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Max Bense Die Realität der Literatur

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Max Bense geht in seinem Buch »Die Realität der Literatur«, das
er als Gegenstück zu dem ebenfalls in der Reihe »pocket« erschiene-

nen Buch »Artistik und Engagement« verstanden wissen will, von


der Überlegung aus, daß der Begriff »Wirklichkeit« kein im eigent-
lichen Sinne wissenschaftlicher Begriff ist. »Wirklichkeit« könne nur
interpretiert, nicht festgestellt werden. Sie erscheint im Akt der
Reflexion, aber nicht im Akt der Beobachtung. Daher ist nicht von
literarischer Realität, sondern von literarischen Realitäten die Re-
de. Sie werden durch Autoren und ihre Werke in eine bestimmte
Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit eingeführt und sind stär-
ker am materiellen Sprachkörper, an seinen linguistischen und
ästhetischen Bestimmungsstücken als an psychologischen und ge-
sellschaftlichen Bezügen orientiert. Mehr Zeichenwelt als Objekt-
welten.

Daraus wird verständlich, daß das Buch mit einem Essay über
d'Alemberts Sprachphilosophie beginnt, die von den heutigen
Linguisten gern übergangen wird. Auch versteht aus diesem Grund
der Leser die Vorliebe des Autors für die abstrakte, theoretische
Seite der von ihm behandelten Schriftsteller, die zumeist Zeitge-
nossen sind oder als solche bewertet werden: Gertrude Stein, Francis
Ponge, Henri Michaux, Helmut Heissenbüttel, Alfred Andersen,
Ferdinand Lion, Ludwig Harig, Ernst Jandl u. a.. Es sind immer
Autoren, denen die artistischen, experimentellen, ästhetischen Mo-
tivationen ihrer Schriftstellerei wesentlich sind. Mit dieser Intention
hängt natürlich auch die starke Einbeziehung der Konkreten und
maschinellen Poesie zusammen: desgleichen die Transgression der
sprachlichen Mittel in die visuellen Wahrnehmungsbereiche. Doch
wird keineswegs immer nur der theoretische Hintergrund der
Sprachkunstwerke anvisiert, die Essays berücksichtigen auch per-
sönliche Erfahrungen, die der Autor als analytischer Kritiker im
Umgang mit seinen schriftstellerischen Freunden gewann.
Max Bense
Die Realität der Literatur

Autoren und ihre Texte

Kiepenheuer & Witsch


podbcf 26
© & Witsch Köln
1971 by Verlag Kiepenheuer
Umschlag Hannes Jahn Köln
Gesamtherstellung Butzon & Bercker Kevelaer
Germany
Printed in 1971
ISBN 346200835 8

1
Es gab nie zuvor eine solche Bescheidenheit der Wollust.
F. NIETZSCHE

Es war ihm unmöglich, die Wörter nicht in dem Besitz


ihrer Bedeutung zu stören.
G. CH. LICHTENBERG
Digitized by the Internet Archive
in 2012

http://www.archive.org/details/dierealittderliOOObens
Über die Realität der Literatur

Vorwort

Der Begriff des Wirklichen gehöre nicht in die Wissenschaft, be-

merkt Paul Bernays, der Mathematiker, in seinem Aufsatz »Von


der Syntax der Sprache«; daß »die Natur im Ganzen« wirklich
ist, sei keine wissenschaftliche »Feststellung« fügt er hinzu. Tat-
sächlich handelt es sich bei dem Ausdruck >Wirklichkeit< nicht um
einen objektbezogenen Begriff, der »Feststellbares« bezeichnet, son-
dern um einen bewußtseinsbezogenen Begriff, der »Bedeutungen«
interpretiert. Wirklichkeit, das wollen wir sagen, ist also nicht

feststellbar, sondern nur interpretierbar; sie fixiert keine Einzel-


heit, sondern einen Zusammenhang, einen Nexus, keine Singulari-
tät, einen Kontext, kein Fakt. Wenn es aber so ist, dann ist es in

gleicher Weise sinnvoll, von sprachlicher Wirklichkeit, konstituiert


in einem Kontext, wie von physikalischer Wirklichkeit, konstitu-
iert in einem Naturgesetz, zu sprechen, und die platonische Wirk-
lichkeit der Ideen kann nur durch einen Interpretanten und seine
Interpretation von der materialen Wirklichkeit der Atome separiert

werden. Die physikalische Wirklichkeit des Naturgesetzes ist dabei


mathematisch, aber die sprachliche Wirklichkeit des Kontextes
grammatisch legitimiert.

Diese Voraussetzungen sollten, so meine ich, berücksichtigt werden,

wenn von der Realität des Literarischen die Rede ist.

Daß die Sprache eine kontexterzeugende, interpretierte Realität

ist, die als Konfinium zwischen >Sein< und >Bewußtem< besteht, ist

eine Tatsache, die erst unsere Epoche kreativ ernst nimmt und
ausnützt. Als kreierte Realität hat sie ihren informativen, kommu-
nikativen und konstruktiven Aspekt, und indem wir den letzteren

weniger grammatisch als vielmehr ästhetisch verstehen, gestehen


wir in der literarischen Produktion dem Wort eine seinssetzende

Kraft zu wie in der mathematischen Rechnung der Zahl. Nur in

dieser seinssetzenden Kraft des Worts im Rahmen der sprachlichen


Wirklichkeit der Literatur sind artistische Freiheit und engagierte
Bescheidenheit möglich und effektiv.

Texte so nennen wir die beobachtbaren Objekte einer Wirklichkeit,


die als solche nicht beobachtbar, sondern, wie gesagt, nur inter-
pretierbar ist. Die Realität der Literatur ist eine Realität der
materialiter gegebenen Texte. Sie bilden das Konfinium, das sich
real zwischen Welt und Ich, zwischen Seiendem und Bewußtem,
zwischen Objekten und Zeichen ausbreitet. Jedes intellektuelle We-
sen bewohnt dieses Konfinium in dem Maße, als sein Bewußtsein
Teil hat an der Welt und Welt in sein Bewußtsein eindringt. Der
effektive Zusammenhang alles Seienden, aus dem das denkende
Ich nicht ausgeklammert werden kann, ist in jedem Falle ein

Zusammenhang der Wörter. Insofern geht selbst der physikali-


schen Realität die sprachliche voran. Die Veränderung der Welt
ist eine Veränderung durch Wörter, die in ein Bewußtsein ein-
dringen, das an der Welt Teil hat. Genau in diesem Sinne ist

Sprache auch intersubjektiv und intersensual möglich wie jedes


System von Zeichen, dessen materiale Gegebenheit im Prinzip
jeder Ebene der Sinnesempfindung angehören kann.
Auch diese erweiterten Voraussetzungen müssen heute berücksich-
tigt werden, wenn der kreative Aspekt der literarischen Produk-
tion, übrigens in der ganzen Welt, unter der verdoppelten Pro-
gressivst des Artistischen einerseits und des Engagements anderer-
seits, beobachtet und interpretiert wird.
Denn ich habe immer die Auffassung vertreten, daß Literatur
heute und im Sinne einer sprachlichen Realität stärker auf einem
theoretischen, als auf einem emotionalen Hintergrund verständlich
und wirksam wird. Auch betonte ich stets, daß die sprachliche

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Eigenwelt, nicht aber die phänomenale Außenwelt der Texte das
Prinzip ihrer kreativen und somit ästhetischen Motivation aus-

mache. Es handelt sich um das Medium einer zweiten, eben der

kommunikativen, nicht energetischen Physis, die zur Diskussion


steht; um kommunikative Materialität mit den spirituellen und
ästhetischen Möglichkeiten der Poesie und Prosa, die als komple-
mentäre Intentionen das identisch-eine »universe of discourse«
der literarischen Realität bilden.
Dabei wäre von Hegel aus die Poesie von einem individuellen und
die Prosa mehr von einem gesellschaftlichen Wesen her zu charak-
terisieren oder für die Poesie das Prinzip der Partikularität und
der Status der Privilegien und für die Prosa das Prinzip der Gene-
rellität und der Status der Unterdrückung in Anspruch zu nehmen,
wenn man den Ursprung ihrer sprachlichen Realität kennzeichnen
möchte. Nietzsche, dem eine solche Möglichkeit der AusdifTerenzie-
rung bekannt war, fügt fast wie zur Ergänzung Hegels hinzu,
daß man »nur im Angesicht der Poesie gute Prosa« schreibe und
daß der »Krieg« auch »der Vater der guten Prosa« sei, wie es in der
»Fröhlichen Wissenschaft« heißt. Der sklavensprachliche Ursprung
der Prosa, den Hegel vermerkt, schloß immer die Möglichkeit

ein, die kommunikative Physis der Ausdrucksmittel mit den Ener-


gien eines Engagements aufzuladen, ebenso wie die epikureischen
Aspekte des Rhetorischen, von denen Nietzsche, so gerne spricht,

den Sinn für Artistik schärften, in der die Figur der Rede dem
Experiment ausgesetzt werden konnte. Zum Verständnis dieser
Zusammenhänge ist es wichtig, sie auf rationalem Grund zu sehen:
die engagierte Prosa kann nicht mehr bloß, wie Sartre meinte,
Reich der Bedeutungen sein, sie muß als Medium der Urteile, der
Sätze, die wahr oder falsch sind, die ja oder nein sagen, entwickelt

werden, also den digitalen Ausdrucksmöglichkeiten des denkenden


Wesens anvertraut bleiben, und der artistisch erprobte Text ope-
riert keineswegs bloß im Medium reduzierter Vokabulare und
zerstörter Grammatik, sondern hat gerade die konventionelle
Grammatik durch ein reicheres System syntaktischer Regeln er-

setzt, die ihre überverbale und intersensuale Funktion hervortreten


läßt und das Reich der Sprache zu einem System methodischer
Konstruktion macht.
Die literarische Realität, die Welt der Texte, ist heute nur noch
komplex und global zu beschreiben und zu verstehen. Die literari-

schen Gründe sind endgültig verweltlicht und generalisiert. Sie

haben den Charakter echter Umwelten angenommen, sie sind Um-


welten des intimen, des individuellen und des gesellschaftlichen
Wesens geworden. Und alle Umwelten sind Räume der Freiheit,
der Freiheit des Selbstgenusses und des Weltgenusses, der Freiheit
des Engagements und des Experiments. Überall und immer.

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Die »Melanges« d'Alemberts

Daß d'Alembert eine bedeutende Rolle in der Geschichte neu-


zeitlicher Physik spielt, kann heute natürlich nicht mehr bezwei-
felt werden. Mit dem »Traite de Dynamique«, der 1743 erschien,
begann in gewisser Hinsicht tatsächlich eine zweite Phase nach-
galileischer Mechanik, wenn die erste mit Galileis »Discorsi« an-
hub und in Newtons »Principia« ihren Höhepunkt erreichte. Es
handelte sich um jene Periode analytischer Dynamik, die d'Alem-
bert durch sein berühmtes Prinzip, das mit Hilfe der Vorstellung
virtueller Verrückungen dynamische auf statische Probleme zu-
rückführte, einleitete.
Aber der Franzose hat seine schöpferische Rolle in der Physik
ergänzt durch eine enzyklopädische in der Philosophie. Der »Dis-
cours preliminaire de l'Encyclopedie«, die »Explication detaillee du
Systeme des conoissances humaines« und der »Essais sur les Ele-
mens de Philosophie« (sowie die schönen »Eclaircissements« dazu)

sind Meisterstücke eines enzyklopädischen Denkens, Muster relati-

ver, nicht absoluter Philosophie, relativ zu Physik, Astronomie,


Mathematik, aber auch zu Logik, Grammatik, Rhetorik, Musik,
Literatur und Kunst, also Grundlagenforschung, nicht Systemkon-
zeption, typisch für das Zeitalter: universal in der Absicht, präzis
in der Begründung und mit jener Vorliebe für Empirie, die den
Mathematiker, wenn er Physik treibt, nicht verlassen darf.

Aber neben dem »Traiti« und neben den Artikeln für die »Enzy-
klopädie« gibt es die »Melanges«, erschienen 1767, 5 Bände,
»Melanges de Litterature, d'Histoire et de Philosophie«, haupt-
sächlich verfaßt nach der Publikation der großen Himmelsmechanik
(1754), als die Vorliebe für mathematische und physikalische Fra-
gen erloschen war. Kaum bemerkt, hat nun d'Alembert in diesen

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Elogen und Essays die schöpferische und enzyklopädische Funktion
seines Geistes durch eine andere, durch die antizipierende abge-

schlossen. Seltsame Mischung eines Intellekts aus mathematischen


und literarischen Interessen, darin einzigartig und aktuell, daß er

den Beweis so gut beherrscht wie die Totenrede, die Prosa so gut
wie den Kalkül und ein für allemal dokumentierend, daß natur-
wissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Ambitionen nicht in

jedem Falle einander ausschließende Züge moderner Intelligenz


bleiben müssen. Doch nicht nur in seiner Person hat d'Alembert
jene verhängnisvolle Spaltung unserer Zivilisation, den echten
Feind unserer Humanität, reduziert, er hat in den »Melanges«
Bereiche, Möglichkeiten einer zukünftigen, heutigen Forschung an-

visiert, von denen nicht mehr eindeutig genug gesagt werden kann,
ob sie zur Naturwissenschaft oder zur Geisteswissenschaft gehören,
die aber begonnen haben, selbständige, wenn auch verzweigte
Disziplinen zu werden. Ich spreche von der Vorgeschichte der
modernen Informations- und Kommunikationstheorien, von der
Allgemeinen Informations- und Kommunikationstheorie, die der
speziellen der Nachrichtentechnik und der Kybernetik zugrunde
liegt. D'Alemberts »Melanges de Litterature, d'Histoire et de
Philosophie« gehören dieser Vorgeschichte an. Man sieht eine exakte

Sprache die gewohnten Bereiche transzendieren und aus physika-


lischen und kosmologischen Gebieten in linguistische und ästhetische

eindringen. Mathematische Termini und Vorstellungen erweitern


ihre Bedeutung, und gesellschaftliche und moralische Überlegun-
gen stellen sich unbemerkt und bedenkenlos ihren Begrenzungen.
Durch die Ausdrücke »Information« und »Kommunikation« wer-
den ja heute nicht nur Nachrichtenprozesse in die Theorie ein-
geführt - ihre mathematischen Maße und ihre soziologischen Sche-

mata -, sondern zugleich auch neue seinsthematische Kategorien,


statistische an Stelle der alten substantiellen, eingesetzt. Gerade der

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seinsthematische Charakter wahrscheinlichkeitstheoretischer und
statistischer Begriffe bringt es mit sich, daß sie über die Mathematik
und Naturwissenschaften hinaus anwendbar sind und die Grenzen
zwischen diesen und den geisteswissenschaftlichen und soziologischen
Disziplinen verwischen. Die Tatsache, daß jeder Text eine »geglie-
derte Elementenmenge« ist und daß innerhalb einer Sprache, etwa
der Umgangssprache, auf gewisse bereits gewählte und benutzte
Wörter (und Wendungen) mit hoher Wahrscheinlichkeit immer
gewisse andere folgen oder nicht folgen, hat die Statistik in der
Linguistik verwendbar gemacht und dem Begriff Information eine

Bedeutung für die exakte Sprachtheorie gegeben. Und die Tatsache,

daß eine ästhetische Realisation, ein Kunstwerk etwa, stets aus


einer »ästhetischen Selektion« hervorgeht, wie ein Ausdruck Ferdi-
nand Lions aus seiner Ästhetik (»Geburt der Aphrodite«, 1955)
lautet, und das Moment der Überraschung, der Unvorhersehbar-
keit, der Unwahrscheinlichkeit und Unbestimmtheit enthält, macht
wiederum den Begriff der Information der Allgemeinen und Theo-
retischen Nachrichtentechnik im Gebiet der Ästhetik anwendbar,
denn, wie es D. W. Hershberger in seinen »Principles of Commu-
nication Systems« (1957) formulierte, »the essence of information
is unpredictability.«
D'Alembert hat mindestens die Möglichkeit solcher Überlegungen
gesehen und gewisse grundsätzliche Vorstellungen und Verfahren
einer statistischen Auffassung gewisser Gegebenheiten, und zwar
sprachlicher und ästhetischer Realisationen, durchaus in Betracht

gezogen. Auch wenn ihn Laplace in der kleinen Geschichte der


Wahrscheinlichkeitsrechnung, die er seinem berühmten und popu-
lären »Essai philosophique sur les probabilites« von 18 12, die mit

Pascal anhebt, nicht erwähnt, so gehört er doch in die Geschichte


dieser neuen Denkweise und Seinsthematik, weniger in einem schöp-
ferischen als kritischen Sinne. D'Alembert hatte in den »Opuscules

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math^matiques« die damaligen Grundlagen der Wahrscheinlich-
keitsrechnung so heftig bezweifelt, daß sich sogar Euler dagegen
wandte. In den »Melanges« (V) findet sich eine erneute Behandlung
der Frage. Es wird den Gegnern in einem schönen Traktat »Doutes
et Questions sur le Calcul des Probabilites« geantwortet, zugleich
werden aber die alten Bedenken wiederholt, ja sogar verschärft.

Dennoch, fast ein wenig wider Willen, tritt die universale und
kategoriale Bedeutung des Begriffs Wahrscheinlichkeit, trotz nega-
tiver Einschätzung der Grundlagen, aus denen er entwickelt wird,
noch stärker hervor als bei Euler. Es liegt der Fall vor, daß gerade
die Kritik einer Methode ihre Kühnheit und ihre Reichweite plau-
sibel macht.
Jener Traktat enthält nun auch Ansätze zu Überlegungen, die man
heute in der Statistischen Sprachtheorie und in der Linguistischen

Informationstheorie (im Sinne B. Mandelbrots, W. Meyer-Epplers,


G. A. Millers, W. Fucks, C. E. Shannons u. a.), aus denen die
Statistische Ästhetik entwickelt werden kann, antrifft. D'Alembert
betrachtet etwa drei Folgen von Buchstaben des Alphabets, die bei

jeweils verschiedener Anordnung immer aus den gleichen Zeichen

bestehen.
Die erste Anordnung bildet ein Wort. Die zweite Anordnung bildet
kein Wort, aber die Buchstaben folgen im Sinne des Alphabets
aufeinander. In der dritten Anordnung sind die Buchstaben will-
kürlich angeordnet, »pele-mele, sans ordre, et au hazard« wie
d'Alembert sich ausdrückt. Jemand, der diese drei Anordnungen
betrachtet, so fügt er hinzu, würde bereits auf den ersten Blick
hin erklären, daß die erste Anordnung kein Werk des Zufalls sei,

in Bezug auf die zweite Anordnung würde er auch keine Wette


dagegen eingehen, nur der dritten Anordnung würde er wohl den
Zufall konzedieren. Man könne also zwar mathematisch von einer

Gleichwahrscheinlichkeit der Anordnungen sprechen, keineswegs

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aber physikalisch (also im Sinne der Apperzeption). D'Alembert
gedachte, mit diesem Beispiel seinen kritischen Hinweis zu bekräf-
tigen, daß man in der Begründung der Wahrscheinlichkeitsrechnung
nicht ohne weiteres von der Gleichwahrscheinlichkeit der Fälle
ausgehen dürfe. Nun, heute sind die Verhältnisse geklärt und
d'Alemberts Zweifel bereiten uns keine Schwierigkeiten mehr. Aber
sein Beispiel bleibt uns interessant.

Es steckt nämlich ein Problem darin, das in der heutigen Statisti-

schen Informationstheorie und Linguistik aktuell ist. Deshalb tau-


chen hier ähnliche Beispiele auf. Im Zusammenhang mit seiner
»Mathematical Theory of Communication« (1948) hat C. E. Shan-
non die These entwickelt, daß Buchstaben oder Wörter, die man
ausschließlich aufGrund von Wahrscheinlichkeitsüberlegungen in
bestimmter Anordnung aufschreibt, ganz von selbst die Tendenz
haben, sinnvolle Wörter oder Sätze zu bilden. Nach Shannon hat
G. A. Miller in »Language and Communication« (195 1) diese

sukzessiven, statistischen und strukturellen Annäherungen der


Kombinationen unseres Alphabets an einen sinnvollen Text (der
englischen Sprache) in größerem Zusammenhang begründet. Vom
Standpunkt der Statistischen Ästhetik wäre hinzuzufügen, daß der
Ausdruck »sinnvoll« natürlich relativ ist. Er kann eine dokumen-
tarische, aber auch eine ästhetische Information bedeuten, je nach-
dem, ob man die statistische Verteilung (der Buchstaben oder der
Worte) auf das hin ansieht, was sie mitteilt oder auf das hin, wie
sie mitteilt (also als Bericht oder als Gestaltung betrachtet, um es

einfacher zu sagen). Die Unterscheidung zwischen dokumentarischer


und ästhetischer Information ist nicht immer leicht, sie ist statisti-

scher und dadurch konventioneller Natur, abhängig von Wahl-


akten. Aber diese informative und kommunikative Realivität einer
Anordnung von Zeichen-Einheiten ist natürlich ein Grund dafür,
daß in der modernen Kunst sogenannte »gegenstandslose«, »sinn-

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freie«, »bedeutungsfreie« Darstellungen als durchaus echte ästhe-
tische Realisationen möglich geworden sind. So hat in einem ge-
wissen Umfange die moderne Kunst einen statistischen Ursprung
und Kontext.
D'Alembert scheint übrigens in seinem Traktat, in dem er von
mathematischer und physikalischer Wahrscheinlichkeit spricht, zwi-
schen Wahrscheinlichkeit im Sinne der Formulierung und zwischen
Wahrscheinlichkeit im Sinne der Apperzeption unterschieden zu
haben. Ähnlich wie man in der heutigen Informationstheorie (etwa

bei A. Moles »Informationstheorie der Musik«, N. T. F. 3, 1956)


zwischen Maximalinformation (Höchstwert der Unvorhersehbar-
keit der Elementgruppen, die berechnet, aber nicht apperzipiert
werden kann) und tatsächlicher Information (die auch apperzipiert

werden kann) differenziert. Bekanntlich stößt diese Differenzie-

rung auf den Begriff der Redundanz. Redundanz ermöglicht die


Apperzeption von Information. Wiederholung ist z. B. ein Redun-
danzphänomen. In der ästhetischen Realisation gehören »Formge-
setze«, »Proportionen«, »Perspektiven«, »Metriken«, aber auch
»Gegenständlichkeit« und »Bedeutung« dazu. D'Alembert hat in
seinem Traktat bemerkt, daß Apperzeption des Sinnes einer An-
ordnung, eines Arrangements, wie er sagt, mit gewissen Regularitä-
ten zusammenhängt, die wir heute in der Rolle der Redundanz
sehen.
Auch andere Essays der »Melanges«, offensichtlich durch eine

stochastische Thematik inspiriert, bezeugen diese Zusammenhänge.


Vor allem pflegt d'Alembert eine ästhetische Realisation stets in

Verbindung mit einem »Organe« zu sehen. Kennzeichnend in dieser

Hinsicht ist eine Notiz aus »Reflexions sur le Goüt« (Mel. IV).
»Dans un ouvrage de poesie, par exemple, on doit parier tantot a
l'imagination, tantot au sentiment, tantot a la raison, mais toujours

a l'organe . . .« Anzuführen wären noch der Essay »Sur Pharmonie

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des Langues« (Mel. V.), die »Eloge de M. du Marsais« (Mel. II)
und die »Reflexions sur PElocution oratoire et sur le Style en

general« (Mel. II).

In diesen Texten steht der Ausdruck »arrangement des mots«


sozusagen im Zentrum der Betrachtung. »L'harmonie des langues«
ist eine Folge des »arrangement des mots«. Es fällt auch der Aus-
druck »disposition mechanique des mots«. Gelegentlich wird zwi-
schen »Parrangement harmonique« und »Parrangement logique«
unterschieden. Es ist eine Unterscheidung, die der entspricht, die

d'Alembert gern zwischen Poesie und Prosa, etwa in den »Reflexi-


ons sur PElocution oratoire«, vornimmt.
Besonders interessant ist die »Eloge de M. du Marsais«. Gerade
in ihr bemerkt man den Übergang aus Vorstellungen, die der alten
Philosophischen Grammatik noch entsprechen zu Vorstellungen,
die ins 17. und ins 18. Jahrhundert gehören und aus der Vorliebe
für mathematische Formulierungen zu heute wieder aktuellen Über-
legungen gelangen. »Car c'est aux Philosophes ä regier les Langues,
comme c'est aux bons Ecrivains ä les fixer . . .«

Mit M. du Marsais ist d'Alembert übrigens darin einig, daß zur


Erlernung einer Sprache »Gebrauch« und »Vernunft« notwendig
sind. Im Zusammenhang damit spielt dann der Begriff »Imitation«
eine Rolle, der auch der leitende Begriff in dem wohl schönsten
Essay, was die Prosa anbetrifft, der gesamten »Melanges«, in
»Observations sur PArt de Traduire en general« (Mel. III) ist. Dem
Essay folgen Übertragungen d'Alemberts aus Tacitus, an denen der
Autor die Prinzipien seiner »ouvrages d'imitation«, die er den
»ouvrages originaux« gegenüberstellt, verifiziert.

Wir wissen heute, daß der Begriff »Imitation« eine tiefliegende


sprachentheoretische Bedeutung hat. Automatic Studies, Kybernetik
und Informationstheorie haben uns darüber belehrt. Es handelt
sich um eine Funktion, deren Schema in der Analogmaschine aus-

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genützt wird. Man weiß, daß Eigen-Spiel und Störung Arbeit und
Sinn dieser Maschine begrenzen. Nun, beim Lesen d'Alemberts
Artikel gewinnt man durchaus den Eindruck, daß er sich im klaren
darüber ist, wie sehr jedes »ouvrage d'imitation«, wie sehr jede
Übersetzung durch eine »liberte dangereuse« bedroht ist. Im Prin-
zip ist die Wahlmöglichkeit, also der Freiheitsgrad, die Innovation

und die Information im Übersetzen natürlich immer geringer als


im Original. Benoit Mandelbrot hat in seiner »Informational Theo-
ry of the Statistical Structure of Language« (1953) zwischen
imitativer und digitaler Sprache unterschieden. Er betont, daß »a
purely imitative language could not serve as a civilized language«.
Tatsächlich funktioniert unsere Sprache im Rahmen der Zivilisation

nicht imitierend, sondern schöpferisch, wählend, kombinierend. »To


express ideas by combinations of Standard words is a typical digital
method of coding«, heißt es in Mandelbrots Aufsatz. D'Alembert
hat diese Auffassung in den »Observations . . .« antizipiert, in dem
er notiert: »Or qu'est-ce qu'une expression de genie? - Ce n'est pas

un mot nouveau dicte par la singularite ou par la paresse; c'est la

reunion necessaire et adroite de quelques termes connus pour rendre


avec energie une idee nouvelle. C'est presque la seule maniere d'in-
nover qui soit permise en ecrivant.« Kurz zuvor heißt es: »Cette
richesse (der Sprachen) ne consiste pas a pouvoir exprimer une meme
idee par une abondance sterile de synonimes, mais chaque nuance

d'idee par des termes differens.«


Ich möchte abschließend noch auf das »Systeme figure des Con-
noissances humaines« d'Alemberts aufmerksam machen, das ge-
wissermaßen seinem Enzyklopädismus eine Struktur gibt. Es rindet
sich in Melanges I. In den »Explications Detailles« hat d'Alembert
anschließend sein System erläutert. Das System zerfällt in drei

Stämme: Memoire (Historie), Raison (Philosophie) und Imagina-


tion (Poesie, als Oberbegriff aller Künste, der Literatur und der

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Musik). Diese Zuordnung von Bewußtseinsfunktionen und be-
stimmten intellektuellen Fähigkeiten und Tätigkeiten ist durch
die modernen Automatic Studies wieder aktuell geworden. In-

dessen ist für uns der mittlere Stamm, Raison, besonders interes-

sant. Hier gibt es den Unterabschnitt Science de l'homme, der in


die beiden Zweige Logique und Moral zerfällt. Der Begriff Logi-

que wird nun sehr weit gefaßt; seine drei Verzweigungen sind:
Art de penser (die eigentliche Logik und Wissenschaftstheorie),
Art de retenir (die ein Supplement zum Hauptstamm »Memoire«
darstellt und die zwischen natürlichem und künstlichem Gedächtnis
sowie zwischen Schreiben und Drucken unterscheidet), Art de Com-
muniquer (in der einerseits die Science de Plnstrument du Discours,
also die Lehre von den »Zeichen«, von der »Konstruktion«, Philo-
logie, Kritik usw. und andererseits die Science des Qualites du
Discours, Rhetorique und unter dem Titel Mechanique de la Poesie

die Lehre vom Versbau, die Versification zusammengefaßt wird).


Mir scheint, daß gerade dieser Zweig Logique mit seinen drei Ver-

zweigungen das wesentliche und zugleich aktuelle des d'Alembert-


schen Systems darstellt, und die Verzweigung »Art de Communi-
quer« scheint mir in dieser Hinsicht charakteristisch zu sein. Wo
d'Alembert »Art« sagt, würden wir heute von »Theorie« sprechen.
Daß die d'Alembertsche Kommunikationstheorie, in der, wie ge-

sagt, Allgemeine-Zeichentheorie, Gestaltungslehre, Syntax, aber


auch Rhetorik und Versifikation vorkommen, einen Teil der Logik
darstellt, zu der nicht nur Schlußtechnik und Wissenschaftstheorie,
sondern auch Orthographie und Philologie gerechnet werden, gibt
diesem Begriff von Logik das pragmatistische Gepräge dessen, was
man heute gelegentlich auch General Semantics nennt. Jedenfalls
schon, wenn man sich auf den hier betrachteten Stamm Raison
beschränkt, hat man den Eindruck eines Systems, das einer Welt
angehört, deren Zivilisation weniger durch den Horizont des Ge-

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gebenen als durch den Horizont des Machens bestimmt wird.
Gerade in dieser Hinsicht ist das Verwenden des Begriffs »Com-
muniquer« in der »Logique« ebenso kennzeichnend wie z. B. der
Gebrauch, den d'Alembert von dem Ausdruck »Fiction« macht, um
die »Poesie« durch eine zentrale Eigenschaft .zu bestimmen. Seit

Bergson (»Le rire«) und Percy Lubbock (»The Craft of Fiction«)


ist dieser Ausdruck auch in der spezielleren Literaturtheorie der

modernen Geisteswissenschaften, wenn auch ein wenig zaghaft


und philosophisch unpräzis, wieder geläufig.

Vielleicht gelingt es der statistischen Seinsthematik, die gleicher-

maßen in der Naturwissenschaft wie in der Geisteswissenschaft


eine Chance hat, die unvorteilhafte Kluft zwischen den beiden
Zweigen intellektueller Tätigkeit abzuschwächen und aufzuheben,
nachdem sich die existentiale Seinsthematik erst neuerdings wieder
verschärfte und ein wenig subtiles Verfahren ästhetischer Unter-
suchung hervorgerufen hat. Die Tendenz zur Verwirklichung dieser
Möglichkeit zeichnet sich ab. Die Epoche, die gegenwärtige Zivili-
sation haben eine innere Anlage zu einer enzyklopädischen Ge-
sinnung und Weltauffassung. Nicht nur in der Vorliebe für den
Ausgleich zwischen Natur und Technik, Bewußtsein und Maschine,
Philosophie und Mathematik ähnelt unsere Zeit dem 18. Jahrhun-
dert, seiner zweiten Hälfte, zu deren Köpfen ersten Ranges d'Alem-
bert zählte.

20
Ponge und die literarische Praxis

Die französische Literatur ist im Augenblick eher als reaktionär


denn als progressiv zu bezeichnen. Sieht man von Pierre Garnier

in Amiens und seinen Freunden in Paris ab, so gibt es in Frankreich

gegenwärtig keine echte Avantgarde. Man bevorzugt durchaus die


traditionellen Schemata stärker als die experimentellen, und der
sogenannte neue Roman, Nathalie Sarraute ausgenommen, hat
sich längst als altes Klischee erwiesen, das nicht die Idee des
Sprachkunstwerks erweitert, sondern die Unterhaltungsindustrie.
Auch die jungen Autoren um die Zeitschrift »Tel quel«, die zunächst

sehr fortschrittlich auftraten, fühlen sich eher einem neuen Emo-


tionalismus und Nietzsche verpflichtet als der Entwicklung des
poetischen Bewußtseins aus dem Geiste sichtbar gewordener lingui-
stischer Möglichkeiten. Es ist bezeichnend, daß Gertrude Stein, die
doch in Frankreich, vor allem in Paris, lebte und starb, heute dort
fast eine Unbekannte ist.

Was Francis Ponge nun anbetrifft, so gehört er zwar zu den


Vätern, Förderern und Mitarbeitern der »Tel quel «-Leute, aber
man bemerkt kaum einen Einfluß auf die jüngeren Autoren, der
von einerNachahmung verschieden wäre. So besitzt Francis Ponge,
der nach dem letzten Kriege vor allem durch die schönen und
kurzen Prosastücke »Le Parti Pris des Choses« in Frankreich,
später auch in Deutschland und in Italien berühmt wurde, heute
zwar eine Kennerschaft, aber im Grunde kein Publikum.
Das ist zu bedauern, denn Francis Ponge gehört neben Henri
Michaux und Jean Genet tatsächlich auf die progressive Seite der

neueren französischen Literatur, und zwar was seine Produktion,


wie auch seine theoretische Konzeption der Poesie angeht.
Das beweist »Le Grand Recueil«, das dreibändige Gesamtwerk,

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das Gallimard kürzlich herausbrachte und das, signifikant, in
»Dichtungen«, »Methoden« und »Stücke« gegliedert wurde.
Es ist ein großes Verdienst der Walter-Drucke, nunmehr wenigstens
einen Teil aus den »Methoden« dem deutschen Sprachraum zu-
gänglich gemacht zu haben. Teile aus den »Dichtungen« hat Eli-
sabeth Walther bereits vor ein paar Jahren übersetzt und heraus-
gegeben.
Unter dem Titel »Die literarische Praxis« hat der Verlag - als

Nummer 4 der Walter-Drucke - sechs vorwiegend theoretisch orien-


tierte Texte von Francis Ponge zusammengefaßt. »Proklamation
und Petit Four«, »Antwort auf eine Rundfunkumfrage über die

poetische Diktion«, »Mündlicher Versuch«, »Die literarische Praxis«


und schließlich ein »Gespräch mit Breton und Reverdy«. Der Titel
der Ausgabe wird durch den Vortrag »Die literarische Praxis«
bestimmt, den Francis Ponge 1956 in der Technischen Hochschule
in Stuttgart gehalten hat und der damals auf Band aufgenommen
wurde. Tatsächlich bildet dieser Vortrag nicht nur das Kernstück
des Buches. Er enthält auch die Grundvorstellungen, die der Autor
zur Frage der poetischen Schreibweise entwickelt hat; Grundvor-
stellungen, die ihn eindeutig auf die Seite der literarischen Moderne
stellen und seine progressive Literaturkonzeption offenbar werden
lassen.

Den zentralen Gedanken kann man etwa in folgenden Überlegun-


gen sehen: »Also, es gibt diese Sensibilität für die äußere Welt.
Und dann gibt es eine andere Sensibilität für eine andere Welt,

die ebenfalls ganz und gar konkret ist, auf eine seltsame Weise
konkret, und das ist die Sprache, das sind die Wörter. Ich glaube,

man braucht diese beiden Sensibilitäten, um ein Künstler zu


sein . . .«

Ein wenig später verschärft Ponge diese Erfahrung:


»Die Wörter sind eine konkrete Welt, ebenso dicht, ebenso existent

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wie die äußere Welt. Sie ist da . . . diese Wörter, jedes Wort ist

eine Spalte im Diktionär, das ist ein Ding, das eine Ausdehnung
hat, selbst im Raum, im Wörterbuch, aber das ist auch ein Ding
mit einer Geschichte, die seinen Sinn verändert hat, mit zwei, drei,

vier, fünf, sechs Bedeutungen . . .«

Es gibt also nicht nur die Außenwelt der Texte, das, worüber sie

sprechen, sondern auch die Eigenwelt der Texte, also das, was sie

von sich selbst her sind, ihre selbständige sprachliche Wirklichkeit.


Dichtung wird demnach verstanden als die Erzeugung sprachlicher
Dinge, als die Demonstration einer für sich seienden linguistischen
Realität.

Francis Ponge meint das durchaus wörtlich. Er spricht nicht um-


sonst, seinen Gedanken illustrierend, von der Ausdehnung, der
Extensionalität der Wörter: »Die Wörter, das ist seltsam konkret,
denn, wenn Sie bedenken . . . gleichzeitig haben sie, sagen wir,
zwei Dimensionen, für das Auge und für das Ohr, und vielleicht

eine dritte, die etwas wie ihre Bedeutung wäre. Denn ein Wort, wie
soll ich sagen? Für das Auge ist es eine Gestalt von einem Zenti-
meter oder einem halben Zentimeter oder dreieinhalb Millimeter
Länge, mit einem Punkt über dem i oder einem Akzent eine . . .,

Person, etwa ein kleiner Wurm, ein kleiner Wurm, und auch mit
einem Blick. Wenn man sensibel ist, dann ist man dafür sensibel,
trotz allem, und es hat auch eine sonore Existenz.«
In der modernen Texttheorie nennt man eine solche Betrachtung
material. Francis Ponge konzipiert hier eine materiale Vorstellung

von der Literatur, eine Vorstellung, die Voraussetzung ist, um


statistische und algebraische Messungen an Texten vornehmen zu
können, und solche Messungen sind das Kennzeichen der heutigen
numerischen Ästhetik und Linguistik.
Noch etwas anderes fällt auf. Ponge benutzt in seiner Überlegung,
offenbar mit einer gewissen Vorliebe und Nachdrücklichkeit, den

23
Ausdruck »konkret«. Er faßt damit alles zusammen, was ein

»Wort« an körperlicher Existenz besitzt, seine lautlichen Eigen-

schaften, seinen visuellen, figürlichen Aspekt und die Tatsache,


daß es stets als Bedeutungsträger fungieren kann. Tatsächlich führt
in seinem Gedankengang Ponge das »Wort«, überhaupt die »Spra-

che« auf jene Funktionen zurück, die sie von sich aus, also als

materiale Gegebenheit besitzen. Ohne selbst »konkrete Texte« zu


verfassen, gibt er auf diese Weise eine Art Definition für »konkrete
Poesie«, wie sie Eugen Gomringer, manchmal Helmut Heißen-
büttel, Ernst Jandl oder die »noigandres« in Sao Paulo schreiben.
Allerdings scheint für Francis Ponge der »konkrete« Stil, die »kon-

krete« Schreibweise ganz allgemein zur dichterischen Diktion zu


gehören. Am kürzesten und prägnantesten drückt er das in dem
Essay »Mündlicher Versuch« aus, wenn er schreibt:

»Also, etwas zu schaffen wünschen, das die Eigenschaften eines


Dinges hat - nichts scheint normaler als das.«

Der Essay, den ich eben erwähnte, »Mündlicher Versuch«, enthält


jedoch noch einen anderen bemerkenswerten Gedanken, der nicht
nur für den Autor selbst, sondern überhaupt für die Tatsache des
Schreibens von Wichtigkeit ist. Ich meine die von Francis Ponge
aufgeworfene Frage der Unterscheidung zwischen geschriebenem
und gesprochenem Wort. Innerhalb der französischen Literatur
war das immer ein delikates Thema. Heute beschäftigt sich nicht

nur Ponge damit, sondern vor allem auch Raymond Queneau.


Doch wir sprechen von Ponge. Er beginnt seine Überlegung mit
einem Geständnis:
»Ich muß Ihnen aber auch dies gestehen: mein ganz besonderes
Problem ist, daß ich lange gedacht habe, mein Entschluß zu schrei-
ben richte sich eben gegen das gesprochene Wort, gegen die Dumm-
heiten, die ich gerade in einer Unterhaltung gesagt hatte, gegen die
unbefriedigende Ausdrucksform selbst sorgfältig geführter Ge-
spräche.

24
Da ich das sehr lebhaft mit einer Art von Unbehagen oder Scham
empfand, habe ich mich recht oft gerade dagegen, gegen das ge-
sprochene Wort ans Schreiben gemacht, genau das war es, was
mich auf mein Papier warf . . .«

Francis Ponge versteht also unter der Sprache des Dichters eine
geschriebene Sprache, eine Sprache, die sorgfältig überwacht wird,
die sich im Zaum hält und die auf allgemeinen Rang bedacht ist,

Raymond Queneau, der nicht


ganz im Gegensatz zu nur mit seinem
berühmt gewordenen Roman »Zazie in der Metro« der gesproche-
nen Umgangssprache, so vulgär sie sich auch gebärden mag, litera-

rischen Rang verleihen möchte.


Diese Unterscheidung der Schriftsteller erinnert an eine entsprechen-
de der Linguisten. Ferdinand de Saussure, einer der großen Begrün-
der moderner Sprachforschung, hat immer wieder den Gegensatz
zwischen »langue« und »parole« betont. Unter »langue« versteht er
die Sprache als ein »festes System«, das vor allem mit der schrift-

lichen Fixierung in Erscheinung tritt, aber »parole« bedeutet für

ihn das gesprochene Wort mit all seinen individuellen und aktuellen
Färbungen. Man darf sicher sein, daß die dichterische Sprach-
konzeption Francis Ponges, der außergewöhnlich linguistisch in-
teressiert ist, nicht zuletzt durch jene Unterscheidung, die in der

heutigen Sprachwissenschaft grundlegend ist, beeinflußt wurde.


Damit hängt selbstverständlich auch die jahrelange Beschäftigung

unseres Autors mit Francois de Malherbe zusammen, der im 16.

Jahrhundert die klassische Formenwelt der französischen Poesie


begründete, indem er ihre Ablösung von der volkstümlichen Rede-
weise und ihre Klarheit, Eindeutigkeit und Reinheit in gramma-
tischer und ästhetischer Hinsicht forderte. Erst kürzlich hat Francis

Ponge seine Malherbe-Studien abgeschlossen und ein mächtiges


Werk unter dem Titel »Pour un Malherbe« (Für einen Malherbe)
herausgebracht. Man darf sagen, daß es die geistige Stimmung

25
dieses Buches über Malherbe ist, die auch die Essays über »Die

literarische Praxis« durchzieht. Es genügt, auf den schönen Satz


zu verweisen, den er angesichts der Texte jenes Dichters aus dem
16. Jahrhundert, der wie kein anderer die »Lyra . . . gespannt«
habe, notiert hat:
»Damit ein Text auf keine Weise vorgeben kann, Rechenschaft
von einer Realität der konkreten (oder spirituellen) Welt zu geben,
muß er zunächst die Realität seiner eigenen Welt erreichen, diejeni-

ge der Texte.«
Die eigene Realität der Texte: das ist genau das Thema der »Lite-
rarischen Praxis«, das Thema der »Materie des Wortes«, die ihre
eigenen Gesetze haben und die eine natürliche Umgangssprache
niemals in ihrer Reinheit hervortreten lassen könne. »II faut degas-
scogner la langue« hatte Malherbe formuliert, »man muß die

Sprache degascognieren«, von den vulgären Beliebigkeiten der Pro-


vinz, der Gascognier, die das schlechte Französisch sprechen, be-

freien. Offensichtlich wiederholt Francis Ponge die Forderung sei-

nes großen Helden.


Man hat ihm gelegentlich Akademismus vorgeworfen. Aber die
Vorliebe für Malherbe ist viel eher ein cartesianisches Sprach-
bewußtsein; das Bewußtsein, daß es nicht nur in der physikalischen
Welt methodisch zugehe, auch in der sprachlichen. Doch nur im
Ordnungswillen des Schriftstellers wird die Sprache ihrer ursprüng-
lichen historischen Zufälligkeit und Dunkelheit enthoben und nur
mit der unbeliebigen schriftlichen Fixierung präpariert sie ihre

mögliche Reinheit und Regelhaftigkeit, durch die nicht nur ihre


Selbständigkeit, auch ihre Schönheit Dauer gewinnt.
Francis Ponge liebt es, darauf aufmerksam zu machen, daß die
»literarische Praxis«, wenn sie wirklich im Geiste der Sprache und
natürlich Malherbes geübt wird, sich nicht von der wissenschaft-

lichen Tätigkeit unterscheide. Die methodisch forschende Intelligenz

26
scheint Ponge auch der literarischen Schreibweise, der Erschaffung

von Texten unerläßlich. Wenn er also von »literarischer Praxis«

spricht, meint er immer auch »literarische Theorie« und wenn er


»Dichtung« sagt, ist »Wissenschaft« sein Gedanke im Hintergrund.
Kaum jemals sind literarische und wissenschaftliche Gesinnung so
verschmolzen worden. In diesem Sinne sind die Aufsätze des Buches
über »Literarische Praxis« eine vollkommene Einleitung in das
Gesamtwerk Francis Ponges.

27
Die Textrealität der Seife

Das schmale Buch von Francis Ponge »Die Seife« ist nicht wegen
seines Gegenstandes, sondern wegen seiner Wörter und Sätze für
den Kritiker interessant. So gegenständlich, so objektbezogen der
Titel auch immer sich anhören mag, der Sinn des Buches ist keine
Darstellung, sondern ein Prozeß - der Prozeß eines Textes, der in

Ansehung eines Gegenstandes, eben der Seife, geplant, vorbereitet,

geschrieben und abgebrochen wird, demnach ein Textereignis und


eine Textrealität ist. Selbstverständlich handelt es sich um eine

künstliche Realität, denn sie ist in jedem ihrer Momente vom


Bewußtsein des Schreibenden abhängig, von seiner Hand, seinem
Auge, seinen Vorstellungen. Was die Seife ist, steht dem Autor von
vornherein fest, was ein Text anläßlich der Seife ist, jedoch nicht;
wir wohnen seiner Entstehung bei, können sein Werden, sein Her-
vorgehen aus dem Willen des Schreibenden verfolgen. In keinem
Augenblick ist er vorwegnehmbar; was gesagt wird, ist erst da,

wenn es gesagt wurde, und es könnte stets auch anders gesagt


worden sein. Nicht nur die Sprache selbst, auch die Ereignisse in
der Sprache, die Texte, sind offene Systeme und verbergen die

aleatorischen Züge nicht. Aber gerade an den zufälligen Konfigu-


rationen seiner Texte erkennt man oft die Gewohnheiten eines

Autors, die kreativen wie die kommunikativen. Literatur besteht


nicht in der Außenwelt der Texte, sondern in ihrer sprachlichen

Eigenwelt. Innovativer Textrealismus gegen trivialen Seifenrealis-


mus. Literatur hat es mit der Realität der sprachlichen Mittel zu
tun, nicht mit der Realität gewisser Objekte.

Das Buch beginnt mit der Reflexion auf den »Anfang des Buches«,

nicht mit einer Einführung der Seife. Ein hegelianischer Anfang:


denn Hegel reflektierte so bewußt den Anfang. Dann erscheint

28
als Titel »Die Seife«. Aber nach der Einführung des »Anfangs«
kommt zunächst noch die Einführung des Autors, der schreibt, der
spricht. »Sie hören in diesem Augenblick die ersten Zeilen eines
Textes . . . Jetzt schreibe ich diese ersten Zeilen . . . Ich sitze an

meinem Tisch, in Frankreich, in meinem Haus . . . Le Savon, meine


Damen und Herrn, die Seife, die Seifenkugel, Sie wissen natürlich,
was das ist . . . Aber für mich ist die Seife, nun, sie ist . . . heute ist

sie vor allem noch dieser verflixte Aktenstoß! . . . Also los! öffnen
wir die Akten . . .«

Damit hat uns der Autor, höchst rhetorisch, figurenreich, ein wenig
pathetisch und ein wenig akademisch aus der Objektrealität in
die Textrealität versetzt.

Diese Textrealität wird in Etappen geschrieben, in Schichten auf-


gebaut.
Der wurde 1942 in Roanne verfaßt. Er hat den
erste Teiltext

Charakter von Notizen, die manchmal zu Aphorismen verfeinert


werden. Ohne besondere Erfahrungen, ohne besondere Urteile und
Bilder.

Der zweite Teiltext wurde 1943 in Ccligny geschrieben. Er bildet


gewissermaßen ein Seifentagebuch, das jedoch die chronologische
Ordnung vernachlässigt. Die Textrealität der Seife am 3. Juli 1943
erscheint z. B. vor der Textrealität der Seife am 9. Juni des gleichen
Jahres. Wichtig scheint mir der Text zu sein, dessen Datum einfach
mit Juni 1943 angegeben wird. Denn in ihm wird die Seife aus-

drücklich als abstraktes Thema verstanden, durch dessen Ausfüh-


rung der »Begriff der geistigen Reinigung« erläutert werden soll.

Damit gewinnt die Textrealität eine pragmatische Dimension.


»Lieber Leser, ich nehme an, daß du gelegentlich den Wunsch hast,

Toilette zu machen? Für deine geistige Reinigung folgt jetzt ein

Text über die Seife.« Der Autor führt das, was er macht, als einen

Gegenstand zum geistigen Gebrauch ein. Er erklärt seinen Text,

29
wie Max Bill seine Bilder, die konkrete Malerei erklärt. Francis
Ponge offenbart sich hier als Platoniker, genauer: als Moralist, als
Ironiker und als Humorist. Er hat übrigens die Ergebnisse seines
Schreibens aus dem Juli 1943 den Freunden Albert Camus und
Jean Paulhan mitgeteilt. Paulhan antwortete nicht. Ein Auszug
aus dem Brief von Camus wird mitgeteilt. Auch dieser Auszug
gehört natürlich zur Textrealität der Seife im Jahre 1943.
Der nächste Teiltext ist dramatischer Art, ein »Vorspiel in Form
einer Saynete oder einem Momon«. Dabei bedeutet Saynete soviel
wie ein Zwischenspiel als Lustspiel im Sinne des spanischen Theaters.
Ein Momon ist eine Art Tanz, der von Masken aufgeführt wird,
gewissermaßen ein Mummenschanz. Für Ponge handelt es sich um
ein sprachliches Arrangement, das sich über die eigenen Ausdrucks-
mittel mokiert. Ich will das Arrangement des Gesprächs zwischen
Schornsteinfegern, Philosophen, einem absoluten Leser, einem Tipp-
fräulein, einem Dichter und einem Abbe nicht ausführlicher be-
schreiben, sondern lediglich auf eine Metapher verweisen, die der

Philosoph zum Dichter angesichts der mit Wasser gefüllten Wasch-


schüssel sagt: »Aber dort ist sie ja, unter dem Wasserhahn, der vor
Ungeduld läuft . .

Um die trockene Zunge der Seife zu lösen.«


In den Nachsätzen zu diesem »Vorspiel« in der Form eines »Zwi-
schenspiels« bemerkt Ponge seine Unzufriedenheit mit dieser dichte-
rischen Version. Er verwandelte daher den Spieltext wieder in einen

Prosatext mit dem Titel »Der Gegenstand Seife«, der im Juli

1944 fertiggestellt wurde. Dann ruhte die Arbeit am Text. Erst


im Sommer 1946 wurde die Arbeit daran fortgesetzt.

Zunächst führt der Autor sich selbst, sogar mit Namen, ein. Man
bemerkt jedoch, daß er sich inzwischen mit anderen Dingen, mit
anderen Texten intensiv beschäftigt hat. Er äußert sich, ehe er
sich deutlicher auf die Seife bezieht, wohl unter dem Eindruck

30
seines früheren Motivs der geistigen Reinigung über Maler, Schrift-

steller und Philosophen, über den geliebten Braque, über Montaigne


und Pascal, über Moliere und Rabelais. Seine Klassik reicht bis
Braque. Seine Moderne heißt Braque, und man greift über Proust
hinaus, indem man schreibt: »Auf der Suche nach der verlorenen
Seife . . .«

Es folgt alsdann ein kurzer Text, der mindestens äußerlich die


Form eines Gedichtes in freien Versen zeigt. Das Gedicht wird
mit einer Regieanweisung für die Rezitation versehen, die auf
deutliche Weise die semantische Verschiebung der Seife aus der

Objektwelt in die Sprachwelt oder Textwelt im Medium der Ge-


sten simuliert. Sie lautet:

»Er wickelt ein neues, noch ganzes, hartes, homogenes, kompaktes


Stück Seife aus seiner Papierhülle und deklamiert:«
Das Gedicht schließt mit der repetierten Bemerkung: . .

»und halten in der anderen Hand


für unsere geistige Toilette
ein kleines Stück Seife«.

Nach einem »Präludium« von wenigen Zeilen wird das Thema


in einem selbständigeren Prosatext unter dem Titel »Über die
trockene Seife vor der Benutzung« fortgesetzt, dem ein weiterer

unter der Überschrift »Das spontane Verschmelzen der Seife in


stillem Wasser« nachfolgt. Dazu kommt dann, die Textrealität der
Seife gewissermaßen für dieses Buch abschließend eine sehr ver-
dichtete Reflexion »Über Seifenwasser und Seifenblasen«. Offenbar
stammen diese zentralen und gewichtigsten Teiltexte aus dem Jahre
1946. Sie sind zugleich diejenigen Prosastücke, die sich am stärksten
den frühen Dingtexten, die Sartre gleichzeitig bewunderte und
kritisierte, annähern, den berühmten dichterischen Deskriptionen
und Manifestationen in »Le Parti Pris des Choses«, die schon seit

längerem in Deutschland bekannt sind.

31
Es ist indessen noch hinzuzufügen, daß das Buch fünf »Anhänge«
besitzt, in denen das Thema, also die Textrealität der Seife, noch
einmal, gewissermaßen aufstoßend, vorgenommen, reflektiert, er-
gänzt, variiert, problematisiert, kodiert und zugeschlagen wird mit
dem Hintergedanken, den man, wie Pascal meinte, immer im Hin-
tergrund haben sollte, die Tür dazu noch einmal öffnen zu können.
DieseAnhänge stammen aus den Jahren 1964 und 1965. Der
Anhang III ist deshalb besonders interessant, weil Francis Ponge
darin auf das Wort »Seife« eingeht, eine alte Vorliebe bestätigend,
daß auch Dichtung, Literatur methodisch vorgehen kann, sogar
muß und die Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher und künst-
lerischer Gesinnung in der bewußten schriftstellerischen Erzeugung
einer Art linguistischer Autonomie der Textrealitäten im Verhältnis
zur Sachrealität beinahe aufgehoben ist, ganz davon abgesehen,
daß jede Textrealität natürlich das Wort als den wesentlichen Bau-
stein voraussetzt.

Ich habe den Inhalt des Buches deshalb so ausführlich in seinem

Nacheinander wiedergegeben, um mit den zeitlichen Verhältnissen


der Abfassung der Texte auf den Prozeß, die Genesis der Text-
realität deutlicher hinzuweisen. Außerdem kann im Zusammen-
hang mit einer solchen Präsentation ein weiterer methodischer
Gesichtspunkt, der in diesem Buch, wenn man seine sprachliche

Eigenwelt linguistisch verständlich machen will, eine Rolle spielt,

genauer erörtert werden.


Das Buch bietet einen semantischen Text und zwar im wesentlichen
als Prosa. Semantisch deshalb, weil ein klarer Objektbezug vorliegt,
die Seife. Es handelt sich somit um den Aufbau einer semantischen
Textrealität. Aber gerade damit wird der Textkörper zu einem
Objekt des geistigen Gebrauchs und unter diesem Aspekt verwan-
delt sich die semantische Textrealität in eine pragmatische.

Vom Standpunkt der linguistischen Texttheorie aus gesehen, han-

32
delt es sich also um die Frage, wie ein Text im Schreiben seinen
Zusammenhang gewinnt, ein Zusammenhang, der zunächst mit den
syntaktischen Mitteln der Grammatik, dann aber mit den bedeu-
tungsbildenden Mitteln der Semantik verständlich aufgebaut wer-
den muß. Eine semantische Textrealität, die ihr Objekt also zunächst
bezeichnet, überführt bereits damit das Ding in das Wort und
darüber hinaus die bloße Sachorientierung der Sprache in eine
Bedeutungsorientierung. Genau damit ist dann der, der schreibt,

aus der sachgegebenen Außenwelt in die linguistische Eigenwelt


der Sprache eingetreten, in der Textrealität entstehen kann. Die
Bezeichnung ist noch nicht Bedeutung. Die Bezeichnung ist objekt-
bezogen, sachreal bestimmt, aber die Bedeutung ist subjektbezogen
und textreal bestimmt. Schreiben von Prosa ist der lineare Zug der
Wortereignisse vom Objekt zu seinem Interpreten, der beständige
Übergang der Bedeutungen in andere. Die texttheoretische Lingui-
stik oder die linguistische Semantik kennt zwei Möglichkeiten des
Übergangs von Bedeutung zu Bedeutung, zwei Möglichkeiten für
die semantische Verschiebung, die zur Textrealität führt. Roman
Jacobson und Morris Hall sprechen vom metaphorischen und vom
metonymischen Weg. Jener arbeitet mit dem Prinzip der Substi-
tuierung, dieser mit dem Prinzip der Kontextbildung. Jener geht
also selektiv, dieser aber kombinierend vor. Dort dirigiert die
Forderung der Similarität, hier die der Kontinguität. Ähnlichkeit
und Angrenzung.
Es ist klar, daß Poesie im Prinzip auf der metaphorischen Technik
der Substitution der einen Bedeutung durch die andere unter Vor-
aussetzung gewisser Ähnlichkeiten beruht und daß Prosa die lineare
metonymische Technik der Angrenzung der einen Bedeutung an
die andere ausnützt. Anders ausgedrückt: Poesie vollzieht sich

unter der Voraussetzung, daß die Sprache kodiert, Prosa aber


unter der Voraussetzung, daß die Sprache Kontexte entwickelt.

33
Das Buch »Die Seife« von Francis Ponge als das Beispiel einer vor
dem Auge und dem Bewußtsein des Lesers vollzogenen sukzessiven
Erzeugung einer Textrealität gibt einen sehr deutlichen Einblick

in die Differenzierung, von der hier die Rede ist. Es handelt sich

um eine Textrealität in Prosa. Das Prinzip der Kontinguität, der


Verschiebung der Bedeutung unter Ausnützung der Angrenzung
der Bedeutung, der linearen Kontextbildung ist vorherrschend.
Das Prinzip der Similarität, das Prinzip der metaphorischen Sub-

stitution tritt zurück. Schon im zweiten Teiltext taucht die Stelle

auf, an der Ponge sich seiner Verfahrensweise bewußt wird:


». . . Und so kommen wir von den Wörtern zu den Bedeutungen . .

inmitten von einem klaren, schillernden Rausch, oder vielmehr


einem Aufwallen, einem kalten Brodeln, aus dem wir im übrigen
hervorgehen, und hier ist nun der tiefere Sinn - mit sauberen
Händen, reineren als vor Beginn dieser Übung.«
Verstärkt wird die kontextliche Kontinuität in der Entwicklung
der semantischen Textrealität der Seife in der folgenden Stelle:
»Wenn ich zeigen wollte, daß Reinheit nicht erreicht wird durch
Schweigen, sondern durch irgendeine Sprachübung (unter bestimm-
ten Bedingungen mit einem gewissen kleinen, lächerlichen Gegen-
stand in den Händen), der eine plötzliche Katastrophe reinen
Wassers folgt.

Welcher Gegenstand wäre besser dafür geeignet als die Seife? . .

Lieber Leser, ich nehme an, daß du gelegentlich den Wunsch hast,

Toilette zu machen?
Für deine geistige Reinigung folgt jetzt ein Text über die Seife.«
Man bemerkt leicht, daß die Angrenzung zwischen Sachrealität

und Textrealität die Angrenzung körperlicher und geistiger Reini-

gung einschließt. Verschiedene Objekte werden nicht durch ihre


Bezeichnungen, sondern durch ihre Bedeutungen vermittelt. Im
Reich der Prosa ist der Schriftsteller ein Interpretant.

34
Unsere Analyse war der Semantik gewidmet. Daß eine semantische

Textrealität auch eine ästhetische ist, versteht sich für den Schrift-

steller von selbst. Daß die metaphorische Sprache im Rahmen ihrer

Technik der Substitution ihre innovative ästhetische Information


anders gewinnt als die metonyme Sprache, wäre eine Differen-
zierung, die zur Theorie der Textästhetik gehört. Ihre Erörterung
übersteigt den Rahmen dieses Essays. Die Unvorhersehbarkeit des
textbildenden Prozesses bei Francis Ponge, das wird jedoch deut-
lich, liegt in den Windungen, Ecken, Absätzen, Abbruchen, Kon-
trasten, Verwerfungen dieses Textes. Dieser Kontext der Seife ist

sicherlich nicht determiniert, und der Grad dieser Unbestimmtheit


ist verantwortlich für die Gestaltungshöhe dieses Textes, also für
die ästhetische Information.

Ich breche ab. Aber ich habe noch zu notieren, daß die französische
Literatur mit dem Werk von Francis Ponge klassisch bleibt. Denn
diese extreme Austragung dessen, was wir Bedeutung nennen, ge-
hört zur klassischen Literatur, die im Gegensatz zur modernen
Experimentalliteratur die semantische Dimension bevorzugt. Auch
Ponge mißtraut Gertrude Stein und ihren Folgen für die künst-

lerischen Experimente im Bereich des Syntaktischen, im Bereich


der Erprobung gewisser linguistischer Strukturen und Konfigura-
tionen, im Aufbau purer materialer ästhetischer Textgebilde. Unter
diesem Aspekt eines gewissen Verharrens im Semantischen und
Akademistischen könnte eine methodische Kritik am Werk dieses

Autors unternommen werden, deren Platz jedoch hier nicht ist.

35
Theorie kubistischer Texte
Für D.-H. Kahnweiler

And the Cubist poets, like the Wenn ich es ihm sagte, hätte er es
painters, conceive of this unity as gern. Hätte er es gern, wenn ich es
something absolute, unshakeable ihm sagte.
and capabie of absorbing any kind Hätte er es gern, hätte Napoleon,
of heterogeneous elements. hätte Napoleon, hätte, hätte er es

D.-H. Kahnweiler, Juan Gris. gern . .

G. Stein, Portraits and Prayers.

Daniel-Henry Kahnweiler hat in seinem schönen Buch über »Juan


Gris« nachdrücklich auf die Existenz der kubistischen Poesie hin-
gewiesen. Er nannte Namen wie Apollinaire, Max Jacob und
Gertrude Stein, und spiegelte ihre Technik des Schreibens, indem
er sich dabei an der Ästhetik Juan Gris', die er darstellte, orien-

tierte. Auch von Apollinaire, Max Jacob und Gertrude Stein


selbst oder auch von Carl Einstein u. a. gibt es ungemein erhellende
Bemerkungen über jene Art der Dichtung, aber dennoch besitzen

wir keine einheitliche ästhetische Theorie kubistischer Texte, wie


ich nun verallgemeinert sagen möchte, die in ihnen selbständige

und methodisch zugängige ästhetische Objekte aus sprachlichem


Material sieht.

Ich möchte hier die Grundlagen einer solchen analytischen und de-
skriptiven ästhetischen Theorie kubistischer Texte geben. Als Mo-
dell, an dem diese Theorie demonstriert wird, dient mir Gertrude
Steins »vollendetes Porträt von Picasso« aus »Portraits and
Prayers«, 1909 (1933). Was die ästhetische Analyse anbetrifft, so

erfolgt sie vom Standpunkt der Modernen Ästhetik, also vom


Standpunkt einer materialen und analytischen Ästhetik, die sich

radikal auf die sprachliche Eigenwelt der Texte bezieht und mit
semiotischen, numerischen und informationellen Mitteln arbeitet.

36
Ich verstehe alsdann unter der Analytik eines kubistischen Textes

die Aufzählung der Bedingungen für die Entstehung der spezifi-

schen ästhetischen Realität eines sogenannten kubistischen Textes;


und ein kubistischer Text soll ein Text sein, dessen ästhetische

Komposition strukturell derjenigen eines kubistischen Bildes (Juan

Gris) oder einer kubistischen Skulptur (Lygia Clark) verglichen


werden kann. Die kubistische Ästhetik, wie sie z. B. Juan Gris
entwarf, geht davon aus, daß das »Bild« in der Malerei nicht mehr
als Bild außenweltlicher Gegenstände zu verstehen sei. Es handele
sich vielmehr darum, das »Bild« als eine innovative Komposition
möglicher Relationen der Elemente jenes außenweltlichen Gegen-
standes im eigenweltlichen Material der Malerei aufzufassen. Die
Idee des »Bildes« verliert damit den Sinn des »Abbildes« und
gewinnt den der »Creation«. Die »Darstellung« verliert die »pro-
jektive« Funktion und gewinnt die »strukturelle«. Der iconisch

verlaufende Zeichenprozeß hört auf »analog« zu sein und wird


»digital«, wie man das in den Termini der Kybernetik ausdrückt,
und gliedert sich, um weiterhin einer Bemerkung Benoit Mandel-
brots Raum zu geben, stärker in den analytischen und urteilenden
Charakter der modernen Zivilisationssprachen ein.

Die Gewinnung des »digitalen« Stils, durch den dem künstlerischen


Vorgang die Entscheidungen, also der Verbrauch seiner Freiheiten,

nicht mehr vom Aufbau des »Gegenstandes« (analog), sondern von


der Komposition des »Bildes« her (digital) der gestaltenden Sub-
jektivität aufgezwungen wird, scheint mir die wesentliche und
grundlegende Errungenschaft des kubistischen Aspektes zu sein.

»Ästhetische Objekte« erscheinen hier mindestens im Prinzip als

»variable Objekte«, die in jedem Moment auch noch als eine


»andere Darstellung« möglich wären.
Um diese Überlegungen an dem zu demonstrieren, was man einen
kubistischen Text nennen kann, beziehe ich mich, wie gesagt, auf

37
mein Modell, auf Gertrude Steins »vollendetes Porträt« Picassos
und hebe zunächst hervor, daß der Titel semiotisch verstanden,

nicht als ein Index aufzufassen ist, der sich auf den Text als der
analogen, abbildenden Darstellung eines bestimmten Objektes be-
zieht. Der Titel fungiert, als Zeichen aufgefaßt, vielmehr als Index
des kubistischen Prinzips der Konstruktion des Textes. Das »voll-

endete Porträt« Picassos ist also ein »kubistischer« Text. Dieser

Text entwirft in seiner Ganzheit, in seiner Textgestalt nicht das

Icon eines »Gegenstandes«, sondern das »Icon« einer Struktur; er


geht demnach nicht analog, sondern digital vor. Der Ausdruck
»Porträt« meint kein analoges, sondern ein digitales Icon. Wie
nun in der malerischen Konzeption des Kubismus selektierte figür-

liche Elemente gewisser außerweltlicher Gegenstände wie »Tische«,


»Guitarren«, »Gesichter« usw. als Träger von Farben und Formen
neue strukturelle Relationen eingehen, ist auch jeder kubistische
Text als eine neue strukturell gegliederte Elementenmenge selek-
tierter Wörter und Konnexe von Wörtern als Träger von Bedeu-
tungseinheiten wie »Napoleon«, »Schlösser schließen« usw. aufzu-
fassen.

Genau damit tritt neben den »digitalen Stil« als weitere Errun-
genschaft des kubistischen Prinzips der »materiale«, also der Ge-
winn der sprachlichen Eigenwelt als (linguistisches) Medium der
poetischen Konstruktion.
Der Text Gertrude Steins umfaßt (in der deutschen Fassung) 167
Wörter. Diese Wörter gliedern sich in 52 Konnexe, darunter 16
verschiedene. Diese verschiedenen und elementaren Konnexe sind:

wenn ich es ihm sagte, hätte er es gern, hätte Napoleon, hätte,

wenn Napoleon, Schlösser schließen, öffnen sich, wie Königinnen


es tun, Schlösser, so schließen Schlösser, so, so Schlösser, also, lassen

sie mich erzählen, was Geschichte lehrt, Geschichte lehrt.

Die kompositionelle (und syntaktische) Verknüpfung der semiotisch

38
als »Icone« aufzufassenden »Konnexe« zu einem »Text« (nicht
zu einem »Kontext«) erfolgt semiotisch durch »Indices«, die ent-
weder als »Interpunktionen« (Komma, Punkt), als »Abstände«
(Abschnitte) oder als »copulative Indices« (>und<) eingeführt wer-
den. Man zählt 3 Abstands-Indices, 38 Interpunktions-Indices
und (zunächst) 18 copulative Indices; zur kompositionellen Ver-
knüpfung der 52 elementaren Konnexe werden also insgesamt 59

Indices aufgewendet. Nun ist aber zu berücksichtigen, daß gelegent-


lich zwei elementare Konnexe durch ein quasi-implikatives

»wenn«, das als Index fungiert, zu einem molekularen Konnex


zusammengesetzt werden, wie z. B. in »Wenn ich es ihm sagte,

hätte er es gern«. Man kann jedoch höchstens 5 solcher quasi-

implikativen Indices abzählen, die der Bildung molekularer Kon-


nexe dienen. Zu erwähnen ist noch, daß der vierte Abschnitt des

Textes einen molekularen Konnex einführt, der aus drei elemen-

taren Konnexen besteht. »Schlösser schließen, und öffnen sich wie


Königinnen es tun«. Es handelt sich offensichtlich um ein aus drei

iconischen Konnexen aufgebautes Ikon vom Rang einer Metapher,

der einzigen des Textes übrigens. Die metaphorische Funktion des


Index »wie« besteht offensichtlich in der Erzeugung eines »Kon-
textes«, mit dem der eigenweltliche Konnex eine außen weltliche
Relation eingeht, wiederum die einzige des Textes (und realitäts-
verknüpfend wirksam wie der unzerlegte und höchst naturalistisch
eingeführte Nagel oder Buchstabe auf kubistischen Bildern).
Nunmehr wird das Prinzip der Strukturierung auf dem Feinauf-
bau des Textes voll ersichtlich. Nicht Wörter, Sätze, Schlußfiguren,
Urteile, Beschreibungen sind seine konstituierenden Elemente, son-

dern das, was man texttopologisch, wie bereits gesagt, »Konnexe«


nennt. Man erkennt die Zusammensetzungen von molekularen
Konnexen aus elementaren (»Wenn ich es ihm sagte, hätte er es

gern«), Umkehrungen (»Hätte er es gern, wenn ich es ihm sagte«),

39
Variationen (»Hätte er es gern, wenn Napoleon«), Repetitionen
(»hätte Napoleon, hätte, hätte er es gern«) und Reduktionen (»und
so«). Das oft konstatierte musikalische Prinzip der Fuge wird über-
aus deutlich. Stellenweise, wenn nicht ganz, nimmt der Text die

Form einer Wortfuge an.

Wesentlicher ist der Theorie jedoch darüber hinaus die Tatsache,


daß aus dem materialen Aufbau des Textes zu einer strukturalen

ästhetischen Botschaft seine Variabilität als ästhetisches Objekt


folgt, was der prinzipiellen Unbestimmtheit und Fragilität der

ästhetischen Realität entspricht. Es ist leicht einzusehen, daß aus


der Menge der zugrunde gelegten Konnexe und der verwendeten
indexikalischen Gelenke auch andere Textgestalten hätten gewon-
nen werden können. Umkehrung, Variation, Repetition und Re-
duktion hätten auch auf die Abschnitte oder auf den gesamten
Text bezogen werden können, und die hervorgehobene einzige
Metapher »Schlösser schließen, und öffnen sich wie Königinnen es

tun« hätte auch anders, etwa so »Wenn ich es ihm sagte, hätte er

es gern wie Königinnen es tun« aufgebaut v/erden können.


Da keine vorgegebene außenweltliche Kontextbeziehung die Frei-
heit der künstlerischen Gestaltung behindert, bezieht sich deren
produktiver Verbrauch im wesentlichen nur auf die Strukturierung
oder Umstrukturierung einer material gegebenen sprachlichen Ei-
genwelt. Die Indices der Verknüpfung und die Icone der Konnexe
bilden die ästhetischen Konstanten der Zeichenwelt, in der die
Innovation gebildet wird, und in jener Verknüpfung ist hier zwei-

fellos der ästhetische Akt begründet.


In dieser Weise gewinnt der Text eine sichtbare Beziehung zu den
variablen Skulpturen Lygia Clarks, deren kubistische Konzeption
unverkennbar ist. Es handelt sich um Skulpturen, die elementare
geometrische Figuren (Dreiecke, Kreissektoren u. a.) mit Hilfe von
kleinen Scharnieren zu veränderlichen räumlichen Systemen zu-

40
sammenschließen. Semiotisch gesehen fungieren die ebenen Figuren
als Ikone und die Scharniere als Indices ihrer Verknüpfung, darüber
hinaus aber auch als Indices der Unbestimmtheit, der Varia-
bilität des Systems, die eine improvisierte Selektion seiner ästhe-
tischen Realität aus der Menge der mechanisch möglichen Kon-
stellationen zuläßt. Aber man wird schnell erkennen, daß dieser

ästhetische Zustand unter sehr viel mechanischen stets ein singu-

lärer, fragiler und extremer Fall ist.

Ganz allgemein verläuft die Bildung ästhetischer Realität (auf


der Basis physikalischer Realität) in drei Phasen: i. in der Um-
bildung gewisser material gegebener »Elemente« in »Zeichen« (se-

miotische Phase); 2. in der »Denormierung« der Verteilung bzw.


Anordnung der »Zeichen« (statistische Phase); 3. in der Entwick-
lung der »Zeichen« zu »Superzeichen« (kompositionelle Phase).
Die Umbildung der materialen »Elemente« in »Zeichen« erfolgt
dadurch, daß die »Elemente« Zusammenhänge, Beziehungen, in
sogenannte »Konnexe« eingehen, innerhalb deren sie überhaupt
erst ihre eigentliche »Zeichenfunktion«, ihre »triadische« Relation
zu einem »Objekt«, zu einem »Interpretanten« und zum »Zeichen-
sein« gewinnen können. Das statistische Wesen des Arrangements
der »Zeichen« beruht darauf, daß es »normiert« oder »denormiert«
sein kann. Normiert bringt es gewöhnliche (nicht-innovative) Be-
deutungen zum Ausdruck, und die Kommunikation beruht im we-
sentlichen auf einer Art natürlicher und umgänglicher Perzeption
und Apperzeption; aber denormiert vermittelt das Arrangement
der »Zeichen« ungewöhnliche, nicht-umgängliche (innovative) Be-
deutungen, und die Kommunikation schließt Faszination und selek-
tierende Interpretation ein. Mit der Entwicklung der Superzeichen,
also der »Gestalt« oder der »Ganzheiten« und darüber hinaus
ganzer Hierarchien von »Gestalten« bzw. »Superzeichen« wird die
Komposition zum wesentlichen ästhetischen Akt und der Gewin-

41
nung wahrnehmbarer »Ordnungen« zum wesentlichen Resultat des
künstlerischen Prozesses.
Mit dem Text Gertrude Steins liegt der Fall vor, daß die Entwick-

lung der Superzeichen, der »Gestaltung« auf »Struktur« aus ist.

Jede »Struktur« setzt eine Menge von »Elementen« bzw. »Zeichen«


voraus, auf die sich eine »Syntax« bezieht; das System der »Ord-
nungen«, das durch eine Struktur repräsentiert wird, heißt auch
ein »Muster«, ein »Pattern«.

Gerade indem wir den Text als variables ästhetisches Objekt (Text-
objekt) beschrieben haben, semiotisch aus Iconen und Indices,

topologisch aus Konstanten und Konnexen aufgebaut, haben wir


ihn als strukturelles Muster, als ein »Pattern«, ein »Textpattern«,
wie wir sagen wollen, identifiziert. Icone und Indices oder Kon-
stanten und Konnexe, wie ich sie hervorhob, bilden die Elemente
der Struktur wie ihre Verknüpfungen, Umkehrungen, Variierungen
und Reduktionen, kurz die gesamte so überaus deutliche »Rappor-
tierung« zum Regelsystem der Syntax gehören. Die wahrnehmbare
»Rapportierung« läßt es übrigens zu, von einem »ornamentalen«
Text, von einem »Textornament« zu sprechen. Der »Rapport«
ist stets ein pattern-erzeugender Funktor.

Aus der abstrakten Strukturtheorie und Strukturmetrik, wie sie

kürzlich von Theo Lutz im Anschluß an Russell, Wiener und All-


port entwickelt wurde, folgt nun, daß auch »Strukturen« bzw.
»Pattern«, da sie »normierte« und »denormierte« statistische Fälle

einschließen, »ästhetische Realität« besitzen können. Denn es ist

leicht einzusehen, daß man den »Elementen« einer »Strukturbasis«

relative Häufigkeiten oder Wahrscheinlichkeiten zuordnen kann.


Lutz führt den Begriff »Strukturgrad« ein, indem er »seltene

Elemente« von größerem »Strukturgrad« von »häufigen« Elemen-


ten geringerem »Strukturgrad« unterscheidet und auf dieser Vor-
aussetzung dann eine logarithmische Maßfunktion für den »Struk-

42
turgrad« eines bestimmten »Elementes«, im Falle unseres Textes
also der Wörter bzw. der »Icone« oder »Indices«, der »Konnexe«
oder »Konstanten«, begründet. Auch das »Strukturmaß eines Pat-
tern« soll »in dem Maße groß sein, in dem die beteiligten Elemente
selten sind«, derart, daß »seltene Pattern«, also »Pattern mit selte-

nen Elementen« ein höheres Strukturmaß haben als »Pattern mit


häufigen Elementen«.
Der Text Gertrude Steins ist offensichtlich aus einzelnen »Pattern«

zu einem System zusammengesetzt, das den Charakter eines Ȇber-


musters«, eines »Superpattern« besitzt. Die vier Abschnitte des
Textes lassen vier »Pattern« offenbar werden, die jeweils eine
spezifische »Strukturbasis« zeigen. Sowohl in bezug auf die »Ele-
mente« (Wörter und Konnexe) wie auch in bezug auf die »Syntax«
gibt es Überschneidungen, texttopologisch gesprochen, boolsche
Durchschnittsbildungen. Insbesondere die »Strukturbasen« der er-
sten drei »Pattern« (oder »Abschnitte«) überlappen sich mit dem
zur Syntax gehörenden Index »wenn« und mit zu den konnexen
Elementen gehörenden Iconen »ich es ihm sagte« und »hätte er es

gern« und dem ebenfalls zu den Elementen zuzurechnenden indexi-


kalischen Wort »Napoleon«. Man bemerkt auch, daß das »Struk-
turmaß«, also die »Strukturiertheit« dieser »Abschnitts-Pattern«
im Sinne der von Lutz gegebenen Definition vom ersten über das

zweite zum dritten »Pattern« ansteigt, denn die Seltenheit der


»Elemente« (»Napoleon«, »hätte Napoleon«, »wenn Napoleon«
usw.) wird größer im Verhältnis zu den »häufigen« Wörtern und
Musterkonnexen im ersten Abschnitt wie »wenn ich es ihm sagte«
oder »hätte er es gern«. Der letzte Abschnitt des Textes, also das

vierte »Pattern«, führt neue Konstanten (»und«) und neue Konnexe


(»Schlösser schließen«, »so«) ein. Damit wird eine neue »Struktur-
basis« gewonnen, d. h. es entsteht ein völlig neues »Pattern«.
Außerdem gewinnt dieses »Pattern« mit der metaphorischen Rede-

43
weise des ersten Konnexes (»Schlösser schließen und öffnen sich wie
Königinnen es tun«) und der apophantischen Redeweise des letzten
Konnexes (»Lassen Sie mich erzählen, was Geschichte lehrt, Ge-
schichte lehrt«) eine relative Unwahrscheinlichkeit der »Elemente«
in seiner »Strukturbasis«, so daß also das »Strukturmaß« groß
wird. Man kann sich vorstellen, daß das »Superpattern« des Ge-
samttextes sich nach seinem letzten Satz »Lassen Sie mich erzäh-
len . . .« sich wiederholt, also einen »Rapport« entwickelt, der eine
»Substruktur« enthüllt.

44
Was erzählt Gertrude Stein?
Für Käte Hamburger

Auch der literarische Raum wird durch Freiheitsgrade bestimmt.


Durch die Freiheiten, die man sich beim Schreiben herausnimmt,
und natürlich auch durch die Freiheiten, die der Leser, das Publikum
des Schreibenden, erwartet.
Beschränken wir uns bei der Betrachtung dieser literarischen Frei-
heitsgrade auf die der Schriftsteller und ihrer Prosa und ziehen als

eigentliches Objekt den Text in Betracht, dann läßt sich leicht zwi-
schen der syntaktischen, der semantischen und der ontologischen
Dimension dieser literarischen Freiheit unterscheiden.

Die syntaktische Freiheit bezieht sich auf den Text als einer geglie-

dertenMenge von Elementen; ihr Feld ist die lineare oder flächige
Anordnung der Wörter, der Phrasen, der Sätze und Absätze, sofern
sie als pures Material linguistischer Bewegungen aufgefaßt werden;
ihre Prozesse sind demnach grammatischer, logischer, statistischer

und algebraischer Natur. Die semantische Freiheit hingegen be-


trifft die Auswahl der Wörter hinsichtlich ihrer Rolle als Bezeich-

nungen und Bedeutungen; hinsichtlich ihrer Rolle als Beschreibung,

Behauptung oder Verneinung von Sachverhalten, die in Sätzen

widergegeben und beurteilt werden sollen; sie betrifft, kurz gesagt,


den inhaltlichen Aspekt des Textes.
Die ontologische Freiheit endlich reflektiert auf das Auftreten,
Einbeziehen oder Wirksamwerden der Seinsthematiken, Seinsmo-
dalitäten und Seinsschichten im Text; sie manipuliert zwischen
Wirklichkeitsbezügen und Möglichkeitsbezügen, zwischen Außen-
welthorizonten und Innenwelthorizonten, zwischen Fakten und
Fiktionen, zwischen subjektiver und objektiver, zwischen abstrakter
und konkreter, zwischen platonischer und nominalistischer Darstel-
lung der Welt in der Sprache.

45
Freiheiten und damit Erneuerungen und Erweiterungen des ur-
sprünglichen Horizontes der Texte sind in jeder Hinsicht möglich,
und mit den Freiheiten auf der syntaktischen, semantischen oder
ontologischen Ebene kommt es zu jenen ästhetischen Innovationen
und Kreationen im Text und seiner Sprache, die zum Sinn und
zum Reiz der Literatur gehören.
Der literarische Raum nun, in dem moderne Prosa, Texte, zu ihrer
Gestalt und Wirkung gelangen, wird im wesentlichen durch die

Freiheiten im Schreiben bestimmt, die wir Autoren wie James


Joyce, Franz Kafka und Gertrude Stein verdanken. Sie sind sicher-

lich nicht die einzigen, denen diese Freiheiten wichtig waren, aber
ihr Werk hat wohl am sichtbarsten zu ihrem Gewinn beigetragen.

James Joyce hat eine bemerkenswerte Erweiterung des ontologi-


schen Horizontes der Prosa erreicht, indem er den Zustand des
Bewußtseins seiner Figuren, ihren Bewußtseinsstrom, seine Konti-
nuität, seine Intermittenz, seinen assoziativen Automatismus in
die Darstellung einbezog und als Quelle der sprachlichen Aktion
beanspruchte.
»Bloom ging unbeachtet an seinem Hain entlang, vorbei an trau-
rigen Engeln, Kreuzen, zerbrochenen Säulen, Familiengewölben,
steinernen Hoffnungen, die mit aufwärtsgerichteten Augen beteten,

alt Irlands Herzen und Hände. Sollte mit dem Geld lieber irgend-
wie den Lebendigen helfen. Betet für die Ruhe der Seele des. Tut
das wirklich jemand? Rinn mit ihm ins Loch, und dann ist es aus.

Wie in ein Kellerloch. Schmeißen sie dann zusammen, wollen Zeit


sparen. Allerseelen. Am 27. werde ich an seinem Grabe stehen.
Zehn Schilling für den Gärtner. Hält es frei von Unkraut. Auch
schon ein alter Mann.«
Franz Kafka hingegen erweiterte den semantischen Horizont der
Texte, indem er in geringerem Maße als üblich von der Bezeich-
nungsfunktion der Wörter und Ausdrücke ausging, sondern schrei-

46
bend ihre Bedeutungsfunktion verstärkte, also ihre Abhängigkeit

vom Kontext ausnützte. Seine Texte sind vor allem Kontexte.


Nicht das Wort, sondern der Satz macht den Text. Er schreibt
vom Satz, nicht vom Wort her, und die Sätze können gleichermaßen
den Sinn von Urteilen und von mächtigen Metaphern annehmen.
Seine Prosa läßt offenbar werden, was es heißt, wie Sartre später
formulierte, daß die Prosa das Reich der Bedeutungen sei.

»Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem
rennenden Pferde, schlief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte

über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab
keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel,
und kaum das Land vor sich als glattgemähte Heide sah, schon
ohne Pferdehals und Pferdekopf.«
Gertrude Stein schließlich, auf die wir uns nun endlich konzentrie-
ren können, nützt dort, wo sie original, wo sie typisch schreibt,
vor allem die syntaktischen, die strukturellen Möglichkeiten, die
syntaktischen Bindewörter in den Sätzen und zwischen ihnen als

stilbildendes Mittel aus. Sie entdeckte und erprobte vielleicht als

erste die ästhetischen Möglichkeiten der Sprache auf deren syntak-


tischer Ebene.
»Wie und wie vielleicht und vielleicht vielleicht und vielleicht wie
und wie.«
Man versteht die moderne Prosa nicht, wenn man sie nicht in diesem
Raum ontologischer, semantischer und syntaktischer Erneuerungen
sieht, die durch James Joyce, Franz Kafka und Gertrude Stein
wirksam geworden sind und man versteht auch Gertrude Steins
merkwürdige Texte nicht, wenn man sie außerhalb dieses literari-

schen Zusammenhangs verstehen will.

Mindestens drei Einflußnahmen wird man hervorheben müssen,


um die Anfänge, die Ausgangspunkte der Literatur Gertrude Steins
bezeichnen zu können.

47
Zunächst gibt es so etwas wie eine wissenschaftliche Wurzel ihrer
Schriftstellern. Von 1893 bis 1900 studierte Gertrude Stein am
Radcliffe-College in Baltimore und später auch an der Johns Hop-
kins Medical School. Unter dem intensiven Einfluß von William
James, dem Philosophen und Psychologen, beschäftigte sie sich

auch mit psychologischen Experimenten, die vor allem Probleme der


Automatismen des Bewußtseins betrafen und etwa die »Erinne-

rung«, das »wache Bewußtsein« und die »Sättigung der Farben«

zum Gegenstand hatten. Diese Forschungen führten Gertrude Stein


und ihren damaligen Freund und Mitarbeiter schließlich auf das

Phänomen der spontanen Schreibbewegungen, die während des


Lesens einer Geschichte sich vollziehen konnten. Solche experimen-
tell erzeugten spontanen Schreibbewegungen führten zu Texten,
die aus Wörtern, Wortteilen und Satzresten oder Sätzen bestanden,
die während des Lesens aus der Geschichte spontan in den Text,
den man während des Lesens schrieb, eindrangen. Dieses ursprüng-
liche, wissenschaftliche und experimentelle Interesse an spontanen
Schreibbewegungen und automatistisch wie von selbst entstandenen
Texten hängt ohne Zweifel mit der bewußten Schreibtechnik der
wie stotternd sich vollziehenden Wortrepetition, die später literari-

sches Stilprinzip wurde, zusammen.


»Wenn Napoleon, wenn ich es ihm sagte,
wenn ich es ihm sagte, wenn Napoleon.
Hätte er es gern, wenn ich es ihm sagte,
wenn ich es ihm sagte, wenn Napoleon.
Hätte er es gern, wenn Napoleon, wenn
Napoleon, wenn ich es ihm sagte, wenn ich
es ihm sagte, wenn Napoleon, wenn Napoleon,

wenn ich es ihm sagte. Wenn ich es ihm


sagte, hätte er es gern, hätte er es gern,

wenn ich es ihm sagte.«

48
Die zweite Einflußnahme, auf die hinzuweisen wäre, hängt mit
den langen Pariser Aufenthalten Gertrude Steins zusammen. Im
Jahre 1903 übersiedelte sie für fast dreißig Jahre nach Paris. Ihre

Wohnung in der rue de Fleurus wurde zu einem Mittelpunkt gei-

stiger und künstlerischer Geselligkeit, zumal Gertrude Stein und


ihr Bruder Leo es liebten, als Mäzene der neuen Malerei aufzu-
treten. Es war die bewegende Zeit des werdenden Kubismus, dessen
ästhetische Theorie später Kahnweiler in seinem schönen Buch über
»Juan Gris« darstellen sollte. Picasso, Braque, Juan Gris, über-

haupt die Künstler des Bateau Lavoir, aber auch Schriftsteller wie
Apollinaire, Max Jacob und Pierre Reverdy gehörten bald zum
Kreis in der rue de Fleurus 27. Aber auch James Joyce, Cummings,
Hemingway und Thornton Wilder stießen dazu. Nun gehört es zur
ästhetischen Theorie des Kubismus, daß als Ziel der Malerei »Bil-
der« nicht »Abbilder« zu gelten hatten. Bilder als autonome koexi-
stente Kompositionen aus Farben und Formen, hinter denen die
Darstellung, die Abbildung eines Weltobjektes zurücktrat.
Gertrude Stein, die Kahnweiler mit Recht zu den kubistischen
Schriftstellern rechnet, hatte sehr bald die Absicht, das kubistische

Schema der Konstruktion eines Bildes als koexistente Komposition


aus dem Visuellen in das Verbale zu übertragen, und so begann sie,

den Text als autonome konsekutive Wortkomposition aufzufassen,


hinter dessen sprachlicher Materialität die beschriebene Wirklich-

keit oder Unwirklichkeit unwesentlich wurde. So schuf sie also

ihr berühmtes »Porträt Picasso« als materiale Wortkomposition


wie die kubistischen Maler ihre Porträts als Kompositionen aus
visuellen Elementen konstruierten. Das »Porträt Picassos« war
nicht als verbale Beschreibung Picassos gedacht, es war als verbales
Analogon zur visuellen Struktur kubistischer Bilder gedacht. Das
wissenschaftlich gewonnene Prinzip der motorischen, automatisti-
schen Sprachbewegung verfeinerte sich unter dem Einfluß der kubisti-

49
sehen Ästhetik zu einer strukturellen, musikalischen, rhythmischen,
fugenartigen Schreibweise, für die eben das »Porträt Picassos« bei-
spielhaft ist.

»Wenn ich es ihm sagte, hätte er es gern. Hätte er es gern,

wenn ich es ihm sagte. Hätte er es gern, hätte Napoleon, hätte


Napoleon, hätte, hätte er es gern.

Wenn Napoleon, wenn ich es ihm sagte, wenn ich es ihm


sagte, wenn ich es ihm sagte, wenn Napoleon. Hätte er es
gern, wenn Napoleon, Wenn Napoleon, wenn ich es ihm
sagte.«

»Wenn ich es ihm sagte, wenn Napoleon, wenn Napoleon,


wenn ich es ihm sagte. Wenn ich es ihm sagte, hätte er es
gern, hätte er es gern, wenn ich es ihm sagte.

Schlösser schließen und öffnen sich wie Königinnen es tun.

Schlösser schließen und Schlösser und so schließen Schlösser

und Schlösser und so und so Schlösser, und so schließen Schlös-

ser und so schließen Schlösser und Schlösser und so. Und so

schließen Schlösser und so und also. Und also und so und so

und also. Lassen Sie mich erzählen, was Geschichte lehrt,

Geschichte lehrt.«
Zweifellos empfand Gertrude Stein, daß dieser Text einer ihrer
wichtigsten ist. Immer wieder hat sie ihn vorgetragen, so daß er,

auf einer Sprechplatte fixiert, auch in ihrer Stimme erhalten ist. Sie

hat ihn in einer vollendeten Weise vorgetragen, derart, daß wie sein
kubistischer Konstruktivismus auch die automatistische Sprachbe-

wegung, das rhythmisierende Fugenprinzip und die psalmodierende


Akzentuierung alter syllabischer Sprechgesänge zum Ausdruck ge-

langt und die Aufeinanderfolge der Wörter und Wortstrukturen


ebenso rhapsodisch wie narrativ nur der Selbstdarstellung sprach-
licher Materialien gewidmet scheint.

Doch gibt es, wie ich bereits erwähnte, noch einen dritten Ausgangs-
punkt der Literatur Gertrude Steins.

50
Auch er hängt mit ihrer Liebe zu Frankreich und mit der Tatsache
zusammen, daß sie trotz ihrer wissenschaftlichen Ambitionen vor
allem eine künstlerische Natur war. Im Jahre 1909 publizierte
Gertrude Stein ihr erstes Buch »Three Lives«. Es handelt sich um
drei Geschichten »Die gute Anna«, »Melanctha« und »Die sanfte
Lena«. Beide, Gertrude Stein und ihr Bruder Leo, waren begeisterte
Leser Flauberts geworden und Gertrude Stein hatte sogar die
»Trois Contes« des französischen Autors übersetzt. Es steht fest,

daß Flauberts Buch Gertrude Stein zu ihrem Versuch, Erzählungen


zu schreiben, angeregt hat. John Malcolm Brinnin bemerkt in seiner
Biographie der amerikanischen Schriftstellerin, daß Flauberts Lei-
denschaft für sprachliche Genauigkeit, Harmonie der Komposition
und analytische Denkweise während des Schreibens der Vorstellung
Gertrude Steins von einem epischen Meisterwerk entsprachen. Auch
der Sinn des französischen Autors für die vitale oder existentielle
Totalität eines individuellen oder gesellschaftlichen Daseins erschien
Gertrude Stein als unerläßliche Voraussetzung möglicher eigner
epischer Konzeption. Wie ihre ersten Geschichten, die sie, wie ge-
sagt, unter dem Titel »Drei Leben« schrieb und herausgab, ist dann
ihr großer Roman »The Making of Americans«, der von 1905 bis
1908 geschrieben, aber erst 1925 veröffentlicht wurde, sicherlich
ohne das Interesse und Wohlgefallen an Flaubert nicht denkbar.
Umfang, Konzeption, Aufbau und Stellung des Romans »The
Making of Americans« innerhalb des Gesamtwerkes von Gertrude
Stein rechtfertigt eine ausführlichere Darlegung.

Diese Darlegung kann mit einem Hinweis auf den im Jahre 1925
in England gehaltenen Vortrag »Composition as Explanation«,
der 1926 publiziert wurde, beginnen. Denn dieser Vortrag, der

zweifellos ein Prinzip der Ästhetik Getrude Steins entwickelt, be-


zieht sich auch auf den im Jahr der Englandreise erschienenen
Roman, davon abgesehen, daß dieser im Vortrag erwähnt wird.

51
Offenbar will Gertrude Stein in ihrem Vortrag die Komposition
als narratives Prinzip verstehen. Das bedeutet für sie jedoch, daß
die Komposition eines Inhaltes zugleich seine Erzählung ist oder,
anders gesprochen, daß die Verwortung eines Inhaltes im stringen-
ten Sinne eine Vergegenwärtigung ist und der Sinn des Erzählens
in der Umwandlung einer zurücklaufenden Vergangenheit in die
beständige Gegenwart besteht. Epische Komposition ist die Kom-
position von Vergangenem als Gegenwärtigem. William James'
»stream of thought« verwandelt sich in ihren zentralen epischen

Begriff »continuous present«, der psychologische Prozeß des Be-


wußtseinsstromes, der die Epik der Henry James, James Joyce
und Proust kennzeichnet, schlägt um in den sprachlichen Prozeß
der »fortwährenden Gegenwart«, deren Komposition für Gertrude
Stein zur Aufgabe des Romans wird.
Jedenfalls ist »continuous present«, »fortwährende Gegenwart«
einer der zentralen Begriffe in »Composition as Explanation«.

»Danach habe ich ein Buch gemacht genannt »Wie Amerikaner ge-
macht werden« es ist ein langes Buch etwa tausend Seiten. Hier noch
einmal war alles so vertraut für mich und mehr und mehr ver-
wickelt eine fortwährende Gegenwart. Eine fortwährende Gegen-
wart ist eine fortwährende Gegenwart. Ich habe fast tausend
Seiten einer fortwährenden Gegenwart hergestellt.«

Wenn nun Gertrude Stein von der »fortwährenden Gegenwart«


im Sinne der Komposition einer fortlaufenden, dauernden, bestän-

digen Vergegenwärtigung durch Wörter spricht, dann ist es fast

selbstverständlich, daß sie Form des


dabei auf die grammatische
»Making« anspielt, die bereits im Titel ihres Romans auftritt.
Tatsächlich wird in der englischen Schulgrammatik diese Form als
»expanding form« oder als Form der »progressiv presenttense«
bezeichnet, worin »tense« so viel wie die »grammatische Zeit«
meint. Es ist die grammatische Form des Verbs, in der sich das,

52
was Gertrude Stein die »continuous present«, die »fortwährende

Gegenwart« nennt, sprachlich ausdrückt, und jeder, der einmal in


ihrem Roman geblättert hat oder überhaupt in ihrem Text las,

weiß, daß die amerikanische Autorin diese Form liebt und daß die

oft erwähnte Girlandenstruktur ihrer Texte, auch mit der An-


häufung dieser »expanding form« zusammenhängt.
»Irgendeiner der einer ist der in irgendeiner Familie lebt ist einer

der irgendetwas gesagt hat. Irgendeiner der einer ist der lebt ist

einer der irgendetwas gesagt hat. Irgendeiner der in irgendeiner

Familie lebt ist einer der noch einmal irgendetwas gesagt hat.

Irgendeiner der lebt ist einer der noch einmal etwas gesagt hat.

Irgendeiner der in einer Familie lebt ist einer der noch einmal

etwas gesagt hat.«


In gewisser Hinsicht wird mit der strukturellen Einführung dieser
Zustandsform der beständigen Gegenwart der Textfluß als Bild-

konfiguration abgefangen; die von Lessing im »Laokoon« einstmals


aufgerissenen Grenzen der Poesie gegen die Malerei, der Konseku-
tion gegen die Koexistenz, des Textes gegen das Bild werden in

einer bestimmten Grammatik der Vergegenwärtigung durch das


Wort wieder verwischt, und das Kompositionsprinzip der »con-
tinuous present« versucht den Wortfluß im Bildzustand erstarren
zu lassen.
Sicherlich ist auch darin eine Nachwirkung der kubistischen Kom-
positionstechnik im Bereich der Sprache, der Poesie und der Prosa,
zu sehen. Donald Sutherland, ein Freund und ausgezeichneter Ken-
ner der Literatur Gertrude Steins, schrieb 195 1 eine »Biographie
ihres Werks« und klassifiziert darin »The Making of Americans«
unter dem Begriffspaar »Naturalism and the Continuous Pre-
sent«. Er will damit zum Ausdruck bringen, daß in dem Roman
die Vergegenwärtigung der Dinge durch ihre Verwortung auf lin-

guistischen Strukturen basiert, in deren Gefüge, Raum und Zeit

53
eine »Union« eingehen. Der Prozeß des Daseins wird als Zustand
des Daseins dargestellt, und seit wir wissen, daß alles Ästhetische

vom Charakter des Zustandes ist, bedeutet der kompositorische


oder strukturelle Naturalismus in »The Making of Americans«
zugleich auch die Demonstration eines ästhetischen Zustandes. Es
handelt sich um einen Roman, aber nicht eines Helden, sondern

eines Themas, und das Thema umfaßt Werden und Sein amerika-
nischer Menschen und damit der Amerikaner schlechthin, also eine

Art allgemeingültiger Geschichte ihrer fundamentalen menschlichen


Typen.
»Die alten Leute in einer neuen Welt die neuen Leute aus alten
gemacht das ist die Geschichte die ich erzähle weil es das ist das
wirklich ist und was ich wirklich kenne.«
Es sind einzelne, ausgewählte amerikanische Menschen, die geschil-

dert werden. Ihr Leben, sofern es als eine Totalität, nicht als Detail
des Lebens überhaupt begriffen werden kann und ihr Dasein, sofern

es als individuelles Wesen einen Charakter und als gesellschaftliches

Wesen familiäre Beziehungen spiegelt.


»Aber nur bestimmte Männer und Frauen und die Kinder die sie

in sich haben um viele Generationen daraus zu machen werden


diese Geschichte für uns füllen von einer Familie und ihrem Fort-
schritt.«

Damit verfolgt der Roman ein historisches Interesse. Es ist ein

historischerRoman ohne historische Persönlichkeiten; ein histori-


scher Roman trivialer Persönlichkeiten, daher ist das historische
Interesse auch nur ein subjektives, kein objektives; die Geschichte

wird erzählt, nicht festgestellt, narrative Historie, die Geschichte


durch Geschichten erzählt, die nichthistorische Personen betreffen.
Der Roman ist daher auf das letzte Kapitel hin angelegt, und das
ist mit dem kennzeichenden Titel überschrieben: »Geschichte vom
Fortschritt einer Familie«.

54
Doch die Geschichte der geschilderten Personen ist keine Geschichte
von Ereignissen, sondern eine Geschichte von Charakteren. Charak-
tere werden erzählt, nicht Ereignisse. Daher werden hier Charak-
tere auch wieder nur in Beziehungen zu anderen Charakteren
sichtbar. Familien und Generationen sind solche Netze von Rela-
tionen, in denen personale Charaktere wie menschliche Typen
wahrgenommen werden können. Der Roman als Geschichte wird
zur Geschichte generierter und familiärer Charaktere.
Hegel hat in seiner »Ästhetik« den Begriff der Situation eingeführt,
um mit seiner Hilfe die Kollision als Voraussetzung der dramati-
schen Handlung und die Totalität als Bedingung der epischen
Charaktere zu beschreiben. Vom Standpunkt Hegels aus gesehen,
zeichnet sich die in The Making of Americans dargestellte Welt
fast durch Situationslosigkeit aus, dafür aber treten die Menschen
markant als epische Charaktere hervor. Es gehöre, bemerkt Hegel
über Hauptgestalten im Epos, wesentlich zu ihnen, »daß sie in

sich selbst eine Totalität von Zügen, ganze Menschen sind, und
deshalb an ihnen alle Seiten des Gemütes überhaupt und näher der
nationalen Gesinnung und Art des Handelns entwickelt zeigen.«
Eine solche epische Konzeption ihrer Hauptgestalten, Mr. Hissen,
David Hersland, Martha Hersland, Henri Dehning, Julia Deh-
ning, und der mit ihnen verbundenen Familien war genau das
Thema des Romans Gertrude Steins. Es ging ihr um die epische

Konzeption einer Handvoll Menschen in vier Familien als ameri-


kanische Charaktere im Sinne von Gründern einer neuen Welt.
»The Making of Americans« läßt erkennen wie nahe ein Roman
einem Epos stehen kann, wenn auch der von Hegel dem Epos ab-
verlangte »Weltzustand«, gewissermaßen aufgesaugt von den per-
sonalen Charakteren, hinter den Figuren und ihren Familien zu-
rücktritt. Es ist eine gekappte Form des Epos, die hier den Roman
konstituiert, würde wohl Hegel dazu bemerken. Sofern jedoch die

55
Charaktere, indem sie Kollisionen ermöglichen, stets die Quellen
dramatischer Situationen sind und Gertrude Steins Roman zwar
gänzlich auf Charaktere, aber nicht auf deren Kollision gerichtet
ist, die Ereignisse also zugunsten der Figuren ausspart, gerät der

Roman in eine merkwürdige Zwischenstellung, in das epische Kon-


Roman vom klassischen Drama
tinuum, das den klassischen trennt.

Die berühmte Bemerkung Hegels, »der Roman im modernen Sinne«


setze »eine bereits zur Prosa geordnete Wirklichkeit voraus«, wäre
im Hinblick auf »The Making of Americans« dahingehend zu er-

gänzen, daß in diesem Roman die geordnete Wirklichkeit eine

geordnete Totalität der Charaktere ist.

»Every one is doing very well being living . . .«

sagte Gertrude Stein von ihren Charakteren. Hegel, beinahe die

strukturelle Sprache der Amerikanerin vorwegnehmend, definiert

die »großen Charaktere« durch den Satz:

Sie sind das, was sie sind, und ewig dies . . .

Jeder Charakter, den Gertrude Stein in dieser Weise in ihrem


Roman hervorhebt, kann nur als existierendes Selbst verstanden
werden. Ihr Selbst ist die epische Situation, um die es der Autorin

geht, und dieses Selbst ist eine relationale Bestimmung, es existiert

im Verhältnis zu anderen, und dieses Netz von Relationen ist der


epische Weltzustand, nicht Landschaft, nicht Stadt, nicht Handlung;
die Generationen sind die zeitliche, die Familien die räumliche

relationale Umwelt. Im Ganzen eine Seinsthematik der Subjektivi-

täten in Raum und Zeit, in der gewissermaßen nur Kollisionen mit


dem Dasein als solchem, ontologische Kollisionen, Geburt und Tod,
ausgetragen werden. Vielleicht sollte man von einer gewissen Vor-
läuferschaft zur Existentialontologie sprechen, in der es für jedes

Selbst das Sein zum Anfang und das Sein .zum Ende gibt, also den
vollständigen Horizont der Zeitlichkeit.
»Irgendeiner der alt genug geworden ist wird dann ein Toter.

56
Jeder der alt genug geworden ist wird dann ein Toter. Gewiß
werden Alte Tote. Gewiß wird einer der noch nicht tot ist bevor er
alt geworden ist alt genug um ein Toter zu werden. Alte werden
Tote sein.«
Die strukturelle Sprache bezeichnet dieses Existieren fast als Schema.
Der Schematismus des Daseins im vollständigen Horizont der Zeit-

lichkeit zwingt zur strukturellen Sprache, zur ornamentalen


Schreibweise, zu einem Rapport der satzerzeugenden Phrasen, zu
Schlüsselworten, die wie »beginning«, »feeling«, »being«, »happe-
ning«, »living«, »dead«, »existing«, »again« ganze Abschnitte, gan-
ze Teiltexte des Romans bestimmen. Es ist sicher nicht falsch, den
Roman, vom Standpunkt seiner generalisierenden und strukturellen

Ausdruckweise her als einen Abstrakten Roman zu bezeichnen.


Es gibt in diesem Roman eine Reihe von formalen Merkmalen,
die den Eindruck, daß hier ein erster abstrakter Roman geschrieben
wurde, verstärken.
Im Grunde handelt es sich um einen Roman aus Teilromanen, nicht
im Sinne von Rahmenerzählungen, sondern von Ausschnitten, so
wie es Bilder gibt, aus denen man Teilbilder herausschneiden kann.
Eine Geschichte aus Geschichten wie ich schon sagte. Ein Text aus
einzelnen Kontexten. Jede der vier großen Familien, die darge-
stellt werden, bilden eine Geschichte, eine Familiengeschichte, die
als episch selbständig gedacht werden kann. Familiengeschichte als
Typus amerikanischer Familien und diese wieder aufgebaut über

der Geschichte eines typischen amerikanischen Charakters. Das


Ganze, ich meine den gesamten Roman als Ensemble der Teil-
romane, gedacht als Gründungsgeschichte einer amerikanischen Zi-
vilisation. Der Horizont der raum-zeitlichen Wirklichkeit ist gänz-
lich auf Menschen und ihre Beziehungen reduziert. Die Familie
wird als Modell dieses Horizontes einer raum-zeitlichen Wirklich-
keit menschlicher Beziehungen dargestellt. Selbst die Charaktere,

57
aus denen jede dieser Familien aufgebaut wird, sind weniger kon-
krete Charaktere als vielmehr abstrakte Personalitäten, die dem
Schema eines amerikanischen Daseinsstils unterliegen, und dieser

Daseinsstil, der so wenig Ambivalenz, aber viel Entschiedenheit

aufweist, hinterläßt im Leser den Eindruck, als würde er als ein

geschichtlich wirksames strategisches Spiel aufgebaut. Epik, Narra-


tion als ausgedrückte Strategie eines Spiels der Familien in den
Generationen. Der Text dient der Entwirrung der labyrinthischen
Verflechtung der Charaktere zu Familien und der Familien zur
Gesellschaft der Amerikaner. In diesem Sinne ist der Text auch
Plan der Untersuchung eines aus möglichen Familien konstituierten
realen Volkes; zugleich gewinnt er damit die Dimension eines in-
dividuellen und gesellschaftlichen Index der Bewußtseinslage, einer
Bewußtseinslage, die methodisch an der vitalen und intelligiblen
Generierung eines bestimmten menschlichen Daseins interessiert ist.

»Und diese vier Frauen und die Männer die sie bei sich hatten und
die Kinder geboren und ungeboren in ihnen bilden die Geschichte

für uns von einer Familie und ihrem Fortschritt. Andere Arten
von Männern und Frauen und die Kinder die sie bei sich hatten
wurden zu verschiedenen Zeiten mit ihnen bekannt; manche armen
Dinger die niemals ihren Lebensunterhalt fanden; manche die
träumten während andere einen Weg suchten um ihnen zu helfen;
manche deren Kinder mit ihnen zugrunde gingen; manche die über-

legten und überlegten und dann stiegen ihre Kinder durch sie zur
Größe auf; und manche von all diesen Arten von Männern und
Frauen und den Kindern in ihnen werden helfen die Geschichte zu
bilden von dieser Familie und ihrem Fortschritt. Unsere Mütter
Väter Großmütter Großväter in der Geschichte und in den Ge-
schichten all die anderen sie alle sind immerzu kleine Babys die
alteMänner und Frauen werden oder wie Kinder für uns.
Nein, alte Generationen und vergangene Zeiten haben niemals

58
erwachsene junge Männer und Frauen gehabt. So lange her war
das sie müssen alt gewordene Männer und Frauen sein oder wie
Babys oder wie Kinder. Nein die können wir niemals als erwach-
sene junge Männer und Frauen fühlen. Das sind nur wir selber

und unsere Freunde mit denen wir gelebt haben.«

Vor allem im letzten Teil des Romans, der den Titel »History of a

family's progress« trägt, fällt das Verschwinden konkret benannter

oder beschriebener Figuren auf. Es ist nicht mehr von Mrs. Hers-
land, von Julia Dehning, von Martha, Frank oder Helen die Rede,

sondern, wenn von Personen gesprochen wird, und es wird ja

beständig von ihnen gesprochen, werden sie durch unbestimmte


Pronomen wie »any one«, »many«, »very many«, »not every«,
»some one«, »each one«, »all«, »ones« und dergleichen eingeführt.
Logisch gesehen fungieren diese grammatischen Ausdrücke wie die
sogenannten Quantoren »alle«, »einige« oder »nur ein«, die den
Umfang der Menge von Substantiven bzw. grammatischen Sub-
jekten bestimmen, auf die eine prädiktive Aussage zutrifft oder
nicht zutrifft.

»Manche tun manches.


Irgendeiner tut manches.
Nicht jeder ist ein Toter geworden,
Jeder der lebt versteht nicht alles.«
Mit solchen quantifikatorisch den Umfang des Zutreffens oder
Nichtzutreffens eines Prädikats bestimmenden Sätzen wird die
Familienwelt nicht inhaltlich, personell auf der Ebene der vitalen
Gesellschaft dargestellt, sondern auf der seinsthematischen, onto-

logischen Ebene. Es geht gewissermaßen jetzt nicht mehr darum zu


sagen, wer so ist, sondern einfach, daß etwas ist, das so ist oder
nicht so ist. Quine, der amerikanische Logiker, hat einmal, nach
einem Kriterium für Existenz gefragt, geantwortet, »Sein« sei

nichts anderes als der Wert einer Variablen »sein«, »to be is to be

59
the value of a variable«. Mir scheint, daß Gertrude Stein im
Schlußkapitel ihres Romans diese seinsthematische Ebene ihres epi-

schen Themas erreicht hat.

Diese Entwicklung des Inhalts des Romans von einer epischen

Thematik (amerikanische Charaktere in amerikanischen Familien)

zur ontologischen Thematik zeichnet das Werk aus. Das letzte

Kapitel stellt sozusagen die seinsthematische Quintessenz des Ro-


mans dar, eine Art narrativ erzeugter Konklusion, die das Spezielle
im Allgemeinen, das Epische im Ontologischen abfängt.
Diese Prosa - des letzten Kapitels des Romans -, die wesentlich aus
Existenzsätzen besteht, aus Sätzen, die lediglich die Existenz oder
Nichtexistenz gewisser Handlungen gewisser Personen behaupten,
kann als generalisierende Prosa bezeichnet werden. Da diese Prosa

gleichwohl berichtenden, erzählenden Charakter besitzt, wäre auch


von generalisierender Epik zu sprechen. Es sind vor allem syntak-
tische Sprachmittel, die zu ihrer Schreibweise notwendig sind, also

sprachliche Partikel, sogenannte synkategorematische Wörter, die


außer der Eigenschaft, daß sie sprachliche Verbindungen zwischen
den Wörtern herstellen, nichts bezeichnen, die also nur eine inner-
sprachliche, keine außersprachliche Rolle spielen. Diese synkate-

gorematischen Schemawörter, die in »The Making of Americans«,


denkt man an das abschließende Kapitel, den Sprachfluß dirigieren,
lassen zwangsläufig von syntaktischer Narration sprechen, die na-

türlich der bereits hervorgehobenen strukturellen Textkonzeption


dienlich ist.

Wenn Epik eine Form sprachlicher Darstellung ist, bezieht sie sich

auf darstellbare Welt, die real oder fiktiv aus Charakteren, Dingen,
Ereignissen, Handlungen, Gefühlen, Ideen usw. besteht. Nun zeich-

net sich »The Making of Americans« dadurch aus, daß das Erzählen
sich gelegentlich nicht mehr auf die darstellbare Welt, sondern auf

die Darstellung, also nicht auf die sprachliche Außenwelt, sondern

60
auf die sprachliche Eigenwelt bezieht. In diesen Fällen sprechen
wir von Meta-Epik.
»Ich schreibe für mich selbst und Fremde. Das ist die einzige Art
für mich es zu tun. Jedermann ist wirklich für mich jedermann ist

wie jemand anderes für mich. Niemand von denen die wissen kann
es zu wissen wünschen und so schreibe ich für mich und Fremde.
Da gibt es dann bald viel Be-schreibung von jeder Art die man sich

vorstellen kann von Männern und Frauen in ihrem Anfang in ih-

rem mittleren Leben und ihrem Ende. Jedermann ist dann ein

Individuum. Jedermann ist dann wie viele andere die leben es

gibt viele Arten an jedermann zu denken und da gibt es nun eine

Beschreibung von allen. Da ist dann eine ganze Geschichte von


jedem vorhanden. Da gibt es dann eine Beschreibung von jeder
Wiederholung. Nun will ich all das was es für mich bedeutet in
Wiederholung erzählen. Die Liebe die ich am Wiederholen habe.«
Die meta-epischen Passagen des Romans beziehen sich, wie man
erkennt, auf die Art der Darstellung und auf die Welt der Dar-
stellung. Auch die Autorin wird einbezogen, und solche Stellen
deuten selbstverständlich den starken autobiographischen Ge-
halt der dargestellten Welt an. Die Geschichte der dargestellten
Familien ist stets auch Geschichte der Familie, aus der Gertrude
Stein stammt. Die dargestellte Welt ist immer auch die Welt der
eigenen Erfahrung.
Die Vorlesungen, die Gertrude Stein in England und vor allem in
Amerika gehalten hat, letztere kamen unter dem Titel »Lectures in

America« heraus, lassen die ästhetischen und poetischen Auffassun-


gen der Autorin deutlich hervortreten. Was im Zusammenhang mit
ihren theoretischen Darlegungen zur Kenntnis ihrer Texte besonders
wichtig und interessant ist, ist die scharfe linguistische Trennung,
die sie zwischen Poesie und Prosa macht. Poesie ist für Gertrude
Stein in erster Linie eine Sprache, die aus Substantiven besteht,

Prosa hingegen wird vor allem von den Verben getragen.

61
»Poesie ist ich sage es vor allem Wortschatz gerade so wie
Prosa es grundlegend nicht ist . . . Es ist ein Wortschatz ganz
und gar auf dem Substantiv beruhend wie Prosa wesentlich
und entschieden und kraftvoll nicht auf dem Substantiv be-
ruht.«
Von dieser Unterscheidung aus erläutert sie den Begriff Prosa etwa
folgendermaßen
»Nun wenn es das ist was Prosa ist und das ist unzweifelhaft
das was Prosa ist, können Sie sehen daß Prosa wirkliche Prosa
wirklich große geschriebene Prosa unbedingt mehr aus Verben
Adverbien Präpositionen präpositionalen Nebensätzen und
Konjunktionen gemacht ist als aus Substantiven.«
Wie der Satz, so ist auch der Absatz wesentlich am Bau der Prosa
beteiligt.

»Prosa ist das Gleichgewicht das emotionale Gleichgewicht das die


Realität von Absätzen macht und das nicht emotionale Gleichge-

wicht das die Realität von Sätzen macht und wenn man sich klar

wurde vollständig klar wurde daß Sätze nicht emotional sind


während Absätze es sind, kann Prosa das grundlegende Gleich-
gewicht sein das innerhalb von etwas gebildet wird das den Satz
und den Absatz verbindet . . .«

Man erwartet förmlich, daß Gertrude Stein in diesen »Lectures«


auch von »The Making of Americans« spricht, von diesem ihrem
Hauptwerk in Prosa. Tatsächlich charakterisiert sie das Werk dann
auch vom Standpunkt ihrer Prosakonzeption.
»In »Wie Amerikaner gemacht werden« einem langen, sehr langen
Prosabuch bestehend aus Sätzen und Absätzen und dem neuen
Etwas das etwas war was weder der Satz noch der Absatz jeder
allein oder zusammen je getan hatten, sagte ich ich sei Substantive
und Adjektive so viel als möglich losgeworden durch die Methode
in Adverbien in Verben in Pronomina zu leben, in adverbialen

Nebensätzen geschrieben oder angedeutet und in Konjunktionen.«

62
Diese poetologischen oder texttheoretischen Überlegungen ergänzen
natürlich die allgemeineren kompositionstheoretischen in »Compo-
sition as Explanation«.
Aber vielleicht lassen erst die Bemerkungen, die Gertrude Stein
gelegentlich über den Zusammenhang zwischen Film und ihrer Prosa
macht, von einer Textästhetik dieser Schriftstellern sprechen. In
den »Lectures« findet sich ein besonderer Essay, der dem Problem
ihrer Schreibweise vom Standpunkt des Filmischen aus unter
dem Titel »Porträts und Wiederholung« gewidmet ist. Der Essay
beginnt wiederum mit dem kompositioneilen Problem in »Com-
position as Explanation« um dann sogleich die Frage der »Wieder-

holung« im Unterschied zur »Beharrung« aufzurollen, eine Frage,


die ihrer Meinung nach bei der Abfassung eines sprachlichen Por-
träts, wie sie schrieb, immer wieder zur Erörterung stünde. Im
Verlauf der Darlegung findet sie dann eine filmische Auffassung
von ihrer Prosa in »The Making of Americans«
»Ich tat was der Film tat, ich machte
eine unaufhörliche Folge von der Darstellung dessen
was jene Person war bis ich nicht viele Dinge hatte
sondern ein Ding . . .

Sie sehen nun was ich tat als ich begann


Porträts zu schreiben und Sie verstehen

auch was ich meinewenn ich sage es gab


da keine Wiederholung. Im Film sind nie
zwei Bilder gleich jedes ist gerade um
etwas verschieden vom vorhergehenden, und
so gab es in jenen frühen Porträts, wie sie

sicher begreifen werden wenn ich sie Ihnen


vorlese ebenso wie in The Making of Americans
keine Wiederholung.«

63
Man tut vielleicht gut, »The Making of Americans« zum Ver-
ständnis ein anderes Werk Gertrude Steins gegenüberzustellen. Sie
selbst hat den Roman immer wieder mit den kleinen »Texten« in
»Tender Buttons« verglichen, einem wenig umfangreichen Werk,
das aus höchst merkwürdigen, meist kurzen Texten besteht und
das kurz nach der Fertigstellung von »The Making of Americans«,
also nach 19 10, geschrieben wurde. »Tender Buttons«, die »Zärt-
lichen Knöpfe« erschien übrigens bereits 19 14, während »The Ma-
king of Americans« 1925, und zwar in Frankreich herauskam.
Der Roman war für Gertrude Stein ein Prosaproblem, langzeilige
Sätze und Kon-Sätze, wie man sagen sollte, über Verben aufzu-
bauen. In »Tender Button« hingegen sollte es jedoch um Poesie
gehen, um Poesie, die nach ihrer Theorie wesentlich aus Substanti-

ven aufgebaut würde. Nun sollte es sich aber in beiden Fällen,


inhaltlich gesehen, um »Porträts« handeln; in »The Making of
Americans« um das »Porträt« gewisser amerikanischer Familien
und Charaktere und in »Tender Buttons« um das »Porträt« von
einfachen, alltäglichen »Dingen«.

Gertrude Stein hat, sich selbst kommentierend, ohne dabei »unter


ihr Niveau« zu gehen, mehrfach zu dieser Aufgabe Stellung ge-

nommen, vor allem in den »Lectures«:


»So also machte ich in »Tender Buttons«
Poesie aber und es beunruhigte mich
ernsthaft, dumpf wußte ich daß Sub-
stantive Poesie machen aber in Prosa brauchte

ich nicht länger die Hilfe von Substantiven


und brauchte ich in Poesie die Hilfe von
Substantiven. Gab es nicht eine Art Dinge
mit Namen zu nennen die nicht Namen er-

finden würde, sondern Namen meinte ohne


sie zu nennen.

64
Ich war immer sehr beeindruckt seit meiner
frühesten Jugend als man mir erzählte und ich

es dann später selber fühlte daß Shakespeare


mit dem Wald von Arden einen Wald geschaffen

hatte ohne die Dinge zu erwähnen die einen

Wald machen.
Ich kämpfte ich kämpfte verzweifelt mit der
Wiedererschaffung und der Vermeidung von Sub-
stantiven als Substantive und doch während
Poesie Poesie ist, sind Substantive Substantive.«
»Tender Buttons« besteht aus drei thematischen Teilen, deren ein-

zelne Texte als »Objects«, »Food« und »Rooms« zusammengefaßt


sind. Charakteristisch für »Objects« scheint mir folgender Text zu
sein, der den Titel »A Dog« trägt, aber den »Hund« namentlich
ausspart, ihn vielmehr in einem Kontext »porträtiert«, der durch
die Substantive »Affe« und »Esel« und die Verben »gehen« und
»Seufzen« gebildet wird. Vielleicht sagt man wiederum genauer,
daß das namentliche Wort »Hund« lediglich durch gewisse Kon-
wörter, die einen Kontext bilden, namentlich ersetzt wird, um zu
einem Text für »Hund«, nicht über den Hund zu gelangen.
»A Dog. A little monkey goes like a donkey
that means to say that means to say

that more sighs last goes. Leave with is.

A little monkey goes like a donkey.


(Ein kleiner Affe geht wie ein Esel das
heißt das heißt was mehr seufzt, geht

schließlich. Laß es dabei. Ein kleiner


Affe geht wie ein Esel.)«
Offenbar interessiert an diesen Texten zunächst nicht die Syntax,
sondern die Semantik. Es sind semantische Texte, und die Semantik
ist eine Frage des Zusammenhangs von Wörtern des Kontexts, der

65
wiederum aus Konwörtern, aus Mitwörtern aufgebaut wird, und
Gertrude Stein demonstriert, daß auch ein solcher Kontext die
Rolle eines Namens übernehmen kann.
Sie vertritt diese linguistisch begründbare Auffassung so konse-
quent, daß das »Objekt«, hier der »Hund«, keine außersprachliche
Realität mehr besitzt, sondern nur noch eine innersprachliche, es

ist gänzlich zum Textobjekt geworden, das nur sprachliche Realität,


materiale Textrealität besitzt, ähnlich wie ein industrielles Design-
objekt nur im Rahmen einer Gebrauchsfunktion materiale Reali-

tät hat. Francis Ponge, der französische Autor, der gewisse Be-
rührungspunkte mit der Textkonzeption Gertrude Steins besitzt,

über die gleich noch ein paar Worte zu sagen sind, spricht in diesem
Falle gern von »materialisme semantique.«
Solche Texte wie in »Tender Buttons« sind deshalb Texte hoher
ästhetischer Mitteilung, weil sie einen hohen Grad konwortlicher
und kontextlicher Unwahrscheinlichkeiten besitzen; sie sind als

Ganzes höchst singulare Super-Zeichen, sehr preziös und fragil,

daher wenig geeignet zur Kommunikation, weder zur Kommuni-


kation im Sinne des Verständnisses noch zur Kommunikation im
Sinne der Übertragung.
Man bemerkt hier, daß Gertrude Stein nicht nur die syntaktische

Dimension der modernen Literatur erweitert hat und kreativ aus-


nützt, auch das, was wir eingangs dieser Betrachtung die semanti-

sche Freiheit der modernen Schreibweise nannten, erfährt in »Ten-


der Buttons« eine Bereicherung, die weit über Kafka hinausgeht.
In dem Teil, der in »Tender Buttons« mit »Food« überschrieben ist,

findet sich ein Text mit dem Titel »Eating« (Essend) und darin die
Zeile

»Is it so, is it so, is it so,

is it so is it so is it so.«

66
Die sich wiederholenden Kau- und Schluckbewegungen während
des »Eating« werden durch eine strukturelle Anordnung dreier aus

drei gleichen, einsilbigen Wörtern bestehenden Phrasen dargestellt

und damit bezeichnet. Das Weglassen der Kommas zwischen den


dreiwortigen Phrasen nach den ersten drei Phrasen bringt das
Schnellerwerden oder das Vernachlässigen der Eßbewegung wäh-
rend des Essens zur Darstellung. Eine solche Form des Textes kann
als Konkrete Poesie bezeichnet werden, als die poetische Vertex-
tung eines Sachverhaltes, als Sprache, die die verbale, akustische und
visuelle Materialität dieses Mediums gleichermaßen ausnützt.
In einem anderen Text, überschrieben mit »Chicken« (Kücken)
heißt es:
»Stick stick call then, stick, stick sticking,
sticking with a chicken, Sticking in a extra
succession, sticking in.«

Auch hier handelt es sich um eine semantische Materialität der

Sprache und der Poesie, aber stärker verschoben in Richtung eines


Lautgedichtes. Tatsächlich hat Gertrude Stein nicht nur die heutige
Konkrete Poesie, sondern auch das moderne Lautgedicht, wie es

etwa Ernst Jandl in »Laut und Louise« publiziert hat, beein-


flußt.

Ich wies in diesem Zusammenhang bereits auf Francis Ponge hin.

Er ist einer der wenigen bedeutenden gegenwärtigen Autoren


Frankreichs, der durch seine Vorliebe für den berühmten malher-
beschen Akademismus in der Literatur nicht daran gehindert wurde,
syntaktische und semantische Innovationen in der Sprache, in Poe-

sie und Prosa zu erproben. Er ging schon in den frühen Texten


»Le Parti Pris des Choses« von der Einsicht aus, daß noch in jedem
simplen Gegenstand eine endlose Menge ungesagter Sätze stecken,

die der Schriftsteller auszusagen hätte. Zweifellos ist diese Inten-

tion auch geeignet, die Texte Gertrude Steins in »Tender Buttons«

67
wenigstens was ihre Entstehung, ihre Ansicht angeht, verständlich
zu machen. Die Vorliebe für die kubistische Malerei, die bei Ponge
auf Braque und bei Gertrude Stein auf Picasso und Gris konzen-
triert ist, könnte als Begründung der losen kreativen Nachbar-
schaft gelten. Bei beiden Autoren entspricht dem kubistischen »Bild-
objekt« das konkrete »Textobjekt«.
Ich komme zum Schluß meiner analytischen Betrachtungen über die
Texte Gertrude Steins. Ich hob »The Making of Americans« und
»Tender Buttons« deshalb hervor, weil diese beiden Werke am
deutlichsten die poetologischen, texttheoretischen und ästhetischen

Errungenschaften unserer Autorin bezeichnen. Es handelt sich zwei-


fellos um eine Art Literatur, die der technischen Realität unserer
Zivilisation entspricht. Das Technische der Sprache liegt ja vor-
wiegend in ihren syntaktischen Möglichkeiten. Daher geht die

gegenwärtige Beschäftigung mit der Sprache geradezu von einer


neuen, höchst technischen Konzeption der Grammatik und der
Syntax aus. Darüber hinaus aber wird gerade durch die dichterisch

oder wissenschaftlich gewonnene Erweiterung und Erneuerung der


syntaktischen Momente der Sprache Linguistik als Feld des Experi-
ments gewonnen. Gerade mit Gertrude Stein wird der Begriff des
Experiments zu einem Begriff der Literatur, der Sprachkunst. Im
Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnis war er es schon immer.
Der Begriff des Schöpferischen wird fast austauschbar mit dem
Begriff des Versuchs. Gertrude Stein hat selbstverständlich die
metaphysische Weltkonzeption im Künstlerischen genauso hinter
sich gelassen wie die Wissenschaft die technische Realität, die sie

auf ihren theoretischen Grundlagen errichtet, und es scheint sich

die Vermutung Nietzsches zu bestätigen, daß die »antimetaphysi-

sche Weltbetrachtung« eine »artistische« hervorruft.

68
Die pantomimische Funktion der Sprache

Ernst Jandl schreibt Lautgedichte. Die Sprache ist für ihn lingui-

stisch und poetisch vor allem als Laut interessant, also auf der

ersten Stufe ihrer sinnlichen Wirklichkeit gegenwärtig. Manchmal


entwickelt sich der Laut zu einem Gefüge aus Silben und Morphe-
men. Dann erreicht sie die kleinsten Bedeutungsträger oder es wird
sogar ein Wort, eine verstümmelte oder vollständige Aussage dar-
aus. Aber entscheidend für die schöpferische Bearbeitung ist das
Element, der klangreiche Stumpf, verkettet oder isoliert, musika-
lisch oder bloß sonor, trivial oder aggressiv, stets planmäßig, voller
phonetischer List, Ranküne, Scherz, Humor oder Ironie.

In den »Szenen aus dem wirklichen Leben«, die, mit einer Musik
von Ernst Kölz, 1966 bei Gelegenheit der »Wiener Festwochen«
aufgeführt wurden, gewinnen diese aufgelösten Texte einer ebenso
reduzierten wie komplexen linguistischen Konstruktivität sogar
eine dramatische Dimension.

Jede Sprache breitet ihre Bedeutung intentional und extensional


aus. Sie besitzt immer eine rhetorische und eine theatralische Funk-
tion, die im dramatischen Text ausgenützt werden. Auch Ernst
jandls lautliche Sprachstümpfe und Satzreste verbergen natürlich
nicht ihre rhetorische und theatralische Möglichkeit. Auf der Bühne
verwandelt sich daher der dramatisch gegliederte Lauttext in ein
Lautspiel. Die Sprecher sind im wahren Sinne des Wortes Laut-
sprecher und als solche Sprechspieler. Denn die Bedeutungen der auf
Sprachrümpfe reduzierten Sprache gewinnen nicht mit dem Spre-
chen ihren Ausdruck, sondern müssen gespielt werden. Es muß
einkalkuliert werden, daß hier die Sprache neben ihrer rhetorischen

und theatralischen Funktion sichtbarlich, hörbar noch eine weitere

besitzt, eine pantomimische Funktion. Schärfer gesagt, wenn die

69
Sprache wie im Lautgedicht auf phonetische Elemente reduziert
ist, kann ihre theatralische Funktion primär keine andere als die

pantomimische sein. Was gehört werden kann, sind linguistische


Gesten, und solche Gesten können nur in der Wiederholung, in der
verstärkend oder abschwächenden Wiederholung, und zwar pri-
mär in einem akustischen Raum dramatisch manipuliert und thea-
tralisch wirksam werden.
Das gehört zum Prinzip der materialen Einheit der ästhetischen

Sphäre, gegen das gerade in diesem Falle, wenn es weder Figuren


noch Ereignisse in dieser Einheit des Ortes, der Zeit und der Hand-
lung gibt, nicht leichtfertig verstoßen werden kann.
Es werden also nicht Charaktere und Vorgänge gespielt, sondern
linguistische Elemente, Laute, Morpheme, Wörter, Satzteile im
primär akustischen, nicht optischen Raum. Das Sprechspiel gehört
keinem Ereignisraum, sondern einem Wortraum an. Das Spiel ge-

hört nicht zum Sprechen, es ist seine komplementäre andere Seite.

Es interpretiert nicht das Gesprochene, sondern verschluckt es gänz-


lich. Es dient also weniger der semantischen Intention als der kine-
tischen Extension. Es verleiht den linguistischen und phonetischen
Elementen erst sichtbarlich den pantomimischen Rang, indem es

selbst pantomimisch vollzogen wird. Das Pantomimische ist ein

Bewegungszustand, der der Trägheit das Wenigste überläßt,


(während mi, f sich einander nähern, schließlich einander bei der
hand nehmen, wie zum eheversprechen, zuletzt mz von hinten
feierlich hinzutritt, feierlich seine rechte über die beiden vereinigten
rechten hände legt) mi : nein
f : nein
mi : nein
f : nein
mi : nein
f : nein
mi : nein

70
Das Sprechspiel reproduziert also in erster Linie den Sprachkörper.
Die Bewegungen haben die Aufgabe, Vorstellungen zu erzeugen,
die zum Sprachkörper führen. So wie die Dinge, die man sieht,
ihren Namen einfallen lassen, der falsch, entstellt, irreführend, ver-
wechselnd, verfremdend sein kann. All dies gehört der pantomimi-
schen Funktion der Gestik wie der Sprache an und bestimmt die

dramaturgischen und theatralischen Momente innerhalb ihrer mate-


rialen Eigenwelt.

f : in die effnung vier dein glied ein glicklich zu sein

(immer rascher)
mi : glick

m2 : glick

mi : glick

m2 : glick

mi : glick

mz : glick

mi : glick

mi : glick

mi : glick

mi : glick

mi : glick

m2 : glick

mi : glick

Es gibt Fälle, in denen die dialogische Gegeneinandersetzung des


Lautmaterials zugleich als Erzeugungsprinzip und Entstellungsprin-
zip einer Wortvorstellung dient.
m2 : babba
mi : babba
m2 : toobaba
mi : toobaba
m2 : tohuubaba

71
mi : tohuubaba
mi : tohuwaababa
mi : tohuwaababa
1112 : tohuwaboobaba
mi : tohuwaboobaba
1112 : tohuwabohuubaba
mi : tohuwabohuubaba
m2 : tohuwaboobaba
mi : tohuwaababa
m2 : tohuubaba
mi : toobaba
mz : babba
Der Dialog erscheint dabei als ein hochredundanter, fast symmetri-

scher phonetischer Transformationstext mit ansteigender und ab-


fallender Silbenzahl über drei Vokalen und vier Konsonanten.
Die pantomimische Funktion ist natürlich eine imitative. Die »mo-
ritat«, die Ernst Jandl in seinen »szenen aus dem wirklichen leben«
einfügt und die auf ein entsprechendes Mord-Lautereignis Bezug
nimmt, imitiert sprachlich die klassische Moritat in zwölf vier-
zeiligen Strophen mit üblichem Rhythmus und Metrum. Das Prin-
zip der pantomimischen Imitation der klassischen Moritat und ihrer

Mordgeschichte beruht hier auf einer konsequenten Reduktion der


Erzählung bis auf jene sprachlichen Elemente, die gerade noch nö-
tig sind, um den »Paternoster-Stil« des Leierkastens zum Aus-
druck zu bringen. Die Technik der Variation verläuft so, daß die

Strophe, die über den acht Wörtern »die, der, das, taten, waren,
tun, sah, war« aufgebaut ist, zwölf Mal wiederholt wird.
m2 : die der das taten waren
der die das taten war
der die das tun sah war
das die der taten war
usw.

72
Übrigens wird mit dieser »moritat« Ernst Jandls auch deutlich,
daß sich die Technik des Lautgedichtes zwanglos mit der Technik
Gertrude Steins verbinden läßt.

Man unterscheidet heute gern zwischen »analogen« und »digitalen«

Sprachen, zwischen Sprachen, die das, was sie sagen imitativ sagen,
und Sprachen, die in Urteilen, also in Ja-nein = Entscheidungen
sprechen. Dabei wird, etwa von Benoit Mandelbrot, darauf hinge-
wiesen, daß die modernen Zivilisationssprachen in zunehmendem
Maße digital gebaut sind. Die Zivilisation der Technischen Reali-
tät unserer Welt beruht vorwiegend auf einem digitalen sprachli-

chen Kommunikationsschema, nicht auf einem analogen. Wir spre-

chen in Sätzen, die wahr oder falsch sein können, nicht in Metaphern,
die eine abbildende Funktion haben. Zweifellos gehört die redu-
zierte Sprache des Lautgedichts und die gesamte imitative und
pantomimische Sprachfunktion, die Ernst Jandl szenarisch ent-
wickelt hat, dem analogen Sprachtyp an, und zwar in hoher Voll-
endung.
Auch jede Art von Spiel beruht auf einer Kommunikation, zu deren
Schema die Imitation gehört. Daher verläuft die pantomimische
Sprachfunktion wesentlich als Spiel und gehören Sprachspiele und
Sprechspiele dem analogen Sprachtyp an.

73
Die Gedichte der Maschine der Maschine der Gedichte
Über Computer-Texte

Darf man einen Versuch über moderne Literatur mit Friedrich


Schiller beginnen? - Ich denke: Ja. Denn Schiller ist darin unser

Zeitgenosse, daß er nicht nur ein gewaltiger Praktiker der Literatur


gewesen ist, sondern als gründlicher Theoretiker auch ihre bestän-
dige Reflexion verlangte. Die theoretische Lage literarischer Praxis
das ist heute allenthalben ein ebenso intellektuelles wie existentiel-
les Problem der Schriftsteller und es war offenbar auch das Problem
Schillers, als er den berühmten Essay »Über naive und sentimen-
talische Dichtung« schrieb, der 1795 erschien. Genau diese Unter-
scheidung ist es, die wieder diskutiert wird, wenn heute kritisch

Poesie mit reflektiertem Weltverhältnis gegen Poesie mit unreflek-


tiertem Weltverhältnis, wenn politische Lyrik gegen kulinarische,
wenn engagierte gegen private Poesie ausgespielt wird.
Auf der Mauer stand mit Krei- Trinke dich satt in deiner Vase!
de: Sie wollen den Krieg Ruhe sanft,
Der es geschrieben hat Kleine Aster!
Ist schon gefallen. (G. Benn)
(B. Brecht)

Dennoch reicht dieser über der Unterscheidung zwischen reflektier-


tem und nichtreflektiertem Weltverhältnis verstandene Begriff von
Dichtung nicht aus, die tatsächlichen Möglichkeiten und Phänomene
moderner Poesie zu erfassen.

Die durch Schiller hervorgerufene Möglichkeit der Unterscheidung


bleibt darin klassisch, daß sie in jedem Falle auf eine Art der Poesie
abhebt, die als sprachliche Aktion auf außersprachliche Objekte,
auf Welt, bezogen ist. Es handelt sich, wie man sagen könnte, um
objektsprachliche Poesie. Nun hat sich aber innerhalb der modernen

74
Literatur, in einem Raum, dessen Dimensionen etwa durch Mai-
land, Gertrude Stein und durch Dada bestimmt werden könnten,
eine Poesie entwickelt, der ein Bezug auf die Welt relativ gleich-

gültig ist und die auch nicht die Widerspiegelung gewisser Gefühle

eines lyrischen Ichs zum Ziel hat, deren sprachliche Handlungen


vielmehr ausschließlich auf die Mittel der Sprache selbst, auf Wör-
ter, Bilder, Phrasen, Sätze und dergleichen bezogen sind und die
als innersprachliche, als metasprachliche Poesie bezeichnet werden
kann.
Aber noch in einem weiteren Sinne reicht für diese innersprachliche,

metasprachliche Poesie der klassische Begriff nicht aus. Ihr Schöp-


fungsbegriff kann nicht mehr durch den Begriff einer intuitiven

Einbildungskraft gedeckt werden; die literarische Fähigkeit voll-


zieht sich vielmehr unter der Kategorie des Experiments. Trans-

klassische Poesie, die fast ausschließlich im Medium der Sprache


selbst entsteht, ersetzt die intuitive Einbildungskraft durch experi-
mentelle Einbildungskraft: das lyrische Ich ist wesentlich experi-
mentelles Ich.
Es ist auch hervorzuheben, daß die experimentelle Literatur den
klassischen Unterschied zwischen Poesie und Prosa, den Hegel in

seiner »Ästhetik« noch als fundamental ansah, mindestens ver-


wischt hat und dementsprechend ihre sprachlichen Produkte gern
einfach als »Texte« bezeichnet.

Heissenbüttels »Textbücher« bilden ein Beispiel dafür, wie wichtig


der heutigen Literatur dieser Begriff in seiner Funktion, den Gegen-
satz zwischen Poesie und Prosa durch einen Oberbegriff zu neu-
tralisieren, bereits geworden ist. Andererseits zeigt der Terminus
»Texttheorie«, der vielfach an Stelle des klassischen Ausdrucks
>Poetik< getreten ist, obwohl er weit umfassender ist, daß der Be-
griff »Text« neben dem alten philologischen auch einen ästhetischen
Rang gewonnen hat, weil er eben das Moment des Experimentellen

75
und Technologischen im Verhältnis zu den Begriffen »Poesie« und
»Prosa« stärker zu betonen scheint.
Gelblampe Lampenkreis offen sich offen und dann:
umdunkelt: dunkelt um um das dunkle Rundume wie
Gitter gegittert: offengittrig wie offen gemacht zu sehend
gründend und das: dahinter das hintergegründete: Lampen-
gelb Lichtschalter: mich Lichtschalter eingegittert
auf gitternd mich lampenoffen: und dies: ja nun auf denkend
auf kümmernd dies ja nun aufgeblüht lampenblähn: dies
ja nun lampenblühn: Blende mich lampengelb gilbend und
dies ja: vergilbte

Man muß sich fragen, wie der Begriff des Experimentellen im


Zusammenhang mit dem Literarischen zu verstehen sei. Sicherlich

bedeutet experimentelle Produktion von Texten soviel wie plan-


mäßige oder methodische Erzeugung. Damit wiederum ist gesagt,

daß es sich um eine Schreibweise handelt, die durch bestimmte

theoretische Vorentscheidungen, die nicht den Inhalt, sondern eben

die Sprache betreffen, gelenkt wird. In diesen theoretischen Vor-


entscheidungen liegt der Charakter des Versuchs, also die Erpro-
bung von neuen sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten.
Es ist nun leicht einzusehen, daß die versuchten sprachlichen Mög-
lichkeiten in starkem Maße von der wissenschaftlichen Erforschung
der Sprache und ihren ästhetischen Zuständen abhängig ist. Da nun
diese in den letzten Jahrzehnten erfolgte theoretische Erhellung
sprachlicher Ausdrucksmittel in den stark mathematisch orientier-

ten Disziplinen der Linguistik, Semiotik, Informationstheorie und


abstrakten Ästhetik betrieben wurde, konnte es nicht ausbleiben,

daß die experimentellen Schreibweisen auch durch mathematische,

informationstheoretische, kurz durch kybernetische Vorstellungen


beeinflußt worden sind. Auf diese Weise kam es nicht nur zur Ein-
beziehung der datenverarbeitenden Rechenanlagen in die analyti-

76
! sehe, sondern auch in die synthetische Texttheorie, die sich auf der
Basis der analytischen Ergebnisse mit der künstlichen Textsynthese,

also mit der maschinellen Erzeugung von Texten beschäftigte. Da-


von soll nun hier die Rede sein, und so ist auch der metaphorische
Titel »Geburt der Poesie aus dem Geist der Maschine« zu ver-
stehen.

Zunächst scheint es mir wichtig zu sagen, was hier unter Text ver-
standen werden soll. Unsere Definition geht auf Wilhelm Fucks
zurück, der als Mitbegründer der modernen Texttheorie unter
Text eine gegliederte Menge von Elementen, also von Wörtern
versteht. Diese Definition sieht natürlich von den Wörtern als
Bedeutungsträgern völlig ab und faßt sie nur als schreibbare oder
sprechbare linguistische Gebilde, sozusagen als pures sprachliches
Material auf. Wir sprechen daher von einem materiellen Begriff von
Text und materialer Texttheorie. Das erleichert die Anwendung
mathematischer Verfahrensweisen. Die Verschiedenheit der Wörter
braucht nämlich jetzt nicht mehr durch ihre Bedeutung angegeben
zu werden, sondern durch ihre quantitative oder numerische Be-
schaffenheit, etwa durch ihre Silbenzahl oder ihre Länge, das heißt
durch die Anzahl der Buchstaben, aus denen sie bestehen.
Dies vorausgesetzt, kann man sofort diese Beziehungen zwischen
Wörtern und Zahlen ausnützen, um auf Texte Methoden der
Mengenlehre, der Algebra und der Statistik anzuwenden, und von
Textmengenlehre, Textalgebra und Textstatistik sprechen. Die Text-
algebra, aufbauend auf dem Begriff des Textes als Wortmenge,
beschäftigt sich mit allen zahlenmäßigen Beziehungen, die zwischen
solchen Wortmengen bestehen. Die Textstatistik interessiert sich
insbesondere für die Gliederung der Textmengen, also für die Ver-
teilung der durch verschiedene Silbenzahligkeit numerisch bestimm-

ten Wörter über einem Text oder auch im Verhältnis zur entspre-
chenden Gliederung bzw. Verteilung, die ein anderer Text zeigt.

77
Jedenfalls sind gerade textalgebraische und textstatistische Vor-
stellungen Voraussetzungen für das kybernetische Experimentieren
mit Texten oder, wie man genauer sagen muß, für die Versuche,
mit Hilfe von Maschinen oder, wie man wiederum genauer sagen
muß, mit Hilfe von datenverarbeitenden Rechenanlagen, soge-
nannten Computern, den Vorgang des Schreibens von Texten zu
simulieren. Denn - in der streng materialen Betrachtungsweise be-

steht das Schreiben in einem Auswählen, Selektieren von Wörtern


aus einem Repertoire von Wörtern, das wir im allgemeinen Wörter-
buch nennen. Im natürlichen, menschlichen Akt des Schreibens er-
folgt diese Selektion im Hinblick auf das, was man sagen will;

das heißt, sie erfolgt nicht nur im autonomen, eigenweltlichen


Medium der Sprache, sondern die Objekte, die Handlungen und
Ereignisse der außersprachlichen Welt steuern die Selektion der

Wörter, die wie die Substantive, Verben oder Attribute einen


außersprachlichen Sinn haben. Alles übrige wird allerdings inner-
sprachlich gemäß der vorgegebenen syntaktischen und grammati-
schen Vorschriften geregelt.
Der natürliche, menschliche Akt des Schreibens oder Sprechens voll-
zieht sich in dieser Weise und führt zu Texten, die mehr oder
weniger genau außersprachlich identifiziert werden können und
damit einen verständlichen Zusammenhang aufweisen. Die Bedeu-
tung dieses Textes steht demnach mindestens angenähert bereits
vor seiner Fixierung fest; wir sprechen daher von präsemantischen
Texten.
Nun kann man sich aber auch eine Selektion der Wörter eines
Repertoires zu Texten denken, die rein zufällig, irgendwie auto-
matisch, jedenfalls unabhängig von einer gedanklichen Vorent-
scheidung über ihren zusammenhängenden Sinn erfolgt. Dabei ent-
stehen dann Wortmengen etwa folgender Art.
brütend, zwei also, Tisch, Hansel, daß, mal, des, kunter, muß,

78
List, liest, schon, würdig, Rand, Porno, lila, transzendent,
gehen . .

Außersprachlich kann der Text nicht identifiziert werden. Er be-


sitzt keinen außersprachlichen Zusammenhang, keine Bedeutung.
Es ist ein diskreter Text, dessen Wörter unabhängig voneinander
sind; ein nicht semantisch er Text ohne Außenwelt. Es ist weder ein

inhaltliches, noch ein grammatisches oder syntaktisches Auswahl-


prinzip erkennbar. Kein Wort, das auf ein anderes folgt, kann, wie
das in den natürlichen Texten und in einer natürlichen Sprache

stets in einem gewissen Umfang, den man als Redundanz bezeichnet,

der Fall ist, erraten werden. Jedes Wort steigt wie ein gänzlich
neues aus dem Repertoire der zur Verfügung stehenden Wörter
auf. Vorausgesetzt ist dabei allerdings, daß im Repertoire der Wör-
ter, aus dem selektiert wird, jedes Wort nur einmal vorkommt,
jedes Wort also die gleiche Chance, die gleiche Wahrscheinlichkeit
besitzt, gewählt zu werden. Man solche solche Repertoires Repertoi-

res mit gleichwahrscheinlicher Verteilung. Sie haben gewissermaßen


die Struktur eines Chaos, und ein aus ihm selektierter Zufallstext

ist selbst ein Stück Chaos, ein Wortchaos, ein Text mit chaotischer
statistischer Struktur.

Um einen solchen nichtsemantischen diskreten Text mit Hilfe eines


Computers, dessen Programm die Selektion aus einem gespeicherten
Repertoire von Wörtern gleichwahrscheinlicher Verteilung vor-
schreibt, zu verwirklichen, bedarf es eines sogenannten Unterpro-
gramms, das die Selektion auch tatsächlich zufällig gestaltet. Ein
solches Unterprogramm heißt in diesem Falle Zufallsgenerator.
Man kann es sich als eine Folge von Zahlen, die regellos, also nicht
in der Progression der natürlichen Zahlenreihe, etwa als Gewinn-
zahlen eines Rouletts, angeordnet sind und die dann dem Haupt-
programm vorschreiben, die numerierten Wörter ebenso regellos,

zufällig zu wählen.

79
Wir sind damit auf eine besondere Klasse von Texten gestoßen,
die gern als stochastische Texte bezeichnet werden und die in der

maschinellen Erzeugung, wie gesagt, einem Zufallsprogramm bzw,


einem Zufallsgenerator ihre Entstehung verdanken. Man kann nun
diese stochastischen Texte experimentell in einer Serie derart ent-

wickeln, daß die einzelnen Texte der Serie jeweils aus Repertoires

selektiert werden, die gegenüber dem Grundrepertoire gleichwahr-


scheinlicher Verteilung stufenweise statistisch verändert werden.
Und zwar erfolgt diese statistische Veränderung des Repertoires
derart, daß die ursprüngliche gleichwahrscheinliche Verteilung der

Wörter abgebaut wird und ungleichwahrscheinliche Wortvertei-


lungen an ihre Stelle treten. Das bedeutet dann für die Selektion
sogleich auch eine Verringerung der Zufälligkeit. Theoretisch kann
durch die beschriebene stufenweise Veränderung der Wahrschein-
lichkeitsverteilung der Wörter im Repertoire die Zufälligkeit der

Selektion so weit abgebaut werden, daß schließlich im letzten

Experiment der Serie eine maximale Annäherung des Zufallstextes


an einen Normaltext erfolgt. Es handelt sich also um seriell-stocha-

stische Texte oder einfach um approximierte Texte, die auf diese


Weise - maschinell oder menschlich - entstehen. Man kann selbst-

verständlich nie genau vorhersagen, welcher Text der Serie schließ-


lich eine verständlich außersprachliche Bedeutung besitzen wird,
welcher Text der stochastischen Serie ein Normaltext ist. Man
kann lediglich sagen, daß die einzelnen Texte der stochastischen

Serie erst stufenweise ihre Bedeutung gewinnen und daß es sich

somit um präsemantiscbe Texte handelt.


Der folgende Text zeigt die serielle Entstehung der Bedeutung im
Kontext und zwar in der Abhängigkeit von Repertoires, die stu-
fenweise durch die Häufigkeit der einzelnen Worte, durch die
Häufigkeit, mit der die Verteilung der Einzelworte, der Zweiwort-
Gruppen, der Dreiwort-Gruppen usw. bei einem bestimmten Autor,

80
von dessen Vokabular man ausgeht, vorkommen, ausgezeichnet
sind. Wir gingen in unserem Modell, das in Zusammenarbeit mit
den datenverarbeitenden Rechenanlagen des Stuttgarter Rechenzen-
trums hergestellt wurde, von einem 5126 Wörter umfassenden, in
deutscher Sprache erstellten Vokabular des Dichters Francis Ponge
aus.

Als seriell-stochastischer Text mit Präsematik ergab sich im Selek-


tionsexperiment schließlich:
sehr drollig gehalten haften Skala lückenhaft
mit Prügel Gegenstand untersuchen sich der einweisen
um annehmbar Wagemut
hält fliehen vollkommen kleiner träumt her über

herlaufen feinsten vermag Himmel vertrauen setzen


tausend Kiellinie niemals Grenze
als im anderen Weg der von die ermutigt Himmel
den mit Körper der einige aus
sich immer lassen Stolz betrifft nur die alle

Idee von läßt mich die weniger zu bewegen


und darüber
Milieu des beim Angriff nur der Kieselstein
ganz ewig hin wie Erdkugeln so stolz davon
Eine der stärksten Annäherungen an einen wirklichen Text ergab
sich in einer weiteren Selektion mit der fast poetischen Wortmenge
Vielleicht zunächst wirklich nur Haut
Ein Schmetterling rein sorglos erdacht
Und deiner davon
Meyer-Eppler hat in seinem Bonner Institut für Kommunikations-
forschung einen solchen seriellen Text postsemantischer Annäherung
an einen wirklichen Text nicht über Repertoires von Wörtern,
sondern über den Repertoires von Buchstaben, Zweiergruppen und
Dreiergruppen von Buchstaben entwickelt, der, wie er meint, einen

81
»unverkennbaren Anklang an dadaistische Konstruktionen« und,
wie man hinzufügen könnte, an sogenannte Lautgedichte besitze:
aiobnin tarsfneonlpiitdreedoc ds e dbieastnreleeucdkeaitb
dnurlarsls omn keu svdleeoieei
er agepteprteiningeit gerelen re unk ves mterone hin
d an nzerurbom
billunten zugen die hin se seh wel war gen man
nicheleblant diertunderstim
eist des nich in den plassen kann tragen was wiese zufahr
Nun gibt es aber noch eine weitere Klasse stochastischer Texte,

gewissermaßen halb st och astische Texte, weil sie die Zufälligkeit nur

auf bestimmte Wortarten beschränken und für ihren Aufbau von


feststehenden syntaktischen, grammatischen und logischen Struk-

turen gewisser Texteinheiten, wie etwa Aussagen, ausgehen. Schon

1959 hat Theo Lutz in Zusammenarbeit mit dem Stuttgarter Re-


chenzentrum und Ästhetischen Kolloquium solche Texte program-
miert, realisiert und publiziert.

Zunächst richtete Lutz seine Programme so ein, daß für die zu


erzeugenden Texte die grammatische Struktur - die Aussagestruk-
tur, die einem Subjekt ein Prädikat zuordnet oder nicht zuordnet -
vorgegeben war. Lediglich die Subjekt- Worte und die Prädikat-
Worte mußten dann zufallsmäßig bestimmt werden. Diese zufalls-

mäßige Bestimmung der Subjekt- Worte und Prädikat- Worte mach-


te für das Textprogramm wiederum ein Unterprogramm in der

Form des Zufallsgenerators notwendig. Zufallsgeneratoren, die

eine zufällige Folge von Zahlen mit Hilfe bestimmter, hier nicht

zu erörternder arithmetischer Operationen hervorrufen, schreiben


also der programmgesteuerten Großrechenanlage die Abrufung bzw.
Selektion der Wörter, die in die grammatische Aussagenstruktur
»x ist y« bzw. »(Subjekt) ist (Prädikat)« an Stelle des Subjekts
und des Prädikats eingesetzt werden müssen, vermittels einer zu-

82
fälligen Zahl vor, so daß die gewählten Wörter auch nur Zufalls-
wörter sein können. Auf diese Weise wird dann etwa aus »X ist y«
die Aussage »Rose ist dickflüssig«, wenn »Rose« als Subjekt und
»dickflüssig« als Prädikat im Repertoire der Wörter zur Verfü-
gung steht. Aber neben dem Zufallsgenerator, durch dessen Vor-
handensein in der Rechenanlage das Problem der Erzeugung sto-
chastischer Texte im wesentlichen gelöst ist, spielt natürlich der
Speicher eine wichtige Rolle. Neben dem Repertoire für Subjekte
und Prädikate, muß er auch noch gewisse logische Verknüpfungs-
wörter wie »und«, »oder«, »wenn-so«, aber auch Verneinungszei-
chen wie »nicht«, »kein« und dergleichen enthalten und nicht zu-

letzt das Wörtchen »ist«, alles verschlüsselt mit Hilfe von zwei
Zahlzeichen, nämlich o und i. Theo Lutz hat die Arbeit seines

Programms z. Z. wie folgt beschrieben:


»Aus der ersten Zufallszahl bildet die Maschine die Adresse, d. h.

die Positionszahl im Speicher, eines Subjekts, das die Maschine

nunmehr zur Verfügung hält. In der nachfolgenden Gedächtnis-


zelle findet das Programm eine Kennziffer, die es auswertet als

Geschlecht des betreffenden Substantives, etwa o = maskulin, i =


feminin und 2 = neutral.

Aus einer neuen Zufallszahl bestimmt die Maschine nunmehr einen


logischen Operator und stimmt diesen mit Hilfe der gefundenen
Kennziffer ab auf das Geschlecht des Substantives. Jetzt wird zum
ersten Mal ausgedruckt. Dabei erscheint etwa im Fernschreiber
Nicht jeder Blick
Anschließend wird dann das Wort »ist« ausgedruckt und mit Hilfe
des Zufallsgenerators ein Prädikat und eine logische Verknüpfung
ausgewählt und ausgedruckt. Damit hat die Maschine etwa den
Satz gebildet:
Nicht jeder Blick ist nah
und eine logische Verknüpfung, d. h. die Konjunktion »und« be-
stimmt, die diesen Satz mit einem weiteren, etwa mit:

83
Kein Dorf ist spät
verknüpft. Als Ergebnis haben wir ein Paar von Sätzen, verknüpft
durch eine logische Konstante:
Nicht jeder Blick ist nah und kein Dorf ist spät.

Damit ist das Programm abgeschlossen und beginnt (die Selektion)

von vorne, weitere Paare von Sätzen zu bilden. Die Maschine ar-

beitet, bis sie abgestellt wird.«


Was nun das selektierbare, gespeicherte Repertoire anbetrifft, so ent-
hielt es 16 verschiedene Wörter für das Subjekt und 16 verschiedene
Wörter für das Prädikat, und zwar in gleicher Häufigkeit. Diese

Wörter für die Subjekte und Prädikate waren überdies aus dem
Roman »Das Schloß« von Franz Kafka genommen worden.
Darüber hinaus enthielt das Programm noch folgende statistische
Vorschriften, die im Text zu realisieren waren: die selektiv erzeug-
ten Elementarsätze sollten entweder durch die syntaktischen Binde-
wörter »und«, »oder«, »so gilt« zu Paaren verknüpft werden oder
aber durch einen »Punkt« getrennt bleiben: und zwar sollten »und«,
»oder« und »so gilt« jeweils mit einer Häufigkeit von 1/8, zusam-
men also mit einer Häufigkeit von 3/8 der Paarung von Sätzen
auftreten, während die restlichen 5/8 für die Trennung der
Paare durch einen Punkt reserviert bleiben sollten. Die ver-
wendeten, dem Speicher entnommenen sogenannten logischen Quan-
tifikatoren »ein«, »eine«, »jeder«, »jede«, »jedes«, »kein«, »keine«,

»keines«, und »nicht jeder«, »nicht jede«, »nicht jedes« sollten

indessen mit gleicher Häufigkeit benutzt werden. Im Ganzen be-


stand das Programm für den geplanten Text aus rund 200 Einzel-
befehlen. Der folgende Text stellt natürlich nur eine Auswahl aus
den 50 von der Maschine realisierten Textpaaren dar:

84
Nicht jeder Blick ist nah. Kein Dorf ist spät.

Ein Schloß ist frei und jeder Bauer ist fern.

Jeder Fremde ist fern. Ein Tag ist spät.

Jedes Haus ist dunkel. Ein Auge ist tief.

Nicht jedes Schloß ist alt. Jeder Tag ist alt.

Nicht jeder Gast ist wütend. Eine Kirche ist schmal.


Kein Haus ist offen und nicht jede Kirche ist still.

Nicht jedes Auge ist wütend. Kein Blick ist neu.

Jeder Weg ist nah. Nicht jedes Schloß ist leise.

Kein Tisch ist schmal und jeder Turm ist neu.

Jeder Bauer ist frei. Jeder Bauer ist nah.


Kein Weg ist gut oder nicht jeder Graf ist offen.

Nicht jeder Tag ist groß. Jedes Haus ist still.

Ein Weg ist gut. Nicht jeder Graf ist dunkel.


Jeder Fremde ist frei. Nicht jeder Bauer ist groß.
Nicht jeder Turm ist groß oder nicht jeder Blick ist frei.

Eine Kirche ist stark oder nicht jedes Dorf ist fern.

Jeder Fremde ist nah, so gilt kein Fremder ist alt.

Ein Haus ist offen. Kein Weg ist offen . . .

Man kann berechnen, daß die Maschine auf Grund des Programms
insgesamt 1024 elementare Sätze über einem Subjekt und einem
Prädikat bilden kann. Berücksichtigt man, daß das Programm diese

Sätze auf vierfache Weise (durch »und«, durch »oder«, durch »so
gilt« und durch den »Punkt«) zu Paaren verknüpfen kann, so gibt
es eine Kombinationsmöglichkeit von 4 •
(1024) 2
für realisierbare
Satzpaare, wie sie der Text enthält, d. h. der vollständige stocha-
stische Text bestünde aus 4 174 304 (vier Millionen einhundertund-
vierundsiebzigtausend dreihundertundvier) Satzpaaren. Darunter
gibt es Satzpaare, die als sinnvoll betrachtet werden könnten
wie:
Jeder Turm ist neu und ein Bild ist alt.

85
und Satzpaare, die nicht als sinnvoll betrachtet werden können
wie:
Nicht jeder Blick ist nah. Kein Dorf ist spät.

Genau damit ist aber das Problem vorgegeben, Texte zu program-


mieren und zu realisieren, die nur aus sinnvollen Sätzen bestehen.
Die Lösung dieses Problems kann man sich wenigstens im Prinzip
klarmachen, wenn man bedenkt, daß die Wahrscheinlichkeit, mit
der innerhalb einer Sprache ein bestimmtes Subjekt- Wort mit einem
bestimmten Prädikat- Wort verknüpft wird, besonders wenn diese
Sprache als verständliche Umgangssprache fungieren soll, kaum
unter einem gewissen auszählbaren Wert liegt. Aus dem »Häufig-
keitswörterbuch der deutschen Sprache«, das F. W. Kaeding be-
reits 1898 publizierte und das H. Meier unter dem Titel »Deutsche

Sprachstatistik« 1964 auf einen neuen Stand brachte, kann man

die erforderlichen Wahrscheinlichkeits- bzw. Häufigkeitsangaben


über sinnvolle Zusammenhänge zwischen Subjekt- Wörtern und Prä-
dikat-Wörtern entnehmen. Auf diese Weise läßt sich der sinnvolle
Zusammenhang zwischen den Wahrscheinlichkeiten bzw. Häufig-
keiten zwischen diesen Wortklassen verwandeln. Ein solches Zu-
ordnungsschema nennt man Wahrscheinlichkeitsmatrix. Indem man
diese Wahrscheinlichkeitsmatrix der gespeicherten Wortmenge als

Unterprogramm der Selektierung beigibt, verwandelt man die

Wortmenge in das, was der Sprachforscher ein »Wortfeld« nennt.


Dieses auf diese Weise gespeicherte »Wortfeld« ermöglicht es, daß
schließlich nur solche Sätze bzw. Satzpaare realisiert und ausge-
druckt werden, zwischen deren Subjekt- Wörtern und Prädikat-
Wörtern eine Wahrscheinlichkeit der Zuordnung besteht, die für

die sinnvolle Zuordnung charakteristisch ist. R. Gunzenhäuser hat


auf der Basis des Programmvorschlags von Th. Lutz im Stuttgarter
Rechenzentrum folgenden mathematischen Text erzeugt:

86
Der Betrag ist gleich

oder nicht jede Reihe ist beschränkt


und eine Zahl b ist divergent
oder jede Zahl b ist komplex.
Dieses Satzgefüge ist falsch

Nicht jede Folge ist unendlich


oder jeder Limes ist endlich.

Dieses Satzgefüge ist wahr.


Das Interessante an diesem maschinell produzierten Text ist, daß
er zweierlei mathematische Feststellungen trifft, deren eine falsch und
deren andere wahr ist. Das Programm mußte also Anweisungen für
die Maschine enthalten, durch die sie befähigt wurde, wahre Sätze
von falschen zu trennen. Die stochastische Seite des Programms
mußte also durch eine logistische ergänzt werden. R. Gunzenhäuser
nannte daher mit Recht solche Texte »stochastisch-logistische Tex-
te«.

Doch wollen wir nach diesem Abstecher in den Bereich nicht-literari-

scher Texte wieder zur maschinell-literarischen Produktion zurück-


kehren. R. Gunzenhäuser hat auf der Grundlage der ersten Pro-
gramme von Th. Lutz den Versuch gemacht, von der Maschine ein
Liebesgedicht schreiben zu lassen. Das gespeicherte Vokabular der
Subjekt- Wörter und Prädikat-Wörter wurde natürlich von vorn-
herein so beschränkt, daß die Liebessemantik des Gedichtes nicht
zu verfehlen war. In gewisser Hinsicht beweist dieses Gedicht
mindestens, daß im Prinzip zum Schreiben eines Liebesgedichts ein

liebendes »lyrisches Ich« nicht notwendig ist und daß, wie Mallarme
es schon formulierte, Gedichte aus Wörtern, nicht aus Gefühlen
gemacht werden:
Kein Kuß ist still

oder die Liebe ist still

oder keine Seele ist rein

87
und nicht jeder Kuß ist grün
und ein Jüngling ist heftig . . .

Eine technisch entscheidende Eigenschaft der Computer ist es, alle

in ihm simulierten Vorgänge mit extremer Geschwindigkeit zu


produzieren. Wie Rechenvorgänge oder Schlußvorgänge werden
auch die Selektionsvorgänge, die, wie wir sahen, beim Schreiben
von Texten eine Rolle spielen, in kleinste Zeiteinheiten gepreßt.

Eine auf Textproduktion programmierte Rechenanlage schreibt


also äußerst schnell. Die automatischen Ketten der Selektion, die
als Simulationen des intuitiven Einfalls aufgefaßt werden dürfen,
sind infolge der vorgegebenen und somit eingespeicherten gramma-
tischen, logischen und unter Umständen sogar ästhetischen Struk-

turen von vornherein auf serielle oder permutationelle Textproduk-


tionen eingestellt, so daß eigentlich jeder Text das Ergebnis einer
ganzen Serie verwandter Texte ist. Die Maschine hat es sozusagen
nötig, viel zu schreiben, um überhaupt etwas zu schreiben. G. Stik-
kel hat im Deutschen Rechenzentrum in Darmstadt mit einer neue-

ren Rechenanlage Textversuche gemacht, die er, um auf die wesent-


liche Affinität zwischen Intuition und Automatismus, von der
Gertrude Stein und viele surrealistische Schriftsteller schon überzeugt
waren, hinzuweisen, Autopoeme nannte. Hat die Maschine einmal
ein Programm, das sich auf die Struktur, die Zufallsfolge und das
Vokabular eines geplanten Textes bezieht, dann vermag sie, wie
die Maschine, die G. Stickel benutzte, zirka 10 ooo Autopoeme
pro Stunde zu schreiben. Das Repertoire der Verben, Substantive,
Adjektive usw. wurde als zufälliges Repertoire von Wörtern aus
Zurufen gewonnen, zu denen im Rahmen eines Themenkreises, der
durch Begriffe wie »Weihnachten« und »elektronische Rechenan-
lage« umrissen wurde, aufgefordert wurde. Es folgen jetzt zwei
Proben dieser »Autopoeme«:

88
Und ein Signal tanzt.
Diese Funktion denkt und denkt.
Wer einen kalten Leser befragt, ist ein Fehler

Geräusche zittern an der Analyse.


Motoren sprechen neben dem Motiv.
Das Metall ruft die schlechten Motive.
Wer reizt die starren Wellen - die Richtung.
Heute strahlen die Kompositionen.

Wer eine Synkope beschreibt, ist selten ein Unsinn.

Denken die neuen Dichter? - Schon möglich.


Jedes Musizieren und Malen ist symmetrisch und stabil.

Absolutes Gleiten öffnet den schnellen Prozeß.


Wer gestaltet den Techniker? - Die Richtung.
Der Denker und der Effekt sprechen.

Und die Harmonie schreibt.

Jede Graphik rollt, Wenn das Versmaß schreibt.


Der Eindruck lebt, Wenn die Spule springt.
Eine Anmut klingelt, wenn die Partitur trillert.

Wer formt die dramatischen Modelle? - Die Leinwand.


Ein Gefühl tönt, weil es automatisch ist.

Wenn die Figur rollt, tönt ein Kontrapunkt.


Neben der Zeit ist Komik.
Ein Sinn leuchtet, Wenn das Metall klingelt.

Wie man bemerkt haben wird, entsteht die Semantik über ziemlich

festen satzmäßigen Strukturen. Die Texte haben, genau wie der,

den Th. Lutz programmiert hat, einen fast ornamentalen Charak-


ter. Außerdem gewinnt man den Eindruck - und das ist selbst-

verständlich eine neue Folge der vorgegebenen Thematik der


Repertoires - als sprächen die Texte über die maschinellen Proze-
duren, denen sie ihre Entstehung verdanken. Damit sind wir auf
die für die gesamte maschinelle Textsynthese entscheidende Frage

der Programmierung des ästhetischen Zustandes der geplanten


Texte gestoßen. Nur andeutungsweise haben wir bisher neben der
grammatischen, logischen und semantischen Programmierung oder
Vorgabe der stochastischen bzw. automatischen Texte auch von
ihrer ästhetischen (poetischen oder literarischen) Beschaffenheit ge-

sprochen. Tatsächlich müssen aber die ästhetischen Momente eines

Textes, wenn es sich überhaupt um einen poetischen Text handeln


soll, der maschinell realisiert wird, ebenso programmiert werden
wie logische und grammatische Strukturen oder semantische Inhalte.
Es kann aber nur das programmiert werden, also in eine gewisse
Menge von Erzeugungsvorschriften gefaßt werden, dessen Natur
man kennt.
Die moderne statistische Informationsästhetik, die ästhetische Zu-
stände verschiedenster medialer Art als statistische Ordnungszu-
stände der materialen Elemente des Mediums beschreibt, hat auch

die Grundlagen zur Programmierung ästhetischer Zustände im


Rahmen maschineller Texterzeugung geschaffen. Wenn, wie die

fundamentale These dieser abstrakten Ästhetik lautet, ästhetische

Zustände als singulare statistisch beschreibbare Ordnungszustände


der materialen Elemente eines künstlerischen Objektes aufzufassen
sind, dann gibt es gewissermaßen drei Grundzustände dieser ästhe-
tischen Ordnung.
Im ersten Grundzustand, den wir den chaogenen nennen wollen,
sind die Elemente in gleichwahrscheinlicher Verteilung, das heißt,
soviel wie in maximaler Mischung vorhanden. Als Beispiel kann
man ein übliches Kartenspiel anführen, das 32 Karten besitzt und
zwar jede nur einmal und das nach gründlicher Mischung jeder

Karte die gleiche Chance gibt, gezogen zu werden.


Im zweiten Grundzustand, den wir den strukturellen nennen wol-
len, erscheinen die Elemente in regulärer Anordnung, etwa wie in

90
einem Ornament: Symmetrien, Permutationen, Wiederholungen,
rhythmische Progressionen bilden Muster solcher regulären oder
strukturalen ästhetischen Zustände, die in den verschiedensten Me-
dien, im Bereich von Tönen, Lauten, Wörtern, Farben, Formen
usw. verwirklicht werden können.
Im dritten Grundzustand, den wir als konfigurativen bezeichnen,
ist die Verteilung der materialen oder medialen Elemente irregulär,
das heißt, die Wahrscheinlichkeit oder Häufigkeit, mit der dieses
oder jenes materiale Element in Erscheinung tritt, ist in jedem
Falle verschieden. Stellt man sich z. B. eine beliebige Tuschzeich-

nung von Rembrandt vor und über das Blatt ein relativ engma-
schiges, quadratisches Raster gelegt, so ist, grob gesprochen, jedes
Rasterquadrat mit einer verschiedenen Menge Tusche bedeckt. In
diesem Falle ist also die Tuschmenge weder chaogen noch struktural
über das Blatt verteilt, sondern irregulär, oder, wie wir sagen,
konfigurativ; der Grad dieser irregulären, konfigurativen, im Ver-
hältnis zu einem Rasterquadrat unvorhersehbaren Tuschmenge,
macht im Ganzen die Unwahrscheinlichkeit der Tusch-Konfigura-
tion aus, und dieser Grad der Unwahrscheinlichkeit determiniert
selbstverständlich auch den Ordnungsgrad, den ästhetischen Zustand
der Tuschverteilung.
Das ist natürlich nur eine materiale und objektive Betrachtung der
Zeichnung, aber im Rahmen der wissenschaftlichen Ästhetik, die für
die programmierbare und maschinelle Erzeugung ästhetischer Zu-
stände Voraussetzung ist, entscheidend.Denn man muß mathema-
tisch-numerisch beschreiben und festlegen können, was man in die
Programmiersprache technischer Anweisungen übersetzen will. Man
sieht aber leicht ein, daß die drei genannten ästhetischen Grundzu-
stände, die sich deutlich durch die Häufigkeitsverteilung ihrer ma-
terialen Elemente unterscheiden, durch statistische Angaben und
damit zahlenmäßig zu kennzeichnen und somit auch zu program-

91
mieren sind. Es ist jedoch klar, daß durch das ästhetische (Ord-
nungs-) Programm die zufallsmäßige Selektion des vorgegebenen
materialen Repertoires, etwa des Vokabulars, ebenso eingeschränkt
wird wie durch die Vorgabe grammatischer und logischer Struk-
turen oder semantischer Wortfeld-Matrizen. Offenbar gehört die
Einführung des Zufalls in die Selektion ebenso zum kreativen,
schöpferischen Moment der Texterzeugung wie die sukzessive Ein-
schränkung des Zufalls, und es scheint, daß es sich hierbei um ein

Prinzip handelt, das die natürliche Schreibweise ebenso betrifft wie


die maschinelle.

Jede Sprache ist ein zufälliges Produkt der menschlichen Geschichte.


Auch was konventionell, Regelmäßigkeit in ihr ist, schließt die

Zufälligkeit des Werdens ein. Es ist infolgedessen keineswegs ab-


seitig, in der maschinellen Selektion und Herstellung von Texten
das zufällige Werden der Sprache zu imitieren. Im Gegenteil, man
ist damit der Wahrheit nahe gekommen. Darüber hinaus ist heute
auch klargeworden, daß das, wie man gern sagt, instinktmäßige
richtige Anwenden einer gelernten Sprache, automatistisch zu
verstehen ist. Das intuitive intellektuelle Tun kann leicht als auto-

matistisches intellektuelles Tun gedeutet und als stochastisches

maschinell simuliert werden.


Wir hatten schon seit längerem in unserem Stuttgarter Institut ge-
plant, in einem Text, der maschinelle, automatistische, intuitive

und menschliche Spracherzeugung zusammenfaßt, ein Beispiel für

eine solche weitgespannte Textsynthese zu geben, als uns der reale

Zufall ein reales Motiv zuspielte.


In der Gegend von Miami war nach Berichten amerikanischer Zei-

tungen ein junges Mädchen an den Strand gespült worden, das,

obwohl bewußtlos, später im Mercy-Hospital, in das es eingeliefert

wurde, unaufhörlich sprach, indem es Silben, Wörter und Satz-


stücke zu mehr oder weniger syntaktisch richtigen und semantisch

92
verständlichen Laut- und Wortketten automatistisch aneinander-
fügte. Aufmerksam geworden, erkannte man nach und nach, daß
dieser autömatistische Text des bewußtlosen Mädchens von seinem
Repertoire her auf das Erlebnis eines furchtbaren Verbrechens,
dem nur das Mädchen entkommen war, schließen ließ,

Da es uns unmöglich war, an die Aufzeichnungen, die im Hospital


von dem Sprechtext des Mädchens gemacht worden war, heranzu-
kommen, begannen wir einen solchen Text zu synthetisieren. Denn
der Fall eines bewußtlos sprechenden Mädchens, das Laute und
Wörter mehr oder weniger automatistisch zusammenbrachte, nur
gelenkt und selektiert von einem furchtbaren Erlebnis, dem sich

der Sprechtext in zufälligen Schritten annäherte, entsprach genau


einer maschinellen, stochastischen und approximierten Textsynthese,
wie wir sie geplant hatten. Unsere Textsynthese, die Siegfried
Maser durchführte, ging also von der stochastischen Buchstaben-

selektion zur Silbenselektion und von ihr zur Wort- und Wort-
folgenselektion über. Dabei wurde programmgemäß die zufalls-

mäßige Selektion zugunsten einer durch die Abhängigkeit der


Wahrscheinlichkeiten für die Selektion von aufeinanderfolgenden
Wörtern bedingten determinierten Selektion verschoben.
Das Ausgangsrepertoire der Wörter bzw. deren Buchstaben und
Silben basiert auf den Berichten einiger amerikanischer Zeitungen
über die Auffindung des Mädchens namens Terry Jo. Aus diesem
Ausgangsrepertoire wurden alle weiteren Repertoires, die zur Se-
lektion benötigt wurden, hergestellt.
Die erste Annäherung wurde aus einem Repertoire mit gleichver-
teilten dreißig Buchstaben (einschließlich der Leerstelle sowie ä, ö
und ü) vorgenommen; es ergab sich folgender Buchstabentext:
fyuiömge-sevvrhykfds-züeä-sewdhf-mciöwzäikmbw-aycfjtcuä-
hwlgtüamöozqlspbrgeca-vdeüihyiwr-dxe
Die zweite Annäherung erfolgte über einem Repertoire von Buch-
staben, das der Originalverteilung der Buchstaben in den Zei-
tungstexten entsprach:
h-rahhueber-- sh-dfnupz-cun-ikirae-rn-tws-fonnrtücn-- dz-nedre-
holrikma-ruekoemah-ü-t-lshe-seab-ur-wh-ef
In der dritten Annäherung wurde im Repertoire die Abhängigkeit
oder Häufigkeit berücksichtigt, mit der zwei Buchstaben in der
Sprache aufeinanderfolgen
has-wirkleb-stion-und-füsse-etwas-dochnem-von-und-dassei-
wiern-belbs-zu-ver-das-eweck-dir-ennen-sein
In einer vierten Annäherung wurde der Text auf dem Repertoire
gleichwahrscheinlich verteilter Silben selektiert:
zwisch-woll möcht mit sond ich scheid solch üb end leb gross sein
und solch selb haf hoff schluss sieht geb haupt mann sehr ess
wend rat wie man setz nach wirk wicht ruf mann haupt geg
In der fünften Annäherung wurde der Text über einem Repertoire
hergestellt, in dem die Wörter des Berichts gleichverteilt vorhanden
sind:

weiten ausnähme tee man niemand fine mit ehe frommage lockt
denken oder nicht doch was besprachen gern jenseits noch seit

das leute vater vorab ist kommt gegen gestreichelt jedes meer
niemals nur wenn wesen lockt bröckelnd jemand wind zuerst je

genug alle jing es citroen chinese hände weiss wie meer


Die beiden letzten Annäherungen gingen schließlich von Repertoi-
res aus, die einmal die Wörter in der Originalverteilung der Berich-
te enthielten und dann mit der Häufigkeit im Repertoire enthalten
waren, mit der je zwei oder drei von ihnen in den Berichten tat-

sächlich aufeinander folgten. Der sich ergebende stochastische Text


galt uns dann als simulierter Text eines automatistischen Sprech-
textes, den das Mädchen bewußtlos erzeugte und der als eine

sprachliche Approximation an eine als fixiert gedachte Geschichte


deutbar ist:

94
nicht wenn können das das etwas oder ein und mir nur welches
anders floh das sagte nicht nacht vielleicht und das für worte
war noch daß das sein nacht anders das für ist wenn nicht das

oder es gewesen von worte zu dann dies für satz auf nicht weiss
nicht
das was weiss ist die sich niemals mit vater sagte er weg gehen
nicht anders so ist noch wem was das das alles nur etwas daß
er ist dies mit einem bei stehen liegen statt auf alle immer diese
ist es noch nur in erst daß das a und nur . .

Das ist nur ein Teil des maschinell erzeugten automatistischen


Textes, der sozusagen als repertoireabhängige Wortmenge eine

sprachliche Annäherung an eine Geschichte darstellt, die mit Hilfe

des Repertoires faktisch erzählt werden könnte. Wir gingen davon


aus, das bewußtlos sprechende Mädchen als automatenanaloges
Bewußtsein aufzufassen und den texterzeugenden Computer als

bewußtseinsanalogen Automaten. Diese duale Analogie veranlaßte


mich, zwischen bewußtseinsanalogem und maschinenanalogem
Schreiben zu unterscheiden und mir eine maschinenanaloge Schreib-

weise einzuüben, die mir ermöglichte, maschinell erzeugte stochasti-


sche Texte, auf dem Repertoire der Geschichte der Terry Jo, be-
wußt aber automatenanalog, weiter zu produzieren
und so dabei war viel auf Reisen als ich das verstand ging ich

mit glücklicher Hand einem Gesicht wie ein Stein der fiel hatte
er gesagt ehe er kam waren wir ja nicht mehr schon längst so
weit war es nicht Voraussicht den Eisschrank leer zu gewinnen an
Buden nie mehr und bekam er Wut schlug alles
so in Stücke zu
Boden verfolgte verdammte vorab nicht auf wie er floh bis zum
Deck erreichte ihn schließlich würgte schlug schoß zehn konnte
und umfiel aufstand wegging so schnell ich konnte nach unten
auch nach oben nach so und irrte und ausglitt fiel aufstand bis
er ganz jetzt hinter her kam dabei nicht so wie war es wenn

95
nachts einer aufsteht bleibt stehen schoß nicht über gelaufen
nicht so wie er es ging plötzlich auf und davon nach oben weil
glaub ich die Luft ...
Zweifellos handelt es sich also im Bereich der maschinellen Text-
synthese nicht nur darum, Computer zum Schreiben nach mensch-
lichen Voraussetzungen und Vorschriften zu veranlassen. Die Lage
ist sogar so, daß ein menschlicher Schriftsteller mindestens im Prin-
zip den maschinellen Schriftsteller nachahmen kann, um etwa sto-

chastische Schreibweisen sich einzuüben. Das Team »Mensch-Ma-


schine« ist zu einem wechselseitigen geworden, in dem die Maschine

(wiederum: mindestens im Prinzip) nicht nur das Bewußtsein des


Menschen simuliert, sondern der Mensch unter Umständen den
Automatismus der Maschine nachahmt. Eine noch tiefer liegende

Partnerschaft läßt sich kaum denken, ganz davon abgesehen, daß sie

unsere metaphorische Redeweise von der Geburt der Poesie aus dem
Geiste der Maschine fast sachlich rechtfertigt.

96
Notiz über konkrete Poesie

Es handelt sich um eine Poesie, die weder den semantischen noch


den ästhetischen Sinn ihrer Elemente, etwa der Wörter, durch die
übliche Bildung linear und grammatisch geordneter Kontexte er-

zeugt, sondern dabei auf visuelle und flächige Konnexe reflektiert.

Nicht das nacheinander der Wörter im Bewußtsein ist also das

ursprüngliche konstruktive Prinzip dieser Art von Poesie, sondern

ihr Miteinander in der Wahrnehmung. Das Wort wird nicht in

erster Linie als intentionaler Bedeutungsträger verwendet, sondern


mindestens darüber hinaus auch als materiales Gestaltungselement,
aber so, daß Bedeutung und Gestaltung einander wechselseitig be-
dingen und ausdrücken. Simultanität der semantischen und ästhe-
tischen Funktion der Wörter auf der Grundlage gleichzeitiger Aus-
nützung aller materialen Dimensionen dieser sprachlichen Elemente,

die selbstverständlich auch als zerbrochene erscheinen können, in

Silben, Laute, Morpheme oder Buchstaben, um die ästhetischen


Zustände der Sprache in ihrer Abhängigkeit von deren analytischen
wie synthetischen Möglichkeiten auszudrücken. In diesem Sinne
deckt erst das Prinzip der konkreten Poesie den materialen Reich-
tum der Sprache auf.

Was aus Zeichen besteht, kann übermittelt werden, unterliegt also

der Emission, der Perzeption und der Apperzeption, d. h. einem


Kommunikationsschema, das für ein spezielles Zeichengefüge, wie es

konkrete Poesie darstellt, typisch sein kann. Konkrete Texte, um


jetzt den Begriff der konkreten Poesie zu erweitern, nähern sich

infolge ihrer typographischen und visuellen Abhängigkeit oft sehr

stark plakativen Texten, d. h. ihr ästhetisches Kommunikations-


schema entspricht gern einem werbetechnischen. So ähneln konkrete
Texte oft Werbetexten; das zentrale Zeichen, meist ein Wort, über-
nimmt eine polemische oder proklamierende Funktion.

97
Konkrete Poesie unterhält nicht. Sie hat die Möglichkeit der Fas-
zination und Faszination ist eine Form der Konzentration, und
zwar einer Konzentration, die sich gleichermaßen auf die Perzep-

tion des Materialen wie auf die Apperzeption seiner Bedeutung


erstreckt.

Dementsprechend trennt die konkrete Poesie nicht die Sprachen,


sondern vereinigt, mischt sie. Es liegt also in ihrer linguistischen

Intention, daß die konkrete Poesie zum erstenmal eine echte inter-
nationale dichterische Bewegung hervorgerufen hat. In Südamerika
und Nordamerika, in Deutschland, Frankreich, Italien, England,

Portugal, Dänemark, Schweden, in der Schweiz, der Tschechoslowa-

kei und in Japan gibt es heute konkrete Poesie, und bereits be-

kannte Autoren bedienen sich dieser experimentellen Schreibweise


großen Stils.

Die vorliegende kleine Sammlung, gedruckt als Katalog einer Aus-


stellung in Stuttgart, versucht ein signifikantes Bild von dieser

internationalen literarischen Bewegung zu geben.


Die japanischen Autoren konnten jedoch infolge typographischer
Schwierigkeiten in dieser Ausgabe nicht berücksichtigt werden.
Lettern

Eine Letter ist eine Drucktype, eine abgeschlossene Form, eine Figur,
meist in Schwarz, die etwas bezeichnet: einen Buchstaben des Al-
phabets. Wenn man 26 Buchstaben annimmt, gibt es 2.6 Lettern.

Ein Repertoire, um Ketten verschiedener Längen daraus zu bilden,


die man Wörter nennt und die visuell zu Zeilen, semantisch zu
Phrasen und Sätzen und Texten angeordnet werden können. In
jedem Falle zu linearen Gebilden. Daß jede Letter auch anders
gedacht werden kann, daß ihre Figur verändert und ihre Persön-
lichkeit dabei dieselbe bleiben kann, gehört natürlich zu den ästhe-
tischen Reizen, die von ihr ausgeht.

Hansjörg Mayer, ein junger Druckgrafiker und Verleger moderner


experimenteller Literatur in Stuttgart, hat diesen ästhetischen Rei-
zen der Letter nachgegeben und sie in sein Interesse für materiale,
konkrete und visuelle Poesie einbezogen.
Dabei hat er zwei Wege eingeschlagen: einmal ging er von der
Letter selbst aus, das andere Mal aber von der Fläche, auf die er sie

druckt.
Wenn er von der Letter selbst ausgeht, ist es nicht die Veränderung
ihrer gegebenen Figur, die ihn interessiert, nicht die Erfindung
einer neuen Type oder Schrift. Er geht vielmehr von der Möglich-
keit der Iterierbarkeit dieser Figur aus; ihre Zusammensetzbarkeit
mit sich selbst ist für Hansjörg Mayer ein ästhetisches Problem, also
die Konstruktion der adjungtierten Super-Letter. Das kann zur
Degradation des ursprünglichen Icons, aber auch zur Verstärkung
der Elementarfigur des Buchstabens führen, zur Verkleidung des
alphabetischen Zeichens wie zur Enthüllung. So ist das s, das er
figürlich iteriert hat, eine Verstärkung seines Iconismus, aber das i

eine Verkleidung. Man kann sich Wörter, Metaphern, Sätze aus

99
diesem superierten Buchstabengestalten vorstellen, die sich wie ma-
teriale Labyrinthe für einen Laut, einen Sinn ausnehmen und an-
dere, die wie Konkrete Texte, das visuelle Bild der Bedeutung
zeichnen.
Lettern sind Figuren mit Symmetrien. Das v besitzt wie das o eine
Symmetrieebene von großer Deutlichkeit. Das z zeigt als Symme-
trieelement eine zweizählige Achse, die auf der Papierebene senk-
recht steht und deren Spur, wie man sagt, für die Figur das
Symmetriezentrum bildet.

Die visuelle Kombination einer Letter mit sich selbst berücksichtigt

selbstverständlich die Symmetrieverhältnisse der Elementarfigur


und entwickelt die komplexe Supergestalt mit ihnen oder gegen
sie. Das y ist mit ihnen, das d scheint gegen sie gemacht. Jedenfalls
kommen in der konstruktiven Technik des Alphabets aus Super-

lettern fast alle Symmetrieoperationen einer begrenzten Figur vor,


solche, die mindestens einen Raumpunkt festhalten wie Drehungen,

Spiegelungen, Schraubungen, aber dann auch Translationen, Ver-


schiebung wie etwa beim 1.

Es ist klar, daß im Zusammenhang mit der Ausnützung der Symme-


trieoperationen zur visuellen Kombination einer Letter mit sich
selbst, die iterierte oder superierte Großgestalt ornamentalen Cha-
rakter gewinnt. Allerdings handelt es sich bei dieser Ornamentik
stets um begrenzte, abgeschlossene Systeme, nie um den klassischen
»unendlichen Rapport«. Denn der Gedanke, daß es sich um Buch-
staben eines Alphabets, das zu Morphemen, Wörtern, Sätzen, Tex-
ten zusammensetzbar bleiben soll, handelt, wird im Prinzip niemals
aufgegeben. Hansjörg Mayer hat seine typografischen Konfigura-

tionen unter dem deutlichen Titel »aiphabet« veröffentlicht. Aller-


dings könnte man sich jede dieser typografischen Konfigurationen
durch Anwendung von Symmetrieoperationen linear oder flächig zu
Ornamenten unendlicher Repetition fortgesetzt denken. Das würde

100
dann sowohl visuell wie semantisch eine Sprache implizieren, die
aus 26 Lautwörtern unendlicher Länge bestünde, die nicht mehr
zusammengesetzt werden könnten, eine Sprache, deren Zeichen
nur aus den endlosen Fäden ihres Alphabets gebaut wären, weiter-
zudenken zu einer Sprache unendlicher Wesen.
Während der erste Weg, den Hansjörg Mayer eingeschlagen hat,
sogleich ästhetische Konstruktionsprinzipien einführt, geht sein

zweiter Weg typographischer Versuche fast von einer physikali-


schen Vorstellung aus. Offenbar wird die weiße Fläche als eine
chaosartige Zustandsverteilung maximaler Dichte aufgefaßt, in der
sortiert, zurechtgerückt werden muß, damit das Schwarz darunter
figurativ und konfigurativ heraustritt. Also die Technik der Ver-
minderung der Entropie des Weiß, was dann natürlich sofort einen
ästhetischen Prozeß, die Gewinnung der Ordnung aus Unordnung,
einleitet. In jedem Falle, auf dem ersten wie auf dem zweiten Weg,
ist aber die Gewinnung der »Unwahrscheinlichkeit der Ordnung«,
der legitimierte künstlerische Zustand also, das Ziel des Experi-
ments. Eines Experiments, dessen Resultate Modelle des ästheti-
schen Prinzips »Gestaltung« darstellen, das mit dem Prinzip »Rein-
heit« verträglich ist.

101
Neuseis Fachwerktext

Von Hegel stammt der Begriff »Vorkunst«. In ihr hätten wir, so


meint er in der »Ästhetik«, zunächst »nur abstrakte, noch an sich

selbst nicht wesentlich individualisierte Bedeutungen« vor uns. »Die


Entwicklung der Kunst«, so dachte er weiter, gehe von der »ab-
strakten Vorkunst« zur Kunst des »konkreten Ichs« über, als solche
er die Romantik empfand. Er zog die Folgerung, daß damit »kein
absolutes Bedürfnis« mehr bestehe, »einen Gedanken in der Form
der Kunst auszudrücken«. Dennoch ging die Kunstproduktion wei-
ter. Sie ging sozusagen einen neuen, aber umgekehrten Weg. Sie
baute die »Bedeutungen« ab, wurde abstrakte, konkrete, sogar
informelle Kunst. Das »Material«, aus dem überhaupt Kunst ge-

macht werden konnte, also die Repertoires materialer Träger ästhe-


tischer Zustände, gewannen an Selbstständigkeit und wurden The-
ma einer materiellen Reflexion über Möglichkeiten ästhetischer

Zustände, genauer, diese materiale Reflexion realisierte sich selbst als

ästhetischer Zustand. In bezug auf ihn kann man von »Nachkunst«


sprechen, wenn man in der hegelschen Konzeption bleiben will.

Hier gewinnen die elementaren Modelle »Chaos«, »Gestalt« oder


»Struktur« und ihre graduierten Grade der Ordnung ästhetisches

Interesse. Die serielle Kreation dokumentiert die materiale Re-


flexion, und zweifellos kommt die schöpferische Reflexion dabei

nicht ohne Experimentieren aus. Neuseis »Fachwerke«, ebenso als

>strukturelle< oder >reguläre< Ordnungsschemata wie als >konfigu-

rative< oder >irreguläre< zu sehen, bieten ein deutliches Beispiel


für eine experimentierende materiale Reflexion, die das Erzeugen
von Serien begünstigt. Dazu kommt aber, daß es sich um elemen-
tare, gewissermaßen als irreduzibel gedachte Ordnungsschemata

handelt, die >strukturell< oder >konfigurativ< zu Serien komponiert

102
werden können. Aber es gibt nur zwei nur zwei Realgestalten sol-

cher seriell gebauter linearer Koexistenzen elementarer Ordnungs-


schemata struktureller oder konfigurativer Konstruktion: Fachwer-
ke und Schriften. Fachwerke als zusammenhaltende Ornungsreihen
für Wände, Schriften als zusammenhaltende Ordnungsreihen für
Texte. Ich finde, daß Neuseis Graphiken, Bilder und Plastiken, die,

man muß es drei Mal sagen, primär linear gesehen werden müssen,
wie man Schrift linear liest, Übergänge zwischen Fachwerken für
Wände und Schriftwerken für Seiten ermöglicht. Das macht den
extremen, gleichsam dualen Reiz ästhetischer Zustände aus, die für
solche Gebilde, die man Textwände nennen könnte und deren
Malerei Fachwerkschreibkunst ist, >Schönheiten< liefert, die tatsäch-
lich >Bot-Schaften< sind.
Es wird der Schein von Schriften wie der Schein von Gegenständen
geboten, und man weiß es doch, es ist stets der Schein, weniger die
Wirklichkeit, die unsere Reflexion bewegt. »Das Konkrete ist das
Späte« würde Hegel formulieren, wenn er hier formulieren müßte.
Es ist etwas, was das Abstrakte schon durchlaufen hat, aber nicht

mehr Unmittelbarkeit zur Welt, sondern Unmittelbarkeit zum Be-


wußtsein ausdrückt, also äußere Anschaulichkeit in innere Anschau-
ung verwandelt, Visualität der Dinge in Visualität in Zeichen,
Visualität der Fachwerke in Visualität in Schriftwerk verwandelt.

103
Schriftzeichen Mira Schendeis

Nachdem mein Freund Haroldo de Campos die graphischen Kalli-


gramme eingeleitet hat, möchte ich sie ausleiten. Auf diese Weise
sind sie eingebettet in Wörtern; sie entstehen gewissermaßen in
ihnen, um wieder in sie zurückzukehren; Ableitungen aus Aufge-
schriebenem, Zerstreuung des Notierten, seine graphische Reduktion,
Aufhebung der linguistischen Struktur zugunsten einer malerischen.

Eine Letter benimmt sich wie ein Punkt, die Verkettung der Lettern
wie eine Linie und viele Letternlinien legen Flächen fest, umranden
sie oder öffnen sie zu Ebenen im Raum. Reduktionen, um zu sagen,
daß nur wenige Buchstaben des Alphabets graphisch ausgenützt
werden und daß sie fast stets nur auf ihre dünne Spur zurückge-
führt sind. Distributionen, um zu sagen, daß die Zerstreuung und
Aufhebung der Figuren möglicher Schriftzüge nur ästhetische Inter-
essen verfolgt. Transformationen, um zu sagen, daß die Letter hier
kein Vorwand ist, um wirkliche Texte auszusprechen oder zu un-
terdrücken. Wörter, die wahrnehmbar werden, sind zufällige Wort-
ereignisse in visuell verfolgten Fingerzügen auf dem Papier, leicht,
aber vehement, angefertigt von einer Hand, die zwischen Ver-
strickung und Lösung reflektiert, hin und her geht, nur vom Blick

gelenkt und vom Wahrgenommenen getrieben. Nur was sichtbar

ist, ist die Aktion, und die Aktion erzeugt nur Sichtbarkeit.
Es ist alles sehr substantiell, Figurenzug und Wahl des Papieres,
die Intensitäten des Strichs, der Aufenthalt an den Rundungen,
das Elegante, das Schwerfällige, das Anmutige, das Geschlossene
oder Abbrechende, das Aphoristische und das Ausführliche, das,
was wie aus Haar besteht, und das, was wie ein Balken ist. Was
sich abspielt, spielt sich auf der äußersten Haut der Weltsubstanz
ab, dort, wo die Welt in das Bewußtsein, in die Sprache einzudrin-

gen beginnen könnte.

104
Der Weg eines Zeichens

i.

Ein Zeichen ist kein Gegenstand, sondern eine Relation zwischen


Gegenständen. Eine Relation, die eine Beziehung setzt zwischen
dem Zeichen selbst, dem Objekt, das es bezeichnet, und dem Inter-

pretanten, für den es eine Bedeutung hat. Diese triadische Relation


bringt es mit sich, daß Zeichen Kontakte zwischen Menschen und
Dingen oder Situationen herstellen. Sie sind Träger der Namen,
der Wahrnehmung, der Erkenntnis, der Beschreibung, der Erklä-
rung, der Werte, der Urteile, der Mitteilungen, kurz aller Daten,
aller Informationen, die den Inbegriff menschlicher Intelligenz
ausmachen. Indem Zeichen solchen Vermittlungen dienen, benötigen
sie Wege der Vermittlung. Sie sind, wo immer sie auftreten, an
Vermittlungsschemata, an Kommunikationskanäle gebunden.
Jede Stadt als bewohnbares, als urbanes System ist stets ein

kommunikativer Raum semiotischer Vermittlung, ein System von


Kommunikationskanälen, durch die Daten, Informationen aller Art
zwischen einer Quelle und einem Empfänger fließen. Gleichgültig,
ob es sich um Verkehrszeichen, Werbezeichen, Straßennamen, Haus-
bezeichnungen, Warenzeichen, Telefonnummern, Briefe, Dekora-
tionen, Schaufenster usw. handelt, sie fungieren alle in bestimmten

Kommunikationskanälen, die eine Stadt zum urbanen System ma-


chen. Kreation, Kommunikativität und Transportierbarkeit stellen

darüber hinaus den Inbegriff der Manipulierbarkeit der Zeichen


dar, und diese triadische Möglichkeit seiner Manipulierbarkeit bil-

det das, was wir hier den Weg eines Zeichens nennen.
Da es sich um ein hochentwickeltes Etwas menschlicher Bewußt-
seinstätigkeit handelt und höhere Kategorien des Seins, wie bekannt
ist, auch die anfälligeren, empfindlicheren sind, ist der Weg eines

105
Zeichens stets auch der Weg seiner Veränderung, jeder Kommuni-
kationskanal setzt das Zeichen Störungen aus/ Das ursprünglich
gewählte Zeichenmittel kann material abgeschliffen werden, wie
das ursprünglich bezeichnete Objekt verdeutlicht oder verschleiert
und die ursprüngliche Bedeutung verändert oder entleert werden
mag. Schon im kreativen Prozeß seiner Generierung beginnt eine
Degeneration, in der Idee und Realität des Zeichens auseinander-
brechen können. Kommunikation und Transport des Zeichens set-

zen nur allzuleicht die Gradation einer Degradation aus. Der Weg
eines Zeichens ist immer der Weg durch humane und urbane Sy-
steme, die seinen ebenso komplexen wie fragilen Gebrauch ent-
hüllen.

Wie bei jedem Zeichen wird man auch bei dem, das Aloisio Magal-
häes 1965 zur 400- Jahr-Feier der Stadt Rio de Janeiro geschaffen
hat, zwischen seinem kreativen, kommunikativen und transporta-
tiven Weg unterscheiden müssen. Der kreative Weg ist der Weg
der Idee aus einem materialen Repertoire in die konstruktive (

Realität. Diese konstruktive Herkunft des Zeichens zeigt seinen

endlichen, selektiven und damit ästhetischen Charakter. Das Reper-


toire umfaßt elementare geometrische Formen, Punkte, Geraden,
Flächen, also Simplexe, die zu einem Komplex zusammengesetzt
werden, zu einer Konfiguration, zu einer Gestalt semiotisch supe-
riert werden, bis diese, in vier Dreiecken, die aus den Ecken eines
Quadrats herauswachsen, iconisch die 400 Jahre der Stadt reprä-
sentieren. Die körperliche Variante dieser Konstruktion des Icons
sind vier an einer Ecke zusammenstoßende Tetraeder. Bis zu diesem

Moment des kreativen Weges könnte das Zeichen noch ein rein

intelligibles Zeichen sein, ausdrückbar in einer symbolischen For-


melsprache der Mathematik; aber indem die Dreiecksflächen des

106
Zeichens durch die Landesfarben Brasiliens eine reichere optische
Qualität gewinnen, erreicht die formale Iconizität eine materiale
Indexikalität, die den kreativen Weg beendet und den kommuni-
kativen beginnen läßt.
Der kommunikative Weg ist ein visueller. Das Zeichen wird zum
Mittel visueller Kommunikation. Mitteilungszeichen und Werbe-
zeichen. Mitteilung eines geschichtlichen Sachverhalts und Werbung
für die Stadt und ihre Feier. Dabei zeigte sich, daß das Zeichen,
so abstrakt, so konstruktiv, so singulär es zunächst auch erschien,

allenthalben verstanden wurde und wie ein Schriftzeichen an Allge-


meinheit gewann. Da es darüber hinaus die pragmatische Mittei-
lung mit einer ästhetischen verknüpfte, setzte sich der kommuni-
kative Weg dieses Zeichens in einem transportativen fort. Das
ortslose, intelligible Zeichen wurde zu einem ortsverbundenen, ma-
terialen Signal, das im Prinzip überall auftauchen konnte, um
Mitteilung, Werbung und - Dekor zu sein.

Aloisio Magalhaes hat den transportativen Weg seines Zeichens über


alle Phasen des kommunikativen Wegs verfolgt, von der Phase
extremer Singularität bis zur Phase struktureller Repetition und zur
Phase seiner Zurücknahme in den chaogenen Zustand des ursprüng-
lichen Repertoires.

Mir scheint, daß der Drache, der in Copacobana am Strand, gänz-


lich reduziert auf die konstruktive Konfiguration dieses Zeichens,
völlig vereinzelt hochsteigt, das Äußerste darstellt, was es als

singuläres Superzeichen real und material erreichen konnte. Voll-

ständiges Zusammenfallen von Ortslosigkeit des Zeichens und


Ortsvariabilität von Signal. Vollständige visuelle und technische

Kommunikation, verbunden mit vollständiger Transportabilität.


Gleichermaßen Werbezeichen, Mitteilungszeichen und Dekor. Kine-
tischer Index. Index, der auf dem Pflaster zwar noch nicht an Sin-

gularität, aber an Transportabilität und an Visualität verliert.

107
An den Fensterscheiben des Hochhauses tritt es in den unendlichen
Rapport eines ornamentalen Dekors ein. Die Konfiguration schlägt
um in Struktur. Auf der Tür des Wagens in den Straßen Rios er-

scheint das Zeichen zwar noch einmal als singuläres Gebilde, aber

das abgeschwächte visuelle Moment verstärkt seine Mitteilung, in-


dem es sie Worten »Rio 400 Anos« wiederholt. Im
verbal, in

Fenster des Schuhgeschäfts ist es dann völlig zum Werbezeichen


entartet. Auf dem Bikini der Frauen noch einmal Dekor, Schmuck,
ästhetische Mitteilung wie auf den Trommeln und Kostümen des
Karnevals, gänzlich im momentanen ästhetischen Kommunikations-
kanal versickernd. An den Zäunen, an den Mauern, im Sand beginnt
neben der semantischen auch die syntaktische Auflösung, beginnt
das, was Hegel die Degradation der Zeichen nannte, die Konturen
werden unscharf, die Merkmale des Konstruktiven verschwinden,
tachistische Schönheit wird sichtbar, japaneske Züge, bis alles in

einem Gewirr von Linienzügen unfigürlich, spielerisch aufhört.


Glänzendes Beispiel von der Entstehung, dem Leben und dem
Absterben eines Zeichens in den vielfachen humanen und urbanen
Kommunikationskanälen einer tropischen Weltstadt.

108
Strukturen und Signale
Notiz über einen Film Domnicks

Wie jeder neue Film von Ottomar Domnick gehört auch dieser zur

Kategorie der experimentellen Filme, sofern er auf ästhetische und


motivische Innovationen aus ist.

Wie der Titel seines letzten Films »ohne Datum« (1962) bezeichnet
auch der Titel »N. N.« dieses neuen Films keinen konkreten Hand-
lungsablauf, sondern einen abstrakten Bewußtseinszustand, der sich
immer stärker und deutlicher auf ein bestimmtes Faktum fixiert.

In beiden Filmwerken handelt es sich darum, innere Ereignisse,


also Ereignisse des Bewußtseins, durch äußere, also durch Vorgänge
in der sichtbaren Außenwelt, darzustellen, und die Bezeichnung
»Spielfilm« wird verständlich, wenn man bereit ist, im Ablauf
einer Reflexion nicht nur die Stringenz eines Engagements, sondern
auch die Artistik eines Spiels zu entdecken. Aber das Spiel ist ein

doppeltes: einerseits der dialektische Umschlag der enthusiastischen


Reflexion eines Architekten, das vollautomatische Gefängnis für
alle zu bauen, in die kritische Reflexion, es nicht zu bauen und
andererseits die dialektische Transposition der verworteten hörba-

ren Reflexion in ihre verbildlichte sichtbare Außenwelt. Einmal


liegt die Dialektik im Engagement des Architekten, das andere
Mal in der Artistik des Filmschnitts.

Doch ist diese verdoppelte Dialektik nicht die einzige Quelle über-

raschender Innovationen dieses Films. Man bemerkt vielmehr bald


die beständige Verschiebung der visuellen Reflexe gegen die ver-

bale Reflexion oder der visuellen Reflexion gegen ihre verbalen


Reflexe. Sofern es sich dabei um optisch-akustische Translationen
handelt, also der Bildfolgen gegen die Wortfolgen, arbeitet die
Schnittechnik mit einem Sonderfall der semantischen Verschiebung

109
der Wörter gegen den Sinn, von der einmal die russischen Forma-
listen gesprochen haben. Der Reiz, der dadurch entsteht, ist ein

poetischer, manchmal ein metaphorischer, und so rhapsodisch Bild-


folgen und Wortfolgen hier in ihrer Spannung ablaufen, der Film
folgt stärker den Zäsuren der Poesie als der Prosa.
Vielleicht hängt diese Technik der semantischen Verschiebungen
zwischen Wortfolgen und Bildfolgen auch mit dem Umstand zu-
sammen, daß das visuelle Material des Films methodisch in euro-

päischen Städten und Landschaften, gewissermaßen im Gehen


und Fahren, gesammelt wurde und das Textbett, also die Reflexion,
in der das Material eingebettet ist, erst nach der visuellen Erfahrung
generiert wurde. Auch die Dynamik der Bildwechsel oder die Statik
ihrer Präsenz spiegelt diese Vitalität, die schließlich auch in die

leidenschaftlichen und besonnenen Verästelungen der verbalen Re-


flexion eingedrungen ist.

Dieser Film wirkt als ablaufende Komposition von Bildfolgen und


Wortfolgen äußerst strukturell, fast ornamental. Daher reduziert,
aber nicht instrumentiert, - methodisch, nicht malerisch. Konzen-
trationen auf bestimmte substantivische semantische Einheiten in-
nerhalb der verbalen Reflexion wie auf »Gefängnis«, »Isolierung«,
»Entkommen«, und dgl. künden semantisch einheitliche Bildfolgen

an wie »Fassaden«, »Gitter«, »Drähte« und dgl. Die Menge der


semantischen Texteinheiten ist ebenso leicht abzählbar wie die
Menge der semantischen Bildeinheiten, und sowohl die Wortein-

heiten wie die Bildeinheiten sind seriell gebaut. Es ist im Ganzen


die Spannung des Seriellen, des Repetierbaren, des Ornamentalen,
die hier ästhetisch wirksam wird. Die Möglichkeit eines ebenso

»koexistierenden« wie »konsekutiven« (Lessing) unendlichen Rap-


ports und die gleichzeitig sichtbar und hörbar gewordene Metrik
und Rhythmik im dialektischen Vorübergang der Reflexionen las-

sen es zu, von einem filmischen Kunstwerk zu sprechen.

110
Ein Textbuch Heißenbüttels

Es gibt nicht nur eine moderne Literatur, sondern auch eine moder-
ne Literaturtheorie, und es scheint mir angemessen, die kritische
Betrachtung eines wesentlichen Stückes moderner deutscher Literatur
mit den Mitteln jener Literaturtheorie durchzuführen.
Helmut Heißenbüttels »Textbuch 2« dispensiert, wie übrigens schon
das »Textbuch 1«, das früher erschien, von der klassischen Eintei-

lung in Prosa und Poesie, indem es ausdrücklich von Texten spricht.

Tatsächlich wird nun das Hauptstück moderner Literaturtheorie,

gewissermaßen ihre Basis, als Texttheorie bezeichnet. Texttheorie

deutet nicht, sondern stellt fest, und unter Text wird in ihrem
Sprachgebrauch alles verstanden, was man aus Worten machen
kann.
Mit dieser Definition, die natürlich sehr einfach ist, sind wir jedoch
schon bei unserem Thema. Betrachtet man nämlich einen Text
ausschließlich vom Standpunkt seiner Zusammensetzung aus Wor-
ten, die Sätze, Perioden, Abschnitte usw. bilden, also nur als den
Inbegriff eines bestimmten sprachlichen bzw. linguistischen Materi-
als (und die Satzzeichen kann man dabei ohne weiteres durch
Worte angeben), dann sieht man leicht ein, daß jeder Text in seiner

materialen Gestaltung von zwei Bestimmungsstücken, von zwei


zahlenmäßig angebbaren Parametern, wie man sagt, abhängt, er-
stens vom Reichtum des Vokabulars, also von der Zahl der ver-
schiedenen Worte, die in ihm vorkommen und zweitens von der
Häufigkeit, mit der diese Worte jeweils auftreten.

Im »Textbuch 2« von Helmut Heißenbüttel lassen sich deutlich

zwei Gruppen von Texten unterscheiden. Im Ganzen gibt es 25


Texte. In den ersten 22 Texten regiert im wesentlichen der Reich-
tum des Vokabulars. In den letzten 3 Texten hingegen wird die

111
Sprache, vor allem in der »Politischen Grammatik«, von der Häu-
figkeit, mit der einzelne Worte auftreten, beherrscht. Man könnte
vom Vokabularstil und vom Frequenzstil Heißenbüttels sprechen.

Daß es Übergänge zwischen ihnen gibt, ist klar. -

Für den Vokabularstil Heißenbüttels ist im »Textbuch 2« etwa der


erste Text mit dem Titel »Ein Zimmer in meiner Wohnung« cha-
rakteristisch.

Für den Frequenzstil würde ich den letzten Text der Publikation
anführen. Er trägt den Titel »Politische Grammatik«.
Nun beruht, wie die Statistische Ästhetik lehrt, die ästhetische Be-
schaffenheit eines Textmaterials auf den statistischen Überraschun-

gen in der Auswahl oder in der Verteilung der aufgewendeten


Materialien wie Worte, Sätze, Abschnitte usw., d. h. also auf den
Abweichungen gewisser zahlenmäßig angebbarer Charakteristiken
von den konventionellen Werten. Wir dürfen auf Grund der vor-
hergehenden Überlegung vermuten, daß Heißenbüttels Texte ihre
ästhetische Anziehung, ihre Schönheit, wie ich allerdings nur intui-
tiv und vulgär sagen möchte, einmal einem extrem reichen Vokabu-
lar und ein andermal extrem hohen Frequenzen verdanken. Im
Text »Ein Zimmer in meiner Wohnung«, der von einem hohen
Vokabular abhängt, kommen auf die ersten 50 Worte 45 verschie-

dene. Im Text »Politische Grammatik« kommen auf die ersten 50

Worte nur 1 5 verschiedene.


Man kann diese im statistischen Sinne ästhetische Überraschung
durch Überlegungen mit Hilfe der sogenannten »Stilcharakteri-
stiken« von Wilhelm Fucks, ebenfalls statistischen Größen, noch
verdeutlichen. Eine dieser Stilcharakteristiken ist z. B. die Text-

Entropie. Sie gibt durch einen Zahlwert den Grad der Mischung
an, in dem in einem Text einsilbige, zweisilbige, dreisilbige und

mehrsilbige Worte vorkommen. Für die Berechnung dieser Entro-


pien gibt es bestimmte Formeln, die ich hier nicht anführen will.

112
Jedenfalls muß man zuerst die sogenannten Mittleren Silbenzahlen

bestimmen, um mit ihrer Hilfe dann die Entropien angeben zu


können. Mittlere Silbenzahlen und Entropien werden damit zu
wichtigen Stilcharakteristiken eines Autors. Fucks fand heraus,
daß die Mittleren Silbenzahlen und Entropien in der sogenannten

dichterischen Sprache (der Lyrik, der Poesie, wie man sagt) ab-

weichen von den Mittleren Silbenzahlen und Entropien in der


sogenannten literarischen Sprache (der Romane, der Essays, der
philosophischen Überlegungen, der Prosa, wie man etwas grob
sagen kann). Im ganzen schwanken die Werte der Mittleren Silben-
zahlen zwischen 1,6 . . . und 1,9 . . . und die Werte der Entropien
zwischen 0,3 ... und 0,5 ...
Man bemerkt schon bei einem langsamen Lesen der Heißenbüttel-
schen Texte, daß es unter ihnen einige gibt, die Einsilber, Zweisil-
ber, Dreisilber und Mehrsilber in einem relativ hohen Mischungs-
grad enthalten, während andere zum überwiegenden Teil aus Ein-

silbern bestehen und dementsprechend eine geringe Entropie be-

sitzen.

Für einen hohen Mischungsgrad ist der Text, der als »Variante« im
Anschluß an »In Erwartung des roten Flecks« abgedruckt ist,

typisch.

Einen niederen Mischungsgrad enthält offensichtlich die »Gramma-


tikalische Reduktion«.
Auffällig ist vor allem die Abweichung der Mittleren Silbenzahl
und der Entropie der »Grammatikalischen Reduktion«. Der erste

Abschnitt besteht z. B. nur aus Einsilbern und Zweisilbern, wobei


die Einsilber enorm überwiegen. Es handelt sich um 117 Worte,
von denen nur 26 Zweisilber sind. Die Entropie liegt, wie eine
Durchrechnung mit einer größeren Probe verwandter Stücke ergab,
weit unter dem klassischen Normalwert 0,3 . . ., und zwar bei

rund 0,175, in einzelnen Abschnitten sogar noch tiefer. Insbeson-

113
dere die »Grammatikalische Reduktion« zeigt also eine statistische
Überraschung in den aufgewendeten Materialien, was vom Stand-
punkt unserer Theorie für seine kreative, künstlerische Beschaffen-

heit spricht. Tatsächlich würde ich auch nicht zögern, ästhetisch


solchen Texten wie »Grammatikalische Reduktion« oder »Politische
Grammatik« den Vorzug vor »Ein Zimmer in meiner Wohnung«
oder »Ich der Ermordete« zu geben.
Das führt mich auf etwas anderes. Auf eine stilkritische Einord-
nung und Klassifikation der Heißenbüttelschen Texte. Gerade sol-

che Texte wie die »Politische Grammatik« oder auch die »Gramma-
tikalische Reduktion« machen die Aufmerksamkeit verständlich,
mit der dieser Autor die Veröffentlichungen der Konkreten Dichter
wie Eugen Gomringer und Gerhard Rühm sowie der berühmten
Gruppe der »Noigandres« in Brasilien verfolgt. Eugen Gomringer,
Haroldo de Campos oder Ronaldo Azeredo sehen in Helmut
Heißenbüttel fast einen der ihren. Während meines Aufenthaltes
in Sao Paulo konnte ich mich im Gespräch mit der Gruppe der
Konkreten Schriftsteller davon überzeugen.
Tatsächlich läßt sich die Konkrete Poesie statistisch schon dadurch
klassifizieren, daß man den Reichtum ihres Vokabulars und die
Frequenz ihrer Worte bestimmt. Man entdeckt sofort, daß das
Vokabular klein, aber die Frequenz groß ist. Wichtig ist der visuelle
Charakter der Worte, den man bei ihrer Anordnung zu einem
Text berücksichtigt. Es sind fast durchweg Texte, die wahrgenom-
men werden müssen, wenn sie aufgenommen werden sollen. Das
kann man nun nicht von Heißenbüttels Texten sagen. Sie können
gesprochen werden, d. h. es genügt, sie zu sprechen, wenn man sie
mitteilen will, ihre Wahrnehmung ist nützlich, nicht notwendig.
Dennoch liegt die Verbindung zwischen den Heißenbüttelschen Tex-
ten und denen der Konkreten Poesie darin, daß sie gern das Voka-
bular zugunsten der Frequenz verringern und daß sie nieder-entro-

114
pische Texte sind. Die meisten Texte der Konkreten Dichter, ich

habe diesbezüglich Eugen Gomringers und Pedro Xistos Veröffent-


lichungen untersucht, haben eine Entropie, die häufig unterhalb der
Entropie der genannten charakteristischen Texte von Helmut Hei-
ßenbüttel liegen.
Bezeichnet man das Auftreten neuer Worte in einem Text mit
Innovation und das Wiederholen gleicher Worte, wodurch ja der
Frequenzstil entsteht, als Redundanz - was so viel bedeutet wie
Überfluß, Ballast - dann deuten extrem hohe Werte der Entropie
Innovation, statistische Überraschung und damit das an, was man
Gestaltung, Komplexität nennt, während extrem niedere Werte der
Entropie Redundanz, statistische Voraussagbarkeit und materiale
Gleichförmigkeit, also Strukturierung des Wortflusses zum Aus-
druck bringen.
»Der Wassermaler«, im wesentlichen noch durchaus konventio-
nelle Prosa, zeigt in erster Linie Gestaltung, Komplexität und
Innovation an, während der »Traktat« in seiner Sprache die Mittel
der Strukturierung, der materialen Homogenisierung und Redun-
danz zu bevorzugen scheint.

Noch etwas weiteres kann man sehr schön an den Texten Heißen-
büttels beobachten. Die Worte eines Textes haben eine doppelte
Bedeutung. Jedes Wort bezeichnet etwas, desgleichen sagen die
Wortreihen etwas. Wir drücken diesen Sachverhalt dadurch aus,
daß wir sagen: die Worte stellen einen Kode dar. Darüber hinaus
bilden die Worte eines Textes aber auch einen Zusammenhang,
einen Konnex, wie die Mathematiker, einen Kontext, wie die
Schriftsteller sagen. Jedenfalls bestimmen Kode und Kontext die
Funktion der Worte. Es ist leicht zu sehen, daß unter dem Gesichts-
punkt des Kode die Worte gewählt, selektiert werden, während sie

in Bezug auf den Kontext kombiniert werden. So hängen Selektion


und Kombination im Text mit den Wortfunktionen des Kode und

115
des Kontextes zusammen. Es gibt unter den Texten Heißenbüttels
Beispiele für Texte, in denen die Kode-Funktion des Wortes, ande-
re, in denen die Kontext-Funktion überwiegt. Man weiß heute,
daß die kodierenden, selektiven Abläufe in der Sprache eine Nei-

gung haben, Metaphern oder wenigstens metaphorische Redeweisen


zu produzieren, während die kombinatorische Bildung des Kon-
textes im Text das Bild des Epischen hervorruft. Ich brauche na-
türlich nicht zu betonen, daß die reinen Fälle selten und die Misch-
formen üblicher sind.

Ich würde Heißenbüttels »In Erwartung des roten Flecks« als

selektive kodierende Prosa metaphorischer Redeweise bezeichnen.

Hingegen stellen »Traktat« und »Situation« Beispiele für Kon-


texte dar, deren Bildung allerdings nicht rein ist.

Schließlich möchte ich noch auf folgendes hinweisen. Es ist vielleicht

viel günstiger, wenn man klassifizieren will, Heißenbüttels Texte,

wenigstens in ihren charakteristischen Stücken, als »abstrakte Tex-


te« oder auch als »abstrakte Poesie« zu bezeichnen. Alles Abstrakte
ist inhaltlich unabgeschlossen, das heißt man kann etwas einsetzen,
um den Text inhaltlich, bedeutungsmäßig, intentional zu satu-
rieren, wie man in der Texttheorie sagt. Wenn Heißenbüttel z. B.

im »Traktat« schreibt: »Wenn die Art von Ding wo ich drin bin

aufgehört hätte und ich könnte reden und erzählen und sagen so
und so und dies Ding in dem ich drin bin gewesen bin das ist das
und das und fängt da an und hört da auf . . . usw.«, so kann man
z. B. für »Ding« den Ausdruck »Welt« und für »so und so« oder
für »das ist das und das« beliebige Aussagen einsetzen. Abstrakte
Texte sind in gewisser Hinsicht »uneigentliche« Texte, um einen
Ausdruck zu verwenden, der schon von Salomon Maimon, dem
Kantianer und Kantkritiker, zur Kennzeichnung von Prosa benutzt
wurde. Der »Traktat« ist ein uneigentlicher, »Ein Zimmer in meiner

Wohnung« ein eigentlicher Text.

116
Es scheint mir jedoch wichtig, in diesem Zusammenhang noch einmal
auf die »Politische Grammatik« hinzuweisen. Dieser Text im Fre-
quenzstil »Verfolger verfolgen die Verfolgten. Verfolgte aber wer-

den Verfolger. Und weil Verfolgte Verfolger werden werden aus


Verfolgten verfolgende Verfolgte und aus Verfolgern verfolgte
Verfolger usw.« ist kein abstrakter Text, sondern ganz im Gegenteil
ein intentionaler, ein Text, der schon in der Struktur das Phänomen
der Verfolgung enthält, zugleich präsentiert, wie es sich von sich
selbst her zeigt, und repräsentiert, wie es sich in den Zeichen der
Worte spiegelt. Dieser Text gibt mit einer ontologischen Präzision
den Sachverhalt der Verfolgung, er gibt ihn als Bewußtseinstatsache,
als intentionales Objekt im Sinne der Husserlschen Phänomeno-
logie, als Ikon.
Ich möchte von diesem Punkt aus rechtfertigen, daß Helmut Hei-
ßenbüttel seinem »Textbuch 2« ein Zitat aus Husserl voranstellt.
Die Forderungen, die, zunächst verwunderlich genug, aus diesem
Motto resultieren, erfüllen sich, wie gesagt, vor allem im letzten
Stück des Buches, in der »Politischen Grammatik«.
Natürlich gibt es im »Textbuch 2« Partien konkreter und auch
abstrakter Poesie. Dennoch ist Heißenbüttel wenigstens in dieser
Publikation ein intentionaler Schriftsteller, ein Schriftsteller, der
nicht nur aus Worten einen Text macht, sondern in dem Text
etwas aussagt. Neben die materiale Analyse, die wir in unserer
Betrachtung durchführten, könnte jetzt eine inhaltliche treten, durch
die der Kode entschlüsselt und der Kontext gelichtet wird. Die
klassische Literaturwissenschaft nennt das gern Interpretation. Ich
möchte ihr diese Interpretation nicht abnehmen, sondern überlas-
sen. Ich möchte nur andeuten, daß, inhaltlich gesehen, die Texte
mindestens stückweise eine Selbstdarstellung zum Ausdruck brin-
gen, einen Mann kargen Worts, aber kompakter Intelligenz, einen
beständig reduzierenden Rhapsoden. Es gibt gewissermaßen hinter

117
allen Beschreibungen, Beobachtungen, Gedankengängen und Re-
flexionen ein transzendentales Ego namens Helmut Heißenbüttel,
das sich in der Sprache einmal verfestigt und ein andermal zerstreut.
Dieses Ego gewinnt sich immer wieder aus dem, was aufgezeichnet
wird, zurück. Es mauert sich einmal in seine eigene Sprache wie
Kafkas Tier in seinen Bau ein und tritt ein andermal mit den gro-
ßen Gesten Gertrude Steins Worte verschwenderisch wiederholend
heraus. Ein wenig der Fall Wittgenstein als Poesie.
Der sonderbare, durchnummerierte Text mit dem Titel »Roman«
scheint mir durchaus das Modell dieses Inhalts darzustellen.

118
Queneaus kleine tragbare Kosmogonie

Ein lächelnder Kafka, der längst im Schloß sitzt und in den Kosmos
vorgelassen werden will.
Die Verse als Geländer.
Ein Herr der Dinge, dem die Rechnungen der Erkenntnis vorge-
legt wurden, die er nun in Alexandrinern begleicht.
Jeder kluge Kopf verbindet eine Vorliebe mit anderen. Raymond
Queneau verbindet seine Vorliebe für Zahlen mit der Vorliebe für
Wörter, die Vorliebe für Arithmetik mit der Vorliebe für Poesie.
Das Buch der Natur, das Galilei in den Lettern der Mathematik
geschrieben fand, wird zurückübersetzt.
Omnis mundi creatura quasi liber et pictura nobis est et speculum.
140 Seiten mit je 12 Zeilen mit je 7 Wörtern (im Mittel), das ergibt

1 1 760 Wörter im ganzen.


Also tragbar. Das heißt handlich, brauchbar, aufklappbar, erlern-
bar, verpackt, ausgewählt, Taschenkosmogonie, von Ludwig Harig
übersetzt.

Ein Repetitorium, ein Who's Who, was Ernst Robert Curtius schon
von Ovids Metamorphosen sagte.

Liebe ist analoges Verhalten und digitale Aggression. Raymond


Queneau liebt den Kosmos - wie man die Vielheit der Dinge liebt.

Die diffuse Form der Polygamität.


Hegels Definition der »Kosmogonie« in der Ästhetik wurde ange-
messen eingehalten: »In den Kosmogonien ... Werden ist es das
der Dinge, vor allem der Natur, das Drängen und Kämpfen der in
ihr waltenden Tätigkeiten, was den Inhalt abgibt und die dichten-

de Phantasie dahin führt, nun konkreter schon und reichhaltiger ein


Geschehen in Form von Taten und Begebnissen darzustellen, indem
sich die Einbildungskraft die zu unterschiedenen Kreisen und Gebil-

119
den sich herausarbeitenden Naturgewalten unbestimmter oder fe-
ster personifiziert und symbolisierend in die Form menschlicher Er-
eignisse und Handlungen kleidet . . .«

Offenbar gehört zum Wesen einer Taschenkosmogonie, eine


es

Lust am Gedränge zum Ausdruck zu bringen. Das Gewimmel als


Struktur des epischen Weltzustandes.
In diesem Punkt gibt es eine gewisse Beziehung zwischen Raymond
Queneau und Denis Diderot: die enzyklopädische Gesinnung als

Voraussetzung des ästhetischen Interesses.


In der Einleitung zur Enzyklopädie entwirft Denis Diderot die
Vision eines menschenleeren Kosmos: »Vor allem darf man nicht

aus dem Auge verlieren, daß dann, wenn der Mensch oder das
denkende und betrachtende Wesen von der Oberfläche der Erde
verbannt wird, das pathetische und sublime Schauspiel der Natur
nur eine traurige und stumme Szene ist. Das Universum schweigt,

die Nacht und die Stille bemächtigen sich seiner, alles verändert

sich in eine leere Einsamkeit, in der die unbeobachteten Phänomene


auf eine dunkle und taube Art leben. Die Gegenwart des Menschen
macht die Existenz der anderen Wesen interessant.«
Raymond Queneau hat in einer noch kleineren cosmogonie porta-
tive diese Vision des menschenleeren Kosmos aufgenommen:

Taub ist die Nacht der Schatten der Nebel


Taub ist der Baum taub der Kieselstein
Taub ist der Hammer auf dem Amboß
Taub ist das Meer taub die Eule

Blind die Nacht und der Stein


Blind das Gras und die Dornen
Blind ist der Maulwurf unter der Erde
Blind ein Kern in der Frucht

120
Stumm die Nacht und das Elend
Stumm sind die Lieder und die Prärie
Stumm ist die Klarheit der Luft
Stumm der Wald der See der Schrei

Krank ist die ganze Natur


Krank sind Tiere und Felsen
Krank ist die Karikatur

Krank der Idiot der tobt

Aber wer sieht? wer hört? wer spricht?

Queneau sieht, hört und spricht. Er breitet seine Subjektivität,


ohne sie zu nennen, im Kosmos aus. Keine Weisheit Gottes, aber
die enzyklopädische Urteilskraft Queneaus.

Bezeichnen, beschreiben, beurteilen: die wohlgeordnete Verifika-


tion ermöglicht den wohlgeordneten Kosmos.
Die Zunahme der urteilenden Poesie im Verhältnis zur unterhalten-
den bezeichnet den Schritt aus der emotionalen in die intelligible,

aus der bourgeoisen in die prospektive Zone des Geistes und cha-

rakterisiert seine cartesianische Verfassung, vergleiche Paul Valery,


Henri Michaux und Francis Ponge.
Wenn das Wort Kieselstein vorkommt, kommt gewöhnlich auch
das Wort Universum vor. Bei Diderot, bei Valery, bei Ponge, bei
Queneau.
Jeder Kieselstein ist eine Taschenkosmogonie. Ein tragbares All.

Francis Ponge sprach vom Reichtum an Sätzen, die im geringsten


Gegenstand enthalten seien. Diese Sätze zu entdecken und aufzu-
schreiben ist eine Frage der Phantasie, und die Phantasie ist eine
Frage des Weltgenusses. Nur wer Sinn für Genuß hat, hat die Fä-

higkeit zur Phantasie,

übersetzt von Elisabeth Walther

121
Das Wort »Kieselstein« bietet immer die Möglichkeit, einen Text

entstehen zu lassen, der eine »Kosmogonie« ist.

Man täusche sich also nicht: Queneau spricht nicht als Naturforscher,

er spricht als Linguist. Es ist zwar immer von Dingen die Rede,

aber nur insofern sie Wörter sind.

Es gibt Urworte und Spätworte, Wortatome und Wortmoleküle,


Wortreste, Wortfassaden, Worthäuser, Wortbrunnen, Wortspalten,
Kofferworte, Wortverstecke, Wortspiele, Wortarchitekturen, Wort-
schichten, Wortgebirge, unermeßliche Terminologien, die man nicht

übersteigt . . . Ringelwürmerstich, Wasserschnakenfieber, Myrmeco-


philistiques.

Zuweilen stößt man auf Partien, wo das Gedränge der Wörter die
Stimmung eines Quartiers erzeugt, das man nur ungern verläßt.

Doch verbindet sich an jeder Stelle der Kosmogonie der Provinzia-


lismus mit dem Witz, so daß alles spirituell und erträglich bleibt.

Die Zonen der Frivolität verraten jene »Bescheidenheit der Woll-


lust«, von der Nietzsche sprach, als er Epikur beschrieb . . . der Fuß
eines Wesens abgedrückt im Sand als Index möglicher Begierde oder
eines Erschreckens.

Raymond Queneau gehört dem Collegium Pataphysicum in Paris

an. Das ist eine literarisch-philosophische Schule, deren Grundlage


die Pataphysik ist, eine Wissenschaft, deren Theoreme die Aus-
nahmen bestimmen, also des Besonderen - somit eine Wissenschaft

der ausgesprochen ästhetischen Methode; denn das Originale, das


in der künstlerischen Tätigkeit realisiert wird, ist in jedem Falle
ein Besonderes. Queneaus Kosmogonie geht ästhetisch vor, sofern

sie dem, was sie erschaffen sein läßt, eine Art nochmaliger Origina-
lität verleiht, und sie geht pataphysisch vor, sofern sie dem, was
da ist und durch die Wissenschaft in den Zustand des Gewußten
oder wenigstens des Wißbaren versetzt wurde, den Glanz oder
Abglanz eines Besonderen verleiht. Am Ende staunt man tatsäch-

122
lieh nicht mehr über die Wörter, die gefunden wurden, sondern über
die Dinge, die durch die Wörter genannt werden.
Genau darin ist die Kosmogonie Raymond Queneaus, wie der Pata-
physiker sagt »unschuldig an jeder Botschaft«.
In jeder »Kosmogonie« tritt ein gewisser Stillstand des Werdens
ein, das Maximum der Entropie, die letzte Zeile, der Wärmetod
der Poesie. Die cosmogonie portative endet mit dem Auftreten
der »Rechensaurier«, also den programmgesteuerten, datenverar-
beitenden Rechenanlagen, der Turingmaschine, den »abstrakten
Automaten«, um es theoriegemäß auszudrücken, dem technischen
»Leerlauf«, wie Queneaus pascalscher Hintergedanke ist (man soll

immer einen Gedanken im Hintergrund haben).


Der Leerlauf der Maschine, die künstliche Poesie, die übrigbleibt,

wird offenbar durch das redundante Stottern im poetischen Be-


wußtsein Gertrude Steins nachgeahmt »der Zweigefußte der trotz
allem zählt und spricht der zählt und spricht und pflegt der pflegt
und spricht und zählt der zählt und zählt und zählt der zählt und
zählt und zählt der pflegt und pflegt und pflegt der pflegt und
pflegt und pflegt der spricht und spricht und spricht der Rechen-

saurier der spricht . . .«

Das ist analoge, nicht digitale Redeweise; mehr Paternoster als

Information. Es wird ausgiebig imitierend, nicht nur symbolisierend


vorgegangen; mehr beschwörend als mitteilend, mehr realisierend

als kodierend. Aber damit verläßt der Dichter am Ende einer


»Kosmogonie«, die erstaunlicherweise auch die abstrakten Auto-
maten einbezieht, den Zivilisationsstil der Sprache. Denn in jeder

Zivilisation, in der das Leben eine Frage der Kommunikation ist,

vertraut sich die Sprache mehr und mehr den digitalen Kodierun-
gen der Nachrichtentechnik an. Queneau schließt also sprachlich
widerspruchsvoll, und das ist eine echte dialektische Überraschung.

Dialektik erzeugt offenbar nicht nur eine progressive, sondern auch

123
eine regressive Stimmung. Der epische Weltzustand, den diese

cosmogonie portative ausbreitet, scheint auch ein ironischer zu sein,

und jeder alte Dialektiker kostet gern dieses Gefühl aus, auch

Raymond Queneau.

124
Ludwig Harigs Hörspiele

Wer heute schreibt, schreibt in einem sprachlichen Raum, dessen


drei Dimensionen kreativer Möglichkeit durch Proust, Joyce und
Gertrude Stein gekennzeichnet werden können. Proust hat die
Sprache der Wahrnehmung, der inneren wie der äußeren, extrem
verfeinert und auf diese Weise demonstriert, wie sehr innerhalb des
Narrativen die Innovation vom Subtilen abhängt. Joyce entwickel-
te den monologischen Reflexionsstil der Sprache bis zu dem Punkt,
an dem ihr Glanz zugleich der Glanz einer Welt ist, die Glanz eines

Bewußtseins ist. Mit Gertrude Stein schließlich begann der Rückzug


der Sprache aus ihrer Außenwelt in ihre Eigenwelt und das Inter-

esse an einer Schreibweise, die weniger Sujets und Motive als viel-

mehr linguistische Materialien und Relationen reflektierte. Histo-


risch gesprochen vollzieht sich in diesem abgesteckten literarischen
Raum eine Tieferlegung sprachlicher Möglichkeiten, eine Fortset-

zung, eine Rekapitulation sowohl der kreativen wie auch der


kommunikativen Interessen an der Sprache auf deren materialer
Ebene, und gerade im Rückgang auf diese wird deutlich, wie sehr
die Sprache neben ihrem Charakter als logisches und informatives
auch ein ästhetisches Instrument ist.

Natürlich ist Schreiben in jedem Falle ein heuristisches Prinzip,


ein Prinzip des Suchens und Findens, das zwischen trial and error,

zwischen Versuch und Irrtum schwankt; aber auf der materialen


Ebene der Sprache, auf der die semiotische Natur der Elemente
deutlicher wird, schwächen sich die syntaktischen, semantischen
und pragmatischen Kriterien ab und was hervortritt, ist ein krea-

tives Reglement, das die fundamentale ästhetische Manipulierbar-


keit der Materialien enthüllt, und diese ästhetische Manipulierbar-

keit vollzieht sich ausschließlich heuristisch. Schreibend sucht man,

125
was man schreibt, und schreibend rindet man, was geschrieben wer-
den soll. Der Prozeß gewinnt an Bedeutung, aber der Prozeß ist ein

Experiment, und das Experiment ist die wesentliche Kategorie der

Kreation. Alle diese theoretischen Voraussetzungen verbinden mich


mit Ludwig Harig. Unter den modernen Autoren, die experimen-
telle Schreibweisen schriftstellerisch ausnützen, um konventionelle
Gattungen total zu verändern, nimmt Ludwig Harig insofern eine
besondere Stellung ein, als er die kreative Autonomie der sprach-
lichen Mittel und ihres ästhetischen Reglements sowohl für die

Poesie als auch für die Epik und Dramatik ausnützte und damit in

den letzten Jahren auch das Hörspiel in seine Versuche einbezog.


Jede experimentelle Schreibweise, die heuristisch auf der materialen
Ebene der Sprache ansetzt, reduziert im Sinne Nietzsches und
übrigens auch Benns das metaphysische Weltbild auf ein artistisches,
in der das Dasein nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt sei.

Aber Ludwig Harig bleibt in seiner experimentellen Schreibweise

nie im ästhetischen Engagement stecken, ihm gelingt es, artistisch

die Materialien in Semanteme zu verwandeln und ein existentielles,

sogar ein politisches Engagement einzugehen. Das bewies er poetisch

bereits mit haiku hiroshima, und in den Hörspielen, zum Beispiel

im Blumenstück, ist es fast schon Methode. Damit wird auch de-


monstriert, daß das Experimentelle nicht schichtgebunden ist: es

kann sich aus der materiellen Ebene in die syntaktische, semantische


und pragmatische entwickeln.
Unter dem Aspekt aller dieser Gesichtspunkte ist ein Hörspiel

selbstverständlich zunächst immer erst Textspiel. Das heißt, daß


es aus Wörtern besteht, die syntaktische, semantische, pragmatische
oder ästhetische Kontexte bilden, deren Erzeugung die materiale
Eigenwelt der Sprache voraussetzt, deren Elemente kreativ, also
im Interesse der Entstehung neuer offener oder geschlossener Kon-
texte, durch ein schöpferisches Subjekt, das als externer Beobachter

126
fungiert, manipuliert werden können. In einem solchen Textspiel,

das zeitlich generiert wird, zeitlich abläuft, sind die Wörter nicht
mehr nur sprachliche Objekte, sondern zugleich Ereignisse, Wort-
ereignisse, weil weniger das Wort als solches, sondern das Auftau-
chen, die Emergenz des Wortes oder der Folge von Wörtern das
Wesentliche ist.

Aus dem bloßen Textspiel über dem Repertoire von Wortereignis-


sen entwickelt sich das Hörspiel durch die Transformation der
materialen Ebene der Wortereignisse. Wenn vorher, im Textspiel,

die materiale Ebene visuell artikuliert war, so erscheint sie im


Hörspiel akustisch und stereoakustisch artikuliert. Das Wortereig-
nis auf der Fläche wird zum Wortereignis im Raum, außerdem
gewinnt es unter Umständen sogar haptische Züge.
Da das Ohr feiner diff erenziert als das Auge, handelt es sich beim
Übergang vom Textspiel zum Hörspiel auch um die Entwicklung

eines statischen Systems von Wortereignissen in ein dynamisches


System von Wortereignissen. Das existentiell wirksame Gewicht,
der Wortdruck, der Aussagendruck wird stärker. Daß neue Be-
deutungen, also innovative Kontexte, die im sprachlichen Medium
überraschend aufsteigen, neue Folgen für Urteile und Handlungen
haben, wird im dynamischen System der Wortereignisse deutlicher
als im statischen. Aber selbstverständlich nur dann, wenn die Trans-

formation des Textspiels in das Hörspiel Direktiven einer Drama-


turgie, einer Regie voraussetzen, die gewissermaßen in nichts an-
derem bestehen als in einer Mäeutik, in einer Hebammenkunst für
die Emergenz der Bedeutungen im Medium der Sprache. Daß
experimentelle Textspiele überhaupt in dramaturgische Hörspiele
transformiert werden können, setzt neben dem ersten externen
Beobachter, dem Autor, einen zweiten externen Beobachter, den
Regisseur, voraus, der die kreativen Momente des Textspiels in
die kommunikativen Momente des Hörspiels verwandelt. Die arti-

127
stischen Züge der Textspiele Ludwig Harigs, die sein ästhetisches

Engagement verraten, offenbaren im Hörspiel die existentiellen

Züge eines metaphysischen Engagements. Genau unter diesem


Aspekt finde ich die Arbeiten Ludwig Harigs . beispielhaft und
wichtig.

Ich sprach eingangs vom literarischen Raum der Moderne (aus

dem kein schreibender Zeitgenosse wirklich heraustreten kann), der


durch die Werke der Proust, Joyce und Gertrude Stein gekenn-
zeichnet werden könne. Ludwig Harig schreibt in diesem Raum.
Weder der Wahrnehmungsstil Prousts, noch der Reflexionsstil Joy-
ces oder der Repetitionsstil Gertrude Steins sind ihm fremd.
Daß er Proust, die pastiches, übersetzte, daß seine Innersprachliche

Kodierungstechnik, etwa in Reise nach Bordeaux, auf Joyces meta-


phorische Finessen zurückverweist und daß Gertrude Steins Stücke

Textspiele, plays sind im Sinne von »Ereignissen«, von what happe-


nedy wie ein Titel in geography and plays lautet, bestätigt unsere

Meinung vom literarischen Raum, in dem Ludwig Harig schreibt.

128
Notizen über Ferdinand Lion
Zu seinem 75. Geburtstag

Ferdinand Lion ist ein Schriftsteller, für den der Genuß eines

Kunstwerks die unerläßliche Voraussetzung seiner Erkennbarkeit

bedeutet. Er muß die Worte eines Textes, den er schreibt oder den
er liest, auf der Zunge schmecken, um seine ganze Schönheit und
seinen Geist gewahr zu werden. Die sinnliche Reaktion ist bei ihm
immer ein Teil der intellektuellen; Reaktion überhaupt aber ein
Korrelat zur Schöpfung. Er würde sich in jedem Augenblick einer
geistigen Arbeit, ja einer Zivilisation widersetzen, die auf einer

Moral beruht, die das ästhetische Vergnügen verabscheut.


Zunehmende Sensibilität ist das Korrektiv, das Ferdinand Lion
gegen zunehmende Rationalität empfiehlt, aber seine Bücher, seine
Essays und vor allem seine Gespräche und Briefe überzeugen zu-
gleich vollständig davon, daß es nur eine wesentliche Möglichkeit
der Vermittlung zwischen Rationalismus und Sensibilität gibt: die
künstlerische Produktion. Ferdinand Lion ist Elsässer, und das
Elsaß war schon immer ein Geistesraum der beständigen Über-
schneidung menschlicher und geistiger Tendenzen.
Die schöpferische Dialektik zwischen Rationalismus und Sensibilität

gehört zur Methode Ferdinand Lions, sie macht seine Meisterschaft

aus, und die Handhabung der Korrektive ist in jedem Falle das
Kennzeichen eines Geistes, der zum Schriftsteller, nicht zum Dichter
bestimmt war.
Schreiben als gesellschaftliches Ereignis. Text als Gesellschaft. Man
hat seinen Ärger, aber auch sein Vergnügen darin. Man sinnt
beständig auf ihre Verfeinerung, auf ihre Umbildung, man disku-
tiert sogar die Eigentumsverhältnisse. Mit Lion, der sich meisterhaft
aufs Kochen versteht, zusammen zu essen, ist ein intellektuelles

129
Vergnügen; die Schilderung der 23 Arten, Rosenkohl anzurichten,
ist ein episches Arrangement, die Wiedergabe eines Rezeptes ist ein

Text.
Auch ein Text wird nicht geschrieben, sondern .zubereitet, zube-

reitet in einem Bewußtsein, dessen Temperatur nicht hoch, aber


gleichmäßig ist und dessen Geschichte vor allem eine nicht abreißen-

de Kette von Kontakten mit den produktiven Zeitgenossen be-


deutet, mit Eugene d' Albert, mit Hindemith, Walter Benjamin,
Edmond Jaloux, Thomas Mann, Alfred Weber, Willi Baumeister,
Gustav Küpper, Valentino Bompiani, um nur ein paar zu nennen.
Für sie schreibt also Ferdinand Lion, für seine Zeitgenossen (für
seine Fachleute, wenn ich es übertrieben ausdrücken darf, aber
tatsächlich vermittelt selbst das knappste Gespräch mit ihm den
Eindruck eines Schriftstellers, der ein Fachmann ist): das Buch über
»Große Politik« von 1926, das »Geheimnis des Kunstwerks« von
1932, Komödien, z. B. »Casanova«, aufgeführt 1927, die Text-
bücher zu »Revolutionshochzeit« und »Golem« von Eugene d'Al-
bert, zu »Cardillac« von Hindemith, »Thomas Mann, Leben und
Werk« 1947, »Der französische Roman im 19. Jahrhundert« 195 1,
»Piaton« 1952 und dann »Die Geburt der Aphrodite, Ein Gang
zu den Quellen des Schönen« 1955, darin Ferdinand Lion tief in die

Bezirke einer sehr konkreten modernen Ästhetik eindringt und vor


allem die heute so wichtigen Gedanken der »Selektivität« und der
»mikroästhetischen« Beschaffenheit der Kunstwerke konzipiert.
Man wird im Hintergrund der Lionschen Ästhetik immer eine
Metaphysik antreffen und Piaton, Descartes, Rousseau und Berg-
son haben die Fundamente dieser Metaphysik geliefert, das Buch
»Lebensquellen Französischer Metaphysik«, 1949 erschienen und
der Auseinandersetzung mit Descartes, Rousseau und Bergson ge-

widmet, belehrt sehr genau darüber, daß auch die Lionsche Meta-
physik einerseits eine großartige Idealität, andererseits eine sensible

130
Vitalität vertritt. Daß zu diesen vielen Büchern, ergänzbar durch
französische und italienische Publikationen, noch gelegentliche Auf-
sätze, Kritiken, Buchbesprechungen, Würdigungen usw. in Tages-
zeitungen und Zeitschriften kommen, versteht sich fast von selbst.

Ferdinand Lion war außerdem der erste Redakteur der Zeitschrift

»Maß und Wert«, einer »Zweimonatsschrift für freie deutsche Kul-

tur«, dieThomas Mann zusammen mit Konrad Falk nach 1933 in


der Schweiz herausgab. Es war eine der wesentlichsten Zeitschrif-
ten deutscher Emigration, Annette Kolb, Walter Benjamin, Franz
Werfel, Max Brod, Alfred Einstein, Golo Mann, Rene Schickele und
der junge Jean-Paul Sartre (mit »Die Mauer«) gehörten zu den
Mitarbeitern. Man versteht: für Lion ist Schreiben wesentlich Kom-
munikation; er stellt nicht dar, er drückt nicht aus, er teilt mit,

Mitteilung im Sinne einer Nachricht, eines Berichts, und das be-


trifft auch die künstlerische, die literarische Beschaffenheit seiner
Texte, die immer auch einen ästhetischen Bericht geben. Damit
hängt übrigens zusammen, daß Lion zwar ein bemerkenswerter
Kritiker ist, aber nie polemisiert, Polemik würde die ästhetische
Beschaffenheit eines Textes in seinen Augen zerstören.

Beständig schreibend . . . Ein Leben als Schriftsteller, als freier

Schriftsteller und die Freiheit besteht darin, daß er es sich erlaubt,

die Gelegenheit zum Schreiben möglichst selbst zu wählen; ein we-


nig launisch entscheidet er über Aufträge, die man ihm erteilt. Also
kein Doppelleben. In diesem Punkt ist er der äußerste Gegensatz
zu Gottfried Benn. In jedem Augenblick ein adäquates Dasein.
Und so begegnet einem der kleine Mann mit dem klugen, lächelnden
Nietzschekopf, Mäntel, Jacken oder Westen über dem Arm (um
die Körpertemperatur höchst genau zu regeln, er lebt wie Nietz-
sche meteorologisch, relativ zu klimatischen Bedingungen), ein Buch,
ein Bündel Spargel, ein Hühnchen in der Tasche, den Blick meist
gesenkt auf den Straßen Zürichs, Milanos, Venedigs, Sils Marias,

131
Heidelbergs oder Stuttgarts. Er spricht von Orten, von Städten
oder Landschaften, wenn er von Menschen, selbst wenn er von
Freunden redet; die Spiritualität der Orte, der Städte, der Land-
schaften scheint ihm die Spiritualität der Menschen, der Freunde

zu vermitteln, ein häßliches Rathaus kann ihn so stören, daß er


für Jahre beschließt, den Ort, die Freunde dort zu meiden.
In dem Maße wie Lions Rationalität durch eine Sensibilität aufge-
saugt wird, dringt das Visuelle in seinen Stil ein. Die Sprache wird
von einer visuellen Semantik beherrscht, auch die Art ihrer Kom-
munikation ist stärker visuell als syllogistisch gerichtet, daher keine
statische Schreibweise, sondern eine bewegliche, gelegentlich, etwa
indem schönen Aufsatz über »Die Farben von Venedig« (hineinge-
nommen in »Die Geburt der Aphrodite«), könnte man von Text-
filmen sprechen. »Mit Tiepolo wird Venedig gelb. War die Ver-

wandlung plötzlich oder, nach Art der venezianischen Politik,


bedächtig nach sorgfältiger Umschau? ... In der Natur hatte es
Vorarbeiten gegeben. Da waren die Sonnenuntergänge, die die

Maler der venezianischen Frühzeit kaum beachtet hatten, - jetzt

war der nahe Untergang der Stadt kongenial diesem allabendli-

chen Ereignis, das seinerseits erst durch diese Parallele sich voll
entfalten konnte. Auch die Tausende von Segeln, abgebraucht wie
die alten Familien, mit eingesetzten Flicken, gaben eine Skala von
Braun und Gelb. Längst auch waren gelbe Rosen, Lilien, Tulpen
ebenso viele Vorboten gewesen . . .« Aber nicht nur das malerische

Objekt selbst und die Bilder der Maler sind Anlaß der visuellen Se-
mantik, auch rein spirituelle Ereignisse, der Stil Prousts, analysiert

in den beiden fruchtbarsten Aufsätzen, die Lion in den letzten Jah-


ren geschrieben hat, in »Proust, das Gedächtnis der Alten Welt«
(FAZ, 1957) und in »Marcel Proust als Jünger von Leibniz (FAZ,
1956) unterliegen ihr: »Prousts seltsames Französisch, nicht mehr
rational beherrscht und mit Helligkeitsspitzen ragend, sondern über-

132
laden, fließend wie »schwerer Honig aus den hohlen Waben«, ein

verwirrendes Gewoge, unerschöpflich an gegenseitigen Abhängigkei-


ten, in kraus kaum übersichtlicher Reihenfolge, mit bizarren unge-

regelten Kurven . . .« (Ich meine übrigens immer, daß auch Lions


Deutsch so seltsam sei, »mit bizarren ungeregelten Kurven«, wie er
das Französisch Prousts als seltsam diagnostiziert).
Ich erinnere mich: wir saßen beim Essen, wieder einmal, es gab kei-
nen elsässischen Fasan, gut gespickt und gebraten, wahrscheinlich
nur eine Patisserie Maison, da klingelt es,und Ferdinand Lion be-
merkte lakonisch »Da komme ich, verspätet!« - Ferdinand Lion
hat in Deutschland nicht viele Leser, leider, man ist nicht selten der

Meinung, er habe sich verspätet, seine Art zu schreiben, zu denken,


zu urteilen sei überholt. Dem möchte ich energisch widersprechen.

Lions Texte sind modern. Sein Urteil präzis und aktuell, immer
eingebettet in alle wirkenden Traditionen, Tendenzen und Experi-
mente gegenwärtiger Zivilisation. Er begnügt sich mit jener tief-

liegenden relativen Objektivität, die heute das gesamte Denken


auszeichnet und weiß sehr genau, daß das Absolute nur durch das
Zugeständnis äußerster Subjektivität erkauft werden kann. Aber
eben diese Vorsicht, dieser Geschmack, dieser subtile Cartesianis-
mus trennt ihn von denjenigen, die ihn nicht lesen.

(Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung 14. 6. 1958)

133
Über Ferdinand Lion

Die Sorge, daß die geistige Arbeit sich mehr und mehr vom Ver-
gnügen befreie und ihre Sphäre in einen Zustand tödlicher Lang-
weile versetzt, ist nicht ganz unberechtigt. Den ethischen Schwierig-
keiten innerhalb unserer Zivilisation ist, was ihre Beurteilung
anbetrifft, im ästhetischen Mißvergnügen ein Rivale erwachsen. Es

gehört ohne Zweifel zur Natur unserer Intelligenz, daß ihr in


Fragen der Schöpfung und der Kritik die Feststellung einer morali-
schen Qualität nicht ausreicht, sie prüft auch die ästhetischen Ver-
hältnisse. Offensichtlich bleibt Nietzsches Meinung in diesen Din-
gen auch für unsere Epoche verbindlich. Dennoch trifft man nur
selten auf einen Menschen, auf einen Autor, für den die Welt
erst dann moralisch gerechtfertigt erscheint, wenn sie ästhetisch

verantwortet werden kann.


Ferdinand Lion gehört zu ihnen. Er ist, um seine Physiognomik zu
geben, ein deskriptiver und kritischer Kopf, aber Beschreibung und
Begrenzung geistiger Vorgänge und Zustände wie Strömungen,
Stile, Bücher, Autoren, mit denen er sich befaßt hat, vollziehen
sich nicht so, als handle es sich, wie bei den meisten Analytikern
und Kritikern, einfach darum, eine literarische Projektion des eige-
nen Geschmacks zu geben. Es wird vielmehr auf feste Prinzipien,

auf geprüfte Erfahrungen reflektiert, deren Inbegriff das ausmacht,


was man eine Ästhetik nennen darf. Die Projektion des eigenen
Geschmacks vollzieht sich bei Ferdinand Lion immer in den Gren-
zen zusammenhängender Überlegungen, zum Teil empirischer, zum
Teil apriorischer Herkunft, die Bestandteile einer echten Theorie

des Schönen sind. Eine solche Verknüpfung von Geschmack und


Theorie setzt jene Art von Wahrnehmung der Dinge voraus, die
von ihrem Genuß begleitet ist. Jede Unterhaltung mit Ferdinand

134
Lion macht offenbar, daß für ihn die Erkennbarkeit der Dinge we-
sentlich eine Frage der Genießbarkeit der Dinge ist. Manchmal
überrascht uns sein Urteil dadurch, daß es sich außerhalb seiner
Prinzipien, die keine Mauer, mehr ein offenes System von Plätzen
bilden, ein wenig schweifend bewegt, auf die Art, wie der Autor
es auch selbst in seinem Dasein seit Jahrzehnten zu tun pflegt, aber
dann, nach diesem behaglichen Exkurs in das Abenteuer, erfolgt
die Rückkehr und, noch einmal erstaunt, wird man gewahr, wie
sehr gerade der Umweg es war, der das Urteil begünstigt und
befestigt. In dieser Weise schwankt seine Intelligenz beständig
zwischen cartesischer Klarheit und pascalscher Zerstreuung. Ihre
Prinzipien sind sensibel, aber nie vollständig aufgelöst und wir-
kungslos.
Er liebt es, von seinem sensiblen Vitalismus zu sprechen. Aber
ich kann nicht einsehen, daß diese Selbstauffassung wirklich
seinem körperlichen und geistigen Wesen entspricht. Schließ-

lich gibt es doch keine Vitalität, in der es ohne einen gewissen rück-
sichtslosen Hang zur Ausbreitung und Selbstbehauptung des äuße-
ren Daseins abginge. Ich spreche nicht von ihrer Schrankenlosigkeit,

aber eines Tages wird sie Gedanken und Aussagen mit explosiblen
Feinsubstanzen anfüllen, mit der Dunkelheit bewegter Emotionen
oder der Hartnäckigkeit wilder Begierden heimsuchen, die den
Beweis des Geistes im Beweis der Kraft schuldig bleiben. Von all

dem finde ich in den Äußerungen Lions nichts. Natürlich enthalten


seine Überlegungen, Spekulationen, Kritiken und epischen Passagen
wirkungsvolle Feinsubstanzen jener Art, aber sie zeichnen sich nicht
durch Brisanz, sondern durch katalytische Eigenschaften aus. In
ihrer Gegenwart fällt nicht nur Lion selbst, sondern auch dem
Leser etwas ein, und man entdeckt alsbald, daß es hier nicht die

Geschöpfe eines hochempfindlichen Gefühls, sondern einer äußerst


sensiblen Rationalität gibt, deren Wesen darin besteht, sich nicht

135
schließend deduktiv vorwärtszubewegen, sondern in der Form von
Kaskadenreaktionen auf Ideen, Vorstellungen, Worte und Einfälle
einzugehen, Gedankenfäden daraus zu ziehen und sie mehr tastend
als folgernd zu einem sehr sicheren Urteil zu verknüpfen.
Ich habe damit schon auf Äußerlichkeiten seines gleichermaßen
stetigenund unruhigen Daseins - so paradox wird man sich aus-
drücken müssen - aufmerksam gemacht. Ferdinand Lion ist El-
sässer. Er stammt aus Mülhausen, wo er 1883 geboren wurde, In
Straßburg begann er mit dem Studium der Geschichte und der
Philosophie, in Heidelberg und München setzte er es fort. Natürlich

sehr improvisierend, abschweifend. Immer im Versuch. Abschlüsse,


Examen interessierten nicht. Das gehörte zum epikureischen Welt-
verhältnis, das seine Intelligenz kennzeichnete und dem man trotz

allem keine franziskanischen Züge unterlegen darf. Seine Gesell-


schaft, sein Stand, seine Klasse ist kein soziologisches Kontinuum,
eher ein weitläufiges disperses System von Individuen, das sich
seit je über einen wesentlichen Teil von Westeuropa, über Frank-
reich, Deutschland, die Schweiz und Italien erstreckt. Lion ist also

kein Einsamer, wie es Nietzsche, an den man zu denken hätte, war.

In jenem zerstreuten System von Freunden und Bekannten, Ange-


hörigen und Zimmerwirtinnen, Professoren und Künstlern, Verle-
gern und Journalisten, Frauen und Männern lebt Lion als Dichter,

Schriftsteller und Kritiker, ohne Amt, ohne öffentlichen Beruf,


allein, also auch ohne Doppelleben. Das Schreiben als Daseinsfunk-
tion, diese Formel entspräche am ehesten der Sorgfältigkeit, mit der
Ferdinand Lion seine intellektuelle und vitale Freiheit bewahrt
hat. Er läßt sich anregen, aber unmittelbare Aufträge schätzt er
nicht, noch im Schreiben sein eigener Herr, niemals in der Rolle
des intellektuellen Proleten. Paris, Rom, Berlin; Mailand, Zürich,

Heidelberg; Stuttgart, Venedig und Mülhausen, das sind die Haupt-


städte der Konzeptionen, die er in jenem System von Individuen

136
höchst individuell und rationell zusammenträgt und publiziert.

Besonders zwischen den beiden Kriegen entfaltete sich das Netz


seiner Beziehungen, manche Fäden sind zerrissen, viele noch er-

halten, neue geknüpft; Walter Benjamin und Edmond Jaloux,


Alfred Weber und Thomas Mann, Willi Baumeister und Paul
Hindemith, die Verleger Gustav Küpper und Valentino Bom-
piani gehören ihm an. Er kann in drei Sprachen sprechen und
schreiben, in Deutsch, Italienisch und Französisch. Klima und Kü-
che sind echte Parameter seines jeweiligen Aufenthaltes und sie

sind abhängig von der Jahreszeit. Tritt er in ein Zimmer, so achtet

er genau auf die Temperatur. Öfen haßt er. Unterwegs, im Freien


regelt er die thermodynamischen Angelegenheiten mit Hilfe von
Westen oder Wolljacken. In der Einteilung des Tages ist er von
kantischer Genauigkeit und Gleichförmigkeit. Spaziergänge und
Sitzplätze im Wald oder im Zimmer, wählt er methodisch. »Fleißig

wie die Spitzenarbeiterinnen von Burano« bemerkt Lion einmal


von Proust, habe dieser auch in Venedig an den »Pariser Gesell-
schaftsbeziehungen . . . weitergeklöppelt«. Nun, ein wenig trifft die-

ser Vergleich auch auf das Leben und das Werk Ferdinand Lions
zu. Wie seine gesellschaftliche, so erscheint uns auch seine geistige

Welt immer wie eine sehr bewußte Klöppelarbeit, in der die Über-
raschungen niemals ausbleiben. Die Überraschung ist eine Katego-

rie, unter der er seine Begegnungen verwirklicht; ich glaube, sie

ist sogar ein Existential seines Selbstverständnisses.


Lions Werk ist sehr vielgestaltig. Es gibt Tageskritiken, flüchtige
Anmerkungen zu Neuerscheinungen, aber auch prinzipielle ästheti-

sche Untersuchungen zum »Geheimnis des Kunstwerks« (1932),


philosophische Analysen »Piatons« (1952) oder der »Großen Poli-

tik« (1926). Literaturkritisch gerichtet sind »Thomas Mann, Leben


und Werk« (1947) und »Der französische Roman im 19. Jahrhun-
dert« (195 1). Dazu Komödien, z. B. »Casanova«, ein Vierakter,

137
komponiert von Andreae, aufgeführt in Dresden 1927. Für Eugen
d'Albert schrieb er den Text zu »Revolutionshochzeit« und zu »Go-
lem«, für Hindemith verfaßte er »Cardillac«, genau nach Vor-
schriften des Komponisten. Zu all diesem kommen dann die Auf-
sätze, Kritiken, Hinweise, die alle möglichen Gegenstände, alle
möglichen Autoren umfassen und die in Tageszeitungen und Zeit-
schriften erschienen sind, die meisten wahrscheinlich in »Maß und
Wert«, einer »Zweimonatsschrift für freie deutsche Kultur«, die
Thomas Mann zusammen mit Konrad Falk in der Schweiz während
der Jahre seiner Emigration und wohl auch für die Emigranten aus
Deutschland als Sammelbecken geflüchteten Geistes und als mah-
nende Stimme herausgegeben hat und deren erster Redaktor eben
Ferdinand Lion war. Ich glaube, er vor allem war es, der in dieser
Zeitschrift eine geistige Sphäre der deutschen Emigration schuf, ge-

mäßigt, wenn auch eindeutig in der politischen Profilierung, im


Grund niemals gehässig, glühend nur im Sammeln und Festhalten
der Geschöpfe, die außerhalb der alten Wohnbereiche entstanden.
Annette Kolb, Walter Benjamin, Franz Werfel, Max Brod, Alfred
Einstein, Golo Mann, Hermann Rauschning, Rene Schickele, Paul
Landsberg gehörten zu den Mitarbeitern. Die erste Publikation
Jean Paul Sartres in deutscher Sprache, die Novelle »Die Mauer«,
erfolgte hier. Man sieht, als Redaktor scheint auf Ferdinand Lion
die Signatur zuzutreffen, die Andre Gide für Musils »Mann ohne
Eigenschaften« bereit hatte, er war ein »homme disponible«, bereit
für alles, in der besonderen Modifikation, für alles Spezielle, für
das Universum des Speziellen, offen zu sein. Auch Lions Publika-
tionen nach dem Kriege verraten in den kleineren Beiträgen diese
breite Skala des Interesses, Piaton, Ästhetik, Gottfried Benn, Kaf-
ka, Proust, Venedig, das Elsaß usw. sind seine Themen für Bücher

und für Aufsätze, die vor allem im »Merkur« erschienen. Immer


wieder einmal zeigt sich, wie sehr er das Prestige der Freiheit in

138
der ästhetischen Sphäre ansiedelt, und die methodische Verbannung
des Geistes, die er in der Politik vollzogen sieht, bewegt ihn höch-
stens im Hinblick auf die Leiden des Geistes, nicht im Zusammen-
hang mit der Hinfälligkeit der Macht.
Man erkennt es deutlich genug: Es handelt sich um eine ausge-

sprochen ästhetische Existenz, die in Ferdinand Lion vor uns tritt.

Weder um eine ethische noch um eine religiöse Seinslage geht es

ihm, in seinem äußeren und inneren Dasein. Letztlich ist, wie schon
angedeutet, für ihn die Welt tatsächlich nur als ästhetisches Phäno-
men zu rechtfertigen. Grund genug, etwas genauer nach den Prin-
zipien seiner Ästhetik zu fragen. Ästetik hat immer etwas mit den
Seinsverhältnissen und Seinsstrukturen zu tun. Es wird eine gewisse
Art von Gebilden vorausgesetzt, Gegenstände, nämlich die Kunst-
werke und die Mittel, die sie aufbauen, Realien, Formen, Inhalte.
Man erkennt eine ganze Seinsthematik, deren Analyse die Auf-
gabe der Metaphysik ist. Und die metaphysische Ermittlung hätte

also die ästhetische einzuleiten. Tatsächlich gründet auch Lions ge-

samte aus den verschiedensten Publikationen heraustretende Theo-


rie der Kunstwerke in einer bestimmten Metaphysik. Als er 1939
in seiner Zeitschrift Valerys »Introduction ä la poetique« besprach,

hob er hervor, daß es sich hier um eine Synthese aus Descartes und
Bergson (oft anzutreffen im geistigen Frankreich des 20. Jahrhun-
derts) handle. Rationale Methodik in Herstellung und Verstehen
der Kunstwerke auf der einen, sinnliche Phantasie und Sensibilität

aber auf der anderen Seite. Das sind genau die beiden Vorausset-
zungen, die auch Lions ästhetische Untersuchungen und Kritiken
auszeichnen, kommen durchaus von
und sie Descartes und Bergson,
von Valery und Thomas Mann her.
Man kann es als ein Problem ansehen, daß Lion den künstlerischen
Prozeß von der Priorität des Naturschönen aus beschreibt und bis

zum »Eidolon«, also einem kleinsten Modell, Abbild des Gegebenen,

139
aber nicht zur Zeichensprache ästhetischer Vorgänge gelangt. Man
wird die Lösung sehr bald darin finden, daß für Lion der ästheti-

sche Prozeß eine Tatsache ästhetischer Wahrnehmung und ästheti-

schen Vergnügens bleibt, aber nie vollständig zum Thema einer

Überlegung, einer reinen Theorie wird. Er ist wohl selbst, und zwar
in der Handhabung der Sprache, zu viel Künstler, um in jene ab-

strakten Zonen vorzustoßen. Ein labiles Bewußtsein wie das seine


erlebt Stürze und Schübe der Rationalität, die sich in ihm beständig
mit einem nachlassenden Bewußtsein, einem Verlieren in purer
Sensibilität auseinanderzusetzen hat. Reisen und Leben, Denken
und Wahrnehmen, Leiden und Genießen koinzidieren beständig,
Ausdruck einer wirklichen »Ortslosigkeit des Geistes«, die in kei-

nem Augenblick mit Ruhelosigkeit verwechselt werden darf. Fer-


dinand Lion ist ja kein nervöser Intellektueller. Er leidet offen-
sichtlich weder an physischen noch an spirituellen Neuralgien. Das
Leitungssystem, das der Ausbreitung der Ideen, Gedanken, Refle-
xionen usw. dient, ist immer intakt. Intelligible Konstanz scheint

zum Bau dieses Lebens zu gehören. Man kann sich vorstellen, daß
der Dreißigjährige nicht sonderlich verschieden vom Siebzigjähri-

gen war. Dennoch niemals ein »Mann ohne Eigenschaften«. Nicht


Konsequenz kennzeichnet diese Art von Geist, wohl aber Quint-
essenz.

140
Portrait Alfreds Anderschs 1962

Generation 19 14, kleinbürgerlicher Herkunft, Bayer, Gymnasiast


in München, Buchhändlerlehrling, Büroangestellter, Unzufriedener,
Brillenträger, Radfahrer, Pfeifenraucher, Rilkeleser, kommunisti-
scher Jugendorganisationsleiter, Revolutionär, Häftling, Illegaler,

Soldat, Einzelgänger, Revisionist, Abtrünniger, Antifaschist, An-


tibolschewist, Deserteur, Kriegsgefangener in USA, Gründer und
Redakteur der Zeitung »Der Ruf«, Rückkehrer, Europäer, Dia-
lektiker, Oppositioneller, Nonkonformist, Gründer des »Abend-
studios« am Sender Frankfurt, Herausgeber der Reihe »studio
frankfurt«, Redakteur am Norddeutschen Rundfunk in Hamburg,
Chef des »Radio-Essay« am Süddeutschen Rundfunk, Herausgeber
der Zeitschrift »Texte und Zeichen«, Entdecker und Förderer jün-
gerer experimenteller und engagierter Literatur, Autotourist, Ken-
ner Italiens, Frankreichs und Skandinaviens, konkreter Journalist
für seltene Fälle, existentielle Intelligenz als Hörspielschreiber,
Funkschriftsteller, Filmautor, Kritiker, Lyriker und Romancier,
schließlich freier Schriftsteller, wohnhaft in Berzona im Tessin,
Bewunderer Stendhals, Josef Conrads und der Amerikaner des
20. Jahrhunderts, aber auch Becketts, Genets, Arno Schmidts, Ador-
nos und Köppens, von bewußter, aber ansichhaltender Radikalität,
immer ein wenig linker Hegelianer, auch Neigungen zum religiö-

sen Sozialismus.

Verfasser der Aufsätze »Das junge Europa formt sein Gesicht«,


»Grundlagen einer deutschen Opposition« neben anderen in »Der
Ruf«, 1946; dann »Deutsche Literatur in der Entscheidung«, 1948,
»Die Kirchen der Freiheit«, 1952, »Piazza San Gaetano« (mit
Zeichnungen Gisela Anderschis), 1957; »Geister und Leute«, 1958,
»Sansibar oder der letzte Grund«, 1957; »Die Rote«, i960; »Der

141
Tod des James Dean«, i960; »Wanderungen im Norden, Dänemark,
Norwegen, Schweden (mit Fotos von Gisela Andersch), 1962. Ge-
dichte stehen u. a. im »Merkur«; im »Merkur« findet sich auch der

wichtige und berühmt gewordene Aufsatz »Das Kino der Autoren«


(158, 1962). In »Texte und Zeichen« (195 5-1957) hat Alfred An-
dersch früh Arno Schmidt, H. Heissenbüttel, H. M. Enzensberger
und Martin Walser gedruckt; aber auch Heinrich Bölls kritische
Analyse Arno Schmidts (11, 1957) und Walter Muschgs Angriff
auf Martin Heidegger (11, 1957). So entstanden Hefte großer
geistiger Eindeutigkeit und Eindringlichkeit. Unabhängig von Art
und Umfang solcher literarischen Produktivität, wenden sich die

rezeptiven und kritischen Komponenten seiner Intelligenz darüber

hinaus immer wieder vorwiegend Problemen des Films und der


Filmästhetik, der Linguistik und der modernen Malerei, der poli-
tischen Machtverteilung, der gesellschaftlichen Situation und dem
kulturellen Elend zu.
Ich bediene mich nun in der folgenden Analyse der Mittel der All-
gemeinen Texttheorie, ihrer Ästhetik und ihres Literaturbegriffs.
Ich gehe also vom materiellen Zustand der Texte als einer Gesamt-
heit aus und beschreibe sie statistisch und topologisch, denn, wie

wir heute wissen, kann erst auf diese Weise ein Einblick in die
ästhetischen Strukturen, die auf gewissen unwahrscheinlichen Ver-

teilungen beruhen, gewonnen werden.


Alfred Andersch ist ein aktueller Autor, er arbeitet nicht jenseits

unserer Gegenwart und ihrer Gesellschaft, sondern er schreibt in

ihr, in sie hinein. Infolgedessen sind seine Wortschätze nie als ab-
geschlossen anzusehen, vielmehr als beständig offen; sie ergänzen

sich fruchtbar von Werk zu Werk, wenn sie auch, wie eine rohe

Abschätzung schon zeigte, bereits jetzt ziemlich umfangreich sind


und rund 16-18 000 Worte umfassen; nach P. Guiraud würde ein
Lexikon moderner Schriftsteller zirka 24 000 Worte enthalten.

142
Jedenfalls bevorzugt die Sprache Alfred Andersens zweifellos den
Vokabularstil; der zunehmende Reichtum der Klasse verschiedener
Wörter scheint ihm wesentlich zu sein. Auszählungen von je fünf
Proben zu je 200 Wörtern aus »Die Kirschen der Freiheit« und
»Die Rote« ergaben darüber hinaus im Mittel 48 % strukturelle

Ausdrücke wie Binde worte, Artikel und dgl.; innerhalb der signi-

fikanten Ausdrücke beobachtet man ein gewisses Vorherrschen der

Substantive und Adjektive gegenüber einer normalen Häufigkeit


der Verben, insbesondere wenn man diese Verhältnisse mit denen,

die in den Texten Stendhals und Josef Conrads vorliegen, vergleicht.


Für eine moderne Prosa, die sich in einem sprachlichen Raum ent-

wickelt, dessen Freiheitsgrade durch Joyce, Kafka und Proust


definiert sind, ist die Zunahme struktureller Ausdrücke übrigens
kennzeichnend. Im allgemeinen kommen bei Andersch auf 1 5 Sub-
stantive 7 Verben. Nur in Texten direkter Rede, wie z. B. in der

sprachlich und kompositorisch auffälligen »Geschichte« mit dem


Titel »In der Nacht der Giraffe« aus »Geister und Leute« kann
das Verhältnis zwischen der Zahl der Substantive und der Zahl
der Verben im Mittel 1 : 1 werden. In einem mittleren Lexikon von
24 000 Wörtern finden sich nach Guiraud rund 12 000 Substantive
und 4 500 Verben.
Die semantische Dichte jener Texte, in erster Näherung bestimmt
durch das Produkt aus Substantiven und prädikativen Bestimmun-
gen pro Wortzahl eines Textes bzw. durch die Zahl der Atomsätze
pro Text, schwankt zwischen 1,8 und 4,2, und zwar zeigt sich eine

Wertgruppe zwischen 1,8 und 2,3, die für rein erzählende lange
Perioden typisch ist, während eine andere zwischen 3,2 und 4,2
Passagen kennzeichnet, in denen direkte Rede, kurzsatzige Feststel-
lungen und Beschreibungen vorherrschen. Im komplexen Textkör-
per »Die Rote« stößt man leicht auf beide Wertegruppen.
Texttopologisch interessant ist vielleicht, daß die Technik des Er-

143
zählens bei Alfred Andersch keineswegs einen übermäßigen Ge-
brauch von der grammatischen Variabilität der Wörter macht. Pro-
ben aus »Geister und Leute« und »Die Rote« ergaben, daß im
Mittel nur 27 °/o der Wörter eines Textes (relativ zu ihrem Vor-
kommen im »Wörterbuch«) deformiert werden. Das Deformations-
maß liegt also etwas tiefer als in Kafkas »Schloß« (28 °/o) und
wenig höher als in Nathalie Sarrautes »Tropismen« (23 %) und
entspricht etwa dem Wert in Hemingways »TheTorrents of Spring«.
Diese relativ geringe topologische Deformation der Wörter im Text
bzw. diese relativ geringe Ausnützung grammatischer Möglichkei-
ten führt aber andererseits erst zu jener assoziierenden Prolon-
gierung der Sätze, zum Vorrang linearer Sprachkörper, die man
bei Andersch so häufig antrifft, zu den adjungierten Texten, wie wir
sagen, vom Typus »jetzt wird Patrick schießen, es ist die Gelegen-
heit für ihn, wenn Patrick jetzt schießt, wird nicht mehr geschehen,
als daß die Gipsmaske in Stücke zerfällt« (»Die Rote«, p. 268).

W. Fucks hat nun in seinen Untersuchungen über den »Unterschied


des Prosastils von Dichtern und anderen Schriftstellern« für die

mittlere Satzlänge deutscher Autoren zwei Schwerpunkte ermittelt.

Der eine, kennzeichnend für Autoren wie Hauff, Fontane, Goethe,


Jünger, Stifter, Storm u. a. liegt bei 18,211, der andere, kenn-
zeichnend für Autoren wie Bismarck, Einstein, Freud, Hegel, Hei-
degger, Marx, Weber u. a. liegt bei 24,385. Fucks möchte durch
diese Schwerpunkte die dichterischen von den schriftstellerischen

Autoren unterscheiden. Doch schon die Prosa Alfred Anderschs


entzieht sich dieser statistischen Ausdifferenzierung und Klassifika-

tion. Während »Die Kirschen der Freiheit« mit einer mittleren


Satzlänge von 17,5 Worten durchaus im Stil eines »Berichts« ab-
gefaßt sind, wächst in »Die Rote« die mittlere Satzlänge auf 23,4
Worte an, während hier doch offensichtlich die dichterischen In-

tentionen der Sprache überwiegen. Ich möchte daraus schließen, daß

144
mit diesem materialen Sachverhalt die Texte Anderschs vom Sprach-
körper seiner Klassiker aus dem 19. Jahrhundert abzuweichen
beginnen; hier schon wird ihre moderne Struktur wahrnehmbar.
Die Narration wird zu einer Polytechnik der Sprache, in der
rhapsodische Momente mit reflektierenden und diskursiven ver-
schmelzen.
Entsprechendes gilt für die »Stilcharakteristiken« der »mittleren
Silbenzahl« und »Textentropie«, die Fucks einführte. Während die

Wortlängen, gemessen durch die Silbenzahl in »Die Kirschen der


Freiheit« 1,65 nicht übersteigen, erreichen sie in »Die Rote« in ein-

zelnen Proben den Wert 1,94; Viersilber wie »Lampenkreisen« oder


»Lagunennacht«, Fünfsilber wie »Naturgefühle« oder »Unerwarte-
tes« und Sechssilber wie »Landschaftsempfindungen« »Laternen-
girlanden« treten in diesem Roman auf. Dementsprechend wird
auch die Zahl, die das Mischverhältnis der verschieden-silbigen
Wörter des Textes zum Ausdruck bringt, die Textentropie, hoch.

Fucks fand für die Standardverteilung in der deutschen Sprache


eine mittlere Silbenzahl von 1,634 und eine Entropie von 0,456.
Neben der mittleren Silbenzahl in den Texten Alfred Anderschs
von 1,79 zeigt sich eine mittlere Textentropie von 0,519.
In solchen Abweichungen von der normalen materialen Verteilung
der Elemente stoßen wir auf die ästhetische Botschaft der Texte, die
unvorhersehbar, überraschend und im Unterschied zur semanti-
schen, wie es auch Paul Valery erkannte, in die »Kategorie des
Unwahrscheinlichen« gehört.
Ich beginne jetzt die semantische Analyse der Texte Alfred An-
derschs mit einer Klassifikation der Sätze, die ihnen zugrunde-

liegen. Mit dieser Klassifikation werden auch die Zeichencharak-


tere sichtbar, die ästhetisch und semantisch in der Sprache dieser

Poesie und Prosa wirksam sind und durch die sich der künstlerische
Prozeß des Schreibens als ein semiotischer erweist. Das System der
Sätze zerfällt in

145
Narrationen vom Typus »Er sah ihr nach, bewundernd und obszön«
oder »Ja«, sagte Stefan, »nur ein ganz kleines, und auf einmal
brannte alles.« (»Die Rote«, p. 13, »Geister und Leute«, p. 122).
Bilder vom Typus »Wirbelndes Gelb, durch den März gezielt« oder
»Das Nichts und das Messer, von Radionachrichten umspült, war-
teten auf Pierre«. (»Geister und Leute«, p. 121 u. 165).

Urteile vom Typus »Es gibt keine glänzendere Analyse als die

marxistische« oder »Das ist allerhand für eine Frau«. (»Die Kir-
schen der Freiheit«, p. 40, »Geister und Leute«, p. 37).

Erfahrungen vom Typus »Die Welt ist angefüllt mit schlafenden


Staatsmännern« oder »Man empfindet Unbehagen vor so viel un-
kritischer Hinnahme reiner Vitalität«. (»Geister und Leute, p. 189,
»Postkarten aus Delft und Trondheim«, Merkur, 168, p. 155).
Existentielle Aussagen vom Typus »Ich habe Zeit. Mir gehört die

Zeit, solange ich diese Kirschen esse« oder »Ich bin wieder frei«.

(»Die Kirschen der Freiheit«, p. 130, »Die Rote«, p. 276).


Indexsätze vom Typus »Arthur Adamov geht bekümmert den
Boulevard entlang, im Gespräch mit Martin Flinker« oder »Genau
24 Stunden vorher hatten zwischen dem Platz der Republik und der
Bastille 35000 Menschen dagegen protestiert...« (»Geister und
Leute«, p. 1 54 u. p. 15 1).

M etanarr ationen vom Typus »Vielleicht fallen die äußeren Ent-

scheidungen in dem Augenblick, in dem man resigniert« (»Die


Rote« p. 260).

Interpretationen vom Typus »Mein Buch hat nur eine Aufgabe:


einen einzigen Augenblick der Freiheit zu beschreiben« (»Die Kir-
schen der Freiheit«, p. 86).
Text schliffe vom Typus »Ach, dachte er, irgendwohin« oder »un-
möglich und von heute an«. (»Sansibar«, p. 32, »Geister und
Leute«, p. 181).
Textfilter vom Typus »krebsgerippe, der tod, geäderte kiesel, das

146
schweigen das papierene rauschen der wogen, die Unendlichkeit«
oder »weil es Sansibar gab, Sansibar in der Ferne, Sansibar hinter
der offenen See, Sansibar oder den letzten Grund«. (»Geister und
Leute«, p. 1 81, »Sansibar«, p. 1 10).

Tropismen vom Typus »wird schwül werden heute« oder »Du


hast recht« (»Fahrerflucht«, p. 13, »Geister und Leute«, p. 173).

Legt man, wie das heute notwendig ist, die allgemeine Klassifika-

tion der Zeichen, wie sie von Ch. S. Peirce eingeführt wurde, zu-
grunde, so bemerkt man leicht, daß die Texte Alfred Anderschs die

Elemente bzw. die Komplexe der Elemente der Sprache sowohl in


Beziehung auf sich selbst als auch in Beziehung zu Objekten und
Ereignissen oder in Beziehung zu ihrem Autor als Zeichen benutzen.
Die strukturelle Funktion sprachlicher Elemente schließt die Be-

ziehung der Zeichen als solcher ein. Die signifikative Funktion kann
die sprachlichen Elemente als Zeichen in Beziehung zu Objekten
oder Ereignissen, aber auch als Zeichen in Beziehung zu ihrem
Interpretanten, also ihrem Autor, intentionieren. In den Narratio-
nen, Bildern, Indexsätzen, Textschliffen und Textfiltern fungieren
die Wörter und Konnexe von Wörtern als Zeichen im Hinblick auf
Objekte oder Ereignisse. In den Erfahrungen, Urteilen, existen-
tiellen Aussagen, Metanarrationen und Interpretationen präsentie-
ren die sprachlichen Wendungen auch den Autor, den Interpretan-
ten der Zeichen, etwa als wollendes, denkendes und entschiedenes
Wesen.
Interessant sind die Indexsätze vom angegebenen Typus historischer
Dokumentation. Wir wissen seit den Analysen Käte Hamburgers,
daß die epische Welt nur als fiktive zu rechtfertigen ist. Bei Alfred
Andersch wird nun die Fiktivität der epischen Welt mit Hilfe sol-

cher Indexsätze, vor allem in »Die Nacht der Giraffe« beständig


mit Realität durchsetzt, gewissermaßen real gepflastert. Epik und
Fiktion werden zu diskreten Phänomenen, sie enthalten Bericht und

147
Wirklichkeit als Einsprengunge, der Text wechselt die modale Lage
der Welt, auf die er sich als Zeichen bezieht. In »Die Nacht der
Giraffe«, so kann man sagen, wird eine epische Fiktion in einer

reponierten Realität ausgespannt. Diese Technik der modalen Kom-


position der Texte, die sich in »Sansibar« oder in »Die Rote« zur
Technik komplementärer Perspektiven abschwächt, erhöht natür-
lich ihre innere, materiale Organisation, entwickelt also zwangs-
läufig neue Möglichkeiten für die Entstehung ästhetischer und se-

mantischer Innovation, bereitet mannigfache Formen ontischer

Überraschung vor, indem sie Indices zu Modis, Zeichen zu Super-


zeichen, Komplexe zu Gestalten, Strukturen zu Botschaften um-
bildet und auf diese Weise die Architektur im Aufbau der Infor-
mationen, von der Moles gesprochen hat, sichtbar werden läßt.
Es zeigt sich auch, wie wenig im modernen Roman die Narration

mit einem epischen Fluß, dem bloßen Ablauf der Handlungsweisen


von Figuren zu tun haben muß. Lediglich ein Sein des Seienden soll

durch das System der Worte und Sätze ermöglicht werden.


Ich wiederhole noch einmal deutlicher, was ich nebenbei bereits
zum Ausdruck gebracht habe, daß die Mannigfaltigkeit der »Sätze«,
in die das Gesamtsystem der Texte Alfred Anderschs zerfällt, und
der hohe Grad der »Mischung«, in der sie anzutreffen sind, beweist,

wie sichtbarlich die epische Idee dieses Autors nicht ausschließlich


durch Narration bestimmt werden kann. Doch durchsetzen die
narrativen Strukturen, sieht man von ihrer fundierenden Rolle in

den Romanen ab, auch die anderen Arten der Formulierung wie
ein Netzwerk; sie erscheinen im Hörspiel (»Fahrerflucht«) und im
Bericht (»Die Kirschen der Freiheit«), in Aufzeichnungen (»Post-
karten aus Delft und Trondheim«) und Filmkritiken (Merkur,
i960).

Dieses eng oder weit geknüpfte Netz des Erzählens - und damit
führe ich nun endgültig die semiotische Analyse in die semantische

148
über - zerlegt eine Welt der »Individuen« und ihrer »Eigenschaf-
ten«, der »events« und »eternal objects«, sehr deutlich in eine diskre-

te und reduplizierbare Menge von »Elementarereignissen«, die zu


»Inhalten« und »Interpretationen« komponiert werden können.
»Die Rote« stellt in dieser Hinsicht zugleich die bisher höchste

Textgestalt und das reinste Modell einer fixierbaren Welt vor, und
die Systeme von Wortarten, Halbsätzen, Atomsätzen und Mole-
külen, die am Ende eines jeden »Tages« dieses Romans unter dem
Stichwort »der alte Pierre, Ende der Nacht« notiert werden, sind,
material betrachtet, als begrenzte Textschliffe aufzufassen, die wie
die ontischen auch die sprachlichen Zellen eines Stücks der darge-

stellten Welt reduziert und feinkörnig in die Hand geben.


Die Menge der Elementarereignisse enthält Personen, die einander
begegnen, Frauen oder Männer auf dem Bahnsteig, Leute, die ir-

gendwo eintreten oder herauskommen, einkaufen, im Bett liegen,

Spazierengehen, am Strand sitzen, essen, trinken, einen Mord be-


gehen, sich anschreien, miteinander sprechen, in Gesellschaft sind,
auf der Reise, Entschlüsse fassen, etwas beobachten, bestimmte
Gefühle ausdrücken usw. Es ist immer ein Kriterium konzentrierter

Narration, daß ihr Arrangement auch als visuelle Abfolge vor-


stellbar ist.

Dieser Punkt bringt mich nun auf Alfred Andersens Aufsatz »Das
Kino der Autoren«, der bisher wichtigsten theoretischen Erörterung,
die dieser Autor veröffentlichte. In dieser Arbeit fließen literatur-

theoretische und filmästhetische Vorstellungen erstens zu einer neu-


en Definition des Films und zweitens zu einem Vorschlag für Film-
produktion zusammen. Das Entscheidende der Definition besteht
darin, daß der Film als »visuelle Form der Literatur« eingeführt
wird, und das Wichtige des Vorschlags fordert »literarisches Be-
wußtsein« des »Kamera-Auges«. Andersch hat ausreichend betont,
daß das nicht bedeutet, nur Literatur zu verfilmen.

149
Ich möchte, um eine solche Mißdeutung auszuschließen, daher lieber

vom visuellen Text des Films sprechen. Die Definition bleibt dann
im Materialen, und die Theorie Alfred Anderschs fügt sich ziemlich

lückenlos dem Begriff der epischen Narration ein,- der den des Ele-
mentarereignisses impliziert, von dem ich schon gesprochen habe.

Die Technik des Filmens vollzöge sich demnach als Methode visuel-

ler Narration von Elementarereignissen. In jedem Roman gibt es

natürlich, wie Moles richtig erkannt hat, eine gewisse Komplexität


der Elementarereignisse, die nach einer bekannten Formel auch
numerisch bestimmt und als Information gedeutet werden kann.
Das »literarische Bewußtsein«, das Alfred Andersch für den Film
fordert, kann letztlich in nichts anderem bestehen, als in der infor-
mationellen Komposition visuell arrangierter und ausgedrückter
Elementarereignisse.
Selbstverständlich ließe sich aus dieser theoretischen Konzeption
ein System allgemeingültiger Postulate für die Abfassung des Dreh-
buchs ableiten, doch würde das zu weit von der Analyse des Autors
Thema ist. Ich möchte jedoch darauf aufmerk-
wegführen, die mein
sam machen, daß man ähnlich wie bei der Bestimmung der seman-
tischen Dichte eines Textes, auch bei der Gewinnung der visuellen

Dichte verfahren kann. Es handelt sich dabei um die Auszählung


der formulierten, aber visuell denkbaren Elementarereignisse pro
Textlänge, die durch die Wortzahl gegeben ist.

Die visuelle Dichte einer epischen Darstellung kann natürlich eine

zahlenmäßige Auskunft über die filmische Ergiebigkeit ausdrücken.


Im Roman »Die Rote«, der bekanntlich verfilmt wurde, ist die

visuelle Dichte tatsächlich relativ hoch; zehn Proben ergaben im


Durchschnitt 27 Elementarereignisse auf 260 Worte, was einem
Wert der visuellen Dichte von 0,103 entspricht. In »Die Kirschen
der Freiheit« liegt der Wert viel tiefer. Er schwankt zwischen 0,05
und 0,07. Die Romane Prousts zeigen eine Ergiebigkeit, die kaum

150
höher als 0,05 liegt. Für Kafkas »Schloß« ermittelt man 0,07, in
Becketts »Texte um nichts« und in Ponges »Le Parti Pris des
Choses« sinkt der Wert noch tiefer. Aber Anderschs »Postkarten
aus Delft und Trondheim« ergeben z. T. (Nr. 1 und Nr. 9) Beträge
über 0,11. Andersch scheint also ein eminent filmischer, visueller
Erzähler zu sein. In der Inhaltsangabe, die er dem Bändchen »Gei-
ster und Leute« vorangestellt hat, betont Andersch, daß er in den
beiden »Geschichten« »In der Nacht der Giraffe« und »Drei Pha-
sen« eine »Technik angewendet habe, die man mit dem >Cuttern<,

dem Filmschnitt vergleichen« könne.


Allgemeingültige Sätze, die semiotisch betrachtet aus Symbolen auf-
gebaut sind (wie z. B. eine Zeile aus dem genannten Werk Francis
Ponges »Die Könige berühren die Türen nicht«) und die daher das
Visuelle nur vortäuschen, sind für die Texte Anderschs nicht charak-
teristisch. Sie bedürfen vielmehr der ausgiebigen Verwendung von
indexikalischen Zeichen (»Verona, der einzige Halt des Rapido
zwischen Mailand und Venedig«) und iconischen Bestimmungs-
stücke (Adjektive; schon der Titel »Die Rote« verrät einen
Iconismus, der im Roman sogar indexikalisch verwendet wird).
Jedenfalls offenbart sich mit der visuellen Narration und ihrer

hervortretenden indexikalischen oder iconischen Semiotik der »em-


piristische« Zug der Anderschen »Welt«; die Realität, die er aus
Iconen und Indices aufbaut, ist eine quasiempirische, und der Rea-
lismus ist durch und durch ein ontischer Realismus. Da es sich für

den Erzähler darum handelt, »Ereignisse« und »Ewige Objekte« in


»aktualen Anlässen« zusammenzubringen, könnte eine tiefere li-

teraturmetaphysische Analyse, auf die hier jedoch verzichtet wer-


den soll, in der »Welt« von »Sansibar« oder »Die Rote« sehr leicht
auch die Strukturen einer Whiteheadschen Seinsthematik entdecken,
in der das, was Whitehead als »ingression«, das Eindringen der
»eternal objects« in die »actual occasion« bezeichnet, durch den
Prozeß der Narration bewirkt wird.

151
Das System der Interpretation, das sich nun anschließen kann,
verläßt die materialen Gegebenheiten und Strukturen und bean-
sprucht intentionale Sachverhalte und Bedeutungen. Zunächst bleibt

jedoch noch festzustellen, daß Alfred Andersch, im Ganzen seiner

bisherigen Arbeiten gesehen, weniger ein dialogisches, als ein ex-


plikatives Verhältnis zur Welt und zum Wort besitzt. Auch wo
Narration und Reflexion, wie es zum epischen Stil dieses Autors
gehört, in Urteil und Kritik übergehen, bleibt die Darlegung des
Bestehenden breiter als der Entwurf der Forderungen. Opposition
wird episch auf Konfrontation beschränkt. Ihre Unmittelbarkeit
kann provozierend sein. So wird die Realität immer zu einem
Prozeß, der in gewissen Vorgängen konzentriert erscheint, die dann
als Gegenstand epischer Explikation potentiell Macht über Miß-
verhältnisse gewinnen können.
Flucht in allen Formen ihrer Erscheinung, von der Abreise bis zur
Desertierung, bedeutet also in den Texten Alfred Anderschs nicht
nur ein Konzentrat der (Whiteheadschen) Seinsthematik, sondern
auch der Gesellschaftskritik. In »Die Kirschen der Freiheit« handelt
es sich um Beschreibung und Rechtfertigung der eigenen »Fahnen-
flucht«. In »Die Nacht der Giraffe« spitzt sich das Thema auf die
Feststellung zu »Ich flüchte nicht. Ich steige einfach aus«. In »Ca-
denze« lauten die beiden letzten Worte »Leb wohl«. »Morgen ist

sie nicht mehr da«, steht am Schluß von »Blaue Rosen«. In »Sansi-
bar oder der letzte Grund« bezeichnet die Zeile »Man mußte weg
sein, aber man mußte irgendwohin kommen« das Leitmotiv. In
»Phasen« trägt der Ausdruck »Auf der Flucht erschossen« das
Geschehnis. Das Hörspiel »Fahrerflucht« setzt eine trivialere Va-
riante auseinander. In den »Postkarten aus Delft und Trondheim«
finden sich dann Ausdrucksformen, Textschliffe, Bilder und Sätze,

in denen sich die letzten Ausläufer jenes bedeutungsvollen Phäno-


mens sprachlich niedergeschlagen haben, wie »gänzlich ins Juwelen-

152
hafte entrückt«, »das wahre Leben liegt nicht im Leben selbst,

sondern im Nachdenken über das Leben«, »auf diese Weise hebt


aber Vermeer die Zeit . . . auf«., »Dünen-Saum, der mit dem Hori-
zont des Meeres verschmilzt«, »Weiterfahrt«, »und so fährt man
weiter«, »Zuletzt fließt alles ineinander«, Wohin soll man das
Boot wenden?« Und in dem Gedicht »Die Farbe von Ost-Berlin«
(1961) stößt man auf die bildhafte Formulierung »die stunde
der ulenflucht«.
Die Flucht ist ein vitaler Vorgang, dem eine existentielle Entschei-

dung vorangeht. Eine Entscheidung ist eine existentielle, wenn sie

im Prinzip auch anders hätte ausfallen können, also eine Wahl, die
Möglichkeiten voraussetzt. Wir sprechen von existentiell, weil eine

solche Wahl existenzsetzende Kraft besitzt. »Franziska« in »Die


Rote« erscheint genau an den Stellen des Romans als eine wirkliche

Existenz in Fleisch und Blut, wo sie im Begriff ist, eine Entscheidung

zu fällen. Die anderen Möglichkeiten, die nicht gewählt werden,


erscheinen ausschließlich in der Reflexion der einen, die gewählt
wird. Auf diese Weise entsteht die Begründung der Wahl und Be-
gründung ist stets ein bewußter, intelligibler Vorgang. -»Franziska«,
so vital und emotional auch immer sie organisiert erscheinen mag,

handelt durchaus als ein intelligibles Wesen; die Gründe, die ihr

sichtbar werden, indem sie sie reflektiert, rücken auf diese unmerk-
liche Weise die Wahl auf die Hegeische Stufe der Notwendigkeit,
durch deren engen Kanal diese Frau menschlichen Mißverhält-
nissen zu entkommen gedenkt.
Flucht, Variationen der Abreise, der Desertierung, des Aufbruchs,

der Umkehr bezeichnen demnach eine Grundbefindlichkeit mensch-


lichen Daseins, ein Grundvorgang der Existenzsetzung, der durch
die Kollisionen, die seine schwere Realität ausmachen, sehr leicht

Thema einer Epik werden kann, die im literarischen Medium gesell-

schaftliche Okkasionen in metaphysische Ideen transponiert. Dieser

153
Kontrast ist übrigens besonders stark in den beiden »Geschichten«
aus »Geister und Leute« betitelt »Mit dem Chef nach Chenonceaux«
und »In der Nacht der Giraffe«. Auch die Reise des Herrn Schmitz,
des Chefs, mit Doktor Honig und dem Fahrer Jeschke verwandelt
sich während der Erzählung aus einem touristischen Unternehmen
in ein gesellschaftskritisches, in dem das Unverhältnismäßige einer
menschlichen Seinslage sichtbar wird. Der Kontrast der Gerichte,
»Terrine du Chef« und »ne Suppe«, der am Anfang scheinbar nur
nebenbei und trivial eingeführt wird, wächst sich zu einem Gegen-
satz tieferer Bedeutung aus, die »leeren Fensterhöhlen . . . Krefel-
der Fabriken« und »das Ensemble der Glasfenster von Bourges«,
um in der beiläufigen Identifizierung der schwarz lackierten »Limou-
sine« mit einem ausgeschlagenen »Sarg« sprachlich wieder liquidiert

zu werden. Die Richtung der Kritik ist evident: Lächerlichkeit und


Agonie des neudeutschen Spätbürgertums sind lückenlos antizipiert.

Dabei bedient sich Alfred Andersch der Methode, die Erkennbar-


keit der Figuren durch die Wahrnehmbarkeit der Dinge zu demon-
strieren. Die ontische Kontrastierung spielt jedoch die alltäglichen

Mißverhältnisse nicht nur in die Zone analytischer Erledigung,


sondern läßt mit der formulierten Selektion, die sie darstellt, auch
die ästhetische Botschaft hervortreten, die sie zweifellos enthält.

Dieses subtile und raffinierte Verfahren, Narration in den Dienst


der Analyse, Kritik und Liquidation gesellschaftlicher Miseren zu
stellen und dabei die Banalität der Bedeutungen mit der Fragilität
der Schönheiten zu umstellen, führt in »In der Nacht der Giraffe«
zu einem Typus der politischen Novelle, die an einer Textfolie, die
der Machtübernahme de Gaulies und ihrer Widerspiegelung in
seinem Bewußtsein gewidmet ist, das Problem des Widerstandes
gegen den Übergriff der Macht in damals in Paris stattgefundenen
Ereignissen und Gesprächen reflektiert. Es scheint an die Deutschen,
diese großen Versager in revolutionärer Hinsicht, gerichtet zu sein,

154
wenn Andersen seine Erzählung in zwei Maximen kulminieren
läßt: »Fortgehen, um zu erkennen, daß Freiheit nicht bedeutet,
irgendeine Ideologie wählen zu können, sondern das Unrecht zu
zerreißen, wo immer man es trifft« und »Es gibt ein ganz sicheres

Erkennungszeichen des Unrechts: dort, wo nichts mehr Sie auf-

fordert, zu schreiben, wo nur ein einziger Gedanke Sie beherrscht:


zu handeln, nichts als zu handeln: dort ist es, wo das Böse herrscht«.
Was aber die Kraft des Schreibens selbst anbetrifft, die Literatur
also, so wird ihr durchaus ein Prinzip Hoffnung, eine potentielle
Macht der Veränderung zugestanden. ». . . nehmen Sie den >Schlag
ans Hoftor<, diese wenigen Seiten Prosa nehmen keinen Einfluß auf
die Zeit, aber sie verändern die Welt. Ein paar Dinge sind absurd
geworden, seitdem diese Geschichte unter uns ist . . .«

Ich kehre, abschließend, noch einmal zum Motiv der Flucht zurück,
das Alfred Andersch so sehr anzieht. Denn man bemerkt jetzt leich-
ter, daß es sich niemals um eine Flucht aus der Welt handelt, der
das Wort geredet wird. Ich entdecke im Hintergrund immer den
Gedanken, der es ausspricht, daß Fürsichsein und Erlösung unmora-
lische Ideen sind. Die Flucht, an die dieser Autor denkt, wird im-
mer eine Flucht in die Welt, in den Bereich der anderen, in die
Gesellschaft, in das Dasein, in das Leben sein. Das sind Züge der
Aufklärung, die damit aus den Texten Alfred Anderschs hervor-
treten, und es ist nicht das unbestimmteste und billigste Prädikat,
das mit diesem Wort einer Intelligenz, einer modernen Intelligenz
zugesprochen wird, in der Erkenntnis und Dichtung sich zu identi-
fizieren gedenken.

Literatur

M. Bense, Texttheorie, Köln 1955,


W. Fucks, Unterschied des Prosastils von Dichtern und anderen Schrift-
stellern, Sprachforum, Bonn, 3/4, 1955,

155
P. Guiraud, Les caracteres statistiques du vocabulaire, Paris 1954,
K. Hamburger, Logik der Dichtung, Stuttgart 1956,
A. Moles, Theorie de l'information, Paris 1958,
E. Walther, Die Begründung der Zeichentheorie bei Ch. S. Peirce, Grund-
lagenstudien, Bd. 3, 2, 1962.

156
Julien Bendas Aufklärung

Die Deutschen haben eine gewisse Vorliebe bekommen für die reiz-

volle und leichte Art, mit der Ortega y Gasset, der spanische Lite-
rat und Philosoph, seine einfachen und verwickelten Themen
behandelt. Der Ruhm Ortegas hat den Ruhm manches anderen aus-
ländischen Schriftstellers, der offen oder verborgen um unsere An-
erkennung geworben hat, verdunkelt. Auch die Aufmerksamkeit,
die ein Mann wie Julien Benda, der französische Literat und Phi-
losoph, verdient, hat wohl gelegentlich unter Ortegas Erfolg ge-

litten. Das ist schade; denn in mancherlei Hinsicht wäre Benda eine

prachtvolle Ergänzung, vielleicht sogar ein Korrektiv zu Ortega


gewesen.
Bei der Neigung der Deutschen, Prinzipien zu lieben, sollte man
annehmen, daß ein so scharfsinniger, klarer und unwiderleglicher
Kopf wie Julien Benda, auch uns etwas zu sagen hätte. Allerdings
ist Benda das genaue Gegenteil zu Ortega. Wo der Spanier die volle,
runde Sinnlichkeit der Gegenstände liebt, bevorzugt der Franzose
die kalte Betrachtung der Dinge. Wo der Spanier in leichtfüßigen
Metaphern und Bildern spricht, bleibt der Franzose der Freund
herzbezwingender Begriffe. Selbstverständlich geht der Gegen-
satz der beiden keineswegs im Widerspruch der konkreten zur
abstrakten Rede auf. Auch Benda liebt es, seine Ausführungen über
philosophische Systeme, politische Ideologien oder literarische Exi-
stenzen mit aktuellen und intimen Bemerkungen zu würzen, die
wie Glanzlichter wirken. Aber es gibt einen unaufhebbaren Gegen-
satz zwischen der spanischen und französischen Manier, zu be-
schreiben, anzuerkennen oder zu verwerfen: Ortega bleibt immer
liebenswürdig. Benda ist immer ein wenig herzlos. Wo Ortega an-
griffslustig ist, ist Benda radikal.

157
Julien Bendas Produktion begann etwa 191 2. Er hatte gleich sein
Thema. Denn er hatte gleich seinen Gegner: Henri Bergson, der
damals auf dem Gipfel seiner literarischen und philosophischen
Laufbahn angelangt war. Es ist klar, daß ein unbeugsamer Cartesi-
aner, für den die Philosophie weniger ein Gehäuse, denn ein Weg,
weniger ein System, denn eine Methode bedeutet, sofort in den
äußersten Gegensatz zu einem verführerischen Kopf treten muß,
der jener natürlichen Neigung der Leser, Emotionen, Intuitionen
und Mythologien zu bevorzugen, so sehr entgegenkommt wie Berg-
son. Im Jahre 19 12 erfolgte also unter dem Titel »Le Bergsonisme
ou une Philosophie de la Mobilite« der erste große rationale An-
griff Julien Bendas auf seinen Gegner.
Ohne Zweifel hatte Benda Grund zur Kritik. Ohne Zweifel steht
der Weltgeist, um es so zu sagen, auf seiner Seite. Doch was küm-

mert den Leser, der gerührt, beruhigt und bewegt werden will,

die cartesianische Klarheit des unbeweglichen Weltgeistes? Berg-

son blieb das letzte literarische und europäische Ereignis der Phi-
losophie.

Von den wenigen Eingeweihten abgesehen, hatte Bendas Polemik


vor allem bei einem Erfolg: bei ihm selbst. Der Stil war gefunden,
die Methode war gefunden, und die Tendenz war gefunden. Daß er

eine Methode bewahrte, beließ ihn bei den Philosophen; daß er

einen Stil gebildet hatte, rückte ihn zu den Literaten; daß er eine
Tendenz ausdrückte, verwandelte ihn in einen Intellektuellen. Die
Methode bestand in der rationalen Argumentation; der Stil in

einer manieristischen Polemik; die Tendenz hieß: Wiederherstel-


lung der ursprünglichen Reinheit des Geistes und der Kraft der
Vernunft - der Ausdruck »Herrschaft« wäre ihm, dem Verteidiger
der Demokratien, wohl zu feudal oder bürgerlich gewesen. So
enthüllt sich in seiner Publikation, die weder ganz in die Philoso-

phie noch ganz in die Literatur gehört, nach und nach ein außerge-

158
wohnlicher Rationalist, der zwar bei Descartes gelernt hat, für den
aber die Verteidigung der Methoden zugleich eine Rechtfertigung
der persönlichen intellektuellen Existenz bedeutet.
Die Reinheit des Geistes und die Kraft der Vernunft! Gerade hier
verrät sich die außerordentliche cartesische Gesinnung. Geist und
Vernunft sind rein, wenn ihre Methoden rein, also klar, übersehbar
und eben spirituell, nicht emotional, mystisch oder intuitiv sind,
wenn ihre Handlungen beweisend, nicht überredend vor sich gehen.

Eines seiner reifsten und schönsten Bücher, ein Spätwerk wie »Du
Style dTdees«, das 1947 erschien, enthält gleichsam seine philoso-
phische Theorie des Geistes und der Vernunft, die er, unbekümmert
um die sogenannten philosophischen Fachleute, im Atem des gro-
ßen Literaten vorträgt. Das Buch hat den Untertitel »Reflexions
sur la pensee, sa nature, ses realisations, sa valeur morale«. Da es

sich um Reflexionen über den »Gedanken« handelt, wird uns ge-


sagt, daß die Ideen soviel wie Gedanken bedeuten und daß Geist-
haben soviel besagt wie Gedankenhaben, was wir als ein untrüg-
liches Kennzeichen des Rationalisten verzeichnen. Auch will uns
die Formel »des realisations« den Realisten andeuten, der aus einem
verborgenen und uneingestandenen Leibnizschen Optimismus heraus
an die Verwirklichung von Ideen glaubt.
Der Umfang seines Werkes zeigt viele Schichten, politische Tages-

schriftstellerei wie die Antwort an seinen Kritiker Jean Paulhan,


den er in einem Aufsatz in der »Europe« als den »Totengräber
Frankreichs« bezeichnet; Literaturkritik großen Stils wie das hart-
näckige Buch »La France byzantine«, in dem ein großer Teil der

modernen französischen Literatur einfach in Frage gestellt und in

dem eine geradezu totale Kritik der französischen Intelligenz auf-

gebaut wird; politisch-soziologische Untersuchungen wie »La gran-


de Epreuve des Democraties«; Bekenntnisse wie das Buch aus
Frankreichs traurigen Tagen »Exercice d'un Enterre vif, 1940

159
bis 1944«; Philosophiekritik wie die bereits genannte Abrechnung
mit Bergson und schließlich die großartige Beargwöhnung der In-
tellektuellen in »La Trahison des Clercs« - »Der Verrat der Inte-
lektuellen« -, ein Buch, das die moralische Lage der geistigen Men-
schen in allen Nationen betrifft und das eine Erfahrung geißelt,

dieman heute allenthalben machen kann.


Was die Polemik und Kritik betrifft, die Julien Benda beständig
gegen seine Zeitgenossen, gegen Literaten und Philosophen, gegen
Politiker und Klerikale, gegen Valery und Gide vorzubringen
hat, so ist sie klassisch, weil sie ebensosehr rabelaisische wie vol-
tairesche Züge enthält. Es ist rabelaisisch, wenn er Valery der
Windbeutelei und Gide der Heuchelei beschuldigt. Aber es bezeugt
eine Spur Voltaires, wenn er einen so vorsichtigen Geist wie Paul-
han, der ihm zu antworten wagte, als Totengräber Frankreichs
bezeichnet.

Die Unterschiede zwischen Ortega und Benda können nicht dar-


rüber hinwegtäuschen, daß der Franzose eine ebenso wichtige
Stimme innerhalb der Selbstauffassung und der Selbstkritik der

modernen Intellektuellen darstellt wie der Spanier. Ihr Werk,


Ausdruck einer diagnostizierenden Moralistik modernen Stils, ent-

hält gewisse Ergänzungen, aus der das Bild einer Intelligenz auf-

taucht, ohne die Europa verloren ist.

160
Über die Literatur Walter Benjamins

Nicht immer hindert uns die eindeutige politische Gesinnung eines


Autors daran, die strahlende Kraft seines Geistes, den Spürsinn
seiner Methode und das üppige Rankenwerk seiner Bilder und
Gedanken mit Enthusiasmus aufzunehmen. Walter Benjamin, der
1933 Deutschland verlassen mußte und vor zehn Jahren, 1940,
müde aller Erfahrungen und Verwicklungen, denen gegenüber er

sich machtlos sah, auf der Flucht vor seinen Feinden in einem klei-
nen Gebirgsdorf an der spanisch-französischen Grenze sein Leben
freiwillig endete, ohne zu ahnen, daß seine Rettung vorbereitet
war, ist ein solcher Autor. Marxist - aber die Umsicht seines Ver-

standes reichte weiter als die Doktrin, und wohl damit hängt es

zusammen, daß seine Literatur auch von denen geliebt und gelesen
wurde, die politisch anders dachten als er.

Er hat vor allem Essays - echte Versuche kontemplativer Intelli-


genz mit philosophischen Wahrheiten und literarischen Schönheiten
- geschrieben. Dennoch wäre zu wenig über ihn gesagt, wenn er

hier als einer der wenigen modernen, deutsch schreibenden Essayi-


sten zwischen den beiden Kriegen bezeichnet würde. Denn was er

als »Versuch« verstand, sprengte sogleich das literarische Gefäß


des Versuchs, der Sprachleib verbarg gewissermaßen den bloßen
Versuch und entartete hoffnungsvoll zu einem ermahnenden oder
erkennenden Traktat; und obwohl die experimentierende Art sei-

nes Verstandes, vermutlich auch seines Gefühls, sofort auffällt,


wenn man seine Arbeiten liest, hat man doch auch den Eindruck
eines Geistes, dem es um die analytische Wahrheit geht, um die
Wahrheit, die bewiesen werden kann. Das Experiment, die Prü-
fung ist ein Anlaß, eine günstige Gelegenheit, dies und jenes zu
sagen, ein Auftrag, der vom Gegenstand der Betrachtung her-

161
kommt, aber nicht selbstzufrieden sich damit bescheidet. Denn
Walter Benjamin besaß ja eine umrissene Theorie, die er manch-
mal als Erkenntnis, manchmal aber auch als Gesinnung in der Ar-
gumentation verwendete. Die Theorie war zwischen Hegel und
Marx angesiedelt; sie beobachtete die Gestalt der Ideen, indem
sie diejenigen Individuen beobachtete, die sie konzipierten, und die-

jenige Gesellschaft studierte, in der sie sich ausbreiteten. Aber es

bleibt immer erstaunlich, daß diese kalte Theorie nicht imstande

war, den glühenden ästhetischen Zustand zu verhindern, in den ihr


Verfechter angesichts der Kunst, vor allem angesichts von Poesie
und Musik geriet. Das verbindet übrigens Walter Benjamin mit
einem anderen, ebenso literarischen wie philosophischen Kopf, der
in der Emigration den Krieg überstand und 1946 starb: mit Ber-
nard Groethuysen, der es, wie kürzlich einer seiner Freunde be-
tonte, verstanden hatte, Marx und Montesquieu, Kierkegaard und
Descartes zu vereinen.
Jede Aussage über die Universalität einer Geistesverfassung ist

immer etwas allgemein. Ich kann sie sofort verdeutlichen, wenn ich

hinzufüge, daß Walter Benjamins reiche Bildung es ihm gestattete,

die Technik des philologischen Beweises einer These aus der unan-

tastbaren Genauigkeit eines Textes ebenso sicher zu handhaben


wie die freiere Auslegung einer bestimmten Stelle nach zusätzli-
chen metaphysischen und soziologischen Gesichtspunkten, hier mehr
die Theorie, dort stärker die Gesinnung verratend, oft ein wenig
nervös formuliert oder allzu kompakt und das Lesen erschwerend;
aber man freut sich doch darüber, daß ein ebenso wohlerzogener
Akademiker wie wohlerzogener Literat, die beide ja das Hand-
werk gelassenen Verbergens der sensiblen Subjektivität erlernt ha-

ben, uns Gelegenheit geben zu beobachten, was sie ersehnen, er-


leiden und wohl auch bis zum Äußersten verteidigen würden. Alle
Bücher, Essays und Artikel Walter Benjamins zeichnen sich durch

162
eine verborgene Subjektivität, eine skurrile Glut unter der Ober-
fläche der Thesen aus. Wahrscheinlich war das gleichermaßen ein

Ergebnis seiner wissenschaftlichen Studien für »Der Begriff der


Kunstkritik in der deutschen Romantik« von 1920 und »Ursprung
des deutschen Trauerspiels« von 1928 wie seiner Mitarbeiterschaft

an der »Literarischen Welt« und der »Frankfurter Zeitung« bis

1933 oder der selbsterhaltenden Ubersetzungsarbeit an den »Ta-


bleaux Parisiens« von Charles Baudelaire (1923) oder am Roman-
werk Marcel Prousts.
Die Liebe zu Berlin und die Liebe zu Paris erfüllten ihn. Eine seiner

letzten Publikationen in Deutschland war eine Artikelserie »Ber-

liner Kindheit um Neunzehnhundert« 1


, erschienen in der »Frank-
furter Zeitung«, genau in jenen Tagen, da dieses Blatt den Reichs-
tagsbrand zukunftsvoll zu kommentieren hatte. Kleine Bilder sind
es, die hier Walter Benjamin entwirft, merkwürdig scharf in der
Darstellung von Einzelheiten, die beständig zu ästhetischen Gebil-
den werden, obwohl sie als vieldeutige Zeichen soziologischer Merk-
male gedacht waren. Der Autor hat von Proust gelernt: spielt,

forscht in den Erinnerungen, sieht die »Markthalle am Magdebur-


ger Platz«, das »Karussell«, die »Fischotter«, im Ganzen eine Wie-
derholung jener Technik der philosophischen Vexierbilder aus dem
Straßenleben der Großstadt, die in dem kleinen Buch »Einbahn-
straße« von 1928 die Aphorismen mit der vielsagenden und gehei-
men oder offenen politischen Nuancierung so aktuell verbindet
und die abstrakten Reflexionen durch konkrete Darstellungen hart

und kalt unterbricht.

Aus seiner reichsten Zeit - und bis zuletzt verfolgt - stammt der
Plan eines großen Buches, das Paris, das »spirituelle Paris«, ge-
wissermaßen die Idee dieser Stadt zum Gegenstand haben sollte,

1 In mustergültiger Ausstattung im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.


1950 erschienen.

163
»Paris, capitale de PEurope du i9me siegle«; Plan eines Buches,
von dem der wundervolle Essay Ȇber einige Motive bei Baudelai-

re« Zeugnis gibt. Er erschien in der »Zeitschrift für Sozialforschung«,

die Max Horkheimer noch 1939 in Paris herausgab. Sie alle, Hegel,
Marx, Poe, Bergson, Proust, Freud geben die Medien ab, aus denen
Geist und Charakter der Baudelaireschen Poesie und Prosa heraus-
destilliert werden. Auch diese Vorliebe für Frankreich, für Paris
verbindet Walter Benjamin wieder mit Bernard Groethuysen, der
zwar von Dilthey und Simmel ausging, aber bei Montaigne und
Montesquieu endete und als Mitarbeiter der Nouvelle Revue Fran-
chise seine prächtigsten philosophischen Essays schrieb.

Doch man darf nicht übersehen, wie sehr Walter Benjamin Inhalt
und Ausdruck des deutschen Geistes auskostete. Erweist er sich nicht
in »Ursprung des deutschen Trauerspiels« als Entdecker eines ver-
nachlässigsten Bezirks der deutschen Literatur? - Holt er hier

nicht einen wesentlichen Teil des deutschen Barock herauf und ver-
kündet seine Meisterschaft? - Spiegelt er das barocke Trauerspiel
nicht an der Leibnizschen Monadologie, um seine Tiefe glaubhaft zu
machen? - Und das erstaunliche Kapitel über die »phonetischen
Spannungen in der Sprache des 17. Jahrhunderts«, subsumiert unter

dem Titel »Oper«, offenbart es nicht einen Sprachkritiker, Sprach-


philosophen und Sprachschreiber von Rang? - Es ist gewiß viel-

leicht zunächst Literaturgeschichte, was hier getrieben wird, aber


überall wird diese Disziplin durchstoßen und ihre empirischen Ab-
sichten reiner Forschung verwandeln sich unversehens in metaphy-
sische Absichten reiner Reflexion an der Hegeischen Philosophie
des Geistes, deren Mittel, auch in den marxistischen Wendungen,
sie sich mit Vorzug, aus Theorie und Gesinnung, bedient. Was sich

beständig ergibt, ist Literaturmetaphysik, Präparation der »Ideen«


aus der Prosa und Poesie. »Wenn Darstellung als eigentliche Metho-
de des philosophischen Traktates sich behaupten will, so muß sie

164
Darstellung der Ideen sein«, heißt es in »Ursprung des deutschen
Trauerspiels« (S. 13). Das ist für Walter Benjamin ebenso eine
Wahrheit Piatons wie Leibniz* und Hegels. Und in dieser Hinsicht

bedeuten ihm Goethes »Wahlverwandtschaften« im Grunde auch


gar nichts anderes als die Präparation einer »Idee«, der er, Walter
Benjamin, auf eine meisterliche Weise in seinem Aufsatz »Goethes
Wahlverwandtschaften« nachgeht. Hugo von Hofmannsthal hat
ihn im Jahre 1924 zuerst veröffentlicht, und zwar in seinen »Neuen
Deutschen Beiträgen«.
Es ist leicht einzusehen, daß der eigentliche Gegenstand des Litera-
turmetaphysikers, der sich für die Präparation der Ideen aus Poesie
und Prosa interessiert, die Sprache selbst sein muß. Das übersah
Walter Benjamin niemals. Daher rührt die Aufmerksamkeit, die
er immer der Sprache, ihrer Herkunft und ihrem phänomenalen
Glanz entgegengebracht hat. Die Sprache des Barock hat die Idee
des Trauerspiels präpariert; die Sprache Goethes muß in den
»Wahlverwandtschaften«, wie Walter Benjamin meint, die Idee
der Ehe »als ein mythisches Schattenspiel in Kostümen des Goethe-
schen Zeitalters« erscheinen lassen. Und es ist nur eine äußerste
Konsequenz all seiner Anliegen, wenn Walter Benjamin sich schließ-

lich mit Karl Kraus und seiner »Fackel« beschäftigt, denen er im


Jahre 193 1 einen ausführlichen Essay in der »Frankfurter Zeitung«
gewidmet hat. »Wie laut wird alles« - ein Wort von Kraus aus
den »Worten in Versen II« - setzt der Autor vielsagend davor.
Es rekapituliert dieses Motto nicht nur das, was Kraus attackierte,
sondern auch das, was Benjamin bereits nicht mehr übersehen konn-
te, wenn er seine Umwelt diagnostizierte. Es wird vielerlei ange-
merkt in diesem Aufsatz über Karl Kraus, die »heraldischen
Prägungen« Stifters, Hebbels »Noblesse«, »Peter Altenberg, der
Aufwiegler« - und was schließlich polemisch konstatiert wird, das
ist der völlige Zerfall der »goetheschen und claudiusschen Sprache«

165
in einer Presse, die auf der »Phrase« eines zusammenbrechenden
Bürgertums beruhe. Auffällig ist der starke Hinweis auf Hebbel,
dem nicht nur Kraus und Benjamin, auch Kafka und Werfel zugetan
waren, wie man weiß, und man ist erstaunt über die Wirkung, die
der badische Prälat mit seinen Parabeln moralischer und theologi-
scher Intensität auf Wiener und Prager Literatur ausgeübt hat.

Natürlich ist es eine sprachliche Meisterschaft gewesen, deren Vor-


bild hier erkannt wurde; aber in dem Maße, wie man die Sprach-

fertigkeit der Kafka, Kraus, Janowitz und Werfel etwa noch an


Hebbel spiegeln kann, entzieht sich die Sprache der Marxisten und
linken Hegelianer der philosophischen und kritischen Literatur der

zwanziger Jahre (zu denen eben Walter Benjamin neben Ernst


Bloch, Georg Lukacs und vielleicht Bernard Groethuysen zu rechnen
wäre) den aufklärenden Gleichnissen Hebbels, um den philosophi-
schen und historischen Manierismus Hegels an ihre Stelle treten zu

lassen. Man verfertigt mit der Sprache zugleich die dialektische

Konstruktion ihres Inhaltes. Wo aber derart der philosophische


Wille an der Sprache arbeitet, können Schwulst und Konfusion
nicht ausbleiben; und das ist beinah das einzige, was gegen die Li-
teratur Walter Benjamins vorgebracht werden kann, daß sie uns
mit der Empfindung ihrer sprachlichen Schönheit zugleich die unge-
heure Verwicklung der philosophischen Wahrheiten zumutet . . .

166
»Fantom Fan«, Notizen über ein Buch Friederike Mayröckers

Auch die literarischen Realitäten sind ästhetische Realitäten und


sollten daher, was ihre Entstehung und ihr >wörtliches< Dasein an-

betrifft, in erster Linie ästhetisch beurteilt werden. Ihre künstleri-


sche Präsenz ist das entscheidende Problem, nicht ihre gesellschaft-
liche Relevanz. Aber künstlerische Präsenz, eines Autors wie auch
eines Werks, setzt ebensoviel engagierte Entschiedenheit wie artisti-

sches Vergnügen voraus.


Ich habe damit das gekennzeichnet, was man ästhetische Existenz<
nennt. Kierkegaard verstand darunter eine Existenz, die durch das
Ästhetische, für das Ästhetische und mit dem Ästhetischen lebt.

Nietzsche sprach von einem Dasein, für das die Welt und das
Leben nur als ästhetisches Phänomen< gerechtfertigt sei.

Was nun >Fantom Fan< von Friederike Mayröcker anbetrifft, so bin


ich der Auffassung, daß dieses Buch wie kein anderes dieser Auto-
rin, also viel deutlicher als >Tod durch Musen< von 1966 oder
>Minimonsters Traumlexikon< von 1968, ein Werk ist, dessen Welt
nur als ästhetisches Phänomen< gerechtfertigt werden kann und
dessen Verfasserin das Kreative nur als unmittelbare Äußerung
ihrer ästhetischen Existenz< verständlich werden läßt.

Wie immer bei Friederike Mayröcker handelt es sich um spekula-


tive Dichtung, und zwar in dem Sinne, daß sie einerseits mallar-
meisch - mehr als es scheint aus Wörtern als aus Gefühlen gemacht -
ist und andererseits, wiederum stärker als es scheint, auf imagina-
tive Welten der Musen, des Traums, der Fantome bezogen wird.
Wirklichkeit, das ist eine Sequenz von Wörtern, weniger eine Folge
von Ereignissen oder das Auftauchen eines Wortes im Bewußtsein
der Autorin, ist das über Wirklichkeit entscheidende Ereignis. So no-
tiert sie unter dem metaphorischen Ausdruck »Aschenbahn« (p. 52)

167
die seltene Wortfolge: »anblaffen / anslahen / belfern / blaffern /

bleken / gaffen / giffgaffen / hulen / hünsken / jabbeln / jachtern

/ jäffen /...«, eine Wortfolge, die man Lewis Carrols berühmtem


Gedicht »Jabberwocky« entnommen denken könnte.
»Tod durch Musen« faßte Friederike Mayröcker als >Poetische
Texte< zusammen; »Minimonsters Traumlexikon« enthält den Un-
tertitel >Texte in Prosa<. Es gehört zur ästhetischen Vorentschei-
dung der Autorin über die Welt, daß diese wie ein schwer ent-
wirrbares Gewebe ihr Bewußtsein durchfließt und daß diese

Gewebe tatsächlich Texte sind, die einmal eine poetische und ein an-
dermal prosaische Struktur besitzen. In »Fantom Fan« gibt es

poetische und prosaische Texte; das Buch wird im Hinblick auf


diesen Unterschied nicht gekennzeichnet. Es ist der »Idee« eines
kleinen Hundes gewidmet, nämlich »Snoopys« aus der Trickfilm-
serie der >Peanuts<, ein Faktum, das erkennen läßt, welchen Um-
fang die imaginative Welt der Autorin mittlerweile angenommen
hat: von Ernst Jandl bis Snoopy, von den Konkreten bis Snoopy,
von William Blake bis Snoopy. Die konsequente oder extreme
Fixierung ihres literarischen Bewußtseins auf den, wie Lessing sich
ausdrückte, konsekutiven Bau der Dichtung, der ständige Rückzug
der Texte auf die pure Wortsequenz verstärkt natürlich den filmi-
schen Charakter dieser Art von sprachlichem Kunstwerk, den die

Autorin im »Traumlexikon« mit einer Notiz über »Filmisches« und


in »Fantom Fan« mit der Erinnerung an »Snoopy« bestätigt.

Aber ich möchte noch eine Bemerkung über ästhetische Existenz<


nachholen. Kierkegaard führt als Beispiel für ästhetische Existenz<
Don Juan an. In sinnlicher Genialität bedeute für ihn Existieren

so viel wie im >Augenblick< existieren. Der >Genuß< als Ausdruck


sinnlicher Genialität Don Juan an den >Augenblick< und an
sei in

seine Wiederholung gebunden. Man versteht: ». aber in Spanien . .

sinds tausend und drei«. Doch so sehr der >Genuß< unter der zeit-

168
liehen Kategorie des >Augenblicks< begriffen werden kann, es gibt

noch eine andere zeitliche Kategorie, die für ihn wesentlich ist, die

Kategorie der Dauer, der Kontinuität. Nietzsche hatte sie wohl im


Sinne, als er davon sprach, daß >alle Lust< die >Ewigkeit< wolle

und als er mit seinem langen Blick auf Epikur die ästhetische Exi-
stenz<, den Genuß als eine >Verkleidung des Leidens< interpretierte.
Don Juan und Epikur. Die Rechtfertigung der ästhetischen Exi-
stenz unter der Kategorie des >Augenblicks< und ihre Rechtfertigung

unter der Kategorie der >Dauer<. Vielleicht könnte man von Hegel
aus von der >Partikularität des poetischen< und von der >Totalität

des prosaischen Bewußtseins< sprechen und jetzt hinzufügen, daß


Friederike Mayröckers literarische Realitäten den >Text< als epiku-
räisches Doppelspiel einer ästhetischen Existenz< verraten, indem
sie die poetische Metapher genießerisch unter den intuitiven >Augen-
blick<, aber den prosaischen Satz leidend unter die bewußte >Kon-
tinuität< plazaert.

»Larry lieben / drei Startnummern verordnen / Vampire lieben

lernen / stillgelegte Pulse wiederbeleben . . .«

»im rot stöszt er tiefer in den leib erregt das Blut die Willens-
sphäre wie jeder von ihnen weisz im blau wendet er sich nach
der anderen Seite da hebt er sich heraus hauptwärts sozusagen wo
wir im ruhigen Vorstellungsbild den Gegenpol zur Willenssphäre
schaffen: so entschwindet ihm der eigentliche Willensvorgang in
der Finsternis!«
Ludwig Harig machte kürzlich in einem Gespräch die Bemerkung,
daß er nie genau sagen könne, was an den Texten Friederike May-
röckers gut und was nicht gut sei. Indem ich diesen Einwurf an
jenem Satz Max Rychners, des verstorbenen Schweizer Autors,
reflektiere, daß die moderne Literatur sich dadurch auszeichne,
daß sie dicht neben dem »Meistwerk« auch den »Schund«
enthalte, würde ich, die Kritik abschwächend, hinzusetzen, daß die

169
Texte dieser Autorin, wie das übrigens bei Gottfried Benn oder bei
Gertrude Stein auch der Fall ist, neben der erlesenen Formulierung
auch die triviale zulassen. Die Kunst kontrastiert den Kitsch, aber
wenn ein literarisches Bewußtsein so extrem wie dieses nicht der

Welt, sondern der verworteten Welt geöffnet ist, handelt es sich

darum, den Bewußtseinsstrom dem Wortstrom der Sprache nicht


nur realiter, sondern auch totaliter zu überlassen und nicht nur ihre
elitären Möglichkeiten, sondern auch die trivialen abzuschöpfen.

Friederike May röcker hat in »Fantom Fan« diese Lage selbst ge-
kennzeichnet, gewissermaßen in einem ebenso linguistischen wie
ästhetischen Programm, das aus einem Dutzend rhetorischer Im-
perative besteht:
»Lassen Sie die Wörter aufjaulen!
Machen Sie öfters mal boingg-boingg!
Vergessen Sie die ganze Sprache!
Legen Sie Silben aufs Eis!

Wärmen Sie sich an den Deklinationen der Füsze!


Überhöhen Sie die Grammatik!
Fliegen Sie aufs alltägliche Gespräch!
Setzen Sie Winkelmasz und Zirkel aufs Spiel!
Stören Sie die Sprache ein wenig mehr!
Drücken Sie sie gegen die Wand bis sie schreit!
Fahren Sie mit ihr im Lift abwärts
Lassen Sie sie vorüberfliegen!«
Ich denke manchmal darüber nach wie wohl die zukünftigen Texte

Friederike Mayröckers aussehen mögen. Verbraucht sie die Wörter?


- Die Sprache? - Den Bewußtseinsstrom als Wortstrom? - Wird sie

eines Tages vom Wortsucher zum Sachensucher wechseln? - Wird


Sie jenes subjektive Programm quittieren? - Wird Sie die ästheti-

sche Existenz< weniger auf literarische Realität und mehr auf physi-
sche Realität abstellen? - Kann man sich vorstellen, daß sie aufhört

170
zu schreiben? - Sie hat schon seit längerem begonnen, Hörspiele zu
schreiben, allein und mit Ernst Jandl. Wird Sie dadurch aus dem
monologischen Prinzip der Texte in ein dialogisches gerissen? - Sie

ist eine Autorin, an die man die Frage nach der Zukunft des Schrei-
bens zu stellen fast gezwungen ist. Aber genau das scheint mir ein
»Prinzip Hoffnung« zu sein.

171
Inhalts- und Quellenverzeichnis

Über die Realität der Literatur 7


Vorwort

Die »Melanges« d'Alemberts n


Pysikalisdie Blätter 13/10, 1957

Ponge und die literarische Praxis 21


Süddeutscher Rundfunk, 6. 6. 1965

Die Textrealität der Seife 28


Süddeutscher Rundfunk, Radio Essay, Ein Buch und eine Meinung,
16. 1. 70

Theorie kubistischer Texte 36


Für D.-H. Kahnweiler, Festschrift für D.-H. Kahnweiler, Hatje-
Verlag Stuttgart 1965

Was erzählt Gertrude Stein? 45


Für Käte Hamburger, wird erscheinen in Festschrift für Käte Ham-
burger

Die pantomimische Funktion der Sprache 69


Manuskripte 6. Jhg., 3. Heft

Die Gedichte der Maschine der Maschine der Gedichte . . . . 74


Über Computer-Texte, unveröffentlicht

Notiz über konkrete Poesie 9J


unveröffentlicht

Lettern ^
Katalog der Ausstellung, Studium Generale der TH Stuttgart,
Dezember 1965

173
Neuseis Fachwerktext 102
unveröffentlicht

Schriftzeichen Mira Schendels 104


Katalog der Ausstellung in der Studiengalerie der TH Stuttgart,
Januar 1967

Der Weg eines Zeichens 105


rot 39, Stuttgart 1969

Strukturen und Signale 109


Notiz über einen Film Domnicks, Ärzteblatt Baden- Württemberg,
24. Jhg., September 1969

Ein Textbuch Heißenbüttels in


Augenblick 3/4 / V, 1961

Queneaus kleine tragbare Kosmogonie 119


Einleitung zu Raymond Queneau, Taschenbuchkosmogonie, Limes
Verlag Wiesbaden, 1963

Ludwig Harigs Hörspiele 125


Nachwort zu Ludwig Harig, Ein Blumenstück. Limes Verlag Wies-
baden, 1969

Notizen über Ferdinand Lion 129


Zu seinem 75. Geburtstag, Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung
14. 6. 1958, St. Galler Tagblatt, 5. 11. 1958

Über Ferdinand Lion 134


Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung 14. 6. 1958, St. Galler
Tagblatt 5. 11. 1958

Portrait Alfreds Andersons 1962 141


Schriftsteller der Gegenwart, ed. K. Nonnemann, Walter- Verlag
Olten/Freiburg, 1963

174
Julien Bendas Aufklärung 157
Aufklärung 1/1, 195

Über die Literatur Walter Benjamins 161


Merkur 5/1951 li. Heft

»Fantom Fan« Notizen über ein Buch Friederike Mayröckers 167

175
pocket 1

Dieter Wellershoff

Literatur und Veränderung

Versuche zu einer Metakritik der Literatur


Ausgezeichnet mit dem Kritikerpreis 1970

pocket 13

Max Bense
Artistik und Engagement

Präsentationen ästhetischer Objekte

pocket 20

Siegfried J. Schmidt

Ästhetische Prozesse

Zu einer Theorie der nicht-mimetischen

Kunst und Literatur


tat wi<M

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