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DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR PHILOSOPHIE

40. Jahrgang · 1992 · Heft 5 ISSN 0012-1045

Dtsch. Z. Philos., Berlin 40 (1992) 5,461-472

Philosophie ist eine Ausdrucksform der Autonomie

Von CORNELIUS CASTORIADIS (Paris)

Ein Interview mit Fragen von Effi Böhlke (Berlin)

Böhlke: Monsieur Castoriadis, wenn man sich auf Ihr Buch „Gesellschaft als ima-
ginäre Institution" bezieht, haben Sie dort am Anfang geschrieben, daß Sie das Pro-
jekt einer politischen Philosophie verfolgen, und daß Sie theoria, praxis und poesis
miteinander verbinden wollen. Man hat den Eindruck, daß Sie in Ihrem persönli-
chen Leben selbst immer bestrebt waren, all diese Dinge miteinander zu verbinden,
d. h. nicht bloß Philosoph, nicht bloß Intellektueller zu bleiben, sondern citoyen zu
werden, wieder zu werden, indem Sie zugleich Philosoph geblieben sind. Was den-
ken Sie dabei über Ihre persönliche Biographie?
Castoriadis: Es ist immer schwierig, von sich selbst zu sprechen, ebenso schwie-
rig zu versuchen, anderen ein Bild davon zu vermitteln, wie man sein eigenes
Leben sieht. Ich habe mit der Philosophie begonnen als ich sehr jung war, zugleich
hatte ich ein sehr waches Bewußtsein über soziale und politische Probleme in Grie-
chenland. Als ich sehr jung war, herrschte dort die Metaxas-Diktatur. Daher hatte
ich das Bedürfnis, etwas zu tun. Es existierte eine außergewöhnliche Armut. Mit ein
paar Leuten bildete ich später eine Gruppe, die versuchte, die Politik der Kommu-
nistischen Partei in der Art einer inneren Opposition zu kritisieren, eine Politik, die
ich zugleich total bürokratisch und vor allem fürchterlich chauvinistisch fand - die
Politik der KP zur damaligen Zeit war wie die aller KPs. Als ich 1945 nach Frank-
reich ging, kämpfte ich noch in der trotzkistischen Partei, aber als Oppositioneller.
Und 1948, als die Trotzkisten Tito unterstützen wollten, indem sie sagten, dies sei
im Gegensatz zur Sowjetunion ein wahres sozialistisches Land, bin ich aus der Par-
tei ausgetreten und gründete eine Gruppe, die sich „Sozialismus oder Barbarei"
nannte. Ich begann, als Ökonom zu arbeiten, um mein Leben zu verdienen, und ich
sah, daß die ganze Analyse der kapitalistischen Ökonomie durch Marx der Evolu-
tion des Kapitalismus und insbesondere seiner relativen Stabilisierung nicht Rech-
nung tragen konnte. Beispielsweise dachte Marx und ebenso die Trotzkisten, daß
der Kapitalismus von einem bestimmten Punkt an außerstande ist, die Produktiv-
kräfte zu entwickeln. Nach dem Krieg entwickelte der Kapitalismus die Produktiv-
kräfte in einem Maße, von dem Marx nie hätte träumen können. Oder - Marx dach-
te, daß es notwendigerweise eine Verelendung des Proletariats geben würde, es gab
aber keine. Die fundamentalen Probleme sind jedoch nicht die ökonomischen,
obwohl sie die am leichtesten aufzudeckenden sind. Das Problem der modernen
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kapitalistischen Gesellschaft resultiert vielmehr aus der Teilung der ganzen Gesell-
schaft in Führende und Ausführende, und daraus, daß sie so nicht existieren kann,
weswegen die Führenden von Zeit zu Zeit an die Teilnahme, sei es der Arbeiter in
der Produktion, sei es des Volks in der Politik, appellieren. Und sobald das Volk
versucht teilzunehmen, versuchen sie, es wieder zurückzudrängen. Eine dominante
Tendenz in den Gesellschaften des modernen Kapitalismus besteht in der Privatisie-
rung, d. h. im Rückzug eines jeden in seine private Sphäre, im Verlassen des öffent-
lichen Bereichs - eine Art Zerstückelung, Molekularisierung der Gesellschaft. Seit
1960 griff ich Fragen auf, auf die der Marxismus keine Antworten hatte: Probleme
der Geschichtsphilosophie, der Philosophie der Gesellschaft. Ich griff sie auf, weil
die Evolution des modernen Kapitalismus die gesamte Konzeption des histori-
schen Materialismus in Frage stellte, hinter der Marx stand ... Was die Geschichts-
philosophie betrifft, so hat mich das herausgefordert, die Gedanken aufzuschreiben,
die man in „Gesellschaft als imaginäre Institution" findet: Geschichte ist wahrhaft
menschliche Kreation. Aber nicht, weil die Menschen Werkzeuge herstellen. Son-
dern weil die Menschen soziale Institutionen kreieren, und die Werkzeuge sind
soziale Institutionen. Wenn sie das nicht sind, dienen sie zu nichts. Wenn Sie Eski-
mos ein hochentwickeltes Werkzeug geben, so dient das zu nichts, und wenn das
Werkzeug weniger entwickelt ist, werden die Eskimos es kaputtmachen und auf
ihre Weise nutzen, die zu ihrer Institution der Gesellschaft gehört.
B.: Die Betonung der Selbsterzeugung der Gesellschaft und ihrer Selbstinstitu-
tion, ist das immer eine implizite Diskussion des historischen Materialismus und
des historischen Determinismus, die beständig die Rolle von Gesetzen in der
Geschichte unterstreichen, die nicht von der Gesellschaft gemacht werden, sondern
einfach da sind?
C : Von denen man nicht weiß, woher. Im Marxismus, wie in fast jeder Denkweise,
gibt es eine ganz elementare Konfusion, die nicht existieren dürfte, denn es gibt sie
schon bei Piaton, zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingungen. Die not-
wendigen Bedingungen kann man gar nicht aufzählen. Sie sind nie hinreichend.
B.: Man kann nicht sagen, es gibt die und die Bedingungen und daher notwendi-
gerweise diese Ereignisse, diese Sachen etc.?
C.: Natürlich. Es gibt all die Bedingungen, das Gravitationsgesetz ist eine Bedin-
gung ..., das ist nicht hinreichend. Dies gibt nicht Rechenschaft von dem, was pas-
siert. Und dasselbe gilt für eine Gesellschaft, für die Geographie, innerhalb derer sie
sich errichtet, für das Klima, für das Niveau der ererbten Technologie etc. Darauf,
ausgehend von ihnen, kreiert eine Gesellschaft ihre Institution, und sie kreiert Sig-
nifikationen, die grundlegend sind für die Formation der Individuen.
B.: Auf der anderen Seite sind Sie kein Indeterminist. Sie wollen, wie Sie das im
zweiten Band vom „Labyrinth" geschrieben haben, Kreation und Determination
miteinander verbinden.
C.: Es gibt hier zwei Aspekte. Erstens bin ich kein Indeterminist, weil ich denke,
daß es in der Geschichte viele Bereiche gibt, in denen, nicht auf absolute Weise, son-
dern zureichend wichtig, kausale und deterministische Beziehungen existieren. Es
gibt also notwendige Bedingungen. Man kann nicht irgendwas machen. Das ist
sens commun. Sodann gibt es kausale, lokale und partielle Zusammenhänge in
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einer Gesellschaft. Es ist sicher, wenn morgen die Kartoffelernte zu drei Vierteln
kaputt geht und es einen einigermaßen funktionierenden Markt gibt, dann steigt
der Preis. In jedem Fall ist es ausgeschlossen, daß er sinkt. Außerdem ist Geschichte
voll von Kreation. Das soziale Leben selbst etabliert Determinationen. Nehmen wir
die großen Religionen. Sie sind kein notwendiges, deterministisches Resultat vor-
hergehender Faktoren. Wenn die Hebräer ihre Religion kreieren, so nicht, weil die
Wüste die Kreation des Monotheismus bedingt. Das ist eine Invention, das ist eine
Kreation. Von dem Moment an, wo diese Kreation existiert, determiniert sie einiges.
Zunächst, als Kreation, sagen wir ein Bild von Rembrandt, kann sie nur als Form
existieren. Diese Form ist determiniert. Das Gemälde der Bathseba von Rembrandt,
das ist nicht nur ein Bild, sondern dieses Bild, dieses Etwas. Die Institution der
Gesellschaft determiniert von dem Moment an, wo sie gesetzt ist, instituiert ist als
Form, eidos, eine Menge an Sachen, und sie determiniert fast alles, was in der
Gesellschaft passiert. Wenn jemand Hebräer ist, können Sie sicher sein, daß er kein
Schweinefleisch ißt. Ein puritanischer Christ macht am Sonntag nichts, wie die
Hebräer am Schabbath, und er verbringt den Tag zu Haus bei sich mit Zeitungsle-
sen. Max Weber würde sagen, vom soziologischen Standpunkt aus gibt es eine
Chance, daß die Engländer zu 99 % den Sonntag bei sich verbringen und die Sun-
day papers studieren. Aber nicht nur das. Ich kann nicht leben, wenn die Gesell-
schaft, in der ich lebe, nicht eine ausreichende Regularität der öffentlichen und pri-
vaten Netze etabliert hat.
B.: Könnte man vielleicht sagen, daß die schon instituierten Gesellschaften Gren-
zen für Prozesse formieren, die stattfinden können? Aber daß sie nicht die Prozesse
determinieren, die reell stattfinden werden?
C.: Natürlich. Das hängt indes davon ab, von welcher Gesellschaft man spricht.
Nehmen wir eine wilde Gesellschaft, oder eine traditionelle. Man hat den Eindruck,
daß sich alles unendlich wiederholt. Von einem bestimmten Moment an gibt es
Brüche. Das heißt, daß diese kreative Fähigkeit der Gesellschaft, dieses instituieren-
de Imaginäre, in den wilden wie in den traditionellen Gesellschaften eine soziale
Form etabliert hat, die sich reproduziert und wiederholt. Natürlich verändert sie
sich unmerklich, innerhalb von zwei Jahrtausenden ein bißchen, innerhalb von vier
Jahrtausenden ein bißchen. Sie brauchen nur die Landwirtschaft in Europa zu neh-
men. Seit der Zeit des Neolithikums bis vor drei Jahrhunderten hat sie sich in ihren
groben Zügen kaum verändert. Wenn es eine Evolution gab, so war sie extrem lang-
sam, sie wurde hervorgerufen durch äußere Veränderungen (in den Städten, der
Religion). Das ging so vielleicht 6000 Jahre. Von einem bestimmten Punkt an passiert
etwas, und ich verbinde das mit der Entstehung des Projekts der Autonomie, erst im
antiken Griechenland mit der demokratischen Polis und später im modernen Euro-
pa, wo die erste Bourgeoisie entsteht und es Gemeinschaften gibt, die sich selbst
regieren wollen. Der Rhythmus der Gesellschaft verändert sich, und die Kreativität
der Gesellschaft kann häufiger, grundlegender, expliziter in Erscheinung treten.
B.: Nehmen wir den Term „Politische Philosophie" wieder auf. Was das Projekt
der Autonomie betrifft - gerade beim Begriff „Autonomie", so wie er auch von
Ihnen gefaßt wird, hat man den Eindruck, daß Sie eine enge Verbindung herstellen
zwischen Philosophie und Politik. Denn bei Ihnen ist Autonomie zum einen das
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politische Projekt, sich die Gesetze selbst zu geben, sich den selbst gesetzten Geset-
zen zu unterwerfen, auf der anderen Seite ist da die Diskussion des radikalen
Determinismus, d. h. es scheint eine zugleich philosophische wie politische Diskus-
sion zu sein.
C.: Das Problem ist etwas delikat. Es gibt eine gemeinsame Wurzel. Was heißt,
daß ich wirklich Philosophie mache, und nicht ζ. B. einen sehr subtilen Kommentar
des Alten Testaments, wie es die Talmudisten tun? Das will sagen, ich fange an zu
reflektieren: Ist das wahr, ist das nicht wahr? Und daß ich für diese Diskussion
keine Grenzen anerkenne. Und auch nicht für die Diskussion der Fragen, was ich
unter „wahr" verstehe, wie ich dazu gelangen kann, das Wahre zu erkennen. Es
gibt ein sehr schönes Beispiel. Das ist Augustinus, in den „Bekenntnissen". In einer
Passage diskutiert er mit den Christen seiner Zeit, die er als Häretiker ansieht. Und
er sagt: Mit unseren christlichen Brüdern sind alle Diskussionen erlaubt. Wenn sie
im Irrtum sind, muß man sie berichtigen. Aber mit dem, der nicht die Autorität von
Gesetz und Schrift anerkennt, ist jede Diskussion unmöglich. Und der Talmudist
sagt Ihnen das gleiche zum Alten Testament, und ein moslemischer Theologe das-
selbe zum Koran und ein Marxist sagt Ihnen dasselbe zum „Kapital". Es gibt eine
Grenze. Es gibt keinen unendlichen Horizont. Es gibt einen Rahmen, Postulate,
Axiome, die man nicht in Frage stellen kann. Aber - die wahre Philosophie beginnt
in dem Moment, wo nichts existiert, das nicht in Frage gestellt werden kann.
B.: Und das ist auch die Verbindung zwischen Philosophie und Demokratie.
C.: Exakt. Eine demokratische Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die sich selbst insti-
tuiert, aber explizit! Alle Gesellschaften instituieren sich selbst! Die Hebräer sagen, es
war Gott, der sie geschaffen hat. Wir wissen, daß das nicht wahr ist. Sie haben Gott
instituiert, und sie haben eine ganze Gesellschaft instituiert, die mit dieser ima-
ginären Signifikation einhergeht - dem Gott des Alten Testaments. Oder für die Chri-
sten das Neue Testament. Eine demokratische Gesellschaft instituiert sich nicht blind-
lings, sie instituiert sich explizit. Sie weiß, daß wir es sind, die die Gesetze machen,
und wir versuchen, dies auf so bewußte und öffentliche Weise wie nur möglich zu
machen. Und wir können sie immer in Frage stellen, d. h. wir können schreiben oder
auf die Straße gehen und die Leute überzeugen, daß dieses Gesetz ungerecht ist,
schlecht. Anders gesagt: Eine autonome Gesellschaft ist eine solche, wo die Frage der
Gerechtigkeit der Gesetze immer offen ist. Sie wird nie gelöst sein, und damit bricht
man radikal mit der marxistischen Utopie, es würde einmal eine Gesellschaft kom-
men, in der es keine Gesetze gibt, und die eine mehr oder weniger perfekte wäre.
Eine solche Gesellschaft wird nie existieren.
B.: Könnte man sagen, daß bei Ihnen Demokratie und Philosophie ungefähr die-
selbe Aufgabe haben, insofern diese darin besteht, alle möglichen Prozesse im Den-
ken und in der Gesellschaft offen zu halten?
C.: Von dieser Seite her ja. Aber es gibt einen radikalen Unterschied. Die Aufgabe
der Demokratie und der wahren Politik ist es, Institutionen zu kreieren, effektive
Institutionen, die die tatsächliche Autonomie der Individuen und Gemeinschaften
erlauben und fördern. Die Aufgabe der Philosophie ist eine andere Sache. Sie
besteht darin, Ideen zu kreieren und Signifikationen, die die Welt und unser Leben
erleuchten.
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Β.: Das ist nur vergleichbar auf der Ebene des Kampfes gegen Geschlossenheit
und Schließungen.
C.: Von diesem Standpunkt aus ist es die gleiche Aufgabe. Aber es ist nicht unmit-
telbar das Gleiche. Die Illusion der traditionellen Philosophie, Piatons ζ. B., besteht
darin zu denken, daß aus ihr unmittelbar die gute Gesellschaft ausfließt. Aber ich
denke als Philosoph, daß das Sein bedeutungslos ist, und daß alle Bedeutungen von
uns kreiert werden. Man kann nicht aus der Theorie des Seins die gute Gesellschaft
hervorzaubern. Sie kann nur sagen, daß eine autonome Gesellschaft nötig ist, weil
eine Philosophie nur in einer demokratischen Gesellschaft möglich ist.
B.: Es ist Mode geworden, vom Ende der Philosophie zu sprechen. Was denken
Sie darüber? Ende der Geschichte, Ende von allem?
C.: Laut dieses Diskurses kann man nur das Ende dieses Diskurses abwarten. Es
ist eine Mode, die vorübergeht. Etwas ernster: Ich glaube, hier sind zwei Aspekte
zu unterscheiden. Zunächst gibt es die bottom line, das Minimum. All das ist
absurd. Es gibt kein Ende der Geschichte, kein Ende der Philosophie. Die Frage ist:
Warum ist der Diskurs über das Ende der Philosophie, das Ende der Geschichte in
einem bestimmten Moment aufgetreten? Wer hat das Ende der Philosophie
lanciert? Schon Hegel, Heidegger für die Modernen. Hegel, das hat niemand ernst
genommen, Heidegger, das war schon schwerer. Was ist wichtig beim „Ende der
Philosophie"? Es gibt das Vermischen von zwei Dingen, eine illegitime Melange. Es
ist wahr, es muß eine Kritik des ererbten Denkens stattfinden. Dieses ererbte Den-
ken war, zumindest in seiner Hauptströmung, rationalistisch, d. h. ein Denken, das
ausgeht von der Mengenidentitätslogik, und das davon ausgehend versucht, eine
Metaphysik, eine Ethik zu konstruieren, selbst eine Politik. Heidegger und die
anderen, die ihm folgten, sagen, daß das falsch ist. Bei den großen Philosophen,
Aristoteles, Piaton, Kant, Hegel haben Sie immer noch etwas Weiteres, etwas Ande-
res, das in Frage stellt. Aber der Rationalismus war dominant, und dieser Rationa-
lismus ist auch im Marxismus vorhanden. Weil - die Geschichte ist rationell, von
vielen Aspekten her, sie ist determiniert, es gibt Fortschritt ... Also, von diesem
Standpunkt her muß man eine radikale Kritik des ganzen ererbten Denkens versu-
chen und feststellen, daß dieses ererbte Wissen diese Möglichkeit verschenkt hat.
Man muß zu neuen Ufern aufbrechen. Und dies ist das, was ich versuche mit den
Ideen des Imaginären, der Kreation-Destruktion, des Seins als Chaos und Kosmos
etc. Aber all das kommt auch zu einer Zeit, in der eine Krise der Autonomie statt-
findet. Und in dieser Epoche der Autonomiekrise gibt es auch eine Krise der Philo-
sophie, weil die Philosophie eine der Ausdrucksformen der Autonomie ist. Also
nicht bloß Heidegger und all die Anderen, d. h. zum Beispiel die Franzosen, für die
es eine Spezialität geworden ist, ein Exportschlager wie die Parfüms von Paris. Man
exportiert aus Frankreich das Ende der Philosophie, die Dekonstruktion, den Post-
modernismus, das Ende der großen Erzählungen etc. Das verkauft sich sehr gut im
Ausland. Und das bringt Devisen. Materielle Devisen und kulturelle. Das bringt die
Epochenkrise zum Ausdruck. Indes, der Diskurs vom Ende der Philosophie ist in
sich absurd, weil er zum einen die Proklamation des Endes der Autonomie des
Denkens darstellt, und weil er die enormen Aufgaben ignoriert, die heute vor der
Philosophie stehen.
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B.: Sie würden eher von einer notwendigen Erneuerung der Philosophie
sprechen?
C.: Absolut. Es muß eine radikale Erneuerung gemacht werden, an der ich auch
arbeite. Man muß die phantastischen Umwälzungen in den exakten Wissenschaften
berücksichtigen. Heidegger fährt fort, von der Sache zu sprechen auf dieselbe
Weise, wie Aristoteles hätte sprechen können. Aristoteles beschäftigte sich mit der
Sache in der Lebenswelt, im Husserlschen Sinne. Aber es gibt nicht nur die Lebens-
welt. Es gibt andere Schichten. In den anderen Schichten gibt es keine kausale
Determination, keine Identität, keine Separation. Also, was soll man denken? Oder
nehmen wir einen anderen Bereich, der mich interessiert, das Sozialhistorische. Was
ist, ontologisch, das Sozialhistorische? Was ist das für ein Seinstyp, der selbst seine
Existenzgesetze kreiert? Und der sie selbst bewußt in Frage stellen kann? Das ist
kein Phantom. Die Philosophen, selbst die am meisten idealistischen, haben immer
diskutiert, als wäre das einzig wahre Sein das der Steine und der Tische. Ein Philo-
soph beginnt zu philosophieren - er sagt: Ja, also, was ist die wirkliche Welt? Ich
sitze an einem Tisch und schreibe. So, der Tisch ist das Paradigma des Seins. Das ist
absurd. Sein eigener Gedankenstrom ist ein Teil des Seins. Also, was ist die Seinsart
des Gedankenstroms? Er ist individuell und zugleich nicht individuell. Und er ist
kein Gedankenstrom, wenn er nicht an der Sprache teilnimmt. Und die Sprache hat
nicht der Philosoph erfunden. Sie wurde durch eine Gemeinschaft kreiert. Welches
ist der ontologische Status der Sprache? Oder des Gesetzes? Oder ζ. B. das Freud-
sche Unbewußte. Was ist das? Es stehen enorme Aufgaben vor der Philosophie
heute, und es ist ein Zeichen der Dekadenz, des Verfalls des Westens, daß die Leute
Geld damit verdienen, daß sie das Ende der Philosophie proklamieren. Es gibt eine
Krise der traditionellen Philosophie.
B.: Könnten Sie sagen, daß Sie sich in einer kritischen Tradition der Philosophie
sehen, in einer Tradition der kritischen Theorie, indem Sie vorhergehende Philoso-
phien kritisieren, aber dabei Neues produzieren?
C.: Ich denke, daß alle Philosophie kritisch ist.
B.: Nicht erst seit Kant, sondern seit Griechenland?
C.: Piaton kritisiert die Sophisten. Aristoteles - die Hälfte von dem, was er
schreibt, ist eine Kritik an Piaton. Alle Philosophie ist auch Kritik. Nun ist es wahr,
daß in der modernert Zeit das Wort Kritik in der Philosophie einen besonderen Stel-
lenwert besitzt. Da ist zum einen die Kritik im Sinne Kants und zum anderen die
Kritik der Frankfurter Schule. Obwohl es eine Beziehung zwischen ihnen gibt. Kant,
für mich ist er einer der vier Großen, auf die ich mich immer beziehe - neben
Aristoteles, Piaton und Hegel. Seine Kritik hat zwei Aspekte. Der eine ist, einfach
gesprochen, der kritische Aspekt, der fundamental und wichtig ist und den man
bewahren muß. Wenngleich in einer anderen Form. Aber es gibt noch eine andere
Seite. Das ist das Verlassen der Ontologie. Wir können nur unser Wissen kritisieren;
wir befinden uns in einer geschlossenen subjektiven Welt, und es gibt keine Onto-
logie. Das ist unhaltbar. Ich will nicht in die Diskussion darüber eintreten, aber
schon in der „Kritik der reinen Vernunft" findet sich eine implizite Ontologie des
Subjekts, und eine implizite Ontologie dessen, was den Phänomenen Platz gibt,
und Kant glaubt, daß er um diese Ontologie herumkommt, indem er sagt, das Ding
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an sich = X. Das geht nicht. Und in der Frankfurter Schule, glaube ich, ist das ähn-
lich geblieben. Das heißt, man muß immer kritisieren, man kann keine positive
Konzeption vorantreiben, sei es philosophisch, sei es in anderen Bereichen. Und ich
glaube, daß das vollkommen unzureichend ist. Da sind noch andere Dinge. Da ist
die ohrenbetäubende Stille über den ganzen realen Sozialismus. Das ist so seit
Beginn. Sie schreiben über den Faschismus, sie schreiben nichts über den Stalinis-
mus, Habermas eingeschlossen.
B.: Und da sehen Sie Ihre Differenzen mit dieser Tradition der Kritik?
C.: Ja, eine sehr große. Aber die Hauptdifferenz ist eine andere Sache. Ich habe ein
Projekt für eine autonome Gesellschaft. In der Konzeption von Frankfurt gibt es so
etwas nicht. Hier handelt es sich stets darum zu kritisieren, die kapitalistische
Gesellschaft oder selbst die Dialektik der Aufklärung etc. Für mich reicht das nicht.
Es gibt eine politische Konzeption, ein Projekt, das Projekt der Autonomie.
B.: Was dieses Projekt betrifft: Sie haben immer unterstrichen, daß das ein Projekt
ist, weil die Gesellschaften bis heute dominant heteronom sind. Also ist das immer
noch etwas zu Machendes?
C.: Ja. Mit einer Differenz. Weil es Kämpfe gab für Autonomie, ist diese Ge-
sellschaft nicht einfach heteronom. Sie ist nicht mit einer asiatischen Monarchie
vergleichbar. Man darf das nicht vergessen. Also bleiben Residuen, Keime von
Kämpfen, die aufgehen können. Aber man muß weitergehen.
B.: Beim Term „Projekt", steckt da etwas Sartre drin?
C.: Nein. Das, was Sartre Projekt nennt, nimmt er von Heidegger, vom Entwurf.
Und wenn ich von Projekt spreche, spreche ich von einer ganz anderen Sache. Nicht
auf individueller Ebene, das ist weniger interessant. Für mich ist ein Projekt ein
historisches Phänomen, ein sozialhistorisches, es ist eine sozialhistorische Be-
wegung, die in eine bestimmte Richtung geht, die aber nicht im voraus exakt die
Modalitäten ihrs Weges definieren kann, auch nicht die Details des Ziels, die sie
sich stellt. Und in diesem Sinne spreche ich vom Projekt der Autonomie.
B.: Jetzt möchte ich in paar Fragen zu Ihrem Artikel „Power, Politics, Autonomy"
im Band „Zwischenbetrachtungen" stellen. Dort machen Sie einen Unterschied
zwischen unterschiedlichen Machtformen. Sie sprechen von expliziter Macht, und
Sie haben den Term der „instituierenden Inframacht" eingeführt. Was hat es mit
dieser Machtart auf sich?
C.: Es gibt eine explizite Macht in allen Gesellschaften, d. h. es muß eine Instanz
geben, die entscheidet, was zu machen ist und was nicht. Und es muß eine Instanz
geben, die die Streitfälle schlichtet, die die Übertretungen der Menschen sanktio-
niert. Das wird immer existieren. Jede Gesellschaft, so autonom auch immer, und
dafür votiere ich, muß den Mord verbieten. Wenn der Mord verboten wird, bedeu-
tet das, daß die Mörder sanktioniert werden. Welches nun diese Sanktion ist, ist
eine andere Geschichte. Früher gab es die Todesstrafe, dann gibt es die Gefängnisse
- vielleicht sollte es sie nicht geben - , aber man kann nicht sagen: Ah, gut, Sie haben
jemanden getötet. Es gibt also eine Sanktion. Der Inhalt der Sanktion ist eine andere
Geschichte. Es wird also immer eine Macht geben. Es wird nicht immer einen
Staat geben, denn der Staat ist ein von der Gesellschaft separierter, die Gesell-
schaft beherrschender bürokratischer Apparat. Für mich ist die Macht die Macht
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der Gemeinschaft. Die explizite Macht ist auch verbunden mit der explizit insti-
tuierenden Aktivität der Gesellschaft. Nehmen wir ein Bild: Die Leute versam-
meln sich in Athen, auf einem Hügel. Sie sagen: Man wird über die Gesetze
abstimmen. Wer ist dafür, wer ist dagegen? Man diskutiert. Es gibt Zuhörer.
Dann wird abgestimmt. Das ist explizit. Aber diese Leute, die sich versammeln,
das sind schon sozialisierte Individuen. Und sie sind sozialisiert durch eine ganze
Reihe von Institutionen, die da sind, und von denen viele keiner legislativen und
expliziten Aktion unterworfen sind. Die auf eine Weise sozialisiert sind, wo es
absurd wäre zu fragen: Wollten sie so sozialisiert werden oder hätten sie es
anders bevorzugt? Sie sind in Deutschland geboren, ich in Griechenland. Sie hat-
ten nie die Wahl. Und Sie könnten nie für die Individuen eine absolute Autonomie
einfordern für die Weise, in der sie sozialisiert werden. Welche Gesellschaft auch
immer, es wird stets ein Ensemble an Institutionen geben, die bereits da sind, die
in einer Richtung das Sediment, das Resultat der gesamten vorhergehenden
Geschichte sind, und mit denen man nicht reinen Tisch machen kann, weil ζ. B.
selbst in der radikalsten Revolution die Menschen eine schon gegebene Sprache
sprechen werden. Und diese Sprache ist nicht einfach ein kleines technisches
Instrument der Kommunikation, wie die Amerikaner sagen. In einer Sprache
haben Sie die ganze Tiefe der Signifikationen, die von der Gesellschaft kreiert
wurden und in denen die Gesellschaft lebt. Die können Sie nicht von einem Tag
auf den anderen ändern. Lenin dachte, er hätte was geändert, indem er die Mini-
ster als „Volkskommissare" bezeichnete. Er hat überhaupt nichts verändert. Die
Volkskommissare waren immer noch die Minister. Etc. etc. Es gibt also diese
Institution, die immer schon da ist, die aus uns menschliche Wesen gemacht hat,
in einer bestimmten Form ... Diese Form können wir verändern. Aber wir können
nie so tun, als würde sie nicht existieren. Eines der Probleme der autonomen Gesell-
schaft ist gerade, daß man diese instituierende Grundmacht nie eliminieren kann.
Man kann nur so weit wie möglich das Feld der individuellen und kollektiven
Autonomie ausdehnen. Aber man wird sich nie in einer radikalen Freiheit wie der
von Descartes befinden, oder, in einer lächerlicheren Form, in der von Sartre. Ein
freier Akt wäre ein Akt, der überhaupt keine Motivation hätte. Ein freier Akt hat
eine Motivation, und das ist meine Motivation, aber meine Motivation ist nie ein-
fach, nur individuell. Mein Vater hat mir dies gesagt, meine Mutter das, ich habe
diese Freundin, ich spreche diese Sprache, ich bin in dem und dem Jahr geboren
und in dem und dem Land, nicht bei den Babyloniern vor 2000 Jahren etc. All das
konditioniert mich. Auf der Ebene der Gesellschaft konditioniert das auch die
ganze Gesellschaft. Und noch einmal: das sind keine hinreichenden Bedingungen.
Das konditioniert, und zwar anders als der Fakt, daß es das Gravitationsgesetz gibt.
Das konditioniert auf sozial-historische Weise, nicht physikalisch und nicht bio-
logisch.
B.: In Ihrem Artikel haben Sie geschrieben, daß der Herr der Signifikationen über
dem Herrn der Gewalt thront.
C : Das haben Sie in Deutschland im Herbst 89 gesehen.
B.: Ist das auch implizit gegen Weber gerichtet?
C.: Ja, denn bei Weber hat der Staat das Monopol auf legitime Gewalt, und er
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sieht nicht, daß für die Herrschaft dieses Monopol zu nichts dient, wenn er nicht
das Monopol über die Signifikation besitzt. Das ist das, was der kommunistische
Totalitarismus versuchte. Genau solange, wie er Herr der Signifikation war, war er
erfolgreich. Das versucht auch ein theokratisches Regime. Denn in einem theokrati-
schen Regime haben Sie nicht bloß Gewalt, und Sie brauchen auch eigentlich keine
Gewalt. Sie sind Herr der Signifikation. Zum Beispiel die Geschichte mit der
Beschallung der Grenzen der Sowjetunion durch westliche Radiostationen. Man
erklärt das immer damit, der sowjetische Staat war dagegen, daß die Leute Neuig-
keiten erfahren. Aber das sind nicht nur die Neuigkeiten. Das ist die ganze Welt der
Signifikationen, die dadurch vermittelt wird, die vollkommen anders ist, und ich
glaube, das war der große Irrtum der kommunistischen Regimes. Von einem
bestimmten Moment haben sie dies etwas aufgelockert. Um weiter zu herrschen,
hätte man den Eisernen Vorhang wirklich beibehalten müssen, vielmehr bezüglich
der Ideen, der Signifikationen als bezüglich der Personen.
B.: Was den Term „instituierende Inframacht" betrifft - es gibt diese ganze franzö-
sische Diskussion über unterschiedliche Formen von Macht und Gewalt. Es gibt die
Ordnung des Diskurses, es gibt den Begriff der symbolischen Macht bei Bourdieu.
Wie würden Sie den Topos des Terms „radikale Inframacht" in jenem Diskussions-
feld bestimmen?
C.: Also ich denke, das, was ich mit dem Begriff „radikale Inframacht" anvisiere,
geht viel weiter als die Ordnung des Diskurses. Was Foucault mit Ordnung des Dis-
kurses bezeichnet, das ist eine der Manifestationen davon, und auch das, was Bour-
dieu symbolische Macht nennt. Zudem - das, was Bourdieu symbolische Macht
nennt, würde ich eher mit imaginäre Macht, in einem strengen Sinne, bezeichnen.
Wenn Bourdieu vom symbolischen Kapital spricht, dann versteht er darunter ein
imaginäres Kapital, in dem Sinne, den ich diesem Term gebe, das einen sozialen
Wert besitzt, das austauschbar ist. Das ist ein Aspekt des Imaginären.
B.: Sehen Sie dabei Verbindungen?
C.: Ich sehe Verbindungen. Ich könnte davon sprechen, daß dies eine der Mani-
festationen des Imaginären ist. Bourdieu spricht von symbolischem Kapital. Es gibt
eine ganze Reihe von Phänomenen im sozialhistorischen Leben, die vollkommen
analog sind, z. B. was man Prestige und Autorität nennt. Das ist das gleiche wie
symbolisches Kapital. Wenn die Franzosen nach Agadir mit dem Kaiser Wilhelm II.
disputieren - die Franzosen haben 1911 die Marokkaner getötet, die Deutschen
Andere. Und sie sind in Marokko bis 1955 geblieben. Der erste französische Gene-
ral, der die Armee in Marokko befehligte, Lyautey, hatte einen berühmten Slogan,
eine Maxime: Die eigene Kraft zeigen, um sie nicht anwenden zu müssen. Die
Marokkaner hatten immer Guerilla betrieben, und Lyautey versuchte stets, bewaff-
neten Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen; er veranstaltete Vorbeimär-
sche und ähnliches. Oder nehmen wir etwas anderes. Man ist in einem Stück. Die
Leute langweilen sich. Da ist ein reiches und adliges französisches Paar, in sexueller
Hinsicht ziemlich ausschweifend. Die Frau hat ihre Geschichten, der Mann die
seinen; der Haushalt funktioniert recht gut - sie haben beide eine mondäne Position.
B.: Wie der Adel früher ...
C.: ... bloß das spielt jetzt in einer modernen Epoche. Zu einem bestimmten Zeit-
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punkt, - man befindet sich im Schloß auf dem Land - entdeckt der Comte, daß die
Tochter des Verwalters - 19 Jahre alt, fast noch ein Kind - , ein liebenswertes
Mädchen ist, wie eine zarte Rose, und er verliebt sich in sie. Er begehrt sie. Und,
wie in allen Theaterstücken ist da sein Vertrauter, ein Freund, der derselben Schicht
angehört. Zu einem bestimmten Zeitpunkt sagt der Comte zu ihm: Ich bin absolut
hoffnungslos; ich bin in dieses Mädchen so verliebt, und ich weiß nicht, was ich
machen soll - irgendwie bleibt sie vollkommen gleichgültig. Sein Freund sagt:
„Aber hör mal, das ist nicht möglich! Ganz Paris weiß, daß Du unwiderstehlich
bist!" Ganz Paris, wissen Sie, das bedeutet etwas im Französischen - alle Leute, die
zählen. Und hier sind das all die Damen der Gesellschaft. Also: „Ganz Paris weiß,
daß Du unwiderstehlich bist!" Und der Comte gibt zur Antwort: „Liebenswürdig!
Aber - dieses Mädchen gehört nicht zu Ganz Paris ..." Ja, also - das ist das symboli-
sche Kapital - d. i. das imaginäre Prestige.
B.: In der Diskussion gibt es auch die Frage: Zentralismus oder nicht? Sie sagen,
die instituierende Inframacht sei nicht lokalisierbar. Auf der andern Seite existiert
die Diskussion um das Subjekt der Macht, und Sie sagen, das ist die Macht des
sozialhistorischen Feldes selbst, die Macht von Niemand.
C.: In einer Gesellschaft gibt es immer die Evolution der Sitten, der Formen des
familiären Lebens, der Sprache, ... All das ist das sozialhistorische Feld. Man kann
es nicht beherrschen. Man kann eine explizite Macht haben, an der alle Bürger
teilhaben, all das, worüber man explizit Gesetze erlassen kann. Aber man kann
nicht überall Gesetze erlassen. Also wird es immer diese Arbeit des sozialhisto-
rischen Feldes geben, das die explizite Macht in einer Gesellschaft konditioniert.
B.: In Osteuropa finden eine Menge Transformationen statt. Sie haben sich seit
langem mit der Sowjetunion beschäftigt. Angesichts dieser Ereignisse - sehen Sie
sich in bezug auf Ihre früheren Anschauungen herausgefordert, oder vielmehr
bestärkt, bestätigt?
C.: Ich sehe mich sehr stark bestätigt in all dem, was die Analyse der Realität
betrifft. Diese Regimes waren immer Systeme hemmungsloser Ausbeutung der
Bevölkerung, der Unterdrückung, und zugleich eines grundlegenden Irrationalis-
mus, selbst vom instrumentellen und funktionellen Standpunkt her. Darin fühle ich
mich bestärkt, ebenso wie in der Analyse, die ich über die strikt militärische Macht
Rußlands gemacht habe. Ich hatte gesagt, daß die SU 15 % ihres Nationaleinkom-
mens in die Militärausgaben steckt. Die russischen Militärs sagen jetzt, daß das
30 % sind. Wenn Sie davon ausgehen, daß die Bürokratie weitere 15 % unproduktiv
konsumiert hat, dann ist die Ausbeutungsrate der arbeitenden Bevölkerung in Ruß-
land viel höher gewesen als in den gewöhnlichen kapitalistischen Ländern. Von
einem andern Gesichtspunkt aus fühle ich mich überhaupt nicht bestätigt. Weil ich
gehofft hatte, daß die Krise dieser Regimes zu Volksbewegungen führen würde, die
versuchen würden, sich der Bürokratie zu entledigen und eine demokratische
sozialistische, autonome Gesellschaft zu etablieren, wofür ich eine gewisse Antizi-
pation in der ungarischen Revolution 1956 gesehen hatte. Aber das ist überhaupt
nicht abgelaufen. Was passiert ist, war zum einen zweifellos, in Polen zuerst, dann
in Ungarn, später in Deutschland, eine heldenhafte und phantastische Aktivität der
Bevölkerung, die Tyrannei zu stürzen. Aber als dieser Sturz vollbracht war, ist man
Dtsch. Ζ. Philos. 40 (1992) 5 471

nach Hause gegangen. Und es gab den antizipierten Einfluß der westlichen Kon-
sumtion, ohne daß es diese Konsumtion wirklich schon gegeben hätte. Zugleich all
die bekannten Phänomene der politischen Apathie, der Privatisierung etc. Bei den
Wahlen in Polen haben 40 % der Leute gewählt, in Deutschland haben die Leute
wesentlich für Kohl gestimmt, nicht für die, die während des Umsturzes eine große
Rolle spielten. Nun, das ostdeutsche Gebiet ist in einer privilegierten Position. In
Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei ist das furchtbar kompliziert, aber viel-
leicht gelangen sie zu etwas. Die Balkanländer sind noch eine andere Geschichte,
und schließlich Rußland, wo das totale Chaos herrscht u n d man überhaupt keine
Perspektive sieht.
B.: Meines Erachtens kann man nicht einfach vom Zusammenbruch der Staaten
des Ostens sprechen, sondern m u ß die einzelnen Fälle genau unterscheiden.
C.: Der Hauptpunkt ist, daß alle versuchen, so weit wie möglich einen Kapitalis-
mus im Elend zu errichten. Das ist kein Kapitalismus im relativen Uberfluß wie im
Westen. Das ist ein Kapitalismus im Elend, mit einem liberalen Regime auf politi-
scher Ebene, das aber sehr schnell zu einem oligarchischen Regime wird, wie es der
Fall ist in den westlichen Ländern.
B.: Also - keine Alternative mehr?
C.: Doch. Es gibt immer eine Alternative. Im Westen sind die Leute zur Zeit apa-
thisch, privatisiert, ja selbst zynisch im Verhältnis zur Politik, zu den Politikern.
Aber niemand kann sagen, wie lange diese Situation dauern wird. Es stimmt: Wenn
man die Dinge betrachtet, wie sie jetzt sind, gibt das einen sehr schwarzen Blick.
Aber dieser jetzige Augenblick ist nicht das Ende der Geschichte. Es gibt immer ein
Morgen. Ich habe in meinem Leben gelernt, geduldig zu sein.
B.: Worin sehen Sie die schwersten Probleme für Europa?
C.: Da muß man unterscheiden. Für Osteuropa besteht das Hauptproblem darin,
daß es eine sehr lange Periode geben wird, in der die Leute ganz einfach versuchen
werden zu überleben und das Leben zu verdienen. Und da zugleich die große Lei-
stung des realen Sozialismus darin bestand, für eine lange Periode jede Idee des
Sozialismüs, der kollektiven Aktion in Verruf zu bringen, werden die Leute sich mit
dem Kampf ums Uberleben beschäftigen, u n d das ist alles. In Westeuropa besteht
das große Problem darin, daß die Apathie der Bevölkerung dazu führt, daß es keine
effektive Kontrolle der maßlosen Expansion des Kapitalismus, der Technowissen-
schaften, der Zerstörung der Umwelt mehr gibt. Im gleichen Augenblick, wo es
keine Antwort auf die Probleme der übrigen 85 % der Weltbevölkerung gibt, über
die wir überhaupt noch nicht gesprochen haben. Und der Westen ist absolut
unfähig, die Frage zu behandeln.
B.: Man sah das während des Golf-Kriegs, wo es nur eine militärische „Lösung"
gab.
C.: Das war natürlich keine Lösung. Aber man kann das auch an Lateinamerika
sehen, ...
B.: Jetzt bleibt eigentlich nur noch eine Frage: Worüber arbeiten Sie zur Zeit, wel-
ches sind Ihre theoretischen Projekte?
C.: Gegenwärtig arbeite ich an einem umfangreichen Buch, das mehrere Bände
umfassen wird, u n d das heißt „Die menschliche Schöpfung". Es wird zugleich rein
472 Cornelius Castoriadis, Philosophie ist Ausdrucksform der Autonomie

philosophisch sein, w i e a u c h voll v o n F r a g e n der Gesellschaftsphilosophie, w i e der


Politik.
B.: Vielen Dank, Monsieur Castoriadis.

Das Interview mit Cornelius Castoriadis wurde am 8. November 1991 in Berlin geführt.

Prof. Dr. Cornelius Castoriadis, 1, Rue de l'Alboni, 75016 Paris

Dr. phil. Effi Böhlke, Humboldt-Universität zu Berlin, Fachbereich Sozialwissenschaften,


Unter den Linden 6, O -1080 Berlin

Literatur

Castoriadis, C.: Sozialismus oder Barbarei, Berlin 1980


Castoriadis, C.: Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft, Frankfurt/M. 1983
Castoriadis, C.: Die Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philoso-
phie, Frankfurt/M. 1984,1987,1990
Castoriadis, C.: Power, Politics, Autonomie, in: ders.: Zwischenbetrachtungen, Frankfurt/M.
1989
Rödel, U.: Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Texte von C. Castoriadis, M. Gau-
chet, C. Lefort, Frankfurt/M. 1990
BERLINER J O U R N A L F Ü R ERSCHEINT4MAL*HRLICH
mit insges. 480 Seiten

SOZIOLOGIE
ISSN 0863-1808
Bezugspreis
jährlich 1 2 0 - DM
Einzelheft 33,- DM
Die neue sozialwissenschaftliche Zeitschrift aus Berlin (incl. Versandkosten)

wendet sich als erste soziolo- Aus dem Inhalt


gische Fachzeitschrift im Osten Heft 2/1992
Deutschlands an alle Sozial-
wissenschaftler in der sich Claus Offe:
herausbildenden gemeinsamen Vergeltung - Wiedergutmachung
deutschen Wissenschafts-
landschaft; Friedhelm Wolski-Prenger:
versteht sich als Fachorgan, Arbeitslosenorganisationen in
das für die dringend erforder- Deutschland. Entstehung,
liche theoretische Diskussion Vernetzung, Perspektiven
ebenso offen ist wie für die
Präsentation fundierter Sibylle Hübner-Funk:
empirischer Ergebnisse;
Visionen einer »europäischen
stellt sich die Aufgabe, den
Identität« von Jugendlichen.
Transformationsprozeß der
Alte und neue Loyalitäten im
ehemals realsozialistischen
Konflikt
Gesellschaften Mittel- und
Osteuropas zu dokumentieren;
versteht sich als ein Forum für Manfred Gehrmann:
die sozialwissenschaftliche »Jeder lebt hier mehr für sich .. .<·
Diskussion des neu dimensio- Zur sozialen Integration von
nierten europäischen Ver- DDR-Zuwanderern in der alten
einigungsprozesses; Bundesrepublik Deutschland
ist in besonderem Maße ein Ort und West-Berlin
der wissenschaftlichen Diskus-
sion der sozialen und ökono- Jacob Juchler:
mischen Probleme des Zu- Zur Entwicklungsdynamik
sammenwachsens der beiden sozialistischer bzw. »post-
deutschen Gesellschaften. sozialistischer« Gesellschaften

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