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SPRACHE,
DENKEN und
WIRKLICHKEIT
bei Wilhelm von $amholdt
Mchael Schiffinann
1$prochn, Oenken und lr1llivklichkeit bei Wilhelm yon ,$umboldt
Bevor ich im folgenden über das im Titel genannten Thema spreche, möchte ich
zunächst zwei Einschränkungen vorausschicken. ,,Bei Wilhelm von Humboldt"
ist eine Übertreibung, denn ich werde mich in erster Linie mit einigen der Re-
den Humboldts vor der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin
und der Schrift Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und
ihren Einflu/3 auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, der Einlei-
tung zu seinem posthum veröffentlichten Werk über die Kawi-Sprache auf der
Insel Java befassen. Zweitens habe ich Sekundärliteratur nur in sehr geringem
Ausmaß heran gezogen. Hierbei habe ich mich vor allem auf die Nachworte und
Kommentare von Michael Böhler und Jürgen Trabant in den von ihnen heraus-
gegebenen Humboldt-Sammlungen Schriften zur Sprache bzw. über die Spra-
che sowie das Kapitel Sprache in Tilman Borsches Humboldt-Monographie
gestützt. Auf weitere Literatur werde ich in der Endfassung dieses Referats noch
eingehen.
Versuchen wir nun, diesen Prozeß mit besoilderem Blick auf die Begriffe Spra-
che, Denken und Wirklichkeit noch einmal auseinanderzulegen.
Die äußere Realität versetzt zunächst die Sinne des Menschen in Tätigkeit, und
die synthetische Verbindung dieser Tätigkeit mit der inneren Handlung des
Geistes wird zur Vorstellung.
Sprache und Denken
Aber die innere Handlung des Geistes, die aus der Tätigkeit der Sinne, aus den
von den Sinnen vermittelten Empfindungen Vorstellungen bildet, ist noch nicht
Denken. Denken ist eine Handlung des Geistes , aber nicht alle Handlungen des
Geistes sind Denken. Die Tätigkeit des menschlichen Geistes und Gemüts äu-
ßern sich in Vorstellungen, Empfindungen etc., aber erst indem die Sprache die-
se in von der menschlichen Individualität - auf letzterc komme ich noch zurück
- bestimmte Begriffe verwandelt und außerdem imstande ist, diese Begriffe zu
v.ereinig€fl, voneinander zu trennen und miteinan der zu verknüpfen, findet der
IJbergang zum Denken statt. Humboldt formuliert das (KAV\rI, S.45) folgen-
dermaßen:
Die Sprache ist das bildende Organ des Gedankens. Die intellektuelle Tä-
tigkeit, durchaus geistig, durchaus innerlich und gewissermaßen spurlos
vorübergehend, wird durch den Laut in der Rede äußerlich und wahr-
nehmbar für die Sinne. Sie und die Sprache sind daher eins und unzel
trennlich voneinander. Sie ist aber auch an sich an die Notwendigkeit ge-
knüpft, eine Verbindung mit dem Sprachlaute einzugehen; das Denken
kann sonst nicht zur Deutlichkeit gelangen, die Vorstellung nicht zum Be-
griff werden.
Die Übereinstimmung des Lautes mit dem Gedanken ftillt indes auch klar
in die Augen. Wie der Gedanke, einem Blitze oder Stoße vergleichbar, die
ganze Vorstellungskraft in einem Punkte und alles Gleichzeitige aus-
schließt, so erschallt der Laut in abgerissener Schärfe und Einheit. Wie der
Gedanke das ganze Gemüt ergreift, so besitzt der Laut vorzugsweise eine
eindringende, alle Nerven erschütternde Kraft. (...) Wie das Denken in sei-
nen menschlichsten Beziehungen eine Sehnsucht aus dem Dunkel nach
dem Licht, aus der Beschränkung nach dem Unendlichen ist, so strömt der
' Eine Erläutemng zu Humboldts einschränkenden ,,zwaf'gebe ich weiter unten bei der Behandlung des Chi-
nesischen
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Laut aus der Tiefe der Brust nach außen und findet einen ihm wundervoll
angemessenen, vermittelnden Stoff in der Luft, dem feinsten und am
leichtesten bewegbaren aller Elemente, dessen scheinbare Unkörperlich-
keit dem Geiste auch sinnlich entspricht. (ebd..)
Was das Wort als Lautform für die Vorstellung leistet, ist demnach ihre Artiku-
lation zum Begriff. Umgekehrt ist es aber erst die Tätigkeit des Geistes selbst,
die die Artikulation des Lauts zum Wort, im ,,Unterschied auf der einen Seite
vom tierischen Geschrei, auf der anderen vom musikalischen Ton" (S. 60) er-
möglicht und zustande bringt: ,,Die Artikulation beruht auf der Gewalt des
Geistes über die Sprachwerkzeuge, sie zu einer der Form seines Wirkens ent-
sprechenden Behandlung des Lautes zu nötigen." (S. 6l) Wort und Begriff,
,,innere Sprachform" und äußere Sprachform durchdringen sich gegenseitig,
und so vermag sich der Begriff
ebensowenig von dem Worte abzulösen, als der Mensch seine Gesichtszü-
ge ablegen kann. Das Wort ist seine individuelle Gestaltung und er kann,
wenn er diese verlassen will, sich selber nur in anderen Wörtern wieder-
finden. (S. 97)
Die Wörter und ihre grammatischen Verhältnisse sind zwei in der Vorstel-
lung durchaus verschiedne Dinge. Jene sind die eigentlichen Gegenstände
in der Sprache, diese bloss die Verknüpfungen, aber die Rede ist nur durch
beide zusammen möglich. (S. 58)
So wie Wort und Begriff einander gegenseitig konstituieren, ist die Rede
gleichsam Katalysator des entwickelten Denkens, der,,Verstandeshandlung"
und letztere nichts anderes als stillschweigende Rede. Daher muß zur ,,,Ideen-
entwicklung mit wahrer Bestimmtheit, und zugleich mit Schnelligkeit und
Fruchtbarkeit"
Aus dem bisherigen dürfte deutlich geworden, daß die Wirklichkeit Humboldt
zufolge vom Menschen durch das Medium der Sprache erfaßt wird. Die Wirk-
lichkeit des Menschen ist eine empfundene Wirklichkeit und eine vorgestellte
Wirklichkeit, aber als spezifisch menschliche Wirklichkeit ist sie eine gedachte
Wirklichkeit. Als solche kann sie nicht umhin, durch die Sprache geformt zu
sein:
Auch bei der Betrachtung des durch die Sprach e Erzeugten wird die Vor-
stellungsart, als bezeichne sie bloß die schon an sich wahrgenommenen
Gegenstände, nicht bestätigt. Man würde vielmehr niemals durch sie fdie
genannte Vorstellungsart, M.S.] den tiefen und vollen Gehalt der Sprache
erschöpfen. Wie ohne diese, kein Begriff möglich ist, so kann es frir die
Seele auch kein Gegenstand sein, da ja selbst jeder äußere nur vermittelst
des Begriffes für sie vollendete Wesenheit erhält. (KAWI , S. 52153)
durch die Sprache, da das Wort sich der Seele gegenüber auch wieder (...)
mit einem Zusatz von Selbstbedeutung zvm Object macht und eine neue
Eigentümlichkeit hervorbringt. (...) Wie der einzelne Laut zwischen den
Gegenstand und den Menschen, so tritt die ganze Sprache zwischen ihn
und die innerlich und äußerlich auf ihn einwirkende Natur. Er umgibt sich
mit einer Welt von Lauten, uffi die Welt von Gegenständen in sich aufzu-
nehmen und zu bearbeiten. (...) Der Mensch lebt mit den Gegenständen
hauptsächlich, ja, da Empfinden und Handeln in ihm von seinen Vorstel-
lungen abhängen, sogar ausschließlich so, wie die Sprache sie ihm zuführt.
Durch denselben Akt, vermöge dessen er die Sprache aus sich heraus-
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spinnt, spinnt er sich in dieselbe ein... (KAWI, S. 53, Hervorhebung von
mir.)
An dieser Stelle seiner Darstellung der formenden Wirkung der Sprache für die
Weltsicht spricht Humboldt vor allem vom Laut, dem er eine die Bedeutung
mitbestimmende Funktion zumißt. In gleicher Weise mitgemeint sind aber er-
stens das Gewebe der Wörter, mittels dessen die Sprache die Welt in unter-
schiedliche Begriffe sondert, zweitens ihr grammatischer Bau, der ihr zur Ver-
knüpfung dieser Begriffe dient.
Ich habe bisher von ,,der Sprache" gesprochen. Als nächstes müssen wir uns der
Sprache im Plural zuwenden.
In den bis hierher zitierten Darlegungen Humboldts ist das Sprechen ein indivi-
dueller Akt, der gedankenbildend auf das Individuum zurückwirkt. So erscheint
auch die Sprache selbst als eine Angelegenheit des individuellen Menschen.
Das ergab sich aus der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Denken,
Sprache und, davon ausgehend, mittels der Sprache gedachter und vorgestellter
Wirklichkeit. Humboldt stellt klar, daß die Betrachtung des Individuums der
Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist:
Ohne daher irgend auf die Mitteilung zwischen Menschen und Menschen
ztr sehn, ist das Sprechen eine notwendige Bedingung des Denkens des
einzelnen in abgeschlossener Einsamkeit. (KASII S. 43)
In seiner Akademie-R ede Über den Dualis äußert sich Humboldt noch ausflihr-
licher darüber:
Humboldt stellt also nicht nur eine enge Verbindung zwischen Denken und
Sprache her. Auf den ersten Blick scheint diese Verbindung sogar, genau wie
für Ludwig Wittgenstein, so eng zu sein, daß es keinerlei private Sprache geben
kann. An anderer Stelle sagt er nämlich: ,,'Was der Mensch denken kann, das
vermag er auch zu sagen." (im V. Band der Akademie-Werkausgabe, S .433, zi-
tiert nach Böhlers Nachwort zu Schriften zur Sprache, S. 236). Im ,,Kawi-
Werk" und an anderen Stellen wird aber deutlich, daß Humboldt einen wesent-
lich anderen Akzent setzt und sogar hervorhebt, daß ,,die wahre Individualität
nur in dem jedesmal Sprechenden liegt" und ,,erst im Individuum [...] die Spra-
che ihre letzte Bestimmtheit" erhält:
Keiner denkt bei dem Wort gerade und genau das, was der andre, und die
noch so kleine Verschiedenh eit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die
ganze Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-
Verstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühl en zugleich ein
Auseinandergehen. (KAUII, S. 53/59)
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Der Unterschied zwischen den Sprachen der Nationen ist dreifach: sie verwen-
den nicht dieselben Laute für die Wörter, ihre Wörter bezeichnen nicht dasselbe
(nicht dieselben Begriffe), und die Art, wie ihre Grammatik die Wörter zum
Satz verknüpft, ist ebenfalls verschieden.
Dieser lJnterschied entspricht dem in einer dreifachen Gliederutrg, die jede
Sprache vornimmt: Wörter sind in unterschiedliche Laute gegliedert, das Den-
ken gliedert die von den Sinnen wahrgenommenen Welt durch die Sprache in
unterschiedliche Wörter/Begriffe, die Grammatik gliedert die Wörter je nach
dem Bau der Sprache auf unterschiedliche Weise zum Satz.
Die Laute sind es hierbei, die selbst noch äußere Welt sind, das im eigentlichen
Sinne Objektive, die Wörter sind als Begriffe bereits geistige Form; die inner-
ste, am reinsten vom Geist gebildete Form ist die Grammatik. Sie alle stehen je-
doch sowohl untereinander als auch zvr Welt, deren sprachliches Abbild sie
sind, in Beziehung.
Den Einfluß des Baues der Wörter aus den Lauten auf ,,die Ideenentwicklung",
wie Humboldt ihn sieht, möchte ich hier nur der Vollständigkeit halber streifen;
Humboldt behandelt ihn zwar an verschiedenen Stellen im ,,Kawi-Werk" speku-
lativ recht ausführlich, er ist aber sehr schwer auf einen Nenn er zv bringen:
Wenn man sich die Sprache als eine zweite, von dem Menschen nach den
Eindrücken, die er von der wahren empfüngt, aus sich selbst heraus ob-
jectivierte Welt vorstellt, so sind die Wörter die einzelnen Gegenstände
darin. (KAU|I, S. 68)
Und wie die Menschen durch ihre jeweilige Sprache diese zweite Welt auf un-
terschiedliche Weise in Gegenstände unterteilen, so sehen sie sie auch. Auf der
einen Seite gibt es ,,die ganze Sprache von Grund auf beherrschende einfachste
Begriffe", wobei ,,Person, mithin Pronomen und Raumverhältnisse ... die wich-
tigste Rolle" spielen und in denen sich offenbart, ,,was die Sprache, als solche,
am eigentümlichsten und gleichsam instinktartig im Geiste begründet". (ebd., S.
87) Humboldt ist offenbar der Auffassung, daß sie fest im Geist wie auch der
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Natur selbst gegründet sind, weshalb auch ,,der individuellen Verschiedenheit ...
hier am wenigsten Raum gelassen sein" dürfte (s. 87).
Tiefer in die sinnliche Anschauung, die Phantasie, das Gefühl und, durch
das Zusammenwirken von diesen, in den Charakter überhaupt dringt die
Bezeichnung der einzelnen inneren und äußeren Gegenstände ein, dä sich
hier wahrhaft die Natur mit dem Menschen, der zum Teil wirklich mate-
rielle Stoff mit dem formenden Geiste verbindet. In diesem Gebiete leuch-
tet daher vorzugsweise die nationelle Eigentümlichkeit hervor (...) Man
bemerkt aber diesen Einfluß der nationellen Eigentümlichkeit in der Spra-
che auf eine zweifache Weise: an der Bildung der einzelnen Begriffe und
an dem verhältnismäßig verschiedenen Reichtum der Sprache an Begriffen
gewisser Gattung. In die einzelne Bezeichnung geht sichtbar bald die
Phantasie und das Gefühl, von sinnlicher Anschauung geleitet, bald der
fein sondernde Verstand, bald der kühn verknüpfende Geist ein. Die glei-
che Farbe, welche dadurch die Ausdrücke für die mannigfachsten Gegen-
stände erhalten, zeigt die Naturauffassung der Nation. (S. 88/39)
Auf der anderen Seite läßt er im ,,Kawi-Werk" und auch in seinen Akademie-
Reden keinen Zweifel daran, daß die Sprachen sich im Hinblick auf ihre Eig-
nung frir die ,,Erreichung der Zwecke der Menschheit" voneinander unterschei-
den. Dieses ,,Gesamtstreben des menschlichen Geistes" besteht darin, ,,dass die
Menschheit sich klar werde über sich selbst und ihr Verhältnis zu allem Sicht-
baren um sich und über sich". (ÜD, S. 145)
Im ,,Kawi-Werk" untersucht er diesen ,,Unterschied zwischen den Sprachen"
,,gerade in der grammatischen Methode der Satzbildun g".Er schränkt zwar ein,
daß er ,,gewiß gleich lebendig in jedem Elemente und jeder Fügung enthalten
ist, argumentiert aber gleich darauf, er sei ,,aber vorsätzlich auf das zurückge-
gangen, was gleichsam die Grundfesten der Sprache ausmacht und gleich von
ganz verschiedener Wirkung auf die Entfaltung der Begriffe ist". (S. 206)
Betrachten wir den konkreten Gang seiner Argumentation zunächst am Beispiel
von Flexion und Agglutination. Zur Begrifßklärung zuerst folgendes:
,,fn flektierenden Sprachen tendieren die Morpheme fkleinste bedeutungstra-
gende Elemente, M.S.] formal zur Fusion (d.h. sie beeinflussen Nachbarmor-
pheme und werden von ihnen beeinflußt) und funktional zur Polysemasie
[Mehrfachbedeutung, M.S.] (d.h. einem Morphem entspricht mehr als eine Be-
deutung)." Agglutinierende Sprachen: In diesen wird ein ,,morphologisches
Bildungsprinzip" angewendet, bei dem ,jedem Morphem ein Bedeütungs-
merkmal" entspricht, ,,und die Morpheme unmittelbar aneinandergereiht,,
werden. (Hadumod Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft, S .244,5. SO;
Sehen wir uns das j etzt einmal am Beispiel eines real existierenden und nach
dem flektierenden Prinzip gebildeten, und einer hypothetischen durch Aggluti-
nation gebildeten deutschen Verbform an: der ersten Person Vergangenh.it ,rort
,,sprechen".
flektierend: agglutinierend
sprach sprech-t-e
sprach
<sprechen>
sprech t. e
<sprechen> Imp> <1.P.>
< Imperf.>
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nicht abgesondert gedacht, sondern stand als individuelle Form vor der
Seele da, und ebenso ging der Laut als eins und unteilbar über die Lippen.
Durch die unerforschliche Selbsttätigkeit der Sprache brechen die Suffixa
aus der Wurzel hervor und dies geschieht solange und so weit, als das
schöpferische Vermögen der Sprache ausreicht. Erst wenn dies nicht mehr
tätig ist, kann mechanische Anfügung eintreten. (KAWI, S. 113)
Weitere Zitate würden sich anbieten, um Humboldts Begeisterung für die klas-
sischen indogermanischen Sprach en zlr illustrieren, aber ich breche hier ab, um
mich seiner Behandlung der chinesischen Sprache zuzuwenden.
Das Chinesische behandelt Humboldt als Paradigma einer isolierenden Sprache:
d.h. einer Sprache, in der die Wörter weder durch Flexion noch durch Aggluti-
nation ihre Form wandeln und also in gleich welchem grammatischem iutu^-
menhang unverändert und isoliert stehen bleiben. Grammatische F'unktionen
werden nur durch ebenfalls isolierte Wörter oder durch die Wortstelluns ausse-
e e
drückt.
In der 1822, noch vor seinem intensiven Studium des Chinesischen gehaltenen
Akademie-Rede Über das Entstehen der grammatischen Formen gibt Humboldt
ein recht ungünstiges Urteil über die Einwirkung der Grammatik - oder ihm
zufolge eher des Mangels daran - der chinesischen Sprache auf die chinesische
Literatur ab:
Von dem Chinesischen alten Stil geben selbst diejenigen, welche sonst ein
günstiges [Jrtheil über die Literatur dieses Volkes füllen, zu, daß er unbe-
stimmt und abgerissen ist, so dass der auf ihn folgende, dem Bedürfnis des
Lebens besser angepasste dahin trachten musste, ihm mehr Klarheit, Be-
stimmtheit und Mannigfaltigkeit zu geben. (EGw, s. 79)
In der Rede Über den grammatischen Bau der chinesischen Sprache dagegen
sagt er, folgend auf den oben zitierten Satz,,Nun ist es zwar unmöglich, ohne
Sprache zu denken": ,,Allein der Mensch unterscheidet doch den Gedanken
vom Wort, und geht, woraus alle innere Spracherweiterung entspringt, häufig
über die Begränzung der itt jedem Augenblick gegebenen Sprache hinaus."
(GBC, S. 140)
Die chinesische Sprache nun geht wohl, auf der Seite des Geistigen, über die
,,Begränzung" ihres grammatischen Baus hinaus, indem es
dem Verstande eine viel größere Arbeit zumutet, als irgend eine andere
von ihm fordert, ihn bloß auf die Verhältnisse der Begriffe hinweist, ihn
fast jeder maschinenmäßigen Hülfe zum Verständniss [nämlich in Gestalt
der Grammatik, M.S.] beraubt, und selbst die Construction der Worte fast
nur auf die Gedankenfolge und die gegenseitige Bestimmbarkei der Begrif-
fe gründet,
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und so ,,weckt und unterhält sie die auf das blosse Denken gerichtete Geistes-
thätigkeit und entfernt von Allem, was nur dem Ausdruck und der Sprache an-
gehört", ein ,,Y orztrg", den die Sprachen, ,,bei denen die grammatische Form
der Wörter nicht ohne bedeutenden Einfluss auf die Darstellung der Gedanken
ist", nur zu einem gewissen Grad erreichen können (GBC, S . I4l).
Die Verschmelzung von Wort und Begriff sowie Rede und Gedanken läßt of-
fenbar zwei Pole zu, deren einer das Chinesische mit seiner Hinneigun g zum
,,bloßen Gedanken" ,,ohne den lJmweg über die Sprache" (eine Formulierung
Jürgen Trabants) ist, weil es den W"g der ,,innren Spracherweiterung" nicht be-
schreitet.
Der andere Pol würde in einem übertriebenen Akzent aufs Wort und einer
Überladenheit der Grammatik liegen, die Humboldt verschiedentlich im ,,Kawi-
Werk" an anderen Sprachen kritisiert.
In den klassischen Sprachen Sanskrit und Griechisch dagegen findet Humboldt
sein Idealbild eines ,,analogen Ausdrucks" der Begriffe in den Wörtern und der
Denkformen in der Grammatik verkörpert. So lautet schließlich in Anerkennung
des Vorteils, den das Chinesische aus seinem Mangel zieht, sein Urteil:
Der Gedanke erhält einmal bloss durch die Sprache Deutlichkeit und Be-
stimmtheit, und diese Wirkung ist nur vollständig, wenn alles auf ihn
Einwirkende auch in der Sprache einen analogen Ausdruck triffi. Jede
Sprache, die darin zu ergänzen übrigläßt, befindet sich in dieser Rücksicht
im Nachtheil.
(...) Der Chinesische Styl fesselt durch Wirkungetr, die Erstaunen effegen,
die Sprachen eines entgegengesetzten [,,analoger", M.S.] Baues flössen
uns Bewunderung durch eine Vollkommenheit ein, die wir gerade für die-
jenige erkennen, nach welcher die Sprache zu bestreben bestimmt ist. (S.
141)
Das Beispiel des Chinesischen zeigt trotz des bestimmten Urteils Humboldts in
typischer Weise, wie in jeder einzelnen Sprache den Beitrag sieht, den diese zu
den ,,Zwecken der Menschh eit", dem ,,sich klar werden über sich selbst und ihr
Verhältniss zu allem Sichtbaren um und über sich", leisten kann:
Denn jede Sprache bleibt immer ein Abbild jener ursprünglichen Anlage
zur Sprache überhaupt, und um zur Erreichung der einfachsten Zwecke, zu
welchen jede Sprache notwendig gelangen muß, ftihig zu sein, wird immer
ein so künstlicher Bau erfordert, daß sein Studium notwendig die For-
schung an sich zieht, ohne noch zu gedenken, daß jede Sprache außer ih-
rem schon entwickelten Teil eine unbestimmbare Fähigkeit sowohl der ei-
genen Biegsamkeit, als der Hereinbildung immer reicherer und höherer
Ideen besitzt. (KAWI, S. 206)
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Literatur:
Sämtliche Zitate aus dem ,,Kawi-Werk" stammen aus der von Michael Böhler
herausgegebenen S ammlung.
Sämtliche Zitate aus den Akademiereden stammen aus dem Band von Jürgen
Trabant.
Die vollständigen Titel der abgekürzt zitierten Akademie-Reden sind:
EGF: Über das Entstehen der grammatischen Formen und ihren Einfluss auf die
Ideenentwicklung
GBC: Über den grammatischen Bau der Chinesischen Sprache
ÜD: Über den Dualis
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