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Gesellschaft

Beiträge zur Marxschen Theorie 4


Herausgegeben von H .-G . Backhaus, H.-D. Bahr,
G. Brandt, F. Eberle, W. Euchner, Chr. Helberger,
E. Hennig, J. Hirsch, E. Th. Mohl, W. Müller, O. Negt,
H. Reichelt, G. Schäfer und A. Schmidt

Diese Schriftenreihe hat sich zur Aufgabe gestellt, die Marxsche


Theorie an empirischen Problemen zu reorientieren. Die in den letz­
ten Jahren publizierten Studien über die kategoriale Struktur des
Marxschen Spätwerks waren aus sich heraus nicht in der Lage, diese
Reorientierung herbeizuführen; andererseits zeigte sich, daß zahlrei­
che materiale Analysen zu dieser Thematik hinter ihrem eigenen
methodischen Anspruch zurückblieben. Die Bände der Schriftenreihe
verstehen sich deshalb als ein Forum von Arbeiten, die der Vermitt­
lung von Empirie und Theorie verpflichtet sind.
Suhrkamp Verlag
Redaktion der Gesellschaft: H,-G. Backhaus, F. Eberle, E. Hennig, J. Hirsch,
H. Reichelt. Inhalt
Redaktionsadresse der Gesellschaft: Joachim Hirsch, 6 Frankfurt/Main,
Johann Wolfgang Goethe-Universität, Fachbereich Gesellschaftswissenschaf­
ten, Senckenberganlage 13 -17 .

1975/Heft 4 Christel Eckart, Richard Herding, Ursula Jaerisch,


Klaus Japp, Berndt Kirchlechner
Arbeiterbewußtsein, Klassenzusammensetzung und
ökonomische Entwicklung.
Empirische Thesen zum »instrumenteilen Bewußtsein«

Annegret Kramer
Gramscis Interpretation des Marxismus 65

Ernst Heinrich
Marx’ Leninismus 119

Hans-Dieter Bahr
»Theorie und Empirie« oder
Die Vorboten der verödeten Dialektik 15 1

Helmut Reichelt, Joachim Hirsch


Theorie und Empirie.
Bemerkungen zu dem Aufsatz von
F. Eberle und E. Hennig in »Gesellschaft 2« 190

edition suhrkamp 764


Erste Auflage 1975
© für die Zusammenstellung: Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1975.
Das Copyright für die einzelnen Beiträge liegt bei den Autoren. Erstausgabe.
Printed in Germany. Alle Rechte Vorbehalten, insbesondere das der Überset­
zung, des öffentlichen Vortrags und der Übertragung durch Rundfunk und
Fernsehen, auch einzelner Teile. Satz, in Linotype Garamond, Druck und
Bindung bei Georg Wagner, Nördlingen, Gesamtherstellung Willy Fleckhaus.
Christel Eckart, Richard Herding,
Ursula Jaerisch, Klaus Japp, Berndt Kirchlechner
Arbeiterbewußtsein, Klassenzusammensetzung
und ökonomische Entwicklung. Empirische
Thesen zum »instrumenteilen Bewußtsein« *

i. Stellenwert und zentrale Thesen der Studie:


Instrumentelle Einstellungen und verschärfte
Verteilungskämpfe

Die für marxistische Theoriebildung wichtige industriesozio­


logische Forschung zum Arbeiterbewußtsein hat in den letzten
Jahren drei Ansätze herausgebildet oder weiterverfolgt. In
ihrem Erklärungswert bleiben sie selbst beschränkt, weil sie
lediglich an einzelne Momente des fraktionierten Bewußtseins
der Arbeiterklasse der BRD anknüpfen. Entweder haben sie
Differenzen oder Veränderungen im Bewußtsein der Lohn­
arbeiter als Ergebnis von technologischen Veränderungen, am
Arbeitsplatz angesehen oder zumindest dort den Schwerpunkt
der Determinanten gesucht; prominentestes Beispiel der letzten
Zeit ist die Studie von Kern und Schumann (1970) über Indu­
striearbeit und Arbeiterbewußtsein. Oder sie haben Bestim-
mungsgründe für Aufbau, Veränderung und Zerfall norma­
tiver Strukturen des Arbeiterbewußtseins, das heißt Vorstel­
lungen von gerechter gesellschaftlicher Ordnung im Hinblick
auf die Verteilung von Einkommen und Macht zu analysieren
versucht. Das trifft für Runciman (1972), für Goldthorpe
u. a. (1969) sowie in einer kritischen Wendung für Wester-
gaard (1970) zu, kurz für die Autoren, die von einem Wandel
des Arbeiterbewußtseins von traditioneller zu »instrumentel-

* Der folgende Artikel, geschrieben im Dezember 1974, stellt einige zentrale


Ergebnisse der Untersuchung des Instituts für Sozialforschung, Frankfurt am
Main, »Soziale Ungleichheit und materielle Ansprüche. Veränderungen der
Interessenorientierung von Arbeitern und Angestellten«, dar. Die Untersu­
chung würde 1971/72 durchgeführt. Der Forschungsbericht liegt in verviel­
fältigter Form vor; die Buchfassung soll 1975 bei der Europäischen Verlags­
anstalt in Frankfurt und Köln erscheinen.

7
ler Solidarität« sprechen. Die Studie von Schumann u. a. (1 971 ) fung der Klassenkämpfe die Bedeutung der Spaltung und ihrer
über die Septemberstreiks ist aus dieser Diskussion entwickelt nur scheinbaren Aufhebung in den traditionellen Klassen­
worden. Schließlich stellen Autoren wie Herkommer (1972) organisationen, besonders den Gewerkschaften, sprunghaft
und Beckenbach u. a. (1973) den Anspruch, industriesoziolo­ wächst. Insofern verweist unser Beitrag auf die Bedeutung von
gische Forschung im Rahmen der Marxschen Theorie zu rekon­ Untersuchungen der Zusammensetzung der Arbeiterklasse,
struieren durch die kategoriale Ableitung möglicher Konse­ wie sie sich in ihren Organisationen und Kämpfen ausdrückt,
quenzen für die je konkrete Situation aus den zentralen Be­ wofür als Beispiele die Texte von Bologna (1972) und Roth
griffen der Klassen- und Krisenanalyse. (1974) genannt seien. Die zentralen Thesen der Studie sind
Die Interpretationen, die wir hier vorlegen, haben sich aus folgende:
dem zweiten Ansatz, nämlich den Studien zur Instrumentalis­ 1. Zur Zeit verändern sich die Differenzierungskriterien der
mus-These und deren Diskussion entwickelt. Unsere Über­ Gruppen der Lohnarbeiter und damit tendenziell auch die
legungen gingen davon aus, daß wichtige Teile der westdeut­ Klassenzusammensetzung. Alte Fraktionierungskriterien wer­
schen Arbeiterklasse seit den Septemberstreiks von 1969 härtere den brüchig, neue treten stärker hervor. Von einem Vereinheit­
Verteilungskämpfe führen. Die Artikulierung von Ansprüchen lichungsprozeß als zentraler Tendenz kann nicht die Rede
hängt zum einen davon ab, ob im kapitalistischen Zyklus sein. Wo sich Vereinheitlichungsmomente zeigen, sind sie eher
der Boom oder die Rezession zum Maßstab des Reproduktions­ organisatorisch-politischen als sozialstrukturellen Ursprungs
niveaus genommen wird; zum anderen davon, welche Gruppen, — z. B. in den Angleichungen von Lohngruppen durch die
innerhalb der Klasse oder klassenübergreifend, als Vergleichs­ linearen Komponenten der Lohnerhöhungen.
gruppen gewählt werden, nach denen die eigene Lohnhöhe 2. ökonomische Interessenorientierung und Militanz der
oder Lohnforderung als legitim oder nicht legitim beurteilt Lohnarbeiter haben sich insgesamt verstärkt. Die Interessen­
wird. Eine weitere notwendige Bedingung ist die Einschätzung, definitionen folgen in der Regel der vom Kapital vorgegebe­
ob die organisatorischen Möglichkeiten gegeben sind, Forde­ nen und von den Gewerkschaften im wesentlichen übernom­
rungen in Verteilungskämpfen auch durchzusetzen. menen internen Fraktionierung der Klasse. Der partikulare
Die sozialpsychologisch orientierte Industriesoziologie spricht Charakter der Interessenorientierung ist jedoch kein prinzi­
von »relativer Deprivation«, wenn die Benachteiligten ihre pielles Flindernis, sondern ein historisch notwendiges Moment
Vergleichs-, Gerechtigkeits- und normativen Kriterien so wäh­ im Prozeß der Verbindung höherer Anspruchsniveaus, ver­
len, daß sie ihre Benachteiligung als illegitim empfinden und änderter Anspruchsmuster und egalitärer Einstellungen durch
artikulieren. Wir gingen umgekehrt von der strukturellen die Radikalisierung von Tageskämpfen.
»Benachteiligung« der Arbeiterklasse aus und meinen, daß die 3. Die Bewußtwerdungsprozesse, die durch Klassenfraktio­
Kriterien, die die Legitimität von Forderungen begründen nierung und Tageskämpfe geprägt sind, sind in ihrer artikulier­
sollen, zunehmend ad hoc gewählt werden. Um Forderungen ten Forderungslogik zunächst instrumentellen Charakters. Sie
durchzusetzen, werden Legitimationsmuster bürgerlicher und formulieren ad hoc möglichst breit konsensfähige Begründun­
proletarischer Flerkunft verwendet. Von daher stießen wir auf gen für Tagesinteressen, um deren Durchsetzung zu erleich­
die in der Logik der Tageskämpfe immer wieder bekräftigte tern. Proletarische Bewegungen und Lernprozesse haben
Fraktionierung der Arbeiterklasse, die differenzierter ist als gerade in der täglich aufgezwungenen Organisation zur
die Trennung in die traditionell juristisch definierten Status­ Durchsetzung der eigenen Interessen ihre Basis, nicht so sehr
gruppen der Arbeiter und Angestellten. Wenn nämlich härtere, in vorgängigen normativen Orientierungen, die sich von
mit instrumenteller Solidarität geführte Verteilungskämpfe Sozialisationszusammenhängen herleiten. Im verschärften
sich ad hoc an Fraktionsinteressen innerhalb der Arbeiterklasse ökonomischen Krisenzyklus treten solche praktischen Lern­
orientieren, dann ist zu erwarten, daß gerade in der Verschär­ prozesse wieder primär hervor. Die Sozialwissenschaften

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haben daher den Bewußtsein konstituierenden und Erfahrun­ Prozesse der Vereinheitlichung oder Differenzierung gegen­
gen organisierenden elementaren Organisationsprozessen der über den (manuellen) Arbeitern entwickelt worden. Die kriti­
Tageskämpfe mehr als bisher Rechnung zu tragen. schen Bewußtseinstheorien (wir lassen gesamtgesellschaftliche
Nivellierungstheorien hier außer acht) vermerken im allge­
meinen die Restbestände traditionellen, individualistischen
2. Zur Klassenanalyse der westdeutschen Arbeiter­ bis mittelständischen Angestelltenbewußtseins, machen je­
klasse: Objektive Differenzierung und ihre doch entweder auf sozialstrukturelle oder auf politisch-orga­
Konsequenzen für das Bewußtsein nisatorische Trends aufmerksam, die eine >Proletarisierung<,
d. h. eine Angleichung von Angestellten- und Arbeiterbe­
2. i Zusammensetzung der Arbeiterklasse und Klassenbewußt­ wußtsein, verbürgen sollen.
sein Demgegenüber geht diese Studie von den über die tech­
nische und sozialstrukturell bedingte Differenzierung der
Die Zusammensetzung der Arbeiterklasse ist konstitutiv für Lohnarbeiter hinausreichenden Kapitalstrategien der Schich­
ihre jeweils historisch hervortretenden Bewußtseins- und tung und Teilung der Arbeiterklasse aus4. Diese können
Organisationsprozesse. In der marxistischen Diskussion der sowohl ihre objektiven wie ihre legitimatorisch verfestigten
letzten Jahre wurde diese Einsicht sowohl theoretisch neu for­ Differenzierungskriterien historisch wechseln, etwa nach
muliert (Bologna 1972) wie auch im Interesse an spezifischen Schichten anstatt nach Branchen differenzieren, aber nicht
Schichten und Fraktionen der Lohnarbeiter dokumentiert auf das Mittel der Differenzierung überhaupt verzichten. Im
(vgl. Beckenbach u. a. 1973). Gegenteil: da Differenzierungskriterien über längere Zeit­
»Wesentlich ist [.. .] das dialektische Verhältnis zwischen räume hin gegenüber den Vereinheitlichungsprozessen ent­
der vom Kapital bestimmten Struktur der Gesamtarbeitskraft weder sozialstruktureller oder organisatorischer Art (Wir­
und den Prozessen der fortschreitenden Autonomie und ende­ kung der Tageskämpfe; politisches Klassenbewußtsein) nicht
mischen Subordination der Arbeiterklasse, oder [ ...] zwi­ als legitim akzeptiert bleiben werden, ist die Anerkennung
schen der technischen (ganz innerhalb der kapitalistischen bestimmter Vereinheitlichungsprozesse und die Schaffung
Bestimmung verlaufenden) und der politischen (ganz außer­ neuer Differenzierungen zur Aufrechterhaltung betrieblicher
halb des Kapitals liegenden) Zusammensetzung der Arbeiter­ und gesamtgesellschaftlicher kapitalistischer Herrschaft im­
klasse.«1 mer wieder von neuem notwendig. Zur Zeit verliert die Diffe­
Das beherrschende Thema dieser Diskussion waren bisher das renzierung nach Arbeiter- und Angestelltenstatus weitgehend
Differenzierungskriterium der Qualifikation, d. h. die Neu­ an legitimatorischer Wirksamkeit, und damit treten zugleich
zusammensetzung der Arbeiterklasse durch die Tendenz zur an die Stelle des Kriteriums geistiger oder körperlicher Arbeit
Qualifizierung oder Dequalifizierung der Arbeitskraft (Ar­ neue Kriterien, die eine stärkere und vielfältigere Fraktionie­
beiteraristokratie vor dem Ersten Weltkrieg2, Massenarbei­ rung mit sich bringen. Wir sehen darin allerdings nicht in
ten und neue Militanz in Italien heute), und ihre politische erster Linie ein Hindernis für einen Vereinheitlichungsprozeß
Umsetzung. Hier dagegen steht in erster Linie das Differen­ der Klasse. Denn wenn man diesen Prozeß historisch ange­
zierungskriterium geistige und körperliche Arbeit, als tradi­ messen verstehen will, muß man folgendes berücksichtigen:
tionelle Grundlage des Statusunterschieds zwischen Arbeitern Erstens sind partikularisierte Tageskämpfe (>Fraktionsbildun-
und Angestellten3, zur Debatte. gen<) notwendige Durchgangsstadien, damit überhaupt ver­
Infolge der starken Zunahme der Angestellten und der Dif­ einheitlichende Lernprozesse, die immer Kampfprozesse sind,
ferenzierung ihrer Tätigkeiten sind Theorien sowohl über das möglich werden. Zweitens war die Ideologie vom einheitli­
Bewußtsein dieser Lohnarbeiterschichten wie auch über die chen Angestelltenstatus bisher ein Hindernis für Angestellten-
militanz überhaupt. Mehr, aber dafür homogenere Gruppen Tabelle 1: Erwartung von Wirtschaftskrisen und
(in bezug auf Einkommen u. dgl.) würden Interessenkämpfe Arbeitslosigkeit
eher ermöglichen, besonders auch Gruppen von strategischer
Bedeutung dafür freisetzen (s. das Beispiel der Fluglotsen). »Man kann oft verschiedene Meinungen darüber hören, ob es in ab­
Neue Fraktionierungen würden neue Koalitionsmöglichkei­ sehbarer Zeit wieder zu einer Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit
ten, beispielsweise zwischen unteren Angestelltenschichten kommen kann. Welcher von diesen Meinungen auf der Liste würden
Sie zustimmen?«
und Arbeiterschaft, eröffnen. Die systemstabilisierende >Mit-
telstandspolitik< hätte größere Schwierigkeiten, die unteren Arbeiter"' Angestellte''
Angestelltenschichten aufgrund imaginärer Statuspositionen ( i 344) (719)
für sich zu reklamieren. Andererseits würden antikapitalisti­
sche Strategien, die dazu tendieren, den Schein des Angestell­ Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit
tenstatus für bare Münze zu nehmen, ihren Begriff der >neuen kommen in unserer kapitalistischen
Wirtschaft immer wieder. 37 42
Mittelklassen (vgl. Schmierer 1971) revidieren müssen. Wenn
Wirtschaftskrisen könnten schon ver­
bei Arbeitern und unteren bis mittleren Schichten der Ange­ mieden werden, aber die Unternehmer
stellten das Kriterium geistiger und körperlicher Arbeit brü­ sehen es manchmal ganz gern, wenn ein
chig wird und differenziertere Kriterien von Qualifikation, paar Leute arbeitslos sind. 32 28
Belastung und Stellung im Arbeitsprozeß an seine Stelle tre­ Wirtschaftskrisen können heute ver­
ten, so können wir von einem Prozeß der Modernisierung der mieden werden; der Staat kann schon
Differenzierungskriterien sprechen. Dieser Prozeß hat für die verhindern, daß es Arbeitslosigkeit gibt. 31 30
Entstehung von Tageskämpfen und, über diesen Umweg, auch
Repräsentativ für deutsche Arbeiter und Angestellte in den Ballungsgebieten
für die Frage der Vereinheitlichung seine Bedeutung, aber der Bundesrepublik; vgl. Anhang i zum Forschungsbericht (mim.)
unmittelbar verbürgt oder erleichtert er eine solche Verein­
heitlichung keineswegs.
Zunächst sollen die Vereinheitlichungsmomente in diesem
widersprüchlichen Prozeß angedeutet werden. Der größte vilegien, insbesondere solche, die Gegenstände von ökonomi­
Teil der Arbeiter und ein großer Teil der Angestellten machen schen Interessenkonflikten sein können, von den Angestellten
zunächst einmal ähnliche ökonomische Erfahrungen, die es geleugnet werden. Daß die Trennungslinie nicht mehr zwi­
nahelegen, bestimmte Konsequenzen der Vertretung instru- schen Arbeitern und Angestellten, sondern zwischen anderen,
menteller Interessen zu ziehen. Die Erwartung ökonomischer vielfältigeren Fraktionierungen verläuft, ist für die Arbeiter
Krisen zum Beispiel greift über den Statusunterschied von am eindeutigsten.
Arbeitern und Angestellten hinaus; sie orientiert sich nicht Lineare Forderungen werden bei bewußteren Arbeitern und
so sehr am Nahbereich der eigenen Erfahrung im Betrieb oder Angestellten mit dem gemeinsamen >Arbeitnehmer<status
in der Arbeits-Lebensgeschichte, sondern bezeichnet ein Exi­ begründet. Mit der Anerkennung der bestehenden Lohn- und
stenzproblem der im strikten Sinne Lohnabhängigen. Gehaltsdifferenzen, die ja ohnehin den Statusunterschied von
Die vermitteltere Stellung der Angestellten zum Krisenzy­ Arbeitern und Angestellten überlappen, geht häufig ein Klas­
klus, die ökonomisch plausibel gemacht und historisch partiell senmodell einher, das ausschließlich die Empfänger arbeitslo­
nachgewiesen werden kann, ist demnach empirisch für die ser Einkommen im strikten Sinne (also nicht Manager-, son­
unteren Angestelltenschichten einer teils realen, teils noch dern etwa Aufsichtsratseinkommen) in die den Lohnabhängi­
antizipierten engeren Bindung an den Krisenzyklus gewichen. gen entgegengesetzte Kapitalistenklasse verweist. Mit der
Die Interessenorientierung hat oft zur Folge, daß eigene Pri- Entstehung einer neuen Interessenorientierung bei gleichzei-

12 i3
Tabelle 2: Beurteilung von Lohn-/Gehaltsunterschieden '-' zierung innerhalb der Angestellten, die es erlaubt, Interessen
handfest mach oben< zu vertreten, ebenfalls sehr stark ist.
Angleichen Bestehen lassen/ Gerade bei den Technikern und technischen Angestellten
vergrößern erscheint die Kombination von größerer Arbeiternähe, schwa­
cher Angestelltenideologie und stärkerem materiellen Status­
Arbeiter % . %
Gesamt
bewußtsein, das durchaus auf die Erhaltung von >Privilegien<
( 1 344 ) 53 47
Facharbeiter hinzielt, zunächst widersprüchlich. Sie verdeutlicht jedoch
(724) 49 5i
Un- und Angelernte (477) 59 4i den Prozeß der Umsetzung gemeinsamer ökonomischer
Lebensstandard Erfahrungen in instrumenteile Interessen: das materielle
( 2 1 0 , - DM pro Person) (325) 64 36 Interessenbewußtsein kann die Basis von Koalitionen der
Lebensstandard Arbeiter-Techniker (etwa hochqualifizierte Instandhaltungs­
(über 460,- DM) (329) 45 55 arbeiter) und der Angestellten-Techniker (im Gegensatz zu den
Angestellte kaufmännischen Angestellten) sein. Ohne die konkrete Erfah­
Gesamt (719) 40 60
rung von Kämpfen allerdings, die vereinheitlichend wirken
Streikbereitschaft, wenn
die Mehrheit im Betrieb
und egalitäre Forderungen entwickeln, knüpft sogar die
streikt: Streikbereitschaft von Angestellten noch an das Ziel der Ver-
Nein (329) 35 64
Ja —gewerkschaftlich (355) 46 54 Tabelle j : Notwendigkeit der Gewerkschaften und Gewerk­
Einkommen schaftsmitgliedschaft nach Qualifikationen
bis 10 0 0 ,- D M (166) 5i 48
Einkommen
über 1500,—DM (194) 26 73
Arbei- Ange- Arbeiter Angestellte
ter stellte Un- u. Fach- Untere Mitt- Höhere
»Zwischen den verschiedenen Lohngruppen der Arbeiter (Gehaltsgruppen) lere
Gesamt Gesamt Ange­ arbei­
gibt es ja erhebliche Unterschiede. Was meinen Sie: sollte man auf lange lernte te r
Sicht die Einkommen immer mehr aneinander angleichen? Oder sollte man ( i 344 ) ( 7 J 9 ) (477 ) (724) (155) (366) ( 1 3 2)
die Unterschiede bestehen lassen, so wie sie jetzt sind? Oder sollte man % % % % % % %
größere Unterschiede machen?«
Gewerkschaften
sind:
tigern Zerfall des eindeutigen Modells der Scheidung von notwendiger
manueller und nichtmanueller Arbeit werden Angestellten­ als früher 28 22 28 29 26 22 17
privilegien zu Forderungen, die kollektiv gestellt werden oder genauso not­
werden können. Das Verhältnis zur Artikulation ihrer Inter­ wendig wie
essen ist bei den Angestellten zwar noch gebrochen, weil früher 58 53 56 60 56 53 49
gerade bei den gewerkschaftlich organisierten Angestellten nicht mehr so
das Bewußtsein der notwendigen Einheitlichkeit der Forde­ notwendig,
rungen gegen die Verteidigung dessen steht, was an materiel­ überhaupt nicht
notwendig 14 24 16 11 l7 26 33
len >Privilegien< existiert. Aber die Tendenz, auch Forderun­
Mitgliedschaft:
gen partikularen Charakters kollektiv-instrumentell zu ver­ 62 69
Ja . 37 54 39 37 23
treten, wird deutlich, zumal das Problem der >Privilegien< nur Nein 38 O 46 31 61 63 77
gegenüber den Arbeitern eine Rolle spielt und die Differen­

14
teidigung relativer Privilegien durch individuelle Interessen­ Elemente von abstrakter Lohnarbeit. Ohnehin erschien die
vertretung an. Aber auch die Einstellung zur Gewerkschaft Kategorie manueller Arbeit, die sich noch in Runcimans
und die Prioritätensetzung bei gewerkschaftlichen Interessen Untersuchung bei englischen Arbeitern und Angestellten als
unterscheiden mehr die Arbeiter und unteren Angestellten auf relevante Variable erwiesen hatte, den Befragten meist als
der einen Seite von den höheren Angestellten auf der anderen obsolet: jeder zehnte Angestellte stufte sich als körperlich und
Seite als die Arbeiter von den Angestellten. jeder dritte Arbeiter als nicht körperlich arbeitend ein. Diese
Ferner vereinheitlicht die Arbeitssituation die unteren Frak­ Einstufung selber trug nur wenig zur Erklärung von Bewußt­
tionen der Angestellten mit den Arbeitern. Zwar hat eine seinsdifferenzen bei; nicht einmal die Einschätzung des eige­
>Berufs<-Orientierung mit dem Anspruch qualitativer Defini­ nen Arbeitsplatzes als körperlich anstrengend ließ sich durch­
tion der eigenen Arbeitssituation auch bei manchen unteren gängig damit vereinbaren. Die traditionelle Hierarchie geisti­
Angestelltengruppen bisher überlebt, und viele Angestellten­ ger und körperlicher Arbeit ist schon von daher verunsichert,
arbeitsplätze haben außer den äußeren noch >innere< Gratifi­ vor allem bei den Arbeitern. Diese erkennen geistige Arbeit
kationen, seien sie fiktiv oder real. Dennoch dominiert bei nicht mehr als Kennzeichen der Angestellten an. Selbst die
Arbeitern wie bei Angestellten letzten Endes das Interesse an Angestellten nehmen geistige Arbeit und Verantwortung
freier Zeit auch gegenüber dem an interessanterer Arbeit. zwar als Bestimmungen ihrer eigenen Arbeit ernst, aber viel
weniger als Attribute von Angestelltenarbeit allgemein.
Tabelle 4: Mehr als mehr Lohn Jedoch wäre es falsch, daraus zu schließen, diese Kriterien
dienten nicht mehr zur Legitimation von Einkommensunter­
»Was denken Sie, wie groß müßte Ihr monatliches Nettoeinkommen schieden: die Kritik der Befragten dürfte im Gegenteil darauf
sein, damit Sie sich einen angemessenen Lebensstandard leisten kön­ zielen, daß die Kriterien sich nicht mit dem Statusunterschied
nen? Antworten Sie bitte anhand dieser Liste.« (Vorgaben: von »bis zwischen Arbeitern und Angestellten decken, und daß sie in
200 DM« bis »3000 u. mehr«) zurechenbarer Form angewandt werden sollten.
»Nehmen Sie einmal an, Sie hätten dieses genannte Nettoeinkom­ Auch die Bereitschaft, gemeinsam mit den Arbeitern zu
men. Welche weitere Verbesserung Ihrer Situation wäre Ihnen dann
streiken, hängt von abteilungsspezifischen Bedingungen ab:
am wichtigsten —noch höheres Einkommen oder mehr freie Zeit und
Urlaub oder interessantere Arbeit?«
einerseits weisen die technischen, andererseits die durchratio­
nalisierten Arbeitssituationen, also wiederum unter verschie­
Arbeiter Angestellte denen Aspekten >produktionsnahe< Bereiche, die größte Annä­
( i 344 ) (719 ) herung an das Verhalten der Arbeiter auf.
% % Die Vereinheitlichung des Status von Arbeitern und Ange­
Noch höheres Einkommen 11
stellten ist schließlich auch Bestandteil der Politik des Kapitals
13
Mehr freie Zeit und Urlaub in einigen großen Konzernen. Daran kann freilich die Strate­
67 7i
Interessantere Arbeit 18 17
gie einer im Grunde verstärkten, modernisierten und rationa­
Weiß nicht/Keine Angabe 2 1 lisierten Differenzierung deutlich gezeigt werden. Bei den
untersuchten Schwerpunktbetrieben5 gilt das für A, wo die Auf­
hebung der Statusdifferenz - die unterstützt wird von einem
Gilt also für die unproduktiven Lohnarbeiter allgemein, daß starken Gleichstellungsbewußtsein der Arbeiter — mit der
sie eine ambivalente Interessenlage aufgrund des Wider­ Schaffung neuer Lohngruppendifferenzierungen bei den Arbei­
spruchs von Lohnarbeit und konkreter Tätigkeit haben, so tern einhergeht. Die Statusangleichung soll das Bewußtsein
überwiegen bei technischen Angestellten und solchen mit von der Betriebs>familie<, unterstützt durch Belegschaftsaktien
repetitiver Teilarbeit als produktionsnahen Angestellten die usw., verstärken. Ebenso sind beim Unternehmen B Status-
16 17
angleichung und extreme Differenzierungspolitik eng verbun­ Fiintergrund einer weitgehend ungebrochenen Geltung des
den. Dazu kommt der Versuch, mit den Kategorien der außer­ Leistungsprinzips. Das Leistungsprinzip wird nicht so sehr
tariflichen Angestellten trotz aller Angleichung zwischen Arbei­ destruiert als in erster Linie instrumentalisiert für partikulare
tern und Angestellten eine neue Aufstiegsmöglichkeit aus kol­ Interessen.
lektiv organisierbaren Bereichen in die Sphäre individueller Wenn die eine wesentliche Ursache der wachsenden Zahl der
Interessenvertretung zu eröffnen. Angestellten die Verwissenschaftlichung der Produktion ist,
Die Ergebnisse der Studie zu den verstärkten Differenzie­ dann ist zunächst das Moment erhöhter Qualifikation eng mit
rungstendenzen verdeutlichen, daß neue Differenzierungs­ ihrem Status verbunden. Mächtige Gegentendenzen sind
linien nicht ein Abnehmen der Differenzierung schlechthin jedoch: das Anwachsen hochqualifizierter Tätigkeiten bei den
bedeuten. Prominent unter den sich abzeichnenden verstärkt Arbeitern (im Sinne einer Polarisierung, nicht einer überwie­
wirksamen Differenzierungskriterien ist die Qualifikation. genden Requalifizierung) und das Anwachsen des Anteils
Verschiedene Lohnabhängigengruppen verstehen unter ent­ unterprivilegierter weiblicher Angestellter, deren Benachtei­
lohnungsrelevanter Leistung etwas anderes: Qualifikation im ligung in der niedrigen Qualifikation kulminiert. Darauf
Sinne von Ausbildung, körperlichen Einsatz oder den nur noch gestützt, lehnen es z. B. die Arbeiter überwiegend ab, geistige
als Tautologie bestimmbaren Karriereerfolg —und das auf dem und verantwortliche Tätigkeit als Merkmal der Angestellten
zu betrachten, würden aber eine reale Differenzierung von
Schichten nach diesen Kriterien durchaus positiv aufnehmen.
Tabelle ; : Gleicher Lohn für gleiche Arbeit Dabei dürfte eine Rolle spielen, daß die Möglichkeit, Qualifi­
kationen zu erwerben, von den Gewerkschaften in der Regel
(N ur Arbeiter) nicht oder nur ganz indirekt zum Kampf- oder auch nur Inter­
»Wenn angelernte Arbeiter die gleiche Arbeit wie Facharbeiter ver­ essenvertretungsziel erhoben wird, im Gegensatz zu dem
richten, sollten beide den gleichen Lohn erhalten, oder sollte der Fach­ Anspruch auf angemessene Entlohnung bereits erworbener
arbeiter aufgrund seiner Ausbildung einen höheren Lohn bekommen?« Qualifikationen. Daß der durch Qualifikationserwerb ent­
(N ur Angestellte) gangene Verdienst kompensiert (und das heißt in der Regel
»Wenn Angestellte, ohne eine kaufmännische oder Verwaltungslehre
weit überkompensiert) werden müsse, spielt eine wichtige
gemacht zu haben, eine Tätigkeit verrichten, für die man eigentlich
eine solche Lehre braucht; was meinen Sie: sollten die Angestellten Rolle in der Legitimation von Einkommensunterschieden im
mit und ohne Lehre dann gleich bezahlt werden, oder sollten die­ Nah- und im Fernbereich; diese Kompensation wird auch als
jenigen mit Lehre aufgrund ihrer Ausbildung mehr bekommen?« Anreiz zur Weiterbildung verstanden. Es ist abzusehen, daß
der Umschichtungsprozeß der Qualifikationen weitergehen
Arbei- Ange- Arbeiter Angestellte wird, daß er vor allem die unteren Schichten der Angestellten
ter stellte Un- u. Fach- Untere Mitt- Ftöhere
Gesamt Gesamt Ange- arbei- lere noch weiter benachteiligen und die Unterscheidung zwischen
lernte ter Arbeitern und Angestellten insgesamt als Qualifikationsun­
(1344) (719) ( 4 7 7 ) ( 7 24 ) ( U 5) V 6 6 ) ( U 2)
% % ■ % % % % % terscheidung immer mehr obsolet machen wird. Wenn The-
matisierung und Bedeutung des Qualifikationserwerbs, zu­
Bei gleicher Arbeit: gleich aber auch dessen nichtpolitische Interpretation so
gleiche bedeutsam und stark sind, wie unsere Ergebnisse das vermuten
Bezahlung 44 44 52 40 48 44 42 lassen, ist von dieser Umschichtung eine Vertiefung der Frak­
höhere
tionierung der Lohnarbeiter zu erwarten.
Bezahlung für
Qualifizierte 54 56 46 59 51 5^ 57 Schließlich unterscheiden sich die Schichten der Lohnarbei­
ter deutlich in ihrem Verhältnis zur Organisation. Dies ist

18 19
zunächst einmal eine Konsequenz der unterschiedlichen tern; andernfalls kommen jedenfalls keine Organisationen
Homogenität der Statusgruppen Arbeiter und Angestellte. zustande, die Teil einer kollektiven Bewegung sind (Mills
Arbeiterinteressen sind durch die soziale Situation ihrer 1951 )8, sondern bestenfalls begrenzte pressure groups. Aller­
Arbeit einheitlicher vorstrukturiert als Angestellteninteres­ dings wird den Angestellten die Eingliederung in die Gewerk­
sen - daher ist die Notwendigkeit der organisatorisch ver­ schaften dadurch erleichtert, daß ihre relativen Privilegien
mittelten Interpretation ihrer eigenen sozialen Situation bei nicht in Zweifel gezogen werden, die Frage der Legitimation von
Arbeitern nicht so groß; für Angestellte ist sie oft die einzige Einkommensdifferenzen nicht gestellt wird, und zwar tenden­
über den engsten Nahbereich hinausgehende Situationsdefini­ ziell bis zu den höchsten Einkommensgruppen der Angestell­
tion. Insofern ist es für Arbeiter auch leichter, ihre eigenen ten, die in Manager-Funktionen hineinreichen. Innerhalb der
Interessen und die der Arbeiter insgesamt gleich zu definie­ Gewerkschaften wird die Ungleichheit zwischen den Schich­
ren, während Angestellte eher ein explizit politisches Moment ten der Lohnarbeiter nicht thematisiert; allenfalls auf dem
der Reflexion auf die Einheit der Interessenlage der Lohnab­ Gebiet staatlicher Regelungen wird auf der Angleichung von
hängigenschichten einbringen, einfach weil sie ein solches Statusdifferenzen bestanden.
Moment benötigen, um sich ihre je eigenen Interessen im Egalitäre Einstellungen werden bei Angestellten durch die
Zusammenhang zu definieren. Damit ist aber zugleich ein Gewerkschaftsmitgliedschaft oder -loyalität verstärkt; bei
Potential stärkerer Differenzierung der Arbeiter bezeichnet, den Arbeitern ist die Formung des Bewußtseins durch die
wie es bereits in der überraschend starken Differenz zwischen objektive Lage in dieser Beziehung durchschlagend. Das
Facharbeitern und Unqualifizierten (Tabelle 5) zum Aus­ Dilemma der Angestellten-Orientierung können wir nun
druck kommt. Nähern sich die Angestellten-Arbeitsplätze genauer angeben: kollektive (gewerkschaftliche) Interessen­
denen der Arbeiter an, so werden es die Arbeiter schwerer orientierung impliziert einmal die aktive Vertretung der eige­
haben, sich kollektiv zu definieren. Zu einem guten Teil mag nen materiellen Forderungen, zum andern aber die Darstel­
die heute sich zeigende Homogenität der Arbeiterschicht kon­ lung dieser Forderungen (und damit der eigenen materiellen
stituiert sein durch Abgrenzungen nach >oben<, zu den Ange­ Situation) als so ähnlich oder identisch wie möglich mit denen
stellten. Die Schichtenhierarchie ist für die Arbeiter noch am der Masse der Gewerkschaftsmitglieder und Arbeiter. Da­
ehesten eine schlichte Tatsache; für die Angestellten gewinnt her ist es plausibel, daß gerade das abgeleitete, notwendig
sie erst Struktur durch eine Anstrengung des Bewußtseins. reflektiertem Element der Angestellten-Gewerkschaftsorien-
Lösen sich die >Blöcke< Arbeiter - Angestellte auf, so ist eine tierung ein gebrochenes Verhältnis zur Wahrnehmung und
stärkere Fraktionierung innerhalb der Arbeiterklasse zu Interpretation der relativen Benachteiligung anderer Lohnar­
erwarten. beiter entstehen läßt. Unterschiede in der Wahrnehmung
Zurück zu den Angestellten, die sich nach Kracauer (1929) gesamtgesellschaftlicher Probleme bei gewerkschaftlich Or­
»vom Arbeiter-Proletariat darin [unterscheiden], daß sie gei­ ganisierten im Gegensatz zu den Nichtorganisierten zeigen
stig obdachlos« sind.6 Bereits die Tatsache, daß sich ganz sich im Angestelltenbereich weit stärker als bei den Arbeitern.
allgemein in der Geschichte der gewerkschaftlichen Organi­ Bei den gewerkschaftlich organisierten Frauen äußert sich das
sierung der Angestellten diese dort organisiert haben, wo es allerdings darin, daß sie ihre Benachteiligung als Frauen
starke Arbeitergewerkschaften gab, daß sie politisch »mit den schwächer wahrnehmen als die nichtorganisierten. Unabhän­
stärkeren Bataillonen« marschierten (Mills 19 5 1)7, ist ein gig davon, in welcher Richtung die Interpretationsfunktion
Ausdruck der nicht unmittelbar und bruchlos an den eigenen geht: die Gewerkschaftsmitgliedschaft ist für Arbeiter eher
Interessen anknüpfenden Orientierung der Angestellten. Ver­ selbstverständlich, während sie für Angestellte eine Differenz
läßt ihre Interessendefinition den engen Rahmen der unmit­ im Bewußtsein bedeutet. Bei den Angestellten bezeichnet
telbaren Arbeitssituation, so orientiert sie sich an den Arbei­ gewerkschaftliche Orientierung noch am ehesten neue Norm-
20
Vorstellungen, die aus der unmittelbaren Tageskampfsituation Mitglieder-Massenorganisation der Lohnarbeiter ist. Den­
um materielle Interessen herausgenommen sind. Bei der ent­ noch zeigt sich dio politische Heterogenität der Angestellten
scheidenden Frage gewerkschaftlicher Aktionsmöglichkeiten, im Gegensatz zu den Arbeitern auch darin, daß sie für die
dem Streik, polarisieren sich Arbeiter und Angestellte. Durch­ Vertretung ihrer >Arbeitnehmer<-Interessen zum Teil die kon­
gängig sind die Angestellten weniger streikbereit als die servativen Parteien ebenso geeignet finden wie die sozialde­
Arbeiter; dennoch beteiligen sich mehr als erwartet, wenn mokratische Partei.
durch die Initiative der Arbeiter im Betrieb gestreikt wird.
Tabelle 7: Parteien und Arbeit>nehmer<interessen
Tabelle 6: Streikbereitschaft nach Qualifikationen
»Hier sind verschiedene Meinungen, welche der beiden großen Par­
teien die Interessen der Arbeitnehmer besser vertritt. Welcher Meinung
»Wenn in Ihrem Betrieb gestreikt würde, weil die Mehrheit der
sind Sie?«
Arbeitnehmer den Streik für berechtigt hält, würden Sie dann mit­
streiken?« Arbeiter Angestellte
Wenn »Ja, m itstreiken«:
( i 344 ) (719)
»Würden Sie auch dann mitstreiken, wenn es sich um einen wilden % %
Streik handelt, den die Gewerkschaft ausdrücklich mißbilligt?«
Die SPD 54 41
Arbei- Ange- Arbeiter Angestellte Die C D U /C SU
ter stellte Un- u.' Fach- Untere Mitt- Höhere 7 H
Gesamt Gesamt Ange- arbei- lere Beide vertreten gleich gut die Interessen
lernte ter der Arbeitnehmer 22 3i
(1344) (719) (477). (724) (155) (366) (132) Beide kümmern sich nicht um die Inter­
% % ■ % % % % % essen der Arbeitnehmer 16 12
Weiß nicht/Keine Angabe 1 1
Streikbereitschaft:
Nein 21 46 21 18 48 4i 62
ja 64 49 61 68 5° 53 31
Auch wild 15 5 17 14 3 6 6 2.2 Fraktionierung der Lohnarbeiter und die Bedeutung von
Tageskämpfen

Die Angestellten plädieren auch für eine weniger militante Die Tageskämpfe der Lohnarbeiter und ihre Differenzierung
Streikführung; unter ihnen jedoch kritisieren Meister und stehen - dafür gibt unsere Studie einige wichtige Hinweise ­
technische Angestellte die kaufmännischen Angestellten wegen in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander. Verein­
ihres niedrigen Organisationsgrades, ähnlich wie die Arbeiter heitlichungsprozesse können nicht abstrakt-aufklärerisch kon­
generell die Angestellten kritisieren. Wo gemeinsame Streik­ zipiert werden, sondern verlaufen über ihr Gegenteil, nämlich
erfahrungen gemacht wurden, weicht die Einstellung zur Ge­ die Mobilisierung in täglichen Interessenkämpfen, die sich
werkschaft als Vertreterin relativer Privilegien einer politisch zunächst an die vom Kapital vorgegebene Differenzierung
motivierten, egalitären Haltung. der Klasse anlehnen. Wir sind in der Studie zunächst auf die
Auch gegenüber der politischen Organisation zeigen die Differenzierungsmechanismen eingegangen, die vom Kapital
Angestellten eine geringere Loyalität als die Arbeiter. Zwar her auf die Lohnarbeiter wirken, und haben darauf hingewie­
kann man die organisatorische Identifikation mit der Sozial­ sen, daß die Vereinheitlichung verschiedener Arten von Lohn­
demokratie nicht mit denselben Maßstäben messen wie die arbeit in einem Arbeitsmarkt zwar die Spaltung der Klasse
mit den Gewerkschaften, weil die Sozialdemokratie keine zunächst aufhebt, aber die Konkurrenz zwischen verschiede­
22 23
nen Arten von Lohnarbeit überhaupt erst herstellt; Marx’ der Lohnarbeiter oder aller Lohnabhängigen, sondern aller
Hinweise auf Frauen- und Kinderarbeit können dafür als Bevölkerungsschichten —soll eine aufgeklärte Philosophie der
Beispiel dienen. Durch die spezifischen Bedingungen des Ver­ Verteilungsgerechtigkeit führen. Gegenüber diesem bürgerli­
kaufs der Ware Arbeitskraft auf einem einheitlichen Arbeits­ chen Konzept von Egalitarismus und von dazu führenden
markt entstehen jedoch zunächst nur Schichten der Lohnarbei­ Lernprozessen wird hier versucht, eine proletarische Konzep­
ter. Indem sie ihre spezifische Situation zum Anlaß bestimmter tion von egalitaristischen Lernprozessen (vgl. Vada 1969) zu
Forderungen und Legitimationen nehmen und schichtspezi­ entwickeln und ansatzweise zu belegen. Von den bewußten
fische Interessenkämpfe führen, werden diese Schichten zu organisatorischen Lernprozessen abgesehen, deren Fehlen bei
Fraktionen der Lohnarbeiter (Mauke 1970)9. Und tatsächlich den heutigen Arbeiterorganisationen bzw. Organisationen
definieren sich relevante Gruppen der Lohnarbeiter in vielen mit Arbeiterloyalität kritisiert wird, lassen sich wesentlich
Zusammenhängen eher als Angehörige einer spezifischen drei Momente egalitärer Entwicklung in den Ergebnissen der
Schicht denn als Lohnarbeiter mit einem gemeinsamen Inter­ Studie vorfinden: Fragmente von Klassenbewußtsein im
essenhorizont. Das zeigt sich in der Stellungnahme zu Lei­ gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang, Krisenerwartung
stungsprinzip und Leistungsentlohnung (z. B. Tabelle 2), im und -erfahrung sowie Mobilisierungsschübe der Basis.
Festhalten vieler Angestellter an der Fiktion einer einheitlichen Wahrnehmungshorizonte, die sich nicht an Unterschieden
Angestelltenschicht, die ihnen bestimmte reale und fiktive Pri­ unter den Lohnabhängigen orientieren, werden zum Beispiel
vilegien zu verbürgen scheint, an der Ablehnung des Prinzips in der Begründung von Lohn- und Arbeitsplatzforderungen
gleichen Lohnes für gleiche Arbeit bei ungleicher Qualifikation
durch die Höherqualifizierten (v. Freyberg 1973)10, an der Tabelle 8: >Normative< Kriterien für Lohnforderungen
Anerkennung >geistiger Arbeit< als Selbstdefinition bestimmter
»Immer wenn es um Lohn- und Gehaltserhöhungen geht, hört man
Angestelltenschichten, an der Wahrnehmung der eigenen Be­ verschiedene Auffassungen darüber, was den Arbeitnehmern eigent­
nachteiligung insbesondere bei Arbeiterinnen. Neben den lich zusteht. Welcher Auffassung von dieser Liste würden Sie am
Arbeitern, die sich immer wieder als relativ homogene, auch ehesten zustimmen?«
mit einem einheitlichen Selbstverständnis ausgezeichnete Grup­
pe äußern, können wir Fraktionen unterscheiden, die sich Arbeiter Angestellte
ansatzweise als Angestellte, vielfach mit dem Kriterium geisti­ ('3 4 4 ) (719)
% %
ger Arbeit, definieren, und ferner sowohl bei den Arbeitern wie
bei den Angestellten die Gruppe der Höherqualifizierten; Wenn die Gewinne der Unternehmer stei­
schließlich gibt es Anzeichen eines Potentials zur Selbstdefini­ gen, dann sollen auch die Löhne und Ge­
tion der Frauen als benachteiligter Fraktion, besonders bei hälter entsprechend steigen. 42 48
den Arbeiterinnen. Die Arbeitnehmer sollen sich den Anteil
Die Bezugsgruppentheorie (wie sie im Anschluß an Tocque- am Kuchen sichern, den sie sich erkämp­
fen können. Das ist eine Machtfrage. U 8
ville 1856, Hyman 1942 und Merton 1949 von Runciman
Die Arbeitnehmer sollen so viel haben,
formuliert wird) stellt ebenfalls einen Zusammenhang von
daß sie mit ihrer Familie anständig leben
Differenzierung der Arbeiterklasse und Tageskämpfen her, können, ohne ständige finanzielle Sorgen. 27 29
allerdings in bürgerlich-reformistischer Form: die restrin­ Die Löhne und Gehälter müssen im glei­
gierte Wahrnehmung anderer Lohnabhängigenschichten be­ chen Maße erhöht werden, wie die Preise
hindert, die erweiterte Wahrnehmung verschärft die Ausbil­ nach oben gehen. 17 14
dung weitreichender Anspruchsmuster; von weitreichenden Weiß nicht/Keine Angabe 1 1
Anspruchshorizonten zu einer Vereinheitlichung — nicht nur

24 25
deutlich, die sich explizit an das Kapital (Gewinnorientierung) Halten Sie das für gerechtfertigt oder für nicht gerechtfertigt?
und an den Staat richten, in der Kritik an Kapitalisteneinkom-
men, in isolierten, abgespaltenen Momenten von Klassen­ Arbeiter Angestellte
(Selbsteinstufung)
bewußtsein in der Definition des gesellschaftlichen >oben< als Q uali­ U nquali­ Untere Mittlere Höhere
Kapitalisten, Unternehmer u. dgl. fiziert fiziert
Ö 73) (360) (124) (329) (130 )
% % % % %
Tabelle 9: Verantwortung für steigenden Lebensstandard
Berechtigung
»Was meinen Sie: wer hat in erster Linie dafür zu sorgen, daß der des Direktoren­
Lebensstandard steigt? Wir haben hier zwei Meinungen - welcher einkommens
würden Sie eher zustimmen?« Ja . 55 . 49 60 65 79
Nein 45 49 ■ 40 ^ 35 21
Arbeiter Angestellte
( U 44 ) (7 1 9)
% % In all diesen Bewußtseinsmomenten stimmen weite Teile der
Arbeiter und Angestellten miteinander überein. Für die
Steigende Einkommen hängen vor allem
Arbeiter selbst können in diesem Zusammenhang gesamtge­
von den Unternehmern ab. Der Staat hat
da nur wenig Einfluß.
sellschaftliche Selbstdefinitionen erwähnt werden, wie die
42 43
Der Staat hat genügend Einfluß auf die Selbstzurechnung eines erheblichen Teils zur >Arbeiterklasse<
Wirtschaft. Es ist seine Aufgabe, für stei­ und das Fehlen einer >Unterklasse< unterhalb der eigenen
gende Einkommen zu sorgen. 57 56 gesellschaftlichen Gruppe.
Weiß nicht/Keine Angabe 1 1

Tabelle 1 1 : Selbstzurechnung und Streikbereitschaft

«Unsere Gesellschaft kann man in verschiedene Gruppen, Schichten


Tabelle 10 : Berechtigung des Direktoreneinkommens oder Klassen einteilen. Zu welcher Gruppe würden Sie sich rechnen?«

»Was meinen Sie, wieviel verdient ein leitender Direktor netto im Arbeiterklasse, Arbeiter Mittelschicht
Monat? Zum Beispiel der technische Direktor eines Betriebs mit zwei- Unterschicht (Beruf)
bis dreitausend Beschäftigten? —Sie können das natürlich nicht genau Arbeiter (1344) 22% 30% 38%
wissen, aber was schätzen Sie?«

Arbeiter Angestellte Ebenfalls in die Reihe der Erfahrungen, die den Lohnarbei­
(1344) (7 l 9 )
tern einen gesamtgesellschaftlichen Maßstab im konkreten
% %
Erfahrungshorizont aufzwingen und diesen tradieren, gehö­
Direktoreneinkommen ren ökonomische Krisen; wir haben sie bereits als egalisie­
geschätzt*: rende Erfahrungen nachgezeichnet und beschränken uns hier
bis 4500 D M 35 24 auf den Hinweis, daß sich die verstärkt krisenhafte Entwick­
bis 8500 D M 48
43 lung der BRD bereits in einer leichten Angleichungstendenz
über 8500 DM 22 28
Weiß nicht/Keine Angabe 21 12 der gesellschaftlichen Situation verschiedener Lohnarbeiter­
schichten ausgewirkt hat. — Mobilisierungsschübe der Basis
26 27
mit egalisierender Wirkung waren ohne Zweifel die Wellen Vermittlung werttheoretischer und historisch-empirischer Ka­
spontaner Streiks, die in der Bundesrepublik besonders 1 969 tegorien zur Bestimmung von Klassenlage und Bewußtsein
stattfanden, und einige der darauf folgenden Tarifrunden. der verschiedenen Kategorien der Lohnarbeiter weiterhelfen.
Lineare Forderungen, die eine breite Diskussion um die Frage Einmal hat sich uns, sowohl bei der theoretischen Auseinan­
der Egalisierung und Differenzierung ausgelöst haben, sind dersetzung mit der reformistischen Schichtungstheorie wie
wesentlich das Resultat dieser Kämpfe. Ansätze von proletari­ auch bei der Interpretation unserer empirischen Ergebnisse, der
schem Egalitarismus gehen zusammen mit Krisen zwischen Fraktionsbegriff aufgedrängt als zentrales Vermittlungsmo­
den Arbeitern und ihrer Organisation, weil es zur Logik der ment zwischen der Selbsttätigkeit der Arbeiterklasse in ihren
Verselbständigung von gewerkschaftlichen Organisationen täglichen Auseinandersetzungen um den Wert der Arbeitskraft
außerhalb der Mobilisierungsphasen gehört, die Zusammen­ und der Position ihrer einzelnen Schichten, die durch den Kapi­
setzung der Klasse durch das Kapital als vorgegeben anzuneh­ talverwertungsprozeß bestimmt wird. Der Widerspruch zwi­
men. Wir vermuten, daß die Verstärkung solcher Kämpfe schen beiden Momenten wird in den bisher vorliegenden Ver­
der entscheidende Faktor für die Vereinheitlichung der Klasse suchen in der Regel nach einer Seite hin aufgelöst, oder beide
und die Entstehung egalitären Bewußtseins ist. werden unvermittelt nebeneinandergestellt. Fraktionierung
bedeutet, daß gerade durch die Verfolgung der je verschiedenen,
2.3 Probleme der Bestimmung neuer Fraktionierungstenden­ partikularen Interessen der verschiedenen Schichten der im
zen Produktionsprozeß unterschiedlich definierten Lohnarbeiter
Lernprozesse der Interessenartikulation und —sehr vermittelt —
Alles, was bisher über die Widersprüchlichkeit des Prozesses der Vereinheitlichung sich abspielen: weder Ideologieproduk­
der Entstehung einer einheitlichen Arbeiterklasse und eines tion noch Stellung im Produktionsprozeß als statische Kate­
proletarischen Egalitarismus gesagt wurde, begründet Vor­ gorien bestimmen das Potential der einzelnen Schichten, in
sicht gegenüber jedem Versuch, die Frage der Entstehung einer einheitlichen Arbeiterklasse als Subjekt aufzutreten, son­
eines produktiven Gesamtarbeiters< oder neuer proletari­ dern die aktuelle Entfaltung der Notwendigkeit, als Lohnarbei­
scher Fraktionierungen zugleich empirisch und werttheore­ ter um den Wert der Ware Arbeitskraft kämpfen zu müssen
tisch fassen zu wollen. Welche empirischen und welche und tatsächlich zu kämpfen.
arbeitswerttheoretischen Überlegungen immer angestellt Zum andern können wir mit größerer Klarheit die kategoria-
werden: der zentrale Mechanismus der Tageskämpfe, über die len und methodischen Defizite benennen und begründen, die
Erfahrungen organisiert und Organisation konstituiert werden, sich einer Bestimmung der neuen Fraktionierungslinien ent­
bestimmt entscheidend die historische Realität der Klassen­ gegenstellen. Wir können in dieser Hinsicht folgende Ebenen
einheit, für die sowohl die Bestimmungen des Verwertungs­ unterscheiden:
prozesses wie die des Arbeitsprozesses nur Bedingungen dar­ 1. Die Ebene des Verwertungsprozesses. Produktive und
stellen. In dieser Studie ist das Verhältnis der aus dem Verwer­ unproduktive Arbeit: die Vermittlung der klassentheoreti­
tungsprozeß gewonnenen Bestimmungen (produktive und un­ schen Kategorien zu realen Positionen in den Arbeitsabläufen
produktive Arbeit) zu den aus dem Arbeitsprozeß gewonnenen der Produktions-, Zirkulations- und Staatssphäre ist nicht
(Zusammenfassung der real subsumierten Arbeitsprozesse zum geleistet. Einschätzungen nach Klassifikationen wie kaufmän­
produktiven Gesamtarbeiter) nicht ausdiskutiert11, sondern nischer und technischer Angestellter haben sich als bloße
weiterhin kontrovers und nur partiell mit empirischen Belegen Hilfskonstruktionen erwiesen. Empirisch gehaltvolle Berufs­
zu entscheiden. typologien, die auf die genannten theoretischen Kategorien
Wenn wir nicht hochstapeln wollen, so können wir hier nur hingearbeitet wären, existieren nicht. Bewußtseinsdifferenzen
zwei Ergebnisse der Studie anführen, die bei der Aufgabe der zwischen Angestellten und Arbeitern insgesamt nach dem

29
Kriterium konkreter und inhaltlich besetzter Arbeit aus den Produktionssystems« zu definieren (Ritsert, Rolshausen
Verkaufsbedingungen unproduktiver Arbeit (»selling their 19 7 1)15, läßt sich empirisch nicht stützen. Häufig genug unter­
Personalities«)12 haben sich nicht stützen lassen, aber scheiden sich gerade die Angestellten des öffentlichen Dien­
auch für solche zwischen technischen und kaufmännischen stes in einer Weise von den anderen Angestellten, die nur auf
Angestellten gibt es nur einzelne Hinweise. Als krisentheore­ ihre besondere politische Situation zurückgeführt werden
tische Begriffe sind diese Kategorien ebenfalls noch nicht kann.
material verwendbar. Differenzen in Einkommen und Arbeits­
platzsicherheit zwischen Arbeiter- und Angestelltenschichten,
die auch solche Momente wie z. B. die Summe des Einkommens
eines Arbeiterlebens in Betracht ziehen und historische Ver­
gleiche ermöglichen, was auch die Vergleichbarkeit der Klassi­ 3. Zum Verhältnis von Interessenbewußtsein
fikationen einschließen müßte, sind bisher kaum analysiert und aktueller gewerkschaftlicher
worden. und sozialdemokratischer Politik
2. Die Ebene des Arbeitsprozesses: Eine Typologie der kon­
kreten Angestelltentätigkeiten, mit der die Hypothese überprüft 3 .1 ökonomischer Interessenantagonismus und meue Militanz<
werden könnte, daß sich gerade auf dem Gebiet der Abstrak-
tifizierung der Arbeit die wesentlichsten Angleichungstenden­ Die Erfahrungen der westdeutschen Arbeiter und Angestellten
zen zeigen, existiert ebenfalls nicht. Nachdem für Industriear­ mit ihrer ökonomischen Situation in den Jahren seit etwa 1966
beiter wenigstens ein qualitativer Ansatz existiert (Kern, lassen sich als die eines zunehmend schwankenden, riskanten
Schumann 1970)13, scheint es dringlich, solche Typologien und gefährdeten Status quo der Einkommensverteilung und
auch für die Angestellten zu entwickeln und für beide Status­ der strukturellen Benachteiligung der Lohnarbeiter beschrei­
gruppen zu quantifizieren. ben.
3. Die Ebene der Intervention des kulturellen Systems und In allen Kontroversen über das Verhältnis von objektiven
der Reproduktionsarbeit: Fast alle Studien, die bei der Schich­ Faktoren und Klassenbewußtsein bzw. empirischem Arbeiter­
tungsanalyse der Lohnarbeiter die Angestellten einbeziehen, bewußtsein (vgl. Korsch 193 3)16 dürfte unbestritten sein, daß
vernachlässigen die geschlechtsspezifische kumulative Aus­ die ökonomische Erfahrung« der Arbeiterklasse eine der ent­
beutungssituation der Frauen, die den weitaus größten Anteil scheidenden, wenn nicht die entscheidende Determinante ihres
der schlechtbezahlten und unqualifizierten Angestellten im Bewußtseins ist. ökonomische Erfahrung umfaßt jedoch nicht
Zirkulations- und Staatsbereich stellen.14 Momente statusillu­ nur die Ebene kurzfristiger zyklischer Konjunkturveränderun­
sionären Bewußtseins aus der Doppelverdiener-Situation und gen, sondern auch die Ebene säkularer Tendenzen. Es muß
Gleichgültigkeit gegenüber dem Lohnarbeiterschicksal aus daher berücksichtigt werden, daß der im folgenden analysierte
der marginalen Lohnarbeitssituation, die immer wieder (real Zusammenhang von öktnomischer Erfahrung und Momenten
oder illusionär) den Rückzug in die Reproduktionsarbeit im des Arbeiterbewußtseins wesentlich im Rahmen mittelfristiger
Familiensystem erlaubt, beeinflussen die Reaktionen und Ver­ Entwicklungstendenzen weniger Jahre bleibt. Gerade bei Zeit­
haltensweisen der weiblichen Angestellten in einer Weise, die horizonten dieser Art ist die organisatorische Vermittlung und
durch klassentheoretische und arbeitssoziologische Katego­ Zusammenhang von ökonomischer Erfahrung und Momenten
rien allein nicht erfaßt wird. wie weit Krisen- und Prosperitätsphasen auf die Gewerkschaf­
4. Die Ebene des staatlichen Sektors: Die Einheit der Haupt­ ten, auf bestimmte Parteien, auf den Staat bezogen werden,
tätigkeitsbereiche der Angestellten, Zirkulationssphäre und oder wie weit sie als bloß naturwüchsiges Auf und Ab begriffen
staatliche Herrschaft, inhaltlich als »Funktionsgarantien des werden. Der Unterschied zwischen den beiden Ebenen ökono­

30 31
mischer Erfahrung ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil ganzem beziehen, nicht nur auf Teilbereiche und Teilaspekte.
unter säkularen Aspekten die gesamte bisherige ökonomische Insofern problematisiert die hier vorgeschlagene Analyse die
Geschichte der Bundesrepublik immer noch zu der Nachkriegs- These von Kern und Schumann (1973), solange der ökonomi­
Prosperitätsphase gerechnet werden muß, obwohl sich die sche Krisenmechanismus keine »katastrophischen« Formen
Tendenz zu Prosperität und Vollbeschäftigung unter den Be­ annehme, sei nicht die ökonomische Gesamtentwicklung rele­
dingungen staatlicher Stabilisierungseingriffe und, internatio­ vant für die Widersprüche, die Klassenbewußtsein produzie­
nal gesehen, permanenter Rüstungswirtschaft in Richtung ren können, sondern Einzelaspekte wie der Widerspruch zwi­
reduzierten Wachstums und hoher Inflationsraten wandelt. schen Entwicklungspotential und tatsächlicher Entwicklung,
Das Ende der Rekonstruktionsperiode bzw. des >Wirtschafts- zwischen Bildungsnormen und Arbeitsrealität, zwischen Kon­
wunders< hat einige der zugrundeliegenden Tendenzen geän­ sum- und Arbeitsnormen.19 Gerade das Theorem von der
dert, aber noch nicht die säkularen Kennzeichen der Epoche. relativen Deprivation verweist mit Recht darauf, daß die
Auch wenn die ökonomische Erfahrung der letzten Jahre be­ Erfahrungen der ökonomischen Entwicklung ein kulturelles
reits als Tendenz zum Wechsel von einer scheinbar krisenfreien und historisches Moment enthalten, das sie für die Entwick­
zu einer sich verschärfenden krisenhaften Entwicklung zu ver­ lung von Klassenbewußtsein wichtig macht, gerade auch
stehen ist, so handelt es sich auf der Ebene der Erfahrungen schon vor einer >katastrophischen< Wendung. Der Vergleich
doch nicht um eine solche einschneidende Zäsur. mit vergangenen Situationen oder anderen gesellschaftlichen
Gerade mit diesem Typ erfahrener Veränderungen hängt ein Gruppen, das Bewußtsein eigener organisierter Anstrengun­
Funktionszuwachs der Organisationen der Arbeiterbewegung gen, die sich in Erfolgen des Lohnkampfs niedergeschlagen
sowie des Staates zusammen. Wenn die ökonomische Konzes­ haben, und die sedimentierten Erwartungen und Ansprüche
sionsfähigkeit des kapitalistischen Systems in der gegenwärti­ definieren die Interpretation der Erfahrungen mit. Von daher
gen Phase abnimmt, zugleich aber Organisationen und Staat, rechtfertigt sich auch die Untersuchung von mittelfristigen
die ökonomische Ansprüche und Forderungen durchsetzen, >nichtkatastrophischen<, dennoch in den Krisenzusammen­
vermitteln oder garantieren sollen, an Gewicht zunehmen, hang eingebundenen Erfahrungen im Hinblick auf die Ent­
ergeben sich Potentiale für Loyalitätskrisen zwischen den wicklung von Interessenbewußtsein und - in einem zweiten
Lohnarbeitern und ihren Organisationen oder (und) dem Schritt - von Ansätzen politischen Bewußtseins.
Staat. Voraussetzung dafür ist allerdings eine instrumentelle, In unserer wie auch in anderen Untersuchungen läßt sich ein
d. h. nicht traditionell-loyale Einstellung zu diesen Organisa­ stark ausgeprägtes Bewußtsein von der Krisenhaftigkeit der
tionen und dem Staat zumindest bei den interessenbewußte­ gegenwärtigen ökonomischen Entwicklung feststellen, das
ren Teilen der Lohnarbeiter. Der greifbarste, auch empirisch über momentane und individuelle Erfahrungen hinausgeht.
faßbare Ausdruck solcher Potentiale von Vertrauenskrisen Der Glaube an eine naturwüchsige ungebrochene und stetige
wäre der Typ überschüssiger Erwartungen, von dem z. B. Tendenz zu Vollbeschäftigung und Einkommenssteigerung ist
Offe (1972) spricht17, wenn er darauf hinweist, daß bereits die seltener zu finden, als es die konkreten Erfahrungen der
Ideologie des geplanten Kapitalismus an sich die >Gefahr< pro­ Mehrheit der westdeutschen Arbeiterklasse ermöglicht hät­
duziert, daß einklagbare Rechte auf ökonomische Garantien ten. Die ökonomischen Ansprüche werden durch solche reali­
beansprucht werden und daher das Problem der Loyalitätssi­ stischen Erwartungen allem Anschein nach nicht gemindert.
cherung im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwick­ Eher schlägt das Bewußtsein durch, daß es kollektiver
lung permanent wird (Offe 1970)18. Anstrengungen bedarf, um heute —im Gegensatz zu früheren
Wir gehen davon aus, daß sich solche >einklagbaren Rechte< Perioden der Bundesrepublik - materielle Verbesserungen zu
und die an sie geknüpften Potentiale von Vertrauenskrisen erreichen. Diese materiellen Ansprüche sind bei den deutlich
tatsächlich auf die ökonomische Entwicklung des Systems als mteressenorientierten Lohnarbeitern höher, obwohl die

32 33
Tabelle 12 : Erfahrungen und Erwartungen zur Arbeitslosigkeit dings auch nicht relativ höher, so daß sie innerhalb der orga­
im >Nahbereich< (Betrieb, Lebensgeschichte) und im >Fern- nisierten Diskussion m der Arbeiterklasse (etwa in den
bereich< (Gesellschaft) Gewerkschaften) von sich aus in eine egalitäre Richtung wei­
Erwartung von Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit"'
sen würden. Insofern folgt die Verteilung der Anspruchsni­
veaus noch den etablierten Lohndifferenzierungen. Weder
Ja, Nein, werden diese explizit zurückgewiesen noch explizit bestätigt;
J a’ .
im Kapita­ Arbeitslosig­ Staat kann allenfalls ist die Vorstellung von recht hohen >Mindestein-
A rb e ite r N lismus keit ist Arbeitslosig­
keit
kommern, die wohl ein kulturelles Existenzminimum reprä­
unvermeid­ Unternehmer­
bar interesse verhindern sentieren sollen, ein Schritt in eine egalitäre Richtung. Wich­
% % % tig ist, daß die Verfolgung von Tagesinteressen in den Propor­
tionen und Relationen der traditionellen Lohndifferenzierun­
Rezessionsauswirkun- gen bleibt, also an die Fraktionierungen gebunden bleibt und
gen im Betrieb diese Fraktionierung sogar noch eine Verstärkung erfährt
19 6 6 /6 7 “ “' durch die Betonung des >modernen< Differenzierungskriteri­
Ja 3 74 42 32 27 ums der Qualifikation.
Nein 706 35 32 33
Was Forderungen betrifft, die über die traditionellen Lohn­
Erfahrungen mit
Arbeitslosigkeit''''“' forderungen hinausgehen, so kann zunächst kein Zweifel
Ja 339 36 36 29 daran bestehen, daß solche Forderungen >weitgehende< auch
Nein 989 38 3° 31 in dem Sinn von >zweitrangigen< sind: die Erreichung eines
Erwartung wirtschaft­ angemessenen Lohns, auch bei hohen Opfern wie gesundheits­
licher Schwierigkeiten gefährdender Arbeit Mangel an inhaltlichem Interesse und
im Betrieb“'“ “ “' langen Arbeitszeiten, hat Vorrang. Soweit jedoch die Lohn­
00

Nein 26 27

47 situation es erlaubt, werden Ansprüche auf gesunde Arbeits­


Ja 581 34 32 34
bedingungen und freie Zeit (s. Tabelle 4) mit großer Energie
vorgebracht.
Vgl. Tabelle 1.
** »Wenn Sie sich an die letzte Wirtschaftskrise 1966/67 erinnern: kam es Beteiligung am gesamtgesellschaftlichen Wachstum wird ge­
da in Ihrem Betrieb in größerem Ausmaß zu Lohnabbau, Kurzarbeit oder fordert, denn Löhne sollen im gleichen Maßstab steigen wie
Entlassungen?« Gewinne. Insofern soll wenigstens der Status quo der Verteilung
»Wenn Sie einmal zurückdenken, sind Sie jemals arbeitslos gewesen?«
»Ist Ihr Vater jemals arbeitslos gewesen?« (Nur bis 20jährige)
pragmatisch aufrechterhalten werden. Auch zu große Unter­
»Was würden Sie sagen: Halten Sie es für möglich, daß Ihr Betrieb in schiede (>Scheren-Entwicklungen<) im Nahbereich des eigenen
absehbarer Zeit einmal in ernsthafte wirtschaftliche Schwierigkeiten kommen Lagers der Lohnabhängigen werden kritisiert und Ansprüche
kann?« auf Gleichstellung etwa von Arbeitern und Angestellten ange­
meldet.
Was die Adressaten von Ansprüchen und Forderungen
Ansprüche gerade dann ein Moment von Realismus anneh­ ingeht, so gibt es zwar eine extrem hohe Zurechnung von
men, wenn sie zugleich organisatorisch als Forderungen - wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Funktionen an
etwa in gewerkschaftlichen Lohnkämpfen - gesehen werden Jen Staat, aber gerade die interessenbewußten Arbeiter und
können. Deferenz ist kaum festzustellen. Die Anspruchsni­ Angestellten richten Kritik und Forderungen eher an die
veaus der ökonomisch benachteiligten Schichten der Lohnar­ Unternehmer als an den Staat. Verantwortung für Preisstabi-
beiter sind keineswegs niedriger als die der anderen; aller­ -:tät, Steigerung des Lebensstandards, wirtschaftliches Wachs-

34 35
Tabelle i j : Stellungnahme zu gesundheitsgefährdenden Arbeits­ wie sie etwa in der Tarifautonomie zum Ausdruck kommt, bis
plätzen zu einem gewissen Grade die Ausgrenzung des politischen
Systems aus diesem Konflikt.
»In vielen Betrieben werden für schlechte und gesundheitsgefährdende Wir haben schon auf den Zusammenhang hingewiesen, der
Arbeitsbedingungen wie Hitze, Lärm, Staub usw. besondere Lohn­
nach unseren Ergebnissen zum Zeitpunkt der Befragung sub­
zuschläge bezahlt. Gibt es das auch in dem Betrieb, in dem Sie be­
jektiv zwischen ökonomischer Entwicklung und politischem
schäftigt sind?«
»Dazu kann man zwei gegensätzliche Meinungen hören. Die einen System bestand. Dieser Zusammenhang scheint uns exempla­
sagen: Man muß heute verlangen, daß solche schlechten und gesund­ risch zu sein für ein Stadium der Repolitisierung der Lohnab­
heitsgefährdenden Arbeitsbedingungen beseitigt werden, egal, was es hängigen und der erneuten Thematisierung der Einflüsse des
kostet. Die anderen sagen: Man muß dafür sorgen, daß die Lohn­ politischen Systems auf die Ökonomie. Die Jahre 1971/72 fal­
zuschläge für solche Arbeitsplätze kräftig erhöht werden. Welcher len in die Periode der Aktivierung der Lohnarbeiter in West­
Meinung stimmen Sie eher zu?« deutschland für die Regierungsbeteiligung der Sozialdemo­
kratie, eine Aktivierung, die erstmals sogar über die Partizi­
Erschwerniszulage im Betrieb pation an politischen Wahlen hinausgehen sollte (Aprilaktio­
nen 1972) (vgl. Bergmann 1972). Gleichwohl beeinflußt die
Arbeiter Gesamt Nein Ja Mit Gehalt aus- Sozialdemokratie die ökonomischen Interessenkämpfe kei­
kommen neswegs vom Klassen- oder Interessenstandpunkt der Lohnar­
gut schlecht
beiter aus; Lohnkämpfe versucht sie im Gegenteil eindeutig
(13 4 4 ) (469) ( 7 3 5 ) (2 I 2 ) (6 2 )
zu beschränken und zu disziplinieren. Die interessenbewuß­
Gesundheitsgefährdende ten Arbeiter, die in der Regel eine gewisse Loyalität gegen­
Arbeitsplätze über der Sozialdemokratie bewahren, sind daher gezwungen,
% % % % % bei der wertenden Zurechnung ökonomischer Entwicklungen
um jeden Preis beseitigen 61 70 56 57 45 und politischer Verantwortung selektiv zu verfahren, also nur
Zuschläge erhöhen 39 3° 44 43 55 positive erfahrene oder antizipierte Entwicklungen dem
Staat, und damit der Sozialdemokratie, zuzurechnen, für

tum und Sicherung der Arbeitsplätze werden ihm von einem


großen Teil, oft der Mehrheit der Befragten, zugeschrieben.
Tabelle 14 : Verantwortung für Preissteigerungen
Dennoch richten sich Kritik und Konflikte nicht gegen ihn,
was in erster Linie mit der parteipolitischen Identifikation »Wer ist nach Ihrer Meinung am meisten dafür verantwortlich, daß
des Staates mit der Sozialdemokratie seit 1969 zu tun hat. in den vergangenen Jahren die Preise ständig gestiegen sind - die
Regierung, die Gewerkschaften oder die Unternehmer?«
3.2 Interessengegensätze auf der Ebene von Staat und Politik
A rb e ite r A n gestellte
Re­ Ge­ Unter­ Re­ Ge- Unter­
Die Problematik permanenter Loyalitätssicherung unter den gie­ werk­ nehmer gie­ werk- nehmer
Bedingungen starker instrumenteller Erwartungen ist objek­ rung schaft rung Schaft
tiv eine der politischen, der staatlichen Ebene, die als Reak­
Parteipräferenzen: % % % % % %
tionszentrum auf die ökonomischen Ansprüche der Lohnab­
hängigen zu fungieren hat. Subjektiv jedoch verbürgt die Ab­ (904) 46 5 46 (371) 43 9 44
CDU (' 65) 62 (2 3 3 ) 60
grenzung zwischen politischem und ökonomischem System, D 23 18 21

3h 37
negative dagegen eine Zurechnung zu wählen, die eine von Tabelle 15 : Beurteilung der politischen Verhältnisse in der BRD
Loyalitäten ungebrochene Kampfperspektive ermöglicht
(etwa: Unternehmer). Ein gutes Beispiel ist die Verantwort­ »Uber die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutsch­
lichkeit für Preisstabilität, die von CDU-Sympathisanten land kann man sehr verschiedene Meinungen hören.
Sehen Sie sich bitte einmal diese Liste durch und sagen Sie mir bei
eher dem Staat zugerechnet wird als von SPD-Anhängern.
jeder einzelnen Meinung, ob Sie sie für eher richtig oder eher falsch
Die Einschätzung der Trends der ökonomischen Entwicklung halten.«
hängt mit der Parteipräferenz des Befragten zusammen; diese
Entwicklung wird demnach als beeinflußt von der Sozialde­ Arbeiter Angestellte
mokratie wahrgenommen. Die durch politische Loyalitäten D 344 ) (719)
verzerrte Bewertung gerät in Konflikt - allerdings zunächst % %
nur als >kognitive Dissonanz< - mit der ökonomischen M1I1- Letztlich bestimmt das Kapital, was in der Politik geschieht. Erst
tanz. Ein quasi >keynesianisches< Bewußtsein von der staatli­ wenn diese Oberklasse entmachtet ist, können wir eine richtige Demo­
chen Regelbarkeit des Problems der Arbeitsplatzsicherheit kratie aufbauen.
haben nur diejenigen Befragten (ein Drittel), die weder Eher richtig 63 47
ansatzweise militant gegen die Unternehmer argumentieren Eher falsch 33 3x
noch Arbeitslosigkeit fatalistisch oder resignativ hinnehmen; Weiß nicht/Keine Angabe 2 2
das sind eher Kundgebungen pragmatischen Sozialdemokra­
tismus als die Speerspitzen der Militanz. Bei der Mehrheit der Wir haben hier eine stabile Demokratie. Die beiden großen Parteien
entsprechen auch den Meinungen im Volk, und das ist gut so.
Arbeiter kann trotz SPD-Loyalität von einem sozialdemo­
kratischen Bewußtseim nicht gesprochen werden. Eher richtig 71 73
Wir können auch feststellen, daß Konsistenz und Problembe­ Eher falsch 26
27
wußtsein in bezug auf den staatlichen Einfluß auf die Ökono­ Weiß nicht/Keine Angabe 2 1
mie bestehen, was bei Fragen, die sich rein auf das politische
System beziehen, ganz kraß fehlt.
Wer etwa Vollbeschäftigungspolitik dem Staat zurechnet,
rechnet auch Einkommenssteigerung und (wenn auch weni­ die Bundesregierung nie selbst, sondern nur durch zustim­
ger) Preisstabilisierung zu seinen Aufgaben. Jedoch folgen dar­ mende Reaktion auf Daten1 der Sachverständigen-Gutachten
aus noch nicht deutlich wahrnehmbare Ansprüche. Nicht ein­ in Verteilungskonflikte eingegriffen hat. Zudem haben die
mal die Aussage, daß die Sicherung des Wirtschaftswachstums Wahlkämpfe 1969 und 1972 in einem Politisierungsklima
die wichtigste Aufgabe des Staates sei, wird in ein »einklagbares stattgefunden, das zumindest partiell den Zusammenhang
Recht< umgemünzt; auch sie bleibt auf einer kognitiven Ebe­ ökonomischer Interessen und politischer Organisation wieder
ne. Das spricht gegen überzogene Analysen und Prognosen thematisiert hat - aber nicht in der Weise, daß der Staat als
über die tendenzielle Politisierung der Ökonomie, die (wie Gegner in Verteilungskämpfen, sondern daß die Sozialdemo­
bei Offe) nicht von den historischen Erfahrungsprozessen der kratie als Interessenpartei der >Arbeitnehmer< und der von ihr
Arbeiterklasse ausgehen. Tatsächlich hat der Staat in Vertei- regierte Staat als potentieller Verbündeter verstanden werden
lungskämpfen faktisch immer noch selten und nicht sichtbar konnten. Daher wird plausibel, daß die ökonomische Funk-
interveniert. Es sei nur daran erinnert, daß die konzertierte rionszurechnung an den Staat zunächst auf einer kognitiven
Aktion« als institutionalisierter kooperativer Regelungsme­ Ebene bleibt und keine solchen Elandlungsperspektiven nahe-
chanismus eigentlich nur von 1966 bis 1969 wirklich funktio­ .egt, bei denen der Staat als Interessengegner gesehen wird.
niert hat, und daß von da an bis zu den Tarifrunden 1973/74 Daß eine solche Perspektive dennoch wirksam werden kann,

38 39
zeigt sich etwa darin, daß die Arbeiter (hier im Unterschied zu SPD als >Staatsträger< getragen, wenngleich auch diejenigen
den Angestellten) die Parteipräferenz eng an materielle Inter­ mit der SPD sympathisieren, die sich gegen lohnpolitische
essen binden (vgl. Tabelle 7). Sowenig wir interpretieren kön­ Intervention des Staates zur Vermeidung von Streiks stellen.
nen, daß der Staat bewußt als Interessengegner gesehen wird, so Wiederum kollidiert das Vertrauen in die regierende Sozial­
läßt sich doch konstatieren, daß kein konsistentes, geschlosse­ demokratie mit dem stärksten Ausdruck von Interessenorien­
nes, normativ unterstütztes Bild vom Staat und seinen Funk­ tierung, der spontanen Streikbereitschaft.
tionen und kein entsprechendes Demokratieverständnis eine Ähnliches gilt für die Einschätzung der Interessenorientierung
Barriere dafür bilden. der beiden großen Parteien: nur bei der Belegschaft des
Nur bei einer Minderheit schlägt sich die Wahrnehmung des Betriebs C, die im Chemiestreik 1971 eine militante Rolle
staatlichen Einflusses auf die Ökonomie in Forderungen nach gespielt hat, findet sich eine starke Teilgruppe, die beide
politischem Engagement der Gewerkschaften nieder; insofern Parteien als gleich schlechte Int^eressenvertreter der Arbeit­
ist die Trennung von politischer und ökonomischer Organisa­ nehmer ansieht — eben aufgrund ihrer konkreten Erfah­
tion relativ ungebrochen. Die wesentlichen Veränderungen lie­ rungen mit der Schlichtung gegen ihre Interessen nach dem
gen eine Stufe davor: die Identifikation mit sozialdemokrati­ Streik von 19 71.
scher Politik scheint stärker den säkularisiertem Motiven20 Als Fazit aus diesem Teil der Studie können wir unsere
aufzusitzen. Von der paradoxen Situation her, daß einerseits Vorstellungen davon präzisieren, wie ein Lernprozeß der
politische Erwartungen aktiviert, andererseits ihre Inhalte öko- Lohnarbeiter in Richtung auf eine Politisierung ihres Bewußt-
nomisiert und instrumentell definiert werden, erklärt sich auch
das in seiner Höhe unerwartete Vertrauen in staatliche Tabelle i j : Einstellung zur politischen Aktivität der Gewerk­
Schlichtung. Es wird wahrscheinlich vom Vertrauen in die schaften

»Manche meinen, die Gewerkschaften sollten sich nur um die sozialen


Tabelle 16 : Einstellung zu staatlicher Zwangsschlichtung Angelegenheiten der Arbeitnehmer kümmern; andere meinen, die
Gewerkschaften sollten auch in politische Auseinandersetzungen, wie
»Nehmen Sie einmal an, die Lohnverhandlungen zwischen Gewerk­
z. B. über die Notstandsgesetze oder andere politische Streitfragen,
schaften und Arbeitgebern sind gescheitert und eine friedliche Eni- aktiv eingreifen. Welcher Meinung sind Sie?«
gung ist nicht möglich. Sollte dann der Staat das Recht haben, den »Meinen Sie, daß die Gewerkschaften sich deswegen aus der Politik
Lohn von sich aus zu bestimmen, um einen Streik zu verhindern?« heraushalten sollen, weil sie sonst die Lohninteressen der Arbeitneh-
mer vernachlässigen? Oder meinen Sie, daß die Gewerkschaften
A rbeiter Angestellte
grundsätzlich die Politik der Regierung u:nd den Parteien überlassen
Ja Nein Unent­ Ja Nein Unent­
schie­ sollen?«
schie­
den den
Arbeiter Angestellte
Nur Lohn- Politik Nur Lohn- Politik
Streikbereitschaft: % % % % .% % interessen Sache der interessen Sache der
nein (280) 40 30 3° (3 2 9 ) 36 35 29 vertreten Regierung vertreten Regierung
ja (513) 38 40 22 (3 5 5 ) 35 43 23 u. Parteien u. Parteien
auch wild (419) 3° 46 25 ( 3 5 ) (20) (66) (14)
Streikbereitschaft % % % %
Parteipräferenzen: nein (197) 64 25 (261) 58 34
SPD 36 40 24 46 22 ja (623) 63 29 U ?8) 60 31
(9 ° 4 ) ( 3 7 i) 31
CDU 40 auch wild (139 ) 58 26 56 3°
U 5) 43 33 24 (233) 31 29 (27)

40 41
seins abläuft; Politisierung ganz vorläufig in dem Sinne einer gung der Lohnabhängigen22, hinzu.
—beschränkten — Einbeziehung der staatlichen Ebene in den Mit ihren tatsächlichen Abschlüssen hingegen tendieren die
Bezugsrahmen wahrgenommener Benachteiligung, Ansprü­ Gewerkschaften seit 1970 zur bloßen Reallohnerhaltung.
che und Forderungen verstanden. Wir können instrumentali­ Soweit dieses Ziel übertroffen wird, geschieht es durch die
stische Orientierungen als eine wesentliche, widersprüchliche übertariflichen Lohnanteile, die von den Unternehmen auf­
Etappe auf diesem Weg bestimmen. Quasi-normative Gren­ grund der Arbeitsmarktbedingungen auf der Basis betriebli­
zen zwischen Politik und Ökonomie werden nur noch von cher Abmachungen gezahlt werden. Allerdings unterscheiden
einer Minderheit vertreten; die Ablehnung etwa der Wahr­ sich die Gewerkschaften insofern von der Regierungspolitik,
nehmung politischer Funktionen durch die Gewerkschaften als diese inzwischen explizit die Erhaltung der Reallöhne zum
erfolgt genau aus materiell-instrumentalistischen Gründen. einzigen erreichbaren Ziel macht, während die Gewerkschaf­
Die Traditionsbarrieren im politischen System werden von ten sie nur durch die faktisch akzeptierten Abschlüsse sanktio­
instrumentellen Erwartungen aufgeweicht. Weiterhin funk­ nieren.
tionieren jedoch Sperren gegen konkrete Ubersetzungspro­ Aufgrund unserer Ergebnisse können wir die Frage nach den
zesse zwischen Politik und Ökonomie. Die zu erwartenden, aktuellen und potentiellen Spannungen auf zwei Ebenen stel­
ansatzweise in den fortgeschrittensten Streikbewegungen len: auf der Ebene der Ziele und auf der Ebene der Durchset­
sichtbaren Loyalitätskonflikte gegenüber dem Staat bedienen zungsaktivität.
sich vorerst gerade noch verstärkt der als abgegrenzt ökono­ Das im nur-gewerkschaftlichen Rahmen weitestreichende
misch verstandenen Organisationen und Konfliktinhalte. Ziel, Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums in Form
von Einkommen oder Vermögen, ist implizit als >reale Utopie<
3.3 Loyalitäten und Spannungen im Verhältnis zu den Orga­ in den Vorstellungen von angemessenem Einkommen, von
nisationen: Gewerkschaften und Sozialdemokratie Mindesteinkommen, in der Kritik hoher Einkommensdiffe­
renzen und in den fragmentarischen Vorstellungen von einer
Wir haben versucht, ein realistisches Bild von den Erwartun­ kapitalistischen Oberklasse enthalten. Allerdings weist nichts
gen und Ansprüchen >normaler< deutscher Angestellter und daraufhin, daß die Durchsetzungsmöglichkeiten für solche Vor­
Arbeiter zu gewinnen, von dem aus ein Urteil darüber stellungen ernsthaft reflektiert werden, daß hier von der Basis
möglich ist, welche Spannungen zu den Erwartungen und ein realer Zielkonflikt zu den Gewerkschaften gesehen wird.
Ansprüchen, zu den Programmen, Ideologien und Praktiken Ebenso steht es mit den Zielen, die über die traditionelle
der Organisationen, denen sie zum größten Teil vertrauen, Forderungslogik hinausgehen und neben Lohnforderungen
jetzt schon erklärbar oder in Zukunft antizipierbar sind. Hier oder zusätzlich zu ihnen die Abschaffung gesundheitsgefähr­
soll versucht werden, beide Momente miteinander zu kon­ dender Arbeit und mehr Freizeit fordern. Sie bleiben latent,
frontieren. was die gewerkschaftliche und politische Aktivität betrifft.
In der Lohnpolitik engagieren sich die Gewerkschaften im Das heißt aber umgekehrt —setzt man nicht einen extrem nor­
Einklang mit der Sozialdemokratie seit Beginn der Konzer­ mativen Begriff des Arbeiterbewußtseins voraus —, daß in politi­
tierten Aktion für die >Friedensformel< des Verteilungskon­ schen oder gewerkschaftlichen Mobilisierungssituationen (so­
flikts: Erhaltung des Reallohns, d. h. Entschädigung für die bald eine organisatorische Möglichkeit wahrgenommen wird,
Inflation, und proportionale Beteiligung am Produktivitäts­ vor deren Hintergrund solche Vorstellungen Sinn zu haben
fortschritt (Jacobi 1972)21. In ihrer Verbandsideologie, die scheinen und praktisch werden könnten) dieses Potential
zugleich von den Vertretern radikalerer Interessenpolitik manifest werden kann. Umfragen während der Zeit um die
unterstrichen wird, kommt das Ziel der Umverteilung, d. h. Bundestagswahl 1969 haben das drastisch illustriert.23
der schrittweisen Aufhebung der strukturellen Benachteili­ Die nächst>bescheidenere< Ebene, Erhaltung des Status quo

42 43
der Verteilung auf einer dynamisierten Basis, also mit Beteili­ ihre Interessen ganz ausdrücklich von den Gewerkschaften
gung am Wachstum, scheint weit eher als Anspruch mit orga­ nicht vertreten. Frauen mögen durch gewerkschaftlichen Ein­
nisatorischen Konsequenzen verankert zu sein. Die Gewinn­ fluß zunächst ihre spezifische Benachteiligung sogar weniger
entwicklung, nicht die Reallohnerhaltung, ist für die meisten wahrnehmen, was Konflikte mit den Gewerkschaften und
Lohnarbeiter die Grundlage für Lohnkämpfe. Die Gewerk­ innerhalb der Gewerkschaften erwarten läßt.27 Von ausländi­
schaftsführungen stellen daher meist in den letzten Jahren schen Arbeitern schließlich können wir aufgrund ihres Auf­
ihre Forderungen so auf, daß sie wenigstens die Produktivi­ tretens in den spontanen Streikbewegungen von 1973 (Ford)
tätssteigerung mit abdecken. Im wachsenden Widerstand ebenfalls annehmen, daß sie explizit, bewußt und in organi­
gegen Tarifergebnisse, die nur die Reallohnerhaltung sichern, sierbarer Weise über Zielvorstellungen der Gewerkschaften
oder nicht einmal soviel, kommt die Unzufriedenheit mit die­ hinausgehen.
ser Diskrepanz zum Ausdruck. Das hat sich in verschiedenen Schwieriger zu beurteilen ist das Potential der Spannungen
Urabstimmungsergebnissen der IG Metall, IG Druck und gegenüber der Sozialdemokratie als politischer Partei und
Papier, ÖTV gezeigt24, von denen freilich noch keines einer dem —derzeit von ihr geprägten und mit ihr identifizierten —
ausdrücklichen Vertragsablehnung, bedingt durch die sat­ Staat. Die Distanz zu >großer Politik< als einer Sphäre, die mit
zungsmäßige Notwendigkeit extrem hoher Mehrheiten, den täglichen Interessen der Lohnarbeiter nur einen vagen
gleichkam. Ein Versuch, bereits die Forderungen aufs Real­ Zusammenhang hat, ist als erstes zu konstatieren. Sie er­
lohnerhaltungsniveau zu beschränken, dürfte auf massiven schwert folgenreiche Kritik durch die immer noch geltende
Widerstand stoßen. affirmative Lostrennung des politischen Systems von den täg­
Im übrigen scheint sich bei den Lohnarbeitern nicht so sehr lich erfahrenen materiellen Interessen und erleichtert sowohl
gegen Ziele und Prioritäten der Gewerkschaften, sondern folgenlose Kritik wie folgenlose Zustimmung, sogar in einem
eher gegen ihre mangelnde Durchsetzungsaktivität für die Atemzug.
erklärten Ziele Kritik zu regen. Es gibt kaum bewußte und Immerhin liegt ein latentes Potential des gegen den Staat
explizite Zieldifferenzen zwischen Arbeitern und Angestell­ gerichteten Widerstands darin, daß die Verantwortung für
ten, zwischen Nichtmitgliedern und Mitgliedern, schließlich Preisstabilität, Steigerung des Lebensstandards, wirtschaftli­
zwischen Basis insgesamt und Funktionären. Von der Absiche­ ches Wachstum und (teilweise) Vollbeschäftigung dem Staat
rung der Effektivlöhne bis zur Vermögensbildung scheint die zugerechnet wird. Zwei zusammengehörige Ursachen — ein
Einstellung der Basis, soweit sie handlungsrelevant wird, nicht >Loyalitätsvorschuß< in Form generalisierter Erwartungen an
inhaltlich von der der Funktionäre zu differieren; vielmehr die regierende Sozialdemokratie und das bisherige geringe
geht es um die Entschlossenheit, diese Ziele auch durchzuset­ Ausmaß manifester Staatsintervention zum Nachteil der
zen. Nur wenige plädieren für eine verminderte Streikaktivi­ Lohnarbeiter —verhindern, daß sich militantes Interessenbe­
tät der Gewerkschaften selbst in einem Jahr (1971), in dem in wußtsein bereits gegen den Staat richtet. Aber auf der eher
Baden-Württemberg der ausgedehnteste Arbeitskampf seit kognitiven Ebene ist die Verbindung schon hergestellt; die
der Geschichte der Bundesrepublik ausgefochten wird. Eine normativen Barrieren zwischen Staat und materiellen Interes­
stabilitätskonforme Lohnpolitik in diesem Ausmaß dürfte von sen sind brüchig.
den Mitgliedern nicht passiv hingenommen werden. Davon Unter den Pressionen der gegenwärtigen wirtschaftlichen
zeugt auch der prophylaktische Widerstand der Bürokratien Entwicklung trifft die Sozialdemokratie auf das Dilemma
gegen eine Demokratisierung der Organisationen.25 nichteinlösbarer Wählererwartungen, die sie durch ihre poli­
Allerdings muß noch einmal auf die stärkeren Vorbehalte tische Programmatik selbst mit veranlaßt hatte. Gegenüber
hingewiesen werden, die bedeutsame Teile der Arbeiterklasse offen arbeiterfeindlichen Bekenntnissen der konservativen
den Gewerkschaften gegenüber haben: Jugendliche26 finden Regierungspartei in der Krise von 1966/67 (Schmidt 19 7 1)28

44 45
hatte sie sich zur Vollbeschäftigung als elementarer politischer ter sich für politische Aktivitäten der Gewerkschaften aus­
Selbstverpflichtung bekannt, die über die sonstigen wirt­ spricht, und zwar mit der ausdrücklichen Begründung, nicht
schaftspolitischen Ziele hinausging. Im Pragmatisierungs­ etwa von >großer Politik< Abstand halten zu sollen, sondern
zwang der eigenen commitments wurde in Regierungsdekla­ keine Vernachlässigung der materiellen (oder sozialpoliti­
rationen aus dem »Recht auf (den) Arbeitsplatz« ein »Recht schem) Interessen zu dulden.33 Ebenso gehen ökonomische
auf (einen) Arbeitsplatz«, der zunächst den Vorformen von Militanz und Enttäuschung über die materielle Interessenaffi­
Arbeitslosigkeit — Umsetzung, Umschulung, Dequalifizie- nität beider großen Parteien in einem unserer Schwerpunkt­
rung, kurzfristige Arbeitslosigkeit bei der Stellensuche im betriebe mit einem durchaus konventionellen Bild von Staat
Gegensatz zu struktureller und konjunktureller Arbeitslosig­ und Politik einher. Bevor eine Vorstellung vom Staat als Klas­
keit — Legitimität zu verschaffen versuchte. Schließlich will sengegner entsteht, muß die objektiv gegen die Arbeiterklasse
die zunächst im Schutz des nicht offen parteilichen Experten- gerichtete Politik von den spezifischen Parteien getrennt
tums vorgetragene Parole von der >Reprivatisierung des wahrgenommen werden. In der Bundesrepublik ist das um so
Beschäftigungsrisikos< ganz im wörtlichen Sinne diesen schwerer, als die Identifikation eines >starken Staats< und öko­
Anspruch auf staatlich gesicherte Arbeitsplätze auf der pro­ nomischer Prosperität mit der konservativen Partei über
grammatischen Ebene wieder zurücknehmen. Angesichts der lange Jahre hin möglich war. Von daher erscheint /feilen der
Rigidität dieses Themas in der proletarischen Erfahrung, die Arbeiterklasse eine Kritik an der Sozialdemokratie durch
über individuelle biographische Zusammenhänge hinaus­ politischen Rechtsruck nicht absurd.
geht29, ist diesem Pragmatisierungsversuch wahrscheinlich Am ehesten kann das politische System wahrscheinlich noch
kaum Erfolg beschieden. diejenigen Egalisierungsforderungen der Basis erfüllen, die
Weit eher und deutlicher als die Gewerkschaften hat der sich wesentlich an den veralteten Statusunterschieden zwi­
sozialdemokratisch regierte Staat den Anspruch auf soziale schen Arbeitern und Angestellten festmachen —im Gegensatz
Symmetrie<, wie er noch während der keynesianischen Kon­ zu den Egalisierungsforderungen, die sich im Zusammenhang
junktursteuerungsversuche in der Wirtschaftskrise 1966/67 mit der Mobilisierung für Lohnkämpfe, wenn auch noch nicht
eine Rolle spielte30, von Umverteilungsvorstellungen und durch Gegen-Normen gestützt, den unterm Leistungsprinzip
schließlich sogar von der Vorstellung äquivalenter Preis-, formulierten Differenzierungsstrategien der Kapitalverwer­
Wachstums- und Lohnsteigerungen31 — den beiden Interpre­ tung entgegenstellen. Eine Modernisierung der arbeits- und
tationsmöglichkeiten, die der schillernde Begriff bot — ent­ sozialrechtlichen Differenzierungen entspricht den artikulier­
fernt. Da jedoch wenigstens die bescheidenere Version, näm­ ten Interessen der meisten Lohnarbeiter. Mit Vereinheitli­
lich das Äquivalent von Wachstum einerseits und Reallohn­ chung der Klasse hat sie noch wenig zu tun. Diese entsteht
steigerung andererseits, ein organisatorisch von den Gewerk­ eher als Resultat von militant, wenn auch zunächst partikular
schaften gestützter Anspruch geworden ist, sind die politi­ geführten Auseinandersetzungen um materielle Interessen, als
schen Loyalitätskonflikte absehbar, die entstehen, wenn auch daß sie schon Voraussetzung für solche Kämpfe wäre.
dieser Anspruch nicht mehr eingelöst wird. Freilich sind
innerhalb des Rahmens des politischen Systems Alternativen
nicht so leicht zu realisieren wie etwa im Bereich ökonomi­
scher Konflikte durch eigenständige Streiks anstatt gewerk­
schaftlich geführter. Eher ist ein Rückzug von der politischen
auf die ökonomische Sphäre plausibel, wenn ein derartiger
Loyalitätskonflikt ausgetragen t wird.32 Für diese Annahme
spricht ganz deutlich, daß nur eine Minderheit der Lohnarbei­
46 47
4- Zur Kontroverse um die normativen Bestimmungen traditionellen Rollentheorie35 ist auch Runcimans Bezugs­
des Arbeiterbewußtseins. gruppentheorie verpflichtet, die zwar das Problem der
Die Bedeutung von Ad-hoc-Legitimationen Bezugsgruppenwahl thematisiert, nicht mehr jedoch die
Genese oder die Veränderungsbedingungen der von den
jeweiligen Gruppen vertretenen Normen; die vollendete
4.1 Normative Orientierungen und Tagesinteressen Wahl der Bezugsgruppe hat die Anpassung des Individuums
zur Folge. Es geht in diesem Ansatz weniger um den Zusam­
Hinter den verschiedenen Erklärungsversuchen zu den Kon­ menhang von objektiver Situation und subjektiven bzw. nor­
stitutionsbedingungen des Arbeiterbewußtseins in der indu­ mativ orientierten Situationsdeutungen als vielmehr um die
striesoziologischen Forschung stehen die weitergehende Frage Bedeutung der normativen Komponente des Arbeiterbewußt­
nach Ansatzpunkten für gesellschaftsverändernde Praxis und seins und um deren analytischen Stellenwert selbst. Dieser
deren Träger sowie die Frage nach der Genese alternativer Ansatz betont den unausweichlichen Zwang, den Normen als
Handlungsorientierungen. In der Konsequenz dieser Frage­ Konstituentien des >Kollektivbewußtseins< einer Gesellschaft
stellung geraten die theoretische Bedeutung und der prakti­ oder im engeren Sinn einer Gruppe, als »soziale Tatsachen«
sche Verlauf von Fernprozessen der Arbeiterklasse in den (Dürkheim) auf das Bewußtsein und das Verhalten von Indi­
Brennpunkt der Diskussion. viduen ausüben.
Im Rahmen dieser Studie richtet sich die Problematisierung Im Komplex dieser subjektiv-handlungstheoretisch gerichte­
des Begriffes der normativen Orientierungen insbesondere ten Ansätze werden alle Aspekte des Bewußtseins und des
gegen zwei Versionen handlungstheoretischer Ansätze (vgl. sozialen Handelns der Arbeiter als über normative Muster der
Brandt 1973). Zum einen gegen einen subjektivistisch ver­ Wahrnehmung, Interpretation und Bewertung vermittelte
kürzten Ansatz, wonach Einstellung zur Arbeit, Arbeiterver­ dargestellt. Die Entstehung dieser Normen ist nicht nur über
halten und Arbeiterbewußtsein entscheidend geprägt sind den Produktionsprozeß vermittelt, sondern auch über die Ein­
durch vorgängige Orientierungen normativer Art, die auf flüsse außerhalb der Fabrik, über die sozialen Rollen der
normative Febenszentren außerhalb der Arbeitssituation bzw. Wohngemeinde, insbesondere der Familie. Goldthorpe u. a.
auf den Prozeß der vorberuflichen Sozialisation zurückver­ konstatieren die Auflösung >klassischer< Arbeitersubkulturen
weisen und von außen her an die objektiven Bedingungen der als dem Ort der Entstehung und der Vermittlung von Verhal­
Arbeitssituation herangetragen werden. Die objektiven tensnormen. In ihrer kritischen Wendung gegen den soziolo­
Bedingungen werden als bloß »limitierende Faktoren«34 der gischen Naturalismus< einer bruchlosen Kausalbeziehung zwi­
Einstellung zur Arbeit und Arbeiterbewußtsein dargestellt. Die schen objektiven Bedingungen des Arbeitsprozesses und sub­
theoretische Betonung liegt auf der subjektiven Interpretation jektiven Reaktionen darauf stellen sie ebenso unvermittelt
der sozialen Wirklichkeit durch die Arbeiter selbst. den Bereich der Reproduktion in den Vordergrund. Die
Zum anderen richtet sich die Kritik gegen objektivistisch >home-centeredness< des >affluent Worker< fungiert als nicht
verengte Ansätze der Theorie des sozialen Handelns, wonach abgeleitete Norm eines neuen Febensstils in einer Gesell­
die von Subjekten mitteilbaren Situationsdeutungen und schaft, deren relativ krisenfreie Expansion unterstellt wird.
Handlungsentwürfe auf quasiobjektive Verhaltensnormen Die Auflösung einer proletarischen Subkultur setzen Gold­
zurückzuführen sind. Sie gehen davon aus, daß über Sozialisa­ thorpe u. a. einer Angleichung von bürgerlichen und proleta­
tionsprozesse vermittelte Verhaltensnormen - historisch und rischen Familienstrukturen gleich. Die Veränderungen nor­
schichtenspezifisch unterscheidbar — Einstellungen und Ver­ mativer Orientierungen werden demnach nach dem Modell
haltensweisen der Individuen in ihrer lebensgeschichtlichen bürgerlicher Sozialisations- und Kommunikationsprozesse
Entwicklung voraussagbar beeinflussen. Diesem Konzept der vorgestellt. Dies birgt jedoch die Gefahr eines voluntaristi-

48 49
sehen Mißverständnisses, wonach Bewußtsein und Handlun­ vorherrschende Interpretationsschema den ambivalenten
gen zwar kognitiv oder lebensgeschichtlich bedingten, jedoch Charakter der instrumentalistischen Verhaltensorientierung
primär subjektiven Entwürfen entspringen. Die Übertragung hervor. Diese Einstellung, die auch Westergaard als Ausdruck
individualistisch-bürgerlicher Konzepte der Sozialisation in äußerster Entfremdung versteht, kann als Voraussetzung und
klassenspezifische Prozesse, die die Bildung einer kollektiven Bedingung für eine weitgehend fraktionierte Interessenver­
Identität zu verfolgen hätte, ist verfehlt. tretung privatistischer Ziele außerhalb der .Produktionssphäre
»Für die Massen der die bürgerliche Gesellschaft und die fungieren, und sie erfüllt diese Funktion, wenn die ihr
Privilegien der Bourgeois durch ihre Arbeit konstituierenden entspringenden Erwartungen für die Masse der Beschäftigten
Produzenten gab es von jeher nicht die Chance privater Indi­ eines Unternehmens annähernd erfüllt werden. Sie kann aber
viduation oder die der individuellen politisch-ökonomischen auch zur Auslösung radikal gegenläufiger Forderungen und
Emanzipation, die den Bürgern zuwuchs durch Privateigen­ zur Aufkündigung des stillschweigenden Konsenses führen,
tum, die Freisetzung von körperlicher Arbeit und den Schutz­ wenn die Kontrahenten des >Cash Nexus< nicht imstande sind,
bereich der Familie. Den abhängigen Klassen war die indivi­ die instrumentalistisch begründeten Erwartungen zu erfül­
dualistische Wahrnehmung ökonomischer und politischer len.38 Im Umkreis der instrumentalistischen Verhaltensorien­
Rechte unmöglich. Sie konnten sich weder als selbstbewußte, tierung liegt ein wichtiges politisches Potential, das von nor-
in der Öffentlichkeit agierende Citoyens, noch kontemplativ mativistischen Ansätzen vernachlässigt wird, da Handlungs­
als Privatleute verhalten. Ihre Emanzipation war und ist orientierungen bei seiner Ausbildung zunächst nur als Ad-hoc-
angewiesen nicht auf den Nachvollzug bürgerlicher, stets Legitimationen wirksam werden und deren Genese nicht
individueller Emanzipation, sondern auf eine Solidarität, die durch individualistische Sozialisationsmodelle beschrieben
sich nur über den Bereich der materiellen Produktion und werden kann.
Reproduktion, nicht losgelöst von ihm, bilden kann. [ ...] Die »Wird die Diskrepanz zwischen sozialer Realität und sozia­
Bestimmung emanzipativer Potentiale muß von der objekti­ len Orientierungsmaßstäben zu einem unübersehbaren Ele­
ven Lage der Klassen und Schichten, von denen die Rede ist, ment tagtäglicher Lebenserfahrung, so können historisch wei­
von ihren spezifischen Reproduktionsbedingungen, von den terführende Klassen-Lernprozesse in Gang kommen. Diese
ihnen durch offizielle Kommunikationsmittel oder durch die Lernprozesse, deren Inhalt die Gewinnung immer rationale­
jeweiligen Interessenorganisationen gebotenen oder sich rer Realitätsorientierungen ist, sind freilich keine automati­
anbiedernden Ideologien ausgehen. Denn diese bilden nicht sche Folge der neuen Verhältnisse. Die Erfahrung der neuen
nur Randbedingungen für die politischen Potentiale der in Verhältnisse ist nicht mehr und nicht weniger als eine Lern­
den verschiedenen Klassen und Schichten geformten Charak­ provokation, der die soziale Bewegung folgen kann, aber
terstrukturen.«36 nicht folgen muß. Diese Erfahrung konstituiert gewisserma­
In den fortgeschrittenen Ländern des Kapitalismus bilden ßen die Nachfrage nach neuen Orientierungen. Ob diese aber
nicht Konflikte aus widersprüchlichen Verhaltensnormen angeboten werden, hängt vom Vorhandensein geeigneter
Ausgangspunkte für politische Lernprozesse, sondern die Kommunikationssysteme und theoretisch wie kommunikativ
zunehmend instrumenteilen Orientierungen, die Goldthorpe weiter fortgeschrittener Personen und Verbände ab.«39
u. a. konstatieren, wie sie in Forderungen bei Tageskämpfen Gegenüber den referierten Ansätzen ist die für die Aktivitä­
von verschiedenen Teilen der Arbeiterklasse zum Ausdruck ten der Arbeiterklasse spezifische Bedeutung der Tages­
kommen. Gerade das Zerbrechen traditioneller normativer kämpfe zu betonen und damit das Moment der Organisation,
Orientierungen kann Voraussetzung interessenorientierten, der kollektiven Erfahrung, das bereits- auf einem niedrigen
politisierbaren Verhaltens sein.37 Niveau der bewußt ausgetragenen Klassenantagonismen
Westergaard (1970) kehrt gegen das bei Goldthorpe u. a. praktische, nicht aber theoretische Schritte auf die Artikula­

5° 5i
tion von Klassenbewußtsein hin macht. Dabei wird die Situa­ gesellschaftlich generalisierten Begründungen gewählt wer­
tionsdefinition in der Form, wie sie durch das Kapital vorge­ den. Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und die Kampf­
geben ist, möglicherweise aufgenommen, etwa die Fraktionie­ bedingungen beeinflussen die Genese von Forderungen, d. h.
rungen der Lohnabhängigen oder die Forderungslogik in die historischen, nicht-normativen, im weitesten Sinn organi­
ihrer Begrenztheit auf Lohnforderungen und deren Form. satorischen Voraussetzungen, die sowohl die ökonomischen
Plausiblerweise besteht auch ein bloß instrumentelles Verhält­ Durchsetzungschancen (Konjunktur, Arbeitsmarktsituation,
nis zu den jeweiligen Rechtfertigungsargumenten für die politische Situation, Konsensgrad der >öffentlichkeit<) und
Tagesförderungen, sie orientieren sich an den Durchsetzungs­ die bisherigen Erfahrungen mit dem ökonomischen System
chancen. (Krise oder Prosperität) umfassen, wie auch die Kampferfah­
Nicht in der Form der Überlieferung alternativer Kommuni­ rungen der betreffenden Sektoren der Arbeiterklasse (Streik­
kationszusammenhänge durch Dritte (z. B. Verbände), auch tradition, bisherige Erfolge und Niederlagen) und die organi­
nicht im Konflikt alter und neuer Normen im Sinne internali- satorische Stärke (militante Kader, Organisationsgrad etc.).
sierter, sozial sanktionierter Verhaltensmuster liegt die Diese Bestimmung ist zugegebenermaßen sehr weit. Sie ver­
Bedeutung von Tageskämpfen. Vielmehr liegt sie in der orga­ sucht sich abzugrenzen gegen einen ökonomischen Deter­
nisierenden Wirkung (der Aufhebung der Konkurrenz zwi­ minismus auf der einen Seite, der die Kämpfe der Arbeiter­
schen den Arbeitern) und in der Entstehung von Erfahrungen klasse unvermittelt aus den ökonomischen Angriffen des
der eigenen Stärke gegenüber dem Klassengegner und der Kapitals auf den Wert der Arbeitskraft abzuleiten sucht, und
Möglichkeit von Tageserfolgen, also einer praktisch folgen­ gegen die normativistische These, daß eine kampfbereite und
reichen kollektiven Identität. Dieses Modell des praktisch­ -erfahrene Arbeiterklasse konstituiert werde durch abwei­
organisatorischen Lernens steht dem des theoretischen Ler­ chende >Normen< im Gegensatz zu einer ohne solche Kampf­
nens in Form von Bildungs- und Aufklärungsprozessen erfahrungen und -bereitschaft.
zunächst einmal als theoretisches Modell gegenüber. Dabei ist In der Kritik des ursprünglichen, weitgehend auf Runciman
klar, daß es sich hier um eine dem tatsächlichen Sachverhalt (1966) bezogenen normativen Ansatzes der Studie wird
gegenüber unzulässige Zuspitzung insofern handelt, als natür­ unterschieden zwischen Normen, die sich von einem, wenn
lich Einstellungen, die die Festigkeit und sozialpsychologi­ auch impliziten, Gesellschaftsbild herleiten und auf die
schen Charakteristika von Normen haben, auch in Tages­ Dimension sozialer >Ungleichheiten< zwischen verschiedenen
kämpfen eine Rolle spielen mögen. Worauf es hier ankommt, Klassen abzielen, und Ad-hoc-Legitimationen, die bestimmte
ist, aus den Notwendigkeiten des Tageskampfes, der in der Forderungen bzw. Ansprüche in einer bestimmten sozialen
Klassensituation der Arbeiter selbst begründet ist, die Ten­ Situation begründen sollen. Die Normen des Gesellschaftsbil­
denz zur Instabilität, zum instrumentellen Charakter der vor­ des lassen sich u. a. in der Dimension Egalisierung-Statusdif­
gebrachten Legitimationsmuster selber abzuleiten und damit ferenzierung eintragen, die forderungslegitimierenden An­
eine prinzipielle Kritik an der normativen Variante, an einem spruchsmuster dagegen in der Dimension geringer oder gro­
subjektivistischen oder abstrakt-aufklärerischen Mißver­ ßer Abstände vom Status quo. Sie beziehen ihre Relevanz aus
ständnis der Analysen zum Arbeiterbewußtsein zu leisten. dem Grad der Handlungsbereitschaft und den faktischen
Unser Argument ist, daß nicht Veränderungen >normativer Durchsetzungschancen für bestimmte Ziele. In beiden Berei­
Orientierungen< das Kampfpotential der Klasse im Tages­ chen der Orientierung verknüpfen sich Einflüsse der herr­
kampf verändern, sondern daß umgekehrt die Erfahrungen schenden Meinung mit denen schichtspezifischer Lebenszu­
des Tageskampfes und die dort oft unmittelbar vorgegebenen sammenhänge. Ad-hoc-Legitimationen beruhen jedoch auf­
Kampfziele bestimmen, welche Legitimationen aus einem grund ihres impliziten Konsenszwanges eher auf herrschen­
vorhandenen >Arsenal< von schichtspezifischen oder auch den Standards als >Gesellschaftsbilder<, die sich an einem Soll­
5* 53
zustand orientieren. Normative Orientierungen, die aus letz­ auch die Legitimationen der Tageskämpfe sich von ideologi­
teren folgen (sich z. B. in Gesetzestexten oder Verbandsideo­ schen Momenten des herrschenden Bewußtseins befreien.
logien sedimentieren), setzen sich in der Regel auch gegen die
eigenen Interessen der Handelnden durch. Ad-hoc-Legitima­ 4.2 Fraktionsinteressen versus klassenbewußte soziale Wahr­
tionen dagegen sind Kampfbegriffe und damit >Einbahnstra- nehmung
ßen< der Interessenvertretung, deren Generalisierung nur so
weit wie ihre Konsensfähigkeit unter den Beteiligten reicht. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie lassen sich dahinge­
Die ad hoc vorgebrachten Legitimationen des Tageskampfes hend zusammenfassen, daß für die Wahrnehmung und Beur­
sind in der Regel zumindest in der Vergangenheit in teilung sozialer Ungleichheiten die Orientierung an Normen
bestimmten Gruppen oder Schichten Normen im emphati­ nur dann folgenreich ist, wenn mit der Situation objektiv
schen Sinne gewesen oder'sind es z. T. heute noch, aber nicht gegebene und subjektiv wahrgenommene Handlungsperspek­
notwendig bei den Teilen der Arbeiterklasse, die sie im Sinne tiven verknüpft sind. Wo dies nicht der Fall ist, werden herr­
ihrer Interessendurchsetzung gebrauchen, so etwa das Lei­ schende Normen affirmativ verwendet. Wir haben diesen
stungsprinzip, das Prinzip des Äquivalententauschs, der Zusammenhang in der Unterscheidung der Beurteilung sozia­
Gleichheit etc. Es ist auch für den politischen Lernprozeß ler Ungleichheit in gesamtgesellschaftlicher Dimension und
nicht unwichtig, ob die Arbeiterklasse heute ihre Forderungs­ im Nahbereich dargelegt. Die wahrgenommene soziale
logik begründet aus dem normativen Arsenal bürgerlicher Ungleichheit hat nicht unmittelbaren Einfluß auf das eigene
Ideologie oder aber aus schichtspezifischen Kommunikations­ Anspruchsniveau oder auf die Beurteilung der eigenen Situa­
prozessen (Solidarität, Kollektivismus). Jedoch wechseln die tion, vielmehr bestimmen realistische Handlungsspielräume
Begründungen eher mit dem Niveau der Kämpfe als umge­ deren Beurteilung.
kehrt; d. h. die Forderungslogik ist nicht unmittelbar identisch Eine deutliche Beziehung besteht zwischen der Bewertung
mit den vorgetragenen Begründungen, sondern kann durch­ sozialer Ungleichheiten und der spezifischen unterschiedli­
aus überschüssige Momente enthalten. Diese können retardie­ chen Interessenlage der verschiedenen lohnabhängigen Grup­
rende Reste von Normen aus der beherrschten Öffentlichkeit pen. Die Beurteilung sozialer Ungleichheiten folgt weitge­
sein oder über diese hinausweisende Elemente einer veränder­ hend den partikularen Interessen der unterschiedlichen
ten, proletarischen Öffentlichkeit. Bezugsgruppen der Befragten, nicht einem allgemeinen nor­
Worauf es in den bisherigen Argumenten ankommt, ist, den mativen Konsens. In den Fragen um normative Kriterien lei­
Begriff der Lernprozesse des Proletariats nicht zu psychologi- stungsgerechter Bezahlung z. B. neigen die Befragten dazu,
sieren oder zu intellektualisieren, sondern Lernprozesse als die Kriterien von Arbeit zum Maßstab der Entlohnung zu
praktische zu begreifen, die im kollektiven ökonomischen erheben, die ihrer eigenen Arbeitssituation am ehesten ent­
Klassenbewußtsein< zunächst nur eine notwendige Vorausset­ sprechen und die eigene Tätigkeit gegenüber anderen abgren­
zung darstellen für die Bildung von politischem Klassenbe­ zen; d. h., daß sich die verschiedenen Gruppen der Lohnab­
wußtsein, nicht aber Elemente des letzteren schon als Bewe­ hängigen unterschiedlicher Leistungsbegriffe bedienen, um
gungsgrundlagen des ökonomischen Kampfes aufzufassen. ihre voneinander abweichenden Bewertungen der Einkom-
Die Beliebigkeit, die der Begriff der Ad-hoc-Legitimation mensdifferezen zu legitimieren.
impliziert, richtet sich vor allem gegen die im Konzept Die Stabilität fraktionsspezifischer Wertungen und Legiti­
normativer Orientierungen unterstellte Tendenz zur Kon­ mationsmuster ist abhängig von der Eindeutigkeit der
stanz, Verinnerlichung, Konsistenz und Verankerung im Abgrenzung der eigenen Interessenlage gegenüber einer Ver­
Sozialisationsprozeß. Es ist perspektivisch für die Entwick­ gleichsgruppe und von der Homogenität der eigenen Bezugs­
lung von Klassenbewußtsein von höchster Bedeutung, wie weit gruppe. Es gibt in der Studie einige Hinweise dafür, daß durch

54 55
Tabelle 18 : >Normative< Kriterien leistungsgerechter Bezahlung Formen kollektiver Interessenvertretung die Grenzen frak­
nach Qualifikationen und Belastungen bei der Arbeit tionsspezifischer Interessen und Ansprüche von verschiedenen
Lohnabhängigengruppen überschritten und ihre Interessen
»Heute ist soviel von Leistung die Rede. praktisch vereinheitlicht werden. Im Zusammenhang der
Was meinen Sie, welche Art von Leistung sollte in der Bezahlung am
Beurteilung bestehender großer Einkommensunterschiede in
meisten anerkannt werden?«
Anstrengung und Einsatz bei der Arbeit
der Gesellschaft allgemein und der Einkommensdifferenzen
Fertigkeiten und Kenntnisse bei der Arbeit zwischen Arbeitern und Angestellten zeigen die Antworten,
Beruflicher Erfolg und Weiterkommen daß die Befragten in dem Maße, wie sie die generellen
Weiß nicht/Keine Angabe Einkommensunterschiede für nicht gerechtfertigt halten, auch
die Einkommensdifferenzen zwischen Arbeitern und Ange­
Arbei- Ange- Arbeiter Angestellte
ter stellte Un- u. Fach- Untere Mitt- Höhere
stellten kritisieren.
Gesamt Gesamt Ange- arbei- lere
lernte ter
(1344) (719) (477) (724) (155) (366) (132)
Tabelle 19 : Einkommensunterschiede: allgemein und zwischen
% % % % % % % Arbeitern und Angestellten

Kriterien leistungs­ »Alles in allem betrachtet, halten Sie es für gerechtfertigt, wenn Ange­
gerechter Bezahlung: stellte im allgemeinen mehr verdienen?«
Anstrengung 29 22 38 24 27 21 20 »Wie Sie vielleicht wissen, gibt es bei uns in der Bundesrepublik recht
Fertigkeit 62 66 54 68 60 67 67 große Unterschiede im Einkommen. Meinen Sie, daß diese Unter­
Erfolg 9 12 7 8 14 12 U schiede im Einkommen im 'großen und ganzen berechtigt sind oder
nicht?«
»Was sind die guten, was sind die schlechten Seiten Ihrer Arbeit?
Haben Sie . . . Beurteilung des höheren Verdienstes der Angestellten:
a) . . . eine interessante Arbeit oder eine wenig interessante Arbeit?« Arbeiter Angestellte
b) . . . eine körperlich anstrengende Arbeit oder eine körperlich wenig gerecht- nicht gerecht- nicht
fertigt gerechtf. fertigt gerechtf.
anstrengende Arbeit?
(385) (945) (503) (2° 8)
Körperliche Anstren- Interessantheit
gung bei der Arbeit bei der Arbeit Rechtfertigung bestehen-
Ja Nein Ja Nein der großer Einkommens­
unterschiede :
Arbeiter: (694) (646) (365) ( 977 ) % ' % % • %
% % % % berechtigt 54 33 61 40
Anstrengung 37 22 26 40 nicht berechtigt 46 - 67 39 60
Fertigkeit 56 68 65 52
Erfolg 8 9 9 8

(623)
4.3 Der Zusammenhang von sozialer Wahrnehmung und
Angestellte: ( 9 2) (649) (69)
%
Veränderungschancen
% % %
Anstrengung 26 21 21 33
Fertigkeit 59 67 67 55 Die Bewertung genereller sozialer Ungleichheit durch die
Erfolg U 12 12 12 Arbeiter ist relativ homogen kritisch, die Angestellten dage­
gen unterscheiden sich stärker nach Qualifikation. In beiden
56 57
Gruppen jedoch verbindet sich Streikbereitschaft mit stärke­ (für vorsichtigere Streikpolitik, Streiks schaden der Wirt­
rer Kritik an sozialer Ungleichheit. Befragte, die die Topoi schaft), durchaus ihre faktische Militanz. Diese bildet sich auf
>geistige Arbeit< und >Verantwortung< als Legitimations- und der >normativen< Ebene kaum ab.
Abgrenzungskriterien zwischen Arbeitern und Angestellten Ähnlich hat sich in den Untersuchungen von Goldthorpe
ablehnen, sind charakterisiert durch Streikbereitschaft, u. a. und Runciman die Militanz der englischen Arbeiterklasse
Gewerkschafts- und SPD-Nähe. Mit sozioökonomischen kaum in den Fragen zum Gesellschaftsbild niedergeschlagen.
Variablen wie Einkommen, Lebensstandard, sozialer Her­ Die Kritik an der sozialen Situation des Umfrageinterviews
kunft u. ä. gehen keine so deutlichen Unterscheidungen ein­ konvergiert hier mit der Kritik am handlungstheoretisch
her wie mit organisatorischen Interpretationen und konflikt­ beschränkten Ansatz. Umgangssprachlich kommunizierbare
geschichtlich generierten Einstellungen. gesellschaftliche Normen, zumal wenn sie außerhalb konkre­
Der Charakter der Legitimationsmuster, mit denen Lohnab­ ter kollektiver Kampfsituationen geäußert werden, haben
hängige ihre partikularen, individuellen wie gruppenspezifi­ wohl nur bei den Teilen der Arbeiterklasse Bedeutung, die
schen, Interessen und Ansprüche begründen, als Ad-hoc-Legi- systematisch dem Einfluß schichtspezifischer Artikulations­
timationen verweist auf die prinzipielle Brüchigkeit der Frak- prozesse, etwa als Funktionäre in der Gewerkschafts- und
tionierungsstrategien des Kapitals. Der politischen Aufhe­ Parteiarbeit, ausgesetzt sind. Bei den übrigen wird eben das
bung der Schranken zwischen den Fraktionen der Arbeiter­ herrschende Bewußtsein reproduziert, freilich nicht bruchlos,
klasse in Kämpfen scheinen keine stabilen normativen Orien­ sondern, soweit es sprachliche Standards dafür gibt, so sele-
tierungen entgegenzustehen, durch die die bestehenden sozia­ giert, daß es den eigenen Interessen nicht direkt widerspricht.
len Ungleichheiten subjektiv verankert wären. Die feststell­
bare Partikularisierung und Fraktionierung der Lohnabhängi­ 4.5 Tageskämpfe und kollektive Interessenorientierung
gen steht nicht im Widerspruch zur Möglichkeit, in Kämpfen
ihre Ziele und Forderungen zu vereinheitlichen.40 Ein Beispiel für die Inkonsistenz von Normen und Verhalten
sowie die Bedeutung von Kampferfahrung und Durchsetzungs­
4.4 Verbandsideologie und Gegen-Normen chancen für kollektive Interessenorientierung sind die Ant­
worten der Arbeiter aus den Schwerpunktbefragungen in der
In der Studie finden sich kaum Hinweise auf den Einfluß von Firma C, in der es in der Tarifrunde 1971 zu dreiwöchigen
gewerkschaftlicher Verbandsideologie41 als Quelle, abwei­ Streikaktivitäten kam. Sie wählen für Einkommensdifferen­
chender, kämpferischer Normen. Es hat sich gezeigt, daß die zierungen und Statuszuweisung durchgängig eher traditio­
befragten Arbeiter aus dem Metallbereich sich von denjenigen nelle Legitimationsmuster, was wenig zum Bild eines streik­
der anderen Branchen nicht signifikant in der Frage unter­ aktiven Betriebs mit politisch aktivem Vertrauensleute-Kör-
scheiden, welche normativen Kriterien für Lohnforderungen per und gewerkschaftsoppositionellen Strömungen zu passen
gelten sollten. Trotz relativ kämpferischer Formulierungen scheint. Diese traditionellen Muster machen die befragten C-
und Forderungen der IG Metall meinen sie ebensowenig wie Arbeiter stärker als die in den vergleichbaren Betrieben A
die Befragten anderer Branchen, daß Lohnfragen Machtfragen und B für die Berechtigung von Einkommensunterschieden
seien, und die Bauarbeiter stehen ihnen gegenüber nicht zurück innerhalb der Lohnarbeitergruppen, aber auch für die Unter­
in der Orientierung der Lohnforderungen am Gewinn. Dage­ schiede in der Gesellschaft allgemein geltend ebenso wie für
gen spiegelt sich in der Beurteilung der Streikaktivität der die Gültigkeit des Leistungsprinzips.
Gewerkschaften durch die Metallarbeiter, nämlich in der star­ Aus diesen Antworten läßt sich interpretieren, daß zwischen
ken Stellungnahme für die bisherige Streikhäufigkeit und in der Zustimmung zu Normen sozialer Gerechtigkeit und öko­
der Ablehnung des Arguments von der englischen Krankheit< nomischer Militanz kein transparenter Zusammenhang

58 59
besteht. Politisches Bewußtsein im Sinne einer konkreten Kri­ Literatur
tik etwa an der Sozialdemokratie und der Gewerkschaft, wie Beckenbach, H., H.-J. Braczyk, S. Herkommer, T. Malsch, R. Seltz, H. Stück,
sie von den C-Arbeitern stärker als von denen der Vergleichs­ Klassenlage und Bewußtseinsformen der technisch-wissenschaftlichen Lohnar­
betriebe geäußert wird, geht offenbar zusammen mit ökono­ beiter, Frankfurt 1973.
Bergmann, J., Lehrstück in Bonn, in: express international, 16. Mai 1972.
mischer Militanz, nicht jedoch kritisches Bewußtsein von Ders., Neues Lohnbewußtsein und Septemberstreiks. In: Gewerkschaften
gesellschaftlichen Normen im Sinne einer aufgeklärten oder und Klassenkampf, hrsg. von O. Jacobi, W. Müller-Jentsch u. E. Schmidt,
reflektierten Einstellung zu herrschenden Normen wie dem Frankfurt 1972.
Bergmann, J., O. Jacobi u. W. Müller-Jentsch, Gewerkschaften in der BRD,
Leistungsprinzip und zur Statusdifferenzierung.
Frankfurt 1974 (mim., Institut für Sozialforschung), Teil I.
Die Beurteilung wahrgenommener sozialer Ungleichheit Bock, G., Vorbemerkung, in: S. Bologna, M. Cacciari, Zusammensetzung der
kann durch herrschende Normen oder von Ad-hoc-Legitima- Arbeiterklasse und Organisationsfrage, Berlin 1973.
tionen geleitet sein, je nach dem Erfahrungszusammenhang, Bologna, S., Composizione di classe e teoria del partito alle origini del movi-
in dem sie für den Befragten steht, und nach den Durchset­ mento consiliare. in: S. Bologna et ah, Operai e stato (1972), Milano 1973.
Brandt, G., Normative Orientierungen, Frankfurt 1973, unveröff. Manuskript.
zungschancen, die er für alternative Forderungen sieht. Wenn Cacciari, M., Über das Problem der Organisation in Deutschland 19 17 —19 2 1,
C-Arbeiter z. B. sich als Arbeiter für weniger benachteiligt (1972). In: S. Bologna, M. Cacciari, Zusammensetzung der Arbeiterklasse und
halten, wenn sie dagegen Angestellte eher für privilegiert hal­ Organisationsfrage, Berlin 1973.
v. Freyberg, Th., Die soziale Situation und die politischen Einstellungen von
ten und zugleich Kapitalisten deutlicher als privilegierte
jugendlichen Arbeitnehmern, Frankfurt 1973, Institut für Sozialforschung,
Gruppe wahrnehmen'als die Arbeiter in den Vergleichsbetrie- mim. Forschungsbericht.
ben, deutet das darauf hin, daß der Fernbereich sozialer Goldthorpe, J. H., D. Lockwood, F. Bechhofer, J. Platt, The Affluent Worker,
Wahrnehmung bloß kognitive, der erfahrungsnahe Bereich a) Vol. I: Industrial Attitudes and Behaviour (1968), 1970, b) VoL II: Poli­
dagegen auch normative Bedeutung haben kann. (Was Fern­ tical Attitudes and Behaviour (1968), 19 7 1, Vol. III: . . . in the Class Struc-
ture, 1969, Cambridge.
bereich ist, hängt wiederum von der Stufe der Klassenausein­ Flerkommer, S., Das Elend der Industriesoziologie, in: Sozialistische Politik,
andersetzungen ab.) fcebr. 1972.
In den Ergebnissen der Studie deutet wenig darauf hm, daß Hyman, FI. H., The Psychology o f Status, in: Archives o f Psychology, 1942.
die mehr von den Sozialisationsbedingungen abhängigen all­ Innere Reformen, Repräsentativ-Erhebung bei der erwachsenen Bevölkerung
der Bundesrepublik, durchgeführt im Auftrag des SPIEGEL-Verlages, Ham­
gemein-gesellschaftlichen Normen sich gegenüber den kon­ burg, Wiesbaden: IFAK, 1970 (mim.) (mit Sonderauswertung für das Institut
kreten Erfahrungen bei kollektiver Interessenvertretung für Sozialforschung).
durchsetzen. In anderen Worten: Diese normativen Orientie­ Jacobi, O., Einkommenspolitik kontra Lohnpolitik, in: O. Jacobi, W. Müller-
rungen scheinen, selbst wenn sie eher traditioneller Natur Jentsch, E. Schmidt, Gewerkschaften und Klassenkampf, Frankfurt 1972, Kri­
tisches Jahrbuch 1972.
sind, die Ausbildung kollektiver ökonomischer Interessen­ Ders., Wirtschaftliche Entwicklung und Tarifbewegungen 1972177, in: O.
orientierung und kritischen Bewußtseins gegenüber politi­ Jacobi, W. Müller-Jentsch, E. Schmidt, Gewerkschaften und Klassenkampf,
schen Institutionen nicht zu behindern. Umgekehrt scheinen Kritisches Jahrbuch 1973, Frankfurt 1973.
kritische Positionen gegenüber gesellschaftlichen Normen, Jaerisch, U., Zur Rezeption rechtsextremer Propaganda, Diss., Frankfurt
wie dem Leistungsprinzip, oder egalitäre Einstellungen un­ 1973 *
Kern, H., u. M. Schumann, Industriearbeit und Arbeiterbewußtsein, Frankfurt
verbunden neben größter Distanz zu ökonomischen und poli­ 1970, 2 Bde.
tischen Auseinandersetzungen zu stehen. Dies spräche dafür, Dies., Zum politischen Verhaltenspotential der Arbeiterklasse, in: K. Mesch-
sich künftig eher an einer historischen als an der normativen kat, O. Negt (Hrsg.), Gesellschaftsstrukturen, Frankfurt 1973.
Korsch, K., Über einige grundsätzliche Voraussetzungen für eine materialisti­
Variante der Debatte um die Konstitution von Arbeiter­ sche Diskussion der Krisentheorie (1933), in: Korsch, Mattick, Pannekoek,
bewußtsein zu orientieren: eine systematische Geschichte der Zusammenbruchstheorie des Kapitalismus oder Revolutionäres Subjekt, Berlin
Kampfzyklen der Arbeiterklasse bringt uns weiter als die I973’
Untersuchung ihrer Konzepte sozialer Gerechtigkeit. Kracauer, S., Die Angestellten (1929), in: Schriften, I, Frankfurt 19 7 1.

6l
Mauke, M., Die Klassentheorie von Marx und Engels, Frankfurt 1970. Anmerkungen
McKenzie, R., A. Silver, Angels in Marble - Working Class Conservatives in
Urban England, London 1968. 1 Bock 1973, S. 4.
Merton, R., Social Theory and Social Structure (1949), rev. New York, 1965. 2 Vgl. Bologna 1972, S. 26, zur sozialen Basis der Kommunistischen Partei
Mills, C. W., White Collar ( 1951), London u. a., Oxford 1970. und der Rätebewegung.
Offe, C., Klassenherrschaft und politisches System. Zur Selektivität politischer 3 Wir beschäftigen uns hier nicht mit der Frage, die Sohn-Rethel aufwirft
Institutionen, in: Strukturprobleme des kapitalistischen Staates (1972), Frank­ ('Geistige und körperliche Arbeit, 1970): ob nämlich durch die Verwissenschaft­
furt 1973. lichung und den damit wachsenden Vergesellschaftungsgrad der Arbeit die
Ders., Das politische Dilemma der Technokratie (1970), in: Strukturpro­ Bedingung der Möglichkeit für die gesellschaftliche und persönliche Einheit von
bleme des kapitalistischen Staates (1972), Frankfurt 1973. Kopf- und Handarbeit im heutigen Kapitalismus geschaffen ist (S. 95, 132, 163,
Parsons, T., The Structure o f Social Action, Glencoe 1949. 181). Denn diese objektive Entwicklung bleibt im Kapitalismus nicht nur dem
Popitz, PL, H. P. Bahrdt, E. A\ Jüres, H. Kesting, a) Das Gesellschaftsbild Bewußtsein, sondern auch der Arbeitsplatzsituation des einzelnen Arbeiters
des Arbeiters (1957)? Tübingen 1961. Dies., b) Technik und Industriearbeit, und Angestellten fremd (S. 172 f., 182).
Tübingen 1957. 4 Vgl. Cacciari 1972, S. 53 f.
Ritsert, J., u. C. Rolshausen, Zur Sozialstruktur der Bundesrepublik Deutsch­ 5 ln drei Großbetrieben der Chemischen Industrie - hier als A, B und C
land, in: J. Ritsert, Erkenntnistheorie, Soziologie und Empirie, Frankfurt gekennzeichnet —wurden Schwerpunktbefragungen durchgeführt, um die Ein­
stellungen im Zusammenhang mit ökonomischer Entwicklung und Konfliktge­
I97I- . ...
Roth, K. Ff., Die andere Arbeiterbewegung, München 1974. schichte analysieren zu können.
Runciman, W. G., Relative Deprivation and Social Justice, (1966) Harmonds- 6 S. 282.
worth 1972. 7 S. 333 f., 304.
Sohn-Rethel, A., Geistige und körperliche Arbeit (1970), Frankfurt^971. 8 S. 308 f.
Schmidt, E., Ordnungsfaktor oder Gegenmacht —Die politische Rolle der Ge­ 9 S. 106.
werkschaften, Frankfurt 19 71. 10 S. 43, 60-64.
Schmierer, J., Die neuen Mittelklassen und das Proletariat, in: Neues Rotes 11 Vgl. Mauke 1970, S. 119 , zum Verhältnis von zentralem gesellschaftlichen
Forum, Pieft 4, 19 71. Produktionsverhältnis und zugleich gesellschaftlicher Produktivkraft als inne­
Schumann, M., F. Gerlach, A. GschlössL u. P. Milhoffer, Am Beispiel der rem Widerspruch der Angestelltenarbeit.
Septemberstreiks - Anfang der Rekonstruktionsperiode der Arbeiterklassef 12 Mills 195 i,S . XVII.
Frankfurt 19 7 1. 13 Bd. I, S. 134-140.
de Tocqueville, A., Uancien regime et la revolution (1856), Paris 1952. 14 Vgl. Ritsert, Rolshausen 19 7 1, S. 14 1 f.
Touraine, A., Ea Conscience ouvriere, Paris 1966. 15 S. 14 1 f.
Vada, V., Egualitarismo salariale e comportamento operario, in: Contropiano, 16 S. 97 f.
Januar-April 1969. 17 S. 89.
Wedderborn, D., u. R. Crompton; Workers Attitudes and Technology, 18 S. 11 2 f.
Cambridge 1972. 19 S. 154-159-
Westergaard, J. Ff., The Rediscovery o f the Cash Nexus, ln: The Socialist 20 Vgl. McKenzie, Silver 1968, S. 164-167.
Register, 1970. 21 S. 128 f.
22 A.a.O., S. 124.
23 Vgl. Innere Reformen 1970. Von den befragten Arbeitern waren 22% für
die Verstaatlichung von Grund und Boden; 1 1 % der Arbeiter zwischen 18 und
24 Jahren stimmten dem Satz zu, die gegenwärtige Vermögensverteilung sei
»beinahe schon Grund für eine Revolution« (S. 2 13 , 168a).
24 Vgl. Jacobi 1973, S. 22.
25 Jacobi 1973, S. 28.
26 Vgl. v. Freyberg 1973, Kapitel 4.1.
27 Zu den in der Ungleichheits-Studie thematisierten, fast ausschließlich
ökonomischen Förderungen im engeren Sinne kommt hier der kulturelle, fami­
liäre und arbeitsorganisatorische Bereich hinzu. Hierzu die neue Studie des
Instituts für Sozialforschung, Bedingungen und Barrieren der gewerkschaftli­
chen und politischen Aktivität erwerbstätiger Frauen.
28 S. 62.

62 63
29 Auch die Abhängigkeit von der konjunkturellen Situation - vgl. Schu­ Annegret Kranier
mann u. a. 19 7 1, S. 5 3 —geht über die konkrete Erfahrung hinaus.
30 Vgl. Schmidt 19 7 1, S. 74 f.; Bergmann 1972, S. 178. Gramscis Interpretation des Marxismus
31 Gewerkschaften wie auch die Arbeiter überhaupt werden zunehmend
inflationsbewußt (Jacobi 1972, S. 130).
32 Ausführlich wird diese Problematik in dem Forschungsprojekt des Insti­
tuts für Sozialforschung über Politische Loyalität und gewerkschaftliche Orga­ Die Bestimmung des Verhältnisses von Basis
nisation der Arbeiterschaft in Westdeutschland untersucht; hier können nur
und Überbau als historischer Block<
erste Hypothesen wiedergegeben werden.
33 Vgl. Schumann u. a. 19 7 1, S. 59.
34 Goldthorpe u. a. 1968a, S. 186. Seitdem im Jahre 1947 mit der Publikation der Schriften
35 Vgl. z. B. Parsons 1949, und R. Merton. Antonio Gramscis begonnen wurde, hat die daraufhin einset­
36 Jaerisch 1973, S. 226 u. 227. zende lebhafte Auseinandersetzung um den italienischen mar­
37 Diese These gilt in dieser uneingeschränkten Form nicht für die Teile der
Arbeiterklasse, die traditionellerweise noch nicht voll dem Produktionsprozeß xistischen Theoretiker und Mitbegründer des PCI zu sehr
eingegliedert sind, wie die Frauen, deren Arbeitskraft in der Hausarbeit dem kontroversen Positionen geführt, die in ähnlicher Weise auch
Kapital noch nicht subsumiert ist; wie ausländische Arbeiter ländlicher in der —spärlichen und verspäteten —Gramsci-Diskussion in
Herkunft und Fehrlinge. Für diese Gruppen ist die Konfrontation mit neuen
Verhaltenszumutungen im Produktionsprozeß unmittelbar konfliktträchtig.
der BRD vertreten werden.1 Begünstigt werden diese diver­
3 8 Vgl. Wedderburn und Crompton 1972. Die Autorinnen weisen darauf hin, gierenden Interpretationen durch den fragmentarischen und
daß der begrenzte Aussagewert industriesoziologischer Untersuchungen, die vorläufigen Charakter der Schriften Gramscis, die zum über­
sich auf Befragungen stützen, im Hinblick auf zu erwartendes Verhalten m wiegenden Teil aus Aufsätzen und Notizen bestehen - den
dieser Instabilität instrumentalistischer Verhaltensorientierungen seinen Grund
Quaderni del carcere —, die zwischen 1929 und 1936 im
hat (S. 140).
39 M. Vester, zit. nach Kern, Schumann 1973, S. 147. Gefängnis ohne die üblichen wissenschaftlichen Hilfsmittel
40 Vgl. v. Freyberg 1973, S. 90. entstanden sind.
41 Als Verbandsideologie gelten hier alle für das Selbstbild und für die Im vorliegenden Aufsatz wird versucht, anhand der Darstel­
Repräsentation des Verbandes nach außen relevanten Situationsdeutungen und
programmatischen Forderungen, die in der Praxis des handelnden Apparates
lung des für Gramsci zentralen Begriffes des historischen
keine Entsprechung finden. (Vgl. Bergmann u. a. 1974, S. 246.) Blocks< und den sich hieraus ergebenden Bestimmungen zur
Klärung der Position Gramscis beizutragen und insbesondere
den verschiedentlich erhobenen Vorwurf des subjektiven
Idealismus bzw. Voluntarismus zurückweisen.

I. Kritik des Determinismus und Idealismus:


Marxismus als >Philosophie der Praxis<

Um die erkenntnistheoretischen Anschauungen Gramscis zu


verdeutlichen - Marxismus wird verstanden als eine Philoso­
phie der Praxis< —, soll kurz Gramscis Kritik an Idealismus und
Determinismus (exemplarisch in der Auseinandersetzung mit
Croce und Bucharin) referiert werden.
Gramsci geht von einer zweifachen Revision des Marxismus
in den zwanziger Jahren aus: einmal wurden von den ideali­
stischen Strömungen explizit oder implizit marxistische Eie--

65
mente aufgenommen (vgl. M , S. 205 f., P H , S. 2 59-)2, zum seine konkreten Momente, die nur Ergebnisse kontrastieren­
anderen bemühten sich die sogenannten >Orthodoxen< um der, ständig bewegter und nicht auf fixe Quantitäten zurück-
eine Interpretation und Weiterentwicklung der Marxschen führbarer Kräfte sein können, weil in ihnen Quantität immer
Theorie, die dazu führte, sie letztlich mit dem traditionellen in Qualität umschlägt.« (M , S. 135, C H , S. 221.) Das
Materialismus gleichzusetzen. (Vgl. M , S. 81, P H ,~ S. 184.) Operieren mit statistischen Gesetzen in der politischen Theo­
In seinen Notizen zu Bucharins T h e o rie des h isto risch en rie setzt hingegen voraus, daß die große Masse der Bevölke­
M a teria lism u s 3 kritisiert Gramsci den Versuch, den Marxis­ rung wesentlich passiv bleibt, während das Ziel politischer
mus auf eine am Modell der Naturwissenschaften orientierte Aktion gerade sein muß, »die Massen aus ihrer Passivität
Soziologie zu reduzieren, die den historischen und politischen herauszuholen, d. h. das Gesetz der großen Zahl zunichte zu
Tatsachen - indem sie sie nach bestimmten, ihnen äußerlichen machen.« (M , S. 127; P H , S. 213.)
Kriterien klassifiziert - »eine bloß mechanische Kohärenz
verleiht.« (M , S. 125; P H S. 2 11.) Bucharins Anspruch, die Die Aufspaltung der Marxschen Theorie in eine als Soziolo­
Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft experi­ gie konzipierte Theorie der Geschichte und Politik und eine
mentell aufstellen und exakte Prognosen über zukünftige Ent­ sie ergänzende Philosophie »im eigentlichen Sinn« - »der phi­
wicklungen geben zu können, kann nur auf der Grundlage des losophische oder metaphysische oder mechanische (vulgäre)
»vulgären Evolutionismus« zustande kommen, der die Materialismus« (M , S. 132; C H , S. 218.) - zeugt nach Gramsci
geschichtliche Entwicklung als qualitätslose Gleichförmigkeit von einem völligen Nichtbegreifen und Mißverstehen der
begreift und »das dialektische Prinzip vom Übergang der Bedeutung der Dialektik, »die von Erkenntnislehre und
Quantität in die Qualität nicht kennt.« (Ebd.) Marxistische Kernsubstanz der Historiographie und der Wissenschaft der
Theorie wird so auf eine mechanische Formelsammlung redu­ Politik zu einer Unterabteilung der formalen Logik und zu
ziert, »die den Eindruck vermittelt, man habe die ganze einer elementaren Scholastik degradiert wird.« (Ebd.) Wer
Geschichte in der Tasche.« (M , S. 126; P H , S. 2 11.) 4 die marxistische Theorie einer der traditionellen Philosophien
Damit soll nicht die Möglichkeit der begrifflichen Bestimmung unterordnet, begreift nicht, daß sie gerade die Aufhebung der
historischer Entwicklungen und Zusammenhänge verneint Philosophie bedeutet, ihre »konkrete Historisierung« in der
werden; die Leugnung einer »Theorie der Geschichte und Theorie der Geschichte und Politik. (Vgl. M , S. 13 3; P H , S.
Politik« würde zu einer neuen Form von Nominalismus füh­ 2 1 9 *) Trotz seiner ständigen Polemik gegen subjektivistische
ren (vgl. ebd.), der nicht in der Lage wäre, die geschichtliche und metaphysische Anschauungen bei der Frage der »objekti­
Bewegung in ihrer realen Dialektik zu erfassen. Aber Begriffe ven Realität der äußeren Welt« bleibt Bucharin selbst meta­
wie »Regelmäßigkeit« und »Notwendigkeit« bedeuten in der physisch befangen. Sein betonter Materialismus ist metaphy­
Marxschen Theorie nicht »die >Entdeckung< eines metaphysi­ sisch, weil er Materie als »prima causa«, als ungeschichtlich-ge­
schen Gesetzes des >Determinismus<« oder das Aufstellen gebene auffaßt. Gramsci verweist auf den religiösen Ursprung
eines »allgemeinen Kausalitätsgesetzes« (M , S. 100; P H , S. dieser Haltung, wenn er anführt, daß alle Religionen lehren
203.), das exakte Prognosen erlaubt. Vielmehr geht es darum, oder gelehrt haben, »die Welt, die Natur, das Universum
aufzuzeigen, wie sich auf der Grundlage einer wissenschaftlich seien von Gott vor der Erschaffung des Menschen geschaffen,
genau bestimmten Basis historisch bedingte, »relativ >perma- und folglich habe der Mensch die Welt fix und fertig, ein für
nente< Kräfte konstituieren, die mit einer gewissen Regelmä­ allemal katalogisiert und definiert vorgefunden.« (M , S. 138;
ßigkeit und einem gewissen Automatismus wirksam werden« P H , S. 224.) Im Historischen Materialismus - Gramsci betont,
und so eine bestimmte »Vorhersehbarkeit« der geschichtli­ daß der Akzent bei diesem Ausdruck auf historisch und nicht
chen Entwicklung gestatten. (Ebd.)5 »In Wirklichkeit kann auf Materialismus zu setzen sei (vgl. M , S, 1 $9.)6 —interessiert
man nur den Kampf >wissenschaftlich< vorhersehen, aber nicht Materie jedoch nicht »als solche«, im abstrakt-naturwissen­
66 67
schaftlichen Sinn7, sondern nur, soweit sie zu einem produkti abschaffen; aber gleichzeitig soll dabei das p o s itiv e D a sein der
ven »ökonomischen Element« wird, »als historisch und gesell­ außermenschlichen Realität nicht negiert werden, wie auch
schaftlich für die Produktion organisierte.« (M , S. 160; P H , S. nicht die ihr entsprechende Denkform des w issen sch a ftlich en
241.) —Gramsci verhält sich hier nicht, wie Riechers behaup­ Verstandes.«11
tet, »der Materie gegenüber als Agnostiker.«8 Das wäre der Gramsci stimmt mit Croce überein, wenn er betont, daß
Fall, wenn er »den Naturwissenschaften einen gemäß ihren philosophische Probleme durch die konkrete historische Ent­
Forschungsmethoden und -zielen >richtigen< Materiebegriff wicklung aufgeworfen werden. (M , S. 190; P H , S. 253.)
abstritte.«9 Er wendet sich vielmehr gegen einen »me­ Bucharins Position, bei dem die Geschichte der Philosophie
chanisch verstandenen Standpunkt äußerer Objektivität« (M, »zu einer geschichtlichen Abhandlung über die Lehre von
S. 142; P H , S. 227.) in d e r m arx istisch en T h eo rie, wo Materie Mißbildungen« wird (M , S. 145; P H , S.231.)12, ist deshalb
als materielle Basis zu verstehen ist, als »ökonomische Kate­ »ein wahres Residuum an Metaphysik, weil [sie] ein zu allen
gorie der menschlichen Praxis.« (M , S. 160; P H , S. 241.) Das Zeiten und in allen Ländern gültiges dogmatisches Denken
Verhältnis von Geist und Materie, Mensch und Natur darf voraussetzt, nach dessen Maßstäben die ganze Vergangenheit
nicht als unverbunden-dualistisches konzipiert werden, son­ zu beurteilen sei. Ungeschichtlichkeit als Methode ist nichts
dern als historisch wechselseitig vermitteltes. Für den Marxis­ anderes als Metaphysik. Die Uberholtheit philosophischer
mus »kann das Sein nicht vom Denken, der Mensch nicht von Systeme schließt nicht deren geschichtlich gültige und not­
der Natur, die Tätigkeit nicht von der Materie, das Subjekt wendige Funktion aus.« (Ebd.) Die von Croce postulierte Ein­
nicht vom Objekt losgelöst werden; führt man diese Trennung heit von Philosophie und Geschichte ist jedoch unvollständig,
ein, so verfällt man entweder in eine der vielen Formen von wenn sie »nicht auch zur Identität von Geschichte und Politik
Religion oder in sinnlose Abstraktion.« {M , S. 55 f.; P H , S. führt [. . •] und folglich zur Identität von Politik und Philoso­
phie.« (M , S. 2 17 ; P H , S. 268.) Diese Einheit kann es bei
i 7 6 -) j
Nach Riechers macht Gramsci den Marxismus damit zum Croce nicht geben, da er die ständigem Wandel unterliegende
subjektiven Idealismus, zu einer »Philosophie des identischen Wirklichkeit und den »Begriff der Wirklichkeit« nicht histo­
Subjekt-Objekts«: risch als untrennbare Einheit versteht, d ie n u r in lo g isch er
»Wird diese Zirkelstruktur aufgelöst, so kommt dabei her­ H in sic h t u n tersch ied en w e rd en k a n n (vgl. M , S. 216 f.), son­
aus, daß Sein ohne Denken, Natur ohne Menschen, Materie dern die »Kategorien des Geistes« als ungeschichtliche »ewi­
ohne Tätigkeit, Objekt ohne Subjekt nicht möglich sind, folg­ ge« auffaßt.13
lich subjektive Tätigkeit und subjektives Denken erst Wirk­ »Ethisch-politische Geschichte, die vom Konzept des histori­
lichkeit hervorbringen.«10 Es ist jedoch ein großer Unter­ schen Blocks absieht, in welchem der ökonomisch-soziale
schied, ob gesagt wird, die Existenz des Objekts sei ohne Inhalt und die ethisch-politische Form bei der Rekonstruktion
Subjekt nicht m ö g lich , oder man dürfe das Objekt nicht vom der verschiedenen historischen Perioden konkret zusammen­
Subjekt trenn en. Gramsci leugnet ja nicht - ontologisch gese­ fallen, [ ...] ist keine Geschichte.« (M, S. 204) Geschichte
hen - die vom Menschen unabhängige Existenz der Materie. wird bei Croce zu »Begriffsgeschichte« (M, S. 217), die
Aber - »was würde ohne den Menschen die Wirklichkeit des Einheit von Theorie und Praxis existiert nur im Kreislauf des
Universums bedeuten?« (Ebd.) Materie, Natur erlangt ihre Geistes, nicht aber in der »ungeistigen« politischen Sphäre:
Bedeutung erst, wenn sie zur objektiven Bedingung menschli­ Croce verwahrt sich dagegen, seine »Philosophie der Praxis«
cher Praxis wird. »Mit seinem theoretischen Modell will als »praktische Philosophie« im Sinne einer normativen Wis­
Gramsci ausdrücklich alle traditionellen Formen des Welt­ senschaft anzusehen14; Philosophie hat sich vor der »Beflek-
dualismus - Geschichte / Natur - in einem neuen Rationali­ xung mit praktischer Politik« zu hüten, die ihrem Urteil
tätstypus, dessen >Ursprung< die >menschliche Praxis< ist - •Weite und Vorurteilsfreiheit raubt.«15 »Croces Philosophie

68 69
f
bleibt >spekulativ<, und in ihr ist nicht nur eine Spur von Tran­ t ist der >Materialismus<, der durch die Arbeit der spekulativen
szendenz und Theologie, sondern die ganze Transzendenz * Philosophie selbst vervollkommnet wurde und mit dem
und Theologie enthalten, kaum von den gröbsten mythologi­ ; Humanismus verschmolz. Es stimmt, daß bei dieser Vervoll-
schen Umhüllungen befreit.« (M , S. 190 f.; P H , S. 253.) I kommnung vom alten Materialismus nur der philosophische
In der marxistischen Theorie dagegen muß die Einheit von J Realismus bleibt.« (M , S. 43; P H , S. 166.) - Entscheidend ist
Philosophie und Geschichte zu einer »Theorie des ethisch­ dabei die neue, von jeder Transzendenz gereinigte Konzep-
politischen Handelns« im Sinne der X I . F eu erb a ch th ese füh­ j, tion der Immanenz, die »die Geschichtlichkeit, die >absolute
ren, die nicht, wie Croce behauptet, die Abschaffung der , Diesseitigkeit< der Philosophie behauptet.« (M , S. 232; P H , S.
Philosophie im Namen der Praxis propagiert, sondern als For­ 2 7 7 ') »Die Philosophie der Praxis leitet sich sicherlich von der
derung der E in h e it von Theorie und Praxis zu verstehen ist immanentistischen Wirklichkeitsauffassung ab, aber nur inso­
(vgl. M , S. 232; P H , S. 277.). - Gramsci, so bemerkt Holz, fern, als sie von allem spekulativen Aroma gereinigt und auf
behandelt Theorie und Praxis nicht als disparate Verhaltens­ bloße Geschichte oder Geschichtlichkeit oder bloßen Huma-
weisen, »von denen die eine akzidentell zur anderen hinzu­ , nismus reduziert ist.« (M , S.191.) In diesem Sinne bezeichnet
tritt, sei es die Praxis zur Theorie, um diese zu verwirklichen, ; Gramsci den Marxismus auch als »absoluten Humanismus«.
sei es die Theorie zur Praxis, um sie zu rechtfertigen. Viel­ Texier bemerkt dazu: »Die Philosophie des Marxismus kann
mehr werden beide als Eines im Selbstunterschied begriffen, also deshalb als >Humanismus< bezeichnet werden, weil die
die einzig streng dialektische Weise, die Theorie-Praxis-Ein Wirklichkeit für sie die Geschichte der Erzeugung des Men­
heit zu formulieren.«16 ’ schen ist. (M , S. 191.) Und wenn man sich erinnert, daß es der
Im Abschnitt T h e o rie u n d P ra x is heißt es: »Wenn sich das Mensch selbst ist, der sich erzeugt, daß die Geschichte die
Problem stellt, Theorie und Praxis zur Identität zu bringen, I Selbsterzeugung des Menschen ist, daß die Quelle dieses Wer­
dann in diesem Sinn: aufgrund einer bestimmten Praxis eine dens nichts anderes als d e r d e n k e n d e u n d h a n d e ln d e M en sch
Theorie zu konstruieren, die — mit den entscheidenden Ele­ ist, so können wir mit Gramsci hinzufügen, daß die Philoso­
menten der Praxis selbst zusammenfallend und mit ihnen phie des Marxismus ein »absoluter Humanismus der Geschich-
identisch werdend — den Geschichtsprozeß beschleunigt, te< ist. (M , S. 159.) Die einzige Wirklichkeit ist die der histori­
indem sie die Praxis in allen ihren Elementen homogener, schen Kräfte des Menschen und der Produkte, die sie im Laufe
kohärenter und wirksamer macht, sie also in höchstem Maß der Entwicklung ihrer dialektischen Beziehungen mit der
potenziert; oder bei einer gegebenen theoretischen Position >Materie< hervorbringen. Damit das wirkliche Werden darge­
das praktische Element zu organisieren; das unabdingbar ist, stellt werden kann, muß jede Vorstellung, die auf ein tran­
damit der geschichtliche Prozeß in Gang kommt. Das Iden­ szendentes Prinzip zurückgreift, eliminiert werden. Der »ab­
tischsetzen von Theorie und Praxis ist ein kritischer Akt, solute Historismus< wird also ein »absoluter Immanentismus<
wobei die Praxis als rational und notwendig oder die Theorie sein (M , S. 90 und S. 146.): die Quelle der historischen
als realistisch und rational bewiesen wird.« (M , S. 38 f.; P H , Dialektik ist der Geschichte immanent.«20
S. 162.)17 - So verstanden ist der Marxismus für Gramsci eine ; Drei kulturelle Bewegungen gingen als »vorbereitende
»Philosophie der Praxis«: »Philosophie der Tat (Praxis, Ent­ Momente« in die Philosophie der Praxis ein: die klassische
wicklung), aber nicht der >reinen< Tat, sondern vielmehr deutsche Philosophie, die klassische englische Ökonomie sowie

1
gerade der realen, >unreinen< Tat im profansten und weltlich­ die französische politische Literatur und Praxis.21
sten Sinne des Wortes.« (M , S. 44 U P H , S. 167O18
Die »Philosophie der Praxis« hebt sowohl den traditionellen
Idealismus wie den kontemplativen Materialismus auf und
bewahrt in der Aufhebung deren »lebendige Elemente«. »Sie
Diese konstitutiven Teile sind als Elemente ein und dersel­
7° ben Weltauffassung wechselseitig in den jedem Element 71
eigenen Sprachgebrauch übersetzbar; sie bilden einen »homo­
lung der Widersprüche zwischen Mensch und Natur besteht. reziprok auf.« (M , S. 230; PH, S. 275.)
Er greift den bekannten Ausspruch von E. Bernstein auf,
( V g l M ,S .9i;P H ,S . 195.) ,. _ r .
Die Philosophie der Praxis ist »Ausdruck der geschichtlichen daß die Bewegung alles und das Ziel nichts sei, und fragt:
Widersprüche«, »sie ist das von Widersprüchen erfüllte »Ist es möglich, die Bewegung lebendig und wirksam zu
Bewußtsein, in der der Philosoph, individuell oder als ganze erhalten ohne die Perspektive eines unmittelbaren und mittel­
Klasse betrachtet, nicht allein die Widersprüche, sondern sich baren Zieles?« »Bernsteins Behauptung [ ...] verbirgt unter
selbst als Element des Widerspruchs begreift, und dieses Ele­ dem Mantel einer >orthodoxen< Interpretation der Dialektik
ment zum Prinzip der Erkenntnis und somit des Handelns eine mechanizistische Auffassung vom Leben und der
geschichtlichen Bewegung: die menschlichen Kräfte werden
erhebt.« (M, S. 93 f.; PH, S. 197.)
als passiv und nicht bewußt angesehen, als ein von den mate­
riellen Dingen nicht unterschiedliches Element, und der vul­
gäre, naturalistisch aufgefaßte Evolutionsbegriff tritt an die
IE Basis und Überbau als historischer Block<
Stelle des Entwicklungsbegriffs. Dies ist um so interessanter,
1. Die Bestimmung des Verhältnisses von Basis und Überbau als Bernstein seine Waffen dem Arsenal des idealistischen
Revisionismus entnommen hat (und dabei die Feuerbachthe­
Gramscis Bemühungen, durch die Kritik der idealistischen sen vergaß). Sie hätten ihn hingegen dahin führen müssen,
und mechanistischen Geschichtsinterpretationen die Auf­ den (aktiven und folglich gewiß unmittelbar und mittelbar
merksamkeit wieder auf die Analyse des realen historischen Ziele verfolgenden) Eingriff der Menscheh als entscheidend
Prozesses zu lenken, werden besonders bei der Bestimmung für die geschichtliche Entwicklung zu bewerten (unter den
des Verhältnisses von Basis und Überbau deutlich. —Er kriti­ gegebenen Bedingungen versteht sich).« (P, S. 190; PH, S.
192. Herv. A. K.)
siert die »politökonomischen Romane«, die - von einer tota­
len einseitigen Determinierung des Überbaus durch die Basis Gramsci beruft sich bei der Kritik des ökonomischen Deter­
ausgehend — versuchen, für jede Veränderung des Überbaus minismus auf Engels’ Briefe an Bloch24 und Starkenburg25, in
eine unmittelbare und ursprüngliche Erklärung in der Basis zu denen »die Ökonomie erst >in letzter Instanz< [als] Triebfe­
finden. »Der Anspruch [ ...] , jede Fluktuation der Politik und der der Geschichte« angesehen wird. (MA, S. 32; PH, S. 313.)
Ideologie als unmittelbaren Ausdruck der Basis aufzufassen, Dort heißt es: »Nach materialistischer Geschichtsauffassung
muß theoretisch als primitiver Infantilismus bekämpft werden22 ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der
und praktisch durch das authentische Zeugnis von Marx, Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen
der politisch und historisch konkrete Werke schrieb. (M, S. 96;
Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn
PH, S. 200. Herv. A. K.)23 Gegen diese in ihren Konse­
nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei
quenzen fatalistische Auffassung der geschichtlichen Entwick­ das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine
lung, in der kein Raum für politische Aktion und Initiative ist nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase.«26 Und weiter:
- die »Äußerungen des Willens« werden nicht als »organi­ -Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literari­
sches Ergebnis ökonomischer Notwendigkeit, ja sogar [als] sche, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomi­
der einzig wirksame Ausdruck der Ökonomie« begriffen (MA, schen. Aber sie alle reagieren auch auf einander und auf die
S. betont Gramsci die »Einheit des Prozesses der Wirk­ ökonomische Basis. Es ist nicht, daß die ökonomische Lage
lichkeit.« (M, S. 2 3 1; PH, S. 275. Herv. A. K.) Die Philosophie Lrsache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung.
der Praxis behandelt Basis und Überbau nicht als voneinander Sondern es ist Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter
»abgelöste« Momente, sie faßt vielmehr deren Entwicklungen Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendig­
als »intimamente conesso« und »notwendig interrelativ und keit. [...] Es ist also nicht, wie man sich hier und da beque­

73
merweise vorstellen will, eine automatische Wirkung der öko­ wicklung der ökonomischen Struktur in gewissen Grenzen
nomischen Lage, sondern die Menschen machen ihre beeinflussen.30 »Der vom ökonomischen Faktor
Geschichte selbst, aber in einem gegebenen, sie bedingenden abhängende automatische Impuls [kann] durch traditionell
Milieu [.. .].«27 ideologische Elemente momentan verlangsamt, gehemmt
Gramsci geht es also darum, gegen die einseitige Verabso­ oder auch gänzlich aufgefarrgen« werden. (MA, S. 37; PH,
lutierung der ökonomischen Basis, gegen die Konstruktion S. 3 15 Herv. A. K.) Selbst wenn die objektiven ökonomischen
einer mechanischen Kausalitätsbeziehung, den Prozeß der Voraussetzungen für die revolutionäre Umwälzung der kapi­
Wechselwirkung zwischen Basis und Überbau hervorzuheben, talistischen Gesellschaftsordnung gegeben sind, wird sich die­
»einer Wechselwirkung, die gerade den realen dialektischen ser Prozeß nicht »automatisch« vollziehen. »Eine angemes­
Prozeß ausmacht.« (M, S. 40; PH, S. 163.) »Der Satz aus den sene politische Initiative ist immer notwendig, um den ökono­
Thesen über Feuerbach über den >Erzieher, der selbst erzogen mischen Impuls aus der Fessel der traditionellen Politik zu
werden muß<, stellt er nicht eine notwendige Beziehung der befreien, um also die politische Richtung gewisser Kräfte zu
aktiven Reaktion der Menschen zur Basis her und betont die ändern, deren Einbeziehung notwendig ist zur Verwirkli­
Einheit des Prozesses der Wirklichkeit?« (M. S. 2 3 1; PH, S. chung eines neuen, homogenen, ökonomisch-politischen,
275.)28 historischen Blocks ohne innere Widersprüche.« (Ebd.) - »Die
Diese dialektische Einheit von Basis und Überbau als kon­ Existenz objektiver Bedingungen, oder Möglichkeit oder
krete Totalität versucht Gramsci mit dem Begriff des »histori­ Freiheit, reicht noch nicht aus: man muß sie >kennen< und sich
schen Blocks« (»blocco storico«) zum Ausdruck zu bringen: ihrer zu bedienen wissen.« (M, S. 35.)
Basis und Überbauten bilden einen »historischen Block«, »in Gegen den »fatalistischen Finalismus« (MA, S. 36; PH,
welchem ökonomisch-sozialer Inhalt und ethisch-politische S. 318.) einer Geschichtstheorie, die das Proletariat zum
Form konkret zusammenfallen.« (M. S. 204.)29 Anhängsel oder bestenfalls Vollzugsorgan der »Rationalität
Die ökonomische Struktur darf nicht als »einzige Wirklich­ der Geschichte« macht, hebt Gramsci also die Bedeutung
keit« in der Geschichte angesehen werden, als allem der politischen Initiative im Prozeß der geschichtlichen Ent­
vorwärtstreibende Kraft. Das hieße, an »eine gewisse Ratio­ wicklung hervor. Diese Akzentuierung des subjektiven Fak­
nalität in der Geschichte« zu glauben, »die wie ein Ersatz der tors hat ihm von verschiedenen Seiten den Vorwurf des
Prädestination, der Vorsehung etc. der konfessionellen Voluntarismus und subjektiven Idealismus eingebracht. So
Bekenntnisse aussieht« (M, S. 14; PH, S. 140.) und »zur schreibt Riechers: »Eine Philosophie der Praxis<, gleichgültig
Ursache von Passivität und dummer Selbstgenügsamkeit ob im Ansatz offen oder nur latent subjektiv-idealistisch, trägt,
wird.« (Ebd.) - Die grundlegende Frage bei der Untersuchung von der Hypostasierung des schöpferischem Subjekts ausge­
der Beziehungen zwischen Basis und Überbau muß vielmehr hend, stark voluntaristische Züge [ ,..] « 31 Erst die genaue
sein: »Wie entsteht die geschichtliche Bewegung auf Grund­ Bestimmung sämtlicher wesentlicher Determinanten der
lage der Basis? [.. .] Dies ist der entscheidende Punkt aller historisch gegebenen Verhältnisse ermögliche, die Grenzen
zur Philosophie der Praxis entstandenen Fragen. [. . •] Nur und Möglichkeiten rationaler verändernder Praxis festzule­
auf dieser Ebene kann jeder Mechanismus und jede Spur aber­ gen.32 Und weiter: »Das Absehen von den objektiven Bedin­
gläubischer >Wunder< eliminiert werden, muß die Frage nach gungen der auf gesellschaftliche Veränderung zielenden Pra­
der Bildung politisch aktiver Gruppen gestellt werden.« (M, xis führt zwar nicht zur Leugnung dieser Bedingungen, wohl
S. 129 U PH, S. 215 f.) aber dazu, daß deren Epiphänomene als bestimmend ausgege­
Der Überbau ist »eine objektive und wirksame Realität« (M, ben werden.«33 Die gleiche Auffassung vertritt Norbert Bob­
S. 236 f.; PH, S. 279.); determiniert durch die Basis, besitzt er bio: »Bei Marx ist das erste der beiden Momente (Basis und
dennoch relative Selbständigkeit und kann seinerseits die Ent­ Überbau) das wesentliche und bestimmende, während das

74 75
auf hin, wie verhängnisvoll es ist, statt der »objektiven und
zweite Moment zweitrangig und untergeordnet ist [ . . . ] ; bel
unparteiischen Analyse«37 der Struktur - die Basis muß in
Gramsci ist es genau das Gegenteil.«34 »ultrarealistischer« Weise, mit den »Methoden der exakten
Hierzu ist zu sagen, daß es eben nicht in Gramscis Absicht
Wissenschaften« erforscht werden — »die eigenen Wünsche
lag, eine allein auf die ökonomische Entwicklung ausgerich­
und schlechten, unmittelbaren Leidenschaften« zur Grund­
tete Analyse der kapitalistischen Gesellschaft zu geben, n
lage politischen Handelns zu machen. (MA, S. 43; PH,
einer Zeit, wo sich das Interesse der marxistischen Theonebil-
dung fast ausschließlich auf die Bestimmung der ökonomi­ s*3250
Geschichtlich-politische Analysen müssen »die organischen
schen Kategorien konzentrierte und diese als einzig entschei­
(relativ permanenten) Bewegungen [einer Struktur, A. K.]
dende zu verabsolutieren drohte, versuchte Gramsci ja gerade
von den konjunkturellem unterscheiden (die sich als zufällig,
- und das macht seine Bedeutung aus auf die Notwendigkeit
unmittelbar, fast akzidentell erweisen).« (MA, S. 4 1; PH,
einer Theorie des Überbaus hinzuweisen. Es ging ihm darum
S. 323.) Die an der Bewahrung und Verteidigung der beste­
_ wie noch ausführlich bei der Darstellung seiner Hegemonie­
henden ökonomischen Struktur interessierten politischen
theorie zu zeigen sein wird - , die Bedeutung der die ökonomi­
Kräfte sind bemüht, die an der Basis herangereiften »unmit­
sche Herrschaft notwendig ergänzenden ideologischen^He
telbaren Widersprüche« zu integrieren und zu überwinden.
schaft der Bourgeoisie als nicht zu unterschätzender Macht-
»Diese unaufhörlichen und beharrlichen Bestrebungen (keine
faktor hervorzuheben. i i • gesellschaftliche Form würde jemals ihre Uberholtheit zuge­
Dieser Interessenschwerpunkt, den Riechers, der sic
ben) sind der Boden des >Zufälligen<, auf dem sich die antago­
auf M. Tronti stützt**, bei seiner Kritik nicht genügend zu
berücksichtigen scheint, berechtigt jedoch nicht zum Vorwurf nistischen Kräfte organisieren.« (Ebd.)
Die falsche Unterscheidung von organischen und zufälligen
des Voluntarismus bzw. subjektiven Idealismus. rams
Bewegungen führt zu »ökonomistischen« bzw. voluntaristi-
betont, daß der politische Wille »als tätiges Bewußtsein der
schen Verengungen der Marxschen Theorie - zwei undialekti­
historischen Notwendigkeit« definiert werden muß, die
sche Auffassungen des geschichtlichen Prozesses, die notwen­
Bedingungen der politischen Initiative ergeben sich aus der
»historischen (ökonomischen) ^ a ly s e der gesellschaftlichen dig eng miteinander verbunden sind. »So stellt man sie entweder
als unmittelbar wirksame Ursachen dar, die hingegen vermittelt
Struktur des betreffenden Landes.« (MA, S 6, P , • ;)
wirksam sind, oder behauptet, die unmittelbaren Ursachen
Dabei müssen zwei »Prinzipien« als Leitfaden dienen, d
seien die einzig wirksamen. Im ersten Fall gibt es ein Zuviel
Marx im Vorwort von Z«r Kritik der Politischen Okonomie
an >ökonomismus< oder pedantischem Doktrinarismus; im
angedeutet hat, »i. daß keine Gesellschaft sich Aufgaben
letzteren ein Zuviel an >Ideologie<. Im einen Fall werden die
stellt, für deren Lösung die notwendigen und ausreichend
mechanischen Ursachen überbewertet, im anderen das volun-
Bedingungen noch nicht vorhanden sind oder ^mindest: im
taristische individuelle Element.« (MA, S. 42 f.; PH,S. 324.)
Begriffe sind, sich zu entwickeln; 2. daß keine Gesellschaf
Dieser Irrtum ist dann verhängnisvoll, wenn es nicht, wie in
sich auflöst oder ersetzt werden kann, wenn sie zuvor nie
der Historiographie, um die Rekonstruktion vergangener
sämtliche Lebensformen durchlaufen hat, die^implizit in ihren
Geschichte geht, »sondern um die Gestaltung gegenwärtiger
Verhältnissen enthalten sind.« (MA, S. 41 ; PH, b- 323.)
und zukünftiger Geschichte.« (MA, S. 43; PH, S. 324 f.)38 An
»In der Gesamtheit der materiellen Produktivkräfte knsta -
anderer Stelle, an der er auf Croces Vorwurf eingeht, im
lisiert sich die vergangene Geschichte, und sie ist zug eic ie
Marxismus werde die ökonomische Struktur zum verborge­
Basis der gegenwärtigen und zukünftigen 'G e s ^ h t e «t
nen Gott<, wird Gramscis Auffassung noch einmal deutlich:
Dokument und zugleich aktive, aktuelle Triebkraft.« (MA,
»Wenn der Begriff der Basis >spekulativ< verstanden wird,
S 161 • PH S 242.) Politische Praxis ist demnach nicht a
dann wird sie natürlich ein verborgener Gott<; aber sie darf
»primäre Realität« (Tronti) für Gramsci. Er weist gerade dar-
77
76
gerade nicht spekulativ verstanden werden, sondern ebenso Ausdruck realer gesellschaftlicher Verhältnisse zu sein.
geschichtlich, nämlich als das Ensemble der gesellschaftlichen »Der Satz aus dem Vorwort von Zur Kritik der Politischen
Verhältnisse, innerhalb derer sich die wirklichen Menschen Ökonomie, daß die Menschen das Bewußtsein der strukturel­
bewegen und betätigen, als das Ensemble objektiver Bedin­ len Konflikte auf dem Gebiet der Ideologien gewinnen, muß
gungen, die mit den Methoden der >Philologie< untersucht als eine Feststellung von erkenntnistheoretischem Wert
betrachtet werden.« (M, S. 39; PH, S. 163)42
werden können und müssen, und nicht mit den Methoden der
Ideologie ist nicht nur falsches, sondern aufgrund der mit der
»Spekulation«.« (M, S. 19 1; PH, S. 253. Herv. A. K.)39
Es ist also nicht gerechtfertigt, Gramscis Bestimmung des Warenproduktion einhergehenden Verkehrungen notwendig
Verhältnisses von Basis und Überbau dahingehend zu inter­ falsches Bewußtsein, d. h. der Überbau darf nicht als Schein,
sondern muß als Erscheinung begriffen werden. Der Begriff
pretieren, daß er - quasi als Reaktion auf die von ihm kriti­
sierte Verabsolutierung der ökonomischen Basis als des einzig der Erscheinung »ist der Ausdruck der Hinfälligkeit eines
entscheidenden Moments in der geschichtlichen Entwicklung jeden ideologischen Systems und rechtfertigt zugleich dessen
geschichtliche Gültigkeit und Notwendigkeit.« (MA, S. 12;
- nun seinerseits die Überbauelemente als »einzige Wirklich­
PH, S. 292.)
keit« der Geschichte ansieht. - »Die Frage nach dem Vorrang
»Gültig«, »geschichtliche Tatsachen« (M 24, PH 149) sind
des einen oder anderen Elements des historischen Blocks ist
Ideologien jedoch nur, wenn sie ihren Ursprung in den Wider­
falsch gestellt. Betrachtet man die Bestimmung dieses Blocks,
sprüchen der Basis haben, also Ausdruck bestimmter sozialer
so ist seine sozio-ökonomische Struktur eindeutig das^ent­
Gruppen sind und keine »individuellen Hirngespinste«. In
scheidende Moment. Ebenso eindeutig ist jedoch, daß bei
diesem Sinne unterscheidet Gramsci zwischen »willkürlichen«
jeder historischen Bewegung die an der Basis entstandenen
und »rationalen« Ideologien. »Man muß also unterscheiden
Widersprüche auf der Ebene der Uberbauaktivitäten zutage
zwischen historisch organischen Ideologien, die für eine
treten und sich lösen. Die Beziehung dieser beiden Elemente
gewisse Struktur notwendig sind, und willkürlichen, rationali­
ist also zugleich dialektisch und organisch.«
stischen, >gewollten< Ideologien. Soweit sie historisch notwendig
Basis und Überbau dürfen nicht als isolierte Momente ver­
sind, haben sie Gültigkeit, >psychologische< Gültigkeit, sie >or-
standen werden; sie sind als Teile eines organischen Ganzen
ganisieren< die Menschenmassen, bilden das Terrain, auf dem
wechselseitig vermittelt. Ihre Unterscheidung kann nur ana­
die Menschen sich bewegen, ein Bewußtsein ihrer Lage erlan­
lytisch, nicht organisch sein: »Die Analyse dieser Aussagen
gen, kämpfen, etc. Soweit sie >willkürlich< sind, bringen sie nur
führt, wie ich glaube, dazu, die Konzeption vom historischen
>Bewegungen< in Form individueller Polemik hervor.« (M,
Block/ zu untermauern, in dem die materiellen Kräfte der
S. 48 f.;P H , S. 170.)
Inhalt sind und die Ideologien die Form - eine rein didakti­
Innerhalb der Ideologien gibt es - entsprechend ihrer Homo­
sche Unterscheidung von Form und Inhalt —, da die materielle
genität und Kohärenz — verschiedene qualitative Stufen, die
Gewalt historisch nicht ohne Form begreifbar wäre und die
mit bestimmten sozialen Schichten korrespondieren. Am
Ideologien ohne die materielle Gewalt Schrullen von einze -
Anfang dieser Hierarchie steht die Philosophie, auf der unter­
nen bleiben.« (M, S. 49; PH, S. 170.)41 sten Stufe die Folklore; zwischen diesen Extremen finden sich
>Alltagsverstand< und Religion. Ihr einigendes Moment
2. Gramscis Ideologiebegriff
besteht darin, daß sie alle »Weltanschauungen«43 sind, die
bestimmte Verhaltensnormen hervorbringen. (Vgl. M, S. 232;
Gegen die - in der abstrakten undialektischen Trennung von
PH, S. 277.) Beeinflußt und gelenkt durch die herrschende
Basis und Überbau gründende - ausschließlich negative Fas­
Klasse sind sie somit ebenso »praktische Konstruktionen,
sung des Ideologiebegriffs als »»reiner« Schein« (vgl. yW.S. 48;
Instrumente politischer Führung. '[.••] Für die Philosophie der
PH, S. 169 h), betont Gramsci die Funktion der Ideologien,
79
78
»Wir kennen die Wirklichkeit nur im Verhältnis zum Men­
Praxis sind die Ideologien alles andere als.willkürlich; s i; sind
schen. Und da der Mensch geschichtliches Werden ist, sind
realgeschichtliche Tatsachen, die wegen ihrer Natur als Her
auch Erkenntnis und Realität ein Werden, ist auch Objektivi­
schafoinstrumente zu bekämpfen und bloßzustellen sind
tät ein Werden.« (M, S. 143; PH, S. 228.)
nicht aus moralischen Gründen, sondern aus politischen
Als historisch bedingte, unabgeschlossene Theorie, die nicht
Gründen: um die Regierten von den Regierenden intellektu­
von einem »dogmatischen System absoluter und ewiger
ell unabhängig zu machen, um eine Hegemonie zu zerstören
Wahrheiten« ausgeht, sondern - »ohne in den moralischen
und eine andere zu schaffen, als notwendiges Moment der
und ideologischen Relativismus zu geraten« (M, S. 133.) —die
Umwälzung der Praxis.« (M, S. z}6; PH, S. 279.) »Historizität jeder Welt- und Lebensanschauung behauptet«
In einem weiteren Sinn, als Charakterisierung ihrer
(M, S. 95; PH, S. 219.), ist auch der Marxismus >Uberbau<,
Geschichtlichkeit, bezeichnet Gramsci die Gesamtheit der
wenn auch neuer Qualität.46 - »Der Umstand, daß die Philo­
Überbauten als Ideologie, die aus der Basis resultieren und
sophie der Praxis sich selbst geschichtlich versteht, d. h. als
sich mit deren Wandlungen verändern (Vgl. M, S. 230 U 9 ,
eine vorübergehende Phase des philosophischen Denkens,
PH S 274, 225.) Auch die Wissenschaft ist Teil des Überbaus,
wird nicht nur aus ihrem ganzen Aufbau, sondern explizit von
eine’ Ideologie! Damit soll nicht die Möglichkeit exakter der bekannten These her deutlich, daß der geschichtliche Pro­
naturwissenschaftlicher Forschung in Frage gestellt werden,
zeß an einem bestimmten Punkt durch den Übergang vom
vielmehr wrll Gr.msci zeigen, daß -die Wrseemchaf. eme Reich der Notwendigkeit zum Reich der Freiheit gekenn­
geschichtliche Kategorie, eine Bewegung m ständiger Ent
zeichnet ist.« (M, S. 93.) - Der Marxismus nimmt sich also
wicklung« ist. (M, S. 5y,P H , S. 176.) Ihre Erkenntnisziele, d e nicht aus von der allgemeinen Abhängigkeit des Überbaus
Entwicklung ihrer Forschungsmethoden sind durch die reale
von der Basis. Als dialektische Theorie, deren Begriffe nicht
Geschichte vermittelt. »Die gesamte Wissenschaft hangt von
abgelöst vom bestimmten historischen Inhalt existieren kön­
den Bedürfnissen, dem Leben, der Tätigkeit der Me^ chen, ' nen, unterliegt er seinen eigenen Kategorien.47
Was wäre die >Objektivität< ohne die Tätigkeit d« Menschen, »Es besteht jedoch ein fundamentaler Unterschied zwischen
der Schöpferin aller, auch wissenschaftlicher Wer .<< ( >
der Philosophie der Praxis und den anderen Philosophien: die
c cc- PH S 176 )44 Objektivität ist keine außergeschicht
anderen Philosophien sind unorganische Schöpfungen, weil
che Kategorie«: »Wären die wissenschaftlichen Wahrheiten
sie [. ..] dahin tendieren, widersprüchliche und entgegenge­
definitiv, so hätte die Wissenschaft als solche, als Forschung,
setzte Interessen einander zu versöhnen [.. .] Die Philoso­
als immerwährendes Experimentieren aufgehort, und die wis­
phie der Praxis tendiert hingegen nicht dahin, die Widersprü­
senschaftliche Tätigkeit reduzierte sich auf die Verbreitung
che der Geschichte und der Gesellschaft friedlich zu lösen,
des bereits Entdeckten.« (Ebd.) . sondern sie ist vielmehr die Theorie solcher Widersprüche.«
Die Unabgeschlossenheit und historische Begrenztheit der
(M, S. 237; PH, S. 280.) Als bewußter Ausdruck der geschicht­
wissenschaftlichen Erkenntnis der Wirklichkeit darf jedoch
lichen Widersprüche, der, indem er diese Widersprüche gene­
nicht als Postulierung eines metaphysischen >Unerkennbarem
tisch herleitet, zugleich die Möglichkeit ihrer Überwindung
mißverstanden werden; das vom Menschen nicht Gewußte
aufzeigt, ist der Marxismus eher der >Notwendigkeit< als der
reduziert sich vielmehr auf ein »empirisches >Nichtwissen«<,
>Freiheit< zuzuordnen. »Wenn also aufgewiesen wird, daß die
»das nicht die Erkenntnismöglichkeit ausschließt, sondern sie
Widersprüche einmal verschwinden werden, so heißt das
nur durch die Entwicklungsphasen der physischen Instru­
gleichzeitig, daß auch die Philosophie der Praxis [. . .] über­
mente und der geschichtlichen Intelligenz der einzelnen For-
wunden werden wird: Im Reich der >Freiheit< können die Ge­
X b ed in g , («, S.W m , S..7«.) D« danken und Ideen nicht mehr auf dem Boden der Widersprüche
der Wirklichkeit ist ein von der Existenz der Menschen
[ ...] entstehen.« (M, S. 94; PH, S. 197.)
abhängiger und durch ihre Geschichte vermittelter Prozeß:
3 . »Societä politica« und »societä civile« den: einmal das, was man bürgerliche Gesellschaft^ (societä
civile) nennen kann, d. h. die Gesamtheit aller gemeinhin >pri-
Marx und Engels haben das Verhältnis von Staat und bürger­ vat< genannten Organismen, zum anderen die politische
licher Gesellschaft in der Deutschen Ideologie in folgender Gesellschaft (societä politica) oder der Staat.« (/, S. 9; PH,
Weise bestimmt: »Die durch die auf allen bisherigen S. 412.)
geschichtlichen Stufen vorhandenen Produktionskrafte be­ Trotz dieser von der Marxschen Tradition abweichenden
dingte und sie wiederum bedingende Verkehrsform ist die Zuordnung beruft sich Gramsci bei der Bestimmung des
bürgerliche Gesellschaft. [ .. . ] [Sie] umfaßt den gesamten Begriffs der bürgerlichen Gesellschaft ebenso wie Marx auf
materiellen Verkehr der Individuen innerhalb einer bestimm­ Hegel. »Man muß die bürgerliche Gesellschaft, wie sie von
ten Entwicklungsstufe der Produktivkräfte. [• • •] Die bürger­ Hegel verstanden wurde und in welchem Sinn sie oft auf
liche Gesellschaft als solche entwickelt sich erst mit der Bour­ diesen Seiten [der Quaderni, A. K.] verwandt worden ist
geoisie; die unmittelbar aus der Produktion und dem Verkehr (nämlich in dem Sinn der politischen und kulturellen Hege­
sich entwickelnde gesellschaftliche Organisation die zu allen monie einer gesellschaftlichen Gruppe über die gesamte
Zeiten die Basis des Staats und der sonstigen idealistischen Gesellschaft als ethischer Gehalt des Staates), unterscheiden
Superstrukturen bildete, ist indes fortwährend mit demselben von der Bedeutung, die ihr die Katholiken geben, für die die
Namen bezeichnet worden.«48 , . bürgerliche Gesellschaft identisch mit der politischen Gesell­
Die bürgerliche Gesellschaft als die mit der » ro u 1° ns schaft bzw. mit dem Staat ist gegenüber der Familiengemein­
weise zusammenhängende und von ihr erzeugte er e rs schaft und der Kirche.« (P, S. 164.)
form«49 ist demnach die Grundlage des Staates, der als Hegel faßt unter dem Namen bürgerliche Gesellschaft nicht
»besondere Existenz neben und außerhalb der bürgerlichen nur den ökonomischen Verkehr der Einzelnen - das »System
Gesellschaft«50 - zum Überbau gehört. Ähnlich schreibt der Bedürfnisse« oder der »Not- und Verstandesstaat« - , son­
Marx im Vorwort von Zur Kritik der Politischen Ökonomie. dern ebenso Rechtspflege, ständische Ordnung (»Korporatio­
»Meine Untersuchung mündet in dem Ergebnis, daß Rechts­ nen«) und Verwaltung (»Polizei«), die über dem »System all­
verhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begrei­ seitiger Abhängigkeit«52 angesiedelt sind und den Übergang
fen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung zum Staat bilden. Bobbio versucht nun, Gramscis abwei­
des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiel­ chende Zuordnung der bürgerlichen Gesellschaft aus seiner
len Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hege ’ besonderen Hegel-Interpretation abzuleiten - »eine verzerr­
nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 1 8. Jahr­ te, zumindest jedoch einseitige Interpretation.«53 Gramsci
hunderts, unter dem Namen »bürgerliche Gesellschaft< zusam­ habe bei seiner Berufung auf Hegel nicht das System der
menfaßt, daß aber die Anatomie der bürgerlichen Gesell­ Bedürfnisse im Sinn, von dem "Marx ausgegangen sei. »Die
schaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei.« bürgerliche Gesellschaft, die Gramsci im Sinn hat, wenn er
Gramsci sieht demgegenüber das Verhältnis von Staat und sich auf Hegel bezieht, ist nicht jene des anfänglichen
bürgerlicher Gesellschaft in unterschiedener Weise. Er nimmt Moments, wo die Widersprüche aufbrechen, die der Staat
die Marxschen Bestimmungen auf, wenn er sagt: »Zwischen wird zähmen müssen, sondern die des Endmoments, wo ver­
der ökonomischen Struktur und dem Staat [• ■ •] ® in e^,sic mittels der Organisation und Reglementierung der verschie­
die bürgerliche Gesellschaft« (M, S. 266.), rechnet dann denen Interessen (die Korporationen) die Grundlagen für den
jedoch die bürgerliche Gesellschaft zum Überbau, genauer: Übergang zum Staat gelegt werden.«54 Der Begriff der bür­
zum »untersten Stockwerk« des Überbaus. Im Abschnitt über gerlichen Gesellschaft umfasse nicht - wie bei Marx - »den
»Die Herausbildung der Intellektuellen« heißt es: »Es können gesamten materiellen Verkehr der Individuen«, sondern »die
bisher zwei große >Stockwerke< des Überbaus festgestellt wer- Gesamtheit der ideologisch-kulturellen Beziehungen«, nicht

83
das »gesamte kommerzielle und industrielle Leben«, son­ des von Gramsci entwickelten Hegemoniekonzeptes gesehen
dern »die Gesamtheit des geistigen und intellektuellen Le- und interpretiert werden.
4. Die Hegemonietheorie
bZuS ähnlichen Folgerungen kommt Roth. Gramsci verschiebe
den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft, indem er den »Not- a) Der Bezug auf Lenin
und Verstandesstaat« aus ihm ausklammere und die in den Gramsci beruft sich in den Quaderni in bezug auf die Hege­
»Staat« hineinreichenden Institutionen zu seinem eigentli­ monietheorie wiederholt auf Lenin, dessen wichtigster theore­
chen Inhalt mache.56 »Marx hat also in seinen Begriff der tischer Beitrag zum Marxismus in der Ausarbeitung des theo­
bürgerlichen Gesellschaft den Teil des »Systems der Bedürfnis^ retisch-praktischen Prinzips der Hegemonie zu suchen sei.
se< von Hegel übernommen, Gramsci den »oberen« ei , un {M, S. 39; PH, S. 163.) — »Der >größte moderne Theoretiker
zwar besonders den der Korporationen Berufs verbände).« der Philosophie der Praxis< [hat] auf dem Gebiet der politi­
Sicher umfaßt der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft bei schen Organisation und des Kampfes, gegen die verschiede­
Marx neben dem »System der Bedürfnisse« ebenso Berufsver­ nen >ökonomistischen< Tendenzen, die Front des kulturellen
bände und Teile der Verwaltung (ganz abgesehen davon, dalS Kampfes, in politische Terminologie gefaßt, aufgewertet und
es sich natürlich nicht um simples »Übernehmen« bestimmter die Lehre von der Hegemonie als Ergänzung zur Theorie des
Teile handelt.) - Um zu prüfen, inwieweit die genannte Inter­ Gewaltstaates und als aktuelle Form der Lehre von 1848, der
pretation auf-Gramsci zutrifft, mit der Bobbio, worauf T e xi: Lehre von der >permanenten Revolution^9 entwickelt.« (M,
zu Recht hinweist, Gramsci zu einem »Schüler der Hegelschen 5. 201 f.; PH, S. 258.)
Linken«58 macht, ob also die terminologische Differenz zwi­ In seiner 1902 erschienenen Schrift Was tun? wendet sich
schen Marx und Gramsci auch eine substantielle Differenz ist, Lenin scharf gegen die von den >ökonomisten< vertretene
eine »Inversion« (Bobbio) - was bei Gramscis oben dargeleg­ Auffassung, proletarisches Klassenbewußtsein (und folglich
ter Bestimmung des Verhältnisses von Basis und Überbau die sozialistische Revolution) entwickle sich spontan aus der
zweifelhaft erscheint - , muß zur oben angegebenen formalen Entfaltung der ökonomischen Kämpfe der Arbeiterklasse. —
Zuordnung von societä und societä civile die inhaltliche Das im Arbeitskampf spontan entwickelte Bewußtsein der
Bestimmung der beiden Begriffe herangezogen werden. Arbeiter sei ein »nur-gewerkschaftliches« oder »trade-unioni-
Die societä civile umfaßt als »Gesamtheit aller gemeinhin stisches« Bewußtsein, das »eigentlich nichts anderes darstellt,
>privat« genannten Organismen« Institutionen wie Schulen, als die Keimform der Bewußtheit.«60 Sozialistisches politi­
Universitäten, Kirche, Vereine, Gewerkschaften und Massen- sches Bewußtsein hingegen sei kein mechanisches Produkt des
medien. Unter societä politica oder »Staat« im üblichen Sinn, Klassenkampfes; es könne dem Proletariat vielmehr »nur von
im »senso stricto«, versteht Gramsci Parlament und Regie­ außen gebracht werden. Die Geschichte aller Länder zeugt
rung sowie Rechtsprechung, Polizei und Militär. Der_Sta davon, daß die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft
»im integralen Sinn« umfaßt dagegen sowohl die pohtichea nur ein trade-unionistisches Bewußtsein hervorzubringen ver­
auch die bürgerliche Gesellschaft. (Vgl. P, • 7 • . . ’ mag, d. h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in
S. ir2.) Entscheidend ist jedoch die Bestimmung, societä civile Verbänden zusammenzuschließen, vinen Kampf gegen die
und societä politica entsprächen »der »hegemomalen« un - Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die
tion der herrschenden Klasse innerhalb der Gesamtgesell­ Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen, u. a. m.«61
schaft und der »direkten Herrschaft« oder dem Befehl, wie er Die revolutionäre Partei, die nicht nur den Kampf der
sich im Staat oder durch die »legale« Regierung ausdruckt. Arbeiterklasse für günstigere Arbeitsbedingungen leitet, son­
Diese Funktionen sind organisatorisch und verbinden .« ( , dern vor allem den Kampf für die Aufhebung einer Gesell­
S. 9; PH, S. 412.) Die beiden Begriffe müssen also im Rahmen schaftsordnung, die die Besitzlosen dazu zwingt, ihre Arbeits­

85
kraft zu verkaufen —die die Arbeiter also nicht nur gegenüber mome des Proletariats im unmittelbar strategisch-taktischen
bestimmten Unternehmergruppen vertritt, sondern »in ihrem mn. —Die Arbeiterklasse muß die Führung in der bürgerlich­
Verhältnis zu allen Klassen der modernen Gesellschaft und demokratischen Revolution übernehmen und sie weitertrei­
zum Staat als der organisierten politischen Macht«62, darf sich ben zur sozialistischen Revolution. Voraussetzung für den
demnach nicht auf den ökonomischen Kampf beschränken. erfolgreichen Kampf gegen Zarismus und liberale Bourgeoisie
Sie muß »die politische Erziehung der Arbeiterklasse, die Ent­ und die Errichtung der Diktatur des Proletariats ist das
wicklung ihres politischen Bewußtseins aktiv in Angriff neh­ Bündnis mit der Bauernschaft, dem - aufgrund der unmittel­
men.«63 »Worin besteht denn die Rolle der Sozialdemokra­ baren Lebensinteressen der Bauern - »natürlichen Verbünde­
tie, wenn nicht darin, der >Geist< zu sein, der nicht nur über ten« des Proletariats. »Ein konsequenter Kämpfer für die
der spontanen Bewegung schwebt, sondern diese Bewegung Demokratie kann nur das Proletariat sein. Ein siegreicher
auch auf die Höhe >seines Programms< emporhebt?«64 Kampfer für den Demokratismus kann das Proletariat nur
Die »Anbetung der Spontaneität der Arbeiterbewegung«65, unter der Bedingung werden, daß sich die Masse der Bauern­
die Herabminderung der Rolle des »bewußten Elements«, der schaft seinem revolutionären Kampf anschließt. [ ...] Das
Partei, bedeutet die Stärkung des Einflusses der bürgerlichen Proletariat [muß] genügend klassenbewußt und stark sein,
Ideologie auf die Arbeiterklasse, »aus dem einfachen Grunde, um die Bauernschaft zum revolutionären Bewußtsein empor­
weil die bürgerliche Ideologie ihrer Herkunft nach viel älter zuheben, ihren Ansturm zu leiten und auf diese Weise den
ist als die sozialistische, weil sie vielseitiger entwickelt ist, weil konsequent proletarischen Demokratismus selbständig durch­
sie über unvergleichlich mehr Mittel der Verbreitung ver­ zuführen.«69
fügt.«66 Gramsci bezeichnet im Brief an das Zentralkomitee der
Nur durch die Bildung und Entwicklung politischen Klassen­ KPdSU vom Oktober 1926 {PH, S. 123 f.) und in der unvoll-
bewußtseins ist es möglich, den Einfluß der bürgerlichen Ideo­ endet gebliebenen Schrift Einige Gesichtspunkte der südita-
logie auf das Proletariat zurückzudrängen. Der Erfahrungs­ lienischen Frage10, die auch aus dem Jahre 1926 stammt, das
bereich des ökonomischen Kampfes allein ist dafür nicht aus­ Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern ebenfalls als Voraus­
reichend. Politisches Wissen, das nur auf dem Gebiet der setzung und Prinzip der Hegemonie des Proletariats. »Das
»Beziehungen aller Klassen und Schichten zum Staat«67 Proletariat kann in dem Maße zur führenden und herrschen­
gesammelt werden kann, muß der Arbeiterklasse von außen, den Klasse werden, wie es ihm gelingt, ein System von Klas­
durch umfassende Reflexion und theoretische Aktivität der senbündnissen zu schaffen, das ihm gestattet, die Mehrheit der
revolutionären Partei gebracht werden. »Das Bewußtsein der werktätigen Bevölkerung gegen den Kapitalismus und den
Arbeitermassen kann kein wahrhaftes Klassenbewußtsein bürgerlichen Staat zu mobilisieren; und dies bedeutet in Ita­
sein, wenn die Arbeiter es nicht an konkreten und dazu unbe­ lien, unter realen, in Italien bestehenden Klassenverhältnis­
dingt an brennenden (aktuellen) politischen Tatsachen und sen, in dem Maße, wie es ihm gelingt, die Zustimmung der
Ereignissen lernen, jede andere Klasse der Gesellschaft in breiten bäuerlichen Massen zu erlangen.«71 Die »Frage der
allen Erscheinungsformen des geistigen, moralischen und Hegemonie des Proletariats« ist »die Frage der sozialen Basis
politischen Lebens dieser Klassen zu beobachten; wenn sie es der proletarischen Diktatur und des Arbeiterstaates.«72
nicht lernen, die materialistische Analyse und materialistische Verglichen mit der historischen Situation der Sowjetunion
Beurteilung aller Seiten der Tätigkeit und des Lebens aller im Jahre 1918, schreibt Gramsci, werden sich die mit der
Klassen, Schichten und Gruppen der Bevölkerung in der Pra­ Hegemonie des Proletariats verbundenen Probleme in Italien
xis anzuwenden.«68 - eben aufgrund der besonderen geschichtlichen Entwicklung
In seiner Schrift Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der und Tradition - »sicherlich in schärferer und breiterer Form
bürgerlichen Revolution (1905) spricht Lenin von der Hege- stellen als in Rußland.«73 Die größere Dichte der Landbevöl­

86 87
kerung, ihre reiche organisatorische Tradition und ihr im risch-politische Forschung auszugehen hat, lautet: »Die Vor­
politischen Leben immer spürbar gewordenes »besonderes machtstellung einer sozialen Gruppe offenbart sich auf zwei­
Gewicht als Masse« erschweren die Aufklärung. Vor allem erlei Weise, als >Herrschaft< und als >geistige und moralische
jedoch hat sich der klerikale Organisationsapparat, der in Ita­ Führung<«. (R , S. 70.) Führend - und das ist eine Grundvor­
lien über eine zweitausend)ährige Tradition verfugt, »in der aussetzung für die Eroberung der Macht - muß eine soziale
Propaganda unter den Bauern und in ihrer Organisierung in Gruppe in bezug auf die verbündeten Gruppen schon vor der
einem Maße spezialisiert [■ ••], die ihresgleichen in keinem Eroberung der Regierungsmacht auftreten. »Später, wenn sie
anderen Land finden.«74 die Macht ausübt und sie fest in der Hand hat, wird sie zur
Ein weiteres Problem ist, die Haltung des Proletariats gegen­ herrschenden Gruppe, aber sie muß auch weiterhin >führend<
über der >questione meridionale< zu ändern. »Es ist bekannt, bleiben.« (Ebd.)
welche Ideologie von den Propagandisten der Bourgeoisie m Diese Verbindung von >Herrschaft< und >geistiger und mora­
der raffiniertesten Form unter den Massen des Nordens ver­ lischer Führung<, die der Tendenz nach schon in früheren
breitet worden ist. Danach ist der Süden die Bleikugel, die Gesellschaftsformationen zu finden ist, tritt mit Ausbildung
schnellere Fortschritte in der zivilisatorischen Entwicklung der modernen kapitalistischen Staaten voll zutage. Die in
Italiens verhindert, sind die Südländer biologisch minderwer­ ihrer ökonomischen Schlüsselstellung begründete Herrschaft
tige Wesen, sind sie durch natürliche Bestimmung Halbbarba­ der Bourgeoisie stellt sich nicht nur als unmittelbarer Zwang
ren oder völlige Barbaren.«75 Das Proletariat kann seine Fuh- dar, als Unterwerfung der Bürger unter den Zwangsapparat
rungsfunktion nur erfüllen, wenn es jeden Rest von »syndika­ der »>legalen< Regierung«, sondern ebenso als den Konsensus
listischem Korporativismus« überwindet und zum Vorkämp­ der Gesellschaftsmitglieder anstrebende ideologische Herr­
fer in der Frage des Südens wird. Vordringliche Aufgabe der schaft. Der Staat, schreibt Gramsci, verstanden als Einheit
Kommunisten muß deshalb sein, »die politische Richtung und von politischer und bürgerlicher Gesellschaft, ist in diesem
die allgemeine Ideologie des Proletariats selbst als eines natio­ Sinne »Diktatur plus Hegemonie« (P, S. 72; PH , S. 349.) oder
nalen Elements, das in der Gesamtheit des staatlichen Lebens »Hegemonie gepanzert mit Zwäng.« (MA, S. 132.)
existiert und unbewußt dem Einfluß der Schule, der Presse, »Gramsci leugnet nicht den Zwangscharakter des Staatsappa­
der bürgerlichen Tradition unterliegt, zu verändern.«76 rates, aber er macht deutlich, daß - will man die Bedingungen
Gramsci hebt also ebenso wie Lenin m den oben genannten verstehen, unter denen eine Klasse normalerweise ihre Vor­
Ausführungen die Bedeutung des ideologischen und politi- herrschaft ausübt —es nicht ausreicht anzunehmen, das Beste­
sehen Moments77 sowohl für die Verwirklichung der Hegemo- hen einer Gesellschaft sei abhängig vom gesetzlichen Zwang
nie des Proletariats als auch als Herrschaftsmittel der Bour­ und der materiellen Gewalt der Unterdrückungsorgane.«81 —
geoisie hervor.78 - Obwohl in dieser Analyse, wie Portelli Die Herrschaftsform, auf die sich die Bourgeoisie der entwik-
bemerkt79, schon die ganze Reichhaltigkeit des Hege- kelten kapitalistischen Staaten normalerweise neben dem
moniekonzeptes anklingt, ist die Theorie der Hegemonie wie staatlichen Zwangsapparat bei der Durchsetzung ihrer Inter­
Gramsci sie einige Jahre später in den Q u a derm - nach der essen ebenso (oder sogar überwiegend) stützt, ist die der
eingehenden Beschäftigung mit der kulturellen Entwick ung >geistigen und moralischen Führung<. Durch die Kontrolle der
Italiens und der Rolle der Intellektuellen - entwickelt, bürgerlichen Gesellschaft, d. h. durch die Kontrolle der p r i­
wesentlich umfassender und theoretisch fundierter.80 vatem Institutionen wie Schulen, Massenmedien, Kir­
chen, Verbände etc., mit deren Hilfe sie ihre >Weltanschau-
b) Die Hegemonietheorie in den Quaderni ung< verbreitet, sichert sich die herrschende Klasse den Kon­
Das methodologische Kriterium, schreibt Gramsci in seinen sensus der >Staatsbürger< und damit die Hegemonie über die
Untersuchungen über das Risorgimento, von dem die histo- gesamte Gesellschaft.

88 89
»Wenn man von bürgerlicher oder feudaler Gesellschaft tionsweise und der Ökonomie einer bestimmten Epoche anzu­
spricht, so versteht man darunter ja nicht nur eine kapitalisti­ gleichen) und nicht als Gleichgewicht zwischen der politi­
sche oder feudale Produktionsweise, die durch Gesetze, füh­ schen Gesellschaft und der bürgerlichen Gesellschaft (oder
rende Vertreter und die militärische Gewalt aufrechterhalten Hegemonie, die eine soziale Gruppe über die gesamte natio­
wird; man versteht darunter ebenso eine bestimmte Art, zu nale Gesellschaft mittels der sogenannten privaten Organisa­
leben und zu denken, eine in der Gesellschaft verbreitete tionen wie Kirche, Gewerkschaften, Schulen etc. ausübt).«
(LE, S. 481; Herv. A. K.)
>Weltanschauung<y auf der die Vorlieben, der Geschmack, die
Moral, die Sitten, der >buon senso<, die Folklore und die philo­ Roth sieht hierin eine Abweichung vom klassischen marxisti­
sophischen und religiösen Prinzipien der Mehrheit der Gesell- schen Staatsbegriff: »Es wird deutlich, daß Gramsci mit einer
schaftsmitglieder beruhen. Diese Art des Seins und Handelns solchen Staatsauffassung in scharfem Gegensatz zur marxi­
der Menschen, der Regierten, ist ein sehr wichtiger Punkt der stisch-orthodoxen Lehre vom Klassenstaat stehen muß.«83
bestehenden Ordnung; die materielle Gewalt bleibt reserviert Und weiter unten: »Diese Feststellung geht in erster Linie
für außergewöhnliche Krisenmomente.«82 gegen Marx und Engels selbst, die im kapitalistischen Staat
Nur in Krisensituationen, in Perioden revolutionärer stets nur einen >Zwangsapparat< zur Niederhaltung der ausge-
Umwälzung, wenn sich »die historische Basis des Staates ver­ beuteten Klassen gesehen haben.«84 Als Begründung verweist
schoben hat« (MA, S. 161.) und die herrschende Klasse ihre Roth auf das Kommunistische Manifest, wo der Staat charak­
ideologische Führungsrolle und damit die Kontrolle über die terisiert wird als »die organisierte Gewalt einer Klasse zur
bürgerliche Gesellschaft verliert, tritt die >Diktatur< oder der Unterdrückung einer anderen«85 und auf einen Passus im
>Zwang< an die Stelle der Hegemonie. Um die Umwälzung des Anti-Dühring, wo Engels schreibt: »Die bisherige, sich in
bestehenden historischen Blocks zu verhindern, greift die Klassengegensätzen bewegende Gesellschaft hatte den Staat
Bourgeoisie zurück auf die Unterdrückungsinstrumente der nötig, d. h. eine Organisation der jedesmaligen ausbeutenden
politischen Gesellschaft. Die Herrschaft wird ausschließlich Klasse zur Aufrechterhaltung ihrer äußeren Produktionsbe-
durch den unmittelbar physischen Zwang ausübenden Staats­ dmgungen, also namentlich zur gewaltsamen Niederhaltung
apparat aufrecht erhalten. Diese »extreme Form der politi­ der ausgebeuteten Klasse in den durch die bestehende Pro­
schen Gesellschaft« (Ebd.) kennzeichnet also eine historische duktionsweise gegebenen Bedingungen der Unterdrük-
kung.«86
Situation, in der das bisherige hegemoniale System zerstört
und noch nicht durch ein anderes ersetzt worden ist oder - Aber diese repressive Rolle, die der Staat als Inhaber des
wenn die Schaffung eines >neuen< historischen Blocks mißlingt Monopols der physischen Gewalt ausübt, wird von Gramsci,
—sich noch nicht wieder konsolidiert hat. wenn er den Staat als >Diktatur plus Hegemonie< definiert, ja
Dieser Vorrang der politischen gegenüber der bürgerlichen nicht bestritten. Er versteht die »Lehre von der Hegemonie«
Gesellschaft ist jedoch, wie gesagt, ein Kennzeichen von ausdrücklich »als Ergänzung zur Theorie des Gewaltstaats«.
Ubergangssituationen. In einem in sich gefestigten histori­ M, S. 201 f.), als »Präzisierung«, die notwendig ist, um Funk­
schen Block herrscht ein ausgewogen komplementäres Ver­ tion und Rolle des Staates in den hochentwickelten kapitali­
hältnis zwischen den Herrschaftsformen der politischen und stischen Ländern adäquat zu bestimmen.87
der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Komplementarität muß Ein wesentlicher Grund für die Stabilität kapitalistischer
im Staatsbegriff berücksichtigt werden: »Diese Studie [über Systeme liegt darin, daß - wie Marx und Engels in der Deut­
den Begriff der Intellektuellen, A. K.] führt auch zu einigen schen Ideologie schreiben — »die Klasse, welche die herr­
Präzisierungen der Konzeption des Staates, der gewöhnlich schende materielle Macht der Gesellschaft ist, [ ...] zugleich
als politische Gesellschaft verstanden wird (oder Diktatur, ihre herrschende geistige Macht [ist]. Die Klasse, die die
oder Zwangsapparat, um die Masse des Volkes der Produk­ Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat,

90 9i
disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Pro­ öffentlichen oder privaten Charakter der Institutionen.«91
duktion," so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Daß diese Bestimmung des kapitalistischen Staates - also
Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion das, was Gramsci unter Staat >im integralen Sinn< versteht -
abgehen, unterworfen sind.«88 - Die herrschende Ideologie nicht, wie Roth annimmt, in >scharfem Gegensätz< zum klassi­
wird mit Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft zu einer schen marxistischen Staatsbegriff steht, wird deutlich, wenn
immer komplexeren Struktur nicht nur in Form und Inhalt neben der Darstellung des Staates in seiner Erscheinungsform
zunehmend subtiler und differenzierter; auch die Mittel ihrer als >Zwangsapparat< die system atisch e Ableitung bei Marx
Verbreitung werden vielfältiger und umfassender. Die n und Engels berücksichtigt wird. In der D eu tsch en I d e o lo g ie
Wicklung systemkonformer Denk- und Verhaltensmuster ver­ heißt es: »Die Bourgeoisie ist schon, weil sie eine K la sse , nicht
läuft planmäßig über die sogenannten >pnvaten< Institutionen mehr ein S ta n d ist, dazu gezwungen, sich national, nicht mehr
der bürgerlichen Gesellschaft, die aufgrund ihrer organisier­ lokal zu organisieren und ihrem Durchschnittsinteresse eine
ten herrschaftssichernden Funktion in den entwickelten kapi­ allgemeine Form zu geben. Durch die Emanzipation des Pri­
talistischen Ländern zunehmend dem Bereich staathc er vateigentums vom Gemeinwesen ist der Staat zu einer beson­
Initiative zugerechnet werden müssen.89 deren Existenz neben und außer der bürgerlichen Gesellschaft
Poulantzas bemerkt zu diesem Prozeß: »Wir [MiFbandund geworden; er ist aber weiter nichts als die Form der Organi­
sation, welche sich die Bourgeois sowohl nach außen als nach
Poulantzas im Unterschied zu Gramsci] sind bei der Überle­
gung stehengeblieben, Ideologie existiere nur m Ideen, innen hin zur gegenseitigen Garantie ihres Eigentums und
Gewohnheiten oder Sitten, ohne zu sehen, daß Ideologie in ihrer Interessen notwendig geben.« Und weiter: »Da der
einem handgreiflichen Sinne in Institutionen verkörpert sein Staat die Form ist, in welcher die Individuen einer herr­
kann: Institutionen, die dann durch eben den Prozeß der schenden Klasse ihre gemeinsamen Interessen geltend machen
Institutionalisierung zum System des Staates gehören, auc und die ganze bürgerliche Gesellschaft einer Epoche sich
wenn sie prinzipiell dem Bereich der Ideologie zuzurechnen zusammenfaßt, so folgt, daß alle gemeinsamen Institutionen
sind. An die marxistische Tradition anknüpfend, neigten wir durch den Staat vermittelt werden, eine politische Form
erhalten.«92
dazu, den Begriff des Staates sehr eng zu fassen: Die lnstitu-
tionen mit überwiegend repressiver Funktion betrachteten wir Der kapitalistische Staat wird demnach bestimmt durch
als Teil des Staates und die mit überwiegend ideologischer seine gesellschaftliche Funktion als Instanz, die die gemeinsa­
Funktion verwiesen wir auf einen Ort >außerhalb< des Staa- men Interessen der Bourgeoisie - Aufrechterhaltung der Pro­
tes «90 Althusser folgend kommt Poulantzas zu to gen er duktions- und Eigentumsverhältnisse und damit der Klassen­
These: »Das staatliche System besteht aus mehreren Appara­ herrschaft - durchsetzt. Und diese systemerhaltende und -sta-
ten oder Institutionen, von denen manche eine überwiegend oilisierende Funktion kommt eben nicht nur dem >Zwangsap-
repressive Rolle, andere eine überwiegend ideologische Funk­ parat< zu, sondern ebenso dem hegemonialen Apparat. Der
tion ausüben. Erstere bilden den repressiven Apparat des Staat, schreibt Gramsci, ist »der G e s a m tk o m p le x praktischer
Staates, also den Staatsapparat im klassischen marxistischen und theoretischer Tätigkeit, mit dem die herrschende Klasse
Sinn (Regierung, Armee, Polizei, Justiz, Verwaltung), e z ihre Plerrschaft nicht nur rechtfertigt und aufrechterhält, son­
tere bilden die ideologischen Apparate des Staates, wie die dern mit dem sie auch den tätigen Konsensus der Regierten zu
Kirche, die Parteien, Verbände (mit Ausnahme revolutionärer erhalten vermag.« (MÄ, S. 79; P H , S. 354. Herv. A. K.)93 94
Parteien oder Gewerkschaften), Schulen, Massenmedien Zei­ •Diktatur und >Hegemonie< sind keine d isp a ra te n Erschei­
tungen, Radio, Fernsehen und, von einer bestimmten Warte nungsformen politischer Herrschaft. Wie bürgerliche Gesell­
aus, zumindest unter kapitalistischen Produktionsverhältnis­ schaft und Staat bilden sie eine dialektische Einheit: die
sen auch die Familie. Das gilt unabhängig vom formalen methodische Unterscheidung, betont Gramsci, darf nicht zu

93
92
einer organischen gemacht werden. (Vgl. AM, S. 29 U PH,_ S. nicht der exklusive Besitz einer begrenzten Schicht von Intel­
-Iio) So ist der repressive Staatsapparat notwend g lektuellen sein darf, sondern zu einer »kulturellen Bewe­
L n g und Garantie für das Bestehen und Funktionieren des gung«, einer »Weltanschauung« werden muß, »die sich impli­
hegemonialen Apparates. Er steht hinter den «privaten« Insti­ zit in der Kunst, dem Recht, der ökonomischen Tätigkeit,' in
tutionen95 und gewährleistet gleichzeitig, da die allen individuellen und kollektiven Lebensäußerungen mani­
Hegemonie niemals »total« ist, «»legal« die Disziplin jener festiert.« (M, S. 7; PH, S. 134.) Denn erst eine in allen gesell­
Gruppen [ ...] , die weder aktiv noch passiv >zustimmen<«. (I, schaftlichen Bereichen verankerte Weltanschauung —die ent­
sprechende Verhaltensnormen hervorbringt - garantiert die
Spie^Vermitteltheit der spezifischen Herrschaftsformen der »ideologische Einheit zwischen oben und unten«, durcli die
politischen „ „ d der bürgerlichen Gesellschaft w.rdbesonders ein historischer Block »zementiert und vereinigt« wird. (Ebd.)
deutlich bei der Funktion des Rechts. »Das Recht« v Die neue Anschauung, die die herrschende Klasse in der
Kodifizierung und Durchsetzung her zu den staatlichen Auf- ' Gesellschaft zu verbreiten sucht, und die selbst keine Schöp­
gaben im «senso stricto< gehörend - »ist der repressive und fung ex novo sein kann, sondern nur eine Kombination aus
negative Aspekt der gesamten vom Staat verfemten pos^v ^ ^ >Altem und Neuem<, in der also die kulturelle Tradition »einer
Tätigkeit der Zivihsierung.« (MA, S. 88, PH, S. 35 ■) I zuvor bestehenden Wirklichkeit« enthalten ist, wird niemals
Rechtsoraxis erzeugt jedoch bei den Gesellschaftsmitghedern in >reiner< Form übernommen, sondern in besfimmten klassen-
bestimmte Vorstellungen und Auffassungen von »«^tigern und schichtenspezifischen »ideologischen Kombinationen« -
Leben«, von dem, was >recht< ist, die sich ^ entsprechenden als »Philosophie der Philosophen«, als »philosophische Bil­
systemkonforipen - Verhaltensweisen im Alltagsleben mam dung« von Führungsgruppen, bis hin zur unzusammenhän-
festieren. Auf diese Weise, schreibt G ^ n sci weokn »Not- I genden und widerspruchsvollen Auffassungsweise des »All­
wendigkeit und Zwang zu >Freiheit«< (MA, S. 83, PH, S; 3U55° ’ tagsverstandes« breiter Volksschichten, der »Folklore der Phi­
d. h. Unterdrückung wird gar nicht mehr als so c e: er^^ ren, losophie«. (M, S. 22 u. T 1 9; PH, S. 148 u. 205.) Die Weltan-
Protest kann sich nicht artikulieren.97 Der Begriff des >Rechts< : schauung oder Philosophie einer Epoche besteht deshalb nicht
5 T i zu fassen: »Dann fallen auch die heute unter »aus der Philosophie des einen oder anderen Philosophen, der
der Formel des «rechtlich Indifferenten« subsumierten Tat g einen oder anderen Gruppe von Intellektuellen, dieses oder
keiten darunter, die in der bürgerlichen Gesellschaft vorherr­ jenes großen Teils der Volksmassen: sie ist eine Kombination
schen. Sie kommt ohne «Sanktionen« und verbm dlichoVe^ all dieser Elemente, die in einer bestimmten Richtung kul­
pflichtungen« aus, erzeugt aber nicht minder einen kollektiven miniert, und ihr Kulminationspunkt wird zur Norm kollekti­
Druck und erzielt objektive Ergebnisse bei der Herausbildung ven Handelns, also zu konkreter und vollständiger (integra-
von Verhaltensmustern, Denk- und Handeinsweisen, Moral.- | 1er) >Geschichten« (M, S. 22; PH, S. 147.)
tät, etc.« (MA, S. 83 f.; PH, S. 355.) Ein entscheidender Aspekt, der bei der Betrachtung poli­
Welche Relevanz der hegemonialen Herrschaft, a tisch-kultureller Bewegungen besonders berücksichtigt wer-
politischen und kulturellen Führung der herrschenden Klasse, ; ^en muß, ist die materielle Organisation, mit der eine Klasse
zukommt, wird daran deutlich, daß Gramsci von »Hegemonie die »theoretische und ideologische >Front< aufrechterhält, ver­
und Konsensus« als der »notwendigen Form« eines histori­ teidigt und entwickelt.« (P, S. 172.) Gramsci zählt zu dieser
schen Blocks spricht (Al, S. 201.), d. h. nur durch ein Hegemo­ *materiellen Struktur der Ideologie« alle Elemente, die in
nieverhältnis bildet sich eine wirkliche und dauerhafte Ein et irgendeiner Weise die kulturelle Umgebung und damit das

(
von Basis und Überbau, entsteht ein «integraler Staat«. Ent­ Bewußtsein des Menschen formen und beeinflussen, also
scheidend ist dabei, daß die herrschende Klasse enr theore^ neben den Hauptfaktoren Massenmedien, Schulen, Kirchen
sches Selbstverständnis besitzt, eine Philosophie, die jedoch 2nd Vereine ebenso Theater, Bibliotheken und Museen, »bE

9s
94
hin zur Architektur, der Anlage von Straßen und deren Gesellschaft zum Überbau zählt bzw. annimmt: »Zwischen
Namen.« (Ebd.) Diese ideologische Struktur der bürgerlichen der ökonomischen Struktur und dem Staat mit seiner Gesetz­
Gesellschaft, die - ebenso wie die ihr entsprechenden Bewußt­ gebung und seinem Zwang befindet sich die bürgerliche
seinsformen - ein sehr dauerhaftes, nicht kurzfristig verän­ Gesellschaft« (M , S. 266), so muß dies als zusätzliche Diffe­
derbares Moment des geschichtlichen Prozesses darstellt, bil­ renzierung der komplexen Beziehungen innerhalb des histo­
det die Grundlage des hegemomalen Systems der herrschen rischen Blocks< betrachtet werden, die sich aus der Hegemo­
den Klasse. Es ist offensichtlich, welche zentrale Bedeutung
nietheorie ergibt.
diesem »großartigen Komplex von Schützengraben und Befe­ Marx faßt unter dem Namen bürgerliche Gesellschaft die
stigungen« (Ebd.) bei der Aufrechterhaltung des kapitalisti Produktion und die aus dieser sich ergebenden Verkehrsfor­
men, also »die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse«,
sehen Systems zukommt. . R ,
Betrachtet man jetzt noch einmal die insbesondere von B »welche [n] bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen
bio vertretene Interpretation, Gramsci nehme indem er die entsprechen.«102 Gramsci versucht nun aufzuzeigen,
societä civile als unteres >Stockwerk< des Überbaus bf “ J ^ ne, daß diese Bewußtseinsformen bei fortschreitender Entwick­
»als wahre [n] Herd und Schauplatz aller Geschichte« lung der kapitalistischen Gesellschaft sich zunehmend mate­
offensichtlich nicht - wie Marx - die materiellen Lebensve"'
riell manifestieren, daß ihnen eine bestimmte ideologische
hältnisse der Individuen an” , so scheinen folgende Emwande Struktur entspricht. Zu dieser materiellen Struktur der Ideo­
gerechtfertigt. Bobbios These, wonach Gramsci den Überbau loge gehört alles, was die Vorstellungen der Menschen, die
als das für die geschichtliche Entwicklung bestimmende öffentliche Meinung direkt oder indirekt beeinflußt. Neben
Moment ansieht, kann weder - wie weiter oben zu zeigen der Presse und den anderen Massenmedien als dem dyna­
versucht wurde - aus Gramscis Konzeption des »historischen mischsten Teil, nennt Gramsci —wie schon angeführt —Schu­
Blocks« abgeleitet werden, noch erscheint sie in bezug aut die len, Bibliotheken, Kirchen, Clubs, etc. Diese Struktur oder
Hegemonietheorie als begründet. Denn die politisch-kultu­ »die Gesamtheit aller gemeinhin >privat< genannten Organis­
relle Hegemonie, die eine Klasse mittels der >pnvaten< Institu­ men« (/, S. 9; PH, S. 411.) lst die Grundlage der Hegemonie
tionen der societä civile über die.gesamte Gesellschaft ausubt, der herrschenden Klasse. Gramsci hat dargelegt, daß hegemo-
ist ja bedingt durch die entscheidende Rolle, die dieser Klass niale Herrschaft sich immer weniger >naturwüchsig< vollzieht,
in der materiellen Produktion zukommt: »Wenn die Hegemo­ sondern zunehmend einem Prozeß der >Verstaatlichüng<
nie ethisch-politisch ist, so muß sie auch ökonomisch sein « unterliegt. Diese bewußte Organisation des hegemonialen
(MA S. 3 1; PH, S. 3 11.) Die Frage der Hegemonie stellt sich Systems ist eben der Grund, weshalb Gramsci den >Ort der
für eine Klasse überhaupt erst dann, wenn historisch die politischen und kulturellen Hegemonie<, die bürgerliche
Voraussetzungen für ihre ökonomische Schlüsse position Gesellschaft, als zwischen ökonomischer Struktur und politi­
gegeben bzw. im Entstehen sind. Politisch-kulturelle Heg scher Gesellschaft befindlich bestimmt.
monie ist ja gerade eine - und, wie Gramsci darlegt, le ur le
entwickelten kapitalistischen Gesellschaften entscheidende - c) Die Rolle der Intellektuellen
Form der Herrschaft, in der sich die ökonomische Macht einer Im Gegensatz zum >gängigen< Begriff des Intellektuellen
Klasse darstellt und wirksam wird. Insofern kann kaum von nimmt Gramsci als bestimmendes Moment (das zugleich die
einer »Inversion«100 der grundlegenden Marxschen Aultas Abgrenzung gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen
sung, die Produktionsweise des materiellen Lebens bedinge erlaubt) nicht allein die ausgeübte >geistige< Tätigkeit an103;
den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß der entscheidend ist vielmehr die Funktion, die diese Tätigkeit im
Menschen101, gesprochen werden. gesellschaftlichen System hat. »Der verbreitetetste methodi­
Wenn Gramsci nun im Gegensatz zu Marx die bürgerliche sche Irrtum [bei der Unterscheidung Intellektuelle / Nichtin­

96
97
tellektuelle, A. K.l scheint mir zu sein, daß dieses Unterschei­ druck >traditionell< bezeichnet diejenigen Intellektuellen, die
dungskriterium innerhalb der intellektuellen Tätigkeiten nicht auf organische Weise mit den gegenwärtig herrschenden
gesucht wird und nicht innerhalb des Systems der Verhältnis Klassen verbunden sind. Der Intellektuelle wird immer in
se, in dem die intellektuellen Tätigkeiten (und folglich die sie bezug auf eine progressive Klasse als traditionell bezeichnet.
verkörpernden Gruppen) bestehen - im allgemeinen Zusam­ Das impliziert gleichzeitig, daß die Intellektuellen, die - auf
menhang der gesellschaftlichen Verhältnisse.« (I, S. 6, PH, S. die herrschenden Klassen bezogen - traditionell sind, die
organischen Intellektuellen der untergegangenen oder im
4 Geht man aus von einer überwiegenden »geistigem bzw. Untergehen begriffenen Klassen waren oder sind.«108 Die
»körperlichem Anstrengung, so kann zwar eine bestimmte traditionellem Intellektuellen, die größtenteils der mittleren
»Berufsgruppe der Intellektuellem unterschieden werden, und kleinen Landbourgeoisie entstammen und hauptsächlich
andererseits; da jede menschliche Tätigkeit gewisse intellek­ >freiberuflich< tätig sind — also Ärzte, Juristen, Wissenschaft­
tuelle Fähigkeiten voraussetzt - »der »homo faber< is vom ler, aber auch Beamtenschaft und Klerus - , sehen sich selbst, da
»homo sapiens« nicht zu trennen« (ebd.) - kannjedoch mc sie »mit ihrem >Korpsgeist< ihre ununterbrochene geschichtli­
von »Nichtintellektuellem gesprochen werden »Alle Men­ che Kontinuität und ihre >Qualifikation< spüren, [ ...] als
schen sind Intellektuelle, könnte man sagen, ^ autonom und unabhängig von der herrschenden Gesell­
nicht alle Menschen haben in der Gesellschaft die Funkti schaftsklasse an.« (/, S. 5; PH, S. 408.) —Piotte weist jedoch zu
von Intellektuellen.« (Ebd., Herv. A. K.) - Die Unterschei­ Recht darauf hin, daß diese Illusion, über den sozialen Klassen
dung von >Kopf-< und »Handarbeitern« ist demnach nur sinn­ zu schweben, natürlich nicht nur ein Merkmal der traditionel­
vollen bezug auf die Funktion, die bestimmte Gruppen inner­ len Intellektuellen ist, sondern — wenn auch nicht in dieser
halb des historischen Blocks erfüllen und nicht aufgrund typischen Weise —ebenso für die organischen Intellektuellen
besonderer Fähigkeiten oder >Begabung<. ,, zutrifft109, da die Möglichkeit dieser Illusion in der relativen
Die ih dieser funktionalen Weise bestimmten Intellektuellen Autonomie der Intellektuellen in bezug auf die ökonomische
bilden keine autonome gesellschaftliche Klasse; Basis begründet ist, auf die Gramsci gerade hinweist110: »Das
besitzt jede soziale Gruppe eine eigene Schicht von Intellek Verhältnis zwischen den Intellektuellen und der Welt der Pro­
tuellen oder versucht zumindest, sie sich zu schaffen. Vg • , duktion ist kein unmittelbares, wie bei den gesellschaftlichen
S. 7i.) Im Abschnitt über Die Heranbildung der Intellektuel­ Hauptklassen, sondern es ist - in verschiedenem Maß - durch
len heißt es: »Jede Gesellschaftsklasse, die sich bildet, weil sie das gesamte gesellschaftliche Gewebe >vermittelt<, durch den
eine wesentliche Funktion innerhalb der Welt ökonomischer Komplex der Überbauten, deren >Funktionäre< eben die Intel­
Produktion innehat, schafft sich zugleich a n organische lektuellen sind.« (/, S. 9; PH, S. 4 11.) Es besteht also keine
Weise eine oder mehrere Schichten von Intellektuellen, die mechanische Beziehung zwischen einer Klasse und den sie
ihr Homogenität und Bewußtsein der eigenen Funktion. nicht repräsentierenden Intellektuellen.
allein auf ökonomischem, sondern auch auf gesellschaftlichem »Der Intellektuelle ist ebensowenig der passive Vertreter der
und politischem Gebiet verleihen.« (/, S. 3; PH, S. 40 f. Herv. Klasse, die er repräsentiert, wie der Überbau der einfache
A K ) Diese Intellektuellen, die jede »wesentliche« Klasse Reflex der Basis ist. [.. .] Die Beziehungen zwischen Intellek­
zugleich mit sich selbst schafft und entwickelt, und die des­ tuellen und sozialer Klasse beinhalten die gleichen Probleme
halb das je spezifische Gepräge dieser Klasse haben, bezeich­ wie jene zwischen den beiden Momenten des historischen
net Gramsci als »organische« Intellektuelle.106 Gleichzeitig Blocks.«111
jedoch findet jede aufsteigende Klasse bereits bestehende Die traditionellen Intellektuellen stehen als Vertreter eines
»traditionelle« - Schichten von Intellektuellen vor die mit der untergehenden historischen Blocks zwangsläufig in Wider­
»altem herrschenden Klasse verbunden waren. »Der Aus- spruch zu der neu sich bildenden Gesellschaftsform. Ein

99
wesentliches Problem der zur Herrschaft gelangenden Klasse ihre Verbreitung in der gesamten Gesellschaft - die »ideologi­
ist deshalb die Integration der traditionellen Intellektuellen in sche Struktur« (P, S. 172.) - aufbauen. Man kann deshalb eine
den »neuen« historischen Block. »Eines der he™ rf »Stufenfolge der Qualifikationen« bei den Trägern des hege-
Merkmale jeder Gruppe, die sich zur herrschenden entwic­ monialen Systems feststellen: »Auf der höchsten Stufe stehen
kelt, ist ihr Kampf um >ideologische< Assimilation und Ero e die Schöpfer der verschiedenen Wissenschaften, der Philoso­
rung der traditionellen Intellektuellen; diese Assimilation und phie und Kunst; auf der untersten die bescheidenen >Verwal­
Eroberung erfolgt um so rascher und wirksamer, je mehr diese ten und Verbreiter des bereits bestehenden traditionellen
Gruppe zugleich eigene organische Intellektuelle hervor akkumulierten Reichtums.« (I, S. 10; PH, S. 412.)112
bringt« (/, S. 7; PH, S. 41°-) Die mit der aufsteigenden Klasse Die Bildung einer Schicht von organischen Intellektuellen ist
verbundenen Intellektuellen üben durch ihre progressive unabdingbare Voraussetzung für die Errichtung eines dauer­
organisatorische Entwicklung und ihre meist engere ideolog - haften hegemonialen Systems. »Diese Auffassung der Rolle
sehe Verbundenheit »eine solche Anziehungskraft aus daß sie der Intellektuellen erklärt meiner Ansicht nach die Ursache
sich schließlich die Intellektuellen oder eine der Ursachen für den Niedergang der mittelalterli­
unterordnen und auf diese Weise eine Solidarität aller Intel chen Kommunen, d. h. der Regierung einer ökonomischen
kktuellen herbeiführen.« (R, S . 7 i.) Hierbei ist von Bedeu­ Klasse, die nicht in der Lage war, sich eine eigene Kategorie
tung, daß dieser Prozeß des »Äufsaugens« der gegnerischen von Intellektuellen zu schaffen und also eine Hegemonie über
Elite nicht erst nach der Machtübernahme beginnt; die Inte- die Herrschaftsform der Diktatur hinaus auszuüben.« (LE,
gradon der traditionellen Intellektuellen in das sich entwik- S. 481.) Die Intellektuellen garantieren als Vermittler von
' kelnde hegemoniale System der aufsteigenden K as^ steilt Herrschaft (vgl. LE S. 543.) den ideologischen und politischen
vielmehr eine entscheidende Vorbedingung dar für die Erobe Zusammenhalt der Gesellschaft. Sie sind, wie Portelli sagt,
rung der Macht, da dieser Prozeß der, wie Gramsci sagt »lien organique« zwischen Basis und Überbau113 und schaffen
»decapitazione« der bisher herrschenden Klasse somit erst die organische Einheit, die Gramsci historischen
(Vgl R S. 70.) Dies wird deutlich, wenn man noch einmal d Block< nennt. »Wenn das Verhältnis zwischen Intellektuellen
zentrale Bedeutung sieht, die den Intellektuellen innerhalb und Volk (Nation), zwischen Führenden und Geführten -
des historischen Blocks zukommt. , ..i,- Regierenden und Regierten - durch einen organischen Beitritt
Im Abschnitt über Die unterschiedliche Position der stadti besiegelt ist, wobei Gefühl und Leidenschaft zu Verständnis
sehen und ländlichen Intellektuellen spricht Gramsci von den und folglich zu Wissen werden (nicht mechanisch, sondern auf
Intellektuellen als den »Führern und Organisatoren aller lebendige Weise), erst dann entsteht ein repräsentatives Ver­
jener Fähigkeiten und Funktionen, die mit der organischen hältnis, und es erfolgt der Austausch individueller Elemente
Entwicklung einer integralen - bürgerlichen und j_ zwischen Regierenden und Regierten, zwischen Führenden
Gesellschaft verbunden sind.« (/, S.,1 2 ; ^ S. 4 U-) und Geführten, das heißt, es verwirklicht sich das Zusammen­
lektuellen sind als »Funktionäre des Überbaus« die >A g leben, das allein eine gesellschaftliche Macht darstellt; es bil­
stellten« der herrschenden Klasse (vgl. 7, S .9; PH, det sich der historische Block<.« (M, S. 1 1 5 ; PH, S. 429.)
sowohl bei der Wahrnehmung der spezifischen Aufgaben des
staatlichen Zwangsapparates als auch - und dann liegt )■ Revolutionstheoretische Aspekte der Hegemonietheorie
prinzipielle Bedeutung - bei der Ausübung der hegemomalen
Funktionen in der bürgerlichen Gesellschaft- der >ei6en^ c^ Die Analyse der Wirkungsweise hegemonialer Herrschaft und
Wirkungsstätte der Intellektuellen. (Vgl LE, S. 481.) Sie s der Aufweis ihrer zentralen Bedeutung für dem Fortbestand
es die die Ideologie der herrschenden Klasse zu einer »Welt­ des kapitalistischen Systems in den industriell und kulturell
anschauung« entwickeln und die materielle Organisation für entwickelten Ländern Westeuropas führen Gramsci notwen-

I OO
101
dig zu dem Ergebnis, daß die 1918 in der Sowjetunion erfolg­
reiche Strategie nicht als Modell für eine Revolution in den lkTkek de r Be7 ßtf ulns 7 eigenen historischen Persön-
westlichen Ländern übernommen werden kann. ich von d f Ab*PaItun8> dahin tendieren muß,
Die direkte Eroberung der Staatsgewalt in der Oktoberrevo­ dete„ kT I t ? Khsse„ bis auf die potentiell verbün-
lution führte zum Sieg, weil der Staat die einzige Stütze des deo n T l l USZUlehnen: a11 das erfordert eine komplexe
zaristischen Regimes war. In den entwickelten kapitalisti­ n t des r 'h 6 beU’ V ? erStC Bedingung die genaue Kennt-
schen Ländern sichert dagegen nicht allein der Staatsapparat
Die revolutionäre Veränderung der bestehenden kapitalisti-
die Aufrechterhaltung des Systems; die eigentliche Machtbasis
chen Verhältnisse setzt eine umfassende Aufklärungsarbeit
der Bourgeoisie ist vielmehr die bürgerliche Gesellschaft mit raus, die das Proletariat und die verbündeten Schichten in
ihren hegemonialen Institutionen. die Lage versetzt, sich aus der erzwungenen geistigen
»Im Osten war der Staat alles, die bürgerliche Gesellschaft Unmündigkeit zu befreien und ein kritisches Bewußtsein ihrer
war rudimentär und ihre Konturen waren fließend; im Westen
historischen Rolle zu entwickeln. Dieses Vermögen,' sich der
herrschte zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft ein
urgerhchen Hegemonie zu widersetzen, ist jedoch abhängig
ausgewogenes Verhältnis; und erzitterte der Staat, so ent­
von einer >neuen< Weltauffassung, die als Handlungsanwei­
deckte man sofort die kräftige Struktur der bürgerlichen sung an die Stelle der bisherigen Vorstellungen treten und sie
Gesellschaft. Der Staat war ein vorgeschobener Schützengra­ sonnt erst überwinden kann. Aufgabe der Philosophie der
ben, hinter dem eine robuste Kette von Befestigungswerken raxis lst deshalb die Entwicklung und Vermittlung dieser
und Kasematten lag.« (MA, S. 68; PH, S. 347.) >neuen integralen Kultur«, die den »Massencharakter der
Das Ziel der revolutionären Bewegung in Westeuropa kann Reformation und der französischen Aufklärung« (M, S. 199.)
also nicht die unmittelbare Eroberung des Staatsapparates besitzen, also zu einer wirklichen Vo/fobewegung werden
sein - der >Frontalangriff< oder »Bewegungskriegs wie muß. »Eine neue Kultur schaffen«, schreibt Gramscf »bedeu-
Gramsci es mit den während des Ersten Weltkrieges geprägten
militärstrategischen Begriffen ausdrückt - sondern die revolu­ m L h 1Cht mdmc!ue11 'neuartige< Entdeckungen zu
tionäre Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaft, was dem W a h rh \eS aUCh Und besonders’ bereits entdeckte
ahrheiten kritisch zu verarbeiten, sie sozusagen zu >verge-
>Stellungskrieg< im Gegensatz zum >Bewegungskrieg< ent­
spricht.112 K n n T ft6n<’ S’e le.benSWlchtigen Handlungen als Element der
Diese radikale Veränderung der societä civile - eine Verän­ l e g e n ^ n S T ^ P ^ S 5^^gmorahschen Ordnung zugrunde zu
derung, die sich, wie Gramsci betont, >in concreto<, d. h. im Entscheidend ist hierbei jedoch, daß den Volksmassen nicht
wirklichen Zusammenleben der Menschen, und nicht nur auf durch äußerliche Beeinflussung >Erkenntnisse< oktroyiert wer-
dem Papier der Gesetzbücher vollziehen muß (M, S. 266.) —
kann natürlich nicht ausschließlich das Werk einer revolutio­ eine ,Au; 8a,ngSPUn,kt Jeder Aufklärungsarbeit muß vielmehr
eine kritische Analyse des Alltagsverstandes sein, der wider-
nären Avantgarde sein; sie ist abhängig von der aktiven Betei­
ligung der großen Masse der Bevölkerung. Das Proletariat tePnUVolkhen “ T mkoßären,ten Anschauungsweise des »brei-
(und in der Folge Bauernschaft und Kleinbürgertum) muß sich c L f t E kU ' f f " nkr7 ch ln jenen verschiedenen gesell­
schaftlichen und kulturellen Bereichen übernommen wird, wo
aus der politisch-kulturellen Hegemonie der Bourgeoisie sich die sittlich-moralische Individualität des Durchschnitts­
lösen, d. h. ein Bewußtsein seiner Lage erlangen und zum menschen entwickelt.« (M, S. 119; PH, S. 205.) Im Bereich der
Träger der revolutionären Bewegung werden. »Was kann eine ag ic en Erfahrungen, im Alltagsleben müssen die Wider­
Neuererklasse dem großartigen Komplex von Schützengrä­ spruche des kapitalistischen Systems aufgezeigt und hergelei­
ben und Befestigungen der herrschenden Klasse entgegenstel­ tet werden. Marxistische Theorie muß anknüpfen an die
len? Den Geist der Abspaltung, d. h. die fortschreitende •»spontanen« Gefühle der Massen« 1» , ihre Aufgabe ist die kn-
102
sehr schwer, so schwer wie neu schöpfen. Denn es handelt sich
tische Überwindung des Alltagsverstandes, dessen »gesunder
Kern« - der »buon senso« (in diesem Kontext verstanden nicht darum, materielle Dinge zu zerstören, es geht darum,
unsichtbare, unfühlbare >Verhältnisse< zu zerstören, auch
als »gesunde Skepsis< dem Gegebenen gegenüber) - weiter
wenn sie sich in den materiellen Dingen verbergen.« (P,
S. 158.) Daraus ergeben sich für die Praxis einer revolutionä­
ren Bewegung, »die dahin tendiert, den Alltagsverstand und
und also auch der Theorie gegenüber spontaner Pr>“ be!“ ^
generell die alten Weltanschauungen zu ersetzen«, folgende
nun darin, die einzelnen Erfahrungsgehalte, die in mehr oder
weniger disparater Vielheit den gesunden Menschenverstand »Notwendigkeiten«: »1. nie müde zu werden, die eigenen
begründen, zu einer einheitlichen Weltanschauung zu ver­ Argumente zu wiederholen (wobei die literarische Form
wechseln kann): die Wiederholung ist das wirksamste didakti­
knüpfen, die als Leitfaden des Handelns dienen kann und sich
sche Mittel, um auf die Volksmentalität einzuwirken; 2. uner­
in der Praxis dauernd selbst berichtigt und verändert. Eine
müdlich zu arbeiten, um immer umfassendere Volksschichten
Volkskultur muß diese Leistung der yereinhetthchung [. ]
intellektuell zu fördern, dem amorphen Massenelement Per­
vollbringen, um eben die Entfremdung, m der sich die
sönlichkeit zu verleihen, was bedeutet, an der Bildung eines
Verhältnisse als disparate darstellen, zu uberwinden.«
Wenn Gramsci also hervorhebt, wie wichtig es ist, bei der neuen Typs von Intellektuellen-Eliten zu arbeiten, die direkt
Vermittlung von Klassenbewußtsein kritisch vom Alltagsver aus der Masse hervorgehen und gleichwohl mit ihnen in
Tand und den »spontanen Gefühlen der Massen< auszugehen Verbindung bleiben, um zu >Korsettstangen< zu werden.« (M,
dann ist damit ebenso gemeint, daß jede Aufklärungsarbeit an S. 17; PH, S. 144.) Nur durch die Fferanbildung einer Intel­
lektuellenschicht, die auf >organische Weise< mit den Volks­
die je besonderen nationalen Kulturtraditionen eines
massen verbunden ist116, also in den aus der täglichen Praxis
anknüpfen muß. »Nach der Philosophie der Praxis [. . -] ™ ß
[ .] die internationale Situation in ihrem nationalen Aspekt sich ergebenden Fragen »die Quelle der zu untersuchenden
betrachtet werden. In Wirklichkeit ist das »nationale Verhält­ und zu lösenden Probleme sieht« (M, S. 9; PH, S. 135.)? kann
erreicht werden, daß die aus der Philosophie der Praxis
nis das Resultat einer (gewis' erma^ entwickelte Weltauffassung >Leben<, d. h. zu einer umfassen­
nären< Kombination. Sie muß in ihrer Originalität und E
zigartigkeit verstanden und begriffen werden um beherrsch den Volksbewegung wird, ohne die die Zerstörung der bür­
gerlichen Hegemonie und die Schaffung eines »neuen histori­
bar zu sein. Gewiß treibt die Entwicklung auf den Internatio-
schen Blocks ohne innere Widersprüche« unmöglich sind: »Je­
nalismus zu, aber der Ausgangspunkt ist >national<. [• •
dem Hegemoniebegriff sind die Erfordernisse nationaler Kul­ der geschichtliche Akt kann von niemand anderem als dem
>Kollektivmenschen< vollzogen werden, setzt also eine k u l­
turverknüpft.« (MA, S. 11 4; PH, S. 358 f-; Herv. A. K.)
Strategien politischer Praxis können nicht, einem abstrakten turell-gesellschaftliche Einheit voraus, durch die eine Viel­
Internationalismus folgend, allgemeinverb.ny.ch fotgGegt zahl auseinanderstrebender Willen mit unterschiedlichen Zie­
werden; sie müssen der jeweils besonderen historischen Srtua len sich auf der Basis einer gleichen und gemeinsamen Welt­
tion eines Landes entsprechen: die Form des Klassenkampfes anschauung für dasselbe Ziel zusammenschließen.« (M, S. 26;
wird notwendig durch nationale Besonderheiten modifi- PH, S. 151.)

Die Veränderung der bürgerlichen Gesellschaft durch den


Abbau der bestehenden hegemomalen Strukturen un
Schaffung einer wirklichen Volkskultur sind - wie sc on
Begriff des »Stellungskrieges« angedeutet - nur denkbar als
ein schrittweiser und langwieriger Lernprozeß: »Zerstören ist
105
104
III. Die erkenntnistheoretische Bedeutung muß lauten: »Wie entsteht die geschichtliche Bewegung auf
der Hegemonietheorie für eine marxistische Theorie Grundlage der Basis? [. ..] Dies ist der entscheidende Punkt
aller zur Philosophie der Praxis entstandenen Fragen [. . .]
des Überbaus Nur auf dieser Ebene kann jeder Mechanismus eliminiert wer­
Obwohl schon Marx darauf hingewiesen hat, daß es in der Tat den, muß die Frage nach der Bildung politisch aktiver
viel leichter sei, »durch Analyse den irdischen Kern der reli­ Gruppen gestellt werden.« (M, S. 129 f.; PH, S. 215 f.; Herv.
giösen Nebelbildungen zu finden, als umgekehrt aus den A. K.)
jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmel­ Voraussetzung wissenschaftlich fundierter politischer Praxis
ten Formen zu entwickeln«, und er das letztere Vorgehen a s ist die Ausarbeitung einer Methodologie der historisch-politi­
die »einzig materialistische und daher wissenschaftliche schen Forschung. Die Hegemonietheorie mit dem zentralen
Methode« ansah117, beschränken sich dem Anspruch nach Begriff des >blocco storico< ist der ansatzweise, nicht systema­
marxistische Analysen der verschiedenen Uberbaubereiche tisch ausgeführte Versuch, dieses Programm einzulösen; als
auch heute noch größtenteils auf eine nachträgliche Zuord­ erkenntnisleitendes Motiv jedoch (das geht schon aus der
nung ideologischer Phänomene zu bestimmten Entwicklungen Interpretation des Marxismus als einer >Theorie des ethisch­
der Basis; die Untersuchungen bewegen sich also bestenfalls politischen Handelns< hervor) durchzieht die Frage nach den
auf einer rein ideologiekritischen Ebene. Eine materialisti­ politisch-kulturellen Organisationsweisen einer Gesellschaft
sche wissenschaftliche Theorie des historischen Werdens sämtliche Schriften Gramscis.
müßte demgegenüber die erkenntnisleitende Frage, die Marx In der Folgezeit wurde diese Problemstellung in Italien von
für das System der Kritik der politischen Ökonomie beant­ Galvano della Volpe aufgenommen, der die oben zitierte
wortet hat - »warum dieser Inhalt jene Form annimmt«118 - >Selbstkritik< Engels’ seiner Critica del gusto programmatisch
als methodische Forderung verstehen, die für alle Gegen­ voranstellt.122 Della Volpe versuchte, anhand einer genauen
standsbereiche marxistischer Theorie einzulösen ist. Es geht methodologischen Analyse der Marxschen Frühschriften123
also um die Bestimmung des Konstitutionsprozesses der mit und einer Rekonstruktion der Methode der Kritik der politi­
der ökonomischen Basis mehr oder weniger eng verflochtenen schen Ökonomie parallel eine materialistische Logik und eine
Formen des Überbaus, d. h. um die Entwicklung der-»formel­ historische Dialektik zu entwickeln.124 Marx’ Einwand gegen
len Seite«, die, wie Engels schreibt, gegenüber der (inhaltli­ Hegel, ihm sei es nicht gelungen, »die eigentümliche Logik
chen) Ableitung aus den ökonomischen Grundtatsachen ver­ des eigentümlichen Gegenstandes zu fassen«125, interpretiert
nachlässigt worden sei: »die Art und Weise, wie diese Vorstel­ Della Volpe als gegen jeden Apriorismus gerichtete materiali­
stische Kritik, deren Originalität in dem Nachweis besteht,
lungen etc. zustande kommen.«119
Auf dieses Problem der logischen Struktur des historischen *>daß als tatsächliches Resultat aller aprioristischen, geneti­
Prozesses zielt Gramsci ab, wenn er - gegen die ökonomi- schen oder hypostatischen Abstraktionen nicht die >Leerheit<
stisch-mechanischen Verkürzungen der Marxschen Theorie - jener Abstraktionen entsteht [. ..], sondern im Gegenteil ihre
eine »Wissenschaft [!] der Politik und der Historiographie« fehlerhafte) Auffüllung mit empirischen Inhalten, welche
fordert. Der Marxsche Satz, heißt es im Abschnitt über Basis nicht vermittelt oder unverdaut sind.«126
und Überbau, daß die Menschen das Bewußtsein der struktu­ Eine wissenschaftliche, d. h. analytische Dialektik muß dem­
rellen Konflikte auf dem Gebiet der Ideologien gewinnen120, gegenüber, will sie der >Rache der Empirie< entgehen, von
»muß als eine Feststellung von erkenntnistheoretischem und abstrakten Hypostasen zu historisch konkreten Abstraktionen
nicht rein psychologischem [ . . . ] Wert betrachtet werden.« kommen, die es ermöglichen, gegenüber dem Allgemeinen die
{M, S. 39; PH, S. 163. Herv. A. K.)121 Die grundlegende Frage spezifische Verschiedenheit des besonderen Gegenstandes zu
bei'der Bestimmung des Verhältnisses von Basis und Überbau erfassen. Eine solche begriffliche Synthese stellt exemplarisch

I 06
die Marxsche Abstraktion der >Arbeit sans phrase< dar, in der M = II materialismo storico e la filosofia di Benedetto Groce, Torino 19668,
Opere Bd. 2;
»die verschiedenen historischen Wesenszüge der Arbeit zu I = Gli intellettuali e l3organizzazione della cultura, Torino 19668, Opere
Begriffsmerkmalen umgemünzt werden und folglich eine ein­ B d .'3;
heitliche allgemeine Bedeutung annehmen, indem sie ihre R = II Risorgimento, Torino 19 7 2 10, Opere Bd. 4;
enge, aufs Einzelne beschränkte, nur analytische Wesenheit MA = Note, sul Machiavelli, sulla politica e sullo stato moderno, Torino 1973,
Opere Bd. 5;
verlieren, die ihrer Geschichtlichkeit oder geschichtlichen L = Letteratura e vita nazionale, Torino 1950, Opere Bd. 6;
Notwendigkeit entspringt. [-...] Daraus ergibt sich eine Syn­ P = Passato e Presente, Torino 19667, Opere Bd. 7;
these, die zugleich Analyse ist: die historische oder bestimmte LE = Lettere dal Carcere, Torino 1965 (Französische Übersetzung bei Galli­
Abstraktion, in welcher sich tatsächliche Geschichtlichkeit und mard: Lettres de prison, Paris 1971).
3 Nicolai Bucharin, Theorie des Historischen Materialismus, Hamburg 1922.
Idealität (nichtchronologischer Charakter) versöhnen.«127 4 Gramsci spielt hier auf eine Bemerkung Engels’ im Anti-Dühring an. Vgl.
Diese bestimmte Abstraktion^ die die je spezifischen Wider­ MEW, Bd. 20, S. 77.
sprüche und das historisch >Diskrete< in seiner Eigenbewegung 5 »Gewiß bedeutet Vorhersehen nur, Gegenwärtiges und Vergangenes als in
Bewegung befindlich gut zu beobachten. Gut beobachten heißt, die fundamen­
zu erfassen vermag, ist das im Marxschen Werk enthaltene
talen und permanenten Elemente des Prozesses genau zu identifizieren. Es ist
logische Instrument. Seine Anwendung auch auf die verschie­ aber absurd, an eine rein >objektive< Voraussage zu denken.« {MA, S. 38; PH,
denen Uberbauformen, in denen ja —wie Marx betonte —die S- 3 1 9 -)
Menschen sich ihrer Konflikte bewußt werden und sie aus­ 6 Vgl. ebenso M, S. 1 5 1 ; PH, S. 237: Der Historische Materialismus darf
nicht als »etwas verbesserter und revidierter traditioneller Materialismus« auf­
fechten, ermöglicht erst eine auf praktische Umwälzung<
gefaßt werden. »Identität der Termini bedeutet nicht Identität der Begriffe.«
gerichtete wissenschaftliche Erkenntnis der Wirklichkeit. 7 Vgl. dazu MEW, Bd. 23, S. 393 (Anmerkung), wo Marx den abstrakt­
naturwissenschaftlichen Materialismus kritisiert, der den geschichtlichen Pro­
zeß der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur ausschließt.
8 Christian Riechers, Antonio Gramsci. Marxismus in Italien, Frankfurt
1970, S. 17 1.
Anmerkungen 9 Gerhard Roth, Gramscis Philosophie der Praxis, Düsseldorf 1972, S. 41.
10 Riechers, a.a.O., S. 133. Als Erklärung für Gramscis angeblich subjektiv­
1 Während Gramsci - wie die neuere marxistische Philosophie und Politik­ idealistischen Ansatz verweist Riechers auf den großen Einfluß, den der italie­
wissenschaft in Italien überhaupt —in der BRD immer noch weithin unbekannt nische Hegelianismus (Croce, Gentile) auf Gramsci ausgeübt habe. Dieser
ist, setzte die Gramsci-Rezeption in Frankreich schon wesentlich früher ein Einfluß ist für die Jugendschriften unbestritten (vgl. P. Togliatti, Gramsci e il
(eine Auswahl seiner Schriften in französischer Sprache erschien bereits 1956 ieninismo, in: Studi gramsciani, Roma 1958, S. 423) — Gramsci sagt selbst in
bis 1959) und erreicht gegenwärtig einen Höhepunkt. Siehe die Literaturbe­ den Quaderni, er sei früher »tendenziell Crocianer« gewesen. Riechers dagegen
richte in Le Nouvel Observateur {No. 492), 13 .-2 1. April 1974, und Le Monde versucht, »eine ungebrochene Kohärenz des theoretischen Ansatzes« von den
vom 22. 3. 74. Bei Gallimard erscheint bis 1976 eine achtbändige Gramsci- Jugendschriften bis hin zu den Quaderni zu konstruieren. Vgl. zu diesem
Gesamtausgabe, deren erster Band bereits vorliegt: A. Gramsci,Ecnts politi- Problem auch A. Pizzorno, A propos de la methode de Gramsci de l’ historio-
ques I (19 14-19 20 ). Textes choisis, presentes et annotes par Robert Paris, Paris graphie d la Science politique, in: UHomme et la Societe, Nr. 8, 1968, S. 162,
1974. Außerdem eine Sondernummer der Vierteljahresschrift Dialectiques (No. und G. Fiori, La vie de Antonio Gramsci, Paris 1970, S. 248 f., die die
4-5, special A. Gramsci). Als wichtige Neuerscheinungen der letzten zwei Jahre Questione meridionale als »oevre de transition« ansehen.
sind zu nennen die beiden ausgezeichneten Arbeiten von Hugues Portelh, 11 Juan Rodriguez-Lores, Die Grundstruktur des Marxismus. Gramsci und
Gramsci et le bloc historique, Paris 1973, und ders., Gramsci et la question reli- äie Philosophie der Praxis, Frankfurt 19 7 1, S. 32.
gieuse, Paris 1974; Dominique Grisoni / Robert Maggiori, Lire Gramsci, Paris 12 Vgl. ebenso M, S. 164, PH, S. 245: »Bei der Frage der Teleologie tritt der
1973; Maria-Antonietta Macciocchi, Pour Gramsci, Paris 1974. Fehler des Lehrbuchs (Bucharins), die philosophischen Lehren der Vergangen­
2 Sämtliche Gramsci-Zitate werden anhand der italienischen Ausgabe der heit zu Trivialitäten zu degradieren, noch deutlicher zutage. Dem Leser kommt
Werke Gramscis bei Einaudi nachgewiesen. Außerdem wird - soweit möglich es dann vor, als sei die gesamte vergangene Kultur eine Phantasmagorie von
- die deutsche Übersetzung angeführt, an der z. T. Korrekturen vorgenommen delirierenden Bacchanten gewesen.«
wurden. (A. Gramsci, Philosophie der Praxis. Eine Auswahl. Herausgegeben 13 Vgl. Benedetto Croce, Geschichte als Gedanke und Tat, Hamburg 1944,
und übersetzt von Christian Riechers, Frankfurt 1967, im Text = PH) Für die S‘ 4 1 ‘
italienische Ausgabe wurde folgender Schlüssel benutzt: 14 Vgl. Benedetto Croce, Philosophie der Praxis, Tübingen 1930, S. 184.

108
15 Vgl. Benedetto Croce, Theorie und Geschichte der Historiographie, zeß. Vgl. ebenso MA, S. 1 1 : »Begriff des historischen Blocks<, das heißt Einheit
Tübingen 1930, S. 343 f. von Natur und Geist (Basis und Überbau), Einheit der Gegensätze und Unter­
16 Hans Heinz Holz, Strömungen und Tendenzen im Neomarxismus, Mün­ schiede.«
chen 1972, S. 25. 30 Vgl. dazu K. Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW, Bd. 26.1, S. 260:
17 Vgl. ebenso M, S. 12: Theorie ist nicht »Komplement«, »Zubehör« oder »Der Mensch selbst ist die Basis seiner materiellen Produktion, wie jeder
»Magd der Praxis«. Beide Elemente dürfen nur »unterschieden«, nicht aber andren, die er verrichtet. Alle Umstände also, die den Menschen affizieren, das
»gespalten, getrennt« werden. Ihre Vereinigung ist ein »realer geschichtlicher Subjekt der Produktion, modifizieren plus ou moins alle seine Funktionen und
Prozeß.« (M, S. 13.) Tätigkeiten als Schöpfer des materiellen Reichtums, der Waren. In dieser
18 In der Sekundärliteratur wird inzwischen allgemein davon ausgegangen, Hinsicht kann in der Tat nachgewiesen werden, daß alle menschlichen Verhält­
daß Gramsci den Begriff »Philosophie der Praxis« nicht einfach synonym für nisse und Funktionen, wie und worin sie sich immer darstellen, die materielle
Marxismus gebraucht, als bloße Chiffre unter der Gefängniszensur, sondern Produktion beeinflussen und mehr oder minder bestimmend auf sie eingreifen.«
daß er eine Akzentuierung und Interpretation darstellt. 31 Riechers, a.a.O., S. 140. Das Ende des Satzes, » [. . .] voluntaristische
19 Auch Croce bezeichnet seine Philosophie als »absoluten Historismus«. Züge, die in Fatalismus Umschlägen, der die gesamtgesellschaftliche Bewegung
Gramsci weist diesen Anspruch zurück, da —wie oben ausgeführt —Geschichte als tendenziell starr und abgeschlossen setzt«, bleibt angesichts Gramscis
sich bei Croce zu »Begriffsgeschichte« verflüchtigt. ständiger Betonung der Unabgeschlossenheit der geschichtlichen Entwicklung
20 Jacques Texier, Gramsci et la philosophie du marxisme, Paris 1966, S. 50. völlig unverständlich.
21 Riechers wirft Gramsci vor, den Marxismus nicht als radikalen Bruch mit 32 Ebd.
allen bisher nur rein aufklärerischen Auffassungen anzusehen, sondern als 33 Ebd., S. 14 1.
»deren bruchlose Fortentwicklung und Aufgipfelung.« (a.a.O., S. 121.) 34 »Gramsci e la concezione della societä civile«, in: Gramsci e la cultura
Gramsci betont jedoch, daß sich die Marxsche Theorie nicht in einigen »Quel­ contemporanea. Atti del convegno internazionale di studi gramsciani tenuto a
len« und der »persönlichen Bildung« ihres Begründers erschöpfe, sondern daß Cagliari il 23-27 aprile 1967, Roma 1969, S. 88. Texier weist zurecht darauf
vor allem Marx’ »schöpferische und konstruktive Tätigkeit in Betracht gezogen hin, daß Bobbio durch die Begriffspaare »wesentlich — zweitrangige »bestim­
werden« müsse (M, S. 80; PH, S. 183.), die in der »Wissenschaft der Dialektik mend - untergeordnet »selbst von einer mechanistischen Marxinterpretation
oder Erkenntnistheorie [. . .] die allgemeinen Begriffe der Geschichte, Politik ausgeht.« Jacques Texier, »Gramsci, theoricien des superstructures«, in: La
und Ökonomie in organischer Einheit miteinander verknüpft« habe. (M , S. pensee, Nr. 139 (Juni 1968), S. 43.
129; PH, S. 215.) 35 Tronti schreibt: »Die Objektivität tendiert dahin, sich in einer Intersub­
22 Vgl. dazu Engels’ Brief an Bloch v. 21. 9. 1890, auf den Gramsci in seiner jektivität zu verlieren, die eben in ihrem Innern vom Element der gesellschaftli­
Determinismuskritik öfter verweist: »Es wird schwerlich gelingen, die Existenz chen Praxis zusammengehalten wird: und die Praxis tendiert dahin, zur
jedes deutschen Kleinstaates der Vergangenheit und Gegenwart oder den primären Realität zu werden [. . .]« »Alcune questioni intorno al marxismo di
Ursprung der hochdeutschen Lautverschiebung [. . .] ökonomisch zu erklären, Gramsci«, in: Studi gramsciani, Roma 195 8, S. 23, zitiert nach Riechers, a.a.O.,
ohne sich lächerlich zu machen.« MEW, Bd. 37, S. 464. S. 136.
23 Gramsci führt in diesem Zusammenhang die politischen Schriften an 36 Vgl. MEW, Bd. 13, S. 9.
(Bürgerkrieg in Frankreich etc.), die eine bessere Bestimmung »der marxisti­ 37 Die Forderung einer unparteiischen Analyse impliziert natürlich nicht die
schen historischen Methodologie erlauben« und in denen die in anderen Werken Aufhebung der sozialistischen Parteilichkeit, die ja gerade Bedingung der von
enthaltenen »theoretischen Feststellungen« beleuchtet und interpretiert wer­ Gramsci geforderten wissenschaftlichen Analyse ist.
den. Vgl. ebd. 38 Der theoretische Syndikalismus als eine Form des Ökonomismus zum
24 Friedrich Engels, Brief an J . Bloch, a.a.O., S. 462 f. Beispiel hindert durch seinen Verzicht auf den politischen Kampf, durch seine
25 D e r s Brief an H. Starkenburg vom 25. 1. 1894,in: Briefe über Das Kapi­ Beschränkung auf die rein ökonomische direkte Aktion das Proletariat daran,
tal, Berlin 1954, S. 365 f. »jemals zu herrschen, jemals sich über die ökonomisch-korporative Phase
26 Engels, Brief an Bloch, a.a.O., S. 463; Herv. A. K. hinaus zu entwickeln und sich zu einer Phase ethisch-politischer Hegemonie
27 Ders., Brief an Starkenburg, a.a.O., S. 366; Herv. A. K. innerhalb der bürgerlichen und herrschenden Gesellschaft des Staates zu
28 Vgl. dazu auch Marx, Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, erheben. [. . .] Ohne Zweifel werden hier Unabhängigkeit und Autonomie der
MEW, Bd. 13, S. 630 f.: »Das Resultat, wozu wir gelangen, ist nicht, daß subalternen Klasse, die diese Bewegung angeblich vertreten möchte, der
Produktion, Distribution, Austausch, Konsumtion identisch sind, sondern daß geistigen Hegemonie der herrschenden Gruppe geopfert.« (MA, S. 30.)
sie alle Glieder einer Totalität bilden, Unterschiede innerhalb einer Einheit. 39 Vgl. dazu auch Gramscis Bestimmung des Menschen als »Ensemble der
[. . .] Es findet Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Momenten statt. sozialen Beziehungen« : »Der Mensch ist zu begreifen als ein historischer Block
Dies ist der Fall bei jedem organischen Ganzen.« aus rein individuellen und subjektiven sowie massenhaften und objektiven oder
29 Der Satz lautet im Original: » [...] in cui contenuto economico-sociale e materiellen Elementen, zu denen das Individuum in einem aktiven Verhältnis
forma etico-politica si identificano concretamente.« —Gemeint ist also nicht steht.« (M, S. 35: PH, S. 160.)
»Identität«, sondern »Einheit«, verstanden als dialektische Bewegung, als Pro­ 40 Hugues Portelli, Gramsci et le bloc historique, Paris 1972, S. 63.

I IO I I I
41 Selbstverständlich muß die Bestimmung des Verhältnisses von Basis und Nr. 139, Juni 1968, S. 50.
Überbau als dialektisches — soll sie nicht ebenso abstrakt wie die kritisierten 59 Gramsci bezieht sich hier auf Marx’ Schrift Die Klassenkämpfe in Frank­
Anschauungen bleiben —zur Analyse der jeweils besonderen Entwicklung und reich. Dort heißt es: »Dieser Sozialismus [der revolutionäre Sozialismus im
Ausformung des historischen Blocks eines bestimmten Landes führen —so wie Gegensatz zum utopisch-doktrinären, A. K.] ist die Permanenzerklärung der
Gramsci es für die italienischen Verhältnisse versucht hat. Revolution die Klassendiktatur des Proletariats als notwendiger Durchgangs-
42 Gramsci bezieht sich auf folgende Stelle: »In der Betrachtung solcher punkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt, zur Abschaffung
Umwälzungen [des Überbaus, A. K.] muß man stets unterscheiden zwischen sämtlicher Produktionsverhältnisse, worauf sie beruhen, zur Abschaffung sämtl­
der materiellen naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in icher gesellschaftlicher Beziehungen, die diesen Produktionsverhältnissen ent­
den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, sprechen, zur Umwälzung sämtlicher Ideen, die aus diesen gesellschaftlichen
religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, Beziehungen1 hervorgehen.« .Af£W, Bd. 7, S. 89 f. Der Begriff permanente
worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten. Revolution hat bei Gramsci also nichts gemein mit Trotzkis Lehre von der
Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst permanenten Revolution.
dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem s W- L Lenm’ Was tun■ Brennende Fragen unserer Bewegung, Berlin 1970,
Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Wider­
sprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen 61 Ebd., S. 62.
gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.« 62 Ebd., S. 91.
MEW, Bd. 13, S. 9. 63 Ebd., S. 92.
43 Gramsci gebraucht das deutsche Wort im Original. Vgl. M, S. 75/76. 64 Ebd., S. 86.
44 Vgl. dazu Engels’ B rief an Starkenburg, a.a.O., S. 365: »Wenn die Tech­ 65 Ebd., S. 71.
nik, wie Sie sagen, ja größtenteils vom Stande der Wissenschaft abhängig ist, so 66 Ebd., S. 74 f.
noch weit mehr diese vom Stand und den Bedürfnissen der Technik. Hat die 67 Ebd., S. 117.
Gesellschaft ein technisches Bedürfnis, so hilft das der Wissenschaft mehr voran 68 Ebd., S. 106. Diese Gedanken klingen schon im Kom munistischen M ani-
als zehn Universitäten. est an: »Sie [die Kommunisten, A. K.] kämpfen für die Erreichung der unmit-
45 »Objektiv bedeutet immer >menschlich objektiv^ was genau dem >histo- •elbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse, aber sie vertreten
risch Subjektivem entsprechen könnte, d. h. objektiv bedeutet >universell sub­ m der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung. [. 1 Sie
jektive« (M, S. 142.) In der deutschen, von Riechers übersetzten Auswahl heißt .die Kommunistische Partei] unterläßt aber keinen Augenblick, bei den Arbei­
es statt »historisch Subjektiven« und »universell subjektiv« »historisch Objekti­ tern ein möglichst klares Bewußtsein über den feindlichen Gegensatz zwischen
ven« und »universell objektiv«, was für den von Riechers erhobenen Vorwurf ourgecusie und Proletariat herauszuarbeiten, damit die [. . .] Arbeiter
des subjektiven Idealismus ja nicht unwichtig ist. (Vgl. PH, S. 227 f., und sogleich die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, welche die Bour­
Riechers, a.a.O., S. 134.) Darauf weist hin Roth, a.a.O., S. 55. geoisie mit ihrer Herrschaft herbeiführen muß, als ebenso viele Waffen gegen
46 Die neue Qualität der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus liegt -ie Bourgeoisie kehren können.« MEW , Bd. 4, S. 492 f.
eben darin, daß sie im Gegensatz zu den anderen Überbauten nicht mehr ein 69 W. I. Lenin, Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der bürgerlichen
partielles Interesse vertritt, sondern in der Lage ist, die Gesellschaft als Tota­ Revolution, Berlin 1967, S. 70 f. 6
lität zu erfassen und von daher beanspruchen kann, die erste wissenschaftliche ^0 In: Gramsci, Die süditalienische Frage, Berlin igcf
Theorie zu sein. (Vgl. M, S. 237; PH, S. 280.) ■’ i Ebd., S. 8; Herv. A. K
47 »Die Erfahrung, auf die sich die Philosophie der Praxis stützt, kann nicht -2 Ebd.
schematisiert werden. Sie ist die Geschichte selbst, in ihrer unendlichen '3 B rief an das Z K der KPdSU, a.a.O. S. 12;.
Verschiedenheit und Vielfalt.« (M, S. 126.) '4 Ebd., S. 124.
48 MEW, Bd. 3, S. 36, zweite Herv. A. K. '5 Die süditalienische Frage, a.a.O S q
49 Ebd., S. 37, Herv. A. K. ' 6 Ebd. ” '
50 Ebd., S. 62. 7 Auf dle weitgehende Übereinstimmung in der Parteitheorie soll hier nicht
51 MEW, Bd. 13, S. 8, Herv. A. K. zitier eingegangen werden. Zu diesem Problem, sowie allgemein zum
52 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt 1968, _ a tms , 7 7 Gramsci vgl.- Palmiro Togliatti, »Der Leninismus im
S. 19 3,§ 183. - Und Handeln Antonio Gramscis«, in: ders., Reden und Schriften
53 Bobbio, Gramsci e la concezione della societä civile, a.a.O., S. 86. -'"ankturt 1967. U ’
54 Ebd., S. 87 f. -8 Riechers und Roth, im Anschluß an Bobbio, übersehen diesen entschei-
5 5 Ebd., S. 8 5. -enden Aspekt des Hegemoniekonzeptes bei Lenin und in den frühen Arbeiten
56 Roth, Gramscis Philosophie der Praxis, a.a.O., S. 99. gramscis und stellen die Hegemonietheorie dort ausschließlich als Prinzip der
57 Ebd., S. 98. ..nanztaktik des Proletariats dar. Dann ist Gramscis Bezug auf Lenin in den
58 Jacques Texier, »Gramsci, theoricien des superstructures«, in: La pensee, ju a d erm natürlich nicht verständlich, und man kommt zu »sehr divergie-

112
renden Bedeutungen des Terminus Hegemonie« (Roth, a.a.O., S. 107.) in den misch-korporativer N atur bringt. Aber zweifellos berühren dergleichen O pfer
frühen und späten Schriften Gramscis. Diese Fehleinschätzung findet sich noch und Kompromisse nicht das Wesentliche, denn wenn die Hegemonie ethisch­
gravierender bei Piotte, der die Hegemonietheorie überhaupt mit dem Prinzip politisch ist, so muß sie auch ökonomisch sein und ihre Grundlage in der
des Klassenbündnisses gleichsetzt. Vgl. Jean-Marx Piotte, La pensee politique entscheidenden Funktion haben, die die Führungsgruppe im entscheidenden
de Gramsci, Paris 1970, bes. S. 155. Kernbereich der ökonomischen Tätigkeit ausübt.« (MA, S. 31.)
79 »Cette analyse contient^iejä toute la richesse de la conception grams- 94 Gramscis im Rahmen der Hegemonietheorie stehende Bemerkungen zur
cienne de l’hegemonie developpe dans les Quadernis, et permet donc d’aprecier Konzeption des kapitalistischen Staates sind nur sich speziell aus diesem
respectivement la continuite leniniste et l’apport gramscien.« Portelli, Gramsci Bereich ergebende Aspekte einer marxistischen Staatstheorie, die natürlich
et le bloc historique, a.a.O., S. 70. heute vor allem auch auf die aus der Funktion des Staates als »Gesamtkapi-
80 Sie geht folglich auch über den Ansatz Lenins hinaus, der in der Folgezeit talist< erwachsenden Probleme einzugehen hätte.
natürlich primär mit Problemen befaßt war, die sich aus der besonderen histori­ 95 ebenso Poulantzas, Das Problem des kapitalistischen Staates,a.a.O .,
schen Entwicklung der SU ergaben, und dem daher der eigentliche Gegen­ S. 208.
stand der Hegemonietheorie der Quaderni - nämlich die komplexe bürgerliche 96 Vgl. ebenso M, S. 128: »Jeder Staat ist ethisch, insofern eine seiner wich­
Gesellschaft der entwickelten kapitalistischen Länder Westeuropas - fehlte. tigsten Funktionen diejenige ist, die große Masse der Bevölkerung auf ein
8 1 Guiseppe Tamburrano, »Gramsci e l’egemonia del proletariato«, in: Studi bestimmtes kulturelles und moralisches Niveau zu heben, das mit der Notwen­
gramsciani, Roma 1958, S. 280. digkeit der Entwicklung der Produktivkräfte und schließlich mit den Interessen
82 Ebd.; »Weltanschauung« deutsch im Original. der herrschenden Klassen korrespondiert. Die Schule als positiv erzieherische
83 Roth, a.a.O., S. 104. und die Rechtsprechung als negativ erzieherische Funktion sind die in diesem
84 Ebd., S. 105. Sinne wichtigsten staatlichen Tätigkeiten; in Wirklichkeit aber verfolgt eine
85 MEW, Bd. 4, S. 482. ^roße Anzahl weiterer Initiativen und Tätigkeiten sogenannter privater Art das
86 MEW, Bd. 20, S. 261. gleiche Ziel, die den politisch-kulturellen Hegemonieapparat der herrschenden
87 »Die Frage [der staatsbürgerlichen Hegemonie<, A. K.] stellt sich für die Klasse bilden.«
modernen Staaten, nicht für die unterentwickelten Länder und die Kolonien, 97 »Das Recht wird somit (neben Schulen und anderen Institutionen und
wo noch Formen erhalten blieben, die anderswo überholt und anachronistisch Unternehmungen) zu einem zweckgebundenen W erkzeug, und es muß entspre­
geworden sind.« (MA, S. 84; PH, S. 356.) chend entwickelt werden, um maximal wirksam sein und positive Ergebnisse
88 MEW, Bd. 3, S. 46. . erzielen zu können.« (MA, S. 88; PH, S. 357.)
89 »Daß wesentlich auf die ökonomischen Kräfte eingewirkt wird, damit der 98 Vgl. Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, S. 36: »Es zeigt sich schon hier,
ökonomische Produktionsapparat sich reorganisiere und entwickle, darf nicht daß diese bürgerliche Gesellschaft der wahre Herd und Schauplatz aller
den Schluß zulassen, die Gegebenheiten des Überbaus könnten sich selbst, ihrer Geschichte ist [. . .].«
spontanen Entwicklung und einem zufälligen und sporadischen Aufblühen 99 Norberto Bobbio, Gramsci e la concezione della societä civile, a.a.O., S.
überlassen bleiben. Der Staat ist auch auf diesem Gebiet ein Werkzeug der M-
»Rationalisierung^ Beschleunigung und Taylorisierung, er handelt nach einem 100 Bobbio, a.a.O., S. 91 f.
Plan, er regt an, übt Druck aus, fordert und >straft<.« {MA, S. 88; PH, S. 358) 101 Vgl. Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Vorwort, MEW, Bd. 13, S.
90 Nicos Poulantzas, »Das Problem des kapitalistischen Staates«, in: Kriti­ ' f-
sche Justiz, Heft 2, 19 7 1, S. 207. - Auf Poulantzas’ - im Anschluß an Althusser 102 Ebd. Lefebvre weist zurecht auf die Gefahr hin, anhand dieser Textstelle
formulierte - Kritik am >Historizismus< Gramscis soll hier nicht eingegangen aas Gesellschaftliche auf das ökonom ische zu reduzieren (wie z. B. Bobbio,
werden (vgl. JM. Poulantzas, Pouvoir politique et classes sociales, vol. II, Paris -venn er die bürgerliche Gesellschaft mit der ökonomischen Struktur Zusam­
1972, S. 14 f-, und Louis Althusser, »Der Marxismus ist kein Historizismus«, menfällen läßt) und führt an, daß Marx im Kapital den Begriff der ök o n o m i­
in: Althusser/Balibar, Das Kapital lesen, Bd. 1, Reinbek 1972); dazu wäre eine schen Gesellschaftsformation< gebraucht, der die scheinbar präziseren Begriffe
allgemeine Auseinandersetzung mit den erkenntnistheoretischen Voraussetzun­ -er Basis und des Überbaus umfaßt und bereichert, cf. Henri Lefebvre,
gen des französischen Strukturalismus erforderlich. °robleme des Marxismus,^heute, Frankfurt a. M. 1971, S. 89 f. - Und den glei­
chen Zweck — die Gesellschaft als Ganzes, als konkrete Totalität zu erfassen,
92 MEW, Bd. 3, S. 62. Ebenso heißt es im Kommunistischen Manifest: »Die r ieht als starres Schichtenmodell - verfolgt Gramsci mit dem Begriff des »histo­
moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen rischen Blocks<.
Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.« MEW, Bd. 4, S. 464. 1 °3 Vgl. den Brief vom 7. 9. 3 1: »Übrigens fasse ich den Begriff der Intellek­
93 Dazu sind —in einem bestimmten Rahmen —auch Zugeständnisse an die tuellen sehr weit und halte mich nicht an den gängigen Begriff, der sich nur auf
beherrschten Klassen erforderlich: »Die Tatsache der Hegemonie setzt ohne aie großen Intellektuellen bezieht.« (LE, S. 481.)
Zweifel voraus, daß den Interessen und Tendenzen der Klassen, über welche die 104 »Außerdem übt jeder Mensch außerhalb seines Berufes eine gewisse intel­
Hegemonie ausgeübt wird, Rechnung getragen wird; daß ein gewisses Gleich­ lektuelle Tätigkeit aus, er ist also ein >Philosoph<, ein Künstler, ein Mensch von
gewicht des Kompromisses entsteht, und die Führungsgruppe Opfer ökono­ aeschmack, hat teil an einer Weltanschauung, verfolgt eine bewußte Linie
moralischen Verhaltens, trägt folglich dazu bei, eine Weltanschauung zu 113 b »Kann die moderne Theorie im Widerspruch zu den »spontanem
stützen oder zu verändern, das heißt neue Denkweisen hervorzurufen.« (/, S. Gefühlen der Massen stehen? (Spontan in dem Sinn, daß sie nicht von einer
6 f.; PH, S. 408.) r t , , TT , , . , >\stematischen Erziehungsarbeit einer bereits bewußten Führungsgruppe
105 So ist auch der Proletarier »nicht spezifisch durch Handarbeit oder abhängen, sondern daß sie durch die tägliche Erfahrung entstanden, die vom
Maschinenarbeit gekennzeichnet, sondern durch diese Arbeit unter bestimmten •gesunden Menschenverstand< bestimmt war, d. h. von der traditionellen volks­
Bedingungen und unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen.« (I, S. 6; tümlichen Weltanschauung, von dem, was gemeinhin >Instinkt< genannt wird
und auch seinerseits nur eine ursprüngliche und elementare geschichtliche Er­
106 »Man kann beobachten, daß die organischem Intellektuellen [. . .] mei­ rungenschaft ist.) Die moderne Theorie ist dazu kein Gegensatz: zwischen ihr
stens >spezialisierte< Teilaspekte der ursprünglichen T ä tig k e itjen e s neuen und den »spontanem Gefühlen gibt es einen graduellen, »quantitativem, keinen
gesellschaftlichen Typus sind, den'die neue Klasse hervorgebracht hat.« ( 1, S. qualitativen Unterschied: es muß sozusagen eine wechselseitige »Reduktiom
3 f.) »Der kapitalistische Unternehmer ruft den Techniker der Industrie auf den möglich sein, ein Übergang von einem zum anderen und umgekehrt.« (P, S.
Plan, den Wissenschaftler der politischen Ökonomie, den Organisator einer ' 7 f-)
neuen Kultur, eines neuen Rechts, usw.« (I, S. 3.) 114 Fäans Heinz Holz, Strömungen und Tendenzen im Neomarxismus,
107 Die Unterscheidung zwischen »organischem und »traditionellem Intellek­ a.a.O., S. 19 f.
tuellen trifft Gramsci schon in der Questione mendionale. Cf. A. Gramsci, 115 Diese theoretischen Überlegungen Gramscis waren ebenso wie die sich
»Einige Gesichtspunkte der Frage des Südens«, in: Die süditalienische Frage, aus der Hegemonietheorie ergebende Strategie der Bündnispolitik grundlegend
:ur die »via italiana al socialismo<, also die vom PCI unter der Führung
a.a.O., S. 21 f. . c ,
108 Jean-Marc Piotte, La pensee politique de Gramsci, 1 ans 1970, b. 63. Togliattis eingeschlagene Politik des »demokratischen Weges zum Sozialismus^
109 Ebd., S. 63 f. . ,
in dem kurz vor seinem Tode 1964 verfaßten Memorandum über Fragen der
110 Piotte geht außerdem sehr ausführlich auf die Probleme ein, die sich aus internationalen Arbeiterbewegung und ihrer Einheit schreibt Togliatti unter
Gramscis ja nicht systematisch ausgeführter Konzeption von organischen und Hinweis auf die bestehenden großen Unterschiede zwischen den einzelnen
traditionellen Intellektuellen - insbesondere für die gegenwärtigen kapitalisti­ -ändern: »Wir sind stete Verfechter der Einheit unserer Bewegung, aber diese
schen Gesellschaften - ergeben. So reicht z. B. die funktionale und historische runheit muß in der Vielfalt konkreter politischer Positionen verwirklicht
Bestimmung der Intellektuellen allein nicht aus; es muß auch inhaltlich diffe­ werden, die der Situation und der Entwicklungsstufe eines jeden Landes
renziert werden. (Vgl. bes. S. 52-70.) Im übrigen weist Gramsci selbst darauf entsprechen.« (In: P. Togliatti, Reden und Schriften, a.a.O., S. 221) —Aller­
hin: »Kernpunkt des Problems bleibt die Unterscheidung zwischen den organi­ dings muß eine Partei, die wie der PCI die Strategie verfolgt, »im Rahmen eines
schen Intellektuellen einer jeden gesellschaftlichen grundlegenden Gruppe und >:aates, der seinen bürgerlichen Charakter beibehalten hat, Machtpositionen zu
den Intellektuellen im traditionellen Sinn; aus dieser Unterscheidung ergibt sich erringen« (ebd., S. 220) und auf dem Boden der Demokratie »zum Sozialismus
eine ganze Reihe von Problemen und möglichen geschichtlichen Untersuchun­ oranzuschreiten«, beständig die Gefahren sehen und reflektieren, die mit der
gen.« (I, S. 11; PH, 414.) (
rarlamentarischen Demokratie zwangsläufig verbunden sind (etwa wenn in der
111 Hugues Portelli, Gramsci et le hloc histonque, a.a.O ., S. 104 t. Sundnispolitik nicht nur partiell-taktische, sondern entscheidende inhaltliche
112a Croce, als einer der »großem Intellektuellen z. B., »ist eine A rt Laien­ Zugeständnisse gemacht werden), um nicht in eine reformistische Praxis zu
papst und ein äußerst wirksames Instrument der Hegemonie, auch wenn er sich geraten.
ab und zu im Gegensatz zu dieser oder jener Regierung befindet.« {LE, S. 48 1.) : 16 »Eine organische Struktur des Denkens und kulturelle Festigkeit [kann]
112b Portelli, a.a.Q ., S. 97 f. . üU ■ -ur dann erreicht werden, wenn die Intellektuellen und die »Einfachem dieselbe
113a Gramsci sieht sich - zu Recht - bei diesen Überlegungen m Überein­ Einheit bilden, wie sie zwischen Theorie und Praxis herrschen soll.« (M, S. 8;
stimmung mit Lenin: »Mir scheint, Ilici (Lenin) hatte verstanden, daß eine ' H. S. 135.)
Wendung vom Bewegungskrieg, der 1917 im Osten erfolgreich war, zum Ste - : 17 Kapital I, MEW, Bd. 23, S. 393, Fn. 89.
lungskrieg, als dem im Westen einzig möglichen, nötig war, wo [. . .] die gesell­ r 1 8 Ebd., S. 95.
schaftlichen Strukturen von selbst zu wohl ausgerüsteten Schützengräben wer­ : 19 Engels an Mehring am 14. 7. 1893, MEW, Bd. 39, S. 96.
den konnten. Dies, so scheint mir, ist die Bedeutung der Formel von der »Ein­ .23 Vgl. MEW, Bd. 13, S. 9: »In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß
heitsfront.« { M A , S. 68.) Bei Lenin heißt es: »Solange nationale und staatliche - i n stets unterscheiden zwischen der materiellen naturwissenschaftlich treu zu
Unterschiede zwischen den Völkern und Ländern bestehen, [. . .] erfordert die t mstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen
Einheitlichkeit der internationalen Taktik der kommunistischen Arbeiterbewe­ *"'.d den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophi­
gung aller Länder nicht die Beseitigung der M annigfaltigkeit, nicht die Aufhe­ eren, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konfliktes
bung der nationalen Unterschiede [. . .]> sondern eine solche Anwendung der Mwußt werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist,
grundlegenden Prinzipien des Kommunismus [. . .], bei der diese Prinzipien in Tich dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche
den Einzelheiten richtig modifiziert und den nationalen [. . .^ Verschieden ei­ - mw, älzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr
ten richtig angepaßt, auf sie richtig angewendet werden.« W. I. Lenin, D e r Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem
>linke Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus, 1953» ^ 92. :rhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen
erklären.« (Herv. A. K.) . . . . Ernst Heinrich
1 2 1 Hier wird nochmals deutlich, weshalb Gramsci gegen die Bestimmung
der Ideologien als >reiner Schein< wiederholt die objektive und wirksame Reali­ M arx 5 Leninismus
tä t des Überbaus betont.
122 Galvano della Volpe, C n t ic a d e l g u s t o , Milano 19 7 13. Siehe auch das
Deila Volpe gewidmete Heft der a lt e r n a t i v e , Nr. 88, Februar 1973. Bodenverstaatlichung und Bauernrevolution in der politi­
123 Vgl. zu diesem Problem auch Umberto Cerroni, M a r x u n d d a s m o d e r n e schen Theorie von Marx und Lenin
R e c h t , Frankfurt 1974, bes. S. 107 f.
124 Vgl. hierzu Nicolao Merker, »Galvano della Volpe, Theoretiker des
Marxismus«, in: Galvano della Volpe, F ü r e in e m a t e r ia lis t is c h e T h e o r ie , Berlin Die Frage, welche revolutionstheoretischen Schlüsse sich aus
1973 (Ursprünglich in: ders., D i a l e t t ic a e s t o n a , Messina 1971)- der Marxschen »Kritik der politischen Ökonomie« eigentlich
125 M E W , Bd. i,S . 296. , , . . ^ c ziehen lassen, bzw. welche Schlüsse Marx selbst daraus gezo­
126 Galvano della Volpe, F ü r e in e m a t e r ia lis t is c h e M e t h o d o lo g i e , a.a.U., b.
39 (Ursprünglich in: ders., R o u s s e a u e M a r x , Roma 19 7 H hier S. 154.
gen Hat, beschäftigt die akademische Marxphilologie auch
127 Ebd., S.,63 f. (ital. Ausgabe S. 180). dort, wo sie sich mit Problemen des Klassenkampfes< befaßt,
* Dieser Aufsatz ist die überarbeitete Fassung einer Magisterarbeit am offenbar nur wenig. Die folgenden Skizzen zum Problem der
Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Marburg. Ich danke Bodenverstaatlichung verstehen sich daher als ein Beitrag zu
Professor H. H. Holz für die Diskussion des Manuskripts.
der in letzter Zeit aus dieser Richtung gekommenen >Pro-
blematisierung< der Konstruktion eines Marxismus-Leninis­
mus. Die Frage dabei ist: Gibt es bei Marx, Engels und Le­
nin ein einheitliches System politischer Strategien, und wie
verhalten sich diese Strategien zu der Kritik der politischen
Ökonomie im Kapital.
Es wird dabei hier von folgenden, an anderer Stelle1 ausführ­
licher erläuterten Thesen ausgegangen.
1. Politische Theorie und politische Strategie sind weder bei
Lenin noch bei Marx und Engels in der Weise aus dem
Kapital deduziert, wie sich das die akademische Marxologie
zum Programm gemacht hat. Die Marxsche Analyse des K a ­
pitals im allgemeinem versucht, einen historischen Prozeß auf
den Begriff zu bringen, und nicht, ihn unter diesen Begriff zu
subsumieren - wie es in dem Gerede von der >Ableitung< und
der >Entwicklung< der politischen Theorie unterstellt wird.
Zwischen der Analyse des Kapitals im allgemeinem und den
Aussagen der politischen Theorie liegt vielmehr ein politisch-
theoretischer Prozeß, der hier als >konkrete Analyse der kon­
kreten Situatiom bezeichnet werden soll. In diese Analyse
gehen kontingente, historisch spezifische Momente der jewei-
~:gen Situation ein, die die Fragestellung, auf die die politische
Strategie eine Antwort gibt, entscheidend bestimmen. Welche
Aspekte der Analyse des Kapitals im allgemeinem in der
Bestimmung der politischen Strategie jeweils hervorgehoben
werden, ist je nach der historischen Situation sehr verschie-
den. Es sind heute andere als zur Zeit von Marx und Lenin. sehen Produktionsweise beschreibt. Der Satz, daß in der Ana­
Wenn aus den mit der Analyse der konkreten Situation lyse der historischen Genesis des Kapitalismus auch dieser
beschäftigten Schriften Lenins neuerdings herausgelesen wird, selbst als historisch, d. h. vergänglich, sichtbar wird, hat für
er habe die Marxsche Ideologiekritik und Wertformanalyse Marx und für Lenin auch eine konkrete politische Bedeutung.
nicht verstanden, so ist daran nur soviel richtig, daß er sie zur Diese ist bei Kautsky, der den allgemeinen Teil des Erfurter
Bestimmung seiner politischen Strategie ebensowenig ge­ Programms als eine bloße Paraphrase des Abschnitts über
die »geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumu­
braucht hat wie Marx und Engels selber.
2 Die »konkrete Analyse der konkreten Situation» und die lation« verstanden wissen will, schon verlorengegangen.
daraus entwickelte politische Strategie weisen bei Marx Die politischen Geburtswehen der bürgerlichen Gesellschaft
Engels und Lenin derart starke Übereinstimmungen aut, daß und nicht die ökonomische Reife des Kapitalismus sind für
es nicht nur berechtigt, sondern notwendig ist, von Marxis­ Marx und Lenin im Gegensatz zu Kautsky die Basis der
mus-Leninismus zu sprechen. Bei der Rekonstruktion der entscheidenden Zusammenbruchskrise. Zwar sind die niedri­
Marxschen Revolutionstheorie ist nicht vom Kapital, sondern gen Stufen der historischen Entwicklung theoretisch erst von
von Lenin auszugehen. Die »Situation», auf die sich Marx und der Warte der entwickelten Verhältnisse aus erklärbar. Die
Lenin bezogen, war wesentlich dieselbe, nur hat Lenin die revolutionstheoretisch relevanten Passagen des Kapital liegen
Marxschen Strategien sehr viel konkreter ausgefuhrt, als es iedoch für Marx und Lenin nicht dort, wo vom entwickelten
Kapitalismus die Rede ist, sondern dort, wo vorkapitalistische
Das Vermittlungsglied zwischen der Knttk der politischen Verhältnisse behandelt werden. Diesen Zusammenhang hat
Ökonomie und der Revolutionstheorie ist bei Marx und Lenin Rosa Luxemburg mehr instinktiv geahnt als theoretisch
die aus der Analyse der Situation gewonnene Konzeption der begriffen, wenn sie in ihrem Versuch, die Strategie des
»bürgerlichen Revolution» als eines historisch notwendigen, Kommunistischen Manifests zusammenbruchstheoretisch zu
nach der Art eines Naturprozesses ablaufenden gesetzmäßi­ untermauern, das Verhältnis des Kapitalismus zu seinem vor­
gen und »berechenbaren» Anpassungsprozesses des politischen kapitalistischen Milieu irrtümlicherweise zum Zentralgegen­
Überbaus an die sich entfaltende kapitalistische Basis. Dieser stand der Marxschen Theorie erklärt. Sie führt damit die
Prozeß führt zu sozialen Erschütterungen, die es dem 1 roleta- Tendenz der II. Internationale zur >Politisierung< der Marx­
riat ermöglichen, geschichtlich auf den Plan zu treten wenn es schen Kritik der politischen Ökonomie weiter, die darin
diese Gesetzmäßigkeit kennt und für sich anzuwenden ver­ besteht, daß in dem Maße, wie praktische Handlungsanwei­
steht. Diese Form der politischen Krise, der politische Zusam­ sungen nicht mehr gegeben werden können, zu allgemeinen
menbruch des Ancien regime, ist überhaupt die einzige Ableitungem gegriffen wird und so die Differenz zwischen
Gesetzmäßigkeit, die es dem Proletariat erlaubt, mit de der >Analyse des Kapitals im allgemeinem und der >konkreten
Strom des geschichtlichen Fortschritts zu schwimmen, die ein­ Analyse der konkreten Situatiom aufgehoben wird. Mit dieser
zige Gesetzmäßigkeit, die die Konzeption einer Revolutions- Differenz verschwindet aber auch das Bewußtsein von den
theorie im strengen Sinne erlaubt, eines Theoriekonzepts also, SDezifisch historischen Voraussetzungen, auf denen die Revo-
wie es im Begriff des »wissenschaftlichen Sozialismus» zu utionstheorie von Marx und Lenin beruht. Versteht man
Grundlage der Bestimmung von Klassenbewußtsein un -nter Revisionismus nicht nur die Abkehr von Dogmen, son­
dern allgemein das Eindringen bürgerlicher Ideologie in die
Organisation bei Lenin geworden ist. , ^
t. Marx spricht im Kapital von der »geschichtlichen Ten­ Arbeiterbewegung, so wird die marxistische und die leninisti­
denz der kapitalistischen Akkumulation« nicht ohne Grund sche Orthodoxie in dem Maße notwendig revisionistisch, wie
am Schluß des 24. Kapitels, das in Form einer konkret«» :nre zentrale Prämisse, die bürgerliche Revolution, durch den
Analyse der konkreten Situation die Genesis der kapitalist»- Gang der historischen Entwicklung erledigt ist.
121
120
4. Die Marxsche und Leninsche Strategie bedeutete nicht, se«3, steht aber andererseits nicht nur im »Widerspruch [...]
wie von der neorevisionistischen Orthodoxie gewöhnlich mit einer rationellen Agrikultur« (ebd.), sondern: »das
unterstellt wird, Bündnispolitik mit dem Bürgertum, noch Grundeigentum [unterscheidet sich] von den übrigen Arten
»radikale Demokratie«, »VerwirklichungderDemokratie« oder des Eigentums dadurch, daß auf einer gewissen Entwicklungs­
»Einlösung der Emanzipationsversprechen der bürgerli­ höhe, selbst vom Standpunkt der kapitalistischen Produk­
chen Revolution«. In der bürgerlichen Revolution emanzi­ tionsweise aus, es als überflüssig und schädlich erscheint.«
piert sich das Kapital von den Fesseln der feudalen Produk­ {MEW Bd. 25, S. 635 f.) Diese scheinbar paradoxe Auffassung
tionsweise, und die Versprechungen der .Demokratie« beinhal­ resultiert bei Marx aus seiner Theorie des Bodenpreises und
ten nichts anderes. Die marxistisch-leninistische Strategie der Grundrente, die in gebotener Kürze hier referiert werden
zielte allein darauf, die in dieser historischen Umbruchssitua- soll. Privateigentum an Grund und Boden ist nach Marx einer­
tion entstehenden Massenbewegungen für die Eroberung der seits Grundeigentum überhaupt, d. h. »Eigentum bestimmter
politischen Macht durch die Partei des Proletariats (diesen Individuen an bestimmten Stücken des Erdballs« {MEW, Bd. 25,
Begriff verstehe ich hier nicht im Sinne einer bestimmten S. 647), d. h. es ist als das Nichteigentum anderer Voraussetzung
Organisationsform, sondern in dem allgemeineren Sinne des der kapitalistischen Produktionsweise. Sofern daraus aber Kauf
>Lagers<) auszunutzen. Das bedeutet nicht, Anschluß an die und Verkauf von Land, Zirkulieren von Eand als Ware in
.Demokratie« zu suchen oder deren Parolen zu übernehmen, größerem Umfang sich entwickeln, ist dieses Resultat »prak­
sondern es erfordert notwendig, diese Bewegung im- Sinne der tisch Folge der Entwicklung der kapitalistischen Produktions­
.List der Vernunft« zu führen. Daß das Proletariat den politi­ weise, soweit die Ware hier die allgemeine Form alles
schen Kampf führen muß, dieser oberste Grundsatz der M a n ­ Produkts und aller Produktionsinstrumente wird.« {MEW,
schen Revolutionstheorie, den Lenin nur theoretisch differen­ Bd. 25, S. 820)
ziert hat, um ihn praktisch realisieren zu können, bedeutet Aus dem Zirkulieren von Land als Ware folgt, daß der
nichts anderes, als daß das Proletariat in dieser Situation nur Boden einen Preis hat. Der Boden ist nun zwar Arbeitsgegen­
siegen kann, wenn es die real existierenden nationalistischen stand, aber er wird nicht Kapital; er wird Ware, ist aber kein
und demokratischen Massenbewegungen auf ihren eigentli­ Produkt des Menschen. Der Boden hat daher einen Preis, er
chen sozialökonomischen Inhalt und ihre historische Bedeu­ hat auch einen Gebrauchswert, er hat aber keinen Wert. Der
tung zurückführt, d. h. auf die kriegerische Erkampfung des Mensch ist nur der Beherrscher, nicht abör der Schöpfer der
Nationalstaats und auf die antifeudale Agrarrevolution. Natur. (Die Bauernreligionen sind hier viel materialistischer
Es soll im folgenden die These ausgeführt werden, daß im als der Idealismus des Gothaer Programms, das in der Arbeit
Rahmen dieser Konzeption der Theorie der Nationalisierung die Quelle allen Reichtums sah.)
oder Verstaatlichung des Grund und Bodens eine Schlüssel­ Wie bestimmt sich aber der Bodenpreis, wenn der Boden
keinen Wert hat? Nach Marx ist der Bodenpreis »kapitali­
stellung zukommt.
sierte Rente«. Der Bodenpreis läßt sich also erst verstehen,
wenn die Grundrente entwickelt ist.
i. Die Marxsche Theorie der Bodenverstaatlichung bezeich­ Die kapitalistische Grundrente ist im Unterschied zur feuda­
net Lenin, der ihre politischen Implikationen zum erstenmal len Rente, wo das gesamte Mehrprodukt die Form der Rente
systematisch herausgearbeitet hat, als »Kritik des privaten annimmt, nur noch ein Teil des Mehrwerts. Marx bestimmt sie
Grundeigentums vom Standpunkt der kapitalistischen Wirt­ als den »Uberschuß des agrikolen Profits über den industriel­
len Profit« {MEW, Bd. 25, S. 791), der als eine Art perma­
schaftsbedingungen.«2 , . „
Privateigentum an Grund und Boden ist bei Marx zwar nenter Surplusprofit deswegen nicht in die Ausgleichung der
einerseits »Grundlage der kapitalistischen Produktionswei- Profitraten eingeht, weil er aus günstigeren Naturbedingun­

122
gen herrührt, die dieselbe ökonomische Funktion haben, wie zipierte, »kapitalisierte Rente«, d. h. die jährliche Rente wird
etwa neue Erfindungen, aber nicht beliebig produziert und vor gestellt, fingiert, als jährlicher Zins eines fiktiven Kapitals
reproduziert werden können. Den dieser permanenten Diffe­ eben des Bodenpreises, der also in der Berechnung als zinstra­
renz zwischen individuellem und gesellschaftlichem Produk­ gendes Kapital figuriert. Diese doppelte Fiktion ist die Ursa­
tionspreis entspringenden Surplusprofit eignet sich der che der dem Superfetisch Grundeigentum entspringenden
Grundeigentümer, obwohl er mit der Produktion dieses Pro­ Mystifikationen, der Verwechslung von Zins und Grundrente,
fits nichts zu tun hat, aufgrund seiner Monopolstellung an. — von Kapital und Grundeigentum, schließlich von Kapitalist
Analogiebildungen zu feudalen Verhältnissen, wie sie in und Grundeigentümer. Entscheidend für die Argumentation
Lenins Monopolbegriff gelegentlich mitschwingen, resultieren hier ist nun folgendes: Der Boden hat keinen Wert, Grundei­
auch daraus, daß die Kategorie des Monopols ihre Wurzel im gentum ist kein Kapital, aber da der Boden als Ware zirku­
Grundeigentum hat. liert, ist der für seinen Erwerb ausgegebene Bodenpreis inso­
'Neben dieser Rente im »kategorischen Sinn«, die eine Diffe­ fern Kapital, als er eine bestimmte Wertsumme darstellt. Er
rentialrente ist, d. h. aufgrund der Differenz zwischen besse­ ist, ähnlich wie das in Staatspapieren angelegte Kapital, »nur
ren und schlechteren Naturbedingungen entsteht, unterschei­ an sich Kapital« {MEW, Bd. 25, S. 817), »potentielles Kapi­
det Marx im Gegensatz zu Ricardo und im Anschluß an tal«, d. h. Kapital nur insofern, als diese Wertsumme durch
Rodbertus noch eine zweite Art von Rente, die nicht der \ erkauf des Bodens wieder in Kapital verwandelt werden
Differenz von individuellem und gesellschaftlichem Produk­ ?ann, jedoch aktuell kein Kapital ist. Daraus folgt, daß das in
tionspreis entspringt, sondern der Differenz von Produk­ Bodenpreis angelegte Kapital mit dem in der Agrikultur
tionspreis und Wert. Diese Differenz, oder ein Teil davon, angelegten Kapital nichts zu tun hat, nicht Bestandteil des
kann deswegen als absolute Rente angeeignet werden, weil agrikolen Kapitals ist. Ist der kapitalistische Landwirt, wie das
der Eigentümer des schlechtesten Bodens (der keine Dif­ Deim Parzelleneigentum und der preußischen und russischen
ferentialrente abwirft) dessen Bebauung so lange verhindern Gutswirtschaft der Fall ist, zugleich Eigentümer seines
kann, bis die Nachfrage den Marktpreis des mit seiner Hilfe Bodens, so schadet er dadurch sich selbst als Kapitalist, denn
produzierten Produkts nicht nur über den gesellschaftlichen, er vermindert durch die Anlage von Kapital in Bodenpreis das
sondern auch über dessen individuellen Produktionspreis stei­ agrikole Kapital, verhindert seine Verwertung als agrikoles
gen läßt. Das Grundeigentum eignet sich hier mehr als nur Kapital.
den Surplusprofit an und tritt durch diese »Bodenspekula­ 2. Das oben skizzierte Verhältnis von Bodenpreis und agri-
tion« dem Kapital als eine »fremde Macht und Schranke, die &olem Kapital ist für die hier vorgetragene Argumentation
es nur teilweise oder gar nicht überwinden kann« (MEW, Bd. insofern entscheidend, als daraus folgt, daß die Trennung von
25, S. 770), entgegen. Im Gegensatz zur Differentialrente Grundeigentum und Kapital eine wichtige Bedingung des
kann die absolute Rente entfallen, wenn entweder aller Boden rortschritts des Kapitalismus, insbesondere des Fortschritts
verpachtet ist, oder die relative Rückständigkeit der landwirt­ 2e$ Kapitalismus in der Landwirtschaft, ist. Wegen der im
schaftlichen Produktion, aus der die Differenz von Produk­ folgenden zu entwickelnden staats- und klassentheoretischen
tionspreis und Wert entsteht, beseitigt ist. Implikationen dieses Zusammenhangs ist er zugleich grundie­
Die relative Rückständigkeit der Landwirtschaft ist aber, rend für die Theorie der bürgerlichen Revolution.
ebenso wie das private Bodenmonopol, ein unveräußerliches Zwei Formen der Trennung von Grundeigentum und Kapi-
feudales Erbteil des Kapitalismus. Um das zu erläutern, muß £i_ hatten sich, als Marx das schrieb, historisch herausgebildet:
kurz auf die Kategorie des Bodenpreises eingegangen werden. einmal die für Frankreich, Deutschland und später auch Ruß­
Die Rente ist die ökonomische Form, in der sich das Grund­ land typische Hypothekarverschuldung. Dabei bleibt der
eigentum realisiert. Folglich ist der Preis des Bodens die and- Kapitalist nominell Eigentümer des Bodens, faktischer Eigen­

124
tümer ist aber die Bank (Marx und Lenin sprechen von der tal nicht systematisch weitergeführt? In diesem Zusammen­
»Finanzaristokratie«), der die Grundrente in Form des Hypo­ hang sind die Überlegungen von Rosdolsky über die Gründe
thekenzinses zufließt. Die günstigste Form ist aber die zweite, der Planänderungen bei der Abfassung des Kapital von Inter­
das vor allem für England typische Pachtsystem, in dem die esse. Der ursprüngliche Planentwurf ging noch von der Drei­
Trennung von' Kapital und Grundeigentum vollzogen ist. teilung Kapital-Grundeigentum-Lohnarbeit aus, die in der
England, wo seit dem Ende des 1 5. Jahrhunderts eine radikale endgültigen Fassung auf die >trinitarische Formeh zuge­
»Endlösung der Bauernfrage« (Barrington Moore) betrieben spitzt ist. Rosdolsky interpretiert die Stellung, die die
worden war, ist in dieser Hinsicht, wie Marx sagt, »das revo­ Behandlung der Grundrente in dem endgültigen Entwurf ein­
lutionärste Land der Welt« (MEW, Bd. 26,2, S. 236) —trotz nimmt, als einen Ausdruck der generellen Tendenz Marx’,
seines scheinbar >feudalen< Landlordismus. Denn die fort- seine den früheren Entwürfen zugrunde liegende strikte Tren­
schreitende Trennung von Grundeigentum und Kapital för­ nung zwischen der Analyse des >Kapitals im allgemeinem und
dert gerade in der Herstellung der Bedingungen des kapitali­ der Konkurrenz der vielen Kapitalien zu lockern. Gerade in
stischen Fortschritts die Entstehung einer rem parasitären den letzten Kapiteln des 3. Bandes geht beides ineinander
Rentnerklasse, die sich die Rente aneignet, obwohl sie mit über. Die wesenslogischen Formulierungen von der >Oberflä-
deren Produktion nichts zu tun hat. Das englische Modell liegt che< des Kapitals dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen,
daher auch der Marxschen Beschreibung der »ursprünglichen daß gerade an diesen Stellen das >Kapital im allgemeinem mit
Akkumulation« zugrunde. seinen außer ihm liegenden historischen Grundlagen konfron­
Denkbar ist aber, so führt Marx diese Argumentation an tiert wird. Die Rententheorie ist zugleich der Versuch, die
-einigen Stellen, aber nicht mehr systematisch, im Kapital wei­ Geschichte des Kapitalismus begrifflich zu fassen.
ter, noch eine über den englischen Landlordismus hinausge­ Als >modernes< kann das private Grundeigentum als Resultat
hende Entwicklung des Pachtsystems: die Verstaatlichung des der Analyse des Kapitals schließlich dargestellt werden; es ist
Grund und Bodens. In dieser vollständigen und konsequente­ als >feudales Grundeigenturm historische Grundlage des Kapi-
sten Trennung des Grundeigentums vom Kapital würden alle ralverhältnisses. Es ist insofern eine notwendige Vorausset­
der Verwertung des agrikolen Kapitals entgegenstehenden zung für die Bildung des Kapitals, als zur Entstehung der
Schranken beseitigt sein. Es könnte nicht nur das im Boden­ Lohnarbeit die Trennung der Produzenten von den Produk­
preis angelegte, brachliegende Kapital als agrikoles Kapital tionsmitteln, vor allem aber von ihrem angestammten Grund
aktualisiert werden, es könnten auch die der Ausdehnung des und Boden als ihrer natürlichen Subsistenzquelle, notwendige
agrikolen Kapitals auf die unbebaut gehaltene Landfläche Voraussetzung ist. Privateigentum an Grund und Boden ist
entgegenstehenden Schranken beseitigt werden. Mit der voll­ aber im Kapitalismus und für die Entstehung des Kapitalismus
ständigen Beseitigung des privaten Grundeigentums könnte nur insofern notwendig, als der Boden » [ . . . ] der Arbeiterklasse
schließlich auch die absolute Rente als ein der ganzen Gesell­ als ihr nicht gehörige Produktionsbedingung gegenübersteht,
schaft auferlegter Tribut wegfallen. Die Differentialrente und dieser Zweck wird vollständig erreicht, wenn er Staatsei­
würde dann in der Form der Pacht an den Staat fließen. Vom gentum wird, der Staat also die Grundrente bezieht.« {MEW,
Standpunkt des allgemeinen Begriffs des Kapitals< ist also die Bd. 26.2, S. 38) Das Kapital findet aber diese ihm eigentlich
Verstaatlichung des Grund und Bodens die ideale kapitalisti­ entsprechende Produktionsbedingung nicht vor. Historisch
sche Agrarverfassung. mußte es mit dem Privateigentum im engeren Sinne, d. h. mit
Warum spricht Marx dann aber trotzdem vom Privateigen­ wem Eigentum »bestimmter Individuen an bestimmten Stük-
tum an Grund und Boden als der Grundlage der kapitalisti­ «.en des Erdballs«, vorlieb nehmen, denn in Westeuropa ent­
schen Produktionsweise (s. o.)? Warum wird dieser Gedan­ wickelte sich die ursprüngliche Akkumulation als Verbürger­
kengang über die Bodenverstaatlichung im 3. Band des Kapi­ lichung des feudalen Großgrundeigentums. zum Landlordis-
mus (oder als Verkleinbürgerlichung zum Parzellensystem), den Klasse beigelegt und deren Erbe angetreten hat. Das
und historisch hat das Bürgertum mit seiner Revolut.on vor private Grundeigentum ist das Denkmal des Klassenkompro­
dem sich verbürgerlichenden Grundeigentum halt gemacht. misses der bürgerlichen Revolution.
Theoretisch, bemerkt Marx zu Ricardos Rententheorie (die Im System der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie
keine absolute Rente kennt, also insgeheim Staatseigentum a sind also, da das Privateigentum an Grund und Boden auch in
Grund und Boden voraussetzt), » [ . . . ] geht der radikale der Form des Staatseigentums existieren kann, Bodenpreis
Bourgeois [....] zur Leugnung des privaten Grundeigentums und absolute Rente die einzigen Kategorien, die wegfallen
fort r 1 In der Praxis fehlt jedoch die Courage, da der können, ohne daß dadurch das Kapitalverhältnis mit theoreti­
Angriff auf eine [ . . . ] Form des Privateigentums an Arbeits­ scher Notwendigkeit aufhörte zu bestehen. Ob diese theoreti­
bedingungen - sehr bedenklich für die andre Form wurde.« sche Notwendigkeit auch eine historische ist, ist damit noch
(MEW, Bd. 26.2, S. 39) Die Bourgeoisie hat sich, wie arx a^ nicht entschieden. Auf jeden Fall gehört ein solcher theoretisch
nennt, »territorialisiert«, sich, wie Lenin diese Stel e mterpre denkbarer >idealer Kapitalismus^ wie der durch das Wegfallen
tiert, »auf dem Boden angesiedelt« {LW, Bd. 13, S. 3 * 0 - S* dieser beiden Kategorien definiert wäre, allein aus historischen
hat die feudalen Klassen in sich integriert, anstatt sie im Gründen nicht in den Gegenstandbereich des allgemeinen
Kampf zu besiegen. Mit anderen Worten: Privates Grün ei Begriffs des Kapitals^
gentum existiert im Kapitalismus nicht, weil es dessen begriff­ Bodenpreis und absolute Rente sind daher auch revolutions­
lichem Wesen entspräche, sondern aus histor.schen Grundem theoretisch zentrale Begriffe. Sie markieren den Klassenkom­
weil das Bürgertum, aus Furcht vor einem Angriff auf das promiß der unvollendeten bürgerlichen Revolution. Es
Privateigentum überhaupt, bei seiner Eroberung de* oesteht also ein Gegensatz zwischen den Erfordernissen des
Staates vor der Zerschlagung der ökonomischen Grundlage Kapitalismus und den Interessen der Bourgeoisie, die im Kon­
der Träger dieses Staates, vor der Verstaatlichung es ru flikt zwischen ihren politischen und ihren ökonomischen Klas­
seninteressen auf die Nationalisierung des Grund und Bodens
und Bodens, hält macht.
Die Kategorien »privates Grundeigentum«, » o enprei verzichtet. Diesen Kategorien muß auch für die proletarische
und »absolute Rente« haben nach diesen Überlegungen also Revolution zentrale Bedeutung zukommen, wenn man diese,
insofern einen eigenartigen Status im ystem er -Ge Marx und Lenin, als Vollendung der bürgerlichen Revolu­
politischen Ökonomie, als hier eine spezifisch ^stor che tion konzipiert. Diese Strategie hat dann eine reale ökonomi­
Bedingung, die Entstehung des modernen Grundeigentum sche Grundlage besonderer Art in der Verwirklichung der von
aus dem feudalen Grundeigentum und der Klassenkomp ier Entwicklung des Kapitalismus selbst geforderten Boden--
miß der bürgerlichen Revolution, in das theoretische Syste Verstaatlichung, die, indem sie die objektiven Interessen der
selber eingehen. Das Privateigentum an Grund und Boden 1 Bourgeoisie gegen deren politisches Kalkül durchsetzt, eine
nach der einen Seite hin ein nur formell unter das Rapitalve begleich bürgerlich-radikale und antibürgerliche Maßnahme
hältnis subsumiertes vorkapitalistisches Reh t. s ge ist: politischer Kampf im eigentlichen Sinne, d. h. Angriff
insofern in den Bereich des »allgemeinen Begriffs des Kapi­ regen den bestehenden Staat vermittels der Beseitigung der
tale, als es schließlich nichts Vorkapitalistisches mehr an su* feudalem Relikte im Staat durch den Staat - ein Angriff, der
hat, eben »modernes Grundeigentum» wird. Daß es uherha J» mum von der Bourgeoisie, wohl aber vom Proletariat in der
S t i e r t , ist ein historisch kontingentes Moment, namlid. uurgerlichen Revolution ausgeführt werden kann und daher
Ausdruck der Tatsache, daß sich der Kapitalismus aus ein Schritt zu seiner eigenen Emanzipation sein kann. Oder,
feudalen Ordnung entwickelt hat. Daß es aber wei e *i»:e es an einer Stelle in den Grundrissen, die Rosdolsky als
stiert, daß es konserviert wird, ist Ausdruck dessen, daß d * cir.e Planskizze des ganzen Werks ansieht, in einer etwas
Bourgeoisie ihre Pubertätskonflikte mit der alten herrsc nrvstifizierenden (aber vielleicht gerade deswegen dem deut-

29
sehen Publikum verständlicheren) Ausdrucksweise heißt: der irischen Frage schreibt er am 6. 4. 1868 an Kugelmann:
» r . . .1 nachdem das Kapital das Grundeigentum gesetzt [ . . -J, »Ich war aber von jeher überzeugt, daß die soziale Revolution
betrachtet es die Existenz des Grundeigentums selbst als eine von Grund aus, d. h. vom Grund- und Bodeneigentum aus,
bloß vorübergehende Entwicklung, die nötig ist als Aktion des ernsthaft anfangen muß.« {MEW, Bd. 32, S. 543) Solche
Kapitals auf die alten Grundeigentumsverhaltnisse, und ein direkten Äußerungen können jedoch nur Illustrationen,
Produkt ihrer Zersetzung; die aber als solche - diesen Zweck zusätzliche Belege sein. Eine Analyse des inneren Zusammen­
einmal erreicht - bloße Beschränkung des Profits ist, keine hangs der einzelnen politischen Stellungnahmen von Marx
Notwendigkeit für die Produktion. Es sucht also das Grundei­ und Engels, eine Rekonstruktion ihrer politischen Strategie ist
gentum als Privateigentum aufzulösen und auf den Staat zu bisher noch nicht geleistet worden. Der Stellenwert der oben
übertragen. Dies die negative Seite. So die ganze innre Gesell­ zitierten Äußerungen kann so vorerst nur hypothetisch ange­
schaft in Kapitalisten und Lohnarbeiter zu verwandeln. Wenn geben werden. Das soll im folgenden anhand einer groben
das Kapital so weit ist, ist die Lohnarbeit auch so weit, daß sie Skizze der Marxschen politischen Strategie, die hier leider
einerseits den Grundeigentümer als Superfötation, zur Ver­ nicht genauer dargestellt und materialmäßig belegt werden
einfachung des Verhältnisses, Milderung der Steuern etc. zu kann, versucht werden.
beseitigen sucht in derselben Form, wie der Bourgeois - 1. Die Marxschen Strategien waren immer international
andrerseits, um der Lohnarbeit zu entrinnen, und selbständi­ angelegt. Marx’ theoretische Analyse des internationalen
ger - für unmittelbaren Gebrauch - Produzent zu werden, die Gleichgewichtssystems, auf dessen Zerstörung es ihm immer
Zerschlagung des großen Grundeigentums verlangt. Das vor allem ankommt, setzt dort an, wo Napoleon 1812 und
Grundeigentum wird so von zwei Seiten er negiert, 1814 aufzuhören gezwungen war. Es ist ein in seinen Grund­
Negation von Seiten des Kapitals ist nur Formveränderung zu zügen von der europäischen revolutionären Demokratie über­
seiner Alleinherrschaft [ ...] . Die Negation von Seiten der nommenes Konzept, das von Marx weiterentwickelt und
Lohnarbeit ist nur versteckte Negation des Kapitals, also auch modifiziert wird. England, der Despot des Weltmarkts, und
ihrer selbst.« (Grundrisse, S. 190) Rußland, sein politischer Arm, sind als die beiden Hauptfeinde
der europäischen Revolution die Zielpunkte dieser Strategie.
Marx konzipiert die europäische Revolution als eine Kette
Daß Marx solche Strategien tatsächlich im Auge gehabt hat, von nationalrevolutionären Kriegen, deren weitertreibendes
bezeugen zahlreiche direkte Äußerungen. So meint er schon Element der Kampf des Proletariats gegen die ihrem Wesen
1846 im Zirkular gegen Kriege über die amerikanische Anti- nach kompromißbereite Bourgeoisie ist. Der Theorie des
Rent-Bewegung, daß »die kommunistischen Tendenzen | . . •] Klassenkompromisses entspricht auf internationaler Ebene
ursprünglich in dieser scheinbar allem Komnuimsmus^ wider­ aie These von der englisch-russischen Allianz. Die einzelnen
sprechenden agrarischen Form auftreten mußten« {MEW, Bd. europäischen Regierungen und Revolutionen werden nach
4, S. 9), weil diese Bewegung » [ ...] als Angriff auf das ihrer Stellung zu dieser Kräftekonstellation beurteilt.
Grundeigentum überhaupt >notwendig< zum Kommunismus In der Revolution von 1848 erwarten Marx und Engels die
forttreiben muß [...]« {MEW, Bd. 4, S. 8). .nitialzündung für die internationale Revolution von Frank­
Am 14 8 . 18 51 schreibt er über den Fortgang seiner theoreti­ reich, eine Vorstellung, die ganz den Idealen des vormärzli­
schen Arbeiten an Engels: »Je mehr ich den Dreck treibe, u » chen Radikalismus entnommen ist. Der Angriff auf die Hei­
so mehr überzeuge ich mich, daß die Reform der Agrikultur, lige Allianz soll sich in der Zerschlagung Preußens und Öster­
also auch der darauf basierenden Eigentumsscheiße das A und reichs durch nationale Aufstände der Deutschen, Italiener und
O der kommenden Umwälzung ist.« {MEW, Bd. 27, S. 314» ^ngarn fortsetzen. Die Wiederherstellung Polens müsse
Und im Zusammenhang mit seiner veränderten Einschatzu; schließlich den Krieg der kontinentalen Revolution gegen

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Rußland einleiten, in dem der entscheidende Schlag von Eng­ schen Preußentums< über Deutschland, das sind gleichsam die
land geführt wird —die Revolution, die unter den Klängen der Hebel, die die Strategie der IAA in den 60er Jahren anzu­
Marseillaise begann, wird in diesem letzten Gefecht notwendig setzen versucht, um das politische System Europas aus den
zur proletarischen. Angeln zu heben. Die ersten Grundzüge dieser Veränderung
Ein neuer Achtzehnter Brumaire, ein neuer Sieg Rußlands der Strategie nach der 48er Revolution werden Ende der 50er
kann nur verhindert werden, wenn sich das Proletariat selbst - Anfang der 60er Jahre deutlich. Marksteine dieser Verände­
zum Bonaparte der bürgerlichen Revolution macht. rung sind die Enttäuschung der Hoffnung der alten 48er auf
Die Grundelemente dieser Strategie haben Marx und Engels Frankreich, aus der allein Marx und Engels radikale Konse­
immer beibehalten, alle ihre Aussagen über politische Revolution quenzen gezogen haben, mit denen sie sich schließlich in
müssen in diesem Kontext interpretiert werden. Es gibt jedoch Gegensatz zum überwiegenden Teil der damaligen demokra­
innerhalb dieser Strategie bedeutende Modifikationen, und die tischen und sozialistischen Bewegung setzten.
hier vertretene These ist, daß die drei wichtigsten dieser Modifi­ Die ersten Andeutungen dieser veränderten Einschätzung
kationen: der zunehmende Bedeutungsverlust Frankreichs, die finden sich schon in der Analyse des Bonapartismus im
Veränderungen der Haltung von Marx zur irischen Frage und 18. Brumaire. In der Kontroverse zwischen Engels und
schließlich die Bedeutungszunahme Deutschlands, unter Zu­ Lassalle von 1859 über den italienischen Krieg wird sie
hilfenahme der oben skizzierten Überlegungen über die Rolle zum erstenmal offen ausgesprochen. Seither haben Marx
der Bodenverstaatlichung erklärt werden können. Eine andere und Engels - und daran änderte auch die Parteinahme für die
Modifikation, die russische Agrarrevolution als Auslöser der Commune nichts — jeden Avantgardeanspruch der französi­
europäischen Revolution, haben Marx und Engels nur gele­ schen Arbeiterbewegung kategorisch abgelehnt. Engels’ Auf­
gentlich als Alternative ins Auge gefaßt. satz über den Sozialismus in Deutschland von 1891, in dem er
Das in den 50er Jahren zunehmende Interesse von Marx und den Franzosen eine Beteiligung der deutschen Arbeiterbewe­
Engels an England und Deutschland lag nicht nur an dem dort gung an einem Krieg des Deutschen Reiches gegen Frankreich
erreichten hohen Industrialisierungsgrad. Die Möglichkeit der ankündigt, ist nur die logische Konsequenz dieser Auffassung.
Revolution in diesen Ländern beruhte keineswegs allein auf Der endgültige Wendepunkt in der Einschätzung Frank­
dem von der industriellen Entwicklung hervorgebrachten Pro­ reichs waren die Grund- und Bodenbeschlüsse des Baseler
letariat. Eine proletarische Revolution, wie sie heute vorstellbar Kongresses der IAA von 1869, die die Vergesellschaftung des
wäre, war für Marx und Engels zu keinem Zeitpunkt gegeben Grund und Bodens fordern. Diese Beschlüsse, die in der Inter­
oder als reale Möglichkeit denkbar. In den von ihnen als prole­ pretation des Generalrats Verstaatlichung bedeuteten, wur­
tarische Revolution konzipierten sozialen Bewegungen wäre den gegen den erbitterten Widerstand der französischen
das Proletariat nur eine verschwindende Minderheit der Bevöl­ Delegierten durchgesetzt, die, wie der deutsche Delegierte W.
kerung gewesen. Proletarische Revolution, das konnte zu dieser Liebknecht am 17. 11 . 1869 an seinen Freund Bracke schrieb,
Zeit nur eine von der Partei des Proletariats geführte Revolu­ ► wußten, was sie taten«. Sie bedeuteten die endgültige Bestäti-
tion mit weitgehend bürgerlich-revolutionärem Inhalt sein. gung, daß die IAA eine Revolution in Frankreich nicht mehr
Und die Möglichkeit zu einer solchen Revolution beruhte auf rür möglich hielt. Zur selben Zeit vertrat Engels in einer
der besonderen Bedeutung Irlands für England, Preußens für Interpretation dieser Beschlüsse zum erstenmal die These von
Deutschland und später dann Rußlands für Europa. der Avantgarderolle der deutschen Arbeiterbewegung. Die
Der Kampf für die nationale Unabhängigkeit Irlands und Gründe dafür liegen in Marx’ Analyse des Bonapartismus. Sie
der Kampf für die nationale Einheit Deutschlands, d. h. für naben eine innen- und eine außenpolitische Komponente: Das
die Beseitigung der politischen Herrschaft Englands über rassisch-französische Bündnis, in dem Marx schon 1850 die
Irland und für die Beseitigung der Herrschaft des spezifi­ logische politische Ergänzung der Innenpolitik Napoleons III.

133
wittert, macht jeden Krieg Deutschlands gegen Frankreich zu rente, in dem Kapitel, das den vorkapitalistischen Formen der
einem Krieg Deutschlands gegen Rußland. Der Bonapartis­ Rente gewidmet ist. Diese werden erst, nachdem ihr Gegen­
mus hat zudem eine feste soziale Basis im Parzellenbauern­ satz entwickelt ist, theoretisch erklärbar. Zugleich leitet der
tum. Die Marxsche Analyse dieser sozialen Basis führt uns Abschnitt über das Parzelleneigentum über zu dem Kapitel
nun zu den Grundeigentumsverhältnissen zurück. über die >trinitarische Formek Alle Bestimmungen der kapi-
2. Wenn oben davon gesprochen wurde, daß sich das Privat­ tahstischen Produktionsweise stehen hier auf dem Kopf, alle
eigentum an Grund und Boden durch einen Kompromiß der Mystifikationen des Kapitalverhältnisses sind in dieser eigent­
Bourgeoisie mit dem Feudaladel erhalten habe, so gilt diese lich vorkapitalistischen Form auf die Spitze getrieben. In der
Aussage für das große Grundeigentum. In Frankreich hat sic Lage dieser »halb außerhalb der kapitalistischen Gesellschaft
paradoxerweise gerade durch die Radikalisierung der bürger­ stehende [n] Klasse von Barbaren« (MEW, Bd. 25, S. 821)
lichen Revolution eine andere Art von Privateigentum an fallen nicht nur die »Nachteile der kapitalistischen Produk­
Grund und Boden herausgebildet: das bäuerliche Parzellenei­ tionsweise« zusammen mit den »Nachteilen, die aus der
gentum. Die Bauern hatten ihren Boden 1789 nicht zur Pacht unvollkommenen Entwicklung der kapitalistischen Produk­
erhalten, sondern - Paris brauchte Geld - als Eigentum tionsweise hervorgehn« (MEW, Bd. 25, S. 820); der Parzellen­
erwerben können. Die Herstellung des kleinen Grundeigen­ bauer ist auch weder Grundeigentümer, Kapitalist oder Lohn­
tums ist eine merkwürdige >antikapitalistische< und zugleic arbeiter, er ist alles in einem. Er ist >freier< Eigentümer seines
radikal bürgerliche Maßnahme der bürgerlichen Revolution Bodens, ja, seiner Produktionsmittel, und er ist auch Arbeiter,
nach französischem Muster. Die Masse der Produzenten insofern als sein Einkommen, das >theoretisch< aus allen drei
eignet sich den Boden, der auf diesem Stand der Entwicklung Revenuequellen stammt, nicht höher ist als der Arbeitslohn,
das Hauptproduktionsinstrument ist, unmittelbar als Privatei­ den er sich selber zahlt. Eine absolute Rente entsteht hier in der
gentum an, verhindert aber dadurch gerade die für den Fort­ Regel nicht. Im Gegenteil: Weil der Marktpreis in der Regel
schritt des Kapitalismus notwendige Trennung von Grundei­ unter dem Wert liegt, wird ein großer Teil der bäuerlichen
gentum und Kapital, der Produzenten von ihrem als Produk­ Arbeit der Gesellschaft geschenkt.
tionsmittel erscheinenden Grund und Boden. Die bürgerliche Wie im Feudalismus wird der Bauer seines gesamten Mehrpro­
Revolution konnte ihre Hilfstruppen im Kampf gegen den dukts beraubt. Das geschieht jedoch nicht in Form der Aneig­
Feudalismus nur auf diese bürgerliche Art und Weise ent­ nung der Rente durch einen Grundeigentümer. Nominell hat
schädigen. So wurde in der Französischen Revolution zwar der Bauer weder einen Kapitalisten noch einen Grundherrn
eine große Masse von Geldkapital frei, aber die andere Bedin­ über sich. Die Ausbeutung nimmt hier die Form der >Zins-
gung der ursprünglichen Akkumulation, die Trennung der knechtschaft< an. Die gesamte bäuerliche Rente, der gesamte
Produzenten von den Produktionsmitteln, wurde nicht nur bäuerliche Profit und oft genug ein großer Teil des bäuerli­
nicht erfüllt, sondern sogar erschwert bzw. rückgängig chen Arbeitslohns werden von der >Finanzaristokratie< in der
gemacht. Weder wurden ausreichend Lohnarbeiter freige­ Form des Hypothekarzinses angeeignet.
setzt, noch konnte sich in der Landwirtschaft der Kapitalismus Die scheinbare Freiheit des Bauern ist also seine Knecht­
entwickeln. Vom Standpunkt der Entwicklung des Kapitalis­ schaft. Das nur noch nominelle Eigentum des kleinen Bauern
mus war also die Französische Revolution im Grunde reaktio­ am Grund und Boden ist ein Mittel, ihn auszubeuten. Und
när. Sie mußte ihr Heil in außenpolitischer Expansion suchen, indem er sich an >seinen< Boden klammert, unterwirft er sich
die Bauern mußten, wie Marx sagt, ihren Boden mit Lorbeer >einen Ausbeutern. Die hartnäckigen >Eigentumsillusionen<
düngen. n . des kleinen Bauern entspringen daraus, daß gerade beim klei­
Im Kapital behandelt Marx das Parzelleneigentum aus nen Grundeigentum ein überwiegendes Element des Kostprei­
gutem Grund ganz am Schluß des Abschnitts über die Grund­ ses durch die »individuellen falschen Produktionskosten«

134
(MEW, Bd. 25, S. 816), d. h. den Bodenpreis, gebildet werden sity« gegen das Bürgertum machen, im Zuge der Verstaatli­
und sich so die »Illusion, daß der Boden selbst Wert hat« chung des Grund und Bodens die Staatsmacht ergreifen. Da
(.MEW, Bd. 25, S. 818), verfestigt. aber die Gewinnung des Parzellenbauern zum aktiven Kampf
Aus all diesen Gründen ist der Parzellenbauer, wie Marx in für diese Bewegung nicht möglich scheint, dieser vielmehr erst
einem Diskussionspapier der IAA aus dem Jahre 1872 nach der Eroberung der Staatsmacht zum Bündnispartner
schreibt, » [ . . . ] the most decided enemy of social progress, werden kann, die Revolution folglich nicht von Frankreich
and above all of the nationalization of land.«4 Das Eigentum ausgehen kann, stellen sich zwei Fragen: Welche Kategorie
an Grund und Boden aber, »this original source of all wealth, von Bauern kann überhaupt für eine solche Strategie als
has become the great problem upon the solution of which Bündnispartner gewonnen werden, und von welchen Ländern
depends the future of the working dass« (a.a.O., S. 315). muß die Revolution folglich ihren Ausgang nehmen? Im ein­
Marx betont hier also noch einmal die schon eingangs zigen offiziellen Kommentar zu den Beschlüssen des Baseler
erwähnte Bedeutung der Grund- und Bodenfrage für die pro­ Kongresses der IAA, in Engels’ Vorwort zur zweiten Auflage
letarische Revolution. Jedoch: » [ . . . ] the french peasant has seiner Schrift über den deutschen Bauernkrieg, wird dazu
been thrown into a most fatal antagonism to the industrial bemerkt: »Dieser Beschluß ist gefaßt worden hauptsächlich
working dass. Peasantry proprietorship beeing thus the grea- für die Länder, wo großes Grundeigentum und damit zusam­
test obstacle to the nationalization of land, France in its men Bewirtschaftung großer Güter besteht, [ ...] und daher
present state is certainly not the place, where we must look for war dieser Beschluß zunächst England grade für Deutschland
a solution of this great problem.« (A.a.O., S. 320) Marx spricht höchst zeitgemäß.« (MEW, Bd. 16, S. 400)
hier also die Implikationen der Baseler Grund- und Bodenbe­ 3. Im Falle Englands ist das aktive Element im >Bündnis
schlüsse nach ihrer negativen Seite hin deutlich aus. Die Beur­ zwischen Arbeitern und Bauern< - die nationale Befreiung
teilung Frankreichs zeigt, daß Marx und Engels die Möglich­ Irlands. Während der Debatte über die Grund- und Bodenpo­
keiten eines Bündnisses mit den kleinen Parzellenbauern sehr litik der IAA (1866-69) ändert Marx seine Ansichten über die
düster eingeschätzt haben. Zwar ist in ihren Schriften oft von irische Frage. War er ursprünglich davon ausgegangen, die
der Notwendigkeit des Bündnisses mit den Kleinbauern die Herrschaft Englands über Irland sei nur durch eine Erhebung
Rede, der Bauer »sollte [. .. ] der sozialistischen Propaganda der englischen Arbeiterklasse zu beseitigen, so hat ihn, wie er
offene Ohren leihen« (MEW, Bd. 22, S. 489). Engels formu­ am 10. 12. 1869 an Engels schreibt, »tieferes Studium [. ..]
liert jedoch die bündnispolitische Fragestellung hinsichtlich nun vom Gegenteil überzeugt« (MEW, Bd. 32, S. 415). Es
der Kleinbauern so: Wie werden wir mit den Kleinbauern bleibt die Prämisse, daß »erste Bedingung der Emanzipation
verfahren müssen »am Tag, wo uns die Staatsmacht zufällt«? hier [in England, e. h.] der Sturz der englischen Bodenoligar­
(MEW, Bd. 22, S. 499) Eine Strategie für die Gewinnung des chie« ist (MEW, Bd. 32, S. 638). Er meint aber jetzt, daß diese
Parzellenbauern zum aktiven Kampf für die Eroberung der Bedingung unmöglich erfüllt werden kann, solange die engli­
Staatsmacht findet sich bei Marx und Engels also nicht. Der sche Grundeigentümerklasse »ihren stark verschanzten Vor­
Grundgedanke ihrer Strategie scheint sich vielmehr etwa so posten in Irland behauptet« (a.a.O.). Denn Irland ist das
zusammenfassen zu lassen: In solchen Ländern, in denen das »Bollwerk der englischen Grundaristokratie«. Einerseits hat
Proletariat nicht die Mehrheit der Bevölkerung ausmacht, ist »der Sturz der englischen Aristokratie in Irland [...] notwen­
die proletarische Revolution weder nur als bloßer Putsch einer digerweise zur Folge ihren Sturz in England. Damit wäre die
Minderheit denkbar, noch muß das Proletariat mit der Macht­ Vorbedingung der proletarischen Revolution erfüllt.« (MEW,
ergreifung warten, bis die Zeit reif ist. Es kann sich zum Bd. 32, S. 668) Andrerseits ist die Realisierung dieser notwen­
Führer einer von der Entwicklung des Kapitalismus selber digen Bedingung in Irland am leichtesten möglich, weil dort
geforderten Bewegung, zum Vollstrecker einer »social neces- »der ökonomische Kampf ausschließlich auf den Grundbesitz

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konzentriert ist« (MEW, Bd. 16, S. 387); d. h. »weil in Irland nale Einheit im Krieg gegen Rußland als Hauptaufgabe der
die Landfrage bis jetzt die ausschließliche Form der sozialen europäischen Revolution. Marx und Engels waren immer
Frage ist, weil sie eine Existenzfrage, eine Frage auf Leben mehr »nationalistisch als >demokratisch<, d. h. sie haben in
und Tod für die immense Majorität des irischen Volkes ist, ihrer Situation den nationalen Bewegungen der Deutschen,
weil sie zugleich unzertrennlich von der nationalen Frage ist.« Iren, Polen, aber auch der Ungarn und Italiener als dem
{MEW, Bd. 32, S. 668) Diese in einem Schreiben an den Föde­ Ausdruck reifer bürgerlicher Revolution größere Bedeutung
ralrat der IAA in der Schweiz entfalteten Gedankengänge für die proletarische Revolution zugemessen als irgendwel­
hatte Marx schon am 11. 10. 1867 in einem Brief an Kugel­ chen sozialistischen und demokratischen Idealen, über die sie
mann prägnant so zusammengefaßt: In Irland »ist das ganze sich meist sehr verächtlich ausgelassen haben. Das Wesen
Grundeigentum [. . .] identisch mit dem Eigentum Irlands an ihres Nationalismus in bezug auf Deutschland war jedoch
England.« {MEW, Bd. 31, S. 561) In England ist also die immer antipreußisch. Das erklärt ihre Schwierigkeiten mit
nationale agrarrevolutionäre Unabhängigkeitsbewegung Ir­ der deutschen Arbeiterbewegung. Das Mißtrauen in die Auf­
lands der aktive Bündnispartner des englischen Proletariats richtigkeit der antipreußischen Gesinnung der Lassalle-
im Kampf gegen die Bodenaristokratie. Schweitzerschen Richtung war auch durch deren vorbehalt­
4. Für Deutschland sind derart klar ausgeführte Überlegun­ lose Anerkennung der Grund- und Bodenbeschlüsse der IAA
gen nicht bekannt, obwohl die Frage hier eine ähnliche nicht zu beseitigen. Marx und Engels wandten sich statt dessen
Brisanz hätte haben können wie später in Rußland. »The der in der radikaldemokratisch-kleinbürgerhchen Bewegung
whole thing in Germany wird abhängen von der Möglich­ Südwestdeutschlands verwurzelten Liebknecht-Bebelschen
keit, to back the Proletarian revolution by some second edition Richtung zu, deren Preußenfeindlichkeit zwar aufrichtig, aber
of the Peasants’ war. Dann wird die Sache vorzüglich« hatte noch von den Illusionen des Kleinbürgertums und der süd­
Marx am 16. 4. 1856 an Engels geschrieben. Es gehört jedoch deutschen Kleinstaaterei vernebelt war. Diesen Leuten die
zu den für die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung fol­ sozialrevolutionäre Pointe ihrer antipreußischen Politik, die
genreichsten Mißverständnissen der Marx-Engelsschen Revo­ nur in der Zerschlagung des ostelbischen Großgrundbesitzes
lutionstheorie, daß sie die Gründe für die ihr von den beiden hätte bestehen können, klarzumachen, ist Marx und Engels
>Altem im Vorwort zur 2. Auflage von Engels’ Schrift über den nie gelungen. Die taktischen Wendungen des naiven Lieb­
deutschen Bauernkrieg zugesprochene Avantgarderolle nicht knecht, der sich zuerst aus Furcht vor dem kleinbäuerlichen
begreifen wollte. — Wenn die Gründe für den Verlust der Anhang der mit ihm verbündeten Volkspartei standhaft wei­
Avantgarderolle Frankreichs darin liegen, daß es nahezu gerte, den Baseler Grund- und Bodenbeschlüssen irgendeine
unmöglich war, den Parzellenbauern zum aktiven Bündnis­ praktische Bedeutung zuzumessen, und dann, nachdem Marx
partner der proletarischen Revolution zu gewinnen, dann deswegen ärgerlich die Stirn gerunzelt hatte, mit der ihm
macht das auch strategische Differenzierungen hinsichtlich eigenen Unerschrockenheit die Parole der Verstaatlichung
der Agrarverfassung in den einzelnen Teilen Deutschlands des Grund und Bodens dem südwestdeutschen Kleinbauern­
notwendig. Denn für Deutschland westlich der Elbe gilt in tum versuchte schmackhaft zu machen, um schließlich,
dieser Hinsicht dasselbe wie für Frankreich; die Bemerkung als er damit auf wenig Gegenliebe gestoßen war, mit der
Engels’ über den landwirtschaftlichen Großbetrieb in Miene des Realpolitikers jede Agrarpolitik zugunsten prole­
Deutschland trifft nur für Ostelbien zu. Diese Differenzie­ tarischer Prinzipientreue aufzugeben, kommentiert Marx
rung innerhalb Deutschlands stand jedoch immer im Schatten bloß noch in einem grimmigen Brief an Engels, der schon resi-
der anderen gesamtnationalen Aufgabe der bürgerlichen gnative Züge trägt: »Keinem dieser Esel ist es auch nur einge­
Revolution, auf die Marx und Engels die deutsche Arbeiterbe­ fallen bis jetzt, die liberalen Heuler zu fragen, ob nicht gefäl­
wegung einzuschwören versuchten: der Kampf um die natip- ligst in Deutschland neben dem kleinen Bauerneigentum
138
*39
großes Grundeigentum existiert, das die Basis der überlebten sehen und imperialistisch-nationalistischen Bewegungen zu.
Feudalwirtschaft bildet, ob man während einer Revolution Damit mußte aber auch, folgt man der Logik der Marxschen
nicht damit aufräumen muß, wenn man selbst nur mit der Strategie, die Avantgarderolle der deutschen Arbeiterbewe­
jetzigen Staatswirtschaft fertig werden will, und ob das gung auf die russische Revolution übergehen.
geschehn kann in der veralteten Manier von 1789. Quod non.
Die Esel glauben dem Schwabenmayer, daß die Landfrage III
unmittelbar praktisches Interesse nur für England hat!« Weil eine >genuin proletarische< Revolution unter den Bedin­
(MEW, Bd. 32, S. 380 f.) gungen, unter denen Marx und Lenin ihre Strategien entwik-
Resignativ und mißverständlich klingt auch die Stellung­ kelten, ganz unmöglich war, wurde die Bauernfrage in der
nahme von Engels, der 1895, als sich die deutsche und franzö­ Epoche der I. und II. Internationale zur Schicksalsfrage der
sische Arbeiterbewegung wieder einmal in den aussichtslosen Arbeiterbewegung. Die obigen Ausführungen sollten zeigen,
Versuch der Lösung der Kleinbauernfrage verbissen hatte, wie Marx und Engels die Lösung dieses Problems gesehen
den Zusammenhang von Agrarfrage und Revolution in hatten: Da das Bürgertum die untergegangenen herrschenden
Deutschland noch einmal in Analogie zur revolutionären Auf­ Klassen beerbt, es in ihre Fußstapfen tritt, indem es deren
gabe Deutschlands formuliert: »Die tatsächliche halbe Leibei­ Herrschaftsapparat für seine Zwecke umwandelt, ist seine
genschaft der ostelbischen Landarbeiter ist die Hauptgrund­ Revolution dem Wesen nach ein Kompromiß. Die Fortexi­
lage der preußischen Junkerherrschaft und damit der spezi­ stenz des privaten Grundeigentums markiert diese unvollen­
fisch preußischen Oberherrschaft in Deutschland. dete Revolution, diesen Klassenkompromiß der Bourgeoisie
Haben wir aber die ostelbischen Landarbeiter, so weht sofort in besonderer Weise. In der Landwirtschaft tritt die Dynamik
in ganz Deutschland ein anderer Wind. [. ..] Die große Reak­ des sich entwickelnden Kapitalismus mit den Interessen der
tionäre Macht, die für Deutschland dasselbe barbarische im Kapitalismus herrschenden Klasse in Widerspruch. Hier
erobernde Element repräsentiert, wie der russische Zarismus liegt die Achillesferse der Bourgeoisie. Der Kampf für die
für ganz Europa, sinkt in sich zusammen wie eine angesto­ ideale kapitalistische Agrarverfassung ist folglich antibürger­
chene Blase. Die Kernregimenter der preußischen Armee lich. Marx und Engels war es jedoch nur unter Schwierig­
werden sozialdemokratisch, und damit vollzieht sich eine keiten gelungen, eine bündnispolitisch relevante gesellschaft­
Machtverschiebung, die eine ganze Umwälzung in ihrem liche Schicht oder Bewegung ausfindig zu machen, deren
Schoß trägt. Darum aber ist die Gewinnung der ostelbischen vitale Interessen mit diesem >idealen Kapitalismus< zusam­
Landproletarier von weitaus größerer Wichtigkeit als die der menfallen, in die sie dieses Programm hätten >hineintragen<
westdeutschen Kleinbauern oder gar der süddeutschen Mittel­ können, um so mit der Naturkraft dieser >social necessity< die
bauern. Hier im ostelbischen Preußen liegt unser entscheiden­ proletarische Bewegung voranzutreiben. Das gelingt erst
des Schlachtfeld.« {MEW, Bd. 22, S. 504 f.) Lenin in Rußland.
Was von Engels als. Hinweis auf Ostelbien gemeint war, 1. Die kapitalistischen Agrarverhältnisse sind in der Regel
wurde vom orthodoxen Flügel der deutschen Sozialdemokra­ um so fortschrittlicher, je früher die bürgerliche Revolution
tie als Absage an jegliche agrarische Bündnispolitik interpre­ einsetzt. Das eigentliche Bürgertum ist nie und nirgends poli­
tiert, während die revisionistische Richtung, die, wie Bern­ tisch revolutionär, es sei denn zuweilen in Gedanken. Je mehr
stein sich richtig erinnerte, in der Debatte über die Agrarfrage daher der absolutistische Staat noch Subjekt der bürgerlichen
ihre Wurzel hatte, ungestört ihrer an der französischen Revolution ist, um so weniger kommt es zu den die Entwick­
Sozialdemokratie orientierten hoffnungslos opportunistischen lung des Kapitalismus hindernden Momenten des Klassen­
Bauernpolitik frönen konnte. Das Kleinbauerntum wandte kompromisses, die die modernen bürgerlichen Revolutionen
sich trotzdem den jetzt immer stärker werdenden antisemiti- kennzeichnen. In Rußland hatte diese Tendenz ihr äußerstes
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Extrem erreicht. Hier begann die bourgeoise Reaktion schon, dowiki-Fraktion in der Duma sollte später zeigen, daß diese
bevor sich die ersten Regungen bürgerlicher Revolution zeigten. Forderung nicht einer vorübergehenden Laune entsprach,
Das führte in der Landwirtschaft zur Stabilisierung solcher Ver­ sondern tief in der russischen Bauernschaft verwurzelt war.
hältnisse, in denen sich der gleichwohl von einem bestimmten Jetzt wird es den Bolschewiki möglich, die Probleme zu lösen,
Punkt an unaufhaltsame Prozeß der Entwicklung des Kapitalis­ an denen die westeuropäische Arbeiterbewegung in ihren
mus nur sehr langsam und quälend durchsetzen konnte. Diese Versuchen, Bündnispartner unter den Bauern zu finden,
Situation veranlaßte den proletarischen Revolutionär Lenin zu gescheitert war. Zum erstenmal fallen die Bedingungen der
dem Satz: »In solchen Ländern wie Rußland leidet die Arbei­ optimalen Entwicklung des Kapitalismus mit den vitalen
terklasse nicht so sehr unter dem Kapitalismus, als vielmehr Interessen der Bauernschaft zusammen, wird ein Bündnis zwi­
unter der ungenügenden Entwicklung des Kapitalismus.« schen Proletariat und Bauernschaft möglich. Die russische
Bauernschaft ist die erste wirklich revolutionäre Bourgeoisie.
(LW, Bd. 9, S. 37)
Diesen Grundgedanken seiner Revolutionstheorie hat Lenin In der Analyse der Revolution von 1905 ordnet Lenin seine
bereits in seinen ersten Schriften immer wieder ausgespro­ Gedanken zur Agrarpolitik neu. Die dabei entstandene
chen. Sein ganzes theoretisches Bemühen ging nur noch dahin, Schrift Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der
eine politische Lormel dafür zu finden: Die russische ^Revolu­ ersten russischen Revolution von 1905 bis 1907 ist zugleich die
tion kann nur eine bürgerliche Revolution gegen die Bour- klarste Zusammenfassung und Begründung seiner Revolu­
geoisie< sein. Gerade als proletarische ist daher ihre Aufgabe tionstheorie. - Kann sich der Kapitalismus in der russischen
nicht die Abschaffung, sondern allererst die Durchsetzung des Landwirtschaft überhaupt entwickeln? Diese Frage, die die
Kapitalismus. >Proletarisch< ist sie vor allem deswegen, weil russischen Revolutionäre jahrzehntelang beschäftigt hatte,
diese Aufgabe nur vom Proletariat gelöst werden kann. Den war von Lenin schon zu Anfang des Jahrhunderts eindeutig
Begriff des Proletariats hat Lenin von daher in spezifischer positiv beantwortet worden. Zwar muß er jetzt zugeben, daß
Weise dynamisch gefaßt. Er wird in manchen Wendungen er in seiner Analyse der Entwicklung des Kapitalismus in
nahezu synonym für gesellschaftlichen Lortschritt<. Sozial­ Rußland den Entwicklungsgrad und das Entwicklungstempo
klassenmäßig beschreibt er damit nicht nur das Industriepro­ des Eindringens kapitalistischer Verhältnisse in die Landwirt­
letariat, sondern zugleich das Proletariat in statu nascendi: schaft erheblich überschätzt hatte. Fest steht jedoch, daß
die sich proletansierende Bauernschaft. >Proletarisch<, dieser keine Macht der Welt die Dynamik dieser Entwicklung mehr
Begriff impliziert dann auch den praktischen Eingriff m die aufhalten kann. Es besteht aber die Möglichkeit, diesen Pro­
Bauernbewegung. In immer neuen, sorgfältig ausgeführten zeß für die proletarische Revolution zu benutzen, denn im
Entwürfen für ein Agrarpfogramm versucht Lenin, dafür eine Unterschied zu anderen Ländern gibt es in Rußland zwei
objektiv mögliche Varianten der Entwicklung des Kapitalis­
Linie zu finden.
2. Das entscheidende Ereignis für Lenins politische Theorie­ mus, die Lenin als den >preußischen< und amerikanischem
bildung ist die Revolution von 1905. Sie macht die ausgetüf- Weg unterscheidet. Der preußische Weg ist der Weg der
telten Programmentwürfe des Agrarspezialisten der russi­ Reform, den Stolypins Versuch zur Rettung der Gutswirt­
schen Sozialdemokratie zunichte und bestätigt zugleich auf schaft beschritten hatte, der Weg der Umwandlung der >fron-
verblüffende Art und Weise die Grundlinie dieser hypotheti­ herrlichem (krepostniceskie) Latifundien in kapitalistische
schen Konstruktionen. In der russischen Revolution von 1905 Gutswirtschaften und der Förderung der Differenzierung
wird zum erstenmal (abgesehen von den vergleichsweise sek­ innerhalb der Bauernschaft. Der >amerikanische< Weg ist der
tiererischen Bewegungen in Amerika) die Forderung nach Weg der Bauernrevolution, der Verteilung des Landes unter
Verstaatlichung des Grund und Bodens von einer revolutionä­ die Bauern, der Entwicklung der Bauern zu kapitalistischen
ren Bauernbewegung spontan erhoben. Die Politik der Tru- Farmern.

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Diesen beiden Varianten entsprechen zwei politische Kräfte: sehen Weg< bezeichnet. Diese Formulierung spielt zunächst
die gutsherrlich-liberale und die bäuerlich-republikanische auf den >Farmer<, den mit kapitalistischen Methoden wirt­
Bourgeoisie; gutsherrlicher Liberalismus auf der einen, bäuer­ schaftenden Großbauern an. Dann zielt sie - in Analogie zur
liche Demokratie auf der anderen Seite. Und Lenin betont Eroberung des >freien Landes< im Westen - auf die Kolonisie­
immer wieder: »Die ganze Geschichte der politischen Befrei­ rung Sibiriens. Die Nationalisierung des Grund und Bodens
ung Rußlands ist die Geschichte des Kampfes dieser beiden gehört jedoch nicht zur Definition dieses Typus. Zwar will
bürgerlichen Tendenzen.« (LW, Bd. 17, S. 565) Das gilt auch Lenin die optimale Entwicklung des Kapitalismus unterstüt­
für die von Lenin als politische Befreiung konzipierte proleta­ zen, er ist jedoch in der Praxis sehr vorsichtig damit, die
rische Revolution. Forderung nach Nationalisierung des Grund und Bodens auf­
Lenins wichtigster Kritikpunkt an den Menschewiki ist nun, zustellen, in der sich diese Strategie theoretisch ausdrückt.
daß sie diese Alternative nicht begriffen hätten, weil sie Wie ist das zu erklären?
>Kapitalismus< und >Bourgeoisie< einfach miteinander identifi­ Die Marx-Leninsche Strategie der >Führung< der bürgerli­
zierten. Eine proletarische Revolution, so Lenin, steht in Ruß­ chen Revolution war nicht nur die einzig realistische Strategie
land nicht auf der Tagesordnung. Trotzdem hat das Proleta­ der proletarischen Revolution, als eine Art >Pakt mit dem
riat, dessen Partei durch wissenschaftliche Analyse diese bei­ Teufeh barg sie zugleich erhebliche Gefahren und Risiken. In
den Alternativen erkannt hat, die Möglichkeit eines Eingriffs Rußland, wo die Realisierung dieser Strategie am leichtesten
in die Geschichte. Und wenn diese Möglichkeit objektiv möglich scheint, kommt auch deren Pferdefuß deutlich zuta­
besteht, dann ist jede seiner Aktionen, jeder Schritt eine poli­ ge. Die in dieser Strategie allgemein enthaltenen Gefahren
tische Entscheidung entweder für die eine oder für die andere sind gerade bei der Nationalisierung des Grund und Bodens
Richtung. Aus diesem Grund allein hat Lenin recht, wenn er als deren Kernpunkt am größten. Den russischen Revolutio­
die >ökonomisten<, die den Gegensatz zwischen Kapitalisten nären war das sehr wohl bewußt. In ihren Diskussionen spie­
und Arbeitern in den Vordergrund stellen, und die Mensche­ gelt sich diese Gefahr in zwei Befürchtungen: als Furcht vor
wiki, die das Vorantreiben der bürgerlichen Revolution als dem starken Staat oder als Furcht vor der Vendee; als
politische Unterstützung der Bourgeoisie verstehen, bezich­ Furcht vor der bourgeoisen oder als Furcht vor der bäuerlichen
tigt, daß sie auf der Seite des gutsherrlichen Liberalismus Reaktion. Anhand der Diskussionen über die Nationalisierung
stehen. Alle Kritik an seinen innerparteilichen Gegnern läuft des Grund und Bodens lassen sich auch die Hintergründe der
immer wieder darauf hinaus, daß jede Halbheit, jede Unent­ Fraktionierungen unter den russischen Revolutionären auf­
schiedenheit, alle Zwischenwege, alles Disengagement, objek­ hellen.
tiv, vom Ausgang der Sache her gesehen, auf eine Unterstüt­ Nationalisierung des Grund und Bodens bedeutet einerseits
zung des preußisch-gutsherrlich-liberalen Programms hinaus­ ideale kapitalistische Agrarverfassung. Lenin will die Natio­
laufen. Vor allem die Hoffnungen der Menschewiki auf eine nalisierung aber nicht als solche, nicht als absolutes Ziel, wie
bürgerlich-parlamentarische Demokratie nach westlichem aie Sozialrevolutionäre, denen sie als sozialistische Maß­
Muster werden in den Augen Lenins zwischen den Mühlen nahme gilt. Für Lenin ist sie nur ein Mittel zur proletarischen
dieser Alternativen zerrieben. Umgekehrt ist Lenins Politik Revolution. Dieses Mittel kann die Verstaatlichung aber nur
nichts anderes als der Versuch, der objektiv möglichen bäuer­ sein, wenn sie eine revolutionäre Maßnahme ist; sie kann,
lichen Variante der Entwicklung des Kapitalismus zum muß aber nicht revolutionär sein. Mit anderen Worten: die
Durchbruch zu verhelfen. ^ erstaatlichung des Grund und Bodens hat eine verschiedene
3. Es erscheint zunächst eigenartig, daß Lenin die der bäu­ runktion, je nachdem, wie der Staat beschaffen ist, der
erlichen Demokratie< entsprechende Variante der Entwick­ dadurch zum alleinigen Grundeigentümer wird.
lung des Kapitalismus in der Landwirtschaft als >amerikani- Der liberale Plechanov argumentiert nun im Anschluß an

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Kautskys Polemik gegen Vollmars >Staatssozialismus< so: Ver­ Die bäuerliche Wirtschaft Rußlands war nicht, wie es immer
staatlichung des Grund und Bodens ist eine bürgerliche Maß­ wieder behauptet wird, kollektivwirtschafdich organisiert,
nahme, sie stärkt also den bürgerlichen Staat. Folglich ist sie sondern, ganz ähnlich wie in Frankreich, parzelliert. Gegen­
reaktionär. Auf dieses Argument hat Lenin immer Rücksicht über Frankreich gab es jedoch zwei wesentliche Unterschiede.
genommen. Aber er teilt nicht die übertriebenen Befürchtun­ Erstens bestanden die bäuerlichen Wirtschaften neben den
gen Plechanovs, sondern antwortet nur: Kann sein, muß aber großen feudalen Gutswirtschaften, mit denen sie durch viel­
nicht. Zwar macht Lenin aus seiner persönlichen Sympathie fältige Knechtschaftsbeziehungen verbunden waren. Auf die­
für die Verstaatlichung des Grund und Bodens keinen Hehl, sen Gutswirtschaften konnte sich jedoch die mit Lohnarbei­
sie wird bei ihm jedoch nie zum dogmatisch festgehaltenen tern betriebene Großproduktion nur sehr schwer durchsetzen.
Programmsatz wie bei den reformistischen Staatssozialisten Lenin bezeichnet dieses System zwar als >preußisch<, im
oder den russischen Sozialrevolutionären; sie wird nicht Unterschied zum preußischen Junker ist der russische Guts­
grundsätzlich propagiert, sondern erst dann, wenn zu erwar­ herr (pomescik) jedoch ein »krepostniceskij pomescik«, wie Le­
ten ist, daß sie zum Programm einer revolutionären, aut nin das nennt, d. h. die Produktionsweise auf den großen Gütern
Zerschlagung des bürgerlichen Staates gerichteten Bauernj*- basiert auf bäuerlicher Fronarbeit (krepostnicestvo). Nur eine
weeun? wird. Nicht der Staat als solcher, sondern die revolu­ der beiden Voraussetzungen der Nationalisierung, die Marx
tionäre Bauernbewegung muß Subjekt der Verstaatlichung und Engels sich vorgestellt hatten (s. o.), ist also gegeben.
sein; d. h. die Nationalisierung des Grund und Bodens muiS Zwar gibt es in Rußland »großes Grundeigentum«, nicht aber
Ausdruck der Aneignung des Bodens durch die Bauernschaft »damit zusammen Bewirtschaftung großer Güter«. Der russi­
sein. Zwar vertraut Lenin auf den notwendigen Zusammen­ sche Großgrund^esAz ist vielmehr ein Stützpunkt der Klein-
hang von agrarischer und politischer Demokratie, wie er in produktion.
der alten Parole der Narodniki nach >Zemlja i Volja<, nach Der zweite wesentliche Unterschied zu Frankreich liegt in
Land und Freiheit, zum Ausdruck kommt. Aufgabe der Partei der >obscina< oder dem bäuerlichen >mir< selber. In Rußland ist
des Proletariats ist es jedoch, besonders in Rußland, aut die die bäuerliche Parzelle nicht Privateigentum oder seit Gene­
politische Seite den Nachdruck zu legen. Deswegen steht die rationen angestammter Besitz der Familie, sondern sogenann­
Forderung nach einer »revolutionär demokratischen Diktatur tes >Anteilland< (nadel’naja zemlja), das von der Dorfge­
der Arbeiter und Bauern« im Vordergrund. meinde in regelmäßigen Abständen neu verteilt wird. Der
4. Die Gefahr der bäuerlichen Reaktion wird von Lenin präzise wissenschaftliche Ausdruck für diese spezifisch russi­
wesentlich ernster genommen. Sie ergibt sich daraus, daß in sche Form von Grundbesitz lautet daher >pozemePno pere-
Rußland die Parole der Nationalisierung aus ganz bestimmten cel’naja obscina< = Landumteilungsgemeinde. Ihre Charakte­
historischen Gründen eine bloße Umschreibung der bäuerli­ ristika sind zum einen die solidarische Haftung< (krugovaja po-
chen Forderung nach >Zemlja i Volja< wurde und daß m dieser ~uka) aller Gemeindemitglieder für die der Gemeinde als ganzer
Parole der Mythos der »cernyj peredeh, der »schwarzen Umtei- luferlegten Steuer- und Ablösungsschulden, zum anderen
lungs lebendig geblieben war. Die Verstaatlichungsforderung eie periodische Neuverteilung (peredeP) des Anteillandes und
war also in Rußland Ausdruck eines radikalen kleinbäuerli­ camit des Anteils an der kollektiven Schuld, je nach der sich
chen Individualismus. Auf dieses Problem muß am SchluS ändernden Arbeitskraft der einzelnen Familien. Diese Forma­
noch kurz eingegangen werden, denn von den historische* tion ist weder Relikt einer asiatischen Produktionsweise<
Gründen für die bäuerliche Forderung nach Nationalisierung noch ist die Produktion kollektiv organisiert. Es handelt sich
reden heißt zugleich, auf die Hypothek eingehen, die die iier vielmehr um eine besonders abgefeimte Form feudaler
Bolschewiki mit der Oktoberrevolution für die mternation Fesselung des Bauern an den Boden, und es gehört schon eine
Arbeiterbewegung aufgenommen haben. eshörige Portion dogmatischer Blindheit dazu, darin eine

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Vorform des Sozialismus zu sehen. res war nur möglich, weil neben den Bauernwirtschaften
Eine ganz andere Frage ist es —und nur darum geht es in den große feudale Güter weiterbestanden. In der Forderung nach
Stellungnahmen, die Marx dazu abgegeben hat —, ob es die Nationalisierung drückt sich also zwar die Bereitschaft des
Aufgabe der Sozialisten ist, die Auflösung der Landumtei- Bauern aus, >sein< Land wegzuwerfen, aber nur um sich damit
lungsgemeinde im Sinne der liberalen Reformer praktisch zu zugleich das Land des Gutsbesitzers anzueignen. Während in
unterstützen. Das hat auch Lenin immer von sich gewiesen. England und Preußen die Verstaatlichung des Grund und
Die frühen Agrarprogrammentwürfe der Sozialdemokratie Bodens den Übergang zur kollektiv betriebenen landwirt­
fördern daher nur die Abschaffung der solidarischen Haftung, schaftlichen Großproduktion hätte bilden können, kann sich
nicht aber den Eingriff in die bäuerliche Flurregelung zur in Rußland eine solche bürgerlich-radikale Maßnahme auch
Herstellung des Privateigentums an Grund und Boden. Worin als Durchgangspunkt zu einer Aufteilung des Landes unter
jedoch das revolutionäre Potential des bäuerlichen >mir< wirk­ die Bauern heraussteilen. Die Nationalisierung wäre dann
lich besteht, zeigt sich erst, als sich die liberal-gutsherrlichen nichts anderes als eine bloße Anpassung der durch großes
Reformer anschicken, die Landumteilungsgemeinde in ihrem Grundeigentum bestimmten Produktionsverhältnisse an die
Sinne zu zerstören, d. h. das bäuerliche Anteilland in Privat­ kleinbäuerliche Struktur der Produktion. Die russische Revo­
eigentum zu verwandeln oder, anders ausgedrückt, die auf der lution würde auf die französische herauskommen, die Politik
Gemeinde lastenden Schulden dem einzelnen Bauern aufzu­ des proletarischen Staates könnte eine Vendee erzeugen.
bürden. Jetzt erheben die Bauern die Forderung nach Ver­ Damit rückt ein anderer Aspekt des Nationalisierungspro­
staatlichung. blems in den Vordergrund. Nationalisierung des Grund und
Der bäuerliche Ausdruck >mir< bezeichnet im Russischen Bodens ist einerseits Enteignung der vormaligen Grundeigen­
nicht nur die eigentliche Landumteilungsgemeinde. Das Wort tümer, ist ferner vollständige Trennung von Grundeigentum
bedeutet auch >Friede< und >Welt< im Sinne des griechischen und Kapital, sie enthält die Möglichkeit der Abschaffung der
>kosmos<. Im bäuerlichen >mir< sind im Unterschied zum fran­ absoluten Rente. All das würde in Rußland sehr leicht durch­
zösischen Parzellensystem nicht die hartnäckigen >Eigentums- zuführen sein. Nationalisierung bedeutet aber auch: Zahlung
illusionen< aufgekommen, dort hat sich vielmehr die Idee der Rente an den Staat.
einer Beziehung der Bauernschaft als ganze auf den gesamten Die Eroberung der politischen Macht, das zeichnet sich jetzt
Grund und Boden lebendig erhalten. Darin steckt in mythi­ ab, würde für die russische Arbeiterpartei im Bündnis mit
scher Form die alte Rechtsauffassung des Bauern, wonach der einer solchen Bauernschaft sehr leicht sein. Diese Seite des
Boden Gottes Werk ist und daher keines Menschen Eigentum Bündnisproblems, an dem sich die Arbeiterbewegung defs
sein kann. Aber die Vorstellung, daß der Boden niemandem, Westens festgefahren hatte, würde in Rußland keine Schwie­
Gott, dem Zaren (gosudar) oder dem Staat (gosudarstvo) rigkeiten machen. Das Bauernproblem würde sich in Rußland
gehört, bedeutete für den russischen Bauern schon immer, daß eigentlich erst nach der Machteroberung stellen. Dann erst
er ihm gehört. An diese Vorstellung klammert er sich in dem würde sich zeigen, ob die Bauern ihre Forderung nach
Moment, wo das schuldenüberhäufte Anteilland ihm als Pri­ ^ erstaathchung ernst meinten, oder ob die >schwarze Umtei-
vateigentum überschrieben werden soll. Obwohl sie von der -ung< doch die Form der Parzellierung annehmen würde. Die
Organisation der Produktion her ein Dorf von Parzellenbau­ Antwort auf diese Frage ist daran zu erkennen, ob die Bauern
ern ist, hat die russische Umteilungsgemeinde — und darin Hrhheßhch auch bereit sind, die Rente an den Staat zu zahlen.
liegt ihr revolutionäres Potential - nicht nur die Eigentumsil- Lnd das würde entscheidend davon abhängen, als was der
lusion nicht aufkommen lassen, sondern zugleich den Mythos Staat den Bauern gegenübertritt.
der >schwarzen Umteilung<, der Verteilung des gesamten Lan­ Hat sich die Furcht der russischen Revolutionäre vor ihrer
des unter die gesamte Bauernschaft lebendig erhalten. Letzte­ eigenen Revolution als berechtigt erwiesen? Hat sich im

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Kampf des proletarischen Staates mit der bäuerlichen Vendee Hans-Dieter Bahr
wieder der Leviathan erhoben? Von der Beantwortung dieser
noch immer offenen Frage hängt entscheidend ab, was >Mar- »Theorie und Empirie< oder
xismus-Leninismus< heute konkret bedeutet. Auf jeden Fall Die Vorboten der verödeten Dialektik
kann man nicht Marxist sein und sich zugleich um Lenin und
die russische Revolution herumdrücken.
I.

''Ehe Grundtäuschung im wissenschaftlichen


Empirismus ist immer diese, daß er die meta­
Anmerkungen physischen Kategorien von Materie, Kraft,
ohnehin von Einem, Vielem, Allgemeinheit,
1 Marxistische Aufbauorganisation, Die Krise der kommunistischen Partei­ auch Unendlichem usf. gebraucht, ferner am
en, München und Erlangen 1972. Faden solcher Kategorien weiter fort schließt,
2 W. I. Lenin, Werke; deutsche Ausgabe nach der 4. russ. Werkausgabe, im dabei die Formen des Schließens voraussetzt
folgenden im Text zitiert als LW. Hier: LW, Bd. 13, S. 314. und anwendet und bei allem nicht weiß, daß er
3 Marx/Engels, Werke, im folgenden im Text zitiert als MEW. Hier: MEW, so selbst Metaphysik enthält und treibt und
Bd. 25, S. 820. jene Kategorien und deren Verbindungen auf
4 Marx/Engels, Kleine ökonomische Schriften, Berlin 1955, S. 319. eine völlig unkritische und bewußtlose Weise
gebraucht.«
(Hegel, Enzyklopädie der philosophischen
Wissenschaften, § 38)

Die theoretische Gegnerschaft ist nicht eindeutig. Der Gegner


beherrscht nicht einfach, als feindlicher Duellant, die eine Sei­
te, während die andere von lauteren Freunden freien Selbst­
bewußtseins gebildet wird1, vielmehr verfängt sich Kritik in
dieser Gesellschaft in innerer Knechtschaft, weil sie sich zur
Herrschaft der einen Vernunft über die andere, falsche auf­
wirft. Wahrheit wird hier einzig die Begegnung von Falsch­
heiten, zumal seit dem Ende der Neuen Linken, als in Bewe­
gung geratenes Moment der bürgerlichen Gesellschaft, und
seit ihrer cartesianischen2 Erstarrung in einander äußerlich
teindliche Sekten: klare Linie als >Einheit< der Organisation
und eindeutige Unterschiedenbeit als angebliche Zweiheit
von Klassenkampf-Fronten.
In ihrer kritischen Geschichtlichkeit muß Dialektik theoreti­
sches Partisanentum werden; aber sie wird sich als solches
Keineswegs nur einer Übermacht von organisierten Feinden
zu stellen haben: als in sich selber feindliche ist Dialektik ihr
-igener Trieb zur widerspruchsfreien Aussage und Unterwer­
fung unter eigene Herrschaft. Insofern bezieht die überlegene
Gesellschaftsform ihre rabiate Legitimierung aus ihr, in wel-
eher sie freilich auch zur Auflösung neigt, weil sie ohne Dialektik ins bloß säuberlich Auseinandergehaltene zeigen zu
weiterhinkendes Denken nicht sein kann. Als begreifendes können.
Denken steht die Dialektik keineswegs der Gesellschaft, als Im Unterschied zum Empirismus, in welchem meist nur die
angeblich pure Gegenständlichkeit und Praxis, gegenüber, da äußere Sinneswahrnehmung zum Kriterium wahrer Erkennt­
kein gesellschaftlicher Vorgang ohne gesellschaftliches nis erklärt wird, und im Unterschied zum Rationalismus, in
Durchdachtsein fungiert. Theoretisches Denken wird dem welchem unabhängig von der Wahrnehmung Form und Inhalt
eigenen Dabeisein und sinnlichen Prüfenkönnen der Dinge des Wissens aus obersten Grundsätzen für deduzierbar erklärt
und Geschehnisse, wovon der Empirismus seinen Ausgang werden, versteht sich der Kritizismus als eine wissenschaftli­
nimmt, als >Übersinnliches< entgegengesetzt, und diese Struk­ che Methode, die von sich fordert, vor der Ausarbeitung eines
tur geht ins Innere aller Kritik der Politischen Ökonomie. Es Systems die Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis über­
ging Marx gerade darum, dies >Ubersinnliche< als dominantes haupt zu erkunden. Er steht damit im Gegensatz zum Dogma­
Moment der bürgerlichen Gesellschaft selbst zu begreifen, tismus, in welchem wesentliche Grundsätze und Vorausset­
nicht darum, es im Namen von >Empirie< als bloße Spekula­ zungen der Erkenntnis ohne solche beurteilende Überprüfung
tion zurückzuweisen. In solchen Vorwürfen wird die Flachheit hingenommen werden. Aber aus diesem Gegensatz gegen den
des gedankenlosen Denkens weniger >Kategonen<, die allen­ Dogmatismus setzt er sich zugleich dem spekulativen Denken
falls zu einer dürftigen mathematischen Kombinatorik führte, selbst entgegen.3 Das wichtige Moment des Kritizismus hegt
im Namen einer angeblich konkret-sinnlich erfaßbaren Stof - darin, daß er nicht, wie die Einzelwissenschaften, bloß auf die
lichkeit als bloß »abstrakte Theorie» verurteilt. Wirkliche »Em­ gegenständlichen Inhalte des Bewußtseins, sondern ebenso
pirie» zielt dagegen nicht auf angeblich Unmittelbares und aut auf das bestimmende und bestimmte Tätigsein der Denkfor­
Evidenzen, sondern sie zielt gegen undifferenziertes Denkern men selbst gerichtet ist. Es ist dies das Moment, das in einem
So begriffen, stimmt weder die Polarität von »Theorie und marxistischen Kritizismus aufgehoben sein muß, sofern er als
Praxis» noch jene von »Theorie und Empirie». Dennoch existie­ Methode begriffen ist, in welcher die Bedingungen der Mög­
ren diese Polaritäten als Formen bürgerlichen Bewußtseins lichkeit gegenständlicher Erkenntnis, die, nach Kant, ihren
selbst dort, wo sie im Namen von Dialektik aufgelöst werden Grund nur im spontanen Selbsttätigsein des reinen Ich haben
soll, selbst noch als gegenständliche, gesellschaftliche Tätig­
Es hat im folgenden auch einen politischen und historischen keit begriffen sind. Hegels Dialektik hat dies gleichsam in
Sinn, daß aus der bürgerlichen, nicht aus einer nur entgegen­ einem abschließenden Sinn geleistet, marxistische Dialektik
gesetzt »revolutionären» Kritik des Gegners die sich selbst aul­ in einem aufschließenden Sinn.
lösenden Bestimmungen des bloßen Unterschieds von »Theo­ Zwar ist in Marxens Schriften eine Reihe verstreuter Bemer­
rie und Empirie» aufgezeigt werden sollen. Das Prologische kungen über die >eigene< Methode zu finden, und diese
dieser Kritikart, im Unterschied zur Darstellung des Problems werden viel herzitiert: solche, die sich überwiegend empiri-
als Kritik der Politischen Ökonomie, ist ein Mangel, weil hier stisch, selbst positivistisch deuten lassen (die geistigen Vorstel­
vorab Begriffsbestimmungen über »Empirie und Theorie» ver­ lungen entsprängen den wirklichen Lebensverhältnissen
sucht werden. Aber es ist selbst ein Phänomen des bürgerli­ usw.), auch solche, die rationalistisch scheinen (das gesell­
chen Denkens der bürgerlichen Gesellschaft, unkritisch die schaftliche Sein bestimme das Bewußtsein, wobei diese
eigene gesellschaftliche Struktur von den gemeinten Inhalten abstrakteste aller Bestimmungen, >Sein<, entweder als das
abzuhalten. Davon lebt alle »widerspruchsfreie Methodik». Vorgegebene gemeint sein kann, das dann aber als Bestim­
Das Mangelhafte der prologischen Thematisierung ist inso­ mungsgrund der Kategorialität nur ein >oberster Grundsatz<
fern das »Wahre» des blind dialektischen Denkens selbst, aut wäre, oder aber als eine dem Bewußtsein inkorporierte, selbst
das ich mich immanent einlassen will, um den Einbruch von unbewußt bleibende Denkbestimmung begriffen ist. Bewußt­

U3
sein wäre dann als bestimmtes Sein im Unterschied zum anders als >rein kategoriah, d. h. im polemisch bewußtlosen
unmittelbaren, unbestimmten Sein verstanden. Das ist in der Sprachgebrauch: >rein spekulativ<, durchs Denken zur Gestalt
ganzen Dürre solcher Bemerkungen überhaupt nicht auszu­ kommen können, wie rote Farbe nur durchs Auge. Dieses
machen). Weiter gibt es bei Marx methodologische Bemer­ Denken mag sich dann >kritisch< einbilden, die begriffenen
kungen, die eine enge Anlehnung an Hegels Wesenslogik Formen der kapitalistischen Gesellschaft seien >nur< vom Den­
(Wesen—Erscheinung—Oberfläche usf.) belegen. Wären dies ken erzeugt worden. Dennoch ist daran richtig, daß in
aber tatsächlich bei Marx nur >Umkehrungen< der Hegelschen solchem Denken längst vergangenes und zeichenhaft einge­
Dialektik, so könnte die Ansicht nicht zurückgewiesen wer­ prägtes >Denken<, objektiver Geists zur Vorstellung gelangt.
den, die Marxisten dächten mit den Füßen. Die Frage an die Marxsche Methode wäre demnach, ob die
Letztlich sind nicht diese kargen methodologischen Bemer­ frühere Erkenntnis Marxens, >Ideen< seien gesellschaftliche
kungen Marxens interessant, wie eine Reihe von Theoretikern Verhältnisse, in seinem Kritizismus realisiert worden ist. Kei­
längst begriffen hat, sondern die tatsächliche Darstellung des neswegs kann das bedeuten, das >Apriorische< nun als >histo-
Gegenstandes der Kritik der politischen Ökonomie. Es ist ja risch-empirische< Erscheinung zu deuten; man fiele damit hin­
wohl die Frage, die u. a. Althusser stellte, ob eine geschichtlich ter Kants Hume-Kritik zurück.
neu auftretende Methode überhaupt sich selbst äußerlich wer­ Daß im Grunde genommen noch vor diese Fragen zurück­
den kann, da sie sich stets nur in einer Richtung (in diesem gegangen werden muß, um den Begriffen von >Theorie< und
Falle der Hegels, Feuerbachs, Ricardos) vergleichend orien­ >Empirie< wenigstens ihre bürgerliche Bestimmtheit zurückzu­
tieren kann. Die Frage ist, ob es Marx gelang, die bedingte geben, von der aus sie sich in die marxistische Methode auflö-
und bedingende Möglichkeit seiner Methodik des Erkennens sen, zeigt die Begriffsverwirrung in F. Eberles und E. Hennigs
und Darstellens der vorherrschenden Strukturen der bürgerli­ Anmerkungen zum Verhältnis von Theorie und Empirie4 als
chen Gesellschaft selbst aus dem Gegenstand dieser Methodik, notwendig. Ich möchte dies an den beliebig wechselnden
der bürgerlichen Gesellschaft, zu begreifen und den Gegen­ Assoziationen dieses Begriffspaars auf den ersten Seiten des
stand dieses kritischen Denkens so darzustellen, daß das kriti­ Aufsatzes kurz belegen. Die grundsätzliche These lautet, »daß
sche Denken als eine gegenständliche Tätigkeit der bürgerli­ die Marxsche Theorie nur [Hrvh. H.-D. B.] vor dem Hinter­
chen Gesellschaft selbst begreifbar wird. In dieser Frage wäre grund der Kontroverse um das Verhältnis von Theorie und
die Hegelsche Bestimmung, das Denken denke sich selbst, da Empirie verständlich werde« (S. 7). Es wird von »Spannung
es das Andere seiner selbst denke (im Gegensatz zu allen zwischen Theorie und Empirie« gesprochen, vom »Dilemma«
Dualismen von Denken und Sein), es schließe sich im Anderen desselben, dessen Auflösung man sich verspreche, die aber bis­
mit sich selbst zusammen, wesentlich erweitert worden, indem her nicht gelungen sei. (S. 44 f.) »Das Problem der Vermittlung'
sie begrenzt wurde: das Andere, die bürgerliche Gesellschaft von abstrakter Theorie und theorieloser Empirie5 gelangte
als Besonderung eines Allgemeinen, stellte sich formal und nur als programmatischer Anspruch zur Geltung; materiell
inhaltlich als dasjenige dar, wodurch das kritische Denken wurde er [von den Postricardianern, H.-D. B.] nicht einge­
durch sich, als besondere Gesellschaftlichkeit, mit sich als löst« (S. 41). Die Vermittlung von Theorie und Empirie könne
Denken zusammengeht. Daß das Denken der bürgerlichen nur als Kritik durchgeführt werden (S. 44). Es besteht hier
Gesellschaft durch deren eigene >Normalität< hindurch muß, nicht einmal mehr das theoretische schlechte Gewissem,
macht den pathologischen Zug allen kritischen Denkens aus, derart einen formellen Ist- und Sollzustand zu setzen, daß das
zeigt die Momente des Wahnhaften in aller verändernden >Sein< als Widersprüchliches zum Vorwurf kommt, dessen
Erkenntnis. Dialektik im Sollen zur Auflösung kommen soll. Wie alle
Gegen jeden versuchten Empirismus ist hervorzuheben, daß bürgerlichen Theoreme leidet solche Programmatik an einer
Momente rein kategorialer Formen der Gesellschaft gar nicht Dialektik, in die sie sich desto blinder verstrickt, je mehr sie

U4
sich ihr gewaltsam zu entwinden sucht. zerfällt bereits durch das Denken einer der beiden Seiten; die
Die weiteren Bestimmungen erfolgen kaleidoskopartig: andere spricht dagegen nur eine Tautologie aus (>allgemeine
bezüglich der Analytischen Philosophie tritt das Begriffspaar Theorie<).
auf im Gewand von »Erklärungsmodell« und »Gegenstands­ Daß man >von der Empirie< auszugehen habe, weil sie die
bereich« (S. 8). Theorie soll erklären; daß Erklärungen Stofflichkeit als sinnliche Daten gebe, um eine »Theorie zu
Modellcharakter haben, ist eine Assoziation, die nicht dem konstruieren«, also die Daten der Empfindung und Wahrneh­
Gegensatzpaar >Theorie-Empirie< entstammt, sondern jenem mung als intellektuelle Bausteine verwende: dies ist ein abge­
von >Theorie—Praxis<. In letzterem ist Theorie zunächst nutztes Bild, das durchschimmert in Begriffen der »theoreti­
Erkenntnis und systematisches Wissen ohne Rücksicht auf schen Durchdringung und empirischen Orientierung« (S. 29).
Anwendung oder Nutzbarmachung; insofern scheint sie der Es gelingt hier nicht einmal, sprachlich auseinanderzuhalten,
>Praxis< entgegengesetzt; gleichzeitig aber soll sie noch deren was einer begrifflichen Unterscheidung dienen soll. >Durch-
exakt wiedergegebene Struktur vorstellen. Als ein solches dringung< läßt dschungelhafte Mannigfaltigkeit der sinnlichen
typisiertes Abbild von Wirklichkeit ist sie >Modell<. In diesem Wahrnehmungswelt assoziieren, die einerseits das völlig
Zusammenhang ist >Empirie< nur der Erkenntnisraum, der die ungegliederte Konkrete (statt, wie in Wirklichkeit, das ganz
Gegenstände sinnlich vorstellt oder >gibt<. Es wird also nur Abstrakte) vorstelle, andrerseits so weit >Ding-an-sich-Struk-
eine naive Metaphysik an solchen Begriffspaaren zum Vor­ tur< haben muß, daß in ihr >Orientierung< nötig ist. Die
schein kommen, sobald versucht wird, sie zu denken, anstatt Bestimmungen des >aktiven< und >passiven< Verhaltens, bisher
sie zu verwenden. auf die Seiten >Theorie< und >Empirie< verteilt, wechseln plötz­
An anderer Stelle erscheint das Begriffspaar in der Bestim­ lich ihre Stellung, um die Wichtigkeit empirischer Arbeit
mung allgemeine Theorie—Einzelereignis< (S. 12). Es schwebt unterstreichen zu können. Zugleich fallen die Bestimmungen
wohl der Unterschied von Denken und Wahrnehmen vor, in die alte rationalistische fWm zurück, wenn von »empiri­
insofern Denken stets die Dinge und Vorgänge allgemein schen Illustrationen« und »konstruierten Relationen« (S. 34)
faßt, während die Wahrnehmung nur eine unmittelbare die Rede ist. Dann wird wieder »Empirie« mit »Realität«
Erfassung »einheitsloser Mannigfaltigkeit« (Hegel) sei. »Er­ assoziiert (S. 34), so als sei das Eigentliche eben doch außer­
eignis« ist allerdings kein Begriff der äußeren, sondern der halb des Denkens überhaupt. Gewollt oder ungewollt schlägt
inneren Wahrnehmung, da zum Begriff des Ereignisses nicht die Gleichsetzung von »Empirie« und »sozialer, historischer
notwendig dessen körperlich-räumliche Ausgedehntheit zu Realität« (S. 36, S. 39) in eine theoriefeindliche Richtung, als
denken ist. Nur das Denken kann »Ereignisse«, die nicht sei nichtempirische Theorie entweder nur leer und abstrakt
empirisch-stofflich wahrnehmbar sind, als wirklich empirische oder gar historisch irrelevant. So auch wenn Theorie in den
Vorgänge außerhalb seiner selbst bestimmen. Da der Begriff Gegensatz zu den »Tatsachen« oder, was ungleich reaktionä­
>Geschichte< vor allem auch die Geschehnisse als stofflich rer ist, zum Begriff der »Erfahrung« überhaupt gebracht wird
bestimmte vorstellt, kann die Bestimmung eines Ereignisses (S. 37). Theorie wird, ohne Empirie, überhaupt nur noch
als >historisch-empirisch< ohne diesen inneren Widerspruch deutbar als Weise der »Systematik« (S. 45) oder als Hilfs­
gar nicht gedacht werden. Ebensowenig ist das Begriffsmo­ mittel zur Verallgemeinerung einzelner Wahrnehmungen,
ment >einzeln< überhaupt eine mögliche empirische Bestim­ wie im Begriff der »Generalisierung« (S. 45, S. 46), wogegen
mung, weil es kategorial das von den >Vielen< ausgeschlossene »Empirie« das »raum-zeitlich Spezifizierte« (also nur äußere
Eine meint. Es gibt kein einziges Moment im Begriff >Einzel- Wahrnehmung) und folglich die Konkretion für sich habe (S.
ereignis<, das unmittelbar empirisch Wahrnehmbares meinen 46). Auf ihr als »induktiver Vorgehensweise« (S. 39) liege das
könnte. Es ist ein rein theoretischer Begriff, dessen Inhalt das Gewicht aller Überprüfung (S. 40) von Wahrheitsansprüchen,
abstrakte Gegenteil seiner Form entspricht. Das Begriffspaar während Theorie, die ja gerade, im Unterschied zur Hypothe­
156 i )7
senbildung, zusammenfassender Charakter auszeichnet, völ- cmes Dings oder Vorgangs), so ist damit immer schon mehr
lig unsinnig zu einem von »Hypothesen ausgehenden apriori­ gesagt als mit dem Satz, Gegenstände seien vermittels der
schen Verfahren« wird (S. 40). Solches Gerede kann m. E. sinnlichen Organe gegeben. Meint man zunächst nur dies
nicht einmal kritisch gegen Mill vorgebracht werden, weil es letztere, dann entsteht sofort folgende Schwierigkeit: Sind
nur noch die verkommenste Form des Neukantianismus aus­ Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten, Temperatur- und
drückt, der sich wesentlich hinter dem ganzen »Spannungs­ Druckrezeptivitäten Fähigkeiten, durch bestimmte Organe
verhältnis von Theorie und Empirie« verbirgt. Reize zu empfangen, die die Empfindungen auslösen, so gilt
Wird >Theorie< überhaupt der >Empirie< gegenübergesetzt das bereits für den Gleichgewichts- oder Orientierungssinn
und wird ihr eine eigene Erkenntnisfähigkeit zuerkannt, so ist nur noch beschränkt, nicht mehr für den Raum- und Zeitsinn
>Theorie<, im bürgerlichen Verstände, eine gliedernde Zusam­ selbst, da Raum und Zeit keine bloß zu empfangenden >Reize
menfassung einzelner Erkenntnisse, wobei es zunächst ganz der Außenwelt sein können. Das inhaltliche Problem der
gleichgültig ist, ob diese durch sinnlich-äußere oder innere Sinnlichkeit ist zugleich ein Formproblem, d. h. es wird ver­
Wahrnehmung oder durch den gesellschaftlichen Akt des Ver­ mittels der Sinnlichkeit allein überhaupt kein Gegenstand
stehens gewonnen wurden. Solche Zusammenfassung ge­ gegeben. Man meint wohl, weil die Wahrnehmung nicht vom
schieht nach allgemeinen Gesetzen und nach einer prinzi­ Denken im euphorischen oder reflexiven Sinne >begleitet< sein
piellen Ausrichtung, was darin selbst erkannt werden muß. muß, die Form der Sinnlichkeit als etwas dem Denken Jensei­
Das ist eine Bewegung von Form und Inhalt des Denkens, tiges auffassen zu müssen. Es ist dann freilich meist im Begriff
nicht eine Beziehung von Denken und Nichtdenken. Noch des Empirischen schon nicht mehr klar, ob Körperempfindun­
unsinniger wird es, wenn ein Begriff der Empirie gewonnen gen, die selbst keine stofflich-räumliche Ausgedehntheit
werden soll im Unterschied zur Theorie: es soll darin dann haben, nämlich Hunger, Durst, Gefühle, Begierden, Neigun­
begriffen werden, daß empirisch nichts begriffen werden gen, Leidenschaften, psychische Erlebnisse überhaupt, als >Er-
kann. kenntnismedien< innerer Wahrnehmung noch zugelassen sind.
Es zeigt sich hier, daß das in der Wissenschaft hausende Sollten aber die psychischen Strukturen de,r bürgerlichen
bürgerliche Alltagsbewußtsein selbst alles andere als >vorwis- Werterfahrungen, z. B. die >Gerechtigkeit< im Austausch von
senschaftlich< ist: es ist voll jener Rudimente eines vulgarisier­ Arbeit und Kapital, oder sollte das reine gesellschaftliche Ver­
ten kantianischen Denkens in den bürgerlichen Naturwissen­ stehen, wie es in der Preisform als >ideeller< Form des Wertes
schaften, welches das derzeit vorherrschende bürgerliche existiert, kein >empirisches<'Erkenntnismoment sein, weil man
Klassenbewußtsein in das Verhältnis von »Stofflichkeit« und es weder riechen kann, noch es durch psychisches Erleben
»Denken« projiziert. Oder es wird, vorkritisch selbst, auf umprägen oder freiweg gestalten kann? Soll indes der Begriff
Strukturen der aristotelischen Erkenntnistheorie zurückge­ des Empirischen überhaupt noch etwas Besonderes ausdrük-
griffen, um theoretisch >vor aller Theorie< zur sinnlich erfahr­ ken, so muß er die Beziehung zur inneren oder äußeren
baren, gegenständlichen Außenwelt zu gelangen. Ich möchte Wahrnehmung enthalten. Gerade aber die Kritik der Waren­
einige dieser Gestalten eines rudimentär wissenschaftlichen gesellschaft zeigt, daß die elementare vorherrschende gesell­
Alltagsbewußtseins und ihre jeweilige Auflösung kurz darstel­ schaftliche Erfahrung nicht ihren Ausgang von der sinnlichen
len, um die Voraussetzungen der Marxschen Dialektik wieder Wahrnehmung nimmt, sondern von Abstraktionen, die müh­
freizulegen. sam den Kindern in den ersten Jahren als Grammatik und
mathematische Logik eingebleut werden müssen. Keine ein­
Faßt man das >empirisch Gegebene< in der traditionellen zige der Ware-Geld-Kapital-Metamorphosen könnte sich
Weise als Prozeß der Individuation (jeweilige spezifische Ver­ ohne diesen abstrakten bürgerlichen Verstand vollziehen, der
mittlung von räumlicher, zeitlicher und stofflicher Struktur zum Funktionsmoment des Kapitals selbst wird.
158 159
Im bürgerlichen Bewußtsein dreht es sich jedoch kaum um res, sondern als Form der Sinnlichkeit (Raum und Zeit) gelten
das Problem der gesellschaftlichen Relevanz des Empirischen, läßt. Vermittels der durch die Gegenstandswelt überhaupt
sondern vielmehr um den Versuch, Denken durch Nichtden­ affizierten Sinnlichkeit werden uns Erscheinungen stets schon
ken zu begründen, oder um das Problem der inhaltlich als Form gegeben. So erst wird Anschauung, die nach Kant
bestimmten Wahrheit vor aller Bestimmung durch das Den­ stets sinnlich sein muß; eine >intellektuelle< Anschauung
ken: es ist das Problem der Unmittelbarkeit oder der Evidenz. könne allenfalls Gott zukommen, wovon wir nichts wissen
Es wurde schon früh bemerkt, daß, wenn uns die Gegenstände können. Eine die sinnlichen Bedingungen von Erkenntnis
vermittels der Sinnlichkeit gegeben sein sollen, die Anschau­ überschreitende Methode führte notwendigerweise zur dia­
ung stets schon vermittelt ist oder die Gegenstände als lektischen Vernunft. Erkenntnis und Erfahrung sind aber nach
Erscheinungen vorgestellt werden. Wahrheit ist dann immer Kant nur möglich, wenn beide Bestimmungen, Anschauung
schon vermittelte, als Adaequatio rei ad intellectus, Überein­ und Kategorie, sich vermitteln. Zur Erkenntnis reiche, anders
stimmung von Gegenstand und Vorstellung. Deutet man diese als der naive Empirismus meint, keine Anschauung hin, eben­
Vermittlung als Abhängigkeit des erkannten Gegenstandes sowenig wie ohne Kategorien ein durch Anschauung gegebe­
von den erkennenden Formen des Subjekts, so beginnt man ner Gegenstand begriffen werden könne. »Gedanken ohne
nach einem Unbedingten zu suchen, das in der sinnlichen Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.«
Wahrnehmung unmittelbar gegeben sein soll, also vor aller Das wissenschaftliche Alltagsbewußtsein in dem Begriffs­
Beziehung von Subjekt und Objekt in der reinen Anschauung paar >Theorie—Empirie< vulgarisiert nun diese Bestimmungen
existiere. In der Anschauung soll das Gegenständliche, wie es vor allem dadurch, daß das >Empirische< gerade das Unge-
an sich selber ist, unmittelbar gegenwärtig sein, gegeben durch formte, Stoffliche sein soll. Die durch das Denken gewonne­
sich selbst in diesem Zustand. Die >empirische< als sinnliche nen Erkenntnisse, z. B. mathematische oder logische Gesetz­
Anschauung ist dann stets schon gebrochen, sie ist Wahrneh­ mäßigkeiten, werden nicht im Sinne gegenständlichen Erken-
mung eines Objekts durch ein Subjekt; ihr soll jedoch die nens gefaßt, weil diese Gegenständlichkeit nicht sinnlich
unmittelbare Anschauung als Moment ihrer Einsicht erfahrbar ist. Transzendentale, d. h. gegenständliche Logik
zugrunde liegen. Das anschauende Bewußtsein ist überzeugt, rückt damit in die Nähe von Funktionen bloßer Einbildung.
daß es als >Gegenstand< ein Moment des mannigfaltigen Sei­ Das Richtige, das darin gespürt wird, ist allerdings, daß die
enden unmittelbar erfaßt, wie es ist. Die Gegenständlichkeit bürgerliche Kategorialität wirklich eine Affinität zum Wahn­
gibt sich selbst, oder wie Werner Flach kritisch anmerkt: »Das sinn hat, dessen Drohung sie abgerungen ist und die ihr
Geben des Gegenstandes ist Vorstellung des Seienden in sei­ negativ als >Wahnsinn< der Normalität anhaftet.7 Es liegt dar­
ner Singularität, in seiner vollen Konkretheit und insofern in in, was Marx in der abstrakten Wertbestimmtheit des Kapita­
seinem Sein.«6 Wogegen das Formale und Allgemeine, weil es lismus aufdeckte: daß das Wesen der bürgerlichen Gesell­
stets schon Beziehung und Vermittlung ausdrücke, sich nicht schaft zugleich ihre innere Wesenslosigkeit ausdrückt.
>geben<, sondern nur begreifen lasse. Der naive Empirismus Mit der Kritik des Denkens als einer Tätigkeit, die den inten­
unterliegt der blinden Dialektik, daß einerseits das unmittel­ dierten Gegenstand verfehlen kann, soll die Dialektik, d. h.
bar Gegebene als Moment der Erkenntnis nur unmittelbar die notwendige Unangemessenheit von Ding und Begriff, ver­
geschaut wird, also gar nicht als Kriterium von >wahr-falsch< trieben werden. Eine rein affirmative Sehnsucht, die Wider­
existiert, andererseits aber als Angeschautes sich in etwas spruchsfreiheit, wird als Zustand des Seienden überhaupt
Anderem, als es selbst ist, vermitteln soll, wenn es das gemeint. Es ist dies, wie Hegel meint, ein Gesichtspunkt, »der
Einsichtsmoment in der Wahrnehmung sein soll. nur in einer Zärtlichkeit für die weltlichen Dinge bestehe«:
Der Kantische Kritizismus ist darin wesentlich konsequen­ »Das weltliche Wesen soll es nicht sein, welches den Makel des
ter, da er gerade die reine Anschauung nicht als Unmittelba­ Widerspruchs an ihm habe, sondern derselbe nur der denken­
160
den Vernunft, dem Wesen des Geistes zu kommen.«8 sen und Vorgängen unter technisch hergestellten und syste­
Logisch gesehen ist jede Urteilsbildung, erst recht das Schlie­ matisch variablen Bedingungen ist. Es ist aber längst >notwen-
ßen, ein denkendes Transzendieren bloß >gegebener< Inhalte. dig< geworden, die Strenge des klassischen Wahrheitsbegriffs,
Der naive Empirismus aber scheut diese Erkenntnis, da er hier wahr sei nur, dessen Gegenteil unmöglich, was demnach not­
plötzlich mit seiner eigenen abstrakten Metaphysik konfron­ wendig sei, aufzugeben. Der Empirismus gelangt zu dem
tiert wird: er hält das transzendierende Denken für puren gegenwärtig vorherrschenden Schlüsselbegriff der Wahr­
spekulativen Idealismus, weil er diesen im eigenen Begriff scheinlichkeit. Das >Wahrscheinliche< ist gleichsam eine Kon­
selbst darstellt. zession der unberechenbaren Zufälligkeit des sinnlich oder
Es wird also >Empirie< gefordert, um das Denken auf eine experimentell-konstruktiv Gegebenen an das Gewißheit wol­
Selbstgegenwärtigkeit zu beschränken, die gerade weder für lende Denken.
die natürliche noch die geschichtliche Welt charakterisierend Am Begriff des Empirischen in den gegenwärtigen Natur­
ist. Der Empirismus führt insofern notwendig zu einem extre­ wissenschaften wird ein Grundmoment bürgerlicher Metho­
men Subjektivismus: im unmittelbarsten Sinne soll man selbst dik deutlich: Methode ist keineswegs das Denken von Inhal­
sehen, selbst am eigenen Leibe erfahren, >was los ist<. Wird das ten, sondern es ist vor allem Regel des Denkens, Herrschaft
zum Kriterium gemacht, so gerät jede geschichtliche Erfah­ einer Kette toter Gedanken über die Tätigkeit des Denkens
rung zu einem Akt bloß spekulativer Vermutung, weil man selbst. Die >Wiederholung< einer systematischen Struktur von
nicht sebst dabeigewesen ist. Mit historischem Materialismus Kategorien präformiert nicht nur a priori das zu Erfahrene,
hat das alles nichts zu tun. sondern das Denken selbst. Diese Struktur des toten Gedan­
Doch das Begriffspaar >Theorie—Empirie< unterschlägt noch kens, der im Denken nicht wiedererkannt, sondern nur >ver-
andere Inhalte: in seiner Wendung gegen das »bloß Gedach­ wendet< wird, weist auf die immanente Gesellschaftlichkeit
te«, als ob Denken so wenig sei, wie es in der bürgerlichen der Formen des Denkens am offensichtlichsten. Regelhaftig-
Herrschaft gilt, meint die empiristische Aufforderung keines­ keit, die keineswegs mit der Logik oder den linguistischen
wegs nur das logische oder spekulative Denken allein, son­ Formen allein erfüllt ist, sondern mit jedweder Struktur von
dern vielmehr das Denken überhaupt im Unterschied zum Gedankeninhalten, ist eine ganz bewußtlose Struktur des
sinnlichen Empfinden, somit alles Vorstellen, Vermuten, Erin­ Bewußtseins selbst. Ihr Vergessen ist geradezu Voraussetzung
nern, Glauben, Hoffen, willentliches Aufmerksamsein, Beab­ aller begrenzten widerspruchsfreien Systeme, durch welche
sichtigen usf. Diese Kritik als Ideologie fordert auf, nicht viel bürgerliche Wissenschaft sich als positive, »undialektische«
mehr als ein funktionierender Bestandteil der bürgerlichen ausweisen kann.
Gesellschaft zu sein, nur >brauchbares< und verwendbares Die Regelhaftigkeit bürgerlichen Denkens erzeugt allererst
Denken zu denken, nicht wirklich den Begriff als Eingriff in die Situation des bürgerlich-kritischen Denkens: in der Beru­
die Gesellschaft zu gebrauchen. fung auf sinnlich Erfahrbares soll sie durchbrochen werden
Diese technisch-ideologische Seite des Empirismus begrün­ können. Diese Wendung zum Selbst des Erfahrens wird ver­
det ein weiteres Moment durch die Begriffe der Erfahrung im standen als Kritik alles nur autoritativ Angenommenen, als Kri­
Sinne des Beobachtern und Experimentierens. Immerhin ist tik an Dogmen und Traditionen. Aber die unmittelbare
man sich hier im klaren, daß >sinnlich Gegebenes< nicht unab­ Anschauung gibt das Angeschaute gerade jenseits des Kriti­
hängig von der kategorialen Form auftreten kann. Denn sierten; es ist ebenso bloß positiv gegeben wie die Dogmen.
Beobachten ist mehr als Betrachten, es ist systematisches, Bürgerliche Kritik kommt daher aus der schlechten Unend­
planmäßiges Betrachten von Dingen und Vorgängen. Ein lichkeit nicht hinaus.
Experiment gilt überhaupt nur als Erfahrungsbeweis, wenn es Kant hatte das klar gesehen, doch seine Kritik verflüchtigt
>grundsätzlich< wiederholbare Beobachtung von Geschehnis­ gerade die Gewißheit des sinnlich Erfahrbaren. Das »Unge­
wisseste«, das Ding an sich, wird Kern aller Realität, die der Erkenntnis deckten die >Dezentrierung< inmitten des Bewußt­
Erscheinung zugrunde liegt. Die Empfindung ist bereits die seins selbst auf. Neben der Logik wurde1 das Uberich-Es-Ver-
Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, hältnis als Instanz der blinden Regelhaftigkeit des Denkens,
sofern wir von demselben affiziert werden, ist also nichts Vorstellens und Wahrnehmens erkannt. Die Kritik der Bedin­
unmittelbar Gewisses oder Evidentes. Die Suche nach einer gungen aller Möglichkeit von Erkenntnis, die sich in der
ursprünglichen Gewißheit in der sinnlichen Erfahrung gerät bloßen Entgegensetzung gegen die immanente Gesellschaft­
auf die letztlich unergründbare Struktur der spontanen Syn­ lichkeit der Bedingungen von Erfahrung zum >Selbst< durch­
thesis des Selbstbewußtseins. Das Ich wird die Autorität der geschlagen hatte, verliert in der Freudschen Kritik dieses
bürgerlichen Aufklärung, die eine weit größere Vernichtungs­ Selbst, das letzte Residuum von unbegründetem Vertrauen.
kraft an den Tag legte als viele Autoritäten vorbürgerlichen Der bürgerliche Theoretiker spürt nun, daß eine marxisti­
Denkens. sche Kritik der Erkenntnis sich nicht einläßt auf die Polarität
Die Kritik der Erfahrung weist theoretische Ermächtigungen von >Rationalismus—Empirismus<, um nämlich zu einer Ebene
und Geltungen, die sich im Hinweis auf Autoritäten aller vorstoßen zu können, die gerade im Namen der Vernunft und
Begründung entziehen, ebenso zurück wie die Berufung auf im Namen der sinnlichen Gewißheit weitgehend verdeckt
ungeprüft hingenommene, etwa nur geoffenbarte oder ver­ worden ist: die scholastische Erfahrung der Funktionen alles
öffentlichte Lehren, die zur vorbehaltlosen Annahme ver­ >bloß Gedachtem, autoritativ statt überprüft Angenommenen,
pflichten, oder die verschiedenen Weisen gleichsam instinkt­ des traditionellerweise statt selbstbegründend Übernomme­
haften Vertrauens in überlieferte Einrichtungen. Sie führt nen. Gerade die Scholastik hatte eine Darstellung, aber auch
allerdings zunächst nicht, wie es dann die Phänomenologen eine Kritik der präformierten Gesellschaftlichkeit alles Denk-,
fordern9, »zu den Sachen selbst«, sondern zur spontanen Erfahr- und Erkennbaren, dessen Erinnerung im bürgerli­
Synthesis des Selbstbewußtseins. Insofern wies Kant letztlich chen Denken ausbleiben muß, wohl auch aus den Gründen,
auch nach, daß gerade die empirische Forderung an die Wahr­ die später Francis Bacon den Satz schreiben ließen: »Es gibt
heit zu jenem cartesianischen Rationalismus zurückdrängt, auch Götzenbilder infolge der gegenseitigen Berührung und
dem sie sich einmal entgegenstemmte. Gemeinschaft des menschlichen Geschlechts, welche ich wegen
Es sollte selbstverständlich sein, daß die diversen Abbild- des Verkehrs und Verbindung der Menschen die Götzenbilder
und Widerspiegelungstheorien, die sich der Kantischen Theo­ des Marktes nenne.«11 /
rie der subjektiven Erzeugung der Begriffe und Erscheinun­ Die bürgerliche Verdrängung der Scholastik selbst ist es, die
gen nur abstrakt entgegensetzen, die gesellschaftliche Vermit- den Marxismus so leicht in deren Nähe zu rücken vermag.
teltheit des Erkennens durch die Formen des einstmals Aber was für eine falsche Entgegnung einiger >Marxisten<, die
Erkannten, nun nur mehr Bekannten, entweder überhaupt sich im Namen der Empirie davon abzusetzen versuchen, wel­
leugnen müssen oder diese Erkenntnisformen vom Gegen­ che List bürgerlichen Denkens, in die Poren der Kritischen
stand selbst subtrahieren zu können glauben. Wären diese Theorie einzudringen!
Theorien nicht eine vorherrschende Struktur des Wissen­ Die gesellschaftliche Bedingtheit aller Erkenntnis, sinnlicher
schaftsbetriebes, so könnte man sie als bloß >falsch< zurückwei­ wie formaler, zu erkennen, war Marx ermöglicht durch Feuer­
sen. So aber ist ihr eigener Grund in anderen gesellschaftli­ bachs Kritik jener scholastischem Elemente religiösen
chen Formen aufzusuchen.10 Es ist die Gefahr der Verbürger­ Bewußtseins, worin zunächst die göttliche Bedingtheit aller
lichung marxistischer Theorie, die als Problem der inneren Erkenntnis, sei es auch die der gegnerischen Götter, der
Knechtschaft aller Kritik in der bürgerlichen Gesellschaft Götzen, auf ihren abstrakt-anthropologischen Kern gebracht
angedeutet worden war. war, bevor noch der Bourgeois im >Menschen< entdeckt wurde.
Die Kritiken Freuds und Lacans an jenem Zentrum aller Das bürgerliche Problem von >Theorie—Empirie< verschiebt
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sich, löst sich auf, indem das Sinnlichwerden des Kategorialen d. h. als geschichtliche Besonderung durchsetzt. >Allgemein-
als gesellschaftliche Tätigkeit und die übersinnliche gesell­ gültig< ist nicht im Sinne des Normativen zu verstehen,
schaftliche Kategorialität alles empirisch Erfaßbaren einander sondern als das Problem des Wertes in der bürgerlichen
negative Momente gesellschaftlichen Begreifens überhaupt Gesellschaft überhaupt aufzufassen, als der Ausdruck des Ver­
werden. Nichts ist bornierter als die Reduktion theoretischer schwindens gesellschaftlicher Subjektivität im Akt der Konsti­
Gewißheitskomponenten auf Empirie angesichts der Marx- tuierung von gesellschaftlichem Zusammenhang.14
schen Warenanalyse, in der bekanntlich zur »ideellen« Wert­ Als Beispiel der Analyse der sinnlichen Wahrnehmung stellt
form wird, was selbst bereits sinnlich-übersinnliches, gesell­ Scheler einen perspektivisch gesehenen Würfel vor. Er fragt,
schaftliches Verhältnis, »gespenstische Gegenständlichkeit« was denn »gegeben« sei, wenn ich einen körperlichen mate­
darstellt. Eiinter solchen Bemühungen, die alle Dialektik aus riellen Würfel wahrnehme.15 Zunächst sei er als ganzer gege­
der Kritik der Politischen Ökonomie ausschließen, die doch ben, ein ungeteiltes materielles Ding einer bestimmten räum­
gerade in dem positiven Verständnis des Bestehenden lichen Formeinheit. Scheler führt folgenden »rohen Stufen­
zugleich das Verständnis seiner Negation einschließen will12, bau« der Wahrnehmung an: Zunächst müsse ein »Akt der
steckt eine blinde Sehnsucht nach unvermittelter Unmittel­ Icherfassung« hinzutreten, im Hinblick darauf, was über­
barkeit, nach Einfachheit und ursprünglicher, anfänglicher haupt dem Ich vom Würfel gegeben sei. Durch diesen Akt ist
Evidenz, die ja gerade zur Verurteilung des Sinnlichen in der der Würfel wie zuvor gegeben, aber er ist als ganzer durch­
>kritischen< Beurteilung geführt hatte. Solche Sehnsucht ist drungen. Dann sei zu erfassen, daß der Wahrnehmungsakt
längst von der wesentlich differenzierten der Phänomenologie spezifisch durch einen Akt des Sehens, z. B. im Unterschied
eingeholt worden. zum Hören, erfolge: ich sehe keineswegs alles, was mir zuvor
>gegeben< war. Denn ich sehe nicht, daß der Würfel ein
Die Phänomenologie ist insofern weiter als jene verkrüppel­ Inneres oder eine Rückseite etc. hat. Was in solcher Begren­
ten Versuche über >Theorie-Empirie<, als sie, ihr selbst oft zung gesehen wird, ist ein »Sehding des Würfels«, wobei die
ganz unbewußt, die grundlegende Geschichtlichkeit der Sin­ Dingheit ein »Stützpunkt von Form, Farbe, Licht und Schat­
neswahrnehmung aufdeckte. Max Scheler, an dem dies kurz ten« ist16, die aber immer noch als Ganzes gegeben ist,
demonstriert werden soll, weist eine wichtige, von Kant nicht obgleich ich z. B. als Schatten nur »bestimmte Quales« von
bemerkte Differenz zwischen »Apriori« und »Form« nach, Grautönen als Eigenschaften des Sehdinges erfasse.
wenn auch mit dem Ziel, den »Gehalt einer unmittelbaren Im nächsten Schritt kann die Tatsache des »Sehens« festge­
Anschauung zur Selbstgegebenheit« zu bringen13, und zwar stellt werden: »Und sehen ist etwas ganz anderes als die bloße
im Unterschied zu aller Setzung, Beziehung, Form und folg­ Zugehörigkeit des Farbigen, z. B. zu einem wahrnehmenden
lich Vermittlung. So gelingt in der phänomenologischen Kri­ Ich; als wäre >Sehen< mit >Farbe haben<, >Hören< mit >Töne
tik der durchgängige Nachweis der Vermitteltheit sinnlicher haben< gleichbedeutend. Und sehen ist auch etwas anderes wie
Wahrnehmung, die ihr geschichtliches Begreifen ermöglicht. bloße Aufmerksamkeit auf eine Farbe. Es ist eine zur
Hierbei ist >gesellschaftlich< nicht im Sinne der Entgegenset­ Anschauung zu bringende Funktion fest qualifizierter Art mit
zung von >Interaktion< gegen die Polarität von Denken und besonderen und von der Organisation der peripheren Sinnes­
Sein gemeint. Die inhaltliche Formbestimmtheit der Momente organe völlig unabhängigen Gesetzen der Betätigung. Im >Se-
des Erkennens durch Strukturen ihrer nicht rein ideellen, aber hen< einer Fläche ist z. B. immer die Tatsache mitgegeben, daß
ebensowenig rein natürlichen Beziehungen bedeutet, daß die sie eine andere Seite hat, obgleich wir diese nicht >empfin-
Absolutheit des Hegelschen Allgemeinen aufgelöst werden den<.«17 »Es bedarf nun [. ..] eines neuen Aktes der Erfah­
muß, indem sich im vernünftigen Erkennen »Allgemeinheit« rung, um aus dem bisher gegebenen Sehding das Datum p e r­
ebenso außerhalb ihrer selbst als bloße Allgemeingültigkeit, spektivische Seitenansicht gleichsam herauszuschneiden.
1 66
Dieser Schnitt wird erst möglich dadurch, daß Dasein und Problem, es könne das nicht >gegeben< sein, wofür es keine
Ortsbestimmtheit des den Sehakt vollziehenden leiblichen Sinnesorgane gibt, da diese Konstruktion ja eine naive Gleich­
Organismus (der als dem wahrnehmenden >Ich< zugehörig setzung von sinnlichem Gehalt und Gegebenem unterstellt.
erfaßt ist) und der Teile desselben, an welche die Betätigung Der Blick ist endlich frei, sinnliche Wahrnehmung als eine in
der Sehfunktion gebunden ist, Gegenstand eines besonderen sich differenzierende Tätigkeit zu begreifen, anstatt als plat­
Wahrnehmungsaktes wird.«18 tes Identitätsproblem.
Durch mögliche Abhebung von den Variationsrichtungen ist Die Phänomenologie war zu diesem Ergebnis allerdings aus
das »Sehding« erst in bestimmter Größenqualität und durch anderen Begründungen gelangt: »Der Fehler ist, daß man,
Beziehungswahrnehmung der in getrennten Erfahrungsakten anstatt schlicht zu fragen, was in der meinenden Intention
gegebenen Tatsache des Sehdings und meines Leibes und selbst gegeben ist, sofort ^^erintentionale objektive, ja kau­
Auges sowie der Variationen der Richtungen als »perspektivi­ sale Gesichtspunkte und Theorien [.. .] in die Frage hinein­
sche Seitenansicht« gegeben. Damit ist das Gegebene noch mischt.«21 Es geht der Phänomenologie in der Tat um das
nicht Empfindungsinhalt, da dieser Inhalt ja noch keine »Va­ unmittelbar Gegebene, aber zu dessen Heraushebung war sie
riation unseres erlebten leiblichen Zustandes« setzte, was die gezwungen, alles in sich Vermittelnde auszuklammern. In die­
Voraussetzung einer Empfindung wäre. Elemente der äuße­ sem Verfahren gelangt sie zu einer Struktur sinnlicher Tätig­
ren Anschauungswelt sind gar nicht direkt an einer Verände­ keit, die konkreten Untersuchungen über die »Bildungsge­
rung des Leibzustandes (wie bei Hunger, Schmerz, Müdigkeit schichte der Sinne« (Marx) das Feld wieder öffnet. Daß diese
usf.) beteiligt; ihre >Realisierungen< im Auge etc. sind jedoch Bildungsgeschichte nicht wiederum in der trivialen Polarität
von Empfindungen begleitet. von >Theorie-Empirie< geschrieben werden kann, sollte deut­
Die eigentliche Folgerung der skizzierten Kritik der sinnli­ lich geworden sein.
chem Wahrnehmung ist, daß gerade der >Empfindungsinhalt< Marx hatte bereits in den Feuerbach-Thesen, noch abstrakt,
nicht >gegeben< sein kann: »Im strengen Sinne ist >Empfin- den Kernpunkt des kontemplativen Materialismus, der den
dung< in diesem erweiterten Sinn nur der Name für eine Abbild- und Widerspiegelungstheorien zugrunde liegt, . be­
>variable Beziehung<, die zwischen einem Leibzustand und nannt: »Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus
den Erscheinungen der Außenwelt (oder Innenwelt) besteht; (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, daß der Gegen­
ihr Inhalt ist nur der jeweilige Endpunkt dieser zuvor defi­ stand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des
nierten Beziehung zwischen Leib und Erscheinungen in den Objekts oder der Anschauung gefaßt wird, nicht aber als sinn­
Erscheinungen. Diejenigen Elemente einer Erscheinung sind lich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher die
>empfunden<, durch deren Variation die ganze Erscheinung tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von
sich dann ändert, wenn die Leibzustände, resp. die Zustände dem Idealismus - der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätig­
der Organempfindungen in den Sinnesorganen, in einem keit als solche nicht kennt —entwickelt. Feuerbach will sinn­
bestimmten Wechsel begriffen sind. —Die >reine< Empfindung liche - von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedene
ist daher nie und nie gegeben. Sie ist immer nur ein zu bestim­ Objekte:.aber er faßt die menschliche Tätigkeit selbst nicht als
mendes X, oder besser ein Symbol, durch das wir jene Abhän­ gegenständliche Tätigkeit.«22
gigkeiten beschreiben.«19 »Nicht also ein vermeintlicher Auf­ Der Begriff der gegenständlichen Tätigkeit ist weitgehend
bau der Inhalte der Anschauung aus >Empfindungen< kann je verkürzt im Sinne der Willensbestimmung politisch-sozialen
Aufgabe der Philosophie sein.«20 Handelns ausgelegt worden, und er ist selbst dann noch zu eng
Mit der Kritik des Ganges der verschiedenen Wahrneh­ gefaßt, wenn unter ihm nur die Arbeit verstanden wird, weil
mungsakte lösen sich die Begriffe der sinnlichen Gewißheit er, noch abstrakt, alle wirklichen Lebensäußerungen einer
oder >Evidenz< auf. Vor allem verschwindet das irrelevante Gesellschaft meint. Es soll jede gesellschaftliche Tätigkeit in
1 68 169
sich gegenständlich, inhaltlich begriffen werden, sinnliche Hegels Erfahrungskritik liegt der Phänomenologie zugrun­
Wahrnehmungen nicht weniger als logische Denkprozesse. de, weshalb >Form< und >Apriori< voneinander getrennt wer­
Ansonsten fiele der historische Materialismus in die Polarität den müssen, um überhaupt zum Begriff des Unmittelbaren
des abstrakten Materialismus und des nur ideelle Tätigkeiten und ursprünglich Gegebenen zu gelangen.
begreifenden Idealismus zurück, geriete auch die These, das Ein Satz ist, nach Scheler, nur insofern a priori wahr, als er
Problem der Wahrheit sei eine praktische Frage, in einen öden sich in Wesenstatsachen erfüllt.24 »Alle mc/?£-phänomenologi-
Pragmatismus, worin die Funktionen der Wahrnehmung, der sche Erfahrung ist prinzipielle Erfahrung durch oder vermit­
Anschauung, des Vorstellens und Denkens keine andere Rea­ tels irgendwelcher Symbole, und insofern mittelbare Erfah­
lität hätten als in ihrem totalen, metaphysischen Anders­ rung, die niemals die Sachen >selbst< gibt. Nur die phänome­
sein. nologische Erfahrung ist prinzipiell asymbolisch und eben
Daß der Begriff der gegenständlichen Tätigkeit, als gegen­ darum fähig, alle nur möglichen Symbole zu erfüllen.«25 »Die
ständlich bestimmte sowie Gegenstände bestimmende Tätig­ phänomenologische Erfahrung aber ist diejenige, in der keine
keit, die Auflösung der Vorstellungen und Ansichten über das Trennung mehr von >Vermeintem< und >Gegebenem< steckt,
>Gegebene< leistet, ist eine Erkenntnis, die die Neue Linke als [.. .] im Punkte des Zusammentreffens der Erfüllung des
Bewegung längst gewonnen hatte. So ist es einerseits ganz Gemeinten und Gegebenen erscheint das >Phänomen<. [...]
schal, solche Darstellungen zu reproduzieren, wie anderer­ Wer dies noch >Empirismus< nennen will, mag es so nennen.
seits das große Vergessen dazu zwingt. Der gegenwärtige Die auf Phänomenologie beruhende Philosophie ist in diesem
Mangel an bewegtem und bewegendem Denken in einer ver­ Sinne >Empirismus<. Tatsachen, und Tatsachen allein, nicht
bal >revolutionär< gewordenen Linken, die sich nach den Vor­ Konstruktionen eines willkürlichen >Verstandes< sind ihre
stellungen des Bürgertums von ihr eingerichtet hat, wird sicht­ Grundlage. Nach Tatsachen muß sich alles Urteilen richten —
bar dort, wo im Namen des »Zu den Sachen selbst« die große und Methoden sind insoweit zweckmäßig, als sie zu den
Einkehr in den Positivismus stattfindet. Diese Einkehr muß Tatsachen angemessenen Sätzen und Thesen führen. Nicht
freilich gar nicht an den versandenden linken Theorien nach­ aber erhält die Tatsache —wenigstens die >pure< oder phäno­
gewiesen werden, weil sie ein Zug bürgerlichen Denkens menologische Tatsache — erst auf Grund eines >Satzes< oder
selbst ist, wie kurz an der Phänomenologie Schelers aufgezeigt eines ihm entsprechenden >Urteiles< ihre >Bestimmung< —oder
werden soll. würde gar erst aus dem sogenannten >Chaos< von Gegebenem
Nicht das Denken, das in seiner Form als dessen Inhalt übers herausgeschnitten.«26 —Wo derart ein Zugang zum unmittel­
bloß Geschaute oder Gegebene hinausgreift, wird von Scheler bar Gegebenen geschaffen wird, schlägt die Dialektik selbst
als das Apriorische begriffen, sondern einzig die »Wesenhei­ blind durch: was nämlich ist die >Anmessung< von Theorien
ten und ihre Zusammenhänge sind >vor< aller Erfahrung [die­ und Tatsachen anderes als eine Bewegung der Entäußerung
ser Art] oder auch apriori >gegeben<«.23 >Form<, darauf hat der Tatsachen und des Denkens? Ist die >Anmessung< selbst
Hegels Kant-Kritik hingewiesen, drückt stets ein Anderssein Vermittlung, so sind uns Tatsachen eben nur vermittels der
an ihr selbst aus. Wäre sie gänzlich >vor< aller Erfahrung, wie Anmessung<, also nicht unmittelbar gegeben. Ist die >Anmes-
sollte sie dann durch eine Erkenntniskritik überhaupt >erfahr- sung< aber selbst keine Vermittlung, sondern unmittelbar
bar< werden? Was überhaupt vor aller Erfahrung liegt, kann Erschautes, dann ist die Theorie entweder kein Denken, son­
uns nichts angehen. Wohl aber liegt in jeder Erfahrung das dern selbst nur Anschauung, oder Theorie verfälscht die
Moment des Nichterfahrenen, weil uns sonst das gesamte Wis­ Anschauung und Tatsachen — es wäre Wahrheit prinzipiell
sen stets absolut gegenwärtig wäre. Kritik der Erfahrung ist nicht möglich.
die Konfrontation verschiedener Ebenen von Erfahrung, ist er­ Blinde Dialektik tritt stets in solchen Formen der Antinomae
fahrendes Denken von Nicht-Erfahrenem in der Erfahrung. auf, und stets ist sie begleitet von einer Herabwürdigung der
170
Verstandes- und Vernunftfähigkeiten als bloß w illkürli­ bestätigt sich noch darin, daß sie die Rezeption des Werkes
chem verhindert. Zum hier thematisierten Sachverhalt schreibt
Sieht man von der blinden Dialektik, wie sie als logischer Adorno: »Das Erste der Philosophen erhebt totalen
Widersinn auftritt, ab, so bleibt als Resultat, daß >Tatsachen< Anspruch: es sei unvermittelt, unmittelbar. Damit es dem
prinzipiell unveränderlich sind, metaphysische Substantialitä- eigenen Begriff genüge, wären immer erst die Vermittlungen
ten, und nur die Subjektivität bringt überhaupt Unterschied­ gleichsam als Zutaten des Gedankens zu beseitigen und das
lichkeit als Tätigkeit in die Welt: »Erst die Beziehung auf die Erste als irreduktives Ansich herauszuschälen. Aber ein jegli­
Gegenstände, in denen eine Wesenheit in die Erscheinung ches Prinzip, auf welches Philosophie als auf ihr erstes reflek­
tritt, bringt den Unterschied ihrer allgemeinen oder individu­ tieren kann, muß allgemein sein, wenn es nicht seiner Zufäl­
ellen Bedeutung hervor.«27 Denn die phänomenologische ligkeit überführt werden will. Und ein jegliches allgemeines
Erfahrung gibt die Tatsachen >selber< und daher unmittelbar, Prinzip eines Ersten, wäre es auch das der Faktizität im radi­
d. h. nicht vermittelt durch Symbole, Zeichen, Anweisungen kalen Empirismus, enthält in sich Abstraktion. Selbst jener
irgendwelcher Art.28 Damit mündet das radikale Zuendeden­ Empirismus könnte kein einzelnes jetzt und hier Seiendes,
ken des >Empirismus<, wie Hegel bemerkte, gerade in jene kein Faktum als Erstes reklamieren, sondern einzig das Prin­
abstrakte Metaphysik, von deren Negation er ausgegangen zip von Faktischem überhaupt. Als Begriff ist das Erste und
war. Unmittelbare allemal vermittelt und darum nicht das
Wissenschaftliche >Fehler< können ihren Grund nicht in Erste.«30 »Ohne Rekurs auf ein Unmittelbares, Stofflich-
einem blpß mangelhaften Denken haben. Kritik ist in solcher Vorkategoriales ist mit den Mitteln der traditionellen, subjek­
Aufdeckung von >Fehlern< bürgerlicher Wissenschaft im tiv gerichteten Erkenntnistheorie kaum ein Begriff von Reali­
Innersten unkritisch, weil sie eine rein theoretische >Verbesse- tät zu gewinnen. Zugleich jedoch kann die erkenntnistheore­
rung< suggeriert. Andererseits läßt sich der Grund solcher tische Analyse des Unmittelbaren dessen eigenes Vermittelt­
Denkweisen nicht mehr, wie es noch Ernst Bloch tat, nur aus sein nicht wegerklären. Das motiviert die dialektische Logik,
der Diremption der bürgerlichen Gesellschaft in >Arbeitende< welche solchen Widerspruch zur Bestimmung der Sache selbst
und kontemplativ >müßige< Theoretiker verstehen, aus der erhebt, den Begriff des Unmittelbaren festhält sowohl wie
Distanz des Theoretikers zu der >unmittelbaren< Produktion. negiert.«31
Die kapitalistische Arbeitsteilung hat längst die Arbeit >ent-
sinnlicht<, der nicht-theoretischen Erfahrbarkeit entzogen, H.
und ebenso ist die Wissensproduktion auf dem Wege, sich aus Wird die Begriffszusammensetzung >historisch-empirisch<
ihrer >kopf-werklichen< Weise zu emanzipieren und indu­ verwendet, so liegt im allgemeinen nicht einmal jener diffe­
striell zu werden. Aber, um zu der anfangs gestellten Frage renziertere Begriff der sinnlichen Wahrnehmung<, wie ihn die
zurückzukehren, Marx hat - soll überhaupt der Begriff >Kri- Kantianer entwarfen, zugrunde. Es müßte ja sonst unmittel­
tik< als selbst gegenständliche Tätigkeit einen Sinn haben —in bar gespürt werden, daß die geschichtliche Vergangenheit in
der Waren-, Geld- und Kapitalanalyse die Bedingungen des ihrem Begriff das Dabeisein des jeweils aktuellen Ich verhin­
theoretischen Denkens in der bürgerlichen Gesellschaft ange­ dert. >Empirisch< wird hier zumeist nur synonym mit >stofflich<
deutet. Sie auszuarbeiten ist die Forderung. —was auch immer das sei — gebraucht. Es ist eine abstrakte
Bevor ich zur Kritik des Begriffsmoments >historisch-empi- Beschwörung des Konkreten und Sinnlichen, das man nicht
risch< komme, möchte ich daran erinnern, daß die ausführli­ hat. Aber außer dieser Beschwörung selbst ist darin nichts
che Kritik der Phänomenolögie längst vorliegt; aber die >evident<. Jede Begründung, so wird richtig geahnt, widerlegte
Gewalt der blinden Dialektik, die in Adornos Zur Metakritik ja die Evidenz und Selbstgewißheit des unmittelbar Gegebe­
der Erkenntnistheorie29 theoretisch durchdrungen wurde, nen. Gerade die Gedankenlosigkeit im bloßen Wortlaut des

I 72 175
>Historisch-Empirischen< soll der geschichtlichen Gesell­ ser Struktur ist aber selbst die Negation des negativen Jetzt.
schaftlichkeit als >Tatsache< etwas beweislos Beweiskräftiges Ist für Hegel diese Negation der Negation der sich noch
geben. äußerliche Begriff des absoluten Geistes, so weist Hartmann
Die reflektiertere bürgerliche Geschichtswissenschaft ist sich nach, daß die Negation der Negation des Jetzt keineswegs
allerdings der äußerlichen Diremption der Geschichtswissen­ Negation von Zeit selbst als Verendlichung sein muß. Hart­
schaft bewußt: sie >zerfällt< in einen empirischen Teil, in mann gelingt dies jedoch nur durch eine völlige Auflösung des
welchem zeitliche und örtliche Geschehnisse und Ereignisse Bezuges von, wie er es nennt, »Realzeit« und »bloß« subjek­
registriert werden, und in den Teil der >Bedeutung<, die außer­ tiver Zeit: »Der Bewußtseinsablauf in der Zeit ist nicht iden­
halb ihrer endlichen Struktur liegen müsse, im Ubergeschicht­ tisch mit dem Ablauf der Anschauungszeit im Bewußtsein; die
lichen, da anders Vergangenes oder Zukünftiges außerhalb Zeit, in der wir betrachten, ist nicht identisch mit der Zeit, die
ihrer Zeit und ihres Raumes keinen Sinn haben können. wir betrachten.«33 Aus der trivialen Feststellung der Nicht­
Gerade weil wir Geschichtliches verstehen, sei das Wesentli­ identität wird ihre völlige Verschiedenheit geschlossen, um zu
che der Geschichte ihre übergeschichtliche Struktur. Da nun widerspruchsfreien Aussagen über die »Realzeit« zu gelan­
die Form der Geschichte, die Zeitlichkeit, als Prinzip des gen. Hat das Bewußtsein eine »zeitliche Freiheit« gegen den
Endlichseins aller geschichtlichen Ereignisse, nicht mit der »Gleichfluß der Realzeit«, so löst sich der Begriff der einen
>Geschichte< vergehe, sei das Wesentliche des Ubergeschichtli­ Zeit auf. Wie aber soll das eine Moment im Jetzt, als Vergan­
chen zugleich das Ewige. Gestünde man selbst noch die auch genheit und Zukunft hestimmendesy ohne Bewußtsein über­
bei Hegel formal bleibende Dialektik von Zeit als ewiges haupt erfahren und gedacht werden können, selbst wenn man
Prinzip des Endlichen zu —sie ist m. E. selbst geschichtlich aus metaphysisch annähme, daß das durch Vergangenheit und
der Durchsetzung der abstrakten Arbeitszeit verstehbar - , so Zukunft bestimmte Jetzt >außerhalb< des Bewußtseins existier­
liegt dennoch ein >Fehler< zugrunde, den von der Wissenschaft te? Im Begriff der »Realzeit« steckt also bereits jene empiristi-
verwandten linearen oder zyklischen Zeitbegriff, wie er der sche Vorstellung, die ohne Umstände Wortlaute für Realien
Datierung und Periodisierung geschichtlicher Prozesse nimmt: Realzeit ist das >Gegebene< schlechthin.
zugrunde liegt, einfach gleichzusetzen mit der geschichtlichen Wie nun löst Hartmann das »Phantom der Uberzeitlich­
Zeitlichkeit selbst. Hegel allerdings sah immerhin, daß es der keit«34 auf? Im wesentlichen konzentriert sich die Auflö­
Begriff war, der die Zeitlichkeit als Ewiges ausdrückt, so wie sung auf die Kantische Konstruktion, im Unterschied zum
hier es ein bestimmter, geschichtlicher Begriff ist, geschichtli­ bloßen Wechsel der Dinge und Prozesse setzte ihre Verände­
che Zeitlichkeit und Zeitlichkeit der Geschichtswissenschaft rung, ihr Anderswerden ihre unveränderliche Substanz vor­
einander identisch zu setzen. aus. Was >sich< verändere, was im Anderswerden Tür sich<
Die bürgerliche Wissenschaft ist dieser Erkenntnis jedoch bleibe, sei eben das Unveränderliche. Das Zeitliche wird in
nur auf Kosten der Geschichtlichkeit selbst, d. h. durch die dieser Konstruktion selbst auf das unmittelbare Werden, Ent­
Ontologisierung ihres Seienden, auf die Spur gekommen. Ich stehen und Vergehen reduziert. Was als Substanz übrigbleibe,
möchte dies, bevor ich zur alten Gestalt von >Geschichtstheo- sei das Negative von Zeit überhaupt, das Ewige. Hartmann
rie - Geschichtsempirie< zurückkehre, an Nicolai Hartmanns sieht richtig, daß gerade die Substanz, als in der Veränderung
Schrift Zeitlichkeit und Substantialität kurz andeuten.32 Bleibendes, selbst gar nicht ohne zeitliche Bestimmung aus-
Der Begriff der Zeit gewinnt seine Dialektik aus der sich kommen kann. »Denn nicht um ein zeitlos Seiendes handelt es
selbst kontinuierenden Diskretion des Jetzt, das seinen Sinn sich in der Substanz, sondern um das, was zeitliche Dauer hat:
aus den Dimensionen des Noch-nicht und Nicht-mehr allerdings im strengen und eigentlichen Sinne nur das, was
bezieht, wie umgekehrt Vergangenheit und Zukunft nur unbegrenzte Dauer in der Zeit hat.«35 »Denn das Zeitlose ist
Bestimmungen der Gegenwart sein können. Der Begriff die­ nicht in der Zeit, kann also weder Dauer haben noch dem
174 i75
Zeitlichen subsistieren.«36 Der Preis der totalen Realität der bezogen, den wir Zeit nennen. Diese Identität macht sie
Zeit ist jedoch, daß Hartmann aus dem »Phantom der Uber- vergleichbar und in eindeutigen Maßen der Geschwindigkeit
zeitlichkeit« ein >Phantom der Zeitlichkeit<, unabhängig vom bestimmbar.«43 Die Zeit sei Substanz nicht als aeternitas, son­
wirklichen Entstehen und Vergehen der Dinge und Ereignis­ dern als sempernitas, »unaufhebbares identisches Sein in aller
se, konstruiert. Zeitlichkeit wird zum ontologischen ens realis- Zeit«.44
simum, zum Ubergeschichtlichen der Geschichte selbst. Wie in aller blinden Dialektik bleibt unklar, wie denn diese
Ebenso rasch, wie zuvor das subjektive Moment eliminiert absolute Identität der Zeit als »Gleichfluß« zu ihren Selbstun­
wurde, kehrt es nun zurück, wenn die Hartnäckigkeit des terscheidungen, außer durch bestimmte Negation, kommen
Dualismus Zeit-Ewigkeit erklärt werden soll: in Wahrheit sei soll. Wie werden Unterschiede des Zeitverhältnisses über­
es nicht die Ewigkeit, die der Mensch suche, »sondern nur die haupt möglich? >Zeit< ist nur noch das Phantom des Uhrge­
über sein eigenes eng begrenztes Dasein hinausreichende häuses, das der Zeiger nicht verlassen kann.
Erhaltung im Jetzt«.37 Wenn Hartmann dann zum Geschichtlichen übergeht,
Demgegenüber kann Hegels Dialektik der Zeit anders, als taucht die eigentliche Gleichsetzung dieses Geistes mit der
von ihm selbst gesehen, entziffert werden. Hegel läßt nämlich von ihm konstruierten >Zeit< auf: »Der geschichtliche Geist
gar keinen abstrakten Dualismus von Endlichem—Unendli­ erhält sich [Hrvh. H.-D. B.] im wandernden Jetzt, indem er
chem zu - »denn das wahrhaft Unendliche ist nicht ein bloßes das Werden in seine eigene Seinsform aufnimmt, sich immer
Jenseits des Endlichen«38, sondern es ist die Bewegung des an deren Trägern selbsttätig erneuert, das Ephemere aber sei­
Überschreitens des Endlichen selbst. Es muß nicht, wie Hegel nem Schicksal überläßt, unwiederbringlich in die Vergangen­
es zwingend meint, dieses Überschreiten deshalb ein Ewiges heit abzusinken.«45 Hier geht der ohnehin recht nebelhafte
sein. Hier träfe Hartmanns Einwand zu: »Es ist nicht wahr, Unterschied von sempernitas, als Sein alles Seienden, und
daß die Dinge beharren müßten, wenn der Fluß stillstünde. aeternitas verloren.
Sie könnten ja ebensogut auch mit seinem Stillstand aufhören
zu sein.«39 Daß solche Aussagen sich selbst über alle Zeit zu Hartmanns Begriff der Zeitlichkeit ist die letzte Konsequenz
setzen scheinen und unbedingte Wahrheiten postulieren, des historischen Empirismus. Das soll im folgenden an der
gehört der immanenten Widersprüchlichkeit von Endlichkeit Historik Hedingers und der Geschichtsphilosophie Rickerts
und Transzendieren derselben an. Wird freilich, wie Hart­ gezeigt werden.
mann es tut, die eine Seite hervorgehoben, so gerät sie mit der Die historische Kenntnis selbst soll auf >Tatsachen< beruhen,
eigenen Aussageform in absoluten Gegensatz. Die Bestim­ sich vor allem auf die geschichtlichen Quellen beziehen. »Es
mungen der Kontinuität in ihren Momenten des »Zugleich­ gibt Sachverhalte, die unmittelbar erkannt werden können.
seins«, der »Aufeinanderfolge« und der »Dauer« sollen keine Hierher gehören solche, die unmittelbarer Erkenntnis durch
Bestimmungen der Zeit selbst sein, sondern nur »Arten des Sinneswahrnehmung zugänglich sind.«46 Das Empirische
Zeitverhältnisses selbst innerhalb des Zeitkontinuums«.40 Der bleibe auch dann die Grundlage, wenn die Sachverhalte durch
unumkehrbare, gerichtete Zeitfluß sei das eigentliche Innen­ andere, z. B. aus logischen Beweisen, Augenzeugenberichten,
wesen der Zeitlichkeit. »Sie [die Zeit, H.-D. B.] ist ein Indizien usf. erschlossen werden müssen. »Ziel der histori­
Gleichfluß, ein sich immer gleichbleibendes Hinfließen, das schen Arbeit sind empirische Aussagen, die wahr und als
ohne Unterschied, ohne Verlangsamung und Beschleunigung solche allgemeingültig, die intersubjektiv identisch verstehbar
über alles hinstreicht, was in ihm auftaucht und verschwin­ sind und deren Wahrheit intersubjektiv verbindlich kontrol­
det.«41 »Der >Gleichfluß< [. .. ] ist der ontologisch fundamen­ lierbar und entscheidbar ist.«47 Es ist klar, daß >Empirie< sich
tale Grundzug der Realzeit.«42 »Alle Bewegung in der Welt hier nicht mehr auf die im ersten Teil erörterte Beziehung von
ist auf die Einheit und Identität des großen Gleichflusses Leiblichkeit und äußerer bzw. innerer Gegenständlichkeit
176
bezieht, weil hier die sinnliche Wahrnehmung nicht in der zu so ist es trivial zu sagen, keine wäre ohne sinnliche Wahrneh­
erkennenden historischen Situation selbst sich als Gegenwär­ mung zugänglich. Versteht man aber die sinnliche Wahrneh­
tigkeit befindet. Sinnliche Wahrnehmung richtet sich hier von mungsart nicht als unmittelbare, sondern als in sich geschicht­
vornherein auf sinnliche Gegenstände, die Zeichen einer lich vermittelte, so ist es unmöglich, davon zu reden, die
anderen geschichtlichen Gestalt - mit der einzuschränkenden Quellen stünden als Objekte einem wahrnehmenden Subjekt
Ausnahme vielleicht der sogenannten Zeitgeschichte — sind, gegenüber, denn dieses Subjekt' ist selbst gegenständlich
also nicht nur >wahrgenommen<, sondern vor allem verstan­ bestimmt und bestimmend. Nicht minder ist das Erfassen der
den werden müssen. Wahrnehmen und Verstehen sind hier Bedeutung des Sinnes der Quellen ein geschichtlich bestimm­
untrennbare Momente des geschichtlichen Begreifens. Das ter und, in wesentlich engeren Grenzen, bestimmender Akt.
Problem einer Historik ist indes nur zum einen Teil auf empi­ Bereits das Begreifen der Quellen als Überlieferungen oder
rische Geschehnisse in der Geschichte bezogen: ihr Objekt ist Resultate der Geschichte transzendiert alles sinnlich Wahrge­
ebenso das Verstehen wie die tätige Vernunft als Momente in nommene an ihnen. Ebensowenig freilich gibt es ein bruchlo­
der Geschichte. Wie Marx gegen Feuerbach hervorhob, sind ses Verstehen vergangener Bedeutungen, da geschichtliches
die vergangenen Produktionsverhältnisse nicht als bloße Verstehen und in der Geschichte Verstandenes selber zu
Gegenstände der historisch-empirischen Erfahrung zugäng­ neuem geschichtlichen Sinn verschmelzen. Das ist am besten
lich, weil sie sich selbst zugleich durch intelligible Funktionen, zu verdeutlichen an der Rolle der Geschichtsfälschungen von
d. h. durch alle sinnliche Erfahrung überschreitende Sinnge­ Dokumenten, Urkunden, Quellen überhaupt, wo gerade auf
bilde, konstituieren, die allein durch den Verstand selbst diese Verschmelzung gezielt wird. Aber was heißt es, wenn
begreifbar werden. In diesem Sinne ist historischer Materialis­ Hedinger sagt: »Aufgabe des Historikers ist es daher, die
mus Kritik - nicht als nachträgliches Besserwissen, sondern als Veränderungen, Überlagerungen und Verfälschungen der
bestimmtes Anderswissen. Diese innergeschichtliche Begeg­ Quellen und damit die Verunstaltung der gewesenen Wirk­
nung des vergangenen mit dem gegenwärtigen Wissen ist lichkeit gedanklich wieder zu beseitigen«?49 Es schwebt hier
zugleich Bedingung der Möglichkeit von Ideo-logik, welche ein Begriff von Geschichte und Wirklichkeit vor, die als Ding
das Wesen der Geschichte in ihrem Wert einzig als kulturelle an sich existieren sollen. Es wird hier offenkundig, daß
Kommunikationsstätte der Geister faßt, neben anderen Geschichtswissenschaft ohne die Unterscheidung von Wesent­
Bedeutungen von Ideologie überhaupt. lichem und gemeintem Unwesentlichen nicht auskommt, denn
Bereits psychische Strukturen, die in bestimmten Gesell­ eine Fälschung kann ja ihrerseits eine >Geschichte< haben und
schaftsepochen bedeutsam geworden sind, könnten vom rein >wesentliche< Einflüsse ausgeübt haben. Desgleichen kann die
empirischen Standpunkt nur als Wahngebilde von Individuen Aufdeckung einer Fälschung wesentliche Momente von
begriffen werden, vollends bestimmte intellektuelle Formen. Geschichtlichkeit setzen. Für den historischen Materialismus
Überlegt man sich, welche historischen Quellen der ist es wichtiger, die Strukturen vergangener Produktionsver­
Geschichtswissenschaft überhaupt wichtig werden können: hältnisse als konstituierende Momente der bürgerlichen Pro­
überlieferte mündliche oder schriftliche Berichte, Chroniken, duktionsweise aufzudecken, als die Motive Napoleons beim
Memoiren, Theorien, Inschriften, Abbildungen, Kunst- und Einmarsch in Rußland, wie sie >an sich< waren, kennenzuler­
technische Werke, Überreste unbeabsichtigt oder für die nen, und die Funktionen des geschichtlich-gesellschaftlichen
Überlieferung geschaffener Zeugnisse der Vergangenheit, Verstandes als Momente der jeweiligen Produktion des gesell­
Geräte, Bräuche, Gesetze, an Werkzeugen und verwendeten schaftlichen Lebens kennen und begreifen zu lernen, als die
Werkstoffen ablesbare Formen der Arbeitsteilung, überhaupt gesamte Geschichte aus den Formen eines >übergeschichtii-
Techniken und Institutionen, Urkunden, Akten, Briefe, Zei­ chen< Verstandes verstehen zu wollen.
tungen, die räumliche Verbreitung bestimmter Dinge usf.48, So ausgedrückt, muß es in der Tat scheinen, als sei es bloß

178
eine Frage des Standpunktes, zu beurteilen, was geschichtlich denn andere als individuelle empirische Wirklichkeiten gibt es
>wesentlich< oder >unwesentlich< ist. Die Verbürgerlichung des nicht.«51 Der generalisierenden Auffassung der Naturwissen­
historischen Materialismus bekundet sich gerade darin, daß er schaften seien Individualitäten nur interessant als Exemplare
lediglich zum »Standpunkt der Arbeiterklasse« deklariert eines Gattungsbegriffs.52 Der Geschichtswissenschaft dagegen
wird, anstatt als Erfassung der revolutionären Veränderun­ gehe es einzig um die individualisierende Auffassung der
gen, Tätigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft im Unter­ Wirklichkeit^ Rickert stellt dann die Frage, welche Wirklich­
schied zur bornierteren Auffassung der bürgerlichen Gesell­ keiten Gegenstände der Geschichtswissenschaft werden.
schaft als einer gegebenen Tatsache^ in deren Zweiheit nun Körperliche Gegenstände der äußeren sinnlichen Wahrneh­
die Sache der einen Seite vertreten wird. So wollte das mung sind Objekte der Naturwissenschaften; nur als körper­
Bürgertum die Klassengesellschaft immer schon definiert wis­ liche Träger< von Sinngebilden sind sie in der Geschichtswis­
sen: als einfache Diremption von Kapital und Arbeit. Statt senschaft thematisiert. — Es sind dies die grundlegenden
daß der Gegner bestimmter wird, wird er bloß eindeutiger abstrakt-materialistischen Bestimmungen des Idealismus
und >falsch< begriffen. Der revisionistische Kompromiß wird überhaupt, den >Sinngebilden< stofflich-substantielle Träger
zu einer geschichtlichen Gestalt dieser Epochen. zu unterstellen; aber solche Dialektik bleibt ganz unaufge-
Es ist also der Begriff des Wesentlichen, als Wesen eines hellt.
Wertes, genauer zu bestimmen, was aus der Kritik der bürger­ Ebenso meint Rickert: »Nie wird das Seelische als solches
lichen Wertauffassung anzubahnen ist. Vorweg sei angemerkt, historisch wichtig, sondern stets kommt es als Träger von
weil es in diesem Zusammenhang nicht ausgeführt werden Sinngebilden in Betracht.«53 Es ist damit bereits eine Wer­
kann, daß Marxens Kritik der Politischen Ökonomie den tung, aber kein historisches Urteil gefällt, daß die Gegen­
Wert selbst, diesen Inbegriff der Struktur der bürgerlichen ständlichkeit von innerer und äußerer Wahrnehmung mögli­
Vernunft, gerade als materielle gesellschaftliche Bewegungs­ cherweise zwar selbst geschichtlich geworden und werdend,
struktur gefaßt hat. In eine empirische Vorstellungswelt wird aber wissenschaftlich unbedeutend ist. Nur das »Kulturleben«
es allerdings nie passen, daß das Übersinnliche in sich selbst könne als »bedeutungs- und sinnvolles Geschehen« begriffen
eine gesellschaftliche, materielle Struktur haben soll. . . werden. Da in solcher Konfrontation von Bedeutung und
bedeutsam Bedeutetem die Vernunft rein bei sich selber ist,
Im Unterschied zum Abbildrealismus des naiven Empirismus kann Rickert folgern, die Form des überhistorischen Begrei­
ist sich Rickert, im Anschluß an Kant, bewußt, »daß die fens sei vereinbar mit dem historischen Material selbst. Doch
Erkenntnis überall, wo es sich um die empirische Realität der er verliert so, wie alle identitätsphilosophische Behandlung
Welt in Raum und Zeit handelt, nicht in einer Reproduktion der Probleme, die Begreifbarkeit der sich unterscheidenden
oder in einem Abbild der Wirklichkeit bestehen kann, son­ tätigen Vernunft; wie aus ihrer bloßen Identität die Unter­
dern daß das Subjekt stets eine Umbildung der Objekte bei schiede der geschichtlichen Gestalten möglich sein sollen, ist
ihrer Erkenntnis vornimmt.«50 Da Empirie ohne Kategoriali- völlig verdeckt.
tät keine Erfahrung bringe, müsse Geschichtswissenschaft Historisch interessiert, nach Rickert, nur die »für uns bedeu­
zugleich die Darstellung der Verhältnisse von Ursache und tungsvolle Individualität«54, und die historische Erkenntnis ist
Wirkung leisten, um die Verbindung der Teile mit dem, jeweils die »Darstellung des Einmaligen«, die die Individualität als
bestimmten, geschichtlichen Ganzen auszudrücken. Da jede die des Ganzen (eines Moments, einer Epoche, einer Entwick­
Wissenschaft es zunächst mit Individualitäten der mannigfal­ lungsreihe, der Geschichte überhaupt) hervorhebt. Aus dem
tigen Sinneswelt zu tun habe, kann Rickert sagen: »Kausal­ Begriff des Einmaligen, als Gestalt des jeweils geschichtlich
verbindungen müssen vielmehr, wenn sie überhaupt empiri­ Neuen, und aus dem Begriff des Ganzen gewinnt Rickert die
sche Realität besitzen sollen, individuelle Wirklichkeiten sein, Unterscheidung gegen die logischen Verhältnisse von >Gat­
tung - Art - differentiae specificae< der naturwissenschaftli­ setzt; nicht allein die von ihr als Gegenstände behandelten
chen Klassifikation und Methode. Für die Geschichtswissen­ Objekte sind mit Werten verbunden. Aber die wichtige Frage
schaft sei das Ganze das inhaltsreichere Allgemeine seiner nach der Selbstbegegnung verschiedener geschichtlicher Sinn­
Teile, während das naturwissenschaftliche Ganze, als Allge­ gebilde im historischen Erkennen und Werten stellt Rickert
meines, stets leerer sei als die Teile. Diese Konstruktion frei­ nicht. Zu Recht allerdings unterscheidet er zwischen theoreti­
lich ist entweder nur hohl, dann nämlich, wenn der allgemeine scher und praktischer Wertung, um den Begriff des Wertes aus
Begriff des Ganzen nicht bereits selbst die allgemeine Begriff- der Sphäre bloßer ethischer Normativität oder bloßen
lichkeit des Einmaligen und Individuellem, also die Dialektik Gefühls erkenntnistheoretisch hervorzuheben: »Wenn den­
des Besonderen, ausdrückt, sondern nur eine Weise des Ver­ noch die Verbindung der Objekte mit Werten zum Wesen der
stehens von geschichtlichen Gestalten, die der Geschichte des Geschichtswissenschaft gehört, ohne ihre Objektivität zu stö­
Verstehens ganz äußerlich ist; oder aber die Konstruktion ist ren, so liegt das daran, daß es eine Art der Wertverbindung
zu weich, wenn sich nämlich diese Dialektik völlig innerlich gibt, die nicht mit einem praktischen Stellungnehmen und
als die des geschichtlichen Materials selbst vollzieht. Das Werten zusammenfällt, das heißt, daß man Objekte in rein
»Einmalige und Individuelle« als jeweiliges geschichtswissen­ theoretischer Weise auf Werte beziehen kann, ohne sie da­
schaftliches Objekt ist ebenso nur >an sich<, wie es nur >außer mit lobend oder tadelnd zu werten.«57 Was allerdings diese
sich< ist, als >Entwicklungsreihe<, als Verknüpfung der einzel­ Unterscheidung nicht mehr angibt, ist, wie denn die theoreti­
nen Sinngebilde durch Ursache-Wirkungs-Ketten. Gerade sche Wertung die immanente Beziehung auf mögliche
weil die Verbindung der individuellen Gestalten ihnen äußer­ Willensentscheidung ausdrücken kann, da doch die »Auswahl
lich bleiben soll, können sie überhaupt erst als >reine< Sinnge­ des Wesentlichen« selbst ein Entscheidungsakt des Nachset­
bilde verstanden werden: von ihrer immanenten Zeitlichkeit zens und Vorziehens ist, eine theoretische Entscheidung zwi­
und Körperlichkeit befreit. Die Gegenständlichkeiten der schen »Wesentlichem« und »Unwesentlichem« mit einer
äußeren und inneren Wahrnehmung werden zu >bloßen< Sub­ Reihe hierarchischer Stufen dazwischen. Bürgerliches Denken
straten, aber ebenso zu den gewaltigen >Trägern< alles kann natürlich nicht den immanenten Herrschaftscharakter
Geschichtlichen. Im selben Zuge, wie die Sinnlichkeit der seiner Tätigkeit selbst denken, ohne zur Auflösung zu .gelan­
Geschichte verkrüppelt wird, erklärt sie sich, blind durch den gen. Verdeckt wird dies gerade durch den allgemeinen Cha­
Begriff hindurch, zum Wesentlichen. In diesem Sinne rakter dieser herrschenden Vernunft, nämlich in der Behaup­
bestimmt Rickert die durch die naturwissenschaftlich genera­ tung, »daß der Historiker die individuelle Wirklichkeit nur
lisierende Methode gewonnenen allgemeinen Begriffe der durch Beziehung auf allgemeine Werte in wesentliche und
Wirklichkeit zu »letzten Elementen der individuellen Begrif­ unwesentliche Bestandteile gliedert.«58 »Sinn und Bedeutung
fe«.55 Doch erst auf der Basis der strikten Trennung von bekommt die Individualität eines Objekts in der Geschichte
»Individualitäten« und »allgemeinen Bedingungen« erhält dadurch, daß sie zu einem allgemeinen Wert in Beziehung
das geschichtlich »Einmalige« seine ideelle Reinheit und sei­ steht, für dessen Verwirklichung sie durch ihre individuelle
nen »reinen Wert«. »Das Individuelle kann nur mit Rücksicht Gestaltung etwas leistet.«59 Wenn andererseits der konkrete
auf einen Wert wesentlich werden, und daher würde mit der Sinn erst durch den allgemeinen Wert historisch »konstitu­
Beseitigung jeder Wertverbindung das historische Interesse an iert«60 wird, so bleibt bei Rickert gerade die Tätigkeit
der Wirklichkeit und die Geschichte selbst beseitigt sein.«56 der Konstituierung und Verwirklichung ganz unbegriffen.
Rickert sieht natürlich, daß aus dem Subjekt der Geschichts­ Hierin hat die Kritik der Politischen Ökonomie ungleich mehr
wissenschaft nicht alle Geschichtlichkeit eliminiert werden geleistet, indem sie die Gegenständlichkeit der theoretischen
kann. Die Geschichtswissenschaft ist in ihren Erkenntnis­ Wertung< als wesentliche Momente der gesellschaftlichen Pro­
oder praktischen Zielen als Wert und Sinngebilde vorausge­ duktionsverhältnisse, sofern sie sich aufspalten in die Pro­
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duktion von Wert und Gebrauchswert, begreift. Doch schon Im Unterschied zu Rickert, der die metaphysische Konstruk­
im Begriff des Gebrauchswerts existiert keine undialektische tion der Geschichtswissenschaft ihrem Begriff offenhält,
Trennung von »materiellen Trägern« und »wertbestimmen­ begründet Hedinger, in ähnlich ontologischem Begriffsrealis­
dem Bedürfnis«. Als >Gut< im ökonomischen Sinn ist der mus wie N. Hartmann, die Geschichtlichkeit aus den Existen-
Gebrauchswert selbst ein gesellschaftlich bestimmter Wert, tialien »Situation und Verhalten«: »Ontologische Grundsach­
noch bevor es dem einzelnen wertbestimmenden Bedürfnis verhalte der Geschichte sind Situation und Verhalten, die ein­
gegenübertritt. Dagegen hat der Begriff des >Wertes<, als ander komplementär sind, eine Einheit bilden.«62 Hedinger
Immanenz des Tauschwertes, tatsächlich dieses Moment von begreift darin eine gewisse formale Dialektik, die sehr viel
>Reinheit< und Fürsichsein, das die bürgerliche Philosophie anders als diejenige Rickerts nicht ist: eine Verknüpfung zu
einzig als Idee gelten läßt; anders wären die Metamorphosen bestimmten geschichtlichen Individualitäten in der Beziehung
in den Waren-, Geld- und Kapitalbewegungen unverständ­ des >Ganzen< zu seinen Teilen. Allerdings bezieht Hedinger
lich. In ihm trennt sich in der Tat der Wert von sich selbst, im Begriff des Verhaltens die gesamte, nicht nur sinnhafte
etwa als Naturalform oder Wertzeichen; wenngleich der Wert Sphäre gesellschaftlicher Praxis mit ein: Handeln, Nichthan­
eine Gestalt als reine Verstandesform annehmen kann, so in deln, emotionale und prospektive Akte, Orientierung an Rea­
der Buchhaltung des Kapitals, ist er dennoch nie ohne seine lisierungsmöglichkeiten von Zielen, Mitteln, Nebenwirkun­
sinnliche Begrenzung, obschon diese Grenze dem Wert keine gen usf.63 Zwar nennt er die Kategorien der Arbeit oder
Schranken setzt. — Doch dies auszuführen ist hier nicht der Produktion nicht, aber ausschließbar sind sie nicht aus der
Ort. Es sollte aber in Erinnerung bleiben, daß der idealistische formalen Dialektik von Situation und Verhalten. D.ie Gültig­
Begriff des allgemeinen Wertes nicht bloß Phantom, sondern keit historischer Begrifflichkeit ist freilich ihrerseits einer
verselbständigter Ausdruck seiner wirklichen Gesellschaft­ Konstruktion von Ubergeschichtlichkeit abgewonnen: »Jede
lichkeit ist. Das zeigt sich gerade dort, wo die historische verwirklichte Situation kann mit Hilfe des Systems überge­
Erfahrung die Wertgebilde nicht mehr im Kantischen Sinne schichtlicher, allgemeingültiger Begriffe erkannt werden,
»erfährt«, sondern nur noch antinomische (im Kantischen denn alle Menschen stehen letztlich [.. .] vor identischen Pro­
Sinne »dialektische«) Kategorialität ausdrückt. Der allge­ blemen, und ihnen stehen identische Lösungsmöglichkeiten
meine Wert ist >Idee< im Kantischen Sinne, ein Regulativ der offen.«64 Solche Aussagen sind aus der Befürchtung heraus
Konstituierung des >konkreten Sinnes<. Damit ist er >Maß< verständlich, »völlig gegenwartsbezogene Begriffe seien per­
aller möglichen Geschichtsschreibung überhaupt und als sol­ manent wandelbar und erforderten ein ständiges Umschrei­
ches >übergeschichtlich<. »Nur dann also, wenn die Gewin­ ben der Geschichte«.65 »Wenn alles Verstehen standortgebun­
nung übergeschichtlicher Werte möglich ist, läßt sich die den ist [ ...], dann wäre jede wissenschaftliche Diskussion
Geschichtsphilosophie als eine besondere Wissenschaft deu­ und Kontrolle einer Aussage gefährdet, da sie von einem
ten.«61 Darin besteht das >falsche< Moment, daß alle Forscher zum anderen nicht mit identisch verstehbaren
Geschichte nur aus den >übergeschichtlichen< Wertungen bür­ Gehalten zu tun haben und daher nicht zu identischen Resul­
gerlichen Denkens geschrieben werden soll, als ob der allge­ taten kommen können.«66 Dialektik aber ist wesentlich >ge-
meine Wert< der bürgerlichen Gesellschaft ewig sei, und fährdetes< und >gefährdendes< Denken, sie ist in ihrem Begriff
zugleich das >richtige< Moment, daß das Begreifen von selbst der Widerspruch gegen >gesichertes<, regelhaftes Den­
Geschichte aus der Geschichtlichkeit der bürgerlichen Gesell­ ken, das im Kern aller empiristischen Bemühung haust und
schaft als allgemeiner Wertproduktion heraus, also gerade deren Gegenteil abstrakt provoziert: die Metaphysik, deren
nicht >übergeschichtlich<, geschieht. Der bürgerliche Verstand innerste Geschichtlichkeit durch die Kritik der Politischen
ist in seine eigene Geschichtlichkeit so sehr verstrickt, daß er Ökonomie begreifbar wird. Keineswegs leugnet die Dialektik
sie als Wesen der Geschichte überhaupt verstehen muß. die Strukturen des Ungeschichtlichen in der Geschichte, auch
wenn sie nicht in der Antinomie von Geschichtlichkeit und jüngst vergangenen zu erkennenden Situation belanglos wird,
Ubergeschichtlichkeit versanden will. Denn die bestimmten wo dann diese für jene genommen werden darf.«70 Es ist nicht
Negationen geschichtlichen Werdens, die im Moment der ohne Ironie, daß gerade die werdende Identität das Wertpro­
kapitalistischen Weltproduktion als Erhaltung der Form blem nivelliert, so daß die Unterschiede >belanglos<, gleich­
durch die Krise liegen, gelangen nicht zur Ubergeschichtlich­ gültig werden. Identität wird zur bloßen Forderung, wird also
keit, sondern zur Negativität des Geschichtlichen und Nicht­ gerade als Identität wieder negiert. Es zeigt sich, daß die
geschichtlichen. Es ist dies die Bedingung der Möglichkeit bürgerliche Geschichtlichkeit selbst die antagonistische Ent­
aller Utopie. Hedinger kommt allerdings einem gesellschaftli­ zweiung in »totale Situationalität« und »Ubergeschichtlich-
chen BegreBen des >Wertes< insofern näher als Kichert, als er Ve\t« a\s Merkma\ ihrer Besonderheit, nicht als einer allge­
die Wertigkeit als realen Bestandteil gesellschaftlicher Grup­ meinen Allgemeinheit enthält. Bürgerliche Geschichte selbst
pen versteht: »Gruppen sind [. . .] hierarchisch gestufte ist das Absonderliche, das Wesen als Wesenlosigkeit, der Wen
Gefüge von bestimmten Intentionen und Kompetenzen - als als sich selbst aufhebendes gesellschaftliches Produktionsver­
Situationsinhalte mehrerer Menschen - , die in einer Grup­ hältnis. Durch die naive Suche nach >empirischer Stofflichkeit«
pendominante gipfeln; diese kann eine Autoritäts- oder Kon­ als Gewißheits-Komponente indes läßt sich Dialektik nicht
troversdominante sein.«67 »Wesentliche Änderungen der begreifen, weil sie sich ihr lediglich ausliefert. Die Verdoppe­
Gruppendominante geben Gesichtspunkte für eine Periodi- lung der Geschichte in Geschichte und Ubergeschichte zeigt
sierung.«68 Die Wertigkeiten und der ihnen zugrunde lie­ nur ihre eigentümliche, bisher blinde Zerrissenheit. Die
gende Hejrschaftscharakter der Produktionsverhältnisse wer­ gesellschaftliche Dialektik produziert ihre eigene Verödung:
den jedoch nicht selbst als gegenständliche Tätigkeit verstan­ wo diese ihr theoretisch bloß entgegengehalten wird, wird sie
den, sondern als Strukturen einer Kombinatorik >gegebener< sich stets affirmativ bestätigt finden. Revolutionäre Dialektik
Situationen und Verhalten. Anders als Rickert drückt Hedin­ aber ist keine, die sich rein im Jenseits zur bürgerlichen
ger immerhin die Dialektik aus, in der die Historik sich Dialektik aufzuhalten vermag. Sie ist keine Gegenmacht, son­
verfängt: als Antinomien; er stellt die Frage, ob die ontologi­ dern die Chance der inneren Beunruhigung und Auflösung
sche Fundierung der Situationalität als Grundzug aller der bürgerlichen Dialektik. Sie hat schmutzige Hände; aber
Geschichte nicht auch die These von der totalen Situationali­ sie hat jedenfalls Hände, weil sie einen Kopf hat und träumen
tät selbst betreffen müsse. Ist nämlich die These richtig, so kann.
müsse sie sich selbst unter die Situationalität subsumieren,
womit sie ihren Geltungscharakter situationell einschränke.
Es ist eine Antinomie, daß die Situationstheorie zwar die
generelle Situationsgebundenheit aller historischen Ereignis­ Anmerkungen
se, Strukturen und Verläufe behauptet, aber für sich als
Theorie Situationsfreiheit beansprucht.69 Solche Antinomien 1 Carl Schmitts Theorie des Partisanen (Berlin 1963), die auf einer polii-
entstehen, wie alle anderen, aus der Setzung der Extreme als ontologischen Freund-Feind-Struktur aufbaut, unterschlägt, daß zwar der
absolute Einseitigkeiten. Hedinger umgeht das Problem, Feind die eine Seite darzustellen vermag, der Freund aber schon ein inneres
Verhältnis der anderen Seite meint: Freund eines Freundes. In der bürgerlicher.
indem er, ähnlich wie Rickert, zum Modell der >Annäherung< Theorie wird aber seit je schon der Knecht, die unterdrückte Klasse, dann zum
an die Idee zurückkehrt. Er mildert die harte Forderung nach >Freund< der Herrschaft gezwungen, wenn es gilt, mit dessen Hilfe den nur
Identität der historischen Erkenntnis mit der geschichtlichen äußeren Feind zu besiegen.
Situation: »Selbsterkenntnis der Situation wandelt zwar die 2 Vgl. Rene Descartes, Regeln zu Leitung des Geistes, Hamburg 1959. Erfah­
rung und Deduktion werden als äußerliche, nämlich zwei Tätigkeiten des
Situation beständig; aber es kann der Punkt erreicht werden, Verstandes hingenommen. Das bleibt Kernpunkt des Empirismus.
wo die Differenz zwischen der frontal erkennenden und der 3 »Näher sollte nun das Erkenntnisvermögen vor dem Erkennen untersuch:

1 86
werden. Hierin liegt nun allerdings das Richtige, daß die Formen des Denkens 29 Th. W. Adorno, Z u r M e t a k r i t i k d e r E r k e n n t n is t h e o r i e , Stuttgart 1956.
selbst zum Gegenstand des Erkennens gemacht werden müssen; allein es 30 Ebda., S. 15/16.
schleicht sich auch bald das Mißverständnis ein, vor dem Erkennen schon zu 31 Ebda., S. 139.
erkennen oder nicht eher ins Wasser gehen zu wollen, bevor man schwimmen 32 Nicolai Hartmann, Z e it li c h k e it in: D e r p h il o s o p h i ­
u n d S u b s t a n t ia lit ä t ,
gelernt hat.« Hegel, a.a.O., S. 41, Zusatz 1. s c h e G e d a n k e u n d s e in e G e s c h ic h t e , A u fs ä t z e , Stuttgart o. J. (nach 1957)-
4 In: Gesellschaft, Nr. 2, Frankfurt 1974. 33 Ebda., S. 109.'
5 Das Hegel-Zitat zu Beginn soll auf den Unsinn aufmerksam machen, als 34 Ebda., S. 132.
gäbe es jemals »theorielose« Empirie. Die Frage an die Empirie ist nur, ob sie 35 Ebda., S. 113.
von ihrem theoretischen Durchdrungensein Kenntnis nimmt oder nicht. Es ist 36 Ebda.
eine skurrile Vorstellung, daß ohne Denken auch nur die dumpfeste Empfin­ 37 Ebda., S. 132.
dung bemerkt oder wahrgenommen werden könnte. Das Ganze gibt hier nur 38 Hegel, a.a.O., § 45, Zusatz.
Sinn, wenn >Theorie< gedacht wird in einer Möglichkeit, rein von aller Stofflich­ 39 Hartmann, a.a.O., S. 121.
keit zu existieren. Dies tut in der Tat der bürgerliche Idealismus, von dem Hegel 40 Ebda., S. 91.
bemerkte: »Das Erheben des Denkens über das Sinnliche, das Hinausgehen 41 Ebda., S. 102.
desselben über das Endliche zum Unendlichen, der Sprung, der mit der Abbre­ 42 Ebda.
chung der Reihen des Sinnlichen ins Übersinnliche gemacht werde, alles dieses 43 Ebda., S. 105.
ist das Denken selbst, dies Ubergehen ist nur Denken. Wenn solcher Übergang 44 Ebda., S. 1 o 1.
nicht gemacht werden soll, so heißt dies, es soll nicht gedacht werden.« (A.a.O., 45 Ebda., S. 13 1.
§ 5 °) 46 Hans-Walter Hedinger, S u b je k t i v it ä t u n d G e s c h ic h t s w is s e n s c h a ft .
6 Werner Flach, Anschauung, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, G r u n d z ü g e e in e r H is t o r i k , Berlin 1969, S. 62.
Hrsg. H. Krings u. a., Kösel-Verlag, S. 102. 47 Ebda., S. 603.
7 Vgl. Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt 1969. 48 Eine von mir erweiterte Zusammenstellung von Hedinger, a.a.O., S. 429.
8 Hegel, a.a.O., § 48. 49 Ebda., S. 433.
9 Vgl. Die Kant-Kritik Max Schelers, Der Formalismus in der Ethik und die 50 Heinrich Rickert, D a s P r o b le m d e r G e s c h ic h t s p h ilo s o p h ie , Heidelberg
Materiale Wertethik, in: Gesammelte Werke, Bd. 2, Bern 1954, vor allem: 1924, S. 29.
Formalismus und Apriorismus, S. 6 6 ff. Daß diese Forderung allerdings keines­ 51 Ebda., S. 48.
wegs derart gegensätzlich zu Kant ist, zeigt sich in Edmund Husserls Cartesia- 52 Vgl. ebda., S. 32.
nische Meditationen, Den Haag 1963. 53 Ebda., S. 77.
10 Vgl. Oskar Negt, Marxismus als Legitimationswissenschaft, in: Kontro­ 54 Ebda., S. 33.
versen über dialektischen und mechanischen Materialismus, Frankfurt 1969. 55 Ebda., S. 47.
1 1 Franz Bacon, Neues Organon, Berlin 1870, 1. Buch, Art. 39 ff. (Götzen­ 56 Ebda., S. 58.
bilder, Trugbilder, Idole), und Art. 43, S. 95. 57 Ebda., S. 60
12 Marx, MEW 23, S. 28. 58 Ebda., S. 62.
13 M. Scheler, a.a.O., S. 69. 59 Ebda., S. 69.
14 Vgl. etwa die Konstituierung des Geldes als Zirkulationsmittel durch das 60 Ebda., S. 70.
Auftreten und Verschwinden der personae dramatis. 61 Ebda., S. 119.
15 Scheler, a.a.O., S. 76. 62 Hedinger, a.a.O., S. 604.
16 Scheler, a.a.O., S. 77. 63 Ebda.
17 Ebda. 64 Ebda., S. 607/608.
18 Ebda., S. 77-78. 65 Ebda., S. 622.
19 Ebda., S. 79. 66 Ebda., S. 648.
20 Ebda., S. 80. 67 Ebda., S. 612.
21 Ebda., S. 75-76. 68 Ebda., S. 613^.
22 Marx, MEW 3, S. 5. 69 Vgl. ebda., S. 619 f.
23 Scheler, a.a.O., S. 69. 70 Ebda., S. 629.
24 Ebda., S. 70.
25 Ebda., S. 71.
26 Ebda., S. 71/72.
27 Ebda., S. 69.
28 Ebda., S. 70.

188
Helmut Reichelt, Joachim Hirsch sie sich nicht mit der Methodendiskussion nach Ricardo
anhand der Orginalliteratur vertraut gemacht haben.
Theorie und Empirie. Welche Problemstellung mag Marx aus dieser Kontroverse
Bemerkungen zu dem Aufsatz von F. Eberle übernommen haben bei gleichzeitigem Bruch mit der gesam­
ten Tradition? (Vgl. S. 44) »Nicht nur sieht Marx sehr deut­
und E. Hennig in Gesellschaft 2<
lich«, behaupten die Autoren, »daß die Ricardosche Methode
das Programm einer empirisch gehaltvollen Theorie nicht ein­
lösen konnte; es ist auch klar, daß dies im Rahmen der Ricar-
Uber den Aufsatz von F. Eberle und E. Hennig sind innerhalb doschen Deutung der Werttheorie nicht möglich ist« (S. 43 f.j.
der Redaktion der Gesellschaft und bei einigen Herausgebern Das Problem, um das es sich also bei der klassischen
Kontroversen entstanden. Wir sind der Ansicht, daß diese nicht Ökonomie und dann auch bei Marx handelt, war die Formu­
intern ausgetragen, sondern offen und öffentlich diskutiert wer­ lierung einer empirisch gehaltvollen Theorie.
den sollten. Diesem Zweck dient die nachfolgende kritische Po­ Sehen wir zunächst, wie sich den Autoren die Behandlung
lemik. Zur Erläuterung unserer Vorgehensweise ist zu sagen: dieser Problematik in der klassischen politischen Ökonomie
Wir gehen nicht explizit auf theoretische und methodische darstellt. Sie setzen ein bei Adam Smith, bei dem diese
Differenzen ein, die zwischen den Verfassern des kritisierten Kontroverse im Keim angelegt ist. Unter Berufung auf Sekun­
Aufsatzes bestehen mögen, und wir veröffentlichen unsere därliteratur wird hervorgehoben, daß eine »strenge Unter­
Kritik gemeinsam, obwohl wir jeweils verschiedene Aspekte scheidung von Theorie, historischer Darstellung und illustra­
bearbeitet haben - dies deshalb, weil es nicht darum gehen tivem Beispiel nicht vorliegt« (S. 28). Die Theorieansätze im
kann, Individuen auseinanderzudividieren, sondern theoreti­ Werk von Adam Smith sind nicht »konsequent ausgeführt, so
sche Positionen und ihre Konsequenzen einzuschätzen. daß sie auch nicht mit der Realität konfligieren können«
(S. 28). Dieser Widerspruch zwischen theoretischer Durch­
I. dringung und empirischer Orientierung läßt sich, wie betont
Beim ersten Lesen des Aufsatzes glaubt man, endlich einen wird, an der Werttheorie festmachen. »Nur für den Naturzu­
Text gefunden zu haben, in welchem ein Desiderat der Marx­ stand hat er eine logisch befriedigende Lösung, während er für
forschung wahrgenommen wird. Mit Recht weisen die beiden die kapitalistische Gesellschaft, von der Empirie ausgehend,
Autoren darauf hin, daß Marx mit der Literatur über den eine Theorie konstruiert, die in sich tautologisch ist.« Die
Methodenstreit nach Ricardo bekannt war, und gehen deshalb Arbeitswerttheorie gilt also nur für den Naturzustand (S. 29),
davon aus, daß man diese Literatur ebenfalls kennen muß, nicht jedoch für den Kapitalismus, der durch Einsatz von
wenn man die Marxsche methodologische Position verstehen konstantem Kapital und Bodenmonopol charakterisiert ist.
will, da anzunehmen ist, daß sie »auf diesem Hintergrund Aufgrund der »empirisch konstatierbaren Tatsache«, daß
entstanden« (S. 41) sei. Zwar wird drei Seiten später konsta­ Kapitaleigentümer einen Profit machen, der in einem
tiert, daß Marx bei der »Übernahme der Problemstellung bestimmten Verhältnis zum eingesetzten Kapital steht, und
[...] einen Bruch mit der Tradition [vollzieht] und [ .. .] so der Tatsache, daß der Eigentümer des Bodens Rente bezieht,
zu seiner eigenen methodologischen Position« (S. 44) gelangt. verwirft Adam Smith die Möglichkeit einer einheitlichen
Gleichwohl wird darauf insistiert, daß »Autoren, die nur Werttheorie. »Er versucht nicht, die Abstraktion so weit fort­
Hegel aus erster Hand kennen, während ihre Kenntnis der zuführen, daß möglicherweise ein Gemeinsames entdeckt wer­
damaligen politischen Ökonomie auf den Theorien über den den kann — dies hätte ja zur Folge, daß die unmittelbare
Mehrwert beruht , [ ...] die methodologische Bedeutung des Empirie nicht mehr mit der Theorie in Einklang zu bringen
Gelesenen nicht hinreichend erfassen« (S. 41) können, sofern ist« (S. 29). Und eine Seite später heißt es dann: »So ist denn

90
die spätere Auseinandersetzung in der Tat bei ihm angelegt« den Füßen wegzieht und ihn, im Gegensatz zu Ricardo, nicht
zu einer einheitlichen theoretischen Gesamtanschauung der
(s * 3 °)* . . . .
Wollen uns die Autoren wirklich glauben machen, daß eine abstrakten allgemeinen Grundlage des bürgerlichen Systems
solche Behandlung des Werkes von Adam Smith dazu angetan kommenJäßt.« Wir zitieren hier nicht Marx, um zu zeigen,
sein könnte, uns genauere Einsicht in die Problematik der daß dort >alles schon sehr viel besser steht<, sondern um darauf
Marxschen Theorie und die Genese seiner »methodologischen hinzuweisen, daß das ostentative Ubergehen von Marx die
Position« zu vermitteln? Warum wird notorisch vermieden, in Bedingung der Möglichkeit für eine Vorgehensweise ist, wie
diesem Zusammenhang auch einmal zur Kenntnis zu nehmen, sie von den Autoren praktiziert wird. Dies läßt sich in mehrfa­
wie Marx das Werk von Adam Smith beurteilt hat? So heißt cher Hinsicht zeigen.
es in den Theorien über den Mehrwert: »Es ist das große Die von Marx explizit vorgetragene Beurteilung des theore­
Verdienst von Adam Smith, daß er gerade in den Kapiteln des tischen Bewußtseins von Adam Smith und des Verhältnisses
ersten Buches, [. .. ] wo er vom einfachen Warenaustausch und von Smith und Ricardo widerspricht der Ausgangsthese von
seinem Gesetz des Werts übergeht zum Austausch zwischen Eberle und Hennig, der zufolge der Keim der ganzen Kontro­
vergegenständlichter und lebendiger Arbeit, zum Austausch verse bei Adam Smith angelegt sei und die weitere Entwick­
zwischen Kapital und Lohnarbeit, zur Betrachtung von Profit lung als Entfaltung dieser Kontroverse zu deuten ist. (Was
und Grundrente im allgemeinen, kurz zum Ursprung des sonst kann man unter »angelegt« verstehen?) Adam Smith, so
Mehrwerts [. .. ] fühlt, daß hier ein Riß eintritt, daß - wie behaupten die beiden Autoren, »versucht nicht, die Abstrak­
immer vermittelt, eine Vermittlung, die er nicht begreift - das tion so weit fortzuführen, daß möglicherweise ein Gemeinsa­
Gesetz im Resultat faktisch aufgehoben wird, mehr Arbeit mes entdeckt werden kann - dies hätte ja zur Folge, daß die
gegen weniger Arbeit (vom Standpunkt des Arbeiters), weni­ unmittelbare Empirie nicht mit der Theorie in Einklang zu
ger Arbeit gegen mehr Arbeit (vom Standpunkt des Kapitali­ bringen ist.« Dieser Satz ist in doppelter Weise decouvrie-
sten) ausgetauscht wird, und daß er hervorhebt und es ihn rend: es wird unterstellt, Adam Smith könne die Abstraktio­
förmlich irre macht, daß mit der Akkumulation des Kapitals nen unabhängig von der Lösung werttheoretischer Probleme
und dem Grundeigentum [.. .] eine neue Wendung, scheinbar des Austauschprozesses im Kapitalismus weitertreiben, nur
(und faktisch als Resultat) ein Umschlag des Gesetzes des würde er sich in Gefahr begeben, an der Realität zu scheitern.
Wertes in sein Gegenteil stattfindet. Es ist ebenso seine theo­ Wie stellen sich die Autoren diesen Vorgang vor? Bezeichnen­
retische Stärke, daß er diesen Widerspruch fühlt und betont, derweise finden wir dazu keinen einzigen Hinweis. Denn
wie es seine theoretische Schwäche ist, daß es ihn an dem hierbei müßten sie die Begriffe explizieren, mit deren Hilfe
allgemeinen Gesetz, selbst für den bloßen Warenaustausch, sie sich der »unmittelbaren Empirie« versichern, an welcher
irremacht, daß er nicht einsieht, wie dieser Widerspruch die weitergetriebenen Abstraktionen scheitern können. Die
dadurch eintritt, daß das Arbeitsvermögen selbst zur Ware Möglichkeit, daß die Wahrnehmung der Empirie bereits theo­
wird. [...] Ricardo hat das vor Adam Smith voraus, daß diese rievermittelt ist und diese abstrakte Polarisierung von Theorie
scheinbaren und resultatlich wirklichen Widersprüche ihn und »unmittelbarer Empirie« eine falsche Entgegensetzung
nicht beirren. Er steht darin hinter Adam Smith zurück, daß sein könnte, wird von den Autoren nicht in Erwägung gezo­
er nicht einmal ahnt, daß hier ein Problem liegt und daher die gen. Das zeigt sich an ihrem unkritischen Umgang mit Begrif­
spezifische Entwicklung, die das Gesetz der Werte im Kapita­ fen. So wird der Marxsche Begriff des konstanten Kapitals
lismus annimmt, ihn keinen Augenblick stutzig macht noch (den die klassische Ökonomie nicht kennt) unreflektiert
ihn beschäftigt« (Teil i, S. 53). Und einige Zeilen weiter heißt neben dem bürgerlichen Begriff der Produktionsfaktoren
es: »Es ist aber natürlich zugleich diese Einsicht A. Smiths, die gebraucht, ohne daran zu denken, daß beide Begriffe eine
ihn schwankend, unsicher macht, ihm den festen Boden unter bestimmte, aber unterschiedliche kategoriale Präformierung

192 i 93
dessen implizieren, was die beiden Autoren als »unmittelbare in der Lage waren, die Lohnkategorie von der des Profits zu
Empirie« apostrophieren. Diese Bedenkenlosigkeit verwun­ trennen. Wer es nicht ostentativ vermeidet, die Marxschen
dert um so mehr, als sie ja gerade methodenreflektierende Theorien über den Mehrwert zur Kenntnis zu nehmen, hätte
Erörterungen betreiben wollen und man bei solchen Veran­ das auch dort nachlesen können. » [ ...] sein Geschäft [war]
staltungen wohl ein Mindestmaß an begrifflicher Subtilität in der Tat ein doppeltes. [ ...] Einerseits der Versuch, in die
voraussetzen darf. Unseres Erachtens ist diese Nachlässigkeit innere Physiologie der bürgerlichen Gesellschaft einzudrin­
symptomatisch für eine Vorgehensweise, die ihre abstrakt­ gen, andrerseits aber zum Teil erst ihre äußerlich erscheinen­
unhistorische Konzeption des Verhältnisses von Theorie und den Lebensformen zu beschreiben und zum Teil noch für diese
Empirie nur um den Preis der Unterdrückung begrifflicher Erscheinungen Nomenklatur zu finden und entsprechende
Reflexion durchzuhalten vermag. Andernfalls wäre den Verstandesbegriffe, sie also zum Teil erst in der Sprache und
Autoren aufgefallen, daß sie sich in einem Zirkel bewegen im Denkprozeß zu reproduzieren. Die eine Arbeit interessiert
und bei der Formulierung ihrer eigenen Problemstellung auf ihn so sehr wie die andre, und da beide unabhängig von­
Kategorien verwiesen sind, in welchen sich je schon eine einander vorgehen, kommt hier eine widersprechende Vor­
bestimmte Auffassung dieses Verhältnisses niedergeschlagen stellungsweise heraus, die eine, die den innren Zusammen­
hat. Diese Einsicht läßt sich aber nicht abtrennen von einer in hang mehr oder minder richtig ausspricht, die andre, die mit
bestimmter (noch zu präzisierender) Weise historisch verfah­ derselben Berechtigung und ohne irgend ein innres Verhältnis
renden Erörterung ebendieses Verhältnisses. - ohne allen Zusammenhang mit der andren Auffassungsweise
Genau das vermeiden Eberle und Hennig. Sie unterstellen in — den erscheinenden Zusammenhang ausspricht« (Teil 2,
dem oben zitierten Satz, daß sich Adam Smith sozusagen frei S. 156).
entschließt, eine andere Lösung anzubieten, da die weiterge­ Diese Marxsche Einsicht systematisiert bestimmte theoreti­
triebenen Abstraktionen mit der Realität konfligieren könn­ sche Äußerungen von Adam Smith, mit denen die beiden
ten. Mit keinem Wort wird auf die »Realität« zur Zeit von Autoren nichts anzufangen vermögen und die sie deshalb in
Smith selbst eingegangen, allenfalls indirekt, und dabei zeigt den Anmerkungsapparat verbannen. Auf Seite 98 in der
sich, in welch fataler Weise ihr eigenes Wahrnehmungsvermö­ Anmerkung 116 heißt es: »Es finden sich jedoch auch Formu­
gen durch das von ihnen vertretene Theorie-Empirie-Ver- lierungen, die auf die Rudimente einer Arbeitswertlehre hin-
ständnis präformiert ist. Sie hätten bei Ronald Meek nachle- weisen«, und sie berufen sich dabei auf eine Passage, in der
sen können, wie die Formulierung jenes Sachverhalts bei Adam Smith ausführt, daß der Profit zurückzuführen ist auf
Adam Smith zustande kam, die beide Autoren als eine nicht die Arbeit fleißiger Leute, die »dem Material [.. .] Wert
weiter zu erörternde, selbstverständliche Aussage über die hinzufügt«. Wir zitieren den ganzen Satz von Adam Smith,
»unmittelbare Empirie« deklarieren: daß nämlich jedes Kapi­ weil wir auf die daran anknüpfende Bemerkung von Eberle
tal einen PYofit erwirtschaftet, der im Verhältnis zum einge­ und Hennig eingehen müssen: »Sobald sich das Kapital in den
setzten Kapital steht. Eben darin war Adam Smith der Händen einiger Personen gesammelt hat, werden natürlich
»unmittelbaren Empirie« seiner Zeit weit voraus. In seiner einige von ihnen ihr Kapital dazu verwenden, fleißige Leute
Begriffsbildung antizipiert er die erst herzustellende Allge­ zu beschäftigen, und sie mit Material und Lebensmitteln ver­
meinheit dieser Erscheinung. Seine beständige Betonung der sorgen, um aus dem Verkauf ihres Arbeitserzeugnisses,' oder
Tatsache, daß jedes Kapital einen Profit erwirtschaften soll, aus dem, was ihre Arbeit dem Material an Wert hinzufügt,
der im Verhältnis zum Einsatz steht, weist darauf hin, daß er Profit zu erlangen.« Dazu wird von Eberle und Hennig ange­
sozusagen stellvertretend das erst zu verbreiternde Selbstver­ merkt: »Hier ist der Profit nicht als Bestandteil des Wertes
ständnis der sich zu manufakturellen Kapitalisten umwan­ der Waren gedacht.« Aus dieser Bemerkung könnte man
delnden Handwerker artikuliert, die zu seiner Zeit noch nicht schließen, daß die beiden Autoren das Problem nicht begriffen
19 4 19 5
haben, mit dem sie sich beschäftigen. Einerseits betonen sie,
daß Smith eine »Produktionskosten-Theorie« vertrete, und wesentlichen Ricardo, wird versuchen, die Inkonsistenz in der
berufen sich dabei auf den Satz: »Arbeitslohn, Profit und I roduktionskostentheorie zu beseitigen; die dabei ange­
Rente sind die drei ursprünglichen Quellen aller wandte Methode ist in hohem Maße abstrakt« (a.a O ) Die
Tauschwerte« (S. 29), mit anderen Worten: der Wert der Autoren gehen, im Gegensatz zu Marx (der ja, wie sie sagen,
Waren wird konstituiert durch diese drei »Kostenbestandtei­ die gesamte Kontroverse kannte und vor dem Hintergrund
le« und nicht ausschließlich durch Arbeit. In dem zuvor dieser Kontroverse seine eigene »methodologische Position«
zitierten Satz aber führt Smith den Profit des Kapitalisten auf formulierte) davon aus, daß Ricardo direkt an die Aporien im
die Arbeit zurück, die dem Material so viel Wert hinzufügt Werke von Adam Smith anknüpft: »Will er A. Smith’ Wider­
daß sowohl der Arbeitslohn des Arbeiters wie der Profit des spruch in der Produktionskostenthcorie überwinden, so muß
Kapitalisten abgedeckt ist. In beiden Fällen ist natürlich der seine Theorie die Produktionsfaktoren auf einen einzigen
Profit Bestandteil des Warenwertes; doch das ist gar nicht das zurückführen, in seinem Falle: auf Arbeit« (S. 30). Eine solche
Problem: das Problem ist die Quelle des Gesamtwertes, nicht Interpretation ist überhaupt nur dann sinnvoll, wenn unter­
seine Bestandteile. Überdies ist die Anmerkung auch dann stellt wird, daß die gleichen Probleme vorliegen (denn wie
noch völlig falsch: der Profit ist — führt man ihn nicht auf stellt man sonst fest, daß die Theorie widersprüchlich ist?).
Zirkulationsgewmn zurück, was Adam Smith nie tut - immer Aber gerade das ist nicht der Fall. Ricardo, darauf wurde
Bestandteil des Warenwerts. schon hingewiesen, thematisiert als erster jenes Problem, das
Wir gehen auf einen weiteren Aspekt der oben zitierten nach Meinung der Autoren die Widersprüche bei Adam Smith
Aussage von Eberle und Hennig ein: »Er versucht nicht, die verursacht hat. Für ihre Darstellung können sie sich weder auf
Abstraktion so weit fortzuführen, daß möglicherweise ein die bürgerliche Dogmengeschichte noch auf einen einzigen
Gemeinsames entdeckt werden kann« (S. 29). Wovon ein Beleg in den Schriften von Ricardo berufen. Liest man
Gemeinsames? Das wird nicht gesagt; aber gleichgültig, von Ricardos Schriften, so muß man feststellen, daß er mit keinem
welcher Qualität dieses Gemeinsame ist und wessen Gemein­ Wort die Vermutung der Autoren unterstützt: er vertritt -
sames es ist: es hätte zur Folge, daß die »unmittelbare Empirie und das wird von Eberle und Hennig implizit und gegen ihre
nicht mehr mit der Theorie in Einklang zu bringen ist«. Abge­ eigene These bestätigt — von Anbeginn eine andere Auffas­
sung (vgl. S. 3 1).
sehen davon, daß .diese, wie schon erwähnt, »unmittelbare
Empirie« zur Zeit von Smith noch gar nicht allgemein Daß Eberle und Hennig schlecht geisteswissenschaftlich ver­
verbreitet war, imputieren sie ihm eine bereits werttheore­ fahren, wird spätestens dort offenbar, wo sie auf die Ursachen
tisch problematisierte Empirie, die so überhaupt erst von des Unterschieds zwischen Adam Smith und Ricardo einge-
Ricardo thematisiert wurde: daß nämlich gleich große Kapi­ hen. Man traut seinen Augen nicht, wenn man ohne weiteren
tale bei unterschiedlicher Zusammensetzung von fixem und Kommentar und ohne Begründung die Feststellung findet,
zirkulierendem Kapital (in Ricardos Kategorien) gemäß der daß dieser Unterschied eine »Ursache in der verschiedenen
Werttheorie nicht gleichen Profit abwerfen dürfen. Deutung [hat], die sie dem Begriff politische ökonomie<
Wir haben oben darauf hingewiesen, daß die Autoren ihre geben« (S. 31). Während Smith »politische Ökonomie« noch
eigene Interpretation des Verhältnisses von Theorie und (ganz im Sinne von Steuart gebraucht, der den antiken Begriff
Empirie bei Smith und Ricardo bzw. des Verhältnisses von der Ökonomie zur politischen Ökonomie - Regeln für die
Smith und Ricardo nur aufrechterhalten können um den Preis fürstliche Haushaltsführung - erweitert, ist sie für Ricardo die
einer notorischen Umgehung von Marx. Sie behaupten, daß Darstellung der Gesetze, welche die Verteilung des Reichtums
die »spätere Auseinandersetzung in der Tat bei ihm in der freigesetzten Konkurrenzgesellschaft regeln. Und wor­
[A. Smith, H. R.] angelegt« (S. 30) sei. »Die eine Schule, im auf ist zurückzuführen, daß Ricardo eine Auffassung formu­
liert, die sich von der Smithschen unterscheidet? Diese Frage
I96
l 97
beantworten die Autoren folgendermaßen: »Diesen Unter­ tisch-politischem Leben im mindesten beirren ließen. Wenn
schied in der Betrachtung führt Halevy im wesentlichen auf sie schon nicht Iden Versuch machen, ihre eigene unhistorische
den Einfluß von Say zurück.« Behandlung des Verhältnisses von Theorie und Empirie
Obwohl die Autoren nicht verraten, wie Ricardos Methode selbstkritisch politisch zu diskutieren, so sollte man wenig­
der Abstraktion genau aussah, halten sie doch fest, daß die stens erwarten können, daß die Briefssche Bemerkung zum
Ricardosche Methode »das Programm einer empirisch gehalt­ Anlaß genommen wird, die damalige »akademische Diskus­
vollen Theorie nicht einlösen konnte« (S. 43 f.). Andrerseits sion« und deren Theorieverständnis im Zusammenhang mit
wird wiederholt darauf aufmerksam gemacht, es sei kenn­ dem »praktisch-politischen Leben« zu erörtern. Zwar wird
zeichnend für »Ricardo, daß gerade seine abstrakte Methode darauf hingewiesen, daß ein »gut Teil der Ablehnung, die das
die Widersprüche der damaligen Gesellschaft klar zum Aus­ Ricardosche System hervorgerufen hat, politisch begründet«
druck brachte« (S. 36). »Die Ricardosche Theorie war, wenn ist, da die sogenannten Ricardianischen Sozialisten sozialisti­
auch nicht im Bereich dessen, was man heute als Mikroöko­ sche Schlußfolgerungen ziehen konnten, ohne sein System zu
nomie bezeichnet, durchaus empirisch gehaltvoll, und zwar verlassen (S. 36); aber das führt nicht zu Konsequenzen für
erheblich stärker als die seiner Nachfolger« (a.a.O.). Bei die­ eine eventuell andere Form der Erörterung des Verhältnisses
sen Feststellungen berufen sich die Autoren auf Sekundärlite­ von Theorie und Empirie. Wenn sich sozialistische Schlußfol­
rarisches, ohne genauere Auskunft darüber zu geben, inwie­ gerungen aus einem System ziehen lassen, ohne daß man
weit ein System von Sätzen das Programm einer empirisch dieses selbst verläßt, dann kann in der Tat dieses System für
gehaltvollen Theorie nicht einzulösen braucht, um trotzdem die »akademische Diskussion« nur gerettet werden um den
»empirisch gehaltvoll« zu sein. Der eigentliche Springpunkt Preis empirischer Irrelevanz. Was immer die Autoren aus dem
der Diskussion wird ausgeklammert. zustimmend zitierten Satz von G. Briefs (S. 39) herauslesen
mögen (man muß sich wundern, daß in einem Aufsatz, der
II. explizit das Verhältnis von Theorie und Empirie behandelt,
Daß Marx mit der postricardianischen Auseinandersetzung solche Sätze überhaupt durchgehen können), eine nahelie­
vertraut war, heben Eberle und Hennig zu Recht hervor; gende Schlußfolgerung wird jedenfalls nicht erwähnt (um
allerdings müssen wir uns auch hier wieder fragen, ob ihre nicht das eigene Selbstverständnis thematisieren zu müssen?):
Darlegungen geeignet sind, diese verschüttete Dimension in daß es konstitutiv für die »akademische Diskussion« sein
der bisherigen Erörterung der Marxschen Theorie freizule­ könnte, daß die weitere Erörterung der Theorie nur betrieben
gen, oder ob sie uns nicht Sand in die Augen streuen. Jeden­ werden kann um den von ihnen selbst erwähnten Preis »empi­
falls kann man sich dieses Eindrucks kaum erwehren, wenn sie rischer Irrelevanz«; oder anders: daß aus der Theoriediskus­
auf die Ricardo-Rezeption bei Mill eingehen und sich dabei sion etwas verschwindet, was sie eigentlich charakterisiert —
auf G. Briefs beziehen: »da die englische Wirklichkeit zu Mills die Theorie selbst. Das wird von Eberle und Hennig implizit
Zeiten mit Ricardo den inneren Kontakt verloren hatte, trans­ zugestanden. Verbinden sich in Ricardos Werttheorie »Me­
poniert Mill Ricardo in eine andere Wirklichkeit um, deckt thode und dargestellte Theorie zu einer Einheit« (S. 38), so
ihn vor aller Kritik, die von der Erfahrung ausgeht, dadurch, wird von den Begründern der abstrakten Schule »die Methode
daß er ihn zur Methode erhebt. Mill rettet Ricardo wenn unabhängig von den inhaltlichen Problemen der Ricardo-
schon nicht für das praktisch-politische Leben, so doch für die schen Theorie weiterentwickelt. Im weiteren Verlauf treten
akademische Diskussion« (S. 39). Diese Einschätzung von die Probleme, die Ricardo mit der Arbeitswertlehre hatte, als
G. Briefs wird kommentarlos zustimmend zitiert, ohne daß nicht-konstitutiv für die Methode der abstrakten Schule in
sich die Autoren von dem im letzten Satz enthaltenen Angriff den Hintergrund. [. ..] Ein Versuch, die methodologische
auf das Verhältnis von akademischer Diskussion und prak­ Diskussion an den inhaltlichen Problemen der Ricardoschen
198 199
Theorie zu reorientieren, wird von seinen Nachfolgern nicht
unternommen« (S. 39 h). Warum eigentlich nicht? Weil die das zweite ist sie formale Abstraktion, die an und für sich
Theorie dann nicht nur Methodologie wäre, sondern Theorie, falsch ist« (Theorien über den Mehrwert, Teil 2, S. 96 f.).
die für das »praktisch-politische Leben« Bedeutung haben Doch auch hier zeigt sich wieder, daß das notorische Nicht-
könnte? Vielleicht wegen der »sozialistischen Schlußfolgerun­ zur-Kenntfiis-Nehmen Methode hat. Wären die Autoren die­
gen«, die eine Reorientierung der Methodologie an inhaltli­ ser Bemerkung nachgegangen, so hätten sie erkennen müssen,
chen Problemen mit sich bringen könnte, und weil dann auch daß ihre eigene Behandlung der klassischen Ökonomie unzu­
die Form der akademischen Diskussion zum Problem wür­ länglich ist und daß ihre Vorstellung über das Marxsche
de? »Abstraktionsverfahren« der Marxschen Methode bei weitem
Angesichts der Feststellung von Eberle und Pfennig, daß nicht gerecht wird. Sie wären genötigt gewesen, die von Adam
»Marx mit der Literatur zum Methodenstreit nach Ricardo Smith und David Ricardo gebrauchten Kategorien explizit zu
[.. .] durchaus vertraut« (S. 41) war, und in Anbetracht ihrer thematisieren und die Frage zu stellen, inwieweit sich die
— übrigens nirgendwo auch nur andeutungsweise belegten — Arbeitswerttheorie mit den von Smith und Ricardo herange­
Vermutung, daß »seine methodologische Position [ ...] auf zogenen Begriffen überhaupt formulieren läßt. Aber ebenso­
diesem Hintergrund entstanden« (S. 41) sei, hätte man erwar­ wenig wie sie bereit sind, selbstkritisch ihre eigene Begriffs­
ten dürfen, daß sie jene —von ihnen selbst als selten bezeich- bildung zu reflektieren, gehen sie auf dieses Problem bei
neten — Äußerungen von Marx zum Methodenstreit Zusam­ Smith ein, sondern unterstellen vielmehr, daß er bei möglicher
mentragen würden, um von daher aufzuweisen, wie sich der Fortführung der Abstraktion an der Realität scheitern müßte.
Ökonomiekritiker Marx die —mit den Worten von Eberle und Um dies unterstellen zu können, sind sie gezwungen, Smith
Hennig — »Reorientierung« der methodologischen Diskussion Probleme zu unterschieben, die - wie erwähnt - erst Ricardo
an den inhaltlichen Problemen der Ricardoschen Theorie vor­ beschäftigt haben. So greift das eine ins andere: ihr unhistori­
stellt und so zu seiner eigenen »methodologischen Position« sches Verständnis des Verhältnisses von Theorie und Empirie
kommt. Immerhin behaupten sie ja doch mit Bestimmtheit, (bei dem sie hartnäckig annehmen, ihre eigene Auffassung
daß »die eigentliche Aufgabe der politischen Ökonomie [.. .] über »empirisch gehaltvolle Theoriebildung« sei immer schon
seiner Meinung nach in dem Erarbeiten eines Abstraktions­ die der gesamten politischen Ökonomie gewesen) geht einher
verfahrens [besteht], das die Ricardoschen Einsichten nicht mit einer geradezu systematischen Mißachtung kategorialer
preisgibt und zugleich den empirischen Einwänden den Boden Fragestellungen; und beides ist begleitet von einer fatalen
entzieht« (S. 43). Und sie hätten sich durch eine der »selte­ Unkenntnis der Geschichte der politischen Ökonomie.
nen« Äußerungen von Marx bestärken lassen können, in Es ist ein Unterschied, ob dieser theoretische Bezugsrahmen
denen er indirekt an den Methodenstreit anknüpft: »Ricardo aus historischen Gründen selbst noch der Kritik zugäng­
abstrahiert mit Bewußtsein von der Form der Konkurrenz, von lich ist, oder ob die Differenz zwischen bürgerlicher Theorie
dem Schein der Konkurrenz, um die Gesetze als solche aufzu­ und marxistischer Kritik, die auch die Formbestimmtheit auf­
fassen. Einerseits ist ihm vorzuwerfen, daß er nicht weit weist, in der sich theoretische Probleme stellen, schlicht igno­
genug, nicht vollständig genug in der Abstraktion ist, also zum riert und damit Geschichte eingeebnet wird auf das bürgerli­
Beispiel, wenn er den Wert der Ware auffaßt, gleich auch che Einerlei. Es scheint uns deshalb auch kein Zufall zu sein,
schon durch Rücksicht auf allerlei konkrete Verhältnisse sich wenn Eberle und Hennig, um ihre eigene Auffassung zu
bestimmen läßt, andrerseits daß er die Erscheinungsform untermauern, ohne theoretische Kriterien an wissenschaftli­
unmittelbar, direkt als Bewähr oder Darstellung der allgemei­ chen Gewährsleuten aufbieten, was in der bürgerlichen Wis­
nen Gesetze auffaßt, keineswegs sie entwickelt. In bezug auf senschaft gut (und auch weniger gut) ist.
das erste ist seine Abstraktion zu unvollständig, in bezug auf Die —an sich merkwürdige —Wendung beim Übergang zum
Marxschen Darstellungsprinzip überrascht dann auch nicht
200
201
sonderlich: anstatt —was man eigentlich erwartet hätte —an mie vortragen können, wie andererseits die Unterdrückung
den inhaltlichen und methodischen Problemen einer »darge­ der inhaltlichen und methodischen Probleme hinsichtlich der
stellten Arbeitswerttheorie« anzuknüpfen, um zu zeigen, wie Beziehung zwischen klassischer Ökonomie und Marxschem
der »allgemeine Begriff des Kapitals« das Programm einer Kapitalbegriff eine Deutung erlaubt, die in der Marxliteratur
»empirisch gehaltvollen Theorie« bei gleichzeitigem Bruch allerdings ein Novum ist: die Verwechslung des »allgemeinen
mit allen in der Methodenkontroverse vertretenen Positionen Begriffs des Kapitals« mit Geschichtsphilosophie.
einlöst (oder auch verfehlt), gehen sie auf den Darstellungsbe­
griff der Frühschriften ein, obwohl sie selbst behaupten, daß III.
die »Vermittlung von Theorie und Empirie [ ...] nur als Wir meinen, daß die in dem Aufsatz enthaltenen Fehlinter­
Kritik durchgeführt werden [konnte], und zwar sowohl in pretationen der Marxschen Methode die Autoren - mögli­
theoretischer als auch methodischer Hinsicht« (S. 44). Uber cherweise gegen ihre Absicht - schließlich dazu bringt, ent­
ihren längeren Auslassungen zum Darstellungskonzept scheidende Grundpositionen der Marxschen Theorie aufzuge­
anhand der Positionen in den frühen Schriften von Marx und ben, konkreter: revolutionäre Theorie durch ein kontempla­
in den methodologischen Hinweisen in der Einleitung zur Kri­ tiv »sinnverstehendes« Paradigmengeflecht zu ersetzen. Die­
tik der politischen Ökonomie haben sie jedoch diese ihre ser »Revisionismus« steht zwar unter dem Vorbehalt der
zentrale Behauptung wieder vergessen und unterstellen Marx Unabgeschlossenheit (S. 91), wird indessen mit großer
ein Abstraktionsverfahren, das sich von dem, welches ihrer Bestimmtheit vorgetragen und weist in sich eine konsistente
Meinung nach von Smith und Ricardo praktiziert wurde, Argumentationslinie auf. Unsere Anti-Kritik kann ihre Posi­
nicht unterscheidet. Smith unterstellen sie, daß er nicht ver­ tion hier eher statuieren denn entfalten, verfährt also insofern
sucht, »die Abstraktion so weit fortzuführen, daß möglicher­ »dogmatisch«. Wir sind gleichwohl keinesfalls der Auffas­
weise ein Gemeinsames entdeckt werden kann« (S. 29). Dieses sung, daß die Marxschen Schriften jeder Kritik entzogen sei­
Gemeinsame wird aber dann doch von Ricardo gefunden, der en, beharren aber darauf, daß eine solche Kritik auf der Höhe
»die Produktionsfaktoren auf einen einzigen zurückführt der methodologischen und wissenschaftstheoretischen Diskus­
[ ...] , auf Arbeit« (S. 30). Bei Marx hingegen ist dieses sion zu stehen hat.
Gemeinsame, das sich durch »möglichst umfassende Analyse In seinem dritten Teil (S. 44 ff.) enthält der Aufsatz zwei
des >Kapitals im besonderem [ ...] , durch spezifisch auf Allge­ Aussagen, die für die hier zur Debatte stehende Frage zentral
meingültigkeit gerichtete Abstraktionsleistungen« (S. 69) er­ sind: Erstens werden die von Marx im Kapital entwickelten
gibt, der »allgemeine Begriff des Kapitals«. Wie sich dieses allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Entwick­
»Gemeinsame« bei Marx zum »Gemeinsamen« bei Smith und lung zu einer geschichtsmetaphysischen Interpretationsfolie
Ricardo verhält, wird nicht einmal als Problem angedeutet, umdefiniert, was es möglich macht, den theoretischen Aussa­
obwohl Marx explizit hervorhebt, daß in diesem allgemeinen gen über den Charakter des kapitalistischen Entwicklungs­
Begriff eben jene Aporien der klassischen Arbeitswerttheorie prozesses je nach Bedarf gar keine oder historisch bzw.
aufgehoben werden, die von den beiden Autoren als zentral regional eingeschränkte Gültigkeit zuzuschreiben und sie
bestimmt werden und die sie zu der Bemerkung veranlassen unter Verweis auf die Vielfältigkeit der Welt der Erscheinun­
(s. o.), daß »die Vermittlung von Theorie und Empirie nur als gen zu relativieren. Was bei Marx historisches Gesetz oder
Kritik durchgeführt [werden] konnte«, also doch wohl als bestimmende Tendenz ist, erhält hier den Status einer hin­
Kritik der politischen Ökonomie. Auch hier zeigt sich, daß sie sichtlich ihrer Bedingungen theoretisch nicht mehr bestimm­
nur unter der Voraussetzung einer schlichten Ignorierung baren Möglichkeit. Die in der Struktur der kapitalistischen
zentraler Momente des Marxschen »allgemeinen Begriffs des Produktionsweise liegende Entwicklungslogik wird ersetzt
Kapitals« ihre eigene Vorstellung über die klassische ökono­ durch je spezifische, als kontingent angesehene historische

202
Konstellationen, die mit Hilfe der Marxschen Theorie klassifi­ »feudalen« Beschränkungen der Mobilität von Kapitalien und
zierend interpretiert, aber nicht mehr als notwendig bestimmt Arbeitskräften von »freier« Konkurrenz spricht, so meint er
werden können. damit gerade nicht »vollständige« Konkurrenz in der markt­
Zweitens wird das Verhältnis von »Politik« und »Ökono­ morphologischen Begriffsbestimmung der bürgerlichen N a­
mie« in einer Weise bestimmt, die von einer fundamentalen tionalökonomie als einer auf eine besondere historische
Eigenständigkeit politischer Prozesse oder, konkreter, der Etappe des Kapitalismus »anwendbaren« Kategorie. Viel­
Aktionen des bürgerlichen Staates ausgeht und damit die mehr meint dies freie Verfügung der Kapitalisten über Pro­
Möglichkeit einer prinzipiell unbeschränkten, politisch ver­ duktionsmittel und der Proletarier über ihre Arbeitskraft und
mittelten »Anpassungsfähigkeit« des Kapitalismus, d. h. eine ihr wechselseitiges Aufeinandertreffen als »Warenbesitzer«.
strukturell uneingeschränkte politische Manipulierbarkeit ge­ »Freie Konkurrenz« ist somit Strukturmerkmal des Kapitalis­
sellschaftlicher Widersprüche, unterstellt. Die Schranke der mus und Exekutor seiner Bewegungsgesetze zugleich, unge­
politischen Steuerung gesellschaftlicher Prozesse wird nicht achtet der Tatsache, daß ihre Bewegungsform sich im Zuge
mehr in der eigentümlichen Formbestimmtheit des bürgerli­ der kapitalistischen Entwicklung verändert hat. Wenn der
chen Staates gesehen, sondern scheint sich auf wiederum Begriff der Konkurrenz indessen als deskriptive Oberflächen­
historisch zufällige, jedenfalls nicht strukturell bestimmbare kategorie gefaßt wird (vgl. S. 74, 82) oder, allgemeiner, analy­
Macht- und Einflußkonstellationen zu reduzieren. tische Strukturkategorien als empiristische Zustandsbeschrei­
Das Negieren objektiver Gesetzmäßigkeiten der kapitalisti­ bungen gelten, dann kommt man mit einiger Notwendigkeit
schen Entwicklung und die Annahme einer strukturell unein­ dahin, den Kapitalismus in sich qualitativ unterscheidende
geschränkten Manipulierbarkeit gesellschaftlicher Wider­ historische Phasen zu zerlegen, für die jeweils besondere
sprüche unterlegen dem historischen Prozeß eine universelle Gesetzmäßigkeiten gelten, und schließlich Marx zu einem
Kontingenzannahme. Die Marxsche Kapitalismusanalyse ge­ zwar verdienstvollen, indessen teilweise veralteten Wirt­
rät so zu einem heuristischen Begriffssystem, das bezüglich schaftshistoriker zu erklären.
einer verwirrenden Vielzahl empirischer Fakten »Sinnent­ Auf ähnlicher Ebene liegt die Behauptung einer regionalen
würfe« oder »Gesamtschauen« ermöglicht, aber keine be­ Beschränktheit der Marxschen Analysen, etwa wenn unter­
stimmten Aussagen über die Richtung konkreter gesell­ stellt wird, die Darstellung im Kapital »beziehe« sich »auf die
schaftlicher Prozesse mehr zuläßt. Damit wäre sie allerdings empirische Realität« Englands als des »seinerzeit durchkapi-
als revolutionäre Theorie erledigt. talisiertesten Landes« (S. 75). Es »bezieht« sich die kategoriale
Diesem Vorgehen liegen zunächst einige gravierende Irrtü- Darstellung im Kapital so unmittelbar auf gar keine »empiri­
mer über den theoretischen Stellenwert der kapitalismusana­ sche Realität«, sondern ist die theoretische Entwicklung der
lytischen Aussagen im Kapital zugrunde. Zwar gehen die »Kernstruktur« einer historischen Gesellschaftsformation, die
Verfasser nicht so weit, die Marxsche Kritik der politischen sich auf der Ebene der Erscheinungen in jeweils noch zu
Ökonomie pauschal zur deskriptiv-analytischen Charakteri­ bestimmender und »abzuleitender« Form ausprägt. Und
sierung des frühen »Konkurrenz«kapitalismus im 18. und wenn schon, so »bezieht« sich die Marxsche Darstellung auf
19. Jahrhundert aufzufassen und somit als veraltet zu erklä­ die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft, sans phrase
ren; aber sie kommen einer derartigen Position immerhin gewissermaßen, liefert England für Marx dank seines Ent­
recht nahe. Dieser Effekt entsteht durch einige Unklarheiten wicklungsgrades das reichste empirische Material für die For­
darüber, was Aussagen auf der Ebene des »Kapitals im allge­ schung und bietet sich an für das, was er treffender als »Illu­
meinen« logisch bedeuten und was ihre Prämissen sind. Wenn stration« bezeichnet hat.
z. B. Marx die Konkurrenz als im Begriff des Kapitals Die Zielrichtung des Versuchs, Marx eine voluntaristisch
enthalten bestimmt und im Unterschied zu überkommenen »geschichtsphilosophisch«, gefärbte und damit unzulässige

204 2C5
Verallgemeinerung einer speziellen kapitalistischen Entwick­ Die Fehlinterpretation des theoretischen Status der Analyse
lungsvariante zu unterstellen, ist nicht zu übersehen: es kann im Kapital hat zur Folge, daß den dort entfalteten Struktur-
alles auch ganz anders verlaufen, als Marx es —verfangen in und Entwicklungsgesetzen wegen ihrer fehlenden unmittelba­
der Betrachtung Englands — angenommen hat. Was dabei ren »Anwendbarkeit« auf beliebige empirische Fälle tenden­
übersehen wird, ist dies: daß Marx im Kapital eine Analyse ziell Realität überhaupt abgesprochen wird. Was anderes als
historisch-konkreter Entwicklungsverläufe einzelner Länder die »reale« Tendenz je »besonderer« Kapitalismen soll indes­
weder geben konnte noch wollte (wenn auch die eingefügten sen das »allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumula­
Illustrationen eine derartige Interpretation nahelegen könn­ tion« in Kapital I darstellen? (vgl. S. 70) - oder kennen Eberle
ten), sondern daß er die allgemeinsten Strukturzusammen­ und Hennig einen »besonderen Kapitalismus«, der nicht vom
hänge und Entwicklungsgesetzlichkeiten einer Produktions­ Zwang der Akkumulation beherrscht wird, nicht seine eige­
weise unter vorläufiger Absehung von der konkreten Art und nen gesellschaftlichen Voraussetzungen auf erweiterter Stu­
Weise ihrer erscheinenden Durchsetzung entwickelt, daß die fenleiter reproduziert, nicht seine technologische Basis revo­
Bestimmung dieser Strukturzusammenhänge und Gesetzmä­ lutioniert und seine industrielle Reservearmee herstellt?
ßigkeiten als reale, unmittelbar wirksame, wenn auch unter Zumindest in der Marxschen Theoriedebatte ist das zentrale
vielfältigen Modifikationen und historischen Besonderheiten Problem deshalb nicht so sehr, oh diesem Gesetz historische
sich durchsetzende es theoretisch überhaupt erst erlaubt, aus­ Realität zukommt, sondern was seine historisch-konkrete
gehend von einem Begriff der dominanten Produktionsweise Erscheinungs- und Durchsetzungsweise ist. Hier, d. h. auf
»Überreste« vorangegangener Gesellschaftsformationen, Mo­ einer Problemebene, welche die Autoren einfach hinwegeska-
difikationen, Gegentendenzen usw. als solche zu charakteri­ motieren, stellen sich die in der Tat wichtigen Fragen für
sieren. marxistische Theoriebildung und Forschung, z. B. in bezug auf
Die Verwechslung von Strukturkategorien mit deskriptiven die Formulierung einer Krisentheorie. Wenn aber die von
Begriffen führt dann zu der fast absurd anmutenden Argu­ Marx formulierten allgemeinen Gesetzmäßigkeiten kurzer­
mentation, die die heutige Existenz nicht durchkapitalisierter hand und mittels einer fehlgeleiteten Konfrontation von
Länder als Falsifikation der These von der weltmarktherstel- »Theorie« und »Empirie« in den Wolkenhimmel metaphysi­
lenden Tendenz des Kapitals ins Feld führt (S. 81 ff.). Wenn scher Konstrukte gehoben werden, muß es in der Tat schwer­
sich das Kapital tatsächlich als zu schwach erweist, »den Welt­ fallen, in der »vielfältigen Realität von Arbeitern und Kapita­
markt herzustellen«, dann nicht, weil die Tendenz nicht listen« (S. 81) »zufällige« und »unwesentliche« Momente von
stimmt, sondern weil es sich um eine widersprüchliche Ten­ den bestimmenden und wesentlichen zu unterscheiden. Die in
denz handelt, in der die sich in Akkumulationskrisen und dieser Hinsicht Marx unterstellte analytische Schwäche (S. 84)
Klassenkämpfen äußernde Schranke des Kapitals immer erweist sich bei näherem Hinsehen als eine der Verfasser:
schon enthalten sein muß. Dies bedeutet, daß die Weltmarkt­ Wenn Marx im Kapital nicht auf den Weltmarkt, die Bewe­
tendenz des Kapitals — und so ist sie Basis jeder Imperialis- gung der Marktpreise, die Zyklen, die Perioden des Kredits
mustheorie — als fundamental krisenhafte bestimmt werden eingeht, so tut er dies nun in der Tat nicht »ohne ausreichende
muß und nicht als schiere mechanische Ausbreitung gefaßt Gründe«, sondern deshalb, weil die dort eingehaltene Ebene
werden darf. Auf ähnlicher Ebene liegt die Behauptung, daß der Analyse es nicht zuläßt. Er betrachtet diese Momente
die im Kapital entwickelten Kategorien wegen ihrer England- nicht als »zufällig« und »unwesentlich«, wie in falscher Zitat­
Spezifik nicht auf den »staatsinterventionistischen« deutschen zusammenstellung unterschoben wird, sondern weil er weiß,
Kapitalismus anwendbar seien (S. 87). Auch hier liegt die daß die Analyse der inneren Organisation der Produktions­
Beweislast mit unübersehbarer Eindeutigkeit bei den Auto­ weise, ihrer Kernstruktur, Voraussetzung ist für die Untersu­
ren. chung der Konkurrenz als des Modus, mittels dessen die
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immanenten Gesetzmäßigkeiten der Produktionsweise sich im Verhältnis von Politik und Ökonomie alles mit allem
den Produktionsagenten als blinde Notwendigkeit aufherr­ irgendwie zusammenhängt, so befindet man sich klar auf dem
schen. Es ist nicht zu übersehen, daß sich die Zweifel an Marx Boden einer Pluralismus- und Handlungstheorie, die sich ver­
auf ein fundamentales Mißverständnis des logischen Gangs bal »marxistisch« gibt, gleichzeitig aber den Versuch darstellt,
seiner (allerdings unvollendet gebliebenen) Analyse und des den politischen Gehalt der Marxschen Theorie zu erledigen.
theoretischen Stellenwerts ihrer einzelnen Schritte gründen Insofern ist dieses Vorgehen paradigmatisch für die aktuelle
Dieses Mißverständnis prägt denn auch wesentlich die von Tendenz in den bürgerlichen Sozialwissenschaften, die politi­
den Autoren vorgenommene Bestimmung des Verhältnisses sche Stoßrichtung der in den vergangenen Jahren im Kontext
von »Politik« und »Ökonomie«. Jedenfalls beinhaltet die wachsender gesellschaftlicher Konflikte wieder breiter gewor­
Behauptung, Politik gehöre für Marx »nicht zum Bereich des denen materialistischen Wissenschaftskritik in ihr Gegenteil
gesellschaftlichen Zentralgebiets«, habe »keine systematische zu verkehren.
Stelle in der Analyse« (S. 87), eine nahezu groteske Fehlinter­ Allerdings ist, und soweit ist den Autoren recht zu geben, das
pretation des Marxschen Gesamtwerks, soll dieser Satz nicht Verhältnis der »politischen« zu den »ökonomischen« Schriften
mehr besagen als die Trivialität, daß Marx vom bestimmen­ Marx’ in der Tat »offen« (S. 90) - freilich nicht im Sinne theo­
den Charakter der ökonomischen Basis gegenüber den Bewe­ retischer Beliebigkeit und eklektischer Ausbeutbarkeit, son­
gungen des Überbaus ausgeht. Wenn man freilich unterstellt, dern wegen eines an wesentlichen Stellen immer noch unein­
daß im Marxschen »Darstellungsverständnis« die »Dialektik gelösten, aber recht klar vorgezeichneten Forschungspro­
von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen« und gramms. In der Tat setzt eine kategorial strikte Analyse der
nicht der Klassenkampf der »Motor der gesellschaftlichen Prozesse im politischen Apparat der bürgerlichen Gesellschaft
Dynamik« sei (S. 85), so macht man sich eben der ökonomi- eine über die Darlegung allgemeiner Strukturzusammen­
stisch verkürzten Marxinterpretation schuldig, die man an hänge und Gesetzmäßigkeiten der Kapitalbewegung hinaus­
anderer Stelle kritisiert. Die Autoren übersehen offenbar, daß gehende, historisch konkretisierte Bestimmung der Konkur­
die im Kapital entwickelten werttheoretischen Kategorien renz, des Weltmarkts, der Entwicklung und Differenzierung
gerade das theoretische Instrumentarium zur Entschlüsselung der Klassen, des Krisenzyklus, der die Gesellschaftsformation
von Klassenbewegungen und Klassenkämpfen darstellen, daß unter der Dominanz der kapitalistischen Produktionsweise
das »allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation« charakterisierenden historischen Verwerfungs- und Ungleich­
die von den Produktionsagenten quasi bewußtlos produzier­ zeitigkeitserscheinungen usw. voraus. D. h. nicht zufällig folgt
ten, sich ihnen gegenüber als blinde Naturgewalt äußernden im Marxschen Aufbauplan der Abschnitt über den Staat erst,
Bedingungen formuliert, unter denen sich Klassenkämpfe ent­ wenn die Konkurrenz entwickelt ist. Wenn man so will, so
wickeln. Die Behauptung, Marx habe »Politik aus der Dar­ fehlen —was die Analyseebene angeht —zwischen dem Kapital
stellung ausgeklammert« (S. 85), kann nur der aufstellen, der und den politischen Schriften einige analytische Zwischen­
»Politik« a priori als einen abgesonderten, von Kapitalbewe­ glieder. Fest steht aber immerhin, daß die Kategorien des
gungen und Klassenkämpfen losgelösten Vorgang begreift, Kapital —so in bezug auf den »notwendigen Schein« des äqui­
also vom theoretischen Stellenwert des Begriffs »Überbau« valenten Tauschs, des Warenfetischs, des Prozesses der einfa­
wenig ahnt. Diese Form der Trennung von Politik und chen Reproduktion als Selbstreproduktion des kapitalisti­
Ökonomie ermöglicht es indessen, zwanglos die theoretischen schen Klassenverhältnisses, die Gesetze der Kapitalakkumu­
Grundannahmen der traditionellen bürgerlichen Politologie lation und des tendenziellen Falls der Profitrate, die Formen
im Gewände Marxscher Terminologie zu reproduzieren: der Revenuen und ihre Entstehung — erst entwickelt sein
Wenn sich, grob gesprochen, gesellschaftstheoretische Bestim­ müssen, bevor es zu einer strikten, kategorial angeleiteten
mungen politischer Prozesse zu der Aussage verdünnen, daß Analyse der Konkurrenz, der Klassenbewegungen, der Krise
208 209
und schließlich der politischen Prozesse im bürgerlichen
Staatsapparat kommen kann. Wie die Autoren selbst aner­
kennen, hatte Mafx einige praktische Veranlassung, seine
politischen Schriftem zu schreiben, ohne diesen kategorialen
Prozeß zu Ende geführt zu haben. Dann aber richtet sich der
Versuch, scheinbar methodologisch argumentierend die poli­
tischen Schriften gegen das Kapital zu setzen, einen Natio­
nalökonomen, Geschichtsphilosophen und politischen Schrift­
steller Marx gegeneinander auszuspielen, eindeutig gegen
die Kritiker und ihr theoretisches Marxverständnis. Schon
eine oberflächliche Kenntnis des methodologischen Vorge­
hens und des theoretischen Stellenwerts seiner Schriften müßte
jedenfalls den Versuch zunichte machen, aus angeblichen
Widersprüchen bei Marx das Postulat einer »Gleichberech­
tigung von Politik und Ökonomie« (S. 87) abzuleiten und
damit den Marxschen Ansatz auf den Kopf zu stellen.
Wohlgemerkt: Wir halten die im Aufsatz angeschnittenen
Fragen durchaus nicht für gelöst. Die hier von den Autoren
geleistete Kritik ist aber eher ein Beitrag dazu, das Problem
weiter zu verwirren. Jedenfalls will uns scheinen, als seien
»revisionistische« Positionen schon besser begründet worden.
Wenn also Marx im Kapital »die Dimensionen politisch­
sozialer und politisch-psychologischer Prozesse« nicht unmit­
telbar aufgreift, so gewiß nicht deshalb, weil er sie »als kate-
gorial unwesentliche Verunreinigungen ökonomischer Ent­
wicklungen faßt« (S. 88), sondern weil er sich vor theoreti­
schen und methodologischen Konfusionen zu hüten weiß -
eine Leistung, der sich auch Marx-kritische Untersuchungen
befleißigen sollten.
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