erfüllt, wird klar, wenn man sich seine Bedeutung we-
nigstens in groben Zügen vor Augen führt. Der Begriff des Ver-
dienstes ist eng mit dem der Gerechtigkeit verbunden. Er setzt eine
normative Ordnung, moralischer oder rechtlicher Art, voraus, die
bestimmt, dass die, die bestimmte Dinge tun, dafür zu vergüten sind
und dass die, die bestimmte andere Dinge tun, dafür, sagen wir in
Ermangelung eines anderen Wortes: negativ zu vergüten sind. Den
einen wie den anderen kommt etwas zu, und jedem das ihm Zukom-
mende zu geben, ist nach der alten Formel des Simonides gerecht.12
Es wird also eine normative Ordnung vorausgesetzt, die solche Kor-
respondenzen zwischen Handlungen und – positiven oder negati-
ven – Vergütungen festlegt. Nun kann es sein, dass jemand etwas
tut, für das eine Vergütung vorgesehen und geboten ist, diese aber
aus welchen Gründen auch immer unterbleibt. Man braucht dann
einen Begriff, um sagen zu können, dass der Betreffende zwar fak-
tisch keine Vergütung erhält, sie aber – ja, genau: verdient. Wenn
einem Arbeiter für seine Arbeitsleistung laut Vertrag eine bestimmte
Vergütung zusteht, verdient er sie, selbst wenn sie faktisch nicht
erfolgen sollte. Und ein Mörder verdient eine Strafe selbst dann,
wenn die Tat unentdeckt bleibt und er einer Bestrafung entkommt.
Jemand, der keinen Mord begangen hat, aber irrtümlich angeklagt,
verurteilt und bestraft wird, verdient die Strafe hingegen nicht. Sie
trifft den Falschen, sie passt nicht und ist unverdient und ungerecht.
Was man verdient, ist, so kann man sagen, der Maßstab dafür, ob
eine faktische Vergütung oder ihr Ausbleiben passt oder nicht oder,
anders ausgedrückt, ob sie gerecht oder ungerecht ist.
Da der Begriff des Verdienstes eine bereits differenzierte norma-
tive Realität voraussetzt, kann es im Naturzustand kein Verdienst
geben. Wer im Naturzustand jemanden tötet, verdient nicht eine
Strafe. Er hat etwas getan, was auf Ablehnung stößt und Zorn und
den Wunsch nach Rache hervorruft. Aber dass der Täter eine Strafe
verdient, lässt sich nicht sagen. Dazu bedürfte es einer normativen
Ordnung, die es im Naturzustand per definitionem nicht gibt.
Wollte man demgegenüber behaupten, eine Tötungshandlung
verdiene einfach auf Grund dessen, was sie tut, auch unabhängig
von allen von Menschen geschaffenen Normen und Gesetzen eine
Strafe, würde man eine von den Menschen unabhängige, ihnen viel-
mehr vorgegebene, in diesem Sinne objektive normative Realität
voraussetzen. Es wäre dann durch Gott oder eine normativ verfasste
Seinsordnung fixiert, dass es gerecht ist, jemanden, der so gehandelt
hat, zu bestrafen. Doch die Vorstellung einer solchen objektiven,
uns vorgegebenen Gerechtigkeitsordnung ist nur ein Stück Mytho-
logie. Ohne Zweifel gehören solche objektivistischen Vorstellun-
gen oft zum Kontext der Rede vom Verdienst. Wie oft haben die
Menschen gedacht – und denken noch, die eigene Krankheit oder
die eines anderen sei unverdient, oder das Wohlergehen eines ande-
ren sei unverdient, das eines Dritten hingegen verdient? Wie wich-
tig war und ist ihnen die Vorstellung eines Totengerichts, das der
Gerechtigkeit endgültig zum Sieg verhelfen werde? Schon im alten
Ägypten, lange vor dem Entstehen der monotheistischen Religionen,
bestimmte diese religiöse Vorstellung wesentlich das Bild, das man
sich vom menschlichen Leben und den Gesetzen der Welt mach-
te.13 Es scheint ein tiefes Bedürfnis der Menschen nach einer letztli-
chen Gerechtigkeit zu geben. Die unleugbaren Ungleichheiten und
Ungerechtigkeiten dieser Welt müssen, so das Empfinden, spätes-
tens in einer jenseitigen Welt ausgeglichen und kompensiert werden.
Sonst wäre die Welt selbst hoffnungslos korrupt und unmoralisch.
Doch tatsächlich ist die Vorstellung des Verdienstes nicht an einen
solchen normativen Objektivismus gebunden. Sie setzt nur eine in
bestimmter Weise ausgestaltete normative Realität, sei sie objektiv
oder subjektiv, voraus.
wird, liegt darin eine Härte. Man muss die Strafe hinnehmen, ob-
wohl, dass man für ein Unrecht verantwortlich wurde, im letzten
auf Kontingenzen zurückgeht, die dem eigenen Einfluss entzogen
waren. Aber (i) eine Härte ist nicht eo ipso eine Ungerechtigkeit.
Außerdem (ii) gehört die Ungleichheit des günstigeren oder ungüns-
tigeren Lebensloses unleugbar zum Leben, mit ihr muss jeder, der es
schlechter getroffen hat, zurechtkommen, und das gilt wohl in an-
derer Weise auch für die, die es besser getroffen haben. Auch ihnen
geht vieles ab, was sie gerne sein und können würden. Auch ihnen
sind die Prädeterminanten und die Grenzen der eigenen Person nur
allzu bewusst. Aber (iii) die Härte, von der jetzt die Rede ist, die
Ungleichheit im Bestraft- und Nicht-Bestraftwerden, ist, so könnte
man einwerfen, von Menschen gemacht, sie ist nicht unvermeidlich.
Das ist so. Aber sie ist dann unvermeidlich, wenn die Menschen
nicht im Naturzustand, sondern in einer normativ geordneten Welt
leben wollen. Den Naturzustand zu verlassen, Hobbes hat eindring-
lich geschildert, wie gefährlich und unerträglich er ist, ist eine unab-
weisbare Notwendigkeit. Normen zu schaffen und mit Normen zu
leben, bedeutet aber, dass bestimmte Verhaltensweisen sanktioniert
und bestraft werden. Der Preis für ein normativ geordnetes Zusam-
menleben ist nicht nur die Aufgabe eines Teils der eigenen Freiheit,
sondern auch die Vergrößerung der Ungleichheiten in den Lebens-
schicksalen. Wenn aber alle sich darin einig sind, den Naturzustand
zu verlassen, und das darf man unterstellen, dann ist es gerechtfer-
tigt, bestimmte Handlungen zu bestrafen. Jeder kann dem im Blick
auf seine Interessen zustimmen. Und dem, der will, so ein alter rö-
mischer Rechtsgrundsatz, geschieht kein Unrecht: Volenti non fit
iniuria. Hier geschieht nichts Unrechtes.
Drittens. Es ist, so meine ich, persuasiv, zu sagen, auf diese Weise
würden Unschuldige bestraft. Denn unter der Prämisse des Deter-
minismus seien alle unschuldig.15 Eines Unrechts schuldig ist der, der
gegen eine Norm verstößt. Er verdient die vorgesehene Strafe. Es
gibt kein Schuldig- und Unschuldigsein außerhalb einer von Men-
schen gemachten normativen Wirklichkeit. Es gibt kein Schuldigsein
aus der Perspektive des Universums. Und die Vorstellung, es könne
ein Schuldigsein geben, das die Determination durch die Kontingen-
zen transzendiert, ist nur eine Chimäre.
15 So zum Beispiel S. Smilansky: Parfit on Free Will, Desert, and the Fair-
ness of Punishment. The Journal of Ethics 20 (2016), 139–148, 144.
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und nicht um die Zufügung von Leid, ganz unabhängig von den
Interessen des Zusammenlebens, nur zum Zwecke eines für nötig
befundenen höheren Ausgleichs. Die Praxis des Verdammens und
Verurteilens beruht erneut auf der Vorstellung eines absoluten An-
fangs und des »underived originator« und damit auf einer illusionä-
ren Vorstellung von Ichhaftigkeit: der Betreffende stand im Vorfeld
der Handlung an einem Verzweigungspunkt, an dem er ohne jede
kausale Determination so und anders handeln konnte, im Sinne des
Könnens tout court, und er hat sich (man weiß nicht, warum), wie
man dann oft formuliert, frei für das Böse entschieden. In Wirklich-
keit ist das, was geschehen ist, letzten Endes, trotz der Verantwort-
lichkeit des Täters und obwohl er eine Strafe verdient, ein Unglück,
das Ergebnis einer nur sehr partiell rekonstruierbaren unheilvol-
len Verschlingung zahlloser kausaler Fäden. Wenn man sich das be-
wusst macht, kann sich in die Haltung dem Übeltäter gegenüber ein
Bedauern mischen, ein Bedauern darüber, dass die Zufügung von
Leid, die unweigerlich mit der Bestrafung einhergeht, zum Schutz
der Gesellschaft und der basalen Freiheiten ihrer Mitglieder not-
wendig ist. Man muss das Gift der Verdammung aus der Strafpraxis
herausziehen.
Die Strafe muss, obwohl es sich um eine Zwangsmaßnahme han-
delt, zum Ziel haben, den Straftäter zum Guten hin zu kurieren. »We
cannot«, so schreibt Derek Parfit, »justifiably have ill will towards
these wrong-doers, wishing things go badly for them.«16 Wahr-
scheinlich ist es, denken wir an einen Mordfall, sogar für die Ange-
hörigen des Opfers tröstlicher, das Geschehen trotz der Verantwor-
tung des Täters letzten Endes als ein schlimmes Unglück zu sehen,
weil das, wie sie vermutlich im tiefsten Inneren ahnen, die Wahrheit
ist. Das immer neue emotionale Anrennen gegen den Täter und das,
was er getan hat, in Wut, Empörung und Rachewunsch läuft hinge-
gen irgendwann ins Leere und führt zudem in die Selbstzerstörung.
dass die Person sehr wohl die Macht hatte, b zu tun, ändert daran
nichts. Daraus folgt aber, anders als oft angenommen wird, aus den
angeführten Gründen nicht, dass die Person für das, was sie getan
hat, nicht verantwortlich sein kann. Und es folgt auch nicht, dass sie,
falls ihre Handlung mit einer sozialen Norm kollidiert, es nicht ver-
dient, dafür getadelt oder bestraft zu werden. Eine solche Strafe ist
keineswegs unfair oder ungerecht. Sie ist gerechtfertigt, weil sie von
dem Interesse aller Mitglieder der Gemeinschaft, den Naturzustand
durch ein normativ geordnetes Zusammenleben zu ersetzen, getra-
gen wird. Dabei schließt das »alle« den, den die Strafe trifft, mit ein.
Es sei wenigstens noch notiert, dass das, was über die Strafe aus-
geführt wurde, in modifizierter Weise für ein sehr viel breiteres Phä-
nomenfeld gilt. Es gilt analog auch für Lob, Anerkennung und Be-
lohnung. Auch hier wäre die Vorstellung des »underived originator«
unbegründet. Die Praxis des Lobens zielt wie die des Tadelns auf die
Zukunft und ist darauf angelegt, den Handelnden und andere zu er-
muntern, wieder oder selbst so zu handeln. Es gilt, so nehme ich an,
auch für die »reactive attitudes«, also das Spektrum der positiven
und negativen Emotionen, mit denen wir darauf reagieren, wie an-
dere sich uns gegenüber verhalten, und auch darauf, wie wir selbst
uns anderen gegenüber verhalten. Dieses außerordentlich komplexe
Phänomenfeld im einzelnen daraufhin zu untersuchen, inwieweit die
verschiedenen emotionalen Reaktionen von der Vorstellung absolu-
ter Originarität unabhängig und mit den Grundlagen der hier ent-
wickelten Konzeption kompatibel sind, ginge allerdings weit über
das hinaus, was im Rahmen dieses Kapitels möglich ist. Deshalb nur
eine knappe paradigmatische Bemerkung zur Empörung, mit der wir
scharf auf ein moralisches Unrecht reagieren.
Die Empörung ist eine besondere Form des Zorns. Wenn man
zornig ist, regt man sich, noch unabhängig von jeder moralischen
Bewertung, über einen Angriff auf die eigene Person, etwa über die
Zufügung eines körperlichen Schmerzes auf. Das ist etwas, was man
partout nicht will und worauf man deshalb aggressiv reagiert. Mit
dieser Reaktion gibt man zu verstehen, dass man das nicht hinnimmt
und gewillt ist, nötigenfalls zurückzuschlagen. Die Empörung, die
spezifisch moralische Form des Zorns, fügt dem hinzu, dass man
sich zusätzlich über die Verletzung einer der Regeln des Zusam-
menlebens aufregt. Dies nicht nur, wenn man selbst das Opfer ist,
sondern auch wenn ein anderer der Leidtragende ist. Der Übeltäter
hat nicht nur jemandem Schmerzen zugefügt, es ist noch etwas an-
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deres passiert: er hat gegen eine der Regeln des gemeinsamen Lebens
verstoßen. Diese sind einem sehr wichtig, und deshalb regt man sich
auf, man empört sich und zeigt dem, der so gehandelt hat, seinen
Unwillen. Was er getan hat, wird von mir und den anderen nicht
akzeptiert. Es ist ein Unrecht, etwas, was eine für den Täter unan-
genehme Reaktion verdient.
All dies ist mit der Einsicht in das »außerhalb von uns« verein-
bar. Ganz unabhängig davon verdient die betreffende Person eine
negative Reaktion. Unverdient wäre sie allein dann, wenn sie für
das, was sie getan hat, nicht verantwortlich war. Es kann deshalb
bei der Empörung bleiben. Vorausgesetzt ist nicht die absolute Ur-
heberschaft des Täters, sondern seine Verantwortlichkeit und seine
Beeinflussbarkeit durch die emotionale Reaktion. Die Empörung
kann also durchaus von der Überzeugung begleitet werden, dass es
so gekommen ist, dass er dafür verantwortlich geworden ist. Es ist
keineswegs nötig, die Empörung mit der Verdammung des Täters,
der Herabsetzung seiner Person und mit einem Übelwollen aufzula-
den. Wenn sie davon frei ist, bedarf es keiner Veränderung, wenn sie
Elemente dieser Art enthält, muss sie davon befreit werden.
Falls die Empörung mit Elementen befrachtet ist, die die Person
verurteilen und herabsetzen, könnte man die Veränderung, die nö-
tig ist, so beschreiben, dass man sagt, der Zielpunkt der Empörung
müsse mehr die Handlung und weniger die Person sein. Das ist in-
des problematisch. Denn die Empörung zielt darauf, auf die Person
einzuwirken und sie zu einer Verhaltensänderung zu bewegen. Den-
noch trifft die Beschreibung, scheint mir, etwas Wesentliches. Paul
Ricœur soll gesagt haben, Humanität zeige sich darin, die Taten e ines
Menschen missbilligen zu können, ohne den Menschen selbst zu
missbilligen. Man missbilligt die Tat, und nur deshalb wendet man
sich gegen ihren Urheber. Nicht um den Menschen zu verdammen
und herabzusetzen, sondern damit er sich anders verhält. Man fügt
ein neues Element in das kausale Kräftefeld ein, in dem er handelt
und auch in Zukunft handeln wird. Einer solchen Haltung dem an-
deren gegenüber fehlt es nicht an »participation … in inter-personal
human relationships«, so eine Formulierung von Peter F. Strawson.17
Wir nehmen auf vielfache Weise, durch Argumente, Hinweise, Bit-
ten, und eben auch durch das Zeigen unseres Unwillens und unserer
»… take away liberty, and you take away the very nature of evil, and
the formal reason of sin … If there be no liberty to produce sin, there
is no such thing as sin in the world.«19 Dieser Beweis wird durch ein
weiteres Argument »out of scripture«20 flankiert: »… if there be no
liberty, there shall be no day of doom, no last judgment, no rewards
nor punishments after death. A man can never make himself a crim
inal, if he be not left at liberty to commit a crime … To take away
liberty hazards heaven, but undoubtedly it leaves no hell.«21
Offensichtlich sind solche Äußerungen und die gesamte Tradi-
tion, in der sie stehen, abhängig von elaborierten religiösen Über-
zeugungen. Wenn man Gott, wie er ist und wie er zu den Menschen
steht, was er von ihnen will und fordert, das Regime diesseitiger und
jenseitiger Strafen, das große Gericht, das schließlich alles definitiv
zurechtbiegen wird, wenn man all das hingegen für Erfindungen
der Menschen hält und deshalb anthropologisch zu lesen versucht,
fragt man sich, von welchen unterschwelligen Wünschen geleitet
die Menschen diese Vorstellungen erfunden, immer weiter ausge-
formt und über Generationen weitergetragen haben. Gewiss sind
alle Erklärungsversuche aus einem Punkt zum Scheitern verurteilt.
Eine Quelle ist aber offenbar das schon erwähnte tiefe Bedürfnis der
Menschen nach einer umfassenden und letztlichen Gerechtigkeit. Es
soll in ihrem Leben und in der Welt insgesamt gerecht zugehen. Wa-
rum sie dieses Interesse haben und es ihnen so schwer fällt, sich mit
den Kontingenzen und Ungleichheiten des Lebens zu arrangieren,
ist dann eine weitere Frage. Diese Überlegungen führen einerseits
in die Anatomie der menschlichen Psyche und andererseits in die
Psychologie der europäischen Denkgeschichte, die zum Teil und ge-
rade in dem, was die Menschen über sich selbst gedacht haben und
denken, eine Psychologie des Irrtums sein muss. Angesichts dieser
Hintergründe wäre es kurzsichtig, zu glauben, man könne mit we-
nigen Schritten ermessen, wie weit und wie tief die Auswirkungen
der Einsicht in das »außerhalb von uns« reichen. Das ist eine sehr
viel größere Aufgabe, zu groß jedenfalls, als dass ich sie über das hi-
naus, was in diesem Kapitel dargelegt wurde, hier angehen könnte.
Ich möchte zum Abschluss vielmehr drei elementare Punkte fest-
halten, zum Teil wiederholend, die den Fatalismus, von dem ich ge-
19 Ebd. V, 228.
20 Ebd. V, 66.
21 Ebd. V, 114.
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sprochen habe, stärker profilieren. (i) Zunächst ist vor allem an die
zentrale Stellung des Wollens und seine besondere Ichhaftigkeit zu
erinnern. Wenn ich etwas tue, weil ich es tun will, und wenn die-
ses Wollen unangefochten ist, dann will ich so handeln. Es ist mir
wichtig, es ist mein Anliegen. Und es freut mich, wenn es gelingt,
das Gewollte zu realisieren. Daran ändert sich, das wurde in Kapitel
4 im einzelnen entwickelt und begründet, durch eine Reflexion auf
die kausale Vorgeschichte des Wollens nichts. Wenn ich etwas tun
will und an diesem Wollen nichts stört, dann stehe ich mit ganzem
Herzen hinter dem, was ich tue. Es gibt dann keine Distanz dem
Wollen gegenüber. Die Genese des Wollens, sei sie deterministisch,
sei sie indeterministisch, ist dafür ohne Belang. Es gibt keinen Platz
für den Gedanken: das bin nicht ich, der das will, es ist ein kausales
Geschehen, das von außen kommt und bestimmt. Für diesen Ge-
danken gibt es keinen Platz, weil es dieses vom Wollen dissoziierte
Ich nicht gibt. Und weil es dieses dem kausalen Gang gegenüber-
stehende Ich nicht gibt. Das Ich ist durch das Wollen definiert, und
das Ich und das Wollen sind selbst Elemente innerhalb des kausalen
Netzwerkes und nicht etwas daneben. Man muss aus den Gegen-
überstellungen Wollen versus Ich, Kausalgeschehen versus Ich oder
Schicksal versus Ich heraus, sie sind alle falsch, weil es, wie gesagt,
dieses dissoziierte, dem anderen gegenüber einen eigenen Stand be-
sitzende Ich nicht gibt.
Man kann darunter leiden, nicht intelligenter zu sein, als man
ist. Das setzt ein Wollen voraus. Man wünschte sich, intelligenter
zu sein, und dass man es nicht ist, stört einen. Die Ethiker können
dann dazu raten, sich mit der Kontingenz abzufinden, sie zu ak-
zeptieren, seinen Frieden damit zu machen. Genauso wenn uns ein
eigenes Wollen stört. Wenn es nicht gelingt, es los zu werden, kann
man sich damit abfinden oder dagegen anrennen. Ein Wollen aber,
das nicht von einem anderen eigenen Wollen aus angefochten wird,
kann einen nicht stören. Hier gibt es nichts, womit man sich abfin-
den und seinen Frieden machen müsste. Etwaige Ratschläge in diese
Richtung laufen ins Leere. Man ist mit dem Wollen voll und ganz im
Reinen. Auch dass es letzten Endes das Ergebnis von Ursachen ist,
die außerhalb von uns liegen, und nicht das Ergebnis eigener Macht,
kann einen nicht stören.
(ii) Wenn die Welt deterministisch funktioniert, liegt bereits
fest, was ich in Zukunft tun werde. Und wenn sie – in bestimmter
Weise – indeterministisch verläuft, liegt die Zukunft, auch meine Zu-
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kunft zwar nicht vollständig fest, aber soweit sie von dem abhängt,
was in den indeterministischen Momenten geschieht, bestimme
nicht ich, wie sie sein wird. In jedem Fall werden unsere zukünf-
tigen Handlungen und unser zukünftiges Leben letzten Endes das
Ergebnis von – deterministischen oder probabilistischen – Ursache-
Wirkungszusammenhängen sein, die, wie komplex auch immer ihr
Weg in unserem Inneren ist, eine Vorgeschichte haben, die außerhalb
von uns liegt. Dennoch haben wir, wenn wir in die Zukunft blicken,
innerhalb der durch die Umstände bedingten Grenzen alle Möglich-
keiten, die Dinge so zu gestalten, wie es unserem Wollen am besten
entspricht. Die kausale Vorgeschichte des Wollens nimmt uns, wie
gezeigt, keine Option, an der uns gelegen ist. Und die Optionen,
über die wir verfügen, sind nicht nur epistemisch offen, sie sind, wie
wir sahen, auch ontologisch offen.22 Es steht uns frei, ob wir in den
konkreten Situationen so oder so handeln, es liegt bei uns, was ge-
schehen wird. Wir bestimmen, durch unser Wollen. Daran, ob wir
uns engagieren, ob wir uns anstrengen, ob wir gute Entscheidun-
gen treffen und die richtigen Schlüsse ziehen, hängt sehr viel für die
eigene Zukunft und die anderer. All das sind keine Illusionen oder
verschleiernde Beschreibungen, sondern Fakten.
Fatalistische Gedanken kommen in dieser auf die Zukunft gerich-
teten Perspektive, wie es scheint, gar nicht auf. Es gibt dafür keine
Ansatzpunkte. Erst wenn wir uns umwenden und hinter das eigene
Wollen und hinter das eigene Ich zurückfragen und deren Genese
ins Auge fassen, stellt sich die Einsicht ein, dass es letzten Endes so
gekommen ist. Für die Zukunft gilt: auch wenn sie festliegt, hängt
in den Grenzen, die die Umstände mit sich bringen, alles von mir
ab. Meine Autonomie und Selbstbestimmung wird überhaupt nicht
berührt. Das muss man verstehen, wenn man sich ein zutreffendes
Bild von dem machen will, was hier »Fatalismus« genannt wird.
(iii) Manche werden denken, wenn wir und unser Leben nur
ein kleines, aus der Sicht des Universums verschwindend kleines
Teilchen in einem universalen kausalen Geschehen sind und unser
Tun und Wollen letzten Endes von Ursachen abhängen, die außer-
halb von uns liegen, sei unser Leben sinnlos. Welche Bedeutung
sollte es dann haben? Aber es ist nun einmal eine Tatsache, dass wir
da sind. Es ist so gekommen, dass es uns gibt, als Gattung und als
Individuen. Und wenn wir schon da sind, wollen wir so leben, wie
Literatur
Aristoteles: De anima, zitiert nach der Paginierung der Ausgabe
Aristotelis Opera, ed. I. Bekker (Berlin 1831–1870).
Aristoteles: Eudemische Ethik.
Aristoteles: Nikomachische Ethik.
Aristoteles: Rhetorik.
Aristoteles: Magna Moralia (vermutlich pseudo-aristotelisch).
Assmann, J.: Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten
Ägypten (München 22006).
Augustinus: De peccatorum meritis et remissione. Corpus Scripto-
rum Ecclesiasticorum Latinorum, vol. 60, ed. C. F. Urba / I. Zy-
cha (Wien / Leipzig 1913).
Augustinus: De civitate Dei, ed. B. Dombart / A. Kalb, 2 vols. (Brüs-
sel 1955).
Austin, J. L.: Ifs and Cans (1956), in: J. L. A.: Philosophical Papers,
3rd edition (Oxford 1979) 205–232.
206 Literatur
Literatur 207
208 Literatur
Literatur 209
Wegner, D. M.: Self Is Magic, in: J. Baer et al. (eds.): Are We Free?
Psychology and Free Will (Oxford 2008) 226–247.
Wolf, U.: Möglichkeit und Notwendigkeit bei Aristoteles und heute
(München 1979); 2. Aufl. u. d. T.: Vermögen und Möglichkeit
(Berlin 2020).
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Sachregister
212 Sachregister
Ich 15 f., 22 f., 53 f., 58 f., 65–78, Macht 45 f., 132–142, 145 ff.,
88–97, 168, 170 f., 202 f. 158 f., 162 f., 194
– Ich im weiteren Sinne, Ich Manipulation, im Wollen mani-
im Sinne der Person 37, 58, puliert sein 115–124
70 ff., 90, 100 f., 180 f. Marionette 116, 174 ff.
– engeres Ich 37 f., 58, 70 ff.,
74, 88 f., 180 f. negativ, für mich negativ 38 f.,
– nochmals engeres Ich 89–93 58, 69, 72, 74
Ichbewusstsein 55, 57, 72, 184
Ichhaftigkeit offen, epistemisch, ontologisch
– der Handlung 22, 25, 36, 130, 143, 203
39 f., 42 ff., 74 f., 99, 101–108, Optionen 23 f., 56, 63, 125–129,
111, 114 f., 117 f., 122 ff., 131, 133 ff., 137 f., 140 f., 145 f.,
126 f., 158 f., 168, 197 148, 150–154, 157–160, 162,
– des Wollens 58, 69, 71 f., 75, 165 ff., 172 f., 179 f., 184, 203
91, 93, 97, 111, 114, 118, 168, originär, Originarität 105 f.,
202 169
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Sachregister 213
214 Sachregister
Personenregister
Aristoteles 29, 43–47, 49, 125, Honderich, T. 170
133, 141 Horgan, T. 57, 59 f.
Assmann, J. 192 Hume, D. 12, 20, 25, 59, 68,
Augustinus 84, 86, 108 107, 155, 167, 185
Austin, J. L. 134 ff.
Inwagen, P. van 51
Bermúdez, J. L. 57
Bobzien, S. 43, 174 f., 189 Johannes Damascenus 31
Bonner, G. 86
Bramhall, J. 126 f., 158, 166, Kane, R. 27, 72, 114, 116–120,
200 f. 169 f., 185, 190
Kant, I. 13, 66 f., 75, 77, 85, 90,
Caruso, G. D. 60 f. 95 f., 104, 161, 176
Chisholm, R. 67 f. Keil, G. 127, 144
Chrysipp 45, 173 Kenny, A. 132, 142, 158, 163,
Cicero 108 165
Korsgaard, Chr. M. 67
Darwin, Ch. 12, 20, 25, 59, Kusser, A. 80
107, 167, 185
Davidson, D. 47 Locke, J. 163
Descartes, R. 13, 22 Loening, R. 44
216 Personenregister