Sie sind auf Seite 1von 160

SUS AN SON TAG

Das Leiden
anderer
betrachten

Hanser
Susan Sontag
Das Leiden
anderer
betrachten

Aus dem Englischen


von Reinhard Kaiser

Carl Hanser Verlag


Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals
 unter dem Titel Regarding the Pain of Others
bei Farrar, Straus and Giroux in New York.

         

ISBN ---
©  by Susan Sontag
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München Wien 
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany
Für David
»... aux vaincus!«
Baudelaire

»The dirty nurse, Experience ...«


Tennyson

Im Juni  veröf-


fentlichte Virginia Woolf unter dem Titel Drei Guineen
ihre ebenso mutigen wie unerwünschten Gedanken
über die Wurzeln des Krieges. Das Buch war während
der beiden voraufgegangenen Jahre entstanden, in de-
nen sie und die meisten ihrer Freunde und Schrift-
stellerkollegen mit Spannung verfolgten, wie sich der
faschistische Aufstand in Spanien entwickelte, und es
hatte die Form einer verspäteten Antwort auf einen
Brief, in dem ein prominenter Londoner Anwalt die
Frage gestellt hatte: »Wie sollen wir Ihrer Meinung
nach Krieg verhüten?« Woolf beginnt mit der scharfen
Bemerkung, daß ein wirklicher Dialog zwischen ihnen
vielleicht gar nicht möglich sei. Denn auch wenn sie
beide der gleichen sozialen Schicht, »der gebildeten
Klasse«, angehören, seien sie durch eine tiefe Kluft ge-
trennt: der Anwalt sei ein Mann und sie eine Frau. Män-
ner führen Krieg. Männer (die meisten Männer) schät-
zen den Krieg, denn für sie liegt »eine gewisse Glorie,
eine gewisse Notwendigkeit, eine gewisse Befriedigung
im Kämpfen«, die Frauen (die meisten Frauen) nie
empfunden oder genossen haben. Was weiß denn schon


eine gebildete – lies: privilegierte, wohlhabende – Frau
wie sie vom Krieg? Kann ihr Zurückschrecken vor der
Verlockung des Krieges dem seinen gleichen?
Lassen Sie uns diese »Verständigungsschwierigkeit«
prüfen, schlägt Woolf vor, indem wir uns gemeinsam
Bilder vom Krieg ansehen. Es sind Fotos, die die be-
drängte Regierung der Spanischen Republik eine Zeit-
lang zweimal wöchentlich verschickt hat; in einer Fuß-
note heißt es dazu: »Geschrieben im Winter -«.
»Lassen Sie uns also sehen«, erklärt Woolf, »ob wir,
wenn wir dieselben Fotografien betrachten, dieselben
Dinge fühlen.« Sie fährt fort:

Die Auswahl des heutigen Morgens enthält die Foto-


grafie von etwas, was der Körper eines Mannes sein
könnte oder einer Frau; er ist so verstümmelt, daß er
auch der Körper eines Schweines sein könnte. Aber
das hier sind ganz gewiß tote Kinder, und das da ist
unzweifelhaft der Schnitt durch ein Haus. Eine
Bombe hat die Seite aufgerissen; immer noch hängt
ein Vogelkäfig in dem, was vermutlich das Wohn-
zimmer war …

Am schnellsten und nüchternsten läßt sich die innere


Bewegung, die von diesen Fotografien ausgelöst wird,
in der Feststellung vermitteln, daß man nicht immer
erkennen kann, was auf ihnen zu sehen ist, so verhee-
rend ist die dargestellte Zerstörung, die über Leiber
und Steine gekommen ist. Von hier aus gelangt Woolf
rasch zu ihrer Schlußfolgerung: »Wie unterschiedlich


die Erziehung und die Traditionen hinter uns auch
sein mögen, unsere Empfindungen sind dieselben«, er-
klärt sie dem Anwalt. Ihr Beweis: »Wir« – mit diesem
»Wir« sind die Frauen gemeint – und »Sie« (der An-
walt) reagieren mit den gleichen Worten.

Sie, Sir, nennen sie [die Empfindungen] »Entsetzen


und Abscheu«. Wir nennen sie ebenfalls Entsetzen
und Abscheu … Krieg, sagen Sie, ist eine Abscheu-
lichkeit; eine Barbarei; Krieg muß um jeden Preis
verhindert werden. Und wir sprechen Ihre Worte
nach. Krieg ist eine Abscheulichkeit; eine Barbarei;
Krieg muß verhindert werden.

Wer glaubt heute noch, der Krieg lasse sich abschaffen?


Niemand, nicht einmal die Pazifisten. Wir hoffen al-
lenfalls (und bisher vergebens), dem Völkermord Ein-
halt gebieten und diejenigen vor Gericht stellen zu
können, die schwere Verstöße gegen das Kriegsrecht
begangen haben (denn auch im Krieg gibt es Gesetze,
an die sich die Kombattanten halten sollen), und wir
hoffen darauf, bestimmten Kriegen ein Ende zu ma-
chen, indem wir auf dem Verhandlungsweg Alternati-
ven zur bewaffneten Auseinandersetzung finden. Viel-
leicht fällt es uns heute schwer, jene verzweifelte, aus
dem Schock über den Ersten Weltkrieg resultierende
Entschlossenheit zu würdigen, die sich einstellte, als
man zu erkennen begann, welche Verwüstungen Eu-
ropa sich selbst zugefügt hatte. Es schien damals nicht
ganz aussichtslos, den Krieg als solchen im Gefolge der


Papierphantasien des Kellogg-Briand-Pakts von 
zu ächten, in dem fünfzehn Großmächte, unter ihnen
die Vereinigten Staaten, Frankreich, Großbritannien,
Deutschland, Italien und Japan, dem Krieg als einem
Instrument nationaler Politik feierlich abschworen;
sogar Sigmund Freud und Albert Einstein beteiligten
sich  an dieser Debatte, indem sie unter der Über-
schrift »Warum Krieg?« einige offene Briefe wechsel-
ten. Woolfs Essay Drei Guineen, der am Ende von fast
zwei Jahrzehnten vehementer Plädoyers gegen den
Krieg erschien, war insofern originell (und wurde da-
her weniger positiv aufgenommen als alle ihre anderen
Bücher), als er sein Augenmerk auf einen Aspekt rich-
tete, der so offenkundig oder so unangebracht zu sein
schien, daß man ihn keiner Erwähnung und erst recht
keiner Überlegung für wert hielt: auf die Tatsache
nämlich, daß der Krieg Männersache ist – daß die
Kriegsmaschinerie ein Geschlecht hat und daß sie
männlich ist. Bei aller Kühnheit, durch die sich Woolfs
Beitrag zu der Frage »Warum Krieg?« auszeichnet,
bleibt ihr Abscheu vor dem Krieg in seiner Rhetorik
und seinen an Wiederholungen reichen Zusammen-
fassungen jedoch durchaus konventionell. Und Foto-
grafien von Kriegsopfern sind selbst eine Art von Rhe-
torik. Sie insistieren. Sie vereinfachen. Sie agitieren.
Sie erzeugen die Illusion eines Konsensus.
Unter Berufung auf dieses hypothetische gemein-
same Erleben (»wir sehen mit Ihnen dieselben toten
Menschen, dieselben zerstörten Häuser«) bekundet
Woolf ihre Überzeugung, daß die Erschütterung, die


von solchen Bildern ausgeht, unweigerlich zwischen
Menschen guten Willens Einigkeit stiften muß. Aber
tut sie das? Gewiß, Woolf und der nicht genannte
Adressat dieses Briefes von Buchlänge sind keine x-be-
liebigen Personen. Auch wenn sie durch die uralten
Empfindungs- und Handlungsmuster ihres jeweili-
gen Geschlechts voneinander getrennt sind, wie Woolf
gleich eingangs deutlich macht, ist der Anwalt doch
kein typischer, kriegslüsterner Vertreter seines Ge-
schlechts. Seine Ablehnung des Krieges steht genauso
außer Frage wie ihre eigene. Schließlich lautete seine
Frage nicht: »Wie denken Sie über die Verhütung von
Krieg?«, sondern: »Wie sollen wir Ihrer Meinung nach
Krieg verhüten?«
Gerade dieses »Wir« stellt Woolf zu Beginn ihres
Buches in Frage: sie will ihrem Gesprächspartner ein
solches selbstverständliches »Wir« nicht durchgehen
lassen. Aber nach den Passagen, in denen sie ihren
feministischen Gesichtspunkt darlegt, fällt sie selbst in
dieses »Wir« zurück.
Wo es um das Betrachten des Leidens anderer geht,
sollte man kein »Wir« als selbstverständlich voraus-
setzen.

Wer sind die »Wir«, an die sich solche erschütternden


Bilder richten? Zu diesem »Wir« gehören nicht nur die
Sympathisanten eines eher kleinen Landes oder eines
Volkes ohne Staat, das um seine Existenz kämpft, son-
dern auch das sehr viel größere Publikum all derer, die


sich, ohne direkt in Mitleidenschaft gezogen zu sein,
davon betroffen fühlen, daß in einem anderen Land
ein schmutziger Krieg stattfindet. Die Fotografien sind
ein Mittel, etwas »real« (oder »realer«) zu machen, das
die Privilegierten und diejenigen, die einfach nur in
Sicherheit leben, vielleicht lieber übersehen würden.
»Hier auf dem Tisch vor uns liegen also Fotogra-
fien«, beschreibt Woolf das Gedankenexperiment, das
sie dem Leser und dem schemenhaften Anwalt vor-
schlägt, der immerhin so prominent ist, daß er, wie sie
erwähnt, ein K.C. – für »King᾽s Counsel« oder »Kron-
anwalt« – hinter dem Namen führt und vielleicht eine
reale Person ist oder auch nicht. Man stelle sich also
einen kleinen Stapel einzelner Fotos vor, die man einem
mit der Morgenpost gekommenen Umschlag entnom-
men hat. Sie zeigen verstümmelte Körper von Erwach-
senen und Kindern. Sie zeigen, wie der Krieg die ge-
baute Welt entleert, zertrümmert, einreißt, einebnet.
»Eine Bombe hat die Seite aufgerissen«, schreibt Woolf
über das Haus auf einem der Bilder. Zwar besteht eine
Stadt nicht aus Haut, Fleisch und Knochen. Doch auf-
geschlitzte Häuser sind fast genauso beredt wie Lei-
chen auf den Straßen. (Kabul, Sarajevo, Ost-Mostar,
Grosny, sechs Hektar in Lower Manhattan nach dem
. September , das Flüchtlingslager Jenin …) Sieh
her, sagen die Fotos, so sieht das aus. Das alles richtet
der Krieg an – und auch das hier. Der Krieg zertrüm-
mert, läßt bersten, reißt auf, weidet aus, versengt, zer-
stückelt. Der Krieg ruiniert.
Wem diese Bilder nicht weh tun, wer vor ihnen nicht


zurückschreckt, wer sich bei ihrem Anblick nicht ge-
drängt fühlt, die Ursachen für diese Verwüstung, die-
ses Blutbad aus der Welt zu schaffen – der reagiert nach
Woolfs Meinung wie ein moralisches Monstrum. Wir
seien aber keine Monster, so gibt sie uns verstehen, son-
dern Angehörige der gebildeten Klasse. Versagt haben
unsere Vorstellungskraft und unser Mitgefühl: wir sind
dieser Realität geistig nicht gewachsen gewesen.
Aber ist es denn wahr, daß diese Fotos, die nicht den
Zusammenstoß zweier Armeen, sondern das Abschlach-
ten unbeteiligter Zivilisten zeigen, nur zur Ablehnung
des Krieges anregen können? Sie könnten doch auch
für mehr Militanz zugunsten der Spanischen Republik
werben. Und sollten sie nicht gerade das tun? Die Ei-
nigkeit zwischen Woolf und dem Anwalt scheint nur
auf Mutmaßungen zu beruhen, und die grausigen Fo-
tos bestätigen sie nur in einer Meinung, die sie schon
vorher teilten. Hätte die Frage gelautet: Wie können
wir am besten zur Verteidigung der Spanischen Repu-
blik gegen die Kräfte des militaristischen und kleri-
kalen Faschismus beitragen? – dann hätten diese Fotos
sie vielleicht in ihrem Glauben an die Rechtmäßigkeit
dieses Kampfes bestärkt.
Die Bilder, die Woolf heraufbeschwört, zeigen in
Wirklichkeit nicht, was »der Krieg«, der Krieg als
solcher, anrichtet. Sie zeigen eine bestimmte Art von
Kriegführung, die damals oft als »barbarisch« bezeich-
net wurde, weil sie sich gegen Zivilisten richtete. Ge-
neral Franco bediente sich der gleichen Taktik, die er
schon in den zwanziger Jahren als Befehlshaber in Ma-


rokko perfektioniert hatte: Bombardements, Massaker,
Folter, Töten und Verstümmeln von Gefangenen. Da-
mals war sein Vorgehen für die herrschenden Mächte
eher hinnehmbar gewesen, denn es richtete sich gegen
spanische Kolonialuntertanen von dunklerer Haut-
farbe, die obendrein ungläubig waren; nun jedoch wa-
ren die eigenen Landsleute seine Opfer. In den Bildern
nur das zu sehen, was einen allgemeinen Abscheu vor
dem Krieg als solchem bestätigt, wie es Woolf tut, be-
deutet, auf eine Auseinandersetzung mit Spanien als
einem Land mit eigener Geschichte zu verzichten. Es
bedeutet, die Politik außer acht zu lassen.
Für Woolf, wie für viele andere, die gegen »den
Krieg« zu Felde ziehen, ist Krieg ein allgemeiner Be-
griff, und die Bilder, die sie beschreibt, zeigen anonyme
Opfer – Opfer »im allgemeinen«. Man könnte den Ein-
druck gewinnen, die Regierung in Madrid habe die
Bilder ohne Erläuterungen verschickt, was jedoch un-
wahrscheinlich ist. (Vielleicht war Woolf auch einfach
der Meinung, ein Foto solle für sich selbst sprechen.) Wo
es darum geht, den Krieg als solchen zu verurteilen,
sind Informationen darüber, wer wann wo was getan
hat, nicht erforderlich; das willkürliche, gnadenlose Ge-
metzel ist Aussage genug. Doch wer davon überzeugt
ist, daß das Recht nur auf einer Seite, das Unrecht und
die Unterdrückung aber auf der anderen Seite zu fin-
den sind und daß der Kampf fortgesetzt werden muß,
für den kommt es darauf an, wer von wem getötet wird.
Für einen israelischen Juden ist das Foto eines Kindes,
das bei dem Anschlag auf die Sbarro-Pizzeria in der In-


nenstadt von Jerusalem zerrissen wurde, in erster Linie
das Bild eines jüdischen Kindes, das von einem palä-
stinensischen Selbstmordattentäter getötet wurde. Für
einen Palästinenser ist das Foto eines Kindes, das von
einer Panzergranate in Gaza zerrissen wurde, in erster
Linie das Bild eines palästinensischen Kindes, das von
einer israelischen Granate getötet wurde. Für den
Kämpfenden ist Identität alles. Und jedes Foto wartet
auf eine Bildlegende, die es erklärt – oder fälscht.
Während der Kämpfe zwischen Serben und Kroaten zu
Beginn der jüngsten Balkankriege wurden von der ser-
bischen und der kroatischen Propaganda die gleichen
Fotos von Kindern verteilt, die bei der Beschießung
eines Dorfes getötet worden waren. Man brauchte nur
die Bildlegende zu verändern, und schon ließ sich der
Tod dieser Kinder so und anders nutzen.
Bilder von toten Zivilisten und zerstörten Häusern
können den Haß auf den Feind schüren, wie es zum
Beispiel im April  geschah, als der in Qatar behei-
matete arabische Satellitensender AI Jazira im Stun-
dentakt die Bilder von der Zerstörung des Flüchtlings-
lagers Jenin wiederholte. So groß die Empörung bei
vielen Zuschauern in der ganzen Welt war – über
die israelische Armee sagten ihnen diese Aufnahmen
nichts, was ihnen nicht schon vorher beigebracht wor-
den war. Dagegen werden Bilder, die im Widerspruch
zu den eigenen liebgewordenen Überzeugungen ste-
hen, unweigerlich mit dem Hinweis abgetan, sie seien
gestellt. Auf die fotografische Bestätigung von Greueln,
die die eigene Seite verübt hat, reagiert man in der


Regel mit der Behauptung, die Bilder seien eine Fäl-
schung – die Greueltaten hätten nie stattgefunden, es
handele sich um Leichen, die die andere Seite auf
Lastwagen aus dem örtlichen Leichenschauhaus her-
beigeschafft und auf der Straße verteilt habe. Oder es
heißt: jawohl, die Greuel seien vorgefallen, aber ver-
antwortlich sei die andere Seite, sie habe sie sich selbst
zugefügt. So behauptete der Propagandachef der von
Franco geführten nationalistischen Rebellenregie-
rung, die Basken selbst hätten am . April  ihre
einstige Hauptstadt, das alte Guernica, mit Dynamit
in der Kanalisation (einer späteren Version zufolge:
mit im Baskenland hergestellten Bomben) zerstört,
um die Empörung im Ausland anzuheizen und den
Widerstandswillen der Republikaner zu stärken. So
behauptete auch eine Mehrheit der in Serbien und im
Ausland lebenden Serben bis zum Ende der serbischen
Belagerung von Sarajevo und selbst nachher noch, die
Bosnier selbst hätten das grauenhafte »Brotschlangen-
Massaker« im Mai  und das »Markt-Massaker« im
Februar  angerichtet, indem sie selbst großkalibrige
Granaten aus den Außenbezirken im hohen Bogen ins
Zentrum ihrer Hauptstadt gefeuert oder Minen gezün-
det hätten, um den Kameras der ausländischen Journa-
listen einige besonders grausige Motive zu liefern und
mehr internationale Unterstützung für die bosnische
Seite zu erlangen.
Fotos von verstümmelten Körpern können natürlich
so genutzt werden, wie Virginia Woolf dies tut – um der
Verurteilung des Krieges Nachdruck zu verschaffen. Sie


können denen, die keine eigenen Kriegserfahrungen
haben, für eine gewisse Zeit etwas von der Wirklichkeit
des Krieges vor Augen führen. Wer jedoch der Auffas-
sung ist, daß der Krieg in einer zerrissenen Welt wie der
heutigen unvermeidlich und sogar gerecht sein kann,
der könnte erwidern, daß die Fotos durchaus nicht da-
für sprechen, dem Krieg grundsätzlich abzuschwören –
oder daß sie dies allenfalls in den Augen derer tun, für
die Begriffe wie Tapferkeit und Opferbereitschaft ihren
Sinn und ihre Glaubwürdigkeit völlig verloren haben.
Der zerstörerische Charakter des Krieges – anders als
die totale Zerstörung, die nicht Krieg, sondern Selbst-
mord ist– taugt aus sich heraus nicht als Argument ge-
gen das Führen von Kriegen, es sei denn, man glaubt
(wovon allerdings nur wenige Menschen überzeugt
sind), Gewalt lasse sich nie rechtfertigen, sondern sei
immer und unter allen Umständen falsch – falsch, weil
sie, wie Simone Weil in ihrem wunderbaren Essay über
den Krieg »L᾽Iliade ou le poeme de la force« (Ilias:
Dichtung der Gewalt) von  schreibt, jeden, der mit
ihr in Berührung kommt, in ein Ding verwandelt.*
Nein, erwidern diejenigen, die in einer bestimmten Si-
*
Ungeachtet ihrer Ablehnung des Krieges wollte Simone
Weil an der Verteidigung der Spanischen Republik und am
Kampf gegen Hitler-Deutschland teilnehmen.  schloß sie
sich als nichtkämpfende Freiwillige einer Internationalen Bri-
gade in Spanien an;  und Anfang , nachdem sie nach
London geflohen und schon erkrankt war, arbeitete sie noch im
Büro des »Freien Frankreich« und hoffte, man werde sie zu einer
Mission in das besetzte Frankreich schicken. (Sie starb im Au-
gust  in einem englischen Sanatorium.)


tuation keine Alternative zum bewaffneten Kampf se-
hen, Gewalt kann den, der mit ihr in Berührung kommt,
auch zum Märtyrer oder zum Helden erheben.
Die unzähligen Gelegenheiten, bei denen man
heute das Leiden anderer Menschen – aus der Distanz,
durch das Medium der Fotografie – betrachten kann,
lassen sich auf vielerlei Weise nutzen. Fotos von einer
Greueltat können gegensätzliche Reaktionen hervor-
rufen. Den Ruf nach Frieden. Den Schrei nach Rache.
Oder einfach das dumpfe, ständig mit neuen fotogra-
fischen Informationen versorgte Bewußtsein, daß im-
mer wieder Schreckliches geschieht. Wer könnte die
drei Farbfotos von Tyler Hicks vergessen, die die New
York Times am . November  in der oberen Hälfte
der ersten Seite ihres täglich unter dem Titel »A Na-
tion Challenged« erscheinenden Sonderteils über Ame-
rikas neuen Krieg brachte? Dieses Triptychon stellt
das Schicksal eines verwundeten Taliban-Kämpfers in
Uniform dar, der von Soldaten der Nord-Allianz bei
ihrem Vormarsch auf Kabul in einem Straßengraben
aufgespürt wurde. Erste Tafel: zwei der Soldaten, die
ihn gefangengenommen haben, schleifen ihn auf dem
Rücken über eine steinige Straße – der eine hat einen
Arm, der andere ein Bein gepackt. Zweite Tafel (die
Kamera ist dem Geschehen sehr nah): von den anderen
umringt, voller Entsetzen aufblickend, wird er hoch-
gezerrt. Dritte Tafel: der Augenblick des Todes. Mit
ausgebreiteten Armen liegt er auf dem Rücken, die Knie
angezogen, von den Hüften abwärts nackt und blut-
überströmt, und wird von der Soldateska, die sich um


ihn zusammengerottet hat, erledigt. Es bedarf eines
beträchtlichen Maßes an innerer Ruhe, allmorgend-
lich das New Yorker Weltblatt durchzusehen, wenn man
damit rechnen muß, auf Bilder zu stoßen, über denen
einem die Tränen kommen können. Aber das Mitge-
fühl und der Abscheu, mit dem Bilder wie die von
Hicks den Betrachter erfüllen, sollten niemanden da-
von abhalten, die Frage zu stellen, welche Bilder, wes-
sen Grausamkeiten, welche Tode nicht gezeigt werden.

Manche Leute haben lange geglaubt, wenn man das


Grauen nur anschaulich genug darstelle, würden die
meisten Menschen die Ungeheuerlichkeit und den
Wahnsinn des Krieges schließlich begreifen.
Im Jahre , zum zehnten Jahrestag der deutschen
Mobilmachung am Beginn des Ersten Weltkriegs und
vierzehn Jahre vor der Veröffentlichung von Drei
Guineen, brachte der Kriegsdienstverweigerer Ernst
Friedrich sein Buch Krieg dem Kriege! heraus. Fotogra-
fie als Schocktherapie: hundertachtzig größtenteils aus
militärischen und medizinischen Archiven in Deutsch-
land stammende Fotos, unter ihnen viele, die, solange
der Krieg andauerte, von der Zensur als nicht zur Ver-
öffentlichung geeignet eingestuft worden waren. Es
beginnt mit Bildern von Spielzeugsoldaten, Spielzeug-
kanonen und anderem Kriegsspielzeug, mit dem sich
Jungen auf der ganzen Welt vergnügen, und endet
mit Aufnahmen von Soldatenfriedhöfen. Zwischen den
Spielsachen und den Gräbern legt der Leser eine quä-


lende Fototour durch vier Jahre Zerstörung, Gemetzel
und Verfall zurück: zerstörte, geplünderte Kirchen und
Schlösser, ausradierte Dörfer, verwüstete Wälder, tor-
pedierte Passagierdampfer, zertrümmerte Fahrzeuge,
erhängte Kriegsdienstverweigerer, halbnackte Prosti-
tuierte in Militärbordellen, mit dem Tode ringende
Soldaten nach einem Giftgasangriff, bis auf die Kno-
chen abgemagerte armenische Kinder. Für fast jedes
Kapitel von Krieg dem Kriege! gilt, daß es schwerfällt,
hinzusehen – vor allem bei den Bildern von toten Sol-
daten aus den verschiedenen Armeen, die haufenweise
auf Feldern und Straßen und in den Schützengräben
an der Front verwesen. Aber gewiß am unerträglich-
sten in diesem Buch, das als Ganzes darauf angelegt
war, zu erschrecken und zu demoralisieren, sind die
Bilder in dem Abschnitt »Das Gesicht des Krieges« –
vierundzwanzig Nahaufnahmen von Soldaten mit mas-
siven Gesichtsverletzungen. Und Friedrich machte
nicht den Fehler zu glauben, Bilder, bei denen sich dem
Betrachter der Magen umdreht, würden für sich selbst
sprechen. Jedes Foto ist mit einer leidenschaftlichen
Bildunterschrift in vier Sprachen (Deutsch, Franzö-
sisch, Holländisch und Englisch) versehen, und die
Niedertracht der militaristischen Ideologie wird auf
jeder Seite bloßgestellt und verhöhnt. Während staat-
liche Stellen, Veteranenverbände und andere patrioti-
sche Organisationen Friedrichs Kriegserklärung gegen
den Krieg sofort verurteilten – in manchen Städten
durchsuchte die Polizei Buchhandlungen, und es wur-
den Prozesse gegen die öffentliche Ausstellung der Fo-


tos angestrengt –, wurde sie von linken Schriftstellern,
Künstlern und Intellektuellen sowie von den Mitglie-
dern der zahlreichen Antikriegsverbände begrüßt, die
dem Buch einen entscheidenden Einfluß auf die öf-
fentliche Meinung voraussagten. Bis  hatte Krieg
dem Kriege! in Deutschland zehn Auflagen erlebt und
war in viele Sprachen übersetzt worden.
Im Jahre , in dem auch Virginia Woolfs Essay
Drei Guineen erschien, rückte der große französische
Begisseur Abel Gance am Ende der Neufassung seines
Films J᾽accuse die Gruppe der von der Öffentlichkeit
meist ignorierten, grausam entstellten Kriegsvetera-
nen mit Großaufnahmen ins Bild – les gueules casséees
(zerschlagene Fressen), wie sie in Frankreich genannt
wurden. (Eine erste Fassung dieses unvergleichlichen
Antikriegsfilms war unter dem gleichen ehrwürdigen
Titel schon / entstanden.) Wie das Buch von
Ernst Friedrich endet auch der Film von Abel Gance
auf einem neu angelegten Soldatenfriedhof – nicht
nur, um daran zu erinnern, wie viele Millionen junger
Männer zwischen  und , in einem Krieg, den
man als den »Krieg, der allen Kriegen ein Ende macht«
gefeiert hatte, dem Militarismus und der Unfähigkeit
zum Opfer fielen, sondern auch um zu verdeutlichen,
wie diese Toten über die Politiker und die Generäle
Europas urteilen würden, wenn sie erführen, daß
zwanzig Jahre später ein neuer Krieg drohte. »Morts de
Verdun, levez-vous!« (Ihr Toten von Verdun, steht auf!)
ruft der Protagonist des Films, ein geistesgestörter Ve-
teran, und wiederholt seinen Appell dann auf deutsch


und englisch: »Eure Opfer waren umsonst!« Und plötz-
lich speit das riesige Leichenfeld seine Massen wieder
aus – eine Armee schlurfender Gespenster, die sich aus
ihren Gräbern erheben und in vermoderten Unifor-
men mit entstellten Gesichtern in alle Himmelsrich-
tungen davonwanken und Panik unter der Bevölke-
rung auslösen, die schon für einen neuen europaweiten
Krieg mobilisiert ist. »Füllt eure Augen mit diesem
Schrecken! Nur das kann euch noch aufhalten!« ruft
der Verrückte den flüchtenden Massen der Lebenden
zu, die ihn dafür mit dem Märtyrertod belohnen, wor-
aufhin er sich seinen toten Kameraden anschließt:
ein Meer von teilnahmslosen Gespenstern, die die am
Boden hockenden Kämpfer und Opfer im »Krieg von
morgen« überfluten. Die Apokalypse schlägt den Krieg
zurück.
Doch im Jahr darauf kam der Krieg.



Zuschauer bei Kata-


strophen sein, die sich in einem anderen Land ereig-
nen, ist eine durch und durch moderne Erfahrung, zu
der uns seit mehr als hundertfünfzig Jahren jene spe-
zialisierten Berufstouristen verhelfen, die wir Repor-
ter nennen. Kriege – das sind inzwischen auch Bilder
und Töne, die uns im Wohnzimmer erreichen. Infor-
mationen über etwas, das anderswo geschieht, »Nach-
richten« genannt, zeigen Konflikt und Gewalt – »If it
bleedes, it leads« (Blut zieht immer), lautet seit jeher
die Faustregel der Massenpresse und der Nachrichten-
kanäle, die rund um die Uhr ihre Schlagzeilen ver-
senden –, und bei jedem Unheil, das ins Bild kommt,
verspürt der Zuschauer Mitleid oder Empörung, Sen-
sationskitzel oder Zustimmung.
Die Frage, wie man mit der stetig wachsenden Flut
von Informationen über die Leiden des Krieges umge-
hen soll, ist schon am Ende des . Jahrhunderts er-
örtert worden.  schrieb Gustave Moynier, der erste
Präsident des Internationalen Komitees vom Roten
Kreuz:


Heute wissen wir, was Tag für Tag an jedem Ort der
Welt vor sich geht… die Schilderungen der Jour-
nalisten stellen den [Zeitungs-]Lesern jene, die auf
Schlachtfeldern Qualen leiden, gleichsam vor Au-
gen, und ihre Schreie klingen uns in den Ohren …

Moynier dachte an die rasch wachsende Zahl von Ver-


wundeten und Gefallenen auf allen Seiten, deren Lei-
den das Rote Kreuz unparteiisch lindern wollte. Durch
neue, kurz nach dem Krimkrieg (-) eingeführte
Waffen wie den Hinterlader und das Maschinenge-
wehr hatte die Tötungskapazität kämpfender Armeen
eine neue Dimension erreicht. Aber auch wenn die
Qualen des Schlachtfelds für diejenigen, die sie durch
die Presse zur Kenntnis nahmen, so gegenwärtig wa-
ren wie nie zuvor, war die Behauptung, nun wisse man,
»was Tag für Tag an jedem Ort der Welt vor sich geht«,
im Jahre  offenkundig eine Übertreibung. Und
heute, da die Leiden in entfernten Kriegen unsere Au-
gen und Ohren im Augenblick des Geschehens selbst
bestürmen, ist sie immer noch eine Übertreibung. Was
im Nachrichten Jargon »die Welt« genannt wird – »Sie
schenken uns zwanzig Minuten, und wir geben Ihnen
die Welt«, verkündet eine Radiostation mehrmals in
der Stunde –, ist (anders als die wirkliche Welt) geo-
graphisch wie inhaltlich ein sehr kleiner Ort, und das,
was im Hinblick auf diesen Ort als wissenswert gilt,
soll sich obendrein auch noch in knappen, vollmundi-
gen Schlagzeilen übermitteln lassen.
Die Vorstellung von einem Leiden, das sich in einer


Anzahl ausgewählter, anderswo stattfindender Kriege
nach und nach anhäuft, ist ein Konstrukt. Vor allem in
der Form, in der Kameras dieses Leiden festhalten,
wird es für einen kurzen Augenblick sichtbar, stößt auf
die Anteilnahme vieler Menschen und verschwindet
dann wieder aus dem Blick. Anders als ein geschriebe-
ner Bericht, der sich, je nach seiner gedanklichen Kom-
plexität, seinem Kontext und seinem Wortschatz, an
einen größeren oder kleineren Leserkreis richtet, ver-
fügt ein Foto nur über eine einzige Sprache und ist im
Prinzip für alle bestimmt.
In den ersten großen Kriegen, die von Fotografen im
Bild festgehalten wurden, im Krimkrieg, im ameri-
kanischen Bürgerkrieg und in allen anderen Kriegen
bis zum Ersten Weltkrieg, blieb das Kampfgeschehen
selbst für die Kamera unerreichbar. Auch die Kriegs-
fotos, die zwischen  und  größtenteils anonym
publiziert wurden, bedienten sich – soweit sie über-
haupt etwas von den Schrecken und Verwüstungen
vermittelten – einer epischen Bildsprache und schil-
derten meist ein Nachher: die mit Leichen übersäten
Schlachtfelder und die Mondlandschaften, die der
(Grabenkrieg hinterließ; die ausgeweideten französi-
schen Dörfer, durch die der Krieg gegangen war. Der
fotografische Kriegsbericht, wie wir ihn heute kennen,
wurde erst einige Jahre später möglich, nach einer
gründlichen Erneuerung der Berufsausrüstung des
Fotografen: leichte Kleinbildkameras wie die Leica,
mit denen man  Aufnahmen machen konnte, bevor
ein neuer Film eingelegt werden mußte. Damit ließen


sich, sofern die Militärzensur es erlaubte, Bilder im
dichtesten Kampfgewühl oder auch Nahaufnahmen
von zivilen Opfern und erschöpften, verdreckten Sol-
daten machen. Der Spanische Bürgerkrieg (-)
war der erste Krieg, über den auf diese moderne Weise
berichtet wurde: von einem ganzen Trupp Berufsfoto-
grafen in der Nähe der Kampflinien und in den bom-
bardierten Städten, deren Bilder von Zeitungen und
Zeitschriften in Spanien und im Ausland sofort gedruckt
wurden. Der Krieg, den Amerika in Vietnam führte,
der erste Krieg, der Tag für Tag auch von Fernsehka-
meras beobachtet wurde, erzeugte an der Heimatfront
eine neue teleintime Nähe zu Tod und Zerstörung.
Seither sind Aufnahmen von Kämpfen und Massakern,
die während des Geschehens selbst gemacht wurden,
ein fester Bestandteil im Unterhaltungsprogramm des
häuslichen Pantoffelkinos. Damit bei Zuschauern, die
aus allen Richtlangen mit dramatischen Bildern bom-
bardiert werden, von einem bestimmten Konflikt über-
haupt etwas hängenbleibt, müssen Tag für Tag Auf-
nahmen aus diesem Konflikt gesendet und wiederholt
werden. Die Vorstellung, die sich Menschen ohne ei-
gene Kriegserfahrung vom Krieg machen, erwächst
heute im wesentlichen aus der Wirkung solcher Bilder.
Manches wird real – für diejenigen, die es anderswo
als »Nachricht« zur Kenntnis nehmen –, indem es foto-
grafiert wird. Aber eine Katastrophe, die man wirklich
erlebt, wirkt nun oft auf unheimliche Weise wie ihre
eigene Darstellung. Über den Angriff auf das World
Trade Center am . September  sagten viele, die


sich aus den Türmen hatten retten können oder die
in der Nähe gewesen waren, in ihren ersten Berichten,
er sei »unwirklich« gewesen, »surreal«, »wie im Kino«.
(Nach vierzig Jahren aufwendiger Katastrophenfilme
aus Hollywood scheint der Ausspruch »Es war wie
im Kino« an die Stelle jener anderen Formel getreten
zu sein, mit der Überlebende von Katastrophen das
zunächst Unfaßbare dessen, was sie durchgemacht ha-
ben, früher auszudrücken versuchten: »Es war wie im
Traum.«)
Nonstop-Bilder (Fernsehen, Video, Kino) prägen un-
sere Umwelt, aber wo es um das Erinnern geht, hinter-
lassen Fotografien eine tiefere Wirkung. Das Gedächt-
nis arbeitet mit Standbildern, und die Grundeinheit
bleibt das einzelne Bild. In einer Ära der Informations-
überflutung bietet das Foto eine Methode, etwas
schnell zu erfassen und gut zu behalten. Darin gleicht
es einem Zitat, einer Maxime, einem Sprichwort. Jeder
von uns hat Hunderte von Fotos in seinem Gedächtnis
gespeichert, die sich auf Anhieb abrufen lassen. Man
braucht das berühmteste Foto aus dem Spanischen
Bürgerkrieg nur zu erwähnen, den republikanischen
Soldaten, dessen Bild die Kamera von Robert Capa in
dem Augenblick »geschossen« hat, als er von einer
feindlichen Kugel getroffen wird, und schon sieht fast
jeder, der von diesem Krieg je gehört hat, das körnige
Schwarzweißbild von einem Mann in weißem Hemd
mit aufgekrempelten Ärmeln vor sich, der auf einer
kleinen Anhöhe nach hinten fällt, den rechten Arm
ausgestreckt, während das Gewehr seiner Hand ent-


gleitet und er im Begriff ist, tot auf den eigenen Schat-
ten zu fallen.
Das Bild schockiert – und darum geht es. Nachdem
die Bilder ins Arsenal des Journalismus aufgenommen
waren, sollten sie fesseln, bestürzen, überraschen. Ge-
treu dem alten Slogan der  gegründeten Illustrier-
ten Paris Match: »Le poids des mots, le choc des pho-
tos« (Das Gewicht der Worte, der Schock der Fotos).
Die Jagd nach möglichst »dramatischen« Bildern (wie
sie oft genannt werden) treibt das fotografische Ge-
werbe an, und gehört zur Normalität einer Kultur, in der
der Schock selbst zu einem maßgeblichen Konsum-
anreiz und einer bedeutenden ökonomischen Ressource
geworden ist. »Schönheit ist erschütternd, oder sie ist
nichts«, verkündete Andre Breton und nannte sein
ästhetisches Ideal »surrealistisch«. Aber in einer Kultur,
die durch die zunehmende Verbreitung kommerzieller
Wertvorstellungen von Grund auf umgemodelt wurde,
zeugt die Forderung nach grellen, schrillen, verblüffen-
den Bildern eher von solidem Realismus und gesundem
Geschäftsgeist. Wie anders soll man Aufmerksamkeit
auf das eigene Produkt, die eigene Kunst lenken? Wie
anders soll man bei Leuten einen Eindruck hinterlas-
sen, die einer ununterbrochenen Flut teils neuer, teils
ständig wiederkehrender Bilder ausgesetzt sind? Das
Bild als Schock und das Bild als Klischee sind zwei Sei-
ten des gleichen Phänomens. Vor fünfundsechzig Jah-
ren waren alle Fotos bis zu einem gewissen Grade
Neuigkeiten. (Für Virginia Woolf, die  tatsächlich
auf einem Titelbild von Time erschien, wäre es unvor-


stellbar gewesen, daß ihr Gesicht eines Tages zu einer
massenhaft reproduzierten Ikone auf T-Shirts, Kaffee-
bechern, Büchertaschen, Kühlschrankmagneten und
Mauspads würde.) Greuelbilder waren im Winter
/ eine Seltenheit; fast scheint es, als handele es
sich bei den Fotos von den Schrecken des Krieges, die
Woolf in Drei Guineen bespricht, um Geheimwissen,
Unsere heutige Situation ist eine völlig andere. Das un-
endlich vertraute, unendlich berühmte Bild – von Qual
oder Zerstörung – ist ein unvermeidlicher Bestandteil
unseres kameravermittelten Wissens vom Krieg.

Seit ihrer Erfindung im Jahre  pflegte die Fotogra-


fie Umgang mit dem Tod. Weil das mit einer Kamera
hergestellte Bild tatsächlich die Spur von etwas ist,
das man vor das Objektiv gerückt hat, waren Fotogra-
fien als Erinnerung an eine entschwundene Vergangen-
heit und die lieben Verstorbenen jedem gemalten Bild
überlegen. Den Tod im Augenblick seines Eintritts fest-
halten war demgegenüber etwas ganz anderes: die
Reichweite der Kamera blieb beschränkt, solange sie
herumgeschleppt, aufgebaut, eingestellt werden mußte.
Doch sobald sich die Kamera vom Stativ emanzipiert
hatte, sobald sie wirklich tragbar, mit einem Entfer-
nungsmesser und einer Vielfalt von Objektiven ausge-
stattet war, die selbst aus der Entfernung ungeahnte
Wunder bei der Herstellung von Nähe vollbrachten,
wuchs der Fotografie bei der Vermittlung des Schrek-
kens von massenhaft produziertem Tod eine Unmittel-
barkeit und eine Autorität zu, die jeder sprachlichen


Darstellung überlegen war. Wenn es ein bestimmtes
Jahr gab, in dem Fotos mit ihrer Fähigkeit, die abscheu-
lichsten Realitäten nicht nur aufzuzeichnen, sondern
regelrecht zu definieren, alle noch so komplexen Erzäh-
lungen übertrumpften, dann war es sicherlich das Jahr
 mit den Bildern, die im April und Anfang Mai in
den Tagen nach der Befreiung der Lager Bergen Bel-
sen, Buchenwald und Dachau aufgenommen wurden,
und jenen anderen, die japanische Zeugen wie Yosuke
Yamahata Anfang August in den Tagen nach der Ver-
brennung der Einwohner von Hiroshima und Nagasaki
machten.
Das Zeitalter des Schocks begann – für Europa – drei
Jahrzehnte früher, im Jahre . Der »Große Krieg«,
wie man ihn eine Zeitlang nannte, war noch kein
Jahr alt, da wirkte vieles, was man bisher für selbst-
verständlich gehalten hatte, brüchig und unhaltbar.
Der Alptraum einer selbstmörderischen militärischen
Auseinandersetzung, aus deren Verstrickung sich die
kriegführenden Länder nicht mehr zu lösen vermoch-
ten – vor allem das tägliche Blutbad in den Schützen-
gräben an der Westfront –, ging nach Meinung vieler
Zeitgenossen weit über das hinaus, was sich mit Wor-
ten beschreiben ließ.* Es war ausgerechnet jener Schrift -

*
Am ersten Tag der Somme-Schlacht, dem . Juli , wur-
den sechzigtausend britische Soldaten getötet oder schwer ver-
wundet – davon dreißigtausend in der ersten halben Stunde.
Nach den Kämpfen, die viereinhalb Monate dauerten, waren auf
beiden Seiten    Soldaten gefallen und die britisch-fran-
zösische Front war um acht Kilometer vorgerückt.


steller, der sich wie kaum ein anderer darauf verstand,
die Wirklichkeit in Sprache einzuspinnen und durch
Wörter zu verzaubern, Henry James, der im Jahre 
gegenüber der New York Times bekannte: »Bei alledem
fällt einem die Annäherung mit Hilfe der eigenen
Worte genauso schwer wie das Festhalten an den eige-
nen Gedanken. Der Krieg hat die Wörter verbraucht;
sie haben ihre Kraft verloren, sie sind verdorben …«
Und der amerikanische Publizist Walter Lippmann
schrieb : »Heute besitzen Fotos für unsere Vor-
stellungskraft jene Autorität, die gestern noch dem ge-
druckten Wort und davor dem gesprochenen Wort zu-
kam. Sie erscheinen über die Maßen wirklich.«
Fotos hatten den Vorteil, daß sie zwei gegensätzliche
Merkmale miteinander verbanden. Die Garantie für
ihre Objektivität war »eingebaut«. Trotzdem waren sie
immer und notwendigerweise aus einem bestimmten
Blickwinkel aufgenommen. Sie waren eine Wieder-
gabe von etwas Realem, so unanfechtbar, wie es keine
noch so unvoreingenommene sprachliche Darstellung
je sein konnte, denn die Aufzeichnung wurde von einer
Maschine besorgt. Und gleichzeitig bezeugten sie die-
ses Reale – denn jemand war zugegen gewesen, um sie
aufzunehmen.
Fotografien, so behauptet Virginia Woolf, »sind kein
Argument; sie sind einfach eine nackte Feststellung
von an das Auge gerichteten Tatsachen«. In Wirklich-
keit sind Fotos gar nicht »einfach«, und als Tatsachen
können sie schon gar nicht gelten – auch nicht in den
Augen von Woolf oder von sonst irgendwem. Denn,


so schreibt sie gleich anschließend, »das Auge ist mit
dem Gehirn verbunden; das Gehirn mit dem Nerven-
system. Dieses System schickt seine Botschaften blitz-
artig durch jede vergangene Erinnerung und jedes
gegenwärtige Gefühl.« Dank diesem Kunststück kön-
nen Fotos beides zugleich sein: objektive Wiedergabe
und persönliche Aussage, genaues Abbild oder getreue
Transkription eines ganz bestimmten Augenblicks
von Wirklichkeit und Interpretation dieser Wirklich-
keit – etwas, worum die Literatur sich lange bemüht
hat, ohne es je in diesem buchstäblichen Sinne zu er-
reichen.
Diejenigen, die die Beweiskraft von Kamerabildern
hervorheben, neigen dazu, der Frage nach der Subjek-
tivität dessen, der diese Bilder macht, aus dem Wege zu
gehen. Denn bei Greuelfotos wollen die Leute das Ge-
wicht der Zeugenschaft ohne jede Beimischung von
Kunst, die sie mit Unaufrichtigkeit oder Erfundenem
gleichsetzen. Bilder von grauenhaften Ereignissen
wirken authentischer, wenn ihnen das gute Aussehen
abgeht, das sich aus »richtiger« Beleuchtung und
»richtigem« Bildaufbau ergibt – sei es, weil der Foto-
graf ein Amateur ist, sei es, weil er sich, was genauso-
gut funktioniert, eines der bekannten antikünstleri-
schen Stile bedient hat. Weil sie künstlerisch nicht
hoch hinauswollen, wirken diese Bilder weniger mani-
pulativ, weniger darauf angelegt, billiges Mitgefühl
und vorschnelle Identifikation zu erzeugen – ein Ver-
dacht, dem heute alle weitverbreiteten Bilder, die Lei-
den zeigen, ausgesetzt sind.


Weniger perfekte Bilder sind nicht nur wegen ihrer
besonderen Art von Authentizität willkommen. Man-
che von ihnen können sich auch mit den besten messen
– so großzügig lassen sich die Maßstäbe für die Bewer-
tung denkwürdiger, aussagekräftiger Fotos auslegen.
Das zeigte sich auch bei einer exemplarischen Ausstel-
lung von Fotos, die in einer Ladengalerie in Manhattan
Ende September  die Zerstörung des World Trade
Center dokumentierte. Die Initiatoren von Here Is
New York, so der Titel der Ausstellung, hatten in einem
Aufruf alle, die Bilder während des Angriffs oder in
der Zeit danach gemacht hatten, Profis wie Amateure,
eingeladen, ihre Aufnahmen einzureichen. In den er-
sten Wochen meldeten sich mehr als tausend Personen,
und von jedem, der seine Fotos vorlegte, wurde zumin-
dest ein Bild für die Ausstellung angenommen. Ohne
Urheberangabe und ohne Bildlegende hingen sie in
zwei kleinen Räumen oder liefen in einer Diaschau auf
einem der Computerbildschirme (und auf der Website
der Ausstellung), und alle konnte man als hochwerti-
gen Computerausdruck zu einem einheitlich niedrigen
Preis von  Dollar erwerben. (Die Erlöse gingen an
einen Hilfsfonds für Kinder, deren Eltern am . Sep-
tember ums Leben gekommen waren.) Nach dem Kauf
konnte der Käufer erfahren, ob er vielleicht ein Bild
von Gilles Peress (der zu den Organisatoren der Aus-
stellung gehörte) oder von James Nachtwey erworben
hatte oder das Bild einer pensionierten Lehrerin, die
sich mit ihrer Pocketkamera aus dem Schlafzimmer-
fenster ihrer Sozialwohnung in Greenwich Village ge-


beugt und den Nordturm bei seinem Einsturz festge-
halten hatte. Der Untertitel der Ausstellung, »A De-
mocracy of Photographs«, gab zu verstehen, daß sich
hier Amateuraufnahmen fänden, die genausogut seien
wie die Arbeiten der erfahrenen Profis, die sich betei-
ligt hatten. Und solche Arbeiten gab es tatsächlich –
womit nicht unbedingt etwas über kulturelle Demo-
kratie, wohl aber etwas über die Fotografie gesagt ist.
Die Fotografie ist die einzige bedeutende Kunst, in der
Berufsausbildung und jahrelange Erfahrung keinen
uneinholbaren Vorsprung gegenüber denen gewähren,
die weder über eine Ausbildung noch über Berufser-
fahrung verfügen. Dafür gibt es viele Gründe – unter
anderem die große Rolle, die der Zufall (oder das
Glück) beim Fotografieren spielt, und die Vorliebe für
das Spontane, Grobe, Unvollkommene. (Ein Spielfeld
von vergleichbarer Offenheit gibt es in der Literatur
nicht, wo sich fast nichts dem Zufall oder dem Glück
verdankt und das Streben nach sprachlicher Verfeine-
rung im allgemeinen nicht sanktioniert wird; ebenso-
wenig in den darstellenden Künsten, wo echte Leistun-
gen ohne strapaziöse Ausbildung und tägliche Übung
nicht zu erreichen sind; und auch nicht beim Film, der
von den antikünstlerischen Tendenzen, die in der zeit-
genössischen Kunstfotografie eine so große Rolle spie-
len, kaum berührt wird.)
Gleichgültig, ob ein Foto als naives Objekt oder als
Werk eines erfahrenen Könners gesehen wird, seine
Bedeutung – und damit auch die Reaktion des Be-
trachters – hängt davon ab, wie das Bild, ob richtig


oder falsch, identifiziert wird, also von Worten. Ihre
Grundidee, der besondere Augenblick, der Ort und das
engagierte Publikum machten diese spezielle Ausstel-
lung zu einer Ausnahme. Die zahlreichen New Yorker,
die im Herbst  mit ernsten Gesichtern in der Prince
Street Schlange standen, um Here Is New York zu se-
hen, waren auf Bildunterschriften nicht angewiesen.
Sie wußten eher schon zuviel über das, was sie sich da
Gebäude für Gebäude, Straße für Straße ansahen – die
Brände, der Schutt, die Angst, die Erschöpfung, der
Schmerz. Aber eines Tages werden Bildunterschriften
natürlich nötig sein. Und durch Fehldeutungen, falsche
Erinnerungen und neue ideologische Inanspruchnah-
men werden sich die Bilder verändern.
Normalerweise, wenn eine Distanz zum Motiv vor-
handen ist, läßt sich das, was ein Foto »sagt«, auf meh-
rere Weisen deuten. Und am Ende liest man in ein
Foto das hinein, was es sagen soll. Lew Kuleschow, der
erste Filmtheoretiker, hat in den zwanziger Jahren des
. Jahrhunderts in seinem Moskauer Atelier gezeigt,
was geschieht, wenn man in eine lange Einstellung, die
ein vollkommen ausdrucksloses Gesicht zeigt, kurze
Passagen mit völlig andersgeartetem Material mon-
tiert – einen Teller dampfender Suppe, eine Frau in
einem Sarg, ein Kind, das mit einem Teddybären spielt:
die Zuschauer staunen über Raffinesse und Reichtum
der mimischen Möglichkeiten des Schauspielers. Bei
Standfotos halten wir uns an unser Wissen über das Ge-
schehen, dem das Bildmotiv zugehört. »Landverteilung
in der Estremadura, Spanien «, das häufig repro-


duzierte Foto von David Seymour (»Chim«), auf dem
eine hagere Frau mit einem Baby an der Brust (auf-
merksam? furchtsam?) in die Höhe blickt, erscheint
vielen Betrachtern in der Erinnerung als Darstellung
einer Frau, die den Himmel ängstlich nach angreifen-
den Flugzeugen absucht. Ihr Gesicht und die Mienen
der Menschen um sie herum wirken besorgt. Die Erin-
nerung hat Chims Bild nach ihren eigenen Bedürfnis-
sen verändert und ihm einen Symbolwert verliehen,
der sich nicht etwa aus dem ergibt, was das Bild seiner
Unterschrift zufolge darstellt (eine politische Versamm-
lung unter freiem Himmel, vier Monate vor Ausbruch
des Krieges), sondern aus dem, was sich wenig später
in Spanien erst noch ereignen sollte und ungeheuer
folgenreich wurde: Luftangriffe, die nur den einen
Zweck hatten, Städte und Dörfer vollständig zu zer-
stören, und die hier erstmals in Europa als Waffe im
Krieg eingesetzt wurden.* Wenig später erschienen tat-
*
Nichts hat sich von Francos barbarischer Kriegführung
dem Gedächtnis so tief eingeprägt wie diese Luftangriffe, an die
Picasso mit seinem Bild Guernica erinnert hat. Ausgeführt wur-
den sie hauptsächlich von einer Einheit der deutschen Luft-
waffe, der Legion Condor, die Hitler zur Unterstützung Francos
nach Spanien geschickt hatte. Aber diese Luftangriffe waren
nicht die ersten ihrer Art. Schon während des Ersten Weltkriegs
hatte es hier und da einige nicht besonders effektive Bomben-
angriffe gegeben; so hatten die Deutschen zunächst mit Zeppe-
linen, später mit Flugzeugen eine Reihe von Städten angegriffen,
unter anderem London, Paris und Antwerpen. Mit sehr viel ver-
heerenderer Wirkung hatten einige europäische Nationen ihre
Kolonien bombardiert – erstmals bei einem Angriff italienischer
Kampfflieger in der Nähe von Tripolis im Oktober . Soge-


sächlich Flugzeuge am Himmel, die Bomben auf land-
lose Bauern abwarfen, wie sie auf diesem Foto zu se-
hen sind. (Sehen Sie sich die stillende Mutter jetzt
noch einmal an, die gerunzelte Stirn, die zusammen-
gekniffenen Augen, den halbgeöffneten Mund. Wirkt
sie immer noch ängstlich? Hat es jetzt nicht eher den

nannte »Luftkontrolloperationen« waren für Großbritannien


eine günstige Alternative zur kostspieligen Errichtung großer
Garnisonen, um besonders aufsässige Auslandsbesitzungen un-
ter Kontrolle zu halten. Zu diesen gehörte auch der Irak, der
bei der Aufteilung des Osmanischen Reiches nach dem Ersten
Weltkrieg als Teil der Siegesbeute (zusammen mit Palästina) an
Großbritannien fiel. Zwischen  und  nahm die neuge-
gründete Royal Air Force regelmäßig irakische Dörfer unter Be-
schuß, häufig abgelegene Siedlungen, in denen die rebellischen
Einheimischen Unterschlupf hätten finden können – wobei die
Angriffe nach dem Bericht eines Oberstleutnants der RAF »kon-
tinuierlich stattfanden, tagsüber und nachts, gegen Häuser und
ihre Bewohner, Anpflanzungen und Vieh«.
Was die öffentliche Meinung in den dreißiger Jahren des letz
ten Jahrhunderts vor allem erschütterte, war der Umstand, daß
sich die aus der Luft angerichteten Blutbäder unter Zivilisten in
Spanien ereigneten. So etwas durfte hier einfach nicht gesche-
hen. David Rieff hat darauf hingewiesen, daß eine ähnliche Hal-
tung die öffentliche Aufmerksamkeit auch auf die Greueltaten
lenkte, die die Serben in den neunziger Jahren in Bosnien ver-
übten – angefangen bei Todeslagern wie dem von Omarska zu
Beginn des Krieges bis hin zu dem Massaker von Srebrenica, wo
der größte Teil der männlichen Bewohner, die nicht hatten flie-
hen können – mehr als achttausend Männer und Jungen –, zu-
sammengetrieben, erschossen und in Massengräber geworfen
wurden, nachdem die Stadt von dem niederländischen Bataillon
der UN Schutztruppe geräumt und dem General Ratko Mladic
überlassen worden war: solche Dinge darf es hier – in Europa –
nicht mehr geben.


Anschein, als würde sie blinzeln, weil die Sonne sie
blendet?)
Für Virginia Woolf sind die Fotografien, die sie mit
der Post bekommen hat, wie ein Fenster auf den Krieg:
klare, unzweideutige Ansichten dessen, was sie dar-
stellen. Es interessierte sie nicht, daß jedes Foto einen
»Urheber« hatte und die Ansicht von jemandem wie-
dergab, obwohl sich gerade in dieser Zeit, Ende der
dreißiger Jahre des . Jahrhunderts, der Beruf des
Bildberichterstatters oder Fotoreporters herausbildete,
der als einzelner mit der Kamera den Krieg und seine
Greuel dokumentierte. Früher waren Kriegsfotos vor
allem in Tages- und Wochenzeitungen erschienen. (Zei-
tungen druckten Fotos seit etwa  ab.) Neben den
im späten . Jahrhundert gegründeten populären Zeit-
schriften wie dem National Geographic und der Ber-
liner Illustrirten Zeitung, die Fotos als Illustrationen
verwendeten, kamen dann später die wöchentlich in
hohen Auflagen erscheinenden Illustrierten auf – in
Frankreich vor allem Vu (), in den Vereinigten
Staaten Life () und in Großbritannien die Picture
Post () –, die fast ausschließlich Bilder (mit kur-
zen Begleittexten) und »Bildberichte« brachten – min-
destens vier oder fünf Bilder vom selben Fotogra-
fen, gefolgt von einem Artikel, der den Bildern zu-
sätzliches Gewicht verschaffte. In der Zeitung war es
umgekehrt: dort begleitete das Bild – und nur ein
Bild – den Artikel.
Mehr noch, in einer Zeitung war das Kriegsfoto von
Worten umgeben (von dem Artikel, den es illustrierte,


und anderen Artikeln), während es sich in einer Illu-
strierten oft in der Nähe eines konkurrierenden Bildes
befand, das für irgend etwas Reklame machte. Als Ca-
pas im Augenblick des Todes aufgenommenes Bild von
dem republikanischen Soldaten am . Juli  in Life
erschien, nahm es dort eine ganze rechte Seite ein; ihm
gegenüber, auf der linken Seite, war eine ganzseitige
Anzeige für »Vitalis«, eine Pomade, plaziert – mit einem
kleinen Bild von einem Mann, der sich beim Tennis
verausgabt, und einem großen Bild desselben Mannes
in weißer Smokingjacke, der einen Kopf mit sauber
gescheiteltem, perfekt geglättetem, glänzendem Haar
zur Schau trägt.* Heute wirkt diese Doppelseite – bei
der jede Hälfte stillschweigend mit der Unsichtbarkeit
der anderen rechnet – nicht nur grotesk, sondern selt-
sam altmodisch.
Ein System, das darauf beruht, daß Bilder möglichst
viel Raum und möglichst weite Verbreitung finden, ist
auch darauf angewiesen, daß einige Berichterstatter zu
Starreportern erhoben werden, die sich durch ihren
Mut und ihren Einsatz bei der Beschaffung wichtiger,
*
Capa hatte sein schon damals allgemein bewundertes Bild
nach eigener Aussage am . September  aufgenommen.
erstmals veröffentlicht wurde es am . September  in Vu,
und zwar über einem zweiten Foto, das aus dem gleichen Blick-
winkel und im gleichen Licht einen anderen republikanischen
Soldaten zeigt, dem sein Gewehr aus der rechten Hand gleitet,
wahrend er an der gleichen Stelle auf dem Hügel zusammen-
bricht; dieses zweite Foto ist nie wieder gedruckt worden. Das
erste Bild erschien wenig später auch in der Tageszeitung Paris-
Soir.


bestürzender Bilder einen Namen gemacht haben. Eine
der ersten Ausgaben der Picture Post (. Dezember
), die eine Folge von Capas Bildern aus dem Spani-
schen Bürgerkrieg brachte, zeigte auf ihrer Titelseite
den gutaussehenden Fotografen im Profil, wie er sich
gerade eine Kamera vor das Gesicht hält: »Der größte
Kriegsfotograf der Welt: Robert Capa«. Die Kriegsfoto-
grafen erbten den letzten Rest von Glanz, den das In-
den-Krieg-Ziehen bei den Gegnern des Krieges noch
besaß – vor allem dann, wenn der betreffende Krieg zu
jenen seltenen Konflikten gezählt wurde, in denen ein
Mensch mit Gewissen zur Stellungnahme verpflichtet
schien. (Der Krieg in Bosnien, fast sechzig Jahre später,
weckte unter den Journalisten, die eine Zeitlang im be-
lagerten Sarajevo lebten, ähnliche Regungen.) Und im
Gegensatz zu dem Krieg von  bis , der in den
Augen vieler Sieger ein kolossaler Fehler gewesen war,
betrachtete man den Zweiten »Weltkrieg« auf der Seite
der Sieger einhellig als notwendig, als einen Krieg, der
geführt werden mußte.
Seine eigentliche Geltung erlangte der Fotojourna-
lismus in den frühen vierziger Jahren des . Jahrhun-
derts – im Krieg. Der am wenigsten umstrittene Krieg
der neueren Zeit, dessen Rechtmäßigkeit endgültig
besiegelt wurde, als nach seinem Ende im Jahre 
das ganze Ausmaß der Nazi-Verbrechen offenkundig
wurde, verschaffte dem Fotojournalismus eine neue
Legitimität – eine Legitimität, die dem linken Dissi-
dententum kaum noch Raum ließ, das den ernsthaften
Umgang mit Fotos in der Zwischenkriegszeit geprägt


hatte, bei Friedrichs Buch Krieg dem Kriege! ebenso
wie bei den frühen Bildern von Capa, dem prominen-
testen Vertreter einer ganzen Generation politisch en-
gagierter Fotografen, die den Krieg und das Leiden der
Opfer zum Mittelpunkt ihrer Arbeit machten. In dem
Maße, wie sich die liberale Überzeugung durchsetzte,
daß akute gesellschaftliche Probleme angepackt wer-
den müßten, kam auch die Frage nach der materiellen
Lage und der Unabhängigkeit der Fotografen selbst
auf die Tagesordnung. So geschah es, daß Capa und
einige Freunde (unter ihnen Chim und Henri Cartier-
Bresson)  in Paris eine Kooperative gründeten -
die Fotoagentur Magnum. Der unmittelbare Zweck
der Agentur Magnum, die rasch zur einflußreichsten
und angesehensten Vereinigung von Fotojournalisten
wurde, war ein praktischer: mutige, frei arbeitende Fo-
tografen gegenüber den Illustrierten zu vertreten, in
deren Auftrag sie unterwegs waren. Gleichzeitig for-
mulierte die Charta von Magnum – in einem ähnlich
moralischen Ton, wie er in den Gründungsurkunden
anderer internationaler Organisationen und Verbände
anklang, die kurz nach dem Krieg entstanden – einen
umfassenden moralischen Auftrag für die Fotojourna-
listen: als Chronisten ihrer Zeit, ob im Krieg oder im
Frieden, ohne chauvinistische Vorurteile fair und auf-
richtig Zeugnis abzulegen.
Mit der Stimme von Magnum erklärte sich die Foto-
grafie zu einem globalen Projekt. Die Nationalität des
einzelnen Fotografen und sein Verhältnis zur Presse
seines eigenen Landes waren im Prinzip irrelevant.


Auf seine Herkunft kam es nicht an. Sein Revier war
»die Welt«, und Kriege von besonderem Interesse (denn
es gab viele Kriege) waren ein bevorzugtes Ziel seiner
Streifzüge.
Doch die Erinnerung an den Krieg ist, wie alle Erin-
nerung, vor allem lokal. Die Armenier, die heute
mehrheitlich in der Diaspora leben, halten die Erinne-
rung an den Genozid wach, dessen Opfer ihr Volk 
wurde; die Griechen vergessen den blutigen Bürger-
krieg nicht, der in den späten vierziger Jahren des
. Jahrhunderts in ihrem Land wütete. Damit jedoch
ein Krieg über die unmittelbar Betroffenen hinaus
internationale Aufmerksamkeit findet, muß er, vergli-
chen mit anderen Kriegen, als Ausnahme erscheinen,
muß mehr sein als ein Zusammenprall der Interessen
zweier kriegführender Parteien. Die meisten Kriege
erlangen diese »höhere« Bedeutung nicht. Zum Bei-
spiel der Chacokrieg (–) – ein Gemetzel zwi-
schen Bolivien (eine Million Einwohner) und Para-
guay (dreieinhalb Millionen Einwohner), bei dem
hunderttausend Soldaten den Tod fanden und über das
von dem deutschen Fotojoumalisten Willi Rüge be-
richtet wurde, dessen großartige Nahaufnahmen von
den Kämpfen heute so vergessen sind wie dieser Krieg
selbst. Dem Spanischen Bürgerkrieg dagegen, den
Kriegen der Serben und Kroaten gegen Bosnien und
der dramatischen Zuspitzung der Auseinandersetzun-
gen zwischen Israelis und Palästinensern seit dem
Jahr  – all diesen Konflikten war die Aufmerksam-
keit zahlreicher Kameras sicher, weil man ihnen eine


grundsätzliche Bedeutung beimaß; dem Spanischen
Bürgerkrieg deshalb, weil es hier um die Auseinander-
setzung mit dem Faschismus ging und weil er (im
Rückblick) als Generalprobe für den bevorstehenden
europäischen oder »Welt«-Krieg erschien; dem Bos-
nienkrieg, weil sich hier ein kleines, eben entstandenes
südosteuropäisches Land, das sich seinen multikultu-
rellen Charakter und seine Unabhängigkeit bewahren
wollte, der dominierenden Macht in der Region und
ihrem neofaschistischen Programm der ethnischen
Säuberung widersetzte; und dem immer noch andau-
ernden Konflikt um den Status und die Verwaltung der
sowohl von den israelischen Juden als auch von den
Palästinensern beanspruchten Territorien aus einer gan-
zen Reihe von Gründen: wegen des guten oder auch
schlechten Rufs, der dem jüdischen Volk nach wie vor
anhaftet, wegen der unauslöschlichen Spuren, die die
Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis
in der Erinnerung hinterlassen hat, wegen der massi-
ven Unterstützung, die die USA dem Staat Israel ge-
währen, und wegen des Vorwurfs, Israel sei ein Apart-
heid-Staat, der die  eroberten Gebiete mit brutaler
Gewalt unter seiner Kontrolle behalten wolle. Un-
terdessen hat es weit grausamere Kriege gegeben, bei
denen Zivilisten schonungslos aus der Luft angegrif-
fen oder am Boden niedergemetzelt wurden (der jahr-
zehntelange Bürgerkrieg im Sudan, die irakischen
Einsätze gegen die Kurden, die Besetzung Tschetsche-
niens durch die Russen), die jedoch nur relativ selten
im Bild festgehalten wurden.


Die denkwürdigen Schauplätze des Leidens, die in
den fünfziger, sechziger und frühen siebziger Jahren
des . Jahrhunderts von hochgeschätzten Fotografen
dokumentiert wurden, lagen meistens in Asien und
Afrika – Werner Bischofs Fotos von Hungernden in
Indien, Don McCullins Bilder von Opfern des Krieges
und der Hungersnot in Biafra, W. Eugene Smith᾽ Fotos
von Opfern der todbringenden Vergiftung eines gan-
zen Fischerdorfes in Japan. Die Hungersnöte in Indien
und Afrika waren keine bloßen »Naturkatastrophen«;
sie waren vermeidbar; sie waren ein großes Verbre-
chen. Und ¦was in Minamata geschah, war ganz offen-
kundig ein Verbrechen: die Chisso Corporation wußte,
daß sie quecksilberhaltige Abwässer in die Bucht lei-
tete. (Nachdem Smith ein Jahr lang dort fotografiert
hatte, wurde er von Schlägern der Chisso Corporation,
die die Anweisung bekommen hatten, seinen fotogra-
fischen Nachforschungen ein Ende zu machen, schwer
verletzt und behielt bleibende Schäden zurück.) Aber
der Krieg ist das größte Verbrechen, und seit Mitte der
sechziger Jahre des . Jahrhunderts haben die mei-
sten namhaften Fotografen, die Kriege dokumentierten,
ihre Aufgabe darin gesehen, das »wirkliche« Gesicht
des Krieges zu zeigen. Larry Burrows᾽ Farbaufnahmen
von geschundenen Vietnamesen in ihren Dörfern und
verwundeten amerikanischen Wehrpflichtigen, die Life
seit  veröffentlichte, haben den Protest gegen die
amerikanische Präsenz in Vietnam sicherlich gestärkt.
( wurde Burrows zusammen mit drei anderen Fo-
tografen in einem Helikopter der amerikanischen Ar-


mee über dem Ho-Chi-Minh Pfad in Laos abgeschos-
sen. Und Life stellte  sein Erscheinen ein – zur Be-
stürzung vieler, die, wie ich, mit seinen eindringlichen
Bildern aus dem Krieg und aus der Welt der Kunst auf-
gewachsen waren.) Burrows war der erste bedeutende
Fotograf, der einen ganzen Krieg in Farbe fotogra-
fierte – auch das ein Gewinn an Wirklichkeitsnähe,
das heißt an Schockwirkung. In der derzeitigen politi-
schen Stimmungslage, die dem Militär so wohlgesinnt
ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr, können Bilder von
deprimiert vor sich hin starrenden GIs, die früher den
Militarismus und den Imperialismus zu untergraben
schienen, womöglich inspirierend wirken. Ihr revidier-
tes Thema: ganz normale junge Amerikaner erfüllen
ihre unerfreuliche, ehrenvolle Pflicht.
Außer im heutigen Europa, das für sich das Recht in
Anspruch genommen hat, grundsätzlich gegen den
Krieg zu optieren, gilt nach wie vor, daß die meisten
Menschen die Begründungen nicht in Frage stellen,
die die Regierungen ihrer Länder anführen, wenn es
darum geht, einen Krieg zu beginnen oder fortzuset-
zen. Es müssen schon einige besondere Umstände zu-
sammenkommen, damit ein Krieg wirklich unpopulär
wird. (Die Aussicht, in diesem Krieg ums Leben zu
kommen, gehört nicht unbedingt dazu.) Wenn dies ge-
schieht, ist das Material, das die Fotografen zusammen-
getragen haben und mit dem sie den Konflikt viel-
leicht entlarven wollten, von großem Nutzen. Wo aber
solcher Protest ausbleibt, läßt sich das gleiche Anti-
kriegsfoto auch ganz anders deuten – als Darstellung


von Pathos oder als Darstellung eines bewundernswer-
ten Heldentums in einem unvermeidlichen Kampf,
der nur in Sieg oder Niederlage enden kann. Die Ab-
sichten des Fotografen bestimmen die Bedeutung des
Fotos nicht, das vielmehr zwischen den Launen und
Loyalitäten der verschiedenen Gruppen, die etwas mit
ihm anfangen können, seinen eigenen Weg geht.



Was bedeutet es, ge-


gen Leiden zu protestieren, und worin unterscheidet
sich solches Protestieren von der Anerkennung der Tat-
sache, daß es Leiden gibt?
Die Ikonographie des Leidens hat eine lange Ge-
schichte. Als besonders darstellenswert gelten meist
jene Leiden, in denen man ein Werk göttlichen oder
menschlichen Zorns erkennt. (Leiden, die sich auf
natürliche Ursachen, etwa auf eine Krankheit oder die
Geburt eines Kindes, zurückführen lassen, werden in
der Kunst nur vereinzelt dargestellt; und Leiden auf-
grund von Unfällen so gut wie gar nicht – als würde es
Leiden infolge von Fahrlässigkeit oder Mißgeschick
nicht geben.) Die Statuengruppe des sich windenden
Laokoon und seiner Söhne, die unzähligen Darstellun-
gen der Passion Christi in Malerei und Bildhauerei und
der unerschöpfliche Bilderkatalog teuflischer Quäle-
reien an christlichen Märtyrern – sie alle sollen gewiß
berühren und erregen, belehren und Beispiel geben.
der Betrachter mag für den Leidenden Mitleid emp-
finden – oder sich im Falle der christlichen Heiligen


ermahnt und durch ihre vorbildliche Glaubens- und
Seelenstärke erbaut fühlen, aber alle diese Geschicke
liegen jenseits dessen, wogegen man sich empören oder
was man bekämpfen könnte.
Anscheinend ist der Appetit auf Bilder, die Schmer-
zen leidende Leiber zeigen, fast so stark wie das Verlan-
gen nach Bildern, auf denen nackte Leiber zu sehen
sind. In der christlichen Kunst boten Höllendarstellun-
gen jahrhundertelang eine Möglichkeit, diese beiden
elementaren Bedürfnisse zu befriedigen. Gelegentlich
liefern die Erwähnung einer Enthauptung in der Bibel
(Holofernes, Johannes der Täufer) oder Berichte von
einem Blutbad, das als reales historisches Ereignis und
unerbittliches Schicksal aufgefaßt wird (die Ermor-
dung der neugeborenen Knaben zu Bethlehem, der
Martertod der elftausend Jungfrauen) einen willkom-
menen Vorwand. Auch die klassische Antike verfügt
über einen Bestand an Grausamkeiten, deren Anblick
schwer erträglich ist. In noch größerem Maße als die
christlichen Geschichten haben die heidnischen My-
then für jeden Geschmack etwas zu bieten. Die Dar-
stellung dieser Grausamkeiten ist nicht moralisch be-
frachtet. Es geht nur um die Provokation: Schaffst du
es, hinzusehen? Es gibt die Befriedigung, ein Bild an-
sehen zu können, ohne zurückzuschaudern. Es gibt das
Vergnügen des Zurückschauderns.
Über Goltzius᾽ Kupferstich Der Drache verschlingt
die Gefährten des Kadmus () zu erschauern, auf
dem einem Mann das Gesicht vom Kopf abgebissen
wird, ist etwas ganz anderes, als angesichts eines Fotos


von einem Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg zu er-
schauern, dem das Gesicht weggeschossen wurde. Der
eine Schrecken ist in einem komplexen Bildthema ver-
ankert – Gestalten in einer Landschaft –, das den ge-
nauen Blick und die geschickte Hand des Künstlers of-
fenbart. Der andere besteht in dem aus nächster Nähe
gemachten Kamerabild der unsäglich schrecklichen
Verstümmelung eines wirklichen Menschen und sonst
nichts. Ein erfundener Schrecken kann durchaus über-
wältigen. (Mir zum Beispiel fällt es schwer, Tizians
großartiges Bild von der Schindung des Marsyas oder
auch andere Bilder mit dem gleichen Thema anzuse-
hen.) Aber in die Erschütterung beim Betrachten der
Nahaufnahme eines wirklichen Schreckens mischt
sich Beschämung. Vielleicht haben nur jene Menschen
das Recht, Bilder eines so extremen Leidens zu be-
trachten, die für seine Linderung etwas tun könnten –
etwa die Chirurgen des Militärhospitals, in dem die
Aufnahme gemacht wurde, oder Menschen, die aus ihr
etwas lernen könnten. Wir anderen sind, ob wir wollen
oder nicht, Voyeure.
In jedem Fall lädt uns das Grauenhafte ein, entweder
Zuschauer zu sein oder Feiglinge, die nicht hinsehen
können. Jene, die es verkraften, hinzusehen, spielen
eine Rolle, der von zahlreichen bedeutenden Leidens-
darstellungen ihr eigenes Recht zugebilligt wird. Mar-
tern, ein kanonisches Thema der Kunst, werden in der
Malerei oft als Spektakel dargestellt, bei dem andere
Leute zuschauen (oder wegschauen). Die unausgespro-
chene Botschaft lautet: Nein, ändern läßt sich daran


nichts – und die Vermischung von unaufmerksamen
und aufmerksamen Zuschauern unterstreicht dies.
Die Darstellung grauenhaften Leidens als einer Ge-
gebenheit, gegen die man sich empören und die
man, wenn möglich, abschaffen sollte, tritt in der Ge-
schichte der Bilder zusammen mit einem bestimmten
Thema in Erscheinung: den Leiden, die eine Zivil-
bevölkerung unter einer siegreichen, marodierenden
Armee zu erdulden hat. Dieses ganz und gar weltliche
Thema taucht im . Jahrhundert auf, als die Macht-
verschiebungen dieser Zeit auch zum Stoff für Künst-
ler werden.  brachte Jacques Callot unter dem Ti-
tel Les Misères et les Malheurs de la Guerre (Elend und
Unglück des Krieges) eine Serie von achtzehn Radie-
rungen heraus, auf denen er die Greueltaten schil-
derte, die französische Soldaten Anfang der dreißiger
Jahre des . Jahrhunderts bei der Besetzung seiner
lothringischen Heimat an der Zivilbevölkerung ver-
übt hatten. (Sechs kleinere Radierungen zum gleichen
Thema, die Callot vor der großen Serie anfertigte, er-
schienen , im Jahr nach seinem Tod.) Diese Blätter
zeigen weite, in die Tiefe reichende Ansichten. Es sind
große, figurenreiche Szenen eines historischen Ge-
schehens, und jede Bildunterschrift liefert in Versen
einen sentenziösen Kommentar zu den Kräften und
Verhängnissen, die auf den Bildern dargestellt werden.
Callot beginnt mit einem Blatt, das die Rekrutierung
von Soldaten zeigt; dann rückt er wildes Gefecht, Mas-
saker, Plünderung, Vergewaltigung, diverse Folter- und
Hinrichtungsverfahren (Wippgalgen, Galgenbaum, Er-


schießung, Scheiterhaufen, Rad) und die Rache der
Bauern an den Soldaten ins Bild; und schließt mit einer
Verteilung der Belohnung. Wie er dabei Blatt für Blatt
auf der Barbarei einer siegreichen Armee insistiert, ist
erstaunlich und ohne Beispiel. Doch die französischen
Soldaten sind in dieser Gewaltorgie nur die größten,
nicht die einzigen Übeltäter. In Callots christlich-hu-
manistischer Wahrnehmung ist nicht nur Platz für ein
Klagelied auf das Ende des selbständigen Herzogtums
Lothringen, er hält auch das Nachkriegselend der Sol-
daten im Bild fest, wie sie, an der Straße hockend, um
Almosen betteln.
Callot hatte Nachfolger, etwa Hans Ulrich Franck,
einen weniger bekannten deutschen Künstler, der ,
gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges, eine Serie
von Radierungen begann, die dann (bis ) auf fünf-
undzwanzig Blätter anwuchs – lauter Darstellungen
von Soldaten, die Bauern umbringen. Doch niemand
hat sich mit solcher Intensität auf die Schrecken des
Krieges und die Bösartigkeit einer entfesselten Solda-
teska eingelassen wie Goya zu Beginn des . Jahrhun-
derts. Los Desastres de la Guerra (Die Schrecken des
Krieges), eine Folge von  numerierten, zwischen
 und  entstandenen Radierungen (die, bis auf
drei Blätter, erstmals  veröffentlicht wurden, fünf-
unddreißig Jahre nach Goyas Tod), schildern die Greu-
eltaten der Soldaten Napoleons, die  in Spanien
eindrangen, um den Aufstand gegen die französische
Herrschaft niederzuschlagen. Goyas Bilder führen den
Betrachter dicht an den Schrecken heran. Alles Bei-


werk ist weggelassen: die Landschaft ist nur Atmo-
sphäre, Dunkelheit, kaum angedeutet. Der Krieg ist
kein Spektakel. Und Goyas Radierfolge erzählt keine
Geschichte: jedes Blatt, versehen mit einer kurzen Bild-
unterschrift, die die Bösartigkeit der Eindringlinge
und die Ungeheuerlichkeit der von ihnen verursachten
Leiden beklagt, steht für sich. Die Gesamtwirkung ist
niederschmetternd.
Die Grausamkeiten in Los Desastres de la Guerra
sollen den Betrachter aufrütteln, schockieren, sie sol-
len ihm weh tun. Goyas Kunst scheint, wie die Dosto-
jewskis, einen Wendepunkt in der Geschichte des mo-
ralischen Empfindens und des Kummers zu markie-
ren – genauso tief, genauso neuartig, genauso fordernd.
Mit Goya tritt innerhalb der Kunst ein neues Maß
an Empfänglichkeit für Leiden in Erscheinung. (Und
neue Motive, die sich an das Mitgefühl wenden: etwa
das Gemälde, auf dem ein verletzter Arbeiter von einer
Baustelle getragen wird.) Die Darstellung von Kriegs-
greueln wird als Attacke auf die Sensibilität des Be-
trachters vorgetragen. Die expressiven Formulierun-
gen in Schreibschrift unter jedem Bild kommentieren
die Provokation auf ihre Weise. Während das Bild, wie
jedes Bild, eine Aufforderung zum Hinsehen ist, betont
die Bildunterschrift immer wieder, wie schwierig es
ist, ebendies zu tun. Eine Stimme, vermutlich die des
Künstlers, läßt dem Betrachter keine Ruhe: Kannst du
diesen Anblick ertragen? Eine Bildunterschrift lautet:
Man kann gar nicht hinsehen (No se puede mirar). Eine
andere verkündet: Das ist schlimm (Esto es malo). Eine


andere erwidert: Das ist schlimmer (Esto espeor). Wie-
der eine andere ruft: Das ist das Schlimmste! (¡Esto es lo
peor!) Eine verkündet: Barbaren! (¡Barbaros!) Welcher
Wahnsinn! (¡Que locuraf ) ruft eine andere. Und noch
eine andere: Das ist zuviel! (¡Fuerte cosa es!) Und wieder
eine andere: Warum? (¿Por qué?)
Die Bildunterschrift zu einem Foto ist meist neutral
und informativ: Datum, Ortsangabe, Namen. Ein Er-
kundungsfoto aus dem Ersten Weltkrieg (dem ersten
Krieg, in dem Kameras in größerem Umfang zur mi-
litärischen Aufklärung verwendet wurden) hätte man
kaum mit der Bildunterschrift versehen: »Man kann es
kaum erwarten, diese Stellung zu überrennen« – und
genauso unwahrscheinlich wäre eine Röntgenauf-
nahme von einem Splitterbruch mit der Bemerkung:
»Dieser Patient wird wohl später hinken!« Es wäre
auch nicht nötig, mit der Stimme des Fotografen über
das Foto zu sprechen und seine Wahrheit zu beteuern,
wie es Goya in Los Desastres de la Guerra tut, wenn er
einem Blatt die Unterschrift beigibt: Ich habe das gese-
hen (Yo lo ví). Und einem anderen: Das ist die Wahr-
heit (Esto es lo verdadero). Selbstverständlich hat der
Fotograf es gesehen. Und sofern an seinem Bild nichts
verfälscht oder gefälscht wurde, ist es die Wahrheit.
Im Englischen wird ein deutlicher Unterschied
gemacht zwischen Zeichnungen und Gemälden, die
»gemacht«, und Fotos, die »aufgenommen« werden.
Aber das fotografische Bild, auch wo es tatsächlich eine
Spur ist (und kein Konstrukt aus verschiedenen foto-
grafischen Spuren), kann doch kein einfaches Abbild,


kein »Durchschlag« von etwas Geschehenem sein. Es
ist immer ein Bild, das jemand gewählt hat; Fotogra-
fieren heißt einen Ausschnitt wählen, und einen Aus-
schnitt wählen heißt Ausschließen. Im übrigen sind
Bilder auch schon lange vor dem Zeitalter der Digital-
fotografie und der »Photoshop«-Effekte manipuliert
worden: Fotos konnten den Betrachter schon immer
täuschen. Ein Gemälde oder eine Zeichnung gilt als
Fälschung, wenn sich herausstellt, daß sie nicht von
dem Künstler stammt, dem sie zugeschrieben wurde.
Ein Foto – oder ein gefilmtes Dokument im Fernsehen
oder im Internet – gilt als Fälschung, wenn sich her-
ausstellt, daß es den Betrachter in bezug auf das, was es
angeblich darstellt, täuscht.
Daß sich die von den französischen Soldaten in Spa-
nien verübten Greuel nicht exakt so abspielten, wie
Goya sie dargestellt hat – daß also dieses Opfer nicht
genauso aussah wie auf der Radierung, daß jene Szene
sich nicht neben einem Baum ereignete –, nimmt den
Desastres de la Guerra nichts von ihrem Wert. Goyas Bil-
der bilden eine Synthese. Ihr Anspruch lautet: solche
Dinge sind geschehen. Im Gegensatz dazu erhebt ein
einzelnes Foto oder eine Filmaufnahme den Anspruch,
genau das wiederzugeben, was sich vor dem Objektiv
der Kamera abgespielt hat. Von Fotos erwartet man, daß
sie zeigen, nicht andeuten. Deshalb können sie auch,
im Unterschied zu Bildern, die mit der Hand »ge-
macht« wurden, als Beweise dienen. Aber als Beweise
für was? Daß Capas Foto »Tod eines republikanischen
Soldaten«, das in der maßgeblichen Ausgabe seines


Gesamtwerks unter dem Titel »Der fallende Soldat«
erscheint, womöglich nicht zeigt, was es angeblich zei-
gen soll (eine der Hypothesen lautet, es sei bei einer
Militärübung in der Nähe der Front entstanden) – die-
ser Verdacht geistert nach wie vor durch viele Ge-
spräche über die Kriegsfotografie. Wo es um Fotos geht,
wird jeder zum Buchstabengläubigen.

Angesichts der weiten Verbreitung, die Bilder von


Kriegsleiden heute finden, vergißt man leicht, daß sol-
che Bilder erst seit relativ kurzer Zeit von bekannten
Fotografen erwartet werden. In der Vergangenheit ha-
ben sie meistens positive Bilder vom Soldatenleben
und den Freuden des Kriegshandwerks geliefert. So-
fern es nach den Regierungen ging, hat die Kriegsfoto-
grafie, genau wie der größte Teil der Kriegspoesie, vor
allem für die Unterstützung des aufopferungsvollen
Tuns der Soldaten geworben.
Tatsächlich beginnt die Kriegsfotografie mit einer
solchen Mission – und einer solchen Schande. Es ging
um den Krimkrieg, und Roger Fonton, den man später
immer wieder als ersten Kriegsfotografen bezeichnet
hat, war nichts Geringeres als der »offizielle« Fotograf
dieses Krieges, nachdem ihn die britische Regierung
auf Betreiben von Prinz Albert Anfang  auf die
Krim geschickt hatte. Sie hatte erkannt, daß den beun-
ruhigenden Zeitungsberichten über die unerwarteten
Gefahren und Entbehrungen, denen die im Jahr zuvor
entsandten britischen Soldaten ausgesetzt waren, et-


was entgegengestellt werden mußte, und hatte deshalb
einen bekannten Berufsfotografen aufgefordert, andere,
positivere Eindrücke von diesem immer unpopulärer
werdenden Krieg zu vermitteln.
In seinen  unter dem Titel Vater und Sohn er-
schienenen Erinnerungen an eine englische Kindheit
um die Mitte des . Jahrhunderts beschreibt Edmund
Gosse, wie der Krimkrieg bis in die Abgeschiedenheit
seines streng religiösen, vom Sektengeist der evange-
lischen »Plymouth-Brüder« geprägten Elternhauses
vordrang:

Die Kriegserklärung an Rußland brachte zum er-


stenmal einen Luftzug von Außenwelt in unser kal-
vinistisches Kloster. Meine Eltern abonnierten eine
Tageszeitung, was sie nie zuvor getan hatten, und
Geschehnisse an pittoresken Orten, die mein Vater
und ich auf der Landkarte ausfindig machten, wur-
den eifrig erörtert.

Der Krieg lieferte die faszinierendsten – und pittores-


kesten – Nachrichten, und das tut er (neben dem inter-
nationalen Sport, diesem unschätzbaren Kriegsersatz)
noch heute. Der Krimkrieg jedoch lieferte nicht einfach
nur Nachrichten – er lieferte schlechte Nachrichten.
Die maßgebliche und übrigens bilderlose Londoner
Zeitung, der Gosses Eltern schließlich nicht hatten
widerstehen können, die Times, attackierte die mi-
litärische Führung, die mit ihrer Unfähigkeit dafür
verantwortlich war, daß sich der Krieg unter riesigen


britischen Verlusten so sehr in die Länge zog. Die Op-
fer aufgrund nicht mit den Kampfhandlungen zusam-
menhängender Ursachen, die dieser Krieg unter den
Soldaten forderte, waren ungeheuerlich – zweiund-
zwanzigtausend starben an Krankheiten; Tausende ver-
loren bei der Belagerung von Sewastopol während des
langen russischen Winters durch Erfrierungen Arme
und Beine, Hände und Füße – und eine Reihe von
Gefechten nahm einen katastrophalen Ausgang. Es
herrschte noch Winter, als Fenton zu einem viermona-
tigen Aufenthalt auf der Krim eintraf, nachdem er zu-
vor vertraglich vereinbart hatte, die Fotos nach seiner
Rückkehr (in Form von Holzstichen) in einer weniger
ehrwürdigen, weniger kritischen Wochenzeitung, den
Illustrated London News, zu veröffentlichen und sie
außerdem in einer Galerie auszustellen und als Buch
zu vermarkten.
Das Kriegsministerium hatte ihn angewiesen, Tote,
Verstümmelte oder Kranke nicht zu fotografieren, und
bei den meisten anderen in Frage kommenden Moti-
ven hinderte ihn seine sperrige Apparatur am Fotogra-
fieren. So kam es, daß sich der Krieg auf Fentons Auf-
nahmen wie ein Gruppenausflug von lauter würdigen
Männern ausnimmt. Da für jede einzelne Aufnahme
zunächst eine Platte in der Dunkelkammer chemisch
vorbereitet werden mußte und die Belichtungszeit
fünfzehn Sekunden betrug, konnte Fenton nicht ein-
mal britische Offiziere, die im Freien miteinander
plauderten, oder einfache Soldaten beim Reinigen
ihrer Kanonen fotografieren, ohne sie vorher zu bitten,


für ihn zu posieren, seine Anweisungen zu befolgen
und stillzuhalten. Seine Bilder sind Genreszenen aus
der Etappe; der Krieg – Bewegung, Unordnung, Dra-
matik – bleibt der Kamera unzugänglich. Ein einziges
Foto, das Fenton auf der Krim machte, geht über dieses
betuliche Abschildern hinaus. Sein Titel, »Das Tal des
Todesschattens«, beschwört die Tröstungen des bibli-
schen Psalmisten ebenso wie die militärische Katastro-
phe des voraufgegangenen Oktobers, als auf der Ebene
oberhalb von Balaklava sechshundert britische Solda-
ten in einen Hinterhalt gerieten. In seinem Gedicht
»Der Angriff der Leichten Brigade« nannte Tennyson
diesen Ort das »Tal des Todes«. Fentons Foto ist ein Por-
trät der Abwesenheit, des Todes ohne die Toten. Es ist
unter all seinen Bildern das einzige, das keiner Insze-
nierung bedurft hätte, denn es zeigt nur eine breite,
von Wagenspuren zerfurchte, mit Steinbrocken und
Kanonenkugeln übersäte Straße, die sich durch eine
sanft gewellte Ödnis in die leere Ferne windet.
Eine kühnere Folge von nach dem Kampf aufge-
nommenen Bildern des Todes und der Zerstörung, die
nicht von erlittenen Verlusten, sondern von der drako-
nischen Anwendung britischer Militärgewalt zeugen,
stammt von einem anderen Fotografen, der ebenfalls
den Kriegsschauplatz auf der Krim besucht hatte.
Felice Beato, ein in Venedig geborener naturalisierter
Engländer, war der erste Fotograf, der an mehreren
Kriegen teilnahm: nachdem er sich  auf die Krim
begeben hatte, wurde er / Zeuge des Sepoy-Auf-
standes (den die Briten als »indische Meuterei« be-


zeichneten), erlebte  den Zweiten Opiumkrieg in
China und schließlich  die Kolonialkriege im Su-
dan mit. Drei Jahre nachdem Fenton seine harmlosen
Bilder von einem für England äußerst ungünstig ver-
laufenen Krieg aufgenommen hatte, feierte Beato den
brutalen Sieg der britischen Armee über eine Meuterei
von einheimischen Soldaten, die unter ihrem Kom-
mando gestanden hatten – die erste große Herausfor-
derung der britischen Vorherrschaft über Indien. Auf
dem schauerlichen Foto, das Beato in Lucknow aufge-
nommen hat, ist der Hof des von britischen Kanonen
zerstörten Sikandarbagh-Palastes übersät mit den Ge-
beinen der Aufständischen.
Den ersten Versuch, einen Krieg ausführlich mit der
Kamera zu dokumentieren, unternahm wenige Jahre
später im amerikanischen Bürgerkrieg eine Gruppe
von Fotografen aus dem Norden. Sie arbeiteten für das
Studio von Mathew Brady, der mehrere offizielle Por-
träts von Präsident Lincoln aufgenommen hatte. Die
Brady-Bilder – zum größten Teil aufgenommen von
Alexander Gardner und Timothy O᾽Sullivan, obwohl sie
immer wieder ihrem Arbeitgeber zugeschrieben wur-
den – zeigten auch konventionelle Motive wie Feld-
lager, in denen es von Offizieren und Infanteristen
wimmelte, Städte, die der Krieg heimgesucht hatte,
Artilleriegeschütze und Schiffe, doch das größte Auf-
sehen erregten die Bilder von toten Soldaten der Nord-
und der Südstaaten auf den von Kugeln zerwühlten
Schlachtfeldern von Gettysburg und Antietam. Den
Zutritt zum Kampfgebiet bekamen Brady und sein


Team zwar nur aufgrund einer Sondergenehmigung
von Lincoln selbst, aber sie arbeiteten nicht, wie Fen-
ton, in öffentlichem Auftrag, sondern, wie es der ame-
rikanischen Haltung eher entsprach, als selbständige
Fotografen und freie Unternehmer.
Die erste Rechtfertigung für die drastischen Bilder,
die tote Soldaten zeigten und damit offenkundig ein
Tabu verletzten, war einfach die Pflicht des Bericht-
erstatters. »Die Kamera ist das Auge der Geschichte«,
soll Brady gesagt haben. Und die Berufung auf die Ge-
schichte als letzte Instanz von Wahrheit verband sich
mit der Idee, bestimmte Themen und Motive verdien-
ten eine vermehrte Aufmerksamkeit – eine Vorstel-
lung, die unter dem Stichwort »Realismus« immer
mehr Ansehen gewann und unter den Romanschrift-
stellern bald mehr Befürworter fand als unter den
Fotografen.* Im Namen des Realismus war es gestattet,
*
Der ernüchternde Realismus der Fotografien von gefallenen
Soldaten auf dem Schlachtfeld begegnet uns auch in dem Ro-
man The Red Badge of Courage (Das rote Tapferkeitsabzeichen),
der ganz aus der verstörten, erschrockenen Perspektive eines
jungen Marines geschrieben ist, der sehr wohl selbst einer dieser
Toten hätte sein können. Stephen Cranes stark visueller, von
einer einzigen Stimme getragener Antikriegsroman, der ,
dreißig Jahre nach dem Ende des Krieges, erschien (Crane wurde
 geboren), ist emotional und mit seiner vereinfachenden
Perspektive weit entfernt von der Vielschichtigkeit, mit der Walt
Whitman als Zeitgenosse das »rote Geschäft« des Krieges behan-
delt. In Drum-Taps (Trommelschläge), einem Gedichtzyklus,
den Whitman  veröffentlichte und später in Leaves of Grass
(Grashalme) aufnahm, kommen zahlreiche Stimmen zu Wort.
Whitman empfand zwar keine Begeisterung für diesen Krieg,


ja geradezu geboten, unliebsame, harte Tatsachen zu
zeigen. Solche Bilder vermittelten außerdem »eine nütz-
liche Moral«, indem sie »den nackten Schrecken und
die Wirklichkeit des Krieges statt seines Schaugeprän-
ges« zeigten, schrieb Gardner in einem Begleittext zu
O᾽Sullivans Bild von gefallenen Soldaten der Südstaa-
ten mit qualverzerrten, dem Betrachter zugewandten
Gesichtern, das in den von ihm und anderen Brady-Fo-
tografen nach dem Krieg herausgegebenen Bildband
aufgenommen wurde. (Gardner gab seine Stelle bei
Brady  auf.) »Hier sieht man die grauenhaften
Einzelheiten! Mögen sie dazu beitragen, daß nie wie-
der solches Unheil über die Nation kommt.« Aber die
Direktheit der denkwürdigsten Bilder in Gardner›s
Photographic Sketch Book of the War () bedeutete
nicht etwa, daß er und seine Kollegen ihre Motive im-
mer so fotografiert hätten, wie sie sie vorfanden. Foto-
grafieren bedeutete Komponieren (bei lebenden Per-
sonen: Posieren), und der Wunsch, Bildelemente zu
arrangieren, erlahmte auch dort nicht, wo das Motiv
unbeweglich war oder sich nicht mehr regen konnte.
Eigentlich kann es nicht überraschen, daß viele ka-
nonische Bilder der frühen Kriegsfotografie inszeniert
sind oder daß an dem, was sie abbilden, oft Verände-
rungen vorgenommen wurden. Nachdem Fenton mit

den er als großen Brudermord ansah, und war tief bekümmert


über die Leiden auf beiden Seiten, dennoch war er für das Drama
und die heroische Musik dieses Krieges durchaus empfänglich.
Sein Ohr sorgte dafür, daß er soldatisch gesinnt blieb, wenn auch
auf seine großzügige, komplexe, liebevolle Weise.


seiner in einem Pferdewagen untergebrachten Dun-
kelkammer das Tal in der Nähe von Sewastopol er-
reicht hatte, das Monate vorher unter so heftigen Be-
schuß geraten war, machte er von der gleichen Stativ-
position zwei Aufnahmen: auf der ersten Version des
berühmten Fotos, dem er dann den Titel »Das Tal des
Todesschattens« gab (obwohl die Leichte Brigade nicht
an dieser Stelle zu ihrem verhängnisvollen Sturm
angesetzt hatte), liegen die Kanonenkugeln in einem
Graben links neben der Straße dicht beieinander; doch
bevor er das zweite Bild machte – das seither fast im-
mer reproduziert wird –, sorgte Fenton dafür, daß die
Kanonenkugeln auf der Straße verteilt lagen. Für eine
der ersten fotografischen Darstellungen des Grauens
im Kriege, Felice Beatos Bild des verwüsteten Sikan-
darbagh-Palastes, in dem tatsächlich sehr viele Men-
schen ums Leben gekommen waren, wurde das Bild-
motiv sehr viel stärker verändert. Der Angriff hatte
im November  stattgefunden, und nachher hat-
ten die siegreichen britischen Soldaten und loyale
indische Einheiten den Palast Zimmer für Zimmer
durchkämmt, hatten die achtzehnhundert noch leben-
den Sepoy-Verteidiger, die jetzt ihre Gefangenen wa-
ren, mit Bajonetten niedergemacht und ihre Leichen
in den Hof geworfen; Geier und Hunde besorgten das
übrige. Für das Foto, das er im März oder April 
aufnahm, inszenierte Beato die Ruine als Schädel-
stätte, ließ ein paar Eingeborene an den Säulen im
Hintergrund posieren und verteilte auf dem ganzen
Hof Menschenknochen.


Immerhin waren es ältere Knochen. Heute weiß
man, daß das Team von Mathew Brady in Gettysburg
die Leichen einiger soeben gefallener Soldaten umge-
bettet und umgruppiert hat: das Bild mit dem Titel
»Unterstand eines Scharfschützen der Rebellen, Get-
tysburg« zeigt in Wirklichkeit einen toten Soldaten
der Konföderierten, den man von dort, wo er auf dem
Schlachtfeld gefallen war, an einen aus Sicht des Foto-
grafen interessanteren Platz geschafft hatte: in eine
Nische aus zwei Felsblöcken, zwischen denen eine Bar-
rikade aus Steinbrocken errichtet war. Auf dem Bild ist
auch ein Requisit zu sehen – ein Gewehr, das Gardner
neben der Leiche an die Barrikade lehnte. (Wahr-
scheinlich handelt es sich dabei nicht um eine Spezial-
waffe, wie sie ein Scharfschütze verwendet hätte, son-
dern um ein gewöhnliches Infanteriegewehr; Gardner
wußte dies nicht, oder es war ihm gleichgültig.) Es ist
eigentlich nicht verwunderlich, daß so viele eindring-
liche Reportagefotos der Vergangenheit, unter ihnen
auch einige der Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg, die
sich der Erinnerung besonders tief eingeprägt haben,
offenbar gestellt waren. Merkwürdig ist vielmehr, daß
wir, wenn wir davon erfahren, überrascht und immer
enttäuscht sind.
Besonders heftig ist unsere Bestürzung, wenn sich
Fotos als arrangiert erweisen, die intime Höhepunkte
festzuhalten zu scheinen, vor allem solche der Liebe
und des Todes. Entscheidend an dem Bild »Tod eines
republikanischen Soldaten« ist, daß es einen wirklichen,
zufällig festgehaltenen Augenblick wiedergibt; es ver-


löre jeglichen Wert, wenn sich herausstellen würde,
daß der fallende Soldat vor Capas Kamera nur posiert
hat. Robert Doisneau hat nie ausdrücklich behauptet,
das Foto für Life, das er  von zwei jungen Leuten
gemacht hat, die sich auf einem Gehsteig in der Nähe
des Pariser Hôtel de Ville küssen, sei ein Schnappschuß
gewesen. Trotzdem hat die Enthüllung, daß es sich um
eine arrangierte Aufnahme handelte und daß hier ein
Mann und eine Frau eigens angestellt worden waren,
einen Tag lang für Doisneau zu knutschen, selbst mehr
als vierzig Jahre nachher noch für heftige Verstim-
mung bei vielen gesorgt, denen dieses Bild als eine Vi-
sion der romantischen Liebe und des romantischen Pa-
ris lieb und teuer war. Wir wünschen uns, daß sich der
Fotograf im Haus der Liebe oder des Todes wie ein
Spion bewegt und daß diejenigen, die er fotografiert,
von der Kamera nichts ahnen, daß sie nicht auf der Hut
sind. Kein noch so ausgeprägtes Bewußtsein davon, was
Fotografie ist oder sein kann, wird jemals der Faszina-
tion etwas anhaben können, mit der uns ein Bild er-
füllt, das ein wachsamer Fotograf im richtigen Augen-
blick von einem unerwarteten Geschehen festhält.
Wenn wir als authentisch nur solche Fotos gelten las-
sen, die zustande gekommen sind, weil der Fotograf mit
schußbereiter Kamera im richtigen Augenblick zur
Stelle war, dann würden die meisten fotografischen
Darstellungen von Siegen ausscheiden. Nehmen wir
das Aufrichten einer Flagge auf irgendeiner Anhöhe,
während ringsum die Schlacht langsam abflaut. Das
berühmte Foto von der Aufrichtung der amerikani-


sehen Fahne am . Februar  auf Iwo Jima erweist
sich als eine »Rekonstruktion«, bei der ein Fotograf von
Associated Press, Joe Rosenthal, die Flaggenaufrich-
tung am Morgen unmittelbar nach der Einnahme des
Mount Suribachi im Laufe des Tages mit einer grö-
ßeren Fahne noch einmal wiederholen ließ. Die Ge-
schichte hinter dem nicht weniger symbolträchtigen
Siegesfoto, das der sowjetische Kriegsfotograf Jewgenij
Chaldei am . Mai  von russischen Soldaten ge-
macht hat, die auf dem Reichstag, hoch über dem noch
brennenden Berlin, die rote Fahne hissen, handelt
davon, daß diese Heldentat überhaupt nur für die Ka-
mera vollbracht wurde. Bei einem oft gedruckten Foto,
das  während der deutschen Luftangriffe auf Lon-
don gemacht wurde, liegt der Fall komplizierter, weil
der Fotograf und damit auch die Umstände, unter de-
nen dieses Bild entstand, unbekannt sind. Durch eine
fehlende Wand der völlig verwüsteten und ihres Da-
ches beraubten Bibliothek des Holland House zeigt es
drei Herren inmitten der Trümmer, die jeder für sich
vor zwei wunderbarerweise fast unversehrten Regal-
wänden voller Bücher stehen. Einer der drei läßt sei-
nen Blick über die Bücher gleiten; der zweite hat einen
Finger in den Rücken eines Buches gehakt und will es
gerade aus dem Regal ziehen; der dritte hält ein Buch
in der Hand und liest. Bei diesem sorgfältig kompo-
nierten Tableau muß ein Regisseur seine Hand im Spiel
gehabt haben. Es macht aber Spaß, sich vorzustellen,
daß dieses Bild vielleicht doch keine bloße Erfindung
eines Fotografen ist, der nach einem Luftangriff durch


Kensington streifte, inmitten der klaffenden Ruinen
des jakobitischen Hauses die verwüstete Bibliothek
entdeckte und dann die drei Männer herbeiholte, um
sie die Rolle der unerschütterlichen Bücherwürmer
spielen zu lassen, sondern daß diese drei Herren in dem
zerstörten Haus tatsächlich ihrer Bücherleidenschaft
frönten und der Fotograf sie nur etwas anders plaziert
hat, um ein prägnanteres Bild zu erzielen. So oder so
bleibt diesem Foto sein zeitbedingter Reiz und die Au-
thentizität erhalten, mit der es die inzwischen verblaßte
britische Tugend der durch nichts zu erschütternden
Seelenruhe zum Ausdruck bringt. Viele arrangierte
Fotos verwandeln sich im Laufe der Zeit wieder in hi-
storische Zeugnisse zurück, auch wenn sie dabei – wie
die meisten historischen Zeugnisse – an Reinheit ver-
lieren.
Erst seit dem Vietnamkrieg kann man einigermaßen
sicher sein, daß keines der besonders bekannt geworde-
nen Fotos gestellt war. Für die moralische Autorität die-
ser Bilder ist dies von entscheidender Bedeutung. Das
Foto von Huynh Cong Ut aus dem Jahre , das zum
Inbegriff der Schrecken des Vietnamkrieges geworden
ist – Kinder aus einem soeben mit amerikanischem
Napalm angegriffenen Dorf, die schreiend vor Schmerz
eine Straße entlanglaufen –, gehört zu jener Art von
Aufnahmen, die sich unmöglich stellen lassen. Das
gleiche gilt für die bekannten Bilder aus den meisten
Kriegen, die seither fotografiert wurden. Daß es seit
dem Vietnamkrieg nur so wenige gestellte Kriegsfotos
gegeben hat, läßt darauf schließen, daß von den Foto-


grafen heute ein höheres Maß an journalistischer Red-
lichkeit erwartet wird als früher. Zum Teil erklärt sich
dies vielleicht auch daraus, daß in Vietnam das Fern-
sehen erstmals zum maßgeblichen Medium für die
Übermittlung von Kriegsbildern wurde und daß der
unerschrockene einsame Fotograf, der mit seiner Leica
oder seiner Nikon früher die meiste Zeit allein unter-
wegs gewesen war, nun mit ganzen Kamerateams zu
konkurrieren und ihre Nähe zu ertragen hatte: heute
ist Kriegsberichterstattung nur noch selten ein einsa-
mes Wagnis. Technisch gesehen, sind die Möglichkei-
ten zur Verfälschung und elektronischen Manipulation
von Bildern heute größer denn je – fast unbegrenzt.
Aber dramatische Reportagefotos zu erfinden und vor
der Kamera zu inszenieren ist inzwischen anscheinend
eine aussterbende Kunst.



Einen gerade eintre-


tenden Tod festhalten und für alle Zeit bewahren – das
können nur Kameras. Und Bilder aus dem Feld, die den
Augenblick des Todes (oder den Moment unmittelbar
davor) zeigen, gehören zu den berühmtesten und be-
sonders häufig reproduzierten Kriegsfotos. Es besteht
kein Zweifel an der Authentizität dessen, was sich auf
dem Bild ereignet, das Eddie Adams im Februar 
aufgenommen hat: der Chef der südvietnamesischen
Polizei, Brigadegeneral Nguyen Ngoc Loan, erschießt
auf einer Straße in Saigon einen der Zugehörigkeit
zum Vietcong verdächtigten Mann. Und doch ist die-
ses Foto gestellt – von General Loan selbst. Er führte
den Gefangenen, dem die Hände hinter dem Rücken
gefesselt waren, auf die Straße, wo sich einige Journa-
listen versammelt hatten; er hätte ihn dort nicht kur-
zerhand exekutiert, wenn die Journalisten nicht an-
wesend gewesen wären und zugeschaut hätten. Loan
stand neben seinem Gefangenen, so daß sein eigenes
Profil und das Gesicht des Gefangenen für die Kame-
ras hinter ihm sichtbar waren, während er aus kürze-


ster Entfernung schoß. Adams᾽ Bild zeigt den Augen-
blick, in dem die Kugel soeben abgefeuert worden ist;
der tote Mann mit dem verzerrten Gesicht hat noch
nicht zu fallen begonnen. Was indessen den Betrachter,
was diese spezielle Betrachterin angeht – nun, auch
nach all den Jahren, seit dieses Bild gemacht wurde,
kann man die Gesichter darauf lange ansehen und ver-
mag doch das Rätselhafte – und Anstößige – solcher
Komplizenschaft beim Zuschauen nicht zu ergründen.
Noch bestürzender ist es, wenn man Gelegenheit be-
kommt, Menschen zu betrachten, die wissen, daß sie
zum Sterben verurteilt sind: etwa die Sammlung von
sechstausend Fotos, die zwischen  und  in einem
geheimen Gefängnis in einer ehemaligen Schule in
Tuol Sleng, einem Vorort von Phnom Penh, aufgenom-
men wurden. Hier sind unter dem Vorwurf, sie seien
»Intellektuelle« oder »Konterrevolutionäre«, mehr als
vierzehntausend Kambodschaner ermordet worden -
und die Dokumentation dieser Greuel verdanken wir
den Archivaren der Roten Khmer, die jedes ihrer Op-
fer, kurz bevor sie es hinrichteten, vor einer Kamera
Platz nehmen ließen.* Eine Auswahl dieser Bilder in ei-
nem Buch mit dem Titel The Killing Fields macht es
möglich, den Blick dieser in die Kamera – also auf uns –

*
Politische Gefangene und angebliche Konterrevolutionäre
kurz vor ihrer Hinrichtung zu fotografieren war in den dreißiger
und vierziger Jahren des . Jahrhunderts auch in der Sowjet-
union üblich, wie sich in jüngster Zeit bei der Durchforschung
von NKWD-Akten in baltischen und ukrainischen Archiven so-
wie im Zentralarchiv der Lubjanka in Moskau gezeigt hat.


starrenden Gesichter Jahrzehnte später zu erwidern.
Der Soldat der Spanischen Republik ist soeben gestor-
ben, wenn wir dem glauben dürfen, was in bezug auf
das Bild behauptet wird, das Robert Capa aus einiger
Entfernung aufgenommen hat: wir sehen darauf nicht
mehr als eine verwischte Gestalt, Körper und Kopf,
und eine Kraft, die den Mann im Fallen nach hinten
schleudert. Die kambodschanischen Frauen und Män-
ner aller Altersgruppen, auch viele Kinder, die aus
geringem Abstand meist in Halbfigur fotografiert
wurden, sehen – wie Marsyas auf Tizians Bild »Die
Schindung des Marsyas«, wo das Messer Apolls auf
ewig im Begriff ist, niederzufahren – für immer ihrem
Tod entgegen, für immer stehen sie kurz vor ihrer Er-
mordung, und für immer geschieht ihnen Unrecht.
Der Betrachter befindet sich ihnen gegenüber in der
gleichen Position wie der Henkersknecht hinter der
Kamera – eine grauenvolle Erfahrung. Der Name die-
ses Gefängnisfotografen ist bekannt – Nhem Ein –,
ihn kann man nennen. Diejenigen, die er fotografiert
hat, mit ihren wie betäubt wirkenden Mienen, ihren
ausgemergelten Oberkörpern, das Schildchen mit der
Gefangenennummer am Hemd, bleiben Masse: an-
onyme Opfer.
Und selbst wenn man sie mit ihren Namen benannt
hätte, wären sie »uns« doch wahrscheinlich unbe-
kannt. Virginia Woolfs Bemerkung, auf einem der Fo-
tos, die man ihr geschickt hatte, sei die Leiche eines
Mannes oder einer Frau so verstümmelt, daß sie auch
der Körper eines toten Schweines sein könnte, will


deutlich machen: Krieg ist so mörderisch, daß er auch
das zerstört, was Menschen als einzelne oder überhaupt
als Menschen erkennbar macht. So sieht der Krieg
natürlich nur für jemanden aus, der ihn aus der Ferne,
als Bild sieht.
Opfer, trauernde Verwandte, Nachrichtenkonsumen-
ten – sie alle haben ihre spezifische Nähe oder Distanz
zum Krieg. Die unverhohlensten Darstellungen aus
dem Krieg oder von Katastrophenopfern gelten Leu-
ten, die besonders fremdartig wirken und daher mit
der größten Wahrscheinlichkeit unbekannt sind. Wenn
uns die abgebildeten Menschen näher sind, wird vom
Fotografen mehr Diskretion erwartet.
Als die Fotografien von Gardner und O᾽Sullivan im
Oktober , einen Monat nach der Schlacht von An-
tietam, in Bradys Galerie in Manhattan ausgestellt
wurden, schrieb die New York Times:

Den Lebenden, die sich auf dem Broadway drängen,


mögen die Toten von Antietam ziemlich gleich-
gültig sein, aber wir glauben, sie würden nicht so
sorglos und nicht ganz so munter diese belebte
Straße entlangschlendern, wenn man dort direkt
vom Schlachtfeld einige bluttriefende Leichen nie-
dergelegt hätte. Da gäbe es ein eifriges Röckeraffen
und vorsichtiges Herumstaksen …

Auch wenn der Journalist hier das alte Klagelied an-


stimmt, daß diejenigen, die vom Krieg verschont blei-
ben, auf die Leiden außerhalb ihres Gesichtskreises


nur stumpf und gleichgültig reagieren, bleiben seine
Gefühle gegenüber der Unmittelbarkeit des fotografi-
schen Bildes doch zwiespältig.

Selbst in unseren Träumen suchen uns die Toten des


Schlachtfeldes nur sehr selten heim. Wir sehen die
Liste der Gefallenen beim Frühstück in der Morgen-
zeitung und verbannen sie mit dem Kaffee aus un-
seren Gedanken. Mr. Brady jedoch hat etwas getan,
womit er uns die furchtbare Wirklichkeit und den
Ernst des Krieges vor Augen führt. Zwar hat er keine
Leichen mitgebracht und sie in unsere Vorgärten
und auf unsere Straßen gelegt, aber er hat etwas
ganz Ähnliches getan … Diese Bilder sind von einer
erschreckenden Deutlichkeit. Mit Hilfe eines Ver-
größerungsglases kann man die Gesichtszüge der
Erschlagenen genau erkennen. Wir würden wohl
kaum in der Galerie zugegen sein wollen, wenn eine
der Frauen, die sich über die Bilder beugen, in den
starren, leblosen Umrissen der Körper, die vor den
klaffenden Schützengräben liegen, womöglich den
Gatten, den Sohn oder den Bruder erkennt.

In die Bewunderung mischt sich Mißbilligung wegen


des Schmerzes, den die Bilder den weiblichen Angehöri-
gen der Toten bereiten könnten. Die Kamera bringt
den Betrachter oder die Betrachterin nah heran – zu
nah; nimmt er oder sie ein Vergrößerungsglas zur
Hand – denn hier geht es um die doppelte Wirkung
zweier Linsen –, so liefert die »erschreckende Deut-


lichkeit« der Bilder überflüssige, anstößige Informa-
tionen. Aber während der Journalist der Times den un-
erträglichen Realismus des Bildes tadelt, kann er selbst
doch dem melodramatischen Effekt bloßer Wörter
(»bluttriefende Leichen« – »klaffende Schützengrä-
ben«) nicht widerstehen.
Im Zeitalter der Kameras soll die Wirklichkeit neuen
Anforderungen genügen. Es kann sein, daß das Wirk-
liche nicht erschreckend genug ist und daher noch be-
tont werden muß; oder es muß nachgestellt werden,
damit es überzeugender wirkt. So zeigt der erste jemals
von einer Schlacht gedrehte Wochenschaufilm nicht
die wirkliche Erstürmung der Höhen von San Juan
auf Kuba – eine bekannte Episode aus dem Spanisch-
Amerikanischen Krieg von  –, sondern einen
Sturmangriff, den Oberst Theodore Roosevelt und
seine Kavallerie-Einheit, die Rough Riders, kurz nach
den eigentlichen Ereignissen für die Vitagraph-Kame-
raleute nachstellten, weil man zu der Auffassung ge-
langt war, dem wirklichen Angriff, der ebenfalls ge-
filmt worden war, habe es an Dramatik gefehlt. Unter
Umständen sind die Bilder auch allzu schrecklich und
müssen mit Rücksicht auf Anstand oder Patriotismus
unterdrückt werden – etwa Bilder, die eigene Tote ohne
die gebotene Teilverhüllung zeigen. Schließlich ist die
Zurschaustellung der Toten etwas, das der Feind tut.
Im Burenkrieg (–) glaubten die Buren nach
ihrem Sieg bei Spion Kop im Januar , die Verbrei-
tung eines grauenvollen Fotos, auf dem tote britische
Soldaten zu sehen waren, könnte die Moral der eige-


nen Truppe weiter festigen. Es wurde zehn Tage nach
der Schlacht, in der die Briten dreizehnhundert Solda-
ten verloren hatten, von einem unbekannten Fotogra-
fen der Buren aufgenommen und zeigt einen langen,
nicht sehr tiefen Schützengraben voller Leichen. Be-
sonders aggressiv wirkt dieses Bild durch das Fehlen
aller landschaftlichen Umgebung. Das Durcheinander
der Leichen im Graben füllt die gesamte Bildfläche.
Die britische Empörung über diese neueste Schandtat
der Buren war groß, auch wenn sie nur in steifen Wor-
ten zum Ausdruck kam: derartige Bilder zu veröffent-
lichen, so erklärte der Amateur Photographer, »dient
keinem nützlichen Zweck und appelliert allein an das
Morbide im Menschen«.
Zensur hat es immer gegeben, aber lange Zeit er-
folgte sie nur sporadisch, blieb dem Gutdünken von
Generälen und Staatschefs überlassen. Erstmals wurde
die Fotoberichterstattung von der Front im Ersten
Weltkrieg systematisch reguliert; sowohl das deutsche
wie das französische Oberkommando ließen nur we-
nige ausgewählte Militärfotografen in die Nähe der
Kampfzone. (Die Zensur des britischen Generalstabs
war etwas flexibler.) Aber es dauerte weitere fünfzig
Jahre und bedurfte des Nachlassens der Zensuran-
strengungen während des ersten, kontinuierlich durch
das Fernsehen vermittelten Krieges, bis erkennbar
wurde, wie schockierende Fotos auf die Öffentlichkeit
in der Heimat wirken können. In der Vietnam-Ära war
Kriegsfotografie fast immer zugleich auch Kritik am
Krieg. Das mußte Konsequenzen haben: den Main-


stream-Medien geht es nicht darum, bei den Leuten
Unbehagen an jenen Kämpfen zu wecken, auf die sie
eingestimmt werden sollen, und Propaganda gegen
den Krieg wollen sie erst recht nicht verbreiten.
Seither hat die Zensur – sowohl die weitestgehende,
die Selbstzensur, als auch die vom Militär verhängte
Zensur – zahlreiche einflußreiche Befürworter gefun-
den. Zu Beginn des Falklandkrieges im April  ließ
die Regierung Margaret Thatchers nur zwei Fotojour-
nalisten zu – unter denen, die abgelehnt wurden, war
auch der bedeutende Kriegsfotograf Don McCullin –,
und vor der Rückeroberung der Inseln im Mai gelang-
ten nur drei Sendungen mit Filmmaterial nach Lon-
don. Seit dem Krimkrieg hatte es keine so weitgehende
Einschränkung der Berichterstattung über eine briti-
sche Militäroperation mehr gegeben. Den zuständigen
amerikanischen Behörden fiel es schwerer, eine ähn-
lich strenge Kontrolle bei ihren eigenen Auslandsaben-
teuern zu gewährleisten. Das amerikanische Militär
verlegte sich im Golfkrieg von  auf die Verbreitung
von Bildern aus dem Technokrieg: der Himmel über
den Sterbenden, erfüllt von den Leuchtspuren der Ra-
keten und Granaten – Bilder, die die absolute militä-
rische Überlegenheit Amerikas gegenüber dem Feind
veranschaulichten. Was die amerikanischen Fernseh-
zuschauer nicht zu sehen bekamen, waren von NBC be-
schaffte (und dann nicht ausgestrahlte) Aufnahmen,
die zeigten, was diese Überlegenheit anrichten konnte:
das Schicksal Tausender irakischer Wehrpflichtiger, die
gegen Ende des Kriegs, am . Februar , aus Ku-


wait City flohen und auf ihrem Weg nach Norden, in
Konvois oder zu Fuß, auf der Straße nach Basra mit
Sprengbomben, Napalm, radioaktiver DU-Munition
(depleted uranium – abgereichertes Uran) und Streu-
bomben belegt wurden – ein Massaker, das einer der
amerikanischen Offiziere damals als »Truthahn-Schie-
ßen« bezeichnete. Auch zu den meisten amerikani-
schen Operationen Ende  in Afghanistan hatten
Pressefotografen keinen Zugang.
Die Regeln für den nichtmilitärischen Einsatz von
Kameras an der Front sind sehr viel strenger gewor-
den, seit die Kriegführung selbst sich zum Aufspüren
des Feindes auf immer präzisere optische Instrumente
stützt. Ernst Jünger, dieser bemerkenswerte Ästhet des
Krieges, stellte schon  fest, daß es Krieg ohne Foto-
grafie nicht mehr gibt, und lieferte damit eine neue
Version der fast unwiderstehlichen Gleichsetzung
von Kamera und Gewehr, von »Bilder-Schießen« und
»Menschen-Schießen«, von »Schnappschuß« und »Fang-
schuß«. Kriegführen und Fotografieren sind kongru-
ente Betätigungen: »Es ist derselbe Verstand, der den
Gegner über große Entfernungen hinweg auf die Se-
kunde und auf den Meter genau mit seinen Vernich-
tungswaffen zu treffen weiß, und der das große ge-
schichtliche Ereignis in seinen feinsten Einzelheiten
zu bewahren sich bemüht.«*
*
Ernst Jünger, »Krieg und Lichtbild«, in: ders. (Hrsg.), Das
Antlitz des Weltkrieges. Fronterlebnisse deutscher Soldaten,
Berlin: Neuenfels & Henius , S. . – Im Jahre , dreizehn
Jahre vor der Zerstörung von Guernica, beschrieb Arthur Harris,


Die von Amerika heute bevorzugte Kriegführung
hat sich aus diesem Modell entwickelt. Das Fernsehen,
dessen Zugang zum Schauplatz durch staatliche Kon-
trolle und Selbstzensur beschränkt ist, serviert den
Krieg in Gestalt von Bildern. Aber auch der Krieg selbst
wird soweit wie möglich aus der Distanz geführt -
durch Bombenangriffe, deren Ziele dank der neuen
Technologien zur blitzschnellen Informations- und
Bildverarbeitung auf einem anderen Erdteil ausge-
wählt werden können: Die täglichen Bomberopera-
tionen in Afghanistan Ende  und Anfang 
wurden vom amerikanischen Central Command in
Tampa, Florida, gesteuert. Das Ziel besteht darin, dem
Feind hinreichend schmerzhafte Verluste zuzufügen
und gleichzeitig seine Möglichkeiten zu minimieren,
den eigenen Kräften überhaupt Verluste zuzufügen;
amerikanische und verbündete Soldaten, die bei Fahr-

damals noch ein junger Staffelführer im Irak, während des


Zweiten Weltkriegs dann Chef des Bomberkommandos der
Royal Air Force, die Lufteinsätze, mit denen die aufständischen
Bewohner dieser neuerworbenen britischen Kolonie vernichtet
wurden, und blieb auch die fotografischen Beweise für den Er-
folg seiner Mission nicht schuldig: »Der Araber und der Kurde
wissen jetzt, welche Verluste an Menschen und welche Schäden
mit wirklichen Bombenangriffen verbunden sind; sie wissen
jetzt, daß es möglich ist, binnen fünfundvierzig Minuten ein
großes Dorf (siehe die beigelegten Fotos von Kushan-Al-Ajaza)
praktisch auszuradieren und ein Drittel seiner Bevölkerung zu
töten – und dies mit vier oder fünf Maschinen, die ihnen kein
wirkliches Ziel und keine Gelegenheit bieten, ihren Kriegs-
ruhm zu vermehren, und denen sie praktisch auch nicht ent-
kommen können.«


zeugunfällen oder durch Beschüß aus den eigenen Rei-
hen, sogenanntes »friendly fire«, umkommen, zählen
und zählen zugleich auch nicht.
Auch in der Ära des ferngelenkten Krieges gegen die
unzähligen Feinde der amerikanischen Macht werden
noch Regeln darüber aufgestellt, was die Öffentlich-
keit sehen darf und was nicht. Tag für Tag treffen die
Nachrichtenredakteure von Fernsehsendern und die
Bildredakteure von Zeitungen und Zeitschriften Ent-
scheidungen, aus denen sich ein schwankender Kon-
sensus über die Grenzen des öffentlichen Wissens er-
gibt. Oft kleiden diese Leute ihre Entscheidungen in
Urteile über den »guten Geschmack« – ein Maßstab,
der dort, wo sich Institutionen auf ihn berufen, immer
repressiv ist. Die »Grenzen des guten Geschmacks« lie-
ferten auch die wichtigste Begründung dafür, die grau-
sigen Bilder der Toten nicht zu zeigen, die unmittelbar
nach dem Angriff vom . September  an der Stelle,
wo das World Trade Center gestanden hatte, aufge-
nommen wurden. Die Massenpresse ist beim Abdruck
von schauerlichen Bildern im allgemeinen weniger zag-
haft als die seriöseren Zeitungen; tatsächlich brachte
eine Abendausgabe der in New York erscheinenden
Daily News kurz nach dem Angriff das Bild einer ab-
getrennten Hand im Trümmerschutt des World Trade
Center; anscheinend ist es nirgendwo sonst erschie-
nen. Die Fernsehnachrichten, die sich an ein sehr viel
größeres Publikum richten und daher auch sensibler
auf den Druck von Werbekunden reagieren, arbeiten
unter noch strengeren, größtenteils selbstauferlegten


Beschränkungen im Hinblick auf das, was sich »schick-
licherweise« senden läßt und was nicht. Dieses neue
Beharren auf »gutem Geschmack« in einer Kultur, die
ansonsten überreich ist an kommerziellen Tendenzen,
die auf eine Absenkung der Maßstäbe zielen, mag auf
den ersten Blick verwundern. Es wird jedoch verständ-
lich, wenn man sich vor Augen führt, wie auf diese
Weise ein ganzes Knäuel nicht benennbarer Besorgnisse
und Ängste in bezug auf die öffentliche Ordnung und
die öffentliche Moral im unklaren belassen wird, und
wenn man bedenkt, wie wenig wir imstande sind, auf
herkömmliche Weise zu trauern oder neue Formen des
Trauerns zu finden. Was gezeigt werden kann und was
nicht gezeigt werden darf– es gibt wenige Fragen, die
in der Öffentlichkeit heftiger umstritten sind als diese.
Das zweite Argument, mit dem die Unterdrückung
von Bildern oft gerechtfertigt wird, verweist auf die
Rechte der Angehörigen. Als ein Bostoner Nachrich-
tenmagazin ein in Pakistan hergestelltes Propaganda-
video für kurze Zeit im Internet publizierte, in dem
das »Geständnis« (daß er Jude sei) und der anschlie-
ßende Ritualmord an dem entführten amerikanischen
Journalisten Daniel Pearl in Karatschi Anfang  ge-
zeigt wurde, entbrannte eine heftige Debatte über den
Konflikt zwischen dem Recht von Pearls Witwe, daß
ihr weiteres Leid erspart bleibe, dem Recht der Zeit-
schrift, alles zu veröffentlichen, was ihr geeignet er-
schien, und dem Recht der Öffentlichkeit auf Infor-
mation. Das Video wurde wenig später aus dem Netz
genommen. Interessanterweise sahen beide Seiten in


den dreieinhalb Minuten Horror nur einen Snuff-Film.
Niemand, der nur die Debatte verfolgte, wäre auf den
Gedanken gekommen, daß das Video auch andere Auf-
nahmen enthielt, eine Montage stereotyper Anschul-
digungen (z. B. Bilder von Ariel Scharon und George
W. Bush im Weißen Haus, von palästinensischen Kin-
dern, die bei israelischen Angriffen getötet wurden),
daß es eine politische Botschaft transportieren sollte
und mit allerlei finsteren Drohungen und einer Liste
konkreter Forderungen endete – lauter Aspekte also,
die darauf hindeuten, daß es sinnvoll sein könnte, sich
auf dieses Video (sofern man es denn erträgt) einzulas-
sen, um nachher desto besser für eine Auseinanderset-
zung mit der spezifischen Bösartigkeit und Unversöhn-
lichkeit jener Kräfte, die Pearl ermordet haben, gerüstet
zu sein. Leichter ist es allerdings, sich den Feind einfach
als Wilden vorzustellen, der mordet und den Kopf sei-
nes Opfers dann hochhält, damit alle ihn sehen.
In bezug auf unsere eigenen Toten bestand schon im-
mer ein strenges Verbot, sie mit unverhülltem Gesicht
zu zeigen. Die Aufnahmen von Gardner und O᾽Sulli-
van wirken noch heute so schockierend, weil sie Sol-
daten sowohl der Nord- als auch der Südstaaten zei-
gen, die auf dem Rücken liegen und deren Gesichter
bisweilen deutlich erkennbar sind. Amerikanische
Gefallene wurden dann während vieler Kriege in all-
gemein zugänglichen Veröffentlichungen überhaupt
nicht mehr gezeigt – bis die Zeitschrift Life im Septem-
ber  dieses Tabu brach und ein von der Militärzen-
sur zunächst zurückgehaltenes Bild von George Strock


brachte, das drei bei der Landung auf Neuguinea ge-
fallene Soldaten an einem Strand zeigt. (Es wird zwar
immer wieder gesagt, »Tote GIs am Buna Beach« zeige
drei Soldaten, die mit dem Gesicht nach unten im nas-
sen Sand liegen, doch einer der drei liegt auf dem
Rücken, sein Kopf ist allerdings aufgrund des flachen
Winkels, aus dem das Bild aufgenommen wurde, ver-
deckt.) Bis zur Landung in der Normandie – am . Juni
 – erschienen dann noch weitere Fotos von anony-
men amerikanischen Gefallenen in mehreren Zeit-
schriften, aber immer lagen diese Toten auf dem Bauch,
oder ihr Gesicht war abgewandt oder verhüllt. Ande-
ren diese Würde zu lassen hielt man nicht für nötig.
Je weiter entfernt oder exotischer der Schauplatz,
desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß wir die Toten
und Sterbenden unverhüllt und von vorn zu sehen be-
kommen. So besteht das postkoloniale Afrika im öf-
fentlichen Bewußtsein der reichen Länder – wenn
man von seiner Musik einmal absieht – hauptsächlich
aus einer Abfolge unvergeßlicher Fotos von Opfern mit
weit aufgerissenen Augen – angefangen bei den Hun-
gergestalten im Biafra der späten sechziger Jahre bis
zu den Überlebenden des Völkermords an fast einer
Million ruandischer Tutsis im Jahre  und den Kin-
dern und Erwachsenen, denen im Zuge des Massen-
terrors der aufständischen Truppen der RUF in Sierra
Leone einige Jahre später die Gliedmaßen abgehackt
wurden. (In neuerer Zeit zeigen die Fotos ganze Fami-
lien armer Dorfbewohner, die an Aids zugrunde gehen.)
Von all diesen Bildern geht eine doppelte Botschaft aus.


Sie zeigen ein Leiden, das empörend und ungerecht ist
und gegen das etwas unternommen werden sollte. Und
sie bekräftigen, daß solche Dinge in dieser Weltgegend
eben geschehen. Die Allgegenwart dieser Fotos und
dieser Schrecken nährt wie von selbst die Überzeugung,
solche Tragödien seien in den rückständigen – das heißt,
armen – Teilen der Welt eben unvermeidlich.
Vergleichbare Greuel und vergleichbares Unheil hat
es jedoch auch in Europa gegeben; vor nur sechzig Jah-
ren haben sich in Europa Greuel ereignet, deren Aus-
maße und deren Grauenhaftigkeit alles übertreffen,
was man uns heute aus den armen Gegenden dieser
Welt zeigen könnte. Inzwischen scheint sich allerdings
der Schrecken aus Europa zurückgezogen zu haben -
zumindest so weit, daß der Eindruck entsteht, der ge-
genwärtige friedliche Zustand sei selbstverständlich.
(Daß fünfzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg auf
europäischem Boden wieder Todeslager errichtet wur-
den, daß Städte belagert und Zivilisten zu Tausenden
abgeschlachtet und in Massengräber geworfen wur-
den, verschaffte dem Krieg in Bosnien und der Mord-
kampagne der Serben im Kosovo ihr spezifisches, ana-
chronistisches Interesse. Aber viele, die sich einen Reim
auf die während der neunziger Jahre des . Jahrhun-
derts in Südosteuropa verübten Kriegsverbrechen zu
machen versuchten, nahmen Zuflucht bei der These,
der Balkan habe schließlich nie wirklich zu Europa
gehört.) In der Regel stammen die grausam verstüm-
melten Körper, die in Gestalt von Fotos veröffentlicht
werden, aus Asien oder Afrika. Diese journalistische


Gepflogenheit steht in der Tradition der jahrhunder-
tealten Praxis, exotische – also kolonisierte – Menschen
auszustellen: Afrikaner und die Bewohner fernöstli-
cher Länder wurden vom . bis zum frühen . Jahr-
hundert in London, Paris und anderen europäischen
Hauptstädten in ethnologischen Ausstellungen wie
Zootiere vorgeführt. Als der Spaßmacher Trinculo in
Shakespeares Sturm dem Caliban begegnet, ist sein
erster Gedanke, daß man ihn in England ausstellen
könnte: »Jeder Pfingstnarr gäbe mir dort ein Stück
Silber … jedes fremde Tier macht dort seinen Mann;
wenn sie keinen Deut geben wollen, einem lahmen
Bettler zu helfen, so wenden sie zehn dran, einen toten
Indianer zu sehn.« In der fotografischen Vorführung
von Grausamkeiten, die Menschen mit dunklerer
Hautfarbe in exotischen Ländern zugefügt wurden,
setzt sich diese seltsame Spendenpraxis fort und schert
sich nicht um die Erwägungen, die uns von einer ähn-
lichen Zurschaustellung unserer eigenen Gewaltopfer
abhalten; denn der andere, selbst wenn er kein Feind
ist, gilt uns nur als jemand, den man sehen kann, nicht
als jemand, der (wie wir) selbst sieht. Doch auch der
verwundete, um sein Leben flehende Taliban-Kämp-
fer, dessen Schicksal die New York Times an prominen-
ter Stelle abbildete, hatte eine Frau, hatte Kinder, El-
tern, Schwestern und Brüder, die eines Tages vielleicht
auf die drei Farbfotos stoßen werden, auf denen ihr
Gatte, ihr Vater, ihr Sohn, ihr Bruder zerfleischt wird –
wenn sie sie nicht schon längst gesehen haben.



Zentral für unser Welt-


verständnis und unser ethisches Empfinden ist heute
die Überzeugung, daß der Krieg ein Irrweg sei, wenn
auch ein unvermeidlicher. Daß der Frieden die Norm
sei, wenn auch eine unerreichbare. So hat man den
Krieg im Laufe der Geschichte natürlich nicht immer
gesehen. Früher war der Krieg die Regel und der Frie-
den die Ausnahme.
Genaue Beschreibungen davon, wie Körper im Kampf
verletzt und getötet werden, bilden innerhalb der Ge-
schichten der Ilias immer wieder einen Höhepunkt.
Der Krieg wird als etwas gesehen, was Männer, einer
tief verwurzelten Gewohnheit folgend, betreiben, ohne
sich von dem Ausmaß der dabei verursachten Leiden
abschrecken zu lassen; und zur Darstellung des Krieges
in Worten oder Bildern bedarf es einer entschiedenen,
unerschütterlichen Distanz. In seiner Anleitung zur
Herstellung von Schlachtengemälden betont Leonardo
da Vinci, Künstler müßten den Mut und die Vorstel-
lungskraft aufbringen, den Krieg in seiner ganzen Ab-
scheulichkeit zu zeigen:


Stelle die Besiegten und Geschlagenen bleich dar,
mit hochgezogenen oder zusammengezogenen Au-
genbrauen, die Haut über den Brauen von Schmerz
zerfurcht … die Münder offen, als stießen sie Kla-
geschreie aus … Stelle die Toten teilweise oder ganz
mit Staub bedeckt dar … und mache das Blut durch
seine Farbe sichtbar, wie es sich als Rinnsal aus der
Leiche in den Staub schlängelt. Zeige andere im To-
deskampf mit knirschenden Zähnen, rollenden Au-
gen, die Fäuste gegen den Körper gepreßt und mit
verdrehten Beinen.

Sorge bereitet hier die Vorstellung, die entstehenden


Bilder könnten nicht aufwühlend genug ausfallen:
nicht konkret, nicht detailliert genug. Aus Mitleid kann
ein moralisches Urteil erwachsen, sofern uns Mitleid
als jene Gefühlsregung erscheint, die wir, wie Aristo-
teles behauptet, nur denen schulden, die unverdientes
Unglück erleiden. Doch Mitleid ist in den Dramen ka-
tastrophalen Unheils keineswegs der natürliche Ge-
fährte der Angst, sondern wird, so scheint es, durch die
Angst verwässert, abgelenkt, wenn nicht die Angst (die
Furcht, der Schrecken) das Mitleid sogar unter sich be-
gräbt. Leonardo redet hier dem buchstäblich mitleid-
losen Blick des Künstlers das Wort. Das Bild soll entset-
zen, und in dieser terribilità liegt eine provozierende
Schönheit.
Daß eine blutrünstige Schlachtszene schön sein
kann – so wie das Erhabene, das Ehrfurchterregende,
das Tragische schön sein können –, ist im Hinblick auf


Kriegsdarstellungen von Künstlerhand ein Gemein-
platz. Mit Kamerabildern verträgt sich diese Vorstel-
lung jedoch schlecht: an Kriegsfotos Schönheit zu ent-
decken wirkt gefühllos. Und doch ist die verwüstete
Landschaft immer noch eine Landschaft. Auch Ruinen
haben ihre Schönheit. In den Fotos der Ruinen des
World Trade Center die Schönheit wahrzunehmen,
schien in den Monaten nach dem Angriff frivol oder
wie ein Sakrileg. Allenfalls getraute man sich zu sagen,
die Fotos seien »surreal« – aber auch hinter diesem eil-
fertigen Euphemismus verbirgt sich natürlich nichts
anderes als die in Ungnade gefallene Idee der Schön-
heit. Und die Fotos waren tatsächlich schön, jeden-
falls viele von ihnen – die von erfahrenen Fotografen
stammten, von Gilles Peress, Susan Meiselas, Joel
Meyerowitz und anderen. Der Ort selbst, das Massen-
grab, dem man den Namen »Ground Zero« gegeben
hatte, war natürlich alles andere als schön. Aber Foto-
grafien neigen dazu, was immer sie abbilden umzufor-
men; und etwas kann als Bild schön oder erschreckend
oder unerträglich oder sehr wohl erträglich sein, was
im wirklichen Leben alles dies nicht ist.
Kunst tut ebendies: sie formt um – aber Fotografie,
die von Katastrophen und anderen Übeln Bericht er-
stattet, wird oft kritisiert, wenn sie »ästhetisch«, das
heißt, zu sehr wie Kunst wirkt. Das Doppelpotential
der Fotografie – daß sie imstande ist, Dokumente her-
vorzubringen und Bildkunstwerke zu schaffen – hat
Anlaß zu einigen erstaunlichen Übertreibungen hin-
sichtlich dessen gegeben, was Fotografen tun oder las-


sen sollen. Die Übertreibung, die uns in letzter Zeit am
häufigsten begegnet, besteht darin, die beiden Poten-
tiale der Fotografie als gegensätzliche Kräfte zu be-
trachten. Fotografien, die Leiden darstellen, sollen nicht
schön sein, so wie Bildlegenden nicht moralisieren sol-
len. Ein schönes Fotos entzieht nach dieser Auffassung
dem bedrückenden Bildgegenstand Aufmerksamkeit
und lenkt sie auf das Medium selbst, wodurch der do-
kumentarische Wert des Bildes beeinträchtigt wird.
Von einem solchen Foto gehen unterschiedliche Si-
gnale aus. Es fordert: Schluß damit. Aber es ruft auch:
Was für ein Anblick! *
Nehmen wir eines der eindringlichsten Bilder aus
dem Ersten Weltkrieg: englische Soldaten, die durch
Giftgas ihr Augenlicht verloren haben, schlurfen hin-
tereinander – jeder die linke Hand auf der Schulter
des Vordermannes – zu einem Verbandsplatz. Das Bild
könnte aus einem der erschütternden Filme stammen,
die über den Krieg gedreht wurden – King Vidors The

*
Die Fotos, die im April und Mai  von anonymen Be-
richterstattern und Militärfotografen in Bergen-Belsen, Bu-
chenwald und Dachau aufgenommen wurden, scheinen mehr
Gültigkeit zu besitzen als die »besseren« Bilder, die zwei gefei-
erte Berufsfotografinnen, Margaret Bourke-White und Lee Mil-
ler, damals gemacht haben. Aber die Kritik am professionellen
Aussehen von Kriegsfotos ist nicht neu. Schon Walker Evans zum
Beispiel verabscheute die Arbeiten von Bourke-White. Aber
Evans, der die in Armut lebende amerikanische Landbevölke-
rung für ein Buch mit dem ironischen Titel Let Us Now Praise
Famous Men fotografierte, hätte auch niemals irgendeine Be-
rühmtheit fotografiert.


Big Parade () oder G.W. Pabsts Westfront ,
Lewis Milestones All Quiet on the Western Front oder
Howard Hawks᾽ The Dawn Patrol (alle ). Daß ein
Kriegsfoto nicht nur als Anregung zur Rekonstruktion
einer Schlachtenszene in einem großen Kriegsfilm die-
nen, sondern im nachhinein selbst wie eine rekon-
struierte Szene aus einem solchen Film wirken kann,
hat wiederum Rückwirkungen auf die Arbeit der Foto-
grafen. Die vielgelobte Nachschöpfung der Landung
am Omaha Beach in der Normandie in Steven Spiel-
bergs Film Saving Private Ryan () bezog ihre Au-
thentizität unter anderem daraus, daß sie sich auf die
Fotos stützte, die Robert Capa mit ungeheurem Mut
während der Landung gemacht hatte. Aber ein Kriegs-
foto, an dem nichts gestellt ist, wirkt dennoch unau-
thentisch, wenn es wie ein Standbild aus einem Film
aussieht. Der Fotograf Sebastião Salgado, der sich auf
das Elend dieser Welt (zu dem für ihn auch die Auswir-
kungen des Krieges gehören) spezialisiert hat, war das
Hauptangriffsziel in dem neuen Feldzug gegen die In-
authentizität des Schönen. Vor allem im Zusammen-
hang mit seinem auf sieben Jahre angelegten Projekt
»Migrationen: Menschheit im Übergang« hat man Sal-
gado immer wieder seine spektakulären, schön kompo-
nierten großen Bilder zum Vorwurf gemacht, die nun
als »filmisch« bezeichnet werden.
Die frömmelnde »Family of Man«-Rhetorik, die
Salgados Ausstellungen und seine Bücher umgibt, hat
sich, so unfair das sein mag, zum Nachteil der Bilder
ausgewirkt. (In dem, was manche bewundernswerten


»Gewissensfotografen« über sich und ihre Arbeit ver-
lauten lassen, besteht an Unsinn, den man tunlichst
übersieht, kein Mangel.) Salgados Bilder sind auch
deshalb oft mißgünstig aufgenommen worden, weil
seine Elendsporträts meistens in einem stark kommer-
zialisierten Umfeld zu sehen sind. Aber das Problem
ergibt sich nicht daraus, wie und wo sie ausgestellt
werden, sondern aus den Bildern selbst: daraus, wie sie
sich auf die Machtlosigkeit der Ohnmächtigen konzen-
trieren. Bezeichnend ist, daß diesen Ohnmächtigen in
den Bildunterschriften keine Namen gegeben werden.
Ein Porträt, das es ablehnt, die abgebildete Person zu
benennen, macht sich, wenn auch vielleicht unabsicht-
lich, zum Komplizen eines Prominentenkults, der ein
unersättliches Verlangen nach Fotos der entgegenge-
setzten Art schürt: wer nur den Berühmten ihre Na-
men läßt, degradiert alle anderen zu Fallbeispielen für
ihren Beruf, ihre ethnische Zugehörigkeit, ihre Not-
lage. Die Migrationsbilder, die Salgado in neunund-
dreißig Ländern aufgenommen hat, fassen unter die-
ser einen Überschrift eine Vielzahl unterschiedlicher
Nöte und deren Ursachen zusammen. Fotos, die das
Leiden durch Globalisierung überhöhen, mögen man-
chen Betrachter anspornen, sich mehr zu »kümmern«.
Sie können ihn aber auch auf den Gedanken bringen,
Elend und Leiden in der Welt seien so verbreitet, so un-
abänderlich, so dramatisch, daß sich durch gezielte po-
litische Eingriffe an einzelnen Orten nicht viel ändern
läßt. Wo ein Thema aus dieser Perspektive betrachtet
wird, muß das Mitgefühl ins Schwimmen kommen


und sich ins Abstrakte verflüchtigen. Politik und Ge-
schichte sind jedoch immer konkret. (Allerdings wird
niemand, der über die Geschichte gründlicher nach-
denkt, die Politik noch ganz ernst nehmen können.)
Zu einer Zeit, als ungestellte Schnappschüsse noch
etwas Besonderes waren, glaubte man, Betrachter ließen
sich einfach dadurch zu tieferen Gefühlen anregen, daß
man ihnen vorführte, was nach Aufmerksamkeit ver-
langte, daß man ihnen die schmerzliche Realität nahe-
brachte. In einer Welt, in der die Fotografie vor allem
zu konsumistischen Manipulationen dient, kann man
sich der Wirkung keines noch so bedrückenden Fotos
mehr sicher sein. Fotografen und Theoretiker der Foto-
grafie mit einem Gespür für ethische Fragen haben
sich deshalb in zunehmendem Maße mit der Frage
der Ausbeutung von Gefühlen (Bedauern, Mitgefühl,
Empörung) in der Kriegsfotografie und mit der Pro-
blematik der routinemäßigen Auslösung von Gefühls-
reaktionen beschäftigt.
Manche Fotoberichterstatter halten es für moralisch
korrekter, das Spektakuläre unspektakulär zu machen.
Aber das Spektakuläre ist ein wesentliches Element
der religiösen Erzählungen, in denen sich das Abend-
land über weite Strecken seiner Geschichte mit dem
Leiden auseinandergesetzt hat. Wenn man in Fotos aus
Kriegs- oder Katastrophenzeiten gelegentlich den Puls-
schlag der christlichen Ikonographie zu spüren glaubt,
so ist das keine sentimentale Projektion. In W. Eugene
Smith᾽ Bild einer Mutter aus Minamata, die ihre blind,
t aub und mit Mißbildungen zur Welt gekommene Toch-


ter auf dem Schoß hält, sind die Anklänge an eine
Pietà ebensowenig zu übersehen wie das Bildschema
der Kreuzesabnahme auf manchen Bildern, die Don
McCullin von sterbenden amerikanischen Soldaten in
Vietnam gemacht hat. Aber solche Wahrnehmungen,
die die Aura und die Schönheit der Bilder steigern,
werden sich möglicherweise bald verlieren. Die deut-
sche Historikerin Barbara Duden berichtet über ein
Seminar zur Geschichte der Darstellung des Körpers,
das sie vor einigen Jahren an einer großen amerikani-
schen Universität abhielt, von den zwanzig teilneh-
menden Studenten habe kein einziger das Thema der
kanonischen Geißelungsbilder benennen können, die
ihnen als Dias gezeigt wurden. (»Ich glaube, es ist ein
religiöses Bild«, getraute sich einer zu sagen.) Es gab
nur eine Szene aus dem Leben Jesu, die die meisten
Studenten zu bestimmen vermochten: die Kreuzigung.

Fotos objektivieren: sie machen aus einem Geschehen


oder einer Person etwas, das man besitzen kann. Und
obwohl Fotos immer wieder für ihre klare Wiedergabe
von Wirklichkeit gepriesen werden, eignen sie sich zu
allerlei alchimistischen Prozeduren.
Oft sieht etwas auf einem Foto »besser« aus als in der
Wirklichkeit, oder man hat das Gefühl, es sehe »bes-
ser« aus. Tatsächlich gehört es zu den Aufgaben der Fo-
tografie, das gewöhnliche Aussehen der Dinge zu ver-
schönern. (Deshalb ist man von einem Foto, das nicht
schmeichelhaft wirkt, immer enttäuscht.) Das Verschö-


nern gehört zu den klassischen Kameraoperationen
und rückt eine moralische Reaktion auf das Gezeigte in
den Hintergrund. Verhäßlichen, etwas möglichst un-
vorteilhaft darstellen, ist eine modernere, didaktische
Funktion: sie will zur aktiven Auseinandersetzung auf-
fordern. Wenn Fotos anklagen und womöglich Verhal-
ten ändern sollen, müssen sie schockieren.
Ein Beispiel: In Kanada, wo jährlich schätzungs-
weise fünfundvierzigtausend Menschen an den Folgen
des Rauchens sterben, beschloß die Gesundheitsbe-
hörde vor einigen Jahren, den auf jeder Zigaretten-
packung stehenden warnenden Hinweis durch ein
Schockfoto zu ergänzen – eine von Krebs befallene
Lunge, ein mit Blutgerinnseln übersätes Gehirn nach
einem Schlaganfall, ein geschädigtes Herz, ein bluti-
ger Mund mit akuter Parodontose. Irgendwie war eine
Studie zu dem Ergebnis gekommen, daß eine Packung,
auf der die Warnung vor den Folgen des Rauchens
durch ein solches Bild ergänzt würde, mit einer im Ver-
gleich zu herkömmlichen Packungen sechzigmal hö-
heren Wahrscheinlichkeit Raucher zum Aufgeben des
Rauchens bewegen werde.
Nehmen wir an, dies treffe zu. Dann kann man sich
immer noch fragen: Für wie lange? Hat der Schock ein
Verfallsdatum? Zur Zeit prallen die kanadischen Rau-
cher angewidert zurück, wenn sie diese Bilder sehen.
Aber werden sich diejenigen, die in fünf Jahren immer
noch rauchen, ebenfalls getroffen fühlen? An Schocks
kann man sich gewöhnen. Ihre Wirkung kann sich ab-
nützen. Und selbst wenn dies nicht geschieht, kann


man immer noch nicht hinsehen. Es gibt Mittel und
Wege, wie Menschen das, was sie erschüttern könnte,
abwehren – in diesem Fall unangenehme Informa-
tionen für all jene, die weiterhin rauchen wollen.
Anscheinend handelt es sich um einen normalen An-
passungsvorgang. Wie man sich an Schrecken im wirk-
lichen Leben gewöhnen kann, so kann man sich auch
an den Schrecken bestimmter Bilder gewöhnen.
Es gibt aber auch Fälle, in denen sich eine tiefemp-
fundene Reaktion durch wiederholte Konfrontation
mit dem, was schockiert, bekümmert, erschüttert, nicht
abschleift. Die Gewöhnung ist kein Automatismus,
denn für (transportable, einblendbare) Bilder gelten
andere Regeln als für das wirkliche Leben. Darstellun-
gen der Kreuzigung werden für Gläubige, wenn sie
wirklich gläubig sind, nicht banal. In noch stärkerem
Maße gilt dies für manche Bühnendarstellungen. Bei
einer Aufführung der Chushingura, wahrscheinlich
der bekanntesten Erzählung der japanischen Kultur,
kann man sich darauf verlassen, daß die japanischen
Zuschauer zu schluchzen beginnen, wenn Herr Asano
auf seinem Weg zu der Stelle, wo er seppuku begehen
muß, die Schönheit der Kirschblüten bewundert – und
sie schluchzen jedesmal, gleichgültig, wie oft sie die
Geschichte (als Kabuki- oder Bunraku-Stück oder als
Film) schon gesehen haben. Das ta᾽ziyah-Drama vom
Verrat an Imam Hussein und von seiner Ermordung
ruft bei iranischen Zuschauern unweigerlich Tränen
hervor, egal, wie viele Inszenierungen seines Martyri-
ums sie schon gesehen haben. Im Gegenteil: sie weinen


nicht zuletzt deshalb, weil sie es schon so oft gesehen
haben. Die Menschen wollen weinen. Pathos, in Ge-
stalt einer Geschichte, nutzt sich nicht ab.
Aber wollen Menschen in Schrecken versetzt wer-
den? Wahrscheinlich nicht. Trotzdem gibt es Bilder,
deren Eindringlichkeit sich nicht abnutzt, zum Teil
auch deshalb, weil man sie nicht oft ansehen kann.
Bilder von zerstörten Gesichtern, die immer von etwas
Ungeheuerlichem zeugen, das jemand um diesen Preis
überlebt hat: die Gesichter der furchtbar entstellten
Veteranen des Ersten Weltkriegs, die die Hölle der
Schützengräben überlebten; die wie geschmolzen wir-
kenden, mit wulstigem Narbengewebe bedeckten Ge-
sichter derer, die die amerikanischen Atombomben-
abwürfe auf Hiroshima und Nagasaki überlebten; die
von Machetenhieben zerhackten Gesichter der Tutsi,
die das mörderische Wüten der Hutus in Ruanda über-
lebt haben – kann man sagen, daß Menschen sich an
solche Bilder gewöhnen?
Tatsächlich ist der Begriff der Greueltat oder des
Kriegsverbrechens mit der Vorstellung verknüpft, daß
fotografische Zeugnisse vorhanden sind. Solche Zeug-
nisse erscheinen meistens nachträglich – sie zeigen
Überreste: die Berge von Totenschädeln im Kambo-
dscha des Pol Pot, die Massengräber in Guatemala und
El Salvador, in Bosnien und im Kosovo. Und diese po-
stume Realität liefert oft nur eine grelle Zusammen-
fassung. Hannah Arendt hat schon kurz nach dem Ende
des Zweiten Weltkriegs bemerkt, daß alle Fotos und
Wochenschaufilme aus den Konzentrationslagern inso-


fern in die Irre führen, als sie diese Lager im Augen-
blick des Einmarschs der alliierten Soldaten zeigen.
Was diese Bilder so unerträglich macht – die Leichen-
berge, die zu Skeletten abgemagerten Überlebenden –,
war gar nicht typisch für die Lager, die, solange sie
funktionierten, ihre Insassen systematisch (durch Gas,
nicht durch Hunger und Krankheit) ausrotteten und
anschließend sofort verbrannten. Es kommt auch vor,
daß in Fotos andere Fotos anklingen: so war es unver-
meidlich, daß die Bilder der ausgemergelten bosni-
schen Gefangenen in Omarska, dem  in Nordbos-
nien errichteten serbischen Vernichtungslager, an die
 in den Vernichtungslagern der Nazis aufgenom-
menen Fotos erinnerten.
Greuelfotos veranschaulichen und bekräftigen. An
den Debatten über die genauen (anfangs oft übertrie-
ben hoch angesetzten) Opferzahlen vorbei liefert ein
Foto das eine unauslöschliche Beispiel. Seine illustra-
tive Funktion bleibt von Meinungen, Vorurteilen, Phan-
tasien und Fehlinformationen unberührt. Die Mel-
dung, daß bei dem Angriff auf Jenin erheblich weniger
Palästinenser ums Leben kamen, als die palästinensi-
schen Behörden behauptet hatten (während die Israelis
stets von einer geringeren Zahl von Opfern gesprochen
hatten), machte viel weniger Eindruck als die Bilder
von dem völlig zerstörten Zentrum dieses Flüchtlings-
lagers. Und Greuel, die in unseren Köpfen nicht durch
einprägsame fotografische Bilder verankert sind oder
von denen wir einfach nur sehr wenige Bilder zu se-
hen bekommen haben, scheinen uns weiter entfernt zu


sein – die von der deutschen Kolonialverwaltung im
Jahre  angeordnete vollständige Ausrottung der
Hereros in Namibia; der japanische Angriff auf China,
vor allem das Nanking-Massaker im Dezember , bei
dem fast vierhunderttausend Chinesen getötet und
achtzigtausend Frauen vergewaltigt wurden; die von
den befehlshabenden Offizieren entfesselte Vergewal-
tigung von etwa hundertdreißigtausend Frauen und
Mädchen (von denen zehntausend Selbstmord begin-
gen) durch die siegreichen sowjetischen Soldaten 
in Berlin – lauter Erinnerungen, deren sich nur wenige
angenommen haben.
Vertrautheit mit bestimmten Fotos festigt die Vor-
stellung, die wir uns von der Gegenwart und der
unmittelbaren Vergangenheit machen. Fotos bahnen
Pfade, schaffen Bezugspunkte, dienen als Totems für
Zeitfragen: Empfindung verbindet sich eher mit einem
Foto als mit einem Schlagwort. Und Fotos helfen uns,
unsere Vorstellungen von einer ferneren Vergangen-
heit zu organisieren – oder zu revidieren: durch die
postumen Schocks, die von der Veröffentlichung bisher
unbekannter Fotos ausgehen. Fotos, die jeder erkennt,
sind heute ein wesentlicher Bestandteil dessen, worüber
sich Gesellschaften Gedanken machen oder worüber sie
nachzudenken sich vornehmen. Solche Gedanken nennt
man gern »Erinnerungen«, aber auf längere Sicht ist das
eine Fiktion. Strenggenommen gibt es kein kollektives
Gedächtnis – das Kollektivgedächtnis gehört in die
gleiche Familie von Pseudobegriffen wie die Kollektiv-
schuld. Aber es gibt die kollektive Unterrichtung.


Das Gedächtnis ist immer individuell und nicht re-
produzierbar – es stirbt mit dem einzelnen. Was man
als kollektives Gedächtnis bezeichnet, ist kein Erin-
nern, sondern ein Sicheinigen – darauf, daß dieses
wichtig sei, daß sich eine Geschichte so und nicht an-
ders zugetragen habe, samt den Bildern, mit deren
Hilfe die Geschichte in unseren Köpfen befestigt wird.
Ideologien schaffen fundierende Archive repräsenta-
tiver Bilder, die gemeinschaftliche Vorstellungen von
dem, was bedeutsam sei, auf eine Formel bringen und
voraussehbare Gedanken und Empfindungen auslösen.
Fotos, die sich für ein Poster eignen – der Atompilz,
Martin Luther King bei seiner Ansprache vor dem
Lincoln Memorial in Washington, der Astronaut, der
auf dem Mond herumspaziert –, bilden ein visuelles
Äquivalent zum geflügelten Wort. Ähnlich plump wie
Briefmarken erinnern sie an »historische Augenblicke«;
und die triumphalistischen unter ihnen (ausgenom-
men das Bild von der Atombombe) werden letztlich
auch zu Briefmarken. Glücklicherweise gibt es kein
Bild, das zur optischen Chiffre für die Vernichtungs-
lager der Nazis geworden ist.
So wie man im Laufe von hundert Jahren Moderne
die Kunst neu definiert hat als das, was in irgendeiner
Art von Museum aufbewahrt werden soll, besteht auch
das Schicksal vieler fotografischer Funde heute darin,
daß man sie in museumsähnlichen Einrichtungen aus-
stellt und unterbringt. In diesen Archiven des Schrek-
kens ist die institutionelle Aufbereitung der Fotos zum
Thema Völkermord besonders weit fortgeschritten. Für


diese und andere Reliquien werden öffentliche Aufbe-
wahrungsorte geschaffen, um sicherzustellen, daß die
dargestellten Verbrechen im Bewußtsein der Menschen
weiterhin vorkommen. Man nennt das Erinnerungs-
arbeit, aber in Wirklichkeit ist es sehr viel mehr.
Das Gedenkmuseum, das zur Zeit vielerorts Kon-
junktur hat, geht zurück auf eine bestimmte Art des
Nachdenkens – und des Trauerns – über die Vernich-
tung der europäischen Juden in den dreißiger und vier-
ziger Jahren des . Jahrhunderts, die vor allem in der
.lerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem, im Washing-
toner Holocaust Memorial Museum und im Jüdischen
Museum in Berlin institutionelle Gestalt angenom-
men hat. Hier wurden Fotos und andere Dinge, die an
die Shoa erinnern, auf Dauer allgemein zugänglich ge-
macht, um zu gewährleisten, daß das, was sie zeigen,
nicht in Vergessenheit gerät. Aber Fotos, die das Leiden
und das Martyrium eines Volkes vor Augen führen, er-
innern nicht bloß an Tod, Scheitern und Erniedrigung.
Sie beschwören auch das Wunder des Überlebens. Wer
den Fortbestand der Erinnerung sichern will, der hat es
unweigerlich mit der Aufgabe zu tun, die Erinnerung
ständig zu erneuern, ständig neue Erinnerungen zu
schaffen – vor allem mit Hilfe eindringlicher Fotos.
Die Menschen wollen ihre Erinnerungen besichtigen
und auffrischen können. Viele Völker, die Opfer von
Gewalt geworden sind, wünschen sich heute ein Ge-
denkmuseum, einen Tempel, der eine umfassende,
chronologisch gegliederte, illustrierte Erzählung ihrer
Leiden beherbergt. So fordern die Armenier seit lan-


gem ein Museum in Washington, das die Erinnerung
an den Völkermord institutionalisieren soll, den die
osmanischen Türken am armenischen Volk begingen.
Aber warum gibt es in der amerikanischen Hauptstadt
mit ihrem überdurchschnittlich hohen Anteil an afri-
kanisch-amerikanischen Bewohnern nicht schon längst
ein Museum zur Geschichte der Sklaverei? Tatsächlich
gibt es nirgendwo in den Vereinigten Staaten ein Mu-
seum zur Geschichte der Sklaverei – eines, das sich,
angefangen beim Sklavenhandel in Afrika, die ganze
Geschichte vornimmt und nicht bloß einzelne, aus-
gewählte Kapitel wie die sogenannte »Underground
Railroad«, das System, mit dem Gegner der Sklaverei
im . Jahrhundert entlaufenen Sklaven bei der Flucht
in den Norden und nach Kanada halfen. Die Erinne-
rung an die Sklaverei gilt offenbar als eine so große
Gefahr für die gesellschaftliche Stabilität, daß man es
nicht wagt, sie zu beleben und zu erneuern. Das Holo-
caust Memorial Museum und das künftige Armenian
Genocide Museum and Memorial handeln von etwas,
das sich nicht in Amerika zugetragen hat, deshalb be-
steht nicht die Gefahr, daß die Erinnerungsarbeit ver-
bitterte Teile der einheimischen Bevölkerung gegen
die staatliche Autorität aufbringt. Mit einem Museum,
das das große Verbrechen der Sklaverei in den Verei-
nigten Staaten dokumentieren würde, wäre das Einge-
ständnis verbunden, daß sich das Böse hierzulande er-
eignet hat. Amerikaner malen sich jedoch lieber das
Böse aus, das sich anderswo abgespielt hat und von dem
die Vereinigten Staaten – dieses einzigartige Land, das


in seiner ganzen Geschichte keinen einzigen durch
und durch bösartigen politischen Führer hatte – un-
berührt geblieben sind. Daß dieses Land, wie jedes an-
dere, auch eine tragische Vergangenheit hat, will zu
dem nach wie vor allmächtigen Glauben an die Aus-
nahmestellung Amerikas nicht passen. Der nationale
Konsensus, der die amerikanische Geschichte als Fort-
schrittsgeschichte sieht, bildet eine neuartige Umge-
bung für beunruhigende Fotos – eine, die unsere Auf-
merksamkeit auf solche Mißstände hierzulande und
anderswo konzentriert, bei deren Beseitigung Amerika
sich selbst für die beste Lösung oder das beste Heilmit-
tel hält.

Auch im Zeitalter der Cyber-Modelle wird der Geist


noch so gesehen, wie ihn sich schon die Antike vor-
stellte – als ein Innenraum, ähnlich einem Theater, in
dem wir uns Bilder machen. Und es sind diese Bilder,
die uns das Erinnern ermöglichen. Das Problem be-
steht nicht darin, daß Menschen sich anhand von Fotos
erinnern, sondern darin, daß sie sich nur an die Fotos
erinnern. Dieses Erinnern durch Fotos verdrängt al-
lerdings andere Formen von Verstehen und Erinnern.
Die Konzentrationslager – oder vielmehr die Fotos, die
 bei ihrer Befreiung gemacht wurden – sind schon
fast alles, woran die Leute im Zusammenhang mit dem
Nazismus und dem Elend des Zweiten Weltkriegs den-
ken. Häßlicher Tod (durch Völkermord, Hunger, Seu-
chen) ist schon fast alles, was die Leute von all den Un-


geheuerlichkeiten und Versäumnissen im Gedächtnis
behalten, die im postkolonialen Afrika vorgefallen sind.
Erinnern bedeutet immer weniger, sich auf eine Ge-
schichte zu besinnen, und immer mehr, ein Bild auf-
rufen zu können. Selbst ein im literarischen Zeremo-
niell des . Jahrhunderts und der frühen Moderne so
tief verwurzelter Schriftsteller wie W. G. Sebald hat in
seine melancholischen Geschichten von verlorenen
Schicksalen, verlorener Natur, verlorenen Stadtland-
schaften Fotos eingestreut. Sebald war nicht bloß ein
Elegiker, er war ein militanter Elegiker. Indem er sich
erinnerte, wollte er auch den Leser dahin bringen, sich
zu erinnern.
Quälende Fotos verlieren nicht unbedingt ihre Kraft
zu schockieren. Aber wenn es darum geht, etwas zu be-
greifen, helfen sie kaum weiter. Erzählungen können
uns etwas verständlich machen. Fotos tun etwas ande-
res: sie suchen uns heim und lassen uns nicht mehr los.
Nehmen wir eines der unvergeßlichen Bilder aus dem
Krieg in Bosnien, ein Foto, über das John Kifner, ein
Auslandskorrespondent der New York Times, schrieb:
»Das Bild ist vollkommen nüchtern, eines der ein-
dringlichsten aus den Balkankriegen: ein Angehöriger
der serbischen Miliz versetzt einer sterbenden musli-
mischen Frau im Vorübergehen einen Tritt gegen den
Kopf. Das sagt einem alles, was man wissen muß.«
Selbstverständlich sagt uns dies nicht alles, was wir wis-
sen müssen.
Den Angaben des Fotografen Ron Haviv können wir
entnehmen, daß dieses Foto im April  in der Stadt


Bijeljina aufgenommen wurde, kurz nachdem das Wü-
ten der Serben in Bosnien begonnen hatte. Von hinten
sehen wir einen uniformierten serbischen Milizionär,
eine jugendliche Gestalt, die Sonnenbrille ins Haar
hochgeschoben, eine Zigarette zwischen dem zweiten
und dem dritten Finger der erhobenen linken Hand,
ein Gewehr in der Rechten, der mit dem rechten Fuß
ausholt, um eine Frau zu treten, die mit dem Gesicht
nach unten zwischen zwei anderen Leibern auf dem
Gehweg liegt. Das Foto sagt uns nicht, daß sie eine
Muslimin ist, obwohl sie kaum etwas anderes sein
kann, denn warum sollten sie und die beiden anderen
sonst dort unter den Blicken einiger serbischer Solda-
ten wie tot (warum »sterbend«?) auf der Straße liegen?
Eigentlich sagt uns dieses Foto sehr wenig – allenfalls
dies: daß der Krieg die Hölle ist und daß mit Gewehren
bewaffnete, schlanke junge Männer imstande sind,
dickliche ältere Frauen, die, hilflos oder schon getötet,
auf der Straße liegen, gegen den Kopf zu treten.
Sehen konnte man die Greuelbilder aus Bosnien,
kurz nachdem sich die Ereignisse zugetragen hatten.
Wie die Bilder aus dem Vietnamkrieg, etwa die Auf-
nahmen, die Ron Haberle im März  von einem
Massaker machte, bei dem eine Kompanie amerikani-
scher Soldaten in dem Dorf My Lai etwa fünfhundert
unbewaffnete Zivilisten umbrachte, trugen sie wesent-
lich dazu bei, den Widerstand gegen einen Krieg zu
stärken, der keinesweg unvermeidlich war, dem man
keineswegs untätig hätte zusehen müssen und der sehr
viel früher hätte beendet werden können. Insofern


konnte man sich verpflichtet fühlen, diese Bilder zu
betrachten, so grausig sie waren. Denn gegen das, was
sie zeigten, ließ sich in diesem Augenblick etwas tun.
Andere Fragen kommen ins Spiel, wenn uns bislang
unbekannte Fotos mit Schrecken aus einer weit zurück-
liegenden Vergangenheit konfrontieren.
Ein Beispiel: Der Fund eines Konvoluts von Fotos
schwarzer Lynchopfer, aufgenommen in amerikani-
schen Kleinstädten zwischen  und , wurde für
Tausende von Besuchern, die im Jahre  die Aus-
stellung in New York sahen, zu einer erschütternden,
aufschlußreichen Erfahrung. Diese Lynchbilder spre-
chen von menschlicher Bosheit. Von Unmenschlich-
keit. Sie zwingen uns, über das Ausmaß an Bösartigkeit
nachzudenken, das speziell der Rassismus zu entfesseln
vermag. Und die Schamlosigkeit, mit der sie fotogra-
fiert wurden, ist selbst noch Teil dieser Schandtaten.
Die Bilder dienten als Souvenirs, und manche von ihnen
wurden als Postkarten verwendet; nicht wenige zeigen
grinsende Zuschauer, brave Bürger, von denen die mei-
sten den Gottesdienst am Sonntag nicht versäumt ha-
ben werden und die hier vor dem Hintergrund eines
nackten, verkohlten, verstümmelten Leibes, der von
einem Baum herunterhängt, für die Kamera posieren.
Die Präsentation dieser Bilder macht auch uns zu Zu-
schauern.
Wozu stellt man sie aus? Um Empörung zu wecken?
Damit wir uns »schlecht« fühlen; das heißt, um uns zu
erschrecken oder zu betrüben? Um uns beim Trauern
zu helfen? Ist es wirklich notwendig, solche Fotos zu be-


trachten, wenn diese Untaten doch so weit zurücklie-
gen, daß ihre Strafbarkeit längst verjährt ist? Werden
wir zu besseren Menschen, indem wir diese Bilder be-
trachten? Können sie uns überhaupt etwas lehren? Be-
stätigen sie nicht bloß, was wir schon wissen (oder wis-
sen wollen)?
Alle diese Fragen wurden gestellt, während die Aus-
stellung zu sehen war und als nachher ein Buch mit
den Fotografien unter dem Titel Without Sanctuary er-
schien. Man könnte, so hieß es, gegen die Ausstellung
dieser grausigen Fotos einwenden, daß sie möglicher-
weise voyeuristische Gelüste bediene oder das Bild
vom Schwarzen als Opfer perpetuiere oder einfach bloß
abstumpfe. Dennoch gebe es eine Pflicht, die Bilder zu
»studieren« (das klinischere »studieren« trat hier an
die Stelle des Wortes »betrachten«). Im übrigen würde
uns die Qual der Auseinandersetzung mit ihnen hel-
fen, diese Greuel nicht einfach als Akte von »Barba-
ren«, sondern als Ausdruck einer Denkungsart, des
Rassismus, zu verstehen, die Folter und Mord rechtfer-
tige, indem sie ein Volk für weniger menschlich als ein
anderes erklärt. Aber vielleicht waren diese Leute Bar-
baren. Vielleicht sehen die meisten Barbaren so aus.
(Nämlich wie alle anderen.)
So betrachtet, ist der »Barbar« des einen für den
anderen ein »Bürger, der bloß tut, was alle tun«. (Von
wieviel Menschen darf man erwarten, daß sie mehr
tun als dies?) Die Frage lautet: Wen wollen wir beschul-
digen? Genauer gesagt: Wem glauben wir, berechtig-
terweise Schuld zuschreiben zu dürfen? Die Kinder


von Hiroshima und Nagasaki waren nicht weniger un-
schuldig als die jungen afrikanisch-amerikanischen
Männer (und einige Frauen), die im kleinstädtischen
Amerika abgeschlachtet und an Bäume gehängt wur-
den. Mehr als vierzigtausend, möglicherweise sogar
hunderttausend Zivilisten, drei Viertel von ihnen
Frauen, wurden bei den Bombenangriffen der Royal
Air Force auf Dresden in der Nacht vom . auf den
. Februar  vernichtet; zweiundsiebzigtausend Zi-
vilisten wurden binnen weniger Sekunden von der
amerikanischen Bombe verbrannt, die über Hiroshima
abgeworfen wurde. Die Liste ließe sich erheblich ver-
längern. Noch einmal: Wem wollen wir Schuld zu-
schreiben? Welches sind die Greuel in der unabänder-
lichen Vergangenheit, auf die zurückzukommen wir
für unsere Pflicht halten?
Als Amerikaner würden wir es wahrscheinlich für
morbid halten, uns lange bei der Betrachtung der Bil-
der von verbrannten Atombombenopfern oder von Zi-
vilisten aufzuhalten, die im Vietnamkrieg Opfer ame-
rikanischer Napalmangriffe wurden, wohingegen wir
es als unsere Pflicht ansehen, die Lynchbilder zu be-
trachten – jedenfalls, wenn wir zur Partei der Verstän-
digen zählen, die in dieser Frage inzwischen sehr groß
ist. Die Neubewertung der Ungeheuerlichkeit des
Sklavensystems, das in den Vereinigten Staaten bestan-
den hat und von den meisten Leuten fraglos akzep-
tiert wurde, ist in den letzten Jahrzehnten zu einem
nationalen Projekt geworden, das gutzuheißen viele
Euroamerikaner sich verpflichtet fühlen. Dieses noch


längst nicht abgeschlossene Projekt ist in sich eine große
Leistung, ein Meilenstein staatsbürgerlicher Redlich-
keit. Demgegenüber ist eine Auseinandersetzung da-
mit, wie Amerika seine Feuerkraft im Krieg immer
wieder ohne Rücksicht auf die Verhältnismäßigkeit
der Mittel (und unter Verstoß gegen eine der grundle-
genden Bestimmungen des Kriegsrechts) eingesetzt
hat, ganz entschieden kein nationales Projekt. Ein Mu-
seum zur Geschichte der Kriege Amerikas, das auch
den tückischen Krieg gegen die Guerilleros auf den
Philippinen zwischen  und  berücksichtigen
würde (den Mark Twain mit vernichtendem Sachver-
stand kritisiert hat), das die Argumente für und gegen
den Einsatz der Atombombe über japanischen Städten
im Jahre  ausgewogen darstellen und mit Fotos do-
kumentieren würde, was diese Waffe dann anrichtete,
würde heute mehr denn je als ein höchst unpatrioti-
sches Unterfangen angesehen.



Man kann es für eine


Pflicht halten, Fotos zu betrachten, auf denen Grau-
samkeiten und Verbrechen festgehalten sind. Man
sollte es in jedem Falle für eine Pflicht halten, darüber
nachzudenken, was es heißt, solche Bilder zu betrach-
ten, und wie es um die Fähigkeit bestellt ist, sich das,
was sie zeigen, tatsächlich anzueignen. Nicht alle Re-
aktionen auf solche Bilder unterstehen der Aufsicht
von Vernunft und Gewissen. Die meisten Darstellun-
gen von gequälten, verstümmelten Körpern erwecken
auch ein laszives Interesse. (Die Desastres de la Guerra
bilden hier eine bemerkenswerte Ausnahme: Goyas
Bilder lassen sich nicht mit laszivem Blick betrachten.
Sie verweilen nicht bei der Schönheit des mensch-
lichen Körpers; die Körper sind schwer und dick einge-
hüllt.) Alle Bilder, die die Verletzung eines anziehend
wirkenden Körpers darstellen, sind bis zu einem ge-
wissen Grade pornographisch. Aber auch Bilder, die et-
was Abstoßendes zeigen, können locken. Jeder weiß,
daß es nicht bloße Neugier ist, die bei einem schweren
Unfall auf der Autobahn den Verkehr auf der Gegen-


spur ins Stocken bringt. Bei vielen kommt auch der
Wunsch ins Spiel, etwas Grausiges zu sehen. Wenn
man solche Wünsche als »krankhaft« bezeichnet, stellt
man sie als eine seltene Verirrung dar – aber daß Men-
schen sich von solchen Anblicken angezogen fühlen, ist
keine Seltenheit, und es ist seit jeher eine Quelle von
Seelenqualen.
Tatsächlich findet sich der erste Hinweis auf die An-
ziehungskraft verstümmelter Körper, den ich kenne,
in einer frühen Begriffsbestimmung des psychischen
Konflikts. In einem Abschnitt des Vierten Buches von
Platons Politeia legt Sokrates dar, wie unsere Vernunft
von einer unwürdigen Begierde überwältigt werden
kann, die das Ich dazu bringt, sich über einen Teil
seiner selbst zu empören. Piaton entwickelt hier eine
Theorie des Seelischen, die von drei Seelenteilen aus-
geht – Vernunft, Eifer oder Empörung und Begehren,
wobei er das Freudsche Modell von Überich, Ich und
Es vorwegnimmt (allerdings mit dem Unterschied,
daß er der Vernunft den obersten und dem Gewissen,
das hier in der Gestalt des Eifers oder der Empörung
erscheint, den mittleren Platz einräumt). Um zu ver-
anschaulichen, wie man, und sei es widerstrebend, der
Anziehungskraft des Abstoßenden erliegen kann, er-
zählt Sokrates eine Geschichte, die ihm zu Ohren ge-
kommen ist:
wie nämlich Leontios, der Sohn des Aglaion, einmal
aus dem Peiraieus an der nördlichen Mauer draußen
heraufkam und merkte, daß beim Scharfrichter Lei-


chen lägen, er zugleich Lust bekam, sie zu sehen, zu-
gleich aber auch Abscheu fühlte und sich wegwen-
dete und so eine Zeitlang kämpfte und sich ver-
hüllte, dann aber von der Begierde überwunden mit
weitgeöffneten Augen zu den Leichnamen hinlief
und sagte: da habt ihr es nun, ihr unseligen, sättigt
euch an dem schönen Anblick!

Platon, der nicht das geläufigere Beispiel einer an-


stößigen oder verbotenen sexuellen Leidenschaft wählt,
um den Kampf zwischen Vernunft und Begierde zu
veranschaulichen, hält es anscheinend für ausgemacht,
daß in uns allen auch ein Verlangen nach dem Anblick
von Erniedrigung, Schmerz und Verstümmelung vor-
handen ist.
Der Sog dieser allgemein verachteten Regung muß
bei der Erörterung der Wirkung von Greuelbildern
unbedingt berücksichtigt werden.
Vielleicht war es in der frühen Neuzeit einfacher als
heute, anzuerkennen, daß im Menschen auch eine Nei-
gung zum Grauenhaften angelegt ist. Edmund Burke
hat bemerkt, daß die Menschen gern Bilder des Lei-
dens betrachten. »Ich bin überzeugt, daß wir ein ge-
wisses Maß an Entzücken, und zwar kein geringes,
angesichts der wirklichen Mißgeschicke und Leiden
anderer empfinden«, schrieb er in A Philosophical
Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and
Beautiful ()- »Kein Schauspiel verfolgen wir mit
solchem Eifer wie das eines ungewöhnlichen, betrüb-
lichen Unglücks.« In seinem Essay über Shakespeares


Jago und die Faszination der Schurkenhaftigkeit auf
der Bühne fragt William Hazlitt: »Warum lesen wir
in den Zeitungen eigentlich immer die Berichte über
furchtbare Feuerbrünste und entsetzliche Morde?« Weil,
so antwortet er, die »Liebe zum Unheil«, die Liebe zur
Grausamkeit, genauso zur Natur des Menschen gehört
wie das Mitgefühl.
Einer der großen Theoretiker des Erotischen, Geor-
ges Bataille, hatte ein  in China aufgenommenes
Foto von einem Gefangenen, der gerade den »Tod der
hundert Schnitte« erleidet, auf seinem Schreibtisch
stehen und also ständig vor Augen. (Das inzwischen le-
gendäre Bild ist in Batailles Buch Die Tränen des Eros
von  abgedruckt, dem letzten, das zu seinen Lebzei-
ten erschienen ist.) »Dieses Foto«, so schrieb Bataille,
»spielte in meinem Leben eine entscheidende Rolle.
Mich hat dieses ekstatische und zugleich unerträgliche
Bild des Schmerzes nie losgelassen.« Für Bataille be-
deutet die Betrachtung dieses Bildes zugleich Kastei-
ung der eigenen Gefühle und Befreiung von tabuisier-
tem erotischem Wissen – eine komplexe Reaktion,
die für viele Betrachter nicht ohne weiteres nachvoll-
ziehbar sein dürfte. Den meisten erscheint dieses Bild
einfach nur unerträglich: das rituelle Opfer mehrerer
geschäftiger Messer, schon ohne Arme, im letzten Sta-
dium der Häutung – ein Foto, kein Gemälde; ein wirk-
licher, kein mythischer Marsyas – und immer noch le-
bendig, mit einem Blick, dessen ekstatischer Ausdruck
sich mit jedem heiligen Sebastian der italienischen Re-
naissance messen kann. Als Gegenstand der Kontem-


plation können Bilder des Grauens unterschiedliche
Bedürfnisse erfüllen. Sich gegen Schwäche abhärten.
Sich betäuben. Sich vor Augen führen, daß es das Un-
abänderliche gibt.
Bataille sagt nicht, daß ihm der Anblick dieser Quäle-
rei Vergnügen bereitet. Aber er sagt, daß er sich extre-
mes Leiden als etwas, das mehr ist als leiden, vorstellen
kann – als eine Art von Transfiguration. Dieser Blick auf
den Schmerz, auf das Leiden anderer ist im religiösen
Denken verwurzelt, das den Schmerz mit dem Opfer
und das Opfer mit Erhebung verbindet – eine Ansicht,
wie sie dem modernen Empfinden fremder nicht sein
könnte, das im Leiden stets einen Fehler, einen Unfall
oder ein Verbrechen sieht. Etwas, das repariert, in Ord-
nung gebracht werden muß. Etwas Abzulehnendes. Et-
was, das uns die eigene Ohnmacht spüren läßt.

Was soll man mit dem Wissen anfangen, das Fotos von
fernem Leiden vermitteln? Menschen sind oft nicht im-
stande, die Leiden derer, die ihnen nahestehen, zu ver-
kraften. (Sehr eindringlich dokumentiert dies der Film
Hospital von Frederick Wiseman.) Allen voyeuristi-
schen Lockungen zum Trotz – und trotz der Genug-
tuung, die sich vielleicht aus dem Wissen ergibt: Dies
widerfährt nicht mir, nicht ich bin krank, nicht ich
sterbe, nicht mich trifft dieser Krieg – ist es anscheinend
normal, daß sich Menschen gegen das, was andere
durchmachen, verschließen – selbst dann, wenn sie sich
mit diesen anderen leicht identifizieren könnten.


Eine Frau aus Sarajevo, eine treue Anhängerin der
multiethnischen Ideale des ehemaligen Jugoslawien,
die ich kennenlernte, als ich im April  zum ersten-
mal in die Stadt kam, sagte mir: »Im Oktober  saß
ich hier in dieser netten Wohnung im friedlichen Sara-
jevo, als die Serben nach Kroatien einmarschierten,
und ich weiß noch, wie die Abendnachrichten Aufnah-
men von der Zerstörung der Stadt Vukovar brachten,
ungefähr hundertsechzig Kilometer von hier, und wie
ich dachte: ›Ach, wie furchtbar!‹ – und dann ein ande-
res Programm einschaltete. Wie soll ich da jemandem
böse sein, der in Frankreich oder Italien oder Deutsch-
land Tag für Tag das Morden hier in den Abendnach-
richten sieht und dann sagt: ›Oh, wie furchtbar!‹ und
sich ein anderes Programm sucht. Es ist normal. Es ist
menschlich.« Wo Menschen sich sicher fühlen – das
war der bittere Kern ihrer auf einen Selbstvorwurf hin-
auslaufenden Aussage –, werden sie gleichgültig. Aber
wenn eine Frau in Sarajevo den Bildern von schreck-
lichen Vorgängen in einer Gegend, die damals immer-
hin noch Teil ihres eigenen Landes war, auswich, so
hatte sie dafür wohl doch ein anderes Motiv als die
Fernsehzuschauer im Ausland, die sich um Sarajevo
nicht weiter kümmerten. Das Desinteresse der Auslän-
der, für das diese Frau so viel Verständnis aufbrachte,
erwuchs auch aus dem Gefühl, nichts tun zu können.
Die Weigerung der Frau, sich auf die Bilder eines na-
hen Krieges und die von ihnen ausgehende Warnung
einzulassen, war dagegen ein Ausdruck von Hilflosig-
keit und Angst.


Die Leute schalten nicht nur deshalb ab, weil sie
durch einen ständigen Strom von Bildern der Gewalt
gleichgültig geworden sind, sondern möglicherweise
auch deshalb, weil sie Angst haben. Jeder hat mitbe-
kommen, wie sehr das Ausmaß von akzeptierter Ge-
walt, von akzeptiertem Sadismus in der Massenkultur
gewachsen ist: im Kino, im Fernsehen, in Comics, bei
Computerspielen. Bilder, bei denen vor vierzig Jahren
das Publikum zurückgeschreckt und voller Abscheu
weggeschaut hätte, sieht sich heute jeder Teenager
im Multiplex an, ohne mit der Wimper zu zucken. Für
viele Menschen in den meisten modernen Kulturen
sind Chaos und Blutvergießen heute eher unterhalt-
sam als schockierend. Aber nicht alle Gewalt wird mit
der gleichen distanzierten Gelassenheit betrachtet.
Manche Katastrophen eignen sich besser als andere für
eine ironische Reaktion.*
*
Andy Warhol, dieser Connaisseur des Todes und Hoheprie-
ster der Freuden der Apathie, hat sich immer wieder von Nach-
richten über ganz unterschiedliche Todesfälle, bei denen Gewalt
im Spiel war (Autounfälle, Flugzeugabstürze, Selbstmorde, Hin-
richtungen), faszinieren lassen. Aber der Tod im Krieg kommt in
seinen Siebdrucken interessanterweise nicht vor. Ein Pressefoto
von einem elektrischen Stuhl und die schrille Titelseite einer
Boulevardzeitung: » Die in Jet«, ja. »Hanoi bombardiert«,
nein. Das einzige von Warhol in Siebdruck reproduzierte Foto,
das sich auf die Gewalt im Krieg bezieht, war selbst schon ein
Symbol, das heißt ein Klischee: der Atompilz, den er wie auf
einem Briefmarkenbogen vielmals wiederholt, um seine Unbe-
greiflichkeit, seine Faszination, seine Banalität zu veranschau-
lichen (ähnlich wie er es mit den Gesichtern von Marilyn, Jackie
und Mao gemacht hat).


Wenn die Leute im Ausland die Schreckensbilder
aus Bosnien abgeschaltet haben, so lag dies vielleicht
auch daran, daß dieser Krieg einfach kein Ende fand
und daß die führenden Politiker erklärten, die Situa-
tion sei ausweglos. Menschen können für Schrecken
unempfänglich werden, weil sie den Eindruck gewin-
nen, dem Krieg – jedem Krieg – sei kein Ende zu ma-
chen. Mitgefühl ist eine instabile Gefühlsregung. Es
muß in Handeln umgesetzt werden, sonst verdorrt
es. Deshalb stellt sich die Frage, was man mit den ge-
weckten Gefühlen, dem übermittelten Wissen tun soll.
Wenn man den Eindruck bekommt, daß es nichts gibt,
was »wir« tun könnten – aber wer sind diese »wir«? –,
und auch nichts, was »sie« tun könnten – aber wer sind
diese »sie«? –, fängt man an, sich zu langweilen, wird
zynisch und apathisch.
Rührung ist nicht unbedingt besser. Sentimentalität
ist bekanntlich mit einer Neigung zur Brutalität und
zu Schlimmerem durchaus vereinbar. (Man denke an
das Beispiel des Lagerkommandanten von Auschwitz,
der abends nach Hause kommt, Frau und Kinder um-
armt und sich vor dem Essen ans Klavier setzt, um
Schubert zu spielen.) Die Menschen verhärten sich -
wenn dies der richtige Ausdruck ist – gegen das, was
man ihnen zeigt, nicht wegen der Quantität der Bilder,
die ihnen vorgesetzt werden. Es ist vielmehr die Passi-
vität, die abstumpft. Die Zustände, die man als Apathie,
als moralische oder emotionale Taubheit bezeichnet,
sind voller Gefühle: voller Wut und Frustration. Wenn
wir nun darüber nachdenken, welche Gefühle statt des-


sen wünschenswert sind, dann wäre es wohl zu einfach,
sich für das Mitgefühl zu entscheiden. Die imaginäre
Nähe zum Leiden anderer, die uns Bilder verschaf-
fen, suggeriert eine Verbindung zwischen den fernen,
in Großaufnahme auf dem Bildschirm erscheinenden
Leidenden und dem privilegierten Zuschauer, die in
sich einfach unwahr ist – nur eine Täuschung mehr,
was unsere wirklichen Beziehungen zur Macht angeht.
Solange wir Mitgefühl empfinden, kommen wir uns
nicht wie Komplizen dessen vor, wodurch das Leiden
verursacht wurde. Unser Mitgefühl beteuert unsere
Unschuld und unsere Ohnmacht. Insofern kann es (un-
seren guten Absichten zum Trotz) zu einer imperti-
nenten – und völlig unangebrachten – Reaktion wer-
den. Das Mitgefühl, das wir für andere, vom Krieg und
einer mörderischen Politik betroffene Menschen auf-
bringen, beiseite zu rücken und statt dessen darüber
nachzudenken, wie unsere Privilegien und ihr Leiden
überhaupt auf der gleichen Landkarte Platz finden
und wie diese Privilegien – auf eine Weise, die wir uns
vielleicht lieber gar nicht vorstellen mögen – mit ihren
Leiden verbunden sind, insofern etwa, als der Wohl-
stand der einen die Armut der anderen zur Vorausset-
zung hat – das ist eine Aufgabe, zu deren Bewältigung
schmerzliche, aufwühlende Bilder allenfalls die Initial-
zündung geben können.



Betrachten wir zwei


verbreitete Ansichten über die Wirkungsweise von Fo-
tografie – Ansichten, die inzwischen fast zu Gemein-
plätzen geworden sind. Da ich sie auch in meinen eige-
nen Essays über Fotografie wiederfinde – deren erster
vor dreißig Jahren geschrieben wurde –, fühle ich eine
unwiderstehliche Versuchung, mich mit ihnen ausein-
anderzusetzen.
Der ersten Ansicht zufolge wird die Aufmerksam-
keit der Öffentlichkeit durch die Aufmerksamkeit der
Medien gelenkt – das heißt, hauptsächlich durch Bil-
der. Ein Krieg wird »real«, wenn es von ihm Fotos gibt.
So wurde der Protest gegen den Vietnamkrieg durch
Bilder mobilisiert. Die Meinung, daß gegen den Krieg
in Bosnien etwas getan werden müsse, erwuchs aus der
Aufmerksamkeit von Journalisten, die mehr als drei
Jahre lang Abend für Abend Bilder aus dem belagerten
Sarajevo in Millionen Wohnzimmer befördert haben.
Man hat dies auch den »CNN-Effekt« genannt. Die
Beispiele zeigen, wie stark uns Fotos darin beeinflus-
sen, welchen Katastrophen und Krisen wir unsere Auf-


merksamkeit schenken, worum wir uns kümmern und
letztlich auch, wie wir diese Konflikte beurteilen.
Der zweiten Ansicht zufolge – sie mutet fast wie eine
Umkehrung des soeben Gesagten an – haben in einer
mit Bildern gesättigten, nein, übersättigten Welt ge-
rade jene Bilder, auf die es ankommen sollte, eine
dämpfende Wirkung: wir stumpfen ab. Letztlich neh-
men uns solche Bilder etwas von unserer Fähigkeit zu
fühlen und die Signale, die von unserem Gewissen aus-
gehen, wahrzunehmen.
Im ersten der sechs Essays meines Buches Über Foto-
grafie () habe ich die Auffassung vertreten, zwar
werde ein Geschehen, das wir durch Fotos kennenler-
nen, realer, als es ohne Fotos je sein könnte, doch ver-
liere dieses Geschehen auch wieder an Realität, wenn
wir es immer wieder abgebildet sehen. Sosehr Fotos
Mitgefühl wecken können, schrieb ich, so sehr können
sie es auch schrumpfen lassen. Stimmt das? Als ich dies
schrieb, war ich davon überzeugt. Heute bin ich mir
nicht mehr so sicher. Was spricht dafür, daß Fotos ihre
Wirkung nach und nach einbüßen können, daß unsere
Zuschauerkultur das moralische Potential von Greuel-
fotos neutralisiert?
Die Frage lenkt den Blick auf das wichtigste Nach-
richtenmedium von heute, das Fernsehen. Ein Bild
wird seiner Kraft dadurch beraubt, wie es benutzt
wird, wo und wie oft man es sehen kann. Fernsehbilder
sind per definitionem Bilder, deren man früher oder
später müde wird. Was wie Gefühllosigkeit aussieht,
hat seinen Ursprung in der instabilen Aufmerksam-


keit, die das Fernsehen mit seinem Übermaß an Bil-
dern erzeugt und bedienen soll. Die Bilderflut sorgt
dafür, daß die Aufmerksamkeit locker, beweglich und
gegenüber den Inhalten relativ gleichgültig bleibt.
Der Bilderfluß verhindert, daß eine Rangordnung zwi-
schen den Bildern entsteht. Entscheidend beim Fern-
sehen ist, daß man umschalten kann, daß es normal
ist, zwischen den Programmen zu wechseln, unruhig
zu werden, sich zu langweilen. Die Grundhaltung des
Konsumenten ist die Erschlaffung. Er braucht Stimu-
lierung, Starthilfe, wieder und wieder. Der Inhalt ist
dabei nur eines von mehreren Stimulanzien. Ein re-
flektierteres Sicheinlassen auf den Inhalt setzt ein ge-
wisses Maß an intensiver Aufmerksamkeit voraus -
also das, was durch die Erwartungen gerade geschwächt
wird, die wir den medienvermittelten Bildern entge-
genbringen. Vor allem dadurch, wie der Inhalt nach
und nach aus den Bildern herausgewaschen wird, tra-
gen sie zur Gefühlsabstumpfung bei.

Die These, das moderne Leben bestehe aus einer Ab-


folge von Schrecknissen, die uns verderben und an die
wir uns nach und nach gewöhnen, gehört zum Grund-
bestand der Kritik an der Moderne – und sie ist fast
so alt wie die Moderne selbst. Schon im Jahre  kri-
tisierte Wordsworth in der Vorrede zu seinen Lyrical
Ballads den Verfall des Empfindungsvermögens, der
verursacht werde durch »die großen nationalen Ta-
gesereignisse und durch die Zusammenballung von


immer mehr Menschen in großen Städten, wo die
Einförmigkeit ihrer Betätigungen ein Verlangen nach
außergewöhnlichen Vorfällen erzeugt, das durch die
rasche Verbreitung von Nachrichten stündlich be-
friedigt wird«. Die allgemeine Überreizung habe zur
Folge, daß »die Unterscheidungskräfte des Geistes
abstumpfen« und er »in einen Zustand der Erschlaf-
fung zurücksinkt, wie wir ihn von den Wilden ken-
nen«.
Der englische Dichter betont, wie der Geist durch
»Tagesereignisse« und »stündliche« Nachrichten von
»außergewöhnlichen Vorfällen« abgestumpft wird.
Um was für Vorkommnisse es sich dabei im einzel-
nen handeln könnte, überläßt er diskret der Phantasie
des Lesers. Rund sechzig Jahre später formulierte ein
anderer großer Dichter und Kulturdiagnostiker – ein
Franzose, der zur Übertreibung neigt, wo der Englän-
der eher untertreibt – die gleiche Kritik mit mehr
Temperament. Nach  notiert Baudelaire in seinem
Tagebuch:

Es ist unmöglich, irgendeine Zeitung durchzublät-


tern, gleichgültig welchen Tages, welchen Monats
oder welchen Jahres, ohne in jeder Zeile die er-
schreckendsten Merkmale der menschlichen Perver-
sität zu finden … Jede Tageszeitung ist von der er-
sten bis zur letzten Zeile ein einziges Gewebe von
Greueln. Kriege, Verbrechen, Diebstähle, Unzucht,
Folter, Verbrechen von Fürsten, Verbrechen von Na-
tionen, Verbrechen von Privatpersonen; ein allge-


meiner Rausch von Gräßlichkeit. Und diesen ekeler-
regenden Aperitif nimmt der zivilisierte Mensch
täglich beim Frühstück zu sich.

Als Baudelaire dies schrieb, brachten die Tageszeitun-


gen noch keine Fotos. Trotzdem ist seine Attacke gegen
den Bürger, der sich mit seiner Morgenzeitung und
den in ihr versammelten Schrecken dieser Welt zum
Frühstück niederläßt, der heutigen Kritik an der Flut
von abstumpfendem Horror, den wir uns täglich über
das Fernsehen oder die Morgenzeitung einverleiben,
sehr nahe. Modernere Technologie sorgt inzwischen
dafür, daß die Zufuhr nicht mehr abreißt: wenn wir
wollten, könnten wir alle verfügbare Zeit der Betrach-
tung von Katastrophen- und Greuelbildern widmen.
Seit dem Erscheinen von Über Fotografie haben
viele Beobachter darauf hingewiesen, daß Kriegs-
greuel durch das Fernsehen zu einer allabendlichen
Belanglosigkeit verkümmert seien. Unter einer Flut
von Bildern, die uns früher erschüttert und empört ha-
ben, verlören wir die Fähigkeit zu reagieren. Das Mit-
gefühl werde ständig überfordert und erlahme des-
halb. So lautet die bekannte Diagnose. Aber was wird
hier eigentlich verlangt? Daß blutrünstige Bilder sel-
tener gesendet werden – sagen wir, nur noch einmal
die Woche? Allgemeiner: daß wir auf das hinarbeiten
sollen, was ich in Über Fotografie eine »Ökologie der
Bilder« genannt habe? Eine solche Ökologie der Bilder
wird es nicht geben. Kein Wächterrat wird den Schrek-
ken für uns rationieren, damit ihm seine Fähigkeit zu


schockieren erhalten bleibt. Aber auch die Schrecken
selbst werden nicht abnehmen.

Die in Über Fotografie entwickelte Auffassung – daß un-


sere Fähigkeit, auf eigene Erfahrungen mit emotionaler
Frische und ethisch angemessen zu reagieren, durch die
ständige Verbreitung vulgärer, erschreckender Bilder
untergraben wird – könnte man als eine konservative
Kritik an der Verbreitung solcher Bilder bezeichnen.
Konservativ nenne ich diese Auffassung, weil es ihr
um den Hinweis geht, daß der Sinn für die Wirklich-
keit ausgehöhlt wird. Eine selbständige Wirklichkeit
gibt es nach wie vor – ungeachtet aller Versuche, ihre
Maßgeblichkeit zu schwächen. Meine Argumentation
zielt also im Grunde auf die Verteidigung der Wirk-
lichkeit und der gefährdeten Maßstäbe für eine ad-
äquate Auseinandersetzung mit ihr.
Für die radikalere – die zynische – Variante dieser
Kritik gibt es an dieser Stelle nichts zu verteidigen: der
riesige Magen der Moderne hat die Realität verdaut
und alles in Gestalt einer Masse von Bildern wieder
ausgespuckt. Einer sehr einflußreichen Zeitdiagnose zu-
folge leben wir in einer »Gesellschaft des Spektakels«.
Jede Situation muß in ein Spektakel verwandelt wer-
den, damit sie für uns wirklich – das heißt, interessant –
wird. Die Menschen selbst sind bestrebt, Bilder aus
sich zu machen – Prominente mit einem »Image« zu
werden. Die Wirklichkeit hat abgedankt. Es gibt nur
noch Repräsentationen: die Medien.


Das alles ist phantasievolle Rhetorik. Die allerdings
auf viele sehr überzeugend wirkt, denn auch dies ge-
hört zu den Merkmalen der Moderne, daß den Men-
schen die Vorstellung gefällt, sie könnten ihr eigenes
zukünftiges Erleben vorwegnehmen. (Diese Ansichten
finden sich vor allem in den Schriften von Guy De-
bord, der glaubte, er habe es mit einer Illusion, einem
Schwindel zu tun, und in denen von Jean Baudrillard,
der behauptet, davon überzeugt zu sein, daß heute
nur mehr Bilder, simulierte Realitäten existieren; es
scheint sich hier um eine französische Spezialität zu
handeln.) Oft heißt es, der Krieg, wie alles andere, was
real zu sein scheint, sei médiatique. So lautete auch
die Diagnose einiger bekannter Franzosen, die wäh-
rend der Belagerung von Sarajevo zu einer Stippvisite
in die Stadt gekommen waren – unter ihnen André
Glucksmann: gewonnen oder verloren werde dieser
Krieg nicht durch etwas, das sich in Sarajevo oder in
Bosnien ereigne, sondern durch das, was in den Medien
vor sich gehe. Oft wird behauptet, die »westliche Welt«
neige mehr und mehr dazu, den Krieg selbst als Schau-
spiel zu betrachten. Meldungen über den Tod der Rea-
lität wurden – ähnlich wie Meldungen über den Tod
der Vernunft, den Tod des Intellektuellen, den Tod der
Literatur – anscheinend ohne viel Nachdenken von
vielen für bare Münze genommen, die herauszufinden
versuchen, was in Politik und Kultur heute so falsch, so
leer, so blasiert anmutet.
Dabei ist die These von der Wirklichkeit, die zum
Spektakel geworden sei, auf atemberaubende Weise


provinziell. Sie universalisiert die Sehgewohnheiten
einer kleinen, gebildeten Gruppe von Menschen, die
im reichen Teil der Welt leben, wo man die Nachrich-
ten in Unterhaltung verwandelt hat – jenen ausgereif-
ten Sehstil, der eine der großen Errungenschaften des
»modernen« Menschen und eine Voraussetzung für die
Demontage traditioneller Formen von Parteipolitik ist,
in der es noch wirkliche Meinungsunterschiede und
wirkliche Debatten gibt. Sie nimmt an, daß jeder
Mensch Zuschauer ist, und suggeriert – absurderweise
und völlig unseriös –, daß es wirkliches Leiden auf der
Welt gar nicht gibt. Es ist aber unsinnig, die Welt mit
jenen Zonen in den wohlhabenden Ländern gleichzu-
setzen, wo Menschen das zweifelhafte Privileg haben,
die Rolle dessen zu übernehmen (oder auch abzuleh-
nen), der zusieht, wie andere leiden. Genauso unsinnig
ist es, irgendwelche allgemeinen Thesen über die
Fähigkeit, auf die Leiden anderer zu reagieren, nur un-
ter Berücksichtigung der Mentalität jener Nachrich-
tenkonsumenten zu entwickeln, die von Krieg, mas-
senhaftem Unrecht und Terror aus eigener Erfahrung
nichts wissen. Es gibt Millionen von Fernsehzuschau-
ern, die dem, was sie auf dem Bildschirm sehen, kei-
neswegs mit Gleichgültigkeit begegnen. Den Luxus
einer Konsumentenhaltung gegenüber der Wirklich-
keit können sie sich nicht leisten.
Zu den Klischees kosmopolitischer Diskussionen über
Greuelbilder gehört inzwischen auch die Annahme, daß
solche Bilder wenig bewirken und daß ihrer Verbrei-
tung etwas Zynisches anhaftet. So wichtig Kriegsbilder


heute den meisten Menschen zu sein scheinen – es
bleibt ein Mißtrauen gegenüber dem Interesse, das sich
ihnen zuwendet, und gegenüber den Absichten derer,
die sie herstellen. Diesem Mißtrauen begegnet man
vor allem an den beiden Endpunkten des Spektrums:
bei den Zynikern, die nie auch nur in die Nähe eines
Krieges geraten sind, und bei den Kriegsmüden, die
das Elend, das da fotografiert wird, selbst erdulden.
Moderne Weltbürger, Adepten der risikofreien Nähe,
die Gewalt als Spektakel konsumieren, sind geübte Zy-
niker, wenn es um die Frage geht, ob Aufrichtigkeit
möglich ist. Manche von ihnen versuchen, innere Be-
wegung um jeden Preis zu vermeiden. Es ist ja auch
viel einfacher, aus dem eigenen Fernsehsessel, fernab
der Gefahr, die Position dessen zu beanspruchen, der
sich seine Überlegenheit bewahrt. Die Bemühungen
derer, die in Kriegsgebieten Augenzeugen sein wol-
len, werden inzwischen so häufig als »Kriegstouris-
mus« verspottet, daß davon auch die Diskussionen
über die Kriegsfotografie als Beruf nicht unberührt
geblieben sind.
Hartnäckig hält sich die Vorstellung, das Verlangen
nach solchen Bildern sei vulgär und speise sich aus
niedrigen Instinkten – Gruselkommerz. In Sarajevo
konnte man es in den Jahren der Belagerung bisweilen
erleben, wie während eines Bombardements oder bei
heftigem Scharfschützenfeuer ein Einwohner der Stadt
den an ihrer Ausrüstung leicht erkennbaren Fotojour-
nalisten zurief: »Wartet ihr auf einen Einschlag, damit
ihr ein paar Leichen fotografieren könnt?«


Manchmal taten sie das, wenn auch seltener, als man
vielleicht meinen sollte, denn der Fotograf, der bei
einem Bombardement oder im Scharfschützenfeuer
auf der Straße unterwegs ist, schwebt genauso ins Le-
bensgefahr wie die Zivilisten, die er beobachtet. Der
Wunsch, eine gute Story zu bekommen, war außerdem
nicht das einzige Motiv für den Eifer und den Mut der
Fotojournalisten, die über die Belagerung berichteten.
Während dieses Konflikts waren die meisten Journali-
sten, die aus Sarajevo berichteten, keineswegs neutral.
Und die Einwohner der Stadt wollten, daß ihre Not auf
Fotos festgehalten werde: Opfer haben ein Interesse
daran, daß ihre Leiden dargestellt werden. Aber sie
wollen auch, daß diese Leiden als etwas Einzigartiges
dastehen. Anfang  stellte der englische Fotojour-
nalist Paul Löwe, der mehr als ein Jahr in der belager-
ten Stadt gelebt hatte, in einer teilweise zerstörten
Kunstgalerie die Fotos aus, die er in dieser Zeit aufge-
nommen hatte, und dazu andere, die ein paar Jahre zu-
vor in Somalia entstanden waren. Die Bewohner von
Sarajevo interessierten sich sehr für die neuen Bilder
von der Zerstörung ihrer Stadt, aber die Einbeziehung
der Bilder aus Somalia empörte sie. Löwe hatte sich die
Sache einfach vorgestellt. Er war Berufsfotograf, und
hier waren zwei Komplexe aus seiner Arbeit, auf die er
stolz war. Für die Menschen aus Sarajevo war die Sache
ebenfalls einfach. Ihre Leiden neben die Leiden an-
derer zu stellen hieß vergleichen (welche Hölle ist
die schlimmere?), hieß das Martyrium von Sarajevo zu
einem Fall unter anderen degradieren. Die Greuel in


dieser Stadt hätten mit dem, was in Afrika passierte,
nichts zu tun, erklärten sie. Ihre Empörung hatte zwar
auch einen rassistischen Unterton – Bosnier sind Euro-
päer, so beteuerten sie unermüdlich gegenüber ihren
ausländischen Freunden –, aber sie wären auch nicht
einverstanden gewesen, wenn statt der Fotos aus Soma-
lia Bilder von Greueltaten an Zivilisten in Tschetsche-
nien oder im Kosovo oder in irgendeinem anderen
Land in die Ausstellung einbezogen worden wären.
Die eigenen Leiden neben die Leiden anderer gestellt
zu sehen ist unerträglich.



Wer eine Hölle als das


bezeichnet, was sie ist, hat damit natürlich noch nicht
gesagt, wie man Menschen aus dieser Hölle herausho-
len und das Höllenfeuer eindämmen kann. Trotzdem
scheint es schon an sich positiv zu sein, wenn man die
eigene Wahrnehmung schärft und sich immer wieder
klarmacht, wieviel durch menschliche Bosheit verur-
sachtes Leiden es in der Welt gibt, in der wir mit ande-
ren leben. Wer sich ständig davon überraschen läßt,
daß es Verderbtheit gibt, wer immer wieder mit erstaun-
ter Enttäuschung (oder gar Unglauben) reagiert, wenn
ihm vor Augen geführt wird, welche Grausamkeiten
Menschen einander antun können, der ist moralisch
oder psychologisch nicht erwachsen geworden.
Von einem gewissen Alter an hat niemand mehr ein
Recht auf solche Unschuld oder Oberflächlichkeit, auf
soviel Unwissenheit oder Vergeßlichkeit.
Es gibt inzwischen einen umfangreichen Bestand an
Bildern, die es schwieriger machen, in dieser ethischen
Mangellage zu verharren. Lassen wir uns also von den


grausigen Bildern heimsuchen. Auch wenn sie nur
Markierungen sind und den größeren Teil der Realität,
auf die sie sich beziehen, gar nicht erfassen können,
kommt ihnen eine wichtige Funktion zu. Die Bilder
sagen: Menschen sind imstande, dies hier anderen an-
zutun – vielleicht sogar freiwillig, begeistert, selbstge-
recht. Vergeßt das nicht.
Es ist dies nicht ganz dasselbe, wie wenn man
von Menschen verlangt, einen bestimmten, besonders
monströsen Ausbruch von Bosheit in Erinnerung zu
behalten (»nie zu vergessen«). Vielleicht mißt man
dem Erinnern heute zuviel Wert bei – und dem Den-
ken nicht genug. Erinnern ist ein ethisches Handeln,
es hat schon an sich einen ethischen Wert. Die Erinne-
rung ist, so schmerzlich dies sein mag, das einzige, was
uns mit den Toten verbinden kann. Deshalb ist der
Glaube an den Wert des Erinnerns tief in uns veran-
kert. Wir wissen, daß wir sterben werden, und betrau-
ern jene, die, wenn die Dinge ihren gewöhnlichen
Gang gehen, vor uns sterben werden – Großeltern, El-
tern, Lehrer, ältere Freunde. Herzlosigkeit und Vergeß-
lichkeit gehören, so scheint es, zusammen. Wo es jedoch
um das Erinnern über die sehr viel längeren Zeitspan-
nen kollektiver Geschichte geht, werden die von der
Geschichte ausgehenden Signale widersprüchlich. Es
gibt einfach zuviel Ungerechtigkeit auf der Welt. Und
zuviel Erinnerung (an alte Kümmernisse: die Serben,
die Iren) verbittert. Frieden schließen heißt vergessen.
Versöhnung macht es erforderlich, die Erinnerung ein-
zuschränken und zu verformen.


Wenn es also darum geht, einen Raum zu schaffen,
in dem jeder sein eigenes Leben leben kann, ist es
wünschenswert, daß sich die auflistende Erinnerung
an ganz bestimmte Ungerechtigkeiten in einem allge-
meineren Bewußtsein davon auflöst, daß Menschen
einander überall auf der Welt schreckliche Dinge an-
tun.

Vor unseren kleinen Bildschirmen hockend – Fern-


seher, Computer, Palmtop –, können wir zu Bildern
und Kurzberichten von Katastrophen in der ganzen
Welt surfen. Man könnte meinen, es gebe solche Nach-
richten jetzt in größerer Menge als früher. Aber wahr-
scheinlich täuscht dieser Eindruck. Es ist nur so, daß
die Nachrichten »von überall« kommen. Und nach wie
vor sind die Leiden mancher Menschen für ein be-
stimmtes Publikum (da sich ja nun nicht übersehen
läßt, daß auch das Leiden sein Publikum hat) von sehr
viel größerem Interesse als die Leiden anderer Men-
schen. Daß Nachrichten über Kriege heute weltweit
verbreitet werden, bedeutet nicht, daß sich die Fähig-
keit, über das Leiden weit entfernt lebender Menschen
nachzudenken, nennenswert erweitert hätte. In einem
modernen Leben, in dem es eine Unmenge von Din-
gen gibt, denen wir unsere Aufmerksamkeit schenken
sollen, scheint es normal, daß man sich von Bildern ab-
wendet, die man einfach nur als belastend empfindet.
Die Leute würden noch viel mehr zwischen den
Kanälen hin- und herschalten, wenn die Nachrichten-


medien den Einzelheiten des Leidens, das durch Krieg
und andere Ungeheuerlichkeiten verursacht wird,
mehr Zeit widmen würden. Aber es trifft wahrschein-
lich nicht zu, daß die Menschen weniger fühlen und
schwächer reagieren.
Daß wir uns nicht von Grund auf verändern, daß wir
uns abwenden können, daß wir umblättern und um-
schalten können, tut dem ethischen Wert eines Bilder-
ansturms keinen Abbruch. Es ist kein Fehler, kein Zei-
chen von Schwäche, wenn wir keine Verbrennungen
davontragen, wenn wir nicht genug leiden, während
wir diese Bilder sehen. Wir erwarten von einem Foto ja
auch nicht, daß es unsere Unwissenheit hinsichtlich
der Geschichte und der Ursachen der Leiden behebt,
die es aufgreift und ins Bild rückt. Solche Bilder kön-
nen nicht mehr sein als eine Aufforderung zur Auf-
merksamkeit, zum Nachdenken, zum Lernen – dazu,
die Rationalisierungen für massenhaftes Leiden, die
von den etablierten Mächten angeboten werden, kri-
tisch zu prüfen. Wer hat das, was auf dem Bild zu se-
hen ist, verursacht? Wer ist verantwortlich? Ist es ent-
schuldbar? War es unvermeidlich? Haben wir eine
bestimmte Situation bisher fraglos akzeptiert, die in
Frage gestellt werden sollte? Dies alles – und oben-
drein die Einsicht, daß weder moralische Empörung
noch Mitgefühl das Handeln bestimmen können.
Die Enttäuschung darüber, daß man gegen das, was
die Bilder zeigen, nichts zu unternehmen vermag,
kann sich in den Vorwurf verwandeln, es sei anstößig,
solche Bilder zu betrachten, oder die Art, wie sie ver-


breitet werden, sei anstößig – zum Beispiel in unmit-
telbarer Nachbarschaft von Anzeigen für Kosmetika,
Schmerzmittel oder Geländewagen. Könnten wir ge-
gen das, was die Bilder zeigen, tatsächlich etwas unter-
nehmen, wären uns solche Fragen wahrscheinlich viel
weniger wichtig.

Man hat gegen Bilder gelegentlich den Vorwurf erho-


ben, sie machten es möglich, Leiden aus der Distanz zu
betrachten – als gäbe es auch eine andere Art des Be-
trachtens. Doch auch wenn man etwas aus der Nähe
betrachtet – ohne Vermittlung durch ein Bild –, tut
man nichts anderes als betrachten.
Manche Vorwürfe, die gegen Greuelbilder erhoben
werden, beziehen sich auf die Grundbestimmungen
des Sehens selbst. Sehen kostet keine Anstrengung;
zum Sehen bedarf es der räumlichen Distanz; Sehen
läßt sich »abschalten« (wir haben Augenlider, aber
unsere Ohren sind nicht verschließbar). Gerade die
Eigenschaften, um derentwillen den griechischen Phi-
losophen der Gesichtssinn als der vorzüglichste, edelste
aller menschlichen Sinne galt, werden ihm heute als
Mangel angerechnet.
Es entsteht der Eindruck, als sei etwas moralisch
falsch daran, wie die Fotografie ein abstract, eine Kurz-
fassung der Realität, liefert; als habe man nicht das
Recht, das Leiden anderer aus der Distanz wahrzuneh-
men, ohne selbst auch die rohe Gewalt zu spüren; als
würden wir menschlich (und moralisch) einen zu hohen


Preis für die einst so bewunderten Eigenschaften des
Sehens zahlen – das Abstandnehmen von der Aggressi-
vität der Welt, das uns die Freiheit gibt, zu beobachten
und unsere Aufmerksamkeit gezielt einzusetzen. Aber
eigentlich ist mit alledem nur die Funktionsweise des
menschlichen Geistes selbst beschrieben.
Es ist nicht unbillig, Abstand zu nehmen und nach-
zudenken. Mehrere Philosophen haben es auf diese
oder jene Weise zum Ausdruck gebracht: »Niemand
kann gleichzeitig nachdenken und zuschlagen.«



Manche Fotos, die zu


Sinnbildern des Leidens geworden sind – etwa der
Schnappschuß des mit erhobenen Händen dastehen-
den kleinen Jungen im Warschauer Ghetto, kurz vor
dem Abtransport in ein Todeslager –, können als Me-
mento mori dienen, als Objekte der Kontemplation,
die uns helfen, unseren Wirklichkeitssinn zu vertiefen,
als weltliche Ikonen. Aber daran scheint sich dann
auch die Forderung nach einem Pendant zu einem ge-
weihten, der frommen Andacht gewidmeten Raum zu
knüpfen, der zu solcher Betrachtung besonders ge-
eignet wäre. Doch Raum, der dem Ernst vorbehalten
bliebe, ist in einer modernen Gesellschaft schwer zu
finden, deren wichtigstes Modell für den öffentlichen
Raum der Mega-Store ist (der zugleich auch Flughafen
oder Museum sein kann).
Quälende Fotos vom Leiden anderer Menschen in
einer Kunstgalerie zu betrachten scheint deplaziert.
Selbst die  in den Konzentrationslagern aufge-
nommenen Bilder, deren Ernst und Eindringlichkeit
ein für allemal gesichert scheint, wirken und wiegen


sehr unterschiedlich, je nachdem, wo man sie sieht: in
einem Fotografiemuseum (etwa im Hôtel Sully in
Paris oder im International Center of Photography in
New York); in einer Galerie für zeitgenössische Kunst;
in einem Museumskatalog; im Fernsehen; auf einer
Seite der New York Times; auf einer Seite der Zeit-
schrift Rolling Stone; in einem Buch. Ein Foto, das man
aus einem Bildband oder (wie die Bilder aus dem Spa-
nischen Bürgerkrieg) aus einer auf rauhes Papier ge-
druckten Zeitung kennt, nimmt eine andere Bedeu-
tung an, wenn es in einer Modeboutique ausgestellt
wird. Jedes Bild, das wir sehen, sehen wir in einer be-
stimmten Umgebung. Und diese Umgebungen haben
sich vervielfältigt. In einer umstrittenen Werbekam-
pagne verwendete der italienische Modehersteller Be-
netton ein Foto, auf dem das blutige Hemd eines gefal-
lenen kroatischen Soldaten zu sehen war. Werbefotos
sind heute oft genauso anspruchsvoll, kunstvoll, gespielt
zwanglos, provokant, ironisch oder ernst wie Bilder aus
dem Bereich der künstlerischen Fotografie. Als Capas
fallender Soldat in Life neben der »Vitalis«-Annonce er-
schien, bestand ein unüberbrückbarer Unterschied im
Aussehen zwischen Reklamefotos und redaktionellen
Fotos. Heute gibt es diesen Unterschied nicht mehr.
Die Skepsis gegenüber den Arbeiten mancher »Ge-
wissensfotografen« erschöpft sich heute nicht selten in
einem Unbehagen daran, daß Fotos auf vielerlei Art
in Umlauf gebracht werden; daß es keine Möglichkeit
gibt, diesen Bildern ein Ambiente der Andacht zu ga-
rantieren, in dem sie mit der gebotenen Hingabe be-


trachtet werden können. Abgesehen von den Räumen,
die der patriotischen Verehrung politischer Führer
gewidmet sind, gibt es heute anscheinend keine Mög-
lichkeit, für irgend etwas eine der Kontemplation för-
derliche, Zurückhaltung fordernde Umgebung zu ge-
währleisten.
Insofern Fotos mit besonders ernsten oder ergrei-
fenden Motiven Kunst sind – und Kunst werden sie,
allen entgegenlautenden Erklärungen zum Trotz, so-
bald sie an Wänden hängen –, teilen sie das Schicksal
aller Kunst, die in öffentlichen Räumen, ob hängend
oder stehend, ausgestellt wird. Sie werden zu Stationen
eines Spaziergangs, den der Betrachter meist in Be-
gleitung anderer unternimmt. Ein Museums- oder Ga-
leriebesuch ist eine von vielfältigen Zerstreuungen
durchsetzte soziale Veranstaltung, bei der Kunst be-
trachtet und über Kunst gesprochen wird.* In mancher
*
Das Museum selbst ist im Laufe seiner Entwicklung immer
mehr zu einem Ambiente der Zerstreuung geworden. Während
es früher ein Ort war, an dem die schönen Künste der Vergangen-
heit aufbewahrt und ausgestellt wurden, ist das Museum heute
zu einer riesigen Bildungsinstitution mit angeschlossenem Ein-
kaufszentrum geworden, zu dessen Funktionen unter anderem
auch die Ausstellung von Kunst gehört. Seine Hauptfunktionen
sind Unterhaltung und Bildung in unterschiedlichen Mischungs-
verhältnissen sowie die Vermarktung von Erfahrungen, Ge-
schmacksrichtungen und Imitaten. Das Metropolitan Museum
of Art in New York organisiert eine Ausstellung der Kleider, die
Jacqueline Bouvier Kennedy Onassis während ihrer Jahre im
Weißen Haus getragen hat, und das Imperial War Museum in
London, das für seine Sammlungen militärischer Gerätschaf-
ten und Bilder berühmt ist, bietet seinen Besuchern neuerdings


Hinsicht sind Bedeutung und Ernst solcher Fotos in
einem Buch, das man, über den Bildern innehaltend,
allein und ohne zu reden betrachtet, besser aufge-
hoben. Aber irgendwann kommt der Augenblick, in
dem man auch das Buch schließt. Die starke Gefühls-
regung erweist sich als eine vorübergehende. Zuletzt
verblaßt das Besondere an den Anklagen, die von den
Fotos ausgehen; aus der Kritik an einem bestimmten
Konflikt, aus der Darstellung bestimmter Verbrechen
wird eine Kritik an menschlicher Grausamkeit und
Brutalität schlechthin. Welche Absichten der Fotograf
mit seinen Bildern verfolgt, ist für diesen Vorgang
unerheblich.

Gibt es ein Mittel gegen die so nachhaltig verführe-


rische Wirkung, die vom Krieg ausgeht? Und kann es
sein, daß diese Frage von einer Frau eher gestellt wird
als von einem Mann? (Wahrscheinlich ja.)
Kann man durch ein Bild (oder eine Gruppe von Bil-
dern) dazu gebracht werden, sich aktiv gegen den

zwei nachgebaute Erlebniswelten: aus dem Ersten Weltkrieg die


»Trench Experience« (die Grabenkrieg-Erfahrung aus der
Somme-Schlacht ), ein Spaziergang mit vom Band zuge-
spielter Geräuschkulisse (explodierende Granaten, Schreie),
aber geruchlos (keine verwesenden Leichen, kein Giftgas); und
aus dem Zweiten Weltkrieg die »Blitz Experience«, eine Erleb-
niswelt, die die Verhältnisse während der deutschen Bombenan-
griffe auf London  nachstellt, einschließlich der Simulation
eines Luftangriffs, den man aus einem unterirdischen Bunker
miterlebt.


Krieg einzusetzen – so wie man zum Gegner der Todes-
strafe werden kann, indem man Dreisers Roman Eine
amerikanische Tragödie liest oder Turgenjews Erzäh-
lung Troppmanns Hinrichtung, in der der damals schon
in Frankreich lebende Schriftsteller berichtet, wie er
in ein Pariser Gefängnis eingeladen wird, um dort die
letzten Stunden eines berühmten Kriminellen vor sei-
ner Guillotinierung zu beobachten? Wahrscheinlich ist
eine Erzählung in dieser Beziehung wirksamer als ein
Bild. Zum Teil hängt dies auch damit zusammen, wie-
viel Zeit man betrachtend, mitfühlend investieren
muß. Kein Foto und keine Fotoserie kann sich so entfal-
ten, kann so weiter- und immer weitergehen wie der
Film The Ascent () der ukrainischen Regisseurin
Larissa Shepitko, der ergreifendste Film über die Trau-
rigkeit des Krieges, den ich kenne, oder der erstaun-
liche japanische Dokumentarfilm von Kazuo Hara,
The Emperor›s Naked Army Marches On () – das
Porträt eines »gestörten« Veteranen aus dem Pazifik-
krieg, der sein Leben damit verbringt, japanische
Kriegsverbrechen anzuprangern, indem er mit einem
Lautsprecherwagen in Japan herumfährt und seinen
früheren Vorgesetzten höchst unwillkommene Besu-
che abstattet, bei denen er sie auffordert, sich für be-
stimmte Verbrechen zu entschuldigen – zum Beispiel
für die Ermordung amerikanischer Gefangener auf
den Philippinen, die sie selbst angeordnet oder später
gedeckt haben.
Unter den für sich stehenden Antikriegsbildern
scheint mir das riesige Foto von Jeff Wall aus dem Jahre


 – Dead Troops Talk (A Vision After an Ambush of
a Red Army Patrol near Moqor, Afghanistan, Winter
) – in seiner Nachdenklichkeit und Eindringlich-
keit exemplarisch. Dieses Bild – ein auf einen Leucht-
kasten montiertes Cibachrome-Diapositiv von  Meter
 Höhe und rund  Meter Länge – ist das Gegenteil
von einem Dokument. Es zeigt Gestalten in einer
Landschaft – einem zerschossenen Abhang –, die im
Atelier des Künstlers aufgebaut wurde. Der Kanadier
Wall ist nie in Afghanistan gewesen. Der Hinterhalt ist
ein frei erfundenes Ereignis aus einem verbissen ge-
führten Krieg, über den in den Medien viel berichtet
wurde. Wall nahm sich vor, die Schrecken des Krieges
(er selbst verweist auf die Anregung durch Goya) so zu
imaginieren, wie die Historienmalerei des . Jahr-
hunderts und andere Formen historischer Spektakel
dies taten, die im späten . und frühen . Jahrhun-
dert, kurz vor der Erfindung der Fotokamera, aufka-
men und die Vergangenheit, vor allem die unmittel-
bare Vergangenheit, auf verblüffende und verstörende
Weise real machten – tableaux vivants, Arrangements
mit Wachsfiguren, Dioramen und Panoramen.
Die Gestalten in Walls visionärer Fotoarbeit sind
»realistisch«, aber das Bild selbst ist dies natürlich
nicht. Tote Soldaten sprechen nicht. Hier tun sie es.
Dreizehn russische Soldaten in dicken Winteruni-
formen und hohen Stiefeln sind hier auf einem zer-
wühlten, mit Blutlachen übersäten Abhang zwischen
Geröll und Kriegsabfall verteilt: Granathülsen, verbo-
genes Blech, ein Stiefel, in dem noch der untere Teil


eines Beins steckt … Die Szene wirkt wie eine Neufas-
sung des Schlußteils von Abel Gance᾽ Film J᾽accuse, als
sich die toten Soldaten des Ersten Weltkriegs aus ihren
Gräbern erheben – aber diese russischen Wehrpflichti-
gen, die in diesem törichten Kolonialkrieg der Sowjet-
union abgeschlachtet wurden, sind nie begraben gewe-
sen. Einige tragen noch ihre Helme. Aus dem Kopf
einer knienden, lebhaft sprechenden Figur schäumt
rote Hirnmasse. Die Atmosphäre des Bildes ist herz-
lich, gesellig, brüderlich. Manche liegen zusammenge-
krümmt am Boden oder hocken, auf einen Ellbogen
gestützt, da und plaudern, wobei ihre offenen Schädel
und die verstümmelten Hände deutlich sichtbar sind.
Einer der Männer beugt sich über einen anderen, der
wie schlafend auf der Seite liegt – vielleicht will er ihn
ermuntern, sich aufrecht hinzusetzen. Drei Männer
vergnügen sich mit Schabernack: einer mit einer klaf-
fenden Bauchwunde sitzt rittlings auf einem anderen,
der auf dem Bauch liegt und einen dritten anlacht, der
vor ihm kniet und einen Fetzen Fleisch vor seiner Nase
baumeln läßt. Ein Soldat – mit Helm, ohne Beine – hat
sich mit aufmerksamem Lächeln nach einem etwas
entfernt hockenden Kameraden umgewandt. Unter-
halb von ihm liegen zwei Männer, die von der Aufer-
stehung anscheinend nichts mitbekommen haben – sie
liegen auf dem Rücken, und die blutverschmierten
Köpfe hängen nach unten.
Wenn man sich in dieses Bild mit seiner massiven
Anklage versenkt, könnte man auf den Gedanken
kommen, daß sich die Soldaten uns zuwenden und zu


uns sprechen könnten. Aber nein, kein einziger blickt
aus dem Bild heraus. Protest droht hier nicht. Sie rufen
uns nicht zu, der Scheußlichkeit, die der Krieg ist, ein
Ende zu machen. Sie sind nicht ins Leben zurückge-
kehrt, um weiterzutaumeln und diejenigen anzupran-
gern, die den Krieg begonnen haben, jene, von denen
sie losgeschickt wurden, um zu töten und sich töten zu
lassen. Und sie wirken, so wie sie dargestellt sind, auch
auf andere nicht erschreckend – bei ihnen (am linken
Bildrand) hockt ein afghanischer Plünderer in weißer
Bluse, der in aller Ruhe eine Soldatentasche durch-
sucht und von dem sie keine Notiz nehmen. Und rechts
oben kommen auf dem Weg, der den Hang hinun-
terführt, zwei Afghanen ins Bild, die vielleicht selbst
Soldaten sind und die, nach den in der Nähe liegen-
den Kalaschnikows zu urteilen, den toten Soldaten ihre
Waffen schon abgenommen haben. Diese Toten in-
teressieren sich nicht im geringsten für die Lebenden:
nicht für diejenigen, die ihnen ihr Leben nahmen;
nicht für Berichterstatter – und nicht für uns. Warum
sollten sie unseren Blick suchen? Was hätten sie uns
zu sagen? »Wir« – zu diesem »Wir« gehört jeder, der
nie etwas von dem erlebt hat, was sie durchgemacht
haben – verstehen sie nicht. Wir begreifen nicht.
Wir können uns einfach nicht vorstellen, wie das war.
Wir können uns nicht vorstellen, wie furchtbar, wie er-
schreckend der Krieg ist; und wie normal er wird. Kön-
nen nicht verstehen und können uns nicht vorstellen.
Jeder Soldat, jeder Journalist, jeder Mitarbeiter einer
Hilfsorganisation, jeder unabhängige Beobachter, der


eine Zeit unter Beschuß verbracht hat und das Glück
hatte, dem Tod zu entkommen, der andere in seiner
Nähe ereilte, denkt so und läßt sich nicht davon ab-
bringen. Und sie haben recht.


Danksagung

Einige Überlegungen
dieses Buches wurden in einer frühen Fassung erstmals
im Februar  als Amnesty Lecture an der Univer-
sität Oxford vorgetragen und nachher in einem Sam-
melband mit Amnesty Lectures unter dem Titel Hu-
man Rights, Human Wrongs (Oxford University Press,
) veröffentlicht; ich danke Nick Owen vom New
College für die Einladung zu diesem Vortrag und für
seine Gastfreundschaft. Ein Auszug aus diesen Überle-
gungen erschien als Vorwort zu einem dem Fotografen
McCullin gewidmeten Bildband mit dem Titel Don
McCullin, der  im Verlag Jonathan Cape erschie-
nen ist. Mein Dank gilt Mark Holborn, der die Foto-
bücher bei Cape in London als Lektor betreut, für seine
Ermutigung; wie immer auch meinem ersten Leser,
Paolo Dilonardo; auch diesmal Robert Walsh für seinen
Scharfblick und Minda Rae Amiran, Peter Perrone, Be
nedict Yeoman und Oliver Schwaner-Albright für den
ihren.


Wertvolle Anstöße gaben mir ein Aufsatz von Corne-
lia Brink, »Secular Icons: Looking at Photographs from
Nazi Concentration Camps«, in History & Memory,
Bd. , Nr.  (Frühling/Sommer ), und Barbie Ze-
lizers ausgezeichnetes Buch Remembering to Forget:
Holocaust Memory Through the Cameras Eye (Uni-
versity of Chicago Press, ), wo ich auch das Zitat
von Walter Lippmann fand. Wertvolle Informationen
über die Bombenangriffe der Royal Air Force auf ira-
kische Dörfer zwischen  und  entnahm ich
einem Aufsatz im Aerospace Power Journal (Winter
), dessen Verfasser, James S. Corum, an der School
of Advanced Airpower Studies auf der Maxwell Air
Force Base, Alabama, unterrichtet. Auskunft über die
Beschränkungen, denen Fotojournalisten während des
Falklandkrieges und während des Golfkriegs von 
unterworfen waren, geben zwei wichtige Bücher: Body
Horrors: Photojournalism, Catastrophe, and War von
John Taylor (Manchester University Press, ) und
War and Photography von Caroline Brothers (Rout-
ledge, ). Brothers faßt auch die Argumente, die ge-
gen die Authentizität von Capas Foto sprechen, auf den
Seiten  bis  ihres Buches zusammen. Eine ent-
gegengesetzte Auffassung vertritt Richard Whelan
in seinem Aufsatz »Robert Capa᾽s Falling Soldier« in
Aperture, Nr.  (Frühjahr ). Er beruft sich dabei
auf verschiedene unklare Verhältnisse und Bedingun-
gen an der Front, in deren Verlauf Capa zufällig foto-
grafiert habe, wie ein republikanischer Soldat getötet
worden sei.


Informationen über Roger Fenton verdanke ich dem
Aufsatz von Natalie M. Houston, »Reading the Victo-
rian Souvenir: Sonnets and Photographs of the Crimean
War«, in The Yale Journal of Criticism, Bd. , Nr. 
(Herbst ). Den Hinweis, daß es zwei Fassungen von
Fentons Bild »Das Tal des Todesschattens« gibt, ver-
danke ich Mark Haworth-Booth vom Victoria and Al-
bert Museum; beide sind abgedruckt in dem Band The
Ultimate Spectacle: A Visual History of the Crimean
War von Ulrich Keller (Routledge, ). Die Darstel-
lung der britischen Reaktion auf das Foto nichtbegra-
bener britischer Gefallener bei der Schlacht bei Spion
Kop stützt sich auf den Band Early War Photographs,
herausgegeben von Pat Hodgson (New York Graphic-
Society, ). William Frassanito hat in seinem Buch
Gettysburg: A Journey in Time (Scribner᾽s, ) nach-
gewiesen, daß Alexander Gardner die Lage eines ge-
fallenen Soldaten der Konföderierten für ein Foto ver-
ändert haben muß. Das Zitat von Gustave Moynier
entnehme ich dem Buch von David Rieff, A Bedfor the
Night: Humanitarianism in Crisis (Simon & Schuster,
).
Nach wie vor lerne ich, wie schon seit vielen Jahren,
aus Gesprächen mit Ivan Nagel.
Susan Sontag beschäftigt sich in ihrem
entsetzlich aktuellen Essay mit der Kriegs-
fotografie, mit dem, was das Abbild eines
leidenden Menschen im Betrachter auslöst,
mit der Chance, daß das Bild zum
Handeln aufrufen kann.

»Auch in dem letzten ihrer vielen auch in


Deutschland einflußreichen Bücher,
Das Leiden anderer betrachten, ist Susan
Sontag dem unverrückbaren Ethos treu
geblieben, als Zeugin einer immer noch von
Kriegen heimgesuchten Epoche mutig und
verantwortungsbewußt auf dem Recht
der Opfer zu beharren.«
Aus der Begründung für die Verleihung des
Friedenspreises des Deutschen Buchhandels

 –  –  – 

Das könnte Ihnen auch gefallen