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Peter Stemmer

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Aug 14th 2021, 11:10

Etwas
geschieht durch mich
Menschliches Handeln und
die Kontingenzen der Kausalität
RoteReihe
Klostermann
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Peter Stemmer  ·  Etwas geschieht durch mich


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Peter Stemmer

Etwas geschieht durch mich


Menschliches Handeln und
die Kontingenzen der Kausalität

KlostermannRoteReihe

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Satz:  mittelstadt 21, Vogtsburg-Burkheim
Druck und Bindung:  docupoint GmbH, Barleben
Printed in Germany
ISSN  1865-7095
ISBN  978-3-465-04565-6

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Inhalt
Vorbemerkung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

§ 1 Einleitung und Fragestellung:


Was heißt es, dass etwas durch mich geschieht?  . . . . . . . . . 11

§ 2 Die Lokalisierung des Anfangs:


Aktivität und Aktivitätsbewusstsein  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

1. Aktivität. Erste Schritte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27


2. Aktivität und Wollen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
3. Zwischenüberlegung: Mentale Handlungen  . . . . . . . . . . 46
4. Aktivität und das Verursachtsein der archē  . . . . . . . . . . . 49
5. Aktivität und Aktivitätsbewusstsein  . . . . . . . . . . . . . . . . 55

§ 3 Das Ich und das Wollen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

1. Die besondere Ichhaftigkeit des Wollens –


Wider die prinzipielle Enteignung des Wollens  . . . . . . . . 67
2. Wünsche, die man nicht will  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
3. Das Ich und das unangefochtene Wollen  . . . . . . . . . . . . . 88
4. Aktivität und Passivität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

§ 4 Die Vorgeschichte des Wollens:


Kausalität, Determination, Manipulation  . . . . . . . . . . . . . . . 99

1. Vorbemerkungen: Die Handlungen vor den Handlungen. 100


2. Die Ichhaftigkeit einer Handlung. Rekursivität und
Genese  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
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6 Inhalt

3. Die Chimäre eines absoluten Anfangs  . . . . . . . . . . . . . . . 106


4. Ein Missverständnis über den Determinismus  . . . . . . . . 108
5. Kann es uns stören, im Wollen determiniert zu sein?  . . . 111
6. Determination und Manipulation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
7. Zusammenfassung 
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

§ 5 Wollen, offene Optionen und Anders-Können  . . . . . . . . . . . . 125

1. Unterlassbarkeit und Anders-Können  . . . . . . . . . . . . . . . 125


2. Einige Vorbemerkungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
3. Das Überlegen, seine Voraussetzungen und das Können  . 130
4. Können, Anders-Können, Determinismus  . . . . . . . . . . . 137
5. Weitere Explikationen: Anders-Können und die
­verschiedenen Arten des Könnens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
6. Überlegung und Determinismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
7. Entscheiden, Optionen, Anders-Können  . . . . . . . . . . . . 151
8. Konklusionen: gewollte Handlungen, unterlassbare
­Handlungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

§ 6 Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen  . . . . . . . . . . . 167

1. Der Stachel des »außerhalb von uns«  . . . . . . . . . . . . . . . . 167


2. Falsche Vorstellungen, falsche Bilder, falsche Ängste  . . . 170
3. Verantwortung, Verdienst, Strafe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
4. Noch einmal: Was bedeutet das alles?  . . . . . . . . . . . . . . . 200

Literatur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

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Vorbemerkung

Ich möchte vor allem Jacob Rosenthal danken. Unsere gemeinsamen


Seminare, die sich anschließenden Diskussionen und seine Lektüre
und Kommentierung des Manuskripts waren eine große Hilfe. Dank
schulde ich auch Gottfried Seebaß für viele, oft kontroverse Ge-
spräche über die Themen dieses Buches. Waltraud Weigel hat, ein
weiteres Mal, meine Vorlagen mit der für sie charakteristischen Sorg-
falt und Umsicht in ein handhabbares Typoskript verwandelt und
insgesamt fabelhaft geholfen. Nach ihrem Ausscheiden hat T ­ atjana
Reichenbach die letzten Arbeiten übernommen und das Ganze mit
großem Engagement und sicherer Hand zu einem guten Ende ge-
bracht. Kurt Halter und Louis Pfander haben, auch in Zeiten der
Pandemie, die Literatur beschafft und überhaupt sehr geholfen.

Konstanz, im Frühjahr 2021 P. S.


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»und die findigen Tiere merken es schon,


dass wir nicht sehr verlässlich zu Haus sind
in der gedeuteten Welt.«

Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien


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§1
Einleitung und Fragestellung:
Was heißt es, dass etwas durch mich geschieht?

»Anything that I can see as a good life for myself


will include the bringing about of certain results
by my choices, activities, and endeavours.«

J. L. Mackie, Ethics, 156

1.  Dieses Buch will darlegen, wie es zu verstehen ist, dass etwas
durch mich geschieht, dass ich es bin, der etwas tut, der etwas in
Gang setzt und mit seinen Handlungen in die Welt eingreift. Wer
das hört, wird sich wundern und fragen, wo das Problem sei. Dass
es in unserer Macht ist, zu bewirken, dass etwas geschieht, scheint
doch eine Selbstverständlichkeit zu sein. Es ist offenkundig, dass es
so ist. Wie also kommt es zu dieser Frage? Der Alltag stellt sie nicht.
Im Alltag gehen wir völlig fraglos davon aus, dass Dinge durch uns
geschehen.
Es reichen jedoch wenige gedankliche Schritte aus, um zu ver-
stehen, was an diesem »durch mich« problematisch ist und dass die
Frage, wie es zu verstehen ist, grundlegend ist und uns existentiell in
Schwingungen versetzt. Mit ihr wird nicht weniger aufgeworfen als
die Frage, was für Wesen die Menschen sind und was es mit ihrem
Dasein in diesem Universum auf sich hat.
Als Erstes muss man sich Folgendes vor Augen halten: Die Men-
schen bestehen vollständig aus physikalischen Teilchen, wie alles
andere in der uns bekannten Welt auch. Und diese Materieteilchen
gehorchen genau den Naturgesetzen, denen alle anderen Dinge auch
gehorchen. Dies bedeutet zum einen, dass das Mentale selbst Teil des
Physischen, also selbst etwas Physisches ist. Unser geistiges Leben
ist das Ergebnis einer unermesslichen Zahl chemischer Prozesse im
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12 §  1  Einleitung und Fragestellung

Gehirn und vollständig von diesen Prozessen abhängig. Auch das


mentale Geschehen ist folglich Teil der kausalen Welt. Es wäre ab-
wegig, anzunehmen, die Naturgesetze machten an der Schädeldecke
der Menschen halt. Und es bedeutet zum anderen, dass auch das
menschliche Verhalten und Handeln durch die Naturgesetze und
die allgemeine Art der Kausalität zu erklären sind. Es wäre wie-
derum falsch, anzunehmen, es gebe für die Menschen und ihr Ver-
halten – und dann vermutlich auch für das anderer Lebewesen – so
etwas wie eine eigene, spezielle Art von Kausalität. Die Menschen
bestehen, wie gesagt, genauso aus physikalischen Teilchen wie alles
andere im Universum auch.
Die Menschen sind in diesem Sinne Teil der Natur – eine Ein-
sicht, die im 17. Jahrhundert Thomas Hobbes und im 18. Jahrhun-
dert David Hume artikuliert und zur Grundlage ihres Nachdenkens
über den Menschen gemacht haben. Denken, wollen, überlegen sind,
so Hobbes, selbst körperliche Phänomene. Die Menschen sind, in-
klusive ihrer mentalen Operationen, Teil der natürlichen Ordnung
von Ursachen und Wirkungen und hierin durch nichts von der üb-
rigen Natur unterschieden. Darwin hat dem im 19. Jahrhundert die
schlechterdings revolutionäre Einsicht hinzugefügt, dass die Men-
schen, wir, die wir zu unvergleichlichen geistigen Leistungen fähig
sind, Produkte der biologischen Evolution sind und im letzten von
primitiven, geistlosen Bakterien abstammen. Auch unser Geist ist
das Ergebnis dieser realen Geschichte, er ist aus dem Geist anderer
Lebewesen entstanden und verdankt sich keineswegs einem myste-
riösen immateriellen Zusatz zu unserem Körper namens Seele.
Große Teile der Philosophie sind seit dem 17. Jahrhundert damit
beschäftigt, sich diesen Einsichten zu stellen und nach und nach ein
ihnen entsprechendes und deshalb grundlegend verändertes Selbst-
verständnis der Menschen auszuformulieren. Damit verbindet sich
die Hoffnung, die ungemein heftigen Beunruhigungen und Angst­
reaktionen, die die Erkenntnisse Hobbes’, Humes und Darwins aus-
lösten, zu überwinden. Die Aufforderung, diese Aufgabe zu bewäl-
tigen, wird durch die Erkenntnisse der modernen Wissenschaften,
vor allem der Molekularbiologie, der Evolutionsbiologie des Ver-
haltens und der Neurowissenschaften, beinahe täglich erneuert. Es
wäre eine krasse Fehleinschätzung, zu glauben, sie sei, zumindest
im Grundsätzlichen, erledigt. Es gilt nach wie vor, das alte, aus der
griechischen Philosophie stammende durch und durch dualistische
Selbstbild der Menschen zu demontieren und zu ersetzen. Diese
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Was heißt es, dass etwas durch mich geschieht? 13

dualistische Tradition, in die sich die christliche Metaphysik naht-


los eingefügt hat, lebte in Erfindungen. Sie nahm an, die Menschen
seien dadurch ausgezeichnet, dass sie neben dem Körper, der den
Naturgesetzen unterliegt, eine nicht-materielle, geistige Substanz
enthalten, die dies eben nicht tut und durch die sie sich über die
Natur erheben und eine ihnen eigene Nobilität gewinnen. Diese
Extra-Substanz, die Seele, bildet, so die Vorstellung, das eigentliche
Zentrum der Menschen, und eine ihrer wesentlichen Funktionen
liegt darin, Handlungen zu initiieren, also die inaktive Materie des
Körpers von außen in Bewegung zu setzen. Hinzu kam, eine Erfin-
dung zieht leicht weitere, dazu passende Erfindungen nach sich, dass
die Seele mit der Eigenschaft der Unsterblichkeit und der Gottähn-
lichkeit ausgestattet wurde, so wie wir es, überaus einflussreich, bei
Platon finden und dann später in der christlichen Vorstellungswelt.1

2.  Wenn die Menschen in dem erläuterten Sinne Teil der Natur sind,
kann es nicht anders sein, als dass das, was wir über die generelle
Struktur der physikalischen Wirklichkeit wissen, auf das Verständ-
nis der menschlichen Existenzweise zurückwirkt. Wer wissen will,
was die Menschen sind und wie sie funktionieren, kann sich dieser
objektiven Perspektive nicht entziehen. Tatsächlich ist sie für unser
Selbstverstehen maßgeblich. Auf welchem Wege es vor diesem Hin-
tergrund zu der Frage kommt, wie es zu verstehen ist, dass etwas
durch mich geschieht, zeigen die folgenden Überlegungen.
Über mehrere Jahrhunderte, bis in die erste Hälfte des 20. Jahr-
hunderts, nahm man unangefochten an, die Welt unterliege deter-
ministischen Gesetzen. Das gilt selbst für Philosophen wie Descar-
tes und Kant, nur dass sie, Dualisten, die sie waren, einen Teil der
Menschen, ihren Geist oder ihr intelligibles Ich, ausnahmen. Auch
heute, nachdem die deterministische Konzeption fraglich geworden
ist, ich komme gleich darauf, sagen uns die Experten der Physik,
dass man zwar nicht einfach von der Wahrheit des Determinismus
ausgehen kann, dass wir aber auch nicht wissen, dass er falsch ist. Es
kann sein, dass er wahr ist und die Wirklichkeit insgesamt determi-
nistisch strukturiert ist. Falls es so ist, gibt es für alles, was geschieht,
eine vorgängige hinreichende Ursache, die festlegt, dass die Wirkung
eintritt. Die Wirkung ist die notwendige Folge ihrer Ursache oder
besser des Zusammenspiels ihrer Ursachen. Sie muss, gegeben die

1 Vgl. Platon: Phaidon 79 e 8–81 a 11.


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14 §  1  Einleitung und Fragestellung

Ursachen, eintreten, und es kann stattdessen nichts anderes gesche-


hen. Die Ursachen sind ihrerseits Wirkungen, die aus anderen Ur-
sachen hervorgegangen sind, und für diese weiteren Ursachen gilt
dasselbe. Auf diese Weise entsteht das Bild eines äußerst komplexen
kausalen Netzwerkes.
Was in den Menschen geschieht, das Schlagen des Herzens, die
Verdauung, die Prozesse im Gehirn, all das ist, so ergibt sich dann,
Teil dieses kausalen Geschehens. Und dasselbe gilt für das Verhalten
und die Handlungen der Menschen. Auch sie sind Wirkungen vor-
gängiger Ursachen, die festlegen, was passiert. Das Verhalten folgt
entweder automatisch aus unbewussten Vorgängen im Gehirn oder
aus bewussten Wünschen, Überlegungen und Entscheidungen, die
wiederum in neuronalen Prozessen ihre Grundlage haben. So oder
so führt die kausale Spur dessen, was wir tun, zurück in unseren
Kopf. Wenn man weiterfragt nach den früheren und noch früheren
Ursachen, verliert sich die konkrete kausale Vorgeschichte schnell
im Dunkel des Nicht-Wissens. Wir wissen aber, dass die kausalen
Fäden, verfolgt man sie zurück, schließlich aus der Person, um die es
geht, herausführen. Auf jeden Menschen wirkt eine Vielzahl kausaler
Faktoren aus seiner Umgebung ein, und so ist es auch in der Vergan-
genheit gewesen. So dass man, wenn die Welt deterministisch funk-
tioniert, sagen kann, dass die kausalen Fäden durch die Menschen
hindurchlaufen: von außen in sie hinein und von innen in Form von
Handlungen aus ihnen heraus.
Wenn es so ist, was bedeutet dann aber, dass etwas durch mich
geschieht? Dass ich etwas tue? Wenn der Fluss der Ereignisse durch
mich hindurchfließt, alles Weitere durch Früheres determiniert ist,
und meine Handlungen jeweils das Ergebnis einer solchen Ereignis-
folge sind, wo ist dann der Handelnde, der etwas in Gang setzt und
initiiert? Wo ist dann mein Anteil an dem, was geschieht? Und wo ist
das Ich, von dem in dem »durch mich« die Rede ist? Der Handelnde,
der aktiv etwas geschehen macht, scheint sich zu verflüchtigen. Er
scheint völlig zu verschwinden. Wir sehen jetzt sehr deutlich, dass
und zugleich mit welcher Wucht die Frage nach dem »durch mich«
aufbricht, wenn man eine bestimmte Annahme über die Struktur der
Wirklichkeit zugrundelegt.
Wie also kann man unter den Bedingungen des Determinismus
verstehen, dass ich etwas tue, dass etwas durch mich geschieht? Hat
der Determinismus überhaupt Ressourcen für das Verständnis dieser
für uns so zentralen Eigenschaft, Handelnde zu sein?
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Was heißt es, dass etwas durch mich geschieht? 15

Es ist leicht zu sehen, dass zwei Auffassungen unter determinis-


tischem Vorzeichen nicht bestehen können: Erstens die Idee, ein
Mensch könne aus sich heraus, unverursacht, eine neue Kausalkette
initiieren und auf diese Weise der Autor seiner Handlungen sein.
Diese Idee eines absoluten Anfangs, lassen wir noch beiseite, ob sie
sich überhaupt verständlich explizieren lässt, ist mit dem Determi-
nismus offenkundig nicht vereinbar.
Dasselbe gilt, zweitens, für die Idee, man könne sich an einem be-
stimmten Punkt einer bis dahin festliegenden Kausalkette für diese,
aber auch für eine andere Handlung entscheiden. So dass man, wenn
man diese gewählt hat, trotz der gleichen kausalen Vorgeschichte bis
dahin auch die andere Handlung hätte wählen können. Auch diese
Vorstellung, der Idee absoluter Urheberschaft eng verwandt, ist mit
dem Determinismus offenkundig nicht vereinbar. Der Determinis-
mus nimmt an, dass es jeweils nur eine mögliche Zukunft gibt, aber
niemals mehrere. Es gibt, anders gesagt, keine derartigen Verzwei-
gungspunkte und keine Entscheidungen an diesen Punkten.
Wie aber ist das »durch mich« dann zu verstehen? Zumindest in
folgendem – schwachen – Sinne kann man auch unter Vorausset-
zung des Determinismus davon sprechen, dass etwas durch mich
geschieht: Wenn das, was jemand tut, das Ergebnis bestimmter kau-
saler Prozesse ist, vollzieht sich das kausale Geschehen in dieser
Person und nicht in einer anderen. Es vollzieht sich, so kann die
Person sagen, »in mir« und nicht in einem anderen. Es ist in die-
sem Sinne »meine« Handlung und nicht die eines anderen. Die
Handlung kommt aus mir und in diesem Sinne geschieht sie »durch
mich«. Das »mir«, das »mich« und das »mein« haben so einen kla-
ren Sinn.
Das Ich, das, worauf man sich mit dem »durch mich« und »in
mir« bezieht, ist in diesem Sinne, wie es scheint, allerdings nur der
Ort, an dem etwas passiert, an dem etwas abläuft, nicht mehr. Es
beginnt hier nichts. Alles ist nur die notwendige Folge vorgängi-
ger Ursachen. Das Ich ist nicht mehr als der Platz, an dem kausale
Prozesse mit dem Ergebnis einer bestimmten Handlung oder eines
bestimmten Verhaltens ablaufen.
Es ist deshalb kein Wunder, dass diese Auffassung des Ichs als zu
schwach kritisiert wird. Sie sei nicht ausreichend, um das zu erfas-
sen, was wir meinen, wenn wir sagen, dass ich etwas tue oder etwas
durch mich geschieht. Das Ich sei auf diese Weise, so immer wieder
die Formulierung, nur eine »Arena«, in der sich bestimmte Dinge
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16 §  1  Einleitung und Fragestellung

abspielen.2 Eine Person sei aber nicht einfach der Ort eines Gesche-
hens. Und das »durch mich« stehe, so verstanden, gerade nicht für
eine aktive Rolle des Handelnden und nicht dafür, dass der Han-
delnde etwas beginnt und in Gang setzt.
Es sei wenigstens angemerkt, dass die Metapher der Arena, die
hier verwandt wird, keineswegs so unschuldig ist, wie sie vielleicht
auf den ersten Blick erscheint. Die Vorstellung der Arena lässt den
Zuschauer assoziieren, der anschaut, was da in der Arena vor sich
geht, der aber an dem Geschehen nicht beteiligt ist. Was da passiert,
geschieht ohne ihn. Diese Assoziation führt den Gedanken jedoch
auf Abwege, weil sie ein Ich voraussetzt, das außerhalb des in der
Arena sich abspielenden kausalen Geschehens steht. Das ist, wenn
man das Ich als Ort des Geschehens versteht, aber gerade nicht im-
pliziert. Die Metapher der Arena verzeichnet also das, was sie kriti-
siert. Außerdem kommen in der Vorstellung eines Ichs jenseits der
kausalen Ereignisfolge unversehens mitgeschleppte dualistische Be-
stände zum Vorschein: hier das kausale Geschehen und ihm gegen-
über, außerhalb, das Ich. Das zeigt, wie zwiespältig diese Metapher
ist, und es zeigt auch, wie schwierig es ist, nicht gleich am Anfang
der Untersuchung in irreführende Assoziationsbahnen zu geraten.
Es ist, lassen wir die Metaphorik beiseite, dennoch sehr klar, dass,
das Ich als Ort des einer Handlung vorgängigen Geschehens zu ver-
stehen, weniger ist als das, was gemeint ist, wenn wir sagen, dass
etwas durch mich geschieht oder dass ich etwas tue. Wir verbinden
damit zweifellos einen stärkeren Sinn. Wenn man die Vorbehalte ge-
genüber diesem minimalen Verständnis des »ich« und »durch mich«
in einer Formulierung bündeln wollte, könnte man sagen, was fehlt,
sei eine stärkere Beteiligung des Ichs. Was fehlt, ist der aktiv Han-
delnde. Wie eine stärkere und durch die Tatsachen gedeckte Kon-
zeption des Ichs und des aktiven Handelns aussehen kann, ohne die
Einsicht aufzugeben, dass es kein Ich jenseits des kausalen Gesche-
hens geben kann, wird die zentrale Frage dieses Buches sein.

3.  Die Annahme, die Welt sei in toto deterministisch strukturiert, ist,
wie schon erwähnt, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts frag-
lich geworden. Die moderne Quantenphysik lehrt, dass es auf der

2 Nur ein Beleg für viele: J. D. Velleman: What Happens When Someone
Acts (1992), in: J. D. V.: The Possibility of Practical Reason (Oxford 2000),
123–143, 123.
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Was heißt es, dass etwas durch mich geschieht? 17

atomaren und subatomaren Ebene genuin indeterministische Phä-


nomene gibt. In diesen Fällen kann man auch bei Aufbietung allen
verfügbaren physikalischen Wissens nicht vorhersagen, ob bei glei-
cher Ausgangslage dieses (a) oder jenes (b) passieren wird. Folglich
kann man auch im Nachhinein nicht erklären, warum das eine und
nicht das andere geschehen ist. a und b haben, so merkwürdig das
klingt, dieselbe kausale Vorgeschichte, aber sie sind »chance events«,
Zufallsgeschehnisse. Der Indeterminismus macht eine negative Be-
hauptung: es fehlt etwas, eben die determinierende Verbindung von
Ursache und Wirkung. Diese Negativität der Aussage wird durch
die Rede vom Zufall eher verwischt. Der Zufall ist ein Nichts, er
bewirkt nicht etwa selbst etwas.
Interessanterweise tritt, wenn man ein indeterministisches Ge-
schehen viele Male experimentell wiederholt und dann in einer neuen
Serie noch einmal so viele Male, eine erstaunlich stabile Häufigkeit
zutage, mit der a oder b geschieht. Nehmen wir an, in 65 % der Fälle
geschieht a, in 35 % der Fälle b. Von daher kann man in jedem Ein-
zelfall sagen, dass a passieren wird, habe die Wahrscheinlichkeit 0.65,
und dass b passieren wird, die Wahrscheinlichkeit 0.35. Um diese
Sachlage zu fassen, spricht man davon, dass die Naturgesetze proba-
bilistisch gelten. Sie determinieren nicht, dass, gegeben die-und-die
Ausgangslage, a passieren wird, sondern die Eintrittswahrschein-
lichkeiten von a und b.3 Was im konkreten Einzelfall geschieht, ist
und bleibt Zufallssache. Man steht damit vor einem irritierenden Be-
fund: Auf der einen Seite hat man die stabilen Häufigkeiten, auf der
anderen Seite den Zufall in jedem Einzelfall. Es überrascht deshalb
nicht, dass eine Reihe von Forschern, der bekannteste ist Einstein,
sich mit dem Indeterminismus sehr schwer getan haben und sich
nach wie vor schwer tun. Aber über die experimentellen Befunde
kann man nicht hinweggehen. Und die Vorstellung von versteckten
Variablen, deren Entdeckung eine Rückkehr zum Determinismus in
der Mikrophysik bedeuten würde, bleibt eine bloße Idee, solange
solche Variablen nicht gefunden werden. Dennoch ist die Frage, ob
die mikrophysikalischen Zufallsgeschehnisse nicht doch determinis-
tisch grundiert sind, bis heute Gegenstand der Diskussion.
Die experimentellen Evidenzen für den Indeterminismus werden
allerdings, so glauben viele, in ihrer Bedeutung für die Fragen, die

3 So formulieren es St. Hawking und L. Mlodinow: The Grand Design


(New York 2010) 72; dt. Der große Entwurf (Reinbek 2010), 71.
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18 §  1  Einleitung und Fragestellung

das menschliche Handeln und seine Vorgeschichte betreffen, da-


durch relativiert, dass indeterministische Effekte auf der Mikro­
ebene in größeren, aus einer unvorstellbar großen Zahl von Atomen
bestehenden biologischen Systemen, wie Gehirne es sind, gleichsam
»ausgeschwitzt« werden und deshalb nicht auf die makroskopischen
Gehirnvorgänge durchschlagen. So dass, was im Gehirn auf der Ma-
kroebene passiert, deterministisch oder quasi-deterministisch (mit
Wahrscheinlichkeiten, die extrem nahe an 0 oder 1 liegen und de
facto davon nicht zu unterscheiden sind) strukturiert ist. Eine Er-
forschung und Beschreibung dessen, was im Gehirn geschieht, un-
ter deterministischem Vorzeichen ist dann völlig sachgerecht. Diese
Sicht der Dinge wird, wie es scheint, durch die bewährten physikali-
schen Theorien gestützt, die jenseits der atomaren und subatomaren
Ebene einen Determinismus oder einen Quasi-Determinismus (von
diesem Unterschied werde ich im Folgenden absehen) nahelegen.
Wenn das richtig ist, müssen wir alle unsere Überlegungen, Entschei-
dungen und Handlungen als determiniert betrachten.
Was folgt aus all dem für die Frage, was es bedeutet, dass etwas
durch mich geschieht und dass ich etwas tue? Wenn die Makrowelt,
zumindest in den Bereichen, die für die Erklärung des menschlichen
Verhaltens relevant sind, deterministisch funktioniert, ist die Frage
nach wie vor unter deterministischem Vorzeichen zu untersuchen.
Und was, wenn man – hypothetisch, zum Zwecke der Überlegung
oder auf physikalische Fakten gestützt – annimmt, dass einzelne
indeterministische Effekte unter ganz besonderen Bedingungen
sehr wohl auf der Makroebene ankommen können und dies auch
im Gehirn geschieht? Dann gäbe es auch auf der Makroebene das
Phänomen, dass bei gleicher Ausgangslage sowohl a als auch b
passieren können. Nehmen wir an, dass ich etwas Bestimmtes tue,
sagen wir: nach dem Abendessen noch einen Espresso bestelle und
dass das auf einen Zufall in der unmittelbaren Vorgeschichte die-
ser Handlung zurückgeht. Was ich tue, ist dann eine Zufallshand-
lung. Und es hätte bei gleicher kausaler Vorgeschichte bis zu dem
indeterministischen Moment auch passieren können, dass ich den
Espresso nicht bestelle.
Wir hätten in diesem Szenario eine Handlung und ihre kausale
Vorgeschichte – nicht anders als in dem Fall, in dem alles determi-
nistisch abläuft. Erneut wäre es richtig, zu sagen, dass die kausalen
Fäden durch die Menschen hindurchlaufen: von außen in sie hinein
und von innen in Form von Handlungen aus ihnen heraus. Und
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Was heißt es, dass etwas durch mich geschieht? 19

deshalb würde sich ebenfalls die Frage stellen, was es angesichts des
kausalen Geschehens bedeuten kann, dass ich etwas tue und dass
das, was geschieht, durch mich geschieht. In dem jetzt imaginierten
gemischt indeterministisch-deterministischen Szenario bräche wie-
derum (womöglich sogar in verschärfter Form) die Frage auf, wo in
dem kausalen Geschehen der Akteur ist, der etwas initiiert und in
Gang setzt. Wo ist mein Anteil an dem, was geschieht? Diese Frage
verschwindet also nicht. Man kann sie zunächst genauso beantwor-
ten wie im Fall eines deterministischen Geschehens: Die Handlung
ist zumindest insofern meine, als sich das kausale Geschehen in mir,
in dieser Person und in keiner anderen abspielt. In diesem – schwa-
chen – Sinne kommt die Handlung aus mir, in diesem Sinne tue ich
sie und geschieht, was geschieht, durch mich. Das Ich wäre in diesem
Sinne wieder der Ort des Geschehens. Auch hierin läge also kein
Unterschied zu dem deterministischen Fall.
Nichts deutet, so meine ich, darauf hin, dass die Tatsache, dass
der kausale Prozess ein Zufallselement enthält, den Sinn des »ich«
und »durch mich« in irgendeiner Weise verstärken könnte. Es gibt
ein kausales Geschehen an einem bestimmten Ort, und das wirft
wie im deterministischen Fall die Frage auf, wie wir das mit unserer
Vorstellung eines Akteurs zusammenbringen können. Und hier wie
dort nagt der Verdacht, dass das nicht möglich sein wird und dass
wir, sowohl wenn der Determinismus wahr ist wie auch wenn wir
einen Indeterminismus in der jetzt imaginierten Spielart unterstellen,
nicht wirkliche Handelnde sein können.
Manche inspiriert die Vorstellung indeterministischer Zufälligkeit
zu hochfliegenden Ideen. Man glaubt, Indeterminismus bedeute so
etwas wie eine Lücke im kausalen Gang, als bleibe die Welt für ei-
nen Moment stehen und wisse nicht, wie es weitergehen soll. Diese
Lücke könne sich der Handelnde zunutze machen, gewissermaßen
in sie hineinspringen und in ihr entscheiden, ob a geschehen wird
oder b. Auf diese Weise gewönne, so die Conclusio, die Vorstellung
des Ichs und des »durch mich« einen neuen und sehr viel stärkeren
Sinn. Natürlich sind das nur Phantastereien. Die Vorstellung einer
Lücke im kausalen Gang ist gewiss falsch. Solche Lücken gibt es
nicht. Und wer sollte dieser Akteur sein, der hier eingreift? Er wäre,
wie es scheint, nicht Teil des kausalen Geschehens, sondern würde
von außen eingreifen. Damit stieße man erneut auf einen Akteur, der
neben und außerhalb der kausalen Geschehensfolge steht. Und was
sollte das für eine Entscheidung sein, die hier getroffen wird? Wo
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20 §  1  Einleitung und Fragestellung

kommt sie her? Man muss sehen, dass für die Idee, ein Akteur könne,
unverursacht, neue Kausalketten initiieren und auf diese Weise der
Autor seiner Handlungen sein, unter indeterministischen Prämis-
sen genauso wenig Platz ist wie im Determinismus. Auch unter in­
deter­ministischen Bedingungen ist alles Teil der Natur, und alles
unterliegt den Naturgesetzen. Dasselbe gilt für die offen dualistische
Idee einer übernatürlichen geistigen Instanz oder etwas Ähnlichem.
Auch dafür ist im Indeterminismus kein Platz.
Wenn wir von den Phantasiegebilden, zu denen die Vorstellung
indeterministischer Zufälligkeit verführt, absehen, bleibt es bei dem,
was schon gesagt wurde. Auch in dem indeterministischen Szenario,
lassen wir offen, wie realistisch es ist, ist eine Handlung das Produkt
einer bestimmten kausalen Ereignisfolge. Und damit stellt sich die
Frage, was es bedeuten kann, dass ich etwas tue.

4.  Wenn die zurückliegenden Überlegungen richtig sind, ist es nicht


speziell der – globale oder auf die Makroebene begrenzte – De-
terminismus, der das Problem aufwirft. Die Frage, wie es zu ver-
stehen ist, dass etwas durch mich geschieht, würde sich genauso
stellen, wenn man annehmen müsste, dass der Indeterminismus in
den relevanten Bereichen von der Mikroebene auf die Makroebene
durchschlägt. Das Problem ist gegenüber diesen Alternativen indif-
ferent. Seine eigentliche Quelle ist etwas anderes: es ist die Einsicht
Hobbes’, ­Humes und Darwins, dass die Menschen in allem, was
sie sind und tun, ein Teil der Natur sind. Alles, was in der Natur
geschieht, geschieht nach den Gesetzen von Ursache und Wirkung.
Jedes Geschehen ist das Ergebnis einer kausalen Vorgeschichte, und
jede Ursache in diesem Fluss des kausalen Geschehens ist ihrerseits
die Wirkung einer früheren Ursache. Dies schließt ein, dass auch
jede menschliche Handlung, ob determiniert oder nicht, das Pro-
dukt eines komplexen kausalen Geschehens ist. Das menschliche
Handeln und seine jeweilige Vorgeschichte sind in das kausale Netz
der Wirklichkeit eingelassen und gehen in ihm auf. Genau hierdurch
entsteht die Frage, wo das Ich, das aktive Ich in diesem Gewebe von
Ursachen und Wirkungen zu finden ist.
Auch wenn das Problem unabhängig davon ist, ob die Welt deter-
ministisch oder gemischt indeterministisch-deterministisch struktu-
riert ist, tritt es doch am deutlichsten und direktesten hervor, wenn
man annimmt, der Gang der Dinge sei determiniert. Das ist der
Grund, weshalb ich mich in den folgenden Darlegungen häufiger
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Was heißt es, dass etwas durch mich geschieht? 21

auf den Determinismus als auf die indeterministische Variante be-


ziehen werde.

5.  Die Frage nach dem aktiven Ich hat einen Zuschnitt, wie er für
philosophische Probleme typisch ist: Man hat zwei sehr elementare
Überzeugungen, von jeder glaubt man, sie auf keinen Fall aufgeben
zu können. Und doch scheinen sie sich auszuschließen. Man sieht
nicht, dass sie sich verbinden lassen, so dass man doch gezwungen
scheint, eine zugunsten der anderen zu opfern. Auf der einen Seite
ist man überzeugt, dass die Menschen und das, was sie tun, Teil der
Natur sind, und auf der anderen Seite ist man genauso fest über-
zeugt, dass wir aktiv Handelnde sind, dass es in unserer Macht liegt,
bestimmte Dinge geschehen zu machen. Wie ist das miteinander zu
verbinden?
Dass eine minimale Antwort in jedem Fall möglich ist, haben
wir bereits gesehen. Eine Handlung ist meine, weil ich es bin – und
niemand sonst, in dem sich das ihr vorgängige kausale Geschehen
abspielt. Die Handlung kommt deshalb aus mir; was geschieht, ge-
schieht in diesem Sinne durch mich. Diese Konzeption des Ichs und
des »durch mich« ist klar und in sich plausibel, aber sie ist, wie ge-
sagt, äußerst schwach. Es fehlt, so unser Gefühl, das Entscheidende.
Dieses Gefühl ist in vielfacher Weise artikuliert worden. Oft wird
gesagt, der Handelnde sei nicht nur ein Transit-Raum, den die kau-
salen Prozesse passieren, er sei nicht bloß ein passives Medium und
deshalb ohne Einfluss auf das, was geschieht. Was fehlt, sei der Han-
delnde als Quelle und Urheber dessen, was geschieht. Der Han-
delnde sei, so eine weitere, uns schon bekannte Formulierung, nicht
nur die Arena, in der sich das Geschehen abspielt, an dem er bes-
tenfalls als Zuschauer und Dabei-Steher beteiligt ist. Er sei, so wird
auch gesagt, nicht nur ein hilfloses Opfer der Dinge, die in ihm ab-
laufen. Eine Person, die registriert, dass ihr rechter Arm auf Grund
eines kausalen Geschehens hochgeht, sei etwas völlig anderes als
eine Person, die ihren Arm hochhebt. Es fehle das Selbst, dass der
Handelnde selbst etwas tue, die, so ein Ausdruck in der stoischen
Philosophie, autopragia. Oder man pocht darauf, dass der Han-
delnde jemand ist, der überlegt, der sich auf Gründe bezieht und
aus Gründen handelt. Und das Reich der Gründe sei etwas grund-
sätzlich anderes als das Reich der Ursachen.
Diese Formulierungen und Gedanken bringen ein starkes Unbe-
hagen zum Ausdruck. Sie alle sind von dem Eindruck bestimmt, dass,
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22 §  1  Einleitung und Fragestellung

wenn die Menschen und ihre Handlungen Teil der kausalen Welt
sind, sich eine ihrer zentralen Eigenschaften zu verflüchtigen droht,
die Eigenschaft, Handelnde zu sein. Dieses Unbehagen ist vollkom-
men berechtigt. Aber zum Teil wirken die Formulierungen, in denen
es zum Ausdruck kommt, hilflos, weil sie nahelegen, das, was fehlt,
dort zu suchen, wo es nicht zu finden sein wird. Zum Teil wecken
sie fehlgehende Assoziationen und suggerieren mehr oder weniger
offen, wie am Arena-Vergleich schon erläutert, die dualistische Idee
eines Ichs neben oder über dem kausalen Geschehen und gehen da-
mit gleich von Anfang an in die falsche Richtung. Auffallend ist auch
der hohe Anteil von Metaphern und anderen rhetorischen Mitteln.
Man muss damit vorsichtig sein und darf sich nicht durch falsche
Assoziationen und irreführende Metaphern verhexen lassen. Allzu
viele Philosophen haben sich in dieser Sache von falschen Bildern
gefangen nehmen lassen.

6.  Ich kann jetzt die Themafrage dieses Buches noch einmal formu-
lieren: Welche Tatsachen erlauben es, das Ich des Handelnden als
mehr zu verstehen als bloß den Ort eines kausalen Geschehens? Wie
können wir in einem stärkeren Sinne verstehen, dass etwas durch
mich geschieht und ich etwas tue? Oder, etwas anders gewendet:
Was macht die Ichhaftigkeit unseres Handelns wirklich aus? Welche
Antwort ist durch die Fakten unserer Existenz gedeckt?
Drei Leitfragen werden den Gang der Untersuchung bestim-
men. Zu unserem Selbstverständnis als Handelnde gehört zentral
die Vorstellung der Aktivität: dass wir etwas in Gang setzen, dass
wir etwas initiieren, etwas geschehen machen. Und dass wir nicht
nur, um diese Metapher aufzugreifen, ein Transit-Raum sind, durch
den eine Folge von Geschehnissen hindurchläuft. Eine Handlung
ist gerade dadurch meine, so die Vorstellung, dass ich sie tue und
sie nicht bloß, verursacht durch Vorgänge in mir, geschieht. Tradi-
tionell wurde die immaterielle Seele, nicht nur, aber wesentlich, als
Quelle dieser Aktivität verstanden. Von ihr gehen die Impulse aus,
die jeweils am Anfang der Handlungen stehen. Deshalb glaubten
Descartes und seine Nachfolger, dass nur Wesen handeln können,
die neben dem Körper eine solche immaterielle Seele besitzen oder
aber, ohne Körper, ein immaterieller Geist sind: Menschen, Engel
und Götter. Alles andere sind bloße Materiekomplexe oder Maschi-
nen, die nur durch Impulse von außen in Bewegung gesetzt werden
können. Diese Idee eines absoluten Anfangs, die Idee, dass wir eine
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Was heißt es, dass etwas durch mich geschieht? 23

Bewegung beginnen können, ohne darin selbst verursacht zu sein,


gehört der Vergangenheit an und ist nur noch von historischem In-
teresse. Wie aber ist es stattdessen zu verstehen, dass wir aktiv etwas
in Gang setzen? Wie ist das zu verstehen, wenn alles in unserem
Leben verursacht ist? Der Determinismus wird unter anderem des-
halb als so beunruhigend empfunden, weil er uns dieser Aktivität
zu berauben scheint. Er macht uns, so das Gefühl, passiv. Was also
kann man sich unter dieser Aktivität vorstellen? Dieser Frage gilt
der erste Schritt der Untersuchung.
Dann wird die damit eng verbundene Frage untersucht, was das
Ich ist, auf das man sich bezieht, wenn man sagt, dass ich etwas tue.
Es kann, das ist klar, keine äußere Instanz jenseits oder neben dem
relevanten kausalen Geschehen sein. Es soll aber mehr sein als bloß
der Schauplatz des Geschehens. Wie dann? Das Ich muss selbst Teil
des kausalen Geschehens sein. Aber wie kann man sich das vorstel-
len? Gibt es diese dritte Möglichkeit zwischen der Mythologie auf
der einen Seite und der zu schwachen Konzeption auf der anderen
Seite, und wie sieht sie aus? Was in der spezifischen Vorgeschichte
unserer Handlungen berechtigt uns also dazu, in einem stärkeren
Sinne zu sagen: ich bin es, der dies tut?
Ein dritter Schritt betrifft ein spezielles und, wie es scheint, be-
sonders erklärungsbedürftiges Phänomen, das Wählen einer Hand-
lung oder, anders gesagt, das Entscheiden. Zu unserem Selbstbild
gehört elementar die Überzeugung, so oder anders entscheiden zu
können und so entschieden zu haben, aber auch die Möglichkeit
gehabt zu haben, eine andere Handlung zu wählen. Man überlegt
und entscheidet, was man tun will, zwischen zumindest zwei Op-
tionen. Darin liegt hier die Besonderheit. Darin liegt aber auch das
Problem. Unter deterministischem Vorzeichen gibt es, wie schon
gesagt, im kausalen Gang der Dinge immer nur eine Möglichkeit des
weiteren Verlaufs und niemals mehrere. Wie aber kann man dann
von »Optionen« sprechen? Das scheint dann nur noch eine façon
de parler zu sein und die Überzeugung, dass wir so und so handeln
und diese, aber auch jene Handlung ergreifen können, eine fatale
Illu­sion. Diese Conclusio ist, so meine ich, obwohl sie einen starken
Sog entwickelt, tatsächlich falsch. Warum, werde ich im einzelnen
zu erklären versuchen.
Dieselbe Frage stellt sich auch für die verschiedenen Varianten
des Indeterminismus. Der Indeterminismus kennt zwar kausale
Konstellationen, bei denen nicht vorhersagbar ist, ob als Nächs-
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24 §  1  Einleitung und Fragestellung

tes a oder b passieren wird. Er kennt also Situationen, in denen es


mehr als eine mögliche Zukunft gibt. Aber das hilft uns nicht, zu
verstehen, was Optionen sind und was es heißen kann, eine Hand-
lung aus einer Mehrzahl von Optionen zu wählen. Denn entweder,
dafür spricht, wie wir sahen, viel, betrachten wir trotz des Indeter-
minismus auf der Mikroebene das Geschehen auf der Makroebene,
und damit unsere Überlegungen und auch unsere Entscheidungen,
als determiniert. Dann ändert sich an der Problemlage offenkun-
dig nichts. Oder man nimmt an, dass indeterministische Effekte auf
der Makroebene ankommen, und zwar genau an der richtigen Stelle,
nämlich bei einer Entscheidung oder in ihrem unmittelbaren Vor-
feld. Dass ich mich für die eine Handlung entscheide, wäre dann ein
Zufall. Und es hätte bei gleicher kausaler Vorgeschichte bis zu dem
indeterministischen Moment auch passieren können, dass ich die
andere Handlung wähle. In diesem wie in jenem Fall haben wir eine
Handlung und ihre kausale Vorgeschichte. In beiden Fällen laufen
die jeweiligen kausalen Fäden durch die Person hindurch. In beiden
Fällen ist, was ich tue, das Ergebnis eines Kausalgeschehens. Und
deshalb würde sich hier nicht anders als unter der deterministischen
Prämisse die Frage stellen, wie es zu verstehen ist, eine Entscheidung
zwischen Optionen zu treffen. Auch dieses Problem entsteht also
nicht speziell durch die Annahme des Determinismus, es entsteht
durch die allgemeinere Tatsache, dass unsere Handlungen jeweils das
Ergebnis eines komplexen kausalen Geschehens sind.

7.  Für eine erfolgreiche Beantwortung dieser Fragen ist, so möchte


ich zeigen, ein Phänomen der Schlüssel: dass wir Wesen sind, die et-
was wollen. Irgendwann in der Geschichte des Lebens entstanden
Lebewesen, die etwas wollen. Und das war ein Moment fundamen-
taler Veränderung. Es entstand eine völlig neue Art des Handelns.
Lebewesen taten nun etwas, weil sie es tun wollten. Und sie hätten
es nicht getan, wenn sie es nicht gewollt hätten. Ein Teil dessen,
was im kausalen Gefüge von Ursachen und Wirkungen geschieht,
hängt jetzt von einem Wollen ab. In der Geschichte der Menschen
kam es sehr viel später zu einer anderen, erneut alles verändern-
den Innovation. Den Menschen gelang es, Sprachen zu erfinden
und ihre sprachlichen Möglichkeiten nach und nach zu differen-
zieren. Dadurch gewann das menschliche Wollen eine unvergleich-
liche Komplexität. Und es wurde noch etwas möglich: Menschen
können, offenbar im Unterschied zu allen anderen Lebewesen, ihre
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Was heißt es, dass etwas durch mich geschieht? 25

eigenen mentalen Zustände und damit auch das eigene Wollen zum
Gegenstand ihres Denkens machen. Sie tun etwas nicht nur, weil
sie es wollen, sie können auch denken – und sagen: Ich tue es, weil
ich es will. Und ich würde es nicht tun, wenn ich es nicht wollte.
Es liegt an meinem Wollen, daran, ob ich es will oder nicht. Das
Wollen wird auf diese Weise zu einem zentralen Gegenstand in der
Selbstbeschreibung, und das hat erhebliche Auswirkungen auf die
Art, wie wir uns als Handelnde verstehen.4 Dass, wenn es um unser
Selbstverständnis als Handelnde geht, die Tatsache, dass wir Lebe-
wesen sind, die etwas wollen, von zentraler Bedeutung ist, ist keine
originelle These. Das liegt auf der Hand, und deshalb spielt es in den
aussichtsreichsten Theorien eine wichtige Rolle. Dennoch scheint es,
als werde diese Tatsache bei weitem nicht hinreichend ausgeleuchtet,
ja als werde verkannt, welche Bedeutung sie für das Verständnis un-
serer selbst hat. Wenn man wissen will, wie es zu verstehen ist, dass
etwas durch mich geschieht und ich etwas tue, muss man, so meine
ich, sehr viel eingehender untersuchen, was es heißt, ein Lebewesen
zu sein, das etwas will.

8.  Noch eine letzte Vorbemerkung. Es geht im Folgenden darum,


was es mit der Ichhaftigkeit unserer Handlungen auf sich hat und
welche Rolle wir in dem Gang der Dinge in dieser Welt spielen.
Es geht dabei um Tatsachen. Wir haben allerdings als Teil unseres
Selbstverständnisses bereits mehr oder weniger implizite oder ex-
plizite, mehr oder weniger theoretisch aufgeladene Vorstellungen
über uns als Handelnde. Es geht nicht um die Explikation, sondern
um die Richtigkeit dieses Selbstverständnisses, ob es durch die Tat-
sachen unserer Existenz gestützt wird oder nicht. Das Faktum, dass
wir uns in bestimmter Weise verstehen, kann bei diesem Vorhaben
deshalb nicht maßgeblich sein. Wir müssen damit rechnen, etwas
aufgeben und uns von Fehldeutungen und Erfindungen verabschie-
den zu müssen. Es werden noch Generationen von Philosophen vor
der Aufgabe stehen, eine Form des menschlichen Selbstverstehens
zu entwickeln, das die Erkenntnisse von Hobbes, Hume und Dar-
win und ihre Entfaltung und Bestätigung durch die heutigen Wissen-
schaften aufnimmt und ihnen gerecht wird. Wir haben heute noch

4 Vgl. zur Genese des Wollens und zur Bedeutung des Sprechen-Könnens
für die Komplexität des menschlichen Wollens Vf., Der Vorrang des Wollens.
Eine Studie zur Anthropologie (Frankfurt 2016), Teil I.
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26 §  1  Einleitung und Fragestellung

keine Vorstellung davon, welches Resultat am Ende dieses Prozesses


stehen und was es für uns und unser Verständnis des menschlichen
Lebens bedeuten könnte.

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§2
Die Lokalisierung des Anfangs:
Aktivität und Aktivitätsbewusstsein

»We are creatures who cannot avoid being active.«


H. Frankfurt, On the Usefulness of Final Ends, 84

Welche Tatsachen erlauben es, das Ich des Handelnden als mehr zu
verstehen als bloß den Ort des Geschehens? Eine Handlung ist, so
unsere Vorstellung, dadurch meine, dass ich sie tue. Dass wir aktive
Wesen sind, gehört zum innersten Kern unseres Selbstverständnis-
ses. Wir können uns gar nicht denken, was es hieße, nicht aktiv zu
sein. Was also macht die Aktivität des Handelnden aus, wie ist sie
zu verstehen, wenn alles in unserem Leben und deshalb auch un-
sere Handlungen Effekte von Ursachen und weiteren vorgängigen
Ursachen sind? Und wenn es deshalb einen absoluten, selbst unver-
ursachten Anfang aus uns heraus nicht geben kann, wenn wir also
niemals, wie es Robert Kane formuliert hat, die »creators ab initio«
unserer Handlungen sein können?1

1.  Aktivität. Erste Schritte

Die Begriffe aktiv und passiv werden enger oder weiter verwen-
det. Es gibt nicht den einen fest fixierten Sprachgebrauch, vielmehr,
nichts Ungewöhnliches, ein Spektrum verschiedener, aber durch-
aus durch ein einigendes Band zusammengehaltener Verwendun-
gen. Die beiden Begriffe haben ihre Funktion in einer Phänomeno-
logie der Bewegung. Mit ihnen charakterisiert man eine Bewegung
unter dem Aspekt ihres Woher. Wenn ein Mann einen Hund mit

1 R. Kane: The Significance of Free Will (Oxford 1996), 4.


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28 §  2  Die Lokalisierung des Anfangs

einem Stock schlägt, kommt die Bewegung des Schlagens nicht aus
dem Hund, sie kommt von woanders, sie kommt von außen. Der
Hund wird geschlagen, und das ist etwas Passives. Er erleidet es.
Das Schlagen kommt aus dem Mann, dort liegt das Woher der Be-
wegung. Deshalb ist seine Bewegung eine Aktivität. Er tut etwas,
es widerfährt ihm nicht. Umgekehrt, wenn der Hund den Mann
in die Wade beißt. Diese Bewegung kommt aus dem Hund, in ihm
liegt ihr Woher. Der Mann wird gebissen, er ist jetzt passiv und der
Hund aktiv, er tut etwas.
Die Griechen sprachen von der archē, der Ursache und dem Be-
ginn der Bewegung. Wo beginnt die Bewegung, wo liegt ihre Ursa-
che? Es geht um die Lokalisierung des kausalen Beginns. archē be-
deutet sowohl Ursache wie auch Beginn. Das ist nicht über­raschend,
ist eine Ursache doch der Beginn eines Prozesses, der zu einer Wir-
kung führt.
Wenn das Interesse, das zu der Unterscheidung von Aktivität
und Passivität führt, darin liegt, zu klären, von wo eine Bewegung
kommt und wo ihre Ursache ist, liegt es nahe, die Möglichkeiten
zunächst grob zweizuteilen: Die Bewegung kommt entweder von
innen oder von außen. Der Hund ist aktiv, er tut etwas, wenn, wie im
Falle des Beißens, die Bewegung von innen, aus ihm heraus kommt,
und er ist passiv, wenn sie, wie im Falle des Geschlagenwerdens,
von außen kommt. Wie wir noch sehen werden, ist diese Zweitei-
lung zu grob, aber man kann gut mit ihr operieren und kommt mit
ihr erstaunlich weit.
Wenn es um Aktivität und Passivität geht, so kann ich jetzt noch
einmal sagen, geht es um die Lokalisierung des kausalen Beginns
­einer Bewegung, und der Ort liegt entweder innerhalb oder außer-
halb der betreffenden Person oder des betreffenden Lebewesens.
Eine Aktivität ist also eine an einem bestimmten Ort initiierte Be-
wegung. Aktiv ist jemand, wenn die Ursache der Bewegung in ihm
liegt, die Bewegung aus ihm kommt. Oder, um es anders zu wen-
den: Eine Bewegung wird gerade dadurch zu einer Handlung einer
Person, zu etwas, was sie tut, dass der Beginn und die Ursache der
Bewegung in ihr liegt. Bemerkenswert ist, dass der Akzent hier ganz
auf dem Wo des Anfangs liegt und zunächst beiseite bleibt, was die
Ursache ist. Auch darin äußert sich, dass wir es mit einer Begriff-
lichkeit zu tun haben, die nur eine ungefähre Struktur im Auge
hat und nicht, oder zunächst nicht, auf weitergehende Präzisierun-
gen zielt.
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1.  Aktivität. Erste Schritte 29

Die jetzt skizzierte Analyse des Aktivseins lässt sich durch die
gesamte Geschichte des europäischen Denkens von der Antike bis
heute verfolgen. Prägend für alles Weitere waren die Überlegungen,
die Aristoteles in dieser Sache entwickelt hat. Wenn jemand einen
Stein schleudert, liegt, so schreibt er, die archē der Bewegung »in
ihm«.2 Wenn man hingegen von Leuten, die einen in ihrer Gewalt
haben, irgendwohin geschafft wird, liegt die archē der Bewegung
»außerhalb« (exōthen). Man »trägt« dann, so fügt Aristoteles hinzu,
zu dem, was geschieht, »nichts bei« (mēden symballetai ).3 Es geht
also sehr deutlich um das Wo der Ursache der Bewegung, und die
beiden Möglichkeiten sind: innen und außen.4 Aktiv ist der, in dem
die Bewegung ihren Ursprung hat, passiv ist, für den die Bewegung
von außen kommt, der folglich nichts zu ihr beiträgt, sie vielmehr
erleidet.
Zweierlei ist hier eigens festzuhalten: Aristoteles war keineswegs
der Meinung, der Anfang der Bewegung, von dem er spricht, sei
selbst unverursacht. Er denkt nicht an einen absoluten, selbst nicht
verursachten Anfang, sondern an einen relativen Anfang, an etwas,
das, wenn man einen begrenzten Kausalzusammenhang betrachtet,
an dessen Anfang steht. Darin, dass der Anfang der Bewegung selbst
verursacht ist, liegt für ihn kein Grund, nicht von Aktivität und von
der archē einer Bewegung zu sprechen. Dieser Aspekt der Sache
wird uns noch beschäftigen.
Zum anderen: Wenn Aristoteles deutlich macht, dass derjenige,
der aktiv ist, etwas zu seiner Bewegung beiträgt, ist damit auch ge-
sagt, dass der Aktive, der, der etwas tut, niemals nur der Ort eines
selbstläufigen kausalen Geschehens ist. Er trägt immer etwas Sub­
stan­tielles bei, das in einer möglichen kausalen Erklärung dessen,
was geschehen ist, als ein wesentlicher kausaler Faktor genannt wer-
den müsste. Wenn der Handelnde hingegen nur der Ort des Gesche-
hens wäre, hätte er keine kausale Relevanz für das, was geschieht.
Der Handelnde ist, das liegt bereits in dem, was Aristoteles sagt,

2 Aristoteles: Nikomachische Ethik (EN) III, 7. 1114 a 17 ff.; siehe auch III,


1. 1110 a 1, b 16.
3 EN III, 1. 1110 a 1–4; auch 1110 b 2 f., b 16.
4 Vgl. die wiederholten Formulierungen mit dem lokalen »von wo« (ho-
then); z. B. EN V, 12. 1136 b 28; VI, 2. 1139 a 31. Die Unterscheidung von
Bewegungen, die von innen (endothen / ex hautou) und von außen (exōthen)
kommen, auch bereits bei Platon, vgl. Phaidros 245 e 5.
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30 §  2  Die Lokalisierung des Anfangs

immer mehr als der Ort eines kausalen Geschehens, er ist, weil er
etwas beiträgt, Teil des kausalen Geschehens.
Die bisherige Bestimmung des Aktivseins erlaubt es, bei sehr un-
terschiedlichen Dingen von Aktivität zu sprechen. Es gibt unterhalb
der allgemeinen Struktur verschiedene Formen oder Stufen der Ak-
tivität. Wir tun uns zum Beispiel nicht schwer, einem Thermostat
Aktivität zuzusprechen. Ein Thermostat kontrolliert die Raumtem-
peratur und initiiert, wenn nötig, das Nachheizen. Es entsteht eine
Veränderung, und der Ursprung der Veränderung liegt in dem Ther-
mostat; etwas in seinem Inneren gibt den Impuls zum Nachheizen.
Und wenn der Thermostat defekt ist, wird die Temperatur nicht
kontrolliert, und es gibt nichts mehr, was dem Fallen der Tempe-
ratur entgegenwirkt. Der Thermostat trägt also dazu bei, dass die
Temperatur stabil bleibt. Die Elemente, die eine Aktivität definieren,
sind in diesem Fall, wie es scheint, gegeben. Und deshalb fällt es uns
nicht schwer, hier von einer Aktivität zu sprechen.
Gewiss, ein Thermostat ist nur ein Artefakt, kein Lebewesen.
Man könnte deshalb meinen, die Rede von der Aktivität sei in die-
sem Fall allzu generös; sie sei allenfalls metaphorisch, aber nicht
buchstäblich zu verstehen. Aber wo hört die literale Verwendung
auf, wo fängt die metaphorische an? Wie gesagt, die Elemente, die
für eine Aktivität definitiv sind: Bewegung, Anfang, Ursache, die
Lokalisierung im Inneren scheinen vorhanden zu sein. Am ehes-
ten kann man hinter der Bewegung ein Fragezeichen machen. Der
Thermostat bewegt sich nicht, er hat keine Arme und Beine. Aber
er stellt – dadurch, dass ein Bimetallstreifen sich in seinem Inneren
biegt – einen elektrischen Kontakt her, schließt damit einen Strom-
kreis und setzt auf diese Weise das Aufheizen im Heizkessel in Gang.
Natürlich ist das keine Aktivität, wie wir sie von uns Menschen ken-
nen. Der Thermostat hat keinen Geist und er kennt kein zweckge-
richtetes Handeln. Dennoch kann man, so meine ich, sinnvoll von
einer einfachen Form von Aktivität sprechen.
Unfraglicher ist es, Tieren und auch primitiven Tieren Aktivität
zuzusprechen. Das tun wir ganz selbstverständlich. Denken wir an
einen Frosch. Wenn eine Fliege sein Gesichtsfeld in der richtigen
Distanz kreuzt, schleudert er seine Zunge heraus, fängt sie und frisst
sie. Wir würden nicht zögern, zu sagen, dass der Frosch damit etwas
tut. Er erleidet nichts, er wird nicht von einem Auto überfahren, er
tut etwas. Das Woher der Bewegung ist sein Inneres, er ist intern so
verdrahtet, dass er bei diesem Reiz in dieser Weise reagiert. Der feste
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1.  Aktivität. Erste Schritte 31

Reiz-Reaktionsmechanismus dient einem der biologischen Zwecke,


denen jedes Lebewesen folgt, dem Weiterleben. Der Frosch weiß
davon nichts, er hat nicht den Wunsch, weiterzuleben. Und er hat
auch nicht den Wunsch, die Fliege zu fangen. Er tut, was er tun
muss, auf Grund eines internen, genetisch fixierten Bauplans. Auch
in diesem Fall reicht es uns aus, dass die Bewegung ihren Anfang im
Inneren des Lebewesens hat und nicht von außen kommt, um von
einer Aktivität zu sprechen.
Frankfurt hat das Beispiel einer Spinne angeführt, die im einen
Fall normal ihres Weges geht und deren Beine im anderen Fall an
Fäden von außen bewegt werden.5 In der ersten Situation ist sie ak-
tiv, ihre Bewegungen kommen aus ihr heraus. Offenkundig ist dabei
kein anderes Wesen im Spiel, das die Bewegung der Beine von außen
verursacht. In der anderen Situation ist sie passiv, sie wird gleichsam
gegangen. Was geschieht, wird von außen manipuliert, die Spinne tut
nichts dazu. Es handelt sich um eine Bewegung, aber nicht um eine
Aktivität der Spinne. Im Fall der Aktivität würde eine Erklärung der
Bewegung die interne Verdrahtung der Spinne als einen entschei-
denden kausalen Faktor nennen müssen, im Fall der Passivität käme
die Spinne außer mit der Tatsache, dass sie Beine hat, an denen man
ziehen kann, in der kausalen Erklärung gar nicht vor.
Vielleicht möchte man einwenden, was diese Tiere tun, sei doch
nur das Ergebnis eines festverdrahteten internen Programms. Ihre
Bewegungen seien das Ergebnis automatischer Prozesse. Deshalb
könne man, obwohl es sich im Unterschied zum Thermostat um
Lebewesen handelt, nicht wirklich von Aktivitäten sprechen. Was
Frosch und Spinne »tun«, sei besser beschrieben als etwas, was an
ihnen geschieht. Man müsste demnach sagen, die Bewegung ihrer
Beine geschehe der Spinne. Nicht sie tue das. Doch das führt offen-
bar zu Künstlichkeiten und Verrenkungen. Thomas von Aquino hat
in de veritate, eine Formulierung Johannes’ Damascenus aufgrei-
fend, geschrieben, dass Tiere »nicht handeln, sondern eher gehandelt
werden« (»non agunt sed magis aguntur«).6 Auch diese Ausdrucks-
weise mit dem sprachlich eigentlich unmöglichen Passiv ausgerech-

5 H. G. Frankfurt: The Problem of Action (1978), in: H. G. F.: The Impor-
tance of What We Care About (Cambridge 1988), 69–79, 78, dt. Das Problem
des Handelns, in: R. Stoecker (Hg.): Handlungen und Handlungsgründe
(Paderborn 2002), 65–75, 74 f.
6 Thomas: De veritate 22, art. 4, resp., ed. R. Spiazzi (Turin 1964), 179.
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32 §  2  Die Lokalisierung des Anfangs

net von agere zeigt, zu welchen artifiziellen Formulierungen man


gezwungen wird, wenn man die Begriffe an dieser Stelle anders kon-
figurieren will. Man muss über ein begriffliches Instrument verfü-
gen, um den Fall, in dem die Spinne ohne Einfluss von außen geht,
von dem anderen Fall, in dem ihre Beine von außen durch Fäden
bewegt werden, zu unterscheiden. Das ist ein realer und ins Auge
springender Unterschied. Und er wird auf plausible Weise erfasst,
indem man sagt, das eine sei eine Aktivität, das andere eine Passivität.
So zu sprechen, ist so plausibel, weil die Unterscheidung zwischen
einer Bewegung, die von innen kommt, und einer Bewegung, die
von außen kommt, den Phänomenen, die man vor Augen hat, genau
entspricht. In dem einen Fall gibt es diese Fäden, diesen Eingriff von
außen, in dem anderen gibt es nichts dergleichen. Die Aktivität, die
wir dem Frosch und der Spinne zuschreiben, ist indes wiederum von
einer einfachen Art. Es wäre gar nicht so leicht, zu erläutern, worin
sie sich von der eines Thermostats unterscheidet.
Es ist, wie gesagt, ein ziemlich grobes Verfahren, wenn es um
Aktivität und Passivität geht, nur mit den Möglichkeiten »von in-
nen« und »von außen« zu operieren. Es gibt eine Reihe von Fällen,
bei denen es so scheint, als ließen sie sich in dieses einfache Muster
nicht gut einfügen. Bisweilen wird darin ein Grund dafür gesehen,
eine Explikation des Aktiv- und Passivseins mit Hilfe der Unter-
scheidung »innen« und »außen« ganz zu verwerfen. Doch das wäre
meines Erachtens ein Fehler. Solange man daran festhält, dass die
Begriffe »aktiv« und »passiv« Bewegungen unter dem Aspekt ihres
Woher charakterisieren, wird man ohne die Unterscheidung »von
innen, von außen« nicht auskommen. Es scheint ohnehin ein sinn-
loses Unterfangen zu sein, die Differenz von Aktivität und Passivität
präzise machen zu wollen. Eine Unterscheidung wird aber nicht da-
durch falsch oder untauglich, dass es Fälle gibt, die sich einer klaren
Zuordnung zu der einen oder anderen Seite entziehen.
Ich möchte wenigstens kurz auf ein Beispiel für einen proble-
matischen Fall eingehen, weil er verschiedentlich diskutiert wurde.7
Wenn einem Hund Haare ausfallen, komme, was da geschieht, so
der Einwand, doch von innen. Folglich müsse man sagen, dass eine
Aktivität vorliegt. Aber das würden wir nicht sagen. Und das zeige,

7 Vgl. B. Vetter: Aktive Vermögen und Handlungskausalität. Zeitschrift für


philosophische Forschung 67 (2013), 137–142.
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1.  Aktivität. Erste Schritte 33

dass eine Analyse der Aktivität und Passivität mit Hilfe der Unter-
scheidung »von innen, von außen« nicht erfolgreich ist.
Wir würden gewiss nicht meinen, dass dem Hund die Haare aus-
fallen, sei eine Aktivität. Aber warum nicht? Stellen wir uns vor, der
Hund wird so betäubt, dass er sich nicht bewegen kann. Dennoch
fallen ihm die Haare aus. Das verstehen wir, wie es scheint, deshalb
nicht als Aktivität, weil die Bewegung fehlt. Kein Bein, kein Kiefer,
keine Zunge, kein Schwanz, nichts ist in Bewegung. Es fehlt eine
Bewegung des Hundes. Dies ist die phänomenale Evidenz, die uns
davon abhält, von einer Aktivität zu sprechen. Wenn dem Hund
Haare ausfallen, ist das etwas Passives, »passiv« nicht in dem en-
gen, bisher berücksichtigten Sinn, dass das Geschehen von außen
verursacht wird – dem Hund werden die Haare nicht herausgeris-
sen –, sondern in dem weiten Sinne, in dem alles, was nicht aktiv
ist, passiv ist.
Was für das Ausfallen der Haare gilt, gilt übrigens auch für Vor-
gänge wie den, dass das Herz Blut durch den Körper pumpt. Das
geht auch dann weiter, wenn der Hund betäubt und dadurch völlig
bewegungsunfähig ist. Auch Vorgänge dieser Art sind keine Bewe-
gungen des Hundes. Und deshalb können sie auch keine Aktivitä-
ten von ihm sein.
Wenn wir uns jetzt den Menschen zuwenden, ist es keine Über-
raschung, dass auch Personen aktiv sind, wenn – ganz aristotelisch –
die Bewegung von innen kommt, wenn der Anfang und die Ursache
der Bewegung in ihnen liegt. Ohne Frage funktionieren Menschen
anders als Frösche und Spinnen. Ihr Verhalten ist zwar durchaus
auch durch angeborene Reiz-Reaktionsmechanismen bestimmt,
aber nur zu einem kleinen Teil. So zum Beispiel in einer Situation,
in der ein Gegenstand auf einen zufliegt, in Richtung der Augen,
und man automatisch eine Ausweichbewegung macht, die Augen
schließt und wahrscheinlich einen Arm vors Gesicht bringt. Das
sind fest verdrahtete Reaktionsweisen. Zum allergrößten Teil läuft
die Verhaltenssteuerung aber anders. Sie läuft durch den Kopf der
Person hindurch, und nicht an ihm vorbei. Menschen sind, wie auch
höher entwickelte Tiere, Lebewesen, die etwas wollen, animalia vo-
lentia. Mit der Evolution des Wollens, ich habe es schon erwähnt,
entstehen völlig neuartige Lebewesen. Sie haben Ziele, und sie müs-
sen selbst herausfinden und entscheiden, welches die geeigneten Mit-
tel sind, um sie zu erreichen. Sie müssen überlegen, was sie in den
jeweiligen und sich verändernden Umständen am besten tun. Damit
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34 §  2  Die Lokalisierung des Anfangs

gewinnt ihr Verhalten eine unvergleichlich größere Flexibilität, die


die Chancen weiterzuleben erheblich erhöht.
Die Strukturen des Wollens sind bei den Menschen infolge ­ihres
im Prinzip unbegrenzten Zukunftsbewusstseins, ihrer entsprechend
ausgeprägten Imaginationsfähigkeit und ihrer sprachlichen Mög-
lichkeiten besonders kompliziert. Seine Grundausrichtung ist frei-
lich, nicht anders als bei anderen Lebewesen, durch die biologi-
schen Zwecke der Selbst- und Arterhaltung bestimmt. Die Men-
schen wollen weiterleben, sie wollen das Wohl ihrer Kinder und
sie streben nach Anerkennung durch andere. Diese Wünsche und
vielleicht noch einige andere sind genetisch auf ihre Ziele festgelegt.
Sie sind in uns »eingerammt«, wir können gar nicht anders, als sie
zu haben, und wir können sie nicht abschütteln. Der andere Stamm
unseres Wollens geht auf das Angenehme und die Vermeidung des
Unangenehmen. Auch dies ist genetisch so festgelegt, auch hieran
können wir nichts ändern. Und was uns angenehm und unange-
nehm ist, allem Wollen vorausgehend und diesem seine Richtung
gebend, ist auch durch die Natur, nämlich durch die Konstitution
des Körpers fixiert. Dennoch gibt es von dieser Basis aus Wege zu so
ideellen Wünschen wie denen nach Freiheit, nach Gewaltlosigkeit,
nach normativer Gleichheit oder dem nach Gottgefälligkeit. Und
auf diese Wünsche sind wir keineswegs genetisch festgelegt. Die
genetischen Determinanten bringen also eine ungleich komplexere
volitio­nale Struktur hervor, mit einer Reihe von für unser Leben
oft sehr wichtigen Wünschen, die ihrerseits nicht genetisch fixiert
sind. Die Menschen müssen angesichts der Vielzahl ihrer Wünsche
überlegen, wie sie diese koordinieren, woran ihnen mehr und wo-
ran ihnen weniger liegt. Und sie müssen natürlich überlegen, was
die geeigneten Mittel sind, um den jeweils vorrangigen Wunsch zu
verwirklichen.
Es ist im jetzigen Zusammenhang nicht nötig, den Gliederbau des
menschlichen Wollens genauer darzustellen.8 Das Entscheidende ist
im Moment, dass wir Dinge tun, weil wir sie tun wollen. Wir wol-
len sie tun, weil wir dadurch unsere Ziele erreichen. Und wenn wir,
wie wir sagen, etwas um seiner selbst willen wollen, wenn wir etwa
tanzen wollen um des Tanzens willen, wollen wir es, weil uns diese
Tätigkeit angenehm ist und wir, hier wie auch sonst, das Angenehme

8 Vgl. hierzu Vf., Der Vorrang des Wollens, §§ 5 und 6.


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1.  Aktivität. Erste Schritte 35

anstreben. Das Entscheidende ist, nochmal, dass einem Teil dessen,


was wir tun, ein Wollen vorausgeht. Das schafft eine völlig neue
Form der Aktivität.
Bevor ich darauf komme, ist es nützlich, sich wenigstens kurz
vor Augen zu bringen, dass es jenseits des Verhaltens, das durch an-
geborene Reiz-Reaktionsmechanismen bestimmt ist, und diesseits
der Handlungen, die man tut, weil man sie tun will, eine breite Zwi-
schenzone von Handlungen gibt, die weder zu der einen noch zu
der anderen Gruppe gehören. Dabei sind die Übergänge auf beiden
Seiten fließend. Manchmal trommeln wir aus Nervosität mit den
Fingern auf den Tisch, ohne uns dessen bewusst zu sein. Wir tun das
nicht, weil wir es wollen. Es geschieht. Dennoch würden wir ohne
weiteres von einer Aktivität sprechen. Wir bewegen unsere Finger,
und der Anfang und die Ursache der Bewegung liegt in uns. Manch-
mal pfeifen wir, weil wir gut gelaunt sind, eine Melodie vor uns hin.
In diesem Fall sind wir uns dessen durchaus bewusst, aber wir tun
es wiederum nicht, weil wir es tun wollen. Es geschieht. Aber auch
hier würden wir ohne Zweifel von einer Aktivität sprechen. Wir tun
etwas, und der Beginn liegt in uns. Bei genauerem Hinsehen sieht
man, dass an Handlungen wie dem Pfeifen einer Melodie bereits ein
verborgenes Wollen beteiligt ist. Es mag sein, dass ich auf dem Weg
zu einem Vortrag eine Melodie pfeife, aber wenn ich den Vortrags-
raum betrete, breche ich das ab, weil ich die Aufmerksamkeit nicht
auf mich ziehen will oder weil ich nicht stören will. Das Pfeifen wird
offenbar von einer Art Supervision begleitet. Man prüft, ob ihm et-
was entgegensteht. Und die Gesichtspunkte, auf die hin man dies
kontrolliert, entstammen dem Wollen.
Ganz ähnlich scheint es bei allen Handlungen zu sein, die wir
per Autopilot vollziehen. Man steigt an der Universität aufs Fahr-
rad und einige Zeit später steht man zuhause vor der Garage, kann
sich an die Fahrt aber nicht erinnern. Man hat vieles getan, in die
Pedale getreten, das Fahrrad gelenkt, den Verkehr beobachtet, meh-
rere Hauptstraßen überquert. Aber man hat es mit einer reduzierten
Präsenz getan, die Gedanken waren woanders. Dennoch ist es un-
fraglich, dass wir etwas getan haben. In Fällen dieser Art spielt auch
bereits ein verborgenes Wollen hinein. Wir praktizieren wiederum
eine Art von Supervision oder Kontrolle. Wir bleiben im Modus
verminderter Präsenz, solange nichts Ungewöhnliches passiert, aber
wenn doch, schalten wir sofort auf eine bewusste Verhaltenssteue-
rung um. Und hinter dieser Überwachung liegt ein Wollen, man will
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36 §  2  Die Lokalisierung des Anfangs

heil zuhause ankommen. Hinzu kommt, dass die Fähigkeit zu einem


Agieren per Autopilot auf lange Gewohnheiten und internalisierte
Verhaltensmuster zurückgeht, an deren Anfang eine bewusste und
vom Wollen geleitete Handlungssteuerung stand. Wenn man beginnt,
Fahrrad zu fahren, fährt man mit voller Aufmerksamkeit und ist
nicht in der Lage, in einen Verhaltensmodus reduzierter Präsenz zu
wechseln. Viele Handlungen, von denen wir etwas leichtfertig sagen,
dass wir sie automatisch tun, unterliegen einer solchen Supervision,
und viele gehen auf frühere bewusste und gewollte Handlungsvoll-
züge zurück.
Es gibt, das zeigen diese ersten Schritte in der Analyse des Ak-
tivseins, ein Spektrum verschiedener Arten oder Stufen unterhalb
der allgemeinen Struktur der Aktivität: am Anfang die Aktivität des
Thermostats und anderer Artefakte und die Aktivität von Lebewe-
sen, deren Verhalten durch Reiz-Reaktionsmechanismen bestimmt
wird, am Ende die Aktivität, bei der man etwas tut, weil man es tun
will. Auf diese Form der Aktivität werde ich sofort eingehen. Zwi-
schen diesen Arten liegt eine Zone mit verschiedenen, schwer von-
einander abgrenzbaren Formen des Aktivseins. Auch Wesen, die
ihr Verhalten willentlich steuern können, tun vieles mehr oder we-
niger automatisch oder aus Gewohnheit und im Zuge eingeschliffe-
ner Handlungsmuster. Die Phänomenologie dieses Spektrums von
Aktivitätsformen ließe sich zweifellos noch deutlich verfeinern und
anreichern.

2.  Aktivität und Wollen

In den Handlungen, die wir tun, weil wir sie tun wollen, finden
wir den eigentlichen Prototypen des Aktivseins. Deshalb reservie-
ren manche Autoren die Wörter »Handlung« und »handeln« für
Aktivitäten dieser Art. Ich werde »handeln« wie bisher informeller
gebrauchen und kann deshalb, wenn ein Frosch eine Fliege fängt,
durchaus von einer Handlung sprechen. Tatsächlich hängt nicht viel
daran, ob man so oder so spricht.
Wie bereits gesagt, kommt es, wenn die archē der Bewegung ein
Wollen ist, zu einer ganz neuen Art von Aktivität. Dass etwas »durch
mich« geschieht, gewinnt eine neue Bedeutung. Man kann auch sa-
gen: Eine Handlung, die man tut, weil man sie tun will, besitzt eine
neue Form der Ichhaftigkeit. Wie ist das zu verstehen? Was sind die
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2.  Aktivität und Wollen 37

relevanten Spezifika einer solchen Handlung? Sechs dieser Beson-


derheiten seien genannt.
(1) Die erste liegt darin, dass ich, wenn ich etwas tun will und es
tue, durch mein Wollen hinter der Handlung stehe. Die Handlung
kommt nicht nur aus mir, ich will sie tun. Sie ist etwas von mir Ge-
wolltes. Wenn ich hingegen etwas tue, weil ich nervös bin, stehe ich
dadurch, dass die Handlung aus mir kommt, nicht hinter ihr. Meine
eigene Handlung ist mir deshalb äußerlich. Es kann sein, dass mir
nicht gefällt, was ich da tue. Oder ich stehe dem indifferent gegen-
über. Die Handlung geschieht durch mich, es handelt sich um eine
Aktivität, aber sie ist nicht durch mich gedeckt. Sie bedeutet mir
nichts. Genauso beim Frosch: Was er tut, wenn er eine Fliege fängt,
ist seine Handlung, sie kommt aus ihm, aber er steht nicht hinter ihr,
weil er sie nicht tun will.
Vermutlich wird mancher gleich einwenden, es könne sein, dass
man ein eigenes Wollen nicht gut findet, einen daran etwas stört,
man es lieber nicht hätte und dass einem deswegen auch eine ge-
wollte Handlung äußerlich und fremd sein kann. Das ist richtig.
Aber erstens ist das ein besonderer Fall, der wohl nicht oft vor-
kommt (darauf werde ich im nächsten Kapitel eingehen). Und zwei-
tens: Auch wenn ich mit einem eigenen Wollen nicht im Reinen bin,
habe ich es dennoch und will die betreffende Handlung dennoch
tun. Auch wenn ich es vorzöge, nicht ins Casino gehen zu wollen,
will ich es. Und wenn ich deshalb ins Casino gehe, stehe ich in dieser
Weise hinter meinem Tun. Diesem verbleibenden Hinter-der-Hand-
lung-Stehen entspricht nichts im Falle des Handelns aus Nervosität.
Wenn ich, was ich auf diese Weise tue, nicht tun will, gibt es nichts,
wodurch ich hinter der Handlung stehe. Sie ist dann gewissermaßen
glatt äußerlich.
Es klingt natürlich, zu sagen, eine eigene Handlung sei einem,
weil sie nicht gewollt ist, äußerlich. Eine Handlung in dieser Weise
zu charakterisieren, enthält aber eine sehr weitreichende Voraus-
setzung. In dem Satz: »Die Handlung geschieht durch mich, aber
sie ist mir äußerlich.« bezieht man sich mit dem »mich« und dem
»mir« jeweils auf ein Ich, aber auf ein unterschiedliches Ich. Das
»mich« bezieht sich auf das Ich im Sinne der Person, aus der die
Handlung kommt. Das »mir« bezieht sich hingegen offenbar auf
ein engeres Ich, eben ein Ich, dem die Handlung, obwohl sie aus
dem Ich im ersten Sinne kommt, äußerlich ist. Wir gelangen auf
diese Weise zu einer Dissoziation im Ich und der Ausgrenzung
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38 §  2  Die Lokalisierung des Anfangs

e­ ines engeren Ichs. Dieses engere Ich hat Substanz und Inhalt durch
die Inhalte des Wollens. Es ist, anders formuliert, die Person, so-
fern sie bestimmte Dinge will. An ihr bemessen wir, was uns äu-
ßerlich ist. Damit zeigt sich, zumindest anfangshaft, dass wir uns
in einer bestimmten Art durch unser Wollen definieren. Das ist ein
für unsere Existenzweise zentrales Phänomen, und es wird uns im
nächsten Kapitel noch ausführlich beschäftigen. Werfen wir noch
einen Blick auf den Frosch. Von ihm kann man sagen, dass er, weil
er seine Handlungen nicht tut, weil er sie tun will, nicht hinter sei-
nen Handlungen steht. Man kann aber nicht sagen, dass ihm seine
Handlungen deshalb äußerlich oder fremd sind. Das »ihm« hat hier
keinen Bezug. Der Frosch hat kein engeres Ich, weil er kein Wesen
ist, das etwas will. Deshalb kann ihm etwas, was er selbst tut, nicht
äußerlich sein.
(2) Wenn ich eine Handlung tun will und es nicht gelingt, sie zu
tun, zum Beispiel weil es durch einen äußeren Eingriff verhindert
wird, ist das etwas für mich Negatives. Wenn es hingegen gelingt,
sie zu tun, ist das etwas für mich Positives. Das offenbart, dass eine
Handlung dadurch, dass man sie tun will, für einen Bedeutung ge-
winnt. Es liegt einem an ihr. Je stärker man sie will, umso mehr Ge-
wicht hat sie für einen. Und umso stärker berührt es einen positiv,
wenn es gelingt, das Gewollte zu verwirklichen, und umso größer
ist die Frustration, wenn es nicht gelingt. Zu all dem kommt es erst
durch das Wollen. Erst durch das Wollen kommt es zu dem »für
mich positiv, für mich negativ«. In diesem für mich spiegelt sich,
dass ich in eine solche Handlung in besonderer Weise involviert
bin. Sie bedeutet etwas für mich. Eben daraus erklärt sich auch die
motivationale Kraft des Wollens. Wir sind motiviert, das Gewollte
zu tun, weil es für uns, durch das Wollen, Bedeutung hat und weil
es uns positiv berührt, das Gewollte zu realisieren, und es negativ
wäre, es nicht zu realisieren.
Die Freude, mit der wir reagieren, wenn es gelingt, etwas Ge-
wolltes zu verwirklichen, bisweilen vielleicht nur eine kurze, kaum
bemerkte Veränderung im Hintergrundrauschen des Bewusstseins,
und das entsprechende Unbehagen im entgegengesetzten Fall kön-
nen sich, je nach Stärke des Wollens, zu Emotionen und Affekten
wie Stolz, Ärger, Wut und Zorn steigern. In diesen Affekten und
dem mit ihnen gegebenen affektiven Betroffensein manifestiert sich
auf elementare Weise, dass uns das Gewollte angeht und uns an ihm
liegt. Mit Affekten reagiert man nur auf etwas, was einen, positiv
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2.  Aktivität und Wollen 39

oder negativ, betrifft und niemals auf etwas, dem man indifferent
gegenübersteht.
Bei einem Handeln aus Nervosität ist für alle diese Elemente kein
Platz. Das Handeln hat für einen keine Bedeutung, es ist einem nicht
wichtig, und es berührt einen nicht positiv, die Handlung zu tun.
Von Gelingen und Misslingen, von Freude und Frustration kann bei
einem Handeln dieser Art nicht die Rede sein.
Diese Überlegung zeigt erneut, dass eine Handlung, die man tut,
weil man sie tun will, deutlich ichhafter ist als Handlungen anderer
Art. Man ist auf ganz andere Weise mit der Handlung verbunden.
(3) Etwas zu wollen, ist ein intentionaler Zustand, man will im-
mer etwas. Und das Gewollte ist in den Fällen, über die wir spre-
chen, eine Handlung. Auf diese Handlung ist das Wollen gerichtet,
und sie wird im Wollen bereits antizipierend repräsentiert. Wenn die
betreffende Person sie dann tut, passt sie genau zu dem vorgängigen
Wollen. Sie ist die Realisierung des zuvor im Wollen bereits Reprä-
sentierten. Es besteht auch unter diesem Aspekt eine äußerst enge
Verbindung von Wollen und Handlung. Nichts Vergleichbares gibt
es, wenn wir etwas aus Nervosität tun. Nervös zu sein, ist kein in-
tentionaler Zustand. Die Nervosität ist der Anfang und die Ursache
einer Handlung, aber sie ist nicht auf sie gerichtet und sie repräsen-
tiert sie nicht vorab. Dasselbe gilt für das Fliegen-Fangen des Fro-
sches. Die Reiz-Reaktionsmechanismen, deren Resultat die Hand-
lung ist, repräsentieren und antizipieren sie nicht vorweg. Auch sie
haben keinerlei Intentionalität. Deshalb sind Ursache und Wirkung
auf eine völlig andere Art aufeinander bezogen.
(4) Das führt direkt zu einem vierten Spezifikum einer Handlung,
die man tut, weil man sie tun will. Das Wollen macht es möglich, die
Handlung zu kontrollieren. Eine Handlung, die man tun will, hat
immer ein Woraufhin. Wenn wir eine Handlung extrinsisch wollen,
wollen wir sie, weil sie uns zu etwas verhilft, was wir wollen. Und
wenn wir eine Handlung intrinsisch wollen, wollen wir sie, weil sie
selbst etwas hat, was wir wollen: sie ist angenehm. In beiden Fällen
achten wir, während wir die Handlung tun, darauf, dass sie so ver-
läuft, wie sie soll, wie es also nötig ist, damit sich das Ziel, das wir
mit ihr verbinden, einstellt. Und wenn sie nicht so verläuft, steuern
wir nach und bringen die Handlung wieder auf die Linie des Wollens
zurück. So, wenn ich einen Brief nach einer handschriftlichen Vor-
lage in den Computer eintippe und das nicht nur irgendwie, sondern
fehlerfrei tun will. Ich kontrolliere dann das Eintippen kontinuier-
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40 §  2  Die Lokalisierung des Anfangs

lich daraufhin, dass ich mich nicht verschreibe, und falls ich es tue,
korrigiere ich den Fehler, bevor es weitergeht. Und wenn ich tanze
und es nicht so läuft, wie ich es mir vorstelle, und es deshalb keinen
Spaß macht, versuche ich ebenfalls, etwas zu korrigieren.
Die Notwendigkeit, das, was man tut, zu kontrollieren, rührt da-
her, dass sich Handlungen gewissermaßen selbständig machen und
in eine Richtung entwickeln können, in die man nicht will, so dass
ein Nachjustieren nötig wird. Und das erklärt sich wiederum daraus,
dass einer Handlung oft oder immer sub-personale kausale Prozesse
zugrundeliegen, die automatisch ablaufen. Wir delegieren, so kann
man sagen, die Ausführung einer Handlung an sub-personale Me-
chanismen, die die Feinarbeit machen. Wenn man etwas eintippt, be-
wegen sich die Finger von selbst. Wollten wir hier bewusst handeln,
müssten wir die Geschwindigkeit des Schreibens stark reduzieren
und würden dann wahrscheinlich ziemlich ungelenke Bewegungen
machen. Genauso übernehmen beim Tanzen uns nicht bewusste
Prozesse im Gehirn die Steuerung der Feinmotorik. Aber wir kon-
trollieren diese Aktivitäten, wir bleiben dabei und greifen ein, wenn
sie sich von der gewollten Linie entfernen. Und auch wenn wir nicht
eingreifen, stehen wir bereit, es zu tun, falls sich die Notwendigkeit
ergibt. Das heißt, die Handlung vollzieht sich so oder so unter un-
serer Kontrolle, sie wird kontinuierlich daraufhin geprüft, ob sie
noch dem Wollen entspricht.
Diese Phänomene lassen erkennen, dass wir das, was wir tun,
weil wir es tun wollen, nicht nur anstoßen und initiieren, sondern
die Handlung mit unserem Wollen begleiten und volitiv dabei blei-
ben. Sie zeigen, in welcher Weise wir hinter einer Handlung stehen,
die wir tun wollen. Eine gewollte Handlung ist immer eine in die-
sem Sinne kontrollierte Handlung. Die Person, die handelt, ist da-
durch, wie Frankfurt es formuliert9, »in touch« mit der Handlung.
Es besteht auch aus diesem Grund eine besonders enge Bindung
zwischen dem Handeln und dem Wollen, aus dem es hervorgeht.
Was geschieht, geschieht in einem starken Sinne »durch mich«. Das
beleuchtet einmal mehr die besondere Ichhaftigkeit einer gewollten
Handlung.
(5) Auf eine weitere wesentliche Eigenschaft von Handlungen,
die wir tun, weil wir sie tun wollen, stoßen wir, wenn wir die Ge-
nese einer solchen Handlung etwas genauer betrachten. Das Wollen,

9 Frankfurt, The Problem of Action, 71.


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2.  Aktivität und Wollen 41

das in diesen Fällen die archē der Bewegung ist, ist uns nicht zufällig
zugeflogen. Wir erkennen vielmehr im Zuge einer Überlegung, dass
wir angesichts anderer Wünsche, die wir haben, in der konkreten Si-
tuation genau dies tun wollen.10 Verdeutlichen wir das an einem Bei-
spiel. Ich würde gerne heute ein Manuskript fertigstellen. Ich könnte
es dann morgen einem Kollegen schicken, der darauf wartet und sich
freuen würde, es endlich zu bekommen. Mir wäre sehr lieb, wenn
das heute klappte, zumal in den nächsten Tagen keine Zeit ist, die
Sache abzuschließen. Dafür müsste ich allerdings bis in den Abend
oder sogar bis in die Nacht hinein arbeiten. Und das kollidiert damit,
dass ich für den Abend eine Karte für die Oper in Zürich habe und
die Oper gerne hören möchte. Außerdem bin ich in der Oper mit
einer Freundin verabredet, die ich treffen und wiedersehen möchte
und der ich versprochen habe, dort zu sein. Was will ich nun tun?
Es ist leicht zu sehen, dass in dieser Situation bereits eine Reihe von
Wünschen im Spiel sind, und diese Wünsche sind, wie eine einge-
hendere Beschreibung zum Vorschein bringen würde, mit weiteren
Wünschen eng verknüpft. Ich überlege, was ich angesichts dieser
Wünsche und des Zwiespalts, in den sie führen, unter dem Strich will.
Was ist mir am wichtigsten? Was ist weniger wichtig? In der Über­
legung imaginiere ich zum Beispiel, wie mein Kollege auf einen neu-
erlichen Aufschub reagieren würde, was die Verzögerung für seine
Arbeitsabläufe bedeuten würde und wie sehr mir daran liegt, die zu
erwartende Enttäuschung zu vermeiden. Ganz ähnlich male ich mir
aus, wie ärgerlich meine Freundin wäre, wenn ich nicht erschiene,
und was das für unser weiteres Verhältnis bedeuten würde. Durch
Überlegungen dieser Art steigt die Zahl der Wünsche, die zu berück-
sichtigen und abzuwägen sind, weiter an. Wie ich die verschiedenen
Aspekte gegeneinander abwäge und zu welchen Einschätzungen ich
komme, hängt gewiss auch davon ab, welche Erfahrungen ich in
vergleichbaren Situationen in der Vergangenheit gemacht habe. All
dies ist präsent und fließt ein. Nehmen wir an, am Ende komme ich
zu dem Ergebnis, dass ich »alles in allem« die Oper hören und die
Freundin treffen möchte, mir dies also am wichtigsten ist. Dann ist
noch kurz zu überlegen, wann ich aufbrechen muss, um pünktlich in

10 Wenn ich hier und im Folgenden von »Wunsch« und »Wünschen« spre-
che, gebrauche ich das Wort nur als Ersatz für das im Deutschen fehlende
Substantiv zu »wollen«. Damit ist also keine Differenzierung von »wollen«
und »wünschen« intendiert.
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42 §  2  Die Lokalisierung des Anfangs

der Oper zu sein. Am Ende will ich dann um 16.30 Uhr aufbrechen
und um 17.09 Uhr den Zug nach Zürich nehmen.
Diese Szene illustriert zweierlei. Zum einen ist das Wollen, das
die Handlung verursacht, hier: um 16.30 Uhr aufzubrechen, das Er-
gebnis eines komplexen mentalen Geschehens, zu dem auch bereits
Handlungen gehören: das Überlegen und als Teil von ihm das Imagi-
nieren. Und zum zweiten: Der Wunsch, um 16.30 Uhr aufzubrechen
und in die Oper zu fahren, hängt offenbar von anderen Wünschen ab
und ist Teil einer komplexen, vielschichtigen Textur von Wünschen.
Hinter der Handlung, die ich am Ende tue, steht nicht einfach ein be-
ziehungsloses, einzelnes Wollen, sondern eine komplexe volitionale
Struktur. Es sind eine Reihe von Wünschen beteiligt, die zudem in
einer Ordnung des mehr oder weniger Wichtigen zueinander stehen.
Die Verankerung der Handlung im Ich ist aus diesen Gründen
sehr viel breiter und tiefgehender, als es der Fall wäre, wenn die
Ursache ein einzelnes, von all meinen anderen mentalen Zustän-
den und Aktivitäten isoliertes Wollen wäre. Das beleuchtet erneut
die besondere Ichhaftigkeit einer gewollten Handlung. Das Ich, das
hinter ihr steht, ist in seiner Substanz durch Wünsche bestimmt, die
systematisch miteinander verbunden sind und eine äußerst kom-
plexe Struktur bilden.
Sicherlich weisen nicht alle Handlungen, die man tut, weil man
sie tun will, die jetzt erläuterte Charakteristik in gleichem Maße auf.
Einige haben sie mehr, einige weniger, vielleicht auch kaum. Wenn
es, nachdem man draußen kalt geworden ist, angenehm wäre, warm
zu duschen und man das deshalb will, scheint das Wollen nicht be-
sonders vernetzt zu sein. Aber selbst in diesem Fall prüft man, ob
für das Duschen vor dem schon vorbereiteten Abendessen noch Zeit
ist – oder ob es sich angesichts der frischen Wunde am Schienbein
empfiehlt, zu duschen. Man prüft, ob das Wollen mit anderem, was
man will, zusammenpasst. Das heißt, auch in diesem Fall wird das
Wollen nur handlungsleitend, wenn es zu dem, was man sonst noch
will, passt oder gegenläufige Wünsche überwiegt, und das wird wie-
derum in einer Überlegung abgecheckt. Auch in diesem Fall steht
also hinter der Handlung, wenn es denn zu ihr kommt, mehr als ein
einzelnes, beziehungsloses Wollen.
(6) Eine weitere, besondere und äußerst wichtige Charakteristik
einer Handlung, die man tut, weil man sie tun will, liegt darin, dass
sie sich gewöhnlich in einem Spielraum oder, anders gesagt, in einer
Zone des Anders-Könnens vollzieht. Man kann sie tun, und man
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2.  Aktivität und Wollen 43

kann sie nicht tun, und man kann sie unter verschiedenen Aspekten
so oder anders tun. Und ob man sie tut und wie man sie tut, hängt
vom Wollen ab. Wenn man die Handlung tun will, tut man sie, und
wenn man sie nicht tun will, tut man sie nicht. Was wir tun und wie
wir es tun, »liegt«, so hat es Aristoteles formuliert, »bei uns« (eph’
hēmin).11 Man hat die Fähigkeit und es besteht die Gelegenheit, das
eine und das andere zu tun. Das heißt, die Umstände erlauben das
eine wie das andere. Und deshalb liegt es bei uns, was geschieht.
Und deshalb kann man, wenn man das eine getan hat, rückblickend
feststellen, dass man es auch hätte unterlassen und stattdessen das
andere tun können. Es liegt auf der Hand, dass gewollte Handlungen
auf Grund dieser Besonderheit, aus einer Mehrzahl von möglichen
Handlungen herausgegriffen zu sein, eine größere Ichhaftigkeit be-
sitzen als Handlungen, für die das nicht gilt. Man denke zum Ver-
gleich an ein Handeln aus Nervosität oder an das, was ein Frosch
tut.12
Nun hatte ich gesagt, Handlungen, die man tut, weil man sie
tun will, seien »gewöhnlich« in einem Spielraum angesiedelt. Neh-
men wir, um das zu erläutern, an, ich war gezwungen, etwas zu
tun, wollte es aber auch tun. In einer solchen Situation der Über­
determi­nation lassen sich zwei Fälle unterscheiden. Einmal ergibt
die genauere Exploration des kausalen Ablaufs, dass das Wollen und
nicht der Zwang die Handlung verursacht hat. Dann ist die Hand-
lung, obwohl vom Wollen verursacht, dennoch keine Handlung in
einem Spielraum. Denn wenn ich sie nicht gewollt hätte, hätte ich
sie auf Grund des Zwangs trotzdem getan. Das Wollen ist die causa
der Handlung, aber nicht die causa sine qua non. Im anderen Fall
stellt sich hingegen heraus, dass der Zwang die Handlung verur-
sacht hat und das Wollen keine kausale Rolle spielte. Dann handelt
es sich zwar um eine gewollte Handlung, aber nicht um eine durch
das Wollen verursachte Handlung.
Es gibt also Handlungen, die man tut, weil man sie tun will, die
nicht in einem Spielraum angesiedelt sind. Daneben gibt es Hand-

11 Vgl. besonders Aristoteles, EN III, 7. 1113 b 7 f. – Zur Interpretation die-


ser vielfach missverstandenen Passage S. Bobzien: Aristotle’s Nicomachean
Ethics 1113 b 7–8 and Free Choice, in: P. Destrée / R. Salles / M. Zingano
(eds.): What is Up to Us? Studies on Agency and Responsibility in Ancient
Philosophy (Sankt Augustin 2014), 59–73.
12 Wie es Spielräume und ein Anders-Können in einer kausalen und speziell
einer deterministischen Welt geben kann, werde ich in Kapitel 5 erläutern.
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44 §  2  Die Lokalisierung des Anfangs

lungen, die zwar gewollt, aber nicht durch das Wollen verursacht
sind. Auch sie sind nicht in einem Spielraum angesiedelt. Diese
Unterscheidungen vor Augen könnte man meinen, dass gewollte
Handlungen, die sich in Spielräumen bewegen, ichhafter sind als
Handlungen, bei denen, obwohl gewollt, keine Spielräume beste-
hen. Aber das scheint fraglich zu sein. Denn wenn ich gezwungen
bin, etwas zu tun, es aber auch tun will, würde ich es auch tun wol-
len, wenn der Zwang nicht bestünde, wenn ich also die Möglichkeit
hätte, es nicht zu tun. Das deutet darauf hin, dass, eine Handlung
zu wollen, generell bedeutet, sie als eine unter anderen möglichen
zu wollen, das Anders-Können also, wenn nicht faktisch gegeben,
so doch hypo­thetisch vorausgesetzt ist: Wenn der Zwang nicht be-
stünde und man die Möglichkeit hätte, anders zu handeln, würde
man dennoch dieselbe Handlung wollen. Das Wollen setzt also im-
mer zumindest hypothetisch einen Spielraum voraus. Deshalb steht
man, wie es scheint, in den Fällen gewollter Handlungen, bei denen
faktisch keine Spielräume bestehen, in derselben Weise hinter der
Handlung wie bei gewollten Handlungen, die faktisch in einer Zone
des Anders-Könnens angesiedelt sind. Und deshalb sind die einen
genauso ichhaft wie die anderen.
Es ist nicht nötig, das im jetzigen Kontext zu vertiefen. Festzu-
halten ist im Moment nur, dass die Handlungen, die die Charakte-
ristika (1) – (5) aufweisen, in der einen oder anderen Weise auch das
Merkmal haben, in einer Zone des Anders-Könnens angesiedelt zu
sein. Gerade dieses Merkmal ist, wie wir noch genauer (in Kapitel 5)
sehen werden, für unser Aktivitätsbewusstsein und für unser Selbst-
verständnis als Handelnde von eminenter Bedeutung.
Es lohnt sich, in dieser Sache noch einmal auf Aristoteles zurück-
zukommen. Wenn es so ist, dass wir eine Handlung, je nach unserem
Wollen, tun oder auch nicht tun, »liegt«, wie wir uns verhalten, so hat
Aristoteles gesagt, »bei uns« (eph’ hēmin). Das, was bei uns liegt (ta
eph’ hēmin), ist, so Aristoteles weiter, zugleich das, was »durch uns«
geschieht (ta di’ hēmōn). Es hängt vom Wollen ab, und das heißt
auch für Aristoteles, es hängt von uns ab.13 Das »Bei-uns-Liegen«
wird dann auf zweifache Weise weiter erläutert. Wenn es bei uns
liegt, eine Handlung zu tun und auch sie nicht zu tun, dann, so eine

13 Aristoteles, EN III, 5. 1112 a 30 f.; auch 1112 b 27; Rhetorik I, 10. 1368 b


37–1369 a 2. Vgl. dazu R. Loening: Die Zurechnungslehre des Aristoteles
(Jena 1903), 146 ff.
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2.  Aktivität und Wollen 45

alternative Formulierung, »steht einem offen«, dann »steht einem


frei«, das eine und das andere zu tun.14 Und zwar steht es einem frei
im Blick auf die Umstände der jeweiligen Situation. Nichts hindert
einen und nichts zwingt einen. Das griechische Wort an dieser Stelle,
exeinai, konstruiert mit Dativ und Infinitiv, wird in vielen Kontex-
ten mit »es ist möglich«, »es ist erlaubt« übersetzt, wobei immer
mitzudenken ist: durch die Umstände. Wenn die Umstände erlauben,
das eine wie das andere zu tun, hängt es wiederum vom Wollen ab,
was geschieht. Bereits Platon hat, um herauszustellen, dass einem
zwei Möglichkeiten offen stehen und einen nichts hindert, die eine
wie auch die andere zu ergreifen, das Wort exeinai verwandt. »Es
steht einem«, so sagt er, »frei, den Weg zu gehen, welchen von beiden
wir wollen.«15 Mit der Übersetzung von exeinai mit »es steht einem
frei« wird zum einen der Bezug auf die Umstände gut eingefangen,
zum anderen wird der Begriff der Freiheit herangeführt, und das hat
einen überzeugenden Grund in der Sache. Das von dem Verb exei-
nai abgeleitete Substantiv exousia bedeutet zunächst, ganz wörtlich,
das »Einem-möglich-Sein«, das »Einem-Freistehen« und gewinnt
dann von dort die Bedeutung »Macht«: man hat die Macht, das eine
wie auch das andere zu tun. Wenn Platon von der exousia spricht,
»das zu tun, was man will«, kann man mit »Macht«, aber auch mit
»Freiheit« übersetzen.16 Tatsächlich verbindet Platon die exousia be-
reits mit der eleutheria; dies ist das griechische Wort für »Freiheit«,
das ursprünglich die Freiheit einer Polis von äußerer Herrschaft
bezeichnet.17 Die frühe stoische Philosophie hat diese Verknüpfung
mit dem Begriff der Freiheit aufgegriffen. In einer möglicherweise
auf Chrysipp zurückgehenden Definition wird Freiheit, eleutheria,
als exousia autopragias bestimmt: als die Macht, selbst, durch sich
selbst zu handeln.18

14 Aristoteles, EN III, 7. 1114 a 14–21. Vgl. auch VIII, 15. 1162 b 15; Eude-


mische Ethik (EE) II, 8. 1225 a 7.
15 Platon: Politikos 265 a 1–6; vgl. auch Nomoi 857 e 10 – 858 a 6.
16 Vgl. Platon: Politeia VIII, 557 b 4 ff. und auch 563 e 8 und 546 a 3.
17 Vgl. ebd. – Die pseudo-platonischen Definitiones schließen also durch-
aus an platonische Äußerungen an, wenn sie eleutheria definieren als exousia,
»nach sich selbst zu leben«. Vgl. Definitiones 412 d 1 f.
18 Vgl. M. Frede: A Free Will. Origins of the Notion in Ancient Thought
(Berkeley 2011) 66 f. Frede übersetzt exousia autopragias mit »the ability to
act on one’s own«.
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46 §  2  Die Lokalisierung des Anfangs

Dass auch Aristoteles das eph’ hēmin, das Bei-uns-Liegen, mit


der Vorstellung der Macht assoziiert, lässt seine zweite erläuternde
Bemerkung erkennen. Wenn eine Handlung bei einem liegt, dann
ist man, so schreibt er, »Herr«, kyrios, über sein Handeln.19 Dann
bestimmt man selbst, was man tut, – und nicht ein anderer oder et-
was anderes.

Unterhalb der allgemeinen Struktur der Aktivität gibt es, wie wir sa-
hen, verschiedene Formen oder Stufen der Aktivität. Die allgemeine
Bestimmung der Aktivität besagt nur, dass die Ursache der Bewe-
gung in mir liegen muss, lässt aber offen, was die Ursache sein kann.
Die sechs angeführten Merkmale von Handlungen, deren archē ein
Wollen ist – die Liste ließe sich vermutlich noch verlängern –, bele-
gen nun eindrucksvoll, dass diese Handlungen durch verschiedene
ihrer Eigenschaften eine besonders enge Bindung an die Handeln-
den aufweisen. Das die verschiedenen Gesichtspunkte übergrei-
fende Phänomen ist darin zu sehen, dass wir uns in bestimmter
Weise durch unser Wollen definieren und deshalb die Handlungen,
die wir tun, weil wir sie tun wollen, in besonderer Weise »unsere«
Handlungen sind. Wir stehen hinter ihnen, es verbindet uns etwas
mit ihnen, sie sind uns nicht äußerlich. Das »durch mich«, das »ich
tue es« gewinnt dadurch einen ungleich stärkeren Sinn als bei den
anderen Formen der Aktivität.

3.  Zwischenüberlegung: Mentale Handlungen

Das Verständnis der Aktivität, wie es jetzt im Umriss entwickelt


wurde, orientiert sich an Handlungen, die sich in äußeren Bewegun-
gen vollziehen. Es gibt aber zweifellos auch innere, mentale Hand-
lungen wie, zu überlegen oder etwas im Kopf auszurechnen, die sich
nicht in äußeren Bewegungen manifestieren. Vermag die erreichte
Analyse auch Handlungen dieser Art zu erfassen? Ich begnüge mich
mit einigen Bemerkungen zu dieser Frage. Erneut ist ein Blick auf
Aristoteles instruktiv. Zunächst ist aufschlussreich, dass Aristoteles
auch in Bezug auf mentale Handlungen von kinēseis spricht, also das

19 Aristoteles, EE II, 6. 1223 a 4–9; vgl. auch EN III, 7. 1113 b 32 f., ganz ähn-


lich auch die vermutlich pseudo-aristotelischen Magna Moralia II, 8. 1207 a
19 ff.
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3.  Zwischenüberlegung: Mentale Handlungen 47

Wort gebraucht, das bisher mit »Bewegung« übersetzt wurde. Man


kann es, wird es für innere Geschehnisse gebraucht, mit »Verände-
rung« oder eben mit »Geschehen« übersetzen. Es geschieht etwas im
Mentalen, und die Frage ist dann, nicht anders als bei äußeren Bewe-
gungen, was die archē des Geschehens ist oder woher es kommt. Es
fällt uns nicht schwer, stattdessen auch, mehr oder weniger metapho-
risch, von Bewegungen zu sprechen. Es ist eine Bewegung entstan-
den, und die Frage ist dann, wo ihre archē liegt. Aristoteles spricht
ausdrücklich auch bei mentalen Handlungen von der tēs kinēseōs
archē, dem Anfang der Bewegung.20
Desweiteren ist aufschlussreich, dass Aristoteles auch bei Ge-
schehnissen dieser Art sagt, dass sie bei uns liegen können. So liegt,
sich etwas vorzustellen, bei uns (eph’ hēmin). Wir können es tun,
»wann immer wir wollen«, vorausgesetzt, so fügt Aristoteles hinzu,
dass »nichts von außen es verhindert«.21 Dass es bei uns liegt, ist
hier, genauso wie sonst, zweiseitig zu verstehen: man tut es, wenn
man es tun will, und man tut es nicht, wenn man es nicht tun will.
Es hängt von mir, von meinem Wollen ab. Das weist diese Gescheh-
nisse als Handlungen aus. Die archē des Geschehens liegt erneut in
unserem Wollen, und damit haben diese Handlungen alle Charak-
teristika einer Handlung, die man tut, weil man sie tun will. Diese
wenigen Hinweise reichen, scheint mir, schon aus, um zu begrün-
den, dass die erreichte Analyse des Aktivseins durchaus auch für
mentale Handlungen passt. Man muss bei ihnen die Rede von der
Bewegung erweitern.22
Es scheint auch innere Handlungen zu geben, die den äußeren
Handlungen entsprechen, die nicht aus einem Wollen, sondern aus
einer Nervosität oder einer guten Laune kommen. So kann sich je-
mand, gut gelaunt wie er ist, in hellen Farben ausmalen, wie schön
der anstehende Sommer werden wird. Das würden wir auch eine
Handlung nennen. Allerdings stellen Handlungen dieser Art, ge-
nau wie ihre äußeren Entsprechungen, einen schwächeren Typus

20 Aristoteles, EE VIII, 2. 1248 a 25.


21 Aristoteles: De anima III, 3. 427 b 18, 23 f.; II, 5. 417 a 27 f.
22 D. Davidson hat ganz auf dieser Linie dafür plädiert, »the idea of bodily
movement« »generös« zu verstehen, so generös, dass mentale Handlungen
wie Entscheiden und Rechnen auch darunter fallen. Das bleibt bei ihm al-
lerdings ohne weitere Erläuterung. Vgl. D. Davidson: Agency (1971), in:
D. D.: Essays on Actions and Events (Oxford 1980), 43–61, 49; dt. Handeln,
in: D. D.: Handlung und Ereignis (Frankfurt 1985), 73–98, 81 f.
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48 §  2  Die Lokalisierung des Anfangs

des Aktivseins dar als die prototypischen Fälle eines Handelns aus
einem Wollen.
Was wäre eine passive innere Bewegung? In der Science Fiction
natürlich ein mentales Geschehen, das von den obligaten Neuro-
Ingenieuren durch eine Stimulation von außen ausgelöst wird. In der
Realität ist eine Wahrnehmung ein Geschehen, dessen archē außer­
halb liegt. Den Schrei einer Möwe zu hören, ist etwas, was e­ inem
widerfährt, eine Passivität. Schwieriger sind Fälle, in denen das »von
außen« auch ein »von innen« ist. Es fällt mir etwas ein, etwas, wo-
ran ich denke, verbindet sich über eine Assoziation mit etwas an-
derem, im Tagtraum folgt ein Bild dem anderen nach einem, wie es
scheint, geheimen Gesetz. In diesen Fällen würden wir nicht von
­einer Handlung sprechen, sondern von Widerfahrnissen. Was pas-
siert, kommt von außen, aber dieses »außen« ist im Inneren. Dass
mir etwas einfällt, hat seine archē in Vorgängen, die mir nicht be-
wusst sind, die aber in mir stattfinden. Die Assoziationen, die sich
einstellen, haben etwas mit vergangenen Erlebnissen zu tun, aber
manchmal kommen sie, manchmal nicht, und auch in diesen Fällen
verlieren sich die Prozesse, auf die das zurückgeht, im undurch-
dringlichen Dunkel des Unbewussten. Wir haben keinen Einfluss
darauf, wir tragen nichts dazu bei. So zu sprechen, obwohl die frag-
lichen Geschehnisse aus uns kommen, zeigt, dass wir in unserem In-
neren eine Linie ziehen, eine Linie zwischen einem inneren Inneren
und einem äußeren Inneren. Es ist kaum möglich, zu bestimmen,
wie diese Linie genau verläuft. Einige Lokalisierungen fallen leicht,
andere nicht. Alles, was aus dem Unbewussten kommt, liegt, so
scheint es, jenseits der Grenzlinie im äußeren Inneren. Das Wollen
liegt eindeutig diesseits der Grenze im inneren Inneren. Es gibt aber
auch innere Handlungen aus guter Laune und vielleicht ähnlichen
Zuständen. Auch sie sind offenbar diesseits der Grenze angesiedelt,
und die Frage ist, warum. Ich gehe dem hier nicht weiter nach.
Es bleibt aber noch zu notieren, dass, selbst wenn wir auch in Be-
zug auf innere Handlungen über einigermaßen konturierte Begriffe
des Aktiv- und Passivseins verfügen, die Phänomene oft weniger
eindeutig sind als bei äußeren Handlungen. Wir verstehen, zu den-
ken und zu überlegen, als Handlungen. Aber wie kommt es, dass
die Gedanken diese Richtung nehmen, dass ich auf dieses stoße, aber
nicht auf jenes, obwohl es vielleicht wichtig gewesen wäre? Warum
diese Assoziationen und nicht andere, die mich möglicherweise wei-
tergebracht hätten? Das Denken ist offenkundig mit passiven Ele-
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4.  Aktivität und das Verursachtsein der archē 49

menten durchsetzt. Und es ist klar, dass hier unbewusste Prozesse


ablaufen, die den Gang der Dinge bestimmen, die man aber nicht
in der Hand hat.

4.  Aktivität und das Verursachtsein der archē

Die bisherige Analyse des Aktivseins lässt sich so zusammenfassen:


Aktiv ist etwas, dessen Bewegung aus ihm selbst kommt. Für uns
Menschen gilt entsprechend, dass wir aktiv sind, wenn eine Bewe-
gung aus uns selbst kommt, wenn die Ursache der Bewegung, sei es
ein Wollen, sei es ein Zustand wie eine Nervosität, in uns ist. Dann
geschieht, was geschieht, durch uns. Wenn wir nur der Ort wären,
den ein selbstläufiges kausales Geschehen passiert, wären wir nicht
die Ursache dessen, was geschieht. Wir wären nicht Teil des kausalen
Geschehens. Und wir könnten nicht von einem Aktivsein sprechen.
»We are active, because we are being moved just by ourselves.«23 So
hat es Frankfurt gesagt, und er formuliert damit, ganz traditions-
konform, die Essenz der Idee der Aktivität.
Was bedeutet es nun für die Vorstellung der Aktivität und des
eigenen Aktivseins, dass die jeweilige archē der Bewegung in einer
kausalen Welt notwendigerweise selbst verursacht ist? Die archē hat,
das hat, wie erwähnt, bereits Aristoteles so gesehen, selbst eine kau-
sale Vorgeschichte. Der Anfang der Bewegung ist kein absoluter An-
fang, die Ursache nicht selbst unverursacht. Ist das ein Umstand, der,
wie viele glauben, die Idee der Aktivität unterminiert?
Das ist, so meine ich, nicht der Fall. Diese Tatsache nötigt nicht
dazu, etwas von den vorausgegangenen Überlegungen zurückzu-
nehmen. Alles, was zur Bestimmung des Aktivseins dargelegt wurde,
ist mit dem Faktum einer kausalen Welt vereinbar. Und es ist eben-
falls mit der spezielleren Annahme einer durchgängig deterministi-
schen Welt vereinbar. Das gilt auch für das, was im Blick auf gewollte
Handlungen über Spielräume und das Anders-Können gesagt wurde.
Dass man eine Handlung tun kann und sie auch nicht tun kann, dass
die Umstände das eine wie das andere erlauben und es deshalb vom
eigenen Wollen und damit von einem selbst abhängt, was geschieht,
und dass man sich, wenn man sich so verhalten hat, auch anders hätte

23 H. G. Frankfurt: Taking Ourselves Seriously and Getting It Right (Stan-


ford 2006) 8; dt. Sich selbst ernst nehmen (Frankfurt 2007), 22.
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50 §  2  Die Lokalisierung des Anfangs

verhalten können, all dies ist, wie man sich klarmachen kann, inner-
halb einer durchgängig deterministischen Welt möglich.
Genauso ist die Kontrolle von Handlungen, die sich in solchen
Spielräumen vollziehen, möglich. Wir kontrollieren den Verlauf ei-
ner Handlung kontinuierlich daraufhin, ob er dem, was wir mit der
Handlung wollen, entspricht. Und wenn das nicht der Fall ist, jus-
tieren wir nach und bringen ihn auf die Linie des Wollens zurück.
Auch wenn man »Kontrolle« weiter versteht, als ich es bisher getan
habe, und es nicht nur um den Verlauf einer Handlung geht, sondern
auch darum, dass man die Kontrolle darüber hat, ob man sie tut oder
nicht, geht es um die Wollens-Entsprechung dessen, was geschieht.
Man hat die Kontrolle in diesem Sinne über eine Handlung, wenn
man sie tut, wenn man sie tun will, und sie nicht tut, wenn man sie
nicht tun will. Auch dies ist, wie gesagt, in einer deterministischen
Welt möglich.
Das vielfach vorgebrachte Argument, in einer deterministischen
Welt könne man keine Kontrolle über seine Handlungen haben, weil
sie durch ihre jeweilige kausale Vorgeschichte festgelegt seien und
man keine Kontrolle über diese Vorgeschichte habe, läuft ins Leere.
Lassen wir im Moment beiseite, wo der Fehler liegt und wie er sich
erklärt. Es kommt zunächst nur darauf an, dass die Conclusio falsch
ist. Zweierlei zeigt das. Erstens ist es eine Tatsache, dass wir Hand-
lungen in der beschriebenen Weise durch unser Wollen steuern und
sie damit kontrollieren. Und an diesem Faktum ändert sich, zwei-
tens, nichts dadurch, dass das Wollen diese oder jene Genese hat.
Bei der Kontrolle geht es darum, ob das Handeln dem Wollen folgt
oder sich selbständig macht. Es geht um die Bindung dessen, was
geschieht, ans Wollen. Wie das Verhältnis von Handeln und Wollen
beschaffen ist, ist aber unabhängig davon, wie das Wollen entstan-
den ist. Und damit ist es auch unabhängig davon, ob wir das Wollen
selbst kontrollieren, das heißt, ob es selbst einem ihm vorgängigen
Wollen folgt.
Ich kann, um deutlich zu machen, dass das Argument scheitert,
auch sagen: Die kausale Vorgeschichte unserer Handlungen ist, ver-
folgt man sie zurück, zumindest von einem bestimmten Punkt an
nicht von unserem Wollen abhängig. Dennoch sind unsere Hand-
lungen, oder ein Teil von ihnen, offenkundig vom Wollen abhängig.
Darin liegt kein Widerspruch. Etwas zu wollen, ist nicht rekursiv.
Dass ein Teil unserer Handlungen gewollt ist, verlangt nicht, dass das
Wollen und seine Vorgeschichte selbst gewollt sind. Da, Handlun-
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4.  Aktivität und das Verursachtsein der archē 51

gen zu kontrollieren, bedeutet, dass sie unserem Wollen gehorchen:


wenn wir sie tun wollen, tun wir sie, wenn nicht, nicht, wenn so, so,
wenn anders, anders, kommt die Kontrolle von Handlungen mit
dem Wollen in die Welt. Und das heißt, dass wir, auch wenn wir die
Vorgeschichte unserer Handlungen nicht kontrollieren, sehr wohl
unsere Handlungen kontrollieren können. Auch etwas zu kontrol-
lieren, ist nicht rekursiv.
Der Erfinder – oder Erneuerer – dieses Argumentes, Peter van
Inwagen, hat es in einer Variante entwickelt, in der nicht »Kontrolle«
das Schlüsselwort ist, sondern das aristotelische »es liegt bei uns«, es
ist »up to us«.24 Unsere Handlungen können, so das Argument, nicht
»up to us« sein, wenn ihre Vorgeschichte nicht »up to us« ist. Dass
eine Handlung bei uns liegt, heißt, wie wir sahen, dass sie in einem
Spielraum angesiedelt ist und es von unserem Wollen abhängt, ob
wir so oder anders handeln. Doch auch das »up to us« ist nicht re-
kursiv. Dass es von unserem Wollen abhängt, ob wir etwas tun oder
lassen, schließt nicht ein, dass, ob wir es wollen oder nicht wollen,
seinerseits von unserem Wollen, also einem vorausgehenden weite-
ren Wollen abhängt.
Dass die Unterscheidung von aktiv und passiv durch den Um-
stand, dass die archē der Bewegung selbst verursacht ist, nicht ange-
griffen wird, können wir uns weiter verdeutlichen, wenn wir noch
einmal das zuvor verwandte Beispiel assoziieren. Ich gehe zum
Bahnhof, um nach Zürich zu fahren und dort in die Oper zu gehen.
Ich tue das, weil ich es tun will. Dieses Wollen ist, wie erläutert, Teil
eines umfangreicheren volitionalen Netzes und hat eine deliberative
Vorgeschichte. Die Bewegung, in der ich mich befinde, hat ihr Woher
also in mir, und deshalb handelt es sich um eine Aktivität. An meinen
Füßen gibt es keine Fäden, an denen jemand von außen zieht und
damit bewirkt, dass ich zum Bahnhof gehe. Die Bewegung kommt
von innen, nicht von außen. Der Unterschied zwischen Aktivität
und Passivität und die Tatsache, dass eine Aktivität vorliegt, wird
keineswegs relativiert – oder zu einem Oberflächenphänomen de-
gradiert, wenn man mit ins Bild nimmt, dass die internen Ursachen
einer Aktivität die Effekte eines kausalen Prozesses sind, der, ver-
folgt man ihn weiter zurück, aus dem Kopf des Handelnden heraus
und zu externen Ursachen führt. Unsere Handlungen sind zweifel-
los letzten Endes Produkte externer Faktoren. Denn wir sind selbst

24 P. van Inwagen: An Essay on Free Will (Oxford 1983), V, 16, 56.


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52 §  2  Die Lokalisierung des Anfangs

letzten Endes Produkte externer Faktoren. Aber das ändert nichts an


dem Unterschied, dass es im Falle von Aktivitäten ein unüberspring-
bares Von-Innen gibt, während es im Falle passiver Bewegungen ein
solches Von-Innen nicht gibt. Dieser Unterschied bleibt erhalten.
Auch dass man nicht nur von der Ursache einer Bewegung in
uns, sondern auch von dem Anfang in uns spricht, hat seinen guten
Sinn. Denn jede Ursache ist ein Anfang. Eine Ursache ruft eine Wir-
kung hervor, und in diesem Geschehenszusammenhang ist sie der
Anfang des Geschehens. Etwas eine Ursache zu nennen, bedeutet
nicht, anzunehmen, dass die Ursache selbst unverursacht ist. Dann
könnten wir den Begriff aus unserem begrifflichen Repertoire strei-
chen. Genauso bedeutet, etwas einen Anfang zu nennen, nicht, dass
es sich um einen absoluten Anfang ohne kausale Vorgeschichte han-
delt. Damit würde man den Begriff von seiner Funktion im Netz der
Begriffe ablösen und ebenfalls inoperabel machen. Wenn im Orches-
tergraben der erste Ton gespielt wird, ist das der Anfang der Oper
und damit eines bestimmten Geschehenszusammenhangs, den man
für sich betrachtet. Aber das heißt selbstverständlich nicht, dass das
Spielen des ersten Tons keine kausale Vorgeschichte hat. Genauso,
wenn man zum Beispiel sagt, der ältere Bruder habe mit dem Streit
angefangen. Das ist kein Anfang aus dem Nichts, ohne kausale Be-
dingungen, sondern ein relativer Anfang, relativ auf das Geschehen
des Streits.
Es ist deshalb ganz richtig, zu sagen, dass wir im Fall einer Akti-
vität die Handlung initiieren. Während die Vorstellung einer abso-
luten Initiation einer Handlung ein Stück Mythologie ist – ein Stück
Mythologie über uns selbst. Es gibt weder eine immaterielle Seele,
die aus sich heraus – unverursacht – Handlungen initiiert, noch, wie
man vor allem in der augustinischen Tradition annahm, einen Wil-
len, der eine solche Wirkung erbringt und unverursacht, aus dem
Nichts will, was er will.
Man kann, das sei wenigstens nebenbei angemerkt, was ich jetzt
in mentalistischer Beschreibung erläutert habe, auch so zum Aus-
druck bringen: Es ist die allererste Funktion des menschlichen, und
nicht nur des menschlichen, Gehirns, Handlungen zu initiieren und
zu kontrollieren. Aber natürlich gibt es in den neuronalen Prozes-
sen keine unverursachten Ursachen und keine absoluten Anfänge.
Das neuronale Geschehen hat eine kausale Geschichte, und sie lässt
sich, mit größerem oder geringerem Erfolg, bis zu externen Ge-
schehnissen zurückverfolgen. Vielleicht will man einwenden, die
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4.  Aktivität und das Verursachtsein der archē 53

Rede von »kontrollieren« könne hier allenfalls eine Metapher sein,


denn sie sei, weil Kontrolle an ein vorgängiges Wollen gebunden
sei, selbst Teil der mentalistischen Sprache. Das ändert aber nichts
an dem Gesagten. Es besagt nur, dass man, wenn man so spricht,
die Beschreibungsebenen vermischt und dass, was hier »Kontrolle«
genannt wird, auch physiologisch ausbuchstabiert werden müsste.
Auch wenn man im Licht der vorangegangenen Überlegungen
einsieht, dass wir ohne Abstriche aktive Wesen sind, Wesen, die
Handlungen initiieren und selbst etwas geschehen machen, steht
neben diesem Faktum das zweite, ebenfalls unleugbare Faktum:
jede archē in mir, sei es ein Wollen, sei es etwas anderes, hat eine
kausale Vorgeschichte, die über kurz oder lang zu externen Fak-
toren führt, so dass wir und unsere Handlungen, auch wenn es ein
unüberspringbares Von-Innen gibt, letzten Endes das Produkt ex-
terner Faktoren sind. Was ich tue, geschieht durch mich, aber das
Ich ist ein kleines Stück im großen Gewebe der Kausalität und seine
Ursprünge liegen letzten Endes außerhalb seiner selbst. Wobei diese
externen Einflussfaktoren zuallererst die Gegenstände und Inhalte
der Erfahrungen und Erlebnisse sind, die man tagtäglich macht und
die man in der Vergangenheit gemacht hat und die einen in dem,
was man ist und was man will, prägen. Es hängt viel daran, dieses
zweite Faktum, die letztliche Bedingtheit durch externe Faktoren,
nicht als Gegenevidenz oder Gegenfaktum zu verstehen, das das
erste Faktum, die Aktivität des Handelnden, dementiert. Sie stehen
nebeneinander und sind miteinander kompatibel. Es bleibt dabei,
dass, wenn wir handeln, die archē in uns liegt und es sich deshalb um
Aktivitäten handelt. Und es bleibt dabei, dass wir, wenn wir Dinge
tun, weil wir sie tun wollen, hinter diesen Handlungen stehen, dass
uns diese Handlungen etwas bedeuten, dass wir sie kontrollieren
und in besonderer Weise mit ihnen »in touch« sind und dass wir in
Bezug auf sie Spielräume haben, die wir, je nach unserem Wollen,
füllen. All dies bleibt unangetastet. Dennoch löst die Einsicht, dass
wir letztlich die Produkte externer Faktoren sind, eine erhebliche
existentielle Irritation aus. Diese Irritation ist der Anlass und das
Thema dieses Buches, und die Frage, was die Einsichten, die uns in
dieser Weise irritieren, für unser Selbstverständnis bedeuten, wird
uns bis zum letzten Kapitel beschäftigen. Im Moment ist dazu vor
allem eine Sache festzuhalten.
Auch wenn unsere Handlungen letzten Endes das Resultat ex-
terner Faktoren sind – wobei man, ich komme darauf noch, kein
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54 §  2  Die Lokalisierung des Anfangs

falsches Bild davon haben darf, was diese externen Faktoren sind –,
hängt, was wir tun, von uns ab, davon, wie wir sind und was wir
wollen. Man braucht keine Angst zu haben, dass unsere Handlun-
gen ohne unser Zutun geschehen. Sie geschehen durch uns, und im
Falle der gewollten Handlungen bestimmen wir, durch unser Wol-
len, was geschieht. Wir sind nicht substanz- und inhaltslose Orte
oder Transit-Räume, sondern haben durch das, was wir in unserem
Leben erfahren und erlebt haben, durch das, was wir gelernt haben,
durch unsere Imaginationen und durch unzählige andere Faktoren
ein individuelles, im Gehirn verkörpertes Gepräge, und davon hängt
ab, was wir wollen und dann auch was wir tun.
Wenn A B verursacht und B C verursacht, ist es richtig, zu sa-
gen, dass A C verursacht. Aber in sehr vielen Fällen kann A C nur
verursachen, indem es B verursacht und B C verursacht. A kann C
nicht an B vorbei verursachen. Es gibt keine direkte Route von A
zu C. Deshalb ist B ein unüberspringbares Element in der kausalen
Kette. In diesem Sinne ist, dass die Menschen bestimmte interne
Zustände ausbilden, ein unüberspringbares Element in der kausa-
len Geschichte ihrer Handlungen. Und Menschen sind keine Do-
minosteine, sie haben eine äußerst komplizierte, sich aus unendlich
vielen Faktoren entwickelnde und sich ständig verändernde indivi-
duelle innere Struktur, so dass es gut sein kann und in vielen Fällen
sehr wahrscheinlich ist, dass der eine unter dem und dem kausalen
Einfluss die Handlung a tut und der andere unter demselben Ein-
fluss b tut. Und selbst wenn beide dasselbe tun, tun sie das, weil
sie so sind, wie sie sind, und das wollen, was sie wollen. Dieses Ich,
aus dem die Handlung kommt, ist, auch wenn es sich letzten Endes
selbst externen Faktoren verdankt, in dem kausalen Prozess, der zu
unseren Handlungen führt, unübergehbar. Und die Erklärung einer
Handlung von innen, aus dem Ich, ist deshalb immer die beste Er-
klärung, die wir geben können. Alle Erklärungen, die auf Ursachen
zurückgreifen, die in der kausalen Genese weiter zurückliegen, sind
schlechter, weil die einzelnen Ursachen, je weiter sie zurückliegen,
immer weniger Anteil daran haben, dass eine spezielle Handlung
geschieht. Und selbst wenn es faktisch möglich wäre, zu benennen,
welches zu einem bestimmten Zeitpunkt alle externen Ursachen
sind, die zu einer Handlung führen, und die Handlung im Rekurs
auf diese Ursachen zu erklären, wäre es, wenn dann gefragt würde:
»Ja, und wieso führen diese Faktoren gerade zu dieser Handlung?«,
unumgänglich, auf die Person, die die Handlung vollzieht, auf ihre
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5.  Aktivität und Aktivitätsbewusstsein 55

Lebensgeschichte und ihr volitionales Profil einzugehen. Ansonsten


bliebe die Erklärung unverständlich. Und selbst wenn es möglich
wäre, die Summe aller externen Ursachen zu einem bestimmten Zeit-
punkt aufzulisten, könnte niemand zu dieser Erklärung kommen,
ohne alles über die Lebensgeschichte der betreffenden Person und
die Struktur ihres Wollens zu wissen. Das zeigt noch einmal, dass
die Person, die etwas tut, ein unüberspringbarer Teil der kausalen
Geschichte ist, die zu ihren Handlungen führt. Und es zeigt auch,
wie falsch und wie sehr von Panik getrieben die immer wieder ge-
stellte Diagnose ist, dass, wenn unsere Handlungen Teil der kausalen
Ordnung seien und den gleichen kausalen Gesetzen unterlägen wie
alles andere auch, der Handelnde nur der Ort oder die Arena eines
selbstläufigen kausalen Geschehens sein könne.

5.  Aktivität und Aktivitätsbewusstsein

Menschen sind nicht nur aktive Wesen, sie sind sich ihres Aktiv-
seins auch bewusst. Sie wissen, dass sie Handlungen initiieren und
die archē dessen, was sie tun, in ihnen liegt. Der Grund ihres Akti-
vitätsbewusstseins liegt offenkundig darin, dass sie im Unterschied
zu nicht-menschlichen Lebewesen ihre eigenen mentalen Zustände
zum Gegenstand ihres Denkens, Erkennens und Sprechens machen
können. Sie können deshalb wissen, dass eine Bewegung, in der sie
sind, ihren Ursprung in der eigenen Nervosität, der eigenen guten
Laune, dem eigenen Zorn oder dem eigenen Wollen hat.
Wenn jemand aus Nervosität, ohne es zu merken, mit den Fingern
auf den Tisch trommelt und sich dessen nachträglich bewusst wird,
versteht er das Geschehen als seine Handlung, als etwas, dessen Ur-
sprung in ihm lag. Er hat zwar keine direkte Kausalitätserfahrung,
er hat die Verursachung der Bewegung durch seine Nervosität nicht
direkt erfahren oder gespürt, trotzdem ist er sich sicher, dass sie die
Ursache war, und deshalb sieht er sich als Akteur: ich habe es getan.
Dem Aktivitätsbewusstsein geht offensichtlich in diesem wie auch in
allen anderen Fällen bereits ein Ichbewusstsein voraus. Der Anfang,
so denkt man, liegt in mir.
Der größeren Ichhaftigkeit der Handlungen, die man tut, weil
man sie tun will, entspricht ein sehr viel deutlicheres Aktivitätsbe-
wusstsein. Wenn ich zum Bahnhof gehe, um nach Zürich zu fahren,
bin ich mir bewusst, dass ich das will und dass sich dieses Wollen
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56 §  2  Die Lokalisierung des Anfangs

aus anderen Wünschen, die ich habe, ableitet. Was ich tue, hat eine
breitere mentale Vorgeschichte, zu ihr gehören auch bereits verschie-
dene Handlungen, deren ich mir als meiner Aktivitäten bewusst bin.
Es kann also für mich kein Zweifel daran bestehen, dass der Anfang
der Bewegung in mir liegt und ich die Handlung initiiere und steuere.
Ein volleres Bild des Aktivitätsbewusstseins ergibt sich, wenn
man weitere Aspekte von Handlungen, die man tut, weil man sie tun
will, heranzieht. So steht man hinter einer solchen Handlung. Sie ist
etwas von einem Gewolltes. Sie ist einem nicht äußerlich. Auch dies
steht einem vor Augen. Besonders wichtig ist der Aspekt der Kon-
trolle. Wir delegieren, wie wir sahen, unsere Handlungen an sub-
personale Mechanismen, und falls eine Handlung anders verläuft als
gewollt, steuern wir nach, wir greifen ein und bringen das Gesche-
hen wieder in die Spur des Wollens. Diese Erfahrung des Eingreifens
vermittelt stark den Eindruck der Aktivität. Indem wir eingreifen,
verändern wir etwas, was ohne diesen Eingriff anders verliefe. Wir
sind es, so sind wir uns bewusst, die bestimmen, was geschieht, wir
steuern und kontrollieren das Geschehen – durch unser Wollen und
am Maßstab des Wollens.
Das gilt nicht nur für das Wie, sondern auch für das Ob des Han-
delns. Auch hier gibt es Spielräume und Zonen des Anders-Könnens.
Es steht uns frei, das eine wie auch das andere zu tun. All dessen ist
man sich bewusst. Und damit ist man sich erneut bewusst: ich be-
stimme, durch mein Wollen, was geschieht. Ich bestimme, welche
der mir offen stehenden Optionen ich ergreife. Es ist völlig rich-
tig, die Handlung und den Handelnden unter diesen Bedingungen
»frei« zu nennen. »A free agent«, so schreibt Hobbes, »is he that
can do if he will, and forbear if he will.«25 Die Überzeugung, dass
man frei ist in dem, was man tut, wird auf diese Weise zu einem Teil
des Aktivitätsbewusstseins. Diese Verbindung von Aktivitäts- und
Freiheitsbewusstsein bildet ohne Zweifel eines der mächtigsten Ele-
mente unseres Selbstverständnisses.
In diesem Kontext ist es interessant, dass es zu den frühen Er-
fahrungen eines kleinen Kindes gehört, dass es Dinge gibt, die sich
nicht nach dem eigenen Wollen richten und die es deshalb nicht
beeinflussen kann, und andere Dinge, so die Bewegungen der eige-
nen Arme und Hände, auf die es Einfluss hat. Es lernt, dass es die

25 Th. Hobbes: Of Liberty and Necessity. The English Works, ed. W. Mo-
lesworth, vol. IV (London 1840), 229–278, 275.
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5.  Aktivität und Aktivitätsbewusstsein 57

kleine Glocke, die über seinem Platz hängt, zum Klingen bringen
kann, wenn es das Band, an dem sie hängt, mit der Hand bewegt.
Und dass es dazu die Hand an das Band bringen kann. Der Körper
antwortet auf das Wollen und wird als solcher erfahren. Manches
geschieht, so also schon die frühe Erfahrung, durch mich. Ich selbst
setze es in Gang.26 Auch in diesem frühen Stadium setzt das Aktivi-
tätsbewusstsein bereits ein wie immer geartetes rudimentäres Ichbe-
wusstsein voraus. Es kann sein, dass die beschriebene frühkindliche
Erfahrung selbst eine von mehreren Quellen des Ichbewusstseins ist,
so dass erst, wenn dieses Ichbewusstsein entstanden ist, auch von
einem Aktivitätsbewusstsein gesprochen werden kann.
Sich bewusst zu sein, dass man etwas tut, weil man es tun will,
heißt wiederum nicht, dass man die Verursachung selbst in irgend-
einer Weise erlebt. Es ist unklar, ob es überhaupt eine genuine Er-
fahrung der Verursachung gibt. Ich nehme an, dass es sie nicht gibt.
Aber selbst wenn, könnte man im Falle einer durch ein Wollen ver-
ursachten Handlung nicht davon sprechen. Dafür ist viel zu unklar,
wessen wir uns genau bewusst sind, wenn wir uns eines Wollens
bewusst sind. Mein Wunsch, eine Freundin in der Oper zu treffen,
hat keine phänomenalen Qualitäten wie ein Schmerz oder ein Un-
wohlsein oder wie Durst. Ich fühle nicht, dass ich den Wunsch habe.
Dennoch bin ich mir, wenn ich zum Bahnhof gehe, sicher, dass die
Bewegung durch mich geschieht, dass ihr Anfang in mir liegt und
dass ich sie tue, weil ich sie tun will.
Man muss aufpassen, nicht zu viel in das Aktivitätsbewusstsein
hineinzuinterpretieren und ihm Inhalte zuzuschreiben, die es nicht
hat. Das Aktivitätsbewusstsein ist für unsere Art des Lebens es-
sentiell, aber es bleibt vage, und das ist nichts, was uns im Alltag
stört. Man muss auch sehen, dass das Phänomen selbst, die Ver-
ursachung einer Handlung durch uns, keineswegs aus sich selbst
durchsichtig ist. Dafür wissen wir viel zu wenig darüber, was genau
geschieht. – Manche meinen, man erfahre eine gewollte Handlung
nicht als durch einen mentalen Zustand, eben durch ein Wollen,
verursacht, sondern als durch einen selbst verursacht.27 Der Unter-

26 Vgl. hierzu J. Piaget: Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde (Stuttgart
1974; frz. Neuchâtel 1950), 214–227; N. Nelkin: Consciousness and the Ori-
gins of Thought (Cambridge 1996), 256–262; J. L. Bermúdez: The Paradox
of Self-Consciousness (Cambridge, Mass. 1998), 259–263.
27 So z. B. T. Horgan: Injecting the Phenomenology of Agency into the Free
Will Debate. Oxford Studies in Agency and Responsibility 3 (2015), 34–61, 35 f.
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58 §  2  Die Lokalisierung des Anfangs

scheidung »durch mein Wollen« versus »durch mich« wird in die-


ser Beschreibung des Aktivitätsbewusstseins erhebliches Gewicht
beigelegt. Wenn man dem unbefangen begegnet, noch ohne etwas
über die Hintergründe dieses Manövers zu wissen, kann man diese
Unterscheidung nur überraschend finden. Man fragt sich, was es
damit auf sich hat. Zumindest aus zwei Gründen scheint eine solche
Ausdeutung des Aktivitätsbewusstseins wenig überzeugend zu sein.
Zum einen sind wir uns in vielen Fällen ohne Zweifel bewusst, dass
wir etwas tun, weil wir es tun wollen. Das kann niemand bestreiten.
Doch dabei setzen wir das »durch mein Wollen« keineswegs von
einem »durch mich« kontrastiv ab. Und zweitens: Wie merkwür-
dig ist diese Unterscheidung selbst? Wenn ich weiß, dass ich etwas
tue, weil ich es tun will, die Handlung also dadurch, dass ich sie
will, verursacht wird, dann weiß ich, dass sie durch mich verursacht
wird. Es ist mein Wollen, das die Bewegung verursacht, und deshalb
bin ich es, der sie verursacht. Es ist unbegründet, mein Wollen und
mich zu dissoziieren und das Wollen vom Ich abzulösen. Tatsäch-
lich hat das Wollen eine besondere Ichhaftigkeit. Wir haben schon
gesehen, dass eine Handlung dadurch, dass ich sie will, für mich
eine Bedeutung gewinnt und es etwas für mich Positives ist, wenn
es gelingt, sie zu realisieren, und etwas für mich Negatives, wenn
es nicht gelingt. Und es ist etwas für mich Positives oder Negatives
eben dadurch, dass ich die Handlung will. Das Wollen ist nicht eine
von mir abgelöste »Kraft« in mir.
Zudem grenzen wir, wie oben bereits anfangshaft entwickelt, ein
Ich im engeren Sinn von einem Ich im weiteren Sinn ab.28 Dieses
engere Ich hat seine Substanz und seine Inhalte durch das, was man
will. Wir definieren uns, so habe ich gesagt, in bestimmter Weise
durch unser Wollen. Deshalb bedeutet, dass etwas durch mein
Wollen geschieht, dass es durch mich geschieht. Auch aus diesem
Grunde ist es nicht überzeugend, hier eine Dissoziation vorzuneh-
men und eine entsprechende Entgegensetzung in das Bewusstsein
der Aktivität hineinzutragen.
Noch ein Gedanke: Was soll dieses vom Wollen abgelöste Ich
sein? Und was sind die Ressourcen dieses Ichs, aus denen heraus
es gerade diese Handlung und nicht eine andere verursacht? Die
Ressource scheint doch zu sein, dass ich diese Handlung will und
die andere nicht.

28 Vgl. oben S.  37 f. und eingehender dann Kapitel 3.


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5.  Aktivität und Aktivitätsbewusstsein 59

Hinter der Annahme, das Aktivitätsbewusstsein beinhalte die


Erfahrung, dass wir selbst und nicht unsere mentalen Zustände die
Ursache unserer Handlungen sind, steht eine bestimmte Idee, die
Idee der Akteurskausalität. Sie, so glaubt man, erfahre eine Unter-
stützung durch das Aktivitätsbewusstsein.29 Wenn wir (und viel-
leicht auch andere Lebewesen) handeln, so die Vorstellung, kommt
eine besondere Art von Kausalität, eine Kausalität sui generis zum
Zuge, die wir ansonsten aus der Natur nicht kennen. Nicht mentale
Zustände seien die Ursache unserer Handlungen, sondern ein Ich,
ein Akteur als »Substanz«. Diese Akteurskausalität wird also als eine
zweite, nur bei handelnden Wesen zu findende Kausalität neben der
sonstigen »normalen« Kausalität verstanden. Dabei handelt es sich
jedoch, wie ich meine, um eine philosophisch unplausible und em-
pirisch unfassliche Konstruktion, um ein bloßes Postulat. Es resul-
tiert aus Schwierigkeiten, die man mit der grundlegenden Einsicht
Hobbes’, Humes und Darwins hat, dass die Menschen selbst Teil der
Natur und der kausalen Welt sind und nicht etwas daneben oder da-
rüber. Die Vertreter der Akteurskausalität teilen diese Einsicht nicht,
sondern entziehen sich ihr durch die Erfindung einer besonderen
Kausalität. Es ist hier nicht nötig, das im einzelnen zu diskutieren.
Es kommt hier nur darauf an, dass das Aktivitätsbewusstsein, wie
es jeder Mensch hat, natürlich die Vorstellung enthält, man selbst
sei der Urheber seiner Handlungen, dass es aber bestimmt nicht
differenziert zwischen einem Ich, das seine Handlungen durch sein
Wollen verursacht, und einem Ich, das dies, abgelöst von seinen men-
talen Zuständen, als »Substanz« tut. Wer im Aktivitätsbewusstsein
eine Stütze für die Annahme der Akteurskausalität sieht, trägt kon-
troverse theoretische Vorannahmen in die Interpretation des Akti-
vitätsbewusstseins hinein. Er trägt das hinein, was er dann – hoch-
erfreut – in ihm entdecken wird.
Wenn ich eine Handlung tue und mir bewusst bin, dass ich sie tue,
weil ich sie tun will, erfahre ich sie auch nicht, so eine andere An-
nahme, als eine zufällig zu dem Wollen passende Körperbewegung
(»fortuitously appropriate bodily motion«).30 Das scheint mir eben-

29 Vgl. hierzu Horgan, Injecting the Phenomenology of Agency, 36 und


auch M. Nida-Rümelin: Active Animals and Human Freedom, in: W. Frei-
tag et al. (Hg.): Von Rang und Namen. Philosophical Essays in Honour of
W. Spohn (Münster 2016), 339–378, 354.
30 So Horgan, ebd. 35.
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60 §  2  Die Lokalisierung des Anfangs

falls eine tendenziöse Beschreibung zu sein. Ich verstehe sie vielmehr


als eine von mir gewollte und durch das Wollen verursachte Hand-
lung und damit als eine Handlung, die ich initiiert habe und in ih-
rem Verlauf kontrolliere, auch wenn ich die Verursachung durch das
Wollen nicht direkt erfahre. Ich verstehe sie so, weil ich weiß, dass
ich diese Handlung tun will, weil ich weiß, dass dieses Wollen, wie
jedes andere auch, ein motivierender, also kausal wirkender Zustand
ist oder, anders ausgedrückt, weil ich weiß, dass ich ein durch mein
Wollen Handlungen verursachendes Wesen bin, und weil außerdem
nichts darauf hindeutet, dass die Bewegung von außen verursacht
ist. Sie kommt von innen, und das genaue Woher ist mein Wollen.
Immer wieder wird hervorgehoben, dass es ein wesentlicher
­Aspekt des Bewusstseins eigener Aktivität, zumindest bei gewollten
Handlungen, sei, dass man sich im Handeln als frei erfahre – frei in
dem Sinne, dass bei einem selbst liege, ob man die jeweilige Hand-
lung tut oder sie nicht tut. Man erfahre sich als jemand, der auch
anders handeln könnte.31 Das entspricht dem, was zuvor über das
Aktivitätsbewusstsein und – nicht bei allen, aber bei vielen unserer
Handlungen – seine Verbindung mit dem Bewusstsein des Freiseins
gesagt wurde. Man ist sich bewusst, dass man in einer Zone des An-
ders-Könnens agiert und es einem frei steht, so, aber auch anders zu
handeln. Fraglich ist allerdings, ob man das auf Grund einer Erfah-
rung, von so etwas wie einem genuinen Freiheitserlebnis weiß oder
auf Grund eines Wissens über die Umstände des Handelns.
Stellen wir uns folgende zwei Fälle vor. Im ersten ist mein Wol-
len die causa sine qua non einer Handlung. Ich tue sie, weil ich
sie tun will, und wenn ich sie nicht tun wollte, würde ich sie nicht
tun. Im anderen Fall ist mein Wollen zwar die causa der Handlung,
aber nicht die causa sine qua non. Ich tue sie, weil ich sie tun will,
aber wenn ich sie nicht tun wollte, würde ich sie, etwa infolge ei-
nes Zwangs, dennoch tun. Würde sich dieser Unterschied in unter-
schiedlichen Erlebnissen der Aktivität spiegeln, oder ist er mir auf
Grund meines Wissens über die Umstände meines Handelns be-
wusst? Mir scheint, dies letzte ist richtig. Ich bin mir bewusst, dass
ich im einen Fall anders kann und im anderen nicht, weil ich über

31 Vgl. Horgan, ebd. 36 oder auch G. D. Caruso: Free Will and Conscious-
ness (Lanham 2012), 89: »… my feeling of up-to-me-ness is directly connec-
ted to my feeling of being able to have done otherwise.«
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5.  Aktivität und Aktivitätsbewusstsein 61

die Umstände meines Handelns Bescheid weiß. Was sollte ein davon
abgelöstes Freiheitserlebnis sein?
Man verfehlt die Tatsachen ganz, wenn man das Freisein mit
einer unverursachten Verursachung assoziiert und annimmt, Teil
des Aktivitätsbewusstseins sei die Erfahrung, dass am Anfang un-
serer Handlungen eine solche unverursachte Ursache stehe. Auch
das wird behauptet.32 Das scheint mir jedoch eine krasse Fehlbe-
schreibung zu sein. Wenn ich jetzt zum Bahnhof gehe, weil ich
nach Zürich fahren will und ich mir der Vorgeschichte der Hand-
lung bewusst bin, der verschiedenen Wünsche, der vorangegangenen
Abwägungen und Überlegungen, dann stoße ich in dieser Vorge-
schichte nicht auf eine unverursachte Ursache. Normalerweise bin
ich mir wohl nicht mehr bewusst als etwa der Vorgeschichte, wie
ich sie beschrieben habe. Und ich frage nicht weiter zurück, nach
der Genese der einschlägigen Wünsche, warum mir in der Abwä-
gung dieser A­ spekt so wichtig und jener weniger wichtig erschien,
etc. Und wenn ich es doch tue, stoße ich auf entferntere Elemente
in der Genese der Handlung, und schon bald wird sich die weitere
Vorgeschichte im Dunkeln verlieren. Es ist gewiss so, dass ich mir
meiner Wünsche und der sonstigen Zustände und Aktivitäten im
Vorfeld einer Handlung nicht als notwendiger Resultate einer deter-
ministischen Kausalkette bewusst bin, aber es ist ein non sequitur,
daraus zu schließen, ich erführe die mentalen Elemente als unver-
ursacht. Mit diesen Alternativen wird eine Distinktheit an das Akti-
vitätsbewusstsein heran­getragen und in es hineininterpretiert, die es
nicht hat. Das Bewusstsein des eigenen Aktivseins enthält in dieser
Hinsicht nichts, es ist frei von philosophischen Theorien. Wenn je-
mand glaubt, man könne, dass eine Handlung durch mich geschieht
und dass ich stattdessen anders hätte handeln können, nur erklären,
wenn man eine unverursachte Ursache annehme, ist das das Ergebnis
einer kon­struk­tiven philosophischen Theoriebildung, aber nicht der
Inhalt des Aktivitätsbewusstseins.
Wie schon gesagt, ist alles, was im Vorangegangenen über das
Aktivsein dargelegt wurde, mit der Annahme einer kausalen Welt
und auch mit der Annahme einer deterministischen Welt vereinbar.
Aktiv zu sein und etwas zu beginnen, ist nichts, was aus der kausalen
Welt herausfällt. Und dasselbe gilt auch für das Aktivitätsbewusst-
sein. Es enthält nichts, was mit der deterministischen Annahme oder

32 Vgl. zum Beispiel Caruso, Free Will and Consciousness, 5, 88, 179 ff.
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62 §  2  Die Lokalisierung des Anfangs

mit der Annahme einer kausalen Welt kollidiert. Man stößt in dem
Bewusstsein seines eigenen Aktivseins nicht auf ein »magic self«, das
unverursacht etwas verursacht.33
Oft wird, auch von Philosophen, aber vor allem von Psychologen
und Neurowissenschaftlern, angenommen, das Aktivitätsbewusst-
sein enthalte mehr, als die Wirklichkeit halten könne. Der »sense of
agency« spiegele nicht die Realität, er sei vielmehr die Quelle davon,
dass wir uns fortwährend falsch verstehen und die Ergebnisse der
Wissenschaften nicht an uns heranlassen. Das Aktivitätsbewusstsein
bringe uns dazu, uns als Wesen zu sehen, die unverursacht etwas in
Gang setzen, die über eine Freiheit verfügen, die mit den Gesetzen
der Kausalität nicht vereinbar ist, und die deshalb außerhalb der
kausalen Ordnung stehen. All diese Vorstellungen seien aber illu-
sionär. Wenn man in dieser Weise dualistische und kontra-kausale
Theoriestücke in das Aktivitätsbewusstsein hineinliest, ist es nicht
verwunderlich, dass man anschließend zu der Diagnose kommt, es
sei die Quelle von hartnäckigen Illusionen. Doch in Wirklichkeit
enthält das Bewusstsein unseres Aktivseins diese von außen heran­
getragenen Elemente nicht. Es hat einfach nicht die Distinktheit,
die es dafür haben müsste. Es enthält keine Theorie. Alle diese Vor-
stellungen von unverursachten Ursachen und einer kontra-kausalen
Freiheit sind Konzepte, wie sie innerhalb von Theorien entwickelt
werden. All dies sind Möbel aus dem Salon der Theorien, aber nicht
die Inhalte des Bewusstseins davon, dass die Anfänge unserer Hand-
lungen in uns liegen und dass deshalb, was geschieht, durch uns
geschieht. Wir erfahren uns nicht als unverursachte Ursachen, als
Besitzer einer inkompatibilistischen Freiheit und als außerhalb der
kausalen Welt stehend.
Wir haben, so meine ich, keinen Grund, das Aktivitätsbewusst-
sein, wie es jedermann hat, für illusionär zu halten. Es entspricht
vielmehr den objektiven Fakten des menschlichen Aktivseins. Das
schließt nicht aus, dass wir uns in einzelnen Fällen für Akteure hal-
ten, ohne es zu sein. Und es schließt auch nicht aus, dass man uns

33 Vgl. D. M. Wegner: Self is Magic, in: J. Baer et al. (eds.): Are We Free?
Psychology and Free Will (Oxford 2008), 226–247. Wegner setzt in seinen
Überlegungen voraus, dass wir auf Grund der Art, wie wir unsere Hand-
lungen erfahren, glauben, wir seien »uncaused causes« unseres Verhaltens
(p. 226). Oder wie er auch, etwas vorsichtiger, sagt, es sei eine Tendenz des
Menschen, »one’s own causal influence as supernatural« zu sehen (p. 228).
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5.  Aktivität und Aktivitätsbewusstsein 63

durch manipulative Eingriffe dahin bringen kann, zu glauben, wir


seien es, die etwas in Gang setzen, ohne dass es so ist. Beides ändert
aber nichts an der allgemeinen Feststellung.
Das größte Einfallstor für stark theoriegeladene Ausdeutungen
des Aktivitätsbewusstseins ist gewiss das Bewusstsein der Freiheit
bei gewollten Handlungen, das Bewusstsein also, dass wir, je nach
unserem Wollen, so, aber auch anders handeln können. Doch dieses
Bewusstsein bezieht sich, wie schon erläutert, auf die Umstände des
Handelns inklusive der eigenen Fähigkeiten. Wir sind frei, so, aber
auch anders zu handeln, weil die Umstände beides zulassen. Eben
deshalb hängt es an unserem Wollen. Häufig wird die Situation, dass
man so, aber auch anders handeln kann, allerdings anders ausgelegt.
Man nimmt an, dass, was geschieht, nicht am Wollen hängt, son-
dern an einer bestimmten vorgeschalteten Aktivität, einer Entschei-
dung. Man trifft, so die Vorstellung, eine Entscheidung zwischen
den verschiedenen offenen Optionen und kann in der konkreten
Situation in diese wie auch in eine andere Richtung gehen. Diese
Vorstellung ist ein weiterer Katalysator für die geschilderten Aus-
deutungen des Aktivitätsbewusstseins. Eine solche Entscheidung, so
glaubt man, könne nicht Teil der kausalen Welt sein, und deshalb
erfahre man sich in dem Bewusstsein, eine Entscheidung zu treffen,
als außerhalb dieser Welt stehend. Wir werden (in Kapitel 5) sehen,
dass ein solches Verständnis der Entscheidung wiederum aus theo­
retischen Konstruktionen resultiert und nicht Teil des Aktivitäts-
bewusstseins ist.
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§3
Das Ich und das Wollen

»Dies liegt im letzten Grunde daran, dass des Men-


schen Wille sein eigentliches Selbst, der wahre Kern
seines Wesens ist …«
A. Schopenhauer, Preisschrift über die Freiheit
des Willens, 539

In diesem Kapitel wird es darum gehen, die Verbindung von Ich


und Wollen weiter freizulegen. Wir definieren uns, so wurde ge-
sagt, in einer bestimmten Weise durch unser Wollen. In einem sehr
wichtigen Sinne sind wir, was wir wollen. Die Handlungen, die aus
unserem Wollen kommen, sind prototypisch unsere Handlungen,
in ihnen vollziehen wir eine aus uns kommende, selbstbestimmte
Aktivität. Dass wir aus all dem, was eine Person ist und ausmacht,
speziell das Wollen heraustrennen und gerade hierdurch bestimmen,
was wir sind, stellt ein fundamentales Faktum unserer Existenzweise
dar, das der genaueren Untersuchung bedarf.
Das Zueinander von Ich und Wollen näher zu untersuchen, ist
auch deshalb nötig, weil der Annahme einer derart engen Verbin-
dung entgegenzustehen scheint, dass uns nicht nur eine eigene
Handlung, sondern auch ein eigenes Wollen äußerlich sein kann.
Man kann offenbar ein eigenes Wollen nicht gut finden, etwas kann
einen daran stören. Was bedeutet das für die Bindung des Wollens
ans Ich?
Schließlich ist eine solche Untersuchung wünschenswert, weil
bedeutende und bis heute äußerst einflussreiche Traditionen des
europäischen Denkens genau in die andere Richtung gehen. Die
europäische Philosophie ist tief geprägt von der Externalisierung
und Abwertung des Wollens. Nicht die Assoziation von Ich und
Wollen, sondern deren Dissoziation und Separation bestimmen das
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66 §  3  Das Ich und das Wollen

Bild. Man kann zwei Traditionslinien unterscheiden, eine radikale


und eine gemäßigte. Die radikale, von Platon, vor allem dem Platon
des Phaidon ausgehende und von Kant erneuerte und verstärkte
Linie nimmt an, das Wollen sei grundsätzlich, einfach weil es ein
Wollen ist, etwas uns Fremdes und Äußerliches. Durch unser Wol-
len, unsere Neigungen und Antriebe sind wir, so die Vorstellung, an
die Natur gekettet, an etwas, über das wir nicht verfügen. Wenn das
Wollen Einfluss auf unser Handeln gewinnt, bedeutet das deshalb
Heteronomie und Versklavung. Wir sinken auf das Niveau des Ani-
malischen hinab und agieren nicht mehr auf der Höhe der menschli-
chen Existenz. Man versinkt gewissermaßen in der Natur und folgt
nur ihrem »Gängelband«. »… etwas zu begehren …, ist schon«, so
hat Kant in einer typisch platonischen Formulierung gesagt, »eine
Krankheit der Seele.«1 Deshalb müsse es der Wunsch eines jeden
vernünftigen Wesens sein, von allen »Neigungen« »gänzlich … frei
zu sein«.2 Das »eigentliche Selbst« liegt woanders, ihm sind unsere
Neigungen und Antriebe äußerlich.
Die gemäßigte Tradition nimmt nicht an, dass uns jedes Wollen,
einfach weil es ein Wollen ist, fremd ist, nur bestimmte unserer Wün-
sche sind uns auf Grund spezieller Eigenschaften äußerlich.
Ich werde zunächst die radikale Auffassung behandeln. In Der
Vorrang des Wollens habe ich sie bereits eingehend kritisiert.3 Wo­
rauf es hier ankommt, ist eine möglichst grundsätzliche Klärung der
Verbindung von Ich und Wollen. Sie soll zeigen, dass die prinzipielle
Dissoziation von Wollen und Ich ein schwerer Fehlschlag ist und
die Existenzweise der Menschen grundlegend verkennt. Die sich
anschließende Diskussion der gemäßigten Tradition wird folgenden
Fragen nachgehen: Wodurch können uns bestimmte eigene Wünsche
äußerlich sein? Wodurch kommt es zu einer Distanz zum eigenen
Wollen? Und was ist das für ein Ich, das in Distanz zum eigenen
Wollen steht? Wodurch ist es bestimmt?

1 I. Kant: Vorlesungen über Anthropologie, Friedländer (1775/76) (Nach-


schrift), AA XXV/2, 1339.
2 I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 428. Vgl. auch
Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 118.
3 Vf., Der Vorrang des Wollens, § 8.
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1.  Die besondere Ichhaftigkeit des Wollens 67

1. Die besondere Ichhaftigkeit des Wollens –


Wider die prinzipielle Enteignung des Wollens

Die platonisch-kantische Tradition der Enteignung und Abwer-


tung des Wollens ist ungebrochen bis in die gegenwärtige Philo-
sophie wirksam. Es ist vor allem Harry Frankfurt, der diese Linie,
wenn auch mit einer charakteristischen Modifikation, aktualisiert
hat.4 Frankfurt steht nicht allein, er repräsentiert mit seinen basalen
Ausgangsannahmen, der Externalisierung des Wollens und der Ent-
gegensetzung des »Wollens in mir« und des eigenen Ichs, eine breite
Strömung in der Philosophie der Gegenwart. Unsere Wünsche er-
scheinen in ihrer Sicht als Kräfte, die zufälligerweise und gleichsam
subjektlos in uns vorhanden sind, von Natur und Umständen in uns
hineingebracht, als, wie Frankfurt sagt5, »psychisches Rohmaterial«,
das eine höhere Instanz, das eigentliche Selbst, erst einmal daraufhin
durchmustern muss, was davon zu gebrauchen ist, was man sich an-
eignen und ins Ich hineinziehen kann und was man fernhalten und
endgültig ausschließen muss. Oder unsere Wünsche erscheinen, wie
bei Christine Korsgaard, als »Vorschläge«, bei denen man, wie man
es bei Vorschlägen tut, die andere einem machen, erst einmal über-
legen muss, wie man sich dazu stellt, ob man einen Grund hat, sie
aufzugreifen und sich zu eigen zu machen oder ob man sich nicht
davon bestimmen lässt.6 Die eigenen Wünsche sind auch hier nicht
mehr als anonyme »Impulse« in mir, etwas, was man in sich hat, mit
dem man aber, solange es nicht von höherer Stelle approbiert wird,
nichts zu tun hat.7 Oder die eigenen Wünsche erscheinen, wie bei
Roderick Chisholm, gar als Kräfte, die, wenn sie mein Handeln be-
stimmen, dies tun wie eine fremde Person, die in mich hineingreift

4 Vgl. hierzu ebd. 202–205.


5 H. G. Frankfurt: Identification and Wholeheartedness (1987), in H. G.  F.:
The Importance of What We Care About (Cambridge 1988), 159–176, 170;
dt. Identifikation und ungeteilter Wille, in: H. G. F.: Freiheit und Selbstbe-
stimmung (Berlin 2001), 116–137, 130. H. G. Frankfurt: Autonomy, Neces-
sity, and Love (1994), in: H. G.  F.: Necessity, Volition, and Love (Cambridge
1999), 129–142, 137; dt. Autonomie, Nötigung und Liebe, in: H. G.  F.: Frei-
heit und Selbstbestimmung (Berlin 2001), 166–183, 177; Frankfurt, Taking
Ourselves Seriously, 5 f., 7, 10; dt. 20, 22, 24.
6 Chr. M. Korsgaard: Self-Constitution (Oxford 2009), 116, 119.
7 Chr. M. Korsgaard: The Sources of Normativity (Cambridge 1996), 92 f.;
Korsgaard, Self-Constitution, 72.
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68 §  3  Das Ich und das Wollen

und zum Beispiel meine Finger gegen den Abzug eines Gewehrs
drückt.8 Nicht ich bin es, der handelt, das Wollen in mir verursacht,
wie eine fremde Person in mir, das, was ich tue. Man sieht, wieweit
die Externalisierung des Wollens und die Abtrennung des Wollens
in mir von meinem eigenen Ich gehen kann.
Sind Aussagen so abstrus wie die von Chisholm, deutet das da-
rauf hin, dass der Druck im Kessel der Theoriebildung sehr hoch
ist. Es mögen verschiedene Ängste sein, die den Druck erzeugen,
das eigene Wollen zu externalisieren und von dem, was man ist, zu
separieren. Eine zentrale Rolle spielt die Angst, dass die Menschen
und ihre Handlungen vollständig in ein naturhaftes, kausales Ge-
schehen aufgehen und nicht mehr sind als ein kleiner, unbedeutender
Teil im universalen kausalen Kräftespiel. Es bliebe dann, so fürch-
tet man, nichts anderes, als die Vorstellung eigener Aktivität und
Selbststeuerung als bloße Illusionen zu verabschieden. Man kann
nicht leugnen, dass Wünsche wie andere mentale Zustände, ganz so
wie es Hobbes und Hume gesehen haben, kausale Faktoren unter
anderen kausalen Faktoren sind. Deshalb der Impuls, das eigene Ich
aus diesem kausalen Geschehen herauszuziehen, um dem Menschen
auf diese Weise, der vermeintlich einzig möglichen, eine Position zu
sichern, die seine Selbstbehauptung als aktives, aus sich selbst han-
delndes Wesen erlaubt.
Es ist nicht schwer zu sehen, was in diesen Theorien beiseite ge-
schoben wird: dass mein Wollen nicht eine subjektlos in mir vorhan-
dene Kraft ist, sondern tatsächlich mein Wollen. Ich bin es, der will.
Das Wollen ist nicht ohne dieses Ich, es vagabundiert nicht unge-
bunden in mir herum, und es ist auch nicht eine fremde, selbständig
agierende Person in mir. Gewiss, die genannten Autoren würden
einräumen, dass das Wollen in einem bestimmten Sinne meins ist,
insofern nämlich, als es in mir, etwas in meiner Person ist. Und in-
sofern sei es auch nicht subjektlos. Aber damit ist die Verbindung
des Wollens zum Ich entscheidend unterbestimmt. Mein Wollen ist
nicht nur in der Weise meins, in der meine Leber oder meine Haare
meine sind. Und es ist auch nicht nur in der Weise meins, in der
meine Meinungen oder meine Gedanken meine sind.
Versuchen wir, uns das in drei Argumentationsgängen klarzu-
machen:

8 R. M. Chisholm: Freedom and Action, in: K. Lehrer et al. (eds.): Freedom


and Determinism (New York 1966), 11–44, 12 f.
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1.  Die besondere Ichhaftigkeit des Wollens 69

1.  Wenn es gelingt, etwas Gewolltes zu realisieren, ist mir das, wie
wir schon sahen, angenehm, es berührt mich positiv. Wenn es nicht
gelingt, ist das frustrierend und unangenehm. In diesen Empfindun-
gen äußert sich, dass eine Handlung dadurch, dass ich sie will, für
mich Bedeutung gewinnt. Sie wird für mich wichtig. Darin offenbart
sich eine besondere Verbindung des Wollens mit dem eigenen Ich.
Etwas zu wollen, bedeutet, dass etwas für mich wichtig ist, dass et-
was für mich positiv oder negativ ist. Zum Wollen gehört wesensmä-
ßig dieser Rückbezug auf die eigene Person, dieser durch das Wollen
selbst entstehende Kontext des Für-mich oder, anders ausgedrückt,
diese Form der Reflexivität. Sie gibt dem Wollen eine, so habe ich
schon gesagt, besondere Ichhaftigkeit, wie sie das Meinen und an-
dere mentale Zustände nicht haben. Diese Ichhaftigkeit geht über die
Ichhaftigkeit hinaus, die das Wollen, weil es immer das Wollen von
jemandem ist, mit allen anderen mentalen Zuständen teilt. Ich nenne
sie, um einen Namen zu haben, reflexive Ichhaftigkeit.
Stellen wir uns vor, ich bin in einem mentalen Zustand, der mich
dazu bringt, etwas zu tun. Aber dass ich es tue, ist mir gleichgültig.
Es berührt mich nicht. Und es würde mich auch nicht negativ be-
rühren, wenn ich, was ich da tue, nicht tun würde. Das Ganze läuft
in mir ab, ohne mich zu berühren, ohne mich zu betreffen, ohne
mir wichtig zu sein. In diesem Fall wäre der mentale Zustand, in
dem ich bin und der das Geschehen in Gang setzt, kein Wollen. Er
wäre etwas ganz anderes. Ihm fehlt die beschriebene weitergehende
Bindung an die eigene Person, also die reflexive Ichhaftigkeit. Die
Rückstufung des Wollens zu etwas in oder an mir und die Reduktion
seiner Ichhaftigkeit auf die Zugehörigkeit zu jemandem ist gerade
unmöglich. Wenn ich etwas will, macht es mir etwas aus, ob das
Gewollte dann auch geschieht oder nicht. Das Wollen und das Mir-
etwas-Ausmachen gehen notwendigerweise zusammen. Man kann
aber niemals sagen: Etwas macht mir etwas aus, aber das ist etwas
Fremdes in mir. Und deshalb kann man auch nicht sagen: Ich will
etwas, aber das ist etwas Fremdes in mir.
Diese Überlegung lässt noch einmal erkennen, wie unsinnig die
Vorstellung ist, dass etwas, wenn es durch mein Wollen geschieht,
nicht durch mich geschieht. Das Wollen und das eigene Ich sind
inseparabel miteinander verbunden, und das Wollen kann dem Ich
nicht enteignet werden. Es gehört auf eine besondere Weise zu mir.
Das gilt für jedes Wollen, gleich welcher Art. Dadurch, dass es ein
Wollen ist, hat es diese besondere Ichhaftigkeit.
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70 §  3  Das Ich und das Wollen

2.  Das zeigt sich auch an einem anderen Phänomen, das schon be-
sprochen wurde. Wenn ich etwas tue, weil ich es tun will, stehe ich
durch mein Wollen hinter der Handlung. Ich stehe hinter ihr, weil
sie durch mein Wollen geschieht. Wo das Wollen, da das Ich. Wenn
ich etwas tue, weil ich nervös bin, stehe ich hingegen nicht hinter
der Handlung. Sie kommt aus mir, aber sie ist mir, weil sie nicht ge-
wollt ist, äußerlich.
Damit tritt etwas Entscheidendes hervor. Wir heben, ich habe es
schon erwähnt9, von dem Ich im Sinne der Person ein engeres Ich
ab, ein Ich, das durch unser Wollen definiert ist. Dieses Ich ist eine
Person, sofern sie will. Es hängt viel daran, diese Ausgrenzung eines
engeren Ichs genau zu verstehen. Das Ich im Sinne der Person ist
eine Person mit allem, was zu dieser Person gehört, inklusive ihres
Wollens. Eine Person, so verstanden, kann etwas tun, weil sie es tun
will, sie kann aber auch etwas aus Nervosität oder anderen nicht-
volitiven Ursachen tun. Allerdings empfindet sie, wenn sie etwas
aus Nervosität tut und nicht, weil sie es will, die Handlung als ihr
äußerlich, eben weil sie sie nicht will und es ihr passiert, dass sie sie
tut. Das Ich, auf das sich dieses »ihr äußerlich« bezieht, kann nicht
das Ich im Sinne der Person sein, durch die die Handlung geschieht,
es ist das Ich der Person, allein sofern sie will. Ihr ist die Handlung
äußerlich. Wir schneiden damit aus allem, was zu der Person gehört,
speziell das Wollen heraus und beziehen uns auch auf diese exklusiv
durch ihr Wollen bestimmte Person mit »ich«, jetzt in einem ande-
ren, eben in diesem Sinne. Wir verwenden »ich«, »mir«, »mich« also
keineswegs univok, sondern in verschiedenen Bedeutungen. Und
wir wechseln mühelos, ohne uns dessen bewusst zu sein, zwischen
diesen – weiteren und engeren – Bedeutungen hin und her.
Das Verhältnis des Ichs im Sinne der Person und des Ichs im enge­
ren Sinne ist das eines Ganzen zu einem Teil. Die Person, sofern sie
etwas will, ist ein Teil der Person mit allem, was zu ihr gehört. Des-
halb wäre es falsch, zu meinen, das Ich im engeren Sinn sei nichts
Reales, sondern nur ein Gedankending. Das ist nicht der Fall. Das
Ich im Sinne der Person ist etwas Reales, und ein Teil von ihr ist dann
auch etwas Reales. Nur dass dieser Teil nicht für sich allein existiert,
sondern nur als Teil des Ganzen. Diese Abtrennung des Teils vom
Ganzen, aber nur diese, ist bloß eine gedankliche Operation.

9 Siehe § 2, S.  37 f.


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1.  Die besondere Ichhaftigkeit des Wollens 71

Das engere Ich ist durch das Wollen definiert. Das Wollen gibt
ihm seine Substanz und Inhalte, ja, es gibt ihm überhaupt erst seine
Existenz. Wenn wir aufhören würden, etwas zu wollen, gäbe es auch
dieses Ich nicht mehr. Am Wollen bemisst sich also nicht nur, was
für mich von Belang ist, es definiert auch das Ich im engeren Sinn.
Es definiert, was ich in einem wichtigen Sinn bin. Deshalb kann man
sagen: Wo das Wollen, da das Ich im engeren Sinne, und wo das Wol-
len nicht, da auch dieses Ich nicht.
Warum grenzen wir das engere Ich des Wollens aus? Es drängt
uns offenbar ungemein stark dahin, Handlungen, die wir tun, weil
wir sie wollen, und Handlungen, die aus uns, aber nicht aus unse-
rem Wollen kommen, zu unterscheiden. Erstere geschehen im vol-
len Sinne durch uns, letztere geschehen auch durch uns, aber auch
nicht durch uns, sie geschehen nicht durch uns im engeren Sinn.
Die Gleichsetzung von »durch mein Wollen« und »durch mich« ist
für uns von zentraler Bedeutung, und deshalb grenzen wir das en-
gere Ich des Wollens aus. Hierin äußert sich erneut, wie stark wir
das Wollen an das eigene Ich binden. Wir stoßen damit auf einen
zweiten Aspekt der besonderen Ichhaftigkeit des Wollens. Sprechen
wir, um auch dafür einen Namen zu haben, von der definitorischen
Ichhaftigkeit.
Man könnte den Verdacht haben, hier werde zu viel Emphase auf
ein wenig bedeutsames, ja im Grunde belangloses Phänomen gelegt.
Selbstverständlich kann man, so der Einwand, ein Ich, das durch
das Wollen definiert ist, von dem Ich der Person abheben. Aber das
könnte man genauso auch mit anderen mentalen Zuständen machen.
Man kann ein Ich, das durch das, was man meint, definiert ist, von
dem Ich der Person abstrahieren und dann sagen, wo eine Meinung,
da auch dieses Ich im engeren Sinne, und wo keine Meinung, da auch
dieses Ich nicht. Und dann müsste man auch von einer besonderen
Ichhaftigkeit des Meinens sprechen. Ähnliche Ausgrenzungen eines
engeren Ichs könnte man mit anderen mentalen Zuständen wieder-
holen, und dann würde sich die angebliche Besonderheit dieser Art
von Ichhaftigkeit schnell verflüchtigen. Das Ganze wirke deshalb
wie ein Taschenspielertrick.
Der Einwand macht deutlich, dass die Ausgrenzung des engeren
Ichs das Ergebnis einer Abstraktionsleistung ist, die wir vornehmen.
Aber einen entscheidenden Sachverhalt berührt er gar nicht. Wir
könnten, so sagt er, ein Ich des Meinens ausgrenzen. Ja, wir könn-
ten es, aber wir tun es nicht. Beim Wollen hingegen tun wir es. Und
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72 §  3  Das Ich und das Wollen

das ist nicht eine Flause, wir tun es aus einer tiefen Notwendigkeit.
Das führt zum dritten Argumentationsgang.

3.  Wie kommt es zu der Sonderstellung des Wollens und seiner spe-
zifischen Ichhaftigkeit? Was die reflexive Ichhaftigkeit angeht, muss
man sagen: Es ist einfach so, dass unser Wollen bedeutet, dass uns
bestimmte Dinge positiv oder negativ berühren und für uns wich-
tig sind, und dass durch unser Wollen festgelegt wird, was uns po-
sitiv und negativ berührt und was für uns wichtig ist. Das liegt in
der Natur des Wollens. Das Wollen hat, ohne unser Zutun, diese
Ichhaftigkeit. Und warum grenzen wir, nun unsererseits, zusätz-
lich ein Ich aus, das allein durch das Wollen definiert ist? Warum
dieses spezielle Ich neben dem Ich der Person? Warum liegt uns so
an dem Unterschied zwischen Handlungen, die aus uns, aber nicht
aus unserem Wollen kommen, und Handlungen, die wir tun, weil
wir sie tun wollen, und warum nennen wir jene uns äußerlich und
trennen sie damit von einem engeren Ich ab? Warum ist das von so
grundsätzlicher Bedeutung?
Ich hatte schon erwähnt, dass es zu den frühesten Erfahrungen
eines kleinen Kindes gehört, dass es Dinge gibt, die einfach gesche-
hen, wie auch immer es dazu kommt, und andere Dinge, auf die es
Einfluss hat, die geschehen, weil es das will. So kann es die eigenen
Arme und Beine bewegen, wenn es das will. Es kann mit seiner Hand
eine Faust machen und die Hand wieder öffnen. Und es kann die
kleine Glocke über seinem Platz zum Klingen bringen, indem es
das Band, an dem sie hängt, mit der Hand in Bewegung setzt. Diese
Erfahrung der eigenen Handlungsmacht ist für das Kind offenbar
faszinierend. Es freut sich daran und wiederholt deshalb viele Male
die Handlungen, zu denen es fähig ist. Die Welt erweist sich in dieser
Erfahrung als ein Platz, in dem nicht alles einfach geschieht, in den
man vielmehr hineinwirken kann. Und es erfährt sich als ein aktives
Wesen, nicht bloß als ein Wesen, das passiv, beobachtend, riechend,
hörend, fühlend hinnimmt, was um es herum geschieht. Es kann
etwas bewirken, etwas zu der Welt hinzutun. Das ist eine ganz und
gar elementare Erfahrung.10
Diese Erfahrung setzt, wie schon gesagt, ein rudimentäres Ichbe-
wusstsein voraus. Und sie setzt in einer wie immer gearteten Vor-
form ein Bewusstsein des eigenen Wollens voraus. Das Kind wird

10 Vgl. hierzu Kane, The Significance of Free Will, 93.


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1.  Die besondere Ichhaftigkeit des Wollens 73

noch lange nicht fähig sein, einen mentalen Zustand als solchen
begrifflich zu erfassen. Aber es will etwas, das ist eine davon un-
abhängige Tatsache, und diese Tatsache schiebt sich in irgendeiner
Form in sein Bewusstsein hinein. Deshalb erfährt es sich als jemand,
der durch eigene Kraft: weil er es will, etwas in Bewegung setzen
kann. Ich – oder das, worauf sich das Kind später mit »ich«, »mir«
etc. beziehen wird –, Wollen und eigenes Tun sind unlösbar mit-
einander verbunden. Wenn das Kind etwas »durch sich« tut, heißt
das in seiner Welt »durch sein Wollen«. Und das »durch etwas an-
deres« bedeutet »ohne sein Wollen«. Das Ich ist da, wo das Wol-
len ist. Es steht beim Wollen. Erst sehr viel später lernt es, dass es
Dinge gibt, die, obwohl es sie nicht will, dennoch aus der eigenen
Person kommen.
Man kann sagen, die Ausgrenzung eines ausschließlich durch das
Wollen bestimmten Ichs hat den Effekt, die Unterscheidung: von in-
nen / von außen, die, wie wir sahen, seit der Antike für das Verständ-
nis des Aktiv- und Passivseins von so grundlegender Bedeutung ist,
im Inneren zu wiederholen. »Von innen« heißt zunächst »aus der
eigenen Person«, »von außen« heißt »von außerhalb der eigenen
Person«. Wiederholt man die Unterscheidung im Inneren, gibt es
in der Person selbst ein »von innen« und ein »von außen«. Wenn
ich aus Nervosität mit den Fingern auf den Tisch trommele, kommt
das aus meiner Person, in diesem Sinne von innen, aber nicht aus
meinem Wollen, und deshalb ist es mir äußerlich. Es kommt, relativ
auf das Ich des Wollens, von außen.
Nach dem, was über die frühkindliche Entwicklung gesagt wurde,
liegt es nahe, zu vermuten, dass die genetische Entwicklung tatsäch-
lich andersherum verläuft: dass wir zunächst eine scharfe Unter-
scheidung machen zwischen dem, was aus unserem Wollen kommt,
und dem, was anderen Quellen, was immer diese seien, entspringt.
»Von innen« heißt dann exklusiv: »durch mein Wollen«. Und dass
man erst später lernt, dass ein Teil dessen, was man bisher als von
außen kommend wahrnahm, aus der eigenen Person, wenn auch
nicht aus dem eigenen Wollen, kommt. Man würde demnach nicht
entdecken, dass es im Inneren auch etwas Äußeres gibt, sondern dass
es im Äußeren auch etwas Inneres gibt. – Wie immer man sich das
im einzelnen zurechtlegen mag, es bleibt dabei, dass die originäre
Vorstellung die ist, dass dann etwas durch mich geschieht, wenn es
durch mein Wollen geschieht. Das Ich steht beim Wollen. Und das
eine ist vom anderen nicht ablösbar.
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74 §  3  Das Ich und das Wollen

Dass die Ausgrenzung des engeren, durch das Wollen definierten


Ichs nicht arbiträr ist, sondern durch die Sache diktiert, demonstriert
auch folgendes Gedankenexperiment: Nehmen wir an, wir machten
es anders und grenzten ein engeres Ich aus, das exklusiv durch un-
sere nervösen Zustände definiert ist. Wenn ich dann etwas tue, weil
ich es will, und nicht aus Nervosität, müssten wir sagen, relativ auf
dieses Ich ist mir diese Handlung fremd und äußerlich. Sie kommt
aus mir, aber sie ist mir fremd. Das liefe darauf hinaus, dass gerade
die Handlungen in besonderem Sinne meine sind, die mir nichts be-
deuten, bei denen mir gleichgültig ist, ob sie geschehen oder nicht
geschehen, die mich, wenn sie geschehen, nicht positiv, und wenn sie
nicht geschehen, nicht negativ berühren. Es wären außerdem Hand-
lungen, bei denen ich keine Kontrolle über ihren Verlauf habe, die
ich nicht steuere. Wie aber sollen Handlungen, denen diese Ichhaf-
tigkeit abgeht, gerade die Handlungen sein, die im besonderen Sinne
meine sind? Das geht nicht. Das wäre in sich widersprüchlich. Das
zeigt, nochmal, dass das Ich beim Wollen steht. Und dass dies kein
willkürliches Arrangement ist, sondern eine Notwendigkeit unserer
Existenz. Sie gründet in der Natur des Wollens oder, anders formu-
liert, darin, dass wir Wesen sind, die etwas wollen. Man kann auch
sagen: Die definitorische Ichhaftigkeit des Wollens folgt notwendig
aus ihrer reflexiven Ichhaftigkeit.11
Es sei noch ein weiterer im jetzigen Kontext aufschlussreicher
Aspekt des Wollens angesprochen. Wenn ich aus Nervosität mit den
Fingern auf den Tisch trommele, vielleicht ohne es zu bemerken,
kann ich mich, wenn mich jemand darauf aufmerksam macht und
darauf, dass es störend ist, damit entschuldigen, dass ich es nicht ge-
wollt habe, dass es mir passiert ist. Wenn ich etwas getan habe, weil
ich es gewollt habe, und das andere gestört hat, kann ich mich nicht,
oder zumindest nicht so, entschuldigen. Was ich getan habe, wird

11
Man kann darauf hinweisen, dass mich eine Handlung, die ich tue, weil
ich nervös bin, gegebenenfalls stören und mich deshalb negativ berühren
kann oder mir in besonderen Umständen vielleicht sogar willkommen sein
kann. Aber das ändert nichts. Denn in diesen Fällen resultiert das negative
oder positive Betroffensein offensichtlich aus einem hinzukommenden Wol-
len, aber eben nicht aus der tatsächlichen Ursache der Handlung. Wenn mich
eine Handlung stört, dann relativ auf ein Wollen, und wenn sie mir, obwohl
nicht durch ein Wollen verursacht, willkommen ist, dann, weil sie einem
Wollen entspricht. Dieser Hinweis bestätigt also nur, dass allein das Wollen
das »für mich« begründet.
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1.  Die besondere Ichhaftigkeit des Wollens 75

mir, eben weil ich es gewollt habe, in besonderer Weise zugerechnet.


Darin spiegelt sich wiederum, dass das Ich beim Wollen steht. Durch
das Wollen stehe ich hinter dem, was ich getan habe.
In all dem liegt, dass die besondere Ichhaftigkeit, die Handlun-
gen, die man tut, weil man sie tun will, auszeichnet, sich aus der
besonderen Ichhaftigkeit des Wollens ableitet. Nur weil das Wollen
unlösbar mit dem Ich verbunden ist, bedeutet, dass eine Handlung
einem Wollen entspringt, dass sie im vollen Sinne durch mich ge-
schieht. Nur weil das Wollen diese besondere Ichhaftigkeit hat, fal-
len das »durch mein Wollen« und das »durch mich« uneingeschränkt
zusammen.
Die vorgetragenen Überlegungen und Argumente zeigen, so
meine ich, sehr deutlich, dass die prinzipielle Enteignung des Wol-
lens ein Irrweg ist, ein Irrweg, auf dem bis heute viele Philosophen
in der Tradition Platons und Kants sind. In Wahrheit ist das Wol-
len nicht vom Ich ablösbar. Vielmehr besitzt es dadurch, dass es ein
Wollen ist, gerade eine besondere Ichhaftigkeit.
Mit den vorangegangenen Überlegungen tritt noch etwas ande-
res deutlich zutage: Dass die Vorstellung, wenn alles, was geschieht,
und deshalb auch unsere Handlungen Effekte von Ursachen und
weiteren, früheren Ursachen sind, könnten wir nur unbeteiligte
Zuschauer eines Geschehens sein, das ohne unsere Beteiligung in
uns abläuft, völlig an der Seinsweise der Menschen vorbeigeht. Es
handelt sich dabei nur um ein Schreckgespenst. Die Menschen sind,
wie bereits gesehen, durch ihre innere Konstitution und ihre men-
tale Verfassung an den kausalen Prozessen, die zu ihren Handlun-
gen führen, beteiligt. Sie sind Teil des kausalen Geschehens, es läuft
nicht einfach durch sie hindurch. Jetzt sehen wir, dass diese Vor-
stellung vor allem deswegen scheitert, weil sie nicht versteht, was es
bedeutet, dass wir Lebewesen sind, die etwas wollen. Das, was wir
tun, weil wir es tun wollen, geschieht durch uns. Wo das Wollen,
da das Ich.

Man kommt, was die Externalisierung des Wollens angeht, zu kei-


nem anderen Ergebnis, wenn man die Sache von der anderen Seite
aus untersucht und fragt, was, wenn das Wollen als insgesamt extern
verstanden wird, eigentlich das Ich sein soll, relativ auf das es uns
äußerlich ist. Was ist dieses Ich, das dem Wollen gegenübersteht und
ihm enthoben ist? Ein Vernunft-Ich, das, um zu der für das Handeln
unabdingbaren volitiven Substanz zu kommen, das Wollen, das in
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76 §  3  Das Ich und das Wollen

der jeweiligen Person subjektlos vorhanden ist, auf gut und schlecht
hin prüft und es im positiven Fall in das Ich hineinlässt und es sich
aneignet und im negativen Fall endgültig verwirft und expropriiert?
Doch was sind die Ressourcen, die es befähigen, wollensunabhängig,
vor allem eigenen Wollen diese Prüfung vorzunehmen? In drei Vari-
anten wurde diese Idee eines Vernunft-Ichs entfaltet: Die erste geht
davon aus, dass es einen Gott gibt und dass, was seinem Wollen ent-
spricht, gut ist und, was seinem Wollen zuwiderläuft, schlecht. Die
Vernunft vermag zu erkennen, was in dieser Weise gut und schlecht
ist, und kann anhand dieses vom menschlichen Wollen unabhängi-
gen Standards das Wollen als gut und schlecht beurteilen. Wir kön-
nen dann das Wollen, das auf etwas Gutes geht, approbieren, und
das, das auf etwas Schlechtes aus ist, verwerfen. Das Ich ist in die-
ser Konzeption eine ausschließlich kognitive Instanz ohne eigene
Ressourcen. Die Standards kommen von außen, man muss sie nur
erkennen. Doch diese Vorstellung eines Vernunft-Ichs scheitert aus
naheliegenden Gründen. Wir haben, wie ich annehme, keine aus-
reichenden Evidenzen für die hier gemachten religiösen Annahmen.
Und selbst wenn man für wahr halten wollte, dass es einen Gott gibt
und dass er von der Art einer Person ist, woher will man wissen, was
er will und was er nicht will? Das sind unlösbare Probleme. Man
verliert sich hier in Konstrukte und Projektionen.
Die zweite Theorievariante entgeht diesen Schwierigkeiten. Sie
glaubt auch, die Vernunft erkenne, oder konkreter: wir erkennten,
was gut und schlecht, wünschenswert und meidenswert ist, versteht
das Gut- und Schlechtsein aber anders. Diese Eigenschaften sind
nicht auf ein göttliches Wollen relativ, vielmehr inhärieren sie objek-
tiv, wollensunabhängig, bestimmten Dingen. Dass Dinge gut oder
schlecht sind, ist, so die Vorstellung, Teil der von uns unabhängigen
Wirklichkeit. Auch in diesem Fall kommen die Standards, an denen
das menschliche Wollen gemessen wird, also von außen, man muss
sie nicht mitbringen, sondern nur erkennen, was sie sind. Das Ich
hat so wenig wie in der ersten Theorie einen eigenen Gehalt, eine
Substanz, auf Grund deren ihm etwas äußerlich sein könnte. Es fin-
det diese Substanz in den von ihm unabhängigen evaluativen Ge­
gebenheiten, die ihm kognitiv zugänglich sind. Doch wie wir keine
ausreichenden Gründe haben, ein göttliches Wollen anzunehmen,
so haben wir auch keine Gründe, anzunehmen, dass es so etwas
wie ein ontologisch objektives Gut- und Schlechtsein gibt. Die Welt,
wie sie unabhängig von uns ist, enthält keine evaluativen Elemente.
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1.  Die besondere Ichhaftigkeit des Wollens 77

Und deshalb kann es keine Leistung der Vernunft sein, das Wollen
anhand von Standards dieser Art zu beurteilen. Etwas ist immer in
Bezug auf ein Wollen gut oder schlecht. Gut ist, was in der einen
oder anderen Weise einem Wollen entspricht. Erst ist das Wollen,
dann, davon abhängig, das Gut- und Schlechtsein. Auch diese zweite
Konzeption eines bloß kognitiven Vernunft-Ichs scheitert also.
Die dritte Konzeption eines Vernunft-Ichs ist die kantische. Kant
versucht das Unmögliche. Das Wollen ist dem Ich äußerlich. Und
es darf, wollen die Menschen nicht heteronom agieren, das Han-
deln nur bestimmen, wenn es besondere Bedingungen erfüllt. Doch
Kant lehnt die Vorstellung ab, dass uns, was gut und schlecht ist,
durch Gott vorgegeben wird, und er lehnt genauso ab, dass es uns
die von uns unabhängige Realität vorgibt. Doch woher hat das Ich
dann den Standard, an dem es das Wollen misst? Nicht von außen,
aber auch nicht aus eigenen volitiven Quellen. Denn es ist von allem
Wollen abgelöst. Bloße Kognition und bloßes, vom Wollen abgelös-
tes Überlegen vermögen aber keine Kriterien zu generieren, die ein
Wollen erfüllen muss, damit es handlungsleitend werden darf. Kants
Vernunft-Ich, abgelöst sowohl von äußeren Vorgegebenheiten wie
auch von eigenen volitiven Ressourcen, hat keine Substanz, die es
ihm erlaubte, die ihm zugedachte Aufgabe zu erfüllen. Wir haben
es mit einer philosophischen Erfindung zu tun. Ein Vernunft-Ich
dieser Art kann es, so meine ich, nicht geben.
Was aber soll das Ich, dem das Wollen äußerlich ist, dann sein?
Soll es nicht wie die Vernunft eine kognitive Instanz sein, sondern,
das ist die Modifikation, die Frankfurt vornimmt, selbst eine volitive
Instanz? So dass das Wollen daraufhin geprüft wird, ob es durch ein
jetzt höherstufiges Wollen gewollt und deshalb akzeptiert und ins
Ich hineingezogen wird oder ob es nicht gewollt und deshalb defi-
nitiv verbannt wird. Dieser Schritt, weg vom Vernunft-Ich zu einem
selbst mit volitiven Ressourcen ausgestatteten Ich, leuchtet im Rah-
men der Festlegungen, in denen diese Theoriebildung erfolgt, ein.
Denn wenn die Standards für die Akzeptabilität eines Teils der we-
sensmäßig externen Wünsche nicht von außen kommen, müssen sie
von innen, das heißt aus dem Ich selbst kommen. Und dafür bedarf
es einer Ressource, die selbst nur volitiv sein kann. Ein bloß kogniti-
ves Ich verfügt über eine solche Ressource, wie gesehen, nicht. Doch
dieses höherstufige Wollen, das damit ins Spiel kommt, ist, anders als
Frankfurt glaubt, keine vom normalen Wollen unabhängige Instanz,
die ihm gegenüber eine autochthone Position beanspruchen kann.
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78 §  3  Das Ich und das Wollen

Wie wir erst im Folgenden sehen werden, ist das höherstufige Wol-
len immer aus einem normalen Wollen abgeleitet und tatsächlich nur
dessen Fortsetzung in einer speziellen Applikation. Deshalb haben
wir es nicht mit einer eigenen und unabhängigen höheren volitiven
Instanz dem »normalen« Wollen gegenüber zu tun, sondern, genauer
betrachtet, mit einem Konflikt eines Wollens mit einem anderen
Wollen auf der gleichen Stufe. Auch diese unabhängige volitive In-
stanz höherer Stufe ist eine Chimäre.
Auch von dieser Seite aus – was ist das Ich, dem das Wollen äußer­
lich ist? – erweist sich die Tradition der Externalisierung und Ab-
wertung des Wollens als unhaltbar. Sie kann nicht nur die grund-
sätzliche Externalität des Wollens nicht plausibel machen. Sie hat,
so scheint es, auch keine überzeugende Vorstellung davon, was das
vom Wollen losgelöste Ich sein könnte. Wir können die Theorie
zurückweisen.

2.  Wünsche, die man nicht will

Ist die Vorstellung der gemäßigten Tradition, dass uns nur bestimmte
unserer Wünsche auf Grund spezieller Eigenschaften äußerlich sind,
plausibler? Wahrscheinlich ist man versucht, diese Frage zu beja-
hen, wie es große Teile der zeitgenössischen Philosophie tun. Aber
wie kann uns ein Wollen äußerlich sein, wenn das wahr ist, was so-
eben über die äußerst enge Verbindung des Wollens und des eigenen
Ichs gesagt wurde? Und was sind die Eigenschaften, die bestimmte
Wünsche uns äußerlich machen? Und was kann das Ich sein, dem
sie äußerlich sind?
Die Vorstellung, dass bestimmte unserer Wünsche problematisch
sind und wir nicht wollen, dass sie handlungsleitend werden, dass es
uns vielleicht sogar lieber wäre, sie gar nicht zu haben, gehört zu den
vertrauten Theorieelementen in der Geschichte des europäischen
Denkens. So ist es in der christlichen Vorstellungswelt eine selbst-
verständliche Annahme, dass es ein sündiges Wollen gibt, dessen
Realisierung die Menschen von Gott entfernt. Ein solches Wollen
stört, es zieht einen in eine Richtung, in die man nicht will. Denn
man ist bestrebt, Gott nahe zu kommen und ein gottgefälliges Leben
zu führen. Es gibt verschiedene Wünsche dieser Art, der paradigma-
tische Fall aber sind die sexuellen Wünsche, sei es generell oder in
bestimmten Ausprägungen oder Umständen.
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2.  Wünsche, die man nicht will 79

Die Ablehnung eigener Wünsche hängt allerdings nicht an reli-


giösen Prämissen. Auch außerhalb dieses Rahmens stören uns be-
stimmte Wünsche, wir wollen nicht, dass sie handlungsleitend wer-
den, oder zögen es vor, sie gar nicht zu haben. Dass uns Wünsche
stören, setzt immer, das muss man sich bewusst machen, ein anderes
Wollen voraus. Uns stört etwas, wenn es einem Wollen zuwiderläuft.
Eigene Wünsche stören uns also relativ auf ein anderes, uns fragloses
Wollen. Ein Wollen, für sich genommen, kann uns niemals stören.
Wir gehen immer von einem anderen Wollen aus zu einem eigenen
Wunsch auf Distanz.
Es gibt eine Reihe von Eigenschaften, die uns an einem Wollen
stören können. Ein Wunsch kann kognitiv defizient sein, er kann
moralisch bedenklich sein, er kann eine Genese haben, die einem
nicht gefällt. Oder er kann suchthaft oder zwanghaft sein. Betrach-
ten wir zwei Beispiele.
Angenommen, ein Mann ist stark von dem Wunsch bestimmt,
immer und überall der Erste zu sein. Das ist, wie ihm nach und
nach klar wird, eine Erbschaft seines Vaters, der ihm diesen Wunsch
schon in frühester Kindheit eingepflanzt hat. Der Mann kommt im-
mer mehr dahin, sein Verhalten und das dahinter liegende Wollen
kritisch zu sehen. Dieses Streben fängt an, ihn zu stören, er möchte
nicht mehr so sein, er möchte sich nicht mehr von einem solchen
eingeimpften Wollen bestimmen lassen, er will in Zukunft so selbst-
bestimmt wie möglich leben. Dies impliziert, dass er das Bestreben,
immer der Beste zu sein, los sein will. Er will diesen Wunsch nicht.
Ganz ähnlich im zweiten Beispiel. Eine junge Frau will Cellistin
werden. Sie hat allerdings wenig Vorstellungen davon, wie der Be-
ruf und der Lebensalltag einer Cellistin aussehen, und sie hat auch
keine realistischen Vorstellungen davon, was sie auf diesem Feld
leisten und erreichen kann. Ihr Wollen ist kognitiv defizient. Und
tatsächlich dauert es nicht lange, bis ihr das aufgeht. Die Aufnahme-
prüfung an der Hochschule hat sie noch knapp geschafft, aber schon
bald wird ihr klar, dass ihr Wunsch auf einer kindlichen Träumerei
beruht und nicht auf einigermaßen zutreffenden Vorstellungen von
dem, was auf sie zukommen würde. Die Frau will aber nicht aus-
sichtslosen Wünschen nachjagen. Das führte unweigerlich zu Frus-
trationen und einem Gefühl des Scheiterns, und das möchte sie sich
ersparen. Auch in diesem Fall leitet sich die Ablehnung des eigenen
Wollens, weil es unrealistisch ist, von einem anderen Wollen ab, dem
Wunsch, sich Enttäuschungen und vergebliche Mühen zu ersparen.
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80 §  3  Das Ich und das Wollen

Beide Beispiele zeigen, dass uns eigene Wünsche stören kön-


nen. Und sie zeigen auch, dass sich das höherstufige, negativ auf
einen eigenen Wunsch gerichtete Wollen einem anderen, maßgeb-
lichen Wollen verdankt, und zwar einem Wollen erster Stufe. Der
Mann will selbstbestimmt leben, und das schließt ein, dass ihm sein
von a­ ußen eingepflanzter Wunsch, immer der Erste zu sein, pro-
blematisch wird. Der höherstufige Wunsch ist nichts anderes als
der Wunsch erster Stufe in einer speziellen Anwendung. Genauso
im anderen Fall: Die Frau will sich unnötige Frustrationen und ein
Scheitern nach jahrelangen Anstrengungen ersparen, und deshalb
will sie sich von dem Wunsch, Cellistin zu werden, nicht weiter
bestimmen lassen. Auch hier leitet sich der höherstufige Wunsch
von einem maßgeblichen Wollen erster Stufe ab. Die höherstufigen
Wünsche sind also in beiden Fällen nicht autochthon, es handelt sich
um derivative Wünsche.12
In beiden Beispielen, das sei auch festgehalten, betrifft der Makel
nicht den Inhalt des Wollens, sondern seinen Modus. Der Wunsch,
immer der Erste zu sein, ist nicht problematisch, weil er diesen Inhalt
hat, sondern wegen seines Modus, von außen aufgedrückt zu sein.
Deshalb will der Mann ihn nicht. Aber man kann den Wunsch zwei-
fellos auch auf andere Weise haben – so, dass er mit dem Wunsch,
selbstbestimmt zu leben, ohne weiteres zusammenpasst. Auch der
Wunsch der Frau ist nicht problematisch, weil er zum Inhalt hat,
Cellistin zu werden, sondern weil er kognitiv defizient und unre-
alistisch ist. Offenkundig kann man auch gut informiert über die
Ausbildung, den Beruf wie auch über seine eigenen Leistungsmög-
lichkeiten Cellistin werden wollen. Auch in diesem Fall stört nicht
der Inhalt, sondern der Modus des Wollens.
Es ist wichtig, hervorzuheben, dass sich die volitionale Konfi-
guration in diesen Fällen deutlich von der in einem gewöhnlichen
Wollenskonflikt unterscheidet. Denn in einem Wollenskonflikt wird
normalerweise keiner der beiden konkurrierenden Wünsche proble-
matisch, beide Wünsche sind in Inhalt und Modus in Ordnung. Sie
lassen sich nur nicht beide, das ist das Problem, realisieren. Greifen

12 Diese Abhängigkeit des höherstufigen Wollens hat Anna Kusser in ihrer


Frankfurt-Kritik deutlich herausgearbeitet; vgl. ihren Aufsatz: Zwei-Stufen-
Theorie und praktische Überlegung, in: M. Betzler / B. Guckes (Hg.): Auto-
nomes Handeln. Beiträge zur Philosophie von H. G. Frankfurt (Berlin 2000),
85–99; siehe auch Vf., Der Vorrang des Wollens, 208–211.
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2.  Wünsche, die man nicht will 81

wir, um das zu erläutern, noch einmal das Beispiel auf, in dem ich
am Abend eine längst fällige Arbeit fertigstellen will, zugleich aber
auch in die Oper gehen und dort, wie versprochen, eine Freundin
treffen möchte. Nur eines von beidem lässt sich an diesem Abend
realisieren. In der Abwägung kristallisiert sich heraus, dass es mir
wichtiger ist, in der Oper zu sein und mein Versprechen zu halten.
Dies ist mein Wunsch unter dem Strich, den ich dann auch in die
Tat umsetze. Es gelingt mir also, meine Wünsche zu koordinieren
und entsprechend zu handeln. Es wäre nun abwegig, anzunehmen,
daraus, dass ich unter dem Strich in die Oper will, resultiere der hö-
herstufige Wunsch, den Wunsch, die fällige Arbeit fertigzustellen,
nicht zu haben. An diesem Wunsch ist nichts problematisch, und
an ihm wird auch dadurch nichts problematisch, dass er sich im
Konflikt mit dem anderen Wunsch als der schwächere erweist. Ich
gehe zu dem Wunsch nicht auf Distanz, es ist ohne Reserve mein
Wunsch, es ist nur ein anderer Wunsch stärker als er. Deshalb kommt
er nicht zum Zuge.
Auch der Wunsch, der schwächere Wunsch möge nicht hand-
lungsleitend werden, hat hier keinen Ort, weil, dass er handlungs-
leitend wird, nachdem ich entschieden habe, in die Oper zu fahren,
gar nicht mehr zur Debatte steht. Es ist klar, dass er nicht zum Zuge
kommt. Hier braucht man nichts zu wollen. Man könnte dem ent-
gegenhalten, wenn ein Wollenskonflikt in der beschriebenen Weise
geklärt werde, wünsche man sich immer, dass der stärkere Wunsch
handlungsleitend wird und der schwächere eben nicht. Damit sei
man bei einem höherstufigen Wollen. Aber in Wirklichkeit kommt
ein solcher Wunsch überhaupt nicht ins Spiel. Denn wenn ich weiß,
woran mir mehr liegt, folgt nicht noch eine zweite Überlegung zu
der Frage, ob ich nun den stärkeren oder den schwächeren Wunsch
realisieren soll, – eine zweite Überlegung, in der ich mir dann klar-
mache, dass ich immer und so auch in diesem Fall den stärkeren und
nicht den schwächeren Wunsch in die Tat umsetzen will. Eine sol-
che Überlegung wäre offenkundig eine Überlegung zu viel. Wenn
ich weiß, was der stärkere Wunsch ist, realisiere ich ihn, völlig un-
abhängig von irgendeinem höherstufigen Wollen.
Im Opern-Beispiel kommt es also nicht zu einem Wollen zweiter
Stufe. Deshalb kommt es auch nicht dazu, dass mir einer der beiden
Wünsche in der beschriebenen Weise äußerlich ist. Ich bin mit bei-
den im Reinen. Und selbst wenn man – kontrafaktisch – annehmen
wollte, der Wunsch, jeweils das stärkere und nicht das schwächere
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82 §  3  Das Ich und das Wollen

Wollen zu realisieren, spiele eine Rolle, würde auch das nicht dazu
führen, mit dem schwächeren Wollen nicht im Reinen zu sein und
es irgendwie problematisch zu finden. – Es wäre, so zeigen diese
Überlegungen, falsch, zu glauben, jeder Wollenskonflikt generiere
ein höherstufiges Wollen. Und es wäre ebenfalls falsch, zu glauben,
jeder Wollenskonflikt führe dahin, einen der konfligierenden Wün-
sche zu enteignen und zu einem uns äußerlichen Wunsch zu machen.
Davon kann keine Rede sein.
Wenn wir jetzt zu den störenden Wünschen zurückkommen,
scheint es so, als müsse uns dieses Phänomen nicht besonders be-
unruhigen. Denn in beiden Beispielfällen werden das störende Wol-
len und damit auch das darauf gerichtete höherstufige Wollen schnell
verschwinden, wenn sich die beiden Personen der Sachlage bewusst
werden. Der Mann wird sich anders verhalten, und der Wunsch,
immer der Beste zu sein, wird sich verflüchtigen. Möglicherweise
fällt er gelegentlich in das alte Verhaltensmuster zurück, aber nicht
weil er es will, sondern mehr oder weniger instinktiv, aus, wie er
jetzt denkt, schlechter alter Gewohnheit. Genauso im anderen Fall.
Wenn die Frau erkennt, dass ihr Wunsch, Cellistin zu werden, un-
realistisch ist, wird sie ihn schnell begraben. In beiden Fällen ist das
problematische Wollen, zu dem die beiden auf Distanz gehen, ein
flüchtiges Phänomen. Es verschwindet, sobald ihnen klar wird, dass
sie es nicht wollen.
Dass das nicht immer so ist, lässt sich an einem anderen Beispiel
illustrieren. Nehmen wir an, jemand meint, dass die Menschen so
stark auf Reputation, Anerkennung und sozialen Status aus sind, sei
ein evolutionäres Erbe aus einer Zeit, in der sie noch in Stämmen
zusammenlebten und die Anerkennung in der Gruppe für ihr Über-
leben von elementarer Bedeutung war. Dieses Wollen sei, so glaubt
die Person, überholt, es sei funktionslos geworden, weil wir heute
anders leben und es auf andere Dinge ankommt. Und deshalb stört
es sie, sie will nicht, dass das, was sie tut, funktionslos ins Leere läuft.
Doch diese Ablehnung wird das Wollen nicht zum Verschwinden
bringen. Das Streben nach Anerkennung ist zu tief verwurzelt, als
dass es gelingen könnte, es im Zuge dieser Einsicht (unterstellt, es
sei eine) abzuwerfen. In diesem Fall verflüchtigt sich das störende
Wollen also nicht.
Das wird sich bestätigen, wenn wir jetzt zu dem wichtigsten Ty-
pus des problematischen Wollens kommen, dem rebellischen Wollen.
Für ein Wollen dieser Art ist es charakteristisch, dass es sich in einer
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2.  Wünsche, die man nicht will 83

Situation, in der man mehreres will und deshalb überlegen muss,


was man am stärksten will, als das schwächere Wollen erweist, dass
es diese Rolle aber nicht annimmt, sondern versucht, an der Über­
legung vorbei dennoch handlungsleitend zu werden. Das Wollen hat,
anders gesagt, etwas an sich, was uns dahin bringt oder zumindest in
die Gefahr bringt, gegen unser eigenes stärkeres Wollen zu handeln.
Ein solches Wollen stört uns, es stört uns, nicht anders als in anderen
Fällen, relativ auf ein anderes Wollen. Wir wollen, wenn wir mehre-
res wollen, möglichst viel von dem, was wir wollen, realisieren. Das
ist ein formales, weil von den jeweiligen Wollensinhalten ganz unab-
hängiges Wollen. Dass wir es haben, liegt in der Natur des Wollens.13
Denn etwas zu wollen, heißt, die Realität des Gewollten zu wollen.
Wenn man mehreres will, will man deshalb das Maximum des Ge-
wollten realisieren. Und daraus ergibt sich, dass wir dem Wollen
folgen wollen, das sich in der Deliberation als das stärkste erwiesen
hat. Etwas anderes zu tun, bedeutete, weniger von dem Gewollten
zu realisieren als möglich.
Um Fälle dieser Art zu analysieren, empfiehlt es sich, explizit
die üblicherweise nicht zur Geltung gebrachte Unterscheidung zwi-
schen einem Wollen über dem Strich und einem Wollen unter dem
Strich einzuführen, von der ich schon verschiedentlich Gebrauch
gemacht habe. Ein Wollen über dem Strich ist ein Wollen noch vor
der Koordination des Wollens. Wir wollen vieles, und man muss
erst noch überlegen, welcher der verschiedenen Wünsche in der je-
weiligen Situation der stärkste ist, – was ist es, was ich am meisten
will? Das Wollen, das sich in der Koordination als das stärkste her-
ausstellt, wird dadurch zum Wollen unter dem Strich. Dieses Wol-
len wird, wenn nichts dazwischenkommt, handlungsleitend. Es ist
ganz wie bei einer Rechnung: Über dem Strich stehen die Posten, die
erst noch zusammengerechnet werden müssen. Hier ist aufgelistet,
was in die Rechnung eingeht. Unter dem Strich steht dann das eine
­Resultat des Rechnens.
Ein Beispiel für ein rebellisches Wollen ist nun folgendes: Ein
Mann ist bestrebt, ein gottgefälliges Leben zu führen, und er glaubt,
die Befriedigung sexueller Wünsche sei damit zumindest für ihn
nicht vereinbar. Gott wolle das nicht. Für den Mann ist fraglos,
dass der Wunsch, Gott nahe zu kommen und ein gottgefälliges Le-

13 Vgl. zu Unterscheidung von formalen und materialen Wünschen Vf., Der


Vorrang des Wollens, 115 f.
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84 §  3  Das Ich und das Wollen

ben zu führen, der überragende Wunsch ist, das ist das Wichtigste.
Die Wünsche sind also eindeutig koordiniert. Sein Wunsch, Sex zu
haben, ist ein Wunsch über dem Strich, aber er ist in dieser Kon-
kurrenz nicht der Wunsch unter dem Strich. Unter dem Strich will
er gottgefällig leben. Dennoch gelingt es ihm nicht – oder nur mit
Mühe, sich sexueller Aktivitäten zu enthalten. Das heißt, er lässt
sich durch seine Wünsche immer wieder verführen, gegen das eigene
stärkere Wollen zu handeln, oder ist zumindest versucht, es zu tun.
Die Koordination des Wollens, seine Ordnung nach stärker und
schwächer hat nicht den selbstverständlichen und unangefochtenen
Effekt, dass er durchgängig dem Wollen unter dem Strich folgt. Es
handelt sich um eine Schwäche in der Umsetzung des Wollens un-
ter dem Strich ins Handeln. Aber diese Schwäche hat einen Grund:
eine besondere Eigenschaft des unterlegenen Wollens. Es gibt keine
Ruhe, es rebelliert und hat etwas Verführerisches. Es bringt einen
in Versuchung, doch gegen seine überlegte Präferenz zu handeln.
Wegen dieses Charakters spreche ich vom »rebellischen« Wollen. Es
erneuert den Krieg und lehnt sich, obwohl unterlegen und geschla-
gen, gegen den Sieger auf.
Die allermeisten Wünsche haben diesen rebellischen Charakter
nicht. Dennoch handelt es sich nicht um ein marginales Phänomen.
Die Philosophie hat ihm seit ihren Anfängen viel Aufmerksamkeit
geschenkt, seine Bedeutung in meinen Augen aber übertrieben und
dramatisiert. Bevor ich mit einigen knappen Bemerkungen auf un-
terschiedliche Arten des rebellischen Wollens hinweise, sei noch
festgehalten, dass in dem geschilderten Fall die störenden sexuellen
Wünsche keineswegs verschwinden, sobald man sich ihres Störens
bewusst wird. Die störenden Wünsche sind also auch in diesem Fall
kein flüchtiges, sondern ein dauerndes Phänomen.
Eine erste Art bilden die sexuellen Wünsche und einige ver-
wandte Wünsche. Augustinus hat einen Wunsch dieser Art »con-
cupiscentia« oder »libido« genannt. Sagen wir, diese Wünsche haben
einen libidinösen Charakter. Sexuelle Wünsche haben, das liegt auf
der Hand, diesen Charakter auch außerhalb eines religiösen Kon-
textes. Man braucht nicht viel Phantasie, um zu erkennen, dass es
ähnliche Konkurrenzen auch geben kann, wenn man alle articuli
fidei beiseite lässt.
Die sexuellen Wünsche haben ihren libidinösen Charakter von
Natur aus, andere Wünsche können ihn unter besonderen Umstän-
den erst annehmen. So können zum Beispiel der Wunsch nach Geld
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2.  Wünsche, die man nicht will 85

oder der Wunsch nach Macht, beides ursprünglich nur extrinsische


Wünsche, libidinöse Züge annehmen. Das Aussein auf Geld oder
Macht lässt sich dann nur noch schwer beherrschen.
Eine zweite Art rebellischer Wünsche bilden Wünsche, die aus
starken Affekten kommen. Man will sich an jemandem, der e­ inem
etwas Schlimmes angetan hat, rächen und ihn schädigen. Der
Wunsch nach Rache ist emotional so aufgeladen, dass man Gefahr
läuft, loszuschlagen, obwohl man genau weiß, dass man sehr viel
stärkere Wünsche hat, es nicht zu tun. Ganz ähnlich im Falle der
Eifersucht und anderer »heißer« Affekte – und, wer wollte das über-
sehen, in der Liebe. Man kann hier von leidenschaftlichen Wünschen
sprechen. »Bei der Leidenschaft«, so sagt Kant, »ist man nicht im
Stande, die Neigung mit der Summe aller anderen [Neigungen] – zu
vergleichen.«14
Anders liegen Fälle folgender Art: Das eigene Leben ist, so sei
angenommen, bestimmt von einem überragenden Ideal, etwa dem
Ideal, sich moralisch und darüber hinaus altruistisch zu verhalten.
Dennoch gerät man in Situationen, in denen ein eigener Vorteil lockt,
immer wieder in Versuchung, für das eine Mal eine Ausnahme zu
machen. Man ist sich klar darüber, wo die stärkeren Bataillone ste-
hen, und doch hat der Wunsch, sich »in diesem Fall«, »ausnahms-
weise« einen Vorteil auf Kosten anderer zu verschaffen, etwas Ver-
führerisches.
Dann gibt es rebellische Wünsche, die pathologischen Charak-
ter haben. Von dieser Art ist das suchthafte Wollen. In einem sol-
chen Fall gelingt es auf Grund krankhafter Fehlleistungen im Gehirn
nicht mehr, das Wollen trotz sehr viel stärkerer Gegenwünsche zu
beherrschen. An dem Wunsch, ins Casino zu gehen und zu spielen,
ist an sich nichts problematisch. Er wird erst zu einem rebellischen
Wollen, wenn es einem infolge einer Sucht nicht mehr verlässlich ge-
lingt, das, woran einem ungleich mehr liegt, nämlich seine Existenz
zu bewahren und deshalb nicht ins Casino zu gehen, auch zu tun.
Es ist kein Zufall, dass Frankfurt seine Konzeption höherstufigen
Wollens anhand von Beispielen suchthaften Wollens einführt. Denn
diese Wünsche haben, wenn auch in besonderer Form, einen rebelli-
schen Charakter. Dies ist der Grund, warum sie uns äußerlich sind,
und nicht, weil sie qua Wollen nur Rohmaterialien »in uns« sind.

14 I. Kant: Vorlesungen über Anthropologie, Mrongovius (1784/85) (Nach-


schrift), AA XXV/2, 1339.
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86 §  3  Das Ich und das Wollen

Noch zwei Bemerkungen zum rebellischen Wollen. Erstens: Es


ist auch bei diesem Wollen der Modus, nicht der Inhalt, der uns stört.
Wenn ein Wollen sich in der Konkurrenz mit einem anderen Wol-
len als das schwächere erweist und sich der Überlegung fügt, wie es
normalerweise geschieht, haben wir nichts gegen dieses Wollen. Es
ist uneingeschränkt mein Wollen und hat keinen Makel. Es kommt
nur nicht zum Zuge, weil ein anderes Wollen stärker ist. Erst der
Modus des Rebellischen macht es problematisch. Erst durch diese
Eigenschaft wird es zu einem nicht-gewollten Wollen.
Zweitens: Man kann lange darüber nachdenken, wie es kommt,
dass die Menschen mit diesem Phänomen des rebellischen Wollens
zu kämpfen haben. Warum ist es nicht so, dass wir durchgängig und
unangefochten dem jeweils stärkeren Wollen folgen, wie wir es in
den meisten Fällen tun? Warum funktionieren wir nicht in dieser
unkomplizierteren Weise? Warum gehört das gegenläufige Element
des rebellischen Wollens zu unserer Konstitution? Viele christliche
Theologen glaubten und glauben vermutlich noch immer, die Re-
bellion des Wollens sei die gerechte Strafe für den Sündenfall im
Paradies, der eine Rebellion gegen Gott war. Eine begangene Re-
bellion wird mit einer Rebellion in der eigenen Person vergolten.15
Man muss nicht sagen, dass das nicht die richtige Erklärung ist. Sie
zeigt aber immerhin, dass man glaubte, die Steuerung des mensch-
lichen Handelns könne unkomplizierter sein. So war sie ursprüng-
lich auch gedacht, erst nachträglich, zum Zwecke der Strafe wurden
Fallstricke eingebaut. Wenn dies nicht die richtige Erklärung ist, wie
dann? Ein Teil des rebellischen Wollens hat, wie wir sahen, krank-
hafte Züge. Dass sich ein in der Überlegung unterlegenes Wollen
durchsetzt, ist dann die Folge von Fehlfunktionen im Gehirn. Aber
das erklärt offenkundig nicht das ganze Phänomen. Es scheint, als
spielten zwei Dinge eine Rolle. Zum einen sind die originären libidi-
nösen Wünsche eng mit den biologischen Zwecken der Selbst- und
Arterhaltung verbunden und deshalb besonders basal. Wir müssen
um dieser Ziele willen essen, trinken, Sex haben. Darum ist es kein
Wunder, dass die Evolution uns, wie alle anderen Lebewesen auch,
mit besonders effektiven Motiven zu diesen Tätigkeiten ausgestat-

15 Vgl. Augustinus: De civitate Dei, XIV, 15, ed. B. Dombart / A. Kalb II,
437; De peccatorum meritis et remissione, XXIV, 36, ed. C. F. Urba / I. Zycha,
108; hierzu G. Bonner: Concupiscentia, in: C. Mayer (Hg): Augustinus-Lexi­
kon, vol. 1 (Basel 1986–1994), 1113–1122, 1117.
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2.  Wünsche, die man nicht will 87

tet hat. Wäre es anders, gäbe es uns und unsere Art nicht. Einen
ähnlichen Zusammenhang mit der Erhaltung der eigenen Existenz
und der Reproduktion kann man auch bei den Wünschen vermu-
ten, die durch starke Affekte getrieben werden. Der Durst nach Ra-
che hat, wie sich evolutionsbiologisch untermauern ließe, mit der
genetischen Ausrichtung auf Selbsterhaltung zu tun. Wünsche die-
ser Art haben, so könnte man es fassen, eine besondere biologische
Dringlichkeit.
Das andere ist, dass die Menschen dank ihres im Prinzip unbe-
grenzten Zukunftsbewusstseins und ihrer dementsprechenden Ima-
ginationsfähigkeit Wünsche ausbilden können, die kein anderes Le-
bewesen haben kann. Weil wir ein Bewusstsein von der Zukunft
haben, haben wir eine Vorstellung vom eigenen Leben, das wir vor
uns haben. Deshalb fragen wir uns, wie dieses Leben sein soll, wie
wir es gestalten wollen. Hier hat man Spielräume und man entwi-
ckelt mehr oder weniger bewusst, mehr oder weniger ausdrücklich
übergreifende Kriterien, Ziele und Ideale. Sie können verlangen, sich
zum Beispiel von sexuellen Wünschen nur nach bestimmten Regeln
oder in einem bestimmten Rahmen bestimmen zu lassen. Das heißt,
wir können Wünsche ausbilden, die den libidinösen Wünschen, ob-
wohl wir sie um der Selbst- und Arterhaltung willen haben und sie
tief in uns verankert sind, entgegenstehen und deren Verwirklichung
wir vorrangig finden. Das ist ein Spezifikum des menschlichen Le-
bens. Kein anderes Lebewesen kann die basalen, auf die Selbst- und
Arterhaltung zielenden Wünsche in dieser Weise relativieren. Und
doch bleibt ihnen ihr rebellischer und verführerischer Charakter
erhalten, der uns immer wieder versucht sein lässt, ihnen hier und
jetzt zu folgen, obwohl wir dies in der Summe gerade nicht wollen.

Wenn ich jetzt die zurückliegenden Überlegungen zusammenziehe,


ist das entscheidende Ergebnis, dass unsere Wünsche einen Makel
haben können und dass wir uns, wenn es so ist, in Form eines hö-
herstufigen Wollens negativ auf sie beziehen. Das bedeutet, dass uns
nicht nur eigene Handlungen, sondern auch eigene Wünsche äu-
ßerlich sein können. Die Menschen haben im Unterschied zu allen
anderen Lebewesen die Fähigkeit, sich kognitiv wie volitiv auf ihre
eigenen mentalen Zustände zu beziehen. Deshalb können sie etwas
in Bezug auf ihr eigenes Wollen wollen. Ich sage, dass uns eigene
Wünsche äußerlich sein können, mit Vorsicht, weil vorerst noch un-
klar ist, wie man diesen Befund zusammenbringen kann mit dem,
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88 §  3  Das Ich und das Wollen

was zuvor über die äußerst enge Verbindung von Wollen und Ich
gesagt wurde.
Ferner hat sich ergeben, dass ein störendes Wollen ein flüchtiges,
aber auch ein – temporär oder dauerhaft – bleibendes Phänomen
sein kann. Es ist keineswegs durchgängig so, dass es verschwindet,
sobald man sich seines Charakters bewusst geworden ist.
Und noch etwas Drittes ist festzuhalten. Wünsche können, wie
wir sahen, durch verschiedene Eigenschaften stören, aber vieles deu-
tet darauf hin, dass das größte oder sogar das eigentliche Problem
das rebellische Wollen darstellt. Das rebellische Wollen verschwin-
det nicht nur nicht, es wird sogar handlungseffektiv, zumindest
kämpft es darum. Während ein Wollen, das einen anderen Makel
hat, aber nicht rebellisch ist, auch wenn es trotz des Makels nicht
verschwindet, sondern bleibt, kaum handlungsleitend werden wird.
Das maßgebliche Wollen, von dem aus der Wunsch nicht gewollt
ist, neutralisiert oder blockiert dieses Wollen, so dass es zwar bleibt,
aber eben nicht zu einer Handlung führt.

3.  Das Ich und das unangefochtene Wollen

Der Gedankengang dieses Kapitels scheint sich gegenläufig entwi-


ckelt zu haben: Einerseits wurde gezeigt, dass wir ein engeres Ich
ausgrenzen und dass dieses Ich durch unser Wollen definiert ist. Wir
sind, was wir wollen. Und wo das Wollen, da auch das Ich. Es gibt
deshalb kein ichloses, anonymes Wollen »in uns«, sondern jeweils
nur mein Wollen. Das Wollen und das Ich sind, so wurde gesagt, in-
separabel. Andererseits kann uns offenbar ein Teil unseres Wollens
äußerlich sein, dadurch, dass es uns stört und wir es nicht wollen.
Wie aber kann uns, wenn Wollen und Ich inseparabel sind, ein eige-
nes Wollen äußerlich sein? Und erneut: Was ist dieses Ich, dem ein
eigenes Wollen äußerlich sein kann?
Zunächst ist hervorzuheben, dass auch die mit einem Makel be-
hafteten Wünsche uneingeschränkt unsere Wünsche sind. Mit ihnen
stellt man sich hinter die entsprechenden Handlungen. Das, was man
da will, bedeutet einem etwas. Deshalb berührt es einen positiv oder
negativ, wenn es gelingt oder nicht gelingt, das Gewollte zu verwirk-
lichen. Wir haben es hier zweifellos mit echten Wünschen und mit
unseren Wünschen zu tun. Das fragliche Wollen kann also nicht in
dem Sinne äußerlich sein, dass es aufhört, mein Wollen zu sein, und
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3.  Das Ich und das unangefochtene Wollen 89

stattdessen nur noch ein Wollen »in mir« ist. Das würde bedeuten,
dass es auch aufhört, überhaupt ein Wollen zu sein. Denn ein ich-
loses Wollen gibt es, wie wir sahen, nicht. Wo ein Wollen, da immer
auch das Ich. Ansonsten würde es tatsächlich zu einer bloßen Kraft
in mir herabsinken, die da ist und mich vielleicht zu etwas bewegen
kann, aber nur zu etwas, was mich nichts angeht und mir nichts be-
deutet. Es kann indessen kein Zweifel daran bestehen, dass zum Bei-
spiel sexuelle Wünsche oder ein aus einem Rachegefühl kommender
Wunsch, jemanden zu schädigen, oder suchthafte Wünsche wirkli-
che Wünsche und unsere Wünsche sind. Auf diesem Wege kommt
man also nicht zu einer Lösung. Die Lösung muss woanders liegen.
Sie liegt offenbar darin, dass wir aus dem Ich, das durch das Wol-
len definiert ist, nochmals ein spezifischeres Ich ausgrenzen, ein Ich,
das allein durch die Wünsche bestimmt wird, die verbleiben, wenn
man die problematischen, mit einem Makel behafteten Wünsche
subtrahiert. Dieses nochmals enger umgrenzte Ich ist also exklu-
siv durch die Wünsche definiert, die unangefochten oder, um ein
englisches Wort zu verwenden, »unopposed« sind. Unter ihnen
sind ­einige, die einschließen, einzelne Wünsche, die man hat, nicht
zu wollen. Von diesem Ich aus sind die ungewollten Wünsche mir
äußer­lich. Das Ich, auf das sich dieses »mir« bezieht, kann nicht das
Ich des Wollens sein, es ist die Person, sofern sie etwas unangefoch-
ten will. Man vollzieht diese Ausgrenzung eines nochmals engeren
Ichs bereits vor jeder Theorie, wenn man ein Wollen als mir äußer-
lich bezeichnet.
Dass ein Wollen unangefochten ist, bedeutet, die Formulierung
sagt es schon, nicht, positiv gewollt zu sein, sondern nur, nicht nicht
gewollt zu sein. Man hat keinen Wunsch, der einschließen würde,
dass das betreffende Wollen nicht gewollt ist. Es bedarf also nicht
einer Approbation, einer Identifikation, einer Stellungnahme oder
einer anderen Aktivität, auch nicht einer willentlichen Akzeptanz.
Das Wollen ist allein dadurch unproblematisch, dass es keinen ande-
ren Wunsch gibt, der sein Nicht-Gewolltsein einschlösse.
Bei der Ausgrenzung eines nochmals enger umgrenzten Ichs
handelt es sich offenkundig um eine kleinere Operation. Das zum
zweiten Mal engere Ich unterscheidet sich nicht sehr stark von dem
Ich des Wollens. Dieses ist bereits überwiegend durch Wünsche be-
stimmt, die unangefochten sind, und allenfalls zu einem kleinen Teil
durch problematische Wünsche. Dennoch ist die zweite Ausgren-
zung genauso unumgänglich wie die erste. Auch sie ist nicht arbiträr,
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Aug 14th 2021, 11:10

90 §  3  Das Ich und das Wollen

sondern eine Notwendigkeit. Wenn wir Wünsche haben, die es mit


sich bringen, dass uns einzelne unserer Wünsche stören, kommt es
unausweichlich zu der Ausgrenzung eines nochmals engeren Ichs.
Dieses Ich, definiert durch die unangefochtenen Wünsche, ist dann
allerdings nicht mehr weiter hintergehbar. Deshalb ist dieses Wol-
len der eigentliche und letztliche Ort des Ichs. In diesem Wollen
sind wir ganz, in nicht mehr steigerbarer Weise bei uns. Hier sind
wir, ohne jeden Vorbehalt, ohne jede Distanz, ohne jede Ambiva-
lenz, wir selbst.
Wir unterscheiden somit, ohne uns dessen bewusst zu sein, drei
Verwendungen des Wortes »ich«. Zunächst heißt »ich« »ich, und
nicht ein anderer«. In diesem Sinne ist, dass ich aus Nervosität mit
den Fingern auf den Tisch trommele, meine Handlung. Dann das
Ich des Wollens. Von diesem Ich aus ist mir das Trommeln äußerlich,
weil es nicht gewollt ist. Dann, drittens, das Ich, das allein durch das
unangefochtene Wollen bestimmt ist und von dem aus mir ein eige-
nes Wollen äußerlich sein kann.
Versuchen wir, das anhand von zwei Beispielen zu konkretisie-
ren. Jemand will am Abend ins Casino und spielen. Sein Wunsch hat
suchthaften Charakter. Wenn der Abend anbricht, geht er ins Casino,
und er steht mit seinem Wollen hinter dem, was er tut. Er sitzt nicht
apathisch am Spieltisch, sondern ist engagiert, überlegt, beobachtet,
kalkuliert, er fühlt den Kitzel des Spiels und ist glücklich, wenn er
gewinnt, und frustriert, wenn er verliert. Dennoch ist all dies nicht
ungetrübt. Er weiß, dass er auch den Wunsch hat, nicht zu spielen,
und nicht nur dies, dieser Wunsch ist, wie er ebenfalls weiß, eindeu-
tig der deliberativ stärkere. Er weiß sehr gut, dass ihm, seine Existenz
und die seiner Familie zu bewahren, sehr viel mehr bedeutet als das
flüchtige Glück am Spieltisch. Und natürlich will er nicht gegen sein
stärkeres Wollen handeln, er will in dieser wie auch in allen anderen
Situationen den stärksten Wunsch realisieren. Er weiß das alles, aber
er schlägt es in den Wind. Das macht das Suchthafte seines Wollens
aus. Was Kant über die Leidenschaften sagt: dass sie verhindern, dass
man nach der Summe aller in der Situation relevanten Wünsche han-
delt, gilt auch in diesem Fall. Es läuft also etwas schief. Der Mann
tut etwas, was er will und weil er es will, sein Wollen hat aber einen
Makel. Er will dieses suchthafte Wollen nicht, weil es sich gegen das
konkurrierende stärkere Wollen auflehnt, es beiseite schiebt und da-
mit seine Deliberation entmächtigt. Es wäre zweifellos komisch, zu
sagen, was er da tut, das tue nicht er. Der Mann kann nicht sagen:
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3.  Das Ich und das unangefochtene Wollen 91

Das bin ich nicht. Er ist es, der spielt, kein anderer. Und er ist es, der
das will und hinter der Handlung steht. Nur aus der Perspektive des,
wenn man so will, »höheren« Ichs tut er etwas, was ihm äußerlich ist,
eben weil es aus einem ihm äußerlichen Wollen kommt.
Ganz ähnlich, wenn der Mann, von dem wir zuvor sprachen,
seine sexuellen Wünsche befriedigt. Er tut damit, was er will. Aber
er weiß, dass ihm, gottgefällig zu leben, sehr viel wichtiger ist. Und
auch er will, wie jeder andere, immer den stärksten seiner Wünsche
und nicht einen schwächeren realisieren. Auch er weiß also, dass
etwas schief läuft. Er tut etwas, was er will, aber er weiß wiederum,
dass dieses Wollen einen Makel hat, dass es nicht gewollt ist. Seine
Handlung ist ihm deshalb, vom nochmals abgehobenen Ich aus ge-
sehen, äußerlich, eben weil ihm das Wollen, aus dem sie kommt,
äußerlich ist.
Man könnte mit einer Formulierung Frankfurts sagen, dass die
Personen in den beiden Beispielen das, was sie tun, nicht »aus vollem
Herzen« (»wholehearted«) tun.16 Sie wollen etwas, aber sie hadern
damit, zwar nicht mit dem Inhalt, aber doch mit dem Modus des
Wollens. Es entsteht eine Ambivalenz. Das faktisch handlungseffek-
tive Wollen ist nicht gewollt, aber es ist deswegen nicht verschwun-
den, es ist geblieben, und solange das so ist, hat es die besondere
Ichhaftigkeit, die einem Wollen eigen ist. Natürlich kann man versu-
chen, das Wollen los zu werden oder ihm wenigstens das, was an ihm
problematisch ist, zu nehmen.17 Das kann bei manchen, zum Bei-
spiel suchthaften, Wünschen gelingen, bei anderen womöglich nicht.
Wenn in den beiden Beispielfällen etwas schief läuft, dann deshalb,
weil etwas zwischen das deliberativ stärkste Wollen und die entspre-
chende Handlung tritt, ein Hindernis. Und dieses Hindernis kommt
nicht von außen, sondern von innen, aus dem eigenen Wollen. Es
ist der Umstand, dass das deliberativ schwächere Wollen rebellisch
ist und sich gegen die überlegte Präferenz auflehnt, der dieses Hin-
dernis aufrichtet. Ganz zu Recht ist eine Person, die ein rebellisches
Wollen nicht zu beherrschen vermag, immer als unfrei beschrieben
worden. Etwas hindert sie, das zu tun, was sie am stärksten will. Ihr
eigenes Wollen, und das heißt, ihr eigenes Ich macht sie unfrei.

16 Vgl. Frankfurt, Identification and Wholeheartedness.


17 Vgl. hierzu die Überlegungen von Ulrich Pothast: Wie frei wir sind, ist
unsere Sache (Frankfurt 2016), 71 ff.
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92 §  3  Das Ich und das Wollen

Die Frage, was das Ich ist, relativ auf das mir ein eigenes Wollen
äußerlich sein kann, ist damit beantwortet. Es ist das ausschließ-
lich durch das unangefochtene Wollen definierte Ich, das durch die
Subtraktion des problematischen Wollens aus dem Ich des Wollens
entsteht. Diese »höhere« Instanz ist also wiederum durch ein, jetzt
qualifiziertes, Wollen bestimmt, nicht durch etwas außerhalb des
Volitiven. Das eigene Wollen ist wiederum der Maßstab, an dem
sich etwas als uns äußerlich erweist. Wobei speziell die Wünsche
den Maßstab bilden, die einschließen, ein eigenes Wollen nicht zu
wollen. Ich habe deshalb von maßgeblichen Wünschen gesprochen.
Im Falle des rebellischen Wollens zielt das maßgebliche Wollen
darauf, jeweils das Maximum dessen, was man will, zu realisieren.
Das ist, wie erwähnt, ein formales Wollen. Auch der Wunsch, nicht
aussichtslosen Wünschen nachzujagen (der im Cellistinnen-Beispiel
eine Rolle spielte), verdankt sich einem formalen Wunsch, dem
Wunsch, sich unnötige Frustrationen zu ersparen. Jeder, der etwas
will, hat diesen Wunsch. Dasselbe gilt für den Wunsch, sich nicht
von einem (tatsächlich oder vermeintlich) evolutionär überholten
und fehlgerichteten Wollen bestimmen zu lassen. Wer wollte einem
fehlgeleiteten Wollen, einem »miswanting« folgen? Man würde et-
was tun wollen, woran einem, weil man es – evolutionär bedingt –
will, durchaus liegt, das aber im Leben, wie man glaubt, keine nen-
nenswerte Rolle spielt. Ein Wollen dieser Art läuft ins Leere.
Anders ist es bei dem Wunsch, möglichst selbstbestimmt zu le-
ben und nicht der Sklave oder die Marionette eines anderen zu sein.
Auch dies ist ein maßgebliches Wollen. Aber es hat etwas Individu-
elles, und es ist kein formales Wollen. Auch andere ideelle Wünsche
dieser Art können einschließen, dass einer oder mehrere unserer
Wünsche nicht gewollt sind.
Die kleine Liste maßgeblicher Wünsche, die jetzt genannt wur-
den, deutet darauf hin, dass es sich um wenige sehr allgemeine
Wünsche handelt und dass sie offenbar in zwei Klassen fallen: einer­
seits in die formalen Wünsche, die jeder hat, und andererseits in die
übergreifenden Wünsche, die darauf zielen, eine Person bestimm-
ter Art zu sein und ein Leben bestimmter Art zu führen. Bei den
maßgeblichen Wünschen scheint die Gefahr gering, dass sich eines
Tages herausstellt, dass sie selbst einen Makel haben. Bei den for-
malen Wünschen kann man das ganz ausschließen. Bei den ande-
ren hingegen nicht. Auch sie haben eine psychische Genese. Und
es ist möglich, dass einem eines Tages, so wenig man sich das im
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3.  Das Ich und das unangefochtene Wollen 93

Moment vorzustellen vermag, aufgeht, dass einen daran etwas stört


und dass es ein Wollen gibt, von dem aus das maßgebliche Wollen
selbst nicht gewollt ist. Dieses Wollen wäre wiederum ein maßgeb-
licher Wunsch. Man stieße hier also auf eine spezifische Inkohärenz
innerhalb der maßgeblichen Wünsche, deren Wahrscheinlichkeit
jedoch gering ist.
Wenn wir die Überlegungen dieses Kapitels resümieren, können
wir festhalten, dass sich durchaus eine Distanz zu einem eigenen
Wollen ergeben kann. Das ist allerdings kein flächendeckendes Phä-
nomen, es kommt vermutlich nicht sehr oft vor. Der zentrale Fall ist
der des rebellischen Wollens. Die Distanz zum eigenen Wollen grün-
det nicht darin, dass es ein Wollen ist und als solches einen Makel
hat, sondern darin, dass es spezielle Eigenschaften hat und deshalb
von einem eigenen Wollen aus nicht gewollt ist. Das Ich, in Bezug
auf das uns ein Teil unseres Wollens äußerlich sein kann, ist also
wiederum nicht eine äußere nicht-volitive Instanz, sondern selbst
durch ein eigenes Wollen bestimmt. Die Quelle der inneren Distanz
ist das eigene Wollen. Und das Ich, dem das Wollen äußerlich ist, ist
wiederum ein »Ich will«.
Die Distanzierung von einem eigenen Wollen führt nicht zu ­einer
Enteignung dieses Wollens, es führt nicht dazu, dass es nicht mehr
mein Wollen ist, sondern ein anonymes Es oder ein fremder Ein-
dringling. Es behält die volle Ichhaftigkeit, die einem Wollen eigen
ist. Sonst hörte es auf, ein Wollen zu sein. Wenn einer unserer Wün-
sche aus der höheren Perspektive des Ichs, das durch die nicht an-
gefochtenen Wünsche definiert ist, problematisch ist und dennoch
nicht verschwindet, entsteht die schwierige Situation, dass man et-
was will und nicht anders kann, als es zu wollen, dieses Wollen aber
zugleich anficht. Es entsteht ein Riss im Ich. Ein besonderer Kon-
flikt im Wollen unterminiert dessen Einheit und die Einheit und
Identität des Ichs. Man ist in sich selbst zerrissen. Man steht, durch
sein Wollen, sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite. Es
ist falsch, diesen Konflikt im Ich in einen Kampf meines Ichs mit
fremden, ichlosen, von außen in mich hineingeratenen Kräften um-
zudeuten. Es ist ein Kampf des Ichs mit sich selbst. Das eigene Ich
wird zu einem Hindernis, das einen – aus sich selbst heraus – unfrei
macht. Man steht sich selbst im Weg. Die Teile, in die das Ich zerfällt,
stehen allerdings nicht gleichberechtigt nebeneinander. Das eine Ich
ist bestimmt durch ein angefochtenes Wollen, das andere durch ein
unangefochtenes. Vom letzteren aus ist uns das Wollen des ersteren
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94 §  3  Das Ich und das Wollen

äußerlich, es ist ein falsches Wollen. Es besteht also eine Asymmetrie.


Man kann die Teile des Ichs deshalb über- und unterordnen. Aber
das heilt den Konflikt nicht. Die volitionale Einheit ist erst dann er-
reicht, wenn keiner unserer Wünsche durch uns selbst angefochten
wird. Erst dann geschieht keine der gewollten Handlungen mehr
durch mich und zugleich auch gegen mich. Alle gewollten Handlun-
gen geschehen dann vorbehaltlos, also im anspruchs­vollsten Sinne
durch mich.

4.  Aktivität und Passivität

Die Einsicht, dass uns ein eigenes Wollen äußerlich sein kann, macht
es nötig, die bisherige Konzeption des Aktivseins weiterzuentwi-
ckeln. Es ist nicht schwer zu sehen, wie das zu geschehen hat. Wir
hatten zunächst zwei Typen von Handlungen unterschieden, zum
einen die, deren Anfang in uns liegt, die aber nicht aus einem Wollen
kommen, sondern aus einer anderen archē, und zum anderen eben
die, die wir tun, weil wir sie tun wollen. Bei den Handlungen des
zweiten Typs hat das »Ich bin es, der dies tut«, wie gezeigt, einen
neuen und ungleich stärkeren Sinn. Die gewollten Handlungen sind
deshalb prototypisch unsere Handlungen, mit ihnen vollziehen wir
eine aus uns kommende, selbstbestimmte Aktivität.
Wenn wir jetzt berücksichtigen, dass uns nicht nur Handlungen,
sondern auch eigene Wünsche äußerlich sein können, teilen sich
die Handlungen, die man tut, weil man sie tun will, noch einmal
in zwei Gruppen. Bei der einen, sehr kleinen Gruppe ist das die
jeweilige Handlung leitende Wollen problematisch, es wird durch
ein anderes Wollen angefochten. Bei der anderen, großen Gruppe ist
das nicht der Fall, das handlungsleitende Wollen ist unangefochten,
»un­opposed«. Es sind also nicht die gewollten Handlungen generell,
die die höchste Form des Aktivseins und des »durch mich« besitzen,
sondern nur die gewollten Handlungen, die aus einem unangefoch-
tenen Wollen entspringen. In ihnen sind wir im anspruchsvollsten
Sinne aktiv. Hinter ihnen stehen wir ohne jede Reserve, sie tun wir
aus vollem Herzen.
Angesichts der jetzt nachgetragenen Differenzierung liegt es nahe,
wie wir es schon getan haben, von Stufen oder Graden des Aktiv-
seins zu sprechen. Wir können mit dem, was wir tun, in verschiede-
ner Weise eine Aktivität vollziehen. Die Bindung einer Handlung an
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4.  Aktivität und Passivität 95

das Ich kann von verschiedener Art sein. Das »Ich bin es, der dies
tut« hat verschiedene Bedeutungen.
Diese Konzeption unterscheidet sich sehr deutlich von der, die
Frankfurt und andere zeitgenössische Philosophen entwickelt haben.
Frankfurt nimmt an, eine Person, die aus einem Wollen handelt, das
nicht von einer höheren Instanz geprüft und gutgeheißen worden
ist und mit dem sie sich nicht identifiziert hat, sei nur ein »passiver
Zuschauer« ihres Wollens und der Handlung, die es hervorbringt.18
Denn sie wird von außen bewegt, durch eine, wie es ausdrücklich
heißt, »externe Kraft«.19 Allerdings befindet sich dieses »außen« in
ihr selbst. Das Wollen, das sie bewegt, ist eine Kraft in ihr, aber nicht
ihre Kraft.20 Sie hat keinen Anteil an dem, was sie tut. Das Wollen ist
ein anonymes, ichloses Etwas in ihr, durch »Natur und Umstände«
(»nature and circumstance«) in sie hineingebracht21, aber eben nicht
ihr Wollen. Sie wird von außen bestimmt, und darin liegt die Passi-
vität. Frankfurt scheut sich nicht, hier wie Kant von »Heteronomie«
zu sprechen.22 Die Situation ändert sich erst, wenn wir die fremde
Kraft des Wollens durch einen Akt der Akzeptanz zu unserer eige­
nen Kraft machen.23 Dann ist, was wir tun, nicht mehr ein passi-
ves Geschehen, dann sind wir vielmehr aktiv, denn nun werden wir
»just by ourselves« bewegt.24 Erst die höherstufige willentliche Ak-
zeptanz des eigenen Wollens konstituiert eine Aktivität.25 Es bedarf
dazu also immer der höheren Instanz, die prüft, akzeptiert und an-
eignet. Sie ändert nichts daran, dass das Wollen aus der Natur und

18 H. G. Frankfurt: Three Concepts of Free Action (1975), in: H. G.  F.: The
Importance of What We Care About (Cambridge 1988), 47–57, 54; dt. Drei
Konzepte freien Handelns, in: H. G.  F.: Freiheit und Selbstbestimmung (Ber-
lin 2001), 84–97, 93; vgl. auch H. G. Frankfurt: Freedom of the Will and the
Concept of a Person (1971), in H. G.  F.: The Importance of What We Care
About (Cambridge 1988), 11–25, 22; dt. Willensfreiheit und der Begriff der
Person, in: H. G. F.: Freiheit und Selbstbestimmung (Berlin 2001), 65–83, 79;
Frankfurt, Identification and Wholeheartedness, 163, 164; dt. 121, 122.
19 Frankfurt, Identification and Wholeheartedness, 164; dt. 122.
20 Ebd.; auch Frankfurt, Taking Ourselves Seriously, 8; dt. 22. – Frankfurt
sagt an der ersten angeführten Belegstelle, die Kraft sei »not fully our own«.
Sie ist insofern unsere eigene, als sie in uns ist, aber darüber hinaus eben nicht.
21 Frankfurt, Taking Ourselves Seriously, 7; dt. 22.
22 Frankfurt, Autonomy, Necessity, and Love, 132 f.; dt. 171 f.
23 Frankfurt, Taking Ourselves Seriously, 7 f.; dt. 21 f.
24 Ebd. 8; dt. 22.
25 Frankfurt, Three Concepts of Free Action, 54; dt. 93.
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96 §  3  Das Ich und das Wollen

den Umständen kommt, das bleibt so, man sagt nur »ja« zu dem,
was auf diese Weise gegeben ist. Natürlich ist nicht nur, wer aus
­einem nicht approbierten Wollen handelt, ein passiver, unbeteiligter
Zuschauer seines Tuns, sondern erst recht, wer aus einem Wollen
handelt, das er selbst nicht will. So der Süchtige, der sein eigenes
suchthaftes Wollen los sein möchte.
Man sieht, wie sehr Frankfurt mit diesen Überlegungen Kants
Sichtweise übernimmt, dass unsere Neigungen etwas Naturhaftes
und den Umständen Geschuldetes sind. Das Wollen, und nicht nur
ein Teil, sondern das Wollen qua Wollen, ist ein Fremdkörper in uns,
ein Stück »draußen«, das in uns hineingeraten ist. Wenn wir uns un-
besehen davon bestimmen lassen – wohlgemerkt, von unserem eige­
nen Wollen –, bewegen uns externe Kräfte. Und wir verfehlen das
Niveau des menschlichen Lebens und sinken auf die Lebensweise
der Tiere hinab. Frankfurt steht überraschend deutlich in dieser Tra-
dition der Ausgrenzung und Enteignung des Wollens. Das Ich und
das eigene Wollen werden völlig dissoziiert.
In einer Theorie, die diesen Vorstellungen folgt, muss dem aus der
Natur und den Umständen kommenden Wollen ein Ich entgegenge-
setzt werden, das, was immer es ist, immerhin so weit über eigene
Ressourcen anderer Herkunft verfügen muss, dass es anhand von
etwas zu dem gegebenen Wollen »ja« oder »nein« sagen kann. Nur
so ist Aktivität, ein wirkliches »durch mich« möglich. Jede Theorie
des Ichs in dieser Spur muss erklären, worin diese andersgearteten
Ressourcen des Ichs bestehen. Frankfurt ist das, wie ich meine, nicht
gelungen. Er übersieht, dass die höherstufigen Wünsche, von denen
er spricht, sich tatsächlich von Wünschen erster Ordnung ableiten –
und damit fallen sie selbst dem Verdikt der Herkunft aus der Natur
oder den Umständen zum Opfer. Der Mann will den ihm vom Va-
ter eingepflanzten Wunsch nicht, weil er selbstbestimmt leben will,
die Frau den kognitiv defizienten Wunsch nicht, weil sie Enttäu-
schung, Frustration und vergebliche Anstrengung nicht will. Die
höherstufigen, negativ auf das eigene Wollen gerichteten Wünsche
leiten sich von Wünschen erster Ordnung ab. Sie sind derivativ und
keineswegs autochthon. Frankfurt übergeht diese Abhängigkeit der
höheren Wünsche von den Wünschen erster Stufe ganz.
Der Grundfehler einer Theorie, wie sie Frankfurt und andere ent-
falten, liegt in der Dissoziation des Wollens und des Ichs. Es ist, so
habe ich zu zeigen versucht, nicht wahr, dass das Ich und das Wol-
len dissoziiert sind und erst durch eine besondere Leistung zusam-
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4.  Aktivität und Passivität 97

mengebracht werden müssen. Es gibt kein ichloses Wollen in uns,


das Wollen ist nicht vom Ich abtrennbar. Wo ein Wollen, da das Ich.
Wenn das Wollen zu einer subjektlosen Kraft herabsinkt, ist es kein
Wollen mehr. Es ist ganz gleichgültig, woher ein Wollen mit dem-
und-dem Inhalt kommt, aus der Natur, aus den Umständen oder aus
einer anderen Quelle, wenn es ein Wollen ist, hat es die besondere
Ichhaftigkeit, die beschrieben wurde. Und deshalb ist ein Handeln
aus meinem Wollen immer ein Handeln durch mich. Wir sehen jetzt,
warum es so wichtig ist, sich über die besondere Ichhaftigkeit des
Wollens klar zu werden.
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§4
Die Vorgeschichte des Wollens:
Kausalität, Determination, Manipulation
Wer die bisherigen Überlegungen dieses Buches überschaut, könnte
den Eindruck haben, dass sie das eigentliche Problem noch gar nicht
erreicht haben. Was kann es, so die Frage, um die es geht, in einer
kausal verfassten Welt bedeuten, dass etwas »durch mich« geschieht,
dass ich es bin, der etwas tut? Die beiden letzten Kapitel haben da-
rauf eine Antwort zu geben versucht. Aber diese Antwort steht, so
könnte man meinen, auf tönernen Füßen, jedenfalls sei erst noch zu
zeigen, ob sie zu verteidigen ist. Denn selbst wenn alles, was über die
verschiedenen Grade des »durch mich«, über die alles verändernde
Bedeutung des Wollens, die besondere Ichhaftigkeit der Handlun-
gen, die ihre archē im eigenen Wollen haben, darüber, dass wir uns
in einem wichtigen Sinne durch unser Wollen definieren, dargelegt
wurde, – selbst wenn all das wahr ist, ändert es nichts daran, dass un-
sere Handlungen und ihre mentale Vorgeschichte einschließlich des
eigenen Wollens ein Teil des universalen kausalen Kräftespiels sind,
Wirkungen von Ursachen, die, verfolgt man die kausalen Fäden zu-
rück, außerhalb von uns liegen. Die kausalen Ereignisfolgen laufen
jeweils durch die Personen hindurch, von außen in sie hinein und
von innen in Form von Handlungen aus ihnen heraus. Alle Faktoren,
die in der Handlungsgenese wirksam sind, gehen also auf Ursachen
zurück, die außerhalb von uns liegen und deshalb unserem Einfluss
entzogen sind. Was aber bedeutet unter diesen Bedingungen, dass ich
bestimme, was geschieht? Was bedeutet dieses »außerhalb von uns«
für die Ichhaftigkeit unserer Handlungen? Dazu wurde bereits eini-
ges Wesentliche gesagt.1 Dennoch bedarf es weiterer Klarlegungen.
Ansonsten bleibt der Verdacht, dass die beschriebenen Arten der
Ichhaftigkeit kein wirkliches, vielmehr nur ein scheinbares »durch

1 Vgl. bereits § 2, S.  49–55.


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100 §  4  Die Vorgeschichte des Wollens

mich« bedeuten und die bisherigen Überlegungen nur dazu dienten,


sich einige Redeweisen zurechtzulegen, mit denen man sich an dem
eigentlichen Problem vorbeimogeln kann.
Die Frage, was es bedeutet, dass alles, was wir tun und wollen,
auf Ursachen zurückgeht, die, verfolgt man sie nur weit genug zu-
rück, außerhalb von uns liegen, stellt sich, wenn wir annehmen, die
Welt sei durchgängig deterministisch verfasst, und sie stellt sich, wie
schon erläutert, auch, wenn wir von einer gemischt indeterminis-
tisch-deterministischen Welt ausgehen. Auch in einer Welt dieser
Art laufen die kausalen Fäden durch die Menschen hindurch, nur
dass dann möglicherweise indeterministische Elemente, die wir Zu-
fälle nennen, in ihnen eine Rolle spielen. So oder so sind die Men-
schen, ihre Handlungen und deren mentale Präparation Teil eines
kausalen Geschehens und Produkte komplexer kausaler Ereignis-
folgen, die von außen kommen.

1.  Vorbemerkungen: Die Handlungen vor den Handlungen

Bevor ich direkt auf das Thema dieses Kapitels eingehe, sei zunächst
auf einige Phänomene hingewiesen, die für unsere Art der Hand-
lungssteuerung charakteristisch und im jetzigen Kontext von Bedeu-
tung sind, bislang aber noch nicht angemessen zur Sprache kamen.
Eine erste Form des »durch mich« einer Handlung gründet, wie wir
sahen, darin, dass sie aus mir und nicht aus einer anderen Person
kommt. Dabei ist das Ich in diesem Sinne niemals nur der substanz-
und inhaltslose Ort des Geschehens, es ist niemals nur der Transit-
Raum, den das kausale Geschehen völlig unbeeinflusst passiert. Es
ist vielmehr ein Ich, das auf Grund genetischer Faktoren und vor al-
lem seiner einzigartigen Lebensgeschichte einen individuellen Cha-
rakter hat, der natürlich Einfluss darauf hat, was die jeweilige Person
tut. Die Individualität einer Person stellt einen unüberspringbaren
Teil in der kausalen Vorgeschichte ihrer Handlungen dar. Und diese
individuelle Prägung ist, das ist es, worauf es jetzt ankommt, nicht
einfach das Ergebnis von ererbten Determinanten und von äußeren
Faktoren, die auf die Person einwirken, sie ist auch das Ergebnis
eige­nen Handelns. Man hat offenkundig Einfluss darauf, wie man
ist, durch das, was man getan und gelassen hat, durch die Entschei-
dungen, die man getroffen hat, durch das, was man gelernt und sich
angeeignet hat. Vor den Handlungen liegen also, je älter man ist
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1.  Vorbemerkungen: Die Handlungen vor den Handlungen 101

umso mehr, bereits eine unüberschaubare Zahl anderer Handlun-


gen, die Einfluss darauf haben, wie man handelt. Die Vorgeschichte
unserer Handlungen ist auf diese Weise bereits durchsetzt mit einer
Vielzahl eigener Aktivitäten.
Der Hinweis hierauf ändere, so kann man einwenden, nichts an
dem Problem, wie es beschrieben wurde. Denn alle diese vorgän-
gigen Handlungen, die ihre Spuren in dem Charakter einer Person
hinterlassen haben, seien selbst Ergebnisse kausaler Ereignisfolgen.
Die Vorgeschichte erweise sich nur als weitaus komplexer, weil be-
reits eigene Handlungen eine wesentliche Rolle spielen. Aber das
bedeute nichts für das grundsätzliche Problem. Das ist richtig. Den-
noch ist es nötig, auf diesen Sachverhalt hinzuweisen, wenn wir uns
die Art unseres Handelns bewusst machen wollen und wenn wir
verstehen wollen, warum das Bewusstsein eigener Aktivität so tief
in uns verwurzelt und uns so unfraglich ist.
Ganz ähnlich verhält es sich bei der Ichhaftigkeit von Handlun-
gen, die nicht nur in dem Gegensatz: durch mich und nicht durch
eine andere Person, gründet, sondern spezifischer in dem Umstand,
dass die Handlungen aus einem eigenen Wollen kommen. Eine
Handlung ist, so haben wir gesehen, in besonderer Weise meine,
wenn ich sie tue, weil ich sie tun will. Dieses Wollen fällt aber nicht
vom Himmel in uns hinein; ihm gehen, zumindest in aller Regel,
schon verschiedene Aktivitäten voraus. So hängt ein wesentlicher
Teil dessen, was wir hedonisch wollen, also wollen, weil es als an-
genehm erscheint, von einer vorgängigen Aktivität ab, davon, dass
wir bestimmte Dinge als angenehm oder unangenehm imaginieren.
Solche Imaginationen sind, obwohl sie sicherlich auch Elemente ent-
halten, die nicht in unserer Hand liegen, Aktivitäten, etwas, was wir
tun.2 Wir haben Spielräume, in welchem Maße und in welcher Weise
wir imaginieren, und auch darin, ob wir eine Imagination fortsetzen
oder sie abbrechen. Man kann sich zum Beispiel immer stärker in
die Vorstellung hineinimaginieren, dass es angenehm wäre, in einem
Haus im Süden zu leben, sich das immer konkreter ausmalen und so
den Wunsch entwickeln, ein solches Haus zu suchen und schließlich
zu mieten oder zu kaufen.
Ferner überlegen wir in Situationen, in denen mehrere unserer
Wünsche konkurrieren, was von dem Gewollten das Wichtigere
ist, was wir also mehr und deshalb unter dem Strich wollen. Die-

2 Vgl. hierzu ausführlich Vf., Der Vorrang des Wollens, 191–201.


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102 §  4  Die Vorgeschichte des Wollens

ses koordinative Überlegen ist offensichtlich eine weitere Aktivi-


tät. Schließlich müssen wir, wenn wir wissen, was wir unter dem
Strich wollen, häufig überlegen, auf welche Weise wir das Gewollte
erreichen oder am besten erreichen. Wenn wir im Zuge einer sol-
chen instrumentellen Überlegung erkennen, dass wir, sagen wir: a
tun müssen, um das angestrebte Ziel zu realisieren, bilden wir den
extrin­sischen Wunsch aus, a zu tun. Wenn wir a dann tun, entspringt
diese Handlung einem Wollen, dessen Ausbildung von einer Reihe
vorgängiger Aktivitäten abhängt. Damit zeigt sich, dass die Hand-
lungen, die wir tun, weil wir sie tun wollen, bereits weitere, jetzt
mentale Handlungen voraussetzen, die Einfluss haben darauf, was
man will, und damit darauf, was man tut. Auch die Vorgeschichte
unserer gewollten Handlungen ist also bereits mit einer Reihe eige-
ner Aktivitäten durchsetzt. Was allerdings, um dieses Missverständ-
nis zu vermeiden, nicht bedeutet, dass wir wollen können, was wir
wollen. Das können wir keineswegs.
Man kann wiederum bemerken, das Gesagte ändere nichts an
dem eigentlichen Problem. Es bestehe unabhängig davon, wie kom-
plex das handlungsvorbereitende Geschehen im Inneren der jewei-
ligen Person ist. Dennoch ist es erneut nützlich, auf diese Komple-
xität hinzuweisen. Es verdeutlicht, wie wir handeln, und es erklärt,
zumindest zum Teil, unsere Gewissheit, dass wir es sind, die tun,
was wir tun.

2.  Die Ichhaftigkeit einer Handlung. Rekursivität und Genese

Was also bedeutet es, dass alle Faktoren, die die verschiedenen Grade
der Ichhaftigkeit von Handlungen begründen, ihrerseits das Ergeb-
nis von Ursachen sind, die außerhalb von uns liegen und unserem
Einfluss entzogen sind? Man muss hier zunächst verstehen, dass die
Ichhaftigkeit einer Handlung oder, anders gesagt, die Urheberschaft
des Akteurs nicht rekursiv ist. Das heißt, das, was die Ichhaftigkeit
einer Handlung bewirkt, muss nicht selbst durch Faktoren gleicher
Art verursacht sein. Wenn etwas durch mich geschieht, weil es aus
meinem Wollen kommt, muss das Wollen dafür, die Ichhaftigkeit
der Handlung begründen zu können, nicht seinerseits gewollt oder
gewählt sein.3 Vielmehr scheint, wie es dazu kommt, dass ich dieses

3 Vgl. hierzu bereits § 2, S.  50 f.


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2.  Die Ichhaftigkeit einer Handlung. Rekursivität und Genese 103

Wollen habe, gleichgültig zu sein. Darauf kommt es nicht an. Dem


Etwas-tun-Wollen gehen, wie gesehen, in der Regel bereits eigene
Aktivitäten: Abwägungen, Überlegungen, Imaginationen, voraus.
Das ist charakteristisch für unsere Art, zu handeln, aber es ist nicht
der Grund oder eine Bedingung dafür, dass eine gewollte Handlung
durch mich geschieht. Wenn eine Handlung aus meinem Wollen
kommt, bin ich allein dadurch ihr Urheber. Ich will sie, ich tue sie,
weil ich sie tun will, und deshalb geschieht sie durch mich.
Genauso bei der – unspezifischeren – Ichhaftigkeit, die daraus
resultiert, dass eine Handlung ihre archē in mir und nicht in einer
anderen Person hat. Dafür, dass diese Ichhaftigkeit gegeben ist, ist es
keineswegs nötig, dass die Faktoren, die bewirken, dass die Hand-
lung aus mir entspringt, ihrerseits aus meiner Person entspringen.
Es ist gleichgültig, wie es dazu kommt. Wenn die Handlung aus mir
kommt, bin ich allein dadurch, unabhängig davon, wie es dazu ge-
kommen ist, unfraglich ihr Autor.
Man kann es auch so formulieren: Dafür, dass etwas durch mich
geschieht, muss nicht alles, was dem kausal vorausgeht, durch mich
geschehen sein. Es entsteht vielmehr irgendwo im universalen kau-
salen Geschehen ein »durch mich«, und zwar aus kausalen Faktoren,
deren Urheber ich nicht bin. Es gibt einen Übergang von etwas, das
nicht durch mich geschieht, zu etwas, was durch mich geschieht. Zu
einem solchen Übergang kommt es offenkundig, wenn kausale Fak-
toren auf eine Person einwirken und über eine Vielzahl von unüber-
springbaren Zwischengliedern im Inneren der Person verursachen,
dass sie in bestimmter Weise handelt. Was sie tut, geschieht durch
sie, nicht durch eine andere Person, so dass die Handlung in einem
klaren Sinn ihre Handlung ist und sie mit allem Recht sagen kann:
»Ich bin es, der dies tut.« Und zu einem solchen Übergang, jetzt zu
einem spezifischeren und stärkeren »durch mich«, kommt es auch,
wenn durch kausale Faktoren ein Wollen entsteht und jemand etwas
tut, weil er es tun will.
Dass die Vorgeschichte des Wollens dafür ohne Bedeutung ist,
zeigen vielleicht besonders deutlich die Wünsche, die uns von Natur
aus »eingerammt« sind, so der Wunsch, sein Leben zu erhalten, das
Interesse am Wohl der eigenen Kinder, das Streben nach Anerken-
nung durch andere. Wir haben diese Wünsche nicht durch uns selbst,
sie sind Teil der menschlichen Konstitution. Diese Wünsche sind äu-
ßerst stark und spielen im Leben der Menschen eine beherrschende
Rolle. Wir sind nicht in der Lage, sie loszuwerden. Doch dass sie in
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104 §  4  Die Vorgeschichte des Wollens

dieser Weise, ganz ohne unser Zutun, da sind, ändert nichts daran,
dass einem das Wohl der eigenen Kinder, um dieses Beispiel zu neh-
men, am Herzen liegt und dass einem das, was man tut, um es zu
befördern, sehr wichtig ist und es einen empfindlich treffen würde,
wenn es einem eigenen Kind elend ginge. All dies hat seinen Grund
darin, dass man das Wohl der Kinder will und so stark will. Auch
wenn das Wollen ohne mein Zutun zu meinem Wollen geworden
ist, stehe ich mit ganzem Herzen hinter dem, was ich tue. »Durch
mein Wollen« bedeutet »durch mich«. Die Genese des Wollens ist
dafür ohne Bedeutung.
Kant hat geglaubt, wenn wir in dem, was wir tun, unseren Nei-
gungen folgen, handelten wir, weil die Neigungen sich unserer na-
türlichen Ausstattung verdanken, »heteronom«. Die Natur, aber
nicht wir, bestimme dann, was wir tun. Das ist einer der großen
und wirkmächtigsten Fehler der kantischen Philosophie. Wenn ich
etwas tue, weil ich es will, bestimmt offenkundig mein Wollen die
Handlung, und nicht – das heißt Heteronomie – das Wollen eines an-
deren. Auch wenn ein Wollen ohne unser Zutun in uns ist und wir es
auch nicht abschütteln können, ist es ein Wollen, und als solches be-
gründet es die Ichhaftigkeit, das »durch mich« unserer Handlungen.
Wenn wir begreifen wollen, in welcher Weise wir Akteure sein
können, müssen wir verstehen, dass es diesen Übergang von dem,
was nicht durch mich geschieht, zu dem, was durch mich geschieht,
gibt und ihn im einzelnen analysieren. Das »durch mich« beginnt ir-
gendwann, und es beginnt voll und ganz innerhalb des kausalen Ge-
schehens. Es ist deshalb falsch, anzunehmen, wenn etwas die Konse-
quenz von etwas ist, was nicht durch mich geschieht, könne es selbst
nicht etwas sein, was durch mich geschieht. Man muss sich dem
verführerischen Sog, den die Vorstellung der Rekursivität immer
wieder, auch in ganz anderen Bereichen, entwickelt, entziehen. Wie
oft ist behauptet worden, aus Nicht-Lebendigem könne kein Leben
entstehen? Das sei völlig unmöglich. Wie oft ist behauptet worden,
aus Nicht-Geistigem könne kein Geist entstehen? Das sei völlig un-
möglich. In beiden Fällen lag man trotz der scheinbaren Plausibilität
der Aussagen falsch. Und auch im Falle des »durch mich« liegt man,
trotz der Scheinplausibilität, falsch. Es kommt, hier wie dort, gerade
darauf an, den Übergang vom einen zum anderen und die Entste-
hung des Neuen und ganz Andersartigen zu verstehen.
Wenn es dafür, dass wir Akteure sind und Dinge aus uns heraus
geschehen machen, gleichgültig ist, dass die kausale Vorgeschichte
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2.  Die Ichhaftigkeit einer Handlung. Rekursivität und Genese 105

zu Ursachen außerhalb von uns zurückführt, ist es auch gleichgültig,


dass unsere Handlungen überhaupt kausal bedingt und Teil eines
kausalen Geschehens sind. Das bedeutet, dass, falls die Welt durch-
gängig deterministisch funktionierte, das für das »durch mich« ohne
Belang wäre, genauso wie ein anderer, in Teilen indeterministischer
Kausalverlauf ohne Belang wäre.
Ich weiß, dass es nicht leicht ist, diese Conclusio zu akzeptieren.
Man rutscht allzu leicht in die altvertraute Gedankenspur zurück
und denkt, wenn es gleichgültig sein soll, dass die kausale Vorge-
schichte unserer Handlungen über kurz oder lang zu externen Fak-
toren führt, bestätige das nur, dass es sich bei der Ichhaftigkeit, von
der hier die Rede ist, nicht um eine echte Ichhaftigkeit handelt, son-
dern nur um eine in Worten vorgegaukelte. In Wahrheit gebe es dann
kein »durch mich«. Alles Individuelle, alles Wollen, alles vorgeschal-
tete Überlegen, Abwägen und Imaginieren, das die Handlungen be-
stimmt, sei letztlich nur das Resultat von kausalen Prozessen, auf die
wir keinen Einfluss haben können. Es komme deshalb nichts origi-
när aus der jeweiligen Person. Diese Schlussfolgerung ist suggestiv,
aber man muss sich klarmachen, worauf sie hinausläuft.
Bevor ich dazu komme, noch eine Nachbemerkung. Es ist wich-
tig, explizit zwei Thesen zu unterscheiden. Die erste ist die, die auf
die Themafrage dieses Kapitels antwortet: Dass das Wollen gene-
rell kausal bedingt ist und deshalb letztlich auf Ursachen außerhalb
von uns zurückgeht, ist für die Ichhaftigkeit unserer Handlungen
ohne Bedeutung. Die zweite These geht darüber hinaus. Sie besagt,
dass jede Vorgeschichte des Wollens, also auch eine spezielle kausale
Vorgeschichte eines einzelnen Wollens, etwa die, aus einer falschen
Sorte von Ehrgeiz zu resultieren, für das »durch mich« irrelevant
ist. Eine problematische Genese hat allenfalls Einfluss auf den Grad
der Ichhaftigkeit, kann die Ichhaftigkeit aber grundsätzlich nicht
angreifen. Es ist klar, dass die zweite These die deutlich weiterge-
hende ist, die erste schließt sie nicht ein. Aus den vorausgegangenen
Über­legun­gen, vor allem im 3. Kapitel, geht hervor, dass ich nicht
nur die erste, sondern auch die zweite Auffassung vertrete. In diesem
Kapitel geht es um die erste These. Allerdings werden wir am Ende
auch zu Überlegungen kommen, die zu einem besseren Verständnis
der zweiten These führen.
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106 §  4  Die Vorgeschichte des Wollens

3.  Die Chimäre eines absoluten Anfangs

Jetzt zu der Frage, worauf die Vorstellung, die Ichhaftigkeit unserer


Handlungen, wie sie geschildert wurde, sei nur eine vermeintliche,
aber keine »echte« Ichhaftigkeit, so komme nichts originär aus der
jeweiligen Person, hinausläuft. Sie will eine Handlungsmacht: eine
Wahl oder Entscheidung irgendwo im Vorfeld des Wollens, die ihrer­
seits nicht mehr bedingt ist, nicht durch deterministische kausale
Faktoren, und auch nicht durch probabilistische Kausalrelationen.
Denn so oder so lägen die Ursachen, verfolgt man sie zurück, außer­
halb von uns. Sie will, mit anderen Worten, einen absoluten Anfang,
eine Ursache, die selbst nicht verursacht ist. Die Kausalkette, die
zum Handeln führt, muss im Bereich der Willensbildung, wir kön-
nen offen lassen, wo genau, bei einer absoluten archē abbrechen.
Auf diese Weise wird vermieden, dass frühere Ursachen außerhalb
von uns liegen. Die Menschen müssen also in der Lage sein, etwas
unverursacht zu verursachen, sie müssen in der Lage sein, unver-
ursacht Einfluss auf ihr Wollen zu nehmen und damit indirekt auf
ihre Handlungen. Nur so, das ist die Idee, haben sie »echten«, »letzt­
lichen« oder »originären« Einfluss, und nur so gibt es ein echtes und
nicht nur vermeintliches »durch mich« unserer Handlungen. Nur
so können wir echte Urheber dessen sein, was wir tun. Eine wei-
ter zurücklaufende Kausalkette bedeute hingegen, überhaupt keine
Handlungsmacht zu haben.
Bisweilen wird Anstoß daran genommen, von einem absoluten
Anfang zu sprechen. Das sei eine parteiische Verzerrung. In jeder
Wahl oder Entscheidung spielten kausale Faktoren: Wünsche und
Meinungen eine Rolle, eine völlige tabula rasa gebe es selbstver-
ständlich nicht. Es komme nur darauf an, dass ein Rest bleibe, in
dem nicht durch Ursachen festgelegt ist, was man tut. Man ent-
scheide also sehr wohl im Licht seiner Wünsche und Meinungen,
aber dadurch sei eben nicht festgelegt, was man tut. Das mag man
sich so vorstellen, aber es hilft offenkundig nicht weiter, weil dann,
was man in diesem speziellen Bereich jenseits der Festlegungen tut,
unverursacht ist. Dann findet sich hier ein absoluter, selbst nicht
durch vorausgehende Ursachen verursachter Anfang.4
Wir sehen jetzt, die Idee »echter« Originarität führt zu der Vor-
stellung eines Abbruchs der Kausalkette und eines absoluten An-

4 Ähnlich G. Strawson: Freedom and Belief, rev. ed. (Oxford 2010), 45 f.
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3.  Die Chimäre eines absoluten Anfangs 107

fangs in der jeweiligen Person. Die Person ist dann der absolute,
»letztliche« Urheber dessen, was sie tut. Ich hatte schon zu Beginn
gesagt, dass die Menschen keine absoluten Urheber sein können.
Sie sind, das war die Einsicht Hobbes’, Humes und Darwins, Teil
der Natur und damit in allem, was sie sind, wollen und tun, Teil
des kausalen Geschehens. Alle Versuche, die Idee eines absoluten
Anfangs plausibel zu machen, haben die Menschen aus der Natur
herausgehoben und ihrer Seele, der res cogitans oder dem intelli-
giblen Ich einen übernatürlichen Status zugesprochen. Die Men-
schen sind jedoch keine Götter, und sie haben nicht einen göttli-
chen, der Natur enthobenen Anteil in sich. Es kommt hinzu, dass
sich die Vorstellung eines absoluten Anfangs, gleichgültig, ob auf
Gott oder die Menschen bezogen, nur via negationis: nur aus der
Verneinung dessen, was wir kennen, ergibt, ohne dass sie dadurch
irgendeinen positiven Gehalt gewinnt. Wir können solche allein aus
der Negation kommenden Vorstellungen entwickeln, weil wir über
eine Sprache verfügen, die es möglich macht, durch Negationen und
entsprechende Wortbildungen solche Vorstellungen zu formulieren.
Formulierungen dieser Art lassen uns dann glauben, wir wüssten,
wovon wir sprechen. Das ist aber nicht der Fall. Niemand hat eine
Vorstellung davon, was ein Anfang ex nihilo sein könnte. All das
sind leere Worte.
Weil wir keine absoluten Urheber von etwas sind, gibt es keine
andere Ichhaftigkeit unserer Handlungen als die, die bisher beschrie-
ben wurde. Diese Ichhaftigkeit ist nicht eine scheinbare, sie ist die
einzige, die es gibt. Sie ist die einzige »echte« Ichhaftigkeit. Die ver-
meintlich stärkere, die daran hängt, dass der Handelnde irgendwo
in der Handlungsvorbereitung einen absoluten Anfang setzt, gibt es
hingegen nicht. Sie ist nicht mehr als eine Phantasmagorie.
Diese für das Verständnis des menschlichen Aktivseins zentrale
Einsicht darf allerdings nicht verwischen, dass die Vorstellung eines
geschlossenen Kausalgeschehens einen Stachel hat. Wenn wir die Ur-
sachen unserer Handlungen und unseres Wollens zurückverfolgen,
landen wir bei Ursachen, die außerhalb unserer Handlungsmacht
liegen. Wir und das, was wir wollen und tun, sind Produkte eines
kausalen Geschehens, dessen Ursachen außerhalb von uns liegen.
Das ist der unausweichliche Befund. Man kann ihm nicht durch die
Erfindung einer unverursachten Ursache entkommen. Man kann
ihm überhaupt nicht entkommen. Man muss verstehen, dass diese
Einsicht nicht das »durch mich« unserer Handlungen dementiert.
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108 §  4  Die Vorgeschichte des Wollens

Das »durch mich« beginnt, so habe ich gesagt, im Kausalprozess,


es gibt einen Übergang von dem, was nicht durch mich geschieht,
zu dem, was durch mich geschieht. Was der Stachel des »außerhalb
von uns« für das Verständnis des menschlichen Lebens und für das
Leben selbst bedeutet, dazu einiges in Kapitel 6.
Die absolute Urheberschaft wird nicht nur postuliert, weil man
glaubt, sie sei notwendig dafür, wirkliche Akteure zu sein und wirk-
lich etwas geschehen zu machen. Anderes hängt damit zusammen.
So nehmen viele an, wirkliche Verantwortlichkeit könne es nur
geben, wenn es eine absolute Urheberschaft gebe, weil nur so die
Kette der Ursachen, die zu unseren Handlungen führt, in uns einen
echten Anfang hat, der selbst nicht durch Weiteres verursacht wird.
Doch wie die Idee einer Ichhaftigkeit, die eine absolute Urheber-
schaft voraussetzt, unsinnig ist, ist auch jede andere Idee, die eine
solche Urheberschaft voraussetzt, unsinnig. Das gilt auch für eine
so fundierte Vorstellung »letztlicher« Verantwortlichkeit. Wie man
Verantwortlichkeit stattdessen verstehen sollte, erläutere ich eben-
falls in Kapitel 6.

4.  Ein Missverständnis über den Determinismus

Der Widerstand gegen die These, für die Ichhaftigkeit unserer Hand-
lungen sei es ohne Belang, dass die Faktoren, die diese Ichhaftigkeit
begründen, auch das eigene Wollen, selbst Teil des kausalen Gewe-
bes sind, nimmt sich fast immer die Vorstellung, wir seien in unserem
Wollen determiniert, zum Gegner. Wenn man das Determiniertsein
des Wollens unterstelle, sehe man doch, dass es das »durch mich«
unserer Handlungen untergräbt. Eine bestimmte Vorstellung davon,
was es heißt, determiniert zu sein, befeuert diese Intuition. Setzen
wir deshalb voraus, wir seien im Wollen determiniert. Dies bedeute,
so wird dann häufig angenommen, dass es unserem Einfluss ent-
zogen sei. Aber das ist ein schwerer Fehler. Er hat eine lange Ge-
schichte, Augustinus hat Cicero deswegen bereits kritisiert.5
In welcher Weise wir Einfluss auf unser Wollen haben, wurde
schon, wenn auch nur kurz und vereinfacht, erläutert. Wir kön-
nen natürlich über einen Wunsch, den wir haben, nachdenken und
überlegen, ob er zu uns passt, zu dem, was wir sonst noch wollen,

5 Vgl. Augustinus: De civitate Dei, V, 9; ed. B. Dombart / A. Kalb I, 137 f.


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4.  Ein Missverständnis über den Determinismus 109

kurzfristig und langfristig. Oder wir können fragen, ob an ihm etwas


nicht stimmt. Sollten wir meinen, dass er in irgendeiner Weise nicht
in Ordnung ist, wird er normalerweise von selbst verschwinden. Das
Nachdenken hat dann einen handgreiflichen Effekt. Wenn wir von
mehreren konkurrierenden Wünschen nur einen verwirklichen kön-
nen, überlegen wir, was wir am stärksten wollen. Die Überlegung
kann verschieden ausfallen, sie kann kurz, lang, ruhig, hastig, kon-
zentriert, unkonzentriert sein, und wenn es schlecht läuft, kann am
Ende ein Wollen handlungsleitend werden, das faktisch gar nicht das
stärkste Wollen ist. Unser gesamtes extrinsisches Wollen, der größte
Teil des Wollens, hängt von instrumentellen Überlegungen ab. Auch
Überlegungen dieser Art können unterschiedlich ausfallen, auch sie
können misslingen, so dass wir wiederum etwas Falsches wollen.
Auf Grund der Erfahrungen von Tod, Gewalt, Elend, Erniedrigung
und Diskriminierung entwickeln die Menschen kontrastiv die Ideale
der Gewaltlosigkeit, der Brüderlichkeit, der Toleranz, der Gleich-
heit. Diese Ziele sind für uns und unser Zusammenleben von über-
ragender Bedeutung, und alle sind durch uns hervorgebracht, wir er-
ziehen uns und unsere Kinder dazu, diese Ideale anzustreben und zu
verwirklichen. Was wir intrinsisch wollen, ein weiterer Punkt, hängt
zum Teil davon ab, was wir uns als angenehm vorstellen. Es hängt
von unseren Imaginationen ab, die sehr vielgestaltig und voraus­
setzungsreich sein können. Wer zum Beispiel glaubt, dass es einen
Gott gibt, der Interesse an den Menschen und ihrem Verhalten hat,
wird gottgefällig leben wollen und vieles tun wollen, weil es, wie er
glaubt, gottgefällig ist, so zu handeln. Selbstverständlich können wir
versuchen, wiederum ein anderer Punkt, durch eigene Anstrengun-
gen oder durch eine Therapie von einem suchthaften Wollen loszu-
kommen. Auch so haben wir Einfluss auf unser Wollen.
Es ließen sich noch viele andere Varianten der Einflussnahme
anführen. Das Tableau der Möglichkeiten ist groß und äußerst
differenziert.6 Aber es kommt jetzt nicht darauf an, das weiter zu
entfalten. Es kommt darauf an, zu verstehen, dass all dies, auch
wenn unser Wollen determiniert ist, möglich ist. Nichts davon wird
uns durch die Determiniertheit des Wollens weggenommen. Der
Schluss: wenn determiniert, dann unserer Handlungsmacht und un-

6 Vgl. hierzu U. Pothast: Einfluss auf eigenes Wollen, in: M. Großheim


(Hg.): Neue Phänomenologie zwischen Theorie und Praxis (Freiburg 2008),
79–93; Vf., Der Vorrang des Wollens, § 6.
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110 §  4  Die Vorgeschichte des Wollens

serem Einfluss entzogen, ist grundfalsch. Denn die deterministische


Geschehens­folge läuft offensichtlich durch uns und unseren Geist
hindurch, und nicht an ihm vorbei. Das Überlegen, Abwägen, Ima-
ginieren gehört selbst zu den determinierenden Faktoren, die das
Wollen bestimmen.
Wenn der Einfluss auf unser Wollen begrenzt ist, dann ist er das
dadurch, dass wir die Wesen sind, die wir sind, oder durch spezielle
Umstände, etwa dadurch, dass ein Wollen suchthaft ist, aber nicht
durch den Determinismus. Der elementare Wunsch, seine Existenz
zu bewahren, ist, wie erwähnt, durch die Natur in uns eingepflanzt.
Wir sind genetisch so programmiert, dass wir diesen Wunsch haben.
Wir können daran nichts ändern. Aber das rührt daher, dass wir die
Wesen sind, die wir sind. Es ist nicht der Determinismus, der uns
hier eine Einflussmöglichkeit nimmt.
Wenn wir uns wünschen sollten, mehr Einfluss auf unser Wol-
len zu haben, als faktisch möglich ist, scheitert das folglich an un-
serer biologischen Konstitution oder besonderen Umständen, aber
nicht daran, dass unser Wollen determiniert ist. Wir können uns
daran stoßen, dass Teile unseres Wollens genetisch fixiert und damit
die Grundstruktur unserer Volitionen festgelegt ist, aber dann sto-
ßen wir uns nicht daran, dass diese Teile des Wollens determiniert
sind. Denn unter der Prämisse des Determinismus sind die flexiblen
Teile unseres Wollens, das heißt die Teile, auf die wir Einfluss haben,
ebenso determiniert, nur durch etwas anderes. Man darf sich hier
nicht verwirren lassen und sich nicht immer neu von einer falschen
Vorstellung davon, was es bedeutet, determiniert zu sein, zu dem
immer gleichen Fehler verleiten lassen.
Wir sehen, der so begründete Widerstand gegen die Annahme, es
sei gleichgültig, ob das Wollen determiniert sei, ist unbegründet. Er
verpufft. Welche Einflussmöglichkeit auf unser Wollen wir auch im-
mer im Sinn haben, entweder haben wir sie, oder wir haben sie, weil
Konstitution oder Umstände andere sind, nicht. Aber wir haben sie
niemals wegen des Determinismus nicht.
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5.  Kann es uns stören, im Wollen determiniert zu sein? 111

5.  Kann es uns stören, im Wollen determiniert zu sein?

Vermutlich werden die Vorbehalte gegenüber der Annahme, die kau-


sale Bedingtheit des Wollens sei gleichgültig für die dadurch konsti-
tuierte Ichhaftigkeit, mit den zurückliegenden Überlegungen noch
nicht ausgeräumt sein. Vor allem die Vorstellung eines determinier-
ten Wollens und die Behauptung seiner Kompatibilität mit der Ich-
haftigkeit unserer Handlungen bleiben virulent und ziehen weitere
Einwände auf sich. Bleiben wir deshalb bei der Prämisse, wir seien
in unserem Wollen determiniert. Man könne, so ein weiteres Argu-
ment, durchaus akzeptieren, dass ein kausal determiniertes Wollen
ein echtes, eigenes Wollen ist und deshalb sowohl die besondere Ich-
haftigkeit hat, die einem Wollen eigen ist, als auch die Ichhaftigkeit
begründet, die gewollten Handlungen zukommt. Aber es sei bis-
her noch nicht hinreichend berücksichtigt worden, dass ein Wollen
­einen Makel haben könne. Es kann, wie wir sahen, rebellisch oder
kognitiv defizient sein oder in seiner Genese problematisch. Und
so könne man auch das Determiniertsein des eigenen Wollens als
einen Makel empfinden. Es stört dann etwas an ihm, es ist nicht
»unopposed«, und deshalb konstituiert es, qua Wollen, zwar eine
Ichhaftigkeit, aber nicht deren höchste Form.
So sehr dieser Einwand einem Empfinden oder einer Intuition
entsprechen mag, es zeigt sich schnell, dass er auf massive Schwie-
rigkeiten stößt. Beginnen wir mit vier Vorbemerkungen:
(i)  Zunächst ist daran zu erinnern, dass etwas nur stören oder
­einen Makel haben kann relativ auf ein Wollen. Etwas stört, wenn es
einem Wollen zuwiderläuft. Wenn wir im Wollen determiniert sind,
kann uns das also für sich betrachtet nicht stören. Für sich genom-
men ist eine solche Tatsache eben nur dies, eine Tatsache, aber nichts,
was einen stört. Man muss folglich fragen, welches der Wunsch sein
soll, relativ auf den es uns stören kann, im Wollen determiniert zu
sein.
(ii)  Wenn man überlegt, was uns an der Determiniertheit des
eige­nen Wollens stören könnte, darf man sich nicht an den Wün-
schen orientieren, die kognitiv defizient, suchtartig oder rebellisch
sind. Diese Wünsche stören uns, weil sie diese Eigenschaften haben,
nicht weil sie determiniert sind. Man muss sich deshalb an Wün-
schen orientieren, die alle diese Makel nicht haben, mit denen man
also, so weit betrachtet, im Reinen ist. Was man tut, geschieht, so
weit betrachtet, im vollen Sinne »durch mich«. Dennoch soll nun an
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112 §  4  Die Vorgeschichte des Wollens

diesem Wollen wie an jedem anderen auch noch etwas stören, eben
dass es determiniert ist. Doch was kann einen daran stören, dass das
Wollen, mit dem man im Reinen ist, in seiner Genese determiniert
ist? Was könnte dieses besondere Wollen sein, relativ auf das das
Determiniertsein Bedeutung gewinnt? Diese Fragen lassen erkennen,
dass man hier einen ganz besonderen Makel im Auge hat, der auf
einer anderen Ebene angesiedelt ist als die gewöhnlichen Makel. Es
muss sich um ein Virus handeln, das das Wollen, obwohl man mit
ihm im Reinen ist, doch noch infiziert. Man spürt bereits, dass man
sich mit dieser Vorstellung auf ein glitschiges Terrain begibt.
(iii)  Wenn das eigene Wollen determiniert ist und das stört, stört
einen etwas, woran man nichts ändern kann. Man kann nicht sein
gesamtes Wollen loswerden und eine andere Art der Willensbildung
installieren. Es stört einen dann, wie die Welt ist und wie die Men-
schen sind. So wie es mich stören kann, nicht intelligenter zu sein,
ohne dass ich daran etwas zu ändern vermag. Der Wunsch, intel-
ligenter zu sein, hat deshalb etwas Utopisches. Eine intelligentere
Variante meiner selbst wird es nicht geben. Wenn man sich wünscht,
dass das Naturgeschehen anders funktioniert oder zumindest die
Menschen anders funktionieren, gewinnt ein solcher Wunsch sogar
etwas Metaphysisches. Man wünscht sich, ein Wesen anderer Art
zu sein. Wie sinnvoll ist das? Wenn jemand den Wunsch hat, seinen
zwanghaften Wunsch, im Casino zu spielen, loszuwerden, ist das
etwas völlig anderes. Selbst wenn der Wunsch utopisch sein sollte,
wünscht sich die Person, ein bestimmtes Wollen abzuschütteln, aber
nicht, ein Wesen grundsätzlich anderer Art zu sein. Das belegt er-
neut, dass die Frage, ob uns das Determiniertsein des Wollens stören
kann, auf einer anderen Ebene angesiedelt ist als die Frage, ob uns
ein konkretes einzelnes Wollen relativ auf ein anderes Wollen stört.
Suggestive Parallelisierungen sind deshalb problematisch.
(iv)  Es kommt eine weitere Schwierigkeit hinzu. Die Annahme,
das Wollen sei determiniert, ist eine generelle These, jedes Wollen
ist dann determiniert. Das Wollen, im Lichte dessen uns das Deter-
miniertsein stören könnte, wäre also notwendigerweise auch selbst
determiniert. Wenn uns ein kognitiv defizientes Wollen stört, setzen
wir hingegen voraus, dass das maßgebliche Wollen, von dem aus ein
solches Wollen stört, nicht seinerseits mit dem Makel behaftet ist.
Gerade deshalb steht dieses Wollen »über« dem anderen. Im Falle
des Determiniertseins hätte das maßgebliche Wollen aber selbst den
Defekt. Das ist unvermeidlich. Es käme also zu einer paradoxalen
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5.  Kann es uns stören, im Wollen determiniert zu sein? 113

Selbstanwendung: Der Wunsch, von dem aus es stören würde, im


Wollen determiniert zu sein, schlösse ein, diesen Wunsch selbst nicht
haben zu wollen, da er selbst determiniert wäre. Die Katze beißt sich
hier offenkundig in den Schwanz. – Was aber bedeutet diese Schwie-
rigkeit? Bedeutet sie, dass es in diesem Fall gar kein maßgebliches
Wollen geben kann, weil es selbst den beklagten Defekt hätte? Dann
könnte, im eigenen Wollen determiniert zu sein, schon aus diesem
Grunde nicht stören. Und die Frage, um die es geht, wäre bereits
beantwortet.
Lassen wir das zunächst offen und fragen erst einmal, was denn
überhaupt das Wollen sein könnte, von dem aus das Determiniert-
sein des Wollens stören würde. Und was will man stattdessen?
Man zieht sicherlich nicht einen gemischt indeterministisch-de-
terministischen Kausalprozess vor, in dem möglicherweise Zufalls-
elemente in die Genese des Wollens eingehen würden. Das würde
nichts ändern. Die Vorstellung, die eigenen Wünsche seien das Er-
gebnis eines oder mehrerer Zufälle und es könnte deshalb genauso
gut sein, etwas anderes oder das Gegenteil zu wollen, würde, wenn
das Determiniertsein des Wollens irritiert, vermutlich genauso irri-
tieren und dieselben Fragen nach der Urheberschaft auslösen.
Was will man dann? Die vorherrschende Hintergrundintuition
dürfte sein, dass man Einfluss auf das eigene Wollen haben will. Das
Determiniertsein des Wollens stehle einem diesen Einfluss und des-
halb sei es etwas Schlimmes. Aber damit fällt man wieder in den gän-
gigen Fehler zurück, anzunehmen, wenn determiniert, dann unserer
Handlungsmacht und unserem Einfluss entzogen. Wir haben gese-
hen, dass wir vielfältigen Einfluss auf unser Wollen haben und dass
der Determinismus davon nichts wegnimmt. Der Wunsch, einen
solchen Einfluss zu haben, kann also nicht der gesuchte maßgebli-
che Wunsch sein. Und auch der Wunsch, größere Einflussmöglich-
keiten zu haben, als wir sie faktisch haben, kann nicht der gesuchte
Wunsch sein. Denn ein größerer Einfluss scheitert, wie gesagt, an
unserer biologischen Konstitution oder an speziellen Umständen,
aber nicht am Determinismus.
Der gesuchte Wunsch kann auch nicht der Wunsch sein, absoluter,
»letztlicher« Urheber des eigenen Wollens zu sein. Dieser Wunsch
wäre leer und konfus. Wir hätten nicht die leiseste Vorstellung davon,
was wir da wünschen. Außerdem wäre er utopisch und metaphy-
sisch in dem beschriebenen Sinne: Man wünschte sich, ein Wesen
anderer Art zu sein. Damit entstünde die Frage, wie sinnvoll ein sol-
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114 §  4  Die Vorgeschichte des Wollens

cher Wunsch ist. Robert Kane hat gemeint, was uns am Herzen liege,
sei genau dies, wir wollen letzte Urheber sein: »the ultimate source
or origin of one’s own ends and purposes«, und das würde uns mit
dem vollständigen Determiniertsein des Wollens (an das Kane nicht
glaubt) hadern lassen. Denn ohne »letztliche« Urheberschaft gebe
es keine wirkliche Verantwortlichkeit, keine wirkliche Autonomie
und keine wirkliche Würde des Menschen.7 Doch wenn wir keine
Vorstellung von dem haben, was ein absoluter Urheber ist, können
wir auch keine Vorstellung davon haben, was eine so begründete
Verantwortlichkeit, Autonomie und Würde ist. Und erneut kommt
hinzu: Da wir keine absoluten Urheber sind und unsere Ziele nicht
auf diese Weise selbst bestimmen können, kann es auch eine so be-
gründete Verantwortlichkeit, Autonomie und Würde nicht geben.
Es stellt sich deshalb wiederum die Frage, wie sinnvoll ein entspre-
chender Wunsch wäre.
Im übrigen würde sich, wäre der Wunsch, absoluter Anfang zu
sein, nicht leer und unvernünftig, und sollte er auch nicht sinnlos
sein, das Problem der Selbstanwendung stellen. Auch der Wunsch,
ein absoluter Anfang zu sein und eine hierin gründende Autonomie
und Würde zu besitzen, wäre selbst determiniert.
Wenn auch der Wunsch, auf die Willensbildung unverursacht Ein-
fluss zu haben, nicht der gesuchte maßgebliche Wunsch sein kann,
welcher Wunsch soll es dann sein? Es scheint diesen Wunsch nicht
zu geben, und damit drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass das
Empfinden, in der unterstellten Determiniertheit des Wollens liege
ein Makel, unberechtigt ist. Wenn das so ist, haben wir keinen Grund,
anzunehmen, das Determiniertsein des Wollens nehme ­etwas von
der Ichhaftigkeit des Wollens und der aus dem Wollen kommenden
Handlungen weg. Auch von der anspruchsvollsten Form der Ich-
haftigkeit, die dann gegeben ist, wenn ein unangefochtenes Wollen
das Handeln bestimmt, nimmt das Determiniertsein des Wollens,
wie es scheint, nichts weg.

7 Kane, The Significance of Free Will, 69 ff., Zitat: 70.


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6.  Determination und Manipulation 115

6.  Determination und Manipulation

Kommen wir zu einem letzten Argument gegen die These, die kau-
sale Bedingtheit des Wollens und speziell sein Determiniertsein sei
gleichgültig. Determiniert zu sein, so wird gesagt, sei so etwas Ähn-
liches wie manipuliert zu sein. Beide Zustände teilten wesentliche
Eigenschaften (Prämisse 1). Wenn man in seinem Wollen manipu-
liert sei, untergrabe das aber gewiss die Ichhaftigkeit der aus einem
solchen Wollen kommenden Handlungen (Prämisse 2). Und des-
halb unterminiere das Determiniertsein des Wollens ebenso ihre
Ichhaftigkeit (Conclusio). Das Argument zielt also darauf, mittels
eines Vergleichs mit dem Manipuliertsein zu einer Einsicht über das
Determiniertsein zu gelangen.8 Man kann die Überlegung auch so
formulieren: Es wäre unsinnig, anzunehmen, im Falle des Manipu-
liertseins werde die Ichhaftigkeit untergraben, im Falle des Determi-
niertseins aber nicht. Wenn das eine, dann auch das andere.
Die erste Prämisse des Arguments, determiniert zu sein, sei so
etwas Ähnliches wie manipuliert zu sein, klingt jedoch von vorn-
herein, noch bevor man sich näher auf das Argument einlässt, wenig
überzeugend. Eine gewisse Plausibilität hat sie vielleicht, wenn man
in religiösen Vorstellungen lebt und glaubt, Gott lenke alles, was
geschieht, auch das, was die Menschen wollen und tun. Aber unter
der Prämisse eines kausalen Determinismus stellt sich eine solche
Plausibilität nicht ein, weil in diesem Fall keine Person etwas beab-
sichtigt und den Gang der Dinge planvoll bestimmt. Die Entgegen-
setzung des eigenen Wollens und des Wollens eines anderen ist für
das, was eine Manipulation ist, konstitutiv. Diese Entgegensetzung
fehlt im Falle des Determiniertseins aber ganz. Das determinierte
Wollen kommt aus einer Vielzahl von Quellen, aus dem eigenen
genetischen make-up, der eigenen Lebensgeschichte, den eigenen
Erfahrungen und Erlebnissen, zurückliegenden und aktuellen, aus
einem dem Wollen unmittelbar vorgeschalteten Überlegen und Ab-
wägen. Nichts davon bedeutet, dass ein fremder Wille über einen
bestimmt und man manipuliert ist. Weil das so deutlich ist, entsteht
der Verdacht, dass im Hintergrund des Manipulations-Arguments

8 Das »Manipulations-Argument« wird nicht, oder nicht primär, im Kon-


text der Frage, ob und in welcher Weise wir die Urheber unserer Handlun-
gen sind, diskutiert, sondern in der Diskussion über Verantwortlichkeit. Ich
übertrage es also in den Kontext dieses Kapitels und dieses Buches.
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116 §  4  Die Vorgeschichte des Wollens

Vorstellungen vom Determinismus wirksam sind, die das Determi-


niertsein, wie es so oft geschehen ist und noch immer geschieht, mit
Heteronomie, Versklavung oder damit, dass man dann eine bloße
Marionette sei, assoziieren, so dass der Schritt zum Manipuliertsein
eigentlich schon getan ist.9 Doch alle diese Assoziationen gehen of-
fenkundig in die Irre.10
Ich möchte zwei Überlegungen vorbringen, die, wie ich meine,
deutlich machen, dass das Manipulations-Argument tatsächlich ein
Fehlschlag ist. – Fragen wir zunächst, was denn die den Schluss vom
einen zum anderen tragenden Gemeinsamkeiten zwischen dem Ma-
nipuliertsein und dem Determiniertsein sein sollen. Es ist aufschluss-
reich, wie bedeutende Vertreter des Manipulations-Arguments da-
rauf antworten. Die entscheidende Gemeinsamkeit liege, so Kane,
darin, dass in beiden Fällen der »letztliche« Anfang des Geschehens
nicht in einem selbst liege, sondern außerhalb von uns. Manipula-
tion des Wollens und Determination des Wollens bedeuteten beide,
eine bestimmte Macht zu verlieren: »the power to be the ultimate
source or origin of one’s own ends or purposes rather than have that
source be in something other than you.«11 Auch Derk Pereboom
antwortet so. Er imaginiert verschiedene Fälle, in denen das Wollen
einer Person zunächst durch Neurowissenschaftler, dann durch ri-
gide Erziehungsmethoden in frühester Kindheit und zuletzt durch
kausale Determination bestimmt wird.12 Damit soll demonstriert
werden, dass es, wie es in den Fällen der Manipulation durch Neuro­
wissenschaftler nicht angemessen wäre, zu sagen, dass die betref-
fende Person der Urheber dessen ist, was sie infolge ihres Wollens
tut, auch im Falle der Prägung durch rigide Erziehungsmethoden
und schließlich auch im Falle der kausalen Determination nicht an-
gemessen wäre.13 Was in all diesen Fällen eine echte Urheberschaft
ausschließt, ist, so Pereboom, die Tatsache, dass die Handlungen

9 Man betrachte nur das Umschlag-Bild des Buches von R. Kane: Free Will
and Values (New York 1985). Es zeigt einen Mann, der am Kopf, an Armen,
Händen, Beinen und Füßen an Fäden hängt und durch diese Fäden in sei-
nem Verhalten geführt wird: Der Mensch als Marionette als Sinnbild für den
Determinismus.
10 Vgl. dazu auch unten, § 6, S.  174 ff.
11 Kane, The Significance of Free Will, 70 f.; Zitat: 70.
12 D. Pereboom: Living Without Free Will (Cambridge 2001), 112–116.
13 Pereboom spricht nicht von Urheberschaft oder Ichhaftigkeit, sondern
speziell von Verantwortlichkeit.
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6.  Determination und Manipulation 117

jeweils durch Faktoren zustande kommen, die außerhalb der Kon-


trolle des Handelnden liegen. In jedem einzelnen Fall wiederholt
Pereboom das »beyond his control«.14
Das ist aus folgendem Grund überraschend und eine merkwür-
dige Interpretation des eigenen Arguments. Zunächst ist völlig klar,
dass, determiniert zu sein, impliziert, dass die Kausalkette, verfolgt
man sie zurück, zu Faktoren außerhalb von uns führt. Wenn man
dann voraussetzt, wie es Pereboom tut, dass dieses »außerhalb von
uns« bedeutet, dass man nicht der Urheber seiner Handlungen ist,
dann weiß man bereits, dass Determinismus und Urheberschaft und
damit die Ichhaftigkeit der Handlungen inkompatibel sind. Dafür
braucht man dann den Vergleich mit der Manipulation des Wollens
nicht mehr. Man braucht dann, anders gesagt, das ganze Argument
nicht mehr und kann gleich feststellen, dass es so ist.
In Wahrheit assoziiert man mit der Manipulation aber etwas viel
Spezifischeres als das bloße »außerhalb von uns«. Man assoziiert,
dass der Wille eines anderen bestimmt, was man will und tut. Das
bringt der Vergleich ein, und dadurch wird die Plausibilität der An-
nahme erzeugt, dass das Manipuliertsein des Wollens das »durch
mich« der Handlungen aufhebe. Das Problem ist nur, dass dieses
konstitutive Merkmal einer Manipulation beim kausalen Determi-
nismus gerade nicht gegeben ist. Determiniert zu sein, bedeutet ganz
und gar nicht, dass ein anderer Wille bestimmt. Diese Differenz lässt
sich nicht wegwischen.15 Wenn Kane und Pereboom dem Hinweis
darauf mit der Auskunft begegnen, auf diese zugegebenermaßen
vorhandene Differenz komme es nicht an, worauf es ankomme, sei,
dass in beiden Fällen das Geschehen von Faktoren abhängt, die
außer­halb von uns liegen, machen sie damit, wie schon gesagt, das
Argument überflüssig.
Man kann, wenn man das Argument in dieser Weise analysiert,
den Eindruck haben, dass es von vorneherein in einer Zwickmühle
steckt. Entweder man operiert mit dem, was an der Manipulation
spezifisch ist. Dann gelingt die Übertragung auf das Determiniert-

14 Pereboom, Living Without Free Will, 113–116.


15 Pereboom erklärt diesen Unterschied für irrelevant. Dazu entwickelt er
ein weiteres Szenario, in dem nicht Akteure, sondern eine Maschine be-
stimmt, was man will und tut, und zwar eine Maschine, die spontan ent-
standen ist, ohne intelligenten Plan (»intelligent design«). Aber was ist eine
Maschine, die solche Eigenschaften hat? Darunter kann man sich nichts vor-
stellen. Und damit kommt man, meine ich, nicht zu Klärungen (vgl. ebd. 115).
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118 §  4  Die Vorgeschichte des Wollens

sein nicht. Oder man operiert mit dem, was das Manipuliertsein
tatsächlich mit dem Determiniertsein gemeinsam hat. Dann ist das
Argument überflüssig.
Der harte Kern der Sache besteht darin, da haben Kane und Pere­
boom recht, dass, determiniert zu sein, bedeutet, dass das, was wir
wollen und tun, das Resultat von Faktoren ist, die, verfolgt man die
kausalen Fäden zurück, außerhalb von uns liegen. Das ist der Stachel
des Determinismus, und dem ist nicht zu entkommen. Doch nach
allem, was bisher entwickelt wurde, nimmt dieser Umstand nichts
von der Ichhaftigkeit des Wollens und der aus dem Wollen resultie-
renden Handlungen weg.
Die zweite Überlegung soll zeigen, dass auch die andere Prämisse
des Arguments, dass das Manipuliertsein des Wollens die Ichhaftig-
keit des Handelns untergrabe, keineswegs so überzeugend ist, wie im
Argument vorausgesetzt und wie es vielleicht scheint. Es ist für die
Beurteilung des Manipulations-Arguments nach der ersten Überle-
gung eigentlich nicht mehr nötig, darauf noch einzugehen. Aber es
liegt, wie wir sehen werden, auch unabhängig von dem Argument
viel daran, zu klären, ob diese spezielle Vorgeschichte des Wollens:
durch eine Manipulation entstanden zu sein, von Belang ist oder ob
auch sie für die Ichhaftigkeit unserer Handlungen gleichgültig ist.
Zunächst ist es wichtig, sich deutlich vor Augen zu führen, dass,
wenn ein Wollen in mich hineinmanipuliert wird, das Ergebnis ist,
dass ich das Wollen habe und dass es folglich mein Wollen ist. Es
ist richtig, ein anderer will, dass ich etwas will, das Ergebnis ist aber,
dass ich es will. Man muss sich dann daran erinnern, was es heißt,
dass nicht irgendetwas in mich hineinmanipuliert wird, sondern spe-
ziell ein Wollen. Es bedeutet, dass in dem Fall, in dem das Wollen
handlungsleitend wird, der Handlung die volle Ichhaftigkeit zu-
kommt, die daher rührt, dass sie aus einem Wollen hervorgeht. Diese
Art der Ichhaftigkeit ist also auch im Falle einer Manipulation des
Wollens gegeben, – und zwar unabhängig davon, ob ich weiß oder
nicht weiß, dass mein Wollen manipuliert wurde. Was allenfalls feh-
len kann, ist die Ichhaftigkeit auf der höchsten Stufe, die voraussetzt,
dass das handlungsleitende Wollen »unopposed« ist. Die höchste
Form des »durch mich« würde dann nicht gegeben sein, wenn man
gleichzeitig ein Wollen hat, relativ auf das man ein eigenes Wollen,
weil es aus einer Manipulation entstanden ist, nicht will. Nur diese
Stufe der Ichhaftigkeit kann also in Frage stehen. Fragen wir deshalb
auch hier, was dieses »höhere« Wollen sein kann.
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6.  Determination und Manipulation 119

Bevor man die Frage angeht, sind zwei Unterscheidungen zu be-


achten. Die erste lehnt sich an eine Unterscheidung an, die Kane
eingeführt hat. Er unterscheidet zwei Typen von Manipulation, die
eine – Kane nennt sie »constraining« – liegt vor, wenn eine Manipu-
lation einen daran hindert, zu tun, was man will. Die andere liegt vor
 – Kane nennt sie »nonconstraining« –, wenn das Wollen selbst ma-
nipuliert ist, die Manipulation also auf dem Weg zum Wollen statt-
findet, derjenige aber ungehindert das tun kann, was er will.16 Es ist
klar, dass, wenn es um die Manipulation des Wollens geht, eine Ma-
nipulation der zweiten Art gemeint ist. Ich werde die Rede von »hin-
dernder« und »nicht-hindernder« Manipulation beiseite lassen und
stattdessen, einfacher, Manipulationen einerseits auf dem Weg zum
Wollen und andererseits auf dem Weg vom Wollen zum Handeln
unterscheiden. In dieser Unterscheidung spiegelt sich ohne Zweifel
die traditionelle Unterscheidung von Handlungsfreiheit und Wil-
lensfreiheit. Aber lassen wir uns davon nicht ablenken.
Die zweite Unterscheidung ist die zwischen einem partiellen und
einem generellen Manipuliertsein. Das erste liegt vor, wenn ein be-
stimmtes einzelnes Wollen manipuliert ist, das restliche Wollen aber
nicht, das zweite, wenn das Wollen in toto manipuliert ist. Im Mani-
pulations-Argument, zumindest wie es Pereboom entfaltet, geht es
um ein einzelnes Wollen, das in seiner Stärke manipuliert ist. Man
könnte allerdings meinen, wegen des Vergleichs mit dem Determi-
niertsein müsse man eigentlich von einem generellen Manipuliert-
sein des Wollens ausgehen. In diesem Fall entstünde sofort, nicht an-
ders als beim Determiniertsein, das Problem der Selbstanwendung.
Das Wollen, von dem aus es stören soll, im Wollen manipuliert zu
sein, wäre notwendigerweise selbst manipuliert, und es käme wieder
zu dem Paradox, dass der maßgebliche Wunsch sich selbst ablehnen
müsste, weil er selbst den Makel hat, manipuliert zu sein. Erneut
würde sich die Frage stellen, ob damit die Vorstellung, das Mani-
puliertsein des Wollens könne uns stören, nicht bereits erledigt ist.
Aber klammern wir dieses Problem der Selbstanwendung auch
hier ein. Und gehen wir, wie es naheliegt, davon aus, dass nur ein-
zelne Wünsche manipuliert sind. Von welchem Wollen aus kann
uns das stören? Gewöhnlich lautet die Antwort, man wolle sein
eige­nes Leben leben, und das schließe aus, im eigenen Wollen mani-

16 Vgl. Kane, The Significance of Free Will, 64 f.


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120 §  4  Die Vorgeschichte des Wollens

puliert zu sein.17 Aber sein eigenes Leben zu leben oder, anders aus-
gedrückt, autonom zu leben, bedeutet, dass man selbst, durch sein
Wollen, bestimmt, was man tut, nicht jemand anderes. Eine antike
Polis, die Autonomie erstrebte, strebte danach, ihre Angelegenhei-
ten nach ihren eigenen Vorstellungen und Interessen einzurichten,
nicht die Vorstellungen und Wünsche einer anderen Macht sollten
bestimmen. Autonom ist, wer so handelt und sein Leben so gestaltet,
wie er selbst es will, ohne darin gehindert zu sein. Es geht um die
freie Umsetzung dessen, was man will, und deshalb kann die so ver-
standene Autonomie nur durch eine diesen Übergang vom Wollen
zum Handeln vereitelnde Manipulation bedroht werden, aber nicht
durch eine Manipulation auf dem Wege zum Wollen.
Sein Leben nach den eigenen Wünschen einrichten zu wollen,
kann also nicht der Wunsch sein, von dem aus man sich an dem
Manipuliertsein des Wollens stößt. Von welchem Wunsch aus dann?
Man will, so eine zweite Antwort, nicht nur in der Umsetzung sei-
nes Wollens autonom sein, sondern auch in der Ausbildung dessen,
was man will. Das eigene Wollen soll festlegen, was man will, und
nicht das Wollen eines anderen. Deshalb stört es, wenn ein anderer,
durch eine Manipulation, über das eigene Wollen bestimmt. Auf
diese Weise werde der bisher zugrundegelegte zu enge Begriff der
Autonomie überwunden und nach innen erweitert.
Doch auch dieser Vorschlag ist nicht erfolgreich. Auch dieser
Wunsch ist kein plausibler Kandidat für das gesuchte Wollen. Zwei
Überlegungen lassen das erkennen. (i) Als Erstes stellt sich die Frage,
wie realistisch der Wunsch nach einer solchen inneren Autonomie
ist. Wir erschaffen uns nicht selbst, wir bestimmen auch nicht, Lebe-
wesen welcher Art wir sind. Und wir kreieren auch unsere Wünsche
nicht selbst. Die Grundstruktur unseres Wollens ist fix, sie ist da-
durch, dass wir Lebewesen einer bestimmten Art sind, vorgegeben,
wir haben sie nicht selbst, weil wir es so wollten, hervorgebracht.
Dass wir wollen, was angenehm ist, und nicht wollen, was unange-
nehm ist, haben wir nicht aus eigenem Wollen festgelegt. Und andere
Wünsche dieser Art auch nicht. Wir können, wie schon erläutert,
durchaus Einfluss auf unser Wollen nehmen, aber er ist begrenzt,
und vor allem ist er nicht von der Art, dass wir aus unserem Wollen
direkt festlegen können, was wir wollen.

17 Vgl. z. B. Kane, The Significance of Free Will, 69.


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6.  Determination und Manipulation 121

(ii) Außerdem führt die Vorstellung, dass wir aus eigenem Wol-
len bestimmen können, was wir wollen, offenkundig in eine Itera-
tion. Wenn es dafür, die volle Ichhaftigkeit unserer Handlungen zu
sichern, nötig ist, dass das Wollen, aus dem sie kommen, nicht ma-
nipuliert ist, sondern seinerseits aus einem eigenen Wollen kommt,
was ist dann mit diesem vorgängigen Wollen? Offensichtlich muss
dann auch dieses Wollen aus einem eigenen, noch einmal vorgängi-
gen Wollen hervorgehen, und so fort. Es entsteht ein infiniter Re-
gress. Das ist ein unlösbares Problem (es sei denn, man holt den
Urheber, der unverursacht etwas verursacht, wieder hervor).
Die beiden Argumente zeigen, dass auch der Wunsch, das eigene
Wollen solle in seinen Inhalten nicht durch ein fremdes, sondern
durch ein eigenes Wollen bestimmt sein, nicht das gesuchte maß-
gebliche Wollen sein kann. Es ist nicht das Wollen, von dem aus das
Manipuliertsein des Wollens stören könnte. Auch eine Erweiterung
des Autonomiebegriffs nach innen führt in dieser Form nicht weiter.
Aber wie dann? Es wäre merkwürdig, wenn sich nicht verständ-
lich machen ließe, dass es uns stört, im Wollen manipuliert zu sein.
Ich hatte selbst das Beispiel eines Mannes verwandt, der sich an
seinem Wunsch, immer und überall der Erste zu sein, stößt. Der
Wunsch ist ihm, wie ihm mehr und mehr klar wird, von Kindes-
beinen an von seinem Vater andressiert worden. Das kollidiert mit
seinem Bestreben, selbstbestimmt zu leben und nicht die Mario-
nette eines anderen zu sein. Es scheint, als klebten die bisherigen
Überlegungen zu sehr an dem Gegensatz: durch ein fremdes Wol-
len und durch ein eigenes Wollen und der Vorstellung, ein eigenes
Wollen müsse die Willensbildung bestimmen. Daraus ergaben sich
die Schwierigkeiten. Wir bestimmen nicht durch unser Wollen, was
wir wollen. Dennoch ist es so, dass wir, selbst wenn wir kein klares
Bild davon haben, wie die Vorgeschichte unseres Wollens stattdes-
sen verläuft, nicht wollen, dass in seiner Genese eine Manipulation
eine Rolle spielt und uns ein anderer einen bestimmten Wunsch auf-
drückt.
Warum? Was stört uns daran? Was stört den Mann an dem einge-
impften Wollen? Wahrscheinlich ist es so, dass er einfach das Gefühl
entwickelt, dass dieser Wunsch nicht zu ihm und dem, was er ist und
sein will, passt. Er fühlt sich mit dem Verhalten, zu dem er motiviert,
nicht mehr wohl. Wenn es so ist, stört ihn an diesem Wollen nicht
eigentlich die Tatsache des Manipuliertseins, sondern dass durch die
Manipulation in ihm ein Wollen entstanden ist, das nicht zu ihm und
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122 §  4  Die Vorgeschichte des Wollens

dem Leben, das er führen will, passt. Ihn stört diese Diskrepanz, und
die Manipulation erklärt nur, wie es zu diesem quer stehenden Wol-
len gekommen ist. Die Manipulation stört demnach nur sekundär,
als Ursache dessen, was eigentlich stört.
Ein Wunsch, der nicht zu dem passt, was man ist und sein will,
wird gewöhnlich verschwinden. Wenn er jedoch bleibt, als ein wirk-
liches Wollen, und handlungsleitend wird, hat die Handlung zwar
die Ichhaftigkeit, die einer gewollten Handlung zukommt. Aber sie
besitzt nicht die höchste Stufe des »durch mich«, weil das hand-
lungsleitende Wollen »opposed« ist. Es ist angefochten von einem
maßgeblichen Wollen aus. Und dies dürfte am ehesten der Wunsch
sein, im eigenen Wollen kohärent zu sein. Wir streben nach einer
Einheit in unserem Wollen, weil alles andere bedeutet, im Wollen
und im Ich zerrissen zu sein.18 Diese Einheit bedeutet nicht, dass
man keine Wünsche hat, die sich in der Weise widersprechen, dass
sich ihre Realisierung gegenseitig ausschließt (heute Abend in der
Oper zu sein und zuhause noch weiter Augustinus zu studieren).
Sie schließt vielmehr aus, dass man etwas will, und gleichzeitig nicht
will, dass man dieses Wollen hat. Erst das bedeutet, im Wollen und
im Ich zerrissen zu sein. Der Wunsch nach einer volitiven Kohärenz
dieser Art schließt ein, ein Wollen, das quer zum eigenen (tatsächli-
chen oder bloß gewünschten) Charakter liegt, nicht zu wollen. Die-
ser Wunsch nach volitionaler Einheit ist also offenbar das gesuchte
maßgebliche Wollen. Es handelt sich wiederum um einen formalen
Wunsch: man hat ihn schon dadurch, dass man überhaupt etwas will
und mehreres will.
Wenn dies wahr ist, stört uns das Manipuliertsein des Wollens
nicht als solches. Wenn ein Wollen manipuliert ist, es aber mein
Wollen ist und außerdem zu dem passt, was ich sonst noch will, wa-
rum sollte mich dann das Manipuliertsein stören? Und wie könnte
es mich stören? Das ist nicht zu sehen. Das bedeutet, dass eine
Handlung, die aus einem solchen Wollen kommt, trotz des Mani-
puliertseins uneingeschränkt meine ist. Das Wollen ist in diesem
Fall »unopposed«, und deshalb besitzt die gewollte Handlung die
höchste Form des »durch mich«. Man ist uneingeschränkt ihr Ur-
heber. Wenn das manipulierte Wollen hingegen nicht passt, dann
stört es eben deswegen: weil es nicht passt, und sein Manipuliertsein
stört nur derivativ. In diesem Fall kommt der gewollten Handlung

18 So auch Frankfurt, Autonomy, Necessity, and Love, 139; dt. 180.


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6.  Determination und Manipulation 123

nicht die höchste Ichhaftigkeit zu. Denn das Wollen ist »opposed«.
Die Person besitzt keine Einheit in ihren Wünschen, sie ist in ihrem
Wollen und in ihrem Ich gespalten.
Wir sehen nach diesen Überlegungen, dass es eine Manipulation
auf dem Wege zum Wollen ohne Zweifel geben kann, dass sie uns
aber als solche nicht stört. Was uns stört, ist ein Riss im Wollen. Wir
wollen im Wollen kohärent sein. Der Gesichtspunkt der Kohärenz
betrifft aber offenkundig nicht die Genese des Wollens.
Man kann überlegen, ob, was sich hier an der speziellen Genese
des Manipuliertseins offenbart, für jede problematische Genese
­eines Wollens gilt. Ist ein Wollen, das aus einer falschen Art von
Ehrgeiz kommt, nicht auch eigentlich deshalb problematisch, weil
es nicht mit dem zusammenstimmt, was man ist und sein will? In-
teressiert uns nicht auch in diesem Fall und in allen anderen Fällen
eigentlich die volitionale Einheit und nicht die Genese? Es spricht
sehr viel dafür, anzunehmen, dass es generell so ist. Frankfurt hat
gesagt, wenn man einem Wollen gegenüber keine Vorbehalte hat und
es ein gut integrierter Teil der eigenen psychischen Verfassung ist,
sei es grundsätzlich belanglos, wie es dazu gekommen ist, dass man
es hat.19 Ich nehme an, dass es tatsächlich so ist.
Ich kann jetzt ein doppeltes Ergebnis der zweiten und kom-
plizierten Überlegung zum Manipulations-Argument formulie-
ren. Erstens hat sich herausgestellt, dass auch die zweite, als ganz
selbstverständlich vorausgesetzte Prämisse des Arguments, dass
das Manipuliertsein des Wollens die Ichhaftigkeit der Handlungen
untergrabe, in dieser Form nicht bestehen kann. Das Manipuliert-
sein des Wollens ist für die Ichhaftigkeit unserer Handlungen ent-
weder ohne Belang oder allenfalls derivativ bedeutsam. Die zweite
Prämisse kann also genauso wenig bestehen wie die Annahme, das
Spezifische des Manipuliertseins lasse sich auf das Determiniertsein
des Wollens übertragen. Das unterstreicht noch einmal, dass das Ar-
gument ein Fehlschlag ist. Aus ihm lassen sich keine Erkenntnisse
darüber gewinnen, was es bedeuten würde, im Wollen determiniert

19 Natürlich schließt, was Frankfurt sagt, ein, dass, falls das Wollen in ­einen
hineinmanipuliert wurde, auch das belanglos ist. Vgl. H. G. Frankfurt: Re-
ply to John Martin Fischer, in: S. Buss / L. Overton (eds.): The Contours
of Agency. Essays on Themes from H. Frankfurt (Cambridge, Mass. 2002),
27–31, 27 f. Sehr deutlich äußert sich Frankfurt zu diesem Punkt auch in:
O. de Graef et al.: Discussion with Harry G. Frankfurt. Ethical Perspecti-
ves 5 (1998), 15–43, 32 f.
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124 §  4  Die Vorgeschichte des Wollens

zu sein. Die Einsicht, dass das unterstellte Determiniertsein des Wol-


lens ohne Bedeutung für das »durch mich« der Handlungen wäre,
wird durch dieses Argument nicht erschüttert. Und zweitens kön-
nen wir schließen, dass, was für die spezielle Vorgeschichte, durch
eine Manipulation entstanden zu sein, gilt, auch für jede andere Ge-
nese des Wollens gilt. Auch jede andere Vorgeschichte ist ohne Be-
lang oder allenfalls derivativ von Bedeutung. Was uns interessiert,
ist etwas anderes: die Einheit unserer Volitionen.
Damit wird auch klar, in welcher Weise die zweite These, von der
ich oben gesprochen habe (S.  105), zu präzisieren ist. Die Art, wie
es zu einem Wollen kommt, ist, so hatte ich gesagt, grundsätzlich
irrelevant für die Ichhaftigkeit unserer Handlungen, sie hat allenfalls
Einfluss auf den Grad des »durch mich«. Dem ist jetzt hinzuzufü-
gen, dass auch in den Fällen, in denen uns die Vorgeschichte eines
Wollens stört, eigentlich etwas anderes stört: dass das Wollen quer
liegt zu dem, was man ist und sein will.

7. Zusammenfassung

Mit den zurückliegenden Untersuchungen ist, so meine ich, der


Einwand, der am Beginn dieses Kapitels stand, beantwortet. Selbst
wenn alles, was zuvor über die Ichhaftigkeit der Handlungen ge-
sagt wurde, so lautete er, wahr sei, ändere das nichts daran, dass
unsere Handlungen und ihre mentale Vorgeschichte, einschließlich
des eige­nen Wollens, ein Teil des kausalen Kräftespiels sind, Wirkun-
gen von Ursachen, die, verfolgt man sie zurück, außerhalb von uns
liegen. Dieses »außerhalb von uns« unterminiere das »durch mich«
unserer Handlungen. Wir haben jetzt gesehen, dass und warum das
nicht so ist. Die Ichhaftigkeit einer Handlung ist nicht rekursiv. Das
»durch mich« beginnt irgendwo, und es geht aus etwas hervor, was
selbst nicht »durch mich« ist. Und all das geschieht voll und ganz
innerhalb des kausalen Geschehens. Deshalb kann auch ein deter-
ministisches Kausalgeschehen und speziell das Determiniertsein des
Wollens die Ichhaftigkeit unserer Handlungen und unsere Urheber-
schaft nicht angreifen.

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§5
Wollen, offene Optionen und Anders-Können

»Denn wenn es bei uns liegt, zu handeln, dann auch,


nicht zu handeln, und wenn es bei uns liegt, nicht
zu handeln, dann auch, zu handeln.«

Aristoteles, Nikomachische Ethik, III, 7. 1113 b 7 f.

1.  Unterlassbarkeit und Anders-Können

Die Auffassung des »durch mich«, wie sie bisher entwickelt wurde,
zieht einen weiteren schwerwiegenden Einwand auf sich, der in
der Diskussion über Freiheit und Verantwortlichkeit seit langem
eine bedeutende Rolle spielt. Übertragen in den jetzigen Kontext
lautet die Diagnose wieder, dass es dafür, dass ich es bin, der et-
was tut, und die Handlung wirklich meine ist – in einem stärkeren
Sinn als nur dem, dass ich und nicht eine andere Person sie tut –,
nicht genügt, dass ich sie tue, weil ich sie tun will, und sie durch
mein Wollen verursache. Es müsse etwas Weiteres hinzukommen.
Eine Handlung sei, das ist jetzt der Punkt, nur dann meine, wenn
ich sie auch unterlassen kann, wenn es also in meiner Macht steht,
sie auch nicht zu tun oder stattdessen etwas anderes zu tun. Eine
Handlung muss, mit anderen Worten, eine Option neben anderen
Optionen sein, so dass man sie aus einer Mehrzahl von Möglich-
keiten wählt und eine andere Option nicht wählt. Dadurch, dass
man sie wählt, aber auch eine andere Handlung hätte wählen und
anders hätte handeln können, wird sie, so die Vorstellung, erst zu
meiner Handlung, zu etwas, das auf einen selbst zurückgeht und
wofür man verantwortlich ist. Die Handlung muss, so kann man
auch sagen, in einem Spielraum angesiedelt sein, über den der Han-
delnde verfügt. Er muss über mehrere offene Handlungsmöglich-
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126 §  5  Wollen, offene Optionen und Anders-Können

keiten verfügen, und erst dadurch, dass er eine von ihnen ergreift
und realisiert, ist die Handlung seine Handlung. Dies ist es, was
die Ichhaftigkeit einer H
­ andlung in Wahrheit begründet. Das bloße
Gewolltsein ist zu wenig.
Die Macht, das eine, aber auch etwas anderes zu wählen, hat man
oft »Willensfreiheit« genannt. Bischof John Bramhall, Hobbes’ Ge-
genspieler in einer über beinahe anderthalb Jahrzehnte geführten
und viele Druckseiten füllenden Debatte über Freiheit und Not-
wendigkeit, schrieb: »… whosoever have power of election, have
true liberty; for the proper act of liberty is election.«1 Eine eigene
Handlung ist demnach immer eine Tat der Freiheit.
Es kann keinen Zweifel daran geben, dass wir unsere Handlun-
gen im allgemeinen aus mehreren Optionen auswählen. Dem geht
in vielen Fällen eine Überlegung voraus. Man überlegt, ob man die
Handlung a oder die Handlung b tun will, und das setzt offensicht-
lich voraus, dass man jede der Handlungsoptionen ergreifen kann.
Jede der Optionen ist in diesem Sinne offen. Sonst wäre es sinnlos,
zu überlegen. Und zweifellos bildet die Erfahrung, so, aber auch
anders zu können, die Erfahrung, dass einem mehrere Optionen
offen stehen und es von einem selbst abhängt, was geschieht, den
Kern des menschlichen Aktivitäts- und Freiheitsbewusstseins. Diese
Erfahrung ist so zentral für uns, dass wir keinen Moment daran
zweifeln, dass wir in dem, was wir tun, frei sind und dass wir es sind,
von d­ enen abhängt, ob diese Handlung oder jene zur Realität wird.
Dem Einwand folgt gewöhnlich eine zweite Überlegung: Wenn
man das »durch mich« unserer Handlungen erst einmal in der jetzt
zur Geltung gebrachten Weise verstehe, sei klar, dass es ein solches
»durch mich« unter der Prämisse eines deterministischen Weltver-
laufs nicht geben könne. Denn es setze mehrere offene Optionen
voraus, unter deterministischem Vorzeichen gebe es aber immer nur
eine mögliche Zukunft, also immer nur eine Möglichkeit für den
weiteren Weltverlauf. Wenn man zu einem bestimmten Zeitpunkt
die Handlung a wählt und sie tut, dann sei es gerade nicht möglich,
die Handlung b zu wählen und sie statt der Handlung a zu tun.
Das werde durch die Annahme des Determinismus ausgeschlossen.
Denn der Determinismus kennt keine Verzweigungspunkte, an de-

1 J. Bramhall / Th. Hobbes: The Questions Concerning Liberty, Necessity,


and Chance, in: Th. Hobbes: The English Works, ed. W. Molesworth, vol. V
(London 1841), 66.
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2.  Einige Vorbemerkungen 127

nen man bei bis dahin gleicher kausaler Vorgeschichte sowohl in


die eine wie auch in eine andere Richtung gehen kann. »… a liberty
of election«, so Bramhall, »cannot possibly consist with a determi-
nation to one«.2 Es gibt in einer deterministischen Welt, so diese
zweite Überlegung, keine offenen Optionen, keine Spielräume, kein
Anders-Können. Und deshalb erweisen sich die Macht, so, aber auch
anders zu handeln, und der Determinismus als unvereinbar.
Wer einen deterministischen Weltverlauf unterstellt, muss des-
halb, so folgert man weiter, annehmen, dass es wirkliche Über­legun­
gen, wirkliches Wählen zwischen offenen Optionen, wirkliches An-
ders-Können und damit wirkliche Akteure und wirkliche eigene
Handlungen gar nicht gibt. Es scheint nur so, aber das sind dann alles
Illusionen.3 Wer überlegt und sich dabei auf offene Optionen bezieht,
setze damit notwendigerweise voraus, in dem, was er da tut, nicht
determiniert zu sein. Wenn die Welt aber in Wahrheit determiniert
ist, sei das eine gigantische Illusion.
Versuchen wir also auseinanderzulegen, was es mit der Macht, an-
ders zu wählen und zu handeln, auf sich hat. Welche Bedeutung hat
sie für die Ichhaftigkeit unserer Handlungen? Und ist sie mit ­einem
geschlossenen Kausalgeschehen und im besonderen mit einem de-
terministischen Weltverlauf vereinbar oder nicht?

2.  Einige Vorbemerkungen

Die Beantwortung dieser Fragen erfordert eine ganze Reihe von Klä-
rungen. Am besten, man beginnt mit einer Analyse des Überlegens
und seiner Voraussetzungen. Das Überlegen setzt, das ist unkon­

2 Ebd.
3 Vgl. zum Beispiel G. Keil: Willensfreiheit und Determinismus, 2. Aufl.
(Stuttgart 2018), 138: »In einer deterministischen Welt gäbe es aber überhaupt
keine Akteure, Überlegungen, Entscheidungen, Handlungen und Fähigkei-
ten, wie wir sie kennen.« Wer »den Weltlauf für alternativlos fixiert hält,
sollte besser von Quasientscheidungen, Quasihandlungen, Quasiüberlegun-
gen, Quasifähigkeiten und Quasifreiheit sprechen«. So auch G. Seebaß: Die
Signifikanz der Willensfreiheit, in: G. S.: Handlung und Freiheit (Tübingen
2006), 191–246, 350–373, hier: 231–238; vgl. zur Thematik dieses Kapitels
auch dessen Aufsatz: Die konditionale Analyse des praktischen Könnens
(ebenfalls in Handlung und Freiheit), der allerdings zu ganz anderen Ergeb-
nissen kommt als die folgenden Untersuchungen.
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128 §  5  Wollen, offene Optionen und Anders-Können

trovers, in irgendeiner Art offene Optionen, einen Spielraum und


ein So-und-anders-Können voraus. Deshalb ist zunächst zu klären,
was genau jemand voraussetzt, der überlegt, ob er die Handlung a
oder die Handlung b tun will. Was genau muss der Fall sein, damit
die Überlegung sinnvoll ist? Und dann ist die Frage, ob das, was der
Fall sein muss, mit dem Determinismus vereinbar ist. Ein determi-
nistischer Weltverlauf bedeutet, auch das ist unkontrovers, dass es
offene Optionen in einem bestimmten Sinn nicht gibt. Es gibt unter
dieser Prämisse keine Verzweigungspunkte, an denen es bei einer
bestimmten Kausalgeschichte bis dahin so, aber auch anders weiter-
gehen kann. Wie also ist das im Überlegen vorausgesetzte Anders-
Können zu verstehen?
Diese Frage stellt sich, wie wir bereits sahen (in § 1), nicht nur
unter deterministischem Vorzeichen. Auch wenn man annimmt, die
Welt funktioniere, in welcher Variante auch immer, gemischt inde-
terministisch-deterministisch, bleibt zu klären, was es heißen kann,
Optionen zu haben, in einem Spielraum zu agieren und anders zu
können. Der Indeterminismus kennt Situationen, in denen mehr als
eine Zukunft möglich ist. Bei bestimmten kausalen Konstellatio-
nen kann, ohne dass der Verlauf vorhersehbar wäre, als Nächstes
a, aber auch b geschehen. Aber wenn man, dafür spricht, wie ge-
sehen, sehr viel, annimmt, trotz indeterministischer Vorgänge auf
der Mikroebene sei das Geschehen auf der Makroebene und damit
unsere Überlegungen und die daraus resultierenden Handlungen
determiniert, ändert sich an der Problemlage offenkundig nichts.
Und wenn man annehmen will, dass indeterministische Prozesse auf
die Makroebene durchschlagen, und zwar, das muss man dann auch
annehmen, genau an der richtigen Stelle, nämlich bei der Wahl einer
Handlung oder in ihrem unmittelbaren Vorfeld, wäre die gewählte
Handlung eine Zufallshandlung. Das heißt, es hätte auch passieren
können, dass ich etwas anderes tue, und es wäre nicht zu erklären,
warum so und nicht anders. In beiden Fällen, wenn ich Handlung
a tue, genauso wie wenn ich Handlung b tue, ist die Handlung das
Ergebnis eines kausalen Geschehens, das durch mich hindurchläuft.
Und deshalb stellt sich auch hier die Frage, was es bedeuten kann,
dass man, wie im Überlegen unterstellt, offene Optionen hat und
es von einem selbst abhängt, zu welcher Handlung es kommt. Auch
hier steht prinzipiell in Frage, welche Funktion das Überlegen hat,
ist doch die Handlung, die man zufallsbedingt tut, für einen selbst
unerklärlich und rätselhaft, während das Überlegen darauf zielt, eine
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2.  Einige Vorbemerkungen 129

Handlung zu tun, von der man erklären kann, warum man gerade
sie und nicht eine andere tut.
Wer glaubt, mit der Ablehnung des Determinismus seien die Pro-
bleme gelöst, weil der Indeterminismus Raum für mehr als eine Zu-
kunft schaffe, liegt falsch. Die eigentliche Frage lautet, wie offene
Optionen und Handlungsspielräume Teil einer kausalen Welt sein
können, sei sie so beschaffen oder so. Ich werde im Folgenden aller-
dings wie bisher um der Einfachheit willen die deterministische Prä-
misse zugrundelegen. Das sorgt für eine gewisse Konkretion, und
außerdem gilt sie vielfach als die gefährlichere Annahme.
Nach der Klärung der Fragen, die das Verständnis des Anders-
Könnens und seine Kompatibilität mit dem Determinismus betref-
fen, werden wir untersuchen können, wie das Gewolltsein einer
Handlung und das Anders-Können zueinander stehen. Der Ein-
wand, um den es geht, präsentiert sich, als setze er an die Stelle der
bisher entwickelten Konzeption, dass eine Handlung dann meine ist,
wenn ich sie tue, weil ich sie tun will, die andere, die richtige Kon-
zeption, nach der eine Handlung dann meine ist, wenn ich die Macht
habe, auch etwas anderes zu tun. Man hat es hier, so die stillschwei-
gende Voraussetzung, mit zwei separaten, konkurrierenden Auffas-
sungen zu tun. Dieser Eindruck wird dadurch weiter verstärkt, dass
man meint, das »durch mich«, durch das Gewolltsein der Handlun-
gen erklärt, sei mit dem Determinismus vereinbar, während es, durch
das Anders-Können erklärt, mit dem Determinismus nicht verein-
bar sei. Wenn wir uns jedoch daran erinnern, was oben bereits über
das Gewolltsein einer Handlung ausgeführt wurde4, wird diese Be-
schreibung der Diskussionslage zweifelhaft. Wenn man eine Hand-
lung tut, weil man sie tun will, ist sie, so wurde gesagt, gewöhnlich
in einem Spielraum angesiedelt. Man kann sie tun und man kann sie
nicht tun, man kann sie so tun, aber auch anders. Ob und wie man
sie tut, hängt davon ab, was man will. Wenn man sie tun will, tut man
sie, wenn man sie nicht tun will, tut man sie nicht. Die Umstände
erlauben das eine wie das andere. Und deshalb liegt, ob wir dieses
oder jenes tun, an uns, daran, was wir wollen. Wenn das richtig ist
und das Gewolltsein einer Handlung ihre Unterlassbarkeit und das
Anders-Können einschließt, konkurrieren nicht zwei Konzeptionen
miteinander, vielmehr expliziert die eine nur, was die andere schon

4 Vgl. § 2, S.  42 ff.


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130 §  5  Wollen, offene Optionen und Anders-Können

impliziert. Dann ergibt sich ein ganz anderes Bild, als es der Ein-
wand suggeriert. – Beginnen wir also mit der Untersuchung.

3.  Das Überlegen, seine Voraussetzungen und das Können

Wer überlegt, ob er unter dem Strich die Handlung a oder die Hand-
lung b tun will (oder ob er die Handlung a tun oder nicht tun will),
muss, so habe ich gesagt, voraussetzen, dass er beide Handlungen,
also a und b, tun kann. Er muss voraussetzen, dass er, wenn sich
durch die Überlegung herausstellen sollte, dass er unter dem Strich
die Handlung a tun will, a auch tun kann, und dass er, wenn sich
herausstellen sollte, dass er in der Summe b tun will, b auch tun kann.
Er muss also annehmen, dass in beiden Fällen der Weg vom Wollen
zum Tun frei ist. Sonst wäre die Überlegung sinnlos.
Solange man überlegt, weiß man noch nicht, wie die Überlegung
ausgehen wird. Um zu erkennen, welcher der beiden konkurrieren-
den Wünsche stärker ist, müssen das relevante volitionale Gewebe,
in das sie eingewoben sind, und ihr relatives Gewicht in diesem Ge-
webe erst noch freigelegt werden. Man ist sich in seinen Wünschen
und ihrem Zueinander nicht ohne weiteres durchsichtig und muss
deshalb durch die Überlegung erst eruieren, wie es ist. Wie die Über-
legung ausgehen und welcher Wunsch sich als der stärkere heraus-
stellen wird, ist epistemisch noch offen. Es kann so sein, aber auch
anders. Ganz so, wie wenn Sherlock Holmes am Abend zu Watson
bemerkt: »Wenn wir, lieber Watson, alles zusammenziehen, was wir
bisher wissen, kann es sein, dass Miller der Mörder war, es kann aber
auch sein, dass Dr. Taylor es war.«
Wenn man sagt, es kann sein, dass die Überlegung so ausgehen
wird, es kann aber auch sein, dass es anders herauskommt, ist die-
ses »können« also epistemisch verwandt. Und wenn man in diesem
Sinne sagt, es kann sein, dass ich a tun werde, und es kann sein,
dass ich b tun werde, ist das »können« ebenfalls epistemisch ver-
wandt. Man muss sich jedoch darüber im Klaren sein, dass das in
der Überlegung vorausgesetzte Können: dass man, falls sie so aus-
geht, a tun kann und dass man, falls sie anders ausgeht, b tun kann,
kein epistemisches Können ist, sondern in einem anderen, noch
zu erläuternden Sinne gemeint ist. Dennoch ist auch diese episte-
mische Offenheit, dass man also nicht weiß, wie das Ergebnis der
Überlegung sein wird, und folglich auch nicht, was man tun wird,
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3.  Das Überlegen, seine Voraussetzungen und das Können 131

eine Voraussetzung des Überlegens. Das ist indes nicht mehr als
eine Trivialität.
Wie ist nun das fragliche Können zu verstehen? Nehmen wir an,
dass ich heute Abend einige Stücke von Chopin spiele, ist die Hand-
lung a. Es ist nur sinnvoll, zu überlegen, ob ich das unter dem Strich
tun will, wenn ich, falls es so sein sollte, das, was ich da will, auch
realisieren kann. Wovon hängt das ab? Natürlich muss ich die Fä-
higkeit haben, Klavier zu spielen und auf diesem Niveau zu spielen.
Ohne diese Fähigkeit kann ich heute Abend gewiss nicht spielen.
Aber das alleine reicht nicht aus. Selbstverständlich muss ich heute
Abend auch an einem Ort sein, an dem ein Klavier oder ein Flügel
zur Verfügung steht. Wenn das nicht der Fall ist, kann ich die Stücke
von Chopin ebenfalls nicht spielen. Es fehlt dann die Gelegenheit.
In diesem Fall hätte ich die generelle Fähigkeit, Klavier zu spielen,
aber mangels Gelegenheit könnte ich sie an diesem Ort und zu die-
sem Zeitpunkt nicht ausüben. Und noch etwas Drittes würde es
unmöglich machen, dass ich heute Abend spiele. Wenn ich mir am
Nachmittag so stark in den Finger schneide, dass ein dicker Ver-
band nötig wird, ist es ebenfalls unmöglich, zu spielen. Ich habe die
Fähigkeit, es gibt auch die Gelegenheit, sie zu aktualisieren, aber es
kommt etwas dazwischen. Die Ausübung der Fähigkeit ist wiede-
rum, auf eine andere Weise, blockiert. Ich werde heute Abend des-
halb nicht spielen können.
Alle drei Bedingungen müssen also gegeben sein, damit ich in
der konkreten Situation spielen kann, (i) die Fähigkeit, (ii) die Ge-
legenheit und (iii) dass nichts dazwischenkommt. Wenn eine die-
ser Bedingungen nicht gegeben ist, ist die entsprechende Handlung
ausgeschlossen. Sie kann deshalb keine Option sein. Und wenn man
annimmt, dass sie keine Option ist, kann man nicht in einer Über-
legung erwägen, ob man sie tut. Dieses Können, das an diese drei
Voraussetzungen gebunden ist, ist das Können, das in der Über-
legung für die Handlung a und für die Handlung b vorausgesetzt
wird. Wenn diese Bedingungen sowohl für die eine wie auch für die
andere Handlung gegeben sind, kann ich voraussetzen: falls sich die
Handlung a empfiehlt, kann ich sie tun, und falls sich die Handlung
b empfiehlt, kann ich sie tun.
Man kann die Bedingung (ii), die Gelegenheit, und die Bedin-
gung (iii), dass nichts dazwischenkommt, zusammenfassen und von
»Umständen« sprechen. Die Umstände müssen zulassen, dass man
die Fähigkeit, Klavier zu spielen, zu einem bestimmten Zeitpunkt
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132 §  5  Wollen, offene Optionen und Anders-Können

und an einem bestimmten Ort realisiert. Die Fähigkeit darf nicht


blockiert sein. Wenn man will, kann man, obwohl das eine Härte
enthält, weil die Fähigkeit eine intrinsische Eigenschaft ist, auch die
Fähigkeit noch zu den Umständen rechnen.5 Man kann dann (wie
ich es im Folgenden tun werde) sagen, dass die Umstände es erlau-
ben müssen, heute Abend Klavier zu spielen. Wenn sie das tun, dann
kann ich in dem Sinn, um den es hier geht, die vorgesehenen Stücke
von Chopin spielen.
Man braucht für dieses Können einen Terminus. »Fähigkeit«,
obwohl häufig in diesem Sinne verwandt, passt nicht gut, weil das
Wort bereits als Bezeichnung für die erste Bedingung fungiert. Und
natürlich darf man das Können im Sinne der Fähigkeit nicht mit
dem Können verwechseln, das das Erfülltsein nicht nur der ers-
ten Bedingung, sondern auch das der beiden anderen Bedingungen
voraus­setzt. Außerdem ist das Können im Sinne der Fähigkeit et-
was wesentlich Generelles: selbst wenn man heute Abend, weil ein
Klavier fehlt, oder wegen eines verbundenen Fingers nicht spielen
kann, kann man grundsätzlich Klavier spielen, und das gilt auch für
den heutigen Abend. Aber in dem anderen Sinn kann man heute
Abend nicht spielen, weil die Fähigkeit zu diesem Zeitpunkt und
an diesem Ort durch die Umstände blockiert wird. Auch die Un-
terscheidung von genereller und spezifischer Fähigkeit scheint mir
unglücklich zu sein. Sie führt leicht zu Unklarheiten und Konfu-
sionen. Sprechen wir lieber, um für das fragliche Können ein Wort
zu haben, von »Macht« – »Macht« in dem Sinne, in dem man sagt,
etwas liege in jemandes Macht.6 Man hat, wenn die genannten drei
Bedingungen erfüllt sind, die Macht, heute Abend die Stücke von
Chopin zu spielen, und man hat diese Macht nicht, wenn eine der
Bedingungen nicht erfüllt ist. Wenn man überlegt, was man mehr
will, a oder b, muss man also voraussetzen, dass man, wenn sich
ergeben sollte, dass man in der Summe a tun will, die Macht hat, a
zu tun, und wenn sich ergeben sollte, dass man stärker b tun will,
die Macht hat, b zu tun. Die Überlegung setzt voraus, dass man die
doppelte Macht hat, die Macht, a zu tun, und die Macht, b zu tun.

5 Wir werden unten in § 6, S.  180 f. sehen, dass, die Fähigkeit zu den Um-
ständen zu rechnen, tatsächlich nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine
Notwendigkeit ist.
6 So zum Beispiel auch G. E. Moore: Ethics (London 1912), 109, 111;
A. Kenny: Will, Freedom and Power (Oxford 1975), 141.
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3.  Das Überlegen, seine Voraussetzungen und das Können 133

Und wenn man überlegt, ob man a tun will oder es lieber unterlas-
sen will, setzt man voraus, dass man die Macht hat, a zu tun, und
auch die Macht, es zu lassen.
Wenn man die Macht hat, a zu tun, und auch die Macht, b zu tun,
erlauben es einem die Umstände, das eine und das andere zu tun.
Man kann sich hier erneut auf den platonisch-aristotelischen Sprach-
gebrauch zurückbeziehen. Das griechische Wort exeinai bedeutet,
wie wir sahen7, »es ist möglich«, »es steht einem frei«, »es ist erlaubt«,
wobei immer mitzudenken ist: durch die konkreten Umstände einer
Situation. Platon sagt im Politikos, ich habe es schon angeführt: »Es
steht einem frei (exestin), den Weg zu gehen, welchen von beiden wir
wollen.«8 Das von exeinai abgeleitete Substantiv exousia gewinnt
von dort die Bedeutung »Macht«. Man hat die doppelte Macht, a zu
tun und b zu tun. Nichts hindert einen, das eine zu tun, und nichts
hindert einen, das andere zu tun. Was man tut, hängt dann davon
ab, was man in der Konkurrenz der Wünsche am stärksten will. Es
hängt nicht von den Umständen ab, sondern allein davon, was man
in der Summe will.
Deshalb spricht Aristoteles auch davon, dass es »bei uns« (eph’
hēmin) und bei nichts anderem liegt, ob wir a tun oder b tun. Das
eph’ hēmin, das Bei-uns-Liegen, bedeutet immer eine zweiseitige,
eine doppelte Macht. »Denn wenn es«, so schreibt Aristoteles, »bei
uns liegt, zu handeln, dann auch, nicht zu handeln, und wenn es bei
uns liegt, nicht zu handeln, dann auch, zu handeln.«9 Mit der For-
mulierung »es liegt bei uns« wird sehr klar lokalisiert, wo die archē,
der Anfang und die Ursache dessen, was geschieht, liegt. Man selbst
ist, durch sein Wollen, der Anfang des Geschehens, man selbst ist, so
Aristoteles auch, der »Herr« (kyrios) über das, was geschieht. Und
das, was dann geschieht, geschieht »durch uns«.10
Wenn ich, wie in der Überlegung vorausgesetzt, beide Optionen
habe, hängt, wie gesagt, was ich tatsächlich tue, von mir ab, und das
heißt, es hängt davon ab, was ich stärker will, das a-Tun oder das b-
Tun. Wenn ich das eine stärker will, werde ich a tun, wenn ich das
andere stärker will, werde ich b tun. Es liegt deshalb nahe, das Kön-
nen der Macht durch eine konditionale Analyse zu erläutern, wie

7 Siehe oben § 2, S.  45.


8 Platon, Politikos 265 a 5 f.
9 Aristoteles, EE II, 6. 1223 a 4–9; EN III, 7. 1113 b 7 f.
10 EN III, 5. 1112 b 27.
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134 §  5  Wollen, offene Optionen und Anders-Können

es verschiedene Philosophen vorgeschlagen haben: Man kann a in


diesem Sinne tun, wenn es so ist, dass man a tun wird, wenn man a
in der Summe will. Ich brauche darauf im Moment nicht einzugehen,
weil es im jetzigen Kontext nicht darauf ankommt, über das bislang
Gesagte hinaus weiter auszuloten, was es heißt, die Macht zu haben,
eine bestimmte Handlung zu tun. Das Entscheidende wurde dazu
bereits gesagt. Wichtig aber ist Folgendes: Man muss das Konditi-
onal: »Wenn ich in der Summe a tun will, werde ich a tun« strikt
unterscheiden von den Konditionalen, die man in der Überlegung
voraussetzt: »Wenn sich durch die Überlegung herausstellen sollte,
dass ich unter dem Strich a tun will, kann ich a tun. Und wenn sich
herausstellen sollte, dass ich unter dem Strich b tun will, kann ich b
tun.« Das erste Konditional spricht im Consequens vom Tun, die
Konditionale der Überlegung sprechen vom Tun-Können. Das sind
zwei verschiedene Dinge. Bei den Voraussetzungen des Überlegens
geht es nicht um das, was man tun wird, sondern um das, was man
tun kann. Es geht um Optionen, um Möglichkeiten, nicht um Vor-
hersagen künftigen Verhaltens.
Die eigentliche Differenz der Konditionale liegt aber in etwas
anderem: Das erste Konditional, in dessen Consequens vom Tun
die Rede ist, ist ein genuines hypothetisches Konditional. Aus der
Realität des einen, des Wollens, folgt die Realität des anderen, des
Tuns. Das eine, so kann man in diesem Fall auch sagen, ist die Ursa-
che des anderen. Die anderen Konditionale, die in der Überlegung
vorausgesetzt werden, sind hingegen keine genuinen hypothetischen
Konditionale. Sie sprechen im Antecedens nicht von einer kausalen
oder logischen Bedingung des Könnens, sondern von einer zukünf-
tigen Möglichkeit. Das Können ist nicht durch ein Wollen konditio-
niert, es besteht ganz unabhängig davon. Es ist nicht so, dass, wenn
sich am Ende der Überlegung herausstellt, dass man a stärker will,
dies die Ursache dafür ist, dass man die Macht hat, a zu tun, und
dass, wenn sich am Ende herausstellt, dass man b stärker will, dies
die Ursache dafür ist, dass man die Macht hat, b zu tun. Die Macht
hat man im einen wie im anderen Fall völlig unabhängig vom Wol-
len. Man hat sie, wenn die drei genannten Bedingungen erfüllt sind,
und das hat mit dem Ausgang der Überlegung und der Ordnung des
eigenen Wollens nichts zu tun. Der Satz »Wenn sich herausstellen
sollte, dass …, kann ich die gewollte Handlung auch tun« ist also
nicht im Sinne eines hypothetischen Konditionals zu verstehen. Es
wäre, wie Austin herausgestellt hat, ein schwerer Fehler, anzuneh-
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3.  Das Überlegen, seine Voraussetzungen und das Können 135

men, die Macht, die in der Überlegung vorausgesetzt wird, sei im


Sinne eines hypothetischen Konditionals »iffy«.11
Wenn ich überlege, ob ich a oder b in der Summe tun will, setze
ich, wenn das bisher Gesagte richtig ist, voraus, dass ich, wenn ich a
tun wollen werde, nicht nur die Macht haben werde, a zu tun, son-
dern auch die Macht, b zu tun. Genauso umgekehrt. Ich setze also
voraus, dass ich, gleichgültig ob sich herausstellen wird, dass ich in
der Summe stärker a will oder dass ich stärker b will, sowohl a wie
auch b tun kann. Und das zeigt, dass hier kein genuines Konditional
vorliegt. Denn bei einem genuinen Konditional: »wenn p, dann q«
gilt niemals: »gleichgültig ob p oder non-p, in jedem Fall q.«
Wie sind die »Wenn«-Sätze, deren Wahrheit man in der Über-
legung voraussetzt, aber dann zu verstehen? Man spielt in diesen
Gedanken die verschiedenen Möglichkeiten für den Ausgang der
Überlegung durch und vergewissert sich, dass man in jedem Fall das
in der Summe Gewollte auch wird tun können. So wie in folgendem
Beispiel: Ich verabrede mit einem Freund, dass wir heute Abend
etwas zusammen unternehmen, wir lassen aber noch offen, ob wir
Tennis spielen oder nur im Clubrestaurant gemeinsam essen wollen.
Das entscheiden wir erst, wenn wir uns am Abend treffen. Aber wir
vergewissern uns: Wenn es so sein sollte, dass wir Tennis spielen wol-
len, wird dann ein Platz für uns frei sein? Und wenn es so sein sollte,
dass wir gemeinsam essen wollen, wird dann das Restaurant offen
sein? Nehmen wir an, ein Platz wird heute Abend frei sein und auch
das Restaurant wird offen sein. Das eine wie das andere hängt nicht
daran, wie wir uns entscheiden werden. Der Platz ist so oder so frei
und das Restaurant ist so oder so offen. Die »Wenn«-Sätze, die in
Überlegungen dieser Art, in denen man mit mehreren Möglichkeiten
operiert, eine Rolle spielen, sind offenkundig keine hypothetischen
Konditionale. Man bedient sich ihrer, um sich zu vergewissern, dass
das, was man in Erwägung zieht, wirklich eine Option ist.12

11 Vgl. J. L. Austin: Ifs and Cans (1956), in: J. L. A.: Philosophical Papers,
3rd edition (Oxford 1979), 205–232, 208–210.
12 Konditionale dieser Art werden heute häufig unter der Bezeichnung
»bis­cuit conditionals« diskutiert. Diese Benennung geht auf ein Beispiel für
ein nicht-hypothetisches Konditional zurück, das Austin angeführt hatte:
»There are biscuits on the sideboard if you want them.« Vgl. Austin, Ifs and
Cans, 210. Austins Beispiel zeigt, dass zu der Gruppe der »biscuit conditio-
nals« verschiedene Varianten gehören, nicht nur die, um die es hier geht.
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136 §  5  Wollen, offene Optionen und Anders-Können

Nehmen wir nun an, jemand erkennt durch die Überlegung, dass
er in der Summe a tun will, und dass er a dann auch tatsächlich tut.
Hätte er auch anders handeln können? Hätte er auch b tun können?
Es ist üblich, die Frage in dieser Weise im Konjunktiv zu formulie-
ren. Aber man kann auch den Indikativ verwenden. Konnte er auch
anders handeln? Konnte er statt a auch b tun? Die konjunktivische
Formulierung drängt sich vermutlich deshalb auf, weil sie betont,
dass die Person b nicht getan hat. Selbst wenn sie es gekonnt hat, hat
sie diese Möglichkeit nicht realisiert. Man muss indes sehen, dass die
Frage das Können betrifft, nicht das Tun: Konnte sie b tun, obwohl
sie es nicht getan hat? Das Können, um das es geht, ist unabhängig
davon, ob sie b getan hat oder nicht. Es geht also nicht um etwas
Kontrafaktisches, sondern darum, ob die Person in der konkreten
Situation, in der sie a getan hat, b tun konnte. Deshalb empfiehlt es
sich, die indikativische Formulierung zu verwenden.13 So kann man
eine Reihe von schwerwiegenden Missverständnissen fernhalten.
Wenn das, was die Person in der Überlegung vorausgesetzt hat,
dass sie nämlich die doppelte Macht hat, a zu tun und b zu tun, rich-
tig ist, sie sich hierin also nicht geirrt hat, konnte sie genau in dem
Sinne von Können, in dem sie das vorausgesetzt hat, eben im Sinne
der Macht, zweifellos anders handeln. Sie hatte die Macht, auch b zu
tun. Der Weg war frei. Die Umstände haben es zugelassen, statt a b
zu tun. Und sie hätte b getan, wenn sie es in der Summe gewollt hätte.
Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass sie anders handeln
konnte. Sie hätte b nur dann nicht tun können, wenn eine der drei
Bedingungen für das Können nicht gegeben gewesen wäre: wenn
sie nicht grundsätzlich die Fähigkeit hätte, b zu tun, oder wenn es
in der Situation keine Gelegenheit dazu gegeben hätte oder wenn
etwas dazwischengekommen wäre.
Dass man anders kann, ist bereits in der Überlegung vorausge-
setzt. Man setzt in der Überlegung die doppelte Macht voraus, aber
man weiß bereits, dass man nur eine der beiden erwogenen Hand-
lungen tun wird. Man weiß also schon, dass man die Macht hat, eine
Handlung zu tun, die man nicht tun wird. Auf eine kurze Formel
gebracht, kann man sagen: wo die in der Überlegung vorausgesetzte
doppelte Macht, da immer auch das Anders-Können. Hieraus ergibt

13 Der Unterschied wird im Englischen verwischt, weil »could have« so-


wohl konjunktivisch »hätte gekonnt« wie auch indikativisch »konnte«
bedeu­ten kann. – Vgl. hierzu Austin, Ifs and Cans, 215 f.
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4.  Können, Anders-Können, Determinismus 137

sich dann, dass man bei allen Handlungen, die aus einem überlegten
Wollen, einem Wollen unter dem Strich kommen, anders kann und
alle diese Handlungen die Eigenschaft der Unterlassbarkeit besitzen.
Wenn jemand meint, eine Handlung sei nur dann meine, wenn
ich sie auch unterlassen konnte und es in meiner Macht stand, sie
auch nicht zu tun und stattdessen etwas anderes zu tun, dann erfül-
len alle diese Handlungen dieses Kriterium. Man wählt sie aus einer
Mehrzahl von Möglichkeiten und ergreift eine andere mögliche Op-
tion nicht. Man war frei, so zu handeln wie auch anders zu handeln.
Nichts hinderte einen, das eine zu tun, und nichts hinderte einen,
etwas anderes zu tun. Diese Handlungen gehen deshalb auf einen
selbst zurück, auf das eigene stärkere Wollen. Dieses Wollen be-
stimmt, was man tut, und damit bestimmt man selbst, was geschieht.

4.  Können, Anders-Können, Determinismus

Was bedeuten diese Ergebnisse für die Annahme, dass zu überle-


gen und anders zu können, mit dem Determinismus nicht vereinbar
seien? Denn wenn die Welt deterministisch verfasst sei, gebe es für
den weiteren Weltverlauf immer nur eine Möglichkeit, aber niemals
mehrere Möglichkeiten. Es ist, so meine ich, nicht schwer zu sehen,
dass alles, was über die Voraussetzungen des Überlegens und über
das bereits in der Überlegung vorausgesetzte Anders-Können dar-
gelegt wurde, mit dem Determinismus voll und ganz vereinbar ist.
Man weiß noch nicht, wie die eigene Überlegung ausgehen wird und
was man stärker will. Aber man setzt voraus, dass man, unabhängig
davon, wie sie ausgehen wird, sowohl a wie auch b tun kann. Man
kann es in dem Sinne, dass man die doppelte Macht hat, a wie auch
b zu tun. All dies ist mit dem Determinismus kompatibel. Es wird
nirgendwo ein Verzweigungspunkt vorausgesetzt, an dem man bei
gleicher kausaler Vorgeschichte bis zu diesem Punkt sowohl in die
eine wie auch in die andere Richtung gehen kann. Und wenn ich
am Ende a getan habe, ist es ganz und gar sinnvoll, zu fragen, ob
ich auch anders handeln konnte. Es gibt Handlungen, die man nicht
getan hat, die man aber tun konnte, und Handlungen, die man nicht
getan hat, die man aber auch nicht tun konnte.
Es ist, so zeigt sich, nicht wahr, dass es, wenn der Weltverlauf de-
terministisch ist, ein Überlegen nicht geben kann, sondern nur ein
Schein-Überlegen, das notwendigerweise Illusionen über sich selbst
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138 §  5  Wollen, offene Optionen und Anders-Können

voraussetzt. Es gibt auch in einer deterministischen Welt ein wirkli-


ches Überlegen, und wir können im Überlegen durchaus einen de-
terministischen Gang der Dinge unterstellen. Das heißt, wir können
uns im Überlegen durchaus als determiniert begreifen. Wenn es ein
Überlegen gibt, dann auch ein überlegtes Wollen und dann auch aus
einem solchen Wollen kommende Handlungen. Handlungen dieser
Art sind aber, wie gesagt, dadurch ausgezeichnet, dass man sie un-
terlassen kann, dass man also anders handeln kann.
Man kann, auch wenn man sich diese Dinge klargemacht hat,
darauf insistieren, dass es, wenn die Welt deterministisch verläuft,
dennoch kein »echtes« Anders-Können geben kann. Ich akzeptiere,
so kann man sagen, was über die Kompatibilität von Überlegung
und Determinismus dargelegt wurde. Ich räume auch ein, dass es
einen wichtigen Sinn des Könnens, das Können der Macht, gibt,
das in der Überlegung vorausgesetzt wird und das erklärt, was eine
Handlungsoption ist. Und ich räume auch ein, dass es sinnvoll ist,
in diesem Sinne vom Anders-Können zu sprechen. Dennoch ist es
zweifellos so, dass, ein deterministischer Weltverlauf unterstellt, eine
Person, wenn sie a tut, in einem anderen Sinn von »können« b nicht
tun kann. Sie kann nicht anders handeln als sie handelt. Anders zu
handeln, lässt der Weltverlauf nicht zu.
Das ist in der Tat so. Es gibt folglich ein Anders-Können, das
mit dem Determinismus vereinbar ist, und ein Anders-Können in
einem anderen Sinne, das dies nicht ist. Das bedeutet, dass ich, wenn
ich beginne zu überlegen, ob ich a oder b tun will, einerseits vor-
aussetzen muss, dass ich a und auch b werde tun können – sonst
ist die Überlegung sinnlos –, und dass ich andererseits, die determi-
nistische Prämisse vorausgesetzt, schon wissen kann, dass ich nur
entweder a oder b werde tun können, eine der beiden Handlungen
also nicht werde tun können. Und es bedeutet auch, dass ich, wenn
ich a getan habe, auch b tun konnte, also anders handeln konnte
und dass ich gleichzeitig nicht anders handeln konnte, also b nicht
tun konnte. Es hängt nun alles daran, zu verstehen, dass darin kein
Widerspruch liegt. Beides kann nebeneinander bestehen. Ich setze
in der Überlegung voraus, dass ich a und b werde tun können, in
dem Sinne, dass ich die Macht haben werde, a zu tun, und auch die
Macht, b zu tun, und gleichzeitig ist mir, wenn ich eine determinis-
tische Welt voraussetze, klar, dass es in einem anderen Sinne von
»können« nur möglich sein wird, a oder b zu tun. Man muss folglich
zwei Verwendungen von »können« – und somit auch von »anders
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4.  Können, Anders-Können, Determinismus 139

können« – unterscheiden und, nachdem das erste bereits als Können


der Macht erläutert wurde, klären, wie das zweite »können« zu ver-
stehen ist. Außerdem muss man festhalten, was schon gezeigt wurde:
dass die Überlegung das Tun-Können von a und das Tun-Können
von b allein im ersten Sinne von »können« voraussetzt, aber kei-
neswegs im zweiten Sinne.14 Zu glauben, das doppelte Tun-Können
in diesem zweiten Sinne sei vorausgesetzt, ist ein verbreiteter und
gravierender Fehler.
»Können« ist in diesem zweiten Sinn tout court verstanden. Es
ist nicht nur auf die Umstände – Fähigkeit, Gelegenheit und keine
Dinge, die dazwischenkommen – relativ, sondern auf alle kausalen
Gegebenheiten, und diese schließen den Faktor des Wollens und des
stärksten Wollens mit ein. Das Wollen und damit die innere Vorge-
schichte des Handelns wird also mitberücksichtigt. Wenn ich die
Macht habe, a zu tun, sich am Ende der Überlegung aber heraus-
stellt, dass ich unter dem Strich b tun will, dann habe ich weiterhin
die Macht, a zu tun, die Umstände erlauben es, und dennoch kann
ich, weil ich in der Summe b tun will und damit die kausalen Fäden
zum Tun von b führen, a nicht tun. Die kausalen Faktoren insge-
samt erlauben es nicht.
Nennen wir dieses zweite, alle kausalen Faktoren berücksichti-
gende Können also Können tout court oder omnikausales Können
oder einfach Können 2 – und das Können der Macht analog auch
Können 1. Man kann dann sagen, in der beschriebenen Situation
kann 1 ich a tun, aber ich kann 2 a nicht tun. Das Können 2 ist an-
spruchsvoller als das Können 1, und deshalb ist es möglich, dass ich
etwas tun kann 1, aber doch nicht tun kann 2. Die Umstände lassen
es zu, dass ich a tue, aber der Weltverlauf insgesamt, inklusive des
hinzukommenden Faktors meines Wollens, lässt es nicht zu, dass
ich a tue. Darin liegt kein Widerspruch.
Es ergeben sich weitere Folgerungen. Im Überlegen setzen wir,
wie gesagt, nur das Können 1 voraus: dass man in diesem Sinn a
und b tun kann. Wenn ich das kann, dann kann ich, wenn sich am
Ende der Überlegung herausstellt, dass ich in der Summe a tun will,
a auch im Sinne des Könnens tout court tun. Denn wenn ich die
Macht habe, a zu tun, und a außerdem unter dem Strich tun will,
werde ich a tun, und das impliziert, dass ich a tun kann 2. Und es

14 So auch J. Rosenthal: Entscheidung, Rationalität und Determinismus


(Berlin 2017), 172.
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140 §  5  Wollen, offene Optionen und Anders-Können

impliziert auch, einen deterministischen Weltverlauf vorausgesetzt,


dass ich b nicht tun kann 2. Genauso umgekehrt: Wenn ich in der
Summe b tun will, werde ich b tun. Und das impliziert, dass ich b
tun kann 2. Und dass ich a nicht tun kann 2. Ich werde also, wenn
ich nur die Macht habe, a und b zu tun, am Ende der Überlegung,
gleichgültig wie sie ausgeht, immer das Gewollte tun können im
Sinne des Könnens tout court. Die Option, die ich auf Grund der
Überlegung und meines stärkeren Wollens ergreifen will, wird im-
mer, vorausgesetzt, ich habe die Macht, a und b zu tun, kausal offen
sein, die andere Option wird hingegen immer kausal verschlossen
sein, obwohl die Umstände es nach wie vor erlauben, so zu handeln.
Der Weltverlauf insgesamt erlaubt es jedoch nicht. Die verschlossene
Option ist immer die, die ich ohnehin in der Summe nicht will. Der
Determinismus nimmt einem also nichts weg. Aus alledem ergibt
sich, warum man in der Überlegung nur voraussetzen muss, dass
man die Macht hat, a und b zu tun: weil damit schon gegeben ist,
dass man, was man in der Summe will, auch tun kann 2.
Das führt zu einer weiteren Präzisierung. In der Überlegung setzt
man voraus, dass man, wenn sich herausstellen sollte, dass man in
der Summe a will, a auch tun kann 1, und dass man, wenn sich he-
rausstellen sollte, dass man b stärker will, b auch tun kann 1. Wir
haben gesehen, dass diese Konditionale keine hypothetischen Kon-
ditionale sind, wir ventilieren mit ihnen zukünftige Möglichkeiten,
von denen man noch nicht weiß, welche Wirklichkeit werden wird.
Die Macht, die eine wie die andere, ist nicht durch ein Wollen kon-
ditioniert. Das ist anders, wenn man vom Können tout court spricht.
Wie soeben dargelegt, wird man, vorausgesetzt, man hat die Macht,
a und b zu tun, wenn sich durch die Überlegung ergibt, dass man in
der Summe a tun will, a tun und deshalb auch a tun können 2. Und
wenn sich herausstellen sollte, dass man stärker b tun will, wird man
b tun und deshalb auch b tun können 2. Diese Konditionale sind nun
echte hypothetische Konditionale. Man tut a nur dann und kann 2
a nur dann tun, wenn man a stärker will. Das Tun von a und das
vorausgesetzte Können 2 sind durch das Wollen bedingt. Es zeigt
sich also, dass dem zweifachen Sinn des Könnens eine zweifache
Verwendung der Konditionale korreliert. Die Konditionale sind das
eine Mal nicht hypothetisch, das andere Mal aber doch. Unglückli-
cherweise fördert all das Konfusionen in der theoretischen Analyse.
Umso wichtiger ist es, die komplexe Sachlage hinreichend deutlich
auseinanderzulegen.
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4.  Können, Anders-Können, Determinismus 141

Die vorausgegangenen Überlegungen provozieren die Frage, wa-


rum wir den Unterschied zwischen dem Können 1 und dem Kön-
nen 2, dem Können der Macht und dem Können tout court, machen.
Warum grenzen wir speziell das Können 1 aus? Warum interessieren
wir uns für die Frage, was die Umstände zulassen (beziehungsweise
verhindern)? Warum sind wir nicht primär oder sogar ausschließlich
an dem interessiert, was der Weltverlauf zulässt? Selbst wenn der
Handelnde a und b tun kann 1, bleibt es, einen deterministischen
Weltverlauf vorausgesetzt, doch dabei, dass in jedem Moment seines
Überlegens und Handelns festliegt, was im nächsten Moment ge-
schieht. Er kann 2 niemals anders handeln. Die Antwort ist, zumin-
dest zum Teil, schon gegeben worden: weil das Können 1, präziser:
ein doppeltes Können dieser Art genau das Können ist, das wir in
der Überlegung voraussetzen müssen, damit die Überlegung sinn-
voll ist. Für Wesen wie uns, die wir praktisch zu überlegen vermögen
und uns fragen: was will ich mehr, was ist mir wichtiger?, ist es un-
vermeidlich, dieses spezielle Können auszugrenzen. Wir können gar
nicht anders, als es in der Überlegung vorauszusetzen und uns, falls
Zweifel aufkommen, zu vergewissern, dass wir es wirklich haben. Es
ist deshalb kein Wunder, dass dieses Können der Macht schon sehr
früh in der Geschichte der Philosophie, bei Aristoteles, eine so zen-
trale Rolle in der Analyse des praktischen Überlegens gespielt hat.
Es kommt etwas Zweites hinzu: Wenn man weiß, dass jemand die
Macht hat, a zu tun, und auch die Macht, b zu tun, und er zwischen
diesen Optionen überlegt, dann weiß man auch, dass es bei ihm liegt,
wie er sich verhalten wird. Wie er handeln wird, hängt davon ab, was
er in der Summe will. Und damit ist der Ursprung, die archē, dessen,
was dann geschieht, eindeutig lokalisiert. Der Anfang liegt in ihm.
Das, was geschieht, ist deshalb eine Handlung, eine Aktivität, und
es ist seine Handlung. Er ist der Urheber, der, der bestimmt, was
geschieht. Die Handlung ist nicht nur in dem Sinne seine wie eine
Handlung, die aus einer Nervosität resultiert, seine ist, sie kommt
vielmehr aus einem Wollen, und zwar einem überlegten Wollen.
Wie bedeutsam eine solche Lokalisierung des Anfangs einer
Handlung und die damit einhergehende Unterscheidung von Wollen
und Umständen für uns ist, demonstrieren folgende drei Beispiele:
Meine Frau und ich haben gestern zu einem Abendessen eingeladen,
zu dem auch Herr K. eingeladen war. Herr K. rief am frühen Abend
an und entschuldigte sich, er könne leider nicht kommen, die Brücke,
die die Insel, auf der er wohnt, mit dem Land verbindet, sei gesperrt.
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142 §  5  Wollen, offene Optionen und Anders-Können

Ich erfahre heute jedoch zufällig, dass das nicht stimmt. Die Brücke
war den ganzen Tag über und auch am Abend passierbar. Er konnte
also sehr wohl kommen. Es ist ihm möglich gewesen, er war frei,
die Umstände erlaubten es. Aber er wollte offenbar nicht. Es lag an
seinem Wollen, nicht an den Umständen. Damit stellt sich die Situ-
ation ganz anders dar, und es fällt ein ganz anderes Licht auf Herrn
K. Wenn ich in dieser Situation sage, dass er also sehr wohl kommen
konnte, spreche ich vom Können der Macht, also vom Können 1: er
hatte die Macht, zu kommen.
Ähnlich das zweite Beispiel: Ich bin für drei Wochen wegen einer
auswärtigen Arbeit von zuhause weg und versäume es, mich in die-
ser Zeit bei meiner Frau zu melden. Als sie mir nach meiner Rück-
kehr deswegen Vorhaltungen macht, stottere ich etwas davon, dass
enorm viel zu tun und kaum Zeit war, Luft zu holen. Meine Frau
wird entgegnen: »Erzähl’ keine Geschichten. Natürlich konntest du
dich melden, natürlich ließ deine Arbeit das zu. Du hast es nicht ge-
wollt! Da sieht man, was für einer du bist. Es liegt allein an dir, an
nichts anderem. Du kannst es nicht auf die Umstände schieben.«15
Auch in diesem Beispiel spricht das »du konntest« vom Können 1.
Ich hatte die Macht, meine Frau anzurufen oder ihr zu schreiben.
Genauso der dritte, nun positive Fall. Jemand steckt eine Geld-
börse, die eine Frau in einem leeren Seitenraum eines Cafés liegen
gelassen hat, nicht ein, sondern gibt sie bei der Bedienung ab. Er
hätte sie in dieser Situation ohne weiteres einstecken können, die
Gelegenheit war da, aber er hat es nicht gewollt!
Diese Beispiele illustrieren, wie wichtig uns der Unterschied zwi-
schen den Umständen und dem Wollen und damit die Ausgrenzung
des Könnens 1 ist. Wenn es die Umstände zuließen und es am Wollen
hing, ist der Ursprung dessen, was passiert ist, wie gesagt, eindeutig
lokalisiert. Wir sind also, wenn wir fragen, ob jemand anders han-
deln konnte, am Können 1 und keineswegs am Können 2 interessiert.
Offenkundig stellt man nicht nur aus der Perspektive der 3. Per-
son fest, dass jemand frei ist und es bei ihm liegt, so oder auch anders
zu handeln. Auch ich selbst bin mir, wenn ich überlege und etwas
aus einem überlegten Wollen tue, bewusst, dass es an mir liegt, ob
ich mich so oder anders verhalte. Der Ort, an dem sich entschei-

15 Dieses Beispiel ist inspiriert durch ein Beispiel, das Kenny in etwas ande-
rer Form und in einem anderen Kontext verwendet. Vgl. Kenny, Will, Free-
dom and Power, 133.
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5.  Anders-Können und die verschiedenen Arten des Könnens 143

det, was ich tue, bin ich selbst. Es hängt an meinem Wollen. Wer
überlegt, ist sich des doppelten Könnens bewusst, er ist sich eines
Handlungsspielraums bewusst, und er ist sich der Möglichkeit, an-
ders zu handeln, bewusst. Diese mit der Überlegung selbst gege-
bene Bewusstseinslage ist, wie wir sahen, die stärkste und niemals
versiegende Quelle unseres Aktivitäts- und Freiheitsbewusstseins.
Nichts anderes bestimmt, was geschieht, sondern ich selbst, durch
mein Wollen. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich von dieser
unerschütterlichen Selbsterfahrung aus eine Deutung menschlichen
Handelns in Begriffen der Verantwortlichkeit entwickelt hat. Die
Erfahrung des »es liegt bei mir« ist durch nichts zu relativieren, und
sie ist durch nichts zu falsifizieren. Sie ist vollkommen berechtigt
und frei von Illusionen. Dass es, wenn ich a und auch b tun kann, bei
mir liegt, was ich tue, ist eine unumstößliche Tatsache, auf die man
sich aus der Perspektive der 1. Person genauso bezieht wie aus der
Perspektive der 3. Person. Und es ist eine Tatsache, die, wie gezeigt,
mit einem deterministischen Weltverlauf kompatibel ist.

5. Weitere Explikationen: Anders-Können und die verschiedenen


Arten des Könnens

Wenn man in der Analyse des Anders-Könnens das Können 1, das


Können der Macht, übersieht, übersieht man, das ergibt sich aus
dem zuvor Dargelegten, den eigentlichen Gegenstand einer solchen
Analyse. Das geschieht immer dann, wenn man mit dem einfachen
Gegensatz von epistemischem und ontischem Können operiert und
das ontische Können im Sinne des Könnens tout court, des omni-
kausalen Könnens versteht. Das Können der Macht ist weder das
epistemische noch das ontische Können in diesem Sinne. Es ist ein
ontisches Können in einem anderen Sinne, eben nicht das omnikau-
sale Können 2, sondern das eingeschränktere Können 1. Genauso
führt es fast zwangsläufig zu Missverständnissen und Konfusionen,
wenn man das Können 1, das Können der Macht, und das Können 2,
das Können tout court, nicht unterscheidet. Deshalb noch einige
explizite Klarstellungen.
Die Prämisse eines deterministischen Weltverlaufs impliziert,
dass eine Person, wenn sie a getan hat, in der konkreten Hand-
lungssituation nicht b tun konnte 2. Deshalb ist die Frage, ob die
Person anders handeln konnte, in diesem Sinne von »können« sinn-
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144 §  5  Wollen, offene Optionen und Anders-Können

los. Folglich ist auch jedes Angebot einer Analyse für dieses – nicht
vorhandene – Anders-Können sinnlos. Also ist hier auch für eine
konditionale Analyse kein Platz. Anders ist es beim Anders-Kön-
nen 1. Dieses Können kann man, wie schon erwähnt, durch einen
Konditionalsatz erläutern: Wenn ich a und auch b tun kann 1, gilt,
dass ich, wenn ich a stärker tun will, a tue, und wenn ich b stärker
will, b tue. Und wenn ich a getan habe, aber auch b tun konnte 1,
kann man kontrafaktisch sagen: Wenn ich in der Summe b hätte tun
wollen, hätte ich b getan. Dieses Konditional spiegelt, obwohl es
kontrafaktisch ist, die faktische, in der konkreten Situation vorhan-
dene Möglichkeit, anders zu handeln.
Ich werde auf die Details einer solchen konditionalen Analyse
des Könnens 1 nicht näher eingehen, auch nicht auf das Für und
Wider, und belasse es bei einigen Bemerkungen. Mir scheint, dass
sie eher erfasst, unter welcher Bedingung das Können aktualisiert
wird, aber nicht, was es konstituiert und ausmacht. Sie erfasst das
Phänomen nur indirekt und von außen, aber nicht als solches. Besser
ist es, das Können 1 als Können der Macht zu analysieren, also als
eine Situation, in der die verschiedenen Umstände es zulassen, a zu
tun und auch b zu tun. Nur deshalb liegt, was geschieht, bei einem
selbst. Und nur deshalb ist es so, dass man, wenn man a stärker tun
will, a auch tatsächlich tut. Man darf also, gerade wenn man verste-
hen will, worauf die Aussage über das Anders-Können zielt, nicht
nur auf die Wollensabhängigkeit des Tuns schauen, man muss den
grundlegenden Sachverhalt freilegen: dass die Umstände es zulassen,
dass man so und auch anders handelt, dass man also frei ist, – und
dass es deshalb am eigenen Wollen liegt.
Es kommt hinzu, dass eine konditionale Explikation leicht fal-
sche Einwände evoziert. Wenn jemand a getan hat und man darauf
hinweist, dass er durchaus anders handeln konnte, denn wenn er b
gewollt oder in der Summe gewollt hätte, hätte er b getan, stellen
viele die Frage: »Ja, aber konnte er denn b wollen?«16 Wenn er a ge-
tan hat, kann 2 er in einer deterministischen Welt, so die Überlegung,

16 Vgl. zum Beispiel Keil, Willensfreiheit und Determinismus, 75. Auch


Rosen­thal meint, diese Frage liege nahe: »Denn wenn das [dass S H tun will]
gar nicht möglich ist, dann, so würde man sagen, ist es doch auch nicht mög-
lich, dass S H tut.« Das »doch« soll signalisieren, dass, wer so argumentiert,
sich der allgemeinen Zustimmung sicher sein kann; vgl. Rosenthal, Entschei-
dung, Rationalität und Determinismus, 160.
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5.  Anders-Können und die verschiedenen Arten des Könnens 145

nicht eine Motivation gehabt haben, die dazu geführt hätte, dass er b
tut. Er konnte 2 b also nicht tun wollen oder nicht in der Summe tun
wollen. Das ist ausgeschlossen. Wenn er dies nicht konnte, konnte
er aber doch, so der Einwand, offenbar auch nicht b tun. Was soll
dann diese kontrafaktische »Wenn er gewollt hätte«-Imagination
im Irrealis? Dann bleibt es doch dabei, dass die Person a getan hat
und b nicht tun konnte. – Dieser Einwand ist verfehlt, er blickt nur
auf das Können tout court und realisiert nicht, dass die konditio-
nale Analyse nicht dieses Können, sondern ein anderes Können, das
Können der Macht, zum Gegenstand hat.
Dass jemand, der a tut, die Macht hat, auch b zu tun, ist offen-
sichtlich unabhängig davon, dass er b tun will, und auch unabhän-
gig davon, dass er b tun wollen kann 2. Wie immer es mit seinem
Wollen bestellt ist, er kann b in diesem Sinne tun. Damit, dass er
b nicht wollen kann 2, wird unter deterministischem Vorzeichen
von vorneherein gerechnet, weil die Annahme des Determinismus
es einschließt. Man muss gerade verstehen, dass es, obwohl es so ist,
dass die Person b nicht oder nicht in der Summe tun wollen konnte,
sinnvoll ist, zu sagen: Aber die Umstände haben es erlaubt, dass sie
b tut. Und dass es deshalb sinnvoll ist, zu sagen: Wenn sie es gewollt
hätte, hätte sie b getan. Warum es sinnvoll ist, dieses spezielle Kön-
nen der Macht auszugrenzen und zu überlegen, ob es gegeben war,
wurde im Vorangegangenen erklärt. Wenn die Person dieses Können
besitzt, kann, b zu tun, für sie in ihrer der Handlung vorausgegan-
genen Überlegung eine Option gewesen sein. Ohne dieses Können
hätte sie nicht die Option gehabt, b zu tun. Außerdem zeigt dieses
Können, dass es nicht an den Umständen lag, dass sie b nicht getan
hat, es lag an ihr, an ihrem Wollen. Der Ort, an dem sich entschied,
dass sie b nicht getan hat, war sie selbst.
Es kann sein, dass jemand allem, was im letzten Absatz gesagt
wurde, zustimmt, das Argument aber in anderer Form erneuert:
Man kann das Wollen-Können, so der neue Einwand, nicht nur als
ein durch den kausalen Geschehensverlauf ausgeschlossenes Wollen-
Können 2 verstehen, sondern auch als ein Wollen-Können im Sinne
der Fähigkeit. Wenn man das tut, ergebe sich, wie ein besonderer Ty-
pus von Beispielen belege, sehr wohl, dass, b tun zu können, davon
abhängt, dass man b auch wollen kann, »wollen kann« jetzt in dem
Sinn, dass man die Fähigkeit hat, b zu wollen. Was verhindert, dass
man b tun kann, ist nicht, dass der deterministische Gang der Dinge
nicht zu dem Wollen von b geführt hat und man in diesem Sinn b
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146 §  5  Wollen, offene Optionen und Anders-Können

nicht tun wollen kann, sondern dass man gar nicht die Fähigkeit hat,
b zu wollen. Die These ist also: Dass man die Macht hat, b zu tun,
setzt voraus, dass man die Fähigkeit hat, b zu wollen.
Dieser argumentative Zug überrascht. Es schien doch so zu sein,
dass die anfängliche Plausibilität der Rückfrage, ja, aber konnte er
denn b wollen, aus der Annahme eines deterministischen Weltver-
laufs resultiert. Was nützt es, so die Intuition, zu sagen, dass die be-
treffende Person, die a getan hat, auch b tun konnte, nämlich b getan
hätte, wenn sie b hätte tun wollen, wenn sie das gar nicht wollen
konnte? Die Rückfrage hingegen so zu verstehen, dass sie nach der
Fähigkeit, b zu wollen, fragt, wirkt merkwürdig und unvermittelt.
Und außerdem: Warum sollte die Person, um die es geht, nicht die
Fähigkeit haben, b zu wollen? – Mit welchen Beispielen wird also
argumentiert?
Es ist, so die Idee, möglich, dass man die Fähigkeit, etwas Be-
stimmtes zu wollen, wegen einer psychischen Deformation, etwa
einer Phobie, nicht hat. So kann eine Frau, die an einer Agoraphobie
leidet, nicht auf den Marktplatz der Kleinstadt, in der sie lebt, gehen
wollen. Sie kann es deshalb auch nicht tun. Sie hat nicht die Macht,
es zu tun. Das ist für sie keine Option. Folglich hängt das Können 1
davon ab, dass man das einschlägige Wollen in dem genannten Sinne
haben kann. Das Können 1 ist nicht schon gegeben, wenn gilt, dass
sie auf den Marktplatz ginge, wenn sie es wollte. Sie muss die Fähig-
keit haben, dies zu wollen. Auch dieses Argument wird offensicht-
lich durch eine konditionale Explikation des Könnens 1 provoziert.
Wie erfolgreich ist es? Zunächst zieht die Beschreibung der Bei-
spielsituation Zweifel auf sich. Denn warum sollte die Frau nicht
fähig sein, auf den Platz gehen zu wollen? Dort hat sie früher häufig
in der Sonne gesessen, und das möchte sie wieder tun. Und deshalb
möchte sie auch auf den Platz gehen. Diesen Wunsch kann sie neben
ihrer Angst, den Platz zu betreten, haben. Man kann sogar davon
ausgehen, dass sie auf den Platz gehen will, denn nur deshalb leidet
sie an ihrer Krankheit. Das Problem liegt also nicht darin, dass sie
etwas nicht wollen kann, sondern darin, dass dieses Wollen nicht
handlungswirksam werden kann, weil am Ende immer die Angst
bestimmt, was sie tut. Deshalb kann 1 sie nicht auf den Platz gehen.
Der psychische Defekt lässt das nicht zu.
Nach dieser Korrektur kann man die Situation, wie es scheint,
glatt in dem bisher entwickelten Rahmen verstehen. Die Frau geht
in einer konkreten Situation nicht auf den Marktplatz, und sie hat
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5.  Anders-Können und die verschiedenen Arten des Könnens 147

nicht die Macht, es zu tun, obwohl sie es durchaus möchte. Man


kann ihr ohne weiteres die allgemeine Fähigkeit, auf den Platz zu ge-
hen, zuschreiben. Sie ist nicht gelähmt, sie weiß, wie man es anstellt,
irgendwohin zu gehen. Und offenkundig besteht die Gelegenheit,
auf den Platz zu gehen. Dennoch erlauben es die Umstände nicht.
Ihre Angst lässt das nicht zu. Und das ist etwas, was, zumindest zur
Zeit, ihrem Wollen entzogen ist. Die Situation ist ganz so wie die
des Klavierspielers, der am Abend Chopin spielen will. Er hat die
Fähigkeit dazu, und auch die Gelegenheit besteht, aber ein Schnitt in
den Finger lässt es nicht zu, dass er spielt. Was immer er will, er kann
heute Abend nicht spielen. Und was immer die Frau will, sie kann
nicht auf den Platz gehen. Damit sich das ändert, muss sich etwas
an den Umständen ändern, sie muss von dieser Angst loskommen.
Wenn ihr das gelingt, kann sie wieder auf den Marktplatz gehen. Und
dann gilt auch: Wenn sie es will oder in der Summe will, tut sie es.
Das Spezielle des Beispiels (und auch verwandter Beispiele) liegt
darin, dass der Umstand, der die Handlung unmöglich macht, in ei-
nem Defekt der mentalen Prozesse liegt, deren Funktion die Hand-
lungssteuerung ist. Die hindernden Umstände wandern, so könnte
man sagen, auf diese Weise in das mentale Vorfeld des Handelns ein.
Und so wie die Beispielsituation ursprünglich beschrieben wurde,
dehnen sie sich bis zu dem Wollen aus. So kommt es zu dem verwir-
renden Effekt, dass die für das Verständnis des Könnens 1 elemen-
tare Unterscheidung zwischen den Umständen und dem Wollen ver-
wischt wird. Die Verwirrung kommt hinein, weil eine Deformation
des Wollens, ein Nicht-wollen-Können (nehmen wir an, ein solches
läge vor) selbst zum Teil der Umstände wird. So dass sich dann er-
gibt, dass das Können 1 voraussetzt, dass eine solche Deformation
des Wollens nicht vorliegt.
Man kann diese Verwirrung vermeiden, indem man das Können 1
nicht zuerst konditional analysiert, sondern es so erläutert, wie ich
es in diesem Kapitel vorgeschlagen habe: Man hat die Macht, hier
und jetzt b zu tun, wenn man (i) die allgemeine Fähigkeit dazu hat,
wenn (ii) die Gelegenheit besteht und wenn (iii) nichts dazwischen
kommt, weder von außen noch von innen, weder ein körperlicher
noch ein psychischer Defekt. Dann ist man frei, in diesen Raum
hineinzuhandeln. Ob man es tut, ob man es will, steht auf einem
anderen Blatt. Wie immer es sich hiermit verhält, es ändert nichts
daran, dass man b tun kann. Wichtig ist, dass man die grundlegende
Unterscheidung von Umständen und Wollen nicht aufweicht. Man-
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148 §  5  Wollen, offene Optionen und Anders-Können

ches, was wir nicht tun, tun wir nicht, weil wir es nicht wollen. Wir
tun es nicht, obwohl wir die Option haben, es zu tun. Anderes tun
wir nicht, weil die Umstände, die unserem Wollen entzogen sind, es
nicht zulassen. Wir haben nicht die Option, so zu handeln. Diese
Unterscheidung ist für uns nicht nur von elementarem Interesse, sie
ist, weil wir zwischen Optionen überlegen, unausweichlich.17 Und
zwar auch in einer Welt, von der man hypothetisch annimmt, sie
funktioniere deterministisch.

6.  Überlegung und Determinismus

Wir haben bereits gesehen, dass es auch in einer deterministischen


Welt Überlegungen geben kann. Und dass eine Überlegung durchaus
von der Vorstellung eines durchgängig deterministischen Weltver-
laufs begleitet werden kann. Ich komme auf diesen Punkt jetzt noch
einmal zurück. Wenn der Überlegende glaubt, alles sei determiniert,
hält er notwendigerweise auch den Gang seiner eigenen Überlegung
für determiniert. Außerdem nimmt er an, dass das, was er am Ende
tun wird, durch sein stärkeres Wollen, das sich in der Überlegung als
solches herausschält, festgelegt wird. Der Überlegende kann deshalb,
wie schon erläutert, bereits wissen, dass er, obwohl er a und b tun
kann 1, am Ende nur entweder a oder b wird tun können 2. Wel-
che Option am Ende kausal offen und welche kausal verschlossen
sein wird, hängt vom Ausgang der Überlegung ab. Wobei, zu wel-
chem Ergebnis sie kommt, von einer Reihe von Faktoren bestimmt
wird, zuallererst natürlich davon, wie die Sachlage ist, wie also die
eigenen Wünsche zueinander stehen, aber auch davon, welche Ge-
sichtspunkte in ihr auftauchen und Berücksichtigung finden, davon,
wie man überlegt, wie genau, ausführlich und konzentriert oder wie
hastig, oberflächlich und fehlerhaft, und gegebenenfalls auch davon,
ob man sich anstrengt und sich ermahnt, nicht nachlässig zu sein.
Die Überlegung ist selbst eine Aktivität, sie wird durch ein Wollen
motiviert und gesteuert, der Anfang liegt in einem selbst. Und ob-
wohl, was das Ergebnis sein wird, durch die Dinge, um die es geht,
bestimmt sein soll und nicht durch Nachlässigkeiten und Defizite im
Überlegen, bewegt es sich selbst in einer Zone des Anders-Könnens.

Das betont auch Ernst Tugendhat; vgl. E. Tugendhat: Selbstbewusstsein


17
und Selbstbestimmung (Frankfurt 1979), 217 f.
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6.  Überlegung und Determinismus 149

Wenn man annimmt, dass alles, was der Überlegende tut, Teil
eines deterministischen Geschehens ist, muss man davon ausgehen,
dass das Ergebnis des Überlegens schon festliegt, genauso wie schon
festliegt, was man tun wird. Man kann sich durchaus vorstellen, dass
ein Gott, der das gesamte Universum von seiner Entstehung bis
zu seinem Ende im Detail vor sich sieht, weiß, was das Ergebnis
des eigenen Überlegens sein wird. Aber das macht das Überlegen
nicht überflüssig, und es macht auch nicht überflüssig, sorgfältig und
genau zu überlegen. Was man tun wird und wie die Zukunft sein
wird, hängt davon ab. Denn natürlich kommt man nur durch das
Überlegen zu einer überlegten Handlung. Wie man handeln wird,
wird nicht durch eine Kausalfolge bestimmt, die wie ein Bypass an
der Überlegung vorbeiläuft. Der kausale Prozess läuft offenkundig
durch das Überlegen hindurch. Gott kann nur wissen, wie ich han-
deln werde, weil er weiß, wie ich überlegen werde.
Auch in diesem Zusammenhang kommt es darauf an, zu verste-
hen, was Determinismus bedeutet, und sich nicht durch falsche Vor-
stellungen verhexen zu lassen. Wer auf die Vorstellung, dass schon
festliegt, wie die Überlegung ausgehen wird, damit reagiert, dass er
sagt: »Dann braucht man ja nicht mehr zu überlegen, dann ist die
Überlegung doch überflüssig«, ist bereits auf dem falschen Gleis.
Er begeht, jetzt speziell auf das Überlegen bezogen, den Fehler, zu
glauben, determiniert zu sein, bedeute, dem eigenen Einfluss ent-
zogen zu sein. Doch es gibt kein Ergebnis der Überlegung ohne die
Überlegung. Was man tun wird, hängt davon ab. Vielleicht kann
folgende fiktive Szene den Sachverhalt noch einmal verdeutlichen:
Zwei Freunde, Max und Richard, gehen am Abend ins Münchener
Stadion, wo Bayern München gegen den FC Barcelona spielt. Und
sie unterhalten sich vor Spielbeginn darüber, wie das Spiel wohl aus-
gehen wird, wie die Form einzelner Spieler ist, über die Aufstellun-
gen, etc. Max, der philosophische Neigungen hat und glaubt, die
Welt verlaufe deterministisch, macht im Laufe des Gesprächs wie ne-
benbei die überraschende Bemerkung: »Übrigens, das Ergebnis des
Spiels steht schon fest.« Richards Antwort kommt prompt: »Dann
brauchen sie ja nicht zu spielen.« Und diese Antwort, so typisch
und erwartbar sie ist, ist falsch. Denn wie soll das Ergebnis zustande
kommen? Doch nur dadurch, dass die Spieler spielen. Davon, wie sie
spielen, hängt schließlich ab, wie das Spiel ausgehen wird. Es kann
auch niemand denken, die Spieler bräuchten sich nicht anzustren-
gen, es sei ja ohnehin bereits entschieden. Davon, wie sehr oder wie
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150 §  5  Wollen, offene Optionen und Anders-Können

wenig sie sich anstrengen, wird der Spielausgang abhängen. Alles


hängt davon ab, ob sie ihre Qualitäten zur Geltung bringen können
und wie sehr sie den Sieg wollen und für ihn kämpfen.
»Wir meinen«, so könnte Richard sagen, nachdem sie sich eine
Weile darüber unterhalten haben, »also beide, dass, wie das Spiel
ausgeht, von den Spielern abhängt, spielen sie so, wird es so ausge-
hen, spielen sie anders, wird es anders ausgehen. Worin liegt dann
unsere Meinungsverschiedenheit?« »Soweit in nichts.« »Aber die
Spieler haben doch«, so Richard, »Spielräume, Robben kann die
Ecke kurz oder lang spielen. Je nachdem, was ihm als die bessere
Variante erscheint. Ist das Verhalten der Spieler wirklich so festge-
legt, wie du zu meinen scheinst?« »Selbstverständlich«, antwortet
Max, »kann Robben die Ecke kurz spielen. Wenn er meint, das sei
das Beste, wird er es tun. Und er kann sie auch lang spielen. Wenn
er meint, das erhöhe die Torgefahr, wird er sie lang spielen. Er hat
beide Optionen, und er ist sich dessen bewusst. Sonst könnte er
nicht in einem kurzen Moment überlegen, wie er spielen will. Und
so haben die Spieler fortwährend Optionen, sie können so spielen,
aber auch anders. Und was sie tun, hängt davon ab, was sie für das
Aussichtsreichste halten. Dass die Spieler Optionen haben, leugnet
niemand. In den meisten Fällen wird man allerdings kaum von einer
Überlegung sprechen können, die entscheidet, eher von Intuitionen
und Routinen.«
Mit dieser Bemerkung gewinnt Max Oberwasser und legt nach:
»Man muss«, so fährt er fort, »in diesen Dingen konkret bleiben. Wa-
rum hat Lewandowski am letzten Samstag gegen Gladbach so souve-
rän zum entscheidenden Treffer eingeköpft? Weil er über viele Jahre
seine Sprungkraft trainiert hat, weil er über lange Zeit das Kopf-
ballspiel und die entsprechende Körperhaltung perfektioniert hat,
weil er dank seiner großen Erfahrung sehr gut antizipiert hat, dass
der Ball genau in diese Zone fliegen wird, und gewiss auch, weil er
dieses Tor unbedingt wollte, der Sieg war enorm wichtig. Das sind
einige der kausalen Faktoren aus einem sehr viel größeren kausalen
Feld, die hier wirksam wurden. Verliert das Spiel etwas, wenn wir
das, was geschieht, in dieser Weise kausal analysieren, wie wir es
jetzt ansatzweise getan haben?« Es scheint, als kämen die beiden mit
Überlegungen dieser Art nicht weiter. Denn Richard würde all das
nicht leugnen. Die Frage, die Max mit seiner Bemerkung, es stehe
schon fest, wie das Spiel ausgehen werde, aufgeworfen hat, muss
offenbar auf einer anderen, grundsätzlicheren Ebene entschieden
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7.  Entscheiden, Optionen, Anders-Können 151

werden. Die beiden können sich vorläufig darauf einigen, dass, wie
das Spiel ausgehen wird, so oder so von den Spielern abhängen wird.
Und klar ist auch, dass Max’ These nichts daran ändert, dass sie jetzt
gespannt sind, zu sehen, wie das Spiel laufen wird.
Wie in diesem Beispiel ist es auch im Fall des Überlegens: Auch
wenn man annimmt, das Ergebnis liege bereits fest, ändert das nichts
daran, dass ich überlegen muss, wenn ich erreichen will, was ich an-
strebe: das zu tun, was ich am stärksten will. Auch in diesem Fall
ist die Reaktion: dann ist die Überlegung ja überflüssig, falsch. Es
ist immer wieder behauptet worden, wer überlegt, setze notwen-
digerweise einen Indeterminismus voraus. Das ist, scheint mir, aus
den genannten Gründen nicht wahr. Gewöhnlich setzen wir, wenn
wir überlegen, gewiss weder einen Determinismus noch einen In­
deter­minismus voraus. Aber das Überlegen kann sehr wohl von dem
Gedanken begleitet werden, es sei determiniert. Das dem Überlegen
inhärente Bewusstsein des So-und-so-Könnens, der Freiheit und der
Selbstbestimmung wird dadurch nicht unterminiert.

7.  Entscheiden, Optionen, Anders-Können

Wenn so weit geklärt ist, wie das Überlegen auf Optionen bezo-
gen ist und in welchem Sinne es ein Anders-Können voraussetzt,
darf man sich in dem Erreichten nicht durch eine missverständli-
che Begrifflichkeit verwirren lassen. Ich meine die Begrifflichkeit
des Wählens und Entscheidens. Sie suggeriert leicht die Vorstellung,
man vollziehe irgendwo in der Handlungsvorbereitung eine eigen-
ständige Handlung des Wählens oder Entscheidens. Besonders der
Begriff der Entscheidung legt diese Vorstellung nahe. Man assozi-
iert eine Entscheidung oft mit dem Bild einer Weggabelung. Man
steht an einem Punkt und muss entscheiden, ob man den rechten
oder den linken Weg nimmt. Eine Entscheidung setzt, wie immer
man sie genau versteht, Optionen voraus. Wenn man glaubt, sie sei
ein eigener Teil der Handlungspräparation, erneuert sich die Frage,
in welchem Sinne verschiedene Optionen präsupponiert werden.
Vermutlich wird dann auch der Verdacht, dass es Entscheidungen
in ­einer deterministischen Welt gar nicht geben könne, nicht mehr
lange auf sich warten lassen.
Frankfurt hat gemeint, was eine Entscheidung ist, sei »sehr ob­
skur« (»very obscure«) und »schrecklich schwer zu fassen« (»aggra-
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152 §  5  Wollen, offene Optionen und Anders-Können

vatingly elusive«).18 Dennoch ist die Idee der Entscheidung in den


alltäglichen Vorstellungen davon, was unseren Handlungen voraus-
geht, fest verankert. Und deshalb spielt sie auch in vielen philoso-
phischen Theorien eine zentrale Rolle. Umso dringlicher ist es, sich
klarzumachen, dass diese Idee häufig falsch ausgedeutet wird und
dann in die Irre führt.
Betrachten wir die Situation, von der wir ausgegangen sind. Man
überlegt, ob man eher a tun will oder eher b. Die Überlegung hat ein
eindeutiges Ziel: zu erkennen, was man unter dem Strich will. Was ist
einem wichtiger, a zu tun oder b zu tun? Man überlegt deshalb, wel-
che – positiven und negativen – Konsequenzen das eine wie das an-
dere hätte, welche – positiven und negativen – Erfahrungen man mit
Handlungen gleicher oder ähnlicher Art gemacht hat und vielleicht
eine Reihe anderer Dinge. Die Rede von »positiv« und »negativ«
impliziert einen Wollensbezug und signalisiert, dass man die beiden
möglichen Handlungen daraufhin untersucht, wie sie zu anderen
Wünschen stehen, die man hat, die aber erst im Zuge der Überlegung
berücksichtigt werden. Am Ende der Überlegung steht die Erkennt-
nis – oder zumindest die Überzeugung –, dass ­einem, nehmen wir
an, a zu tun, wichtiger ist, als b zu tun. Damit ist die Überlegung
abgeschlossen, und mit dem Sich-darüber-klar-Sein, was man unter
dem Strich will, kann die Handlung beginnen.
Dieser Prozess der Überlegung zielt, wie gesagt, auf eine Erkennt-
nis. Man will etwas herausfinden, nämlich wie das eigene Wollen be-
zogen auf die erwogenen Handlungen beschaffen ist. Eine Entschei-
dung, verstanden als eine eigene Handlung neben dem Überlegen,
kommt hier nicht vor.19 Es wäre eine irreführende Vorstellung, dass
es, nachdem man überlegt und erkannt hat, dass einem mehr daran
liegt, a zu tun, noch einer Entscheidung zwischen dem a-Tun und
dem b-Tun bedürfe. Das wäre eine Handlung zu viel.
Wenn man betonen will, dass die Überlegung abgeschlossen ist
und die Frage »a oder b?« beantwortet ist, kann man sagen: Es ist
entschieden, ich will in der Summe a tun. Es bedurfte eines Ent-
scheids zwischen den Optionen, und der ist jetzt erreicht. Man kann

18 H. G. Frankfurt: Identification and Externality (1977), in: H. G. F.: The


Importance of What We Care About (Cambridge 1988), 58–68, 68; Identifi-
cation and Wholeheartedness, 172; dt. 132.
19 So auch sehr deutlich D. W. Shoemaker: Caring, Identification, and
Agency. Ethics 114 (2003), 88–118, 108.
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7.  Entscheiden, Optionen, Anders-Können 153

dann auch sagen: Ich habe durch die Überlegung die offene Frage
entschieden. In diesem Sinne ist das Entscheiden nicht eine eigene,
vom Überlegen verschiedene Handlung, es gibt vielmehr nur eine
Handlung, das Überlegen; aber weil man durch die Überlegung
heraus­findet, welche der beiden Optionen man realisieren will, kann
man das Überlegen auch als ein Entscheiden beschreiben. Man ent-
scheidet durch die Überlegung den Streit zwischen den Wünschen.
Auch ein Richter entscheidet eine Sache durch bestimmte Tätig-
keiten, durch eine genaue Untersuchung des Sachverhalts und die
Überprüfung der einschlägigen Rechtslage. Am Ende steht dann die
Erkenntnis, dass das umstrittene Verhalten, sagen wir, rechtswidrig
war. Er erkennt nicht, dass es rechtswidrig war und entscheidet dann
in einer weiteren Handlung, wie er urteilt. Er entscheidet vielmehr,
indem er durch die genannten Tätigkeiten zu der Erkenntnis kommt,
dass das strittige Verhalten rechtlich nicht in Ordnung war.
In diesem Sinne verstanden ist die Rede von der Entscheidung
völlig unproblematisch. Es zeigt sich damit, dass die Vorstellung,
das Entscheiden sei eine eigene Handlung neben dem Überlegen,
aus einer speziellen und einseitigen Ausdeutung des Begriffs resul-
tiert. Und es ergibt sich auch, dass es durchaus möglich ist, den Pro-
zess des Entscheidens, in der jetzt explizierten Weise verstanden, als
deter­miniert zu begreifen.
Man wird dem entgegenhalten, selbst wenn das alles richtig sei,
komme die Vorstellung einer eigenen Handlung des Entscheidens
spätestens dann wieder ins Spiel, wenn man Situationen ins Auge
fasst, in denen die Überlegung in einem Unentschieden oder Bei-
nahe-Unentschieden endet, in denen es also nicht durch die Über-
legung zu einer Entscheidung kommt. Es scheint, als müsse dann
auf eine andere Weise entschieden werden. Schauen wir, bevor ich
hierauf eingehe, zuvor noch kurz auf Situationen anderer Art.
Angenommen, ich gehe spazieren und an einer Stelle steht eine
Pfütze auf dem Weg. Gehe ich rechts an ihr vorbei oder links?20 Of-
fenkundig überlegen wir in einer solchen Situation nicht, wir gehen
entweder an der einen oder der anderen Seite vorbei. Es wäre auch
ganz unpassend, anzunehmen, dass ich entschieden habe, rechts vor-
beizugehen. Davon kann nicht die Rede sein. Wie kommt es dann
dazu, dass ich rechts vorbeigehe? Wahrscheinlich durch Umstände
und Eindrücke, deren ich mir nicht bewusst bin. Vielleicht wirkt

20 Das Beispiel stammt von Gottfried Seebaß.


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154 §  5  Wollen, offene Optionen und Anders-Können

der Weg links vorbei eine Spur matschiger als der rechte, und ich
regi­striere das unbewusst, während ich gehe und mir etwas anderes
durch den Kopf geht. Oder es passt besser zum Schrittrhythmus,
rechts vorbeizugehen. Oder es ist eine mir nicht bewusste Gewohn-
heit, in solchen Fällen rechts an etwas vorbeizugehen. Oder es ist
etwas anderes dieser Art. Was in Fällen wie diesen den Ausschlag
gibt, weiß man normalerweise nicht. Der Eisberg der Faktoren, die
dafür ausschlaggebend sind, dass wir so-und-so handeln, liegt zum
größten Teil unsichtbar unter der Wasseroberfläche. Wäre es anders,
wären wir lebensuntüchtig. Wir können davon ausgehen, dass wir
uns in sehr vielen Situationen, in denen es uns gleichgültig ist, ob so
oder so, solchen unbewussten Mechanismen überlassen. Wir könn-
ten die Angelegenheit auf die Ebene des Überlegens ziehen, aber
dafür ist sie bei weitem nicht wichtig genug. Was hängt daran, ob
ich links oder rechts vorbeigehe? Nichts.
Kommen wir jetzt zu den Fällen, in denen wir überlegen, sich
aber ein Unentschieden zwischen den Optionen ergibt. Ich lasse
offen, wie häufig solche Situationen sind. Oft löst man ein solches
Unentschieden auf, indem man weitere Aspekte beizieht, durch de-
ren Berücksichtigung sich die Waage dann doch zu einer Seite neigt.
Man überlegt also weiter, bringt weitere Wünsche ins Spiel und misst
die erwogenen Handlungen auch an ihnen. Aber es gibt Zeitgren-
zen. Wir können nicht ad infinitum überlegen. Dann drohten wir
wie Buridans Esel zwischen zwei gleich attraktiven Heuhaufen zu
verhungern. Was also führt zu einer Entscheidung, wenn wir nicht
durch eine Überlegung entscheiden?
Häufig gibt dann, wie es scheint, ein Bauchgefühl den Ausschlag.
Ein solches Gefühl speist sich aus untergründigen, unartikuliert ge-
bliebenen und kaum bewussten Erfahrungen. Wir können, worauf
wir uns hier beziehen, nicht klar benennen. Wir sind uns deshalb
nicht ganz sicher. Und doch haben wir das Gefühl, dass es uns in
eine Richtung zieht, dass wir uns mit der einen Handlung wohler
fühlen oder dass sie die ist, die wir tun sollten. Ein Gefühl, nicht eine
Überlegung, hat die Entscheidung gebracht.
Und was, wenn man auch auf diese Weise nicht zu einer Entschei-
dung kommt? Was geschieht dann? Wir stellen uns oft vor, dass wir
dann in die eine oder andere Richtung springen, also aus dem Nichts
ein »fiat« sprechen und auf diese Weise den Streit entscheiden. Wir
haben die Vorstellung, wie Herakles am Scheideweg zu stehen und
uns dann mangels einschlägiger Ressourcen out of the blue für den
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7.  Entscheiden, Optionen, Anders-Können 155

einen oder den anderen Weg zu entscheiden, und damit sind wir
wieder bei der Idee, das Entscheiden sei eine eigene, der eigentlichen
Handlung vorgelagerte Handlung. Diese Art der Selbstbeschreibung
ist dann häufig die Quelle für eine Freiheitsüberzeugung, nach der
wir so und auch so entscheiden können 2. Die kausalen Faktoren
insgesamt lassen es zu, so die Vorstellung, dass wir uns an dieser
Stelle bei bis dahin gleicher kausaler Vorgeschichte sowohl für das
a-Tun wie auch für das b-Tun entscheiden. Wir können das eine wie
das andere im Sinne des Könnens tout court.
Doch wie kommt es, wenn wir das Mirakel der unverursachten
Verursachung beiseite lassen, wirklich zu dieser Entscheidung? Wir
müssen, so meine ich, annehmen, dass in diesen Situationen, nicht
anders als sonst in der Welt, ein kausaler, möglicherweise determi-
nistischer Prozess abläuft, allerdings ohne dass wir wissen, was die
ausschlaggebenden Faktoren sind. Es sind wiederum unbewusste
Faktoren, die bestimmen, in welche Richtung man geht, oder Fak-
toren, die zu flüchtig und unfasslich sind, als dass sie in einer be-
wussten Überlegung eine Rolle spielen könnten oder sich auch nur
zu einem registrierbaren Bauchgefühl verfestigten: weit in der Ver-
gangenheit erfolgte Prägungen, unbewusste volitive Ressourcen im
Hintergrund, unbewusste Mikrogewohnheiten des Präferierens, un-
bewusste Assoziationen und Eindrücke, Erinnerungsbestände, die
wir unbewusst beiziehen und auswerten, Sedimente längst verges-
sener Gut-/Schlechterlebnisse. David Hume hat im Blick auf Situ-
ationen dieser Art, in denen wir indifferent sind, dann aber doch a
oder b tun, und die oft so ausgedeutet werden, als entschieden wir
frei im Sinne des Könnens 2, gesagt, dass »ein Betrachter unsere
Handlungen gewöhnlich aus unseren Motiven und unserem Cha-
rakter ableiten kann und dass er, wenn er es nicht kann, im Allge-
meinen schließt, dass er es könnte, wenn er alle Umstände unserer
Situation und unserer Gemütslage und die geheimsten Ursprünge
unserer Komplexion und Disposition vollständig kennte«.21 Aber

21 D. Hume: A Treatise of Human Nature, ed. L. A. Selby-Bigge, 2nd edi-


tion by P. H. Nidditch (Oxford 1978) II, iii, 2, p. 408 f. Die zitierte Passage
findet sich wortgleich auch in: An Enquiry Concerning Human Understan-
ding; vgl. die Edition von L. A. Selby-Bigge, 3rd edition by P. H. Nidditch
(Oxford 1975) VIII, i, p.  94, n.  1. – Vgl. auch die gleichsinnige Einschätzung
aus heutiger Sicht von W. Singer: Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten
aufhören, von Freiheit zu sprechen, in: Chr. Geyer (Hg.): Hirnforschung und
Willensfreiheit (Frankfurt 2004), 30–65, 47, 49 f., 57, 59.
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156 §  5  Wollen, offene Optionen und Anders-Können

natürlich werden, so kann man hinzufügen, die »geheimsten Ur-


sprünge« unserer Komplexion wie auch unsere Gemütslage in einer
konkreten Situation niemandem, weder dem Betrachter noch dem
Handelnden selbst, je vollständig durchsichtig sein.
Wenn wir das, was wir als Springen beschreiben, in dieser Weise
verstehen, erscheint es in einem anderen Licht. Wir tun, wie es
scheint, einfach entweder a oder b, ohne zu wissen, warum. Da-
mit ist die Sache entschieden. Ob dem überhaupt eine vorgelagerte
Handlung vorausgeht, ist zweifelhaft. Vielleicht will man sagen, ir-
gendetwas bringe einen dazu, so oder so zu springen. Aber sagt
man damit etwas anderes, als dass einen etwas dazu bringt, so oder
so zu handeln? Wie immer man sich diese Dinge zurechtlegt, der
Entscheid fällt faktisch durch einen unbewussten kausalen Prozess,
ohne dass man auf der bewussten Ebene etwas dafür in der Hand
hat, in diese oder in jene Richtung zu gehen.
Das bedeutet, dass alles, was hier geschieht, mit der Prämisse
des Determinismus vereinbar ist. In dieser Hinsicht ergibt sich auch
für die Fälle, in denen die Auflösung des Streits der Wünsche nicht
durch eine Überlegung oder so etwas wie ein Bauchgefühl gelingt,
nichts Neues. Nichts nötigt zu der Annahme, man könne im Sinne
des Könnens tout court a und b tun und man hätte, wenn man a ge-
tan hat, auch b tun können 2.
Manche werden denken, eine solche Vorgeschichte der Hand-
lung und eine solche unbewusst gefallene Entscheidung sei nicht das,
von dem wir sprechen, wenn wir sagen: ich habe dann entschieden,
a zu tun. Damit sprechen wir doch von einer bewussten, aktiven
Dezision. Dazu wenigstens zwei Bemerkungen. Es scheint (i) sehr
unklar zu sein, was man sich unter einer solchen bewussten Ent-
scheidung in einer Buridan-Situation vorzustellen hat. Auf Grund
wovon erfolgt sie denn? Wenn man die Situation tatsächlich nicht
durch eine Überlegung oder hilfsweise durch ein diffuses Bauchge-
fühl aufklären kann, muss die bewusste und aktive Entscheidung
aus dem Nichts erfolgen. Und das ist schwer zu verstehen. Man
könnte auf die Frage, warum man so entschieden hat, entweder gar
nicht antworten oder allenfalls sagen: »Nur so.« Man weiß nicht,
wie es dazu gekommen ist. Die Entscheidung hat kein Woher. Aber
warum kann man dann nicht genauso gut sagen, dass es auf Grund
von Faktoren, von denen man nicht weiß, so gekommen ist, dass
man a getan hat? Oder, wenn man so will, dass es so gekommen ist,
dass die Entscheidung auf das a-Tun fiel? Es ist sehr unklar, woran
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7.  Entscheiden, Optionen, Anders-Können 157

man das häufig so betonte Bewusste und Aktive des Entscheidens


festmachen kann. Was wir feststellen können, ist dieses: Es gibt auf
der einen Seite den Versuch, herauszufinden, was einem wichtiger
ist, und die Einsicht, dass man so nicht zu einem Entscheid kommt,
und auf der anderen Seite die Tatsache, dass man dann eine der er-
wogenen Handlungen tut. Aber was genau geschieht dazwischen?
Ist die Idee einer bewussten und aktiven Entscheidung nicht nur der
Versuch, eine solche Handlung an die Stelle der unbekannten causa
zu setzen, die wir unterstellen müssen, um zu erklären, dass der
Streitfall jetzt mit dem Tun von a entschieden ist? Es sei an Frank-
furts generelle, nicht speziell auf Buridan-Fälle bezogene, aber im
Blick auf diese Fälle erst recht richtige Feststellung erinnert, dass der
Begriff des Entscheidens »sehr obskur« ist.
Man muss (ii) auch sehen, dass man zwar den Streit der Wünsche
entscheiden wollen kann, dass man sich aber nicht, sagen wir, für
die Handlung a entscheiden wollen kann. Denn das hieße, die Ent-
scheidung schon getroffen zu haben.22 Wie die Entscheidung ausfällt,
ist also gerade nicht vom Wollen geleitet. Es geschieht, dass sie so
ausfällt. Es geschieht auf Grund einer Überlegung, deren Ergebnis
nicht willentlich festgelegt ist, oder durch ein Bauchgefühl, dessen
Inhalt ebenso wenig willentlich festgelegt ist, oder eben infolge un-
bewusster Faktoren, die wiederum nicht willentlich die Richtung
bestimmen. Auch dies lässt erkennen, dass die Vorstellung einer ak-
tiven Dezision nicht zu halten ist.
Ich kann jetzt, diesen Teil resümierend, sagen, dass es durch die
Einführung der Vorstellung des Entscheidens nicht nötig wird, das,
was zuvor über Optionen sowie das Können und Anders-Können
1 und 2 ausgeführt wurde, zu revidieren. Auch das Entscheiden er-
fordert in seinen verschiedenen Varianten Optionen im Sinne des
Könnens 1, im Sinne des Könnens der Macht. Aber es erfordert,
so meine ich, nicht, in keiner seiner Varianten, ein Können 2, ein
Können tout court. Das heißt, es erfordert nicht, dass man, wie es
das Bild der Weggabelung suggeriert, an einem Punkt bei gleicher
kausaler Vorgeschichte bis zu diesem Punkt sowohl in die eine wie
auch in die andere Richtung gehen kann.

22 So auch Rosenthal, Entscheidung, Rationalität und Determinismus, 24.


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158 §  5  Wollen, offene Optionen und Anders-Können

8.  Konklusionen: gewollte Handlungen, unterlassbare Handlungen

Was bedeuten die zurückliegenden Untersuchungen nun für die Be-


antwortung des Einwandes, der am Anfang dieses Kapitels stand?
Dafür, dass eine Handlung meine ist, ich es bin, der sie tut, in einem
stärkeren Sinn als nur dem, dass ich und nicht eine andere Person
sie tut, genüge es nicht, dass ich sie tue, weil ich sie tun will. Es
müsse etwas Zusätzliches hinzukommen. Eine Handlung sei nur
dann wirklich meine, wenn ich sie auch unterlassen kann, wenn ich
also auch anders handeln kann. Man müsse, wie es Bischof Bramhall
formuliert hat, »the power of election« haben und die Handlung aus
einer Mehrzahl von Optionen auswählen und vorziehen. Es müsse,
anders gesagt, eine Tat der Freiheit sein. Erst dadurch werde eine
Handlung im starken Sinne meine.
Ich hatte bereits die Frage aufgeworfen, ob man es hier wirk-
lich mit zwei separaten, konkurrierenden Auffassungen zu tun hat.
Schließt nicht, eine Handlung zu tun, weil man sie tun will, die
Macht, auch anders zu handeln, ein?23 Ist das Anders-Können mit
anderen Worten nicht immer mit dem Gewolltsein einer Handlung
verbunden? Im zweiten Kapitel wurde bereits dafür argumentiert,
dass eine Handlung, wenn man sie tut, weil man sie tun will, ge-
wöhnlich in einem Spielraum angesiedelt ist. Man kann sie tun und
man kann sie nicht tun, und man kann sie so tun, aber auch anders.
Ob und wie man sie tut, hängt davon ab, was man will. Was ergibt
sich nun in dieser Sache aus den Untersuchungen dieses Kapitels?
Wir können zunächst zwei Einsichten festhalten: (i) Eine Hand-
lung, die ich tue, weil ich sie tun will, ist in jedem Fall in besonderer
Weise meine. Die Handlung kommt aus mir, aus meinem Wollen,
und ich stehe, durch mein Wollen, hinter ihr. Das wurde oben (in § 3)
weiter ausdifferenziert. Es kann deshalb in der jetzigen Diskussion
allenfalls darum gehen, ob den Handlungen, die auch die Eigenschaft
der Unterlassbarkeit haben, vorausgesetzt, das ist eine zusätzliche,
nicht mit dem Gewolltsein bereits gegebene Eigenschaft, ein höhe-
rer Grad der Ichhaftigkeit zukommt. Um mehr kann es nicht gehen.

23 Dies ist die Auffassung von Kenny, Will, Freedom and Power, 142 ff; auch
The Metaphysics of Mind (Oxford 1989), 146 f. Im Anschluss an Kenny so
auch U. Wolf: Möglichkeit und Notwendigkeit bei Aristoteles und heute
(München 1979), 351, 379; 2. Aufl. u. d. T.: Vermögen und Möglichkeit (Ber-
lin 2020), 314 f., 339.
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8.  Gewollte Handlungen, unterlassbare Handlungen 159

Mit dem Einwand verbindet sich allerdings die gegenläufige Vor-


stellung, dass eine Handlung erst durch ihre Unterlassbarkeit oder,
anders ausgedrückt, durch die Macht, anders zu handeln, meine
wird, und nicht schon durch ihr Gewolltsein. Ein wesentlicher
Grund für diese Vorstellung dürfte, wie schon erwähnt, die ver-
breitete Annahme sein, dass Handlungen, die gewollt sind, auch
in einer deterministischen Welt möglich sind, dass es unter deter-
ministischem Vorzeichen aber gar keine wirklichen eigenen Hand-
lungen geben könne, weil dann alles, was geschieht, einschließlich
der menschlichen Handlungen, nur ein Element in einem riesigen
deterministischen Kausalgeschehen sei. Wirkliche eigene Handlun-
gen, ein wirkliches »durch mich« könne es nur geben, wenn man
anders handeln könne, als man es tatsächlich tut. Und dies sei nur in
einer nicht-deterministischen Welt möglich. Deshalb gehe es nicht
um einen höheren Grad der Ichhaftigkeit, sondern um die Ichhaf-
tigkeit überhaupt.
Wenn der Einwand in dieser Weise unterfüttert ist, geht er aller­
dings gleich von mehreren falschen Prämissen aus. Er übersieht dann
zum einen, dass es auch in einer deterministischen Welt sinnvoll,
ja unvermeidlich ist, davon zu sprechen, dass ich etwas tue, etwas
durch mich geschieht. Das wurde in den Kapiteln 2–4 gezeigt. Und
er übersieht zum zweiten, dass es, wie in diesem Kapitel dargelegt
wurde, auch in einer deterministischen Welt Optionen, ein Anders-
Können, Spielräume und die Wahl einer Handlung aus einer Mehr-
zahl von Möglichkeiten gibt. Die Unterlassbarkeit einer Handlung
ist in einer deterministischen Welt genauso möglich wie das Ge-
wolltsein einer Handlung. Unter diesem Aspekt ergibt sich kein
Unterschied. Es bleibt deshalb dabei, dass es in dieser Diskussion
allenfalls um den Grad der Ichhaftigkeit einer Handlung gehen kann
und nicht um etwas anderes.
Die zweite Einsicht, die wir festhalten können, ist diese: (ii) Die
Frage, ob wir es mit separaten Eigenschaften, von denen die eine
keineswegs die andere einschließt, zu tun haben, stellt sich zumin-
dest für einen großen Teil der gewollten Handlungen nicht. Denn
alle Handlungen, hinter denen ein Wollen unter dem Strich steht,
das sich in einer Überlegung als das stärkere herausgestellt hat, sind,
wie wir sahen, ohnehin Handlungen, die man unterlassen kann, statt
deren man also etwas anderes tun kann. Dieses Anders-Können ist
eine der Bedingungen dafür, dass sie überhaupt zu einem Gegen-
stand des Überlegens werden können. Alle Handlungen, die aus
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160 §  5  Wollen, offene Optionen und Anders-Können

einem Wollen unter dem Strich resultieren, sind also Handlungen


der Freiheit. Es steht einem frei, so zu handeln, aber auch anders zu
handeln. Man verfügt über einen Spielraum, in dem mehr als eine
Handlung möglich ist. Und die Handlung, die man tatsächlich rea-
lisiert, entspringt der Wahl gerade dieser Handlung aus einer Mehr-
zahl möglicher Handlungen.24 Für alle diese Handlungen schließt
folglich das Unter-dem-Strich-Gewolltsein die Unterlassbarkeit und
das Anders-Können ein. Die Frage, ob das Gewolltsein bereits das
Anders-Können mit einschließt oder nicht, stellt sich also allenfalls
für Handlungen, die zwar aus einem Wollen kommen, aber nicht
aus einem Wollen unter dem Strich.
Betrachten wir also diese Handlungen. Hier ist zunächst zu be-
achten, dass viele Handlungen, hinter denen keine explizite Über-
legung liegt, dennoch aus einem Wollen unter dem Strich kommen.
Es bedarf nicht immer einer expliziten Überlegung, um zu einer Rei-
hung der Wünsche zu gelangen. Oft ist die Hierarchie der Wünsche
klar, weil die Vor- und Nachteile der einen wie der anderen Option
offen zutage liegen. Oder sie ist klar, weil man die Wünsche, um die
es geht, zuvor längst in ihrem Zueinander geordnet hat. In anderen
Fällen reicht ein kurzes, momentanes und intuitives Abchecken der
volitionalen Konfiguration aus, um sich sicher zu sein, was man am
stärksten will. Und auch wenn wir meinen, wir hätten in einer Si-
tuation nur einen einzigen, konkurrenzlosen Wunsch, kommt uns
das vermutlich häufig nur so vor, weil wir konkurrierende Wün-
sche bereits im Vorfeld als offensichtlich schwächer ausgesondert
haben. Wir koordinieren ständig mehr oder weniger unbewusst un-
sere Wünsche. Das ist ein kontinuierlicher, kaum bemerkter und nur
im Ausnahmefall auf die Ebene des expliziten Überlegens gezogener
Prozess, der unserem Handeln zugrundeliegt.
In all diesen Fällen kommen die Handlungen, obwohl ihnen
keine explizite Überlegung unmittelbar vorausgeht, aus einem Wol-
len unter dem Strich. Nehmen wir auch folgende Situation. In einer
Person steigt auf Grund einer erlittenen Zurücksetzung ein heftiger
Zorn auf, verbunden mit dem Wunsch, zurückzuschlagen und sich
zu rächen. Und sie schlägt zurück. Der Wunsch war so stark, dass er,
wie es scheint, alle anderen volitiven Faktoren beiseitegedrückt und

24 Wobei ich hier die Varianten, statt a b zu tun und statt a zu tun a nicht zu
tun, nicht unterscheide. Auch a zu unterlassen wird hier und im Folgenden
als Anders-Handeln gefasst.
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8.  Gewollte Handlungen, unterlassbare Handlungen 161

die Handlung bestimmt hat. Für eine koordinierende Über­legung


blieb kein Platz. Kant beschreibt das, ich habe es schon zitiert, so,
dass man »bei der Leidenschaft … nicht im Stande [ist], die Nei-
gung mit der Summe aller andern [Neigungen] – zu vergleichen.«25
Man agiert in einer Art Rausch und wird von dem leidenschaftlichen
Wunsch fortgerissen, »ohne das Ganze in Erwägung zu ziehen.«26
So beschrieben, sind also durchaus konkurrierende andere Wün-
sche, Kants »Neigungen«, im Spiel. Der unbändige Wunsch, der
handlungseffektiv wird, ist nicht konkurrenzlos, aber es findet
keine Überlegung statt. Man kann darüber nachdenken, ob nicht
auch in einer solchen Situation gegenstrebige Tendenzen zumin-
dest momenthaft aufflackern. Ist es nicht so, dass auch dem, der von
Hause aus nicht dazu neigt, seinen Zorn zu zügeln, zumindest kurz,
vielleicht am Rande seines Bewusstseins präsent ist, dass auch eine
Menge gegen das spricht, was er da tut? So dass auch in einer solchen
Situation ein Rest eines wenn auch durch die Emotion verzerrten
Auswählens und Vorziehens zu finden ist?
Hobbes geht noch einen Schritt weiter. Er meint, dass eine Per-
son, die in einem plötzlichen Zornesausbruch jemanden tötet, zu
Recht zum Tode verurteilt wird, weil sie zuvor, als sie fähig war, zu
überlegen, genug Zeit hatte, sich darüber klar zu werden, ob es gut
oder schlecht ist, eine solche Handlung zu tun. Deshalb sei es rich-
tig, die Tötungshandlung als »to proceed from election« zu beur-
teilen.27 »… von keiner Handlung eines Menschen, und sei sie noch
so plötzlich«, so verallgemeinert Hobbes, »kann man sagen, sie sei
ohne Deliberation, weil man annimmt, dass er in seinem gesamten
vorausgegangenen Leben Zeit hatte, zu überlegen, ob er diese Art
von Handlung tun sollte oder nicht.«28
Auch wenn wir offen lassen, ob diese Generalisierung, die Hob-
bes vornimmt, in jedem einzelnen Fall überzeugt, dürften die vor-
angegangenen Ausführungen doch ausreichen, um zu zeigen, dass
zumindest beinahe alle Handlungen, die wir tun, weil wir sie tun

25 Kant, Vorlesungen über Anthropologie, Mrongovius, AA XXV/2, 1339.


26 Kant, Vorlesungen über Anthropologie, Menschenkunde, AA XXV/2,
1115.
27 Hobbes, Of Liberty and Necessity, Works IV, 272.
28 Ebd.: »For no action of a man can be said to be without deliberation,
though never so sudden, because it is supposed he had time to deliberate all
the precedent time of his life, whether he should do that kind of action or
not.«
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162 §  5  Wollen, offene Optionen und Anders-Können

wollen, »proceed from election«. Wir wollen immer vieles, und das
am Ende handlungsleitende Wollen wurde auf die eine oder andere
Weise anderen Wünschen vorgezogen.
Aber stellen wir uns, zum Zwecke des Arguments, eine Situation
vor, in der ein isoliertes, konkurrenzloses Wollen das Handeln be-
stimmt. Es wird nur eines gewollt, diese bestimmte Handlung. Neh-
men wir, um dieses Beispiel aufzugreifen, an, jemand spielt einige
Stücke von Chopin. Und er will nur dies. Kein anderes Wollen, und
sei es auch nur im Hintergrund und sei es auch noch so schwach,
konkurriert mit diesem Wunsch. Die Person kann tun, was sie tut,
weil sie die Fähigkeit hat, Chopin zu spielen, weil ein Klavier zur
Verfügung steht und weil nichts, kein Schnitt in den Finger, kein Mi-
gräneanfall, dazwischengekommen ist. Die Umstände lassen es zu,
wie gewollt zu spielen. Aber sie lassen es offenkundig auch zu, dass
die Person nicht spielt. Die Umstände nötigen sie nicht, zu spielen.
Es steht in ihrer Macht, auch nicht zu spielen. Nicht zu spielen, ist
also ebenfalls eine Option. Was geschieht, liegt bei ihr, bei ihrem
Wollen. Weil sie spielen will, spielt sie. Und wenn sie nicht spielen
wollte, würde sie nicht spielen. Sie kann also anders, sie kann auch
nicht spielen.
Dies legt die Annahme nahe, dass eine gewollte Handlung auch
dann, wenn das handlungsleitende Wollen nicht mit anderen Wün-
schen konkurriert, in einem Spielraum des Anders-Könnens ange-
siedelt ist. Auch in diesem Fall ist die Handlung eine unter mehreren
möglichen, und sie wird, weil sie gewollt wird, als eine unter meh-
reren möglichen realisiert.
Eine gewollte und durch das Wollen verursachte Handlung ist
also, so scheint es, grundsätzlich in einem Spielraum angesiedelt.
Wenn, was geschieht, bei mir, bei meinem Wollen liegt, dann kann
ich a tun und a auch nicht tun. Dass eine Handlung getan wird, weil
sie gewollt wird, schließt demnach ein, dass man die Macht hat, auch
anders zu handeln. Denn das Wollen bestimmt, was von dem, was
einem durch die Situation offen steht, getan wird. Und es hat genau
die Funktion, dies zu bestimmen. Das Wollen bestimmt, was wir in
einer Situation, in der verschiedene Handlungen möglich sind, tun.
Das Gewolltsein einer Handlung und ihre Unterlassbarkeit, Ge-
wolltsein und Anders-Können gehen also grundsätzlich zusammen.
Es ist nicht so, dass bei einigen Handlungen, die man tut, weil man
sie tun will, die Eigenschaft der Unterlassbarkeit noch zusätzlich
hinzukommt.
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8.  Gewollte Handlungen, unterlassbare Handlungen 163

Man wird demgegenüber darauf hinweisen, dass es Situationen


gibt, in denen man etwas tut, weil man es tun will, aber nicht die
Macht hat, anders zu handeln. So, Lockes Beispiel, wenn man es
vorzieht, in einem Raum zu bleiben, statt ihn zu verlassen, es aber,
ohne dass man das weiß, gar nicht möglich ist, ihn zu verlassen, weil
die Tür verschlossen ist.29 Oder, Frankfurts Beispiel, wenn jemand –
Jones – die Handlung a tut, weil er sie und nicht etwas anderes tun
will, es aber gar nicht möglich ist, etwas anderes zu tun. Denn Jones
wird, ohne davon zu wissen, von einem Neuro-Ingenieur überwacht,
der ein Interesse daran hat, dass Jones a tut, und der, wenn Jones sich
auf eine andere Handlung zubewegt hätte, eingegriffen und dafür
gesorgt hätte, dass er a tut.30 In beiden Fällen gehen also das Ge-
wolltsein der Handlung und das Anders-Können nicht zusammen.
Das ist zweifellos so, man muss aber sehen, dass das Wollen in
Fällen wie diesen auf eine bestimmte Art funktionslos ist. Die Um-
stände sind so, dass die Akteure eine bestimmte Handlung tun müs-
sen, ob sie es wollen oder nicht. Dieses »ob sie es wollen oder nicht«
sagt schon, dass das Wollen hier keine Funktion hat. Es ist da, aber
es hat nicht die Aufgabe, in einer Situation, in der einem mehrere
Handlungsmöglichkeiten offen stehen, zu bestimmen, was man tut.
Es entscheidet sich durch das Wollen nichts, weil es ohnehin zu der
betreffenden Handlung kommt. Es liegt nicht beim Handelnden, bei
seinem Wollen, was geschieht.
Man kann diesen Sachverhalt auch in folgender Weise zum Aus-
druck bringen:31 Wenn die Umstände es erlauben, a zu tun und a
auch nicht zu tun, liegt zwischen Umständen und Handlung eine
Lücke. Diese Lücke muss, damit es zu einer Handlung kommt, ge-
füllt werden, und sie wird durch ein Wollen gefüllt, so dass man,
wenn man a tun will, a tut, und, wenn man a nicht tun will, a nicht
tut. »The locus of wanting is«, so Kenny, »precisely this gap between
circumstances and action …«32 In Situationen wie den beschriebenen
gibt es diese Lücke zwischen Umständen und Handlung aber nicht.

29 J. Locke: An Essay Concerning Human Understanding, ed. P. H. Nid-


ditch (Oxford 1975) II, xxi, 10, p. 238.
30 H. G. Frankfurt: Alternate Possibilities and Moral Responsibility (1969),
in: H. G. F.: The Importance of What We Care About (Cambridge 1988),
1–10, 6 f.; dt. Alternative Handlungsmöglichkeiten und moralische Verantwor-
tung, in: H.  G. F.: Freiheit und Selbstbestimmung (Berlin 2001), 53–64, 59 f.
31 Vgl. hierzu Kenny, Will, Freedom and Power, 129.
32 Ebd.
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164 §  5  Wollen, offene Optionen und Anders-Können

Denn die Umstände bestimmen bereits, was man tut. Und es bedarf
dafür, dass es zu dieser Handlung kommt, ihres Gewolltseins nicht.
Das zeigt noch einmal, dass das Wollen hier funktionslos ist.
Das wird auch durch eine Spekulation über die evolutionäre Ge-
nese des Wollens bestätigt. Einfache Lebewesen, die noch kein Wol-
len kennen, werden durch fest verdrahtete Reiz-Reaktionsmechanis-
men in ihrem Verhalten bestimmt. Für jede Situation ist genetisch
fixiert, was die Lebewesen tun. Wobei diese Mechanismen wohl im-
mer oder fast immer durch primitive Formen des Gedächtnisses und
primitive Lernvorgänge in begrenztem Umfang intern flexibilisiert
werden. Dennoch bleibt diese Lebensweise im Grundsatz unflexi-
bel. Komplexere Formen des Lebens bedürfen einer anderen, flexi-
bleren Handlungssteuerung. Die jeweilige Situation darf nicht die
Handlung festlegen, sie muss vielmehr mehrere Handlungen erlau-
ben, und das Lebewesen selbst muss bestimmen, was es in der Si-
tuation tut. Es entsteht also eine Lücke zwischen der Situation und
der Handlung, die getan wird. Und es liegt bei dem handelnden
Lebewesen, ob es so handelt oder anders. Es muss selbst festlegen,
was geschieht. Und das tut es durch sein Wollen. Wenn es so will,
handelt es so, und wenn es anders will, handelt es anders. Sein Wol-
len bewegt das Lebewesen dazu, eine der Handlungsmöglichkeiten
zu ergreifen. In dem Moment in der Geschichte des Lebens, in dem
die Lücke zwischen Situation und Handlung aufbricht, bedarf es
­eines Elements, das diese Lücke füllt, und das ist das Wollen. An ihm
entscheidet sich, welche der möglichen Handlungen realisiert wird.
Wenn die Situation hingegen, wie in den Beispielszenarien ange-
nommen, nur eine Handlung zulässt, Jones, bleiben wir bei ihm, also
gar nicht vermeiden kann, das zu tun, was er tut, aber dennoch ein
Wollen vorhanden ist und es auch faktisch das Handeln verursacht,
ist das Wollen zwar die causa, aber nicht die causa sine qua non der
Handlung. Denn wenn Jones die Handlung, die er tut, nicht gewollt
hätte, würde er sie dennoch tun. Er kann eben nicht anders. Frank-
furt vertritt entschieden die Meinung, dass Jones für seine Hand-
lung, obwohl er nicht anders kann, voll verantwortlich ist, sie also,
so können wir das in unseren Kontext übersetzen, »durch ihn« ge-
schieht. Warum? Weil Jones, wie Frankfurt mehrfach sagt, »­exakt
dieselbe Handlung tut, die er getan hätte, wenn er anders hätte han-
deln können«.33 Die Begründung ist aufschlussreich, offenbart sie

33 Frankfurt, Alternative Possibilities, 8; dt. 61 f.


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8.  Gewollte Handlungen, unterlassbare Handlungen 165

doch, dass das Anders-Können auch in diesem Fall mit dem Ge-
wolltsein der Handlung einhergeht, allerdings nicht das faktische
Anders-Können, sondern das hypothetische Anders-Können. Jones
hätte auch dann, wenn er anders gekonnt hätte, so gehandelt. Der
Test dafür, dass die Handlung durch ihn geschieht, ist die imaginierte
Situation, in der er anders kann. Auch in den Beispielszenarien spielt
also ein – bloß hypothetisches – Anders-Können eine Rolle.
Noch ein anderer Aspekt der Beispielfälle verdient Aufmerksam-
keit. Jones weiß nicht, dass er keine Wahl hat. Er glaubt fälschlich,
mehrere Optionen zu haben. Sein Wollen bildet sich auf dem Boden
der Annahme, dass ihm eine andere Handlungsmöglichkeit offen
steht. Auch hier ist das Anders-Können also im Spiel, allerdings
nur als unterstelltes oder geglaubtes, nicht tatsächlich. Wenn man
Jones von vorneherein darüber informiert hätte, in welcher Situation
er sich in Wahrheit befindet, hätte er gleich sagen können, dass es
dann ja nicht bei ihm liege, was geschieht, und sein Wollen ja dann
überflüssig sei.
Die Beispiele demonstrieren ohne Zweifel, dass es besondere Si-
tuationen gibt, in denen Gewolltsein und faktisches Anders-­Kön­
nen auseinandertreten, dass zwischen beidem also keine begriffliche
Verbindung besteht. Sie lassen aber auch erkennen, dass in dieser
Art von Situation das Wollen seiner Funktion, angesichts mehre-
rer Handlungsmöglichkeiten, die dem Handelnden offen stehen, zu
bestimmen, was man tut, beraubt ist. Oder, mit Kenny gesagt, dass
das Wollen seiner Funktion, die Lücke zwischen Umständen und
Handlung zu schließen, beraubt ist. Wir haben es in diesen Fällen
mit einem echten, aber doch privativen Wollen zu tun.
Aber all dies ändert nichts daran, dass, nimmt man diese Sonder-
fälle aus, das Gewolltsein einer Handlung und das Anders-Können
zusammengehen und das eine das andere einschließt. Und selbst in
den Sondersituationen geht das Gewolltsein noch mit einem hypo-
thetischen und einem geglaubten Anders-Können zusammen.
Frankfurts Beispiel und seine Abwandlungen haben in der Dis-
kussion über Verantwortlichkeit und Freiheit – in diesen Kontext
gehört sein Aufsatz – mit großem Erfolg dazu beigetragen, dass man
das Gewolltsein einer Handlung und das Anders-Können sehr stark
trennte und auseinanderhielt. Dass eine Handlung aus einem Wollen
resultiert, sichert, so die Vorstellung, allein die Verantwortlichkeit,
des Anders-Könnens bedarf es dafür gar nicht. Damit schien für
alle, die annahmen, ein Anders-Können sei mit der Hypothese des
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166 §  5  Wollen, offene Optionen und Anders-Können

Determinismus unvereinbar, ein erheblicher Fortschritt erreicht zu


sein. Denn eine Handlung, die man tut, weil man sie tun will, ist ge-
wiss mit einem deterministischen Weltverlauf vereinbar, und damit
konnte man dann an der Kompatibilität von Verantwortlichkeit und
Determinismus festhalten.
In diesem Kapitel wurde hingegen zu zeigen versucht, dass es
Anders-Können, Optionen, Spielräume auch in einer deterministi-
schen Welt gibt. Natürlich ist hier vom Anders-Können der Macht
die Rede, nicht vom Anders-Können tout court, das mit dem Deter-
minismus offenkundig nicht vereinbar ist. Das Können der Macht
ist aber, wie im einzelnen dargelegt, genau das Können, das wir im
Überlegen voraussetzen, das erklärt, was Handlungsoptionen sind,
und von dem wir sprechen, wenn wir sagen, dass man so gehandelt
hat, aber doch anders konnte. Auch unter deterministischem Vor-
zeichen entscheiden wir zwischen verschiedenen Möglichkeiten, in
der Regel durch eine mehr oder weniger explizite Überlegung da-
rüber, was uns wichtiger ist: so oder anders zu handeln. Wir haben
auch in einer deterministischen Welt die »power of election«, von
der Bramhall sprach.
Wir haben außerdem gesehen, dass das Gewolltsein einer Hand-
lung und ihre Unterlassbarkeit, das Gewolltsein und das Anders-
Können in fast allen Fällen zusammengehen. Das Gewolltsein
schließt das Anders-Können ein. Wenn man etwas tut, weil man es
will, ist die Handlung in allen Fällen, in denen das Wollen nicht sei-
ner Funktion beraubt ist, in Situationen offener Möglichkeiten zu
bestimmen, was geschieht, in einem Spielraum angesiedelt, sie wird
aus einer Pluralität von Handlungsmöglichkeiten ausgewählt und
man kann statt ihrer etwas anderes tun. Deshalb ist eine gewollte
und durch das Wollen verursachte Handlung in besonderem Maße
»meine«, sie geschieht in einem starken Sinne »durch mich«. Dies
gilt auch in den wenigen Sonderfällen, in denen das Wollen nur die
causa, aber nicht die causa sine qua non der Handlung ist, weil die
Handelnden auch, wenn sie anders handeln könnten, die Handlung
wählen würden, die sie tun.

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§6
Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen

Unsere Handlungen »geschehen durch uns un-


ter der Wirkung des Schicksals (δι’ ἡμῶν ὑπὸ τῆς
εἱμαρμένης)«.
Philopator, Peri heimarmenēs

»Schaffen wir den Begriff der Sünde aus der Welt …«


F. Nietzsche, Morgenröte. Gedanken
über die moralischen Vorurteile, § 202

1.  Der Stachel des »außerhalb von uns«

In den zurückliegenden Kapiteln habe ich zu erläutern versucht, dass


die uns selbstverständliche Vorstellung, dass etwas durch mich ge-
schieht, dass ich es bin, der etwas tut, voll und ganz berechtigt ist. Es
wurde im einzelnen dargelegt, wie sie angesichts der Tatsache, dass
wir selbst und alles, was wir sind und tun, Teil eines universalen kau-
salen Geschehens sind, zu verstehen ist. Die Menschen sehen sich
als Urheber ihrer Handlungen, und sie sind es. Sie sind aktiv Han-
delnde, die über Handlungsspielräume verfügen, die aus mehreren
Optionen eine der möglichen Handlungen wählen und ergreifen
und denen es freisteht, so oder so zu handeln. All dies gehört zu den
Fakten der menschlichen Existenz, und all dies ist mit der Einsicht
Hobbes’, Humes und Darwins, dass die Menschen Teil der Natur
sind und das, was sie sind und tun, vollständig in das kausale Gefüge
von Ursachen und Wirkungen eingelassen ist, vereinbar.
Unsere Handlungen sind Wirkungen von Ursachen, die, verfolgt
man die kausalen Fäden nur weit genug zurück, außerhalb von uns
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168 §  6  Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen

liegen. Das bedeutet, dass auch alle Faktoren, die die verschiedenen
Grade der Ichhaftigkeit unserer Handlungen begründen, einschließ-
lich des Wollens, eine kausale Vorgeschichte haben, die außerhalb
von uns liegt und deshalb unserer Einwirkung entzogen ist. In Ka-
pitel 4 wurde gezeigt (so hoffe ich), dass dieser Umstand nichts von
der Ichhaftigkeit unserer Handlungen wegnimmt. Die Genese des
Wollens wie auch der anderen das »durch mich« konstituierenden
Faktoren ist dafür, dass die Handlungen unsere sind, wir aktiv Han-
delnde sind und etwas aus uns heraus geschehen machen, ohne Be-
lang. Auch wenn wir ein deterministisches Kausalgeschehen und da-
mit auch eine Determination des Wollens unterstellen, kann das un-
sere Urheberschaft und das »durch mich« unserer Handlungen nicht
angreifen. Das »durch mich« beginnt innerhalb des Kausalprozesses,
es gibt innerhalb des kausalen Geschehens einen Übergang von dem,
was nicht durch mich geschieht, zu dem, was durch mich geschieht.
Genau dies gilt es zu verstehen. Es muss gelingen, die beiden Ein-
sichten, um die es hier geht, in eine stabile Balance zu bringen und
in dieser Balance zu halten, zum einen die Einsicht, dass die Hand-
lungen, die aus meiner Person kommen und nicht aus einer anderen,
und dann insbesondere die, die aus meinem Wollen kommen, durch
mich geschehen und ich ihr Urheber bin. Und zum anderen die Ein-
sicht, dass alle unsere Handlungen und die ihnen vorausgehenden
mentalen Prozesse Wirkungen von Ursachen sind, die, geht man
in der kausalen Vorgeschichte hinreichend weit zurück, außerhalb
von uns liegen. Es gibt keinen Weg, ein Ich, eine Seele, ein intelligi-
bles Subjekt, einen Willen, ein Überlegen, ein Entscheiden aus den
kausalen Kräftefeldern herauszunehmen, auch nicht einen noch so
kleinen Teil davon. Allein die Ichhaftigkeit unserer Handlungen, die
mit diesem Prinzip der Kausalität zusammenstimmt, ist wirklich
und mehr als eine Illusion.
Diese beiden Einsichten zu verbinden, ist schwierig, und es droht
immer der Absturz zur einen oder zur anderen Seite und damit der
Rückfall in die traditionelle Gedankenspur, die suggeriert, das Ein-
gebettetsein unserer Handlungen und unseres Wollens in das kausale
Geschehen dementiere deren Ichhaftigkeit oder – umgekehrt – das
unleugbare »durch mich« unserer Handlungen dementiere ihr voll-
ständiges Eingelassensein in das kausale Gewebe von Ursachen und
Wirkungen. Wer die Balance zur einen oder anderen Seite verliert,
verkennt, so meine ich, die spezifische Existenzform der Menschen.
Wir sind Produkte zahlloser, uns zum größten Teil unbekannter
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1.  Der Stachel des »außerhalb von uns« 169

Ursachen, deren Vorgeschichte außerhalb von uns liegt und nicht


unserem Einfluss unterliegt, und doch aktiv Handelnde, denen es
freisteht, so oder so zu handeln und das zu tun, was ihrem Wollen
am meisten entspricht.
Die Reaktion auf diese Position ist immer wieder von neuem der
Einwand, aber dann komme nichts originär aus der jeweiligen Per-
son, dann fehle der eigene, persönliche Anteil. Dann komme alles
von außen, von anderswo. Das wird oft als ein Bedeutungsverlust
empfunden. Wenn dieser Einwand die Originarität und den eige-
nen Anteil im Sinne eines absoluten Anfangs versteht, bricht er sich
immer wieder an demselben Felsen. Es gibt, wie wir sahen, diesen
absoluten Anfang in der handelnden Person nicht. Diese Vorstellung
ist falsch. Und die Bedeutung der Menschen kann nicht in etwas
liegen, was es nicht gibt. Die Rede von der Bedeutung der Men-
schen und einem möglichen Bedeutungsverlust ist ohnehin proble-
matisch. Die Menschen haben keine ihnen durch eine göttliche In­
stanz verliehene oder durch eine kosmische Ordnung zukommende
Bedeutung. Viele Philosophen haben den Menschen und ihrer Exis-
tenz einen solchen Status innerhalb des Kosmos zugesprochen, und
viele denken, ausdrücklich oder unausdrücklich, auch heute noch in
diese Richtung. Robert Kane spricht davon, dass unser Selbst, unsere
Handlungen und unser Leben »aus der Perspektive des Universums
(from the point of view of the universe)« einen Wert haben.1 Eine
solche Überzeugung setzt indes religiöse oder weitgehende meta-
physische Hintergrundannahmen voraus. Ohne solche Prämissen
muss man annehmen, dass das menschliche Leben, das Ergebnis
­eines plan- und absichtslosen evolutionären Geschehens, aus der
Sicht des Universums, unabhängig von unseren eigenen Wünschen
und Zielen, keinen Wert und keine Bedeutung hat. Nichts im Uni-
versum hat unabhängig von uns einen Wert oder eine Bedeutung.
Damit, dass man diesen Einwand abweist, ist nicht gesagt, dass
die Einsicht in das »außerhalb von uns« keine Auswirkungen auf
unser Selbstverständnis hat. Es wäre überraschend, wenn es so wäre.
Ich hatte bereits von dem Stachel des »außerhalb von uns« gespro-
chen. Was also sind die Konsequenzen dieser Einsicht? Was bedeutet
sie für das Verständnis des Lebens und für das Leben selbst? Und
was bedeutet sie nicht? Das sind die Fragen, um die es in diesem
Kapitel gehen soll.

1 Kane, The Significance of Free Will, 98.


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170 §  6  Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen

2.  Falsche Vorstellungen, falsche Bilder, falsche Ängste

Zunächst gehe ich auf einige Vorstellungen über die Konsequenzen


des »außerhalb von uns« ein, die, wie ich annehme, unzutreffend
sind. Dabei werde ich wie in den vorangegangenen Kapiteln einen
deterministischen Weltverlauf unterstellen, um nicht fortwährend
mit der Alternative von Determinismus und Indeterminismus ope-
rieren zu müssen.

(i) Individualität

Bisweilen wird behauptet, wenn wir in unserem Handeln determi-


niert seien, verlören wir unsere Individualität und Einzigartigkeit.2
Man kann sich leicht klarmachen, dass das nicht wahr ist. Jede Per-
son bleibt, auch unter deterministischem Vorzeichen, einzig­artig,
weil jeder eine einzigartige Lebensgeschichte hat, jeder ist von un-
endlich vielen Faktoren geprägt, deren Zusammenspiel eine unver-
wechselbare Person geformt hat. Und natürlich hat jede Person
selbst durch das, was sie getan hat, dadurch, welche Optionen sie
realisiert hat, wie sie sich entwickelt und verändert hat, dazu beige-
tragen, dass sie das ist, was sie ist.
Einige finden es irritierend, sich vorzustellen, dass jemand, der
in vollem Umfang durch genau dieselben deterministischen Fak-
toren bestimmt wäre wie man selbst, auch genauso handeln würde
wie man selbst. Darin liege ein Verlust von Individualität.3 Es fällt
schwer, sich das vorzustellen, weil dieser »jemand« nicht nur ein
Zwilling von einem wäre, sondern eine exakte Kopie; er müsste alles
erlebt haben, was man selbst erlebt hat, er müsste sein ganzes Leben
über zu genau denselben Zeiten an genau denselben Orten gewesen
sein, wie ich es war, etc., etc. Aber abgesehen davon: Es scheint, als
binde die Überlegung Individualität unausgesprochen daran, dass
man mehr ist als ein Teil des kausalen Geschehens, dass es jenseits
dessen noch ein Plus gibt, durch das man sich auch von seiner durch
die exakt gleichen kausalen Einflüsse geprägten Kopie unterscheiden
würde. Aber dieses aus dem Kausalprozess herausgehobene eigent-
liche Ich gibt es, wie gesagt, nicht. Und dieses Ichs bedarf es auch

2 Vgl. ebd. 85 f.


3 Vgl. T. Honderich: The Consequences of Determinism (Oxford 1988) 68.
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2.  Falsche Vorstellungen, falsche Bilder, falsche Ängste 171

nicht, um die einzigartige Besonderheit jeder einzelnen Person ver-


ständlich zu machen.
Auch wenn man sich vorstellt, ein allwissendes übernatürliches
Wesen könne bereits vor meiner Geburt alles, was ich in meinem
Leben erleben und tun werde, in ein Buch eintragen, wäre es doch
so, dass es für jede einzelne Person ein eigenes Buch anlegen müsste.
Eine solche Buchführung würde an der Einzigartigkeit meiner und
jeder anderen Person nichts ändern.

(ii) Autonomie

Häufig wird der Verdacht geäußert, wenn unsere Handlungen und


unser Wollen durch Ursachen bedingt seien, die letzten Endes au-
ßerhalb von uns liegen, unterminiere das unsere Autonomie oder,
genauer gesagt, die Möglichkeit einer autonomen Lebensführung.
Wie können wir autonom sein, wenn unser Wollen und die aus ihm
resultierenden Handlungen in toto Produkte vielfältiger kausaler
Einflüsse sind, die, wie immer der Weg ist, den sie in unserem In-
neren nehmen, ursprünglich von außen kommen? Zu dieser Frage
wurde schon einiges in Kapitel 4 gesagt.4 Autonomie, so war der
Tenor, ist immer wollensrelativ: Man ist autonom, wenn man selbst,
durch sein Wollen, bestimmt, was man tut, und nicht ein fremdes
Wollen bestimmt. Autonomie bemisst sich am eigenen Wollen. Das
auto im griechischen Wort autonomia bedeutet »selbst«: Man be-
stimmt selbst. Und genau das tut man, wenn das eigene Wollen das
Handeln bestimmt.
Es ist nicht schwer zu sehen, dass diese Bestimmung durch das
Wollen mit der Annahme eines deterministischen Weltverlaufs ver-
einbar ist. Aus dem, was nicht durch mich geschieht, entsteht, so
habe ich gesagt, etwas, was durch mich geschieht. Und man kann
genau angeben, wo dieser Umschlag stattfindet: Er findet, im Falle
gewollter Handlungen, im Wollen statt. Vereinfacht kann man sagen,
was zu dem Wollen hinführt, geschieht nicht durch mich, was dann
aus dem Wollen heraus geschieht, meine Handlungen, geschieht
durch mich. Wie das Wollen entsteht, ob durch deterministische
oder probabilistische Kausalrelationen, ist hierfür ohne Bedeutung.
Ein deterministischer Verlauf hindert uns nicht, das zu tun, was wir

4 Vgl. § 4, S.  119 ff.


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172 §  6  Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen

wollen. Und er nimmt uns auch keine Handlungsmöglichkeiten, die


wir gerne hätten. Wenn die Umstände es zulassen, so und so zu han-
deln, steht es uns frei, das eine wie das andere zu tun. Und zudem
steht es uns frei, darauf hinzuwirken und uns dafür zu engagieren,
dass die Spielräume, die wir haben, größer werden und uns mehr
Optionen offen stehen. Wir können die Grenzen unserer Freiheit
verschieben und neue Handlungsräume gewinnen, in denen unser
eige­nes Wollen bestimmt und nicht das Wollen anderer oder die
Umstände. All dies wird durch die Annahme, dass unser Wollen,
auch das Wollen, das hinter diesem Engagement für mehr Freiheit
steht, selbst verursacht und möglicherweise deterministisch verur-
sacht ist, nicht in Frage gestellt. All dies bleibt davon unberührt.
Wie bereits erwähnt, kann man den Autonomiebegriff, wie er
jetzt erläutert wurde, als zu eng kritisieren. Es gehe nicht nur um
die Vorgeschichte des Handelns, sondern auch um die des Wollens.
Um autonom zu sein, müsse man auch in seinem Wollen selbst- und
nicht fremdbestimmt sein. Man dürfe den Begriff der Autonomie
also nicht halbieren. Doch auch wenn man ihn in dieser Weise er-
weitert, ändert das nichts an dem Gesagten. Denn wie immer es mit
den Möglichkeiten und Grenzen unseres Einflusses auf das eigene
Wollen bestellt ist, die Impulse, so oder so Einfluss zu nehmen, sind
voluntativ, sie kommen aus einem Wollen, und das bedeutet, dass
Autonomie, auch wenn man die Vorgeschichte des Wollens einbe-
zieht, wollensrelativ bleibt.
Wenn man den Begriff in dieser erweiterten Form genauer ins
Auge fasst, zeigt sich, dass er eine zunächst verborgene, in unserem
Zusammenhang aber bedeutsame Voraussetzung enthält. Nachdem
man erst einmal damit begonnen hat, von der Vorgeschichte des
Handelns zu der des Wollens zurückzugehen, liegt es nahe, den Re-
gress zu wiederholen und auch nach der Vorgeschichte der voliti-
ven Faktoren zu fragen, von denen aus man Einfluss auf das Wollen
nimmt. Dazu muss man auf wiederum vorgängige volitive Bestände
zurückgehen, und so fort. Man gerät auf diese Weise in eine Itera-
tion ins Unendliche, und damit würde der Begriff der Autonomie
sich selbst zerstören. Eine Alternative ist die Annahme, die Itera-
tion ende an einem Punkt, an dem man aus sich heraus unverur-
sacht seine Wünsche wählt und damit in Form einer causa sui neue
Kausalketten initiiert. Wollte man Autonomie in diesem Sinne ver-
stehen, spräche man jedoch von etwas, was es nicht gibt. Auch so
lässt sich der Begriff der Autonomie also nicht verstehen. Es bleibt,
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2.  Falsche Vorstellungen, falsche Bilder, falsche Ängste 173

dass die Vorverlagerung der Autonomie je nach Konzeption früher


oder später bei einem Wollen endet, das nicht seinerseits durch ein
vorgängiges Wollen fundiert ist, das wir vielmehr einfach haben und
das unangefochten, »unopposed« ist, an dem also nichts stört. Nur
unter dieser Bedingung, dem Ausgang von etwas Gegebenem, von
etwas, das nicht »durch uns« ist, kann der Autonomiebegriff eine
Funktion haben. Die genauere Explikation des Begriffs stößt also
von selbst darauf, dass dem, was durch mich, durch mein Wollen ge-
schieht, was ich also autonom tue, etwas vorausgeht, was nicht durch
mich geschieht. Das bedeutet nicht, dass der Begriff der Autonomie
sinnlos ist. Er ist keineswegs sinnlos. Man muss nur verstehen, dass
das Wollen, relativ auf das wir autonom sein können, selbst eine
Vorgeschichte hat, die notwendigerweise zu Ursachen zurückführt,
die ursprünglich außerhalb von uns liegen.
Diese Überlegungen lassen erkennen, dass die Erweiterung des
Autonomiebegriffs nach innen nichts an der bereits formulierten
Diagnose ändert: Der Umstand, dass unsere Handlungen und unser
Wollen durch Ursachen bedingt sind, die letzten Endes von ­außen
kommen, untergräbt nicht die Möglichkeit einer autonomen Le-
bensführung. Der Determinismus nimmt uns, wie gesagt, keine
Handlungsoptionen, die wir gerne hätten. Wo wir, auch im mentalen
Vorfeld unserer Handlungen, Optionen haben, steht es uns frei, so
oder so zu handeln, und überall, wo uns andere ihren Willen aufzu-
drücken versuchen oder uns Umstände Wege verschließen, können
wir uns dafür einsetzen, die Verhältnisse zum Besseren zu verändern
und die Spielräume für ein autonomes Leben zu vergrößern. Ein
deter­ministischer Weltverlauf hindert uns daran nicht.

(iii)  Personalisierung und Heteronomie

Es gibt, wenn man religiöse Vorstellungen ausklammert, keinen


Grund, den unterstellten deterministischen Gang der Dinge in ir-
gendeiner Form zu personalisieren. Es ist nicht so, dass eine über-
natürliche Person alles so angelegt und geordnet hat. Das kausale
Geschehen wird nicht von der Schicksalsgöttin Moira gesteuert.
Dennoch gibt es und hat es in der Geschichte des Denkens einen
starken Sog in diese Richtung gegeben. Chrysipp und andere Stoi-
ker haben im Anschluss an ältere Traditionen die heimarmenē, das
universale deterministische Kausalgeschehen, von dem sie ausgingen,
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174 §  6  Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen

als Ausdruck des göttlichen Willens verstanden. Alles, was geschieht,


ist durch Zeus’ Willen vorherbestimmt.5 Durch dieses Manöver ge-
winnt das gesamte Weltgeschehen, inklusive des eigenen Lebens, die
Farbe des Guten und Sinnvollen. Wenn Gott oder der höchste Gott
es so bestimmt und eingerichtet hat, muss es, auch wenn man es
selbst nicht versteht, gut sein. Diese positive Ummantelung dessen,
was geschieht, mag beruhigend wirken, dennoch enthält die Idee
­eines von Gott vorbestimmten Gangs der Dinge für viele etwas An-
stößiges, nämlich die Vorstellung einer Fremdbestimmung: ein an-
derer bestimmt, und zwar auch über das, was einen selbst betrifft.
Ganz ähnlich die ebenfalls sehr alte und ebenfalls personalisie-
rende Vorstellung, dass, wenn die Welt deterministisch verfasst ist,
jeder einzelne eine vorbestimmte Rolle in einem gewaltigen Drama
spielt, das er selbst nicht kennt und überschaut. Auch diese Deu-
tung der menschlichen Existenz weckt ein Gefühl der Fremdbestim-
mung. Erneut führt jemand anderer Regie. Ganz offen zum Aus-
druck kommt dieses Gefühl, wenn immer wieder gesagt wird, ein
deterministischer Weltverlauf bedeute, dass wir Sklaven sind oder
Marionetten oder Puppen. Wir hängen an Fäden, die von anderen
bewegt werden.
All dem ist entgegenzuhalten, dass die für die genannten Vorstel-
lungen konstitutive Personalisierung und die damit einhergehende
Teleologisierung etwas ist, was dem Determinismus hinzugefügt
wird, aber keineswegs aus ihm folgt oder in ihm enthalten ist. Dann
ist daran zu erinnern, dass der Determinismus die Möglichkeit eines
selbstbestimmten Lebens nicht um ein Iota beschneidet. Heterono-
mie und Versklavung bedeuten, dass nicht das eigene Wollen, son-
dern das Wollen eines anderen bestimmt, was man tut. Das eigene
Wollen kommt nicht zum Zug. Aber das hat, wie wir sahen, mit
dem Determinismus nichts zu tun. Ein deterministischer Weltver-
lauf ist damit vereinbar, dass wir autonom handeln und leben. Und
auch wenn man den Begriff der Heteronomie nach dem Vorbild des
Autonomiebegriffs nach innen erweitern und die Vorgeschichte des
Wollens miteinbeziehen wollte, käme man zu keinem anderen Er-
gebnis. Dass die Ursachen unseres Wollens und Handelns, geht man
weit genug zurück, außerhalb von uns liegen und folglich unserem
Einfluss entzogen sind, bedeutet, dass wir Produkte und Bündel

5 Vgl. hierzu S. Bobzien: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy


(Oxford 1998), 45 ff., 53 f.
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2.  Falsche Vorstellungen, falsche Bilder, falsche Ängste 175

einer riesigen Zahl von Kontingenzen sind, und nicht mehr. Aber
es bedeutet nicht, dass wir versklavt oder Marionetten sind. Wir
können aus uns heraus, aus unserem Wollen handeln und unsere
Freiheiten, gegebene und erkämpfte, so nutzen, wie es uns am bes-
ten zu sein scheint.
Und noch eine Überlegung: Wenn die Menschen und das, was sie
tun, Teil eines universalen deterministischen Kausalgeschehens sind
und dieses Geschehen uns, wie behauptet wird, versklavt oder hete-
ronomisiert, wo ist dann eigentlich das eigene Wollen, dessen Um-
setzung ins Handeln durch den fremden Einfluss verhindert wird,
angesiedelt? Es müsste dann offenkundig etwas außerhalb des Kau-
salgeschehens sein, denn seine Umsetzung würde durch das Eingrei-
fen oder Wirksamwerden dieses Geschehens verhindert. Aber unser
Wollen ist selbst voll und ganz in das Kausalgeschehen eingelassen.
Dies zeigt, dass sich die Idee: Versklavung durch deterministische
Kausalprozesse nicht einmal explizieren lässt. Wenn gesagt wird,
Determinismus bedeute Versklavtsein oder Heteronomie, haben
wir es eher mit einem angstvollen Reflex als mit einem durchdach-
ten Argument zu tun. Auch diese Überlegung macht deutlich, wie
wichtig, aber auch wie schwierig es ist, zu begreifen, was es tatsäch-
lich bedeutet, dass wir selbst, mit unserem Wollen und Handeln, Teil
des kausalen Gefüges von Ursachen und Wirkungen sind und nicht,
auch nicht zum Teil, neben oder über ihm stehen.

(iv)  Bloßes Ausagieren?

Eine weitere Assoziation, die die Vorstellung eines den Menschen


und sein Tun einschließenden deterministischen Weltverlaufs häufig
auslöst, ist die des Ausagierens. Dann sei das menschliche Leben nur
ein Ausagieren von etwas vorab Festliegendem. Wie dann überhaupt
alles Geschehen, so schon eine in der Antike polemisch gegen den
stoischen Determinismus gewandte Metapher, nur die »Ausfaltung«,
das »Auswickeln« von etwas Gegebenem sei.6 Bisweilen wird diese
Vorstellung durch eine bestimmte Art von Marionetten veranschau-

6 Vgl. ebd. 54. – In der zeitgenössischen Diskussion hat Saul Smilansky


davon gesprochen, dass, wenn es keinen freien Willen im starken Sinne gibt,
alles Geschehen letztlich nur »an unfolding of the given« sei. Vgl. Free Will
and Illusion (Oxford 2000), 284.
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176 §  6  Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen

licht, die nicht an Fäden hängen, sondern aufgezogen werden und


dann automatisch eine Handlungssequenz abspulen. Je komplizier-
ter diese Puppen sind, umso mehr rufen sie die Illusion einer Selbst-
bewegung hervor. Oder man denkt an einen Eisenbahnzug, dessen
Fahrt durch die Gleisführung definitiv festgelegt ist. Kant meinte,
wenn die Freiheit (in seinem Sinne) nicht zu retten sei, weil die
Handlungen der Menschen in etwas »ihren bestimmenden Grund
haben, was gänzlich außer ihrer Gewalt ist«, er denkt an eine Prä-
determination durch Gott, sei der Mensch eine »Marionette, oder
ein Vauconsonsches Automat«.7 Der Franzose Jacques de Vaucon-
son konstruierte im 18. Jahrhundert in Europa vielbestaunte auto-
matische Figuren, die zum Beispiel Flöte oder Klarinette spielten.
Offenkundig zielen diese Vorstellungen des Ausagierens und der
aufgezogenen Marionetten auf ungute Gefühle und den Eindruck,
beim menschlichen Leben handelte es sich, wäre es so beschaffen,
um eine traurige und elende Angelegenheit.
Doch als Erstes stimmen die Bilder nicht, sie verfälschen die
Dinge. Sie personalisieren offensichtlich, die Marionette ist jeman-
des Konstruktion, und sie wird von jemandem aufgezogen. Genauso
wird bei der Eisenbahn der Gleisverlauf mit Absicht so angelegt. Das
ist also schon falsch. Des weiteren macht eine aufgezogene Puppe,
die ihr Programm abrollt, natürlich währenddessen keine Erfah-
rungen, die auf das, was sie tut, Einfluss haben, sie erlebt nichts, sie
lernt nichts, sie verändert sich nicht, etc., etc. Sie spielt nur starr und
blind ihr Programm herunter und ist nicht mehr als ein totes Ding
und nichts als der Wille ihres Erfinders und Konstrukteurs. All dies
stimmt für das menschliche Leben nicht.
Aber auch die Vorstellung des Ausagierens selbst zieht, auch
wenn man auf die polemischen Veranschaulichungen verzichtet,
ihre suggestive Kraft aus dem Bild, dass wir ein zu einem frühe-
ren Zeitpunkt, vor oder mit dem Beginn unseres Lebens, bereits
festliegendes Programm nur abspulen, ohne dem etwas hinzufügen
oder etwas davon wegnehmen zu können. Uns sind durch frühere
Festlegungen die Hände gebunden, und wir können nur etwas Vor-

7 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, V, 100 f. – In der Religionsschrift


spricht Kant von »Prädeterminism«, nach dem die menschlichen Handlun-
gen »ihre bestimmenden Gründe in der vorausgehenden Zeit haben (die mit
dem, was sie in sich hält, nicht mehr in unserer Gewalt ist) …«: I. Kant: Die
Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) VI, 49 Anm.
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2.  Falsche Vorstellungen, falsche Bilder, falsche Ängste 177

gegebenes exekutieren. Auch hier wird buchstäblich alles, was das


menschliche Leben ausmacht, ausgeblendet. Alles, was während des
Lebens geschieht, durch uns selbst und nicht durch uns selbst, fehlt
in diesem Bild. Wir machen unzählige Erfahrungen, erleben Tag für
Tag eine Vielzahl von Dingen, wir lernen, entwickeln und verändern
uns. Und all das hat Einfluss auf das, was wir sind, wollen und tun.
Man muss sich immer wieder vor Augen halten, was uns, wenn wir
determiniert sind, determiniert: das Gespräch heute mit einem Kol-
legen, der Rat eines Arztes, das Bedenken, eine erwogene Ferienreise
könne das Budget allzu sehr strapazieren, die Lust, in der Sonne zu
sitzen, der Blick in einen Band mit Abbildungen von Skulpturen
eines berühmten Bildhauers, Veränderungen in der Gemüts- und
Stimmungslage, Antizipationen erhoffter oder gefürchteter Ereig-
nisse in der Zukunft, die Routinen des Alltags und so weiter und so
weiter. Dies alles und tausend anderes hat oder kann Einfluss haben
auf das, was wir tun. Unser Leben ist voll von Dingen, großen und
kleinen, solchen, von denen wir wissen, und solchen, von denen wir
nicht wissen, die unser Wollen und Handeln bestimmen. Wir agie-
ren nicht etwas aus, was vor oder mit unserer Geburt festgelegt war,
ohne dem durch uns etwas hinzufügen zu können.
Das entspricht offensichtlich auch nicht der Art, wie wir unser
Leben selbst wahrnehmen. Wenn man sich zu einer Operation ent-
schließt, hat man nicht das Gefühl, ein Programm abzuspulen. Man
tut das, was einem das Beste zu sein scheint. Man hat den Rat der
Ärzte eingeholt, mit anderen, die ein Urteil haben, gesprochen, das
Pro und Contra abgewogen und sich eine Meinung gebildet. Im
Zuge dieser Aktivitäten ist man zu dem Entschluss gekommen, und
das alles beißt sich mit der Vorstellung des Ausagierens von etwas
Gegebenem. Auch hier ist es ein falsches Bild vom Determinismus,
das diese Assoziation entstehen lässt.
Vielleicht will man sie dennoch verteidigen, in folgender Weise:
Selbstverständlich sei es nicht so, dass es so etwas wie ein spezielles,
vor der Geburt festliegendes fatum für eine bestimmte Person gibt
und diese es dann nur ausagiert. Die kausalen Prozesse verlaufen
nicht linear. In uns bündeln sich unendlich viele kausale Einflüsse
aus allen möglichen Richtungen und aus allen Phasen unseres Le-
bens. Dazu gehören zweifellos das Gespräch mit den Kollegen, der
Rat der Ärzte, die Lust, in der Sonne zu sitzen, etc. Diese Faktoren,
die auf uns einwirken, sind selbst wieder in komplexe kausale Struk-
turen eingelassen und durch diese bedingt, und all das verbindet sich
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178 §  6  Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen

durch zahllose weitere Verzweigungen zu einem ungeheuer komple-


xen, unüberschaubaren Gewebe, das sich zurück in die Vergangen-
heit und nach vorne in die Zukunft erstreckt. Das sei zugestanden,
aber dennoch bleibt es, so der erneute Vorstoß, doch dabei, dass alle
kausalen Einflüsse, auch die, die sich zu unserem Charakter und
Wollen verdichtet haben, letzten Endes von außen kommen und sie
vollständig bestimmen, was wir tun.
Das ist in der Tat richtig. Es ist die Einsicht, von der die Über-
legungen dieses Kapitels ausgegangen sind. Die Frage ist, ob sie die
Vorstellung des Ausagierens rechtfertigt. Meines Erachtens sugge-
riert diese Vorstellung eine für jede einzelne Person spezifisch vor-
gegebene Bahn, die dann jeder und jede nolens volens zu ziehen
hat. Und das gibt, wie gesagt, ein falsches Bild des tatsächlichen
kausalen Geschehens. Außerdem fehlt in diesem Bild das Entschei-
dende: In der großen Mehrzahl der Fälle tun wir etwas, weil wir es
tun wollen. Und damit steht man selbst hinter dem, was man tut.
Wenn man es will, kommt die Aktivität aus einem eigenen Antrieb,
sie kommt aus uns, gleichgültig, wie das Wollen entstanden ist, ob
deterministisch oder nicht. Immer gilt, was man durch sein Wollen
tut, tut man durch sich. Das bedeutet nicht nur, dass wir das Ge-
fühl haben, durch und aus uns zu handeln, sondern dass es auch
tatsächlich so ist.
Betrachten wir eine alltägliche Szene: Ein Mann hat das Schrei­
ner­handwerk gelernt und betreibt jetzt eine eigene Werkstatt. Er
hätte auch den Hof der Eltern übernehmen können. Die Gelegen-
heit und die Fähigkeiten waren da, und es wäre wohl auch nichts
dazwischen gekommen. Aber er hat es anders gewollt. Der Mann
ist im Moment dabei, einen Tisch zu schreinern. Der Tisch soll gut
werden, deshalb gibt er sich Mühe und strengt sich an. Der Schrei-
ner könnte sich vor Augen führen, dass er den Beruf zuallererst
ausübt, weil er und seine Familie etwas zu essen und zu trinken und
ein Dach über dem Kopf brauchen. Das ist durch die biologische
Konstitution der Menschen bedingt und nicht selbstgewählt. Aber
ändert sich dadurch etwas? Er kann sich auch klarmachen, dass die
Tatsache, dass er sich anstrengt, einerseits instrumentell begründet
ist, der Tisch muss am Ende einen Käufer überzeugen, dass er aber
andererseits ohnehin jemand ist, der sich, wenn er eine Aufgabe hat,
Mühe gibt und sehr genau arbeitet. Das hat etwas mit dem Vorbild
seiner Eltern und seiner Erziehung zu tun. Aber ändert das etwas?
Bedeutet das, dass der Schreiner nicht selbst agiert? Das bedeutet es
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2.  Falsche Vorstellungen, falsche Bilder, falsche Ängste 179

weder in seiner Selbstwahrnehmung noch objektiv. Er tut, was er


tut, aus sich. Er will es so.
Wenn man sagen wollte, er tue es nicht aus sich, ließe sich gar
nicht explizieren, was dieses fehlende und vermisste »aus sich« hei-
ßen könnte. Man ginge damit wieder zu der Idee des absoluten An-
fangs zurück. Wir sollten, mit anderen Worten, das Bild des Aus-
agierens dahin stecken, wo es hingehört: in die Gespensterkammer.
Es verzerrt grob die Tatsachen.

(v)  Umstände und Wollen

Auch eine weitere Diagnose entpuppt sich als unzutreffend, wenn


man sich die Sonderstellung des Wollens innerhalb unserer geistigen
Ausstattung bewusst macht. Wenn das Wollen selbst die Wirkung
von kausalen Einflüssen ist, die ursprünglich von außen kommen,
dann lässt sich, so die Annahme, die im letzten Kapitel gemachte und
als äußerst wichtig herausgestellte Unterscheidung von Umständen
und Wollen nicht mehr halten. Dann ist das Wollen, die Tatsache,
dass wir dieses oder jenes wollen, selbst ein Umstand, etwas, was
uns vorgegeben ist und im Rahmen der anderen Umstände bestimmt,
was wir tun. Alle Folgerungen, die sich aus der Unterscheidung von
Wollen und Umständen ergaben, seien deshalb hinfällig.
Vor allem in zwei Kontexten spielte die Unterscheidung eine
Rolle. Zum einen wurde gesagt, dass wir, wenn wir überlegen, etwa
ob wir unter dem Strich a oder b tun wollen, voraussetzen oder uns
nötigenfalls vergewissern, dass uns die erwogenen Handlungen of-
fen stehen. Wir vergewissern uns, dass die Umstände die ins Auge
gefassten Handlungen überhaupt zulassen. Besteht die Gelegenheit,
a und b zu tun? Haben wir die Fähigkeit, a und b zu tun? Und
würde, wenn wir das eine oder das andere in der Summe tun woll-
ten, etwas dazwischenkommen, das die Realisierung des Gewollten
verhindern würde? Wenn die Umstände es erlauben, a und b zu tun,
uns also offen steht, das eine wie das andere zu tun, liegt es bei uns,
was wir tun. Wir bestimmen, durch das Wollen, das sich in der Über-
legung als das stärkste erweisen wird, welche der offenen Optionen
wir ergreifen und realisieren.
Aber wenn man, so nun der Einwand, von einem determinis-
tischen Weltverlauf ausgeht und deshalb annimmt, dass auch die
Überlegung in all ihren Teilen determiniert ist, liegt von vornherein
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180 §  6  Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen

fest, was man unter dem Strich wollen wird. Und deshalb ist das
Wollen unter dem Strich selbst ein Umstand. Es ist das Ergebnis ei-
nes Kausalgeschehens, das letzten Endes von außen auf uns einwirkt.
Es sind dann insgesamt die Umstände, die das Handeln festlegen.
Es gibt dann nichts anderes als Umstände. Und wer meint, dann sei
es unsinnig, noch von Umständen zu sprechen, der gebrauche ein
anderes Wort, das ändert nichts an der Sache. In jedem Fall ist die
gezogene Grenzlinie zwischen den Umständen auf der einen Seite
und dem eigenen, das Ich verkörpernden Wollen auf der anderen
Seite unter deterministischem Vorzeichen nicht gerechtfertigt. Dies
also der erste kritische Zug.
Alles, was der Einwand über das stärkste Wollen und seine Vor-
geschichte vorbringt, ist, eine deterministische Welt vorausgesetzt,
richtig. Aber es ändert nichts daran, dass wir in der Überlegung ein
spezifisches Können voraussetzen, das Können der Macht, das Kön-
nen 1. Wir können, so nehmen wir an, a und b tun, die Umstände
erlauben das eine wie das andere. Dieses Können ist, wie oben er-
läutert, nicht auf alle kausalen Gegebenheiten, sondern allein auf
die Umstände – Fähigkeit, Gelegenheit und keine Dinge, die da-
zwischenkommen – relativ. Mit seiner Ausgrenzung nehmen wir
die Unterscheidung von Umständen und Wollen vor oder setzen
sie voraus. Und wir tun das notwendigerweise. Denn wenn die Um-
stände es nicht zulassen, eine der Handlungen zu tun, ist es sinnlos,
zu überlegen, ob man sie unter dem Strich tun will. Man kann dann
wollen, was man will, man wird die Handlung nicht tun können. Die
Handlung ist dann keine Option. Ob es sinnvoll ist, die Handlungen
a und b in Erwägung zu ziehen, hängt also von den Umständen ab,
und zwar allein von den Umständen, ganz unabhängig vom Wollen
und davon, welches Wollen sich als das Wollen unter dem Strich er-
weist. Es geht darum, ob der Übergang vom Wollen zum Handeln
möglich sein wird. Und das hängt exklusiv von den Umständen ab
und offensichtlich nicht vom Wollen. Das Wollen kann uns nicht
hindern, das Gewollte zu tun. Aus diesem Grund ist die Unterschei-
dung von Wollen und Umständen indispensabel.
Und deshalb läuft sogar eine trennende Linie durch das Ich im
weiteren Sinne. Denn eine Fähigkeit, etwa die, Klavier zu spielen,
ist eine intrinsische Qualität meiner Person. Dennoch habe ich sie
zu den Umständen gezählt, während das Wollen eben nicht zu den
Umständen gehört. Der Grund ist der genannte: Wenn ich Chopin
spielen will, kann es sein, dass die Umsetzung des Wollens daran
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2.  Falsche Vorstellungen, falsche Bilder, falsche Ängste 181

scheitert, dass ich die dazu nötigen Fähigkeiten nicht habe. Sie kann
aber nicht daran scheitern, dass ich Chopin spielen will. Es dient also
nicht bloß dem einfacheren Reden, die Fähigkeit zu den Umständen
zu zählen, es ist eine Notwendigkeit.
Wir können jetzt auch sehen, dass das Wort »Umstände« genau
die Sache trifft. Umstände stehen um etwas herum, im lateinischen
Wort circumstantiae kommt das vielleicht noch deutlicher heraus
als im Deutschen. Umstände sind relativ auf ein Zentrum. Und was
dieses Zentrum ist, lässt sich im jetzigen Kontext klar benennen:
Es ist nicht das Ich im Sinne der von anderen unterschiedenen Per-
son, sondern das Ich im engeren Sinne, das Ich, das allein durch
das Wollen definiert ist. Alles außerhalb dieses Ichs sind Umstände,
auch Zustände der eigenen Person wie mangelnde Fähigkeiten oder
Krankheiten. Und wenn ich etwas tue (oder unterlasse), weil ich es
will, dann sind es nicht Umstände, die zu der Handlung determinie-
ren, dann geschieht sie vielmehr durch mich, ich bin es, der sie tut.
Die Unterscheidung von Umständen und Wollen kann, so zeigen
diese Überlegungen, nicht eingeebnet werden. Sie ist unvermeidlich
und ganz und gar gerechtfertigt.
Zum anderen hat die Diagnose, ein deterministischer Weltverlauf
zwinge dazu, das Wollen selbst zu den Umständen zu rechnen, Fol-
gendes vor Augen: Es wurde gesagt, dass wir in Kontexten, in de-
nen wir eine bestimmte Handlung von einer anderen Person erwar-
ten, sie aber unterbleibt, je nach Situation unterschiedlich reagieren.
Wenn die Person sie tun wollte, die Umstände es aber nicht zuließen,
reagieren wir anders, als wenn sie gar nicht so handeln wollte. Wenn
ich mich, so eines der Beispiele, während e­ iner längeren Dienstreise
kein einziges Mal bei meiner Frau gemeldet habe, wird sie nach mei-
ner Rückkehr voller Entrüstung sagen: »Erzähl’ nicht, dass es an
den Umständen lag, dass du keine Möglichkeit hattest, anzurufen
oder zu schreiben. Du hast es nicht gewollt! Es lag allein an dir, an
nichts anderem. Du kannst es nicht auf die Umstände schieben.«
Wenn aber, so jetzt der Einwand, auch das Wollen letzten Endes
von außerhalb kommt, ist das Wollen beziehungsweise das Nicht-
Wollen für mich auch nur ein Umstand. Wo ist dann der Unter-
schied zu der Situation, in der ich keine Möglichkeit gehabt hätte,
mich zu melden? Beides kommt letzten Endes von außen. Der Un-
terschied besteht in Wirklichkeit nicht. Wir machen ihn nur, weil
wir intuitiv keine Deterministen sind. Dies ist der zweite kritische
Zug.
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182 §  6  Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen

Diese Überlegung trifft eine empfindliche Stelle. Und ich werde


sie vollständig erst im folgenden Teil dieses Kapitels beantworten
können. Aber es scheint klar, dass sie nicht ausreicht, um die Unter-
scheidung von Umständen und Wollen aufzuheben. Das ist schon
durch die vorangegangene Argumentation gezeigt. Außerdem ist
sie auch zu simpel. Denn es besteht offensichtlich ein Unterschied
zwischen den Fällen. Wenn es wegen der Umstände unmöglich war,
etwas zu tun, liegt das, was es verhindert hat, außerhalb des Han-
delnden. Er hat es unabhängig von seinem Wollen und seinem Cha-
rakter nicht getan. Wenn er die Handlung hingegen unterließ, weil
er sie nicht tun wollte, liegt das, was die Handlung verhindert hat,
im Handelnden. Es liegt an ihm, an seinem Wollen. In einem sehr
losen Sinn von Verantwortung könnte man sagen, im einen Fall liegt
der locus of responsibility außerhalb der Person, im anderen Fall im
Handelnden. Dieser Unterschied bleibt auch dann bestehen, wenn
man sich bewusst macht, dass eine Person und das, was sie will,
das Ergebnis von Ursachen sind, die letzten Endes außerhalb von
ihr liegen. Einmal läuft der kausale Prozess durch den Handelnden
und sein Wollen hindurch, das andere Mal läuft er an seinem Wollen
vorbei. Und das Wollen ist, wie wir sahen, der Ort, an dem sich der
Übergang von dem, was nicht durch mich geschieht, zu dem, was
durch mich geschieht, vollzieht. Wenn ich etwas unterlasse, weil ich
es nicht tun will, dann geschieht das durch mich.
Dieser Unterschied existiert, und er hat eine große Bedeutung.
Wir haben schon früh in diesem Buch gesehen, wie sehr uns die
Frage nach dem Woher einer Bewegung interessiert. Kommt sie aus
uns, oder liegt ihre archē außerhalb von uns? Dieser Unterschied in-
teressiert uns unter anderem in Situationen, in denen jemand etwas
Schlimmes getan hat und man überlegt, wo man ansetzen muss, um
zu verhindern, dass so etwas noch einmal passiert. Lag es an ihm, an
seinem Wollen, muss man deshalb versuchen, hier einzuwirken, und
ihn bestrafen? Oder lag es nicht an ihm, sondern an den Umständen?
Das sind Fragen, die in unserer Strafpraxis eine wesentliche Rolle
spielen, und dies, wie man leicht sieht, völlig zu Recht. Sie belegen,
dass die Unterscheidung von Umständen und Wollen auch in diesem
Kontext eine unverzichtbare Funktion hat.
Mit diesen Überlegungen sind, wie gesagt, nicht alle Fragen, die
sich aus dem Einwand ergeben, beantwortet. So stellt sich, wenn
auch das Wollen letzten Endes von außerhalb kommt, die Frage, ob
es dann richtig ist, jemanden, der willentlich etwas Unrechtes ge-
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3.  Verantwortung, Verdienst, Strafe 183

tan hat, zu tadeln oder zu bestrafen. Ist er nicht genauso unschuldig


wie der, der, ohne es zu wollen, aus Zwang oder Versehen so gehan-
delt hat? Darauf komme ich noch. Doch auch ohne das kann ich
resümieren, dass der Determinismus nicht dazu zwingt, die Unter-
scheidung von Umständen und Wollen einzuebnen. Im Gegenteil,
auch wenn wir einen deterministischen Gang unterstellen, ist diese
Unterscheidung unerlässlich, und sie ist voll und ganz durch reale
Unterschiede gedeckt.

3.  Verantwortung, Verdienst, Strafe

Wenn unser Wollen und Handeln determiniert sind, können wir


nicht anders handeln als wir es tun, »können« verstanden im Sinne
des Könnens tout court. In der Mehrzahl der Fälle gilt zwar genauso,
dass wir anders handeln können 1, »können« im Sinne des Könnens
der Macht. Aber das ändert nichts daran, dass jemand, der a getan
hat, bezieht man alle relevanten kausalen Faktoren mit ein, b nicht
tun konnte 2. Das ist, einen deterministischen Weltverlauf voraus-
gesetzt, ein hartes Faktum, an dem sich nicht rütteln lässt.
Hieraus zieht man häufig zwei Konsequenzen: Erstens, dann
sei die Person nicht verantwortlich für das, was sie getan hat. Und
zweitens, dann verdiene sie, falls eine ihrer Handlungen mit einer
sozialen Norm kollidiert, es nicht, dafür getadelt oder bestraft zu
werden. Eine Strafe sei dann unfair, ungerecht. Beide Schlussfolge-
rungen sind, wie ich meine, falsch, und ich möchte im Folgenden
zumindest im Umriss erläutern, warum.
Verantwortlich für eine Handlung ist man, wenn man selbst und
nicht jemand oder etwas anderes ihre Ursache ist und man deshalb,
falls mit der Handlung etwas nicht in Ordnung ist oder zumindest
ein entsprechender Verdacht besteht, der ist, der sich zu rechtferti-
gen und für das Geschehene einzustehen hat. Man ist der, der dann
zu antworten und sich zu verantworten hat. Verantwortlich zu sein,
beschreibt also, anders als das bloße Urhebersein, eine bestimmte
normative Position innerhalb einer normativ ausgestalteten Ord-
nung. Man muss für das, was man getan hat, falls es etwas Inakzep-
tables war, geradestehen, und zwar deshalb, weil man die Ursache,
die archē dessen ist, was geschehen ist. Wie eng die Bindung der
Verantwortung an die Verursachung ist, spiegelt sich darin, dass man
häufig auch außerhalb der Sphäre des Handelns von einer Ursache
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184 §  6  Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen

sagt, sie sei für die-und-die Wirkung verantwortlich. So, wenn man
sagt, Mikrorisse im Muskelgewebe seien für den Muskelkater ver-
antwortlich. Man kann die Rede von Verantwortung dann auch auf
die posi­tive Seite übertragen und da, wo jemand etwas Vorbildli-
ches oder besonders Verdienstvolles getan hat und andere mit Lob,
Belohnung und Anerkennung reagieren, von Verantwortung spre-
chen. Aber dieser Sprachgebrauch ist weniger profiliert und wohl
auch seltener.
Es kann keinen Zweifel daran geben, dass jemand, wenn er wil-
lentlich eine Handlung tut und sie anderen Handlungsmöglichkei-
ten vorzieht, auch in einer deterministischen Welt ihr Urheber ist.
Er ist Quelle und Ursache dessen, was geschieht. Er wurde nicht
genötigt, so zu handeln. Er war frei, anders zu handeln. Er hatte
Optionen. Und deshalb ist er, wenn er nicht im Naturzustand lebt,
sondern in einer normativ geordneten Gesellschaft, die akzeptable
und inakzeptable Handlungen unterscheidet und die Handlungen,
die nicht geschehen sollen, sanktioniert, für das, was er getan hat,
verantwortlich.8
Dies gilt offenkundig nicht nur aus der Perspektive der dritten
Person. Auch der Handelnde selbst hält sich, wenn er etwas Un-
rechtes getan hat, für verantwortlich. Er weiß, dass ihn nichts und
niemand genötigt hat, so zu handeln, wie er es getan hat. Er weiß:
Ich hatte die Wahl, ich hätte die Handlung auch unterlassen können,
ich habe aus freien Stücken so gehandelt. Und wenn in der Gesell-
schaft, in der ich lebe, aus mir durchaus einleuchtenden Gründen
Handlungen dieser Art bestraft werden, muss ich das hinnehmen
und für das, was ich getan habe, geradestehen.
Wie wir sahen, entspringt aus der Erfahrung, dass man in der
Überlegung und Abwägung offene Optionen vor sich hat, dass man
so, aber auch anders handeln kann, also frei ist, zu tun, was man will,
ein unerschütterliches Ich- und Freiheitsbewusstsein. Und das ver-
bindet sich unweigerlich mit dem Bewusstsein, für das, was man tut,
verantwortlich zu sein. Die Erfahrung des »es liegt bei mir« ist ein
nicht eliminierbares Konstituens der menschlichen Existenzform.
Von all dem nimmt der unterstellte Determinismus nichts weg.
Was die Köpfe verhext, ist nun der Einwand, es sei zwar richtig,
dass man, wenn man frei ist, zu tun, was man will, die Ursache des

8 Vgl. zur Verantwortlichkeit ausführlicher Vf., Der Vorrang des Wollens,


272 f., 290–297.
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3.  Verantwortung, Verdienst, Strafe 185

Geschehens ist, aber man sei, wenn der Determinismus wahr ist,
nicht die letzte Ursache. Und das sei die entscheidende Bedingung
für Verantwortlichkeit. Verantwortung könne es nicht geben, wenn
man nicht die letzte oder, anders ausgedrückt, die erste Ursache des
Geschehens sei. Der Handelnde muss, so Kane, »the sole author or
underived originator« der Handlung sein.9 Nur dann kann er wirk-
lich verantwortlich sein und für das, was er getan hat, zur Rechen-
schaft gezogen werden. Verantwortlichkeit sei rekursiv. Das heißt,
wenn ich für die Handlung a, weil sie aus meinem Wollen kommt,
verantwortlich sein soll, muss ich auch dafür verantwortlich sein,
dass ich dieses Wollen habe, und für das, worauf dieses Wollen zu-
rückgeht. Wenn das nicht der Fall ist, kann ich auch nicht für das
Tun von a verantwortlich sein.
Es liegt auf der Hand, dass die Vorstellung der Rekursivität in
einen unendlichen Regress führt. Man muss für die Ursachen und
deren Ursachen und deren Ursachen und so fort verantwortlich sein.
Das ist aber nicht möglich. Die einzige andere Möglichkeit liegt da-
rin, dass der Regress an einer Stelle abbricht, und zwar im Handeln-
den irgendwo im Vorfeld der Handlung, und dass er, dann notwen-
digerweise ohne darin von etwas verursacht zu sein, die Handlung
oder das vorausgehende Wollen wählt, aber auch etwas anderes hätte
wählen können. Nur wenn es einen solchen absoluten Startpunkt
gibt, an dem der Handelnde unbedingt aus sich heraus (was immer
das heißen soll) eine Wahl trifft, kann er für die daraus resultierende
Handlung verantwortlich sein. Wir stoßen hier wieder auf die Idee
des absoluten Anfangs, der keine kausale Vorgeschichte hat, sondern
aus dem Nichts kommt. Es ist nicht nötig, noch einmal zu sagen,
dass es einen solchen Anfang nach allem, was wir wissen, in dieser
Welt nicht gibt. Wenn es uns Ernst ist damit, an der Einsicht Hobbes’,
Humes und Darwins festzuhalten und die Menschen zu entgöttern,
ist die Idee der Verantwortlichkeit auf diesem Wege nicht verständ-
lich zu machen. Die Forderung letztlicher Autorschaft macht Ver-
antwortung also so oder so zu etwas, was es nicht gibt.
In Wahrheit ist Verantwortung nicht rekursiv. Wir haben bereits
gesehen, dass das »durch mich« nicht rekursiv ist. Das, was durch
mich geschieht, kommt vielmehr früher oder später aus etwas, was
nicht durch mich geschehen ist. Dasselbe gilt entsprechend für die
Verantwortlichkeit. Das, wofür ich verantwortlich bin, kommt frü-

9 Kane, The Significance of Free Will, 79.


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186 §  6  Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen

her oder später aus etwas, wofür ich nicht verantwortlich bin. Der
Übergang erfolgt durch mein Wollen oder, anders gesagt, durch
mein durch das Wollen definiertes Ich. Würde man die kausalen
Fäden zurückverfolgen und die Genese des einzelnen Wollens auf-
zuhellen versuchen, endete die Spur entweder bei etwas, was als Teil
der menschlichen Natur faktisch so ist, oder sie verlöre sich schnell
in der nicht weiter ausleuchtbaren Vorgeschichte der eigenen Per-
son und des eigenen Charakters. So oder so endete sie bei Faktoren,
für die man nicht verantwortlich sein kann. Verantwortung kann
nicht rekursiv sein.
Auf derselben Linie argumentiert Harry Frankfurt. »Ich denke
nicht«, so sagt er, dass, für etwas verantwortlich zu sein, »›a transi-
tive matter‹ ist. Ich denke nicht, dass es, wenn ich nicht für A ver-
antwortlich bin und B aus A folgt, folgt, dass ich nicht für B verant-
wortlich bin.« Was zählt, sei allein, dass ich es tun will. »How I got
into that condition is another matter.«10
Es sei wenigstens angemerkt, dass das, was sich jetzt für das Ver-
ständnis der Verantwortlichkeit ergeben hat, nicht an die determi-
nistische Prämisse gebunden ist. Es gilt auch, wenn man einen in-
deterministischen Weltverlauf voraussetzt. Auch wenn in der Vor-
geschichte des Wollens und des jeweils stärksten Wollens probabi-
listische Kausalrelationen eine Rolle spielen, bleibt es dabei, dass, je
weiter man die kausalen Einflüsse zurückverfolgt, immer klarer wird,
dass man für all das nicht verantwortlich sein kann. Und für die
unerklärlichen Zufallselemente in diesem Geschehen kann man oh-
nehin nicht verantwortlich sein. Auch in einer indeterministischen
Welt resultiert also das, wofür man verantwortlich ist, notwendiger-
weise aus etwas, wofür man nicht verantwortlich ist. Die einzige Al-
ternative wäre erneut die Annahme eines absoluten Startpunktes, an
dem man, unabhängig von allen kausalen Einflüssen, so oder anders
handeln kann und sich ex nihilo für eine der Möglichkeiten entschei-
det. Die Idee einer »ultimate responsibility« ist folglich weder un-
ter deterministischem noch unter indeterministischem Vorzeichen
einzulösen. – Das lässt im übrigen erkennen, dass die eigentliche
Frontlinie gar nicht zwischen Determinismus und Indeterminismus
verläuft, sondern zwischen Determinismus und Indeterminismus
auf der einen Seite und der Idee des absoluten Anfangs auf der an-

10 de Graef et al., Discussion with Harry G. Frankfurt, 32 ff.; Zitate: 32.


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3.  Verantwortung, Verdienst, Strafe 187

deren Seite. Wobei die Idee des absoluten Anfangs allerdings einen
Indeterminismus voraussetzt.
Wenn Verantwortlichkeit nicht rekursiv ist, bedeutet das, dass
derjenige, der etwas Unrechtes getan hat und einräumt, dass er da-
für verantwortlich ist, und deshalb auch die Unvermeidlichkeit einer
gesellschaftlichen Sanktionierung zugesteht, dem noch etwas hin-
zufügen kann. Dies alles, so kann er sagen, ist richtig, aber ebenso
richtig ist, dass ich für die nähere oder fernere Vorgeschichte der
Willenskonstellation, die zu dem führte, was ich getan habe, nicht
verantwortlich sein kann. Warum ich es so stark tun wollte, wa-
rum die gegenläufigen Motive in der Überlegung nicht stärkeres
Gewicht gewannen, warum mich die absehbare soziale Missbilli-
gung nicht stärker beeindruckte – für all das gibt es Ursachen und
Ursachen dieser Ursachen, aber sie sind offensichtlich früher oder
später meinem Einfluss entzogen. Damit ist nicht geleugnet, dass
meiner Handlungswahl bereits eigene Aktivitäten oder Möglich-
keiten zu solchen Aktivitäten vorausgingen. Ich konnte mehr oder
weniger sorgfältig überlegen, mir die Konsequenzen mehr oder we-
niger konkret ausmalen, ich konnte mir einschlägige in der Vergan-
genheit gemachte Erfahrungen bewusst machen. Ich hatte, neben
dem, was einfach so war, Spielräume. Und ich habe, das muss ich
einräumen, zu unbedacht agiert, ich hätte vorher besser nachdenken
sollen. Dennoch ist es so, dass, wie ich mich verhalten habe, von
Charakterstrukturen oder auch von momentanen Eindrücken und
Einschätzungen abhängig war, die ihrerseits eine komplexe kausale
Vorgeschichte haben. Versuchte man, in der Ursachenkette zurück-
zugehen, würde einem schnell klar, dass all das aus einem Zusam-
menspiel einer Fülle von Mikro-Ursachen kommt, die außerhalb
meines Einflusses lagen.
Damit sind auch nicht die Möglichkeiten der Selbstdistanzie-
rung und Selbstkritik, der Selbsterziehung und Selbstveränderung
geleugnet, und auch nicht die Möglichkeit, speziell die eigenen voli­
tiven Dispositionen zu verändern. Diese Möglichkeiten gibt es, so
kann der Übeltäter zugestehen, ohne Zweifel, und sie zeigen, dass
es auch weit im Vorfeld konkreter Handlungen Verantwortlichkei-
ten gibt. Das darf man in der Tat nicht übersehen. Und vielleicht
muss ich Verantwortung dafür übernehmen, dass ich hier einiges,
was möglich und nötig war, unterlassen habe. Aber natürlich kom-
men die Impulse zu Veränderungen im eigenen Charakter selbst
aus volitiven Ressourcen, und sie sind Produkte von Ursachenket-
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188 §  6  Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen

ten, die wiederum, verfolgt man sie zurück, notwendigerweise au-


ßerhalb von uns und folglich außerhalb unseres Einflusses liegen.
Es scheint mir, so kann er hinzufügen, von großer Bedeutung zu
sein, sich dieser Komplexität bewusst zu sein, weil davon abhängt,
wie die anderen mich sehen und mir begegnen, – und auch, wie ich
mich selbst sehe.
Es hängt viel daran, den Mann nicht so zu verstehen, als wolle er
sich herausreden. Das ist nicht seine Intention. Er nimmt mit dem,
was er hinzufügt, nichts von seinen zuvor gemachten Äußerungen
zurück: Er ist für das, was er getan hat, verantwortlich. Beides, was
er sagt, ist richtig, beides kann nebeneinander stehen: (i) Er ist ver-
antwortlich, und (ii) dass er in der Summe so hat handeln wollen,
geht auf eine komplexe Vorgeschichte zurück, für die er letzten En-
des nicht verantwortlich sein kann. Das eine ändert nichts an dem
anderen. Das liegt in der Nicht-Rekursivität der Verantwortlich-
keit. Letzten Endes ist es das Ergebnis von Kontingenzen, dass er
so handeln wollte und für diese Handlung verantwortlich ist. Es
ist so gekommen, dass die Handlung durch ihn, durch sein Wollen
geschehen ist und er deshalb für sie verantwortlich ist – und dann
auch, dass er für sie bestraft wird.
Ein stoischer Philosoph, vermutlich Philopator, der im ersten
oder zweiten nachchristlichen Jahrhundert lehrte und ein (verlo-
renes) Buch Peri heimarmenēs, Über das Schicksal geschrieben hat,
hat diesen Gedanken in eine kurze Formulierung zu pressen ver-
sucht. Handlungen, die von uns abhängen, weil wir sie, so können
wir sagen, tun wollen, sind, schreibt er, »etwas, was durch uns unter
der Wirkung der Heimarmene, des Schicksals geschieht (τὸ δι͗ ἡμῶν
ὑπὸ τῆς εἱμαρμένης γινόμενον)«. Sie geschehen »durch uns unter der
Wirkung des Schicksals«. Es ist, so möchte man meinen, kein Zufall,
dass die überlieferte Formulierung nicht sagt: die Handlungen ge-
schehen »durch mich und unter der Wirkung des Schicksals«. Das
additive »und« steht gerade nicht da. Damit wird betont, dass es sich
um ein einziges Geschehen handelt und nicht etwa um zwei sich
irgendwie überlagernde und dann in eine Wirkung zusammenlau-
fende Prozesse. Die Handlungen geschehen durch uns, und das ist
die Wirkung des Schicksals. Durch die Verwendung von zwei ver-
schiedenen Präpositionen – διά und ὑπό – versucht Philopator das
zusammenzubringen, was hier zusammenzubringen ist: Das, was
durch uns geschieht, ist, ohne aufzuhören, durch uns zu geschehen,
in das universale kausale Geschehen eingelassen und durch dieses
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3.  Verantwortung, Verdienst, Strafe 189

Geschehen bedingt. Das eine schließt das andere nicht aus, und ge-
nauso wenig umgekehrt.11
Die Vorstellung, dass es so gekommen ist, dass man für eine
Handlung verantwortlich ist – und dann gegebenenfalls auch dafür
bestraft, unter Umständen sehr empfindlich bestraft wird, enthält
eine erhebliche Härte. Die Position, die man innerhalb des kausalen
Gefüges innehat, bestimmt letzten Endes über die Lebenschancen
und den konkreten Weg des Lebens. Niemand hat diese Position
selbst gewählt. Und da die Menschen unterschiedliche Positionen
einnehmen, eröffnen sich ihnen unterschiedliche Lebenswege, den
einen sehr viel günstigere und anderen sehr viel ungünstigere. Da-
mit sind, das sei noch einmal betont, nicht die Möglichkeiten der
Selbstentwicklung und Selbstveränderung geleugnet. Das Gesagte
schließt vielmehr ein, dass man sich zum Besseren hin entwickeln
kann, und dass es richtig und wichtig ist, sich dieser Anstrengung zu
unterziehen. Dennoch bestimmt letzten Endes, alle Komplexionen
mit eingeschlossen, die kausale Konfiguration. Das wird vielfach als
unerträgliche Ungerechtigkeit wahrgenommen. Doch dieses Urteil
ist haltlos und eine falsche Moralisierung am falschen Ort. Wir ha-
ben keine Gründe, anzunehmen, es gebe einen übernatürlichen Dis-
tributor, der den Menschen unterschiedliche Lebenswege zuteilt und
den man wegen Ungerechtigkeit anklagen könnte. Häufig wird auch
andersherum argumentiert: Eine Konzeption, wie sie hier entwickelt
wird, könne nicht wahr sein, weil sie der Gerechtigkeit Gottes wi-
derspreche. Denn dann wäre die Ordnung der Welt selbst unmora-
lisch, und das sei mit der Gerechtigkeit Gottes unvereinbar. Wenn
wir religiöse Vorstellungen dieser Art und aus ihnen abgeleitete Ar-
gumente beiseite lassen, können wir allein von einer Ungleichheit in
den Lebenschancen und den faktischen Lebenswegen sprechen, aber
nicht von einer Ungerechtigkeit. Eine Gesellschaft kann sich dazu

11 Die zitierte Formulierung findet sich im 13. Kapitel von Nemesios’ Über
die Natur des Menschen, in dem er ein kurzes Referat des stoischen Deter-
minismus liefert, um diese Position dann zu kritisieren. Die Passage ist ab-
gedruckt in Bobzien, Determinism and Freedom in Stoic Philosophy, 363–
365. Vgl. zur Interpretation und zum Kontext Bobzien, 360–394. – In der
zeitgenössischen Philosophie hat Paul Russell in einer Reihe von Aufsätzen
ähnliche Überlegungen angestellt. Vgl. seine Aufsatzsammlung The Limits
of Free Will (Oxford 2017) und hier vor allem die Aufsätze: Compatibilist-
Fatalism: Finitude, Pessimism and the Limits of Free Will (ursprgl. 2000) und
Free Will Pessimism (2017).
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190 §  6  Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen

verpflichten, wenigstens einen Teil der Ungleichheiten abzumildern


(obwohl sie sie durch ihre Strafen auch vergrößert), aber dann tut sie
genau das, und sie korrigiert nicht ein moralisches Unrecht.
Macht man sich die letztlich durchgängige Kontingenz des Le-
bens bewusst, mischt sich eine Portion Fatalismus in die Sicht der
menschlichen Existenz. Jeder hat sein Schicksal, und alles, was wir
sind, wollen und tun, auch unsere Überlegungen und Entscheidun-
gen, auch ob und in welchem Maße wir uns selbst und die Welt
verändern, ist eingewoben in dieses Geschehen. Dieser Fatalismus
nimmt nicht an, man brauche nichts zu tun, es sei alles, an uns vor-
bei, vorherbestimmt, so dass unsere Überlegungen und Handlungen
überflüssig und sinnlos sind. Selbstverständlich laufen die Dinge
besser, wenn wir besser überlegen und klüger handeln, und wenn
wir altruistische und idealistische Wünsche ausbilden und uns für
eine bessere Welt engagieren. Unendlich viel hängt von uns ab. Es
wäre grotesk, das zu leugnen. Und nichts von dem, was dargelegt
wurde, enthält diese Konsequenz. Nichts von dem gibt den Benach-
teiligten Grund zur Resignation und den Begünstigten Grund zu
glauben, die Verhältnisse, wie sie sind, seien nicht veränderbar. Der
Fatalismus, von dem ich spreche, bedeutet ein Bewusstsein der Kon-
tingenz, der Abhängigkeit von Geschehnissen, die man selbst nicht
in der Hand haben konnte, auch da, wo wir selbst, durch unser
Wollen, bestimmen, selbst entscheiden, selbst verantwortlich sind.
Was wir tun, geschieht, wie es Philopator formuliert hat, durch uns
unter der Wirkung des Schicksals. Und dies gilt, wie erläutert, nicht
nur, wenn die Welt deterministisch funktioniert, es gilt auch, wenn
sie indeterministisch verläuft.
Im Spiegel dieser Überlegungen tritt deutlich hervor, dass eine
der Quellen des Interesses an der letztlichen Verantwortlichkeit der
Wunsch ist, die Menschen wenigstens zu einem kleinen Teil aus den
Kontingenzen der Kausalität herauszuziehen und ihnen einen Raum
zu verschaffen, in dem etwas, wie Kane sagt, »underiviert«, also ab-
solut von ihnen abhängt. So dass es dann auch verdient ist, für das,
was man getan hat, gelobt, getadelt und gegebenenfalls bestraft zu
werden.
Wenn diese letztliche Verantwortung hingegen eine Illusion ist
und wir in dem, was wir wollen und tun, determiniert sind und des-
halb nicht anders können 2 als das zu tun, was wir tun, sind, so die
häufige Conclusio, Lob, Tadel und Strafe unverdient. Es ist dann
unfair, ungerecht, jemanden zu bestrafen. Ich hatte schon bemerkt,
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3.  Verantwortung, Verdienst, Strafe 191

dass ich diese Schlussfolgerung für falsch halte, und möchte das jetzt
begründen. – Wenn es richtig ist, dass es diese reine, nicht-derivierte
Autorschaft und eine letztliche Verantwortlichkeit nicht gibt, hat
man zwei Möglichkeiten. Entweder man bindet den Begriff des Ver-
dienstes tatsächlich an diese Voraussetzung, dann verdient niemand
ein Lob, einen Tadel oder eine Strafe, oder man versteht den Begriff
in einer Weise, die diese Voraussetzung nicht macht. Es spricht in
meinen Augen alles für diesen zweiten Weg. Und eine historische
Recherche würde wohl sehr klar belegen, dass der Begriff im Laufe
seiner Geschichte keineswegs an die Voraussetzung einer letztlichen
Verantwortlichkeit gebunden war.
Dass der Begriff, ganz ohne diese Implikation, eine sinnvolle
Funktion erfüllt, wird klar, wenn man sich seine Bedeutung we-
nigstens in groben Zügen vor Augen führt. Der Begriff des Ver-
dienstes ist eng mit dem der Gerechtigkeit verbunden. Er setzt eine
normative Ordnung, moralischer oder rechtlicher Art, voraus, die
bestimmt, dass die, die bestimmte Dinge tun, dafür zu vergüten sind
und dass die, die bestimmte andere Dinge tun, dafür, sagen wir in
Ermangelung eines anderen Wortes: negativ zu vergüten sind. Den
einen wie den anderen kommt etwas zu, und jedem das ihm Zukom-
mende zu geben, ist nach der alten Formel des Simonides gerecht.12
Es wird also eine normative Ordnung vorausgesetzt, die solche Kor-
respondenzen zwischen Handlungen und – positiven oder negati-
ven – Vergütungen festlegt. Nun kann es sein, dass jemand etwas
tut, für das eine Vergütung vorgesehen und geboten ist, diese aber
aus welchen Gründen auch immer unterbleibt. Man braucht dann
einen Begriff, um sagen zu können, dass der Betreffende zwar fak-
tisch keine Vergütung erhält, sie aber – ja, genau: verdient. Wenn
einem Arbeiter für seine Arbeitsleistung laut Vertrag eine bestimmte
Vergütung zusteht, verdient er sie, selbst wenn sie faktisch nicht
erfolgen sollte. Und ein Mörder verdient eine Strafe selbst dann,
wenn die Tat unentdeckt bleibt und er einer Bestrafung entkommt.
Jemand, der keinen Mord begangen hat, aber irrtümlich angeklagt,
verurteilt und bestraft wird, verdient die Strafe hingegen nicht. Sie
trifft den Falschen, sie passt nicht und ist unverdient und ungerecht.
Was man verdient, ist, so kann man sagen, der Maßstab dafür, ob

12 Vgl. Platon, Politeia I, 332 c 2: »… τοῦτ᾿ εἴη δίκαιον, τὸ προσῆκον ἑκάστῳ


ἀποδιδόναι …«
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192 §  6  Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen

eine faktische Vergütung oder ihr Ausbleiben passt oder nicht oder,
anders ausgedrückt, ob sie gerecht oder ungerecht ist.
Da der Begriff des Verdienstes eine bereits differenzierte norma-
tive Realität voraussetzt, kann es im Naturzustand kein Verdienst
geben. Wer im Naturzustand jemanden tötet, verdient nicht eine
Strafe. Er hat etwas getan, was auf Ablehnung stößt und Zorn und
den Wunsch nach Rache hervorruft. Aber dass der Täter eine Strafe
verdient, lässt sich nicht sagen. Dazu bedürfte es einer normativen
Ordnung, die es im Naturzustand per definitionem nicht gibt.
Wollte man demgegenüber behaupten, eine Tötungshandlung
verdiene einfach auf Grund dessen, was sie tut, auch unabhängig
von allen von Menschen geschaffenen Normen und Gesetzen eine
Strafe, würde man eine von den Menschen unabhängige, ihnen viel-
mehr vorgegebene, in diesem Sinne objektive normative Realität
voraus­setzen. Es wäre dann durch Gott oder eine normativ verfasste
Seinsordnung fixiert, dass es gerecht ist, jemanden, der so gehandelt
hat, zu bestrafen. Doch die Vorstellung einer solchen objektiven,
uns vorgegebenen Gerechtigkeitsordnung ist nur ein Stück Mytho-
logie. Ohne Zweifel gehören solche objektivistischen Vorstellun-
gen oft zum Kontext der Rede vom Verdienst. Wie oft haben die
Menschen gedacht – und denken noch, die eigene Krankheit oder
die eines anderen sei unverdient, oder das Wohlergehen eines ande-
ren sei unverdient, das eines Dritten hingegen verdient? Wie wich-
tig war und ist ihnen die Vorstellung eines Totengerichts, das der
Gerechtigkeit endgültig zum Sieg verhelfen werde? Schon im alten
Ägypten, lange vor dem Entstehen der monotheistischen Religionen,
bestimmte diese religiöse Vorstellung wesentlich das Bild, das man
sich vom menschlichen Leben und den Gesetzen der Welt mach-
te.13 Es scheint ein tiefes Bedürfnis der Menschen nach einer letztli-
chen Gerechtigkeit zu geben. Die unleugbaren Ungleichheiten und
Ungerechtigkeiten dieser Welt müssen, so das Empfinden, spätes-
tens in einer jenseitigen Welt ausgeglichen und kompensiert werden.
Sonst wäre die Welt selbst hoffnungslos korrupt und unmoralisch.
Doch tatsächlich ist die Vorstellung des Verdienstes nicht an einen
solchen normativen Objektivismus gebunden. Sie setzt nur eine in
bestimmter Weise ausgestaltete normative Realität, sei sie objektiv
oder subjektiv, voraus.

13 Vgl. hierzu J. Assmann: Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im


Alten Ägypten (München 22006), Kapitel V.
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3.  Verantwortung, Verdienst, Strafe 193

Denken wir uns, um das zu verdeutlichen, in aller Kürze fol-


gendes Szenario: Eine Gemeinschaft von Menschen gibt sich eine
Reihe von Normen, um ihr Zusammenleben zu gestalten. Jeder hat
eingesehen, dass ein Leben mit einem Ensemble von Normen und
Gesetzen besser ist als eines ohne das. Welche Normen sie sich ge-
ben, wird durch ihre Interessen bestimmt. Weil niemand verletzt
werden will, votieren sie für eine Norm, die Verletzungshandlungen
verbietet. Wenn alle Normen in dieser Weise von den Interessen aller
getragen werden, also alle im Blick auf ihre Interessenlage ihrer Eta-
blierung zustimmen können, sind sie legitim, sie sind gerechtfertigt.
Denn jeder will sie und, sie zur Geltung zu bringen, kann folglich
niemandem gegenüber ein Unrecht sein. Nun bringt man eine Norm
nicht in die Existenz, indem man sagt, sie solle gelten, sondern in-
dem man einen Sanktionsmechanismus schafft, in der Weise, dass,
wer anders als von der Gemeinschaft gewollt handelt, eine Sanktion
hinnehmen muss. Erst dadurch wird es zu einem »Muss«, sich wie
von allen gewollt zu verhalten.14 Lassen wir offen, von welcher Art
die Sanktionen sinnvollerweise sind oder sein sollten.
Natürlich muss in einem solchen System von Normen festgelegt
werden, was genau sanktioniert wird. In einer noch primitiven Ge-
sellschaft begnügt man sich vielleicht damit, jeden, der jemanden
verletzt (bleiben wir bei diesem Beispiel), zu bestrafen. Man operiert
einfach mit der Unterscheidung »getan – nicht getan«. In einer zi-
vilisierteren Gesellschaft wird man genauer differenzieren und die
Strafe daran binden, dass jemand, der eine Person verletzt hat, auch
wirklich der Urheber des Geschehens war und aus freien Stücken so
gehandelt hat und er nicht durch äußere oder innere Umstände dazu
genötigt wurde. Er muss die Möglichkeit gehabt haben, anders zu
handeln. Man bindet die Strafe, mit anderen Worten, daran, dass der
Betreffende für das, was er getan hat, verantwortlich ist.
Wenn es nun dazu kommt, dass jemand, der eine Person verletzt
hat und dafür verantwortlich ist, dennoch nicht bestraft wird, hat
er gleichwohl etwas getan, wofür in der normativen Ordnung sei-
ner Gesellschaft eine Strafe vorgesehen ist, und das heißt, dass er
die Strafe verdient. Gerechterweise würde er bestraft. Und genauso
umgekehrt: Wenn jemand niemanden verletzt, aber dennoch wegen

14 Vgl. hierzu ausführlicher Vf., Normativität. Eine ontologische Untersu-


chung (Berlin 2008), 175–192.
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194 §  6  Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen

einer Verletzung bestraft wird, verdient er diese Strafe nicht. Diese


Strafe passt nicht, sie ist ungerecht.
Diese Überlegungen bestätigen, dass der Begriff des Verdiens-
tes nicht an ein objektivistisches, präinstitutionelles Verständnis der
Moral gebunden ist. Er hat seinen Platz ebenso in einer Moral, die
als etwas von Menschen Geschaffenes verstanden wird. Sie zeigen
außerdem, dass der Begriff des Verdienstes nicht die Annahme der
absoluten Urheberschaft einschließt. Die Menschen, die eine nor-
mative Ordnung etablieren, um ihr Leben zu verbessern, werden
diese Annahme nicht zur Voraussetzung ihres Tuns machen, jeden-
falls müssen sie es nicht. Die Rede vom Verdienst hat dennoch eine
sinnvolle Funktion.
Trotz allem wird mancher insistieren: Das mag alles so sein, aber
es bleibt doch dabei: dass der eine für eine Handlung verantwortlich
ist, für die er bestraft wird, und der andere für eine solche Handlung
nicht verantwortlich ist, ist das Ergebnis von Kontingenzen, also
von Faktoren und Ursachen von Faktoren, über die weder der eine
noch der andere Macht hat. Wie kann es dann gerecht sein, den ers-
ten zu bestrafen? Es ist nicht gerecht. Er verdient keine Strafe. Er ist
genauso unschuldig wie der andere.
Vier Überlegungen stehen dem entgegen. Erstens. Wenn die Mo-
ral wie jedes andere System von Normen eine von Menschen hervor-
gebrachte Institution ist, ist alles Moralisch- und Unmoralischsein,
alles Gerecht- und Ungerechtsein relativ auf die positive Moral. Es
gibt dann keine vorpositiven, objektiven Normen, die festlegen, was
vorinstitutionell gerecht und ungerecht ist. Und es gibt dann keine
externe Position, von der aus man urteilen kann, dass eine Strafe für
eine Handlung ungerecht und unverdient sei.
Vielleicht wird man erwidern, die Aussage, dass die Bestrafung
des Übeltäters unverdient sei, stütze sich nicht auf eine vorpositive,
von außen herangetragene Moralnorm, sondern auf eine Norm, die
zumindest implizit in jeder positiven Moral enthalten ist, und zwar
auf den Gerechtigkeitsgrundsatz, Gleiches gleich zu behandeln und
Ungleiches ungleich. Dies ist gewiss Teil jeder positiven Moral. Aber
es besteht eben in der entscheidenden Hinsicht eine Ungleichheit:
Die eine Person ist für eine Handlung verantwortlich, die moralwid-
rig ist, und die andere ist es nicht. Das ist der Unterschied, auf den
es hier ankommt und um den es in der Moral geht.
Zweitens. Ich hatte gesagt, wenn es so gekommen ist, dass man
für ein Unrecht verantwortlich ist – und dann auch dafür bestraft
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Aug 14th 2021, 11:10

3.  Verantwortung, Verdienst, Strafe 195

wird, liegt darin eine Härte. Man muss die Strafe hinnehmen, ob-
wohl, dass man für ein Unrecht verantwortlich wurde, im letzten
auf Kontingenzen zurückgeht, die dem eigenen Einfluss entzogen
waren. Aber (i) eine Härte ist nicht eo ipso eine Ungerechtigkeit.
Außer­dem (ii) gehört die Ungleichheit des günstigeren oder ungüns-
tigeren Lebensloses unleugbar zum Leben, mit ihr muss jeder, der es
schlechter getroffen hat, zurechtkommen, und das gilt wohl in an-
derer Weise auch für die, die es besser getroffen haben. Auch ihnen
geht vieles ab, was sie gerne sein und können würden. Auch ihnen
sind die Prädeterminanten und die Grenzen der eigenen Person nur
allzu bewusst. Aber (iii) die Härte, von der jetzt die Rede ist, die
Ungleichheit im Bestraft- und Nicht-Bestraftwerden, ist, so könnte
man einwerfen, von Menschen gemacht, sie ist nicht unvermeidlich.
Das ist so. Aber sie ist dann unvermeidlich, wenn die Menschen
nicht im Naturzustand, sondern in einer normativ geordneten Welt
leben wollen. Den Naturzustand zu verlassen, Hobbes hat eindring-
lich geschildert, wie gefährlich und unerträglich er ist, ist eine unab-
weisbare Notwendigkeit. Normen zu schaffen und mit Normen zu
leben, bedeutet aber, dass bestimmte Verhaltensweisen sanktioniert
und bestraft werden. Der Preis für ein normativ geordnetes Zusam-
menleben ist nicht nur die Aufgabe eines Teils der eigenen Freiheit,
sondern auch die Vergrößerung der Ungleichheiten in den Lebens-
schicksalen. Wenn aber alle sich darin einig sind, den Naturzustand
zu verlassen, und das darf man unterstellen, dann ist es gerechtfer-
tigt, bestimmte Handlungen zu bestrafen. Jeder kann dem im Blick
auf seine Interessen zustimmen. Und dem, der will, so ein alter rö-
mischer Rechtsgrundsatz, geschieht kein Unrecht: Volenti non fit
iniuria. Hier geschieht nichts Unrechtes.
Drittens. Es ist, so meine ich, persuasiv, zu sagen, auf diese Weise
würden Unschuldige bestraft. Denn unter der Prämisse des Deter-
minismus seien alle unschuldig.15 Eines Unrechts schuldig ist der, der
gegen eine Norm verstößt. Er verdient die vorgesehene Strafe. Es
gibt kein Schuldig- und Unschuldigsein außerhalb einer von Men-
schen gemachten normativen Wirklichkeit. Es gibt kein Schuldigsein
aus der Perspektive des Universums. Und die Vorstellung, es könne
ein Schuldigsein geben, das die Determination durch die Kontingen-
zen transzendiert, ist nur eine Chimäre.

15 So zum Beispiel S. Smilansky: Parfit on Free Will, Desert, and the Fair-
ness of Punishment. The Journal of Ethics 20 (2016), 139–148, 144.
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196 §  6  Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen

Viertens. Es ist auch persuasiv, zu behaupten, auf dieser Basis je-


manden zu bestrafen, sei so, wie jemanden wegen seiner Hautfarbe,
seines Geschlechts oder der Form seines Gesichts zu bestrafen. Eine
solche Aussage lässt offenkundig wesentliche Unterschiede unbe-
rücksichtigt. Das ergibt sich schon daraus, dass keine vernünftige
moralische Ordnung eine solche Bestrafung vorsehen wird. Denn
sie hätte keinerlei Funktion. Ob jemand diese oder jene Hautfarbe
hat, ist für die Zwecke einer normativen Ordnung offensichtlich ir-
relevant. Hier ist nichts zu regeln. Eine Bestrafung dieser Art wäre
auch deshalb ohne jede Funktion, weil niemand seine Hautfarbe
oder die Form seines Gesichts verändern kann. Die Bestrafung
könnte gar nichts erreichen. Außerdem wäre sie auch nicht zu recht-
fertigen, weil sie nicht die Zustimmung der Betroffenen finden kann.
In Wahrheit muss die Konsequenz aus der doppelten Einsicht,
dass der, der ein Unrecht getan hat, dafür verantwortlich ist, dass
es aber letzten Endes ohne sein Zutun so gekommen ist, dass er da-
für verantwortlich wurde, etwas anderes sein. Nicht, dass seine Be-
strafung unfair oder ungerecht ist, also unterbleiben muss, sondern
dass sie von einer bestimmten Art sein muss. Sie muss so sein, dass
sie beiden Einsichten gerecht wird. Dazu muss sie auf die Zukunft
gerichtet sein und es darauf anlegen, einerseits auf den Übeltäter so
einzuwirken, dass er sich in Zukunft in vergleichbaren Situationen
anders verhält. Die schmerzhaften Erfahrungen, die die Bestrafung
mit sich bringt, sollen selbst zu determinierenden Faktoren seines
zukünftigen Verhaltens werden. Und andererseits soll die Strafe die
Existenz der Norm bekräftigen und die Mitglieder der Gemeinschaft
davon abhalten, sich normwidrig zu verhalten. Wenn ich sage, die
Erfahrungen des Bestraftwerdens sollen selbst zu determinierenden
Faktoren werden, darf man das nicht so verstehen, als ziele die Be-
strafung auf eine Wirkung am Kopf des Täters vorbei. Sie zielt, ganz
im Gegenteil, darauf, sein zukünftiges Überlegen und Entscheiden
zu beeinflussen. Deshalb ist es auch richtig, zu sagen, die Bestra-
fung gebe ihm Gründe, sich in Zukunft anders zu verhalten. Gene-
rell straft man nicht zurückblickend, weil der Täter anders handeln
konnte 2, sondern vorausblickend, weil er in Zukunft über Hand-
lungsspielräume verfügen wird.
Die Gesellschaft muss durch die Bestrafung die unabdingbaren
Regularien des Zusammenlebens verteidigen, das liegt, das darf man
nicht vergessen, im Interesse jedes einzelnen. Es geht aber nicht um
die Verdammung des Übeltäters und die Verurteilung seiner Person,
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3.  Verantwortung, Verdienst, Strafe 197

und nicht um die Zufügung von Leid, ganz unabhängig von den
Interessen des Zusammenlebens, nur zum Zwecke eines für nötig
befundenen höheren Ausgleichs. Die Praxis des Verdammens und
Verurteilens beruht erneut auf der Vorstellung eines absoluten An-
fangs und des »underived originator« und damit auf einer illusionä-
ren Vorstellung von Ichhaftigkeit: der Betreffende stand im Vorfeld
der Handlung an einem Verzweigungspunkt, an dem er ohne jede
kausale Determination so und anders handeln konnte, im Sinne des
Könnens tout court, und er hat sich (man weiß nicht, warum), wie
man dann oft formuliert, frei für das Böse entschieden. In Wirklich-
keit ist das, was geschehen ist, letzten Endes, trotz der Verantwort-
lichkeit des Täters und obwohl er eine Strafe verdient, ein Unglück,
das Ergebnis einer nur sehr partiell rekonstruierbaren unheilvol-
len Verschlingung zahlloser kausaler Fäden. Wenn man sich das be-
wusst macht, kann sich in die Haltung dem Übeltäter gegenüber ein
Bedauern mischen, ein Bedauern darüber, dass die Zufügung von
Leid, die unweigerlich mit der Bestrafung einhergeht, zum Schutz
der Gesellschaft und der basalen Freiheiten ihrer Mitglieder not-
wendig ist. Man muss das Gift der Verdammung aus der Strafpraxis
herausziehen.
Die Strafe muss, obwohl es sich um eine Zwangsmaßnahme han-
delt, zum Ziel haben, den Straftäter zum Guten hin zu kurieren. »We
cannot«, so schreibt Derek Parfit, »justifiably have ill will towards
these wrong-doers, wishing things go badly for them.«16 Wahr-
scheinlich ist es, denken wir an einen Mordfall, sogar für die Ange-
hörigen des Opfers tröstlicher, das Geschehen trotz der Verantwor-
tung des Täters letzten Endes als ein schlimmes Unglück zu sehen,
weil das, wie sie vermutlich im tiefsten Inneren ahnen, die Wahrheit
ist. Das immer neue emotionale Anrennen gegen den Täter und das,
was er getan hat, in Wut, Empörung und Rachewunsch läuft hinge-
gen irgendwann ins Leere und führt zudem in die Selbstzerstörung.

Ich kann die zurückliegenden Überlegungen jetzt kurz zusammen-


fassen. Wenn jemand die Handlung a getan hat, konnte er, einen
deterministischen Weltverlauf vorausgesetzt, nicht stattdessen b tun.
Das kausale Kräftefeld ließ das, bezieht man alle relevanten kausa-
len Faktoren mit ein, nicht zu. Das ist ein Faktum, das sich nicht
leugnen lässt. Der Hinweis auf das Anders-Können 1, darauf also,

16 D. Parfit: On What Matters, vol. 1 (Oxford 2011) 272.


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198 §  6  Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen

dass die Person sehr wohl die Macht hatte, b zu tun, ändert daran
nichts. Daraus folgt aber, anders als oft angenommen wird, aus den
angeführten Gründen nicht, dass die Person für das, was sie getan
hat, nicht verantwortlich sein kann. Und es folgt auch nicht, dass sie,
falls ihre Handlung mit einer sozialen Norm kollidiert, es nicht ver-
dient, dafür getadelt oder bestraft zu werden. Eine solche Strafe ist
keineswegs unfair oder ungerecht. Sie ist gerechtfertigt, weil sie von
dem Interesse aller Mitglieder der Gemeinschaft, den Naturzustand
durch ein normativ geordnetes Zusammenleben zu ersetzen, getra-
gen wird. Dabei schließt das »alle« den, den die Strafe trifft, mit ein.
Es sei wenigstens noch notiert, dass das, was über die Strafe aus-
geführt wurde, in modifizierter Weise für ein sehr viel breiteres Phä-
nomenfeld gilt. Es gilt analog auch für Lob, Anerkennung und Be-
lohnung. Auch hier wäre die Vorstellung des »underived originator«
unbegründet. Die Praxis des Lobens zielt wie die des Tadelns auf die
Zukunft und ist darauf angelegt, den Handelnden und andere zu er-
muntern, wieder oder selbst so zu handeln. Es gilt, so nehme ich an,
auch für die »reactive attitudes«, also das Spektrum der positiven
und negativen Emotionen, mit denen wir darauf reagieren, wie an-
dere sich uns gegenüber verhalten, und auch darauf, wie wir selbst
uns anderen gegenüber verhalten. Dieses außerordentlich komplexe
Phänomenfeld im einzelnen daraufhin zu untersuchen, inwieweit die
verschiedenen emotionalen Reaktionen von der Vorstellung absolu-
ter Originarität unabhängig und mit den Grundlagen der hier ent-
wickelten Konzeption kompatibel sind, ginge allerdings weit über
das hinaus, was im Rahmen dieses Kapitels möglich ist. Deshalb nur
eine knappe paradigmatische Bemerkung zur Empörung, mit der wir
scharf auf ein moralisches Unrecht reagieren.
Die Empörung ist eine besondere Form des Zorns. Wenn man
zornig ist, regt man sich, noch unabhängig von jeder moralischen
Bewertung, über einen Angriff auf die eigene Person, etwa über die
Zufügung eines körperlichen Schmerzes auf. Das ist etwas, was man
partout nicht will und worauf man deshalb aggressiv reagiert. Mit
dieser Reaktion gibt man zu verstehen, dass man das nicht hinnimmt
und gewillt ist, nötigenfalls zurückzuschlagen. Die Empörung, die
spezifisch moralische Form des Zorns, fügt dem hinzu, dass man
sich zusätzlich über die Verletzung einer der Regeln des Zusam-
menlebens aufregt. Dies nicht nur, wenn man selbst das Opfer ist,
sondern auch wenn ein anderer der Leidtragende ist. Der Übeltäter
hat nicht nur jemandem Schmerzen zugefügt, es ist noch etwas an-
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3.  Verantwortung, Verdienst, Strafe 199

deres passiert: er hat gegen eine der Regeln des gemeinsamen Lebens
verstoßen. Diese sind einem sehr wichtig, und deshalb regt man sich
auf, man empört sich und zeigt dem, der so gehandelt hat, seinen
Unwillen. Was er getan hat, wird von mir und den anderen nicht
akzeptiert. Es ist ein Unrecht, etwas, was eine für den Täter unan-
genehme Reaktion verdient.
All dies ist mit der Einsicht in das »außerhalb von uns« verein-
bar. Ganz unabhängig davon verdient die betreffende Person eine
negative Reaktion. Unverdient wäre sie allein dann, wenn sie für
das, was sie getan hat, nicht verantwortlich war. Es kann deshalb
bei der Empörung bleiben. Vorausgesetzt ist nicht die absolute Ur-
heberschaft des Täters, sondern seine Verantwortlichkeit und seine
Beeinflussbarkeit durch die emotionale Reaktion. Die Empörung
kann also durchaus von der Überzeugung begleitet werden, dass es
so gekommen ist, dass er dafür verantwortlich geworden ist. Es ist
keineswegs nötig, die Empörung mit der Verdammung des Täters,
der Herabsetzung seiner Person und mit einem Übelwollen aufzula-
den. Wenn sie davon frei ist, bedarf es keiner Veränderung, wenn sie
Elemente dieser Art enthält, muss sie davon befreit werden.
Falls die Empörung mit Elementen befrachtet ist, die die Person
verurteilen und herabsetzen, könnte man die Veränderung, die nö-
tig ist, so beschreiben, dass man sagt, der Zielpunkt der Empörung
müsse mehr die Handlung und weniger die Person sein. Das ist in-
des problematisch. Denn die Empörung zielt darauf, auf die Person
einzuwirken und sie zu einer Verhaltensänderung zu bewegen. Den-
noch trifft die Beschreibung, scheint mir, etwas Wesentliches. Paul
Ricœur soll gesagt haben, Humanität zeige sich darin, die Taten e­ ines
Menschen missbilligen zu können, ohne den Menschen selbst zu
missbilligen. Man missbilligt die Tat, und nur deshalb wendet man
sich gegen ihren Urheber. Nicht um den Menschen zu verdammen
und herabzusetzen, sondern damit er sich anders verhält. Man fügt
ein neues Element in das kausale Kräftefeld ein, in dem er handelt
und auch in Zukunft handeln wird. Einer solchen Haltung dem an-
deren gegenüber fehlt es nicht an »participation … in inter-personal
human relationships«, so eine Formulierung von Peter F. Strawson.17
Wir nehmen auf vielfache Weise, durch Argumente, Hinweise, Bit-
ten, und eben auch durch das Zeigen unseres Unwillens und unserer

17 P. F. Strawson: Freedom and Resentment (1962), in: P. F. S.: Freedom and


Resentment (London 1974), 1–25, 9.
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200 §  6  Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen

Ablehnung auf das zukünftige Verhalten anderer Einfluss oder ver-


suchen es. Darin liegt nichts De-Personalisierendes. Im Gegenteil,
man wendet sich gerade nicht gegen die Person, verurteilt sie nicht,
sondern achtet sie in ihrem So-Gewordensein und ihren Begrenzt-
heiten und wird ihr auf diese Weise gerecht.

4.  Noch einmal: Was bedeutet das alles?

Was bedeutet, so war die Ausgangsfrage dieses Kapitels, die Einsicht


in das »außerhalb von uns« für das Verständnis des menschlichen
Lebens und für das Leben selbst? Es bedeutet, wie gesagt, dass eine
Portion Fatalismus sich in die Sicht des Lebens mischt. Wir Men-
schen sind in allem, was uns ausmacht, in allem, was wir wollen
und tun, letzten Endes das Ergebnis unzähliger, zum großen Teil
uns niemals bewusst werdender Kontingenzen. Es gibt keinen Teil
in unserem Leben, und sei er noch so klein, in dem wir die Kau-
salität transzendieren und zur causa prima unserer Entscheidun-
gen und Handlungen mutieren. Diese Überzeugung hat erhebliche
Auswirkungen darauf, wie wir andere und uns selbst sehen und wie
wir mit anderen und uns selbst umgehen. Die vorausgegangenen
Überlegungen zu einer angemessenen Strafpraxis und zur Emotion
der Empörung haben das zumindest paradigmatisch beleuchtet. Wie
weit und wie tief diese Auswirkungen gehen, ist nur sehr schwer
auszuloten. Die euro­päische Kultur (und nicht allein sie) ist, ich
habe es schon erwähnt, zutiefst von dem Gedanken eines definitiven
Gerichts und einer umfassenden kosmischen Gerechtigkeit geprägt.
Die Ideen der Schuld und Sünde waren – und sind – für diese Gedan-
kenwelt konstitutiv. Über viele Jahrhunderte wurde die Diskussion
der Willensfreiheit durch die Notwendigkeit motiviert und aufge-
laden, die Möglichkeit der Sünde zu verteidigen. Es musste diesen
Verzweigungspunkt geben, an dem die Person unverursacht in die
eine oder in die andere Richtung gehen kann, so dass sie im Guten
wie im Schlechten der absolute Urheber ihres Tuns ist und deshalb
im Falle des Schlechten dafür als Person verurteilt werden kann.
Einer der »Beweise«, die Bischof Bramhall für die Willensfreiheit
anführt, »drawn from reason«18, ist von verblüffender Einfachheit:

18 Bramhall  /  Hobbes, The Questions Concerning Liberty, Necessity, and


Chance, V, 147.
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4.  Noch einmal: Was bedeutet das alles? 201

»… take away liberty, and you take away the very nature of evil, and
the formal reason of sin … If there be no liberty to produce sin, there
is no such thing as sin in the world.«19 Dieser Beweis wird durch ein
weiteres Argument »out of scripture«20 flankiert: »… if there be no
liberty, there shall be no day of doom, no last judgment, no rewards
nor punishments after death. A man can never make himself a crim­
inal, if he be not left at liberty to commit a crime … To take away
liberty hazards heaven, but undoubtedly it leaves no hell.«21
Offensichtlich sind solche Äußerungen und die gesamte Tradi-
tion, in der sie stehen, abhängig von elaborierten religiösen Über-
zeugungen. Wenn man Gott, wie er ist und wie er zu den Menschen
steht, was er von ihnen will und fordert, das Regime diesseitiger und
jenseitiger Strafen, das große Gericht, das schließlich alles definitiv
zurechtbiegen wird, wenn man all das hingegen für Erfindungen
der Menschen hält und deshalb anthropologisch zu lesen versucht,
fragt man sich, von welchen unterschwelligen Wünschen geleitet
die Menschen diese Vorstellungen erfunden, immer weiter ausge-
formt und über Generationen weitergetragen haben. Gewiss sind
alle Erklärungsversuche aus einem Punkt zum Scheitern verurteilt.
Eine Quelle ist aber offenbar das schon erwähnte tiefe Bedürfnis der
Menschen nach einer umfassenden und letztlichen Gerechtigkeit. Es
soll in ihrem Leben und in der Welt insgesamt gerecht zugehen. Wa-
rum sie dieses Interesse haben und es ihnen so schwer fällt, sich mit
den Kontingenzen und Ungleichheiten des Lebens zu arrangieren,
ist dann eine weitere Frage. Diese Überlegungen führen einerseits
in die Anatomie der menschlichen Psyche und andererseits in die
Psychologie der europäischen Denkgeschichte, die zum Teil und ge-
rade in dem, was die Menschen über sich selbst gedacht haben und
denken, eine Psychologie des Irrtums sein muss. Angesichts dieser
Hintergründe wäre es kurzsichtig, zu glauben, man könne mit we-
nigen Schritten ermessen, wie weit und wie tief die Auswirkungen
der Einsicht in das »außerhalb von uns« reichen. Das ist eine sehr
viel größere Aufgabe, zu groß jedenfalls, als dass ich sie über das hi-
naus, was in diesem Kapitel dargelegt wurde, hier angehen könnte.
Ich möchte zum Abschluss vielmehr drei elementare Punkte fest-
halten, zum Teil wiederholend, die den Fatalismus, von dem ich ge-

19 Ebd. V, 228.
20 Ebd. V, 66.
21 Ebd. V, 114.
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202 §  6  Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen

sprochen habe, stärker profilieren. (i) Zunächst ist vor allem an die
zentrale Stellung des Wollens und seine besondere Ichhaftigkeit zu
erinnern. Wenn ich etwas tue, weil ich es tun will, und wenn die-
ses Wollen unangefochten ist, dann will ich so handeln. Es ist mir
wichtig, es ist mein Anliegen. Und es freut mich, wenn es gelingt,
das Gewollte zu realisieren. Daran ändert sich, das wurde in Kapitel
4 im einzelnen entwickelt und begründet, durch eine Reflexion auf
die kausale Vorgeschichte des Wollens nichts. Wenn ich etwas tun
will und an diesem Wollen nichts stört, dann stehe ich mit ganzem
Herzen hinter dem, was ich tue. Es gibt dann keine Distanz dem
Wollen gegenüber. Die Genese des Wollens, sei sie deterministisch,
sei sie indeterministisch, ist dafür ohne Belang. Es gibt keinen Platz
für den Gedanken: das bin nicht ich, der das will, es ist ein kausales
Geschehen, das von außen kommt und bestimmt. Für diesen Ge-
danken gibt es keinen Platz, weil es dieses vom Wollen dissoziierte
Ich nicht gibt. Und weil es dieses dem kausalen Gang gegenüber-
stehende Ich nicht gibt. Das Ich ist durch das Wollen definiert, und
das Ich und das Wollen sind selbst Elemente innerhalb des kausalen
Netzwerkes und nicht etwas daneben. Man muss aus den Gegen-
überstellungen Wollen versus Ich, Kausalgeschehen versus Ich oder
Schicksal versus Ich heraus, sie sind alle falsch, weil es, wie gesagt,
dieses dissoziierte, dem anderen gegenüber einen eigenen Stand be-
sitzende Ich nicht gibt.
Man kann darunter leiden, nicht intelligenter zu sein, als man
ist. Das setzt ein Wollen voraus. Man wünschte sich, intelligenter
zu sein, und dass man es nicht ist, stört einen. Die Ethiker können
dann dazu raten, sich mit der Kontingenz abzufinden, sie zu ak-
zeptieren, seinen Frieden damit zu machen. Genauso wenn uns ein
eigenes Wollen stört. Wenn es nicht gelingt, es los zu werden, kann
man sich damit abfinden oder dagegen anrennen. Ein Wollen aber,
das nicht von einem anderen eigenen Wollen aus angefochten wird,
kann einen nicht stören. Hier gibt es nichts, womit man sich abfin-
den und seinen Frieden machen müsste. Etwaige Ratschläge in diese
Richtung laufen ins Leere. Man ist mit dem Wollen voll und ganz im
Reinen. Auch dass es letzten Endes das Ergebnis von Ursachen ist,
die außerhalb von uns liegen, und nicht das Ergebnis eigener Macht,
kann einen nicht stören.
(ii) Wenn die Welt deterministisch funktioniert, liegt bereits
fest, was ich in Zukunft tun werde. Und wenn sie – in bestimmter
Weise – indeterministisch verläuft, liegt die Zukunft, auch meine Zu-
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4.  Noch einmal: Was bedeutet das alles? 203

kunft zwar nicht vollständig fest, aber soweit sie von dem abhängt,
was in den indeterministischen Momenten geschieht, bestimme
nicht ich, wie sie sein wird. In jedem Fall werden unsere zukünf-
tigen Handlungen und unser zukünftiges Leben letzten Endes das
Ergebnis von – deterministischen oder probabilistischen – Ursache-
Wirkungszusammenhängen sein, die, wie komplex auch immer ihr
Weg in unserem Inneren ist, eine Vorgeschichte haben, die außerhalb
von uns liegt. Dennoch haben wir, wenn wir in die Zukunft blicken,
innerhalb der durch die Umstände bedingten Grenzen alle Möglich-
keiten, die Dinge so zu gestalten, wie es unserem Wollen am besten
entspricht. Die kausale Vorgeschichte des Wollens nimmt uns, wie
gezeigt, keine Option, an der uns gelegen ist. Und die Optionen,
über die wir verfügen, sind nicht nur epistemisch offen, sie sind, wie
wir sahen, auch ontologisch offen.22 Es steht uns frei, ob wir in den
konkreten Situationen so oder so handeln, es liegt bei uns, was ge-
schehen wird. Wir bestimmen, durch unser Wollen. Daran, ob wir
uns engagieren, ob wir uns anstrengen, ob wir gute Entscheidun-
gen treffen und die richtigen Schlüsse ziehen, hängt sehr viel für die
eigene Zukunft und die anderer. All das sind keine Illusionen oder
verschleiernde Beschreibungen, sondern Fakten.
Fatalistische Gedanken kommen in dieser auf die Zukunft gerich-
teten Perspektive, wie es scheint, gar nicht auf. Es gibt dafür keine
Ansatzpunkte. Erst wenn wir uns umwenden und hinter das eigene
Wollen und hinter das eigene Ich zurückfragen und deren Genese
ins Auge fassen, stellt sich die Einsicht ein, dass es letzten Endes so
gekommen ist. Für die Zukunft gilt: auch wenn sie festliegt, hängt
in den Grenzen, die die Umstände mit sich bringen, alles von mir
ab. Meine Autonomie und Selbstbestimmung wird überhaupt nicht
berührt. Das muss man verstehen, wenn man sich ein zutreffendes
Bild von dem machen will, was hier »Fatalismus« genannt wird.
(iii) Manche werden denken, wenn wir und unser Leben nur
ein kleines, aus der Sicht des Universums verschwindend kleines
Teilchen in einem universalen kausalen Geschehen sind und unser
Tun und Wollen letzten Endes von Ursachen abhängen, die außer-
halb von uns liegen, sei unser Leben sinnlos. Welche Bedeutung
sollte es dann haben? Aber es ist nun einmal eine Tatsache, dass wir
da sind. Es ist so gekommen, dass es uns gibt, als Gattung und als
Individuen. Und wenn wir schon da sind, wollen wir so leben, wie

22 Vgl. oben § 5, S.  143.


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204 §  6  Was bedeutet das alles? Ethische Reflexionen

es unseren Interessen entspricht. Wir sind Wesen, die auf vielfäl-


tige Art leiden können, und das wollen wir nicht. Wir wollen das
Angenehme, nicht das Unangenehme. Und wir wollen weiterleben,
wir sind, weil wir mit anderen zusammenleben, hungrig nach An-
erkennung durch andere, und wir sind zutiefst an dem Glück un-
serer Kinder interessiert. Diese basalen, genetisch bedingten Wün-
sche fächern sich auf verschiedenen Wegen zu einer komplexeren
volitiven Struktur aus. Es bilden sich weitere, nun keineswegs mehr
genetisch bedingte Wünsche aus, die dominant und lebensbestim-
mend sein können. So entstehen aus den Erfahrungen des Leidens,
der Erniedrigung und Unterdrückung, der Gewalt, des Krieges kon-
trastiv die vornehmsten Ideale der Menschheit, Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit, Gewaltlosigkeit, die universelle Geltung vorstaat-
licher Menschenrechte. Alles, was wir tun, um diese und andere
uns wichtige Ziele zu erreichen, ist sinnvoll. Es hat Signifikanz und
Grund im Blick auf unser und anderer Wollen. Wenn wir schon da
sind, wollen wir so leben, dass es uns gut geht und wir uns für das
engagieren, woran uns liegt. Alles, was wir dafür tun, ist sinnvoll
und hat Bedeutung. Wenn es so ist, dass wir nicht leiden wollen, ist
es sinnvoll, sich dafür einzusetzen, dass wir selbst und andere nicht
leiden. Und wenn wir Kinder haben und an ihrem Wohl interes-
siert sind, ist es sinnvoll, sich dafür zu engagieren, dass es ihnen gut
geht. Die fatalistische Wahrheit, dass es so gekommen ist, dass es uns
gibt, dass es so gekommen ist, dass unser Wollen eine bestimmte ba-
sale Struktur hat, und dass es so gekommen ist, dass sich bestimmte
lebens­bestimmende Wünsche entwickelt haben, ändert daran nichts.

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Kant, I.: Vorlesungen über Anthropologie, Menschenkunde (ver-
mutlich 1781/82) (Nachschrift), Akademie-Ausgabe, Bd. XXV/2.
Kant, I.: Vorlesungen über Anthropologie, Mrongovius (1784/85)
(Nachschrift), Akademie-Ausgabe, Bd. XXV/2.
Keil, G.: Willensfreiheit und Determinismus, 2. Aufl. (Stuttgart
2018).
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208 Literatur

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Platon: Phaidon.
Platon: Phaidros.
Platon: Politeia.
Platon: Politikos.
Platon: Definitiones  /  Horoi (pseudo-platonisch).
Pothast, U.: Einfluss auf eigenes Wollen, in: M. Großheim (Hg.):
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Literatur 209

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Seebaß, G.: Die Signifikanz der Willensfreiheit, in: G. S.: Handlung
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Shoemaker, D. W.: Caring, Identification, and Agency. Ethics 114
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Singer, W.: Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten aufhören, von
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Stemmer, P.: Normativität. Eine ontologische Untersuchung (Ber-
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Stemmer, P.: Der Vorrang des Wollens. Eine Studie zur Anthropo-
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Tugendhat, E.: Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung (Frank-
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Vetter, B.: Aktive Vermögen und Handlungskausalität. Zeitschrift
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Wegner, D. M.: Self Is Magic, in: J. Baer et al. (eds.): Are We Free?
Psychology and Free Will (Oxford 2008) 226–247.
Wolf, U.: Möglichkeit und Notwendigkeit bei Aristoteles und heute
(München 1979); 2. Aufl. u. d. T.: Vermögen und Möglichkeit
(Berlin 2020).
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Sachregister

Akteurskausalität 59 dazwischenkommen  131, 136,


aktiv, Aktivität  22 f., 27–33, 139, 147, 162, 179 f.
35 ff., 46–49, 51 ff., 55 f., Determinismus  13–21, 23 f.,
60 ff., 68, 73, 94 ff., 101 ff., 49 f., 61, 100, 105, 108–119,
107 f., 141, 167, 169, 178 123 f., 126–129, 137 f., 140 f.,
Aktivitätsbewusstsein  44, 55– 143–146, 148–151, 153,
63, 126, 143 155 f., 159, 166, 168, 170–
Analyse, konditionale  133 f., 175, 177–181, 183–186, 190,
144 f. 195, 197, 202
Anders-Können  42 ff., 49, 56, durch mich  14 ff., 18 ff., 40, 44,
60 f., 63, 125–129, 136–139, 46, 58, 94, 99 f., 103–108,
143 f., 148, 151, 157–160, 111, 117 f., 122, 124 f., 129,
162 f., 165 f., 196 f. 133, 159, 164, 166 ff., 171,
Anfang, absoluter  15, 22 f., 27, 173, 182, 185, 188
29, 49, 52, 106 f., 114, 169,
179, 185 ff., 197 f. einem freistehen  45, 56, 60,
Ausagieren 175–179 133, 160, 167, 169, 172 f., 203
außerhalb von uns  99 f., 104 f., Einheit im Wollen, volitionale
108, 117 f., 124, 167–182, Einheit  93 f., 122 ff.
188, 199–203 Empörung  198 ff.
äußerlich, mir äußerlich  37 f., entscheiden, Entscheidung  15,
46, 56, 65 f., 70, 72–78, 81, 23 f., 63, 106, 151–157, 168
85, 87–94 exeinai, exousia  45, 133
Autonomie, Selbstbestimmung
114, 120 f., 171–174, 203 Fähigkeit  43, 131 f., 136, 139,
autopragia, exousia auto­ 145 ff., 162, 179 ff.
pragias  21, 45 Fatalismus  190, 200–204
frei, Freiheit  45, 56, 60–63, 91,
bei uns liegen (eph’ hēmin) 93, 125 f., 133, 137, 142, 144,
43 f., 46 f., 51, 60, 133, 141– 147, 151, 155, 158, 160, 165,
144, 165, 179, 184, 203 172, 176, 184, 195, 200
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212 Sachregister

Freiheitsbewusstsein  56, 60 f., – definitorische Ichhaftigkeit


63, 126, 143, 184 71, 74
– reflexive Ichhaftigkeit  69,
Gelegenheit  43, 131, 136, 139, 72, 74
147, 162, 179 f. Indeterminismus  17–21, 23 f.,
gerecht, Gerechtigkeit, unge- 100, 105, 113, 128 f., 151,
recht, Ungerechtigkeit  183, 186 f., 190, 202 f.
189–196, 198, 200 f. Individualität  100, 170 f.
Intentionalität 39
Handlungen, gewollte  36–49,
53 f., 56–60, 63, 65, 70–75, Konditionale  134 f., 140, 144–
90 f., 94, 97, 99, 101–105, 147
122 f., 125 f., 129, 137, 158– können, Können  130 ff., 134,
166, 168, 171, 178, 181, 188, 136, 138 ff., 143–147, 157,
202 180
heimarmenē  173, 188 – Können der Macht, Können
Heteronomie, Fremdbestim- 1  133, 138–148, 157, 166,
mung  66, 95, 104, 116, 174 f. 180, 183, 197 f.
hinter einer Handlung stehen – Können tout court, Können
37 f., 40, 42, 46, 53, 56, 70, 2  139–145, 148, 155 ff., 166,
88, 90 f., 94, 104, 158, 178, 183, 190, 196 f.
202 Kontrolle  39 f., 50–53, 56, 74

Ich  15 f., 22 f., 53 f., 58 f., 65–78, Macht  45 f., 132–142, 145 ff.,
88–97, 168, 170 f., 202 f. 158 f., 162 f., 194
– Ich im weiteren Sinne, Ich Manipulation, im Wollen mani-
im Sinne der Person  37, 58, puliert sein  115–124
70 ff., 90, 100 f., 180 f. Marionette  116, 174 ff.
– engeres Ich  37 f., 58, 70 ff.,
74, 88 f., 180 f. negativ, für mich negativ  38 f.,
– nochmals engeres Ich  89–93 58, 69, 72, 74
Ichbewusstsein  55, 57, 72, 184
Ichhaftigkeit offen, epistemisch, ontologisch
– der Handlung  22, 25, 36, 130, 143, 203
39 f., 42 ff., 74 f., 99, 101–108, Optionen  23 f., 56, 63, 125–129,
111, 114 f., 117 f., 122 ff., 131, 133 ff., 137 f., 140 f., 145 f.,
126 f., 158 f., 168, 197 148, 150–154, 157–160, 162,
– des Wollens  58, 69, 71 f., 75, 165 ff., 172 f., 179 f., 184, 203
91, 93, 97, 111, 114, 118, 168, originär, Originarität  105 f.,
202 169
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Sachregister 213

passiv, Passivität  27 ff., 31 ff., Ursache, unverursachte  22 f.,


48, 51 f., 73, 95 f. 27, 29, 49, 52, 61 f., 106 f.,
Personalisierung  173 f., 176 121, 155
positiv, für mich positiv  38 f.,
58, 69, 72, 74 verantwortlich, Verantwortlich-
keit, Verantwortung  108,
Rekursivität  104, 124 114, 125, 143, 164 ff., 183–
– des »durch mich«  104, 185 191, 193–199
– der Kontrolle  50 f. verdienen, Verdienst  183, 190–
– der Urheberschaft  102 194, 198 f.
– der Verantwortlichkeit  185– Vernunft-Ich  75 ff.
188, 190 f. Verzweigungspunkte 15,
126 ff., 137, 197, 200
Seele  12 f., 22, 52, 168
Sklave, Versklavung  66, 116, wollen, Wollen  24 f., 33–51,
174 f. 53–60, 63, 65–79, 88–97, 99,
Spielraum, Spielräume  42 ff., 101–106, 108–124, 133 f.,
49 ff., 53, 56, 87, 101, 125, 137, 139–148, 152, 158, 160,
127 ff., 150, 158 ff., 162, 162–166, 168, 171 ff., 175,
166 f., 172 f., 187, 196 179–182, 186, 190, 202 f.
stören  65, 74, 78–84, 88, 90, 93, – Abwertung des Wollens  65,
111 ff., 119, 121 ff., 202 78
Strafe  183 f., 189–198, 200 f. – Enteignung, Externalisie-
rung des Wollens  67 f., 75,
überlegen, Überlegung  101 ff., 78, 93, 96
105, 109 f., 126–149, 151 ff., – formales Wollen  83, 92, 122
159 ff., 166, 168, 179 f. – höherstufiges Wollen  77 f.,
Umstände  43, 45, 63, 131 ff., 80 ff., 85, 87, 96
136, 139–142, 144 f., 147 f., – maßgebliches Wollen  80, 88,
162–165, 172 f., 179–182, 92 f., 112 ff., 119, 121 f.
203 – rebellisches Wollen  82–88,
Umstände vs. Wollen  141 f., 90–93, 111
147 f., 179–183 – störendes Wollen  78 ff.,
Unterlassbarkeit  125, 129, 82–85, 88, 90, 93, 111 f., 119,
137 f., 158 ff., 162, 166 122, 173, 202
Urheber, Urheberschaft  102 f., – unangefochtenes Wollen
106 f., 116 f., 141, 167 f., 89 f., 92 ff., 111, 114, 118,
183 f. 122, 173, 202
– absolute Urheberschaft  15, – über dem Strich  83 f.
108, 113 f., 194, 199 f. – unter dem Strich  41, 81, 83 f.
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214 Sachregister

wollen, wünschen  41 Wollenskonflikt  80 ff., 93


Wollen vs. Umstände s. Um- wünschen, Wünsche s. wollen,
stände vs. Wollen Wollen

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Personenregister
Aristoteles  29, 43–47, 49, 125, Honderich, T.  170
133, 141 Horgan, T.  57, 59 f.
Assmann, J.  192 Hume, D.  12, 20, 25, 59, 68,
Augustinus  84, 86, 108 107, 155, 167, 185
Austin, J. L.  134 ff.
Inwagen, P. van  51
Bermúdez, J. L.  57
Bobzien, S.  43, 174 f., 189 Johannes Damascenus  31
Bonner, G.  86
Bramhall, J.  126 f., 158, 166, Kane, R.  27, 72, 114, 116–120,
200 f. 169 f., 185, 190
Kant, I.  13, 66 f., 75, 77, 85, 90,
Caruso, G. D.  60 f. 95 f., 104, 161, 176
Chisholm, R.  67 f. Keil, G.  127, 144
Chrysipp  45, 173 Kenny, A.  132, 142, 158, 163,
Cicero 108 165
Korsgaard, Chr. M.  67
Darwin, Ch.  12, 20, 25, 59, Kusser, A.  80
107, 167, 185
Davidson, D.  47 Locke, J.  163
Descartes, R.  13, 22 Loening, R.  44

Einstein, A.  17 Mackie, J. L.  11


Mlodinow, L.  17
Frankfurt, H.  27, 31, 40, 49, Moore, G. E.  132
67, 77, 80, 85, 91, 95 f., 122 f.,
151 f., 157, 163 ff., 186 Nelkin, N.  57
Frede, M.  45 Nida-Rümelin, M.  59
Nietzsche, F.  167
Hawking, St.  17
Hobbes, Th.  12, 20, 25, 56, 59, 68, Parfit, D.  197
107, 126, 161, 167, 185, 195 Pereboom, D.  116–119
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216 Personenregister

Philopator  167, 188, 190 Singer, W.  155


Piaget, J.  57 Smilansky, S.  175, 195
Platon  13, 29, 45, 66 f., 75, 133, Strawson, G.  106
191 Strawson, P. F.  199
Pothast, U.  91, 109
Thomas von Aquino  31
Ricœur, P.  199 Tugendhat, E.  148
Rosenthal, J.  139, 144, 157
Russell, P.  189 Velleman, J. D.  16
Vetter, B.  32
Schopenhauer, A.  65
Seebaß, G.  127, 153 Wegner, D. M.  62
Shoemaker, D. W.  152 Wolf, U.  158
Simonides 191

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